Staatsrechtslehre als Wissenschaft [1 ed.] 9783428525324, 9783428125326

Eine verstärkte wissenschaftliche und öffentliche Diskussion über die Aufgaben von Wissenschaft fordert auch die Wissens

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Staatsrechtslehre als Wissenschaft [1 ed.]
 9783428525324, 9783428125326

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DIE VERWALTUNG Zeitschrift für Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaften

Beiheft 7

Staatsrechtslehre als Wissenschaft

Herausgegeben von Helmuth Schulze-Fielitz

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Staatsrechtslehre als Wissenschaft

Herausgegeben von Helmuth Schulze-Fielitz

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2007 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0946-1892 ISBN 978-3-428-12532-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Dieses Beiheft vereint 14 Abhandlungen, von denen zwölf Anfang März d. J. auf einem vom Herausgeber veranstalteten Symposium an der Universität Würzburg vorgetragen und von den Teilnehmern diskutiert wurden. Das gemeinsame Interesse aller Beteiligten gründet angesichts einer verstärkten wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion über die Aufgaben von Wissenschaft darin, sich der Grundlagen des eigenen Faches der Wissenschaft des Öffentlichen Rechts zu vergewissern. Außer allen so zügig und zielführend mitwirkenden Kollegen gilt mein herzlicher Dank namentlich der Fritz Thyssen-Stiftung für die großzügige Unterstützung des Tagungsprojekts und meinen Mitarbeitern Dr. Matthias Knauff, LL. M. Eur., und Assessor Thorsten Müller für ihre Hilfe bei der organisatorischen Vorbereitung und der technischen Umsetzung der Tagung und des Tagungsbandes, nicht zuletzt den Mitarbeitern des Verlages Duncker & Humblot für ihre bewährte Professionalität. Würzburg, im April 2007

Helmuth Schulze-Fielitz

Inhaltsverzeichnis

I. Einführung: Die deutsche Staatsrechtswissenschaft als Problem? Helmuth Schulze-Fielitz Staatsrechtslehre als Wissenschaft: Dimensionen einer nur scheinbar akademischen Fragestellung. Eine einführende Problemskizze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Martin Morlok Reflexionsdefizite in der deutschen Staatsrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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II. Der Charakter der Staatsrechtslehre als Wissenschaft Horst Dreier Hans Kelsens Wissenschaftsprogramm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Hans-Heinrich Trute Staatsrechtslehre als Sozialwissenschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

III. Staatsrechtslehre zwischen Wissenschaft und politischer Macht Andreas Voßkuhle Die politischen Dimensionen der Staatsrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Peter Häberle Vermachtungsprozesse in nationalen Wissenschaftlergemeinschaften, insbesondere in der deutschen Staatsrechtslehre. Möglichkeiten und Grenzen der Staatsrechtslehre in der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten 159

IV. Staatsrechtslehre als Verwaltungsrechtslehre Friedrich Schoch Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Verwaltungsrechtslehre und Staatsrechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 Janbernd Oebbecke Verwaltungsrechtswissenschaft und Verwaltungswissenschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 211

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Inhaltsverzeichnis V. Europarechtswissenschaft oder Staatsrechtslehre?

Ingolf Pernice Europarechtswissenschaft oder Staatsrechtslehre? Eigenarten und Eigenständigkeit der Europarechtslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 Matthias Ruffert Was kann die deutsche Europarechtslehre von der Europarechtswissenschaft im europäischen Ausland lernen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253

VI. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre im internationalen Vergleich Giovanni Biaggini Die Staatsrechtswissenschaft und ihr Gegenstand: Wechselseitige Bedingtheiten am Beispiel der Schweiz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267 Ewald Wiederin Denken vom Recht her. Über den modus austriacus in der Staatsrechtslehre . . 293 Oliver Lepsius Was kann die deutsche Staatsrechtslehre von der amerikanischen Rechtswissenschaft lernen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Johannes Masing Unabhängige Behörden in der „république indivisible“ – Die französische Staatsrechtswissenschaft im Spiegel von Reformen der Verwaltungsorganisation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 Teilnehmerverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Personen- und Sachverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383

I. Einführung: Die deutsche Staatsrechtswissenschaft als Problem?

Staatsrechtslehre als Wissenschaft: Dimensionen einer nur scheinbar akademischen Fragestellung Eine einführende Problemskizze Von Helmuth Schulze-Fielitz, Würzburg

I. Ausgangsbeobachtungen Gemeinsames Thema der Abhandlungen in diesem Band sind die Eigenarten und Besonderheiten der Wissenschaft des Öffentlichen Rechts. In einer Zeit, in der allenthalben die Geistes- wie die Naturwissenschaften ihr Selbstverständnis überprüfen und durch neue Studiengänge, Graduiertenkollegs, Forschungsverbünde und Fragerichtungen ihren Stellenwert neu zu bestimmen scheinen, muss sich auch die deutschsprachige Staatsrechtslehre ihrer selbst vergewissern. Das wäre entbehrlich, wenn die Rechtswissenschaft allgemein und die Staatsrechtslehre im Besonderen so wenig Probleme haben, dass sie keinen Anlass sehen müssen, über ihre Zukunft oder ihr Selbstverständnis nachzudenken1. Richtiger scheint heute das Gegenteil zu sein, nicht nur weil die Politik der Deutschen Forschungsgemeinschaft eine disziplinäre Selbstbeobachtung fordert. Es handelt sich nicht bloß um eine Fragestellung, durch die Wissenschaftler sich pathologisch mit sich selbst befassen2; vielmehr sind mit dem wissenschaftlichen Selbstverständnis tiefgehende praktische Folgen verbunden, innerhalb des Systems der Wissenschaft wie auch für die Gesellschaft. Einige subjektive Eindrücke von denkbaren Besonderheiten der Staatsrechtslehre mögen als Ausgangspunkte dienen. Seit längerem bekannt ist die quantitative Verteilung der Fördermittel der DFG: 85% gehen an die Naturwissenschaften, 15% an die Geisteswissenschaften, darunter etwa 0,5% an die gesamten Rechtswissenschaften. Gibt es eine besondere Eigenart, die Rechtswissenschaften bzw. Staatsrechtslehre „drittmittelresistent“ erscheinen lässt? Dafür spricht möglicherweise, dass es bislang zwar juristisch geprägte Graduiertenkollegs, aber keine Sonderforschungsbereiche 1 So noch D. Simon, Zukunft und Selbstverständnis der Geisteswissenschaften, in: Rechtshistorisches Journal 8 (1989), S. 209 (214 f.). 2 Nach G. Radbruch, Einführung in die Rechtswissenschaft, 12. Aufl. 1969, S. 253, pflegen „Wissenschaften, die sich mit ihrer eigenen Methodenlehre zu beschäftigen haben, kranke Wissenschaften zu sein“.

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gibt, die von Juristen oder Staatsrechtslehrern geprägt würden3. In dieses Bild passt, dass im Rahmen des Wettbewerbs der Exzellenzinitiative zwar teilweise Rechtswissenschaftler und Staatsrechtslehrer an den universitätsinternen Diskussionen beteiligt waren, aber im Ergebnis keine signifikante Rolle gespielt haben: Liegt das wirklich nur daran, dass die Wettbewerbsbedingungen auf die Naturwissenschaften zugeschnitten waren? Auch Besonderheiten der Lehre lassen sich feststellen: Gibt es noch andere Fakultäten, in denen die Vorbereitung auf das das Studium abschließende Staatsexamen praktisch so weitgehend (zumindest auch) durch außeruniversitäre Ausbilder (mit-)getragen wird? Welche anderen Fakultäten gibt es, in denen die Professoren nahezu ausschließlich nach C 4 / W 3 besoldet sind? Ist das alles Zufall und unabhängig voneinander oder verweist es auf spezifische Eigentümlichkeiten unserer Wissenschaft? Staatsrechtslehre wird hier in einem umfassenden Sinne als Teilbereich der Rechtswissenschaft angesehen, die sich mit dem Staat und seinem Handeln befasst; es geht mir primär um eine kürzelhafte Bezeichnung für die Wissenschaft des Öffentlichen Rechts im weiten Sinne. Dabei ist nicht eine besondere begriffliche Betonung des Staates in „Staatsrechtslehre“ erkenntnisleitend4; es geht um die Gesamtheit dessen, was für das Forschungsfeld der Staatsrechtslehre kennzeichnend ist, die also das fachliche Spektrum der Aufnahmevoraussetzungen der Staatsrechtslehrervereinigung erfüllen – „auf dem Gebiet des Staatsrechts und mindestens eines weiteren öffentlich-rechtlichen Fachs“ zu forschen5. Worin bestehen die wissenschaftlichen Eigenarten dieser Wissenschaft und / oder dieser Wissenschaftler? Es lassen sich mindestens drei Problemebenen voneinander abschichten (ohne dass ihnen auch die Gliederung dieses Beitrags folgen soll): Zunächst ist Staatsrechtslehre ein Teil der Rechtswissenschaft, für den auch alle Eigenarten gelten, die für die Rechtswissenschaften mit allen ihren Teilbereichen auch gelten. Die Unterschiede der Rechtswissenschaft im Allgemeinen zu anderen Wissenschaften sind daher auch Teil der Frage nach dem besonderen wissenschaftlichen Charakter der Staatsrechtslehre als Disziplin im System der Wissenschaften. Es geht nicht nur um die Unterschiede, sondern auch um Gemeinsamkeiten und Wechselwirkungen 3 Ausweislich des Jahresberichts 2005 entfallen von 262 Sonderforschungsbereichen der DFG 36 auf die Geistes- und Sozialwissenschaften, von denen zehn auch unter dem Stichwort „Rechtswissenschaft“ arbeiten sollen, auch wenn es stets um andere Geistes- oder Sozialwissenschaften geht. Lediglich in den SFB 485, 584 und 597 erscheinen insgesamt vier Staatsrechtslehrer, vgl. www.dfg.de / forschungsfoerderung / koordinierte-programme. 4 Anders etwa J. Isensee, Staat und Verfassung, in: ders. / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR II, 3. Aufl. 2004, § 15 Rn. 6 ff.; in retrospektiver Essayistik U. Di Fabio, Die Staatsrechtslehre und der Staat, 2003. 5 So § 2 Abs. 1 der Satzung der VDStRL i.d.F. vom 4. 10. 2006, VVDStRL 66 (2007), S. 567.

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durch den Verbund verschiedener Wissenschaften, etwa auch durch Interdisziplinarität. Im Unterschied dazu ist auf einer weiteren Problemebene nach spezifischen Besonderheiten die Staatsrechtslehre als Wissenschaft in Unterscheidung zu anderen Teilen der Rechtswissenschaft zu fragen. Hat der Staat als Gegenstand des Öffentlichen Rechts und hat die Eigenart des Öffentlichen Rechts als Sonderrecht des Staates besondere, spezifische Folgen für die Art und Weise, in der Staatsrechtslehre als Wissenschaft betrieben wird, die sich von anderen rechtswissenschaftlichen Vorgehensweisen unterscheiden? Sind solche Unterschiede über den Gegenstandsbereich hinaus auch sonst wissenschaftskonstituierend? Auf einer dritten Problemebene lässt sich nach Unterschieden zwischen verschiedenen Feldern der Wissenschaft des Öffentlichen Rechts fragen. Gibt es jenseits der sachgegenständlichen Unterschiede qualitative Differenzierungen zwischen der Wissenschaft der Staatsrechtslehre i.e.S. und einerseits der z. B. Verwaltungsrechtslehre6, andererseits etwa der Europarechtswissenschaft7?

II. Ist eine Wissenschaftstheorie der Staatsrechtslehre als Rechtswissenschaft möglich und nötig? 1. Eigenständigkeit der Rechtswissenschaft

Worin unterscheidet sich die Staatsrechtslehre als Rechtswissenschaft von anderen Wissenschaften? Darin ist zunächst die Annahme enthalten, dass es solche Unterschiede gibt und Rechtswissenschaft nicht im Programm einer Einheitswissenschaft ihre Eigenständigkeit verliert. Hans Albert hat in diesem Sinne versucht, die Rechtswissenschaft i.S. einer Sozialtechnologie als Teil einer empirisch-analytischen Sozialwissenschaft zu begründen8. So sehr man Entscheidungsvorschläge für die Lösung von Rechtsproblemen als Falsifikationsverfahren von Hypothesen am Maßstab eines vorhandenen Rechtssystems konstruieren kann9, so wenig scheint jene 6 Siehe näher F. Schoch, Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Verwaltungsrechtslehre und Staatsrechtslehre, sowie J. Oebbecke, Verwaltungsrechtslehre und Verwaltungswissenschaft, beide in diesem Band, S. 177 ff. bzw. S. 211 ff. 7 Siehe näher I. Pernice, Europarechtswissenschaft oder Staatsrechtslehre? Eigenarten und Eigenständigkeit der Europarechtslehre, sowie M. Ruffert, Was kann die deutsche Europarechtslehre von der Europarechtswissenschaft im europäischen Ausland lernen?, beide in diesem Band, S. 225 ff. bzw. S. 253 ff. 8 H. Albert, Erkenntnis und Recht. Die Jurisprudenz im Lichte des Kritizismus, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2 (1972), S. 80 ff.; ders., Recht als Realwissenschaft, 1993; siehe als Darstellung E. Hilgendorf, Hans Albert, 1997, S. 108 ff. 9 So auch W. Frisch, Wesenszüge rechtswissenschaftlichen Arbeitens – am Beispiel und aus der Sicht des Strafrechts (Kommentar), in: Ch. Engel / W. Schön (Hrsg.), Das

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realwissenschaftliche Konstruktion Theorie und Praxis der real existierenden Rechtswissenschaft als einer nach ihrem Selbstverständnis dogmatisch-normativen Disziplin zu treffen10. Auch die Rechtslehre Hans Kelsens beansprucht, die Rechtswissenschaft zur wahren oder richtigen Wissenschaft und damit für andere Wissenschaften anschlussfähig zu machen11; sie zielt aber letztlich nicht auf die praktische Rechtsanwendung und deren Bedarf nach wissenschaftlicher Anleitung und Methodenlehre, die der rechtswissenschaftlichen Theorie und Dogmatik zumindest auch dienen will12; sie ist ungeachtet des hohen theoretischen Niveaus für die Rechtspraxis jedenfalls in Deutschland folgenlos geblieben. Auch die These, die Alleinstellung der Rechtswissenschaft liege darin begründet, dass sie stets auf eine in die Lebenswirklichkeit eingreifende juristische Entscheidung ausgerichtet sei13, begrenzt Rechtswissenschaft auf Rechtsdogmatik, die die Grundlagenfächer nicht berücksichtigt oder allein auf ausbildungsspezifische Zwecke reduziert. Eine metadogmatische Sicht ist nicht nur wissenschaftlich wichtig14, sondern steht andernorts im Zentrum der rechtswissenschaftlichen Arbeit15. Der besondere Charakter der Staatsrechtslehre als Wissenschaft erschließt sich wohl nur, wenn man unterschiedliche Fragestellungen, Funktionen und Herangehensweisen herausarbeitet, die sich hinter dem Proprium der Rechtswissenschaft, 2007, ab Fn. 103 ff.; J. H. Klement, Verantwortung, 2006, S. 91 ff.; U. Neumann, Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft, in: A. Kaufmann / W. Hassemer / U. Neumann (Hrsg.), Einführung in Rechtsphilosophie und Rechtstheorie de Gegenwart, 7. Aufl. 2004, S. 385 (390 ff.); J.-P. Damas, Ist die Rechtswissenschaft eine „Wissenschaft“, ARSP 89 (2003), S. 186 (188 ff.); C.-W. Canaris, Funktion, Struktur und Falsifikation juristischer Theorien, JZ 1993, S. 377 (385 ff.); B. Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, Der Staat 19 (1980), S. 73 (88 ff.); Falsifikationskriterien sind dann freilich nicht empirische, sondern normative Sätze; krit. dazu aber H.-J. Koch, Die Begründung von Grundrechtsinterpretationen, EuGRZ 1986, S. 345 (355 f.), auch in: R. Alexy u. a., Elemente einer juristischen Begründungslehre, 2003, S. 179 (203 f.). 10 Siehe nur S. Huster, Rechtswissenschaft als Realwissenschaft? Anmerkungen zu Hans Alberts Konzeption der Jurisprudenz, in: FS Hans Albert, 2006, S. 385 (389 ff.); Neumann, Wissenschaftstheorie (FN 9), S. 398; krit. schon E. v. Savigny, Die Jurisprudenz im Schatten des Empirismus. Polemische Anmerkungen zu Hans Albert: Erkenntnis und Recht, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2 (1972), S. 97 ff. 11 Gleichsinnige bewusste rechtstheoretische Selbstbescheidung bei M. Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein . . ., 2006, S. 27 ff., 69 ff. u. ö.; zum Problem ausf. H. Dreier, Hans Kelsens Wissenschaftsprogramm, in diesem Band S. 81 (82 ff.). 12 Vgl. Dreier, Wissenschaftsprogramm (FN 11), S. 106 ff.; siehe auch K. Adomeit, Rechtstheorie für Studenten, 4. Aufl. 1998, S. 15. 13 So W. Ernst, Gelehrtes Recht, in: Engel / Schön (Hrsg.), Proprium (FN 9), bei Fn. 31, vor Fn. 36; Jestaedt, Theorie (FN 11), S. 70 mit Fn. 202; C. Gusy, Brauchen wir eine juristische Staatslehre?, JöR 55 (2007), S. 41 (56 f.). 14 Siehe etwa M. Morlok, Reflexionsdefizite in der deutschen Staatsrechtslehre, in diesem Band S. 49 (51 ff., 62 f., 74). 15 Vgl. O. Lepsius, Was kann die deutsche Staatsrechtslehre von der amerikanischen Rechtswissenschaft lernen?, in diesem Band S. 319 (319 ff., 335 ff., 361).

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Einheitskürzel „Staatsrechtslehre als Rechtswissenschaft“ verbergen. Staatsrechtslehre ist teils hermeneutische, teils systematisierende, teils theoriebildende Wissenschaft16; ihr fehlt es aber an einer adäquaten Wissenschaftstheorie17, die die verschiedenen Dimensionen plausibel vereint. Die Frage nach der Möglichkeit einer Wissenschaftstheorie der Staatsrechtslehre sieht sich vor der Schwierigkeit, dass sich Staatsrechtslehre in nahezu allen Versuchen der Systematisierung der Wissenschaften gegen eindeutige Zuordnungen sperrt.

2. Gegenstandsbereiche: Sein und Sollen

Schon der Gegenstandsbereich von Staatsrechtslehre ist umstritten. Ist sie im Sinne Kelsens vor allem eine Normwissenschaft18 oder gehören zu ihr jedenfalls auch im Sinne einer seinswissenschaftlichen Betrachtung empirischanalytische Aussagen?19 Schon der Blick auf die heute nicht nur in Deutschland vorherrschende Argumentationspraxis in der Staatsrechtslehre zeigt, dass sie mit funktionalen Argumenten oder im Gewande teleologischer Auslegung mit einer Fülle empirischer, also seinswissenschaftlicher Betrachtung zugänglichen Annahmen arbeitet20, mehr noch: Sie muss so arbeiten, wenn der normative Anspruch des Rechts nur im Blick auf reale Probleme konkretisiert werden kann und diese Realität den Norminhalt mitbestimmt21. Staatsrechtslehre lässt sich daher wohl jedenfalls aus rechtspraktischen Gründen nicht auf eine bloße Normwissenschaft reduzieren, so sehr andererseits die Rechtsordnung die Rezeption der Erkenntnisse empirisch-analytischer Wissenschaften notwendigerweise kontrolliert und steuert22. 16 So (für das Strafrecht) Frisch, Wesenszüge (FN 9), bei Fn. 4 ff., 16 ff., 61 ff.; zur Besonderheit dogmatischer Theorien Neumann, Wissenschaftstheorie (FN 9), S. 394 ff. 17 C. Bumke, Die Entwicklung der verwaltungsrechtswissenschaftlichen Methodik in der Bundesrepublik Deutschland, in: E. Schmidt-Aßmann / W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 73 (78 f.), für die Verwaltungsrechtswissenschaft; für eine Verabschiedung von Staatsrechtslehre als einheitlicher Disziplin zugunsten eines Disziplin-Clusters einer Vielzahl von Wissenschaften des Öffentlichen Rechts mit je unterschiedlichen methodischen Zugängen als einfachen Ausweg: M. Jestaedt, „Öffentliches Recht“ als wissenschaftliche Disziplin, in: Engel / Schön (Hrsg.), Proprium (FN 9), bei Fn. 151. 18 H. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, S. 4 ff.; Dreier, Wissenschaftsprogramm (FN 11), S. 86 ff.; prägnant O. Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, 1994, S. 324 ff. 19 Vgl. (im Blick auf die Differenz zwischen Kelsen und den Heidelberger Neukantianismus) U. Neumann, Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft bei Hans Kelsen und Gustav Radbruch, in: S. L. Paulson / M. Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, 2005, S. 32 (39 ff.). 20 Dazu auch Morlok, Reflexionsdefizite (FN 14), S. 53 ff. 21 F. Müller / R. Christensen, Juristische Methodik, Band I: Grundlagen des Öffentlichen Rechts, 9. Aufl. 2004, Rn. 15 ff., 32 ff., 230 ff., 278 ff.; W. Hoffmann-Riem, Methoden einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, in: SchmidtAßmann / Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden (FN 17), S. 9 (36 ff.).

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Helmuth Schulze-Fielitz 3. Systematische Zäsuren: Geistes- oder Sozialwissenschaft

Bei der Einordnung der Rechtswissenschaft allgemein und der Staatsrechtslehre im Besonderen zeigt sich, dass sich unser Fach nur schwer in die üblichen Erscheinungsformen der Systematisierung einordnen lässt. Staatsrechtslehre ist zwar gewiss keine Naturwissenschaft, aber jenseits dieser Ausgrenzung kommt es auf die nach unterschiedlichen Zweckmäßigkeitskriterien wählbaren erkenntnisleitenden Ordnungskriterien an. Eine prinzipiell mögliche Abgrenzung gegenüber den Naturwissenschaften als Kulturwissenschaft23 verfehlt wohl das Proprium der Rechtwissenschaften gegenüber anderen Kultur- oder Geisteswissenschaften, weil es der Rechtswissenschaft um mehr als nur um das hermeneutisch philologische Verständnis von Normtexten geht, nämlich auch um die wissenschaftliche Anleitung zu wertenden und damit normsetzenden, situationsspezifischen Entscheidungen bzw. Entscheidungsvorschlägen, wie sie in der Rechtsdogmatik systematisiert und gespeichert werden24; Rechtswissenschaft ist insoweit am Erkenntnisziel orientiert, richtige Aussagen über den Gehalt positiver Rechtsnormen und ihre richtige Anwendung zu gewinnen25. Sie ist andererseits mehr als nur eine Formalwissenschaft korrekter Gesetzesanwendung26, nicht nur weil eine rechtswissenschaftliche Staatsrechtslehre in der metadogmatischen Grundlagenperspektive der Geschichte, Soziologie und Theorie des Öffentlichen Rechts eine Realwissenschaft mit erklärendem und prognostischem Anspruch ist, sondern weil auch schon eine entscheidungsorientierte wissenschaftliche Rechtsdogmatik mit ihren wissenschaftlich begründeten Handlungsempfehlungen auf empirisch-analytisch feststellbare Annahmen angewiesen ist27. Die Staatsrechtslehre kann insoweit auf die Fragestellung und Ergebnisse empirischanalytischer Sozialwissenschaften angewiesen sein, ohne dass sie damit 22 Gusy, Staatslehre (FN 13), S. 54 ff., 59; Jestaedt, Disziplin (FN 17), bei Fn. 179; O. Lepsius, Sozialwissenschaften im Verfassungsrecht – Amerika als Vorbild?, JZ 2005, S. 1 (2, pass.); Hoffmann-Riem, Methoden (FN 21), S. 58 ff. 23 Siehe im Blick auf Gustav Radbruch: Neumann, Wissenschaftstheorie (FN 19), S. 41 ff. 24 Neumann, Wissenschaftstheorie (FN 9), S. 388, 389 f., 396 f. 25 Vgl. Frisch, Wesenszüge (FN 9), bei Fn. 5 ff., 56 ff., 89, 126 ff., mit Verweis auf R. Dreier, Zur Theoriebildung in der Jurisprudenz (1978), in: ders., Recht – Moral – Ideologie, 1981, S. 70 (88 f.), unter Bezug auch auf „richtiges“ Recht; zum Doppelcharakter der Frage nach dem empirischen (positiven) und dem „richtigen“ (gerechten) Recht auch H. Hofmann, Einführung in die Rechts- und Staatsphilosophie, 3. Aufl. 2006, S. 3 ff. 26 Siehe auch R. Sowitzki, Jura oder Rechtswissenschaft?, VuM 12 (2006), S. 321 (321 f.). 27 Siehe zur Einbeziehung von Erfahrungswissen in die juristische Entscheidungstätigkeit M. Herberger / D. Simon, Wissenschaftstheorie für Juristen, 1980, S. 341 ff.; ausf. bereits H. Schulze-Fielitz, Sozialplanung im Städtebaurecht, 1979, S. 104 ff.

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wiederum umstandslos als Sozialwissenschaft qualifiziert werden könnte28. Die Staatsrechtslehre muss sich jedenfalls ihrer Disziplinarität, d. h. ihrer Eigenarten und Besonderheiten bewusst sein, um ihre Anschlussmöglichkeiten und -bedingungen an andere wissenschaftliche Disziplinen zu kennen29, Interdisziplinarität kann nur auf Basis der Methoden der eigenen Disziplin praktiziert werden.

4. Staatsrechtslehre zwischen Positivismus und Gerechtigkeitswissenschaft

Ungeklärt ist auch der Stellenwert von Theorien jenseits der richtigen Anwendung des positiven Rechts. Zielt Staatsrechtslehre – in einer verfassungs- und gesetzgebungspolitischen Intention – auch auf richtiges Recht i.S. von „gerechtem“ Recht?30 Welche Rolle hat eine allgemeine staatswissenschaftlich ausgerichtete (empirische oder normative) Staatslehre für die Verfassungsrechtsdogmatik, eine allgemeine verwaltungswissenschaftlich ausgerichtete (empirische oder präskriptive) Verwaltungslehre für die Verwaltungsrechtsdogmatik? Lässt sich die praktische Irrelevanz von Verwaltungsrechtsgeschichte als Ausdruck eines besonderen Verwaltungsrechtspositivismus interpretieren?31

5. Praktische Bedeutung für Staatsrechtslehre als Wissenschaft

Diese ungeklärte Offenheit des Selbstverständnisses der Staatsrechtslehre als Rechtswissenschaft dürfte erstens praktisch bedeutsame Folgen hinsichtlich der wissenschaftlichen Anschlussfähigkeit an Fragestellungen anderer Wissenschaften haben. Man hört bei inneruniversitären Anläufen zur trans- oder interdisziplinären Zusammenarbeit immer wieder von Schwierigkeiten und wechselseitigem Unverständnis, überhaupt zu gemeinsamen Fragestellungen zu kommen. Wäre sich die Wissenschaft des Öffentlichen Rechts mit ihren sehr verschiedenen unterschiedlichen Problemebenen ihrer selbst gewiss32, könnten scheinbar methodisch bedingte

28 H.-H. Trute, Staatsrechtslehre als Sozialwissenschaft?, in diesem Band S. 115 (123 ff.); tendenziell anders für die Rechtswissenschaft: A. Büllesbach, Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaft, in: Kaufmann u. a. (Hrsg.), Einführung (FN 9), S. 401 (404 ff.); C. Engel, Rechtswissenschaft als angewandte Sozialwissenschaft. Die Aufgabe der Rechtswissenschaft nach der Öffnung der Rechtsordnung für sozialwissenschaftliche Theorie, in: ders. (Hrsg.), Methodische Zugänge zu einem Recht der Gemeinschaftsgüter, 1998, S. 11 ff. 29 Vgl. Gusy, Staatslehre (FN 13), S. 68 f., dort bezogen auf eine juristische Staatslehre. 30 Vgl. erneut Nw. in FN 25. 31 Vgl. C. Möllers, Historisches Wissen in der Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Schmidt-Aßmann / Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden (FN 17), S. 131 (144, 148 f.).

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Schwierigkeiten der Annäherung wesentlich verkleinert werden. Auch andere Wissenschaften fänden umgekehrt Zugang zu einer für sie oft verschlossenen Welt von Rechtsdogmatik. Schließlich könnte auch die wissenschaftliche Ausbildung von Studenten, über juristische Falllösungen auf der Ebene von Jurisprudenz als Klugheitslehre hinaus, auf ein breiteres Verständnis von Rechtswissenschaft gegründet werden, ohne in Kategorienfehler zu verfallen. Freilich ist die wissenschaftstheoretische Verortung der Staatsrechtslehre als Rechtswissenschaft ein Folgeproblem; primär geht es um die methodische Art der Behandlung von lösungsbedürftigen Sachproblemen.

III. Wie konstitutiv ist die wissenschaftliche Methode für die Staatsrechtslehre? Jenseits der Einordnung der Staatsrechtslehre in den Kosmos der verschiedenen Wissenschaften stellt sich die Frage, ob es eine bestimmte Methode gibt, die für die Staatsrechtslehre als Wissenschaft konstitutiv ist. Es geht dabei nicht um die theoretischen Gemeinsamkeiten mit allen anderen Wissenschaften wie etwa33 vernünftige, intersubjektiv nachvollziehbare Begründungen für Behauptungen, logische Zirkelfreiheit von Definitionen und Argumenten, Ausdruckskonstanz34, Abgeschlossenheit der Voraussetzungen von theoretischen Annahmen, logische Folgerichtigkeit und Widerspruchsfreiheit35, Konsistenz mit akzeptiertem Basiswissen, Überprüfbarkeit von Aussagen mit (empirischem) Wahrheitsgehalt oder (präskriptivem) Richtigkeitsanspruch; sondern es geht um den wissenschaftstypischen Konsens der Staatsrechtslehre über das, was sie als methodisch korrekt und angemessen ansieht, und worin sich dieser Konsens von anderen wissenschaftlichen Methoden unterscheidet.

1. Die juristische Methode als Ausgangspunkt

Nach verbreiteter Ansicht konstituiert sich Wissenschaft maßgeblich über ihre Methode36. Für die Staatsrechtslehre wird sowohl überwiegend die 32 Nach Bumke, Entwicklung (FN 17), S. 99 mit Fn. 108, soll die Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft ihre Selbstgewissheit in den 1970er Jahren verloren haben. 33 Vgl. Canaris, Funktion (FN 9), S. 377 ff.; K.R. Popper, Logik der Forschung, 7. Aufl. 1982, S. 41, 52, 59, 6 u. ö.; Schlink, Bemerkungen (FN 9), S. 92; siehe auch Sowitzki, Jura (FN 26), S. 322; 323. 34 Einführend in die Semiotik und Definitionslehre Herberger / Simon, Wissenschaftstheorie (FN 27), S. 205 ff., 303 ff. 35 Einführend in die Logik Herberger / Simon, Wissenschaftstheorie (FN 27), S. 17 ff.

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„juristische Methode“ ebenso wie auch für die Disziplin des Verwaltungsrechts als konstitutiv angesehen37 mit der Folgegefahr, „dass das Verlassen der Disziplin zur Disziplinlosigkeit führen kann (nicht muss)“38; und doch verstellt schon ein Abstellen allein auf die streng juristische Methode und ihre rechtsaktbezogene Perspektive39 andere bereits anerkannte Methoden rechtswissenschaftlicher Arbeit, die nicht primär an der Anwendung des Rechts orientiert sind, etwa in den Grundlagenfächern Verfassungs- und Rechtsgeschichte, Verfassungstheorie, Staatsphilosophie, Staats-, Verwaltungs- und Rechtssoziologie, oder auch in der Verfassungs- und Verwaltungsrechtsvergleichung40. Ein striktes und selbstbewusstes Beharren auf der eigenen Disziplin, verbunden mit der Warnung vor Methodensynkretismus, vor Dilettantismus, vor dem Verlust der Fachkunde rechtsdogmatischer Arbeit als einer lebensausfüllenden beruflichen Aufgabe41, führt direkt zu Vorbehalten auch gegenüber interdisziplinärer Wissenschaft, ohne eine Perspektivenvielfalt zu bestreiten: Die Staats- und Verwaltungsrechtswissenschaft soll sich aber mit ihren begrenzten methodischen Aufgaben bescheiden42. Auch die Betonung, dass der Erkenntniswert anderer Wissenschaften wie etwa der Staats- oder Verwaltungssoziologie gerade im Absehen von normativen Fragestellungen besteht43, formuliert letztlich Zweifel an wissenschaftlichen Synergieeffekten. Auch im Verwaltungsrecht soll danach seit Otto Mayer eine hermeneutische Methode dominieren, die unter 36 Siehe jüngst Jestaedt, Disziplin (FN 17), bei Fn. 31 ff., 138 ff.; A. Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: W. Hoffmann-Riem / E. Schmidt-Aßmann / A. Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 1 Rn. 1 m. w. N.; zur Abgrenzung über ihren Erkenntnisgegenstand siehe unten VI., S. 38 ff. 37 So W. Krebs, Die Juristische Methode im Verwaltungsrecht, in: Schmidt-Aßmann / Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden (FN 17), S. 209 (219 ff.); ders., Sozialwissenschaften im Verwaltungsrecht: Integration oder Multiperspektivität, in: Die Wissenschaft vom Verwaltungsrecht, 1999 (= Die Verwaltung, Beiheft 2), S. 127 (127 f.), im Anschluss an Fritz Fleiners Antrittsrede von 1906; gleichsinnig D. Ehlers, Verwaltung und Verwaltungsrecht im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, in: H.-U. Erichsen / D. Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 13. Aufl. 2006, § 2 Rn. 90; siehe auch Bumke, Entwicklung (FN 17), S. 85 ff., 93; zur historischen Entwicklung M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Band II, 1992, S. 229 ff., 381 ff.; ders., Entwicklungsstufen der Verwaltungsrechtswissenschaft, in: GVwR I (FN 36), § 2 Rn. 26 ff.; zur Beschränkung auf den „strictly legal point of view“ als rechtskulturelle Errungenschaft ersten Ranges Ernst, Recht (FN 13), bei Fn. 30 ff. 38 Krebs, Sozialwissenschaften (FN 37), S. 128; positiver gewendet: R. Czada, Disziplinäre Identität als Voraussetzung interdisziplinärer Verständigung, in: K. Bizer u. a. (Hrsg.), Responsive Regulierung, 2002, S. 25 ff. 39 Dazu Bumke, Entwicklung (FN 17), S. 75 ff. 40 Zur Methodenvielfalt der rechtswissenschaftlichen Disziplinen Hoffmann-Riem, Methoden (FN 21), S. 14 f. 41 Krebs, Sozialwissenschaften (FN 37), S. 128. 42 Ebenso für die Staatswissenschaft C. Möllers, Staat als Argument, 2000, S. 418 ff.; offener Krebs, Methode (FN 37), S. 210 ff. 43 Vgl. C. Möllers, Theorie, Praxis und Interdisziplinarität in der Verwaltungsrechtswissenschaft, VerwArch 93 (2002), S. 22 (45), unter Verweis auf G. Roellecke, Verwaltungswissenschaft – von außen gesehen, VerwArch 91 (2000), S. 1 (7).

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Ausklammerung aller nichtjuristischen Erwägungen den Bestand an öffentlich-rechtlichen Normen nach den die einzelnen Gesetzesnormen übergreifenden leitenden normativen Ideen systematisiert44, mögen auch manche Sichtweisen den juristischen Klassikern des 19. Jahrhunderts oft eher übertrieben unterstellt werden.

2. Dominanz der Rechtsdogmatik als entscheidungsorientierte Systematik

Für die Staatsrechtslehre als Rechtswissenschaft gilt grundsätzlich, was auch für andere Teile der Rechtswissenschaft gilt; sie systematisiert den Rechtsstoff vor allem des positiven Rechts nach allgemeinen Kriterien im Blick auf Entscheidungen. Die Ziele dieser Systematisierung durch Dogmatik lassen sich dahingehend verallgemeinern45, dass bei der Auslegung und Anwendung des Rechts die Bindung an die demokratischen Entscheidungen des Gesetzgebers gewährleistet wird, Wertungswidersprüche vermieden werden, durch dogmatische Konsistenz und Kontinuität der Rechtspraxis Wertungsgerechtigkeit gespeichert und gewährleistet wird und die Praxis durch eine einzelfallübergreifende Perspektive und durch systematische Geschlossenheit und rechtsstaatliche Berechenbarkeit davon entlastet wird, jeden Einzelfall immer wieder umfassend neu zu durchdenken. Auf diese Weise werden auch Sonderinteressen zugunsten verallgemeinerungsfähiger Entscheidungskriterien zurückgedrängt. Allgemeiner machen dogmatische Theorien den Rechtsstoff lernbar, haben lückenfüllende oder kollisionslösende Funktion und geben selbst der rechtspolitischen Diskussion Konsistenzmaßstäbe vor46, auch wenn sich der Gesetzgeber über eine bestehen44 Vgl. zuletzt C. Engel, Herrschaftsausübung bei offener Wirklichkeitsdefinition, Reprints of the Max Planck Institute for Research on Collective Goods, Bonn 2006 / 13, S. 12, auch in ders. / Schön (Hrsg.), Proprium (FN 9); Bumke, Entwicklung (FN 17), S. 86 f.; Möllers, Wissen (FN 31), S. 142; E. Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, Kap. I Rn. 3; ausf. A. Hueber, Otto Mayer. Die „juristische Methode“ im Verwaltungsrecht, 1982, S. 29 ff. 45 Siehe am Beispiel des Verwaltungsrechts Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (FN 44), Kap. I Rn. 1 ff.; Krebs, Methode (FN 37), S. 213 ff.; Hoffmann-Riem, Methoden (FN 21), S. 18 m. w. N.; W. Brohm, Kurzlebigkeit und Langzeitwirkung der Rechtsdogmatik, in: FS Maurer, 2001, S. 1079 (1081 ff.); ausf. H. Dreier, Merkls Verwaltungsrechtslehre und die heutige deutsche Dogmatik des Verwaltungsrechts, in: R. Walter (Hrsg.), Adolf J. Merkl – Werk und Wirksamkeit, 1990, S. 55 (56 ff.); M. Morlok, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Verfassungstheorie?, 1988, S. 39 ff.; siehe auch M. Schulte, Schlichtes Verwaltungshandeln, 1995, S. 9 ff., 185 ff.; H. SchulzeFielitz, Verwaltungsrechtsdogmatik als Prozess der Ungleichzeitigkeit, Die Verwaltung 27 (1994), S. 277 (292 ff.); am Beispiel des Strafrechts Frisch, Wesenszüge (FN 9), bei Fn. 6 ff. 46 B. Schlink, Abschied von der Dogmatik. Verfassungsrechtsprechung und Verfassungsrechtswissenschaft im Wandel, JZ 2007, S. 157 (162), im Anschluss an A. Podlech, Rechtstheoretische Bedingungen einer Methodenlehre juristischer Dogmatik, in: Jahrbuch für Rechtstheorie und Rechtssoziologie 2 (1972), S. 491 (492 ff.); zur

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de Gesetzesdogmatik hinwegsetzen darf, weil Dogmatik eine primär dienende Funktion hat47.

3. Erscheinungsformen methodischen und dogmatischen Wandels

Das scheinbar klare Bild von der wissenschaftskonstituierenden Rolle von Methode und Dogmatik für die Wissenschaft des Öffentlichen Rechts verdunkelt sich, wenn man einige (vielleicht) fundamentale, jedenfalls charakteristische Erscheinungsformen methodischen Wandels berücksichtigt, sowohl in der Praxis wie in der Wissenschaft. a) Methodenarmut in der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung. Eine erste beispielhafte Erscheinungsform des Wandels scheint ein Verlust des Gewichts der verfassungsrechtlichen Dogmatik in der Praxis der Rechtsprechung des BVerfG zu sein. Bernhard Schlink hat soeben aus verschiedenen Rechtsprechungsänderungen gefolgert, der neueren Rechtsprechung des BVerfG sei ein Moment der Beliebigkeit eigentümlich, weil sie sich von der Tradition der Selbstbindung der Rechtsprechung durch Dogmatik zu Gunsten einer Rechtsprechungskasuistik verabschiede48. Er hält den Prozess zwar für unumkehrbar und unaufhaltsam, dies aber wegen der Tendenz des BVerfG, wie alle Machtzentren auch seine Aufgaben und Befugnisse auszudehnen, und wegen der praktischen Funktionsfähigkeit dieses Vorgehens: „Mehr Beliebigkeit, mehr Ablehnung von unten und Korrektur von oben, mehr Gefühl aller Beteiligten und Betroffenen dafür, dass mit den Rechtsfragen Machtfragen entschieden werden, bedeuten nicht etwa eine funktionsunfähige Gerichtsbarkeit, nur eine andere“49. Er geht dabei indessen davon aus, dass das BVerfG prinzipiell die Möglichkeit hat oder gehabt hätte, mit Hilfe der herkömmlichen Tradition der Verfassungsrechtsdogmatik auf der Basis einer spezifisch juristischen Rationalität sich von solchem Wandel freizuhalten50. Ist das nicht aber gerade das Problem? Könnte dieser Wandel nicht schlechthin unvermeidlich sein, weil die immer stärkere Differenziertheit von Dogmatik in Rechtsprechung und Lehre die Vielfalt dogmatisch konsistenter Entscheidungsbegründungen auch für unterschiedliche Entscheidungsergebnisse erhöht hat und wedisziplinierenden Wirkung auf den Gesetzgeber Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (FN 44), Kap. I Rn. 7. 47 Vgl. Jestaedt, Theorie (FN 11), S. 81; M. Pöcker, Unaufgelöste Spannungen und blockierte Veränderungsmöglichkeiten im Selbstbild der juristischen Dogmatik, Rechtstheorie 37 (2006), S. 151 (155 f.); Neumann, Wissenschaftstheorie (FN 9), S. 395 f.; H. Schulze-Fielitz, Theorie und Praxis parlamentarischer Gesetzgebung, 1988, S. 524 f. 48 Schlink, Abschied (FN 46), S. 160 ff. 49 Schlink, Abschied (FN 46), S. 161. 50 Schlink, Abschied (FN 46), S. 162.

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gen der Begrenztheit der juristischen Methode mit ihren „Gewissheitsverlusten“51 zunehmend einen Rückgriff auf den Wertungshintergrund für die Methodenauswahl und die dogmatischen Figuren notwendig wird (und damit auch auf politische oder gerechtigkeitsorientierte Wertungen)? Nagt nicht zudem die Inkonsistenz der von den Gesetzgebern geschaffenen Rechtsordnung an der Stringenz von dogmatischen Aussagen, weil „dogmatische Systembildung und Vergesetzlichung ohne Kodifikationspotential . . . sich antagonistisch zueinander (verhalten)“52? Unterliegt das Ideal rechtsstaatlicher Rationalität nicht einer Erosion53, indem es eine Diskrepanz zwischen dem normativen Leistungsanspruch der Rechtsdogmatik als Anleitung zur Entscheidungsfindung54 und ihrer tatsächlichen Determinationskraft gibt? Jedenfalls ist Schlink zuzustimmen, dass solche Veränderungen Rückwirkungen auf die Verfassungsrechtswissenschaft und ihr Selbstverständnis haben und haben müssen. b) Methodenpluralismus in der Verwaltungsrechtswissenschaft. Es erscheint signifikant, dass auch die an die Wissenschaft des Öffentlichen Rechts herangetragenen Probleme durch eine isoliert staatsrechtliche oder rechtswissenschaftliche Methode nicht angemessen abgearbeitet werden können, wie sich beispielhaft in der Verwaltungsrechtswissenschaft ablesen lässt. Dort ist einerseits ein Festhalten an der rechtsdogmatischen Arbeitsweise unter ihrer Fortschreibung in Anpassung an grundlegende Veränderungen der Rechtsordnung zu beobachten55, auch unter Überschreitung verwaltungsrechtswissenschaftlicher Fachgrenzen56, sofern sich solche Änderungen in den Formen des Rechts vollziehen. Andererseits gibt es eine starke Tendenz, die rechtsaktbezogene juristische Methode und ihre an der Dichotomie rechtswidrig / rechtmäßig orientierte Dogmatik um eine im Blick auf die Zwecke und Aufgaben der Verwaltung verhaltensbezogene dritte Perspektive ordnungsbildender Grundsätze unter Rückgriff auf nichtdogmatische Disziplinen zu ergänzen (nicht: zu ersetzen)57; diese führt tendenziell zu einer geringeren Stringenz der Systematik. 51 G. Haverkate, Gewissheitsverluste im juristischen Denken. Zur Politischen Funktion der juristischen Methode, 1977. 52 C. Möllers, Methoden, in: GVwR I (FN 36), § 3 Rn. 12, unter Verweis auf J. v. Kirchmann, Über die Werthlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, 1847. 53 So etwa W. Hoffmann-Riem, Die Klugheit der Entscheidung ruht in ihrer Herstellung – selbst bei der Anwendung von Recht, in: A. Scherzberg u. a. (Hrsg.), Kluges Entscheiden, 2006, S. 3 (3 ff., 16 f. u. ö.). 54 Zu diesem Verständnis Krebs, Methode (FN 37), S. 215, am Beispiel des Verwaltungsrechts. 55 Bumke, Entwicklung (FN 17), S. 109 ff. 56 Bumke, Entwicklung (FN 17), S. 115 ff., am Beispiel von Planung und Risiko. 57 Bumke, Entwicklung (FN 17), S. 105 ff., 120 ff., 126; zum Programm einer „neuen“ Verwaltungswissenschaft Voßkuhle (FN 36), § 1 Rn. 9 ff., 16 ff.; siehe auch als kritische Würdigungen F. Ossenbühl und K. Lange, Grundlagen des Verwaltungsrechts, Die Verwaltung 40 (2007), S. 125 ff. bzw. S. 135 ff.

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Eine Erscheinungsform ist die zunehmende Verwendung von interdisziplinären, rechtsdogmatisch unklaren „Brücken-, Schlüssel- oder Verbundbegriffen“, um die Komplexität von Sachverhalten angemessen zu erfassen58, z. B. „Verantwortung“ in vielerlei begrifflicher Zusammensetzung59, oder der Begriff „Governance“, der staatliches Handeln übergreifend zu betrachten sucht im Zusammenspiel mit der Gesamtheit sonstiger vielfältiger Regelungsformen gesellschaftlicher Sachverhalte einschließlich des Zusammenspiels von Staat und Privaten in gemeinsamen Kooperationsformen nach formellen und informellen Normen60. Die verwaltungsrechtliche Verwendung von Leitbildern, Typologien oder skalierenden Begriffen ist ein weiteres Kennzeichen. Solche übergreifende Betrachtung gründet (wohl) allgemein in einer gewandelten oder gesunkenen Problemlösungsfähigkeit des Staates61 und einer allein juristischen Betrachtung seines Handelns; sie reagiert auf nicht primär rechtsförmige Veränderungen und zielt auf weitergehende Richtigkeitsmaßstäbe jenseits bloßer Rechtmäßigkeit62, u. a. auf die Rationalität63 und Effizienz staatlichen Handelns im Blick auf die Ergebnisse für das Gemeinwesen unter Berücksichtigung von Staat und Markt als Steuerungsmedien. Methodisch muss dann eine isoliert rechtswissenschaftliche Herangehensweise unzureichend sein, gewinnen speziell ökonomische Betrachtungen ein u.U. rechtsverdrängendes, Rechtsstaatlichkeit überspielendes Gewicht64, erfahren nichtrechtliche Qualitätsstandards für das Handeln von Staat und Verwaltung im Rahmen des Rechts einen Bedeutungsgewinn. Entgegen einer Ausbildung, die Gesetzestreue und Rechtssicherheit als dominante Werte öffentlichen Verwaltungshandelns ansehen soll65, werden nach internationalen Vorbildern auch in Deutschland quantifizierbare qualitative Leistungsvergleiche zwischen den Verwaltungen bedeutsam, bei denen nicht die Rechtmäßigkeit staatlichen Handelns, sondern die sachliche Qualität des Ergebnisses für die Bürger im Vordergrund steht. Diese Ent58 Zu damit verbundenen verkappten Historisierungen Möllers, Wissen (FN 31), S. 153. 59 Umfassend jetzt Klement, Verantwortung (FN 9), S. 29 ff., 55 ff., 193 ff. 60 Siehe zuletzt M. Seckelmann, Keine Alternative zur Staatlichkeit – Zum Konzept der „Global Governance“, VerwArch 98 (2007), S. 30 (30 ff., 41) m. w. N. 61 Seckelmann, Alternative (FN 60), S. 33 f. 62 Hoffmann-Riem, Methoden (FN 21), S. 46 ff. 63 Allg. A. Scherzberg, Rationalität – Staatswissenschaftlich betrachtet. Prolegomena zu einer Theorie juristischer Rationalität, in: FS Erichsen, 2004, S. 177 (181 ff.); H. Schulze-Fielitz, Rationalität als rechtsstaatliches Prinzip für den Organisationsgesetzgeber. Über Leistungsfähigkeit und Leistungsgrenzen „weicher“ Leitbegriffe in der Rechtsdogmatik, in: FS Vogel, 2000, S. 311 (312 ff., 320 ff.). 64 Seckelmann, Alternative (FN 60), S. 41 f., 46. 65 So J. Bogumil, Probleme und Perspektiven der Leistungsmessung in Politik und Verwaltung, in: S. Kuhlmann / J. Bogumil / H. Wollmann (Hrsg.), Leistungsmessung und -vergleich in Politik und Verwaltung, 2004, S. 392 (397).

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wicklung steht im Kontext einer durch die Vorstellungen des New Public Management forcierten Wandels vom Primat der Verfahrens- und Regelsteuerung des Verwaltungshandelns zum Primat der Ziel- und Ergebnissteuerung der Verwaltung bzw. von der hierarchisch-bürokratisch externen rechtlichen und finanziellen Steuerung zu einem „managerialem“ Verständnis der Aufgabenerfüllung66, wie es im Neuen Steuerungsmodell auf kommunaler Ebene verbreitet praktische Bedeutung gewonnen hat67. Die Frage nach der Qualität einer rechtswissenschaftlichen Methodik stellt sich hier erst gar nicht mehr, obwohl solche neuen Wirkungselemente auch i.S. von Folgenorientierung in einer rechtsgeprägten Verwaltung rechtsdirigiert sein müssen68, d. h. ökonomische Rationalitätsmodelle müssen nach Kriterien des Rechtssystems und der Rechtswissenschaft selektiv rezipiert werden69.

4. Praktische Bedeutung für Staatsrechtslehre als Wissenschaft

Wenn man die immanenten Grenzen juristischer Methodik anerkennt, für dysfunktional hält und damit eine methodische Ausweitung des Wissenschaftsprogramms der Staatsrechtslehre ernst nimmt, dann liegen einige praktische Folgerungen nahe. Einmal wäre im Interesse der Wahrung methodisch angeleiteten Vorgehens systematisch das Bemühen um Trans- oder Interdisziplinarität zu stärken70. Das ist auf zwei Ebenen möglich: erstens im Wege der Selbstreflexion des Faches auf seine historischen, theoretischen und empirischen Grundlagen; das Fach kann sich jedenfalls nicht in einer spezifisch juristischen Methode erschöpfen, so sehr der Unterschied von Rechtmäßigkeit und Rechtswidrigkeit für die Staatsrechtslehre als Rechtswissenschaft konstitutiv bleiben muss. Aber das Gesetz ist nur eines von mehreren steuernden Faktoren bei der Gesetzesanwendung71. Zweitens lassen sich mit der verstärkten Zweckorientierung des Gesetzesrechts, etwa durch Finalprogramme im nationalen wie im europäischen 66 In diesem Sinne H. Wollmann, Leistungsmessung („Performance measurement“) in Politik und Verwaltung: Phasen, Typen und Ansätze im internationalen Überblick, in: Kuhlmann / Bogumil / Wollmann, Leistungsmessung (FN 65), S. 21 (26). 67 Siehe als empirisch valide Zwischenbilanz jetzt J. Bogumil / S. Grohs / S. Kuhlmann / A.K. Ohm, Zehn Jahre Neues Steuerungsmodell. Eine Bilanz kommunaler Verwaltungsmodernisierung, 2007. 68 Vgl. etwa Möllers (FN 52), § 3 Rn. 6; Klement, Verantwortung (FN 9), S. 123 ff.; Hoffmann-Riem, Methoden (FN 21), S. 42 f. 69 M. Morlok, Vom Reiz und vom Nutzen, von den Schwierigkeiten und den Gefahren der Ökonomischen Theorie für das öffentliche Recht, in: C. Engel / ders. (Hrsg.), Öffentliches Recht als ein Gegenstand ökonomischer Forschung, 1998, S. 1 (17 ff., 25 f.). 70 So auch Ernst, Recht (FN 13), MS 16 ff., 22. 71 Hoffmann-Riem, Klugheit (FN 53), S. 4.

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Rechts verstärkt die Wissensbestände empirisch-analytisch forschender Wissenschaften auch im Rahmen der Rechtsanwendung zur Geltung bringen, etwa aus den Sozial- oder den Wirtschaftswissenschaften72, jedenfalls soweit der zeitliche Entscheidungsdruck des juristischen Alltags von Gesetzgeber, Verwaltung oder Justiz einen solchen Rückgriff erlaubt73. Christoph Engel sieht darin sogar eine „Wiedergewinnung der disziplinären Identität“74. Ein verbreiteter Standardeinwand dagegen warnt vor Dilettantismus in anderen Bereichen und Methodensynkretismus und ruft nach spezifisch juristischer methodischer Selbstbescheidung75, um die besondere, eigenständige Bedeutung der spezifisch juristischen Rationalität zu bewahren76. Die Frage ist, ob man damit nicht tatsächlich wichtige Entscheidungskriterien zu schnell ausklammert und sich deren wissenschaftlicher Erarbeitung verschließt, statt die eigenen, tatsächlich bedeutsamen „Alltagstheorien“ fachwissenschaftlicher Kritik auszusetzen. Denn Abwägungen bei Prinzipienkollisionen werden wesentlich durch das jeweilige Gewicht der einzelnen Prinzipien in Ansehung konkreter Fallumstände determiniert, wobei die Gewichtung von empirischen Annahmen und Prognosen abhängt77. Unabhängig von solchen Bemühungen um methodenbewusstes Denken lässt sich wohl kaum bestreiten, dass die Differenzierungsmöglichkeiten methodisch angeleiteten Entscheidens insgesamt zu einem Bedeutungsverlust der klassischen juristischen Methodik geführt haben. Wenn wegen der Relativität rechtswissenschaftlicher Erkenntnis78 z. B. bei allen umstrittenen Entscheidungen des BVerfG jeweils auch das entgegengesetzte Ergebnis methodisch einwandfrei begründet dargestellt werden kann79, dann scheint die Methodik als anleitendes Entscheidungskriterium auszufallen bzw. nur für jene Fälle maßgeblich zu sein, über die ohnehin kein juristischer Streit besteht (entgegen landläufiger Auffassung nicht umgekehrt). Die Plädoyers für einen einseitigen Vorrang der historischen Auslegungsmethode im Namen des demokratischen Gesetzgebers – von Rüthers80 über Jestaedt81 bis 72 In diesem Sinne Engel, Herrschaftsausübung (FN 44), S. 32 f. u. ö.; Trute, Staatsrechtslehre (FN 28), S. 129 ff.; Schulze-Fielitz, Sozialplanung (FN 27), S. 109 ff.; siehe auch zur Sicherung eines normgeprägten Zugriffs auf die Nachbarwissenschaften Hoffmann-Riem, Methoden (FN 21), S. 58 ff. u. ö. 73 Vgl. Engel, Herrschaftsausübung (FN 44), S. 28. 74 Engel, Herrschaftsausübung (FN 44), S. 25 ff.; dezidiert a.A. Jestaedt, Theorie (FN 11), S. 38. 75 Ernst, Recht (FN 13), MS. 14 ff. 76 Krebs, Methode (FN 37), S. 217 f. 77 Vgl. zuletzt Klement, Verantwortung (FN 9), S. 142 f., 161 u. ö. 78 Siehe etwa Hoffmann-Riem, Methoden (FN 21), S. 28 ff.; Schlink, Bemerkungen (FN 9), S. 105. 79 Vgl. H. Schulze-Fielitz, Das Bundesverfassungsgericht in der Krise des Zeitgeists, AöR 122 (1997), S. 1 (4). 80 Siehe etwa B. Rüthers, Methodenrealismus in Jurisprudenz und Justiz, JZ 2006, S. 53 (56 ff.).

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zu den Vertretern des original intent82 – überschätzen die Feststellbarkeit und Eindeutigkeit „des“ gesetzgeberischen Willens, vernachlässigen den Problemlösungsauftrag des Rechts und sind unter dem Blickwinkel der handlungsanleitenden Funktion der Wissenschaft des Öffentlichen Rechts methodisch unterkomplex, letztlich auch ohne praktische richterliche Bodenhaftung83. Doch was kann an die Stelle der spezifisch juristischen Methodik treten? Möglicherweise verdeckt der Konsens der Entscheider in der Sache kraft „Judiz“ die begrenzte Leistungsfähigkeit der Methode. Das gemeinsame Vorverständnis, vielleicht auch die Verantwortung für die vom Entscheider wahrgenommenen Folgen, letztlich intuitiv gewonnene Gerechtigkeitsvorstellungen der Beteiligten und Entscheidungstraditionen sind vielleicht entscheidungsrelevanter als Methodik. Quis iudicabit: Organisation und Verfahren der Entscheidungsfindungen, die personelle Zusammensetzung von kollektiven Entscheidungsorganen, eine Ausbalancierung verschiedener Entscheidungsgremien sind dann theoretisch und praktisch wichtiger84. Wenn das so sein sollte, dann kann die wie auch immer verstandene juristische Methode im Öffentlichen Recht nicht, jedenfalls nicht allein wissenschaftskonstituierend sein. Es fehlt offenbar an einer Erkenntnistheorie der Rechtswissenschaft als Metatheorie, ohne die der Wissenschaftscharakter auch der Staatsrechtslehre zweifelhaft bleibt85: Kanonisierbare Alternativen sind nicht wirklich sichtbar, erst recht sind denkbare Folgerungen für die wissenschaftliche Ausbildung geschweige für die Universitätsorganisation völlig unklar.

IV. Staatsrechtslehre zwischen wissenschaftlicher Theorie und politischer Praxis 1. Praxisorientierung der Jurisprudenz als Kunstlehre

Es gehört vor dem Hintergrund des Strebens nach stärker praxisorientierter Forschung in allen Wissenschaftsbereichen scheinbar zu den Vorzügen der Rechtswissenschaft allgemein und der Staatsrechtslehre im Besonderen, dass sie schon immer in einer besonders hervorgehobenen und hervorzuhebenden Weise praxisorientiert sind. Die dominierende Orientierung der universitären wie der außeruniversitären Examensvorbereitung ebenso wie des 81

M. Jestaedt, Grundrechtsentfaltung im Gesetz, 1999, S. 332 ff., 349 ff. Übersichtlich krit. W. Heun, Original Intent und Wille des historischen Verfassungsgebers, AöR 116 (1991), S. 185 (186 ff., 197 ff.). 83 Vgl. zur Kritik zuletzt ausf. Klement, Verantwortung (FN 9), S. 161 ff. m. w. N. 84 Vgl. Hoffmann-Riem, Klugheit (FN 53), S. 11 ff., 14 f. 85 Vgl. Damas, Rechtswissenschaft (FN 9), S. 186. 82

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Prüfprogramms der Staatsexamen an Falllösungen als entscheidungsorientierten Problemlösungsvorschlägen ist Ausdruck dieser Praxisorientierung; aber auch schon die wissenschaftliche Lehre ist eng an der Entscheidungspraxis von Gerichten orientiert86. Kehrseite ist eine Orientierung auch der Universitätsausbildung an der Jurisprudenz als praktischer Kunstlehre, deren spezifisch wissenschaftlicher Charakter durchaus zweifelhaft ist, hinter der die Rechtslehre als Wissenschaft mitunter zurücktritt, schon weil Juristen vor allem unter Bedingungen begrenzten Wissens und knapper Zeit entscheiden müssen87. Das alles gilt grundsätzlich auch für die Wissenschaft des Öffentlichen Rechts und unterscheidet sich nicht von anderen Teilbereichen der Rechtswissenschaft.

2. Die spezifische Politiknähe der Staatsrechtslehre

Die spezifische Besonderheit der Staatsrechtslehre ergibt sich aus ihrer sachspezifischen Nähe zur Politik88 als Sphäre politischer Gestaltungsmacht im Rahmen und nach Maßgabe des Öffentlichen Rechts und seiner Aufgabe einer Disziplinierung politischer Herrschaftsausübung89: Sie macht das Staats- und Verwaltungsrecht und die Staatsrechtswissenschaft in hohem Maße konfliktanfällig. Viele staatsrechtlichen Kontroversen der Gegenwart sind oft auch geprägt durch den Charakter einer Fortsetzung von politischen und / oder weltanschaulichen Kontroversen. Die wissenschaftliche Anleitung zur Rechtsanwendung nimmt teil an der Rechtsanwendung als Herrschaftsausübung90. Diese Politiknähe hat wissenschaftliche Folgen. Einerseits suchen die Eigengesetzlichkeiten politischer Machtausübung Recht zu instrumentalisieren und rechtliche Grenzen zu überschreiten. Eine Folge ist, dass die Steuerungskraft des Öffentlichen Rechts gegenüber den Machtansprüchen der Politik leicht auf Grenzen stoßen kann; eine andere Folge ist, dass auch die rechtswissenschaftliche Expertise für politische Zwecke instrumentalisiert werden kann. In umgekehrter Perspektive aus Sicht der Wissenschaft findet die unhintergehbare Abhängigkeit der Rechtsinterpretation vom Vorverständnis des Interpreten91 genug Anhaltspunkte, die es erlauben, dass auch der einzelne Wissenschaftler seine – methodisch keineswegs unhaltbare – 86 S. Vogenauer, An Empire of Light? II: Learning and Lawmaking in Germany Today, (2006), 26 Oxford Journal of Legal Studies, bei Fn. 129. 87 Dazu etwa Engel, Rechtswissenschaft (FN 28), S. 22 ff. 88 M. Stolleis, Staatsrechtslehre und Politik, 1996; D. Grimm, Politik und Recht, in: FS Benda, 1995, S. 91 ff.; für das Verwaltungsrecht Möllers (FN 52), § 3 Rn. 14. 89 Vgl. H. Schulze-Fielitz, Was macht die Qualität öffentlich-rechtlicher Forschung aus?, JöR 50 (2002), S. 1 (62 f.). 90 Vgl. Engel, Herrschaftsausübung (FN 44), S. 3. 91 Nach wie vor grdl. J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl, 2. Aufl. 1972.

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Verfassungsinterpretation im Lichte der eigenen politischen Absichten und Werthaltungen betreiben kann, bis hin zu parteipolitisch geprägter Taktik. Das alles ist nicht einmal zu kritisieren vor dem Hintergrund eines prozeduralen Wahrheits- oder Richtigkeitsverständnisses, das sich erst im Pro und Contra der Argumente vieler beteiligter Interpreten einer argumentativ prinzipiell „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“92 entfaltet und entfalten kann. Sehr viele in diesem Sinne verfassungsrechtlich umstrittene Probleme können nur durch einzelfallveranlasste verbindliche Entscheidungen auf Zeit durch entscheidungsbefugte Staatsorgane vorläufig abschließend gelöst werden, sei es durch Konvention (etwa Vereinbarungen Beteiligter), sei es durch eine Entscheidung des BVerfG.

3. Wissenschaftsdominierende Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts?

Zentrale Instanz für praktisch verbindliche Entscheidungen von staatsrechtlichen und damit oft zugleich auch wissenschaftlichen Kontroversen ist das BVerfG. Insoweit ist schon öfter angemerkt worden, dass die überragende Bedeutung des Bundesverfassungsgerichts für Praxis und Theorie des Rechtslebens die Arbeit an den theoretischen Grundlagen der Staatsund Verfassungslehre zugunsten eher pragmatischer Kompilationen verschoben habe93, wenn sie die Staatsrechtslehre nicht überhaupt „entthront“ habe94 (man fragt sich freilich, von welchem Thron sie herabgestoßen worden sein soll). Welche außerordentliche Funktion hat das BVerfG für die Staatsrechtslehre als Wissenschaft95? Eine Antwortrichtung sieht einen Bedeutungsverlust der Wissenschaft, die sich weithin an der Rechtsprechung orientiere, diese kompiliere, ihr nicht widerspreche und sich realistischerweise weithin mit Entscheidungsvorschlägen auf der Basis der Judikatur begnüge und statt des Grundgesetzes die Begründungen der Rechtsprechungsergebnisse auslege96. 92 Unverändert aktuell: P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff. (auch in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozess, 3. Aufl. 1998, S. 155 ff.). 93 Vgl. H. Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, 2. Aufl. 1990, S. 17. 94 B. Schlink, Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, Der Staat 28 (1989), S. 161 (168 ff.). 95 Zur parallelen Fragestellung in Blick auf das BVerwG vgl. H. Schulze-Fielitz, Das Bundesverwaltungsgericht als Impulsgeber für die Fachliteratur, in: FS 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 1061 ff. 96 Im Anschluss an Schlink: M. Jestaedt, Verfassungsgerichtspositivismus. Die Ohnmacht des Verfassungsgesetzgebers im verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat, in: FS Isensee, 2002, S. 183 (188 ff.); siehe auch allg. U. R. Haltern, Die Rule of Law zwischen Theorie und Praxis. Grundrechtsprechung und Verfassungstheorie im Kontext, Der Staat 40 (2001), S. 243 ff.

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Eine gegenläufige Ansicht sieht gerade umgekehrt die Verfassungsrechtswissenschaft durch die Rangerhöhung von Verfassung und Verfassungsgerichtsbarkeit ebenfalls aufgewertet97. Vor dem symptomatischen Hintergrund zahlreicher Professoren-Richter bestehe eine Partnerschaft von Gericht und Staatsrechtslehre, die durch Vorausdenken und Nachdenken ein Reservoir von Argumentationen erarbeite, die dann in die Judikatur eingehen würden. Möglicherweise gehen aber beide Antworten in die falsche Richtung. In jedem Falle ist – erstens – Verfassungsrechtslehre mehr als nur handlungsanleitende entscheidungsorientierte Dogmatik; soweit es um Theorie über Staat und Verfassung geht, hat die Judikatur nur eine mittelbare Bedeutung. Symptomatisch sind Abhandlungen, Dissertationen oder Habilitationsschriften, deren inhaltlicher Zuschnitt abgesehen von punktuellen Bezugnahmen weithin ohne Rechtsprechungsanalysen auskommt oder mangels einschlägiger Judikatur auskommen muss98. Aber auch soweit die Staatsrechtslehre sich – zweitens – dogmatisch eng an der Rechtsprechung des BVerfG orientiert, sind deren oft vom Einzelfall geprägte Entscheidungen systematisch zu verarbeiten und in größere Zusammenhänge zu stellen; diese Rechtsprechungsorientierung macht die Dogmatik praxistauglich. Darin liegt aber stets auch ein kritisches, über eine bloße Kompilation der Entscheidungspraxis hinausgehendes Moment. Auch darf man über die oft notwendig kompilatorische Funktion von GGKommentaren nicht die hohe Kreativität in der Verfassungsauslegung übersehen, wenn es um neu auftretende hochumstrittene Problemfälle in der Staatspraxis geht99. Abgesehen davon sind umgekehrt die Einflussnahmen der Wissenschaft auf die Judikatur kaum methodisch oder wegen ihres spezifisch dogmatisch-theoretischen Zugangs gesteuert, sondern davon, ob das Reservoir an wissenschaftlicher Argumentation das wertend ins Auge gefasste Entscheidungsergebnis stützt und im Einklang mit der bisherigen Entscheidungspraxis dargestellt werden kann100. Das kann schon deshalb gar nicht anders 97 Vgl. P. Lerche, Rechtswissenschaft und Verfassungsgerichtsbarkeit, BayVBl. 2002, S. 649 (649 f.). 98 Vgl. etwa Klement, Verantwortung (FN 59); H. Rossen-Stadtfeld, Vollzug und Verhandlung,1999; H.-H. Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994; B. Losch, Wissenschaftsfreiheit, Wissenschaftsschranken, Wissenschaftsverantwortung, 1993; generell krit. zur Rechtsprechungsferne Schoch, Gemeinsamkeiten (FN 6), S. 201 ff. 99 Vgl. pars pro toto: H. Meyer (Hrsg.), Abstimmungskonflikt im Bundesrat im Spiegel der Staatsrechtslehre, 2003, und dann BVerfGE 106, 310 (320 ff.) mit Sondervotum Osterloh / Lübbe-Wolff, S. 338 ff. 100 Zur Differenz von Herstellung und Darstellung richterlicher Entscheidung siehe Hoffmann-Riem, Methoden (FN 44), S. 20 ff.; H.-H. Trute, Methodik der Herstellung und Darstellung verwaltungsrechtlicher Entscheidungen, in: Schmidt-Aßmann / Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden (FN 44), S. 293 ff.; zur Praxis Hoffmann-

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sein, weil die Heterogenität der verschiedenen Richterpersönlichkeiten verhindert, dass diese auf einen einheitlichen dogmatisch-theoretischen Problemzugang verpflichtet werden könnten, der das elementare juristische Handwerkszeug überschreitet101. Deshalb ist auch der Einfluss wissenschaftlicher Theorien auf das Gericht nicht wirklich feststellbar, im Zweifel auch überschätzt: Das Gericht wählt Argumentationen von Wissenschaftlern, ob aus der Staatsrechtslehre oder nicht, nach dem eigenen Bedarf für eine im Sinne der bisherigen Judikatur konsistente Entscheidungsbegründung nach Maßgabe des als gerecht empfundenen Ergebnisses aus. Die Wissenschaft liefert gleichsam argumentatives Spielmaterial; fehlt solches, entscheidet das Gericht gleichwohl in seinem eigenen Sinne. Trotz der Aufarbeitung des Standes der wissenschaftlichen Diskussion in Entscheidungsvoten gilt: Rechtsprechung und Staatsrechtslehre stehen möglicherweise deutlich nebeneinander, gerade weil sie nach ihren jeweiligen Eigengesetzlichkeiten agieren (müssen)102.

4. Praktische Bedeutung für Staatsrechtslehre als Wissenschaft

Aus der skizzierten Lage ergeben sich einige wissenschaftsrelevante Folgerungen. Die wichtigste erscheint mir darin zu liegen, dass Methodenstreitigkeiten in der Staatsrechtslehre für die Praxis des BVerfG und damit für die staatliche Machtausübung bedeutungsarm geworden sind. Das Gericht ist darauf nicht (mehr?) angewiesen; es ist von herrschenden Meinungen der Wissenschaft relativ unabhängig. Das erlaubt es – nebenbei – meinungsstarken Professoren-Richtern immer wieder (übrigens seit Anbeginn der Rechtsprechungspraxis des BVerfG), ihre wissenschaftlich publizierten Ansichten zur herrschenden Rechtsprechung aufzuwerten, freilich bislang fast nie auf Dauer, d. h. über die Amtsdauer als Richter hinaus. Der geistige, politische und methodische, durch die Struktur des föderalistischen Aufbaus der Bundesrepublik verstärkten Pluralismus in der deutschen Staatsrechtslehre führt zu einer Argumentationsvielfalt, die die spezifische Politiknähe der Staatsrechtslehre selbst mildert: Jede Position wird in der Wissenschaft vertreten und ist vom Gericht ggf. abrufbar.

Riem, Klugheit (FN 53), S. 16 f., 20; siehe auch Koch, Begründung (FN 9), S. 355; zur Kritik Krebs, Methode (FN 37), S. 215 f. 101 Hoffmann-Riem, Klugheit (FN 53), S. 20; siehe bereits K. Hesse, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 39 (1981), S. 208, und dazu jetzt P. Lerche, Europäische Staatsrechtslehrer. Der Wissenschaftler Konrad Hesse, JöR 55 (2007), S. 455 (456); E. Benda, Konrad Hesse: Bundesverfassungsrichter 1975 – 1987, JöR 55 (2007), S. 509 (510 ff.). 102 Zu einigen Parallelen beim BVerwG vgl. H. Schulze-Fielitz, Notizen zur Rolle der Verwaltungsrechtswissenschaft für das Bundesverwaltungsgericht, Die Verwaltung 36 (2003), S. 421 (429 ff.).

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Das hat auch Folgen für den wissenschaftlichen Diskurs innerhalb der Staatsrechtslehre: Auf die Basis einer einheitlichen politisch-weltanschaulichen Gesinnung kommt es nicht (mehr) an; die Vielfalt wissenschaftlicher Ansätze kann dort gut nebeneinander leben. Wissenschaftliche „Machtausübung“ innerhalb des Diskurses der Wissenschaft bleibt für die politische Machtausübung durch Rechtsprechung weithin folgenlos. Kehrseite ist eine Stärkung der Wissenschaftlichkeit der Staatsrechtslehre, die sich von politischer Instrumentalisierung freihalten kann, obwohl die Politiknähe unverändert dazu führen kann, dass nichtwissenschaftliche Motive die Richtigkeitserkenntnis beeinflussen (können). Staatsrechtslehre als Wissenschaft befreit sich so von dem Druck zu einer einheitlichen politischen Gesinnung, die sich in gesonderten Zirkeln und Kreisen verlagert, konzentriert und entfaltet. Zugespitzt: Staatsrechtslehre als Wissenschaftlergemeinschaft ist pluralistisch, oder sie verliert ihre Wissenschaftlichkeit.

V. Ist die Staatsrechtslehre ein eigengeartetes soziales Wissenschaftssystem? Als weiteres Problemfeld öffnet sich damit, wie die beschriebenen Eigenheiten der Staatsrechtslehre sich in der Wissenschaft als einem sozialen System fortsetzen. Gibt es insoweit Unterschiede zu anderen Wissenschaften allgemein, zu anderen Rechtswissenschaften im Besonderen? Gibt es Spezifika im Blick auf die Dissertationen oder Habilitationen, Veröffentlichungspraxis und das innerwissenschaftliche Diskursverhalten bis hin zum Stil wissenschaftlicher Arbeit unter Gesichtspunkten wie Zusammenarbeit im Team, Durchlässigkeit zur Berufspraxis, Mentalitätsfilter bei der fachlichen Spezialisierung u. a.?

1. Vorrang und Einheitsanspruch der Staatsrechtslehre

Staatsrechtslehre, hier verstanden im engen Sinn, unterscheidet sich von allen anderen Rechtswissenschaften einschließlich der Verwaltungsrechtswissenschaften darin, dass ihr Hauptgegenstand das Verfassungsrecht ist, dessen Regelungsgehalte insbesondere nach Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3 GG normhierarchisch Vorrang beanspruchen dürfen. Die Folge ist, dass die wissenschaftlichen Resultate von Verfassungsinterpretationen, erst recht bei Bestätigung durch das BVerfG, verfassungsrechtlich Vorrang für potentiell alle Rechtsgebiete entfalten können. Dieser rechtlich fundierte Vorrang muss sich auch in einer zumindest psychologischen Vorhand der Staatsrechtslehre gegenüber den anderen rechtswissenschaftlichen Teildisziplinen niederschlagen; diese nehmen solches nur ungern zur Kenntnis (und überlassen konsequent zunehmend die Aufgabe der Verfassungsinterpretation nicht mehr nur den generalisierenden Staatsrechtslehrern).

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Die Verfassung bildet aber zweitens ein und denselben normativen Maßstab, an dem sich alle anderen Gebiete (einschließlich des Verwaltungsrechts) messen lassen müssen. Das Grundgesetz bildet also das Medium, um im Wege einer „Binnenrechtsvergleichung“ ganz unterschiedliche Gesetze und Rechtsbereiche und ihre Wertungsunterschiede nach Maßgabe gemeinsamer, verbindender Kategorien auf ihre Folgerichtigkeit und Stimmigkeit zu vergleichen und auf ihre Wertungskonsistenz hin zu prüfen103: Die Verfassungsrechtsdogmatik und Verfassungsrechtswissenschaft werden so zu einer Klammer für die immer stärker gefährdete Einheit der Rechtsordnung. Vorrang und Einheitsanspruch der Staatsrechtslehre bilden zentrale Besonderheiten, die sich auch in der Staatsrechtslehre als einem sozialen Wissenschaftssystem niederschlagen müssten. Namentlich die Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer und ihre Eigenarten lassen sich u.U. im Lichte wissenschaftstheoretischer Kategorien beschreiben und erklären.

2. Die Kohäsionskraft der Vereinigung im Wissenschaftspluralismus

Seit Jahrzehnten treffen sich die Mitglieder der Staatsrechtslehrervereinigung jährlich zu ihrer Jahrestagung. Daran nehmen regelmäßig stets zwischen 50 und 60% der Mitglieder teil104; es gibt wohl kaum sonst noch eine wissenschaftliche Vereinigung dieser Qualität und Größe, die sich zugleich so regelmäßig und so zahlreich trifft – warum? Zentrale Gründe für diese Kohäsionskraft liegen in bestimmten Funktionen der Vereinigung, von denen ich hier die Integrationsaufgabe und die Theorieaufgabe hervorheben möchte. Die Integrationsaufgabe verbindet sich mit dem Ziel der Gründerväter der Vereinigung, mit der Jahrestagung ein Forum zu schaffen, das es ermöglicht, übergreifende wissenschaftliche Diskussionen zu führen. Unabhängig von politischen, religiösen oder sonstigen weltanschaulichen Ausgangspunkten oder von bestimmten theoretischen Prämissen sollen die Kontroversen und ihre Voraussetzungen offengelegt, klargelegt und im Interesse der Funktionsfähigkeit von Staats- und Verwaltungsrecht im Blick auf eine Konsensfindung erörtert werden. So sollte im Medium der wissenschaftlichen Rationalität ein offenes Forum der Distanz zu unmittelbaren politischen Machtausübungsinteressen geschaffen werden105. 103 So schon H. Schulze-Fielitz, Bestandsschutz im Verwaltungsrecht, Die Verwaltung 20 (1987), S. 307 (322). 104 Die 50%-Grenze wurde in den letzten 20 Jahren nur 1994 in Halle und 2006 in Rostock geringfügig unterschritten. 105 Vgl. M. Stolleis, Die Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer. Bemerkungen zu ihrer Geschichte, KritV 80 (1997), S. 339 (341, 356 f.); ders., Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland, Band III: 1914 – 1945, 1999, S. 186 ff.

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Diese Intentionen erscheinen auch weiterhin ein normatives Ziel, auch wenn ihr Gewicht abgenommen und die dem Staatsrecht zugrunde liegenden weltanschaulichen Grundsatzkontroversen sich im Laufe des 20. Jahrhunderts in großem Umfange abgeschwächt haben mögen und heute ein deutlich größerer Konsens herrscht als vor Jahrzehnten oder in der Weimarer Zeit106. Noch in den 1950er und 1960er Jahren verbarg sich hinter wissenschaftlichen Methoden- und Schulstreitigkeiten ein Kampf auch um die wissenschaftliche Deutungshoheit bei dem Prozess, das deutsche staatsrechtliche Denken mit den demokratischen Traditionen der westlichen Verfassungsstaaten zusammenzuführen107; noch die „Bremer Klausel“ war (jedenfalls auch) politisch motiviert. Mit dem Selbststand des BVerfG, mit der Entkoppelung von wissenschaftlicher Machtausübung und Mitgliedschaft in der VDStRL und der Pluralisierung der Staatsrechtslehre seit zwei bis drei Jahrzehnten kann davon kaum noch die Rede sein; die späte Aufnahme der Bremer Kollegen in die Vereinigung 1995 bzw. 1997 hat das nur äußerlich sichtbar gemacht. Nicht nur die Mitglieder, auch die Vorstände und Referenten spiegeln in meiner Wahrnehmung einen Wissenschaftspluralismus, der die Wissenschaftlichkeit zu Lasten politischer Kriterien eher stärkt, so dass „insgesamt eine gewisse wissenschaftliche Kultur Platz greift“108. Das alles gilt übrigens nicht nur für die VDStRL. Auch die einstigen, in den 1960er Jahren als „Richtungszeitschriften“ mit spezifischem Anspruch gegründeten Periodika „Der Staat“109 oder „Die Verwaltung“ oder auch die KritV haben sich ersichtlich pluralisiert; die „Kritische Justiz“ als weithin geschlossene Gesellschaft von „Altachtundsechzigern“ bildet da eher eine Ausnahme. Damit sollen Profilunterschiede nicht bestritten werden, etwa noch zwischen dem Handbuch des Verfassungsrechts (1983; 2. Aufl. 1994) und dem Handbuch des Staatsrechts (1987 ff.)110, aber selbst die Neuauflage des HStR sucht die Breite der deutschen Staatsrechtslehre wohl stärker als in der ersten Auflage aufzunehmen111.

106 K. Hesse, Die Welt des Verfassungsstaates. Einleitende Bemerkungen zum Kolloquium, in: M. Morlok (Hrsg.), Die Welt des Verfassungsstaates, 2001, S. 11 (12). 107 F. Günther, Denken vom Staat her. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre zwischen Dezision und Integration 1949 – 1970, 2004, S. 57 ff., 211 ff. 108 So H. Goerlich, Verfassungsrecht – Verfassungsgeschichte – Verfassungspolitik. Gängige Inszenierungen einer Wissenschaft und ihre Ebenen, in: Comparativ 16 (2006), S. 171 (179). 109 Vgl. das Vorwort von Verlag und Herausgebern: Zum Geleit, Der Staat 1 (1962), S. 1 f. 110 Dazu näher H. Schulze-Fielitz, Grundsatzkontroversen in der deutschen Staatsrechtslehre nach 50 Jahren Grundgesetz, Die Verwaltung 32 (1999), S. 241 (244 ff.) 111 Eine erkennbare Überrepräsentation von Kollegen, die wie die Herausgeber des Handbuchs in der Görres-Gesellschaft aktiv sind, mag nicht primär „ideologisch“, sondern auch der persönlichen Bekanntschaft als einem generell hilfreichen Auswahlkriterium geschuldet sein.

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Die zweite Aufgabe liegt in einer angemessenen wissenschaftlichen Theoriearbeit. Die Wissenschaft des Öffentlichen Rechts lässt sich idealtypisch auf drei Ebenen betreiben112: auf der ersten Ebene der einzelfallorientierten Problemlösung mit der Entscheidungsperspektive eines Richters, Verwaltungsbeamten oder sonstigen Rechtsanwenders; auf einer zweiten Ebene der gemeinsamen Dogmatik verschiedener Rechtsgebiete oder gar verschiedener Teilgebiete der Rechtswissenschaft, die durch gemeinsame dogmatische Grundlegungen konsistent gehalten werden sollen, und auf einer dritten Ebene nicht mehr aus einer Entscheidungsperspektive, sondern aus einer Beobachterperspektive i.S. von Reflexionen über Rechtsentwicklungen, wie sie typischerweise in Grundlagenfächern stattfinden (Rechtsgeschichte, Rechtsphilosophie, Rechtstheorie, Rechtssoziologie usw.); auf der letzten Ebene geht es um Anstöße zur kritischen Selbstreflexion113, die nur mittelbar auf die Dogmatik oder auf die Einzelfallentscheidung Einfluss nehmen kann114. Die Besonderheit der Jahrestagung der Staatsrechtslehrervereinigung besteht nun darin, dass die zweite und dritte Ebene (übergreifende Dogmatik und Beobachterperspektive) und damit der Kern theoretischer Rechtswissenschaft weit stärker eine Rolle spielen als bei sonstigen Tagungen. Nur115 die Jahrestagungen der Vereinigung stellen die wissenschaftliche Theorie und damit den Kern von Wissenschaft von vornherein und zentral in den Mittelpunkt des Tagungsgeschehens. Diese objektiven Funktionen machen die Jahrestagungen für die Aufrechterhaltung des Status der Staatsrechtslehre als theoretischer (dogmatischer und systematischer) Disziplin unerlässlich, auch um (vermeintliche?) Tendenzen zu einem „anything goes“ in der Staatsrechtslehre zu konterkarieren116. Diese Aufgabe, die in den sonstigen praxisorientierten wissenschaftlichen Diskursen der Republik vernachlässigten Probleme übergreifender Systematik und Theoriebildung zu pflegen, wird infolge einer zunehmenden Diversifizierung bzw. Ausdifferenzierung der öffentlich-rechtlichen Rechtsordnung eher aktualisiert und drängender, zumal diese Diskussionsebene auch jene ist, auf der am besten das rechtsvergleichende Gespräch zwischen den Staatsrechtslehrern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz geführt werden kann.

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Vgl. Schulze-Fielitz, Notizen (FN 102), S. 422 ff. R. Dreier, Was ist und wozu Allgemeine Rechtstheorie (1975), in: ders., Recht (FN 25), S. 17 (32). 114 Siehe auch für die Rechtstheorie Jestaedt, Theorie (FN 11), S. 17 f., 29, 69, 76, 85 f.; für die Rechtssoziologie Bumke, Entwicklung (FN 17), S. 83. 115 Das gilt schon für die Form der Assistententagungen, vgl. zuletzt F. Gröblinghoff / K. Lachmayer, Die Assistententagung Öffentliches Recht auf dem Weg ins 21. Jahrhundert, JöR 55 (2007), S. 429 (433 ff., 445). 116 Vgl. A. Blankenagel, Vom Recht der Wissenschaft und der versteckten Ratlosigkeit der Rechtswissenschaftler bei der Betrachtung des- und derselben, AöR 125 (2000), S. 70 (105 ff.). 113

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3. Ausdifferenzierungsprozesse

Dieser bleibende Anspruch von Staatsrechtslehre als sozialer Wissenschaftlergemeinschaft sieht sich wie in allen Wissenschaftsbereichen Prozessen der Ausdifferenzierung und Diversifizierung gegenüber. Ein „Megatrend“ sind individuelle Spezialisierungsprozesse. Kollegen ziehen sich unter dem Druck der Publikationsflut (auch aufgrund der Normenflut) publizistisch nur noch auf ein oder wenige Fachgebiete des öffentlichen Rechts zurück. Es lassen sich spezifische Schwerpunktinteressen feststellen, die sich mitunter auf einzelne Gebiete des besonderen Verwaltungsrechts (in Verbindung mit Allgemeinen Verwaltungsrecht) konzentrieren (z. B. die „Kommunalrechtler“, „Polizeirechtler“, „Umweltrechtler“ usw.). Es scheint der Kreis derer abzunehmen, die sich bemühen, alle Ebenen rechtswissenschaftlicher Betrachtungen im öffentlichen Recht (historische und philosophische Grundlagen, Verfassungsrecht, Allgemeines Verwaltungsrecht, Besonderes Verwaltungsrecht) in den Blick zu nehmen mit der Folge, dass der Blick auf den Zusammenhang der verschiedenen Fächer und auf Differenzierungsnotwendigkeiten zwischen verschiedenen Fächern verloren zu gehen droht (und damit auch die Quelle strukturell innovativer Anregungen). Mit den individuellen Spezialisierungsprozessen verbinden sich unterschiedliche Arten des Problemzugangs, die weniger zu „Schulen“ oder „Gesinnungsgemeinschaften“ führen als zu gleichgerichteten, aber gruppenspezifisch abgrenzbaren wissenschaftlichen Interessen oder Profilen. Man kann ganz grob etwa einen eher traditionellen dogmatischen Ansatz unterscheiden, der das positive Recht, so wie es ist, auslegt und mit der herkömmlichen juristischen Methodik und dementsprechenden dogmatischen Kategorien arbeitet117. Im Zuge der methodischen Pluralisierung der Rechtswissenschaft lassen sich aber auch Wissenschaftler im Öffentlichen Recht ausmachen, die dezidiert auf empirische Grundlagen des Rechts i.S. von sozialwissenschaftlich-interdisziplinär angereicherter Jurisprudenz zentrale Einsichten erhoffen118. Ein dritter Problemzugang verknüpft Rechtsdogmatik nicht so sehr mit empirischer Bestandsaufnahme, sondern mit das positive Recht übergreifenden Theorien metadogmatischer Art, sei es mit gesellschaftstheoretisch-verfassungstheoretischem Schwerpunkt, sei es mit historischem Schwerpunkt, sei es mit methodisch-philosophischem Schwerpunkt119. Man wird diese Gruppe der Theoretiker, zu denen meis117 Ich nenne als Beispiele für diesen Ansatz die Wolff-Schule (z. B. Erichsen, Krebs, Menger, v. Mutius, Schoch, früher Hill), Laubinger, aber auch Dogmatiker wie etwa Burmeister, Ehlers, Ossenbühl, Pietzcker, Sachs oder Schenke. 118 Z. B. Autoren vom Typus Bryde, Groß, Hoffmann-Riem, Morlok, Schulze-Fielitz, Schuppert. 119 Als Namen für diesen „Typ“ lassen sich etwa Alexy, Böckenförde, H. Dreier, R. Dreier, Grimm, Häberle, H. Hofmann, Vesting u. a. klassifizieren.

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tens auch die „Empiriker“ gerechnet werden können, in sich je nach Schwerpunktsetzung in verschiedene Untergruppen unterteilen können. Eine weitere große Gruppe der Mitglieder der Vereinigung hat ihre Schwerpunkte im Europa- und Völkerrecht und betrachtet das Öffentliche Recht im Wesentlichen aus dieser (mitunter verengten) Perspektive. Diese groben Richtungen untergliedern sich wiederum in eine Vielzahl unterschiedlicher Schulen und Milieus, Forschungsinteressen, Arbeitsweisen, Denkstile und Abstraktionsgrade, so dass die wechselseitige Wahrnehmung und Kommunikation wesentlich erschwert ist120 und wohl nur noch als „ein Netzwerk sich nachbarschaftlich überlappender Kommunikationsgemeinschaften gedacht werden kann“121. Eine folgerichtige Erscheinungsform ist die organisatorische Ausbildung von informellen Gruppen, in denen sich – bemerkenswerterweise aus politisch und wissenschaftlich ganz unterschiedlichen Richtungen – Kollegen regelmäßig zu wissenschaftlichen Diskussionen in kleinen Kreisen treffen, (auch) weil die Größe und die gesellschaftliche Organisation der Staatsrechtslehrertagung ausreichend intensive Wechselgespräche in größerer Runde nicht zulassen. Sie können sich einerseits, mitunter auch vor dem Hintergrund gemeinsam erlebter Assistententagungen, auf den Jahrestagungen der Vereinigung bevorzugt aufeinander beziehen und so die Gesamtheit der Tagungsteilnehmer in Gruppen aufteilen, auch wenn man solches nicht sieht: Solche Nähe schafft Sicherheit in einer zunehmend unübersichtlichen Teilnehmerumwelt. Zu nennen sind auch politisch oder wissenschaftlich motivierte Diskussionsgruppen von Staatsrechtslehrern, die sich auf der Basis einer sehr ähnlichen politischen oder weltanschaulichen Gesinnung oder eines spezifischen Sachinteresses institutionalisiert treffen; ich nenne als Beispiele122 einerseits die Schönburger Gespräche zu Recht und Staat, die Görres-Gesellschaft oder (mit Einschränkung) auch die Bitburger Gespräche, andererseits die DFG-geförderten Kolloquien zur „Reform des Verwaltungsrechts“ oder auch das wiederbelebte Professorengespräch des Landkreistages. Alle diese Ausdifferenzierungsprozesse scheinen die Kohäsionskraft der VDStRL bislang jedenfalls nicht ersichtlich nachhaltig beschädigt zu haben; gerade umgekehrt ist denkbar, dass die Jahrestagungen der Vereinigung verstärkt jener prekären Einheit gelten müssen, die durch solche weit120 Siehe schon Stolleis, Vereinigung (FN 105), S. 355: „längst ernsthafte Wahrnehmungsstörungen“. 121 Siehe T. Vesting, Nachbarwissenschaftlich informierte und reflektierte Verwaltungsrechtswissenschaft – „Verkehrsregeln“ und „Verkehrsströme“, in: Schmidt-Aßmann / Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden (FN 17), S. 253 (277 f.), dort bezogen auf die Verwaltungsrechtswissenschaft. 122 Siehe dazu auch A. Voßkuhle, Die politischen Dimensionen der Staatsrechtslehre, in diesem Band S. 135 (149 ff.).

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hin wissenschaftsimmanenten Differenzierungsprozesse gerade gefährdet wird123.

4. Praktische Bedeutung für Staatsrechtslehre als Wissenschaft

Wenn die Staatsrechtslehre durch ihre spezifische Nähe zur Politik charakterisiert werden kann und Methoden- und Theoriefragen auch im Lichte einer Fortsetzung politischer Gestaltungsansprüche durch Machtausübung interpretiert werden können, dann könnten auch die wissenschaftsinternen Prozesse bis hin zur Themenwahl nach Maßgabe jedenfalls auch politisch motivierter Überlegungen zu beurteilen sein124. Ich habe Zweifel, ob das (noch) so ist, sondern vermute, dass die Staatsrechtslehre sich insoweit von den Auswahlprozeduren in anderen Fächern nicht mehr signifikant unterscheidet, sondern nun insoweit auf ein sozial übliches und vielleicht unvermeidliches Normalmaß eingependelt ist. Darin liegt objektiv eine Stärkung der Wissenschaftlichkeit der Staatsrechtslehre und ihrer Vereinigung, die so von politischen Erwartungen institutionell entkoppelt ist. Damit ist weder gesagt, dass es nicht wissenschaftliche Machtausübung i.S. einer Pflege bestimmter Paradigmen oder der Bevorzugung bei Personalentscheidungen im Interesse der Einflusssteigerung gibt125; noch wird bestritten, dass Staatsrechtlehrer zu bestimmten politischen Lagern eine größere Nähe haben können als zu anderen, und dass im Rahmen von Gutachten oder Prozessvertretungen als parteilichen Stellungnahmen die wissenschaftliche Urteilskraft leiden kann; ich bezweifele nur deren wissenschaftsdominierende Kraft. Weit problematischer erscheint mir, dass die Vertreter der verschiedenen methodischen Zugänge und gegenständlichen Profile nicht mehr angemessen ins gemeinsame Gespräch kommen126, weil sie sich zu weit voneinander entfernen, ignorieren, schließlich gering schätzen und den Jahrestagungen fernbleiben, so dass deren einheitsstiftende Kraft abnimmt. Das Problem heißt: Wie lässt sich der Einheitsanspruch der Staatsrechtslehre auf der Ba123 Deshalb erscheint mir eine Aufteilung in Plenarvorträge und Sektionen für Spezialisten keineswegs „überfällig“, wie Stolleis, Vereinigung (FN 105), S. 358 meint, sondern ein Widerspruch zur Eigenart der Staatsrechtslehre zu sein. Vgl. auch gleichsinnig www.staatsrechtslehrer.de, Stichwort „Vereinsgeschichte“, Schlusssatz: „Nur so [sc. durch Referate und Diskussion im Plenum] wird dem Gründungsgedanken der Vereinigung, Forum gemeinsamer Beratung zu sein, hinlänglich Rechnung getragen.“ 124 In diese Richtung Stolleis, Vereinigung (FN 105), S. 357 f. 125 Siehe näher P. Häberle, Vermachtungsprozesse in nationalen Wissenschaftlergemeinschaften, insbesondere in der deutschen Staatsrechtslehre. Möglichkeiten und Grenzen der Staatsrechtslehre in der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, in diesem Band S. 159 (168 ff.). 126 Vgl. allg. zur Dialogik des Verstehens, Überzeugens und Begründens R. Gröschner, Dialogik und Jurisprudenz, 1982, S. 84 ff. (dort bezogen auf die Rechtspraxis).

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sis von Differenz der wissenschaftlichen Interessen, Stile und Verständigungsbereitschaft organisieren?127 Jede Themenwahl der Zukunft muss darauf achten, für diese unterschiedlichen Richtungen anschlussfähig zu sein, um eine Ungleichzeitigkeit der methodischen Entwicklungen zu erhellen und zugleich aufzuheben, ohne sich andererseits auf rein staatsrechtliche Themenstellungen zu beschränken. Die Aufgaben werden in ihrer Komplexität noch erheblich gesteigert durch die Notwendigkeit der Neubegründung einer transnationalen Wissenschaftlergemeinschaft128 mit übernationalen wissenschaftlichen Diskursen in Verknüpfung nationaler staatsrechtswissenschaftlicher Diskussionszusammenhänge.

VI. Sind Staat und Verwaltung noch wissenschaftskonstituierende Gegenstandsbereiche? 1. Staat und Verwaltung als Gegenstand der Staatsrechtslehre

Eine Wissenschaft kann sich nicht nur über ihre Methode, sondern auch über ihren Gegenstand definieren. Sind Staat und Verwaltung die für die Staatsrechtslehre konstitutiven Gegenstandsbereiche? Jedenfalls war das der Fall zu Zeiten der Ausbildung der Staatsrechtslehre im Kaiserreich, zu Zeiten einer relativ starken gegenseitigen Abschottung von Staat und Gesellschaft als je eigengearteten Sphären; Staats- und Verwaltungsrecht galten einerseits den Rechtsbeziehungen zwischen dem Staat und seinen Organen und dem Bürger als Untertan, andererseits der rechtlichen Organisation des Staates und seiner Willensbildung und den Entscheidungen seiner Organe. Es geht auch um den rechtlich konstituierten Staat als solchen, nicht nur um die Juristen als solche. Der konstitutionalistische Wurzelgrund prägt die staats- und verwaltungsrechtlichen Kategorien in der Staatsrechtslehre teilweise bis heute, vom staatlich gewährten subjektiven öffentlichen Recht129 über die Differenz von Innenrecht und Außenrecht oder von formellem und materiellem Rechtssatz bis hin zu den staatsorganisatorischen Interpretationskonsequenzen des tatsächlichen politischen Wandels zum parlamentarischen Regierungssystem. Ein jahrzehntelanger 127 Vgl. Vesting, Verwaltungsrechtswissenschaft (FN 121), S. 278: für bessere Public Relations innerhalb der Verwaltungsrechtswissenschaft. 128 Vgl. zu Elementen erster Versuche: H. Bauer, Entstehung und Entwicklung der Societas Iuris Publici Europaei. Zugleich ein Beitrag zur Europäischen Wissenschaft vom Öffentlichen Recht, in: FS Starck, 2007, S. 485 ff.; P. Häberle, Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit nationaler Wissenschaftlergemeinschaften in Sachen Verfassungsstaat, JöR 53 (2005), S. 345 ff.; M. Kotzur, Eine Wissenschaftlergemeinschaft für Europa, DÖV 2003, S. 760 ff.; siehe auch Ernst, Recht (FN 13), bei Fn. 90 ff.; H. Schulze-Fielitz, Auf dem Wege zu einer offenen Gesellschaft europäischer Staatsrechtslehrer, DVBl. 1994, S. 991 ff. 129 Siehe jetzt J. Masing, Der Rechtsstatus des Einzelnen im Verwaltungsrecht, in: GVwR I (FN 36), § 7 Rn. 99 u. ö.; die historische Entwicklung zsfssd. J. Wieland, Die Konzessionsabgaben, 1991, S. 99 ff.

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Wandel „des“ Staates und seines Handelns erweitert aber den Gegenstandsbereich und verändert die kategoriale Erfassung staatlichen Handelns mit Folgen auch für die Staatsrechtslehre als Wissenschaft.

2. „Interner“ Wandel: Ökonomisierung, Privatisierung, Deregulierung

Ein grundlegender, nicht nur modischer Wandel unseres Staatsverständnisses lässt sich mit den Schlagworten der Ökonomisierung130, der Privatisierung und der Deregulierung verknüpfen. Dabei lassen sich drei Schwerpunkte benennen. Erstens gewinnt die Knappheit des Geldes als Parameter für das Handeln von Staat oder Verwaltung einen neuartigen Stellenwert bei der materiellen Aufgabenerfüllung über die haushaltsrechtliche Zuweisung von Ressourcen hinaus; als Beispiel seien die neuen Steuerungsmodelle oder Formen der Haushaltsflexibilisierung etwa durch Budgetierung genannt, aber auch die Umstellung der Haushaltsrechnung auf die Doppik nach kaufmännischen Grundsätzen. Zweitens werden alle staatlichen Einheiten – bis hin zu den Ländern als Mitgliedstaaten des Bundes131 – durch Benchmarking in einem künstlichen Wettbewerb mit erheblichen Rückwirkungen auf deren Aufgabenerfüllung betrachtet; sowohl binnenorganisatorisch können so einzelne Verwaltungseinheiten bis auf die Ebene der einzelnen Amtsinhaber unter Effizienzkriterien verglichen werden als auch im Vergleich mit anderen Verwaltungseinheiten von Bund, Ländern oder Gemeinden. Drittens werden im Zuge von formellen, materiellen oder funktionalen Privatisierungs- und Deregulierungsprozessen öffentliche Aufgaben immer stärker durch eigenes unternehmerisches Handeln am Markt oder unter Einbeziehung von Marktteilnehmern erfüllt (Stichworte etwa: New Public Management, Outsourcing, Public-Private-Partnership)132. Nicht nur wenn man in allen drei Entwicklungstendenzen einen weltweiten Wandel133 im Sinne eines Paradigmenwechsels öffentlicher Verwaltung in den Staaten der OECD sieht134, gewinnen etwa Überlegungen der öffentlichen 130 Siehe nur M. Wallerath, Der ökonomisierte Staat, JZ 2001, S. 209 ff.; J.-P. Schneider, Zur Ökonomisierung von Verwaltungsrecht und Verwaltungsrechtswissenschaft, Die Verwaltung 34 (2001), S. 317 ff.; C. Gröpl, Ökonomisierung von Verwaltung und Verwaltungsrecht, VerwArch 93 (2002), S. 459 ff. (anders als hier eher bezogen auf die außenrechtliche, bürgerbezogene Rechtsanwendung); J. Oebbecke und M. Burgi, Selbstverwaltung zwischen Europäisierung und Ökonomisierung, VVDStRL 62 (2003), S. 366 (367 ff.) bzw. S. 405 (416 f.). 131 V. Mehde, Wettbewerb zwischen Staaten, 2005, S. 65 ff., 75 ff., pass. 132 Übersichtlich C. Reichard, Institutionenökonomische Ansätze und New Public Management, in: K. König (Hrsg.), Deutsche Verwaltung an der Wende zum 21. Jahrhundert, 2002, S. 585 ff. 133 International 12 Länder vergleichend C. Pollitt / G. Bouckaert, Public Management Reform. A Comparative Analysis, 2. Aufl. 2004, S. 6 ff., mit Länderberichten S. 210 ff. 134 Zu kulturellen Folgen etwa des „Verschwindens des Typischen“ vgl. M. Kilian, Vorschule einer Staatsästhetik, in: FS Häberle, 2004, S. 31 (56 ff.).

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Betriebswirtschaftslehre ohne Zweifel zunehmende Bedeutung im Rahmen der Forschung über Verwaltung; das dürfte Rückwirkungen auch auf die Verwaltungsrechtsdogmatik haben und die interdisziplinäre Forschung über Verwaltung (re-)aktualisieren. Eng mit den Privatisierungsprozessen verbunden sind organisations- und verfahrensstrukturelle Veränderungen der Verwaltung und ihres Zusammenspiels mit Privaten bei der Gemeinwohlverwirklichung; auch diese Veränderungen haben Folgen für den Gegenstandsbereich der Verwaltungsrechtswissenschaft135. Ist mit der Ausbildung eines Rechts des Gewährleistungsstaats z. B. ein neuer Funktionsmodus der Koordination durch Struktursteuerung verknüpft136? Lässt sich z. B. das Recht der Regulierungsverwaltung ohne laufend erneuerte Kenntnisse von Marktstrukturen und Marktverhalten überhaupt setzen oder anwenden? Es gibt damit zusammenhängend schon seit langem eine Diskussion des Verhältnisses von Privatrecht und Verwaltungsrecht; dessen Veränderungen sind auch Ausdruck veränderter Aufgaben und Handlungsweisen der Verwaltung und verlangen auch stärkere „binnen-“ oder „interdisziplinäre“ Forschung innerhalb von Verwaltungsrechtslehre und Privatrechtswissenschaft: Das Recht der Verwaltung ergibt sich aus der Anwendung von Öffentlichem Recht und Privatrecht137 und führt angesichts des Verwaltungswandels zu einem Verbund mit Norm- und Wertungswidersprüchen, aber auch wechselseitig im Blick auf seine aufgabenbezogene Steuerung zu Wirkungszusammenhängen der Komplementarität und Dysfunktionalität138, die sich nicht nach Maßgabe strikter juristischer Methodik, sondern nur unter Rückgriff auf sozialwissenschaftlich plausibilisierte Überlegungen, d. h. interdisziplinär analysieren lassen. Namentlich Regulierungsbemühungen nach Privatisierungen verlangen entsprechende Steuerungserfahrung. Könnte das nicht auch Rückwirkungen für den Gegenstandsbereich der Wissenschaft des Öffentlichen Rechts haben?

3. „Externer“ Wandel: Europäisierung, Internationalisierung

Auch die gleichermaßen wissenschaftsmodischen Stichworte der „Europäisierung“ und „Internationalisierung“ dürfen in diesem Zusammenhang 135 C. Franzius, Funktionen des Verwaltungsrechts im Steuerungsparadigma der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft, Die Verwaltung 39 (2006), S. 335 (335); H.-H. Trute, Die Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Einige Leitmotive zum Werkstattgespräch, Wissenschaft vom Verwaltungsrecht (FN 37), S. 9 (11). 136 So Franzius, Funktionen (FN 135), S. 352; G.F. Schuppert, Verwaltungsorganisation und Verwaltungsorganisationsrecht als Steuerungsfaktoren, in: GVwR I (FN 36), § 16 Rn. 18 f.; ders., Koordination durch Struktursteuerung als Funktionsmodus des Gewährleistungsstaates, in: FS Klaus König, 2004, S. 287 ff. 137 M. Burgi, Rechtsregimes, in: GVwR I (FN 36), § 18 Rn. 3. 138 Burgi (FN 137), § 18 Rn. 38 ff.

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nicht fehlen139. Es ist erstens offensichtlich so, dass vorrangiges europäisches Recht sich seiner Struktur nach immer wieder mit deutschen verwaltungsrechtsdogmatischen Traditionsbeständen „beißt“140, was nicht zuletzt immer wieder Rüdiger Breuer mit dem Ziel der Bewahrung rechtsstaatlicher Errungenschaften zu abwehrender Kritik veranlasst hat141. Es sind nicht nur stärker finale statt konditionale Normstrukturen oder eher verfahrensrechtliche als materiellrechtliche Steuerungsformen mit Folgen für Art und Kontrolldichte gerichtlichen Rechtsschutzes, sondern eine ganze Reihe neuartiger rechtlicher Instrumente, die das deutsche Verwaltungsrecht überformen, etwa die neue Rolle von Information oder der integrative Umweltschutz. Schon diese europarechtlich veranlassten Akzent- oder Schwerpunktverschiebungen aktualisieren das methodische Problembewusstsein und überschreiten eine herkömmliche national introvertierte anwendungsbezogene Perspektive der Verwaltungsrechtswissenschaft zugunsten einer (auch) rechtsetzungsorientierten Entscheidungswissenschaft142. Hinzu kommt aber zweitens, dass die Europäische Kommission wie auch andere Länder in Europa mit anderen als nur rechtlichen Instrumenten bürokratisch-hierarchischer Verwaltung das Verwaltungshandeln zu steuern suchen, die die deutsche Verwaltung mit neuartigen Instituten bereichern, deren allein verwaltungsrechtsdogmatische Betrachtung nach Maßgabe der juristischen Methode offensichtlich unzureichend ist. Ich nenne als ein Beispiel das Institut der Zielvereinbarungen in der Verwaltung oder zwischen Verwaltungseinheiten (z. B. zwischen Universitäten und Ministerien). Rechtswissenschaftlich bemühen wir uns um die Einordnung solcher Vereinbarungen danach, ob ihre Rechtsnatur öffentlich-rechtlich oder privatrechtlich ist, ob es sich überhaupt um rechtliche, ggf. gerichtlich er139 Siehe nur R. Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006, S. 94 ff.; ders., Internationalisierung des Staates (2001), in: ders., Verfassungsrecht, Europäisierung, Internationalisierung, 2003, S. 17 ff.; J. Kokott / T. Vesting, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung, VVDStRL 63 (2004), S. 7 ff. bzw. 41 ff. 140 Siehe nur zu einem Standardbeispiel der Rücknahme von Beihilfebescheiden D.H. Scheuing, Europäisierung des Verwaltungsrechts, Die Verwaltung 34 (2001), S. 107 ff. (jetzt auch in: ders., Europäisches öffentliches Recht, 2007); J. Suerbaum, Die Europäisierung des nationalen Verwaltungsverfahrensrechts am Beispiel der Rückabwicklung gemeinschaftsrechtswidriger staatlicher Beihilfen, VerwArch 91 (2000), S. 169 ff. 141 Siehe z. B. R. Breuer, Zur Lage der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft, Die Verwaltung 36 (2003), S. 271 (283 ff.); ders., Zunehmende Vielgestaltigkeit der Instrumente im deutschen und europäischen Umweltrecht – Probleme der Stimmigkeit und des Zusammenwirkens, NVwZ 1997, S. 833 ff.; ders., Entwicklungen des europäischen Umweltrechts – Ziele, Wege und Irrwege, 1993; gleichsinnig T. v. Danwitz, Verwaltungsrechtliches System und Europäische Integration, 1996. 142 So A. Voßkuhle, Methode und Pragmatik im Öffentlichen Recht, in: H. Bauer u. a. (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht, 2002, S. 171 (177 ff.); siehe auch H. Eidenmüller, Rechtswissenschaft als Realwissenschaft, JZ 1999, S. 53 (60).

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zwingbare Verträge handelt; aber werden solche wissenschaftliche Fragestellungen den Zielen der praktischen Bedeutung, den tatsächlichen und rechtlichen Rückwirkungen solcher Zielvereinbarungen auf das Verwaltungshandeln überhaupt gerecht? Das Gefühl um die weitgehende praktische Irrelevanz unserer juristischen Fragestellung ist ein Keim für die Suche nach interdisziplinären Problemzugängen. Ein anderes Beispiel ist die wachsende Bedeutung von „Qualität“ und „Qualitätssicherung“ unter Rückgriff auf wirtschaftswissenschaftlich angeleitetes „Qualitätsmanagement“, das die herkömmlichen verwaltungsrechtlichen Fragestellungen überschreitet143. Gleiches gilt für weitere Formen europäischer Innovationen, etwa der Steuerung mit „Leitbildern“144 oder (scheinbar) unverbindlichen Empfehlungen oder Informationen; was folgt daraus für das Alltagshandeln der Verwaltung? Drittens stellen sich neue Fragen mit dem wachsenden Verwaltungsverbund in Europa145 und auf internationaler Ebene146, in denen „weiche“ Formen der Zusammenarbeit sich verwaltungsrechtsdogmatisch nur begrenzt fassen lassen, so sehr es dazu positive Ansätze gibt147. Die unterschiedlichen Verwaltungskulturen, etwa im Blick auf die Rolle von Information, Transparenz und Öffentlichkeit in der Verwaltung, lassen in ihren handfesten Auswirkungen in der Realität des Verwaltungshandelns nach einem Problemzugang suchen, der die juristischen Fragestellungen transzendiert. Vor allem dürfte der strukturelle Vergleich mit anderen Rechtsordnungen und ihren Verwaltungen in ihren je spezifischen vorrechtlichen Voraussetzungen gerade auch verwaltungskulturelle Differenzen in Europa offenbaren148. Insofern könnten in Zukunft auch im internationalen Wettbewerb 143 Grdl. jetzt F. Reimer, Qualitätssicherung. Grundlagen eines Dienstleistungsverwaltungsrechts, Freiburger Habilitationsschrift 2006, unv. §§ 10 ff. mit der Unterscheidung von „altem“ und „neuem“ Qualitätssicherungsrecht. 144 Siehe näher S. Baer, Schlüsselbegriffe, Typen und Leitbilder als Erkenntnismittel und ihr Verhältnis zur Rechtsdogmatik, in: Schmidt-Aßmann / Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden (FN 17), S. 223 (232 ff.). 145 E. Pache und T. Groß, Verantwortung und Effizienz in der Mehrebenenverwaltung, VVDStRL 66 (2007), S. 106 (107 ff.) bzw. S. 152 (154 ff.); H.C. Röhl, Verantwortung und Effizienz in der Mehrebenenverwaltung, DVBl. 2006, S. 1070 ff.; E. Schmidt-Aßmann, Verfassungsprinzipien für den Europäischen Verwaltungsverbund, in: GVwR I (FN 36), § 5 Rn. 16 ff.; siehe auch H. Schulze-Fielitz, Die Verwaltung im europäischen Verfassungsgefüge, in: W. Erbguth / J. Masing (Hrsg.), Die Verwaltung unter dem Einfluss des Europarechts, 2006, S. 91 ff. 146 Siehe nur E. Schmidt-Aßmann, Die Herausforderung der Verwaltungsrechtswissenschaft durch die Internationalisierung der Verwaltungsbeziehungen, Der Staat 45 (2006), S. 315 ff.; M. Ruffert, Rechtsquellen und Rechtsschichten des Verwaltungsrechts, in: GVwR I (FN 36), § 17 Rn. 149 ff.; ders., Die Globalisierung als Herausforderung an das Öffentliche Recht, 2004, S. 33 ff.; C. Walter, Internationalisierung des deutschen und Europäischen Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozessrechts – am Beispiel der Aarhus-Konvention, EuR 2005, S. 302 ff. 147 Ausf. G. Sydow, Verwaltungskooperation in der Europäischen Union, 2004, S. 118 ff., pass.

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der Verwaltungen und Verwaltungsrechtsordnungen neue Herausforderungen entstehen.

4. Praktische Bedeutung für Staatsrechtslehre als Wissenschaft

Solche Veränderungen von Staatlichkeit haben auch praktische Folgen für die Staatsrechtslehre als Wissenschaft, in methodischer, praktischer und wissenschaftssozialer Hinsicht. a) Folgen „internen“ Wandels für die Wissenschaft. Ein erster Gesichtspunkt liegt in einem Wandel des Erkenntnisinteresses der Staatsrechtslehre. Die herkömmliche Orientierung der Verwaltungsrechtswissenschaft allein an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns gewinnt ihre Plausibilität vor allem aus der Orientierung des Verwaltungsrechts am subjektiven Recht und seines verwaltungsgerichtlichen Schutzes. Es sind mindestens vier Entwicklungstendenzen, die hier einen Wandel der Erkenntnisinteressen der Verwaltungsforschung und damit eine Ausweitung des verwaltungsrechtswissenschaftlichen Forschungsprogramms indizieren. aa) Die Orientierung vor allem an subjektiven Rechten von Klägern in verwaltungsgerichtlichen Verfahren der Kontrolle versperrt die Sicht auf das objektive und das verwaltungsinterne Recht, dessen Vorgaben ebenfalls von den handelnden Akteuren zu beachten sind, unabhängig von gerichtlichen Rechtsschutzmöglichkeiten für die einzelnen Bürger. Mit dieser Akzentverschiebung ist auch die neuerdings stärker akzentuierte Steuerungsperspektive des Rechts149 verbunden: Objektives Recht soll das Verwaltungshandeln anleiten, um eine rechtsstaatliche und demokratische Implementation des Gesetzeswillens zu gewährleisten, dass nicht nur auf die Rechtmäßigkeit des Handelns, sondern auch auf die vom Gesetz angestrebten Wirkungen geachtet wird150; Verwaltungsrechtswissenschaft erscheint als Steuerungswissenschaft151. Mit der durch den Abstraktionsgrad von unbestimmten Rechtsbegriffen notwendig verbundenen Unschärfe sind Grenzen materiellrechtlicher Steuerung verbunden mit der Folge, dass ergänzen148 Möllers, Theorie (FN 43), S. 52 ff.; siehe speziell am Beispiel der Differenzen in der EG-Kommission R. Priebe, Anmerkungen zur Verwaltungskultur der Europäischen Kommission, Die Verwaltung 33 (2000), S. 379 (381 ff., 394 ff.). 149 Siehe zuletzt etwa Voßkuhle (FN 36), § 1 Rn. 3 u. ö.; zuerst G.F. Schuppert, Verwaltungsrechtswissenschaft als Steuerungswissenschaft, in: W. Hoffmann-Riem / E. Schmidt-Aßmann / G.F. Schuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts. Grundfragen, 1993, S. 65 ff.; ders., Verwaltungswissenschaft, 2000, S. 430 ff. 150 Franzius, Funktionen (FN 135), S. 340, 345, 351; W. Hoffmann-Riem, Juristische Verwaltungswissenschaft, multi-, trans- und interdisziplinär, in: J. Ziekow (Hrsg.), Verwaltungswissenschaften und Verwaltungswissenschaft, 2003, S. 45 (51 f.); ausf. C. Bumke, Relative Rechtswidrigkeit, 2004, S. 262 ff. 151 Vgl. R. Schmidt, Die Reform von Verwaltung und Verwaltungsrecht, VerwArch 91 (2000), S. 149 (151 ff.).

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de nichtrechtliche Steuerungselemente und „Richtigkeitsdimensionen“152 das Erkenntnisinteresse der Verwaltungsforschung bestimmen und an Gewicht gewinnen und beide in ihrem Zusammenwirken als Erscheinungsform von „Governance“ Fragestellungen aufwerfen, die das herkömmliche verwaltungsrechtliche Denken zu transzendieren suchen. bb) Eng damit verbunden sind die Folgen der Reorganisation der Verwaltung durch die Vielfalt von Privatisierungsprozessen im „Gewährleistungsstaat“. Unter Überschreitung der Perspektive des einzelne Fälle entscheidenden Amtswalters besteht nun Bedarf nach Erkenntnissen über das Wechselspiel des Verwaltungshandelns mit privaten Akteuren bei der Gemeinwohlverwirklichung; es geht um das Verhältnis von öffentlichrechtlichen Rahmenbedingungen und privatrechtlichem Handeln bzw. von Organisation und Verfahren im Rahmen neuer Regelungsstrukturen. Dazu gehört die Einbeziehung zivilrechtlicher Argumentationstechnik in das Verwaltungsrecht153. Ohne Rezeptionsoffenheit gegenüber Ergebnissen anderer Wissenschaften können solche Kenntnisse kaum in angemessener Weise gewonnen werden154. cc) Spätestens seit der „Entdeckung“ des schlechthin unvermeidlichen, ubiquitären informalen Verwaltungshandelns155 ist die praktisch begrenzte Bedeutung einer Orientierung allein an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungshandelns deutlich geworden. Sie zeigt, dass auf einem Kontinuum mit Formalität und Informalität als Polen156 eine „angemessene“ Erfassung des Verwaltungshandelns nicht durch eine rein legalistische Sichtweise möglich ist157. Daraus folgt nicht, dass eine juristische Methodik vernachlässigt werden könnte158, wohl aber, sich die Grenzen einer solchen Sichtweise vergegenwärtigen zu müssen. Insbesondere sind die faktischen entscheidungserheblichen Faktoren in Abhängigkeit vom Realreich der Normen mitzuberücksichtigen159, und bei dysfunktionalen Folgen ist i.S. einer wissenschaft152 Hoffmann-Riem, Verwaltungswissenschaft (FN 150), S. 49 ff.; gemeint sind Optimierung, Effizienz, Effektivität, Akzeptanz u. a. 153 So Möllers (FN 52), § 3 Rn. 10. 154 Trute, Wissenschaft (FN 135), S. 12 ff. 155 Grdl. E. Bohne, Der informale Rechtsstaat, 1981; Zwischenbilanz bei H. Dreier, Informales Verwaltungshandeln, StWStP 4 (1993), S. 647 ff.; kanonisierend F. Schoch, Entformalisierung staatlichen Handelns, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 37 Rn. 22 ff. 156 K. König, Konzepte der Verwaltungsorganisation, VerwArch 97 (2006), S. 482 (485), unter Berufung auf K. v. Beyme, Informelle Komponenten des Regierens, in: H.-H. Hartwich / G. Wewer (Hrsg.), Regieren in der Bundesrepublik II, 1991, S. 31 ff. 157 Siehe auch Möllers (FN 52), § 3 Rn. 15. 158 Siehe auch Schoch, Gemeinsamkeiten (FN 6), S. 185 f., 209 f. 159 Hoffmann-Riem, Verwaltungswissenschaft (FN 150), S. 52 ff., unter Hinweis auf dens., Sozialwissenschaftlich orientierte Rechtsanwendung in öffentlich-rechtlichen Übungs- und Prüfungsarbeiten, in: ders. (Hrsg.), Sozialwissenschaften im öffentlichen Recht, 1981, S. 3 (12 ff.).

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lichen Verwaltungsrechtspolitik nach der Optimierbarkeit von Rechtsetzung und Rechtsanwendung im Verwaltungsrecht als Rahmenbedingungen für Formen nichtrechtlichen Verwaltungshandelns zu fragen. dd) Schließlich verlangen die Aufgaben der Verwaltung und ihre Realisierung nach nichtjuristischen Maßstäben auch die umgekehrte Perspektive, wie Recht instrumentalisiert werden kann, wie rechtliche Rahmenbedingungen geschaffen werden können, um jene Ziele zu verfolgen: Welche optionalen Rechtsformen sind für welche Verwaltungsaufgaben optimal oder anpassungsfähig – Rechtsgestaltung nach Maßgabe z. B. verwaltungspolitischer oder wirtschaftlicher Vorgaben und ihre Grenzen sind Teil interdisziplinären Zusammenwirkens in der Verwaltung, die die Gewinnung verallgemeinerungsfähiger theoretischer Aussagen erlauben, i.S. eines Abschied vom Leitbild des „lästigen Juristen“160. b) Folgen „externen“ Wandels für die Wissenschaft. Ein weiterer Gesichtspunkt ist eine allmähliche Abkehr von der unverändert kraftvollen nationalen Introvertiertheit der Staatsrechtslehre einerseits, der verselbständigten Europarechtslehre andererseits. Ein Scharnier ist die wachsende Rolle der strukturellen (Verfassungs- und Verwaltungs-)Rechtsvergleichung161. Dieses Bedeutungswachstum ist signifikant, auch wenn man solche Rechtsvergleichung nicht sogleich als fünfte Auslegungsmethode ansehen will162, weil sie ja im Rahmen auch von anderen Auslegungsmethoden i.S. von Savigny bedeutsam werden kann163 und insoweit nicht völlig selbständig neben ihnen steht. Rechtsvergleichung als Argumentationstopos im Rahmen der Rechtsanwendung durch Rechtskonkretisierung nimmt die Wertungen anderer Rechtsordnungen regelmäßig in einem positiven Sinne auf. Sie darf sich damit freilich nicht einfach von nationalstaatlichen, durch die demokratischen Entscheidungen des eigenen Staatsvolkes legitimierten Entscheidungen des Verfassungsgebers oder Gesetzgebers lösen; hier entstehen viele neue Herausforderungen für eine Wissenschaft vom Recht des demokratischen Verfassungsstaats im „Mehrebenensystemen“, von denen der „Verfassungsverbund“ nur eine Problemebene bezeichnet. 160 Vgl. E. Forsthoff, Der lästige Jurist (1957), in: ders., Rechtsstaat im Wandel, 2. Aufl. 1964, S. 57 ff. 161 Möllers (FN 52), § 3 Rn. 40 ff. 162 So zuerst P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, JZ 1989, S. 913 ff.; zuletzt ders., Europäische Verfassungslehre, 4. Aufl. 2006, S. 250 ff.; krit. Klement, Verantwortung (FN 9), S. 103 f. 163 Der Wortlaut deutscher Gesetze z. B. lässt sich mitunter nur unter Rückgriff auf die englischsprachige Fassung der zugrundeliegenden EG-Richtlinie erfassen, ebenso wie die Entwicklungsgeschichte oder der funktionale Zweck einzelner verfassungsrechtlicher Institute durch einen rechtsvergleichenden Blick erhellt wird, vgl. z. B. jeweils die Abschnitte A und B in den Kommentierungen der einzelnen Artikel bei H. Dreier (Hrsg.), GG-Kommentar, Band 1, 2. Aufl. 2004; Band 2, 2. Aufl. 2006; Band 3, 2. Aufl. 2008.

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Diese Rechtsvergleichung erstreckt sich dabei nicht nur auf die einzelnen Anwendungsbereiche, sondern auf den Vergleich ganzer Staaten und ihrer Rechtssysteme: Was viele als Ergebnis einer Föderalismusreform innerhalb Deutschlands erhofften, ist im europäischen und internationalen Rechtsvergleich als Wettbewerb von Systemen wohl schon real. Sie wird mittelfristig zu wechselseitigen Lernprozessen von unterschiedlich gewachsenen staatsrechtlichen Traditionen führen. Schon ein verstärkter Vergleich der Staatsrechtslehren der deutschsprachigen Länder könnte hier noch hilfreicher sein164. Noch weitergehend fragt sich: Stößt die Differenziertheit unserer Staats- und Verwaltungsrechtsdogmatik nicht auf prinzipielle Leistungsgrenzen von juristischer Systematik mit der Folge, dass die „topischen“ Erörterungen im Einzelfall zulasten determinierender systematischer Abstraktionen nach dem Vorbild fallrechtlich geprägter Rechtsordnungen (wie den USA) an Gewicht gewinnen werden?165 Eine weitere Folgerung der Veränderungen im Gegenstandsbereich für die Wissenschaft ist eine Funktionalisierung der rechtswissenschaftlichen Methodik als ein Oberbegriff für Veränderungen, die die herkömmliche rechtswissenschaftliche Methode im Sinne der juristischen Methode ergänzen um Überlegungen, die Zwecke staatlicher Aufgabenerfüllung durch nichtrechtliches Handeln zu optimieren. Wie immer man solche Handlungsmöglichkeiten wirtschaftlicher, sozialer oder kultureller Art auch einschätzt – es handelt sich nicht um Formen des Vollzugs von Recht durch Rechtsanwendung, sondern um Formen nichtrechtlichen staatlichen oder nichtstaatlichen Gestaltens, für die das Recht nur einen Rahmen bereitstellt. Wie muss sich der Gegenstandsbereich der Staatsrechtslehre verändern oder ausweiten, um hier dass zu leisten, was Öffentliches Recht seit jeher beansprucht: hoheitliche Machtausübung im Interesse aller zu disziplinieren und zu rationalisieren? Lassen sich Verluste an Systematik kompensieren? Gerade die neuen Handlungsformen des Europarechts lassen sich nur in ihrer rechtlichen Mittelbarkeit als funktionale Äquivalente zu rechtlichen Steuerungsinstrumenten verstehen.

164 Siehe aber G. Biaggini, Die Staatsrechtswissenschaft und ihr Gegenstand: Wechselseitige Bedingtheiten am Beispiel der Schweiz, und E. Wiederin, Denken vom Recht her. Über den modus austriacus in der Staatsrechtslehre, in diesem Band S. 267 ff. bzw. S. 293 ff.; vgl. ferner bereits die von vornherein angestrebte enge parallelisierende Verknüpfung der Eingriffsdogmatik im deutschen, schweizerischen und EMRK-Recht bei B. Weber-Dürler, Der Grundrechtseingriff, VVDStRL 57 (1998), S. 57 (59 ff.). 165 Vgl. Möllers, Wissen (FN 31), S. 162; zu den Besonderheiten des US-amerikanischen Rechtsdenkens ausf. Lepsius, Staatsrechtslehre (FN 15), S. 319 ff., 335 ff.; ders., Sozialwissenschaften (FN 22), S. 4 ff.

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VII. Ausblick Die vorstehenden Fragen nach den Eigenarten der Staatsrechtslehre der Gegenwart als Wissenschaft konnten immer auf Wandlungsprozesse in Methode, Fragestellung und ihren Folgen für das soziale Wissenschaftssystem Bezug nehmen, die tatsächlich bereits stattfinden und in den jeweiligen Sachzusammenhängen erörtert werden. Welchen Sinn macht es dann, diese unterschiedlichen Einzelfragen auf der abstrakten Ebene von Staatsrechtslehre als Wissenschaft zusammenzuführen? Vor allem zwei Ertragsmöglichkeiten drängen sich auf. Erstens sollen Zusammenhänge zwischen Diskussionsfeldern hergestellt und betont werden, die herkömmlicherweise getrennt voneinander erörtert werden; durch das Betreten einer neuen metadogmatischen Ebene erschließen sich in der Regel neue Einsichten, die auch für die praktische Rechtsanwendung bedeutsam sein können. Zweitens soll in einer Zeit, in der die Aufgaben und Funktionen aller Fachwissenschaften in ihrem Selbstverständnis und in ihrem Verhältnis zu benachbarten Disziplinen wie auch in den Erwartungen der Gesellschaft den Wissenschaften gegenüber neu diskutiert werden, auch die Staatsrechtslehre im interdisziplinären und inneruniversitären Diskurs ihrer selbst gewiss oder jedenfalls gewisser werden. Bei beiden Fragen geht es letztlich um eine metadogmatische Sensibilisierung i.S. von Selbstreflexion und damit auch um Reflexionsdefizite in der deutschen Staatsrechtslehre166.

166

Morlok, Reflexionsdefizite (FN 14).

Reflexionsdefizite in der deutschen Staatsrechtslehre Von Martin Morlok, Düsseldorf

I. Einleitung: Zur möglichen Bedeutung von „Reflexionsdefiziten“ 1. Mögliche Missverständnisse

Es ist gefährlich, als Wissenschaftler einer Disziplin Reflexionsdefizite vorzuwerfen. Dies ist sozial riskant, weil das Konstatieren eines „Defizits“ als Herabsetzung der Kollegen verstanden werden kann und zugleich auch als Anmaßung desjenigen, der ein solches Defizit feststellt, weil er sich damit unausgesprochen über die Kollegen zu erheben beansprucht. Sachlich ist der Hinweis auf ein Reflexionsdefizit deswegen riskant, weil er fast immer gekontert werden kann durch den Nachweis, es gebe aber diese Monographie und jene Aufsätze, die sich der angeblich vernachlässigten Aufgabe angenommen hätten. In der Tat ist es kaum vorstellbar, dass eine bestimmte Frage von niemandem in der Disziplin angesprochen wird. Die Auseinandersetzung mit vermuteten Reflexionsdefiziten hat daher weniger den Charakter einer Mängelrüge denn den einer Projektion von Aufgaben der eigenen Wissenschaft. Ein praktisch sinnvoller Begriff von „Defizit“ kann nur meinen, dass eine bestimmte Thematik zu wenig im Fach behandelt wird und, insbesondere, dass einschlägige Arbeiten keine oder nur unzureichende Resonanz finden. Regelmäßig wird es so sein, dass es zwar Reflexionsanstöße gibt, die aber im Fach nicht aufgenommen und weiterverfolgt werden, sei es im Sinne der Zustimmung und Ausarbeitung, sei es im Sinne der Kritik und Widerlegung oder in Gestalt von Modifizierungen. Es gibt durchaus Arbeiten, die ich als selbstreflexiv qualifizieren möchte, diese beeinflussen indes den „Mainstream“ der Staatsrechtslehre nicht, oder nach meiner Einschätzung eben zu wenig. Es geht hier daher genauer um die Untersuchung struktureller Reflexionsdefizite, nicht um die Behauptung individueller Reflexionsvorsprünge.

4 Die Verwaltung, Beiheft 7

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Martin Morlok 2. Begriff und Bedeutung von „Reflexion“

„Reflexion“ ist nach üblichem Verständnis das Bedenken der eigenen Situation und der eigenen Vorgehensweise. Man kann am guten Wortsinn anknüpfen: sich zurückbeugen, um sich selbst betrachten zu können. Selbstbeobachtung und kritische Selbstprüfung ist also der Sinn von „Reflexion“. In der Systemtheorie wurde Reflexion auch beschrieben als die Heranziehung einer Außenperspektive auf das System und die Verwendung dieser Außensicht durch das System selbst, also die Fruchtbarmachung einer Fremdbeschreibung für die eigene Selbstbeschreibung1. Diese Fassung des Reflexionsbegriffs scheint mir besonders fruchtbar zu sein. In diesem Sinne reflexionsfördernd ist damit die Betrachtung der eigenen Disziplin durch andere. Sozusagen per definitionem ist die Heranziehung von Nachbarwissenschaften oder auch der Rechtsvergleichung geeignet, Reflexionsprozesse anzustoßen. Dies wurde wiederholt festgestellt: „Es ist an der Zeit, dass die Gerichte der Vereinigten Staaten auf die Entscheidungen anderer Verfassungsgerichte schauen, um ihr eigenes Nachdenken zu unterstützen“2. Das Interesse an Reflexion ist ein Zweifaches: Zum einen eines an Erkenntniszugewinn („Warum ist es so, wie es ist? Warum tun wir das, was wir tun, und warum gerade so und nicht anders?“), zum anderen ein Interesse an der Verbesserung der eigenen Fähigkeiten und der eigenen Praxis. Im Einzelnen können sich die notwendigen Reflexionsakte auf mehrerlei beziehen: – auf die Ziele der juristischen Theoriebildung und, abgehoben davon, – auf die Ziele der Dogmatikkonstruktion.

Weiter kann sich die kritische Selbstprüfung beziehen auf – die der eigenen Arbeit zugrunde liegenden Fundamentaltheorien, also auf ganz entscheidende Strukturierungen des Welt- und Gesellschaftsverständnisses; – das methodische Vorgehen bei der Arbeit mit den Rechtstexten; – die Adäquanz der dogmatischen Figuren, mit denen das Recht für die Alltagsarbeit operationabel gemacht wird; 1 Etwa N. Luhmann, Soziale Systeme, 1984, S. 617 ff.; ders., Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1990, S. 617 ff. 2 W. Renquist, Verfassungsgerichte – Vergleichende Bemerkungen, in: P. Kirchhof / D. P. Kommers (Hrsg.), Deutschland und sein Grundgesetz, 1993, S. 453 ff. (454); siehe auch D. P. Kommers, Kann das deutsche Verfassungsrechtsdenken Vorbild für die Vereinigten Staaten sein?, Der Staat 37 (1998), S. 335 (336).

Reflexionsdefizite in der deutschen Staatsrechtslehre

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– die wissenssoziologische Aufklärung über das eigene Verhalten und nicht zuletzt auf – die juristische Praxis. Hier geht es etwa um Fragen wie diese: Welche Rolle spielen dogmatische Figuren bei der Steuerung der Entscheidungsarbeit? Welche Bedeutung haben gerichtsinterne Entscheidungslinien? Wie wirkt sich die Ebene, auf der Recht gesprochen wird, auf die Entscheidungsarbeit aus? Was macht also die Typizität des Amtsrichters gegenüber dem Richter am OVG oder BVerwG aus3? Werden diese Unterschiede bedacht? Wie werden sie gerechtfertigt?

Im Folgenden möchte ich mich einigen Bereichen widmen, die in der deutschen Staatsrechtslehre nicht hinreichend bearbeitet werden, bei welchen jedenfalls eine unzureichende Verarbeitung einschlägiger Erkenntnisse zu konstatieren ist (II.). Im Anschluss daran werde ich kurz Beispiele für selbstreflexives Arbeiten nennen (III.). Danach geht es um Gründe und Ursachen für Reflexionsdefizite in unserer Disziplin (IV.), um mit einem Plädoyer für eine stärkere Berücksichtigung der Selbstreflexion im Fach zu schließen (V.).

II. Beispiele für Reflexionsdefizite Nach meinem Dafürhalten kümmert sich die deutsche Staatsrechtslehre insgesamt zu wenig um tiefgreifende Reflexion. Wenn ich mit Mephistopheles formuliere: „Ich weiß, wie es um diese Lehre steht“4, so sollen folgende Arbeitsgebiete dies belegen.

1. Die sprachliche Bedingtheit der juristischen Arbeit

Sowohl der Gegenstand der juristischen Anstrengungen wie die Arbeitsinstrumente dieser Disziplin sind durch und durch sprachlich. Auf diesem Gebiet ein Reflexionsdefizit zu behaupten, mag Wunder nehmen, gibt es doch eine Vielzahl von Arbeiten zum Thema „Recht und Sprache“5. Viele dieser Arbeiten halten aber bemerkenswerte Distanz zur sprachwissen3 Zur Untersuchung solcher Fragen P. Stegmaier, Wissen, was Recht ist – Wissenssoziologisch-ethnographische Studien zur richterlichen Rechtspraxis, soziologische Dissertation Dortmund 2006, auf der Grundlage eines von der Deutschen Forschungsgemeinschaft geförderten empirischen Projektes Recht als soziale Praxis – Von den Rechtsmethoden des Alltags zu einer Rechtsmethodik für den Alltag und des Fortsetzungsprojektes Geänderte Rechtsnormen als richterliches Handlungsproblem unter der Leitung von M. Morlok und der weiteren Mitarbeit von Th. Berndt, R. Kölbel, A. Launhardt; siehe weiter etwa M. Morlok / R. Kölbel, Rechtspraxis und Habitus, Rechtstheorie 32 (2001), S. 289 ff. 4 J. W. von Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil, Zeile 1971 (Schülerszene). 5 Etwa E. Forsthoff, Recht und Sprache, 1940.

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schaftlichen Literatur6. Es scheint vielmehr so zu sein, dass die Jurisprudenz insgesamt eine implizit bleibende eigene juristische Sprachtheorie pflegt, welche Ergebnisse der Fachdiskussion zum guten Teil verleugnet7. Die Unbestimmtheit, welche der Sprache eigen ist, wird kaum systematisch zur Kenntnis genommen8, insbesondere der konventionalistische Charakter der Bedeutungszuschreibung9 wird nicht gesehen. Dies hat die Folge, dass die Sprache nach wie vor in einer als naiv zu qualifizierenden Weise von der Wortlautinterpretation her behandelt wird. Möglicherweise ist diese juristische Sprachtheorie, die eine fixe Bedeutung unterstellt, eine für das Recht und dessen Anwendung notwendige – gerade dies wird aber in der Disziplin kaum erörtert. Auch die Rhetorik der juristischen Arbeit wird meist weitgehend unbeachtet gelassen10; gleiches gilt für die pragmatische Situiertheit11 aller Aussagen. Auch andere konzeptionelle Angebote der einschlägigen Fachdisziplinen finden kaum Widerhall, so etwa die Intertextualität, obschon doch die Rechtswissenschaft als eine Textwissenschaft par excellence hiervon erheblich profitieren könnte, ja der Sprachwissenschaft oft sogar als Mustergebiet dient12. Eine besondere Qualität sprachlicher Gestaltung stellt die Metapher dar. Wir haben es bei ihr mit einem „uneigentlichen“ Sprachgebrauch zu tun, in dem ein Ausdruck von seinem angestammten Gegenstand abgezogen und auf einen anderen Gegenstand bezogen wird13. Die Rechtswissenschaft ist durch einen erheblichen Reichtum an Metaphern gekennzeichnet, die zum Teil schon nicht mehr als solche erkennbar sind, man spricht von „toten Metaphern“. Zentrale Konzepte werden mit metaphorischer Hilfe ausge6 Siehe etwa P. Kirchhof, Rechtsprechen ist mehr als Nachsprechen von Vorgeschriebenem, in: U. Haß-Zumkehr (Hrsg.), Sprache und Recht, 2002, S. 119 ff.; ders., Deutsche Sprache, in: J. Isensee / ders. (Hrsg.), HStR II, 3. Aufl. 2004, § 20. 7 Ähnlich F. Müller / R. Christensen / N. Sokolowski, Rechtstext und Textarbeit, 1997, S. 22 f. 8 Zur „Verständlichkeit, Missverständlichkeit und Unverständlichkeit von Recht“ siehe K. G. Lerch (Hrsg.), Die Sprache des Rechts, Bd. 1, Recht verstehen, 2004. 9 Hierfür beispielsweise D. Busse, Recht als Text, 1992, S. 32 ff.; R. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung, 1980, S. 112 ff., 152 ff. 10 Ausnahme insoweit die Arbeiten K. Gräfin von Schlieffens, bspw. Sachlichkeit, Rhetorische Kunst der Juristen, 1990; dies., Argumente und stilistische Überzeugungsmittel in Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, in: J. Dyck / W. Jens / G. Ueding (Hrsg.), Rhetorik. Ein internationales Jahrbuch, 1996, S. 115 ff.; dies., Rhetorische Rechtstheorie, in: G. Ueding (Hrsg.), Rhetorik. Begriff – Geschichte – Internationalität, 2005, S. 313 ff. 11 Zur allgemeinen pragmatischen Linguistik vgl. die Positionen von R. Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, 1982; zur Einzelkritik siehe D. Busse, Was ist die Bedeutung eines Gesetzes?, in: F. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989; instruktiv auch H. Rodingen, Pragmatik der juristischen Argumentation, 1977. 12 Dazu jetzt M. Morlok, Der Text hinter dem Text. Intertextualität im Recht, in: FS Häberle, 2004, S. 93 ff. 13 So bereits Aristoteles, Poetik, Kap. 21, 1457 b, Kap. 22, 1459 a.

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drückt. Wir arbeiten täglich mit „Rechtsquellen“ und beschreiten „Rechtswege“, Streitigkeiten werden diesen durch Sonderzuweisung „auf-“ oder „abgedrängt“. Die „Abwägung“ ist allgegenwärtig, einem Recht können „Schranken“ gezogen werden – freilich nur, solange sein „Kern“ nicht beeinträchtigt wird, beim Suspensiveffekt wird die Wirkung eines Rechtsaktes „aufgeschoben“14. Soweit ersichtlich, gibt es kaum rechtswissenschaftliche Untersuchungen über den Einsatz von Metaphern in der Rechtswissenschaft15.

2. Empirische Validierung und Prüfung der verwendeten Konzepte

Ein zweiter Aspekt betrifft die wissenschaftstheoretische Überprüfung der eigenen Instrumente, die empirische Überprüfung der (stillschweigend) gemachten Tatsachenannahmen und die Angemessenheit der verwendeten Konzepte. Solche Diskussionen sind eher randständig. In dem Maße, in dem die gesellschaftliche Umwelt sich aber ändert, wird es zur Daueraufgabe, sich der Geeignetheit des begrifflichen und theoretischen Apparats zu versichern und auch immer wieder zu überprüfen, ob die Wirklichkeit tatsächlich so ist, wie unterstellt. Ein einfaches Beispiel: Zur Rechtfertigung der Nichtöffentlichkeit der Verhandlungen der Bundestagsausschüsse 16 – entgegen Art. 42 Abs. 1 S. 1 GG – wird gern darauf abgehoben, diese Praxis sei notwendig, um detaillierte Sachberatungen durchführen zu können, vor allem aber, um Kompromisschancen eben vertraulich erkunden zu können. Diese Aussagen werden aber getroffen, ohne dass die tatsächliche Ausschussarbeit in den Blick genommen wird, ohne dass eine durch Ausnahmegenehmigung gegebenenfalls zu erreichende Begleitung eines Ausschusses je angestellt wurde oder ohne dass Abgeordnete zu diesem Thema befragt würden. Weithin werden also Tatsachenannahmen, die durchaus überprüfbar wären, ohne Bezug auf empirische Untersuchungen gemacht. Auch die in jüngerer Zeit lebhaft gewordene Kritik an der Entparlamentarisierung des politischen Geschehens geht oft von einem Parlamentsbild aus, welches entworfen wurde, ohne sich die Mühe einer empirischen Er14 Ob diese sprachlichen Figuren noch unter den Metaphernbegriff fallen oder sich von ihrem Ursprung gelöst haben und feste Fachtermini sind, kann hier undiskutiert bleiben. Der Hinweis auf den Reflexionsbedarf gilt lediglich der Verwendung von Sprachbildern überhaupt, nicht ihrer genauen theoretischen Einordnung. 15 Als Überblick über die allgemeine Diskussion E. Rolf, Metapherntheorien, 2005; in der Rechtswissenschaft vereinzelt, so W. Schreckenberger, Rhetorische Semiotik, 1978, S. 51 ff., 200; K. Sobota, Rhetorisches Seismogramm – eine neue Methode in der Rechtswissenschaft, JZ 1993, S. 231 ff. 16 Dazu etwa mit umfänglicher Darstellung des Streitstandes H. H. Klein, in: Maunz / Dürig (Hrsg.), Grundgesetz (Lieferung 39, 2001), Art. 42 Rn. 38 ff.

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hebung der tatsächlichen Arbeitsabläufe in einem modernen Parlament zu machen17. Auch wesentliche Konzepte, welche die wissenschaftliche Arbeit leiten, werden zwar immer wieder überprüft, ausdifferenziert und verändert, so etwa das Begriffspaar „Regeln und Prinzipien“18, dieses Bemühen um theoretisch anspruchsvolle und präzise Begriffe wird aber in der Fachgemeinschaft nur verhalten aufgenommen. In Dissertationen unternimmt man eine solche Klärungsarbeit, in der Beletage des Fachs spielen solche Anstrengungen aber kaum eine Rolle – durchaus zu Unrecht, reformieren solche konzeptionellen Wahlen doch auch die damit behandelten Inhalte und die Ergebnisse der Entscheidungsarbeit. Schließlich ist an eine gesellschaftstheoretische Unterfütterung der rechtlichen Theoriebildung zu denken, jedenfalls an die Frage, welche sozialen Funktionen rechtliche Institute, aber auch dogmatische Festlegungen haben. Als Exempel für solche Studien möchte ich auf Luhmanns Grundrechte-Buch verweisen19. Eine solche Vernachlässigung, sei es empirischer, sei es wissenschaftstheoretischer, sei es konzeptioneller Arbeit, ist keine Eigenart der Staatsrechtslehre, sondern findet sich durchaus auch in anderen Rechtsgebieten und wohl auch in anderen Wissenschaftsdisziplinen. So bezeichnet etwa die Adäquanztheorie in der Tat ein Problem, verschleiert aber eher eine Antwort durch die dahinter steckenden impliziten Wertungen, als dass diese offen getroffen würden. Im öffentlichen Recht gibt es eine Paralleldiskussion um den „Eingriff“ in Grundrechte, die zu einer Ausweitung der Maßgeblichkeit der Grundrechte geführt hat. Diese Diskussion geschieht aber merkwürdig theorielos: Soweit ersichtlich wird kaum erörtert, dass es dabei um das Problem der Zurechnung von Freiheitsbeeinträchtigungen beim Bürger zum Staat geht – und nicht zu anderen Akteuren oder Umständen. Warum ist eine solche – einschränkende – Zurechnung nötig? Das wird selten diskutiert, jedenfalls nicht in einer theoretischen Sprache20. Angesichts dessen ist daran zu erin17 Dazu M. Morlok, Informalisierung und Entformalisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung?, VVDStRL 62 (2003), S. 37 (bes. 64 ff.); E. Schütt-Wetschky, Zwischen traditionellem Parlamentsverständnis und moderner Parteiendemokratie: Gründe des latenten Verfassungskonflikts, ZParl 34 (2003), S. 531 ff.; ders., Regierung, Parlament oder Parteien: Wer entscheidet, wer beschließt?, ZParl 36 (2005), S. 489 ff.; nach wie vor ist es ein unerfülltes „Desiderat der Verfassungsrechtswissenschaft“, „eine Theorie des Zusammenhangs und Ergänzungsverhältnisses von öffentlichen und nichtöffentlichen Diskussions- und Entscheidungsprozessen“ zu erarbeiten, so H. Schulze-Fielitz, Der informale Verfassungsstaat, 1984, S. 136 ff. 18 R. Alexy, Theorie der Grundrechte, 2. Aufl. 1994; M. Borowski, Grundrechte als Prinzipien (1998), 2. Aufl. 2007. 19 N. Luhmann, Grundrechte als Institution, 1965.

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nern, dass die Zurechnung oder „imputatio“ einmal ein Zentralbegriff des Rechts war. Nach meinen Recherchen gibt es keine Monographien im deutschen öffentlichen Recht, die sich der Zurechnungsfrage öffentlich-rechtlicher Provenienz als solcher widmen. Bestenfalls werden Zurechungsfragen in der polizeirechtlichen Kausalitätslehre erörtert – mit Figuren wie der „Theorie der unmittelbaren Verursachung“ aber offenbar nicht gelöst. Als weiteres Beispiel mag die Diskussion um die mehrseitigen Verwaltungsrechtsverhältnisse hier genannt werden, die zwar ein äußerst respektables dogmatisches Niveau erreicht hat, kaum jedoch danach fragt, ob die Konzeption eines Rechtsverhältnisses als ein mehrseitiges theoretisch reflektiert werden kann und muss21 – entsprechendes gilt für soziologische Arbeiten über das subjektive öffentliche Recht22.

3. Grundfragen

Ein erheblicher Teil der Faszination, die das Verfassungsrecht ausmacht, hat darin seinen Grund, dass dort die Grundfragen des menschlichen Zusammenlebens behandelt werden. Es geht um Freiheit, um Gleichheit, um Gerechtigkeit, um Herrschaft und Demokratie. Die Behandlung dieser „Großen Fragen“ hat eine ehrwürdige Tradition – die im Verfassungsrecht überraschenderweise verhältnismäßig wenig thematisiert wird. Bei der Behandlung dieser Großen Fragen ist das Verfassungsrecht sich oft selbst genug. Gewiss, „Klassikertexte im Verfassungsleben“23 haben ihren Platz, aber keinen zentralen. Diese Enthaltsamkeit gegenüber dem Fundus des sozialphilosophischen Erbes – wie auch des gegenwärtigen Theoretisierens! – begründet nicht unbedingt einen Vorwurf, gar den des Reflexionsdefizits; kann doch der eigene Wert verfassungsrechtlicher Strukturen und verfassungsrechtlich orientierten Theoretisierens über diese Fragen damit eher hervortreten und die für die Ausbildung als eigene Disziplin notwendige Autonomie gewinnen. 20 Zu Einzelaspekten U. Ramsauer, Die Bestimmung des Schutzbereiches von Grundrechten nach dem Normzweck, VerwArch 72 (1981), S. 89 ff.; W. Roth, Faktische Eingriffe in Freiheit und Eigentum, 1994; M. Sachs, Grundrechtseingriff und Grundrechtsbetroffenheit, in: K. Stern, Staatsrecht III, Band 2, 1994, S. 174 ff.; H. Bethge, Der Grundrechtseingriff, VVDStRL 57 (1998), S. 7 (37 ff.); B. Weber-Dürler, Der Grundrechtseingriff, VVDStRL 57 (1998), S. 57 (89). 21 P. M. Huber, Konkurrenzschutz im Verwaltungsrecht, 1991, S. 169 f. und M. Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen im Verwaltungsrecht, 2. Aufl. 2005, S. 9 f., 29 f., 143 f. thematisieren diese Aspekte nur äußerst am Rande. 22 So verarbeiten beide genannten Arbeiten beispielsweise den Aufsatz N. Luhmanns, Zur Funktion der „subjektiven Rechte“, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Bd. I, 1970, nicht; siehe aber J. Krüper, Gemeinwohl im Prozess – Funktionale subjektive Rechte auf Umweltvorsorge, 2007, i. E., E. § 7 II, 1. 23 P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981.

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Klassische Grundfragen treten bei dieser disziplinären Selbstbeschränkung nicht als solche, sondern in Form von dogmatischen Detailfragen in Erscheinung. Gleichwohl ist es ein Verlust, wenn bei der Debatte über nachträgliche Auflagen im Anlagengenehmigungsrecht oder über die Rücknehmbarkeit von begünstigenden Verwaltungsakten nicht mehr präsent ist, dass damit auch von der alten Antinomie zwischen inhaltlicher Richtigkeit und Rechtssicherheit gehandelt wird. Die Verkürzung auf die dogmatische Erscheinungsform der „Großen Frage“ lässt einen wesentlichen Aspekt ausgeklammert, der in allfälligen Abwägungen durchaus eine Rolle spielen mag. Der Verzicht auf die lange Tradition erworbener Einsichten und akkumulierter Argumente hat durchaus das Prädikat eines Defizits. Eine weitere Konsequenz dieser Vernachlässigung der Großen Fragen in der Gestalt Großer Fragen liegt darin, dass es nur wenig konzeptionelle Entwürfe zu diesen klassischen Problemen aus juristischer Feder gibt, die eben den Problemen in ihrem gesamten Umfang und ihrer Grundsätzlichkeit gelten. Es gibt eine überbordende Grundrechtsliteratur, aber wenig Entwürfe zum Verständnis der Freiheit als solcher24. Eine grundlagentheoretische Befragung des Konzepts „Freiheit“ durch unsere Disziplin ist mir unbekannt25. Angesichts der aktuellen Herausforderungen durch die Neurowissenschaft, die beansprucht, Entscheidungsfreiheit als Fiktion entlarvt zu haben, könnte man sich gut vorstellen, dass auch die Verfassungsrechtswissenschaft sich um diesen Grundpfeiler der rechtlichen Ordnung kümmert. Andere Bereiche, etwa die Philosophie, tun dies lebhaft. Was die Notwendigkeit der Einschränkung der Freiheit des Einzelnen in einer gesellschaftlichen Ordnung anlangt, so wird dies minutiös in den Konstrukten der grundrechtlichen Schrankenlehre abgearbeitet. Darüber aber sollte nicht die prinzipielle Erörterung unterbleiben: Es ist zu zeigen, dass bestimmte grundrechtsdogmatische Alternativen mit Weichenstellungen im Grundsätzlichen verbunden sind. Die eigenständige dogmatische Diskussion hat ihren unaufgebbaren Wert – auch für die Ausdifferenzierung und damit Autonomie der Staatsrechtslehre –, sollte aber vermehrt rückgebunden werden an die sozialphilosophischen Grundpositionen26, und diese sollten durchaus auch im Hinblick auf die dogmatischen Probleme formuliert werden. Um ein positives Beispiel zu geben: Eine Hauptströmung des sozialphilosophischen Denkens ist der Kontraktualismus27, er ist in Dogmatik und 24

Siehe aber E. Grabitz, Freiheit und Verfassungsrecht, 1976. Anders die Philosophie, dort jüngst zu den Grundfragen der Gleichheit die bemerkenswerte Habilitationsschrift St. Gosepaths, Gleiche Gerechtigkeit. Grundlagen eines liberalen Egalitarismus, 2004. 26 Beispielhaft hierfür W. Brugger, Liberalismus, Pluralismus, Kommunitarismus. Studien zur Legitimation des Grundgesetzes, 1999. 25

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Theorie des öffentlichen Rechts wenig verbreitet, was umso mehr überrascht, als dass das Vertragskonzept dem Juristen ja von Hause aus nahe steht. Eine beachtenswerte Ausnahme ist die beeindruckende Anknüpfung Görg Haverkates an diese Theorietradition und die Ausbuchstabierung des Gegenseitigkeitsgedankens auf verschiedenen Feldern der Verfassungstheorie28. Ein neuer Zugang zu den großen Fragen verspricht einen Erkenntnisgewinn durch die Herauspräparation von den „grundlegenden Ordnungsvorstellungen“, „auf die das gemeinschaftliche Leben eingerichtet . . . ist“29. Eine solche Vorgehensweise kann durchaus erhellend sein und beim Vergleich von Rechtsordnungen oder Rechtsprechungslinien ein Argumentationsmuster liefern. So hat der amerikanische Verfassungsrechtler Donald P. Kommers die Unterschiede zwischen der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts und des Supreme Courts auf solch einen Begriff unterschiedlicher Grundeinstellungen gebracht und deutliche Auswirkungen für die Rechtsprechungspraxis aufgezeigt. So sieht er in der amerikanischen Rechtsprechung eine Dominanz der individuellen Freiheit, wohingegen in Deutschland die Eingebundenheit des Einzelnen in die Gesellschaft sehr viel stärker profiliert sei, etwa unter dem Topos des „Menschenbild des Grundgesetzes“30. Schließlich ist eine weitere Folge der Vernachlässigung der Großen Frage zu beweisen. Eine Reihe von wissenschaftlichen Ansätzen oder Schulen hat sich einzelnen Aspekten der Großen Fragen gewidmet, etwa der Diskussion zwischen Naturrecht und positivem Recht oder der Frage, ob das Recht eher ideellen Charakter habe oder nicht vielmehr in strikt realistischer Weise als konkretes Produkt des Handelns von Institutionen zu verstehen sei. Zusammenhänge, die wohl unbezweifelt zentrale Fragen des Rechts traktieren, finden in der Staatsrechtslehre als solche kaum Widerhall. Darin liegt ein Reflexionsverlust, aber auch der Verzicht auf Vorarbeiten. Wenn Rudolf 27 W. Kersting, Die politische Philosophie des Gesellschaftsvertrags, 1994; ders., Gerechtigkeit als Tausch?, 1997; ders., Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines bürgerlichen und kirchlichen Staates, 1999; H. Hofmann, Die klassische Lehre vom Gesellschaftsvertrag und der „Neokontraktualismus“, in: Ch. Engel / M. Morlok (Hrsg.), Öffentliches Recht als ein Gegenstand ökonomischer Forschung, 1998, S. 257 ff. 28 G. Haverkate, Verfassungslehre. Verfassung als Gegenseitigkeitsordnung, 1992. 29 H. Hofmann, Zum juristischen Begriff der Institution, in: ders., Recht – Politik – Verfassung, 1986, S. 207. 30 Siehe hierzu Kommers, Verfassungsrechtsdenken (FN 2), S. 338 f., 340, 346; die einschlägige Rechtsprechung zum „Menschenbild des Grundgesetzes“ hat aufgearbeitet U. Becker, Das Menschenbild des Grundgesetzes in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes, 1996; siehe auch P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988; prototypisch hierzu eine Einlassung des BVerfG: „Das Menschenbild des Grundgesetzes ist nicht das eines isolierten souveränen Individuums; das Grundgesetz hat vielmehr die Spannung Individuum – Gemeinschaft im Sinne der Gemeinschaftsbezogenheit und Gemeinschaftsgebundenheit der Person entschieden, ohne deren Eigenwert anzutasten“, BVerfGE 4, 7 (15).

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Smend zu Recht konstatiert, das Grundgesetz gelte heute praktisch so, wie das Bundesverfassungsgericht es versteht und dies als Verfassungsgerichtspositivismus – wiederum zu Recht – beklagt wird31, so könnte hieran eine Diskussion anknüpfen, die sich des Rechtsrealismus bewusst ist und aus deren Arbeiten schöpft. Erinnert sei nur an das bekannte Wort von Oliver W. Holmes, wonach Recht nichts anderes sei als „the prophecies of what the courts will do in fact“32.

4. Recht und Moral

Eine Grundfrage, die separate Behandlung verdient, ist die nach dem Verhältnis von Recht und Moral. Nach meinem Eindruck wird in unserer Disziplin die Trennung von Recht und Moral als selbstverständlich vorausgesetzt, aber kaum mehr erörtert, sondern vielmehr als Problem eher vernachlässigt, obschon es durchaus Anlass gibt, sich dieser Thematik erneut anzunehmen. Das beginnt etwa mit der Frage nach dem Begriff des Rechts: Ist Recht vernünftigerweise als eine gesellschaftliche Wirkgröße ohne Anspruch auf inhaltliche Richtigkeit zu konzipieren oder muss nicht vielmehr Recht, jedenfalls in der gesellschaftlich tatsächlich wirksamen Gestalt, immer schon unter dem Anspruch inhaltlicher Richtigkeit konzeptualisiert werden33, weil anderenfalls ihm kaum Gehorsam geleistet würde34? Diese Grundlagendiskussionen haben durchaus praktische Bedeutung, man denke hier an Fälle wie diejenigen der Mauerschützen und die daran wieder aufgebrochene Diskussion um die Radbruchsche Formel35 oder an eine demokratietheoretische Komponente, um die Frage des sogenannten zivilen Widerstandes. Überhaupt scheint eine Besinnung auf den Sinn der Trennung von Recht und Moral derzeit angezeigt zu sein. Das Verfassungsrecht handelt in wichtigen Teilen von Fragen, die auch Gegenstand der Moral (oder ihrer Reflexionsdisziplin, der Ethik) sind. Es geht also darum, was „gut“ oder „schlecht“, was man als anständiger Mensch tun soll und was sich nicht gehört, worüber man sich zurecht empört, was man verurteilt. Trotz der grundsätzlichen Anerkennung der Trennung von Recht und Moral ist nicht zu verkennen, dass das Verfassungsrecht auch moralische Gehalte enthält 31 Siehe dazu B. Schlink, Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, Der Staat 28 (1989), S. 161 ff. 32 O. W. Holmes, The Path of Law, Havard Law Review 10 (1897), S. 457 (461). 33 Zur „Richtigkeit“ eines Gesetzes als Verfassungserfordernis BVerfGE 68, 1 (86) – Pershing. 34 Siehe zur Diskussion: R. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 4. Aufl. 2005. 35 Dazu etwa H. Dreier, Die Radbruchsche Formel – Erkenntnis oder Bekenntnis?, in: FS R. Walter, 1991, S. 117 ff.; ders., Gustav Radbruch und die Mauerschützen, JZ 1997, S. 421 ff.

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und die verfassungsrechtliche Argumentation offen oder verkappt auch moralische Argumente enthält. Es ist ein durchaus häufiges Phänomen, dass moralisch kontroverse Fragen in das Verfassungsrecht hinein verlagert und dort diskutiert werden – und zwar mit der Hoffnung, eine für alle verbindliche Lösung zu finden. Das geschieht nicht zuletzt in der Debatte um die Embryonenforschung, wo versucht wird, bestimmte moralische Positionen als verfassungsrechtlich zwingend darzustellen, insbesondere geht es um die Position eines forcierten vorgeburtlichen Lebensschutzes36. Unabhängig von der juristischen Fragwürdigkeit dieser Versuche, die hier unerörtert bleiben kann, ist diese Moralisierung des Rechts, die möglicherweise gegenwärtig sogar zunimmt, zu beklagen. Zum einen entzieht diese Kryptomoralität des Verfassungsrechts moralethisch zu diskutierende Sachverhalte der ethischen wie auch der politischen Diskussion und macht sie zum Monopol der Juristen. Im Zusammenhang damit ist auch darauf hinzuweisen, dass für moralische Fragen andere Institutionen und andere Prozeduren der Auseinandersetzung, Verständigung und eventuell, aber eher selten, der Entscheidung bereitstehen als für Rechtsfragen. Eine unangemessene Behandlung moralischer Fragen in rechtlicher Gestalt führt so zu einem Wandel der Diskussionsformen und zu einer Verlagerung in Institutionen, die für diese Art von Fragen nicht zugeschnitten sind. Nicht zuletzt ist mit der Konstitutionalisierung solcher Fragen die Änderbarkeit von Entscheidungen – etwa im Lichte neuer Erfahrungen oder Überlegungen – ausgeschlossen oder doch sehr erschwert. In den Worten Rawls führt eine solche juristisch verschleierte Moralitätsdiskussion zu einer Verwechslung des „Gerechten“ mit dem „Guten“37 – dies freilich höchst intentional. Schließlich wird also mit einer solchen klandestinen Moralisierung die Bedeutung der Trennung von Moral und Recht verkannt und die Leistungsmöglichkeiten dieser Trennung38 aufgegeben, jedenfalls nicht ausgeschöpft. Die besondere Nützlichkeit des Rechts in einer Gesellschaft, in der es unterschiedliche Vorstellungen über das „Gute“ gibt, in der unterschiedliche Moralvorstellungen gehegt werden, liegt ja darin, eine Form des friedlichen Zusammenlebens zu ermöglichen, welche allen gleichermaßen ein möglichst großes Maß an Freiheit einräumt. Gerade dieser mit der Idee des weltanschaulich neutralen Verfassungsstaats gegebene „Vorrang des Gerechten vor dem Guten“ im Sinne von Rawls wird mit einer Morali36 Ein Gegenbeispiel in der Sache bildet die Kommentierung H. Dreiers, in: ders. (Hrsg.), GG, Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Art. 1 I Rn. 49, 66 ff., der eine genaue Trennung zwischen rechtlich gefordertem und politisch-moralisch gewünschtem Lebensschutz zieht. 37 J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1975, S. 486 ff. 38 Dazu in jüngerer Zeit umfassend St. Huster, Die ethische Neutralität des Staates, 2002.

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sierung aufgegeben, sogar unwissend verspielt, wenn es um kryptonormative Gehalte geht.

5. Politische Voraussetzungen und Folgen

Verfassungsrecht ist politisches Recht. Das ist eine oft beschworene Selbstverständlichkeit39, aber wo wird die Diskussion um diese politische Dimension in der Wissenschaft vom öffentlichen Recht geführt40? Sie fehlt weitgehend jedenfalls dann, wenn man das Attribut „politisch“ nicht in einem engen parteipolitischen Sinne versteht41. Hier wird selbstverständlich, vor allem in der Tagespresse, erörtert, welchem politischem Lager etwa eine Entscheidung des BVerfG genehm ist und wem sie Ärger bereitet. Über die darüber hinaus gehenden politischen Implikationen verfassungsrechtlicher Entscheidungen, auch konzeptioneller Art – Schützt Art. 14 GG auch den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb? Gibt es Entschädigung nach den Grundsätzen des sog. enteignungsgleichen Eingriffs auch für Einbußen im Bereich der Berufsfreiheit? – findet jedenfalls in den zentralen Organen der Staatslehre kaum eine Diskussion statt. Auch der sog. Alternativkommentar zum GG hat ja die Schwierigkeit, dass das Alternative daran kaum sichtbar ist. Dieser Zustand ist nicht rundum beklagenswert. Er zeugt von einer konsolidierten Fachgemeinschaft, die sich nicht von politisch entgegengesetzten Auffassungen auseinander dividieren lässt im Sinne einer Spaltung und insbesondere nicht im Sinne des Verlusts einer gemeinsamen Argumentationsbasis. An der Geschiedenheit eines verfassungsrechtlichen Diskurses vom politischen Diskurs ist unbedingt festzuhalten! Gleichwohl stellt es ein Reflexionsdefizit dar, wenn die Annahmen, die dem Verfassungsrecht zu Grunde liegen, und die Auswirkungen, die gerichtliche oder dogmatische Entscheidungen haben, nicht auch in der politischen Dimension befragt werden. Zu denken ist hier an eine Diskussion wie sie in den Vereinigten Staaten unter der Sammelüberschrift der „Critical Legal Studies“ geführt wird, wo nach den konkreten Folgen für unterschiedliche gesellschaftliche 39 Siehe etwa H. Triepel, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 2 (7); R. Smend, Die politische Gewalt im Verfassungsstaat und das Problem der Staatsform (1923), und ders., Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2. Aufl. 1968, S. 68 (82) bzw. S. 119 (238); zu den verschiedenen Rollen, in denen ein Staatsrechtslehrer politisch agieren kann, siehe A. Voßkuhle, Die politischen Dimensionen der Staatsrechtslehre, in diesem Bande unten S. 135 (143 ff.); zum Umgang der Verfassungstheorie mit den politischen Gehalten des Rechts wie ihrer selbst M. Morlok, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Verfassungstheorie?, 1988, S. 178 ff. 40 Siehe z. B. D. Grimm, Recht und Politik, JuS 1969, S. 501 ff. 41 Siehe aber R. C. v. Ooyen, Der Begriff des Politischen des Bundesverfassungsgerichts, 2005.

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Gruppen gefragt wird, die rechtliche Institutionen und Entscheidungen haben42.

6. Reflexion durch Nachbarwissenschaft und Rechtsvergleich

a) Methodisch orientierte Interdisziplinarität. Reflexion kann man, wie erwähnt, auch verstehen als die Fruchtbarmachung einer Außenbeobachtung für das eigene Verständnis. Von daher eignen sich die Nachbardisziplinen der Rechtswissenschaft wie auch die Rechtsvergleichung, um Reflexionsprozesse anzustoßen. Dies kann in zwei verschiedenen Stufen dargestellt werden: Unterschiedliche Wissenschaften arbeiten unter verschiedenen Perspektiven, sie verwenden verschiedene Theorien und kommen damit zu anderen Darstellungen, zu anderen Ergebnissen und legen auch andere Wertungen nahe. Falls eine Nachbardisziplin der Rechtswissenschaft sich dem gleichen Gegenstand wie diese selbst widmet, kann es nur lehrreich sein, sich mit dieser anderen Sichtweise auseinander zu setzen. Die ökonomische Theorie des Rechts43, die soziologische Betrachtung, all das kann den Rechtswissenschaftler irritieren und Reflexionsprozesse in dem Sinne anstoßen, dass man sich fragt, ob an jenen anderen Sichtweisen nicht „auch etwas dran“ ist. Eine andere Überlegung setzt damit an, dass manche – nicht alle – wissenschaftlichen Disziplinen eine eigene Methode ausbilden44. In dieser Hinsicht ist die Konfrontation mit einer Wissenschaft, die einen anderen Ansatzpunkt wählt und sich damit ein anderes wissenschaftliches Objekt schafft, besonders provozierend und reflexionsauslösend: Führt die Beschäftigung mit diesen Disziplinen doch zur Wahrnehmung der Defizite der eigenen Sichtweise und nötigt zur Rechtfertigung der selbst gewählten Beschränkung. Gerade in grundlagentheoretischer und methodischer Hinsicht ist die interdisziplinäre Arbeit reflexionsfördernd. Im Dialog mit Nachbar42 Über diese Bewegung informieren G. Frankenberg, Partisan der Rechtskritik: Critical Legal Studies etc., in: S. Buckel et al., Neue Theorien des Rechts, 2006, S. 97 ff.; A. Somek, From Kennedy to Balkin. Introducing Critical Legal Studies from a Continental Perspective, Kansas Law Review 42 (1994), S. 759 – 783; ders., Deutsche Zeitschrift für Philosophie 41 (1993), S. 343 – 357; D. Kariys (Ed.), The Politics of Law: A Progressive Critique, New York 1982; J. Boyle (Ed.), Critical Legal Studies, New York 1992. 43 Siehe z. B. Engel / Morlok, Öffentliches Recht (FN 27). 44 Dies gilt nicht für alle wissenschaftlichen Fächer, manche sind auf einen Gegenstand konzentriert und definieren sich durch dieses Arbeitsfeld, so etwa die Politikwissenschaft, die Jüdischen Studien oder moderne Disziplinen wie die Medienwissenschaften: Sie alle arbeiten mit einem Konglomerat unterschiedlicher Methoden und sind nur durch ihren Gegenstand zusammengehalten, siehe dazu bspw. F. Nullmeier, Methodenfragen einer kulturwissenschaftlichen Politologie, in: F. Jaeger / B. Liebsch (Hrsg.), Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. II, 2004, S. 486 ff.

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disziplinen müssen die eigenen Grundannahmen sozusagen eingeklammert und in ihrer Geltung suspendiert werden – bis sich hinreichende Gründe dafür finden lassen, diese Grundannahmen beizubehalten, gegebenenfalls zu ergänzen. Für die Wissenschaft vom Verfassungsrecht scheint nun ein gewisser Rückgang der Beschäftigung mit den Nachbardisziplinen feststellbar zu sein. Dabei ist eine paradoxe Erscheinung festzuhalten. Während vor rund 30 Jahren die Diskussion um „Rechtswissenschaften und Nachbarwissenschaften“45 durchaus lebhaft war, haben wir mittlerweile ein Abflauen dieser Diskussion, zugleich aber findet sich in den Arbeiten unseres Fachs eine Berücksichtigung von Erkenntnissen der Nachbardisziplinen in einer Breite und Vielfalt, die den Ruf nach einer stärkeren Berücksichtigung der anderen Sozialwissenschaften in der Rechtswissenschaft als recht erfolgreich beurteilen muss. Trotz dieser sozusagen „hilfswissenschaftlichen“ Heranziehung der Nachbardisziplinen fehlt es an einer Reflexion auf die Verschiedenheiten der Zugriffsweise der einen oder anderen Disziplinen: Was ist das methodische Proprium des eigenen wie des anderen Faches? Welche Gemeinsamkeiten bestehen und welche Unterschiede? Eigens erwähnt werden soll ein eigener Aspekt. Der Jurist ist daran gewöhnt, das geltende Recht als verbindliche Grundlage der eigenen Anstrengungen zu betrachten. Dies gilt zwar nicht unbedingt für die Rechtsgeschichte und die Rechtssoziologie, die Dominanz der dogmatischen Rechtswissenschaft hat diese Einstellung zum geltenden Recht als verpflichtend aber beinahe habituell werden lassen. Daran ist als solches nichts auszusetzen, solange diese Einstellung als solche bewusst ist und widerrufen werden kann. Wir Juristen nehmen – nicht ohne Grund – die Innenperspektive des Rechts ein, wir teilen dessen Verbindlichkeitsanspruch. Nichtnormative Nachbardisziplinen, etwa die Rechtssoziologie, beobachten demgegenüber von einem externen Standpunkt aus und sind danach nicht den normativen Verpflichtungen des Rechts unterworfen. Diese Doppelung der Beobachtungsperspektiven in innere und äußere, in teilnehmende und rein beobachtende, enthält durch die Konfrontation der einen Sichtweise mit der anderen ebenfalls ein beachtliches Reflexionspotenzial. Systematischerweise können die Nachbardisziplinen dazu verhelfen, über die Hereinnahme einer „externen Außenbeobachtung“ – dies ist kein Pleonasmus – das eigene Fach gründlicher zu verstehen. Alle unsere Wahrnehmungen und unsere Beurteilungen stützen sich auf Konzepte, auf Theorien, auf Modelle der betrachteten Welt46. Konzepte oder 45 Siehe z. B. D. Grimm (Hrsg.), Rechtswissenschaften und Nachbarwissenschaften, Band 1 1973, Band 2 1976; ders., Rechtsgeschichte als Voraussetzung von Rechtsdogmatik und Rechtspolitik, ARSP 1980, Beiheft 13. 46 Wichtig dazu H. Stachowiak, Allgemeine Modelltheorie, 1973.

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Modelle firmieren keineswegs immer unter dieser Bezeichnung, oft sind es auch nur eingespielte Muster der Wahrnehmung oder Beurteilungen. Kraft ihrer unvermeidlichen Selektivität haben sie aber wesentliche Bedeutung für das Ergebnis der Betrachtung. Eine wichtige Form der Reflexion besteht nun darin, dass man die wahrnehmungsleitenden Modelle austauscht, sich einer anderen „Brille“ bei der Betrachtung der Welt bedient. Ein Weg, die Selbstreflexion der Wissenschaft vom öffentlichen Recht anzustoßen, liegt dieser Erkenntnis gemäß darin, Theorien aus den Nachbardisziplinen anzusehen, die dem selben Gegenstand gelten, den auch das öffentliche Recht bearbeitet, wenn wir also neben unseren eigenen Theorien zu den verschiedenen Facetten der ökonomischen Theorie des Rechts greifen oder die Anstrengung der juristischen Hermeneutik ergänzen um diejenigen in der Literaturwissenschaft. Schlicht durch die Verwendung einer anderen Theoriesprache als der gewohnten eigenen wirkt so die Beschäftigung mit der anderen reflexionsfördernd. Dabei kann das Ziel selbstverständlich nicht sein, mit fliegenden Fahnen zu jenen Theorien überzulaufen. Andere Fächer verhalten sich zu anderen Problemen als die Verfassungsrechtswissenschaft. Die Herausforderung durch divergente Theorien sollte aber angenommen werden, durchaus im Zutrauen, dass im Regelfall der eigene Bestand sich als brauchbar und haltbar erweist, aber doch immer wieder auf Verbesserungsfähigkeit befragt werden sollte. b) Rechtsvergleichung. Abweichendes stößt Reflexionsprozesse an. Auch deswegen ist die Rechtsvergleichung energisch zu betreiben. In unserem Zusammenhang geht es dabei weniger um das Kennenlernen von anderen rechtstechnischen Möglichkeiten als eben viel mehr um die Erschütterung von bisher als fraglos Erachtetem. Diese Anstoßfunktion dürfte auch zu den Gründen gehören, weshalb Peter Häberle die Rechtsvergleichung als fünfte Auslegungsmethode empfiehlt47. Der größte Reflexionswert der Rechtsvergleichung liegt darin, unerkannte Selbstverständlichkeiten in der Basis der eigenen Norm und der eigenen Argumentationsführung durch die Konfrontation mit anderen Gestaltungen oder Begründungen in Zweifel zu ziehen. Die überraschende Feststellung, dass bestimmte Positionen, die bei uns für selbstverständlich erachtet werden, woanders fast ebenso selbstverständlich nicht vertreten werden, kann ein Übermaß an Selbstgewissheit erschüttern. Dies gilt nicht zuletzt auch für diejenigen Problemkreise, in denen das Verfassungsrecht mit moralischen Positionen aufgeladen ist. Helmuth Schulze-Fielitz hat den Wert 47 P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, JZ 1989, S. 913 ff.; ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992; siehe weiter für die Bedeutung der Rechtsvergleichung für die Grundlagendiskussion B.-Ch. Funk, Rechtswissenschaft als Erkenntnis und kommunikatives Handeln, dargestellt anhand von Entwicklungen in der Staatsrechtslehre, Journal für Rechtspolitik 2000, S. 65 (67).

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rechtsvergleichender Arbeit auf diesem Feld vor kurzem ja eindrucksvoll demonstriert48. Eindrucksvoll demonstriert die anregende Bedeutung einer Außenbetrachtung auch Rainer Wahl in seinem Aufsatz über „Die zweite Phase des öffentlichen Rechts in Deutschland“49. Wahl spricht sogar von einer „kopernikanischen Wende“50, wenn durch die Betrachtung einer externen oder gar mehrerer externer Rechtsordnungen das nationale Recht nicht mehr allein unter der Binnenperspektive betrachtet wird, sondern eben mit den Möglichkeiten anderer Rechtsordnungen konfrontiert wird. Das Europarecht gewinnt demnach nicht nur durch seinen Geltungsvorrang an Bedeutung, vielmehr auch durch die ständige Konfrontation des nationalen Rechts mit dem Europarecht insofern, als die vergleichende Außenorientierung zur ständigen Aufgabe wird. Dies entwickle eine Darlegungs- und Begründungslast für die Fortführung der eigenen Rechtstradition – weil nämlich Alternativen permanent sichtbar sind. Diese reflexionsfördernde Leistung der Rechtsvergleichung ist weitaus mehr als ein einfacher Vergleich der Lösungsmöglichkeiten für bestimmte Probleme. Die dauernde Herausforderung durch eine Außenorientierung setzt das eigene Recht unter ständigen Reflexionsdruck51.

7. Begrenzte Rationalität

Kernaufgabe der institutionalisierten Jurisprudenz ist es, Hilfestellung für rechtliche Entscheidungen zu geben. Über viele Jahrhunderte hinweg hat sie Erfahrungen akkumuliert, welche Nöte die Entscheider erleiden, dazu zählen unzureichende Informationen, knappe Ressourcen, insbesondere Knappheit an Zeit, um die für die Entscheidungen nötigen Informationen zu sammeln und zu verarbeiten. Die Rechtswissenschaft, die in dieser Hinsicht über einen großen Erfahrungsschatz verfügt und also auch als Erfahrungswissenschaft bezeichnet werden kann, hat nun Mechanismen entwickelt, um mit diesen Schwierigkeiten umzugehen: Es gibt Beweislastregeln, gesetzliche Vermutungen und – bezüglich der Zeitknappheit – eigens ausgeformte Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes, in denen schnell 48 H. Schulze-Fielitz, Verfassungsvergleichung als Einbahnstraße? Zum Beispiel der Menschenwürde in der biomedizinischen Forschung, in: FS Häberle, 2004, S. 355 ff. Ein Beispiel für eine solche reflektierende Rechtsvergleichung und die dadurch angestoßene Debatte auch über die Metaebene der Mittel bietet jüngst das Urteil des amerikanischen Supreme Courts über die Vollstreckung der Todesstrafe gegen Jugendliche, Roper v. Simmons No. 3 – 633, Opinion of the Court, S. 22 – 24; zur Gegenansicht vgl. J. Scalia, No. 3 – 633, Dissenting Opinion, S. 16. 49 R. Wahl, Die zweite Phase des Öffentlichen Rechts in Deutschland. Die Europäisierung des Öffentlichen Rechts, Der Staat 38 (1999), S. 495 ff. 50 Ebd., S. 496. 51 Ebd., S. 517.

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und ohne vollständige Prüfung aller entscheidungserheblichen Umstände gehandelt werden muss und darf. Diese Entscheidungsregeln, die in Rechtsnormen fixiert sind, sind wie gesagt klug und erfahrungsgesättigt, aber diese Entscheidungspraxis ist weitgehend theorielos52. Das mag für das praktische rechtliche Entscheiden nicht störend sein, eine inkrementalistische Verbesserung anhand von neu auftauchenden Schwierigkeiten ist damit durchaus möglich, nicht aber eine grundsätzliche Reflexion auf das, was diesen Entscheidungsregeln als Problem zugrunde liegt und was diese Entscheidungsregeln eigentlich leisten sollen. Im Korpus der Theorie der suboptimalen Entscheidung53 liegt nun ein solches Angebot vor, um die Schwierigkeiten, die sich generell beim Herstellen von Entscheidungen stellen, grundsätzlich und unabhängig von juristischen Besonderheiten zu durchdenken und die Ergebnisse auf die juristische Anwendungssituation hin zu spezifizieren. Auch die rechtswissenschaftliche Arbeit könnte von der Theorie der suboptimalen Entscheidung profitieren. Man hat als Wissenschaftler im Laufe der Zeit das Gesetz des sinkenden Grenznutzens auch bei den Literaturheranziehungen kennengelernt, angesichts einer uferlos gewordenen Literatur kann man oft kaum sämtliche einschlägigen Schriften zur Kenntnis nehmen. Angesichts dessen gibt es unterschiedliche Suchstrategien, StoppRegeln für die Informationssuche werden praktiziert. Diese werden aber kaum thematisiert, geschweige denn systematisch reflektiert. Hier beherrschen persönliche Faustregeln und idiosynkratische Praktiken das Feld. Solche Fragen sind aber grundsätzlich kommunizierbar und in der Disziplin verhandelbar.

8. Konstruktivistische Erfassung von Verfassungsentwicklung und -wandel

Theorie erleichtert Reflexion. Theoriearmut indiziert Reflexionsdefizite. Bei genauer Betrachtung stützen sich alle unsere Wahrnehmungen und Beurteilungen auf Theorien im weiteren Sinne, auf Modelle der betrachteten Welt. Auch der Kosmos des Juristen ist uns nie unmittelbar gegeben, sondern immer nur vermittelt durch Modelle im weitesten Sinne. Häufig sind sie schlicht eingespielte Muster der Wahrnehmung und der Beurteilung. Sie 52 Dogmatisch hingegen ist das Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes im Verwaltungsprozess grundlegend erschlossen durch F. Schoch, Vorläufiger Rechtsschutz und Risikoverteilung im Verwaltungsrecht, 1988. 53 Wegweisend H. A. Simon, Administrative behavior, 3. Aufl. 1975, S. 39 f., 80 ff., 241 ff.; ders., A behavioral model of rational choice, Quarterly Journal of Economics 69 (1955), S. 99 ff.; ders., Models of Man, 1957, besonders S. 241 ff.; aus neuerer Sicht etwa W. Dörenbach, Bounded Rationality, 1982; G. Gigerenzer (Hrsg.), Bounded Rationality, 1999.

5 Die Verwaltung, Beiheft 7

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haben aber kraft ihrer unvermeidlichen Selektivität wesentliche Auswirkungen für das Ergebnis der Betrachtung54. Unter diesem Vorzeichen ist es reizvoll, sich auf einen konstruktivistischen Ansatz einzulassen. Damit können Phänomene wie Verfassungsentwicklung und Verfassungswandel sehr viel besser erklärt werden als durch die bisherige Sichtweise, die eine im weiteren Sinne positivistische ist; dies insofern, als sie von gegebenen Beständen in der (sozialen) Welt ausgeht. Ein konstruktivistischer Zugang versteht demgegenüber die soziale Welt als durch soziales Handeln, genauer durch kommunikative Beziehungen hervorgebracht, bestätigt oder verändert55. Sieht man die Dinge so, dann stellt sich die Verfassung weniger als „Entscheidung“ dar, als Sammlung von Normen mit fixiertem Bedeutungsgehalt, denn als ein „Angebot“ an Formeln, die von der jeweiligen politischen Gemeinschaft unter wesentlicher Beteiligung der Verfassungsjuristen herangezogen werden, um sich über ihre Grundwerte zu verständigen, um aktuelle Probleme zu entscheiden. Dies umfasst auch die Anpassung an neue Gegebenheiten, die Aufnahme von Veränderungen im Wertempfinden der Bevölkerung, kurz, die zeitgemäße, also die situations- und bedürfnisgemäße Auslegung der Verfassung. Zwar darf die Verfassung dabei nicht zum bloßen Spielball aktueller Wünsche werden, sonst verfehlte sie ihre Funktion, relative (!) Stabilität zu gewähren und Grenzen zu setzen. Aber es ist eben einzuräumen, dass der feststehende Gehalt einer Verfassung deutlich begrenzt ist. Die Auslegungsleistungen sind damit nicht nur Erkenntnisakte, sondern sie haben auch konstitutiven Charakter. Rechtswissenschaftler erkennen nicht nur, sie handeln auch in ihrer Interpretationspraxis56. Es scheint mir eine spannende Aufgabe, den Interpretationsänderungen bis hin zum stillschweigenden Verfassungswandel in der Geschichte der Bundesrepublik unter diesem Vorzeichen nachzugehen57. Man denke etwa

54 Dazu bspw. aus einer kulturalistischen Perspektive A. Reckwitz, Die Politik der Moderne aus kulturtheoretischer Perspektive – Vorpolitische Sinnhorizonte des Politischen, symbolische Antagonismen und das Regime der Gouvernementalität, in: B. Schwelling (Hrsg.), Politikwissenschaft als Kulturwissenschaft, 2004, S. 33 ff. zu einer verbreiteten Deutung des Politischen allein nach Maßgabe des politischen Liberalismus (Staat: Gesellschaft). 55 Schon klassisch für einen soziologischen Konstruktivismus P. Berger / Th. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, 5. Aufl. 1997; siehe weiter V. Burr, Social Constructionism, 2. Aufl. 2003; K. Gergen, Konstruierte Wirklichkeiten, 2002; zur rechtstheoretischen Anwendung K. I. Lee, Rechtskritik und Konstruktivismus, in: J. Bung / B. Valerius / S. Ziemann (Hrsg.), Normativität und Rechtskritik. Tagungen des Jungen Forums Rechtsphilosophie (JFR) in der internationalen Vereinigung für Rechts- und Sozialphilosophie (IVR) im September 2006 in Würzburg und im März 2007 in Frankfurt am Main, Stuttgart: Steiner, 2007 (Reihe: Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie, Beihefte), in Vorbereitung. 56 Vgl. B.-Ch. Funk, Rechtswissenschaft (FN 47), S. 71.

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an die Ausweitung der Grundrechtswirksamkeit über verschiedene dogmatische Konstruktionen, etwa die Erweiterung des Eingriffsbegriffs oder die Schutzpflichtdogmatik. Ein deutliches Beispiel ist auch die rasche Änderung der herrschenden Meinung zu der Frage, ob das Grundgesetz Auslandseinsätze der Bundeswehr außerhalb des Verteidigungsfalles zulässt. Hier gab es in kurzer Zeit bei gleichbleibendem Textbestand eine völlige Umkehrung der vorherrschenden Auffassung. Man könnte sich also eine Verfassungsgeschichte des Grundgesetzes vorstellen, welche dessen Ausdeutung und Praktizierung als Niederschlag von gesellschaftlichen und politischen Veränderungen und damit einhergehenden Verständigungsprozessen sieht. Dabei wäre dann auf die jeweils relative Rolle der professionellen Juristen einerseits und der gesamten Bürgerschaft als der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten (P. Häberle) einzugehen. Als Muster hierfür können die Bände von Bruce Ackerman über die amerikanische Verfassung dienen58.

9. Wissenschaftssoziologische (Selbst-)Aufklärung

Für die Reflexion einer Wissenschaft ist es stets hilfreich, den eigenen Betrieb auch wissenschaftssoziologisch zu sehen – und diesen Befund in die eigene Selbstverständnisdiskussion einzubringen. Diesem Desiderat steht eine recht kleine Zahl von Untersuchungen gegenüber, die sich wissenschaftssoziologisch unserer Disziplin zuwenden, aus dem Kreis der Fachkollegen gibt ganz wenige, die solche Studien unternommen haben. Ich darf hier erwähnen einen frühen Bericht über die Staatsrechtslehrertagung von Wolfgang Hoffmann-Riem im Archiv des öffentlichen Rechts59. Nicht zuletzt hat Helmuth Schulze-Fielitz verschiedene Anstrengungen in dieser Richtung unternommen, ich erwähne seinen bemerkenswerten Aufsatz über die Assistententagung60 oder seine Rezension des Handbuchs des Staatsrechts61, die durchaus auch zu lesen ist als Bruchstück einer Wissenschaftssoziologie der Staatsrechtslehre in Deutschland62. 57 Es geht also um die Nachzeichnung der „Verfassungsentwicklung“, dazu B.-O. Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982. 58 B. Ackerman, We the people: Vol. I: Foundations, 1991 und Vol. II: Transformations, 1998; ders., The Failure of the Founding Fathers, 2005. 59 W. Hoffmann-Riem, Bericht über die Jahrestagung 1975 der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, AöR 101 (1976), S. 89 ff. 60 H. Schulze-Fielitz, 25 Jahre Assistententagung, JöR 34 (1985), S. 35 ff. 61 H. Schulze-Fielitz, Grundsatzkontroversen in der deutschen Staatsrechtslehre nach 50 Jahren Grundgesetz, Die Verwaltung 32 (1999), S. 241 ff. 62 Soziologischerseits ist etwa zu verweisen auf die Studie von E. Klausa, Deutsche und amerikanische Rechtslehrer, 1981.

5*

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Martin Morlok 10. Historisierung als Reflexion

Eine weitere systematische Möglichkeit der Reflexion besteht in der Historisierung. Die Errungenschaften der Disziplin werden dabei in den Zusammenhang mit den sich wandelnden gesellschaftlichen und geistigen Umständen der jeweiligen Zeit gestellt und die innerfachliche Entwicklung in Beziehung zu diesem Kontext gebracht. Von daher können etwa Veränderungen im Verständnis der Staatsaufgaben erklärt werden, kann die Bedeutung einer veränderten Anspruchshaltung der Bevölkerung in innerdogmatischen Niederschlägen verfolgt werden. Dabei gibt es auch „Weichenstellungen“ und sich daran anschließende Pfadabhängigkeiten der weiteren Entwicklung63. Insbesondere wird die fachliche Entwicklung nicht nur als Ergebnis einer geistigen Diskussion verstehbar, sondern als abhängig von „handfesten“ gesellschaftlichen Lagen und Problemstellungen. Hier berühren sich dann so Historisierung und wissenschafts- und wissenssoziologische Reflexion. An solchen Arbeiten zur Geschichte unseres Fachs besteht durchaus ein Mangel64, eine Ausnahme sind hier natürlich die Arbeiten Michael Stolleis’65. Die Geschichte des öffentlichen Rechts in der Bundesrepublik wird in toto jedoch eher selten behandelt.

III. Beispiele für Reflexionsleistungen in der Staatsrechtslehre 1. Historisierung

Das fällt mir umso leichter, als ich als erstes Beispiel einer überzeugenden Reflexionsleistung die Historisierung des öffentlichen Rechts in den letzten 50 Jahren durch Rainer Wahl nennen kann.66 Diese noch neue Arbeit löst all das ein, was man als historisierende Reflexion der Entwicklung des eigenen Faches sich wünschen kann. Die Fachentwicklung wird dabei nicht nur im Zusammenhang mit gesellschaftlichen Entwicklungen nachgezeichnet, sondern auch in einem Zusammenhang mit der Größe der Profession und dem Umfang der Literatur und anderen Größen. Dies wird bis in die Gegenwart fortgeführt und erstreckt sich auch auf neue Tendenzen in der Verwaltungsrechtswissenschaft.

63 Vgl. dazu R. Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006, S. 14. 64 Siehe aber F. Günther, Denken vom Staat her, 2004; siehe weiter B. von Bülow, Die Staatsrechtslehre der Nachkriegszeit (1945 – 1952), 1996; weitere Nw. auf Forschungszusätze bei Günther, ebd., S. 19 ff. 65 M. Stolleis, Die Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 1 1988, Bd. 2 1992, Bd. 3 1999. 66 Wahl, Herausforderungen (FN 63).

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2. Alexys Theorie der Grundrechte

Bei meinen Überlegungen verwende ich einen weiten und relativ unspezifischen Begriff von „Reflexion“. Er soll bereits dann Anwendung finden, wenn der dogmatische Status Quo eines Teilgebiets von einer einheitlichen Theorie aus rekonstruiert und gedeutet wird. In der Loslösung von der üblichen Dogmatik und der Arbeit mit einer ihr gegenüber bislang äußerlichen Theorie dient ein Moment der Außenbetrachtung und der Verfremdung, die zu neuen Einsichten anregt. Insofern scheint mir Robert Alexys „Theorie der Grundrechte“67 ein Beispiel gelungener Reflexionsleistung zu sein, indem er konsequent und unter Heranführung des rechtstheoretischen Instruments des Begriffspaares von „Regeln und Prinzipien“ die Grundrechtsdogmatik aufarbeitet und in einen kohärenten Theoriezusammenhang stellt – ohne damit notwendigerweise umstürzende Neuerungen zu bewirken. Allein die Tatsache, dass ein einigermaßen heterogenes Konglomerat in einer einheitlichen Theoriesprache plausibel gemacht werden kann, scheint mir den weiten Begriff der Reflexion zu erfüllen.

3. Bereichsabgrenzungen im Verwaltungsrecht

Mein letztes Buchbeispiel gelungener Reflexionsleistungen gilt dem Nachdenken über Bereichsabgrenzungen im Verwaltungsrecht. Die herkömmliche Unterteilung in den Allgemeinen Teil und den Besonderen Teil des Verwaltungsrechts, aber auch die Trennung von öffentlichem Recht und Privatrecht wurde in den letzten Jahren gründlich neu durchdacht. Jenseits der Phänomene eines einzelnen Rechtsgebietes wurde von Eberhard Schmidt-Aßmann die Bedeutung bereichsspezifischer Besonderheiten herausgearbeitet, durch welche sich verschiedene Bereiche des besonderen Verwaltungsrechts voneinander abheben. Rechtsgebiete, die für eine bestimmte Problemlage ebenso wie für die darauf gefundenen rechtlichen Antworten typisch sind, wurden mit dem Begriff des „Referenzgebietes“ belegt68. Im Zusammenhang mit dem Verhältnis verschiedener Bereiche des besonderen Verwaltungsrechts zueinander wurde dann auch das Verhältnis zum Allgemeinen Verwaltungsrecht thematisiert und auch das Verhältnis von öffentlichem Recht und privatem Recht nach längerer Zeit erneut in den Blick genommen.

67 Alexy, Theorie (FN 18); dazu jetzt J.-R. Sieckmann (Hrsg.), Die Prinzipientheorie der Grundrechte, 2007. 68 E. Schmidt-Aßmann, Zur Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts – Reformbedarf und Reformansätze, in: Hoffmann-Riem / ders. / Schuppert (Hrsg.), Reform des allgemeinen Verwaltungsrechts: Grundfragen, 1993, S. 14; ders., Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, S. 8.

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IV. Gründe für Reflexionsdefizite in der Staatsrechtslehre Akzeptiert man den Befund der Reflexionsdefizite, rückt das die Frage in den Mittelpunkt des Interesses, wie es zu diesem Befund kommt: Welche Ursachen können für eine solche verhältnismäßige Reflexionsdistanz in der Staatsrechtslehre namhaft gemacht werden? Verglichen damit sind andere Disziplinen, zu nennen ist hier beispielhaft die Soziologie, voll, vielleicht übervoll von Reflexionsdebatten. Die Jurisprudenz ist entscheidungsstark, aber reflexionsarm, die Soziologie ist reflexionsstark, aber entscheidungsschwach.

1. Jurisprudenz als (Handlungs- und) Entscheidungswissenschaft

Der wichtigste Grund für die verglichen mit anderen wissenschaftlichen Disziplinen geringe Neigung der Jurisprudenz zur Reflexion liegt darin, dass sie eine Disziplin ist, die Entscheidungen befördern will, nicht aber in erster Linie auf Erkenntnis ausgerichtet ist69. Es geht in der Rechtswissenschaft gemeinhin weniger darum, neue Erkenntnisse zu gewinnen, als Entscheidungen vorzubereiten, Entscheidungshilfen zu geben, Maximen zu entwickeln, wie komplexe Rechtsprobleme vereinfacht und damit bearbeitbar gemacht werden. Hier werden die Erkenntnisse der Theorie der suboptimalen Entscheidung jedenfalls praktiziert. Zu dieser Ausrichtung trägt auch die duale Struktur des Rechtes bei: Es gibt immer nur Recht / Unrecht, tertium non datur. Eine solche duale Kodierung ist hilfreich, um zu Entscheidungen zu kommen, stößt man auf Grauzonen, muss man sich entweder für weiß oder schwarz entscheiden. Dies garantiert Handlungsfähigkeit, aber bedeutet zugleich, Abschattungen zu übergehen, Nuancierungen zu ignorieren, dafür aber grobe Strukturen aufzubauen. In verschiedenen Zusammenhängen, auch literarisch, wurde darauf hingewiesen, dass eine gesteigerte Reflexionsfähigkeit das Handlungsvermögen beeinträchtigt, so formuliert etwa Friedrich Schiller: „Wer gar zuviel denkt, wird wenig leisten“70. Natürlich darf auch Johann Wolfgang v. Goethe nicht fehlen: „Eigentlich weiß man nur, wenn man wenig weiß; mit dem Wissen wächst der Zweifel“71, oder „es sind nur wenige, die den Sinn haben und zugleich zur Tat fähig sind. Der Sinn erweitert, aber lähmt; die Tat belebt, aber beschränkt“72. 69 Siehe W. Krawietz, Juristische Entscheidung und wissenschaftliche Erkenntnis, 1978. 70 F. Schiller, Wilhelm Tell, 3. Aufzug, 1. Szene. 71 J. W. von Goethe, Maximen und Reflexionen, Allgemein Ethisches, Kapitel VIII., Spruch 418.

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Diese Neigung innerhalb der Rechtswissenschaft, sich wenig um Reflexionsaufgaben zu kümmern, hat zwar einen guten und rechtfertigenden Grund in der Aufgabe, die praktische Entscheidungstätigkeit anzuleiten, allein dieser Grund erklärt noch nicht hinreichend die starke Dominanz der Anwendungsorientierung in unserem Fach. Mitursächlich für die Reflexionsabstinenz ist eine Orientierung der akademischen Jurisprudenz an der juristischen, zumal der gerichtlichen Praxis. Diese Anwendungsorientierung ist, jedenfalls in der Stärke der Ausprägung, nicht alternativlos, sondern eine sozial-kulturell aufgebaute Eigenart der deutschen Jurisprudenz73. Das Selbstverständnis der Rechtsprofessoren spielt hier auf individueller Ebene ebenso eine Rolle, wie die Mechanismen des Reputationserwerbs in der wissenschaftlichen Gemeinschaft. Von einem Gericht zitiert zu werden, adelt den Rechtsprofessor, einen Kommentar geschrieben zu haben, gehört zu den anerkannten Leistungen im Fach. Solche Mechanismen, die ich hier nur ganz unvollständig skizzieren kann, fördern also diese Orientierung an der Praxis. Diese Praxisorientierung wird durch institutionelle Besonderheiten gestärkt, so durch die Heranholung von Praktikern in den universitären Lehrbetrieb, die relativ häufige Vergabe von Honorarprofessuren an Praktiker, aber auch umgekehrt die Berufung von Professoren zu Richtern im Nebenamt. Die Anwendungsorientierung der Rechtswissenschaft hat also einen deutlichen institutionellen Unterbau. Die Praxisorientierung führt zu etwas Weiterem: Praktische Entscheidungen müssen begründet werden, und zwar auch für ein Laienpublikum. Dieses ist sicher kein tauglicher Adressat für theoretische Reflexionen. Auch die Rechtsanwälte und die Obergerichte, an welche man bei lebenspraktischer Betrachtung die Entscheidungsbegründungen adressiert, stellen eben keine Wissenschaftler dar, sondern praktische Juristen. An eben diese wendet sich aber auch ein guter Teil oder eben die praxisorientierte Jurisprudenz. Diese Bezugsgruppe der praktischen Jurisprudenz besteht also nicht aus Wissenschaftlern, demgemäß werden auch andere Themen und andere Zugangsweisen in der Rechtswissenschaft gewählt als es im rein wissenschaftlichen Diskurs möglich wäre und auch in anderen Bereichen üblich ist74. 72

J. W. von Goethe, Wilhelm Meisters Lehrjahre, 8. Buch, 5. Kapitel. Diese Aussage darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass in anderen Ländern die Praxisorientierung noch stärker ist, siehe etwa Klausa, Rechtslehrer (FN 62), wonach die Praxisorientierung in den Vereinigten Staaten unter den akademischen Juristen stärker ist als in Deutschland. 74 Die Orientierung der Rechtswissenschaft an den Bedürfnissen der institutionalisierten Praxis wird hier lediglich konstatiert, nicht kritisiert. Diese Ausrichtung hat durchaus ihre Rechtfertigung: Genau um diese Aufgabe zu erfüllen, werden Juristen ausgebildet und angestellt, werden juristische Fakultäten unterhalten. Auch dürfte die gesellschaftliche Stärke der Rechtswissenschaft mit dieser Erfüllung institutioneller Bedürfnisse zu tun haben. Damit ist aber noch nicht gesagt, dass die Wissen73

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Martin Morlok 2. Gerichtsentscheidung als wesentliche Erfahrungsbasis der Rechtswissenschaft

Zum erklärenden Komplex für die Reflexionsferne unserer Disziplin gehört auch, dass die wesentliche Erfahrungsbasis der Staatsrechtslehre aus gerichtlichen Entscheidungen besteht. Andere Erfahrungen mit dem Recht, auch mit dem Verfassungsrecht, die nicht über die Gerichte laufen oder die jedenfalls nicht von Gerichten formuliert werden, kommen kaum ins Blickfeld. Damit haben wir eine hochgradig selektive Erfahrungsgrundlage. Vieles kommt gar nicht an die Gerichte, sei es wegen der Zugangsbarrieren zu den Gerichten75, sei es, weil die Akteure bewusst die Gerichte nicht beschäftigen und sich anderweitig verständigen. Auch der Umgang der Verwaltung mit der Verfassung erscheint in aller Regel nur dann auf dem Bildschirm des Wissenschaftlers, wenn gerichtliche Streitigkeiten entstanden sind. Eine empirisch verfahrende Verwaltungswissenschaft bildet hier allerdings eine gegenläufige Kraft. Selbst aus der großen Zahl der Gerichtsentscheidungen wird nur eine relativ kleine Anzahl wissenschaftlich wahrgenommen und bearbeitet. Dies ist eine, jedenfalls unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten, unsystematische Auswahl, regelmäßig findet das Aufmerksamkeit, was zu den oberen Gerichten gelangt. Die Selektionskriterien innerhalb der Gerichtsbarkeit, die darüber befinden, was an die Obergerichte gelangen kann, sind aber nach praktischen Gesichtspunkten ausgewählt, nicht nach wissenschaftlichen – diese sind nicht zwingend inkongruent, Übereinstimmung ist aber bloß – zumeist jedenfalls – ein Zufallsprodukt, kurz: Es fehlt an einer systematischen Folgenbeobachtung des Verfassungsrechts, die auch die nichtgerichtlichen Auswirkungen mit in den Blick nimmt, wenn man so will, welche die außergerichtliche Praxis der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten beobachtet. Diese Lückenhaftigkeit der Wahrnehmung der Verfassungspraxis enthält der Wissenschaft wichtige Rückmeldungen aus dem Verfassungsleben vor und damit zugleich auch Stimuli zum grundsätzlichen Neubedenken der eigenen Tätigkeit. Wir bewegen uns im eingespielten Feld zwischen Verfassungsrechtswissenschaft und Verfassungsgericht, anderes wird nur marginal wahrgenommen.

schaft sich uneingeschränkt oder doch in ganz überwiegendem Maße dieser Aufgabe widmen muss. 75 Aus der Literatur dazu B. Abel-Smith / M. Zander / R. Brooke, Legal Problems and the Citizen, 1973; G. Baumgärtel, Gleicher Zugang zum Recht für alle, 1976; M. Cappelle (Ed.), Access to Justice, 4 Bde., 1978 / 79.

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3. Funktionale Latenz: Nützlichkeit der Verborgenheit der eigenen Leistungen

Ein letzter Grund für ein wenig ausgebildetes Reflexionswesen in der Staatsrechtslehre wie in der Jurisprudenz überhaupt mag darin liegen, dass die Latenz bestimmter Leistungen eine Voraussetzung für das Gelingen dieser Leistungen ist. Man kann insofern von einer funktionalen Latenz76 sprechen. Damit ist gemeint, dass manche Leistungen nur gelingen, jedenfalls besser gelingen, wenn bei allen oder bei einigen der Beteiligten das Bewusstsein darüber fehlt, was tatsächlich geschieht und was die Leistungserbringer selbst bewirken. In unserem Fall mag es die erheblich produktive Leistung der Juristen an den rechtsgeleiteten Entscheidungen sein, die durch Unkenntnis der Eigenleistung der Entscheider geschützt wird. Gerichtliche Entscheidungen sprechen tatsächlich oft nicht nur aus, was im Gesetz oder in der Verfassung steht, sondern stellen ein Eigenprodukt dar, das nicht unbeeinflusst ist von der Norm, welches aber erheblich größere gestalterische Freiheitsgrade genießt, als die Entscheidungsempfänger und vor allem die Entscheider selbst sich eingestehen. Die effektive Bindung an das Gesetz oder der tatsächlich erfolgende Transfer der Entscheidungsgehalte von der Norm auf die Entscheidung im Einzelfall ist dieser Überlegung zufolge eine nicht auszuleuchtende Fiktion des demokratischen Rechtsstaats. Diese Fiktion wird durch Nicht-Thematisierung geschützt: Allzu strenges und gründliches Nachdenken – etwa über die Bedeutung des Wortlauts oder die historische oder auch die teleologische Auslegung – mag zu Einsichten führen, welche diese Fiktion gefährden oder gar zersetzen – deswegen „besser nicht daran rühren“. Die Wirksamkeit der gesellschaftlichen Einrichtung normativer Steuerung durch Rechtssätze beruht auf der Latenz des Wissens um die Eigenleistung der Entscheider und der die Entscheidung vorbereitenden Dogmatik. Die dogmatisch die Entscheidungen der Praxis vorbereitende Rechtswissenschaft enthält dieses Bewusstsein sowohl den Entscheidern vor als auch sich selbst und stilisiert für sich und das Publikum eine mehr oder weniger funktionierende Bindung an das Gesetz. Von daher dürfte sich auch das Festhalten vieler Juristen an der oben (II. 1.) angedeuteten naiven Sprachtheorie erklären. Meine These lautet also: Das Reflexionsdefizit – hier in Gestalt einer Nicht-Rezeption einschlägiger Erkenntnisse – auf dem Gebiet des Methodischen ist einer notwendigen Fiktion des Rechtsbetriebs geschuldet; anders besteht die Gefahr, dass sowohl die Juristen ihren Part nicht mehr überzeugend spielen können und die Empfänger einer Entscheidung die 76 Zum konzeptionellen Hintergrund von „manifesten und latenten Funktionen“ R. K. Merton, Manifest and Latent Functions, in: ders. (Ed.), Social Theory and Social Structure, 4. Aufl. 1968, S. 73 (114 ff.).

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Entscheidung als solche und die entscheidenden Personen nicht mehr als im gleichen Maße legitimiert ansehen.

V. Sicherung der Reflexionsfähigkeit der Staatsrechtslehre 1. Staatrechtslehre als Wissenschaft Reflexion ist nicht überall und nicht immer möglich und sinnvoll. Das soeben Ausgeführte bleibt gültig. Die praktische Jurisprudenz hat ihre Berechtigung, sie darf allerdings in ihren Beschränkungen nicht für die Rechtswissenschaft insgesamt stehen und insbesondere darf sie der theoretischen Rechtswissenschaft nicht den Platz am Fakultätstisch verweigern. Was ist also zu tun, um die Reflexionsfähigkeit der Staatsrechtslehre zu sichern? Entscheidend geht es darum, die Staatsrechtslehre als theoretische Wissenschaft zu stärken und zu praktizieren. Ohne unmittelbare Anwendungsmöglichkeiten ist Erkenntnis für sich ein legitimes Ziel rechtswissenschaftlicher Arbeit. Die Reduktion auf die anwendungsorientierte Rechtswissenschaft gibt ohne Not Erkenntnischancen preis, die gerade auch dieser selbst zugute kommen können. Schließlich: Eine Jurisprudenz, die sich nur der Aufbereitung des geltenden Rechts widmet, ist als Wissenschaft wertlos und läuft Gefahr, dass ihre Produktionen durch einen Federstrich des Gesetzgebers zur Makulatur werden77. Dies gilt eben nicht für die theoretische Rechtswissenschaft. So betrachtet stellt es auch eine Verschwendung von Investitionen und Geisteskraft dar, sich nur um die augenblickliche Form des Rechts zu kümmern. Diese Sicherung der Wissenschaftlichkeit des Rechts bedarf aber der institutionellen Unterstützung, auch der wissenschaftspolitischen. Die Fachgesellschaften, nicht zuletzt auch die Fachgesellschaft der deutschen Staatsrechtslehrer hat hier eine Aufgabe. Die Vergabe von Themen für die Staatsrechtslehrertagung ist hier etwa anzusprechen. Auch die Wissenschaftlichkeit des Jurastudiums ist in den Blick zu nehmen. Die Einführung von Schwerpunktfächern hat zwar einen Schritt in die richtige Richtung unternommen, nach meiner Einschätzung ist der Erfolg dieser Maßnahme aber in Frage gestellt durch den enormen Zeitdruck, unter dem unsere Studenten stehen, wenn sie, wie fast alle, den Freischuss in Anspruch nehmen wollen. Wichtig für die Stärkung der Reflexionsfähigkeit des Fachs ist auch die Ausrichtung von Lehrstühlen. Leider sind an juristischen Fakultäten die Lehrstühle, die sich zuvörderst der Rechtsphilosophie oder der Rechts77 J. H. von Kirchmann, Die Wertlosigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft, 1848, zitiert nach der Neuausgabe Heidelberg 1988: „. . . drei berichtigende Worte des Gesetzgebers und ganze Bibliotheken werden zur Makulatur.“ (S. 28 f.)

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soziologie widmen sollen, verschwunden, die Dominanz der dogmatischen Fächer zeigt sich auch hier. Entscheidend wird sein, dass Anstrengungen auf dem Gebiet von Reflexionsfächern auch karriererelevant sind, nicht lediglich eine „unschädliche“ Zugabe an vierter Stelle der venia sind. Nicht zuletzt sind natürlich auch Tagungen ein Instrument, um ein wissenschaftliches Anliegen zu fördern.

2. Interne Arbeitsteilung Die Etablierung von Reflexion als fester Bestandteil der Staatsrechtslehre setzt voraus die bewusste Anerkennung einer internen Arbeitsteilung im Fach78. Dies meint nicht nur zwischen Verwaltungsrecht und Verfassungsrecht, sondern eben auch zwischen anwendungsorientierter und dogmatischer und eher theoretischer Rechtswissenschaft. Man kann diese verschiedenen Aufgaben hierarchisch ordnen in Dogmatik und eine darüber liegende Metatheorie in Gestalt der Verfassungstheorie79. Diese hat die Dogmatik daraufhin zu überprüfen, ob sie angemessen ist, ob ihre Konzepte wirklichkeitserschließend sind, ob sie empiriegesättigt sind und wissenschaftstheoretischen Anforderungen genügen. Ihrerseits ist die Verfassungslehre durch Nachbarwissenschaften zu begleiten. Diese Art der fachinternen Arbeitsteilung sollte selbst zu einem Gegenstand des Nachdenkens werden. Dabei sind Besonderheiten von Reflexionstheorien80 im Blick zu behalten. Sie sind nicht auf einen anderen selbstbestimmten Gegenstand gerichtet sondern betreiben Selbstbeobachtung. Die Möglichkeit der Reflexion setzt eine Trennung vom reflektierten Betrieb voraus. Es wird sozusagen der Blickwinkel eines Außenbeobachters eingenommen, man könnte auch von einer „internen Externalisierung“ sprechen. Dies gelingt in dem Maße, in dem sich die rechtswissenschaftliche (Teil-)Disziplin freimacht von den Anforderungen des Funktionssystems, dem die Rechtswissenschaft insgesamt dienen soll, also der Rechtspraxis. Vielmehr sollte sie sich dezidiert orientieren am Wissenschaftssystem und dessen Kriterien. Trotz dieser von

78 Zur Reflexion der Ausdifferenzierung von Reflexionstheorien innerhalb eines Systems am Beispiel des Rechtssystems N. Luhmann, Selbstreflexion des Rechtssystems: Rechtstheorie in gesellschaftstheoretischer Perspektive (1979), in: ders., Ausdifferenzierung des Rechts, 1981, S. 419 (423 f., 448 ff.). 79 Morlok, Verfassungstheorie (FN 39), S. 51 ff. 80 Zur Entwicklung eines Konzepts von Reflexionstheorien Luhmann, Selbstreflexion (FN 78), S. 419 ff.; ders., Die Wissenschaft der Gesellschaft, 1990, S. 469 ff., 669 f.; zu den Eigenarten von Reflexionstheorien J. F. K. Schmidt, Die Differenz der Beobachtung, in: H. De Berg / ders. (Hrsg.), Rezeption und Reflexion, 2000, S. 8 (13 ff.); A. Kieserling, Die Soziologie der Selbstbeschreibung, in: De Berg / Schmidt (Hrsg.), ebd., S. 38 (bes. 45 ff., 50 ff.).

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Martin Morlok

Funktionsanforderungen der Rechtspraxis distanzierten Betrachtung bleibt die Reflexionstheorie ein Teil der Rechtswissenschaft, reflexive Staatsrechtslehre ist nicht identisch mit Soziologie. Dies wird deutlich am zentralen Problem der Reflexionsdisziplinen: ihrer Anschlussfähigkeit im Fach. Die Reflexionsleistungen sollen ja nicht nur interne Zirkel von Reflexionstheoretikern erfreuen, sondern letztlich wirksam werden im Fach insgesamt. Es soll nicht Rechtsphilosophie für Rechtsphilosophen oder Rechtssoziologie für Rechtssoziologen betrieben werden, vielmehr soll gerade innerhalb der dogmatischen Teildisziplinen Resonanz erzeugt werden. Eine wissenschaftliche Departementalisierung mit hohen Zäunen zwischen den Teilgebieten verfehlt gerade dieses Ziel. Nachzudenken ist also über Methoden der Resonanzsteigerung. Dies impliziert auch Forderungen an die Reflexionstheorien, die sich nicht selbst genug sein dürfen.

3. Nochmals: „Reflexionsdefizite“

Wer von einem „Defizit“ spricht, bezieht sich auf einen Sollzustand. Dieser ist – wie anfangs schon angeklungen – nicht objektiv festzustellen. Das Thema der „Reflexionsdefizite“ stellt sich damit dar als die Suche nach einer bestimmte Idealvorstellung von der Verfassungsrechtswissenschaft. Es geht also bei der Auseinandersetzung mit „Defiziten“ um den „Entwurf einer idealen Verfassungsrechtswissenschaft“ und damit um ein wissenschaftliches Arbeitsprogramm. Die Rede von einem „Reflexionsdefizit“ unterstellt, es gebe einen Maßstab für das angemessene Maß an Reflexionen; einen solchen Maßstab aber gibt es nicht und kann es nicht geben, weil die Wissenschaft auf Kommunikation und wechselseitige Kritik angelegt ist. Die Vorstellung eines solchen Maßstabes ist also eine objektivistische Verzerrung. Es kann nur darum gehen, dass die Wissenschaftsgemeinde sich intersubjektiv darüber verständigt, wie die Verfassungsrechtswissenschaft sein sollte, welche Arbeitsgebiete sie in Angriff zu nehmen habe und welches Maß an Reflexion wünschenswert sei.

4. Gründe für Reflexionsdefizite

Schließlich: Warum wurde bisher nicht nach Reflexionsdefiziten gefragt, warum wurden Reflexionsdefizite nicht bemängelt? Es scheinen dieselben Mechanismen dafür verantwortlich zu sein, die zu den Reflexionsdefiziten selbst führen, sie lassen auch das Bedürfnis nach Reflexion nicht groß werden. Daran schließt sich die umgekehrte Frage: Warum wird jetzt nach Reflexionsdefiziten der Staatsrechtslehre gefragt81? Die Antwort ist einerseits

Reflexionsdefizite in der deutschen Staatsrechtslehre

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offenbar: Sie liegt in der Person von Helmuth Schulze-Fielitz als des Organisators dieser Tagung begründet und in dessen wissenschaftlichen Interessen. Dies griffe aber natürlich – bei aller Wertschätzung der Originalität unseres Gastgebers – zu kurz. Die wissenschaftlichen Prozesse werden immer durch konkrete Personen ausgedrückt, dahinter liegen aber objektive Tendenzen, die Bedürfnisse wachsen lassen und ein Problembewusstsein schaffen. Zu denken ist an eine gesteigerte Fragwürdigkeit / eine gestiegene Fraglichkeit der Leistungen des Rechtssystems – in seiner öffentlich-rechtlichen Ausprägung – für die Gesellschaft insgesamt. Insofern mag die Tatsache unserer Tagung selbst ein Indiz für ein Bedürfnis nach mehr Reflexion in unserem Fache sein.

81 Zu den Möglichkeitsbedingungen des Entstehens von Reflexionsbedarf, anders gesagt, unter welchen Umständen ein Reflexionsbedarf im Rechtssystem entsteht, siehe Luhmann, Selbstreflexion (FN 78), S. 438 ff.

II. Der Charakter der Staatsrechtslehre als Wissenschaft

Hans Kelsens Wissenschaftsprogramm Von Horst Dreier, Würzburg

Gäbe es eine Rangliste der am heftigsten kritisierten, wenn nicht geschmähten Rechtswissenschaftler des 20. Jahrhunderts in Deutschland, so hätte Hans Kelsen beste Aussichten auf einen Spitzenplatz. Um nur wenige Kostproben zu bieten: Er wurde zu den „Zeloten eines blinden Normativismus“ gerechnet1 und seine Allgemeine Staatslehre zum „Nullpunkt“ erklärt2; die Reine Rechtslehre sei ein „blutleere(s) Gebilde“3, „ein auf die Spitze getriebener juristischer Nominalismus, der jede sittlich-geistige Substanz des Rechts und des Staates“ leugne4, „Ausgeburt eines fremdrassigen, wurzellosen Intellektualismus“5, in der „Absurdität“ endend6, eine „Rechtsleere“7, wurzelnd in einer „Haltung prinzipieller moralischpolitischer Verantwortungslosigkeit“8. Kelsens Ausführungen zur Interpretation schließlich hat man als „methodologischen Nihilismus“9 charakterisiert10.

1 C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, 1931, S. 30 (ohne explizite Namensnennung Kelsens). 2 R. Smend, Verfassung und Verfassungsrecht (1928), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen und andere Aufsätze, 2. Aufl. 1968, S. 119 ff. (124). 3 E. Ehrlich, Grundlegung der Soziologie des Rechts (1913), 4. Aufl. 1989, S. 20. 4 K. Larenz, Rechts- und Staatsphilosophie der Gegenwart, 2. Aufl. 1935, S. 49 f. 5 C. H. Ule, Herrschaft und Führung im nationalsozialistischen Reich, VerwArch 45 (1940), S. 193 ff. (201). 6 P. v. Oertzen, Die soziale Funktion des staatsrechtlichen Positivismus (Diss. phil. Göttingen 1952 / 53), 1974, S. 261. 7 H. Klenner, Rechtsleere. Verurteilung der Reinen Rechtslehre, Berlin (Ost) 1972. 8 M. Kriele, Recht und praktische Vernunft, 1979, S. 129. 9 K. Adomeit, Rechtstheorie für Studenten, 3. Aufl. 1990, S. 77. 10 Allgemeiner zur Aufnahme Kelsens und seiner Reinen Rechtslehre im Laufe der Jahrzehnte H. Dreier, Rezeption und Rolle der Reinen Rechtslehre. Festakt aus Anlass des 70. Geburtstages von Robert Walter, 2001, S. 17 ff. – Für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg spricht problembewusst und sensibel D. Jesch, Rezension zu Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, DÖV 1961, S. 435 (435) von der „etwas befremdliche(n) Mauer . . . , die man um Kelsen gerade in der deutschen Rechtswissenschaft errichtet“ habe; K. Engisch, Rezension zu Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl. 1960, ZgesStrW 75 (1963), S. 591 (591) bemerkt in feiner Differenzierung, die Reine Rechtslehre sei „oft verschwiegen und oft verlästert aber nie vergessen, nach dem Zusammenbruch des Jahres 1945 bei uns nicht mehr zu voller Aktualität gelangt, aber als mögliche rechtstheoretische Position stets beachtet und geachtet“ worden.

6 Die Verwaltung, Beiheft 7

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Nun ist ein Grund für diese vehemente Abwehr sicher der, dass Kelsen selbst – wie seine zahlreichen polemischen Schriften zeigen11 – es an Streitlust niemals hat fehlen lassen12. Und vor allem hat er, damit die anderen Deutungsversuche und Richtungen natürlich stark herabsetzend, für sich und seine Reine Rechtslehre reklamiert, die (einzig) richtige, nämlich die „wahre Rechtswissenschaft“13 zu verkörpern. Hat er trotz oder vielleicht gerade wegen dieses Anspruches so heftige Reaktionen ausgelöst?

I. Wissenschaftlichkeit als Anspruch und Ziel der Reinen Rechtslehre Es zeichnet die Reine Rechtslehre Hans Kelsens aus, dass der Anspruch auf Wissenschaftlichkeit explizit und demonstrativ erhoben wird. An denkbar herausgehobener Stelle, nämlich im Vorwort zur ersten Auflage von 1934, finden sich die in selbstbewusster Grundsätzlichkeit formulierten Worte, Ziel der Reinen Rechtslehre sei es von Anfang an gewesen, die „Jurisprudenz . . . auf die Höhe einer echten Wissenschaft, einer Geistes-Wissenschaft zu heben“ und sie so dem „Ideal aller Wissenschaft, Objektivität und Exaktheit, soweit als möglich anzunähern.“14 Das Wissenschaftsprogramm der Reinen Rechtslehre zielt auf die unverfälschte, von rechtsfremden Wertungen freie Erfassung und neutral-objektive, in diesem Sinne „reine“ Beschreibung der positiven Rechtsordnung15. Kelsens Name steht, wie man zu Recht gesagt hat, „für ein rigoroses Programm wissenschaftlicher Methodenreinheit“16. Drei Komponenten dieses Programms sind hervor11 Vgl. etwa H. Kelsen, Rechtswissenschaft und Recht. Erledigung eines Versuches zur Überwindung der „Rechtsdogmatik“, ÖZöR 3 (1922), S. 103 – 235; ders., Der Staat als Übermensch. Eine Erwiderung, 1926; ders., Rechtsgeschichte gegen Rechtsphilosophie? Eine Erwiderung, 1928; ders., Der Staat als Integration. Eine prinzipielle Auseinandersetzung, 1930; ders., Wer soll der Hüter der Verfassung sein?, Die Justiz 6 (1930 / 31), S. 576 – 628. 12 Zu diesen und anderen Gründen seiner insgesamt eher negativen Rezeption Dreier, Rezeption (FN 10), S. 20 ff., 25 ff. 13 H. Kelsen, Reine Rechtslehre. Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik (im Folgenden: Kelsen, RR), 1934 (ND 1985), S. 17; ders., Reine Rechtslehre. Mit einem Anhang: Das Problem der Gerechtigkeit, 2. vollständig neu bearbeitete und erweiterte Auflage 1960 (im Folgenden: Kelsen, RR2), S. 112. 14 Kelsen, RR (FN 13), S. IX. 15 Jüngst wieder hervorgehoben von M. Handstanger, Die Bedeutung der Reinen Rechtslehre für die Rechtspraxis, ÖJZ 2004, S. 621 ff. (622 f.). Schon eine sehr gründliche Rezension zu Kelsens Habilitationsschrift hatte betont, diese verrate „ein wahrhaft wissenschaftliches, ungewöhnlich konsequentes und juristisch originelles Denken“ (F. Caro, Schmollers Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 36 [1912], S. 1928 ff. [1928]). – Gleichsinnig hebt M. Llanque, Die politische Differenz zwischen absoluter Gerechtigkeit und relativem Rechtsstaat bei Hans Kelsen, in: H. Münkler / M. Llanque (Hrsg.), Konzeptionen der Gerechtigkeit, 1999, S. 219 ff. (222) hervor, Kelsens Habilitationsschrift habe unter der einzigen Fragestellung gestanden, wie Jurisprudenz als (normative) Wissenschaft möglich sei.

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zuheben: das Freihalten der Rechtswissenschaft von jeglicher Form der Rechtspolitik (dazu 1.), die Abgrenzung gegenüber den Kausalwissenschaften (2.) und die Ablehnung des Naturrechts (3.).

1. Ausschluss der Rechtspolitik

Kelsens permanente Rede davon, die Rechtswissenschaft sei von der Politik im Allgemeinen und speziellen politischen Wertungen im Besonderen freizuhalten, ist nicht selten so aufgefasst worden, dass hier die Reinheit des Rechts im Sinne seiner Enthobenheit von realen gesellschaftlichen, politischen und sozialen Vorgängen postuliert würde. Nichts wäre falscher als dies. Die Reine Rechtslehre will nicht Lehre des reinen (also guten, wünschbaren, richtigen) Rechts, sie will reine (unverfälschte) Lehre des Rechts sein17. Der Inhalt einer konkreten Ordnung war für Kelsen immer ganz selbstverständlich ein sozial bestimmter und bedingter, Produkt gesellschaftlicher Entwicklungen, Resultat des Kampfes der Interessengruppen, geronnene Form der Politik18. In seiner Allgemeinen Staatslehre hält er es als einen offenkundigen Gemeinplatz fest, „daß es die natürlichen, ökonomischen, kurz die Tatsachen der kausal bestimmten historischen Entwicklung sind, die den Inhalt der Rechtsordnung bestimmen“19. Es besteht also kein Bedarf dafür, ihm die soziale und politische Bedingtheit des Rechts und seiner Zwecke in Erinnerung zu rufen20. Seine Entpolitisierungsforderung bezieht sich allein auf die Wissenschaft vom Recht, nicht auf das Recht selbst21. Mit dieser Purifizierungsstrategie unvereinbar ist es, das Objekt der rechtswissenschaftlichen Betrachtung mitzugestalten: sei es durch versteckte Beimengung rechtspolitischer Aspekte oder Argumente, sei es durch 16

M. Jestaedt, Einleitung, in: Hans Kelsen im Selbstzeugnis, 2006, S. 1 ff. (1). Prägnant H. Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre? (1953), in: H. Klecatsky / R. Marcic / H. Schambeck (Hrsg.), Die Wiener Rechtstheoretische Schule. Ausgewählte Schriften von Hans Kelsen, Adolf Julius Merkl und Alfred Verdross, Bd. I, 1968, S. 611 ff. (620). Aus der Sekundärliteratur statt aller C. Heidemann, Norm als Tatsache, 1997, S. 50 f., 112 f. 18 Vgl. näher H. Dreier, Rechtslehre, Staatssoziologie und Demokratietheorie bei Hans Kelsen (1986), 2. Aufl. 1990, S. 113 ff. 19 H. Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925 (ND 1966), S. 21; vorher bereits ders., Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, 2. Aufl. 1923 (ND 1960), S. 89; ders., Was ist die Reine Rechtslehre (FN 17), S. 620. 20 Für Beispiele siehe Dreier, Rechtslehre (FN 18), S. 114 Fn. 140. Dies auch gegen die ansonsten von großer Sachkenntnis und ebensolcher Fairness gekennzeichnete Rezension von Jesch, Rezension (FN 10), S. 436, der offenkundig Kelsen meint darauf hinweisen zu müssen, dass die Rechtsordnung „auf politischen Konzeptionen, soziologischen Gegebenheiten, ethischen Wertvorstellungen usw.“ beruht. 21 Kelsen, Was ist die Reine Rechtslehre (FN 17), S. 620: „Die Entpolitisierung, die die Reine Rechtslehre fordert, bezieht sich auf die Wissenschaft vom Recht, nicht auf ihren Gegenstand, das Recht. Das Recht kann von der Politik nicht getrennt werden, denn es ist ein wesentliches Instrument der Politik.“ (Hervorhebungen im Original, H. D.). 17

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offen proklamierte Rechtsgestaltung unter Verweis auf die besondere Kompetenz des Juristen für Rechtsfragen, sei es durch Abrücken von einer Rechtsmeinung aus ersichtlich politischen Gründen22. Dies alles verfällt strikter Ablehnung. Es gilt Distanz zum Objekt der Betrachtung zu wahren. Allerdings schließt das natürlich nicht das Verbot ein, sich eine politische Meinung zu bilden und diese zu äußern. „Wissenschaft treiben zwingt ja nicht“, so Kelsen, „auf politische Werturteile zu verzichten, verpflichtet nur: das Eine vom Anderen, Erkennen und Wollen, voneinander zu trennen“23. Aber der Rechtswissenschaftler ist hier Bürger wie jeder andere auch, kann keine besondere Rolle oder herausgehobene Bedeutung für seine subjektiven Präferenzen reklamieren. Mit dieser wohl im Großen und Ganzen auch heute allgemein konsentierten Überzeugung24 steht Kelsen ersichtlich der berühmten Forderung Max Webers nach Werturteilsfreiheit der Wissenschaften und der Verbannung der Politik aus dem Hörsaal nahe25. Dessen Ablehnung der „Kathederprophetie“26 blieb freilich ebensowenig 22 Ein schönes Beispiel präsentiert R. Thoma, Der Vorbehalt des Gesetzes im preußischen Verfassungsrecht, in: FS Otto Mayer, 1916, S. 165 ff. (188). Er schildert die Auslegung des Gesetzesbegriffs durch v. Stockmar, der zunächst zu der – von Thoma für richtig gehaltenen – Auffassung eines formellen Begriffsverständnisses gelangt, sich aber aus offen rechtspolitischen Gründen anders entscheidet: „Statt dessen verlässt unsern scharfsinnigen Autor plötzlich die Besinnung, sein verfassungsfreundliches Herz erfasst ein bleicher Schrecken vor einer Verfassungsauslegung, wonach dem Landtag nicht einmal ,dieses Minimum‘ (der Teilnahme an der Zivil- und Kriminalgesetzgebung) eingeräumt wäre und er erklärt, diese Auslegung sei ,historisch-politisch‘ nicht hinnehmbar! ( . . . ) Also: weil ihm . . . politisch nicht gefällt, was er als unbefangener Forscher gefunden hat, ,greift‘ er zu einer zwar unbegründeten, aber politisch hübscheren ,Auslegung‘!“ 23 H. Kelsen, Juristischer Formalismus und reine Rechtslehre, JW 1929, S. 1723 ff. (1724). An vielfachen rechtspolitischen Beiträgen (etwa zum Wahlrecht, zu Fragen der Universitätsorganisation, der Verfassungsreform u. a. m.) hat es Kelsen nicht fehlen lassen (man denke etwa nur an seinen leidenschaftlichen Aufruf „Verteidigung der Demokratie“ aus dem Jahre 1932 [jetzt wieder neu abgedruckt in: Hans Kelsen, Verteidigung der Demokratie, hrsgg. v. M. Jestaedt / O. Lepsius, 2006, S. 226 ff.; eine umfassende, systematisch wie chronologisch geordnete Bibliographie findet sich in: R. Walter / C. Jabloner / K. Zeleny [Hrsg.], Hans Kelsens stete Aktualität, 2003, S. 79 ff., 115 ff.), die andere „Literaturgattung“ (Häberle) allerdings deutlich gemacht. 24 Schlicht statuierend und keinen Zweifel lassend Jesch, Rezension (FN 10), S. 436: „Es ist wissenschaftlich schlechthin verwerflich, politische Wünsche oder ethische Konzeptionen, kurz: alle persönlichen rechtspolitischen Zielsetzungen als den objektiven Sinn von Rechtsnormen auszugeben.“ 25 M. Weber, Wissenschaft als Beruf (1919), in: ders., Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, 5. Aufl. 1982, S. 582 ff. (603 ff.) Gerade in Bezug auf die oft missverstandene Rede Webers von der „Wertfreiheit“ der Wissenschaft (ders., Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis [1904], ebd., S. 146 ff.; ders., Der Sinn der „Wertfreiheit“ der soziologischen und ökonomischen Wissenschaften [1918], ebd., S. 489 ff.) sei daran erinnert, dass sie sich im Kern gegen subjektive Wertungen durch den einzelnen Wissenschaftler wendet, ohne den Wertbezug gerade der normativen Disziplinen zu leugnen. – R. Thoma, Die Lehrfreiheit der Hochschullehrer, 1952, S. 29 konstatierte, Webers Lehre habe sich „verdientermaßen durchgesetzt“. Vgl. aber die nächsten Fußnoten. 26 Weber, Wissenschaft als Beruf (FN 25), S. 613.

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unangefochten wie Kelsens Forderung nach Wertungsaskese27. Kein Geringerer als Rudolf Smend war es, der in deutlicher Wendung gegen Weber28 sowohl vor wie nach dem NS-Regime in aller Deutlichkeit den Anspruch der deutschen Universität formulierte, „letzte Richtlinien und Wertsetzungen auch für die Politik aufzuweisen“29 und davon sprach, die Wissenschaft sei „nicht mehr nur eine Konstatierung, sondern mindestens zugleich eine normative Verkündigung, eine richtungweisende Stellungnahme zur Wirklichkeit, nicht zuletzt auch zur politischen Wirklichkeit.“30 Für Kelsen hat 27 Zu aktuell zu beobachtenden und selbstbewusst vorgetragenen „Auflockerungen“ gegenüber einer strikten Trennung von Rechtswissenschaft und Politik vgl. symptomatisch, aber nicht unwidersprochen die programmatische Einführung von A. Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: W. Hoffmann-Riem / E. Schmidt-Aßmann / A. Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2006, § 1 Rn. 1 ff., 10 ff. – Wenn dort in Rn. 12 für die These, schon immer habe man Rechtspolitik zu den anerkannten Aufgaben der Rechtswissenschaft gezählt, auf R. Dreier, Zum Selbstverständnis der Jurisprudenz als Wissenschaft (1971), in: ders., Recht – Moral – Ideologie, 1981, S. 48 ff. (56) verwiesen wird, so ist doch gegen eine solche Pauschalaussage anzumerken, dass an der besagten Stelle zeittypisch gegen die Unterdrückung kritischer Stimmen aus der Rechtswissenschaft votiert wird; außerdem bindet R. Dreier die „rechtspolitische Dimension“ an die „Ausarbeitung einer Theorie der Rechtspolitik und des richtigen Rechts, für die die Rechtswissenschaft an anderweitige normative Entscheidungstheorien und letztlich an die Gesellschaftstheorie verwiesen ist“ (R. Dreier, Sein und Sollen [1972], in: ders., ebd., S. 217 ff. [230]), an die zu glauben Anfang der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts im damaligen geistigen Gesamtklima deutlich leichter fiel als heute, wo eine solche, sichere normative Orientierung vermittelnde Leittheorie entfernter denn je scheint. Die „neue“ Verwaltungsrechtswissenschaft träumt den alten Traum einer rationalen Politik, einer wissenschaftlichen Gesetzgebung. Zur Kritik am Konzept der neuen Verwaltungsrechtswissenschaft auch R. Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006, S. 87 ff., sowie F. Schoch, Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Verwaltungsrechtslehre und Staatsrechtslehre, in diesem Band S. 177 ff. (203 ff.). 28 R. Smend, Hochschule und Parteien (1930), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen (FN 2), S. 277 ff. (284 ff.). 29 Smend, Hochschule (FN 28), S. 285 f. Die interessante Passage lautet etwas ausführlicher: „Die grundsätzliche Frage wird aber zunächst wohl offen bleiben, ob der deutsche Professor als solcher in Zukunft, im Gegensatz zu den Zeiten von Dahlmann, Droysen und Treitschke, mit Max Weber auf die Politik zu verzichten haben wird oder nicht. Alle Zeichen sprechen freilich dafür, daß jene Lehre von der den Hochschulen auferlegten Askese, von dem Charakter der Hochschule als eines von Leben und Politik streng abgeschiedenen heiligen Bereichs, nur eine geistesgeschichtliche Episode gewesen ist. Die deutsche Universität müßte ihre ganze geistige Grundlage aufgeben, wenn sie darauf verzichten wollte, das Leben des Geistes als eine Einheit zu begreifen, insbesondere also Wissenschaft und Politik als Lebensformen ein und desselben Geistes zu verstehen, in der geistigen Totalität, die als sinngebende Voraussetzung für die wissenschaftliche Arbeit gewonnen werden muß, letzte Richtlinien und Wertsetzungen auch für die Politik aufzuweisen. ( . . . ) . . . so wird auch in Zukunft die deutsche Hochschule nicht darauf verzichten, in ihrer wissenschaftlichen Aufgabe zugleich einer politischen, wenn auch nur im höchsten und letzten Sinne, zu dienen.“ 30 R. Smend, Das Problem der Presse in der heutigen geistigen Lage (1946), in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen (FN 2), S. 380 ff. (384). Wieder etwas ausführlicher zitiert (S. 383 f.): „Die Rechtswissenschaft des 19. Jahrhunderts war konstatierend: sie beobachtete als historische Rechtswissenschaft den geschichtlichen Ablauf, zersetzte die normative Kraft des Corpus juris durch seine philologische Kritik in

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Wissenschaft im Allgemeinen und die Rechtswissenschaft im Besonderen aber nichts zu verkünden und schon gar nicht zu verkündigen, sondern ihren vorgegebenen Gegenstand, das Recht, zu erfassen und zu verstehen31. Dem von ihm gepflegten „Ethos autonomer Wissenschaftlichkeit“32 gemäß fällt jegliche Form der Legitimation einer Rechtsordnung weit aus dem Spektrum rechtswissenschaftlicher Tätigkeit heraus, ist ihm lediglich Ideologie und Politik, wenn man so will: politische Ideologie. Seine Warnung vor dem „Einbruch der Politik von rechts und links“33 in die Jurisprudenz hat an Aktualität nichts verloren.

2. Abgrenzung zu den Kausalwissenschaften

a) Auf nicht geringeren Widerspruch als jedwede politische Infiltration der Rechtswissenschaft trifft bei Kelsen ihre Okkupation durch die Kausalwissenschaften34. Vor dem Hintergrund eines axiomatischen Sein-SollenDualismus kann für ihn im Unterschied zum älteren Rechtspositivismus die Geltung des Rechts nicht aus seiner Faktizität, seiner Wirksamkeit und tatsächlichen Überlegenheit folgen. Ihm geht es vielmehr darum, die Existenzform des Rechts als einer der Sollenssphäre zuzuordnenden geistigen Realität in seiner eigenständigen Dimension zu erfassen – und damit auch und zugleich um die Sicherstellung der Rechtswissenschaft als einer eigenständigen wissenschaftlichen Disziplin. Entsprechend weist Kelsen alle kausalwissenschaftlichen Erklärungsweisen zurück, sofern und soweit sie sich an die Stelle rechtswissenschaftlicher Explikation setzen wollen. Aus dem, ähnlicher Weise, wie es die kritische Theologie gegenüber dem biblischen Kanon getan hatte, sie stellte den Inhalt des geltenden Rechts mit größter Treue im einzelnen und kleinen fest, verzichtete aber auf die Zurückführung des Rechts auf seine tieferen Geltungsgrundlagen, auf die das Recht tragenden Lebensmächte und Grundnormen, und damit hörte sie auf, eine kraftvolle Bezeugung des Rechts als gegenwärtiger, zwingender Lebensmacht und Wirklichkeit zu sein. ( . . . ) Heute hat deutsche Rechtswissenschaft ein Zeugnis von dem in menschlicher Natur und göttlicher Ordnung, im Naturrecht oder wie man es sonst nennen mag, tief begründeten Gebot der Gerechtigkeit für die vor uns liegende nächste Zukunft und ihre Politik und Gesetzgebung, ihre Verwaltung und Rechtsprechung abzulegen. Sie hat nicht einen Bestand von einzelnen Rechtssätzen zu konstatieren, sondern die Forderung der Gerechtigkeit grundsätzlich zu verkünden. Etwas vereinfachend und vergröbernd kann man sagen, daß heute der Gegenstand der Wissenschaft nicht mehr lediglich ein Sein, sondern mindestens zugleich ein Sollen ist, die Wissenschaft selbst also nicht mehr nur eine Konstatierung, sondern mindestens zugleich eine normative Verkündigung, eine richtungweisende Stellungnahme zur Wirklichkeit, nicht zuletzt auch zur politischen Wirklichkeit.“ 31 Kelsen, RR (FN 13), S. 17: die Reine Rechtslehre „lehnt es ab, das positive Recht zu bewerten. Sie betrachtet sich als Wissenschaft zu nichts anderem verpflichtet, als das positive Recht seinem Wesen nach zu begreifen und durch eine Analyse seiner Struktur nach zu verstehen.“ 32 F. Wieacker, Privatrechtsgeschichte der Neuzeit, 2. Aufl. 1967, S. 589. 33 H. Kelsen, VVDStRL 4 (1928), S. 203 (Diskussionsbemerkung). 34 Zum folgenden näher Dreier, Rechtslehre (FN 18), S. 29 ff.

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was ist, folgt nicht, dass es sein soll. Die Faktizität sagt juristisch eben gar nichts, heißt es einmal lapidar35. Die Rechtswissenschaft gibt demnach keine Kausalerklärung der Rechtsordnung, sondern begreift die regelhafte effektive Zwangsordnung einer Gesellschaft als Rechtsordnung im Sinne eines Deutungsschemas realer Vorgänge36. Dabei wird die Sollensdimension dezidiert auch gegen jene „realistischen“ Konzeptionen festgehalten, die – wie der skandinavische Rechtsrealismus37 – die Sollenskomponente letztlich leugnen oder – wie der Logische Empirismus38 – Wertaussagen für letztlich unsinnig halten39. Andererseits ist für den Wertrelativisten Kelsen ausgeschlossen, den Sollensanspruch einer realen Rechtsordnung als objektiv gültig oder gar als Ausdruck einer absoluten Wahrheit zu begreifen. Die Last letztlich artifizieller Normativitätsstiftung hat die in manchen Bedeutungsvarianten schillernde Grundnorm zu tragen, deren nicht zwingend zu unterstellende Annahme allein es ermöglicht, eine effektive Zwangsordnung menschlichen Verhaltens als gültige und verbindliche Rechtsordnung zu betrachten, deren Normativität daher im Grunde nur eine erborgte ist40. b) Besondere Abgrenzungsprobleme ergeben sich naturgemäß gegenüber der Rechtssoziologie, weil diese sich ja prinzipiell auf den gleichen Gegenstand, das Rechtssystem einer gegebenen Gesellschaft, richtet41. Notorisch ist hier vor allem die frühe, im Übrigen von wechselseitigen Missverständnissen nicht freie Kontroverse mit Eugen Ehrlich42. Festzuhalten bleibt an-

35 H. Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts. Beitrag zu einer Reinen Rechtslehre (1920), 2. Aufl. 1928 (ND 1981), S. 71. Näher zum unterschiedlich akzentuierten Sein-Sollen-Dualismus bei Kelsen Dreier, Rechtslehre (FN 18), S. 31 ff., 52 ff., 98 ff.; Heidemann, Norm (FN 17), S. 55 ff., 113 ff., 165 ff.; S. Uecker, Vom Reinheitspostulat zur Grundnorm, 2006, S. 25 ff. 36 Zum Recht als Deutungsschema nur Kelsen, RR (FN 13), S. 4 f. Vgl. noch bei und in FN 78. 37 Dazu etwa J. Bjarup, Skandinavischer Realismus, 1978; M. Schmidt, Reine Rechtslehre versus Rechtsrealismus, in: R. Walter (Hrsg.), Schwerpunkte der Reinen Rechtslehre, 1992, S. 137 ff. 38 Dazu die Beiträge in dem Sammelband: C. Jabloner / F. Stadler (Hrsg.), Logischer Empirismus und Reine Rechtslehre. Beziehungen zwischen dem Wiener Kreis und der Hans Kelsen-Schule, 2001. 39 Zur Differenz zwischen Kelsen und dem Logischen Empirismus des Wiener Kreises etwa J. L. Kunz, Die definitive Formulierung der Reinen Rechtslehre, ZöR 11 (1961), S. 375 ff. (381). Vgl. etwa Kelsens Kritik an Moritz Schlick: Kelsen, RR2 (FN 13), S. 17 f., 60 f. 40 Die schwierige Problematik der Grundnorm kann hier nicht ansatzweise entfaltet werden. Vgl. zur hier zugrundegelegten Sichtweise näher Dreier, Rechtslehre (FN 18), S. 42 ff., 86 ff. m. w. N.; aus der späteren Literatur insb. R. Walter, Die Grundnorm im System der Reinen Rechtslehre, in: FS Krawietz, 1993, S. 85 ff.; S. L. Paulson, Die unterschiedlichen Formulierungen der „Grundnorm“, ebd., S. 53 ff.; ders., On the Early Development of the Grundnorm, in: FS Broekmann, 1996, S. 217 ff.; Heidemann, Norm (FN 17), S. 90 ff., 144 ff.; U. Bindreiter, Why Grundnorm? A Treatise on the Implications of Kelsen’s Doctrine, 2002; A. Jakab, Probleme der Stufenbaulehre, ARSP 91 (2005), S. 333 ff. (338 ff.). 41 Zum Folgenden Dreier, Rechtslehre (FN 18), S. 137 ff.

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gesichts verbreiteter Irrtümer zunächst, dass Kelsen der Rechtssoziologie keineswegs die Existenzberechtigung abspricht43, aber auf strenger Grenzregulierung zwischen Rechts- und Sozialwissenschaften mit entsprechendem Methodenbewusstsein insistiert: „Auch soll nicht gesagt sein“, heißt es in seiner Habilitationsschrift, „daß der Jurist nicht auch soziologische, psychologische, daß er etwa keine historischen Untersuchungen vornehmen dürfe. Im Gegenteil! Solche sind nötig; allein der Jurist muß sich stets bewußt bleiben, daß er als Soziologe, Psychologe oder Historiker einen ganz anderen Weg verfolgt, als jenen, der ihn zu seinen spezifischen juristischen Erkenntnissen führt, er darf die Resultate seiner explikativen Betrachtung niemals in seine normativen Begriffskonstruktionen aufnehmen.“44 Und noch deutlicher heißt es ein Jahr später: „Der Jurist kann, ja soll Soziologe sein, so wie etwa der Künstler auch Technologe sein muß, um das Material, mit dem er arbeitet, zu beherrschen. Aber er muß sich stets bewußt bleiben, daß er als Jurist eine andere Methode anzuwenden hat als der Soziologe.“45 Dominant ist also der Anspruch strikter methodischer Grenzziehung, der nicht zuletzt der Befürchtung eines ansonsten obwaltenden Dilettantismus entspringt46. Methodologisch unangeleitete Forderungen nach Berücksich42 Die wichtigsten Texte dieser in den Kriegsjahren 1915 bis 1917 ausgetragenen Kontroverse finden sich in S.L. Paulson (Hrsg.), Hans Kelsen und die Rechtssoziologie, 1992. Aus der Sekundärliteratur wichtig: H. Rottleuthner, Rechtstheorie und Rechtssoziologie, 1981, insb. S. 31 ff.; eingehender ders., Rechtstheoretische Probleme der Soziologie des Rechts, in: W. Krawietz / H. Schelsky (Hrsg.), Rechtssystem und gesellschaftliche Basis bei Hans Kelsen, 1984, S. 521 ff.; U. Rein, Rechtssoziologie und Rechtspositivismus. Die Kontroverse zwischen Eugen Ehrlich und Hans Kelsen 1915 / 16, in: S. L. Paulson / R. Walter (Hrsg.), Untersuchungen zur Reinen Rechtslehre, 1986, S. 91 ff.; weniger ergiebig K. Lüderssen, Hans Kelsen und Eugen Ehrlich, in: S. L. Paulson / M. Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen – Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, 2005, S. 264 ff. – Die beste und eingehendste Darstellung der Rechtssoziologie Eugen Ehrlichs bietet nunmehr S. Vogl, Soziale Gesetzgebungspolitik, freie Rechtsfindung und soziologische Rechtswissenschaft bei Eugen Ehrlich, 2003. 43 Richtig M. Kraft-Fuchs, Kelsens Staatstheorie und die Soziologie des Staates, ZöR 11 (1931), S. 402 ff. Sehr deutlich etwa Kelsen, RR (FN 13), S. 9 ff. 44 Kelsen, Hauptprobleme (FN 19), S. 42. Natürlich ist der letzte Satz unterschiedlichen Deutungen zugänglich. Vor dem Hintergrund der seinerzeitigen Debatte wird man daraus keinen strikten Ausschluss aller Aspekte für die rechtswissenschaftliche Arbeit sehen dürfen, sondern wohl eher eine Abwehr der Okkupation der Rechtswissenschaften durch die Soziologie. 45 H. Kelsen, Zur Soziologie des Rechts, ASwSp 34 (1912), S. 601 ff. (602). Diese Position findet sich in späteren Arbeiten eher noch verstärkt, wenngleich nicht in allzu großer Breite erörtert. Siehe etwa H. Kelsen, Law, State and Justice in the Pure Theory of Law, Yale Law Journal 47 (1948), S. 377 ff. (383), wonach zusammen mit Rechtssoziologie und Rechtsgeschichte die Strukturtheorie des Rechts nötig sei „for a complete unterstanding of the complex phenomenon of law“. 46 Schon P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, 5. Aufl., Bd. 1, 1911, S. X hatte betont, dass eine in das Gebiet sozialwissenschaftlicher Forschung vordringende Jurisprudenz dieses ihr im Grunde fremde Geschäft nur sehr dilettantisch würde betreiben können. Dieser Gesichtspunkt wird in den aktuellen Debatten um Interdisziplinarität und Berücksichtigung der Nachbarwissenschaften zumeist ausgeblendet, die eigene Kompetenz zur Erbringung derartiger Integrationsleistungen

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tigung der Praxis etwa weist er als „Rekurs an eine inkompetente Instanz“ zurück47. Der Gedanke einer Arbeitsteilung zwischen den Disziplinen ist zentral48, nicht minder der Ausweis, wann ein Autor als Jurist, wann er als Soziologe, Historiker etc. argumentiert49. „Rechts- und Staatssoziologie sind durch Kelsens Theorie nicht ausgeschlossen, sie sind nur als Soziologie zu betreiben.“50 Die so in ihrem Existenzrecht prinzipiell anerkannte Rechts- und Staatssoziologie – dies der zweite wichtige Punkt – kommt freilich nach Kelsens fester Überzeugung nicht daran vorbei, bei der Fixierung ihres Objektes auf die normative Ordnung zu rekurrieren. Sie muss zwingend den juristischen Rechts- bzw. Staatsbegriff zugrundelegen, wenn sie sich auf Rechtsnormen oder den Staat als deren Inbegriff beziehen will51. Eine soziologische oder historische Betrachtung des Staates kommt danach letztlich nicht darum herum, die Rechtsordnung jener Gebilde als gegenstandskonstituierende Vorgaben zu nehmen. „Immer, wenn die Soziologie das Faktum Staat beschreiben will, gerät sie schließlich an die Beschreibung der staatlichen Ordnung, also des Rechts.“52 So ist es kein Zufall, dass die Rechtssoziologie genötigt ist, einen „positivistischen“ Rechtsbegriff zugrunde zu legen53. Eischlicht vorausgesetzt, Grund und Sinn akademischer Spezialisierung hingegen ignoriert. 47 Kelsen, Problem der Souveränität (FN 35), S. VII, wo es weiter heißt: „Darin liegt ja die alle ,Wissenschaft‘ erst ermöglichende Reinheit, dass die Erkenntnis innerhalb der ihr durch Gegenstand und Methode gezogenen Grenzen bleibt. Dass diese Grenzen gerade für die Rechtswissenschaft sehr enge sind, zögere ich nicht, selbst auf die Gefahr hin einzugestehen, dass dadurch ihre Bedeutung im Gesamtsysteme der Wissenschaften erheblich vermindert wird; aber ich begreife, dass dies all denen tief beklagenswert erscheinen muss, die als ,Juristen‘ sich berufen glauben, so ziemlich alles zu verstehen, und mit juristischen Argumentationen ebenso Problem der Psychologie und Soziologie zu lösen, wie Forderungen der Politik zu honorieren gewohnt sind.“ 48 Dreier, Rechtslehre (FN 18), S. 138 f.; so auch O. Lepsius, Die Wiederentdeckung Weimars durch die bundesdeutsche Staatsrechtslehre, in: C. Gusy (Hrsg.), Weimars lange Schatten – „Weimar“ als Argument nach 1945, 2003, S. 354 ff. (359). 49 Deutlich Kelsen, Integration (FN 11), S. 22. 50 C. Möllers, Staat als Argument, 2000, S. 56. – Kelsen selbst konnte hellsichtige Beobachtungen zur schichtenspezifischen Rekrutierung der Richter in der Weimarer Republik treffen, wie seine prägnante Diskussionsbemerkung auf der Münsteraner Staatsrechtslehrertagung zeigt: „Jedenfalls ist nicht zu erkennen, daß Juristen, die ehedem die strikteste Bindung des Richters an das Gesetz lehrten, heute den Richtern mit Berufung auf Naturrecht weitgehende Freiheit gegenüber dem Gesetze zuerkennen möchten; und daß der Richterstand von jenen Änderungen der politischen Struktur so ziemlich frei geblieben ist, die sich in der Zusammensetzung des Parlaments zeigt . . .“ (VVDStRL 3 [1927], S. 53 ff. [54]). 51 Sehr klar Möllers, Staat (FN 50), S. 40 ff. 52 So Möllers, Staat (FN 50), S. 43, wo es weiter heißt: „Für Kelsen bestimmt die Rechtswissenschaft den Gegenstand der Rechts- oder Staatssoziologie, auch wenn die Soziologie über die Fragestellungen entscheidet, mit denen sie sich diesem Gegenstand nähert.“ 53 So im Ergebnis (nach Betrachtung einer Reihe weitergehender Konzepte) etwa K. F. Röhl, Rechtssoziologie, 1987, S. 219, 220, 222; ähnlich M. Rehbinder, Rechts-

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ne Untersuchung zur Richtersoziologie etwa muss sich auf diejenigen Personen konzentrieren, die der Rechtsordnung gemäß als Richter fungieren; eine empirische Analyse zur Befolgung von Verkehrsschildern in der Bundesrepublik Deutschland nimmt die Zeichen in den Blick, wie sie in der StVO geregelt sind; Forschungen zur Entstehung von Gesetzen widmen sich den im Bundesgesetzblatt publizierten Normen54.

3. Ablehnung des Naturrechts

Die Ablehnung des Naturrechts ist gleichermaßen konstitutiv für die Reine Rechtslehre wie für jede andere rechtspositivistische Theorie, soweit und sofern sich in ihr die These der Trennung von Recht und Moral zum Ausdruck bringt55. Aber worauf gründet sie sich? Gern wird insofern darauf hingewiesen, dass es jeder Wissenschaft grundsätzlich freistünde, sich ihr Erklärungsobjekt selbst zu wählen, und diese Wahlentscheidung falle nun eben auf das positive Recht, nicht das Naturrecht56. Doch könnte man natürlich Ethik, Theologie und andere normative Systeme genausogut zum Gegenstand einer normbeschreibenden Wissenschaft machen wie das positive Recht57. Warum scheidet Kelsen das Naturrecht also aus? In seinen sich über mehr als fünf Jahrzehnte hinziehenden Publikationen bietet Kelsen eine Vielfalt von Argumenten58, die von methodischen Erwägungen über die Sicherheit der Erfassung des Objekts und die oft widersprüchliche Vielfalt der Naturrechtslehren bis hin zum argumentum ad absurdum reichen, wonach die Zugrundelegung des Naturrechts die positive Rechtsordnung gleichsam überflüssig mache59. Der tiefer liegende Grund soziologie, 5. Aufl. 2003, Rn. 43 ff., der zunächst eine gewisse „Erweiterung“ für bestimmte mehr oder minder autonome „Verbände“ erwägt (Rn. 48), das dann aber zwangsläufig wieder zurücknimmt (Rn. 50). 54 Siehe neben diesen beispielhaften Fällen noch Möllers, Staat (FN 50), S. 38. 55 Dazu, dass diese Trennungsthese konstitutiv für eine rechtspositivistische Theorie ist, vgl. etwa N. Hoerster, Verteidigung des Rechtspositivismus, 1989, S. 20 ff.; R. Alexy, Begriff und Geltung des Rechts, 1992, S. 41; W. Ott, Der Rechtspositivismus, 2. Aufl. 1992, S. 175 ff.; T. Osterkamp, Juristische Gerechtigkeit, 2004, S. 10 ff. 56 Dezidierter Hinweis auf diesen Wahlcharakter etwa bei R. Walter, Der gegenwärtige Stand der Reinen Rechtslehre, Rechtstheorie 1 (1970), S. 69 ff. (75 f.); ders., Das Lebenswerk Hans Kelsens: Die Reine Rechtslehre, in: FS Kelsen, 1971, S. 1 ff. (4). 57 Auch wenn Kelsen immer wieder auf Differenzen hinweist, wird das letztlich von ihm nicht bestritten: vgl. ders., RR (FN 13), S. 62 ff.; ders., RR2 (FN 13), S. 67 f. 58 Zu ihnen näher Dreier, Rechtslehre (FN 18), S. 166 ff.; s. auch Uecker, Reinheitspostulat (FN 35), S. 67 ff., 74 ff. 59 Kelsen, RR (FN 13), S. 15: „Gäbe es eine Gerechtigkeit . . . dann wäre das positive Recht völlig überflüssig und seine Existenz ganz unbegreiflich. Angesichts des Vorhandenseins einer absolut guten, sich schon aus der Natur, der Vernunft oder dem göttlichen Willen ergebenden gesellschaftlichen Ordnung wäre die Tätigkeit des staatlichen Gesetzgebers der törichte Versuch einer künstlichen Beleuchtung bei

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ergibt sich wieder aus dem Bestreben, eine Vermengung unterschiedlicher Gegenstandsbereiche zu vermeiden60. Im Unterschied zur Abgrenzung von den Kausalwissenschaften besteht diese Gefahr nunmehr nicht im Verlust der Sollenssphäre gegenüber der Kausalsphäre, sondern in der Überlagerung der einen Sollenssphäre (des positiven Rechts) durch die Sätze einer anderen (des Naturrechts). Demzufolge droht hier die Subordination der positiven Rechtsordnung unter das Naturrecht. Und Naturrechtslehren implizieren für Kelsen zwangsläufig eine Unterwerfung unter einen außermenschlichen, höchsten Willen, eine absolute Autorität61. Darin reproduziert sich für ihn eine Kernstruktur primitiven oder archaischen Denkens: die Flucht des Menschen aus seiner Verantwortung für die soziale Welt und ihre Gestaltung. Naturrechtslehren erscheinen auf diese Weise, wie Ernst Topitsch es treffend formuliert hat, als „rationalisierte Spätformen primitiver Weltauffassung“62. Von daher ist es kein Zufall, dass Kelsen als Grund für die Renaissance des Naturrechts im 20. Jahrhundert die Erschütterung des Selbstbewusstseins der Menschen durch die beiden Weltkriege sowie durch Kommunismus und Nationalsozialismus angibt63. Kelsen will nicht zuletzt dieser Phänomene wegen festhalten, dass das Recht Schöpfung der Menschen selbst ist: „Menschenwerk“, wie er wiederholt formuliert64. Und dieses – möglicherweise fehlerhafte, ja unsittliche – Menschenwerk ist nichts anderes als die wirksame Zwangsordnung menschlichen Verhaltens, also die positive Rechtsordnung ohne relativierende oder korrigierende Beimischung anderer Normensysteme65, ohne Ethisierung und Objektivierung. Es geht um die Erfassung dessen, was das Recht ist, nicht, wie es sein soll. Mit der Konzentration auf die so bestimmte Rechtsordnung begreift sich die Reine Rechtslehre zugleich als eine zutiefst hellstem Sonnenlicht.“ Doch entgeht ihm natürlich nicht die große Rolle, die das positive Recht auch und gerade in den Naturrechtslehren spielt: Kelsen, RR2 (FN 13), S. 435 ff. 60 Es geht also insofern gewissermaßen um die Vermeidung einer Entdifferenzierung der normativen Welten und eines daraus folgenden „Sollens-Chaos“. Vgl. auch R. Walter, Hans Kelsens Rechtslehre (= Würzburger Vorträge zur Rechtsphilosophie, Rechtstheorie und Rechtssoziologie, Bd. 24), 1999, S. 13. 61 Daran, dass damit die Vielfalt der Naturrechtslehren und insbesondere der emanzipatorische Individualismus der rationalistischen Naturrechtslehren der Neuzeit treffend erfasst sind, kann man mit guten Gründen zweifeln (vgl. etwa kritisch K. Opalek, Kelsens Kritik der Naturrechtslehre, in: Ideologiekritik und Demokratietheorie bei Hans Kelsen, hrsgg. v. W. Krawietz / E. Topitsch / P. Koller [= Rechtstheorie, Beiheft 4], 1982, S. 71 ff. [78 ff.]). Das muss hier aber nicht weiter vertieft werden. Aus der Literatur noch W. Preiss, Hans Kelsens Kritik am Naturrecht, 1993, S. 165 ff. 62 E. Topitsch, Einleitung, in: Hans Kelsen. Staat und Naturrecht. Aufsätze zur Ideologiekritik, herausgegeben von Ernst Topitsch, 2. Aufl. 1989, S. 11 ff. (21). Vgl. etwa H. Kelsen, Vergeltung und Kausalität, 1941 / 1946 (Neudruck 1982), S. 280 f. 63 H. Kelsen, Die Grundlage der Naturrechtslehre, ÖZöR 13 (1964), S. 1 ff. (33). 64 Beispielsweise Kelsen, RR2 (FN 13), S. 255; in der Sache auch ebd., S. 175. Zur Bedeutung des Menschenwerk-Topos Dreier, Rechtslehre (FN 18), S. 227, 242, 245 f. 65 Statt zahlloser Belege nur Kelsen, RR (FN 13), S. 38.

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empiriebezogene bzw. realistische Rechtslehre66. Dieser Empiriebezug darf nun wiederum nicht in der Weise missverstanden werden, dass die faktisch wirksame Rechtsordnung von Kelsen auch als befolgungswürdig ausgezeichnet würde und mit objektivem Anspruch auf Gehorsam auftreten könnte. Vielmehr sagt für ihn die Qualifizierung einer effektiven Zwangsordnung als Rechtsordnung nichts über deren Güte, moralische Dignität oder Anerkennungswürdigkeit aus. Ob ihr Gehorsam zu leisten oder gegen sie zu revoltieren ist, überlässt Kelsen dem eigenverantwortlichen Werturteil des Einzelnen67.

II. Staat und Staatsrecht 1. Inhaltsneutraler Staatsbegriff

Projiziert man die allgemeinen Leitlinien Kelsenscher Rechtslehre auf das Staatsrecht, so ergeben sich zwanglos einige Konsequenzen. Wenn die rechtswissenschaftliche Arbeit in der Beschreibung der Rechts- bzw. Staatsordnung besteht, im gleichsam leidenschaftslosen Erheben objektiver Befunde „mit der Kälte und Genauigkeit des Pathologen“68, so kann prinzipiell keine Staatsordnung davon ausgenommen sein, mag sie auch den eigenen Wertungen und Überzeugungen noch so sehr widerstreben. Also können prinzipiell alle Staaten unabhängig von ihrer inhaltlichen Ausgestaltung von der Staatsrechtslehre erfasst werden, wobei Kelsen die politische Brisanz dieses Konzeptes deutlich sieht, wie der im Jahre 1934 nur allzu sprechende Hinweis auf die kommunistische Sowjetunion oder das faschistische Italien erkennen lässt69. Der rechtswissenschaftliche Zugriff auf die Materie 66 So früh T. Otaka, Künftige Aufgaben der Reinen Rechtslehre, in: Gesellschaft, Staat und Recht. Untersuchungen zur Reinen Rechtslehre (= Festschrift, Hans Kelsen zum 50. Geburtstag gewidmet), hrsgg. von Alfred Verdross, 1931 (ND 1983), S. 106 ff. (112); aus jüngerer Zeit A. Engländer, Grundzüge des modernen Rechtspositivismus, Jura 2000, S. 113 ff. (113). – Kelsen hat das ähnlich formuliert: H. Kelsen, Eine ,Realistische‘ und die Reine Rechtslehre, ÖZöR 10 (1959), S. 1 ff. (5); ders., RR2 (FN 13), S. 61, 112; auch schon ders., RR (FN 13), S. 17: Reine Rechtslehre als „radikal realistische Rechtstheorie“. 67 Dazu eingehend Dreier, Rechtslehre (FN 18), S. 159 ff., 228 ff.; knapp Walter, Hans Kelsens Rechtslehre (FN 60), S. 12; Jakab, Probleme (FN 40), S. 341, 343. 68 So eine besonders treffende Charakterisierung von K. Adomeit, Hans Kelsen (Nachruf), Rechtstheorie 4 (1973), S. 129 f. (130); siehe auch W. Krawietz, Art. Grundnorm, in: J. Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, 1974, Sp. 918 ff. (920 f.). 69 Kelsen, RR (FN 13), S. 24. Konsequenterweise hat Kelsen, demzufolge die Rechtsordnung jeden beliebigen Inhalt annehmen könne, in einem vor seinem biographischen Hintergrund nur umso bemerkenswerteren Akt der Wertungsaskese auch das NS-Regime davon nicht ausgenommen (vgl. Kelsen, RR2 [FN 13], S. 13, 42 f.). Die hier zu lesenden, auf die Erwähnung Röhms oder der Vernichtungslager verzichtenden Sätze von den Morden, aus denen im Wege rückwirkender Anordnung staatliche Exekutionen hätten gemacht werden können, sind freilich weder als blanker Zynis-

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verbietet es, den eigenen oder einen für wünschenswert gehaltenen Staat irgendwie zusätzlich zu legitimieren – und desgleichen, den existierenden, aber für unerwünscht gehaltenen Staat zu delegitimieren. Dies setzt vor allem Distanz zum Objekt der Betrachtung voraus: eine Distanz, die wir beim Chemiker gegenüber seiner Versuchsanordnung und beim Geologen zu den untersuchten Gesteinsformationen selbstverständlich für gegeben halten. Dem sicherlich vernichtend gemeinten Vorwurf Smends „letzter innerer Unbeteiligung am Staat“70 kann Kelsen nicht nur nichts entgegensetzen, er trifft vielmehr den Kern und den Anspruch seiner Lehre genau, ist also im Grunde eine Art Ehrentitel und wird als solcher willkommen geheißen71 – wohlgemerkt vom Rechtstheoretiker Kelsen, nicht vom engagierten Demokraten und überzeugten Republikaner72. Der Rechtstheoretiker radikalisiert den Aspekt persönlicher Involviertheit noch, indem er die Frage stellt, ob nicht auch ein überzeugter Anarchist als Staatsrechtslehrer gute Vorlesungen halten könne – und diese Frage selbstverständlich bejaht73. mus noch als Akt der Resignation, sondern nur als konsequente Durchführung des Programms einzustufen, wissenschaftliche Beschreibung und ethische Bewertung von Rechtsordnungen strikt zu trennen. Vgl. auch bei und in FN 67. 70 Smend, Verfassung (FN 2), S. 122. Der Vorwurf ist an dieser Stelle zwar nicht explizit an Kelsen, sondern eher allgemein an den Liberalismus gerichtet, wird aber sicher nicht zu Unrecht von Kelsen (auch) auf sich bezogen. 71 Demonstrativ selbstbewusst Kelsen, Integration (FN 11), S. 32: „Aber ,unpolitisch‘, ,im Sinne letzter innerer Unbeteiligung am Staat‘, am Staat als Objekt der wissenschaftlichen Erkenntnis: das ist die Wiener Schule allerdings, das bemüht sie sich zumindest nach allen Kräften, zu sein.“ – Ähnlich verhält es sich im Übrigen mit dem bekannten Verdikt Hellers von Kelsens „Staatslehre ohne Staat“ (H. Heller, Bemerkungen zur staats- und rechtstheoretischen Problematik der Gegenwart, AöR 16 [1929], S. 321 ff. [323]), wobei hier hinzukommt, dass die Wendung von Kelsen selbst stammt (H. Kelsen, Der soziologische und der juristische Staatsbegriff. Kritische Untersuchung des Verhältnisses von Staat und Recht [1922], 2. Aufl. 1928 [ND 1981], S. 206 ff.). 72 Zu diesem und seiner Demokratietheorie H. Dreier, Hans Kelsen (1881 – 1973): „Jurist des Jahrhunderts“?, in: H. Heinrichs u. a. (Hrsg.), Deutsche Juristen jüdischer Herkunft, 1993, S. 705 ff. (709 ff.); ders., Kelsens Demokratietheorie: Grundlegung, Strukturelemente, Probleme, in: R. Walter / C. Jabloner (Hrsg.), Hans Kelsens Wege sozialphilosophischer Forschung, 1997, S. 79 ff.; R. C. van Ooyen, Der Staat der Moderne. Hans Kelsens Pluralismustheorie, 2003. 73 Kelsen, RR2 (FN 13), S. 224 f. mit Anm. **. – Vgl. die anders ausgerichtete, wenn auch nicht exakt auf diesen Fall bezogene Position Radbruchs: „Wir Juristen sind wie die Theologen Dogmatiker. Dogma ist wie dort die Offenbarung so hier die Verfassung. Die Verfassung ist das Grundgesetz – das heißt einerseits: alle Gesetze leiten ihre Geltung von der Verfassung ab, andererseits: alle Gesetze sind im Geiste der Verfassung auszulegen. Deshalb haben meine justizpolitischen Freunde und ich den Satz geprägt: In einer Republik und Demokratie kann auch die Rechtspflege nur republikanischen und demokratischen Geistes sein. So schwer dieser Satz auch angefochten worden ist, ich muß ihn folgerichtig doch heute durch einen zweiten ergänzen: In einer Republik und Demokratie kann auch die Rechtslehre nur republikanischen und demokratischen Geistes sein. Gesetze der Republik im Geiste der Republik auszulegen vermag aber nur, wer sich mit der Republik wo nicht befreundet, so doch abgefunden hat. Der erbitterte Feind der Republik kann auch ihre Gesetze nur etwa so lesen wie der Teufel die Bibel. So ist die Rechtswissenschaft ein Erkenntnisgebiet,

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Kommt es somit auf spezifische Inhalte oder Strukturen der Staatsordnung nicht an, kann Kelsen mit dem ihm eigenen Willen zur Stringenz und äußersten Konsequenz seiner Deduktionen jeden Staat als Rechtsstaat titulieren74. Aber das ist eben keine bestimmte positive Auszeichnung und materiale Charakterisierung mehr, sondern nur Ausdruck des Umstandes, dass das Recht als „Form der staatlichen Ordnung“75 charakterisiert wird. Staat schrumpft somit zur Chiffre für das Rechtssystem, ist bloßer Ordnungsgedanke76 – und als Gedankending verflüchtigt er sich, nicht anders als die Religion auch, wenn man den Glauben daran verliert77. Hinter dieser Rechtsordnung sieht Kelsen nun nicht noch einen irgendwie vorrechtlich oder außerrechtlich verfassten Staat als Wesenheit organischer Art oder als protorechtlichen Träger legitimer Herrschaft, sondern allein naturale Phänomene, die erst bei Zugrundelegung des Rechts als eines „Deutungsschemas“78 bestimmte Sinngehalte mit sich führen. „Denn außerhalb des Rechtssystems, in der Natur, gibt es keinen ,Diebstahl‘, kein ,Rechtsgeschäft‘, keine ,Strafe‘, keine ,Exekution‘, sondern nur gleichsam demaskierte Realia.“79 Bei einer auf das rein sinnlich wahrnehmbare Geschehen gerichteten Betrachtung zergeht die Differenz zwischen einer staatlichen Hinrichtung und einem Mord80. Erst die rechtliche Deutung macht aus der Anwendung körperlicher Gewalt einer Person gegen eine andere den Vollzug eines polizeilichen Verwaltungsaktes, macht aus der Abstimmung einer bestimmten Anzahl von Menschen den Beschluss eines Gesetzes, macht aus der Unterschrift unter einen Text die Ausfertigung desselben. Ohne diese deutenden Akte handelt es sich lediglich um gleichsam neutrale Vorgänge in Zeit und Raum: um Tinte auf Papier, das Erheben der Hände, die Zufügung einer schmerzvollen Handlung81. Akzeptiert man die auf dem die Gesinnung, die wir vertreten, sich berechtigterweise zur Geltung bringen darf – nämlich gerade um richtiger Erkenntnis willen.“ (G. Radbruch, Die deutschen Universitäten und der heutige Staat [1926], in: Gustav Radbruch-Gesamtausgabe, Bd. 13 [Politische Schriften aus der Weimarer Zeit II], 1993, eingeleitet und herausgegeben von A. Baratta, S. 254 ff. [256 f.]). 74 Nicht zufällig ergibt sich insoweit eine auf den ersten Blick frappierende Übereinstimmung mit C. Schmitt, Römischer Katholizismus und politische Form, 2. Aufl. 1925, S. 34: „jede Ordnung ist eine Rechtsordnung und jeder Staat ein Rechtsstaat“; so bereits ders., Der Wert des Staates und die Bedeutung des Einzelnen, 1914, S. 53. Schmitt war in seiner Frühphase eben neukantianisch geprägt (dazu H. Hofmann, Legitimität gegen Legalität [1964], 4. Aufl. mit einer neuen Einleitung, 2002, S. 38 ff.). 75 Kelsen, Allgemeine Staatslehre (FN 19), S. 42. 76 Vgl. näher Dreier, Rechtslehre (FN 18), S. 208 ff. Von jeder Form einer Staatsapotheose ist Kelsen also denkbar weit entfernt. Charakteristisch für seine Konzeption ist vielmehr eine Entzauberung des Staates, dessen Profanierung. 77 H. Kelsen, Gott und Staat (1922 / 23), in: Wiener Rechtstheoretische Schule, Bd. I (FN 17), S. 171 ff. (183); ders., Staatsbegriff (FN 71), S. 89 ff. 78 Zu ihm Kelsen, RR (FN 13), S. 2 f., 4 ff.; ders., RR2 (FN 13), S. 3 f. 79 Kelsen, Allgemeine Staatslehre (FN 19), S. 48. 80 M. Kraft-Fuchs, Prinzipielle Bemerkungen zu Carl Schmitts Verfassungslehre, ZöR 9 (1930), S. 511 ff. (512); siehe auch Kelsen, RR (FN 13), S. 5.

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durchsetzungsfähige Herrschaftsgewalt nicht als legitime Rechtsordnung, so sieht man in ihren Akten, Normen und Institutionen lediglich faktisch überlegene Machtagglomerationen, denen man sich aus dem gleichen Grunde beugen mag wie dem Befehl einer Bande von Straßenräubern. Solche Situationen existieren im Übrigen nicht nur in der Phantasie exzentrischer Theoretiker; sie sind vielmehr typisch für unklare Machtlagen wie etwa in Bürgerkriegsszenarien oder im Gefolge noch nicht vollständig geglückter Revolutionen bzw. Usurpationen.

2. Identität von Staat und Recht

Mit diesen Hinweisen haben wir bereits Kelsens zentrale These von der Identität von Staat und Recht berührt, die zu den wohl eigentümlichsten Bestandteilen seines Theoriegebäudes zählt. Wiederum muss man sich hier die kritische Intention der Begriffsbildung vor Augen führen. Mit seiner Konstruktion richtet sich Kelsen ganz allgemein gegen jedwede Form von organischen oder gar vitalistischen Sichtweisen des Staates, die diesen wie ein Lebewesen, einen ins Große gewendeten Menschen (makroanthropos) betrachten82. Er richtet sich aber auch, zugleich und vor allem gegen die Jellineksche Zwei-Seiten-Lehre, aus deren Kritik seine eigene Position recht eigentlich erst erwächst. Jellinek zufolge war der Staat bekanntlich von der einen Seite her als soziales (reales, politisches), von der anderen Seite als rechtliches (juristisches) Phänomen zu betrachten und zu analysieren83. Demgemäß zerfällt 81 Hübsches Beispiel auch bei I. v. Münch, Farben und Recht, 2006, S. 5: „Eine Farbe als solche, d. h. abstrakt betrachtet, ist juristisch gesehen ein Nichts. Erst durch einen Kontext kann die Farbe rechtliche Relevanz erlangen. So enthält die Farbe Weiß an sich weder ein Gebot noch ein Verbot. Wird dagegen im Zusammenhang mit Kriegshandlungen auf Seiten eines der Kriegführenden eine weiße Fahne gezeigt, so hat dies entweder zur Kennzeichnung eines Parlamentärs oder als Zeichen der Aufgabe (Kapitulation) eine klar umrissene völkerrechtliche Bedeutung: Weder gegen den Parlamentär noch gegen die sich Ergebenden darf Waffengewalt angewendet werden.“ 82 Eingehend Kelsen, Hauptprobleme (FN 19), S. 164 ff.; ders., Allgemeine Staatslehre (FN 19), S. 10, 376 ff. mit einer Fülle von Beispielen für die zum Teil absonderlichen Konstruktionen (vgl. dazu S. L. Paulson, Konstruktivismus im Frühwerk Hans Kelsens, AöR 124 [1999], S. 631 ff. [651 ff.]); insofern besteht mit Jellinek Übereinstimmung (vgl. G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905 [ND 1919], S. 12 ff., 35 ff.; S. 17 Kritik am methodischen Synkretismus). – Instruktiv zu den organischen Staatslehren E.-W. Böckenförde, Organ, Organismus, Organisation, politischer Körper (VII-IX), in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, 1978, S. 561 ff.; J. Rolin, Der Ursprung des Staates, 2005, S. 215 ff., 224 ff. 83 G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl. 1914 (ND 1976), S. 9 ff., 41, 137 f., 174 ff. – Aus der Sekundärliteratur statt aller J. Kersten, Georg Jellinek und die klassische Staatslehre, 2000, S. 145 ff., 151 ff., 167 ff. – Auch heute noch wird die ZweiSeiten-Lehre oft (aber selten näher reflektiert) zugrundegelegt: etwa bei R. Zippelius, Allgemeine Staatslehre, 15. Aufl. 2007, S. 25 ff.; T. Fleiner / L. R. Basta-Fleiner, All-

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für ihn die Staatslehre „in die soziale Staatslehre und in die Staatsrechtslehre“84. Anders aber als die Neukantianer geht Jellinek nicht von der gegenstandskonstituierenden Kraft der jeweiligen Methode aus. Er sieht das Erkenntnisobjekt, hier also den Staat, nämlich als vorgegeben an, unterzieht ihn nur unterschiedlichen Betrachtungsweisen: Der Staat wird „lediglich von verschiedenen Seiten perspektiviert“85. Gerade dieser bei Jellinek noch ganz selbstverständlich vorausgesetzte Vorrang des Staates vor dem Recht86 musste auf Kelsens entschiedenen Widerspruch treffen. Für ihn verbot sich eine derartige duale Gegenstandsbetrachtung bereits aus Gründen wissenschaftlicher Methodik. Jellineks Vorgehen verletzte für ihn den „Fundamentalsatz aller Erkenntnistheorie, daß der Gegenstand der Erkenntnis durch die Erkenntnisrichtung bestimmt sei und daß daher zwei verschiedene Methoden, wie die naturwissenschaftlich-kausale und die juristisch-normative nicht ein und denselben Gegenstand – etwa den ,Staat an sich‘ – sondern zwei verschiedene Gegenstände erzeugen müssen, die mit dem gleichen Namen ,Staat‘ zu bezeichnen, nur ein irreführender Fehler sein kann.“87 Einen Staat ,an sich‘ gibt es für Kelsen nicht, jedenfalls nicht als ein der wissenschaftlichen Betrachtung vorgegebenes soziales Faktum oder normatives Substrat, das sich erst in einem zweiten Schritt einer soziologischen oder juristischen Analyse zu unterwerfen hätte. Was sollte das auch näher sein: ein bloßes Norm-Faktum-Konglomerat, die Vorstellung eines „Staat-Recht-Dinges“88? Aus alledem folgert Kelsen im Ergebnis, dass für eine rechtswissenschaftliche Betrachtung der Staat nichts anderes sein kann als die Rechtsordnung. Für Kelsen steht der Staat nicht hinter der Rechtsordnung, für ihn ist der Staat die Rechtsordnung89: nicht mehr, nicht gemeine Staatslehre, 3. Aufl. 2004, S. 291; besonders deutlich (auch wenn der Name Jellineks an dieser Stelle nicht fällt) J. Isensee, Art. Staat (I-VII), in: Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, 7. Aufl., Bd. V, 1989, Sp. 133 ff. (145 f.): „Er [der Staat, H. D.] existiert zugleich außerhalb wie innerhalb der Rechtsordnung: Außerhalb: insoweit er Quelle ihrer Erzeugung und Garant ihrer tatsächlichen Durchsetzung ist und sich des Rechts als typisches Handlungsmittels bedient; innerhalb: insoweit er selbst an sie gebunden, Träger von Rechten und Pflichten, in das Netz rechtlicher Beziehungen eingespannt und selbst Regelungsobjekt des Rechts ist.“ 84 Jellinek, Allgemeine Staatslehre (FN 83), S. 11 (siehe ferner, terminologisch leicht variierend, S. 33 [historisch-politisch vs. juristisch], 41 [historisch-sozial vs. juristisch], 50 [Doppelnatur des Staates], 63 [sozial vs. rechtlich], 137 ff. [soziale Erscheinung vs. rechtliche Seite], 287 [sozial vs. juristisch]). Dazu etwa O. Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, 1994, S. 155 ff. 85 Kersten, Jellinek (FN 83), S. 147. So auch O. Lepsius, Georg Jellineks Methodenlehre im Spiegel der zeitgenössischen Erkenntnistheorie, in: S. L. Paulson / M. Schulte (Hrsg.), Georg Jellinek. Beiträge zu Leben und Werk, 2000, S. 309 ff. (319 f., 323, 329, 331): Jellinek habe zwar die gegenstandserzeugende Bedeutung der Methode erkannt, aber von der Einheitlichkeit des Erkenntnisgegenstandes nicht gelassen. 86 Dazu Kersten, Jellinek (FN 83), S. 411 ff. 87 Kelsen, Problem der Souveränität (FN 35), S. 10 f. 88 So Kelsen, Staatsbegriff (FN 71), S. 105; ähnlich ders., Hauptprobleme (FN 19), S. XX. 89 Kelsen, Staatsbegriff (FN 71), S. 135.

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weniger. Und seine Einheit ist eben nicht eine Einheit im Wollen oder Erleben seiner Mitglieder (wie Smend dies postulierte), auch keine von einer souveränen Entscheidungsinstanz her geschaffene (wie dies wohl Carl Schmitt vorschwebte), sondern besteht schlicht in der Einheit der Rechtsordnung90. Es gibt für die juristische Betrachtung keine staatliche Macht hinter dem Recht, an das sich der Staat dann selber bindet. Sondern: Staat ist Rechtsordnung und nur Rechtsordnung, Recht ist „Existenzform des Staates“91, gleichsam seine Daseinsform. Im Einzelnen vertieft wird diese Kritik durch den Hinweis darauf, dass Jellineks sozialer Staatsbegriff („Staat ist die mit ursprünglicher Herrschermacht ausgerüstete Verbandseinheit seßhafter Menschen“92) sich von seinem juristischen Staatsbegriff („mit ursprünglicher Herrschermacht ausgerüstete Körperschaft eines seßhaften Volkes oder . . . die mit ursprünglicher Herrschermacht ausgestattete Gebietskörperschaft“)93 nur durch die Auswechslung des Terminus Verbandseinheit durch (Gebiets-)Körperschaft und Menschen durch Volk unterscheide94. Und in seiner Auseinandersetzung mit Max Weber sucht Kelsen zu belegen, dass dessen zentrale Definitionen letztlich immer und notwendig auf Rechtsbegriffe verweisen95. Bezogen auf die Drei-Elemente-Lehre Jellineks96 bedeutet das, dass es eines normativen Kriteriums (nämlich der Zurechnung) bedarf, um bestimmte Handlungen einer Person als Ausübung von Staatsgewalt zu begreifen97; dass es eines normativen Kriteriums (nämlich der Staatsangehörigkeit) bedarf, um die Zugehörigkeit bestimmter Personen zu einem Staat zu bestimmen; dass es eines normativen Kriteriums (etwa der Fixierung durch völkerrechtliche Verträge) bedarf, um das Territorium dieses Staates definitiv festzulegen. Die reine Faktizität, die „voraussetzungslose Betrachtung der 90 Kelsen, Allgemeine Staatslehre (FN 19), S. 16, 307 f. – Dazu, dass Kelsens Vorstellungen hier von der komplexen Realität der fragmentierten österreichischen Doppelmonarchie geprägt wurden, vgl. etwa M. Baldus, Habsburgian Multiethnicity and the „Unity of the State“ – On the Structural Setting of Kelsen’s Legal Thought, in: D. Diner / M. Stolleis (eds.), Hans Kelsen and Carl Schmitt. A Juxtaposition, 1999, S. 13 ff.; Walter, Hans Kelsens Rechtslehre (FN 60), S. 19. So tendenziell auch Kelsen im Selbstzeugnis (FN 16), S. 62. 91 Möllers, Staat (FN 50), S. 37 m. w. N. 92 Jellinek, Staatslehre (FN 83), S. 180 f. 93 Jellinek, Staatslehre (FN 83), S. 183. 94 Kelsen, Staatsbegriff (FN 71), S. 121 ff. 95 Kelsen, Staatsbegriff (FN 71), S. 156 ff.; dazu Möllers, Staat (FN 50), S. 41 ff. 96 Jellinek, Staatslehre (FN 83), S. 394 ff. (Staatsgebiet), 406 ff. (Staatsvolk), 427 ff. (Staatsgewalt). Zur anhaltenden Tragfähigkeit dieser Lehre gerade auch im Völkerrecht vgl. J. Isensee, Staat und Verfassung, in: HStR, Bd. II, 3. Aufl. 2004, § 15 Rn. 49 ff.; H. Maurer, Staatsrecht I, 4. Aufl. 2005, § 1 Rn. 5 f. sowie T. Stein / C. v. Buttlar, Völkerrecht, 11. Aufl. 2005, Rn. 250 ff. (alle m. w. N.). 97 Hierzu und zum Folgenden sehr klar R. Thienel, Recht und Staat aus der Sicht der Reinen Rechtslehre, in: Walter, Schwerpunkte (FN 37), S. 71 ff. (71 ff., 81 ff.); siehe auch Walter, Hans Kelsens Rechtslehre (FN 60), S. 27 f.

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sozialen Realität“98, sagt hier über die entscheidende Qualifizierung nichts aus und kann dies auch gar nicht tun. Erst im Horizont einer normativen Ordnung und bei deren Zugrundelegung wird aus der Wegnahme einer Sache eine Zwangsvollstreckung als Ausübung von Staatsgewalt, erst sie formt aus der Verbindung einer Person zu einem sozialen Verband die Staatsangehörigkeit und macht die Person zum Teil des Staatsvolks, erst sie sagt uns, ob eine sonnenverwöhnte Insel in der Ostsee zum Staatsgebiet der Bundesrepublik Deutschland gehört. Wenn diese normative Ordnung aber der Staat ist, so kann es zwischen Staat und Recht keinen Dualismus geben99. III. Elemente der Staatsrechtskonzeption Fragen wir nun nach einigen Konsequenzen von Kelsens Konzeption für einschlägige Aspekte des Staatsrechts.

1. Ablehnung der Selbstverpflichtungslehre Jellineks

Als erstes ist hier die Ablehnung der Selbstbindungslehre Jellineks zu nennen. Für jenen bildet diese bekanntlich den zentralen „Schnittpunkt“100 zwischen sozialer und rechtlicher Staatsbetrachtung. Der Staat, als irgendwie vorgegebene Machteinheit konzipiert, unterwirft sich selbst der von ihm geschaffenen Rechtsordnung, bindet sich an sie101. Kelsen akzeptiert jedoch die Vorstellung nicht, dass gleichsam hinter dem Recht eine faktische Macht steht, die das Recht hervorbringt und sich selbst daran bindet – und der Staat sich somit, wie es in einem kleinen Wortspiel heißt, dadurch rechtfertigt, dass er das Recht fertigt102. Es ist ihm ein leichtes, die Widersprüche und logischen Unvereinbarkeiten dieser Konstruktion aufzuzeigen: normative Selbstbindung könne nur dort möglich sein, wo Normativität bereits bestehe; das Hin- und Herschwanken der Jellinekschen These zwischen Staat als Normativum und Faktum, als rechtlose Machteinheit und genormte Ordnung mache den Staat der Selbstverpflichtungslehre „zu einem wahrhaft grotesken Fabelwesen; halb Rechtsordnung, halb Naturding“103. Und nicht zufällig präsentiert er hier eine der von ihm prononciert und stets in 98

Thienel, Recht (FN 97), S. 73. Thienel, Recht (FN 97), S. 75: „Damit erweist sich aber das Problem ihres wechselseitigen Verhältnisses als ein Scheinproblem, das sich nur aus der unreflektierten Annahme eines ,sozialen Gebildes Staat‘ ergibt.“ 100 Eingehend Kersten, Jellinek (FN 83), S. 174 ff., 251 f., 414. 101 Vgl. Jellinek, Staatslehre (FN 83), S. 367 ff. 102 Kelsen, RR2 (FN 13), S. 288. 103 Kelsen, Problem der Souveränität (FN 35), S. 201; vgl. ders., Allgemeine Staatslehre (FN 19), S. 74 ff. 99

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kritischer Absicht vorgetragenen Parallelen zwischen Theologie und Jurisprudenz104: Da herrschender Doktrin zufolge Gott mit der Welt ebensowenig identisch sei wie der Staat mit dem Recht, Gott der Welt, der Staat dem Recht transzendent sei, entspreche die Theorie der Selbstverpflichtung des Staates dem „Dogma von der Menschwerdung Gottes“105. Dabei entgeht Kelsen natürlich nicht106, dass hinter der Jellinekschen Konstruktion letztlich das politische Bemühen steht, eine Deutung für die schwierige Rechtslage des „dualistischen“ Konstitutionalismus zu finden, in der sich der gleichsam vorrechtlich postulierte Anspruch auf Innehabung der souveränen Staatsgewalt im monarchischen Prinzip, der Akt der Selbstbindung dann aber in den konstitutionellen Verfassungen zum Ausdruck brachte107. Kelsen versteht die Motive hierfür durchaus. Doch kann dies zum einen die methodische Kritik nicht überspielen. Und zum zweiten zeigt er auf, dass die von Jellinek vor dem Hintergrund eines gereiften Kulturstaates ausgesprochene Erwartung der Selbstbindung des Staates an gewisse Mindeststandards ihrer immanenten Konstruktion gemäß eben nicht verhindern könne, dass dieser Staat seine Selbstbindung soweit reduziert, dass der Bürger auf den Status eines Staatssklaven herabgedrückt wird108. Und auch hier behielt der vermeintlich weltferne Begriffslegespieler109 letztlich Recht.

2. Negation ungeschriebenen Staatsnotrechtes

Aus der Ablehnung der Selbstverpflichtungslehre folgte die Absage an jedwedes Ausnahmerecht, also der Annahme einer Notstandslage des Staates, in dem dieser sich zwar über das positive Recht hinwegsetzt, sich 104 Kelsen, Gott und Staat (FN 77), S. 183 ff.; siehe auch ders., Allgemeine Staatslehre (FN 19), S. 76, 78. Zu dieser Parallele von Gott und Staat näher Dreier, Rechtslehre (FN 18), S. 214 ff. 105 Kelsen, Allgemeine Staatslehre (FN 19), S. 76; ebd., S. 78 fährt er fort: „Als einen ,Minotaurus‘ bezeichneten gewisse Ketzer den Gott der Theologen, der halb Mensch, halb Übermensch sei: als ,Fabelwesen‘ verwarf die Kritik den Staat, der nach herrschender Staatsrechtslehre halb Rechtsperson, halb naturhaftes Machtwesen sein sollte.“ 106 Kelsen, Problem der Souveränität (FN 35), S. 132 ff.; ders., Allgemeine Staatslehre (FN 19), S. 74. 107 Kersten, Jellinek (FN 83), S. 175, der ausdrücklich zugesteht: „Kelsens politischer Ideologieverdacht gegenüber der Selbstbindungslehre Jellineks verfängt durchaus.“ 108 Kelsen, Problem der Souveränität (FN 35), S. 45 ff. Siehe dazu auch kurz Möllers, Staat (FN 50), S. 39; näher Kersten, Jellinek (FN 83), S. 176. 109 Formulierung in Anlehnung an Hellers Kelsen-Kritik: „Begriffslegespiel“ (H. Heller, Die Souveränität, 1927, S. 21 FN 2; gleichsinnig ders., Bemerkungen [FN 71], S. 349 f.); vgl. dazu T. Vesting, Aporien des rechtswissenschaftlichen Formalismus – Hermann Hellers Kritik an der Reinen Rechtslehre, ARSP 77 (1991), S. 348 ff. (356 ff.).

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gleichwohl aber (wie der Terminus des Ausnahmerechtes indiziert) nicht auf reine Gewalt oder faktische Zwänge, sondern auf eine juristisch legitimierbare Grundlage stützen will110. Kelsen sieht einen Hauptzweck der Selbstverpflichtungslehre geradezu darin, dem Staat auch dort noch eine irgendwie rechtlich legitimierbare Handlungs- und Entscheidungskompetenz einzuräumen, wo der Boden des positiven Rechts längst verlassen ist111. Die These von der Selbstverpflichtung des Staates impliziere die – natürlich immer nur temporäre und partielle – Möglichkeit der Befreiung von den selbstauferlegten Pflichten. Denn der Dualismus von Staat und Recht ermögliche es, außer und über dem gesatzten Recht noch eine zweite Rechtsebene zu etablieren, die im Bedarfsfalle gegen das positive Recht in Stellung gebracht werden kann, um so „das Zauberstück zu vollbringen, aus Nichtrecht Recht, aus einem nackten Machtakt einen Rechtsakt zu deuten.“112 Kelsens methoden- wie ideologiekritische Auflösung des Dualismus von Staat und Recht zugunsten seiner Identitätsthese führt hingegen zu einer umfassenden Ver-Rechtlichung des Staates, der als „rechtsfremde Macht“113 damit konstruktiv ausgeschlossen ist. Ver-Rechtlichung meint hier nicht politisches Postulat oder Beschreibung einer Normenflut, sondern rechtstheoretisches Prinzip114. Staatliche Funktionsausübung ohne normative Basis in der Rechtsordnung, aber mit Anspruch auf juristische Relevanz ist ihm schlicht eine „Denkunmöglichkeit“115. Die Reduktion staatlicher Handlungen auf ihr rechtliches Fundament nötigt dazu, alles, was einer derartigen Grundlage entbehrt, lediglich als Ausdruck überlegener Machtausübung zu begreifen116. Dabei ähnelt die Aussage Kelsens, wonach „kein Stück des Staates außerhalb des Rechts . . . fällt“117, vielleicht nicht von ungefähr der bekannten Wendung, in der Demokratie könne es nur so viel an Staat geben, wie die Verfassung zum Entstehen bringt118. Abgelehnt wird hier wie dort ein vorpositives Staatsnotrecht nach Art Carl Schmitts, für den sich ein solches zwingend aus der „Überlegenheit des 110 Zum Folgenden Dreier, Rechtslehre (FN 18), S. 212 f., 219 ff.; Thienel, Recht (FN 97), S. 76. 111 Dies auch und gerade in Bezug auf Jellineks Selbstverpflichtungslehre: vgl. Kelsen, Staatsbegriff (FN 71), S. 137 ff. 112 Kelsen, Gott und Staat (FN 77), S. 188. Siehe auch ders., RR2 (FN 13), S. 288. 113 Kelsen, Allgemeine Staatslehre (FN 19), S. 75. 114 Eingehend W. Ebenstein, Die rechtsphilosophische Schule der Reinen Rechtslehre, 1938 (ND 1969), S. 162 ff. 115 So A. Merkl, Die Rechtseinheit des österreichischen Staates (1918), in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule (FN 17), S. 1115 ff. (1121). 116 Freilich schraubt Kelsen die Anforderungen an das Vorliegen einer solchen rechtlichen Ermächtigung nicht allzu hoch. Vgl. Dreier, Rechtslehre (FN 18), S. 219 f. 117 Kelsen, Staatsbegriff (FN 71), S. 88. Natürlich muss Kelsen alle positiv-rechtlichen Notstandsregelungen (wie etwa Art. 48 WRV) akzeptieren – nicht anders als alle sonstigen Inhalte einer Rechtsordnung. 118 A. Arndt, Umwelt und Recht, NJW 1963, S. 24 ff. (25). Bekräftigend P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 620.

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Existentiellen über die bloße Normativität“119 ergibt. Für Kelsen hingegen existieren angeborene Rechte des Einzelnen ebensowenig wie solche des Staates120.

3. Pluralistisches Gemeinwohlkonzept

Eng verknüpft damit ist die Vorstellung Kelsens, dass auch und vor allem die Einheit des Staates allein in seiner Rechtsordnung beschlossen liegt121. In der realen Gesellschaft sieht er nur verschiedene Interessengruppen, Zwistigkeiten, Konflikte und Kontroversen. Faktische Einheit des politischen Gemeinwesens ist für ihn eine Fiktion122. Kein Staat als vorrechtliche, dieser Pluralität gegenüber gleichsam „a priori vorhandene Wesenheit“123 wird akzeptiert, schon gar nicht als Hüter oder Wahrer eines diesen gesellschaftlichen Kräften enthobenen oder vorgeordneten Gemeinwohls. 119 C. Schmitt, Verfassungslehre, 1928, S. 107; ders., Politische Theologie (Zweite Ausgabe 1932), 4. Aufl. 1985, mit dem berühmten Eingangssatz (S. 11): „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet.“ Zu seiner Konzeption näher Hofmann, Legitimität (FN 74), S. 55 ff.; ders., „Souverän ist, wer über den Ausnahmezustand entscheidet“, Der Staat 44 (2005), S. 171 ff.; Heinrich Meier, Die Lehre Carl Schmitts, 1994, S. 51 ff.; R. Mehring, Macht im Recht. Carl Schmitts Rechtsbegriff in seiner Entwicklung, Der Staat 43 (2004), S. 1 ff. (7 ff.). – Die Fortsetzung der Diskussion in der Bundesrepublik erfolgte im Zusammenhang mit der Notstandsgesetzgebung und später erneut unter dem Eindruck terroristischer Bedrohung durch die RAF. Gute Übersicht zu den verschiedenen Positionen bei A. Jakab, Das Grunddilemma und die Natur des Staatsnotstandes, KritJ 38 (2005), S. 323 ff. mit der Unterscheidung zwischen staats- und verfassungszentrierten Autoren (S. 329 ff.) sowie der Feststellung, dass die Ansicht K. Hesses der von Kelsen „eigentlich ähnlich“ sei (S. 332 Fn. 46). Eingehende Diskussion der Grundsatzfragen bei E.-W. Böckenförde, Der verdrängte Ausnahmezustand, NJW 1978, S. 1881 ff. (mit sprechender Widmung) sowie Entgegnung namentlich von G. Lübbe-Wolff, Rechtsstaat und Ausnahmerecht, ZParl. 12 (1980), S. 110 ff. (und dazu wiederum E.-W. Böckenförde, Rechtsstaat und Ausnahmerecht. Eine Erwiderung, ZParl. 12 [1980], S. 591 ff.). 120 Vgl. Ebenstein, Schule (FN 114), S. 166. Deutlich Kelsen, Allgemeine Staatslehre (FN 19), S. 157: „Als Gegenstück zu den natürlichen, angeborenen Grundund Freiheitsrechten des Untertanen behauptet man mitunter auch eine Art natürliches Recht des Staates, das aus der Tatsache seiner Existenz schlechthin folge, das er jedoch nur im Falle eines Notstandes auszuüben befugt sei. ( . . . ) Man spricht von einem Staatsnotrecht und argumentiert etwa in der Weise: der Staat muß eben leben, und wenn dies auf rechtmäßigem Wege unmöglich ist, sind die höchsten Organe des Staates und vor allem das höchste Organ, der Monarch, verpflichtet alles zu tun, um den Staat zu erhalten. Dabei handelt es sich natürlich nur um ein politisch-naturrechtliches Räsonnement, das sich – wie gewöhnlich – als positives Recht zu geben versucht. Hinter der treuherzigen Versicherung, daß der Staat ,leben‘ müsse, verbirgt sich meist nur der rücksichtslose Wille, daß der Staat so leben müsse, wie es diejenigen für richtig halten, die sich der Rechtfertigung eines ,Staatsnotrechtes‘ bedienen.“ 121 Zum Folgenden Dreier, Rechtslehre (FN 18), S. 223 ff.; siehe auch R. C. van Ooyen, Politik und Verfassung, 2006, S. 17 ff. 122 So Möllers, Staat (FN 50), S. 37. 123 Treffend C. Roehrssen, Die Kelsensche Auffassung vom Recht als ein Ausdruck der modernen sozio-politischen Struktur, Der Staat 21 (1982), S. 231 ff. (232).

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Staat als Inbegriff einer über den gesellschaftlichen Partikularinteressen stehenden höheren Entität ist für Kelsen nichts anderes als „obrigkeitsstaatlicher Mythos“124. Der sich in der Rechtsordnung realisierende Wille der Gemeinschaft bildet vielmehr, wie er schon in seiner Habilitationsschrift vor mittlerweile fast einhundert Jahren betont hat, nichts anderes als die Resultante der divergierenden Interessen ab125. Deswegen ist ihm die „Vorstellung eines einheitlichen Staatswillens oder einer einheitlichen Staatsperson . . . nur ein Ausdruck für die Einheitlichkeit der Organisation, für die Einheitlichkeit der Rechtsordnung“126. Der Gemeinschaftswille kann ihm zufolge also, „wenn er nicht einseitig das Interesse nur einer Gruppe ausdrücken soll, nichts anderes als die Resultante, das (sic) Kompromiss zwischen entgegengesetzten Interessen sein“127. Angesichts dieser widerstreitenden Gruppeninteressen bleibt für eine von den prozeduralen und materialen Regeln der Rechtsordnung losgelöste Gemeinwohlkategorie schlicht „kein Raum“128 mehr. Es verwundert von daher keineswegs, wenn man in Kelsen einen frühen Vorläufer und eigentlichen Begründer der modernen Pluralismustheorie gesehen hat – verwunderlich ist allein, dass dies so spät geschah129.

4. Offene Souveränitätskonzeption und Europäische Union

Auch das Konzept der Souveränität bleibt von Kelsens Purifizierungsund Entsubstantialisierungsstrategie nicht unberührt130. Souveränität bedeutet für ihn nicht faktische Überlegenheit, also ein Machtplus gegenüber anderen Machtquanten, sondern ist letztlich identisch mit dem Zu-Höchst124

van Ooyen, Politik (FN 121), S. 18. Kelsen, Hauptprobleme (FN 19), S. 479: „Es gibt eben überhaupt kein ,Gemeininteresse‘, sondern immer nur Gruppeninteressen, die auf irgendeine Weise die staatliche Macht, den Staatswillen für sich gewinnen. ( . . . ) . . . und erst die Resultante all dieser zusammenwirkenden Kräfte findet im Staatswillen ihren Ausdruck.“; vgl. auch ebd., S. 173 und Kelsen, Allgemeine Staatslehre (FN 19), S. 7 ff. 126 H. Kelsen, Über Grenzen zwischen juristischer und soziologischer Methode, 1911 (ND 1970), S. 57 f.; siehe auch Kelsen, Hauptprobleme (FN 19), S. 163 ff. 127 H. Kelsen, Vom Wesen und Wert der Demokratie, 2. Aufl. 1929 (ND 1981), S. 22 (ähnlich S. 15). 128 Treffend Möllers, Staat (FN 50), S. 40. 129 Siehe nunmehr van Ooyen, Staat der Moderne (FN 72), passim. Prägnant O. Lepsius, Wiedergelesen: Hans Kelsen: Allgemeine Staatslehre, 1925, JZ 2004, S. 34 (35): „Kelsens Demokratietheorie ist eine frühe Pluralismustheorie“. 130 Näher zum Souveränitätskonzept M. W. Hebeisen, Souveränität in Frage gestellt. Die Souveränitätslehren von Hans Kelsen, Carl Schmitt und Hermann Heller im Vergleich, 1995, S. 157 ff.; T. Reichelt, Was bleibt von Kelsens Souveränitätsbegriff?, ZöR 61 (2006), S. 527 ff. – Speziell zur wichtigen völkerrechtlichen Seite eingehend A. Rub, Hans Kelsens Völkerrechtslehre. Versuch einer Würdigung, 1995; J. Graf v. Bernstorff, Der Glaube an das universale Recht. Zur Völkerrechtstheorie Hans Kelsens und seiner Schüler, 2001; ferner die Beiträge in R. Walter / C. Jabloner / K. Zeleny (Hrsg.), Hans Kelsen und das Völkerrecht, 2004. 125

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Sein einer Rechtsordnung131. Und da sich über der staatlichen Rechtsordnung die des Völkerrechts etabliert, kommt es für Reichweite wie Beschränkung letztlich auf dieses Verhältnis an. Im Ergebnis sind hier sehr fluide Gestaltungsmöglichkeiten denkbar132. So ist es dem Staat, wie Kelsen ausdrücklich betont, unbenommen, seine Souveränität so weit einzuschränken, dass er des Staatscharakters verlustig geht. Ohne die seinerzeit erst in Ansätzen erkennbar werdende Europäische Gemeinschaft mit ihren heute die Rechtsordnung der Mitgliedstaaten tief prägenden Merkmalen ausdrücklich zu erwähnen, heißt es in gleichsam sachlicher Vorwegnahme in der zweiten Auflage der Reinen Rechtslehre: „Durch völkerrechtlichen Vertrag kann eine internationale Organisation geschaffen werden, die so zentralisiert ist, daß sie selbst Staatscharakter hat, so daß die vertragschließenden Staaten, die ihr eingegliedert sind, ihren Charakter als Staaten verlieren.“133 Es gibt also für ihn keinen im Begriff oder dem „Wesen“ der Souveränität liegenden Hinderungsgrund, den Staat in weitgehender, nämlich den Verlust vormals nationaler Kompetenzen einschließender Weise in eine supranationale Organisation einzubinden. Es ist kein Zufall, dass Kelsens Konzeption einschließlich seiner Grundnorm-Konstruktion und der Stufenbaulehre als besonders fruchtbar für die Analyse der schwierigen Frage des Verhältnisses von mitgliedstaatlicher und supranationaler Rechtsebene angesehen wurde134. Das gilt insbesondere für die Konstruierbarkeit einer autonomen europäischen Gemeinschaftsrechtsordnung, zu der festgestellt wurde: „Rechtstheoretisch läßt sich die dahinterstehende Konstruktion am präzisesten mit dem begrifflichen Apparat derjenigen Theorielinie nachzeichnen, die von jeher die Auflösung des Staats- im Rechtsbegriff verfolgt hat: der Reinen Rechtslehre Hans Kelsens, Adolf Merkls und ihrer Nachfolger. Im Lichte der zentralen Kategorien des ,Wiener‘ Rechtsparadigmas – Stufenbau der Rechtsordnung und Grundnorm – wird deutlich, daß die 131 Kompakte Zusammenfassung: Kelsen, Allgemeine Staatslehre (FN 19), S. 102 ff., 115 ff.; zum Verhältnis von Staat und Völkerrecht sowie der „Unvermeidlichkeit einer monistischen Konstruktion“ ders., RR2 (FN 13), S. 321 ff., 333 ff. 132 C. Jabloner, Wie zeitgemäß ist die Reine Rechtslehre?, Rechtstheorie 29 (1998), S. 1 ff. (19) sieht die Fruchtbarkeit des Kelsenschen Ansatzes gerade darin, „das starre 0 / 1-Schema, das mit dem Souveränitätsdogma verbunden ist, zugunsten eines Modells der sukzessiven Verlagerung ehemals staatlicher Kompetenzen an zwischenstaatliche Organisationen zu ersetzen.“ 133 Kelsen, RR2 (FN 13), S. 343. 134 Vgl. (mit im Einzelnen unterschiedlichen Akzenten) W.-D. Grussmann, Grundnorm und Supranationalität – Rechtsstrukturelle Sichtweisen der europäischen Integration, in: T. v. Danwitz (Hrsg.), Auf dem Wege zu einer europäischen Staatlichkeit, 1993, S. 47 ff. (58 ff.); M. Baldus, Zur Relevanz des Souveränitätsproblems für die Wissenschaft vom öffentlichen Recht, Der Staat 36 (1997), S. 381 ff. (395 ff.); T. Schilling, Zum Verhältnis von Gemeinschafts- und nationalem Recht, ZfRV 1998, S. 149 ff.; sehr kritisch zur Leistungsfähigkeit der Reinen Rechtslehre, aber auch angreifbar W. Schroeder, Das Gemeinschaftsrechtssystem, 2002, S. 205 ff. (Gegenkritik bei H. Mayer, Reine Rechtslehre und Gemeinschaftsrecht, in: Walter / Jabloner / Zeleny, Völkerrecht [FN 130], S. 121 ff. [123, 127 ff.]).

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Konstruktion einer autonomen europäischen Gemeinschaftsrechtsordnung auf nicht weniger als die Annahme einer eigenen supranationalen ,Grundnorm‘ hinausläuft, d. h. auf eine höchste vorausgesetzte Norm, die den Geltungsgrund der normativen Ordnung des Europarechts bildet.“135 Kelsens Theorie lässt es gerade wegen der Reduktion des Staates auf die Rechtsordnung zu, sich ganz auf die Wirksamkeit der supranationalen Rechtsordnung zu konzentrieren und die sonst im Vordergrund stehende Frage, welche „staatliche Gestalt“ (Staat, Staatenbund, Bundesstaat) die Europäische Union repräsentiert, als letztlich unergiebig außer Acht zu lassen136. Selbst eher kelsenkritische Autoren räumen ein, dass sich das umstrittene Verhältnis von Gemeinschaftsrecht und mitgliedstaatlichem Recht mit Hilfe der Begrifflichkeit der Reinen Rechtslehre zumindest präzisierend erfassen, wenn auch letztendlich nicht in der Sache entscheiden lasse137.

5. Verfassungsgerichtsbarkeit

Nicht unerwähnt sei schließlich in dieser knappen Rekapitulation einiger Eckpunkte der Staatsrechtslehre Kelsens die Verfassungsgerichtsbarkeit138, deren Institutionalisierung in der Österreichischen Bundesverfassung von 1920 (BVG) wesentlich auf seine Initiative zurückzuführen ist139. Über Organstreitigkeiten und die Regelung föderaler Konflikte ging man hier erstmals weit hinaus und trug neben der föderalen Hierarchie (also der Suprematie des Bundesstaates über die einzelnen Länder) auch der Hierarchie der Normen (also dem Vorrang der Verfassung gegenüber Bundesgesetzen) Rechnung. Eine mit der Kompetenz zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit 135 M. Kaufmann, Permanente Verfassunggebung und verfassungsrechtliche Selbstbindung im europäischen Staatenverbund, Der Staat 36 (1997), S. 521 ff. (527). 136 W. Pauly, Concepts of Universality – Hans Kelsen on Sovereignty and International Order, in: Diner / Stolleis, Hans Kelsen (FN 90), S. 45 ff. (48 f.). 137 Siehe T. Öhlinger, Die Einheit des Rechts. Völkerrecht, Europarecht und staatliches Recht als einheitliches Rechtssystem?, in: Paulson / Stolleis, Hans Kelsen (FN 42), S. 160 ff. (169 f.). 138 Eingehend H. Kelsen, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 30 ff., der mit diesem Referat seinerzeit überwiegend auf Unverständnis und Ablehnung stieß. Siehe Jakab, Probleme (FN 40), S. 361 f.: „Durch ihre Betonung des Rechtsanwendungscharakters der Rechtsetzung (und insb. der Gesetzgebung) befürwortete die Stufenbaulehre auch die Möglichkeit der richterlichen Kontrolle des Gesetzgebers. Somit hat sie die rechtstheoretische Grundlage für die Verfassungsgerichtsbarkeit geliefert und damit zur Entfaltung der Rechtsstaatlichkeit beigetragen.“ 139 Vgl. im Einzelnen F. Ermacora, Österreichs Bundesverfassung und Hans Kelsen, in: FS Kelsen, 1971, S. 22 ff.; H. Haller, Die Prüfung von Gesetzen, 1979, S. 30 ff., 45 ff., 68 ff.; G. Stourzh, Hans Kelsen, die österreichische Bundesverfassung und die rechtsstaatliche Demokratie, in: Die Reine Rechtslehre in wissenschaftlicher Diskussion, 1982, S. 7 ff.; N. Leser, Hans Kelsen und die österreichische Bundesverfassung, in: Österreichische Parlamentarische Gesellschaft (Hrsg.), 75 Jahre Bundesverfassung, 1995, S. 789 ff.

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von Gesetzen ausgestattete Gerichtsbarkeit fügt sich allein wegen der Stufenbaulehre auf leicht einsichtige und geradezu elegante Art und Weise in das Arsenal rechtsstaatlicher Kontrollmechanismen140. Denn wenn, der Idee des Rechtsstaates gemäß, die Übereinstimmung einer rangniederen Norm (wie einer Satzung oder Verordnung) mit der ranghöheren Norm (etwa einem Landes- oder Bundesgesetz) gerichtlicher Kontrolle zugänglich ist, gibt es keinen prinzipiellen Grund dafür, davon Normen auf der Stufe formeller Gesetze auszunehmen141. Der Verwaltungsgerichtsbarkeit korrespondiert so zwanglos eine „Gesetzgebungsgerichtsbarkeit“142. Demgemäß ist der österreichische Verfassungsgerichtshof im sechsten Hauptstück des BVG neben dem Verwaltungsgerichtshof in sinnfälliger Weise unter der Rubrik „Garantien der Verfassung und Verwaltung“ aufgeführt143.

6. Zwischenbilanz

Mit diesen Beispielen der Elemente von Kelsens Staatslehre mag es hier sein Bewenden haben, obwohl sich weitere Aspekte wie seine Ablehnung einer kategorialen Trennung von öffentlichem und privatem Recht, sein dreigliedriger Bundesstaatsbegriff oder sein ideologiefreier Zugriff auf das Problem einer Demokratisierung der Verwaltung anführen und erläutern ließen. Anzudeuten war lediglich, dass sich seine Konzeption vielleicht doch nicht in einer Ansammlung vermeintlicher Obskuritäten oder purer Normlogeleien erschöpft und insgesamt weniger den „Nullpunkt“144 der Staats-

140 Vgl. R. Walter, Die mitteleuropäische Verfassungsgerichtsbarkeit und die Reine Rechtslehre, Österreichische Richterzeitung 1993, S. 266 ff. (267). – Zu weit geht es hingegen, in der Verfassungsgerichtsbarkeit den eigentlichen Sinn der Reinen Rechtslehre zu sehen (so R. Marcic, Verfassungsgerichtsbarkeit als Sinn der Reinen Rechtslehre, in: Die moderne Demokratie und ihr Recht. Festschrift für Gerhard Leibholz, Bd. II, 1966, S. 481 ff.). 141 H. Triepel, Wesen und Entwicklung der Staatsgerichtsbarkeit, VVDStRL 5 (1929), S. 2 ff. (8) hatte hingegen konstatiert: „das Wesen der Verfassung steht bis zu gewissem Grade mit dem Wesen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Widerspruch.“ 142 Dieser treffende Terminus bei K. Schlaich / S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht. Stellung, Verfahren, Entscheidungen, 6. Aufl. 2004, Rn. 6. Die Verfassungsgerichtsbarkeit erscheint hier also nur als Unterfall einer allgemeinen gerichtlichen Normenkontrolle: H. Wendenburg, Die Debatte um die Verfassungsgerichtsbarkeit und der Methodenstreit der Staatslehre in der Weimarer Republik, 1984, S. 130 ff. (dort S. 133 ff. auch der richtige Hinweis darauf, dass Kelsen immer für möglichst präzise Normen als Kontrollmaßstäbe eingetreten ist, um es nicht zu einer Machtverschiebung vom demokratisch legitimierten Gesetzgeber auf die Judikative kommen zu lassen). 143 H. Kelsen, Die Entwicklung des Staatsrechts in Oesterreich seit dem Jahre 1918, in: G. Anschütz / R. Thoma (Hrsg.), Handbuch des Deutschen Staatsrechts, Bd. I, 1930, S. 147 ff. (158) sprach davon, dass die österreichische Verfassung von 1920 von Anbeginn Garantien „nicht nur für die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, sondern auch für die Verfassungsmäßigkeit der Gesetzgebung“ enthalten habe. 144 Vgl. oben FN 2.

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rechtslehre als den Zielpunkt einer zutiefst nicht-ontologischen, relativistischen und vor allem pluralistischen Sicht des Staates markiert, die gerade deshalb erstaunlich modern anmutet145.

IV. Zu Kelsens „Theorie der Interpretation“ 1. Fehlen einer Methodenlehre

Wenn man wie Kelsen eine so starke Betonung auf die Wissenschaftlichkeit der Jurisprudenz legt und beständig die Warnung vor einem verderblichen Methodensynkretismus erklingen lässt, so wäre eigentlich die Erwartung nicht unplausibel, dass die Reine Rechtslehre auch eine ausgefeilte Methodenlehre und damit eine wissenschaftlichen Standards gerecht werdende Anleitung für die Auslegung der Rechtsnormen böte. Kelsen nährt diese Vermutung insofern, als er im Vorwort zur zweiten Auflage der Reinen Rechtslehre davon spricht, diese sei zwar eine „allgemeine Rechtslehre, nicht Interpretation besonderer nationaler oder internationaler Rechtsnormen“, um fortzufahren: „Aber sie gibt eine Theorie der Interpretation.“146 Freilich wird zutiefst enttäuscht sein, wer sich nun etwa nach Art der gängigen Methodenlehrbücher oder der sehr viel feiner ziselierten juristischen Methodik Friedrich Müllers Aufschluss über die hermeneutische Deutungsarbeit und die dazu erforderlichen gedanklichen Schritte erhofft147. Zu den traditionellen canones hören wir nur andeutungsweise etwas, über Probleme des Sinnverstehens, den hermeneutischen Zirkel etwa, findet sich praktisch nichts. Und den methodologischen Argumentationsfiguren der Analogie oder des argumentum e contrario bescheinigt er schlicht Unbrauchbarkeit148. Auch dem für die klassische „juristische Methode“ zentralen Ge145 Zur Anschlussfähigkeit Kelsens für die heutige Staatsdiskussion (gerade im Vergleich zu anderen Weimarer Staatsrechtslehrern) etwa Lepsius, Wiederentdeckung (FN 48), S. 369 ff.; ders., Wiedergelesen (FN 129), S. 34 f.; bezogen auf die verständige Deutung des Grundgesetzes ähnlich P. Unruh, Weimarer Staatsrechtslehre und Grundgesetz, 2004, S. 56 ff. 146 Kelsen, RR2 (FN 13), S. 1. Dieser Satz fehlt in der ersten Auflage, obwohl sich der gesamte Abschnitt (im Unterschied zu anderen) kaum wesentlich verändert hat. 147 Fast schon verzweifelt Jesch, Rezension (FN 10), S. 436: „Notwendigerweise muss es doch nun Aufgabe der Wissenschaft sein, den Inhalt dieses Wertes zu ermitteln und den Sinngehalt zu beschreiben, d. h. die Norm zu interpretieren. Aber gerade von dieser zentralen Aufgabe einer dogmatischen Jurisprudenz . . . hören wir in der zweiten Aufl. genau so viel – oder richtiger . . . genau so wenig – wie in der ersten.“ – Es zeigt sich, dass Kelsen unter „Interpretation“ eben nicht vorrangig die klassischen Auslegungsmethoden fasst, sondern den Ausdruck in einem anderen und weiteren Sinn versteht (H. Mayer, Die Interpretationstheorie der Reinen Rechtslehre, in: Walter, Schwerpunkte [FN 37], S. 61 ff. [61 f.]). 148 Kelsen, RR (FN 13), S. 96 f. (gleichlautend ders., RR2 [FN 13], S. 350): „Daß die üblichen Interpretationsmittel des argumentum a [sic] contrario und der Analogie völlig wertlos sind, geht schon daraus zur Genüge hervor, daß beide zu entgegengesetzten Resultaten führen und es kein Kriterium dafür gibt, wann das eine oder das andere zur Anwendung kommen soll.“

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danken einer rechtsgestalterischen Begriffsarbeit steht Kelsen denkbar fern149. Unzutreffend ist es daher, ihn einfach der (zudem noch viel zu eng verstandenen) „juristischen Methode“ des 19. Jahrhunderts mit ihrem staatsrechtlichen Hauptprotagonisten Laband zuzuschlagen150. Er war vielmehr von großer Skepsis gegenüber den Möglichkeiten rechtswissenschaftlicher Auslegung mit entsprechender Deutungssicherheit geprägt151. Was bietet er stattdessen im letzten, „Die Interpretation“ überschriebenen Kapitel152 seiner Reinen Rechtslehre?153 Er zieht aus der Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung zunächst die Konsequenz struktureller Offenheit des Normkonkretisierungsprozesses (dazu 2.) und unterscheidet sodann strikt zwischen authentischer und nicht-authentischer (d. h.: rechtswissenschaftlicher) Interpretation (3.).

2. Rechtsanwendung im Stufenbau

Im Anschluss an grundlegende Einsichten Adolf Merkls begreift Kelsen die Rechtsordnung nicht allein als Summe genereller Rechtsnormen einschließlich des Gewohnheitsrechts, sondern als Gesamtheit aller auf den verschiedenen Rechtsebenen erzeugten Rechtsakte: von der Verfassung über Gesetze und Verordnungen bis hin zu richterlichen Urteilen, behördlichen Entscheidungen und zwischen Privatpersonen geschlossenen Verträgen154. 149 Zur Ablehnung der Begriffsjurisprudenz H. Kelsen, VVDStRL 5 (1929), S. 119 f. (Diskussionsbemerkung); ders., RR (FN 13), S. 99 f.; ders., RR2 (FN 13), S. 353. Aus der Sekundärliteratur nur R. Walter, Das Auslegungsproblem im Lichte der Reinen Rechtslehre, in: FS Klug, Bd. I, 1983, S. 187 ff. (190 f.). 150 So etwa M. Schulte, Hans Kelsens Beitrag zum Methodenstreit der Weimarer Staatsrechtslehre, in: Paulson / Stolleis, Hans Kelsen (FN 42), S. 248 ff. (255 ff.). Treffend hingegen Möllers, Staat (FN 50), S. 37 m. Anm. 7. Sehr klar zu Laband insofern M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, 1992, S. 341 ff. 151 Dazu aus der jüngeren Literatur: C. Jabloner, Kein Imperativ ohne Imperator – Anmerkungen zu einer Theorie Kelsens, in: R. Walter (Hrsg.), Untersuchungen zur Reinen Rechtslehre II, 1988, S. 23 ff. (77 f., 88 f.); Möllers, Staat (FN 50), S. 37 ff.; Handstanger, Bedeutung (FN 15), S. 623; w. N. bei A. Balthasar, Wie viel Reinheit braucht und wie viel verträgt die Reine Rechtslehre?, ZöR 61 (2006), S. 553 ff. (558 Fn. 22). 152 Das Schlusskapitel bildet es erst bei Kelsen, RR2 (FN 13), S. 346 ff.; in der ersten Auflage (Kelsen, RR [FN 13], S. 90 ff.) wird die Interpretation noch im sechsten von insgesamt neun Kapiteln behandelt. 153 Zum Folgenden Dreier, Rechtslehre (FN 18), S. 145 ff. m. w. N.; aus der danach erschienenen Literatur etwa C. Schwaighofer, Kelsen zum Problem der Rechtsauslegung, in: Paulson / Walter, Untersuchungen (FN 42), S. 232 ff.; R. Lippold, Recht und Ordnung, 2000, S. 374 ff.; Handstanger, Bedeutung (FN 15), S. 622 ff. – Siehe auch die folgenden Fußnoten. 154 Zur Stufenbaulehre Dreier, Rechtslehre (FN 18), S. 129 ff. m. w. N.; aus der später erschienenen Literatur vor allem Walter, Hans Kelsens Rechtslehre (FN 60), S. 23 ff.; Lippold, Recht (FN 153), S. 380 ff.; C. Jabloner, Stufung und „Entstufung“ des Rechts, ZöR 60 (2005), S. 163 ff.; ferner P. Koller, Zur Theorie des rechtlichen Stufenbaues, in: Paulson / Stolleis, Hans Kelsen (FN 42), S. 106 ff.; M. Borowski, Die

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Diese dynamische Vorstellung eines Stufenbaus rückt den Prozess der Selbsterzeugung (und Selbstvernichtung) des Rechts ins Bewusstsein und begreift den interdependenten Normenkosmos als Abfolge stufenweise zunehmender Individualisierung und Konkretisierung. Die Folgen für die Interpretation liegen auf der Hand155. Denn die Norm höherer Stufe kann Kelsen zufolge den auf niederer Stufe zu erzeugenden Rechtsakt niemals vollständig determinieren156. So stellt sich für ihn jeder Akt der Rechtsanwendung zugleich als Akt der Rechtserzeugung und somit unausweichlich als schöpferischer Akt dar. Interpretation des je höheren Rechts ist stets teils Erkenntnis-, teils Willensakt, ist Kognition und Dezision zugleich157. Anwendung des vorgegebenen Rechts impliziert Erzeugung neuen Rechts. Dieses „doppelte Rechtsantlitz“158 gilt für die „Anwendung“ der Verfassungsnormen durch die Gesetzgebung ebenso wie für Formen delegierter Rechtsetzung, etwa in Gestalt von Rechtsverordnungen, aber der Reinen Rechtslehre zufolge eben auch für die Einzelfallentscheidung durch gerichtliche oder behördliche Instanzen. Entgegen vielfachen Missverständnissen steht Kelsen also einer begriffsjuristischen Vorstellung von Rechtsanwendung als einem rein logischen, wertungsfreien, syllogistischen Schlussverfahren denkbar fern. Den verbreiteten Glauben an die eine, einzig richtige Entscheidung lehnt er entschieden ab159 und erkennt ihm die Funktion zu, die Illusion der Rechtssicherheit zu bestärken160. Er selbst weist jegliche Objektivitätsillusion und „Eindeutigkeitsfiktion“161 von sich und besteht Lehre vom Stufenbau des Rechts nach Adolf Julius Merkl, ebd., S. 122 ff.; Jakab, Probleme (FN 40), S. 333 ff., 354 ff. sowie E. Wiederin, Denken vom Recht her, in diesem Band S. 293 ff. (300 ff.). 155 Der erste Satz des Kapitels über die Interpretation lautet (Kelsen, RR [FN 13], S. 90): „Aus der Einsicht in den Stufenbau der Rechtsordnung ergeben sich sehr bedeutsame Konsequenzen für das Problem der Interpretation.“ – Treffend Ebenstein, Schule (FN 114), S. 170: Interpretationslehre als „Konsequenz der Stufentheorie“. 156 Kelsen, RR (FN 13), S. 91: „Diese Bestimmung ist aber niemals eine vollständige. Die Norm höherer Stufe kann den Akt, durch den sie vollzogen wird, nicht nach allen Richtungen hin binden. Stets muß ein bald größerer, bald geringerer Spielraum freien Ermessens bleiben, so daß die Norm höherer Stufe im Verhältnis zu dem sie vollziehenden Akt der Normerzeugung oder Vollstreckung immer nur den Charakter eines durch diesen Akt auszufüllenden Rahmens hat.“ 157 Plastisch D. Grimm, Zum Verhältnis von Interpretationslehre, Verfassungsgerichtsbarkeit und Demokratieprinzip bei Hans Kelsen, in: Ideologiekritik und Demokratietheorie (FN 61), S. 149 ff. (151). 158 A. Merkl, Das doppelte Rechtsantlitz (1918), in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule (FN 17), S. 1091 ff. 159 Kelsen, RR (FN 13), S. 95 f.: „Die übliche Theorie der Interpretation will glauben machen, daß das Gesetz, auf den konkreten Fall angewendet, stets nur eine richtige Entscheidung liefern könne und dass die positivrechtliche ,Richtigkeit‘ dieser Entscheidung im Gesetz selbst begründet ist. Sie stellt den Vorgang der Interpretation so dar, als ob es sich dabei um einen intellektuellen Akt des Klärens oder Verstehens handelte, als ob der Interpret nur seinen Verstand, nicht aber seinen Willen in Bewegung zu setzen hätte ( . . . ). Alle bisher entwickelten Interpretationsmethoden führen stets nur zu einem möglichen, niemals zu einem einzigen richtigen Resultat.“ 160 Vgl. Kelsen, RR (FN 13), S. 99 f.

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darauf, dass bei der Anwendung höherer Rechtsnormen auf niederer Stufe stets eine Mehrzahl von Konkretisierungsmöglichkeiten gegeben ist. Und das wird wieder nicht auf den gesetzesanwendenden Richter beschränkt, sondern allgemein formuliert: „So wenig wie man aus der Verfassung durch Interpretation richtige Gesetze, kann man aus dem Gesetz durch Interpretation richtige Urteile gewinnen. Gewiß besteht ein Unterschied zwischen diesen beiden Fällen, aber er ist nur ein quantitativer, kein qualitativer und besteht nur darin, daß die Bindung des Gesetzgebers in materieller Hinsicht eine viel geringere ist als die Bindung des Richters, daß jener bei der Rechtsschöpfung verhältnismäßig viel freier ist als dieser. Aber auch dieser ist ein Rechtsschöpfer und auch er ist bei dieser Funktion relativ frei.“162 Man sieht also: Kelsen rückt (und rückt sich selbst163) stark in die Nähe der Freirechtsschule164. Jedenfalls kann man die Reine Rechtslehre mit ihrer Vorstellung der Rechtsanwendung als der werthaften Ausfüllung eines vorgegebenen Rahmens durchaus als Vorläuferin der modernen Methodendiskussion begreifen, für die die Einsicht in den stets schöpferischen Charakter der Anwendung von Rechtsnormen heute einen Truismus darstellt165. Otto Bachof schrieb vor knapp fünf Jahrzehnten: „Wir wissen heute, daß schon in jeder richterlichen Interpretation einer Norm zugleich Normgestaltung, in jedem richterlichen Werturteil stets ein Stück echter und originärer Entscheidung über die Rechtsordnung lag und liegt.“166 Und in einer Diskussionsbemerkung anderthalb Jahrzehnte später formulierte er: „Daß es eine gleitende Skala von (fast) ganz unbestimmten bis hin zu (fast) ganz bestimmten Begriffen gibt, das wußte nicht nur die Wiener Schule, das haben wir alle seit langem gewußt.“167

3. Authentische und rechtswissenschaftliche Interpretation

Wie kann nun, wenn Rechtsanwendung stets diesen schöpferischen, willenhaften, subjektiven, ja durchaus auch politischen Charakter aufweist, die Reinheit der Rechtswissenschaft mit ihrem Anspruch auf neutral-objekKelsen, RR2 (FN 13), S. 354. Kelsen, RR (FN 13), S. 98. 163 Kelsen, Juristischer Formalismus (FN 23), S. 1726 spricht davon, die Reine Rechtslehre habe „durch die von ihr vertiefte Einsicht in den Stufenbau der Rechtsordnung eine der Hauptpositionen der Freirechtsschule: die Behauptung, dass die sogenannte Gesetzesvollziehung durch Gerichte und Verwaltung wahre Rechtsschöpfung sei, allererst theoretisch fundiert.“ 164 Dazu noch Dreier, Rechtslehre (FN 18), S. 147. – Diese Nähe zur Freirechtsschule stellt also keineswegs eine „Überraschung“ (so aber Balthasar, Reinheit [FN 151], S. 562) dar, wenn man sich an den Prämissen der Reinen Rechtslehre orientiert. 165 Zusammenfassend H. Dreier, Hierarchische Verwaltung im demokratischen Staat, 1991, S. 165 ff. m. w. N. 166 O. Bachof, Grundgesetz und Richtermacht, 1959, S. 8. 167 O. Bachof, VVDStRL 34 (1976), S. 289 (Diskussionsbemerkung). 161 162

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tive Beschreibung der Rechtsordnung bewahrt bleiben? Wenn es immer mehrere Möglichkeiten der Auslegung gibt und zwischen den Varianten eine rationale Auswahl letztlich unmöglich ist, wie soll dann eine wissenschaftliche Auslegungsarbeit konzeptualisierbar sein? Kelsens „Lösung“ sieht so aus, dass er der rechtswissenschaftlichen Interpretation die Aufgabe zuweist, alle denkbaren Auslegungsvarianten zu ermitteln und diese gleichsam aufzufächern168, ein „Set gleichwertiger Interpretationen“169 offenzulegen. Eine mit bestimmten Wertungsakten oder Willensbetätigungen verbundene Präferierung einer bestimmten Auslegungsvariante soll ihr aber gerade nicht zustehen170. Sie rettet ihre Wissenschaftlichkeit, so will es scheinen, um ihre Praxisrelevanz, verstanden als direkte Einflussnahme auf die reale Rechtsgestaltung, zu verlieren. Diese reale Rechtsgestaltung liegt Kelsen zufolge allein in der Hand der Rechtsanwendungs- bzw. Rechtsetzungsinstanzen, also vornehmlich der Gerichte und Behörden. Deren Entscheidungen sind Akte authentischer Interpretation, weil diese als rechtsverbindliche gleichsam Eingang in den Normenkosmos der Rechtsordnung finden. Authentische Interpretation und Rechtsproduktion fallen gewissermaßen ineinander171. Anleitende Kraft kann die Rechtswissenschaft insofern kaum entfalten. Zwar leugnet Kelsen nicht, dass rechtswissenschaftliche Meinungen von großer Bedeutung für die authentische Interpretation etwa durch Gerichte sein bzw. werden können172. Aber bis das geschieht, hat die rechtswissenschaftliche Interpretation, wie Kelsen passenderweise in der Einführung zu seinem Kommentar der UN-Charta schreibt, keinen anderen Status als die Meinung eines beliebigen Bürgers über den Ausgang eines Prozesses173. Außerdem gibt es keine wirksame Absicherung dagegen, dass sich etwa ein gerichtliches Urteil bei der Anwendung bestimmter Gesetze außerhalb des von der Wissenschaft erarbeiteten Variantenspektrums bewegt: Die nicht weiter anfechtbare Entscheidung eines Rechtsorgans schafft kraft authentischer Interpretation 168 Kelsen, RR2 (FN 13), S. 353. G. Hefler, Wissenschaftlichkeit als Einsatz. Methodologie als politische Strategie bei Carl Schmitt und Hans Kelsen, in: W. Pircher (Hrsg.), Gegen den Ausnahmezustand. Zur Kritik an Carl Schmitt, 1999, S. 249 ff. (267): „Die rechtswissenschaftliche Interpretation bricht damit bewusst mit der ,Eindeutigkeitsfiktion‘ und konzentriert sich methodisch darauf, die Grenze zwischen positiv-rechtlich gedeckten und positiv-rechtlich nicht gedeckten Interpretationen zu ziehen sowie die gleichwertigen Interpretationen synoptisch darzustellen.“ 169 So plastisch Hefler, Wissenschaftlichkeit (FN 168), S. 267. 170 H. Kelsen, Preface: On Interpretation, in: ders., The Law of the United Nations, New York 1951, S. XIII ff. (XVI). 171 So A. Merkl, Das Recht im Lichte seiner Anwendung (1917), in: Die Wiener Rechtstheoretische Schule (FN 17), S. 1167 ff. (1184). 172 Kelsen, Preface (FN 170), S. XV. 173 Kelsen, Preface (FN 170), S. XVI. – Vgl. Kelsen, RR (FN 13), S. 98: „Die ,wissenschaftlichen‘ Kommentare, durch welche die Tätigkeit der Gesetzesvollziehung unterstützt werden soll, haben einen durchaus rechtspolitischen Charakter, sind Vorschlägen für die Gesetzgebung zu vergleichen, sind Versuche, die rechtsschöpferische Funktion der Gerichte und Verwaltungsbehörden zu beeinflussen.“

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auch dann neues, geltendes Recht, wenn sie „keine der vom Standpunkt der Rechtswissenschaft möglichen Deutungen der anzuwendenden Rechtsnorm darstellt.“174 Und schließlich ist ohnehin kaum vorstellbar, wie die Aufgabe der vollzähligen Aufstellung aller denkbaren Interpretationsvarianten bei auch nur einigermaßen komplexen Normverhältnissen wirklich erfüllt werden könnte175.

4. Kapitulation?

Diese gewöhnungsbedürftige Lehre hat, kaum verwunderlich, wenig Verständnis gefunden. Noch die zurückhaltendste Formulierung ist jene vom „Mangel einer brauchbaren Interpretationstheorie“176. Mit kräftigeren Worten hat man ihr Agnostizismus und überzogenen Skeptizismus, ja methodischen Nihilismus bescheinigt177. Und in der Tat ist nicht zu leugnen, dass Kelsens sog. Interpretationstheorie ungefähr da aufhört, wo die konkreten Probleme der Auslegung anfangen. Es scheint geradezu paradox: Kelsen, der angetreten war, die Rechtswissenschaft auf die Höhe einer echten Wissenschaft zu heben, muss offenbar am entscheidenden Punkt, dem der Auslegung und Anwendung des Rechts, kapitulieren178. Am Ende steht nicht die triumphale Inthronisation einer rein wissenschaftlichen, methodisch unanfechtbaren Rechtserkenntnis, sondern die Einsicht in die Kontingenz des Rechtsfindungsvorganges, auf den die Wissenschaft nur äuKelsen, Was ist die Reine Rechtslehre (FN 17), S. 618; ders., RR2 (FN 13), S. 352. So hatte bereits Merkl, Anwendung (FN 171), S. 1187 notiert, dass die Wissenschaft die denkbaren Interpretationsvarianten „wohl regelmäßig auch nur in demonstrativer, nicht in taxativer Aufzählung“ würde darlegen können. 176 Jesch, Rezension (FN 10), S. 436. 177 Engisch, Rezension (FN 10), S. 603; K. Adomeit, Juristische Methode, in: Handlexikon zur Rechtswissenschaft, hrsgg. v. A. Görlitz, 1974, S. 217 ff. (218); vgl. weitere Nachweise bei Dreier, Rechtslehre (FN 18), S. 148, 150. All’ diese Einstufungen haben eine gewisse Berechtigung. Nicht zu sehen ist allein, wie man diese Interpretationslehre als „Denktechnik für Bürokraten“ qualifizieren kann (so R. Smend, Politisches Erlebnis und Staatsdenken seit dem 18. Jahrhundert, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen [FN 2], S. 346 ff. [356], wo allerdings – wie so oft – nicht ganz klar ist, ob er sich konkret auf Kelsen und auf dessen Interpretationslehre bezieht). 178 Hingewiesen sei freilich auf einige in jüngerer Zeit unternommenen Versuche, ausgehend von der Reinen Rechtslehre zu einer leistungsfähigeren Auslegungstheorie mit einem gewissen Rationalitätszuwachs zu gelangen: R. Thienel, Kritischer Rationalismus und Jurisprudenz, 1991, S. 183 ff.; R. Walter, Die Interpretationslehre im Rahmen der Wiener Schule der Rechtstheorie, in: FS Norbert Leser, 1993, S. 191 ff.; H. Mayer, Im Dilemma zwischen Rechtspositivismus und Naturrechtstheorie, in: FS Ludwig Adamovich, 2002, S. 433 ff. (438 ff.). Interessant M. Jestaedt, Wie das Recht, so die Auslegung, ZöR 55 (2000), S. 133 ff. (149 ff.) mit der programmatischen Vorstellung einer dualistischen Rechtsgewinnungstheorie, die sich gemäß dem heteronom Vorentschiedenen und dem autonom zu Entscheidenden in eine Rechtserkenntnisund eine Rechtssetzungslehre aufzuspalten hätte (skeptisch zur Möglichkeit exakter Fixierung eines entsprechenden Grenzverlaufes freilich C. Jabloner, Verrechtlichung und Rechtsdynamik, ZöR 54 [1999], S. 261 ff. [273 f.]). 174 175

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ßerst bescheidenen Einfluss nehmen kann – verbindet sich mit deren Ausbreitung möglicher Auslegungsergebnisse doch weder eine exakte Eingrenzung179 noch kann man überhaupt sicher sein, dass sich die authentischen Norminterpreten bei ihren Normfindungs- resp. Normsetzungsakten innerhalb des von der Wissenschaft ermittelten Möglichkeitsspektrums halten werden180. Freilich käme es einem fatalen Missverständnis gleich, Kelsens großes „ignoramus“ in Bezug auf die Ergebnisse der Rechtsanwendung und seinen Verzicht auf die Annahme intersubjektiver Verbindlichkeit von Interpretationsakten lediglich als Defizit oder gar als Versagen vor der eigentlichen Aufgabe rechtswissenschaftlicher Arbeit zu begreifen. Denn es ging ihm ja nicht darum, die herrschenden Interpretationsmethoden durch eine bessere juristische Kunstlehre zu übertreffen, sondern den Horizont rechtswissenschaftlicher Tätigkeit abzustecken181. Entsprechendes Kritikpotential entfaltet sich gerade durch die Offenlegung der beim Interpretationsakt wirksamen volitiven und dezisionistischen, jedenfalls objektiv-rational nicht eingrenzbaren oder steuerbaren Gehalte. Die tiefsitzende Skepsis gegenüber übersteigerten Erwartungen an die wissenschaftliche Anleitbarkeit der Rechtspraxis führt zu massiven Gewissheitsverlusten und zur entsprechenden Marginalisierung der Rolle der Rechtswissenschaft. Doch ist diese reduktionistische Selbstbeschränkung der notwendige Preis des Insistierens auf Wissenschaftlichkeit im Sinne einer an den Naturwissenschaften orientierten Objektivität. Der Reduktionismus ist Konsequenz des wissenschaftlichen Programms182. Übersehen sollte man bei alledem nicht die andere Seite der Medaille183. Den authentischen Rechtsinterpreten, den Richtern und Verwaltungsbeamten, wird mit Kelsens Lehre unmissverständlich bedeutet, dass sie nicht in neutraler, rein logischer Weise ihnen vorgegebenes Recht lediglich anwenden, passiv umsetzen, sondern ihre Tätigkeit eine unmittelbar wertsetzende 179 Noch nicht einmal die Vorstellung eines begrenzenden Rahmens hält näherer Betrachtung stand: vgl. Dreier, Rechtslehre (FN 18), S. 149 mit FN 344. 180 Kelsen, RR2 (FN 13), S. 350 ff. 181 Die Alternativposition ist plastisch von P. Heck, Begriffsbildung und Interessenjurisprudenz, 1932, S. 24 formuliert: „Wir arbeiten nicht, um das Prädikat ,Wissenschaft‘ zu erhalten, sondern um dem Leben zu dienen.“ 182 Näher Dreier, Rechtslehre (FN 18), S. 153 ff. – Vgl. auch Hefler, Wissenschaftlichkeit (FN 168), S. 264: „Kelsens Interpretationslehre erscheint als knapper Anhang seiner Systematik; tatsächlich formuliert jedoch sie die Konsequenzen seines Gesamtansatzes“; ähnlich Handstanger, Bedeutung (FN 15), S. 622. 183 Diese beiden Seiten sind klar gesehen bei Jestaedt, Einleitung (FN 16), S. 2, der vom „doppelten Tabu-Bruch“ Kelsens spricht und fortfährt: „Er zieht der eigenen Disziplin den Schleier weg, hinter dem diese ungestört politisieren kann, und er nimmt den Rechtserzeugungsorganen umgekehrt die Möglichkeit, sich auf vorgeschobene recht(swissenschaft)liche Bindungen herauszureden, wo politische Entscheidungen zu verantworten und zu begründen sind.“ Zum zweiten Aspekt auch Uecker, Reinheitspostulat (FN 35), S. 108.

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und -realisierende, in diesem Sinn eben eminent ,politische‘ Angelegenheit ist. Die Rechtsanwender können sich nun nicht mehr hinter der bequemen Vorstellung unpolitischer Tätigkeit verbergen. Anders gesagt: Der Entpolitisierung der Rechtswissenschaft korrespondiert die Einsicht in den politischen, nämlich: rechtsschaffenden, -erzeugenden, -produzierenden Charakter der Rechtsanwendung jeglicher Stufe. Das Wertfreiheitspostulat der Rechtswissenschaft findet sein Gegenstück in der Wertsetzungsdelegation an die zur Normanwendung und damit zur Normsetzung berufenen Instanzen der Rechtsordnung.

V. Schluss Mit alledem ist ganz offensichtlich eine gravierende „Zurückdrängung der normativen Bedeutung der Rechtswissenschaften“184 verbunden. Und mit der Selbstbeschränkung der Erklärungs- und Deutungskompetenz einher geht eine Reduktion der Erklärungskompetenz der Juristen und ihrer Rolle im gesamtgesellschaftlichen Rahmen, die manche – wie Kelsen selbst formuliert – für einen „Rangverzicht“185 halten. Vielleicht sind es, wie er weiter mutmaßt, auch die durch seine Lehre bedrohten berufsständischen Interessen der Juristen, die die vehemente Ablehnung seiner Lehre motivieren. Der Jurist, so Kelsen, verzichte nur ungern darauf „zu glauben und die anderen glauben zu machen, daß er mit seiner Wissenschaft die Antwort auf die Frage besitze, wie die Interessenkonflikte innerhalb der Gesellschaft ,richtig‘ zu lösen seien, daß er, weil er das Recht erkennt, auch berufen sei, es inhaltlich zu gestalten, daß er bei seinem Streben, auf die Rechtserzeugung Einfluss zu nehmen, anderen Politikern gegenüber mehr voraus habe als ein bloßer Techniker der Gesellschaft.“186 In der Tat gibt es bei Kelsen keine Sinnstiftung und keine Weltdeutung: keine Smendsche Erfassung des gesamtgesellschaftlichen Integrationsvorganges in seiner geistigen Totalität und dem Einheitsgefüge der Sinnerlebnisse, auch keine Welterklärungskompetenz nach Art Carl Schmitts mit souveränem Deutungszugriff auf die jeweilige politisch-staatliche Gesamtlage und ihre vermeintlichen Entwicklungstendenzen. Auch ist der Rechtswissenschaftler nicht Hüter der Gerechtigkeit oder der Rechtsidee im Sinne autonomer Verwaltung eines universal-ewiggültigen Normbestandes. Ihm wird eine sehr viel bescheidenere Rolle als Deskriptor der jeweiligen Rechtsordnung zugewiesen. Weder deren Legitimierung noch ihre Korrektur ist seine Aufgabe. Und darin mag eine 184 Möllers, Staat (FN 50), S. 56 (dort auch die treffende Aussage, dass – durchaus im Unterschied zu Laband und anderen Vertretern der juristischen Methode – „für Juristenrecht mit eigenem Geltungsanspruch“ bei Kelsen kein Platz sei). Siehe auch Uecker, Reinheitspostulat (FN 35), S. 88. 185 Kelsen, RR (FN 13), S. XII. 186 Kelsen, RR (FN 13), S. XI f.

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tiefsitzende Kränkung liegen, die zur Erklärung der eingangs angedeuteten Heftigkeit der Ablehnung und Zurückweisung seiner Lehre beitragen könnte. Sinnsucher lässt die Reine Rechtslehre also im Stich187. Kelsen wäre nicht er selbst, wenn er diesen Punkt nicht gesehen und auf seine typische Art behandelt hätte. Fast ganz am Schluss des Anhanges über das „Problem der Gerechtigkeit“ schreibt er nach Kennzeichnung seiner Theorie als eines „relativistische(n) Rechtspositivismus“188: „Daß uns dieser Relativismus ,im Stich läßt‘, bedeutet, daß er uns zum Bewußtsein bringt, daß die Entscheidung der Frage an uns liegt, weil die Entscheidung der Frage, was gerecht und was ungerecht ist, von der Wahl der Gerechtigkeitsnorm abhängt, die wir zur Grundlage unseres Werturteils nehmen und daher sehr verschieden beantwortet werden kann; daß diese Wahl nur wir selbst, jeder einzelne von uns, daß sie niemand anderer, nicht Gott, nicht die Natur und auch nicht die Vernunft als objektive Autorität für uns treffen kann. Das ist der wahre Sinn der Autonomie der Moral. Vom Relativismus im Stich gelassen fühlen sich alle jene, die diese Verantwortung nicht auf sich zu nehmen, die die Wahl auf Gott, die Natur oder die Vernunft zu schieben wünschen. Sie wenden sich vergeblich an die Naturrechtslehre. Denn wenn es gilt, die Wahl zu treffen, geben die verschiedenen Naturrechtslehren ebenso viele und ebenso verschiedene Antworten wie der relativistische Positivismus. Sie ersparen dem Individuum nicht die Wahl. Aber jede dieser Naturrechtslehren gibt dem Individuum die Illusion, daß die Gerechtigkeitsnorm, die es wählt, von Gott, der Natur oder der Vernunft stammt, daher absolut gültig ist und die Möglichkeit der Geltung einer anderen ihr widersprechenden Gerechtigkeitsnorm ausschließt; und für diese Illusion bringen viele jedes sacrificium intellectus.“189

187 So statt vieler jüngst wieder H. Rottleuthner, Hans Kelsen, Carl Schmitt und der Nationalsozialismus, in: P. Kunig / M. Nagata (Hrsg.), Deutschland und Japan im rechtswissenschaftlichen Dialog, 2006, S. 9 ff. (19): Kelsen schicke denjenigen, der nach dem Grund des Rechtsgehorsams frage, „der wissen möchte, ob er das Recht des Nationalsozialismus befolgen soll, in die Wüste des NS-Rechts bis zur Grundnorm und lässt ihn dort moralisch verdursten.“ 188 Kelsen, RR2 (FN 13), S. 441. Zu Kelsens skeptischer Gerechtigkeitskonzeption siehe G. Nogueira Dias, Was ist Gerechtigkeit?, ZöR 57 (2002), S. 63 ff. 189 Kelsen, RR2 (FN 13), S. 442.

Staatsrechtslehre als Sozialwissenschaft? Von Hans-Heinrich Trute, Hamburg

I. Einleitung Staatsrechtslehre als Sozialwissenschaft? Das Thema begleitet die Staatsrechtslehre, hier verstanden in einem weiten Sinne als Wissenschaft vom Öffentlichen Recht, seit langem, im Grunde seit ihrer disziplinären Ausdifferenzierung aus den Staatswissenschaften. Das Thema verbindet sich mit Konjunkturen der Öffnung und Schließung der Disziplin1. Im Hintergrund dieser Konjunkturen dürften dabei weniger Moden des Wissenschaftsbetriebs als die Problematik der Anpassung an eine veränderte Umwelt des Rechts stehen2 und damit die Veränderungen der „Wirklichkeit“ des Rechts. Es reizt zu grundsätzlichen Stellungnahmen und Abwehrreflexen: Normwissenschaft3 oder Sozialwissenschaft4, Sozialwissenschaft oder Geisteswissenschaft5, synkretistische Vermischungen unter1 Zu Recht in diesem Sinne C. Möllers, Methoden, in: W. Hoffmann-Riem / E. Schmidt-Aßmann / A. Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2006, § 3 Rn. 42. Für die Verwaltungsrechtswissenschaft nachgezeichnet bei C. Bumke, Die Entwicklung der verwaltungsrechtswissenschaftlichen Methodik in der Bundesrepublik Deutschland, in: E. Schmidt-Aßmann / W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 74 (85 ff.). Aus rechtssoziologischer Perspektive R. Lautmann / M. Meurer, Verwendungen der Soziologie in den Handlungswissenschaften am Beispiel von Pädagogik und Jurisprudenz, KZfSS 38 (1986), S. 670 ff.; M. Wrase, Rechtssoziologie und Law and Society – Die deutsche Rechtssoziologie zwischen Krise und Neuaufbruch, ZfRSoz 27 (2006), S. 289 ff. 2 Vgl. auch Bumke, Entwicklung (FN 1), S. 109 ff. 3 Insoweit an das Programm Hans Kelsens anknüpfend; vgl. auch O. Lepsius, Die gegensatzaufhebende Begriffsbildung, 1994; M. Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein . . ., 2006. 4 Insoweit anknüpfend etwa an das Theorieprogramm des Kritischen Rationalismus vgl. etwa H. Albert, Erkenntnis und Recht. Die Jurisprudenz im Lichte des Kritizismus, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie 2 (1972), S. 80 ff.; J. Harenburg, Die Rechtsdogmatik zwischen Wissenschaft und Praxis, 1986; B. Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, Der Staat 19 (1980), S. 75 ff.; J. -P. Damas, Ist die Rechtswissenschaft eine „Wissenschaft“, ARSP 89 (2003), S. 186 ff.; zur Kritik etwa S. Huster, Rechtswissenschaft als Realwissenschaft?, in: FS Hans Albert, 2006, S. 385 ff.; U. Neumann, Wissenschaftstheorie der Rechtswissenschaft, in: A. Kaufmann / W. Hassemer / U. Neumann (Hrsg.), Einführung in die Rechtsphilosophie und Rechtstheorie der Gegenwart, 7. Aufl. 2004, S. 385 ff.

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schiedlicher Perspektiven oder Verlust disziplinärer Identität6. Zumal Letzteres zeigt freilich auch eine gewisse Verunsicherung an, und man darf vermuten, dass auch in diesem Fall die Themenstellung durch das Bedürfnis nach einer Selbstreflexion in Zeiten raschen Wandels der Wissenschaftslandschaft angeregt ist7. Die darin liegende Legitimationsfrage dürfte auch wieder die nach dem Verhältnis von Rechtswissenschaft und Sozialwissenschaft auf die Tagesordnung setzen. In einer Zeit, in der ein Verfassungs- oder Verfassungsgerichtspositivismus, wenn er denn das Programm einer Staatsrechtslehre bestimmen würde8, immer weniger die Forschungsfragen bestimmen kann, weil etwa die vielbeschworene Europäisierung und Internationalisierung die nationale Verfassung als Beobachtungsebene mindestens zum Teil hinter sich lässt, wird man darüber hinaus eher ein gesteigertes Bedürfnis nach theoretischen Anfragen an die Nachbarwissenschaften vermuten dürfen9. Dazu ist viel geschrieben worden10, wissenschaftstheoretische Grundlagenreflexion angestellt worden, und doch bleibt zumindest für die Geltung des Grundgesetzes diese Frage wie so manche andere in der Grauzone einer gewissen Beliebigkeit von Theorieimporten, von souveräner Nichtkenntnisnahme oder von mehr oder weniger folgenlosen Anleihen bei der Großtheorie der sozialwissenschaftlichen Debatte um Staatlichkeit. Die Ansätze reichen jedenfalls von der Betonung des Selbststandes der Rechtswissenschaft11 über unterschiedliche Konzepte von Interdisziplinarität, eine multidisziplinäre neue Staatswissenschaft12 bis hin zum Verständnis der Rechtswissenschaft als angewandte Sozialwissenschaft13.

5 Mit der sie den Bezug auf die Interpretation von Texten teilt, von der sie sich aber durch die Verbindlichkeit von Texten und den Bezug auf Realvorgänge, die Normen zu ordnen anstreben, erheblich unterschiedet; zur Kritik vgl. etwa F. Müller / R. Christensen, Juristische Methodik, Bd. 1, Grundlagen des Öffentlichen Rechts, 9. Aufl. 2004, Rn. 191 f. 6 Unter dem Stichwort von Selbstand und Eigengesetzlichkeit durchgängig Jestaedt, Theorie (FN 3). 7 Dazu H. Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Wissenschaft: Dimensionen einer nur scheinbar akademischen Fragestellung, in diesem Band S. 11 ff. 8 B. Schlink, Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, Der Staat 28 (1989), S. 161 ff. 9 Vgl. dazu die Beiträge in ZSE 3 (2006), insbesondere U. Haltern, Europarechtswissenschaft und ihre politisch-kulturellen Voraussetzungen, ebd. S. 364 ff.; G. F. Schuppert / I. Pernice / U. Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft, 2005. 10 Vgl. statt vieler D. Grimm, Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften, 2 Bde, 1973 / 1976. 11 Jestaedt, Theorie (FN 3). 12 G. F. Schuppert, Staatswissenschaft, 2003. 13 C. Engel, Rechtswissenschaft als angewandte Sozialwissenschaft. Die Aufgabe der Rechtswissenschaft nach der Öffnung der Rechtsordnung für sozialwissenschaftliche Theorie, in: ders. (Hrsg.), Methodische Zugänge zu einem Recht der Gemeinschaftsgüter, 1998, S. 11 ff.

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Der Wissenschaftscharakter der Staatsrechtslehre ist immer prekär geblieben. Und aus der Perspektive des Themas darf man vermuten, dass zumal die Konjunktur wissenschaftstheoretischer, methodischer Anstrengungen und Anleihen bei der sozialwissenschaftlichen Theoriedebatte der siebziger und achtziger Jahre neben der Ideologiekritik und wahrgenommenen Krise ein wesentliches Motiv auch darin hatte, zu einer Theorieform zu gelangen, die Anschlüsse an die allgemeine Wissenschaftstheorie bieten könnte14. An dem prekären Wissenschaftscharakter hat diese Diskussion vermutlich wenig geändert, wohl aber einem entspannten Theorieimport aus den Nachbarwissenschaften den Raum bereitet, der seinerseits allerdings wenig zur Rezeption der Rechtswissenschaften in den Nachbarwissenschaften beigetragen hat. Zumal in interdisziplinären Zusammenhängen ist immer wieder eine gewisse souveräne Nichtkenntnisnahme zu beobachten, die nicht einfach auf wechselseitige Abgrenzungsstrategien zurückzuführen ist, sondern ebenso auf die besonderen Produktionsbedingungen von Dogmatik einerseits, aber auch auf ein geringeres Theorieinteresse dogmatisch arbeitender Rechtswissenschaftler andererseits15, die die Anschlussstellen für andere Disziplinen kaum herstellt. Die Folgen kann man besichtigen16. Anschlussfähig sind am ehesten Grundlagenfächer und diejenigen, die ohnehin an den Schnittstellen von Rechtswissenschaften und Nachbarwissenschaften arbeiten und sich insoweit auf deren Theorieangebote einlassen. Die zu beobachtende und zunehmend eingeforderte stärkere theoretische Orientierung hat freilich ihren Preis. Ersichtlich ist hier eine Spannung zwischen praktischer Relevanz und theoretischer Orientierung zu beobachten, die schon aufgrund ihrer Persistenz auf tiefer liegende Probleme verweist. So mag es sinnvoll sein, das Problem aus einer anderen Perspektive zu beschreiben und die Frage zu stellen, ob sich die Staatsrechtslehre als eine Reflexionstheorie des Rechtssystems oder als eine wissenschaftliche Teildisziplin versteht.

II. Staatsrechtslehre als eine Reflexionstheorie des Rechtssystems oder eine Teildisziplin des Wissenschaftssystems? Ich verwende dazu die Unterscheidung von Fremd- und Selbstbeschreibung, und mit dieser Unterscheidung, die ja kein Begriff der Staatsrechtslehre oder der Rechtswissenschaft ist, sondern zunächst einmal ein Begriff

14 Zu den unterschiedlichen Motiven und Positionen vgl. den Überblick bei J. Harenburg, Rechtsdogmatik (FN 4), S. 140 ff. 15 Die Notwendigkeit von Theorie zu Recht betonend Jestaedt, Theorie (FN 3), S. 69 ff.; Möllers, Methoden (FN 1), Rn. 58; Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre (FN 7). 16 Vgl. dazu die Bemerkungen von Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre (FN 7), S. 11 f. zur Beteiligung der Rechtswissenschaft an Förderungen der DFG.

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der soziologischen Theorie17, nehme ich explizit eine Fremdbeschreibung vor.

1. Fremdbeschreibung oder Selbstbeschreibung des Rechtssystems

Das Rechtssystem lässt sich differenzierungstheoretisch als ein Teilsystem der Gesellschaft beschreiben18. Die Ausdifferenzierung einer Eigenlogik der jeweiligen Systeme vereitelt einen Rückgriff auf gesamtgesellschaftliche Rationalitätskonzepte. Die Unterscheidung von System und Umwelt, die immer eine Unterscheidung im System ist, hat eine Polykontextualität zur Folge, die unterschiedliche Beobachtungsstandpunkte voraussetzen muss, je nachdem mit welcher Unterscheidung man gerade arbeitet. Jede Ausdifferenzierung eines sozialen Teilsystems in der Gesellschaft führt nun dazu, dass es zwei Möglichkeiten gibt, die Einheit dieses Systems zu beobachten und es zu beschreiben: Fremdbeschreibungen und Selbstbeschreibungen19. Anders als die Unterscheidung von Fremd- und Selbstreferenz, die immer eine Unterscheidung innerhalb des Systems ist und sich auf das System selbst oder seine Umwelt bezieht, ist die Unterscheidung von Selbst- und Fremdbeschreibungen auf ein und dasselbe System bezogen, nur der Beobachtungspunkt ist ein anderer. Selbstbeschreibungen laufen innerhalb des Systems ab, das beschrieben wird, beschreibendes und beschriebenes System fallen also zusammen20. Beide unterliegen der Logik und den Restriktionen des jeweils beschreibenden Systems. Für Selbstbeschreibungen heißt dies, dass sie der Logik des eigenen Systems verhaftet bleiben. Sie sind also in gewisser Hinsicht affirmativ zur Eigenlogik des Systems, weil sie dieser ungeachtet einer möglichen und durchaus komplexen Theorieform verhaftet bleiben und bleiben müssen, sollen sie noch als Selbstbeschreibungen innerhalb des Systems akzeptiert werden können. Sie sind eben deswegen auch in der Themenwahl eingeschränkt, weil sie letztlich die Praxis des je eigenen Systems rekonstruieren und rationalisieren helfen sollen. Für Fremdbeschreibungen gelten diese Restriktionen nicht. Sie sind zwar aus der Beobachtungsperspektive eines Systems entworfen und insofern dessen Eigenlogik unterworfen, aber sie beobachten damit und aus dieser Perspektive ein anderes System, ohne an dessen Selbstbeschreibungen gebunden zu sein. Sie erlauben damit einen anderen, distanzierten und damit auch einen inkongruenten Blick, der aber im beschriebenen System gerade deswegen nicht unbedingt anschlussfähig sein muss.

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Dazu A. Kieserling, Selbstbeschreibung und Fremdbeschreibung, 2004. Dazu N. Luhmann, Das Recht der Gesellschaft, 1993. Kieserling, Selbstbeschreibung (FN 17). Kieserling, Selbstbeschreibung (FN 17), S. 49 ff.

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2. Staatsrechtslehre zwischen Reflexionstheorie und wissenschaftlicher Theorie

Vor dem Hintergrund dieser zugegebenermaßen etwas abstrakten Unterscheidung kann man den Blick auf die Thematik zurückwenden und die Frage stellen, wie die Staatsrechtslehre sich versteht: als eine Form der Selbstbeschreibung des Rechtssystems (also eine Reflexionstheorie) oder eine Beobachtung des Rechtssystems aus der Perspektive des Wissenschaftssystems, also als eine Fremdbeschreibung? Nun ist für Sozialwissenschaft kaum zweifelhaft21, dass sie Fremdbeschreibungen des Rechtssystems anfertigt, wenn sie sich denn damit befasst. Die Rechtssoziologie und ebenso die Soziologie des Staates (oder besser: die politische Soziologie) ist eben eine Teildisziplin der Soziologie und nicht etwa der Rechtswissenschaft22. Gilt gleiches aber auch für die Staatsrechtslehre, die Dogmatik oder die Methodik? Genaueren Aufschluss verspricht hier nur eine Analyse der entsprechenden Theoriebildungen selbst23. Das kann hier nicht im Einzelnen entfaltet, wohl aber soweit plausibilisiert werden, wie es für den begrenzten Erklärungsanspruch nötig ist. So schreibt Helmuth Schulze-Fielitz in seinem Beitrag zur Qualität der rechtswissenschaftlichen Forschung: „Juristische Theorien zielen als Theorien über normative Aussagen auf die systematische Einordnung nach Kriterien der Ordnung und Einheit, auf eine widerspruchsfreie Herstellung von Begründungszusammenhängen, auf die Analyse von Zusammenhängen ,hinter‘ einzelnen dogmatischen Argumenten oder Figuren, letztlich auf das Öffentliche Recht als ein in sich konsistentes System aus Strukturen und Prozessen.“24 Und an den Unterschied zu empirisch analytischen Wissenschaften und deren Theoriebegriff anknüpfend heißt es kurz darauf, rechtswissenschaftliche Theorien suchten „vielmehr je nach Abstraktionsstufe der dogmatischen Begriffe und Systematik im Blick auf eine Lösung bestimmter Probleme normativ begründbar Entscheidungsvorschläge in Form von rechtlichen Wertungen und Regeln für den einzelnen Fall oder Vorschläge für Entscheidungsvorschläge für Einzelfälle

21 Ich lasse hier mögliche Differenzierungen der Sozialwissenschaft außer Betracht und beschränke mich auf die Soziologie; zu weiteren Differenzierungen Kieserling, Selbstbeschreibungen (FN 17), S. 46 ff. 22 Das gilt selbstverständlich ungeachtet der Zuordnung einzelner Lehrstühle zu den rechtswissenschaftlichen Fakultäten und der Verankerung der Rechtssoziologie in dem Grundlagenkanon der juristischen Ausbildung; dazu M. Wrase, Rechtssoziologie (FN 1), S. 291 ff. 23 Im Übrigen dürften hier im Vergleich unterschiedliche Konzeptionen des Rechtssystems und der Rechtswissenschaft eine erhebliche Rolle spielen; vgl. insoweit zum amerikanischen Recht O. Lepsius, Was kann die deutsche Staatsrechtslehre von der amerikanischen Rechtswissenschaft lernen?, in diesem Band S. 319 ff. 24 H. Schulze-Fielitz, Was macht die Qualität öffentlich-rechtlicher Forschung aus?, JöR 50 (2002), S. 1 (35).

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( . . . ) sowie auch rechtsgebietsübergreifende Maßstäbe und dogmatische Kategorien zu ordnen, zu systematisieren und zu hierarchisieren.“ Durchgängig bleibt die Theoriebildung an der Konsistenz der Rechtsordnung und ihrer Fundamente orientiert und gibt den Bezug zu der Dogmatik und Praxis des Rechtssystems nicht auf, die freilich – insofern anders als andere Wissenschaften – eine Differenzierung im System beschreibt, nicht eine solche zwischen System und Umwelt25. Sie beschreibt und rationalisiert diese Praxis mit dem Ziel der Herstellung einer Konsistenz der Rechtsordnung. Sie differenziert zwischen verschiedenen Abstraktionsstufen und gegenstandsbezogenen Teildifferenzierungen, aber letztlich dürfte der Bezug auf die Operationen des Rechtssystems für diese Art der Theoriebildung auch als Teil des Qualitätsmaßstabs entscheidend bleiben26. Das verändert den Blick auf die Fragen, denn es geht damit letztlich um eine sehr eng an die Operationen des Rechtssystems gekoppelte Rationalisierung der Praxis. Theoretische Darlegungen bedürfen, wenn sie denn folgenreich werden wollen, des Rückbezugs auf und des Rückhalts in eben dieser Praxis27. Damit verlieren Theorien aber – wie Oliver Lepsius zu Recht sagt28 – ihren grundsätzlichen Charakter und gewinnen dadurch im Gegenzug an praktischer Relevanz. Diese Beobachtungen kann man auch in einer Reihe von anderen Stellungnahmen finden, die das als ein Problem von Theorie und Praxis und dem besonderen Anwendungsbezug von rechtswissenschaftlicher Theoriebildung thematisieren29. Und noch in der Rezensionspraxis dürfte sich auch in neuerer Zeit eine Reihe von Belegen finden, die Habilitationsschriften fehlende praktische Relevanz vorwerfen. Damit aber wird der Punkt deutlich, auf den es mir ankommt: Dass die Staatsrechtslehre sich weitgehend als eine Reflexionstheorie der Praxis versteht. Das kann mehr oder weniger theoretisch geschehen, das ändert nichts an dem grundsätzlichen Befund. Für Dogmatik gilt dies ohnehin. Einflussreiche Methodenkonzeptionen, wie die von Friedrich Müller, nehmen für sich explizit in Anspruch, eine Rationalisierung der juristischen Praxis zu sein30. 25 Das lässt sich auch in anderen Stellungnahmen zur rechtswissenschaftlichen Forschung beobachten, etwa bei E. Schmidt-Aßmann, Zur Situation der rechtswissenschaftlichen Forschung, JZ 1995, S. 1 (3 f.), mit einer präzisen Schilderung der Ambivalenz des starken Praxisbezuges im Hinblick auf den Forschungskontext. 26 Das gilt auch für Jestaedt, Theorie (FN 6), der zwar einen externen Beobachtungsstandpunkt einnehmen zu wollen scheint (ebd. S. 17), aber sich mit dem Bezug auf die Eigenrationalität des Rechts und die Zuschreibung der Wächterposition für die Wahrung der Einheit, des Selbststandes und Eigenrationalität des Rechts an die Rechtstheorie (ebd. S. 30, 69 ff. und passim) als Reflexionstheorie par excellence erweist. 27 O. Lepsius, Braucht das Verfassungsrecht eine Theorie des Staates?, EuGRZ 2004, S. 370 (374); Engel, Rechtswissenschaft (FN 13), S. 31. 28 Lepsius, Verfassungsrecht (FN 27), S. 374. 29 Vgl. Engel, Rechtswissenschaft (FN 13), S. 32. 30 Müller / Christensen, Methodik (FN 5), Rn. 191 f. und passim.

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Nichts anderes kennzeichnet Reflexionstheorien, die eben in besonderer Weise auf die Beschränkungen des Teilsystems verpflichtet sind, deren Reflexion sie dienen31. Der Bezug auf Wissenschaft dient dann der Legitimation von Theoriearbeit, ohne nach den Standards des Wissenschaftssystems diesen auch notwendig einlösen zu müssen32. Nun ist dies letztlich abhängig von Selbstbeschreibungen und insofern könnten Rechtswissenschaftler natürlich auch anders votieren, und sie tun es auch, wie es überhaupt Übergänge zwischen beiden gibt, auch in einzelnen Personen. So gesehen zeichnet das Vokabular der Systemtheorie natürlich ein überscharfes Modell. Aber es macht das Problem vielleicht deutlicher.

3. Spannung zwischen wissenschaftlicher Orientierung und praktischer Relevanz

Rechtswissenschaften und damit natürlich auch die Staatsrechtslehre als Teildisziplin geraten damit in eine charakteristische Spannungslage zwischen wissenschaftlicher Orientierung und praktischer Relevanz. Votieren sie für das Wissenschaftssystem, dann müssen sie sich freilich auch den Ansprüchen des Wissenschaftssystem an Theoriebildung unterwerfen und das bedeutet nicht zuletzt den Ansprüchen der gängigen Wissenschaftstheorien33. Lassen sie sich darauf ein, gehen sie leicht zu einer Fremdbeobachtung des Rechts über, die ihre Resonanz im Rechtssystem deutlich verringert. In der interdisziplinären Arbeit ist dies als Spannung immer wieder erfahrbar. Je weiter man sich auf das Theorieangebot der Nachbarwissenschaften einlässt, desto schwieriger wird die Rückübersetzung in normativ handhabbare Unterscheidungen und dogmatische Konstruktionen34. Umgekehrt kann die Anseilung an das Rechtssystem wiederum die Theorie der Gefahr aussetzen, als Wissenschaft nicht ernst genommen zu werden35, ein Schicksal, das in der Rechtswissenschaft denn ja auch in Selbstbeschreibungen immer wieder aktualisiert wird, so wenn betont wird, dass der Wissenschaftscharakter der Rechtswissenschaft durchaus umstritten ist36. Je enger im Übrigen Rechtssystem und Rechtswissenschaft miteinander verkoppelt werden, desto deutlicher rückt das Spannungsverhältnis von wissenschaftlicher Orientierung und praktischer Relevanz als Problem der 31 Auf anderer Grundlage herausgearbeitet bei Engel, Rechtswissenschaft (FN 13), S. 31 f. 32 Zu diesem Gedanken Kieserling, Selbstbeschreibung (FN 17), S. 73 f. 33 Deren Fehlen für die Rechtswissenschaften immer wieder beobachtet wird; vgl. insoweit Bumke, Entwicklung (FN 1), S. 78 f. mit zutreffender Diagnose und Gründen; Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre (FN 7), in diesem Band S. 15. 34 Insoweit zutreffend C. Möllers, Theorie, Praxis und Interdisziplinarität in der Verwaltungsrechtswissenschaft, VerwArch 93 (2002), S. 22 (45 f.). 35 Schmidt-Aßmann, Situation (FN 25), S. 4. 36 Vgl. Bumke, Entwicklungen (FN 1), S. 79.

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Identität und Integrität der Disziplin und des Rechtssystems in den Vordergrund der Diskussion37.

4. Exemplarisch: Rechtssoziologie als Fremdbeschreibung

Man kann an den vorherigen Phasen der Diskussion um das Verhältnis von Rechts- und Sozialwissenschaft sehen, dass immer dann, wenn wissenschaftliche Fremdbeschreibungen, also etwa rechtssoziologische Theorieansprüche oder empirische Erkenntnisse auf Reflexionstheorien treffen, die Resonanz zumindest prekär bleibt38. Sie werden unter Bezug auf die Besonderheiten des Rechtssystems leicht abgewehrt39. Jede Beobachtung des Rechts durch die Sozialwissenschaften stößt hier auf die Autonomiebehauptung der juristischen Reflexionstheorien. Es könnte eine lohnende Aufgabe sein, noch einmal die Debatte der 70er Jahre um die Soziologie vor den Toren der Jurisprudenz, der Juristensoziologie vor diesem Hintergrund zu rekonstruieren. Bryde hat diese geringe Akzeptanz der Rechtssoziologie in der juristischen Profession vor einiger Zeit mit der Entstehungsgeschichte und dem Vorwurf der Klassenjustiz in Verbindung gebracht40. Das mag so sein, aber erklärt den Befund für die Gegenwart denn doch vielleicht noch unzulänglich. Weiter führt der Hinweis, dass wer immer eine Gruppe als Beobachtungsgegenstand behandelt und ein Bild zeichnet, das vom Selbstbild abweicht, sich auf Ablehnung einstellen müsse, weil Selbstbilder auch eine strategische und handlungsleitende Funktion haben, die gefährdet würde41. Eben darum geht es in dieser Konstellation. Es treffen Fremdbeschreibungen anderer Wissenschaften auf die Selbstbeschreibungen des Rechtssystems. Man kann gleichwohl auch die Rückseite sehen und auf den Anpassungsbedarf veralteter Selbstbeschreibungen hinweisen. Aber man muss sehen, dass damit unter dem Gesichtspunkt von Interdisziplinarität im Grunde auf eine Hierarchie von Beschreibungen umgestellt wird, denn hier wird nicht symmetrisch miteinander, sondern von dem einen (Sozialwissenschaft) über den anderen (Rechtssystem, Rechtswissenschaft) geredet, und damit kann man immerhin deutlicher sehen, worin die Schwierigkeiten liegen42. Die Aufdeckung latenter Strukturen, und Latenz mag ja eine wichtige Funktion haben, nimmt dann schnell diese Form der Gefähr37

Ähnlich Möllers, Methoden (FN 1), Rn. 42. Vgl. Lautmann / Meurer, Verwendung (FN 1); Wrase, Rechtssoziologie (FN 1). 39 Zu den Gründen allgemein Kieserling, Selbstbeschreibung (FN 17), S. 82 ff. 40 B.-O. Bryde, Juristensoziologie, in: FS Erhard Blankenburg, 2000, S. 137 (139). 41 Bryde, Juristensoziologie (FN 40), S. 139 f. 42 Kieserling, Selbstbeschreibung (FN 17), S. 83 ff. Das gilt zumal dann, wenn man der Rechtstheorie die Rolle eines Wächters der disziplinären Identität zuweist und diese als Firewall gegen die Viren und Spam anderer Wissenschaften versteht, wie es Jestaedt, Theorie (FN 3), S. 70 ff. macht, um das System des Rechts vor einem Absturz durch die heimtückischen Trojaner zu bewahren. 38

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dung von Selbstbildern an, ohne dass ein Ersatz sogleich zur Hand wäre. Das schließt Kommunikation und Irritationen nicht aus, verdeutlicht aber mögliche Gründe für Schwierigkeiten43. Einfacher dürften dagegen die Verbindungen von Rechts- und Sozialwissenschaften vor allem dort sein, wo sich das Recht auf seine „Wirklichkeit“ bezieht, also seinerseits normative Fremdbeschreibungen der Wirklichkeit anfertigt. Hier treffen Wirklichkeitsbeschreibungen auf konkurrierende Fremdbeschreibungen der Wirklichkeit durch andere Wissenschaften44. Dann aber hat man nicht die asymmetrischen Verhältnisse, wie sie beim Zusammentreffen von Fremd- und Selbstbeschreibungen zu vermuten sind, sondern eher die Notwendigkeit des Rechtssystems, sich mit diesen anderen Formen der Beschreibungen von Wirklichkeit auseinanderzusetzen45.

5. Zwischenfazit

Wenn dieser Befund plausibel ist, dann befindet sich die Staatsrechtswissenschaft in einem Spannungsverhältnis von wissenschaftlicher Orientierung und praktischer Relevanz. Dieses ist nicht einfach aufzuheben. Damit ist weder gesagt, dass sie auf eine Theorie verzichten kann, noch soll damit gegen die Verwissenschaftlichung ihres Theorieanspruchs argumentiert werden; aber sie wird sich des spezifischen Charakters bewusst bleiben müssen, also der schwierigen Ausbalancierung von Wissenschaftlichkeit und praktischer Relevanz in dem System, das sie reflektieren und rationalisieren will. Das wird sich nur durch eine deutlichere Nutzung der Differenzierung auffangen lassen, die ohnehin im Rechtssystem ausgeprägt ist, die zwischen Rechtspraxis, Dogmatik und Theorie46. Der Theorie käme dann von beiden Seiten die Aufgabe zu, unter Wahrung der jeweiligen Funktionsbezüge die notwendigen Vermittlungsleistungen zu erbringen47. Vor diesem Hintergrund dürfte Skepsis angebracht sein, Rechtswissenschaft und Staatsrechtslehre als Sozialwissenschaft zu konzipieren. Dann müssten ihre Theoriegrundlagen in Richtung einer Sozialwissenschaft viel stärker ausgearbeitet werden als die Staatsrechtslehre es – jedenfalls der43 Damit ist über den Sinn und die Notwendigkeit rechtssoziologischer Erkenntnisse für die Rechtswissenschaft nichts gesagt, denn natürlich sind Fragen der Richtersoziologie, der Anwaltschaft, des Zugangs zum Rechtssystem etc. wichtige Fragen auch einer Rechtswissenschaft. 44 Vgl. W. Hoffmann-Riem, Sozialwissenschaften im Verwaltungsrecht: Kommunikation in einer multidisziplinären Scientific Community, in: Die Wissenschaft vom Verwaltungsrecht, Die Verwaltung 1999, Beiheft 2, S. 83 (87 ff.). 45 Vgl. dazu unten IV. 46 Zur Verstärkung der Theorieanstrengungen vgl. auch die Nachweise in FN 15. 47 Zur Theorieform als struktureller Koppelung in diesem Zusammenhang Luhmann, Recht (FN 18), S. 543 f.

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zeit – tut, und wenn dies gelänge, würde sie vermutlich den hohen Preis praktischer Irrelevanz zu zahlen haben. Indessen gibt es natürlich anspruchsvolle Versuche, die Einheit der Sozialwissenschaften unter Einschluss des Rechts zu begründen48. So hat etwa Christoph Engel im Gefolge kritisch-rationalistischer Positionen die Hoffnung geäußert, mit dem Fortschritt der allgemeinen Wissenschaftstheorie ließe sich ein solches Konzept verwirklichen49. Auch steuerungsorientierte Programme könnten sich auf entsprechende und ausgearbeitete Theorieangebote berufen, was freilich in den entsprechenden Diskussionen, soweit ich sehe, selten geschieht50. Das ist nicht grundsätzlich zu kritisieren, aber man verspielt auch eine Schärfung der eigenen Theoriegrundlagen, wenn man darauf verzichtet, und handelt sich dann eine gewisse Beliebigkeit ein. Ungeachtet dessen sprechen – abgesehen von dem Schicksal dieser wissenschaftstheoretischen Positionen im Wissenschaftssystem selbst, das nicht gerade die Hoffnung auf eine in diesem Sinne integrierte Sozialwissenschaft deckt – gute Gründe dagegen, diesen Versuch aussichtsreich zu gestalten. Der Sache nach geht es also vor allem darum, ob und in welcher Weise Sozialwissenschaft für die Rechtswissenschaft bedeutsam ist51 und in welcher Weise die Verknüpfung erfolgt, also wie unterschiedliche Wissensbestände genutzt werden. Dabei steht der Sache nach weniger das „Ob“ der Nutzung unterschiedlicher Wissensbestände in Frage. Denn zweifellos nutzt die Rechtswissenschaft sozialwissenschaftliche Wissensbestände ständig52. Eher geht es um Art und Ausmaß der Verknüpfung. Diese Verknüpfungen werden üblicherweise unter dem Gesichtspunkt von Interdisziplinarität abgehandelt53. Das trifft zweifellos einen wichtigen Aspekt. Aber man übersieht leicht, dass die Verknüpfung unterschiedlicher Wissensbestände nicht nur eine mögliche wissenschaftliche Option markiert, die man dann – je nach Vorlieben des Wissenschaftlers – so oder anders behandeln kann, sondern auch eine ins Rechtssystem eingeschriebene 48 Dahinter steht die Idee der Einheit der Sozialwissenschaften vor dem Hintergrund der wissenschaftstheoretischen Position des Kritischen Rationalismus; vgl. insoweit die Nachweise in FN 4. 49 Engel, Rechtswissenschaft (FN 13), S. 33 ff. 50 Engel, Rechtswissenschaft (FN 13), S. 33 ff. 51 Freilich geht es auch umgekehrt darum, ob und in welchem Umfang die normativen Beschreibungen für die Sozialwissenschaft bedeutsam sein können, ein häufig vernachlässigter Aspekt; zu Recht in diesem Sinne Möllers, Methoden (FN 1), Rn. 49. Wenn etwa die Rechtswissenschaft das Funktionieren bestimmter Institutionen beschreibt, beinhaltet dies auch einen Beitrag zum empirischen Verständnis derselben, wird freilich noch zu selten als solches wahrgenommen, und noch aus jedem interdisziplinären Projektzusammenhang kann man wissen, wie schwer es für Sozialwissenschaftler ist, diese Beschreibungsangebote zu akzeptieren. 52 Möllers, Methoden (FN 1), Rn. 47 ff., der diese Rezeptionsvorgänge zutreffend als unvermeidlich beschreibt. 53 Vgl. etwa Möllers, Methoden (FN 1), Rn. 42 ff.; O. Lepsius, Sozialwissenschaften im Verfassungsrecht – Amerika als Vorbild?, JZ 2005, S. 1 ff.

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Anforderung54. Insoweit wären die Konstellationen, die üblicherweise unter dem Stichwort Interdisziplinarität erörtert werden, zumindest analytisch zu differenzieren. Sinnvollerweise bezieht man Interdisziplinarität auf die Zusammenarbeit von wissenschaftlichen Disziplinen bzw. und vor allem subdisziplinärer Fachgemeinschaften und Felder55. Im anderen Fall geht es um die Verarbeitung von Wissensbeständen, die von anderen Wissenschaften generiert werden und rezipiert werden müssen, um eine normative Wirklichkeitsbeschreibung anzufertigen. Auch wenn es natürlich auf allen Ebenen der Rechtswissenschaft insoweit Übergänge gibt, erzeugt die gemeinsame Behandlung eher Probleme. Interdisziplinärer Austausch erfolgt vor allem in der Theorie und Methode. Rezeption von Wissensbeständen anderer Wissenschaften erfolgt regelmäßig und notwendig im Vorgang der Rechtskonkretisierung und ist schon darum unvermeidlich56.

III. Interdisziplinarität als Problem? Interdisziplinarität ist nicht wissenschaftspolitische Mode, sondern Folge disziplinärer Differenzierung und natürlich entsprechender Anreizstrukturen der Forschungsförderung. Ungeachtet der bekannten Schwierigkeiten interdisziplinären Arbeitens und der Risiken, die immer wieder beschrieben worden sind, ändert dies nichts an dem fruchtbaren Irritations- und damit auch Innovationspotential interdisziplinärer Arbeit. Sie erscheinen unbefangener Betrachtung denn auch für die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht mittlerweile als selbstverständlich57. Aber Selbstverständlichkeit heißt nicht Unbestrittenheit. Interdisziplinäres Arbeiten erzeugt, wo es gelingt, neue Wissensbestände, neue Zugänge zu Fragen und verändert damit notwendig auch den disziplinären Kontext58. Sie stellen damit immer auch die Identität einer Disziplin auf den Prüfstand. Entsprechende Verdikte gegen Interdisziplinarität sind daher schnell zur Hand: Einheitsbrei und Methodensynkretismus59, neogotische Kirchen60, um nur einige der wiederkehrenden Bedenken zu nennen. 54

Vgl. dazu unten IV. Vgl. J. Gläser, Wissenschaftliche Produktionsgemeinschaften, 2006, S. 159. 56 Möllers, Methoden (FN 1), Rn. 48. 57 Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre (FN 7), S. 16 f., 22 ff.; A. Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: GVwR I (FN 1), § 1 Rn. 39; G. F. Schuppert, Schlüsselbegriffe der Perspektivenverklammerung von Verwaltungsrecht und Verwaltungswissenschaft, in: Die Wissenschaft vom Verwaltungsrecht, Die Verwaltung Beiheft 2, 1999, S. 103 ff.; H.-H. Trute, Die Wissenschaft vom Verwaltungsrecht: Einige Leitmotive zum Werkstattgespräch, ebd. S. 9 (13 ff.); Hoffmann-Riem, Sozialwissenschaften (FN 44); Engel, Rechtswissenschaft (FN 13). 58 Hoffmann-Riem, Sozialwissenschaften (FN 44), S. 97 ff.; Voßkuhle, Verwaltungsrechtswissenschaft (FN 57), Rn. 39. 59 Zur Kritik an dem Topos vom Methodensynkretismus vgl. Bumke, Entwicklungen (FN 1), S. 124 f.; Hoffmann-Riem, Sozialwissenschaften (FN 44), S. 97 ff. 55

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Diese allerdings dürften durchaus einen Kern des Richtigen haben, wenn man sich das Schicksal der Allgemeinen Staatslehre oder der Verwaltungswissenschaft vor Augen führt. Sie sind eher Konglomerate unterschiedlicher disziplinärer Ansätze. Auf dieser Ebene setzt etwa die Kritik von Möllers an der Allgemeinen Staatslehre als – wenn man so will – „interdisziplinärer Disziplin“ an. Auch wenn man Möllers generelle Skepsis in Bezug auf Interdisziplinarität nicht teilen muss61, so dürfte gleichwohl richtig sein, dass das Unterfangen einer „interdisziplinären Disziplin“ skeptisch zu beurteilen ist. Zu Recht betont Badura, daß die Gegenstände der Allgemeinen Staatslehre, soweit sie nicht ohnehin in das Feld der Staatsrechtslehre abgewandert sind, heute in der politischen Soziologie, der Politikwissenschaft, der Rechtstheorie und Methodenlehre abgehandelt werden und zwar auf einem disziplinären Niveau, das von einer solchen konglomeraten Form nicht eingeholt werden kann: eine die methodische Einheit sprengende Vielfalt von Verzweigungen62. Es ist nicht recht zu sehen, nach Maßgabe welcher Paradigmen, Fragestellungen und Methodenstandards ein solches Unterfangen gelingen könnte. Das Schicksal der Verwaltungslehre / Verwaltungswissenschaft macht deutlich, dass dabei leicht ein heterogenes Gebilde herauskommt, das unter dem Zwang beständiger Identitätsvergewisserung steht63. Aber das besagt nur etwas über die Schwierigkeiten, Interdisziplinarität zu einem Fach zu machen, gleichsam zu einer interdisziplinären Disziplin, Interdisziplin64 oder Integrationswissenschaft65. Das gelingt letztlich nur, wenn ein einheitliches Paradigma, Fragestellungen und Methoden zugrunde liegen, nicht aber schon über den Gegenstandsbezug. Aber das besagt zunächst einmal wenig darüber, ob es sinnvoll ist, Modelle, Theorien und Wissensbestände anderer Wissenschaften zu rezipieren oder nicht. 60 C. Möllers, Staat als Argument, 2000, S. 420, dort freilich zur Allgemeinen Staatslehre. 61 Möllers, Staat (FN 60), S. 419. Der von ihm für diese These in Anspruch genommene N. Luhmann, Wissenschaft der Gesellschaft, 1990, S. 457 f. dürfte nur schwer als Gewährsmann dienen können. Ihm geht es ersichtlich um eine Differenzierung dessen, was mit Interdisziplinarität gemeint ist. Ebensowenig taugt Mittelstraß zum Zeugen gegen Interdisziplinarität; man lese nur Mittelstraß, Wohin geht die Wissenschaft?, in: ders., Der Flug der Eule, 1997, S. 72 ff. Beiden geht es letztlich um das Problem von disziplinärer Differenzierung und Verkoppelung, die natürlich die altbekannten Schwierigkeiten aufwirft. Aber Disziplinen sind keine ontologischen Entitäten! Lernprozesse sind nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern zur Fortsetzung disziplinärer Arbeit unerlässlich. 62 P. Badura, Die Methoden der neueren allgemeinen Staatslehre, Vorwort zur zweiten Auflage, 1998, S. XII. 63 Vgl. nur J. Bogumil / W. Jann, Verwaltung und Verwaltungswissenschaft in Deutschland, 2005, S. 40 ff.; Voßkuhle, Verwaltungsrechtswissenschaft (FN 57), Rn. 39; zu dem Problem auch H.-H. Trute / A. Pilniok, Governance und Verwaltungswissenschaft, in: V. Mehde / U. Ramsauer (Hrsg.), Grundlagen der modernen Verwaltungslehre, 2007; allgemein J. Ziekow (Hrsg.), Verwaltungswissenschaften und Verwaltungswissenschaft, 2003. 64 Bogumil / Jann, Verwaltung (FN 63), S. 41. 65 K. König, Erkenntnisinteressen der Verwaltungswissenschaft, 1970, S. 247.

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Ebenso wenig besagt dies etwas über den Sinn, unterschiedliche Disziplinen aufeinander zu beziehen66, auch nicht unter einem einheitlichen Titel67. Sofern damit ein Zugewinn an analytischer Kompetenz verbunden ist, lässt sich dagegen schwerlich etwas einwenden. Ohnehin besteht das Meiste in okkasioneller oder temporärer Interdisziplinarität68, erfolgt also über Zufälle und Projekte. Folgenreich für die jeweilige Disziplin wird dies nur dann, wenn daraus Strukturen erwachsen, an die die jeweilige Disziplin anseilen kann, und das bedeutet für die Staatsrechtslehre vor allem, dass die entsprechenden Versuche auch dogmatisch folgenreich werden können. Ansonsten bleiben sie mehr oder weniger anregende Versuche, die die Irritationen aufnehmen und damit neue Fragestellungen generieren oder eben auch nicht. Alles das besagt also überhaupt nicht, dass sich die Staatsrechtslehre nicht über bestimmte Begrifflichkeiten vermittelt (eben Brückenbegriffe69), mit den Fremdbeschreibungen etwa des Staates, der Verwaltung, der Verfassung, der Staatszwecke oder anderer Begriffe mehr auseinandersetzen kann und, wenn sie nicht blind werden will, auch muss. Wer die politischen Prozesse durch Recht ordnen will, wird nicht umhinkommen, sich mit unterschiedlichen Beschreibungen derselben auseinander zu setzen. Nun wird das auch nicht wirklich in Abrede gestellt. Allerdings wird die Verwendung von Brückenbegriffen oder interdisziplinären Verbundbegriffen kritisiert, weil Begriffe nur im Kontext einer Disziplin (verstanden als eine Sprachgemeinschaft) eine Bedeutung haben können70. Selbst wenn das richtig sein sollte, ändert dies nichts. Denn natürlich werden Begriffe in ihrem jeweiligen Kontext gebraucht. Aber diese Begriffe (wie zum Beispiel Staat, Gewährleistungsstaat, Verfassung, Hierarchie, Governance) werden von mehreren Seiten verwendet, und damit zu so etwas wie Kontaktbegriffen, auf die sich die Fachdiskurse jeweils beziehen (können). Und zweifellos dürften die Schwierigkeiten gerade darin bestehen, sie in ihrem jeweiligen Kontext zu verstehen und daraufhin die Anschlussmöglichkeiten abzutasten. Aber sie strukturieren den über wissenschaftliche Felder hinausgreifenden Diskurs und haben genau darin ihren Sinn71. Insoweit sind sie so etwas wie eine Strukturbildung gegen den bloßen Zufall interdisziplinärer Kontakte.

66 So jetzt auch Möllers, Methoden (FN 1), Rn. 56: Nützlichkeit einer verwaltungswissenschaftlichen Zusammenführung von vorhandenem Wissen. 67 Vgl. dazu G. F. Schuppert, Staatswissenschaft, 2003, S. 24 ff. 68 Dazu Luhmann, Wissenschaft (FN 61), S. 457 ff. 69 Dazu Schuppert, Schlüsselbegriffe (FN 57), S. 109 ff. 70 Möllers, Theorie (FN 34), S. 22 ff. 71 Insoweit kommt es nicht darauf an, ob diese ausschließlich dem innerrechtswissenschaftlichen Interdisziplinaritätsbedürfnis (was immer das sei) dienen, oder dass diese zwei oder mehreren Disziplinen gleichzeitig und gleichsinnig zugehören; so aber Jestaedt, Theorie (FN 3), S. 74.

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Zweifellos liegen darin auch Risiken, die gerade in der Vielfalt der Beschreibungsmöglichkeiten liegen und deren Rückseite dann eine gewisse Beliebigkeit sein kann72. Aber insgesamt wundert schon ein wenig die immer wieder anzutreffende Abneigung gegen Interdisziplinarität, bei der man nicht recht weiß, ob sie sich gegen Interdisziplinarität als solche, bestimmte Formen ihrer Überziehung oder einfach bestimmte Theorieangebote richtet. Wissenschaftsgeschichtlich wie wissenschaftssoziologisch ist das eigentliche Problem nicht Interdisziplinarität, sondern disziplinäre Verengung und daraus folgende Erschöpfung. Interdisziplinarität ist eine Antwort73, die nicht immer befriedigend ausfällt. Darin nun genau das Problem sehen zu wollen, zeigt vielleicht mehr disziplinäre Verunsicherung an als eigentlich nötig ist. Diese Risiken der Beliebigkeit sind nicht nur ein Problem der Rechtswissenschaft, sondern der Wissenschaft allgemein. Aber hier helfen zunächst einmal Anforderungen, die an solche Transformationsvorgänge gestellt werden74. Warum diese Beschreibung und keine andere, was ist der Vorteil, warum kann das für eine rechtswissenschaftliche Konstruktion bedeutsam sein? Die Selektivität kann dadurch freilich nicht verhindert, wohl aber ausgewiesen werden75. Für eine stärker auf das Wissenschaftssystem ausgerichtete Arbeit ist dies ohnehin nichts Ungewöhnliches und – wie alle anderen Konstruktionen auch – kann sie kritisiert werden, im Hinblick auf die Selektivität ebenso wie auf ihre normative Adäquanz. Sie kann also in den wissenschaftlichen Kommunikationszusammenhängen selbst aufgelöst werden. Darüber hinaus ist es zumal für eine Wissenschaft, die eine Dogmatik ausgebildet hat, nicht sehr wahrscheinlich, dass Dogmatik auf Dauer für selektive Umschreibungen anfällig ist. Am Ende wird jeder Wissensbestand noch in Dogmatik übersetzt werden müssen, soll er folgenreich werden76. Von daher wird man gerade auf dieser Ebene wenig Grund zur Sorge haben müssen, eher schon die, dass mangels theoretischer Leistungen die Staatsrechtslehre den Kontakt zu anderen Disziplinen verliert, weil die für diese notwendigen theoretischen Übersetzungsleistungen nicht vorhanden sind. 72 T. Vesting, Nachbarwissenschaftlich informierte und reflektierte Verwaltungsrechtswissenschaft – „Verkehrsregeln“ und „Verkehrsströme“, in: Schmidt-Aßmann / Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden (FN 1), S. 253 (278 ff.). Man kann auch durchaus ein Problem darin sehen, dass diese Begrifflichkeiten leicht zur eigentlichen wissenschaftlichen Beschreibungsmöglichkeit stilisiert werden können; vgl. Möllers, Theorie (FN 34), S. 45 f. Aber auch das ist kein grundsätzlicher Einwand. 73 Und nur insoweit ist die Bezeichnung von Interdisziplinarität als Reparaturphänomen, wie Möllers, Staat (FN 60), S. 419 unter Bezugnahme auf Mittelstraß meint, richtig. 74 In diesem Sinne auch Voßkuhle, Verwaltungsrechtswissenschaft (FN 57), Rn. 39; Vesting, Verwaltungsrechtswissenschaft (FN 72). 75 Dafür auch Möllers, Methoden (FN 1), Rn. 48. 76 Ähnlich Bumke, Entwicklung (FN 1), S. 124 f., 128 f., dort formuliert über das Verhältnis von rechtsakts- und verhaltensbezogener Perspektive.

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IV. Die Rezeption von sozialwissenschaftlichen Wissensbeständen Darüber hinaus ist der Umgang mit Wissensbeständen anderer Wissenschaften schon immer in das Rechtssystem eingeschrieben. Es ist notwendiger Bestandteil der Rechtskonkretisierung. Auf einer generellen Ebene arbeitet die Rechtswissenschaft wie auch die Rechtspraxis immer schon mit Beschreibungen dessen, was normativ geordnet werden soll. Für die Verfassungsrechtsnormen ist dies vor allem in der Methodik von Friedrich Müller als sachgeprägte Ordnungsmodelle auf den Begriff gebracht worden77. Sie erfordern schon für ihre Konkretisierung die Aufnahme der Strukturelemente des zu ordnenden Sachbereichs und ihre normativ angeleitete Transformation zu einer normativen Beschreibung der „Wirklichkeit“. Statt ausführlicher Analysen sei nur auf einige Felder wie Menschenwürde, Leben, Persönlichkeit, Wissenschaft, Kunst verwiesen, die sich dadurch auszeichnen, dass Wissensbestände ganz unterschiedlicher Teilsysteme und Disziplinen im Rechtssystem für normative Konstruktionen verwendet werden müssen. Das gilt für philosophische oder sozialphilosophische Konzepte der Menschenwürde nicht anders als für Beschreibungen der Forschung durch Wissenschaftstheorie und Wissenschaftsforschung. Diese Rückgriffe sind nicht nur wissenschaftlichen Konstruktionsphantasien zu verdanken, die man getrost auch unterlassen könnte, sondern in die Rechtsordnung, auch die Verfassungsrechtsordnung, eingeschrieben. Ebenso verweist die einfache Rechtsordnung von der Marktregulierung über das Risiko- und Umweltrecht bis hin zum Planungsrecht auf Wissensbestände anderer Wissenschaften. Das Recht trifft insoweit immer schon auf die Beschreibungen anderer Wissenschaften, die es nach Maßgabe seiner eigenen Kriterien integrieren muss. Auf einer generalisierten Ebene hatte die Verwendungsforschung – bezogen auf das Problem von Theorie und Praxis – diesen Zusammenhang als ein Problem der De- und Rekontextualisierung thematisiert. Daran anknüpfend hat Hoffmann-Riem die Transformation sozialwissenschaftlicher Wissensbestände in rechtliche Operationen beschrieben78. Als Schnittstelle fungiert hier vor allem die normative Wirklichkeitskonstruktion, die über sozialwissenschaftliche Wissensbestände verändert wird, ohne deswegen ihren Charakter als eine normative Konstruktion zu verändern79. Das Abstellen auf die Semantik des Wissenschaftssystems, um die es bei Interdisziplinarität geht, erzeugt möglicherweise falsche Frontstellungen. Ebenso wenig lassen sich diese Konstellationen vor dem Hintergrund einer positivistischen Rechtsnormtheorie80 über die Unterscheidung von Norm 77 78 79 80

Vgl. dazu Müller / Christensen, Methodik (FN 5). Hoffmann-Riem, Sozialwissenschaften (FN 44), S. 83 ff. Hoffmann-Riem, Sozialwissenschaften (FN 44), S. 84 ff. Zur Kritik vgl. Müller / Christensen, Methodik (FN 5), Rn. 162 ff.

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und Fakten lösen81. Für die Norm ist dann die Rechtswissenschaft, für die Fakten sind dann die Nachbarwissenschaften zuständig. Daraus folgt mit einer gewissen Zwangsläufigkeit ein arbeitsteiliges Modell des Verhältnisses von Staatsrechtslehre und Sozialwissenschaft, wie auch anderen Nachbarwissenschaften82. Indes ist diese Unterscheidung aus mehreren Gründen unzureichend. Schon innerhalb des tatsächlichen Vorgangs der Rechtskonkretisierung sind Recht und Wirklichkeit keine selbstständig für sich bestehenden Größen; das Recht und die geordnete Wirklichkeit sind verschränkt. So gesehen erzeugt die Unterscheidung eher ein Scheinproblem. Sie löst sich nicht von einer zu einfachen Referenz auf Wirklichkeit, die dann der Normativität gegenüber gestellt wird83. Bei genauerer Betrachtung sind diese Tatsachen nichts anderes als ebenfalls soziale Konstruktionen des Rechtssystems84, die sich auf konstruktive Leistungen anderer Wissenschaften stützen, wo sie denn vorhanden sind. Diese werden schon über dogmatische Regeln, Beweisregeln, Regeln über die Beteiligung von Sachverständigen konfiguriert oder für Zwecke ihrer Verwendung generiert. Es ist im Übrigen nicht zu übersehen, dass in vielen Feldern die Rechtspraxis nicht auf Tatsachen zurückgreift, die außerhalb eines bestimmten normativen Kontextes in der Wissenschaft als solche generiert werden und die dann über Beweisregeln und Sachverständige in die rechtliche Entscheidung transformiert werden. Darauf kann ein einigermaßen komplexes System kaum vertrauen. Vielmehr wird das Wissen – etwa bei Regulierungsentscheidungen und Risikoentscheidungen – normativ (mit-) konstruiert, indem die Rechtsordnung detailliert Themen, Fragestellungen und zum Teil auch methodische Anforderungen stellt85. Die Intensität der Verkopplung kann man etwa in der Marktregulierung des Telekommunikationsrechts beobachten, die in ihrer Abfolge von Marktdefinition, Marktanalyse und Regulierungsentscheidung über diverse Verfahrensschritte hinweg ökonomische Wissens81 Gegen die Unterscheidung von Recht und Wirklichkeit in diesem Zusammenhang zutreffend Möllers, Methoden (FN 1), Rn. 48. 82 Lepsius, Sozialwissenschaften (FN 53), S. 3 f. Arbeitsteilige Konzepte sollen dadurch gekennzeichnet sein, dass die Sozial- und Naturwissenschaften für die Fakten, das Recht für die Bewertung zuständig seien, bei integrativen Konzepten fühlten sich die Juristen selbst für die Ermittlung der Fakten zuständig. Einmal abgesehen davon, dass sie dies im Konkretisierungsvorgang häufig machen müssen, wird damit eine scharfe Zäsur erzeugt, die so nicht gegeben ist. 83 Zur Kritik Bumke, Entwicklung (FN 1), S. 130. 84 Es ist ein nach Maßgabe rechtlicher Relevanzkriterien beobachteter und insoweit immer schon transformierter Sachverhalt; vgl. J. Harenburg / G. Seeliger, Transformationsprozesse in der Rechtspraxis, in: G. Böhme / M. v. Engelhardt (Hrsg.), Entfremdete Wissenschaft, 1979, S. 56 ff. 85 Vgl. R. Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006, S. 71; H. Schulze-Fielitz, Responses of the Legal Order to the Loss of Trust in Science, in: H. Nowotny / D. Pestre / E. Schmidt-Aßmann / H. Schulze-Fielitz / H.-H. Trute, The Public Nature of Science under Assault, 2005, S. 63 (65 ff.); H.-H. Trute, Democratizing Science – Expertise and Participation in Administrative Decision-Making, ebd. S. 87 (91 f., 104 f.).

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bestände in Rechtsakte transformiert und damit auch von der weiteren wissenschaftlichen Entwicklung – wenn auch auf Zeit – partiell abkoppelt. Nichts anderes gilt etwa im Gentechnikrecht86. Insoweit werden die Wissensbestände normativ schon in ihrer Genese mitgeprägt und damit für die Verwendung aufbereitet. Mit der Unterscheidung von Norm und Fakten lässt sich das nicht zureichend abbilden. Insoweit kommt auch rechtswissenschaftliche Theoriebildung, die die Rechtspraxis rationalisieren will, nicht umhin, die Aufnahme von oder den methodischen Umgang mit anderen Wissensbeständen aufzunehmen87. Nichts anderes gilt für die Rechtsdogmatik und Rechtspraxis. Insoweit müssen auf allen Ebenen, von der Theorie über die Dogmatik bis hin zur Entscheidung, sozialwissenschaftliche Modelle, Wissensbestände und Beschreibungen verarbeitet werden88. Dafür gibt es eine Reihe von Vorschlägen, seien sie aus kritisch-rationalistischer Sicht entworfen89 oder der Strukturierenden Rechtslehre entnommen. Aber man wird gleichwohl nicht sagen können, dass die Rezeptionsvorgänge damit schon hinreichend untersucht wären. Während auf der einen Seite oftmals das für rechtliche Entscheidungen benötigte Mikrowissen durch andere Wissenschaften nicht zur Verfügung steht90, hat man es in anderen Bereichen mit einem Überangebot konkurrierender Beschreibungen zu tun oder der schnellen Selbsttransformation bestimmter Bereiche, die den Rückgriff auf bisherige Beschreibungsangebote entwertet und damit in 86

Dazu Trute, Democratizing (FN 85). Exemplarisch insoweit etwa die Methodik Friedrich Müllers, die mit der Konzeption der Unterscheidung von Sachbereich und Normbereich ein strukturiertes Modell der normativ geleiteten Integration anderer Wissensbestände zur Verfügung stellt und dies aus einer Reflexion dessen, was in der Praxis des Bundesverfassungsgerichts immer schon geschieht; dazu Müller / Christensen, Methodik (FN 5). Sie entwickelt in methodischer Absicht einen strukturierten normativen Filter als Methodik, die ein Abgleiten in die unreflektierte Übernahme von Fremdbeschreibungen anderer Wissenschaften vermeiden soll. Aber es bleibt letztlich die Leerstelle der Referenz auf eine Wirklichkeit und damit genau die Frage, wie letztlich mit den unterschiedlichen Beschreibungsangeboten methodisch reflektiert umgegangen werden soll. 88 Insoweit trifft die These von Oliver Lepsius nicht zu, dass auf der Ebene der Dogmatik keine sozialwissenschaftliche Theorie verarbeitet werden könnte; vgl. ders., Sozialwissenschaften (FN 53), S. 11 f.; eher wird man schon sagen können, dass Dogmatik dies können muss, soll sie die Funktion haben, die Entscheidungspraxis zu entlasten; gleichsinnig Engel, Rechtswissenschaft (FN 13), S. 12 ff.; Harenburg / Seeliger, Transformation (FN 84), S. 59 f. 89 Harenburg, Rechtsdogmatik (FN 4), S. 253, 279, 303 ff. mit entsprechend strukturierenden Vorschlägen zur Konzeption einer solchen Dogmatik. Für kritisch-rationalistische Positionen ist es denn selbstverständlich kein Problem zuzugestehen, dass es nachgerade eine fruchtbare Heuristik möglicher Entscheidungsalternativen geben muss, deren Restriktionsbedingungen allein in der methodisch korrekten Zurechnung zu Normen liegt. Ob diese Heuristik nun sozialwissenschaftliche oder andere Wissensbestände nutzt, ist dabei letztlich gleichgültig. 90 Zu Recht Möllers, Methoden (FN 1), Rn. 48, der zugleich auf den trade off zwischen Abstraktionsgrad und Komplexität verweist, ebd. Rn. 45 am Beispiel der Institutionenökonomie. 87

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Gefahr steht, an den Problemen vorbeizugehen91. Eine lohnende Aufgabe für eine Staatsrechts- wie Verwaltungsrechtswissenschaft könnte es dann vor diesem Hintergrund sein, die unterschiedlichen Formen von Bezug auf andere Beschreibungen zu systematisieren und damit zur Beantwortung der Frage beizutragen, wie denn an diesen Schnittstellen von normativen Beschreibungen eigentlich Normativität angesichts der Pluralität von Beschreibungsangeboten konstruiert wird und wie diese Pluralität von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis verarbeitet werden kann, ohne in Beliebigkeit abzugleiten. Das verlangt einen wissenssoziologisch informierten Zugang, der sich gleichwohl auf die Selbstbeschreibungen im Rechtssystem einlässt. Jenseits der Großformeln von Interdisziplinarität wäre dann eine genauere Beschreibung erforderlich, welche Wissensbestände eigentlich an welcher Stelle im Rechtssystem mit welchen Folgen verwendet werden und wie normativ das Abgleiten in pure Fremdbeschreibungen anderer Wissenschaften verhindert wird. Das wäre so etwas wie eine Wissenstheorie der Staatsrechtswissenschaft, die den Vorteil hätte, sowohl eine Theorie der Rechtswissenschaft als auch eine theoriegeleitete Beschreibung der Rechtspraxis zu sein. Zugleich wäre es ein Beispiel für theoretische Fragestellungen und würde vielleicht manche Kontroverse vermeiden helfen, vor allem aber den Umgang mit einer Begrifflichkeit differenzieren, die die Rechtspraxis schon deshalb nicht trifft, weil sie deren Entscheidungsprobleme weder rationalisieren noch entlasten kann.

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Zu diesem Problem Vesting, Verwaltungsrechtswissenschaft (FN 72), S. 278 ff.

III. Staatsrechtslehre zwischen Wissenschaft und politischer Macht

Die politischen Dimensionen der Staatsrechtslehre Von Andreas Voßkuhle, Freiburg i. Br.

I. Zwischen Selbstvergewisserung und Selbstbehauptung: Das Bemühen um Grenzziehungen zwischen Politik und Recht Nach Michael Stolleis ist die Staatsrechtslehre „unter den juristischen Einzeldisziplinen das politische Fach schlechthin“1. Diese Feststellung ist getragen von der Erkenntnis, dass Staat, Recht und Politik in einem engen, kaum auflösbaren Verhältnis zu einander stehen2 oder wie Heinrich Triepel3 es in seiner berühmten Rektoratsrede formuliert: „Das Staatsrecht hat ja im Grunde gar keinen anderen Gegenstand als das Politische“. Gleichwohl oder gerade deshalb wird spätestens seit dem Aufkommen des Rechtspositivismus Mitte des 19. Jahrhunderts das Verhältnis von Recht und Politik innerhalb der Staatsrechtslehre als zentrales Problem wahrgenommen. Lässt man die verschiedenen Epochen und Debatten vor dem inneren Auge noch einmal kurz Revue passieren – erinnert sei hier nur an die Etablierung der juristischen Methode durch die „Reichsstaatslehre“ in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, den sog. Methodenund Richtungsstreit der Staatsrechtslehre in der Weimarer Zeit und das Ringen um eine methodische Disziplinierung der verfassungsgerichtlichen Kontrollkompetenz unter dem Grundgesetz4 –, dann stehen sich im Wesentlichen zwei jeweils „angreifbare“ Positionen gegenüber: der eher positivistisch orientierte Teil der Staatsrechtslehre5 tritt konsequent für ein Trennungsmodell zwischen Recht und Politik ein; individuelle Wertvor-

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Michael Stolleis, Staatsrechtslehre und Politik, 1996, S. 6. Deutlich Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Eigenart des Staatsrechts und der Staatsrechtswissenschaft, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, 1. Aufl. 1991, S. 15: „Das Staatsrecht ist in einem spezifischen Sinn politikbezogenes Recht“. Vgl. ferner nur Josef Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht“, in: ders. / Paul Kirchhof (Hrsg.), HStR VII, 1. Aufl. 1992, § 162, Rn. 3 f. 3 Heinrich Triepel, Staatsrecht und Politik, 1927, S. 12. 4 Zu diesen und anderen Etappen der Auseinandersetzung vgl. die Nachw. bei Andreas Voßkuhle, Methode und Pragmatik im Öffentlichen Recht, in: Hartmut Bauer u. a. (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht, 2001, S. 171 (173 f.). 5 Aus neuerer Zeit prononciert Matthias Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein . . ., 2006, insbes. S. 30 – 38. Vgl. ferner etwa Jan C. Schuhr, Rechtsdogmatik als Wissenschaft, 2006. 2

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stellungen und Vorverständnisse sowie Gerechtigkeits-, Zweckmäßigkeitsund Folgeerwägungen gehören aus diesem Blickwinkel nicht zum Gegenstand staatsrechtswissenschaftlicher Forschung, sind aber unzweifelhaft Teil der juristischen Praxis, die folglich teilweise aus dem wissenschaftlichen Bearbeitungshorizont ausgeblendet wird. Gerade dies versuchen die Vertreter der geisteswissenschaftlichen Richtung zu vermeiden6; sie sehen sich dadurch aber seit jeher mit dem Vorwurf der Irrationalität konfrontiert7, der durch den Hinweis auf erkenntnistheoretische und interdisziplinäre Notwendigkeiten abgeschwächt, jedoch nicht völlig entkräftet wird. Im Kern streitet man also um den Wissenschaftscharakter der eigenen Disziplin und, was noch wichtiger erscheint, um die Autorität und Legitimität der eigenen Aussagen im gesellschaftlichen Diskurs um eine gerechte Ordnung8. Da der Hinweis auf rechtliche Vorgaben, vor allem auf das höherrangige und nicht so leicht änderbare Europa- und Verfassungsrecht, gegenüber „politischer“ Kritik von anders Denkenden immunisiert, neigen letztlich auch Nicht-Positivisten in der juristischen Zunft dazu, die Grenze zwischen Recht und Politik bei der Darstellung9 ihrer Überlegungen zumindest formal unter Hinweis auf die Bindungswirkung der juristischen Methode aufrecht zu erhalten10. Dieser Umstand erklärt den bis heute unsicheren Status der Rechtspolitik innerhalb der Rechtswissenschaft11 und die Abwehrreaktionen, die eine Verwendung des Prädikats 6

Vgl. die in FN 1 bis 3 Genannten. Dieser Vorwurf hat Tradition, wie etwa die Kritik des staatsrechtlichen Positivismus an den sog. „Politischen Professoren“ der älteren Staatswissenschaft zeigt, denen die Wissenschaftlichkeit abgesprochen wurde, vgl. dazu aufschlussreich Horst Ehmke, Karl von Rotteck, der „politische Professor“, 1964, S. 4 f. und passim. Zu den politischen Professoren vgl. ferner Wilhelm Bleek, Die Politik-Professoren in der Paulskirche, in: FS Gerhard A. Ritter, 1994, S. 276 ff.; Rudolf Vierhaus, Der politische Gelehrte im 19. Jahrhundert, in: FS Hans Mommsen, 1995, S. 17 ff. m. w. N. 8 Um diesen autonomen Standort hat sich der Rechtswissenschaftler seit jeher bemüht. Argumentativ ist im Laufe der Entwicklung insoweit nur der Geltungsanspruch des Naturrechts durch den Geltungsanspruch des positiven Rechts ausgetauscht worden. 9 Zum Unterschied zwischen Herstellung und Darstellung juristischer Entscheidungen vgl. Wolfgang Hoffmann-Riem, Methoden einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Eberhard Schmidt-Aßmann / ders. (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 9 (20 – 25), und Hans-Heinrich Trute, Methodik der Herstellung und Darstellung verwaltungsrechtlicher Entscheidungen, ebd., S. 293 ff. 10 Exemplarisch Böckenförde, Staatsrechtswissenschaft (FN 2), S. 26: „Die dogmatisch-interpretative Arbeit am Staatsrecht, die Aufgabe der Staatsrechtswissenschaft ist, erfordert einerseits politisches Bewußtsein, sie fordert andererseits die Bindung an eine gesicherte juristische Methode, und zwar eine Methode, die nach rationalen, intersubjektiv vermittel- und nachvollziehbaren, insofern objektiven Kriterien und Standards argumentiert und daher nicht subjektiver Beliebigkeit oder wahlweisen Vorverständnissen offen steht.“ 11 Zur Rechtspolitik als einer Dimension der Rechtswissenschaft überzeugend Ralf Dreier, Zum Selbstverständnis der Jurisprudenz als Wissenschaft, in: ders., Recht, Moral, Ideologie, 1981, S. 48 (56). Vgl. ferner aus neuerer Zeit Ernst v. Hippel, Rechtspolitik. Ziele – Akteure – Schwerpunkte, 1992, S. 183 – 197; Peter Koller (Hrsg.), 7

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„politisch“ in rechtswissenschaftlichen Zusammenhängen immer wieder auslöst; erinnert sei hier nur an die in den 1970er Jahren geführte Diskussion über den „politischen“ Richter12, bei der es letztlich um nichts anderes ging als um die Macht und Verantwortung des Richters angesichts kaum leugbarer Interpretationsfreiräume13. Eine Möglichkeit der Distanzierung zum Politischen stellt insoweit die Engführung des äußerst konturschwachen Politikbegriffs14 dar, indem man ihn etwa auf den Tätigkeitsbereich der staatlichen und kommunalen Ebene sowie der politischen Parteien beschränkt15 oder ihn mit der Fähigkeit zur kollektiv bindenden Entscheidung16 verknüpft. Beide Strategien führen aber nicht nur zu einer „begrifflichen Entpolitisierung“ wichtiger gesellschaftlicher Akteure wie etwa der Presse, der Gewerkschaften oder eben auch der Staatsrechtslehre selbst, sie verbauen vor allem den Zugang zur (wissenschaftlichen) Reflexion politisch relevanter Tätigkeiten jenseits explizit ausgewiesener Politikarenen; bei Lichte betrachtet gerät die politische Dimension der Staatsrechtslehre nämlich erst durch ihre Negierung zum ernsthaften Problem17. Deshalb erscheint es mir sinnvoller, einen weiTheoretische Grundlagen der Rechtspolitik, 1992; Michael Holoubek, Rechtspolitik der Zukunft – Zukunft der Rechtspolitik, 1999. 12 Sie wurde maßgeblich angestoßen durch: Rudolf Wassermann, Der politische Richter, 1972. Zusammenfassende Darstellung der Diskussion im Rückblick bei Horst Zinke, Der Erkenntniswert politischer Argumente in der Anwendung und wissenschaftlichen Darstellung des Zivilrechts, 1982, S. 31 – 36 m. w. N. 13 So Andreas Voßkuhle, Rechtsschutz gegen den Richter, 1993, S. 270 m. w. N. Vgl. ferner z. B. Wilhelm Dütz, Funktionswandel des Richters im Zivilprozeß, ZZP 87 (1974), S. 361 (383 f.); Ernst-Wolfgang Böckenförde, Verfassungsfragen der Richterwahl, 1974, S. 91. 14 Der Politikbegriff, der seinerseits nicht ohne weiteres gleichgesetzt werden darf mit dem „Begriff des Politischen“ (vgl. dazu Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen [1932], 4. Nachdruck der 6. Aufl. 1963, 1996, und aus jüngerer Zeit Ulrich Haltern, Europarecht und das Politische, 2005, S. 44 – 103), ist ebenso schillernd wie unbestimmt. Erhellend zu den verschiedenen Entwicklungslinien und Positionen aus historischer Sicht Ernst Vollrath, Politik, in: Joachim Ritter / Karlfried Gründer (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, 1989, Sp. 1038 – 1072, und Volker Sellin, Politik, in: Otto Brunner / Werner Conze / Reinhard Kosselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, 1978 (Studienausgabe 2004), S. 789 – 874, jeweils m. w. N. Spätestens seit Max Weber (Politik als Beruf, 1919) wird der Politikbegriff in Fortführung der Ideen Machiavellis überwiegend mit dem Machtbegriff gekoppelt, der aber seinerseits konkretisierungsbedürftig und voraussetzungsvoll erscheint, vgl. nur Richard Hauser, Autorität und Macht, 1949; Bernhard Welte, Über das Wesen und den rechten Gebrauch der Macht, 1960; Niklas Luhmann, Klassische Theorie der Macht: Kritik ihrer Prämissen, Zeitschrift für Politik 16 (1969), S. 149 ff.; ders. Die Politik der Gesellschaft, 2002, S. 21 – 58, und zuletzt Georg Zenkert, Die Konstitution der Macht, 2004. Deshalb wird im Folgenden der unspezifischere Begriff der „Einflussnahme“ gewählt. 15 So etwa Ingo v. Münch, Wissenschaftler und Politiker: Gemeinsamkeiten und Unterschiede, Der Staat 45 (2006), S. 83 (84). 16 Näher dazu Luhmann, Politik (FN 14), S. 140 – 169. 17 Genau an dieser Stelle setzen die Vertreter und Vertreterinnen der Critical Legal Studies an, denen zufolge sich hinter der behaupteten Rationalität des Rechts und

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ten Politikbegriff zugrunde zu legen und mit Skalierungen zu arbeiten. Versteht man unter politischem Handeln das auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens gerichtete Verhalten von Individuen, Gruppen, Organisationen, Parteien, Klassen, Parlamenten und Regierungen18, dann existieren insoweit zwei (halbwegs) operationalisierbare Maßstäbe: der Grad der Einflussnahme und der Grad der Verantwortung19. Vor diesem Hintergrund möchte ich im Folgenden idealtypisch zwei politische Dimensionen der Staatsrechtslehre unterscheiden: den Normalfall, den ich mit der Formulierung „akademischer Alltag“ umschreibe (II.), und die von mir so bezeichneten „besonderen Nähebeziehungen“ zur Politik (III.). Letztere sind dadurch gekennzeichnet, dass man ihnen als Staatsrechtslehrer ausweichen kann.

II. Die politische Dimension der Staatsrechtslehre im „akademischen Alltag“ Der „akademische Alltag“ des Staatsrechtslehrers ist durch vergleichsweise geringe Einflussmöglichkeiten auf öffentliche Belange und korrespondierend dazu begrenzte Verantwortlichkeit geprägt, er ist aber nach dem oben dargelegten weiten Politikverständnis keineswegs völlig unpolitisch.

1. Die Kopplung des (staats-)rechtswissenschaftlichen mit dem rechtspraktischen Diskurs

Einen beträchtlichen Teil ihrer Arbeitskraft verwenden die meisten Staatsrechtslehrer auf die Veröffentlichung wissenschaftlicher Beiträge, in denen Probleme der Rechtsgestaltung und Rechtsanwendung mit Bezügen zum Öffentlichen Recht erörtert werden. Ungeachtet des mittlerweile weitgehend entzauberten wissenschaftlichen Ideals objektiver Erkenntnis20 beder Rechtsanwendung klare Machtstrukturen verbergen, die es gilt offen zu legen, vgl. den instruktiven Überblick zum Diskussionsstand bei Günter Frankenberg, Partisanen der Rechtskritik: Critical Legal Studies etc., in: Sonja Buckel / Ralph Christensen / Andreas Fischer-Lescano, Neue Theorien des Rechts, 2006, S. 97 ff. 18 Ähnlich Franz Neumann, Politik, in: Hanno Drechsler / Wolfgang Hilligen / ders. (Hrsg.), Gesellschaft und Staat – Lexikon der Politik, 5. Aufl. 1979, S. 432 f. Vgl. auch Edzard Schmidt-Jortzig, Rechtswissenschaft und praktische Politik, in: GS Sonnenschein, 2003, S. 861 (863). 19 Zum Verhältnis von Politik und Verantwortung vgl. nur Weber, Politik (FN 14), S. 25 und passim. Für den vorliegenden Zusammenhang vgl. ferner die Reflexionen von Gerd Roellecke, Theodor Maunz und die Verantwortung des Öffentlichrechtlers, KJ 27 (1994), S. 344 (348 – 359). 20 Dieses Ideal lässt sich selbst für den Bereich der Naturwissenschaften nicht mehr aufrechterhalten, vgl. nur die wegweisende Schrift von Thomas S. Kuhn, The structure of scientific revolutions, Chicago 1962 (dt.: Die Struktur wissenschaftlicher Revolutionen, 1967), sowie etwa Thomas Nickles, Scientific discovery, logic, and ra-

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steht heute kein Zweifel mehr, dass es sich in beiden Fällen um kreative Tätigkeiten handelt, in die eigene Gerechtigkeitsvorstellungen und Weltbilder einfließen, hinter denen sich jeweils zeitgeistabhängige Gemeinwohlverständnisse verbergen21. Dementsprechend verwundert es kaum, dass jenseits von ganz eindeutigen Sachverhalten das gefundene Ergebnis zu einer Rechtsfrage sehr häufig dem jeweiligen politischen Vorverständnis entspricht. Das zeigt sich anschaulich in den Fällen, in denen über die „richtige“ Auslegung weit gefasster Grundrechtsnormen gestritten wird22, ebenso aber bei der Diskussion verwaltungsrechtlicher Themenstellungen; hingewiesen sei hier nur auf die Deregulierungs-, Privatisierungs- und Umweltschutzdiskussion. Ganz abgesehen davon verlagert sich im öffentlichen Recht der Schwerpunkt der Forschungstätigkeit des Rechtswissenschaftlers mehr und mehr von einer anwendungsbezogenen Interpretationswissenschaft hin zu einer rechtsetzungsorientierten Handlungs- und Entscheidungswissenschaft, innerhalb derer rechtspolitische Gestaltungsoptionen offen analysiert, verglichen und bewertet werden23. Das unhintergehbare Vorverständnis bei der Beschäftigung mit dem Recht allein verleiht staatsrechtlicher Forschung aber noch keine politische Dimension. Sie entsteht erst durch die strukturelle Kopplung24 mit der tionality, Dordrecht 1980. Radikalisierung dieser Erkenntnisse etwa bei Paul Feyerabend, Wider den Methodenzwang, 4. Aufl. 1993. Zur neueren Diskussion vgl. nur den Überblick von Martin Carrier, Wissenschaftstheorie, in: Jürgen Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie, Bd. 4, 1996, S. 738 ff., sowie z. B. John M. Ziman, Real Science, Cambridge 2000, S. 218 ff., und Peter Weingart, Wissenschaftssoziologie, 2003, S. 53 ff. 21 Deutlich bereits Rudolf von Laun, Der Staatsrechtslehrer und die Politik, AöR 43 (1922), S. 145 (162): „Der Jurist, mag er noch so sehr ,Positivist‘ sein, schöpft die Beantwortung der Rechtsfragen nicht bloß aus Gesetz und Logik, sondern auch aus seinem metaphysischen Glauben.“ Vgl. ferner nur Dieter Grimm, Politik und Recht, in: FS Benda, 1995, S. 91 (100) und die materialreiche Analyse von Thomas Würtenberger, Zeitgeist und Recht, 2. Aufl. 1992, S. 157 – 190, 192 – 200, 230 – 238. Aus historischer Sicht: Regina Ogorek, Richterkönig oder Subsumtionsautomat, 1986. Die Betonung des kreativen Moments darf freilich nicht mit schlichter persönlicher Dezision verwechselt werden, weiterführend dazu, dass Geltungsansprüche, die mit juristischen Aussagen verbunden sind, nicht restlos mit Machtansprüchen identifiziert werden können, zuletzt Christian Hiebaum, Die Politik des Rechts, 2004. 22 Grundsätzlich zum Problem: Alexander Hollerbach, Ideologie und Verfassung (1969), in: ders., Ausgewählte Schriften, 2006, S. 136 (140 – 152). Zu den Kontroversen in der Nachkriegszeit und in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik vgl. Birgit von Bülow, Die Staatsrechtslehre der Nachkriegszeit (1945 – 1952), 1996, S. 62 – 77, 100 – 132, 178 – 186, und Frieder Günther, Denken vom Staat her, 2004, etwa S. 93 – 112, 285 – 319. Aus neuerer Zeit vgl. ferner Helmuth Schulze-Fielitz, Grundsatzkontroversen in der deutschen Staatsrechtslehre nach 50 Jahren Grundgesetz in der Beleuchtung des Handbuchs des Staatsrechts, in: Die Verwaltung 32 (1999), S. 241 (250 – 280). 23 Andreas Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Wolfgang Hoffmann-Riem / Eberhard Schmidt-Aßmann / ders. (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. I, 2006, § 1 Rn. 15. 24 Zum Begriff der „strukturellen Kopplung“: Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, 1997, S. 100 ff.

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Rechtspraxis. Anders als ein politikwissenschaftlicher Essay25, die Interpretation eines Gedichtes durch einen Germanisten oder die Präsentation der Ergebnisse naturwissenschaftlicher Forschung besitzen staatsrechtliche Publikationen in der Regel das Potential, unmittelbar handlungsrelevant zu werden, weil sie nicht nur Teil des wissenschaftlichen Diskurses sind, sondern auch direkt in den praktischen Rechtsdiskurs einfließen. Jedenfalls in schwierigen Fällen konsultieren Richter und Verwaltungsbeamte in Deutschland nach wie vor die Rechtswissenschaft26. Das ist, wie etwa der Blick nach Frankreich, den USA und Großbritannien zeigt, mithin in Länder, in denen die Rechtswissenschaft eine andere Rolle in der Praxis spielt27, keineswegs selbstverständlich, sondern vielmehr eine Eigenart der deutschen Rechtskultur28. Einerseits verlangt der systematische Anspruch und die dogmatische Ausdifferenziertheit der deutschen Rechtsordnung offenbar nach besonderer Expertise, die in der Praxis nicht immer ausreichend nachgehalten werden kann29. Gleichzeitig bestand innerhalb der deutschen Rechtswissenschaft aber auch immer schon in besonderem Maße die Bereitschaft, der Praxis zuzuarbeiten, z. B. durch Mitwirkung an Kommentaren30, Aufbereitung gerichtlicher Entscheidungen, die Auswahl praktisch relevanter Themenstellungen mit Fallbezug und vieles mehr. Konsequenz dieser Praxisorientierung ist der häufig bemängelte Verlust an theoretischer Reflexionskraft und Grundlagenbezug innerhalb der Staatsrechtslehre31. Auf25 Zur politikwissenschaftlichen Politikberatung vgl. aber z. B. Wilhelm Bleek, Politikwissenschaftliche Politikberatung in Geschichte und Gegenwart, in: Uwe Jens / Hajo Romahn (Hrsg.), Der Einfluss der Wissenschaft auf die Politik, 2002, S. 75 – 94. 26 Einen Beleg für diese Feststellung stellt der Verweis auf wissenschaftliche Äußerungen in Form des Zitats dar. Nicht nur in Urteilen, sondern auch in ministeriellen Stellungnahmen wird häufig auf wissenschaftliche Publikationen Bezug genommen. 27 Das schließt größeren Einfluss von Juristen nicht aus, vgl. z. B. Robert L. Nelson / John P. Heinz, Lawyers and the Structure of Influence in Washington, Law and Society Review 22 (1988), S. 237 – 300. 28 Christoph Möllers / Andreas Voßkuhle, Die deutsche Staatsrechtswissenschaft im Zusammenhang der internationalisierten Wissenschaften, Die Verwaltung 26 (2003), S. 321 (327 f.). 29 Alexander Somek, Rechtliches Wissen, 2006, S. 32 – 52, trennt zunächst die „juristische Expertise“ von der Rechtswissenschaft, um beide Formen juristischen Wissens anschließend mit kritischer Konnotation wieder zusammenzuführen im Typus des „Unternehmer-Professors“, dem er den Status eines „zertifizierte[n] juristische[n] Experten“ (S. 49) zuweist. 30 Als wissenschaftliche Publikationsform ist der moderne Kommentar wohl eine deutsche Erfindung, näher dazu Hermann Brügelmann / Klaus Brügelmann, Über die Anfertigung von Kommentaren, in: 100 Jahre Kohlhammer 1866 – 1966, 1966, S. 195 ff.; Harm Peter Westermann, Glanz und Elend der Kommentare, in: FS Kurt Rebmann, 1989, S. 105 ff.; Peter Riess, Einige Bemerkungen zum Stellenwert und zur Funktion juristischer Kommentare, in: FS Walter Odersky, 1996, S. 81 ff. 31 Krit. z. B. Bernhard Schlink, Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, Der Staat 28 (1989), S. 161 – 172; ders., Abschied von der Dogmatik. Verfassungsrechtsprechung und Verfassungsrechtswissenschaft im Wandel, JZ 2007, S. 157 (161 f.); Michael Stolleis, Verwaltungsrechtswissenschaft in der Bundesrepublik Deutschland, in: Dieter Simon (Hrsg.), Rechtswissen-

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grund der Berücksichtigung der konventionellen Erwartungshaltungen des praktisch arbeitenden Juristen steigt jedoch die Möglichkeit der Einflussnahme auf die Entscheidung konkreter Rechtsfragen und damit die Chance, auf die Gestaltung des öffentlichen Lebens Einfluss zu nehmen32. Staatsrechtslehrer sind sich dieses Zusammenhangs, so steht zu vermuten, durchaus bewusst und verzichten tendenziell ungern auf diese Chance.

2. Der akademische Unterricht als „politische Bühne“

Zum Alltag des Staatsrechtslehrers gehört neben der Forschung der akademische Unterricht. Er dient zunächst einmal der Vermittlung von Rechtskenntnissen und dem notwendigen methodischen Rüstzeug, bietet aber gerade in den Anfangssemestern auch Gelegenheit, auf das politische Bewusstsein der Studierenden einzuwirken. Ob man dies tut und inwieweit einem solchen Tun Erfolg beschieden ist, hängt sicherlich von der jeweiligen Persönlichkeit, ihrem Charisma, ihrem rhetorischen Geschick sowie der Festigkeit ihrer politischen Überzeugung und der der Studierenden ab, es wäre aber falsch, die Chance einer prägenden Einflussnahme von vornherein völlig auszuschließen. Freilich bleibt unsicher, welche konkreten Handlungen in der Gegenwart oder Zukunft aus einer solchen Einflussnahme folgen.

schaft in der Bonner Republik, 1994, S. 227 (243); Möllers / Voßkuhle, Staatsrechtswissenschaft (FN 28), S. 322 f., 326, 330 f.; Helmuth Schulze-Fielitz, Das Bundesverwaltungsgericht als Impulsgeber für die Fachliteratur, in: FG 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, S. 1061 (1071); ders., Notizen zur Rolle der Verwaltungsrechtswissenschaft für das Bundesverwaltungsgericht, Die Verwaltung 36 (2003), S. 421 ff.; Jestaedt, Theorie (FN 5), S. 3 – 15, und zuletzt wieder sehr pointiert Somek, Wissen (FN 29), S. 48 – 52: „Seitdem der Unternehmer-Professor zum Standardmodell geworden ist, ist es an den Juristischen Fakultäten intellektuell noch langweiliger geworden, als es ohnehin schon die längste Zeit gewesen ist. . . . Denn das Wissen, das private und öffentliche Klienten nachfragen, hat schriftsatzförmige Qualität. Von Interesse sind langwierige, archivarisch erschöpfende und exegetisch genaue Berichte über die Rechtslage. Ihnen geht ironischer Weise die vermeintliche Majestät des Normativen wegen der intellektuell subalternen Haltung ab, die gegenüber dem zumeist läppischen Material eingenommen wird. Der fragmentarische Charakter eines auf konkrete Erledigung abzielenden, im Kanzleistil verfassten juristischen Wissens lässt den unvoreingenommenen Beobachter ratlos zurück. Es fehlt das große Bild. . . . Das Aufregendste, was im intellektuellen Raum der Hauptfächer geschieht, ist die Registrierung neuer Fallentscheidungen.“ (S. 49, 50, 51). Zum Theorie-Praxis-Bruch vgl. auch die Beiträge in: Werner Krawietz / Martin Morlok (Hrsg.), Vom Scheitern und der Wiederbelebung juristischer Methodik im Rechtsalltag – ein Bruch zwischen Theorie und Praxis?, 2002, und Christoph Engel / Adrienne Héritier (Hrsg.), Linking Politics and Law, 2003. 32 Zur Steuerung gesellschaftlicher Entwicklung durch Recht vgl. statt vieler z. B. Georg Müller, Elemente einer Rechtssetzungslehre, 2. Aufl. 2006, Rn. 17 – 19 m. w. N.

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Andreas Voßkuhle 3. Der politische Mikrokosmos der universitären Selbstverwaltung

Offen zutage treten die politischen Implikationen der Tätigkeit von Hochschullehrern dagegen bei den unvermeidlichen Aufgaben der universitären Selbstverwaltung. Zwar sind Parteinahme, Kampf und Leidenschaft, nach Max Weber konstituierende Merkmale des Politikers33, nicht jedem Rektor, Dekan oder Mitglied des Fakultätsrats gegeben, jeder Form der Selbstverwaltung wohnt aber ein politisches Mandat inne34. Im Vergleich zu anderen Kollegen wächst dem Staatsrechtslehrer hier insoweit eine besondere Verantwortung zu, als ihm häufig in universitären Gremien die Rolle des juristischen Beraters für die immer wieder auftauchenden öffentlich-rechtlichen Fragen übertragen wird35. Über seine Einschätzung der Rechtslage setzt sich aller Erfahrung nach selbst bei Schützenhilfe aus dem zuständigen Ministerium weder ein juristisch versierter Mitarbeiter des Rektorats noch ein fachfremder Kollege ohne weiteres hinweg. Die durch den Forschungsgegenstand bedingte Politiknähe der Staatsrechtslehre offenbart sich ferner bei der Berufungspraxis. Während es einem Chemiker, Mediziner und Informatiker in der Regel gleichgültig ist, welcher politischen Couleur ein zukünftiger Kollege angehört, achten nicht wenige öffentlich-rechtliche Kollegen entgegen allen anders lautenden Beteuerungen genau darauf, dass „der Laden sauber“ bleibt. Könnte man sich einen Josef Isensee oder Detlef Merten in Bremen oder Frankfurt vorstellen, einen Wolfgang Hoffmann-Riem oder eine Gertrude Lübbe-Wolff in Bonn oder München – wohl kaum. Woran liegt das? An dem Bedürfnis nach innerfakultärer Harmonie? Oder schwingt hier doch das Bewusstsein um die politische Handlungsrelevanz der Staatsrechtslehre mit?

4. Inkurs: Die Staatsrechtslehrervereinigung

Ebenfalls zum beruflichen Alltag des Staatrechtslehrers darf man die Mitwirkung in der Staatsrechtslehrervereinigung zählen. Obwohl Staatsrechtslehrerreferate von der Praxis kaum rezipiert werden, die anschließenden Aussprachen ohne Beteilung der Öffentlichkeit erfolgen und man nicht müde wird, den ausschließlich wissenschaftlichen Charakter der Vereinigung zu betonen36, ist das Bewusstsein für die Bedeutung des jeweiligen po33

Weber, Politik (FN 14), S. 25. Zum Zusammenhang von Demokratie und Selbstverwaltung vgl. statt vieler z. B. Reinhard Hendler, Selbstverwaltung als Ordnungsprinzip, 1984, S. 302 – 319, und Hans Herbert von Arnim, Selbstverwaltung und Demokratie, AöR 113 (1988), S. 1 ff. 35 In der Grundordnung der Universität Freiburg vom 31. Oktober 2006 ist sogar ausdrücklich das Amt des „Rechtsberaters des Rektors“ erwähnt, das bisher immer von einem Staatsrechtslehrer ausgefüllt wurde (Konrad Hesse, Martin Bullinger, Thomas Würtenberger). 34

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litischen Vorverständnisses für die wissenschaftliche Arbeit im öffentlichen Recht an kaum einem anderen Ort so mit Händen zu greifen wie dort. Sowohl bei der Auswahl der Vorschläge für die Besetzung des Vorstands als auch bei der Auswahl der Referenten und der Reihung der Wortbeiträge im Rahmen der Aussprache achtet man penibel darauf, dass der politische Proporz eingehalten wird37. Diese Usancen offenbaren viel über das Selbstverständnis der Zunft, wenngleich sich das „Lagerdenken“38 spätestens seit der Bayreuther Tagung im Jahre 199239 mehr und mehr verflüchtigt, eine Entwicklung, die aber wohl auch darauf zurückzuführen ist, dass viele aktuelle rechtspolitische Diskussionen, etwa im Europarecht, quer liegen zum alten Schwarz-Rot-Schema40. III. Besondere Nähebeziehungen der Staatsrechtslehre zur Politik Sehr viel unübersichtlicher wird das Beobachtungsfeld, wenn man besondere Nähebeziehungen der Staatsrechtslehre zur Politik jenseits des „akademischen Alltags“ betrachtet. Es lassen sich insofern drei Bereiche unterscheiden: Übernahme „politischer Rollen (1.), Mitarbeit in politiknahen Wissenschaftsinstitutionen (2.) und die Nutzung sonstige Foren mit Politikbezug (3.). 1. „Politische“ Rollen

Evident wird die politische Dimension der Staatsrechtslehre in den zahlreichen Konstellationen, in denen Staatsrechtslehrer außerhalb der Universität Aufgaben übernehmen, die zumindest teilweise politisch definiert oder politisch vorgeprägt sind. 36 Statt vieler Hans Peter Ipsen, Staatsrechtslehrer unter dem Grundgesetz, 1993, S. 80 f., 130 f. m. w. N.; Ulrich Scheuner, 50 Jahre deutsche Staatsrechtswissenschaft im Spiegel der Verhandlungen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer, AöR 97 (1972), S. 349 (359 f.). 37 Wie hier Michael Stolleis, Die Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer. Bemerkungen zu ihrer Geschichte, KritV 80 (1997), S. 339 (356 – 358): „subkutane politische Struktur der Vereinigung“ (S. 357). Eher auf Reputationshierarchien abstellend: Peter Häberle, Die geschlossene (?) Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer – ihr offener Diskussionsforum, in: FS Dimitris Th. Tsatsos, 2003, S. 164 (166). 38 Eingehend dazu mit etwas zu starker Betonung der Animositäten der „SchmittSchule“ gegenüber der Smend-Schule, die jeweils als Denkkollektive charakterisiert werden, Günther, Denken (FN 22). Von „zwei Strömungen“ spricht Hans-Peter Schneider, 50 Jahre Grundgesetz – Vom westdeutschen Provisorium zur gesamtdeutschen Verfassung, NJW 1999, S. 1497 (1503). 39 Sie wird allgemein als Einschnitt bewertet, vgl. nur Ipsen, Staatsrechtslehrer (FN 36), S. 131. Dort diskutierte man eingehend über die Aufnahme von Volker Neumann in die Vereinigung, gegen die sich einige prominente Mitglieder aufgrund seiner Beteiligung an einem nicht ganz geklärten Vorfall während der Studentenunruhen in Heidelberg im Jahre 1970 gewendet hatten, zu den Hintergründen Bernhard Schlink, Sommer 1970, Merkur 2003, S. 1121 ff. 40 So auch Armin von Bogdandy, Beobachtungen zur Wissenschaft vom Europarecht, Der Staat 40 (2001), S. 3 (5, 13).

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a) Staatsrechtslehrer als aktive Politiker. Nicht wenige Staatsrechtslehrer bekleiden während ihrer aktiven Zeit als Hochschullehrer ein politisches Amt. Zu denken ist hier etwa an Wilhelm G. Grewe41, Theodor Maunz42, Karl Carstens43, Horst Ehmke44, Wolfgang Knies45, Hermann Hill46, Rupert Scholz47, Ingo von Münch48, Edzard Schmidt-Jortzig49, Walter Schmitt Glaeser50, Roman Herzog51, Wilhelm Kewenig52, Hans-Peter Bull53 oder 41 Enger außenpolitischer Berater von Bundeskanzler Konrad Adenauer (ab 1951), kommissarischer Leiter der Rechtsabteilung (1953 – 1955) und später Leiter der Politischen Abteilung im Auswärtigen Amt (1955 – 1958). Von 1949 bis 1955 Ordinarius für Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht an der Universität Freiburg i. Br. 42 Beamter im Ministerialdienst der bayerischen und badischen inneren Verwaltung (1927 – 1935 und 1946 – 1952), Mitglied des provisorischen Ministerrats des Südweststaates (1951 – 52), bayerischer Kultusminister (1957 – 1964). Ab 1932 Privatdozent für Öffentliches Recht in München, von 1935 bis 1937 außerordentlicher und von 1937 bis 1945 ordentlicher Professor an der Universität Freiburg i. Br., von 1952 bis 1969 Inhaber des Lehrstuhls für deutsches und bayerisches Staats- und Verwaltungsrecht an der LMU München. 43 Leiter der Europa-Abteilung im Auswärtigen Amt (1955 – 1958) und der Politischen Abteilung (1958 – 1960), Staatssekretär (1960 – 1969) im Auswärtigen Amt, im Verteidigungsministerium und als Chef des Bundeskanzleramtes, Mitglied (1972 – 1979) und Präsident (ab 1976) des Deutschen Bundestages, Bundespräsident (1979 – 1984). Lehrtätigkeit von 1950 bis 1973, ab 1960 Ordinarius für Staats- und Völkerrecht an der Universität Köln. Näheres bei Hartmut Schiedermair, Politik und Wissenschaft im Dienste der Humanität – Karl Carstens (14. 12. 1914 – 30. 5. 1992) zum Gedächtnis, NJW 1992, S. 2608 ff. 44 Staatssekretär im Bundesministerium der Justiz (1967 – 1969), Bundesjustizminister (1969), Bundesminister für besondere Aufgaben und Chef des Bundeskanzleramtes (1969 – 1972), Bundestagsabgeordneter (1969 – 1994). Von 1963 bis 1970 Ordinarius für Öffentliches Recht an der Universität Freiburg i.Br. 45 Saarländischer Minister für Kultus, Bildung und Sport (1980 – 1984) und für Rechtspflege (1984 – 1985), Niedersächsischer Kultusminister (1987 – 1988). Von 1971 bis 2003 Lehrstuhlinhaber für Staats- und Verwaltungsrecht an der Universität Saarbrücken. 46 Minister für Bundes- und Europaangelegenheiten des Landes Rheinland-Pfalz (1989 – 1991). 1984 Lehrtätigkeit an den Universitäten Kiel, Göttingen, Münster, 1985 Professor an der Universität Heidelberg, seit 1986 Inhaber des Lehrstuhls für Verwaltungswissenschaft und Öffentliches Recht an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften Speyer. 47 Berliner Senator für Justiz (1981 – 1988) und Bundesangelegenheiten (1982 – 1988), Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses (1985 – 1988), Bundesverteidigungsminister (1988 – 1989), Bundestagsabgeordneter (1990 – 2002). Von 1972 bis 1978 Ordinarius für Öffentliches Recht an der Freien Universität Berlin, von 1978 bis 2005 Inhaber des Lehrstuhls für Staats- und Verwaltungsrecht, Verwaltungslehre und Finanzrecht an der LMU München. 48 Hamburger Senator für Wissenschaft und Kultur sowie zweiter Bürgermeister (1987 bis 1991). Von 1965 bis 1973 Ordinarius für Öffentliches Recht an der Universität Bochum, von 1973 bis 1998 Ordinarius für Öffentliches Recht an der Universität Hamburg. 49 Bundestagsabgeordneter (1994 – 2002), Bundesjustizminister (1996 – 1998). Von 1977 bis 1984 Ordinarius an der Universität Münster, seit 1984 Inhaber eines Lehrstuhls für Öffentliches Recht an der Universität Kiel. 50 Mitglied (1987 – 2000) und Präsident (1994 – 1996) des Bayerischen Senats. Von 1969 bis 1975 Ordinarius für Öffentliches Recht an der Universität Marburg, von 1975 bis 2001 Inhaber eines Lehrstuhls für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaften an der Universität Bayreuth.

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Wolfgang Hoffmann-Riem54. Offensichtlich erleichtert die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Staats- und Verwaltungsrecht den Quereinstieg in die aktive Politik und verleitet zugleich dazu, selbst wenn man nicht auf viele Jahre aktiver Parteimitgliedschaft zurückblicken kann55. So stellt Edzard Schmidt-Jortzig, vormals Bundesjustizminister (1996 – 1998), rückblickend fest: „Der Jurist im Kabinett sodann, als Kanzler, Minister oder Parlamentarischer Staatssekretär, wird umfassend und in jedem Fall von seiner fachlichen Anlegung profitieren. Dass dies möglicherweise für einen Öffentlichrechtler noch besonders gelten mag, liegt nahe. Ihm sind die normativen Linien der staatlichen Grundordnung immer präsent, womöglich kennt er sie als Staatsrechtswissenschaftler eingehender und sicherer als die Fachbeamten im Ministerium. Und von diesem rechtlichen Grundraster aus hat er auch mindestens ein gutes Judiz für alle anderen Regelungsfelder, welche den gubernativen Alltag füllen. Was die Behördenleitung anbetrifft, so sind schließlich gewiß verwaltungsrechtliche Kenntnisse im Organisations-, im Dienst- und / oder im Verfahrensrecht von Nutzen“56. Während des Daseins als Politiker bleibt für wissenschaftliche Betätigung in der Regel wenig Zeit, die meisten Staatsrechtslehrer lassen sich aber lediglich beurlauben und kehren nach Ablauf von ein oder zwei Amtsperioden an die Universität zurück57. Von dort können sie ihre praktischen Erfahrungen in den wissen51 Leiter der Landesvertretung Rheinland-Pfalz in Bonn (1973 – 1978), BadenWürttembergischer Minister für Kultus und Sport (1978 – 1980) und für Inneres (1980 – 1983), Landtagsabgeordneter in Baden-Württemberg (1980 – 1983), Bundespräsident (1994 – 1999). Von 1965 bis 1969 Inhaber des Lehrstuhls für Staatsrecht und Politik an der Freien Universität Berlin, von 1969 bis 1973 Inhaber des Lehrstuhls für Staatslehre und Politik an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Eingehend Werner Filmer / Heribert Schwan, Roman Herzog, 1994. 52 Berliner Senator für Wissenschaft und Kulturelle Angelegenheiten (1981 – 1983), für Wissenschaft und Forschung (1983 – 1986) und für Inneres (1986 – 1989), Mitglied des Berliner Abgeordnetenhauses (1981 – 1989). 1970 außerordentlicher Professor an der Universität Bonn, von 1971 bis 1981 Ordinarius für Staats- und Völkerrecht an der Universität Kiel. 53 Bundesdatenschutzbeauftragter (1978 – 1983), Innenminister Schleswig-Holsteins (1988 – 1995). Von 1973 bis 1978, von 1983 bis 1988 und von 1995 bis 2002 Ordinarius für Öffentliches Recht an der Universität Hamburg. 54 Hamburger Justizsenator (1995 – 1997). Seit 1974 Ordinarius für Öffentliches Recht und Verwaltungswissenschaft an der Universität Hamburg. 55 Nur wenige Staatsrechtslehrer sind vor der Amtsübernahme politisch aktiv hervorgetreten, manche, wie z. B. Hoffmann-Riem, waren auch zu Zeiten ihrer Amtsinhaberschaft nicht Mitglied einer Partei. Nach Stolleis, Staatsrechtslehre (FN 1), S. 26 f., bestand früher sogar das traditionelle Gebot, ein Staatsrechtslehrer solle nicht Mitglied einer politischen Partei sein. In einer Parteiendemokratie, die auf Mitwirkung qualifizierter Bürger angewiesen ist, wird man dieses Gebot aber kaum noch aufrechterhalten können, so auch Stolleis, ebd. 56 Schmidt-Jortzig, Rechtswissenschaft (FN 18), S. 868 f. 57 Als seltenes Beispiel für einen konsequenten Bruch mit der Wissenschaft kann hier Horst Ehmke angeführt werden. Als junger Freiburger Ordinarius verschaffte er sich durch wegweisende Veröffentlichungen sehr schnell hohe Anerkennung. Nach seinem Wechsel in die Politik hat er kaum je wieder einen wissenschaftlichen Beitrag veröffentlicht (Ausnahme: H. Ehmke, Die Fristenregelung und der Gesetzgeber,

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schaftlichen Diskurs einspeisen, was durchaus wünschenswert erscheint, weil jener dadurch zusätzlich sensibilisiert wird für politische Abläufe und Zwänge. Ernsthafte Rollenkonflikte sind freilich zumindest in den Fällen vorprogrammiert, in denen das politische Amt parallel zum Amt des Hochschulprofessors ausgeübt wird58 oder man nach Rückkehr an die Universität weiterhin aktive Parteiarbeit betreibt. Die Gefahr, von nun an Parteipolitik im Gewand der Wissenschaft zu betreiben, wird man hier kaum leugnen können. Ihr gilt es durch handwerkliche Sorgfalt bei der Begründung der eigenen Position und das erkennbare Bemühen um Distanz entgegenzuwirken, zumal in Deutschland die Neigung besteht, politisch zu lösende Probleme unverzüglich in Fragen der Verfassungsinterpretation zu transformieren59. b) Staatsrechtslehrer als (Bundesverfassungs-)Richter. An der Schnittstelle zwischen Wissenschaft und Politik angesiedelt ist die Funktion des Richters am Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichten60, für die Staatsrechtslehrer in vielerlei Beziehung geradezu prädestiniert erscheinen: Das Verfassungsrecht ist ihr ureigenstes Arbeitsfeld, sie sind als Wissenschaftler Unabhängigkeit im Denken gewohnt und ihnen fehlt – im Gegensatz zu hohen Richtern – die „déformation professionelle“ durch die Routinen jahrzehntelanger Entscheidungspraxis61. Ungeachtet der Abstimmungsnotwendigkeiten und -dynamiken innerhalb eines achtköpfigen Senats sind ihre direkten Einflussmöglichkeiten auf die Verfassungsrechtsentwicklung hier so hoch zu veranschlagen wie wohl sonst nirgendwo. Nicht von ungefähr tragen viele wegweisende Urteile, Beschlüsse und Sondervoten des Bundesverfassungsgerichts die persönliche Handschrift von Staatsrechtslehrern62. Als deutlich weniger politisch, aber gleichwohl nicht völlig 1975). Ähnlich konsequent: Wilhelm Kewenig nach dem Wechsel in eine Anwaltskanzlei. 58 Beispiel: Rupert Scholz, der als aktiver Inhaber des Lehrstuhls für Politik und Öffentliches Recht an der Universität München mit reduziertem Lehrdeputat gleichzeitig das Amt des Bundesverteidigungsministers und des Stellv. Vorsitzenden der Bundestagsfraktion der CDU / CSU wahrgenommen hat. 59 So auch Stolleis, Staatsrechtslehre (FN 1), S. 27. 60 Zur politischen Dimension des Bundesverfassungsgerichts vgl. nur Andreas Voßkuhle, in: Hermann von Mangoldt / Friedrich Klein / Christian Starck (Hrsg.), GG, 5. Aufl. 2005, Art. 93, Rn. 31 – 34 m. w. N., sowie zuletzt etwa die politikwissenschaftliche Arbeit von Robert Chr. van Ooyen, Der Begriff des Politischen des Bundesverfassungsgerichts, 2005; überzeugende Kritik zu seiner methodischen Vorgehensweise in der Rezension von Michael Droege, Der Staat 45 (2006), S. 456 (458 f.). 61 Solche praktischen Erfahrungen bringen selbstverständlich auch Vorteile mit sich. Nicht zuletzt deshalb sieht § 2 Abs. 3 BVerfGG vor, dass drei Richter jedes Senates aus der Zahl der Richter der obersten Gerichtshöfe des Bundes gewählt werden müssen. Wäre das Bundesverfassungsgericht aber von Anfang an nur mit bereits vorher im Amt befindlichen Richtern besetzt worden, sähe seine Rechtsprechung aller Vermutung nach deutlich anders aus. 62 Aufschlussreich hierzu die Richterbilder im JöR: Ernst Benda, Konrad Hesse: Bundesverfassungsrichter 1975 – 1987, JöR N.F. 55 (2007), S. 509 ff.; Wolfgang Heyde,

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einflusslos wird man die Arbeit von Staatsrechtslehrern als Richtern im Nebenamt am Verwaltungsgerichtshof bzw. an Oberverwaltungsgerichten und Verwaltungsgerichten einschätzen müssen. c) Staatsrechtslehrer als Gutachter und Prozessvertreter. Eine gemeinhin als besonders heikel empfundene Liaison mit der Politik, die zudem noch verknüpft ist mit wirtschaftlichen Interessen, gehen Staatsrechtslehrer bei der Erstattung von Rechtsgutachten ein63. Demgegenüber wird man zunächst einmal festhalten müssen, dass es durchaus legitime Gründe für ein Ministerium, einen Verband oder ein Wirtschaftsunternehmen geben kann, sich in einer schwierigen Rechtsfrage wissenschaftlich beraten zu lassen64. Auch der beauftragte Staatsrechtslehrer gewinnt hier häufig wertvolle Einblicke in die Praxis, die ihm ansonsten verwehrt geblieben wären. Dasselbe gilt für die im Gesetz ausdrücklich vorgesehene Wahrnehmung der Aufgabe des Prozessvertreters vor dem Bundesverfassungsgericht (vgl. § 22 Abs. 1 S. 1 BVerfGG) und den Landesverfassungsgerichten. Missstände sind damit selbstverständlich nicht ausgeschlossen. Wissenschaft lebt von der Idee unabhängiger, methodengeleiteter Wahrheitssuche. Diese Idee droht nachhaltig Schaden zu nehmen, wenn z. B. wissenschaftliche Foren verdeckt missbraucht werden für interessengeleitete und strategische „Propaganda“ zugunsten bestehender oder potentieller Auftraggeber, oder wenn wissenschaftliche Standards bei der Aufbereitung der Sach- und Rechtslage evident missachtet werden. Der Nachweis ist hier im Einzelfall indes nicht immer leicht zu führen. Hilfreich und disziplinierend zugleich dürfte insofern aber ein Gebot der Publizität wirken: Wer sich öffentlich äußert65 und beauftragt ist, sollte dies kenntlich machen, indem er Auftrag und Auftraggeber nennt66. d) Staatsrechtslehrer als politische Berater. Gefragt sind Staatsrechtslehrer auch als politische Berater, z. B. als Mitglieder von Beiräten67, ExperHans Kutscher – Ein Grandseigneur der Robe, JöR N.F. 48 (2000), S. 253 ff.; Erich Steffen, Bundesverfassungsrichter Erwin Stein – Eine Erinnerung, JöR N.F. 46 (1998), S. 95 ff.; Hans Joachim Becker, Fritz Werner – Präsident des Bundesverwaltungsgerichts von 1958 bis 1969, JöR N.F. 36 (1987), S. 105 ff.; Hans-Justus Rinck, In memoriam Gerhard Leibholz, JöR N.F. 35 (1986), S. 133 ff. 63 Vgl. nur Alexander Blankenagel, Vom Recht der Wissenschaft und der versteckten Ratlosigkeit der Rechtswissenschaftler bei der Betrachtung des- und derselben, AöR 124 (2000), S. 70 (107 f.). 64 In aller Regel erfüllt die Beratung allerdings mehrere (offene und verdeckte) Funktionen, vgl. Andreas Voßkuhle, Sachverständige Beratung des Staates, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 43, Rn. 24 – 26. 65 Warum die vertraglich vereinbarte Geheimhaltung eines Gutachtens „ein Indiz für Anrüchigkeit“ sein soll (so Stolleis, Staatsrechtslehre [FN 1], S. 26), leuchtet mir nicht ein. Wer ein Gutachten in Auftrag gibt und mit seinem Ergebnis z. B. nicht zufrieden ist, kann es „in der Schublade verschwinden“ lassen; die Unabhängigkeit des Wissenschaftlers in seiner Beurteilung wird dadurch eher größer und das wissenschaftliche Ansehen der Staatsrechtslehre nicht tangiert. 66 Wie hier Stolleis, Staatsrechtslehre (FN 1), S. 25 f. 10*

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ten-68 und Enquete-Kommissionen69. Über ihren dortigen Einfluss lässt sich nur spekulieren70, der faktische Zwang zur politisch ausgeglichenen Besetzung solcher Gremien führt jedenfalls häufig zu „Pattsituationen“, die sich in inhaltlichen Kompromissen niederschlagen. Nicht zu unterschätzen ist dagegen der verdeckte Einfluss als informeller Berater von Parteien, Unternehmen und sog. Führungspersönlichkeiten71. Einzelne Staatsrechtslehrer genossen und genießen hier aufgrund ihrer Expertise und langjähriger persönlicher Beziehungen das besondere Vertrauen von wichtigen politischen Akteuren. So besaßen etwa in den Anfängen der Bundesrepublik Erich Kaufmann, Wilhelm G. Grewe, Walter Hallstein und Karl Carstens das Ohr von Konrad Adenauer72, Gerhard Schröder telefonierte als Ministerpräsident von Niedersachen und als Bundeskanzler viel mit Hans-Peter Schneider, Thomas Oppermann war enger Berater von Erwin Teufel in Europaangelegenheiten und von Paul Kirchhof darf man erwarten, dass er über enge Kontakte zu Spitzenpolitikern der CDU verfügt. Die Liste ließe sich wahrscheinlich fortführen. e) Staatsrechtslehrer als Rechtsanwälte. Nur der Vollständigkeit halber erwähnt werden soll an dieser Stelle noch die in neuerer Zeit zunehmende Konstellation, dass Staatsrechtslehrer „off council“73 oder nach ihrer Emeritierung bzw. Pensionierung als Rechtsanwälte74 (in einer Kanzlei) tätig 67 Zu ihnen Heinz Grosskettler, Wissenschaftliche Politikberatung. Beiräte von Ministerien als politikberatende Institutionen, in: Martin Leschke / Ingo Pies (Hrsg.), Wissenschaftliche Politikberatung, 2005, S. 101 – 128; Voßkuhle, Beratung (FN 64), Rn. 38. 68 Vgl. dazu nur Gisela Färber, Politikberatung durch Kommissionen, in: Leschke / Pies (Hrsg.), Politikberatung (FN 67), S. 131 – 159, sowie den materialreichen Überblick bei Sven T. Siefken, Expertenkommissionen der Bundesregierung, in: Svenja Falk / Dieter Rehfeld / Andreas Römmle / Martin Thunert (Hrsg.), Handbuch Politikberatung, 2006, S. 215 – 227, der u. a. die gefühlte „Kommissionitis“ der Schröder-Regierung empirisch widerlegt. 69 Innenansichten eines Staatsrechtslehrers bei Wolfgang Hoffmann-Riem, Sachverstand: Verwendungstauglich?, in: Jahrbuch für Rechtssoziologie und Rechtstheorie, Band 13, 1988, S. 350 ff. Vgl. ferner etwa Frank Kampel, Politikberatung in der Bundesrepublik: Überlegungen am Beispiel von Enquete-Kommissionen, ZParl 22 (1991), S. 111 ff.; Walter Euchner / Frank Hampel / Thomas Seidel, Länder-EnqueteKommissionen als Instrumente der Politikberatung, 1993. 70 Vgl. etwa den Erfahrungsbericht von Manfred König, Wissen die Gutachter mehr?, DÖV 1996, S. 812 – 819. 71 Zu ihrer historischen Dimension der Politikberatung vgl. etwa die aufschlussreichen Beiträge in: Stefan Fisch / Wilfried Rudolf (Hrsg.), Experten und Politik: Wissenschaftliche Politikberatung in geschichtlicher Perspektive, 2004. Zur aktuellen Situation vgl. disziplinübergreifend Falk / Rehfeld / Römmele / Thunert (Hrsg.), Politikberatung (FN 68); Heidelberger Akademie der Wissenschaften (Hrsg.), Politikberatung in Deutschland, 2006. Stärker auf die juristische Perspektive abstellend Voßkuhle, Beratung (FN 64). 72 Vgl. Hans Peter Mensing, Ein „Gehirntrust“ für Adenauer?, in: Fisch / Rudolf (Hrsg.), Experten (FN 71), S. 261 (263 f.). 73 Beispiele: Werner Hoppe, Alexander Blankenagel, beide (zeitweise) im Briefkopf aufgeführt bei Gleiss Lutz.

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sind. Es bestehen bereits Zweifel, ob man die mandatsgebundene Tätigkeit als Rechtsanwalt dem Bereich der Politik zurechnen kann. Jedenfalls wird bei einem anwaltlichen Schriftsatz – für jedermann offensichtlich – keine Wissenschaftlichkeit suggeriert, sondern allenfalls besonderer Sachverstand in Anspruch genommen.

2. Politiknahe Wissenschaftsinstitutionen

Aktive Teilnahme am öffentlichen Gemeinwohldiskurs ermöglichen ferner die verschiedenen (politiknahen) Wissenschaftsinstitutionen außerhalb der Universität, zu denen die Profession der Staatsrechtslehrer besonders leichten Zugang hat75. a) Deutscher Juristentag. Besondere Reputation genießt nach wie vor der Deutsche Juristentag (DJT), auf dem aktuelle und grundlegende rechtspolitische Fragen fachöffentlich vor breitem Publikum verhandelt werden76. Staatsrechtslehrer sind hier nicht nur als Mitglieder der „Ständigen Deputation“ tätig77, der vor allem die wichtige Aufgabe obliegt, Themen und Referenten für die alle zwei Jahre stattfindenden Tagungen auszuwählen, sondern auch als Gutachter bzw. Vortragende präsent78. Der DJT nimmt für 74

Beispiele: Fritz Ossenbühl (seit 1999), Rüdiger Breuer (seit 2006). Ausgeblendet bleibt hier der ganze Bereich der Wissenschaftsförderung, insbesondere die Arbeit im Wissenschaftsrat und in der DFG, die eine Reihe von Besonderheiten aufweist, vgl. etwa zur Politikberatung durch den Wissenschaftsrat Hans Christian Röhl, Der Wissenschaftsrat, 1994; Dietmar Braun, Die politische Steuerung der Wissenschaft, 1997; Andreas Stucke, Der Wissenschaftsrat, in: Falk / Rehfeld / Römmele / Thunert (Hrsg.), Politikberatung (FN 68), S. 248 – 254. 76 Einen Überblick über seine Arbeit in den vergangenen Jahrzehnten geben Hermann Conrad / Gerhard Dilcher / Hans-Joachim Kurland (Hrsg.), Der Deutsche Juristentag 1860 – 1994, 1997. 77 Beispiele: Otto Bachhof (44.-46.), Thomas von Danwitz (64.-66.), Udo Di Fabio (65., 66.), Ernst Friesenhahn (38.-54.), Wilhelm G. Grewe (37.-40.), Walter Jellinek (37.), Paul Kirchhof (60.-66.), Juliane Kokott (65., 66.), Fritz Ossenbühl (55.-60.), Eberhard Schmidt-Aßmann (61.-63.), Klaus Stern (49.-54.) Carl Hermann Ule (40.) Hans F. Zacher (47.-52.) (Zahlen in Klammern beziehen sich auf den Deutschen Juristentag). 78 Beispiele: Peter Badura (49.), Karl August Bettermann (46.), Albert Bleckmann (55.), Rüdiger Breuer (59.), Udo Di Fabio (65.), Dirk Ehlers (64.), Horst Ehmke (45.), Karl Heinrich Friauf (55.), Ernst Friesenhahn (46., 47., 50.), Jochen A. Frowein (58., 60., 63.), Wilhelm G. Grewe (39.), Roman Herzog (48., 62.), Hermann Hill (58.), Hasso Hofmann (64.), Wolfgang Hoffmann-Riem (64., 66.), Peter Michael Huber (65.), Hans Peter Ipsen (40., 45.), Josef Isensee (57., 59., 61.), Hermann Jahrreiß (37.), Albert Janssen (65.), Hans D. Jarass (56.), Walter Jellinek (38.), Joseph H. Kaiser (50.), Ulrich Karpen (65.), Erich Kaufmann (39.), Otto Kimminich (53.), Ferdinand Kirchhof (61.), Paul Kirchhof (57.), Michael Kloepfer (62.), Ferdinand Kopp (54.), Stefan Korioth (65.), Peter Krause (52.), Hans-Werner Laubinger (52.), Gerhard Leibholz (38.), Peter Lerche (56.), Johannes Masing (66.), Fritz Münch (41.), Albert von Mutius (53.), Richard Naumann (38.), Thomas Oppermann (51.), Fritz Ossenbühl (50., 57.), Hans-Jürgen Papier (65.), Karl Josef Partsch (45.), Ingolf Pernice (66.), Rainer Pitschas (62.), Günter Püttner (49.), Helmut Quaritsch (48.), Helmut Ridder (40.), Wolfgang Rüfner (49.), Franz 75

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sich in Anspruch, „mit wissenschaftlicher Gründlichkeit dem Gesetzgeber zuzuarbeiten, indem er Reformvorschläge unterbreitet“79. Da mehr oder weniger öffentlichkeitswirksam über die von den Gutachtern formulierten Thesen in den einzelnen Abteilungen abgestimmt wird, lässt sich – wie bei jedem politisch bedeutsamen Gremium – hinter den Kulissen aber nicht selten das Bemühen beobachten, Mehrheiten für bestimmte Positionen zu organisieren, mitunter auch durch „bestellte“ Diskussionsbeiträge. Dass solche Strategien einer wissenschaftlichen Arbeitsweise widersprechen, bedarf keiner näheren Begründung. b) Stiftungen. Eine attraktive Option, sich mit von der Wertorientierung her Gleichgesinnten zu umgeben und gewissen politischen Einfluss auszuüben, ohne auf das Banner der Wissenschaftlichkeit gänzlich zu verzichten, bietet für Staatsrechtslehrer die Mitarbeit in politischen Stiftungen80. Neben der Initiierung und Mitorganisation von Tagungen zu bestimmten rechtspolitischen Themen steht hier vor allem die informelle Kontaktpflege im Vordergrund. So koordinieren etwa dem Vernehmen nach manche Parteien die Vorauswahl für die Besetzung wichtiger öffentlicher Ämter, z. B. Richterposten an Bundesgerichten, gerne am Rande der Jahrestagungen der ihnen nahe stehenden Stiftungen, eben weil dort externer („wissenschaftlicher“) Sachverstand in die Überlegungen unkompliziert mit einbezogen werden kann. Erst langsam als Betätigungsfeld entdeckt werden die parteilich nicht gebundenen privaten Stiftungen, deren Einfluss auf die Politikberatung in den letzten Jahren merklich gestiegen ist81. Wer hier als Staatsrechtslehrer im Stiftungsrat oder im Kuratorium sitzt82, kann sich dafür einsetzen, bestimmte inhaltliche Anliegen zu unterstützen, durch Förderung von Symposien zu bestimmten Themen, Veranstaltung von Wettbewerben, Verleihung von Preisen usw.

Ruland (62.), Hans Heinrich Rupp (46.), Jürgen Salzwedel (44.), Friedrich Schack (41.), Reiner Schmidt (63.), Eberhard Schmidt-Aßmann (58.), Hans-Peter Schneider (57.), Meinhard Schröder (57.), Gunther Schwerdtfeger (53.), Roman Seer (66.), Otfried Seewald (56.), Christian Seiler (66.), Wassilios Skouris (65.), Hans Spanner (43.), Christian Starck (56., 61.), Klaus Stern (47.), Michael Stolleis (55.), Werner Thieme (45., 48.), Christian Tomuschat (60.), Christoph Trzaskalik (63.), Carl Hermann Ule (42., 46., 52.), Klaus Vogel (46.), Werner Weber (43., 45.), Fritz Werner (43., 44.), Hans F. Zacher (47., 50. 58.) (Zahlen in Klammern beziehen sich auf den Deutschen Juristentag). 79 Hans-Joachim Kurland, Zum künftigen Weg des DJT, in: Conrad / Dilcher / ders. (Hrsg.), Deutscher Juristentag (FN 76), S. 261 (262). 80 An wichtigen politischen Stiftungen zu nennen sind z. B.: Friedrich-Ebert-Stiftung, Friedrich-Naumann-Stiftung, Hans-Böckler-Stiftung, Hans-Seidel-Stiftung, Heinrich-Böll-Stiftung, Konrad-Adenauer-Stiftung. 81 Überblick bei Carolin Welzel, Politikberatung durch Stiftungen, in: Falk / Rehfeld / Römmele / Thunert (Hrsg.), Politikberatung (FN 68), S. 275 – 289. 82 Beispiele: Hans-Jürgen Papier ist Mitglied des Wissenschaftlichen Beirats der Fritz Thyssen Stiftung, Roman Herzog ist Vorsitzender und Paul Kirchhof Mitglied des Kuratoriums der Hertie-Stiftung.

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c) Gesprächskreise. Nicht ganz unähnlich zu der politischer Stiftungen erscheint die Funktion sog. Gesprächskreise. Neben größeren rechtspolitischen Foren wie z. B. den von der Gesellschaft für Rechtspolitik veranstalteten „Bitburger Gesprächen“83, existieren hier auch eher informell geprägte Kreise, etwa der „Adolf-Arndt-Kreis“84 oder die „Schönburger Gespräche zu Recht und Staat“85. In ihnen diskutieren Staatsrechtslehrer teilweise in intimer Atmosphäre ohne größere institutionelle Absicherung ihnen wichtige Themen86. Auffallend ist die weltanschauliche Homogenität der personellen Zusammensetzung dieser Kreise, die wohl gerade vor diesem Hintergrund gebildet wurden mit dem Ziel, bestimmte inhaltliche Positionen innerhalb der Staatslehre zu stärken. In ihnen kommt in gewisser Weise eine in der Staatsrechtslehrervereinigung selbst mittlerweile weitgehend überwundene „Lagermentalität“ zum Ausdruck, die als Beleg für die Selbsteinschätzung der Bedeutung des politischen Vorverständnisses im wissenschaftlichen Diskurs in zumindest Teilen der Staatsrechtslehre dienen darf. Selbstverständlich gibt es gute Gründe, mit Gleichgesinnten den offenen Austausch zu pflegen. Aus rein wissenschaftlicher Sicht stimmt jedoch das Verlangen, sich gegenüber (fundamentaler) Kritik abzuschirmen, zumindest nachdenklich; wesentliche Erkenntnisschritte sind auf diese Weise jedenfalls nicht zu erwarten (aber vielleicht auch gar nicht intendiert). 3. Sonstige Foren mit Politikbezug

Manche Staatsrechtslehrer nutzen schließlich auch gerne allgemein zugängliche Foren als Plattform zur Verbreitung ihrer (politischen) Ansichten. Der besondere Charme dieser Variante besteht darin, dass man mit der Autorität des Wissenschaftlers sprechen kann, ohne sich den disziplinierenden Kautelen der wissenschaftlichen Form unterwerfen zu müssen; der Aufmerksamkeitsfaktor ist dadurch ungleich größer als bei Veröffentlichungen in Fachmedien. 83

Nähere Information unter www.stiftung-gfr.de. Sein Sekretariat firmiert bei der Friedrich-Ebert-Stiftung, vgl. www.fes.de. 85 Die dort gehaltenen Vorträge werden veröffentlicht in der gleichnamigen Reihe im Verlag „Schöningh“. Bisher erschienen sind: Josef Isensee, Tabu im freiheitlichen Staat, 2003; Udo Di Fabio, Die Staatsrechtslehre und der Staat, 2003; Paul Kirchhof, Der Staat als Garant und Gegner der Freiheit, 2004; Gerd Roellecke, Staat und Tod, 2004; Karl Korinek, Staat und Kunst, 2006; Wolfgang Graf Vitzthum, Der Staat der Staatengemeinschaft, 2006; Eckart Klein, Staat und Zeit, 2006; Otto Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, 2007 (i. E.). 86 Der Adolf-Arndt-Kreis trifft sich viermal im Jahr auf Schloss Vollrads, veranstaltet aber auch größere rechtspolitische Tagungen mit Gästen aus der Praxis und der Politik, vgl. Adolf-Arndt-Kreis (Hrsg.), Sicherheit durch Recht in Zeiten der Globalisierung, 2003; ders. (Hrsg.), Menschliches Leben – was ist das?, 2004; ders. (Hrsg.), Stachel der Gerechtigkeit, 2005; ders. (Hrsg.), Nun sag, wie hast Du’s mit der Religion? Der Staat, das Recht und die Religionen, 2006. 84

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a) Rundfunk- und Fernsehen. Das zeigt sich besonders anschaulich bei Interviews und Talkrunden im Radio oder im Fernsehen. Allerdings stehen hier in aller Regel nur ein bis zwei Minuten zur Verfügung, um komplexe Rechtsfragen zu erläutern. Wissenschaftliche Reflexion mutiert in diesem Kontext schnell zu politischem Agenda-Setting, das aber durchaus einflussreich sein kann. b) Das politische Feuilleton. Besonderer Wertschätzung innerhalb der Zunft erfreut sich die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ). Sie bietet nicht nur Gelegenheiten zu Gastkommentaren, pointierten Kurzartikeln im Feuilleton87 und ausführlicheren Leserbriefen, sondern stellt Wissenschaftlern in regelmäßigen Abständen auch eine ganze Seite für längere Essays zur Verfügung88. Die Süddeutsche Zeitung (SZ) als zweite große überregionale deutsche Tageszeitung ist hier deutlich restriktiver. Über Auswahl und politische Wirkmacht dieser Beiträge lassen sich keine verlässlichen Aussagen treffen, eigentümlich ist ihnen aber eine spezifische Aura engagierter Gelehrsamkeit, die zumindest Emotionen weckt und dadurch Diskussionen anstößt.

87 Häufige Autoren unter den Staatsrechtslehrern sind hier etwa: Christoph Möllers (Mehr oder weniger virtuos. Der Mann am Klavier: Was spielt BGH-Präsident Hirsch, FAZ vom 26. 10. 2006; Schule geht vor Kirche. Wie das Verfassungsgericht Parallelgesellschaften bekämpft, FAZ vom 31. 07. 2006; Vier zu vier. Vor Gericht wie im Stadion: Ein Unentschieden enttäuscht, FAZ vom 12. 06. 2006), Gerd Roellecke (Reputation schafft Elite. Die Bundesregierung verkennt die Lage, FAZ vom 13. 01. 2004; Kröten schlucke ich nicht, FAZ vom 17. 09. 2003; Es wäre unbedingt ein Leben mit mehr Sinn, FAZ vom 01. 03. 2002), Michael Stolleis (Der Staat behält sich die sinnvolle Lenkung der Güter vor, FAZ vom 27. 10. 2006; Rüstet Euch zum Freiheitskampf, FAZ vom 04. 06. 2005, Hört sich an wie nahes Donnergrollen, FAZ vom 21. 09. 2004). 88 Autoren in den letzen Jahren waren etwa: Armin von Bogdandy (Entmachtung der Parlamente?, FAZ vom 03. 05. 2005; Wir Europäer, FAZ vom 27. 04. 2004), ErnstWolfgang Böckenförde (Grundlagen europäischer Solidarität, FAZ vom 20. 06. 2003; Verlust des Standhaften in jeder Hinsicht, FAZ vom 27. 07. 2001; Parteiendemokratie in der Krise (5): Die Krise unserer Demokratie verlangt eine Rückbildung des Parteienstaats, FAZ vom 14. 02. 2000), Udo Di Fabio (Das bedrängte Drittel, FAZ vom 28. 10. 2006; Die politische Gestalt Europas, FAZ vom 22. 07. 2006, Mythos und Wirklichkeit, FAZ vom 07. 06. 2004), Horst Dreier (Das Europa der Administrationen, FAZ vom 04. 06. 2002; Große Würde, kleine Münze, FAZ vom 05. 07. 2001), Matthias Herdegen (Deutschland ein wichtiges Vorbild, 03. 03. 1997), Paul Kirchhof (Der mündige Wähler, FAZ vom 08. 02. 2006; Die postsäkulare Gesellschaft, FAZ vom 03. 06. 2004; Geprägte Freiheit, FAZ vom 09. 09. 2003), Joachim Lege (Der Hochschul-TÜV, FAZ vom 22. 08. 2005; Ist Alteigentum geschichtsfest?, FAZ vom 05. 05. 2004), Ralph Alexander Lorz (Zurück in die Zukunft, FAZ vom 24. 11. 2004; Kompetenzen sind der Schlüssel, FAZ vom 25. 10. 2002; Völkerrecht als Zukunftshoffnung, FAZ vom 19. 11. 2001), Karl A. Schachtschneider (Ein Oktroi, nicht die gemeinsame Erkenntnis freier Menschen von ihrem Recht, FAZ vom 05. 09. 2000), Peter J. Tettinger (Mehr als eine fleißige Sammlung zum Schutz vor Eurokraten?, FAZ vom 26. 08. 2000; Für das Leben, FAZ vom 28. 07. 1999), Uwe Volkmann (Demokratisches Schamanentum, FAZ vom 16. 03. 2007; Wovon lebt der Staat?, FAZ vom 14. 03. 2006; Wozu Bundesstaat?, FAZ vom 12. 04. 2004).

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c) Populärwissenschaftliche Abhandlungen. Dasselbe gilt für eher populärwissenschaftliche Abhandlungen, die sich mit mehr oder weniger deutlichem rechtspolitischem Impetus primär, aber nicht nur an eine Leserschaft außerhalb der eigenen Disziplin wenden89. Im Vergleich zu vielen anderen Ländern wird dieses Genre von der deutschen Staatsrechtslehre traditionell vernachlässigt, vielleicht deshalb, weil mancher Kollege insoweit schnell aufgrund der Idealisierung wissenschaftlicher Objektivität und aus Sorge vor einem Verlust an autoritativer rechtswissenschaftlicher Deutungshoheit mit dem Vorwurf der Unseriösität zur Hand ist. Der Preis für diese Haltung besteht in einem geringen Interesse anderer Disziplinen an den Erkenntnissen der Staatsrechtslehre und in mangelnder internationaler Anschlussfähigkeit90. Ob der vermeintliche Gewinn an „reiner Rechtserkenntnis“ diesen Preis rechtfertigt, ist zweifelhaft.

IV. Das wissenschaftliche Ethos der Distanz Nach alledem lässt sich die politische Dimension aus der Tätigkeit des Staatsrechtslehrers nicht vollständig ausblenden und sollte auch nicht ausgeblendet werden91. Eine „neutrale“ Staatsrechtslehre hat es nie gegeben und wird es auch nie geben. Politik und Staatsrechtswissenschaft bleiben jedoch im Kern getrennte Systeme mit eigenen Systemrationalitäten92. Diese Systemrationalitäten gilt es weiterhin zu schützen. Je mehr die Staatsrechtswissenschaft sich auf einer virtuellen Skala dem politischen System annähert, desto größer wird die Gefahr, dass sie ihre institutionelle Integrität und ihre Legitimität verliert – mit weitreichenden praktischen Konsequenzen, zumal sie von jeher unter permanentem Ideologieverdacht steht93. Die wohl erfolgversprechendste Gegenstrategie sehe ich in der Wahrung und bewussten Pflege eines Ethos der Distanz94. Dabei geht es nicht

89 Beispielhaft kann hier etwa verwiesen werden auf die in vielerlei Hinsicht sehr unterschiedlichen Schriften von Herbert von Arnim (Vom schönen Schein der Demokratie, 2000; Das System, 2001; Politik, Macht, Geld, 2001; Das Europa-Komplott, 2006), Udo Di Fabio (Die Kultur der Freiheit, 2005), Wolfgang Hoffmann-Riem (Kriminalpolitik ist Gesellschaftspolitik, 2000; Modernisierung von Recht und Justiz, 2001) und Paul Kirchhof (Das Gesetz der Hydra, 2006). 90 Möllers / Voßkuhle, Staatsrechtswissenschaft (FN 28), S. 329 ff. 91 Ein engagiertes Plädoyer für den politikbewussten Staatsrechtslehrer während der Weimarer Zeit findest sich bei von Laun, Staatsrechtslehrer (FN 21), S. 172: „So wenig der Mediziner dem Spital, der Astronom der Sternwarte, der Nationalökonom der Wirtschaft, so wenig darf meines Erachtens der Staatsrechtslehrer der Politik fern bleiben.“ 92 In der Sprache Niklas Luhmanns operiert das politische System unter dem Code der Macht und das Wissenschaftssystem unter dem der Wahrheit. 93 So statt vieler Hans Peter Ipsen, Deutsche Staatsrechtswissenschaft im Spiegel der Lehrbücher, AöR 106 (1981), S. 161 (198). Vgl. ferner etwa die pointierte Analyse von Bernd Rüthers, Die Wende-Experten, 2. Aufl. 1995.

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nur um das Postulat einer inneren Einstellung im Sinne eines gefühlsmäßig abgestimmten Komplexes von Werten und Normen, sondern aus dem Ethos der Distanz resultieren auch eine Reihe von äußerlichen Anforderungen, deren Einhaltung im wissenschaftlichen Diskurs kommunikativ vermittelbar und der Überprüfung zugänglich sind und die auf diese Weise auf das wissenschaftliche Bewusstsein, das wissenschaftliche „Über-Ich“ zurückwirken95.

1. Transparenz und Publizität

Bereits erwähnt wurde das Gebot der Transparenz und Publizität. Wissenschaft findet nicht im Dunkeln, anonym96 und in geheimen Zirkeln statt, sondern Wissenschaft ist auf Licht, auf Öffentlichkeit im weitesten Sinne angewiesen. Zu dieser Öffentlichkeit gehört nicht nur die Bereitschaft, für jedermann nachles- bzw. hörbar mit dem eigenen Namen für eine bestimmte inhaltliche Position einzustehen, öffentlich sollten auch die Determinanten des wissenschaftlichen Herstellungsprozesses97 sein: Gab es wichtige Gesprächspartner? Hat jemand das Thema angeregt? Existierte ein konkreter Gutachtenauftrag? War man mit dem behandelten Problem schon in einem anderen Zusammenhang befasst, etwa als Richter (im Nebenamt), Berater oder Mitglied einer Kommission? In welchem sozialen Kontext entstanden die eigenen Überlegungen98 und wo wurden sie zum ersten Mal präsentiert? Gelegenheit, diese Fragen zu beantworten, bieten u. a. Vorworte und Fußnoten.

94 Ähnlich z. B. Stolleis, Staatsrechtslehre (FN 1), S. 27; Helmuth Schulze-Fielitz, Was macht die Qualität öffentlich-rechtlicher Forschung aus?, JöR N.F. 50 (2002), S. 1 (62). 95 Grundlegend zum wissenschaftlichen Ethos Robert K. Merton, Science and Technology in a Democratic Order, in: Journal of Legal and Political Sociology I (1942), S. 115 – 126; dt.: Wissenschaft und demokratische Sozialstruktur, in: Peter Weingart (Hrsg.), Wissenschaftssoziologie, Bd. 1: Wissenschaftliche Entwicklung als sozialer Prozeß, 1972, S. 45 – 59. Wissenschaftliches Wissen unterscheidet sich danach von anderen Formen des Wissens durch vier zentrale Elemente: Universalismus, Kommunismus, Uneigennützigkeit und organisierten Skeptizismus, siehe auch die Zusammenfassung von Weingart, Wissenschaftssoziologie (FN 20), S. 16 f. Mittlerweile gilt diese Beschreibung der Wissenschaft als überholt, an sie wird aber immer noch angeknüpft, vgl. die Analyse bei Ziman, Real Science (FN 20), S. 31 – 33; Weingart, Wissenschaftssoziologie (FN 20), S. 17 – 22 und z. B. Stephen Shapin, Understanding the Merton Thesis, Isis 79 (1988), S. 594 – 605. 96 Zu Theodor Maunz, der anonym für die rechtsextreme Nationalzeitung Artikel verfasst haben soll, vgl. die zutreffenden Bemerkungen von Michael Stolleis, Theodor Maunz. Ein Staatsrechtslehrerleben, in: ders., Recht im Unrecht, 1994, S. 306 ff. 97 Zur Unterscheidung zwischen Herstellung und Darstellung vgl. oben FN 9. 98 Zur Bedeutung des sozialen Kontextes im Rahmen der öffentlich-rechtlichen Forschung Schulze-Fielitz, Qualität (FN 94), S. 63 f.

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2. Handwerkliche Standards

Wissenschaftliche Distanz erzeugt ferner die Einhaltung handwerklicher Standards, die damit zugleich wichtige (aber nicht die einzigen) Qualitätsindikatoren für „gute“ Wissenschaft darstellen99. Neben dem Gebot, die analytische Aufbereitung des Meinungsstands zu einer Frage von eigenen Bewertungen oder Folgerungen möglichst zu trennen100, ist in diesem Zusammenhang etwa eine gewisse rhetorische Disziplin einzufordern, die auf eine bewusste Diffamierung des „Gegners“ verzichtet101, und die Bereitschaft, andere Auffassungen überhaupt wahrzunehmen und dies auch bei Veröffentlichungen zu dokumentieren. Disziplinierende Kraft entfaltet des Weiteren das Gebot, die den eigenen Überlegungen zugrunde liegenden Annahmen über die Wirklichkeit näher zu belegen und immer wieder kritisch (empirisch) zu überprüfen102. Bei all dem ist zu beachten, dass handwerkliche Standards auch von der gewählten Publikationsform abhängen: Monographien, Kommentare oder Lexikonartikel verlangen mehr handwerkliche Akkuratesse als eine als solche ausgewiesene (populärwissenschaftliche) Streitschrift oder ein kurzer Feuilletonbeitrag, der oft eher durch (rhetorische) Kunstfertigkeit besticht; jeglicher handwerklichen Anforderung enthoben sind aber auch die beiden letzteren Literaturgattungen nicht.

3. Innere Unabhängigkeit

Distanz setzt innere Unabhängigkeit voraus103, die ihrerseits nur auf dem Fundament äußerer Unabhängigkeit entstehen kann. Letztere ist durch die 99 Zu „Formalia als Qualitätsindikatoren“ vgl. Schulze-Fielitz, Qualität (FN 94), S. 27 – 34. Wissenschaftliche Qualität hängt dagegen nicht „von politischen oder weltanschaulichen Basisannahmen ab (vom pathologischen Grenzfall ideologischer Verbohrtheit einmal abgesehen . . .)“, so deutlich Schulze-Fielitz, Grundsatzkontroversen (FN 22), S. 281, Fn. 204. 100 Vorschlag eines Sieben-Stufen-Modells bei Voßkuhle, Methode (FN 4), S. 188 ff. 101 Nach von Laun, Staatsrechtslehrer (FN 21), S. 175, handelt unwissenschaftlich jeder, „der seinen politischen Anschauungen ,Objektivität‘ zuschreibt, während er anders Denkenden schlechthin ,Parteipolitik‘ vorwirft.“ Exemplarisch zur rhetorischen Diffamierung des „Gegners“ vgl. z. B. einerseits Olaf Baale, Die Verwaltungsarmee – Wie die Beamten den Staat ruinieren, 2004; Pascal Beucker / Frank Überall, Die Beamtenrepublik, 2004, und andererseits Josef Isensee, Affekte gegen Institutionen – überlebt das Berufsbeamtentum?, ZBR 1998, S. 295 (297 f.). Weitere Beispiele bei Schulze-Fielitz, Grundsatzkontroversen (FN 22), S. 272, Fn. 162. 102 Krit. zur verbreiteten Neigung, je nach Sachlage und Bedarf eher zufällig Beispiele aus unterschiedlichen Quellen (Urteilstatbestände, Zeitungsnachrichten, Praktikerberichte etc.) aufzugreifen, um von ihnen auf den praktischen Rechtsalltag rückzuschließen, Andreas Voßkuhle, Rechtstatsachenforschung und Verwaltungsdogmatik, VerwArch 85 (1994), S. 567 (576). Vgl. auch ders., Neue Verwaltungsrechtswissenschaft (FN 23), Rn. 29 – 31. 103 Zur inneren Unabhängigkeit des Richters vgl. nur Kurt Eichenberger, Die richterliche Unabhängigkeit als staatsrechtliches Problem, 1960, S. 50 – 52; Gerd Pfeiffer, Innere Unabhängigkeit des Richters, in: FS Wolfgang Zeidler, Bd. I, 1987, S. 67 ff.

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grundgesetzliche Gewährleistung der Freiheit von Forschung und Lehre (Art. 5 Abs. 3 GG) verfassungsrechtlich abgesichert. Das schließt Gefährdungen aber nicht aus, wie sie etwa durch aktive Mitwirkung in politischen Organisationen und dauerhafte finanzielle Zuwendungen in Form von interessegebundenen Drittmitteln oder Gutachtenaufträgen entstehen können, nicht unbedingt müssen. Im Zweifel bleibt hier Zurückhaltung die vornehmste Pflicht des Staatsrechtslehrers. Ein äußerer Indikator für den Verlust der inneren Unabhängigkeit ist angesichts beschränkter Arbeitskraft der Ressourceneinsatz: Wer nur noch selten wissenschaftliche Beiträge ohne politiknahen Motivationshintergrund veröffentlicht, der gerät in gewisser Weise leicht „aus der Übung“ und verliert den Geschmack an der Distanz.

4. „Skeptizismus“ statt „Trendverstärkung“

Gerade Staatsrechtslehrer haben sich in machen Phasen der historischen Entwicklung innerhalb Deutschlands als „Trendverstärker“ für zeitgeistorientierte politische Strömungen erwiesen. Ein besonders dunkles Kapitel der eigenen Geschichte stellt insoweit das Verhalten einzelner Kollegen im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus dar104. Aber auch danach gab es immer wieder Perioden, in denen mehrheitlich auf einer „Welle“ geritten wurde. Erinnert sei hier nur an das kollegiale „Bashing“ des Bundesverfassungsgerichts im Nachgang zu dessen „Kruzifix-„ und „Soldaten sind Mörder“-Entscheidungen105. Nun hat man es sicherlich nicht ganz in der Hand, ob der Zeitgeist über einen kommt, dem Ethos der Distanz entspricht jedoch eine eher skeptische Grundhaltung, die vorsichtig prüft, herrschende Meinungen nicht als gegeben hinnimmt106 und die Vorläufigkeit des eigenen Urteils betont. Diese skeptische Grundhaltung darf nicht mit Standpunktlosigkeit verwechselt werden. Im Gegenteil: Ein Staatsrechtslehrer ohne eigene politische Überzeugung wirkt, wie Rudolf von Laun einmal bemerkte, mitunter geradezu „lächerlich“107. Es geht vielmehr um das Bewusstsein 104 Vgl. an dieser Stelle nur die Staatsrechtslehrerreferate von Horst Dreier und Walter Pauly, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Zeit des Nationalsozialismus, VVDStRL 60 (2001), S. 9 ff. bzw. 73 ff. 105 Nachweise und differenzierte Analysen dieser Kritik bei Helmuth Schulze-Fielitz, Das Bundesverfassungsgericht in der Krise des Zeitgeists, AöR 122 (1997), S. 1 ff., und Rainer Wahl, Quo vadis – Bundesverfassungsgericht?, in: Bernd Guggenberger / Thomas Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik?, 1998, S. 81 (83 ff.). 106 Zur Bedeutung der h. M. als Argumentationsersatz im juristischen Diskurs vgl. Uwe Wesel, „hM“, in: ders., Aufklärungen über Recht, 1981, S. 14 ff., sowie die Untersuchungen von Rita Zimmermann, Die Relevanz der herrschenden Meinung für Anwendung, Fortbildung und wissenschaftliche Erforschung des Rechts, 1983, und Thomas Drosdeck, Die herrschende Meinung – Autorität als Rechtsquelle – Funktionen einer juristischen Argumentationsfigur, 1989. 107 So Laun, Staatsrechtslehrer (FN 21), S. 174.

Die politischen Dimensionen der Staatsrechtslehre

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der Grenzen der (eigenen) Erkenntnis und die demonstrative Bereitschaft, immer wieder dazu zu lernen.

5. Bewältigung von Rollenkonflikten

Zurückhaltung sollte schließlich auch die Leitlinie bei der Bewältigung von Rollenkonflikten sein, die insbesondere in den Fällen auftreten, in denen ein Staatsrechtslehrer ein politisches oder sonstiges Amt übernimmt. Viel spricht aus meiner Sicht dafür, in dieser Zeit die wissenschaftliche Tätigkeit weitgehend ruhen zu lassen108. Minister und Richter, die etwa gleichzeitig als Staatsrechtslehrer ihre Entscheidungen in wissenschaftlichen Fachzeitschriften rechtfertigen und kommentieren, schaffen eher zusätzliche Irritationen als dass sie Klärendes zu einem Rechtsproblem beitragen. Sofort stellen sich verschiedene Fragen: Was ist an der Entscheidung ungenau oder fehlerhaft, dass sie der Erläuterung bedarf? Handelt es sich um eine ganz persönliche wissenschaftliche Einschätzung? Sieht das „Haus“ oder der „Senat“ die Sache genauso? Im Zweifel überfordern permanente Rollenwechsel die unterschiedlichen beruflichen Umfelder. Echte (Entscheidungs-)Macht überzeugt durch Handlung und Ergebnisse, nicht durch Reflexion.

V. Ausblick: Die regulative Kraft des wissenschaftlichen Diskurses Wird den soeben skizzenhaft formulierten Anforderungen in der wissenschaftlichen Praxis immer Rechnung getragen? Sicherlich nicht! Indes: Ethische Leitlinien besitzen Optimierungscharakter; sie lassen sich nie vollständig verwirklichen, sondern geben dem Denken und Handeln lediglich eine Richtung vor. Das gilt selbstverständlich auch für das hier proklamierte Ethos der Distanz. Seine Beachtung ist im Übrigen nicht nur dem eigenen Gewissen überantwortet, sondern über seine Einhaltung wacht auch die Staatsrechtslehrergemeinschaft im Diskurs, durch Entzug von Reputation in Gesprächen mit Fachkollegen, entsprechende Hinweise in Veröffentlichungen oder durch Tagungen wie diese. Sie tut dies, wie gesagt, keineswegs immer mit Erfolg, zeitlich in der Regel verspätet und meistens höchst indirekt. Wem das Ethos der Distanz aber einmal abgesprochen wurde, der bleibt als Wissenschaftler fortan eine traurige Gestalt ohne ritterliche Würde. Die Sorge vor diesem Schicksal entfaltet nach wie vor, so ist zu hoffen, eine gewisse heilsame Vorwirkung. Wer diese Sorge nicht in sich spürt, dem ist anzuraten, schnell seine Anwaltszulassung zu beantragen! 108 Vorbildlich z. B. Konrad Hesse, der während seiner Zeit als Richter des Bundesverfassungsgerichts außer der Aktualisierung seines Lehrbuchs zum Verfassungsrecht vergleichsweise wenig veröffentlicht hat.

Vermachtungsprozesse in nationalen Wissenschaftlergemeinschaften, insbesondere in der deutschen Staatsrechtslehre Möglichkeiten und Grenzen der Staatsrechtslehre in der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten Von Peter Häberle, Bayreuth

I. Vorbemerkung Mein selbstgewähltes, z. T. schmerzliches, auch heikles, bislang vernachlässigtes Thema hat eine kleine Vorgeschichte. Vor etwa zwei Jahrzehnten, als sich unser Veranstalter und Jubilar noch in seiner „Forschernische“ bei der Bundeswehr in München, höchst fruchtbar für Späteres, auf Großes vorbereitet hat, klagte ich ihm gegenüber wegen der allenthalben sichtbaren und „erfolgreichen“ Vermachtungsprozesse in der deutschen Staatsrechtslehre (Anlass waren neuerliche Manipulationen im Berufungs- und Rezensionswesen). Ich kündigte ihm an, darüber später einmal zu schreiben, sobald alle meine sieben Schüler einen Ruf auf einen Lehrstuhl erhalten haben. Das ist jetzt der Fall. Damit sind wir schon mitten im Thema, das sich freilich nur als Seitenstück von Größerem darstellen lässt. Speziell für mich ist es jäh zum „Altersthema“ geworden, d. h. mit all dessen Unzulänglichkeiten und Irrtümern, auch „Vorverständnissen“ und „Nachverständnissen“ der Ausführung zu bezahlen. Doch ich wage es, vor einer der jetzt insgesamt drei „kleinen Staatsrechtslehrertagungen“ zu sprechen1.

1 Die ersten Jahrzehnte der ersten „kleinen Staatsrechtslehrertagungen“ hat der Jubilar in meinem Jahrbuch dokumentieren können: H. Schulze-Fielitz, 25 Jahre Assistententagung, JöR 34 (1985), S. 35 ff. Es gibt schon Nachfolgeliteratur: D. Heckmann, Zwischen Spontaneität und Professionalität. Zehn weitere Jahre Assistententagung Öffentliches Recht (1986 – 1995), JöR 44 (1996), S. 237 ff., und soeben F. Groeblinghoff / K. Lachmayer, Die Assistententagung Öffentliches Recht auf dem Weg ins 21. Jahrhundert, JöR 55 (2007), S. 429 ff. – Die zweite Art „kleine Staatsrechtslehrertagung“ ist der Kreis, der von W. Hoffmann-Riem und E. Schmidt-Aßmann in vielen Jahren ungemein zielgerichtet und konsequent aufgebaut worden ist, vgl. zuerst dies. (Hrsg.), Konfliktbewältigung durch Verhandlungen, 2 Bände, 1990; zuletzt dies. (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004 (= Schriften zur Reform des Verwaltungsrechts, Band 10).

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II. Ein Theorierahmen: Sechs Thesen und eine Einschränkung Ein Theorierahmen sei vorausgeschickt. Erst vor seinem Hintergrund lassen sich die Fragwürdigkeiten, Defizite, Unzulänglichkeiten, Ärgernisse, ja Verfälschungen eines offenen Wissenschaftsprozesses beim Namen nennen. Stichworte müssen genügen. 1. Wissenschaft2 ist ewige Wahrheitssuche i.S. von W. v. Humboldt (der deutsche Protestantismus hat an dieser Sicht gewiss großen Anteil); die Abgrenzung zur Kunst liegt in der These, gute Kunst irre nicht, die Wissenschaft tue dies sehr wohl; die Abgrenzung zum Glauben hat die Brücke zu erkennen, die es etwa in Gottes-Klauseln gibt. Speziell in der Rechtswissenschaft3, insbesondere in der Verfassungslehre, kommt die ewige Gerechtigkeitssuche hinzu, auch das ständige Ringen um das Gemeinwohl. Wissenschaft lebt aus vitalen Klassikertexten und fortzuschreibenden Paradigmen, die die Aufgaben kultureller Grundierung erfüllen. „Leitbilder“ und „Schlüsselbegriffe“ haben ihre strukturierende Funktion4. Freilich gibt es auch funktionellrechtlich bedingte Grenzen: „Das Verfassungsrecht und seine Wissenschaft hören hier auf!“ Aber: Wo genau? Man denke an das Luftsicherheitsgesetz5 bzw. die unmögliche Abwägung von Leben gegen Leben sowie die Konstruktion eines m. E. verfassungswidrigen Quasi-Verteidigungsfalles durch W. Schäuble (2007) oder auch an den Fall Daschner. Die „Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat“ (1995) bleiben. Wissenschaft und Judikatur altern und sterben (rascher als uns lieb ist), geltende Verfassungstexte als „Constitutional law in public action“ nicht, und: Klassiker lassen sich nicht „historisieren“6. 2. Rechtswissenschaften einschließlich der Verfassungslehre sind Kulturwissenschaften (den „Sozialwissenschaften“ fehlt die vertikale Dimension) und bei allen Zusammenhängen mit den Naturwissenschaften von deren Gegenstand, der Natur, zu unterscheiden (Zusatz: Bei der Mathematik ist freilich bis heute ungeklärt, ob sie Natur- oder Kulturwissenschaft ist). Die 2 Zur Geschichte der Wissenschaft vom öffentlichen Recht: M. Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland, Band I – III, 1988, 1992 bzw. 1999; siehe auch R. Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht in den letzten fünf Jahrzehnten, 2006. Wagemutig: H. Schulze-Fielitz, Was macht die Qualität öffentlich-rechtlicher Forschung aus?, JöR 50 (2002), S. 1 ff. 3 Dazu aus der Lit.: J. G. Schuhr, Rechtsdogmatik als Wissenschaft, 2006; siehe auch H. Schulze-Fielitz, Verwaltungsrechtsdogmatik als Prozess der Ungleichzeitigkeit, Die Verwaltung 27 (1994), S. 277 ff. 4 Aus der Lit. etwa: C. Franzius, „Der Gewährleistungsstaat“ – ein neues Leitbild für den sich wandelnden Staat?, Der Staat 42 (2003), S. 493 ff.; A. Voßkuhle, „Schlüsselbegriffe“ der Verwaltungsrechtsreform, VerwArch 98 (2001), S. 184 ff. 5 BVerfGE 115, 118 ff. 6 Zu Klassikertexten im Verfassungsleben gleichnamig mein Berliner Vortrag, 1981; siehe auch M. Kotzur, Die Wirkungsweise von Klassikertexten im Völkerrecht, JöR 49 (2001), S. 329 ff.

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Rechtswissenschaften sollten übrigens auch gegen die nur z. T. selbst verschuldeten Gefährdungen der deutschen Universität heute Stellung nehmen7. Herr Kollege M. Kilian leistet hier viel. 3. Aufgabenbereich der Verfassungsrechtslehre ist die „Verfassung des Pluralismus“ (1980) – Pluralismus verstanden als Vielfalt von Ideen und Interessen. Die Horizonte werden durch den Kritischen Rationalismus eines K.R. Popper erschlossen und in das „Prinzip Verantwortung“ eines H. Jonas eingebunden. Ihre Maximen prägen die pluralistische Demokratie, die freilich „Toleranzgrenzen“ ziehen muss („Treue zur Verfassung“). 4. Ideales Leitbild ist die (in Brasilien mittlerweile einen festen Bestandteil des Rechtsunterrichts an vielen Universitäten bildende) „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ (1975), in der die Staatsrechtslehre nur ein Teilfeld erarbeitet. Der später wirkmächtig gewordene „herrschaftsfreie Diskurs“ bzw. die Kommunikationstheorie von J. Habermas ist ein hehres Ideal, vielleicht sogar eine Utopie, die stets anzustreben, freilich nur selten zu erreichen ist. Jeder Verfassungsstaat braucht ein „Utopiequantum“, dies gilt auch für die Europäische Verfassungslehre und das sog. „Völkerrecht“. Freilich gibt es kein „Europarecht“ mehr, denn es gibt nur noch „Europäisches Verfassungsrecht“ und „Europäisches Verwaltungsrecht“ (J. Schwarze). Die Europarechtswissenschaft hat also sozusagen ihren eigenen Gegenstand verloren (diese These vertrete ich seit Jahren in den letzten Auflagen meiner Europäischen Verfassungslehre und habe sie auch bei der Festschriftenübergabe am 13. Mai 2004 im Wissenschaftskolleg Berlin gewagt; im Übrigen ist dies Konsequenz meiner fünf Jahre alten These, die nationalen Verfassungen seien im Rahmen der EU nur noch Teilverfassungen). 5. Der Generationenvertrag, seit knapp einem Jahrzehnt als in die Zeit erstreckter Gesellschaftsvertrag, als „andere Form“ des Gesellschaftsvertrags begriffen8, hat seine spezifische Funktion im wissenschaftlichen Generationenvertrag zwischen Lehrenden und Lernenden, Meistern und Schülern – das Buch von G. Steiner, Der Meister und seine Schüler (2003), dokumentiert dies eindrucksvoll –, zwischen „Riesen“ und „Zwergen“, die ihrerseits in seltenen Fällen auf Schultern zu „Riesen“ werden können, im Ganzen zwischen mehreren Generationen und ihrem epochenüberspringenden Geben und Nehmen. „Weimar“, d. h. seine Staatsrechtslehre, eines „Sextetts“ (die „klassischen Vier“ plus H. Triepel und E. Kaufmann, vielleicht auch um G. Holstein zu erweitern) hat in der Tiefe und Vielfalt seiner Ansätze bis heute trotz der „besten deutschen Verfassung“, dem GG, frei7

Dazu P. Häberle, Die deutsche Universität darf nicht sterben, JZ 2007, S. 183 f. P. Häberle, Ein Verfassungsrecht für künftige Generationen, in: FS Zacher, 1998, S. 215 ff., jetzt auch in englischer Sprache aktualisiert, in: J. C. Tremmel (Hrsg.), Handbook of Intergenerational Justice, 2006, S. 215 ff. 8

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lich nichts Gleichwertiges gefunden (Herr O. Lepsius9 wird mir wohl zustimmen). Im Übrigen eröffnet der „europäische Gesellschaftsvertrag“ neue Horizonte. Ausländische Wissenschaftlergemeinschaften werden zu inländischen Gesprächspartnern. J. W. v. Goethes These: „Wer keine fremden Sprachen kennt, kennt nicht die eigene“, ist zu übernehmen: Wer keine fremden Rechtsordnungen kennt, kennt nicht die eigene! Wissenschaftliche Interviews unter Beteiligung verschiedener Nationalitäten vermögen hier viel zu leisten10. 6. „Vermachtung“ als Gegenstand der hier unternommen Kritik muss näher bestimmt werden. Sie führt tendenziell zu geschlossenen Gesellschaften, in diesen zu Monopolbildungen, statt zu Offenheit und Pluralismus – machtvolle Netzwerke tun ihr negatives Werk11. Vermachtung befördert Meinungen zu herrschenden Meinungen als „Meinung der Herrschenden“, sie schafft Hierarchien kraft Einfluss, statt rationaler Diskussion und fairer Gewichtung der Argumente. Sie verstärkt soziale Abhängigkeiten aller Art, die oft an – unbewusste – Korruption grenzen können: Abhängigkeit von Politikern, von Macht und der eigenen „Scientific community“. Darum ein allgemeines Wort zu „Macht“ und „Vermachtung“12; wir assoziieren sofort F. Nietzsches „Willen zur Macht“ sowie den korrumpierenden „Zugang zum Machthaber“. Gewiss kann hier keine politische bzw. Kulturund Begriffsgeschichte, keine alltagssprachliche Aufschlüsselung dieser Worte skizziert werden (Synonyma sind: „Einfluss“, „Autorität“, „Potenz“), so reizvoll schon die sprachlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede wären: „potestas“, „pouvoir“, „power“ – wobei die Gegenbegriffe viel aussagen könnten: auctoritas, libertas, Legitimität, Recht und Gerechtigkeit, Vernunft. Auch fehlt es nicht an einschlägigen Klassikertexten: von der Soziologie Max Webers von 1922 („Macht ist jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung, den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“) bis zu J. Burckhardts älterer These von 1905, dass die Macht „an sich böse“ sei (K. Jaspers hat sie in den 50er Jahren wiederholt), sowie G. Ritters jüngere „Dämonie der Macht“13 – 9 Vgl. die Aufarbeitung „Weimars“ in dem von ihm und M. Jestaedt hrsgg. Band: H. Kelsen, Verteidigung der Demokratie, 2006 (Einführung, S. VII ff.). 10 Z. B. J.J. G. Canothilo (E. Garcia), in: Annuario de Derecho Constitucional y Parlamentario, 1998, S. 7 ff.; P. Häberle, Conversacionés Académicas con Peter Häberle, Mexiko City, 2006. 11 Dazu aus der allgemeinen Lit.: K.E. Kahle / F.E.P. Wilms (Hrsg.), Effektivität und Effizienz durch Netzwerke, 2005; A. Waschkuhn, Regimebildung und Netzwerke, 2005. 12 Siehe die Lexikon-Artikel „Macht“ (M. Hättich), in: Staatslexikon, 3. Bd., 7. Aufl. 1995, Sp. 978 ff.; „Macht“, in: Ev. Staatslexikon, 1. Aufl. 1966, Sp. 1271 ff.; Art. „Macht“, in: Ev. Staatslexikon, Neuausgabe 2006, Sp. 1471 ff. 13 Aus der allgemeinen Lit.: H. Arendt, Macht und Gewalt, 1960; G. Zenkert, Die Konstitution der Macht, 2004; H. Popitz, Phänomene der Macht, 2. Aufl. 1992; J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, 1905.

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ich hatte bei ihm in Freiburg 1955 Vorlesungen gehört – und P. Kollers „Facetten der Macht“ (1991). In der Staats- und Verfassungslehre behilft man sich mit dem Hinweis auf Zwecke und Ziele, in deren Interesse die staatliche Macht eingesetzt wird, etwa um des Gemeinwohls willen oder zum Schutze individueller Freiheit. Wir erinnern uns auch eines Montesquieu, der klassisch seine Gewaltenteilung mit dem realistischen Hinweis bzw. der „ewigen Erfahrung“ begründete, jeder Mensch neige zum Missbrauch der Macht14. Vielleicht lässt sich sogar sagen, der Verfassungsstaat als Typus sei eine einzige fortwährende Anstrengung, das alte Motto „Macht geht vor Recht“ zu widerlegen, Macht zu begrenzen, z. B. in Gestalt der Grundrechte, der Gewaltenteilung, vor allem des Rechtsschutzes, des Prinzips Öffentlichkeit, der periodischen Wahlen und Abstimmungen. Doch ist der Verfassungsstaat eben auch eine Veranstaltung für Verfahren, Macht zu begründen, etwa in Gestalt der gesamten Kompetenzordnung, besonders glücklich in Föderalstaaten. „Macht“ ist also ambivalent. Sie kann Gutes, aber auch Schlechtes bewirken. In der Wirtschaft sehen wir allenthalben Vermachtungsgefahren, denen wir begegnen wollen: etwa bei der Drittwirkung der Grundrechte nicht nur nach Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG, in der Pressefusionskontrolle im Kartellrecht und in allen Schutzvorkehrungen zu Gunsten des freien Wettbewerbs als „Entdeckungsverfahren“ (F. A. v. Hayek). Im Völkerrecht wird Macht, unvollkommen genug, eingedämmt, aber nicht verhindert (etwa durch das Verbot des Angriffskrieges), und es ist kein Zufall, dass man heute, nach dem „annus mirabilis“ 1989, von der „einzig verbliebenen Weltmacht“ USA spricht, die durch das „annus horribilis“ 2001 herausgefordert ist. Doch gibt es auch positive Beispiele, etwa die NGOs und manche Aktivitäten der UN. Wir erkennen: Staat, Gesellschaft, Wirtschaft sehen sich alle dem Machtproblem gegenüber. Wie steht es aber und also mit der Wissenschaft? Kann sie, soll sie ein sozusagen machtfreier Raum sein? Gibt es einen paradiesischen Natur- bzw. Kulturzustand wissenschaftlichen Forschens und Lehrens, der frei bleibt vom Problem der Macht? Wie können wir Wissenschaftsethik umschreiben?15. Gilt K. Jaspers: „Macht hat Legitimität nur im Dienst der Vernunft“? Sicher verdient nur der Macht, „der sie täglich rechtfertigt“ (D. Hammarskjöld). Wissenschaft lebt von ihrer Freiheit, ihrem Auftrag zur Wahrheitssuche, von ihrem Schutz gegen den Staat, aber auch dank des Staates, sie lebt in der vielzitierten, verantwortungsvoll wahrgenommenen Autonomie16. Aber 14

Aus der Lit.: A. Riklin, Machtteilung. Geschichte der Mischverfassung, 2005. Ein Teilaspekt bei M. Böhmer, Wissenschaft, Ethik, Recht und Politik – Die Quadratur der Gentechnik in Deutschland, EuGRZ 2005, S. 297 ff. Allgemein: C. Starck (Hrsg.), Verantwortung der Wissenschaft, 2005. 16 Aus der Lit.: H. Schulze-Fielitz, Freiheit der Wissenschaft, in: HdbVerfR, 2. Aufl. 1994, § 27; I. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. I, 2. Aufl. 15

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Wissenschaft lebt auch von ihren Wissenschaftlern, und das sind Menschen und das heißt machtanfällige, z. T. machtorientierte, ehrgeizige Menschen. Das „Menschenbild“17 ist also mit in Betracht zu ziehen, wenn wir dem Problem der Macht in den Wissenschaften nachgehen wollen. Das Menschenbild ist „gedämpft optimistisch“ zu konzipieren. Freilich ist auch das anthropologisch „Besondere“ des Wissenschaftlers zu erkennen: seine „Egozentrik“, seine Leidenschaft und Besessenheit, Kompromisslosigkeit, Unbestechlichkeit – in manchem dem Künstler ähnlich. Wissenschaftler zu sein, ist auf eine Weise ein „Urberuf“, dem Bauer und Pfarrer verwandt. Eine tiefe Einsicht formuliert und normiert Art. 70g Abs. 2 Verf. Ungarn (1949 / 2003): „Ausschließlich Wissenschaftler sind berechtigt, in Fragen wissenschaftlicher Wahrheiten zu entscheiden und den Wert von wissenschaftlichen Forschungen festzustellen“. Nicht nur in Ungarn wären Akkreditierungsagenturen und „Hochschulräte“ verfassungswidrig (sie sind es bei uns). Überdies sei die Forderung erhoben, dass jedenfalls der Staatsrechtslehrer Person und Werk in ethischen Fragen „konkordant“ halten muss – ein Künstler darf als Charakter „beliebig“, ja unsittlich sein und handeln, ein Verfassungsrechtler nicht. In dieser Welt der Wissenschaft, in ihren „Hallen“ gibt es freilich gleichwohl „soft power“ i.S. von J. Heye. Hier noch einige Klassikertexte, etwa das Wort von Friedrich Schiller (Das Lied von der Glocke): „Doch mit des Geschickes Mächten / Ist kein ew’ger Bund zu flechten, / Und das Unglück schreitet schnell.“ Oder das Zitat von Molière (Die Schule der Frauen): „Abhängigkeit ist das Los der Frauen; Macht ist da, wo die Bärte sind.“ Von Victor Hugo lernen wir: „Keine Armee der Welt kann sich der Macht einer Idee widersetzen, deren Zeit gekommen ist.“ Schließlich Rabindranath Tagore: „Macht können wir durch Wissen erlangen, aber zur Vollkommenheit gelangen wir nur durch die Liebe“ – eine Anspielung wohl auf den Satz: „Wissenschaft selbst ist Macht“ (F. Bacon). Pessimistisch stimmt J. W. v. Goethe („Man hat Gewalt, so hat man Recht“, in: Faust II, V, Palast), und selbst F. Schillers Optimismus verfliegt gelegentlich („Im Leben gilt der Stärke Recht“, in: Die Weltweisen). Dem hier behandelten Problem ist also anthropologisch bzw. kulturanthropologisch nachzugehen (G. Verdis Oper „Macht des Schicksals“ zeigt die Präsenz des Themas auch in der Kunst), andernfalls geriete man in Idealisierungen, die an Natur und Kultur des Menschen vorbeigingen und in einen demotivierenden Pessimismus fielen. Die Entwicklungen des wissenschaftlichen Prozesses können das Machtproblem nicht ausblenden oder von vornherein perhorreszieren. Freilich sollten wir auch nicht in die gegenteilige Sicht verfallen: alles nur noch unter dem überkritischen Blick einer 2004, Art. 5 Abs. 3 (Wissenschaft) Rn. 1 ff.; P. Häberle, Die Freiheit der Wissenschaften im Verfassungsstaat, AöR 110 (1985), S. 329 ff.; H.-H. Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994. 17 P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988, 3. Aufl. 2005.

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traurigen Machtanalyse zu sehen. Damit deutet sich eine mittlere Linie an. Die wissenschaftliche Welt hat, da von Menschen für Menschen gestaltet, wie andere Bereiche sozialen Zusammenlebens, das Problem der Macht als solches zu erkennen, nüchtern zu analysieren und darüber nachzudenken, wie Missbrauch von Macht (etwa dank Ethik-Kommissionen und vieler pluralistischer Verfahrensrechte, z. B. durch Senatskommissionen für wissenschaftliches Fehlverhalten) verhindert werden kann. Das Wissenschaftsrecht, vor allem das Hochschulrecht, gibt ja durchaus Kompetenzen zur Machtausübung (etwa in Gestalt von Prüfungen, Verteilung von finanziellen Ressourcen, etwa Stipendien etc.), aber es ist auch ein Normenensemble zur Begrenzung der Macht. (In der Schweiz müssen sich – wie die Richter – die Professoren der periodischen Wiederwahl stellen!). Vielleicht ist die Welt der Wissenschaft nur ein spezieller, besonders sensibler Ausschnitt aus der Welt der Gesellschaft und des Menschen insgesamt. Die Akteure freilich, d. h. wir, vor allem natürlich die Staatsrechtslehrer, sind nur etwas „ganz Besonderes“ – wie wir selbst glauben. Wir bewohnen ein „Haus mit vielen Wohnungen“, aber auch für uns (als Emeriti) – und die Politiker erst recht – gilt die Einsicht von Talleyrand: „Kein Abschied auf der Welt fällt schwerer, als der Abschied von der Macht“. Manche Staatsrechtslehrer wollen gar nicht wahrhaben, dass sie Macht ausüben (etwa in Prüfungen). Nicht nur in der Politik geht es auch um Machterwerb. Leicht und schwer macht es uns die Systemtheorie eines T. Parsons, der Macht versteht als Fähigkeit eines Systems, Ressourcen zur Zielerreichung zu mobilisieren – die Menschen verschwinden (wie später bei N. Luhmann). 7. Die Einschränkung: Der Theorierahmen, wie auch die Auswahl der folgenden Beispiele ist begrenzt. Zum einen können andere Teildisziplinen der Rechtswissenschaften wie das Zivil- und Strafrecht wegen meiner fehlenden Einblicke nicht analysiert werden. Speziell die „Europawissenschaft“ suchte ich 2000 in einer Denkschrift für die deutsch-ungarische Universität in Budapest wissenschaftlich und pädagogisch zu strukturieren18. Misslich ist auch die Ausblendung der Völkerrechtswissenschaft19. (Sie fehlt auch im Programm dieses großen Würzburger Kolloquiums.) Sie, die heute unter dem Stichwort ihrer „Konstitutionalisierung“ zu neuen Ufern aufbrechen muss und kann, sie, die derzeit wohl die interessanteste rechtswissenschaftliche Teildisziplin ist, sofern man sie als Dienst am „konstitutionellen Menschheitsrecht“ versteht, sie, die die Chance hat, eine neue „Schule von Salamanca“ zu entwerfen, sie, die sich dem Problem der Macht vielleicht am brutalsten gegenübersieht, kann hier ebensowenig miterörtert werden, 18 Dazu mein Beitrag: Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit nationaler Wissenschaftlergemeinschaften in Sachen Verfassungsstaat, in: FS Druey, 2002, S. 115 ff., auch in JöR 53 (2005), S. 354 ff. Jetzt: G.F. Schuppert / I. Pernice / U. Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft, 2005. 19 Aus der Lit.: P. Kunig, Macht und Recht in den internationalen Beziehungen, VRÜ 38 (2005), S. 105 ff.

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wie – rechtsvergleichend – andere nationale Wissenschaftlergemeinschaften in Sachen Verfassungsstaat. Wenn also im Folgenden Gefährdungen, Defizite, Missbrauch für Deutschland unverblümt beim Namen genannt werden, so muss präsent bleiben, dass die anderen nationalen Wissenschaftlergemeinschaften, in die ich einen gewissen Einblick habe, etwa die Schweiz, Italien, Spanien und Portugal, neuerdings Peru, Mexiko und Brasilien wohl nicht „besser“ sind als die deutschen. Nur verläuft dort alles in der milderen Kultur der südländischen Menschenart (in Spanien etwa konkurrieren drei Staatsrechtslehrertagungen bzw. Schulen heftig miteinander: ihre Protagonisten sind Rubio Llorente, H. López-Guerra und F. Balaguer-Callejon). Hier einige Beispiele: In kleineren Ländern sind die Vermachtungsprozesse geringer, die „kleine“ Schweiz mit ihrem starken Föderalismus und ihrer schwachen Bundesstadt Bern kennt sie kaum (übrigens erhält in der Schweiz ein amtierender Politiker niemals einen Ehrendoktor, im Gegensatz zu unserem Skandalfall Bamberg in den 80er Jahren: Verleihung des Dr. h.c. an den amtierenden bayerischen Wirtschaftsminister)20. In Österreich ist die Hauptstadt Wien samt H. Kelsen wohl „gefährlicher“. Immerhin konnte sich gleichwohl die „Innsbrucker Schule“ etablieren, mit Namen wie P. Pernthaler, H. R. Klecatsky und Jüngeren. In Italien scheint „Rom“ prima vista zu dominieren (große Namen wie A. Cervati, A. D’Atena, A. Pace, P. Ridola), doch erweisen sich die zahlreichen Kulturlandschaften und Städtebilder Italiens, was die Universitäten und ihre „Schulen“ sowie die großen Verlage angeht, als höchst (außen-)pluralistisch. Man denke an die „Schule“ von Pisa (A. Pizzorusso), an Turin (G. Zagrebelsky) oder an Bologna (G. de Vergottini). In Spanien gelingt es derzeit der neuen Schule von Granada (F. Balaguer) im Verfassungsrecht mit dem Zentralismus Hochkastiliens, also Madrids, zu konkurrieren, auch was Verlage und Publikationsorgane, etwa Fachzeitschriften, angeht. In Portugal gibt es eine Balance bzw. Konkurrenz zwischen den beiden Universitäten in Lissabon und dem altehrwürdigen Coimbra. In Lateinamerika blühen in Sachen Verfassungsrechtslehren buchstäblich „Tausend Blumen“: von Curitiba bis Porto Alegre (W. Sarlet), Brasilia (G. F. Mendes) und Fortalezza (P. Bonavides), von Lima (G. Belaunde / C. Landa) bis Mexiko (H. Fix-Zamudio und D. Valadés). Freilich gibt es auch hier überall offene und verdeckte Kämpfe, vor allem um die Lehrstühle. Auch parteipolitische Zugehörigkeiten spielen eine Rolle. Ist es ein Trost, dass in Deutschland Staatsrechtslehrer in der Politik fast niemals „Fortune“ haben21? Anderes gilt für die Schweiz, wie wir an den Lebensleistungen eines R. Rhinow und J.-F. Aubert sehen. 20 Siehe auch die Glosse von Prof. Dr. Dr. h.c. (Rostock) I. v. Münch: „Runter mit den Ehrendoktorhüten“, FAZ vom 14. Juni 2005, S. 40 (aus Anlass der Göttinger Verleihung des Dr. h.c. an den damals amtierenden Bundeskanzler G. Schröder). 21 Zu den „Akteuren der Rechtspolitik“ wissenschaftlich aufschlussreich: P. Kirchhof, ZRP-Rechtsgespräch 2006, S. 269 f. Anregende Lit. auch bei I. v. Münch, Wissenschaftler und Politiker, Der Staat 45 (2006), S. 83 ff.

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Im Ganzen darf man heute eine völkerrechtliche Maxime (Art. 38 Abs. 1 lit. d IGH-Statut) für den Verfassungsstaat fruchtbar machen. Die dort formalisierte „Rechtsquelle“ der „Lehrmeinungen der fähigsten Völkerrechtslehrer der verschiedenen Nationen“ gilt für die Arbeit am Verfassungsstaat entsprechend für die fähigsten Verfassungsrechtler22.

III. Eine fragmentarische Bestandsaufnahme – Sieben Problemfelder machtpolitischer Gefahren für den freien Wissenschaftsprozess Sieben heikle, besonders machtanfällige Bereiche seien herausgegriffen. Sie lassen sich unterscheiden, aber nicht trennen; in ihrem Zusammenwirken können sie oft wissenschaftliche Leistungen verdunkeln, menschliche Biographien negativ beeinflussen und die im Ersten Teil skizzierten Maximen verletzen: zum Schaden wissenschaftlicher Freiheit und politischer Offenheit des Verfassungsstaates, zum Nachteil von Wahrheitssuche sowie dem Gerechtigkeits- und Gemeinwohlziele: (1) Die deutsche Staatsrechtslehrervereinigung, die in ihren Jahrestagungen freilich seit kurzem tendenziell offener geworden ist. (2) Das irrational bleibende Berufungsverfahren. (3) Die Monopolbildungen im Verlagswesen. (4) Die „parteiischen“ Herausgeberschaften wichtiger Publikationsorgane. (5) Die Verzerrungen und Fehlentwicklungen im reichen Kranz der Literaturgattungen (Stichwort: gigantische Handbuchinflation). (6) Die nahezu beliebige Gutachtenpraxis. (7) Die „nacheilende“ Unterwerfung unter das BVerfG, was zu Erscheinungen modernen Postglossatorentums führt (Klammerzusatz: Eine heikle Bemerkung: Bedarf es nicht einer „Maulkorbregelung“ für amtierende BVerfG-Richter? Eine solche schlug mir am 26. Januar 2007 in Rom ein italienischer Kollege am Rande unserer Tagung zum 50. Jubiläum der Römischen Verträge vor. Er war ganz aufgebracht darüber, dass deutsche BVerfG-Richter, vor allem Präsidenten, sich immer wieder zu verfassungspolitischen Fragen äußerten, etwa zur Neugliederung des Bundesgebietes, und über alle wissenschaftlichen „Märkte“ ziehen, um Referate zu halten, auch vor Verbänden. Ich selbst habe schon Ende 2005 in einem Berliner Referat gerügt23, dass BVerfG-Präsidenten sogar ein Wiederaufgreifen des NPD-Verbotsverfahrens „anregten“. Hier wird Macht kumuliert durch gesteigerte Öffentlichkeit. All dies wäre z.Zt. eines E. Friesenhahn oder Gebh. Müller nie vorgekommen. Richterliche Zurückhaltung war ihnen ein ethisches Gebot.) Diese „Mängel- und Schmerzliste“ sei hoffentlich ohne per-

22 Dazu mein Festvortrag in Lissabon: Neue Horizonte und Herausforderungen des Konstitutionalismus, EuGRZ 2006, S. 533 ff. 23 Funktion und Bedeutung der Verfassungsgerichte in vergleichender Perspektive, EuGRZ 2005, S. 685 (688).

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sönliche Blessuren abgehandelt. Sie ist auch ein Stück Wissenschaftsfreiheit aus der Sicht der Wissenschaftssoziologie i.S. von A. Blankenagel24. 1. Die dank ihrer hohen Qualität in Europa wohl einzigartige deutsche Staatsrechtslehrervereinigung – des Jubilars Lieblingsthema, mir eine „Heimat“ – war bis weit in die 80er Jahre hinein ein „Marktplatz“ für Machtvorgänge, z. T. eine Oligarchie mit aristokratischen Zügen (bis 1984 spiegelte sich dies auch im „Damenprogramm“). Das zeigte sich in der Auswahl der Referenten, z. T. wurden manche Begabungen übersehen oder kamen erst spät zum Zuge. Wurde ein Referent zu hart kritisiert, kam es zu persönlichem Traumata (mindestens in zwei Fällen: ich denke an zwei verstorbene Kollegen). Besonders klar lassen sich die Machtstrukturen bis zur Reform durch das wesentlich G.F. Schuppert und dem Jubilar zu verdankende „St. Galler Modell“ von 2002 in der Diskussion nachweisen25, zuerst hatte sich dieser durch sein Wiener Referat qualifiziert26. Privatdozenten kamen früher, wenn überhaupt, dann erst auf den „hinteren Plätzen“ zu Wort. Eröffnet wurden die Diskussionen jahrzehntelang stets durch dieselben Mitglieder, freilich meist mit großen Namen. Ich nenne sie nicht, zumal auch die Verstorbenen bis heute jedermann bekannt sind. Seit meiner Vorstandszeit (1984 – 1986) ist es geglückt, auch zunächst regelmäßig vergessenen Kollegen als Referenten, je einem pro Tagung, eine Chance zu geben (diese Tradition ist leider trotz meiner Bitten in den letzten 18 Jahren fast ganz abgebrochen). Freilich findet sich noch im Feuilleton der FAZ vom 10. August 2006, S. 36 die süffisante Bemerkung, der Journalist R. Leicht hätte „liberaler Oppositionsführer“ in der Vereinigung der Staatsrechtslehrer werden können. Bis heute denkt der jeweilige Vorstand ganz bewusst nicht an „bloße Privatdozenten“ und C3-Professoren als mögliche Referenten. Zum Glück ist heute die Vereinigung aber insgesamt auf einem guten Weg, zur offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten zu werden, vor allem in den Aussprachen, wo es keine „Päpste“, „Kardinäle“ und „Bischöfe“ mehr gibt (ein Bonmot von D. Thürer)27. Der Jubilar hat sich durch seine Voten auf dem wohl gefährlichsten Forum der Staatsrechtslehrertagung immer wieder „empfohlen“28. 2. Schon vor vielen Jahren wagte ich die These (freilich erst nach sechs eigenen Rufen), das deutsche Berufungsverfahren in den juristischen Fakultäten sei das „irrationalste Verwaltungsverfahren der Welt“ (übrigens auch im Ausland: Aus Italien ist mir bekannt geworden, dass ein bedeutender 24 A. Blankenagel, Wissenschaftsfreiheit aus der Sicht der Wissenschaftssoziologie, AöR 105 (1980), S. 35 ff. 25 VVDStRL 62 (2003), S. 85 ff., 110. 26 Kontrolle der Verwaltung durch Rechnungshöfe, VVDStRL 55 (1996), S. 231 ff. 27 D. Thürer, VVDStRL 58 (1999), S. 81 (Aussprache). Weitere Lit.: P. Häberle, Die geschlossene (?) Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer – ihr offenes Diskussionsforum, in: FS Tsatsos, 2003, S. 164 ff. 28 Vgl. etwa VVDStRL 57 (1998), S. 284 – 286; 58 (1999), S. 238 f.; 60 (2001), S. 618 f.

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christdemokratischer Staatsrechtslehrer ausnahmsweise zum Telefon griff, um bei einer Berufung einem erstklassigen Jüngeren zu helfen, um „Schlimmeres abzuwenden“). Ich habe dies präzise 4mal getan – kaum mit schlechtem Gewissen, auch im Interesse von Kollegen. Daran hat sich bis heute nichts geändert (übrigens war es in den 80er Jahren sehr schwer, einen sog. „68er“ zu habilitieren). Manche „Seilschaften“ sind offenkundig, etwa in Bezug auf Köln von Herrn Schulze-Fielitz 1999 / 2002 wagemutig beim Namen genannt29; andere nenne ich selbst: in den 50er Jahren Tübingen / Marburg, heute Bayreuth / München und umgekehrt sowie Augsburg / Freiburg – die Qualität der jeweils Berufenen steht außer Frage, aber es gibt bekanntlich viele gute Staatsrechtslehrer, vor allem in der jüngeren Generation. Dass man nach Tübingen und München, auch Regensburg, nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen einen Ruf erhält, ist ein offenes Geheimnis. Mitunter muss der Wissenschaftsminister intervenieren, um Schlimmeres zu verhüten, so 2006 in München, oder um Gutes herzustellen, so in Bezug auf P. Landau in Regensburg in den 70er Jahren. „Schulen“ (am wenigsten wohl im Verwaltungsrecht), Freundschaften, parteipolitische Sympathien, „allzu Menschliches“ spielen eine große Rolle – es gibt auch eine fünffache Seilschaft von Bielefeld nach Karlsruhe. Manche Juristenfakultät folgt nicht dem Gebot des wissenschaftlichen (Binnen-)Pluralismus und der Offenheit (auch Bremen nicht). Vieles bleibt ganz und gar irrational. Ich könnte Ihnen groteske Berufungslisten in Göttingen Mitte der 80er Jahre nennen. Bei Universitätsneugründungen bot sich zunächst oft ein positives Bild. Genannt seien das Bochum der frühen Jahre, Bayreuth früher und heute (dank W. Schmitt Glaeser und W. Berg), die Humboldt-Universität in Berlin in ihrer großen Anfangszeit, dank H. Hofmann, auch H. Meyer. Der übermächtige Einfluss der Max-Planck-Institute (sichtbar auch in einer über manche vergangene Jahrzehnte unausgewogenen, mindestens „lückenhaften“ Rezensionspolitik in der ZaöRV, auch in den Gründerjahren des „Staates“) sowie der Schmitt-Schule ist bekannt, früher wie heute. 3. Monopolbildungen im Verlagswesen30 sind ebenso unübersehbar wie schädlich. Der sog. führende Großverlag Beck31 betrachtet das wissenschaftliche Buch primär als Ware, als merkantiles Gut. Er setzt seine zahllosen Zeitschriften über das Rezensionswesen gnadenlos und gezielt zur raschen Vermarktung ein, lehnt z. B. Sammelbände seines vielleicht größten staatsrechtlichen Autors G. Dürig ab, so dass wir, W. Schmitt Glaeser, H. Maurer und ich 1984 zu Duncker & Humblot gehen mussten – letztlich gern.

29 Vgl. auch H. Schulze-Fielitz, Grundsatzkontroversen in der deutschen Staatsrechtslehre nach 50 Jahren Grundgesetz, Die Verwaltung 32 (1999), S. 241 ff. 30 Aufschlussreich im Blick auf den Verlag de Gruyter: H. Müller, Wissenschaft und Macht um 1900, 2005. 31 Eine positive Sicht wohl bei P. Lerche, Die Funktion des juristischen Verlegers in der Rechtsordnung, NJW 1985, S. 1604 ff.

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Dieses Haus gehört ebenso wie Mohr-Siebeck und der Berliner Wissenschaftsverlag zu den Verlagen, die offen Pluralität pflegen, gute Dissertationen annehmen und auch Monographien mit geringen Verkaufsperspektiven fördern. Die kultivierten Verlegerpersönlichkeiten wie die Herren N. Simon, G. Siebeck32 und V. Schwarz sprechen bescheiden von „Mischkalkulation“. 4. Herausgeberschaften von Fachzeitschriften verführen nicht selten zu Machtmissbrauch. Das beginnt bei der Annahme oder Nichtannahme von Beiträgen ganz bestimmter Autoren und endet bei der gezielten Vergabe von Rezensionen (der vom Jubilar verfasste mutige Aufsatz: „Was macht die Qualität öffentlich-rechtlicher Forschung aus?“, wäre wohl kaum in einer anderen Zeitschrift als dem JöR erschienen33). Mir waren 37 Jahre lang die Buchanzeigen im AöR anvertraut. Ich orientierte mich bewusst an den Maximen des Pluralismus und der Generationenvielfalt, übersprang die „Schulen“ bzw. Gräben (gleiches gilt für das JöR34). Besonders pervertiert ist es, dass mitunter Autoren und potenzielle Rezensenten sich in einer „unheiligen Allianz“ an die Herausgeber wenden. Mit der Ablehnung solcher Ansinnen habe ich mir mindestens einen Todfeind gemacht. Im Rezensionswesen darf m. E. eine Zeitschrift kein „Tendenzbetrieb“ sein. Die Zeitschrift „Der Staat“ war in ihrem Programm, ihren Herausgebern und in ihrer Praxis der ersten Jahrzehnte eine bewusste Kampf-Zeitschrift35. Ich könnte dies belegen (auch in „Die Verwaltung“ gibt es noch in den 70er Jahren Verwerfungen, z. B. unterdrückte ein Mitherausgeber eine durch E. Forsthoff selbst erbetene Rezension). Heute sehen wir im „Staat“ eine glückliche personelle und inhaltliche Öffnung, nicht mehr den „Staat über alles“. Da es vielfach um Verstorbene geht, versage ich mir weitere negative Beispiele (ein Ausdruck des nicht mehr möglichen rechtlichen Gehörs). Rezensierte „Verfassungsrechtswissenschaft“36 hat große Ideale, auf sie sei verwiesen. Speziell die von K. Hesse gegründete „Freiburger Schule“ (Hesse habe ich das Wesentliche zu verdanken), wurde erstmals durch R. Herzog so genannt. 5. Wissenschaft, insonderheit die deutsche Staatsrechtslehre lebt aus der Pluralität ihrer Literaturgattungen. Die Monographie bleibt m. E. das „Haus“, das am ehesten Pionierliteratur erlaubt (auch für etablierte Wissenschaftler)37. Zu erwähnen sind Fälle, in denen vorausgegangene Monographien oder Grundsatzbeiträge nach einigen Jahren Staatsrechtslehrerta32

Von ihm: Am Rande vermerkt, 2006. Siehe Nw. FN 2. 34 Dazu mein Vorwort in JöR 50 (2002), S. V – VII. 35 Zu all dem aus der Lit.: F. Günther, Denken vom Staat her, 2004. Bemerkenswert auch G. Roellecke, Eine Institution im Meer des Ungewissen, FAZ vom 5. Januar 2000, S. 9. 36 Vgl. meinen gleichnamigen Band von 1982. 37 Ein Lob der Monographie jetzt auch bei R. Zimmermann, Juristische Bücher des Jahres, NJW 2006, S. 3328 ff. 33

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gungen thematisch inspiriert haben: so im Falle der Maßnahmegesetze der Festschriftenbeitrag von E. Forsthoff38 oder im Blick auf die jeweils ersten Themen der Tagungen in Köln, Halle und Frankfurt, um einmal „selbstreferenziell“ zu sein. Was sehen wir aber „unter“ dem Grundgesetz? Neben zahllosen GG-Kommentaren einen wachsenden Markt an erstickender, kiloschwerer Handbuchliteratur – man kann sie gar nicht mehr in der „Hand“ halten; sie ist oft eher einebnende Kompilation, denn kühne Innovation. Die mittlere Generation heute verausgabt sich in Kommentar- und Handbuchbeiträgen, die ältere in gegenseitigen Festschriften. (Die Würzburger Festschrift Raum und Recht, 2002, ist natürlich von dieser Kritik ausgenommen.) Die Handbücher verstopfen und verdecken buchstäblich die Vielfalt der ursprünglichen Informationsquellen. Zitiert wird nicht mehr das einst neue Paradigma, sondern spätere Sekundär-, ja Tertiärliteratur (jede Generation arbeitet leider primär fixiert auf die eigene Generation, darum sind maßvolle Selbstzitate wohl zulässig). Allenfalls Sammelfußnoten dokumentieren für den Kenner den Werdegang einer „wissenschaftlichen Erfindung“. Eigentlich darf ich diese Kritik nicht üben, da ich mich selbst zur Mitarbeit an mindestens zwei neuen Handbüchern habe überreden lassen. Hier einige anonyme jüngste Beispiele für Nachlässigkeiten im Zitierwesen39 in Handbüchern. Die Matadore in Sachen „rechtliche und reale Freiheit“ und Ausgestaltungsbedürftigkeit der Grundrechte aus den 60er Jahren werden nicht mehr genannt. Das einst neue Paradigma „Grundrechtsschutz durch Verfahren“ (1971) wird schlicht „vergessen“, auch mein Kampf für das „Religionsverfassungsrecht“ seit 1976. Man mag sich mit Herrn H. Dreiers These trösten, Plagiate seien die höchste Form der Anerkennung. Dies hilft aber einem Privatdozenten gerade nicht. Im Übrigen ist an die Verletzung des „wissenschaftlichen Generationenvertrags“ zu erinnern, wenn die jetzige Generation nicht mehr die ältere zitiert und die Ursprungsleistung nicht als solche anerkennt. Offenbar ist die GG-Wissenschaft in die Zeit der Postglossatoren eingetreten, dinosaurierhafte Großbände decken vieles zu, Lesefreude will sich kaum mehr einstellen. Es bleibt nur die Hoffnung, dass individuelle Lebensleistungen später dann wieder von der Wissenschaftsgeschichte anerkannt werden (in der Kunst gibt es viele Beispiele, man denke an die späte Gustav-Mahler-Rezeption). Das Ausland hat übrigens ein sensibles Gespür für „Neues“. Deutsche Sekundärliteratur vor allem in Kommentaren und Handbüchern wird einfach nicht zur Kenntnis genommen (der Dreier-Kommentar bleibt wegen seiner verfassungsvergleichenden Anlage die positive Ausnahme). Auch das lässt sich an Übersetzungen und im Zitierwesen belegen. Die Festschrift als Literaturgattung40 kann ich angesichts eigener Befangenheit in einem guten 38

Siehe E. Forsthoff, Über Maßnahme-Gesetze, in: GedS Jellinek, 1955, S. 221 ff. Vgl. meinen Beitrag: Verantwortung und Wahrheitsliebe im verfassungsjuristischem Zitierwesen, in: FS Schmitt Glaeser, 2003, S. 395 ff. 39

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Falle (2004) nicht behandeln. H. Goerlich hat dazu jüngst Vortreffliches gesagt41. Der Jubilar – der selbst wohl alle Literaturgattungen „bedient“ bzw. erprobt hat, Ausnahme ist der Nachruf – hat wie immer das Maßgebliche und Endgültige beigesteuert42. Die Arbeit an und in Fußnoten (heute oft durch Hiwis bzw. das Internet und „Google“ verfälscht, weil nicht mehr gewertet) wäre ein eigenes Thema43. 6. Das Gutachtenwesen ist eine besondere Crux. Wenn irgendwo, dann wird hier politische und ökonomische Macht ausgeübt. Es gibt angesehene Kollegen, die immer für dieselben Auftraggeber, vor allem politische Parteien, Gutachten schreiben. Besonderes fragwürdig sind unveröffentlichte Gutachten. Es gibt in den 60er Jahren einen renommierten verstorbenen Kollegen, der vor dem BVerfG das genaue Gegenteil von dem vortrug, was er selbst zuvor wissenschaftlich geschrieben hatte (das BVerfG durchschaute dies, auch in einem Falle unter Präsident W. Zeidler in den 80er Jahren). Ich fürchte vor allem die gewiss unbewusste Korruption. Mehr mag ich dazu nicht sagen. Schon vor Jahrzehnten habe ich mich mit meiner Philippika gegen Gutachten höchst unbeliebt gemacht. Der einzige positive Wert, den ich in Gutachten erblicken kann, liegt in ihrer Chance, den Wissenschaftler früh an Fälle aus der Praxis heranzuführen. Im Übrigen bleibt es dabei: „Recht für Geld“, „Geld für Recht“ tut der Wissenschaft nicht gut, jedenfalls aus meiner altmodischen Sicht nicht. Immer wieder müssen wir uns fragen, ob die Rechtswissenschaft „käuflich“ ist. Plädoyers vor dem BVerfG sind hingegen hoher Respekt zu zollen. P. Lerche hat jüngst in seinem Bayreuther Vortrag (2006) zur „Resonanz der Verfassungsrechtswissenschaft“ deren drei Aufgaben im Verhältnis zum BVerfG genannt: „Voraus-Denken, Nach-Denken und Hinaus-Denken“. 7. Die Selbstunterwerfung der deutschen Staatsrechtslehre unter das BVerfG hat B. Schlink früh zum Thema gemacht44. Ihm ist – differenziert – zuzustimmen, freilich nach folgender Maßgabe: Jede Kritik als „kommen40 Dazu P. Häberle, Festschriften im Kraftfeld ihrer Adressaten, AöR 105 (1980), S. 652 ff. 41 H. Goerlich, Verfassungsrecht – Verfassungsgeschichte – Verfassungspolitik. Gängige Inszenierungen einer Wissenschaft und ihre Ebenen, Comparativ 16 (2006), S. 171 ff. 42 Vgl. H. Schulze-Fielitz, Festschriften im Dienst der Wissenschaft, DVBl. 2000, S. 1260 ff.; siehe auch ders., Wissenschaftliche Publikationen ehrenhalber, Die Verwaltung 29 (1996), S. 565 ff. – Benachbart sind weitere Forschungsthemen des Jubilars: H. Schulze-Fielitz, Zwanzig Jahre „Zeitschrift für Gesetzgebung“ als Seismograph der Gesetzgebungslehre in Deutschland, ZG 21 (2006), S. 209 ff. 43 Zu Fußnoten: P. Häberle / A. Blankenagel, Fußnoten als Instrument der RechtsWissenschaft, Rechtstheorie 19 (1988), S. 116 ff. 44 B. Schlink, Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, Der Staat 28 (1989), S. 161 ff.; jetzt ders., Abschied von der Dogmatik. Verfassungsrechtsprechung und Verfassungsrechtswissenschaft im Wandel, JZ 2007, S. 157 ff.

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tierte Verfassungsrechtsprechung“ (1979) muss behutsam sein und darf die ganz außerordentlichen Leistungen des BVerfG nicht verdecken. Die Verfassungsrechtslehre sollte aber ihren wissenschaftlichen Selbststand behaupten. Mein großer akademischer Lehrer K. Hesse sagte mir einmal, vor schwierigen Fällen suche er gelegentlich in der Karlsruher Bibliothek nach Auskunft und Rat, finde aber selten etwas, um so mehr aber Kritik ex post (ähnlich äußerte sich einmal Herr D. Grimm). In der Tat: Die Aufgabe „wissenschaftlicher Vorratspolitik“ (1978), auch für das BVerfG, wird von unserer Seite nicht konsequent genug wahrgenommen. Die Wissenschaft sollte „Vorleistungen“ erbringen – trotz des berühmten Hegel-Zitats von der Eule der Minerva, die erst in der Dämmerung ihren Flug beginne (auch der Jubilar liebt es)45. Wir denken lieber „nach“, statt „voraus“ und sind nicht genügend wagemutig. Ein Weg für die Erfüllung dieser Forderung ist die Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung nach dem Programm von 1982 bzw. 1989. Freilich muss sich das BVerfG seinerseits seit langem sagen lassen, dass seine eigene Zitierpraxis auch nicht immer den Anforderungen von Offenheit und Pluralismus bzw. der Auswertung der Vielfalt der Literaturgattungen entspricht; freilich vermag seine große Zeitnot eine negative Rolle zu spielen. Allenfalls in Sondervoten wird eigene, neue und „abweichende“ Literatur zitiert. H. H. Rupp hat schon früh die Zitierpraxis des BVerfG gerügt. Vorbildlich war auch hier K. Hesse: Er hat als Verfassungsrichter bzw. Berichterstatter gerade nicht seine eigenen Schüler und Freunde zitiert, obwohl diese vielleicht Einschlägiges verfasst hatten. Schon gar nicht hat er sich selbst zitiert oder sich zitieren lassen (übrigens praktizierte K. Hesse auch stets eine idealpluralistische Berufungspolitik in Freiburg, es wurde ihm nicht gedankt). Er war ein Staatsrechtslehrer, der seine große Autorität nie als Macht einsetzte46. Es gibt auch ganz andere Beispiele! (So erkannte K. Hesse spät eine Anhäufung von Machtstrukturen vor Ort: Schmittismus, Katholizismus, SPD und eine von G. Leibholz lange verhinderte Wahl zum BVerfG-Richter durch die SPD). Doch nun genug der Kritik. Eigentlich darf man sie auf einem Festkolloquium gar nicht äußern. Der Jubilar liebt freilich als „68er“ die Kritik ganz spezifisch, vor allem an Fremden und von Freunden, er sagt dies jedenfalls immer wieder. Dies hat mich heute ermutigt. Die Verfassungsrechtslehre als Wissenschaft lebt von maßvoller Kritik. Da ich als Emeritus keine Macht mehr habe, kann ich all dies auch „ungeschützt“ vortragen. Im Übrigen bin ich auf Ihre Nachsicht angewiesen. Eines sei noch festgehalten: Als deut45

H. Schulze-Fielitz, VVDStRL 57 (1998), S. 284 (Aussprache). Zu ihm: P. Häberle, Zum Tod von Konrad Hesse (1919 bis 2005), AöR 130 (2005), S. 289 ff.; ders., In memoriam Konrad Hesse (1919 bis 2005), ZevKR 50 (2005), S. 569 ff.; ders., In memoriam Konrad Hesse (1919 – 2005), ZÖR 60 (2005), S. 279 f. sowie H. Goerlich, SächsVBl. 2005, S. 223 ff.; zuletzt: P. Lerche, Europäische Staatsrechtslehrer. Der Wissenschaftler Konrad Hesse und E. Benda, Konrad Hesse: Bundesverfassungsrichter 1975 – 1987, JöR 55 (2007), S. 455 ff. bzw. S. 509 ff. 46

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scher Staatsrechtslehrer ist man erst dann „etabliert“, wenn man erstens ein Ordinariat ergattert hat, zweitens ein Referat halten durfte und drittens mindestens eine Zeitschrift, einen Großkommentar oder ein Handbuch mit herausgibt. Ist man sogar einmal im Vorstand der VDStRL gewesen, und sei es auch nur als „Kassier“, so ist das Glück vollkommen!

IV. Ausblick und Schluss Mein Thema ist in den letzten Jahren zum persönlichen Wunsch unseres Jubilars gediehen, ich hätte sonst keinen Beitrag mehr geschrieben. Es soll seiner wissenschaftlichen Ehre dienen, wie das ganze Fest-Kolloquium hier in Würzburg. Ob er für die geschilderten Vermachtungsprozesse noch so sensibel ist wie früher, weiß ich nicht, denn er hat es ja dank seines Könnens weit gebracht47. Seine Prägung als Alt-68er führt zu eigenen Einfärbungen, die seine Frau und seine drei von mir präzise, Jahr für Jahr (im Rhythmus der wissenschaftlichen Stationen) vorausgesagten drei Söhne ausgleichen. Mein Thema stelle ich in großer Beklommenheit zur Diskussion. Verletzen wollte ich niemanden, doch geht es ja um Wahrhaftigkeit. Das Thema wird wohl immer ebenso aktuell wie schmerzlich bleiben, weil der Mensch eben nach einem Diktum von I. Kant „aus krummem Holz“ geschnitzt ist. Bei all dem bleibt die Berufung zum einsamen und freien Wissenschaftler neben der zum Künstler wohl die schönste Gestalt, die uns Sterblichen möglich ist. Professor und „Profession“ gehören zusammen. Es gibt eine – europäische – Gelehrtenrepublik. Unser Jubilar hat dies seit langem bewahrheitet. Möge es ihm auch inskünftig gelingen; auch ihm ist Rechtswissenschaft „Lebensform“48.

47 Vgl. zuletzt den ihn zitierenden Bericht in der FAZ über die Jenenser Tagung zum Thema Menschenwürde: FAZ vom 5. Januar 2007, S. 34. 48 Dazu meine Bayreuther Abschiedsvorlesung: (Rechts-)Wissenschaften als Lebensform, JöR 52 (2004), S. 155 ff.

IV. Staatsrechtslehre als Verwaltungsrechtslehre

Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Verwaltungsrechtslehre und Staatsrechtslehre Von Friedrich Schoch, Freiburg i. Br.

I. Zur Lage der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht in Deutschland 1. Momentaufnahmen folgenreicher Beobachtungen

a) Staatsrechtswissenschaft. „Die Staatsrechtswissenschaft lebt publizistisch im Ghetto ihrer Fachzeitschriften und inhaltlich im Bann des BVerfG.“ Dieses Zitat kann als Quintessenz aus Bernhard Schlinks Aufsatz von 1989 zur – angeblichen – Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit bezeichnet werden; zugleich spricht Schlink von einem „die Staatsrechtswissenschaft bestimmenden Bundesverfassungsgerichtspositivismus“, und er hält der Staatsrechtswissenschaft vor, „dem BVerfG die methoden- und dogmenstrenge Kritik schuldig“ zu bleiben1. Knapp zehn Jahre später hat Frowein in einer kritischen Analyse zur Lage des deutschen Staatsrechts diesem „Introvertiertheit“ vorgeworfen, dies anhand der Referate des ersten Tages der Staatsrechtslehrertagung 1997 deutlich gemacht und den Vorwurf zugleich auf das Bundesverfassungsgericht und auf das Bundesverwaltungsgericht bezogen2. Schmeichelhafte Komplimente sind die zitierten Äußerungen der beiden Kollegen nicht gerade. Ob die Kritik in der Sache zutrifft, wird zu klären sein. Die Kritik steht allerdings in einem auffälligen Gegensatz zu dem Respekt und dem Ansehen, das sowohl die deutsche Staatsrechtslehre als auch das Bundesverfassungsgericht im Ausland genießen3. Wer nun vor diesem Hintergrund die Hoffnung auf ein milderes Urteil der Kritiker hegte, wird 1 Bernhard Schlink, Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, Der Staat 28 (1989), S. 161 (Zitate: S. 162, 163, 169). 2 Jochen Abr. Frowein, Kritische Bemerkungen zur Lage des deutschen Staatsrechts aus rechtsvergleichender Sicht, DÖV 1998, S. 806 ff., 811. 3 Vgl. nur etwa Hisao Kuriki, Über die Tätigkeit der Japanischen Forschungsgesellschaft für deutsches Verfassungsrecht, JöR 50 (2002), S. 599 ff.; als Beleg darf auch die Festschrift für Fazil Sagˇlam, 2006, angeführt werden, eine Veröffentlichung des Deutsch-Türkischen Staatsrechtslehrerforums.

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von Schlink im Februar 2007 eines Besseren belehrt: Mittlerweile habe auch das Bundesverfassungsgericht „seinen Nimbus verloren“; seine Rechtsprechung lasse „keine dogmatische Stimmigkeit“ mehr erkennen, sondern sei durch „Beliebigkeit“ gekennzeichnet, mit der Folge, dass die Verfassungsrechtswissenschaft ihre „spezifisch juristische Rationalität“ endgültig einbüße und nurmehr am „allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Diskurs“ teilnehme4. b) Verwaltungsrechtswissenschaft. Zur Lage der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft hat sich Rüdiger Breuer im Jahr 2003 ausführlich geäußert. Er attestiert dieser Wissenschaft für die Vergangenheit eine hohe Leistungsfähigkeit, weist ihr sogar „Schrittmacherdienste“ bei der Kodifikation des Verwaltungs(verfahrens)rechts im VwVfG zu, sieht den erreichten Entwicklungsstand jedoch einerseits durch die neuere (Beschleunigungs-)Gesetzgebung gefährdet (Hektik, Kurzatmigkeit, Formelkompromisse) und führt mittlerweile eingetretene Gewissheitsverluste auf die Einwirkungen des EG-Rechts zurück5. Auch zur deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft darf übrigens konstatiert werden, dass sie im Ausland einen ausgezeichneten Ruf hat6. Von einer „heilen Welt“ kann indes auch in Bezug auf die Verwaltungsrechtswissenschaft nicht berichtet werden. Die schon seit einiger Zeit behauptete „Krise“ des Ordnungsrechts hat – als Frucht des gut zehnjährigen Projekts „Reform des Verwaltungsrechts“7 – die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft auf den Plan gerufen. Sie hält – etwas zugespitzt formuliert – das überkommene Verwaltungsrecht und die traditionelle Verwaltungsrechtswissenschaft für wenig zukunftstauglich, plädiert für eine Schwerpunktverlagerung von der anwendungsbezogenen Interpretationswissenschaft zur rechtsetzungsorientierten Handlungs- und Entscheidungswissenschaft und meint, mit dem steuerungstheoretischen Ansatz den „Theorie-Praxis-Bruch“ überwinden zu können8. Diese Neuausrichtung hat indes 4 Bernhard Schlink, Abschied von der Dogmatik – Verfassungsrechtsprechung und Verfassungsrechtswissenschaft im Wandel, JZ 2007, S. 157 (Zitate: S. 158, 161, 162). 5 Rüdiger Breuer, Zur Lage der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft, Die Verwaltung 36 (2003), S. 271 ff. 6 Auch dazu mögen zwei Belege genügen: Mariano Bacigalupo / Francisco Velasco, Wirkungen der deutschen Verwaltungsrechtslehre nach außen – am Beispiel Spaniens, Die Verwaltung 36 (2003), S. 333 ff.; vgl. ferner zu den Deutsch-Polnischen Verwaltungskolloquien etwa Wilfried Erbguth / Johannes Masing (Hrsg.), Die Bedeutung der Rechtsprechung im System der Rechtsquellen: Europarecht und nationales Recht, 2005. 7 Die Ergebnisse sind dokumentiert in den „Schriften zur Reform des Verwaltungsrechts“, beginnend mit Band 1: Wolfgang Hoffmann-Riem / Eberhard SchmidtAßmann / Gunnar Folke Schuppert (Hrsg.), Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts – Grundfragen, 1993; zuletzt Band 10: Eberhard Schmidt-Aßmann / Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004. – Vgl. zu dem Projekt auch Wolfgang Hoffmann-Riem, Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts: Vorüberlegungen, DVBl. 1994, S. 1381 ff.

Verwaltungsrechtslehre und Staatsrechtslehre

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sogleich Kritik und Skepsis hervorgerufen. Rainer Wahl hat in seiner im vergangenen Jahr vorgelegten Analyse zum Öffentlichen Recht der letzten fünf Jahrzehnte darauf hingewiesen, dass die Kritik an der „alten Verwaltungsrechtswissenschaft“ überzogen sein könnte und die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft so ambitioniert auftrete, dass es schwer sein könnte, die von ihr versprochenen Verheißungen auch einzulösen9. Darauf wird zurückzukommen sein10.

2. Präzisierung der Themenstellung

a) Einheit des Öffentlichen Rechts. Meine einleitende Problemskizze dürfte deutlich gemacht haben, dass für hinreichend Diskussionsstoff gesorgt ist. Gewisse Schwierigkeiten bereitet mir allerdings das gestellte Thema. Die Gegenüberstellung von „Verwaltungsrechtslehre“ und „Staatsrechtslehre“ könnte ein Trennungsdenken zum Ausdruck bringen, das ich nicht teile. Mir liegt sehr daran, die Einheit der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht zu betonen. Akzeptiert man dennoch die differenzierende Schwerpunktsetzung meines Themas, muss deutlich gesagt werden, dass eine seriöse Verwaltungsrechtswissenschaft ohne Einbeziehung des Verfassungsrechts, des Europarechts und auch des Internationalen Rechts nicht (mehr) betrieben werden kann. Die Staatsrechtslehre (i. e. S.)11 wäre – soweit es sich nicht um rein verfassungsrechtliche Fragestellungen handelt – gut beraten, die Einwirkungen des Europarechts und des Völkerrechts angemessen(er) zu rezipieren und zu verarbeiten, als dies in der Vergangenheit der Fall gewesen ist, und auch die im Wege der Konstitutionalisierung des Verwaltungsrechts bewirkten Folgen ihres Tuns stärker im Blick zu behalten12. Die hier propagierte Einheit der Disziplin „Öffentliches Recht“ wird neuerdings von der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer auf ihren Jahrestagungen (wissenschaftlicher Teil) dadurch betont, dass die (mittlerweile vier) Einzelthemen (mit jeweils zwei „Berichten“) einer übergreifenden Gesamtthematik unterstellt werden13. Wenn ich mich nachfolgend auf die Un-

8 Andreas Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: W. HoffmannRiem / E. Schmidt-Aßmann / A. Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts (GVwR), Band I, 2006, § 1 Rn. 9 ff., 16 ff., 48 ff. 9 Rainer Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006, S. 87 ff. 10 Vgl. unten IV. 2. und V. 11 Persönlich bevorzuge ich den Begriff „Verfassungsrecht“ gegenüber dem Terminus „Staatsrecht“; näher zur Begrifflichkeit Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Neudruck der 20. Aufl. 1999, Rn. 18. – In diesem Beitrag werden die Begriffe „Staatsrechtslehre“ und „Staatsrechtswissenschaft“ synonym gebraucht, ebenso „Verwaltungsrechtslehre“ und „Verwaltungsrechtswissenschaft“. 12 Näher dazu unten II. 6. und III. 2.

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terscheidung zwischen „Verwaltungsrechtslehre“ und „Staatsrechtslehre“ einlasse (allerdings: eher im Sinne einer bloßen Akzentsetzung), so erfolgt dies unter der Prämisse, dass die Einheit des Öffentlichen Rechts gewahrt bleibt14. b) Das geltende Recht als Anknüpfungspunkt. Aufgegeben ist mir von der Themenstellung die Herausarbeitung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den erwähnten Teildisziplinen des Öffentlichen Rechts. Dies verlangt einen gemeinsamen Bezugspunkt und einen einheitlichen Kriterienkatalog. Bezug nehme ich durchgehend auf das geltende Öffentliche Recht. Diese Festlegung ist schon aus verfassungsrechtlichen Gründen angezeigt, da die drei Staatsfunktionen, mit denen sich die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht hauptsächlich beschäftigt, hierauf verpflichtet sind15; außerdem kann die Orientierung am geltenden Recht vor der Beliebigkeit mancher Diskurse schützen16, die anscheinend in Teilen der Wissenschaft (und der Rechtsprechung) modern geworden sind. Dabei wird der Begriff „geltendes“ Recht – ganz im Sinne der effet utile-Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs17 – ernst genommen und sowohl auf die Normgeltung als solche als auch auf ihre Konkretisierung, Auslegung und Anwendung in der Praxis bezogen18. Dieses Verständnis ist von einer bald zehnjährigen richterlichen Praxis (als Richter im Nebenamt am Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg mit einem eigenen kleinen Dezernat) mitgeprägt. Diese Praxis zeigt, dass sich manche rechtswissenschaftliche „Spielerei“ verbie13 Zuletzt VVDStRL 66 (2007) „Bundesstaat und Europäische Union zwischen Konflikt und Kooperation“ mit den Einzelthemen „Autonomie und Bindung der Rechtsetzung in gestuften Rechtsordnungen“, „Verantwortung und Effizienz in der Mehrebenenverwaltung“, „Finanzautonomie und Finanzverflechtung in gestuften Rechtsordnungen“, „Rechtsprechungskonkurrenz zwischen nationalen Verfassungsgerichten, Europäischem Gerichtshof und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte“. 14 Zutreffend dazu Wahl, Das Öffentliche Recht (FN 9), S. 31 f., 35 f. – Bemerkenswert auch die Durchsetzung dieses Konzepts innerhalb der SIPE, vgl. Hartmut Bauer, Entstehung und Entwicklung der Societas Iuris Publici Europaei – Zugleich ein Beitrag zur Europäischen Wissenschaft vom Öffentlichen Recht, in: FS Starck, 2007, S. 485 (497). 15 Art. 1 Abs. 3, Art. 20 Abs. 3 und Art. 97 Abs. 1 GG. 16 Ebenso Wahl, Das Öffentliche Recht (FN 9), S. 14, in Bezug auf die Historisierung des Öffentlichen Rechts. 17 EuGHE 2000, 3201 Tz. 31 ff.; EuGHE 2004, 723 Tz. 67 ff.; EuGH, NVwZ 2006, S. 1277 Tz. 57 ff. – Vgl. ferner Helmut Lecheler, Der Grundsatz der Effektivität im Gemeinschaftsrecht – Herkunft und Ausprägung, 2002 (Ludwig Boltzmann Institut für Europarecht, Reihe „Vorlesungen und Vorträge“); Jörg Gundel, Justiz- und Verfahrensgrundrechte, in: Dirk Ehlers (Hrsg.), Europäische Grundrechte und Grundfreiheiten, 2. Aufl. 2005, § 19 Rn. 42 ff. 18 Von daher ist „geltendes“ Recht gerade auch daran zu erkennen, was – auf Grund normativer, durch Verwaltung und / oder Rechtsprechung konkretisierter und in vielen Einzelfällen zur Anwendung gebrachter Vorgaben – „gelebt“ wird. Dies verbietet z. B. willkürliches Abrücken eines (obersten) Gerichts von seiner bisherigen Rechtsprechung.

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tet, wenn es ernst wird in der Lebenswirklichkeit; außerdem wird durch die praktische Erfahrung eindrucksvoll bestätigt, dass das Öffentliche Recht schon immer einen Doppelauftrag zu erfüllen hatte: eine Bewirkungsfunktion, die der Effektuierung des staatlichen Handelns dient, sowie eine Ordnungsfunktion, die auf die Disziplinierung vor allem des administrativen Handelns zielt19. Mein Kriterienraster zur Herausarbeitung der Gemeinsamkeiten und Unterschiede von Verwaltungsrechtslehre und Staatsrechtslehre möchte ich als „Standards zur Standortbestimmung“ bezeichnen (vgl. nachf. II.). Ausgewählt wurden sieben Prüfpunkte, die in hinreichendem Maße signifikant sein dürften, um substanzielle Aussagen zum jeweiligen Stand der Wissenschaft zuzulassen. Es versteht sich, dass damit kein abschließender Kriterienkatalog gebildet wird20. Selbstverständlich ist auch, dass die Prüfungspunkte von unterschiedlichem Gewicht sind. Hinweisen möchte ich vorab nur auf die besondere Bedeutung der Rechtsprechung für die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht21 und auf die gewaltigen Herausforderungen der Europäisierung und Internationalisierung für die innerstaatliche Rechtsordnung22.

II. Standards zur Standortbestimmung Vor dem Vergleich und der (Zwischen-)Bilanz steht die Analyse. Auskunft zur Lage der Staatsrechtslehre und der Verwaltungsrechtslehre geben vor allem die Antworten auf Fragen und Herausforderungen, die unmittelbar 19 Näher zum Doppelauftrag des Öffentlichen Rechts (am Beispiel des Verwaltungsrechts) Eberhard Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee, 2. Aufl. 2004, 1 / 30 ff.; Claudio Franzius, Funktionen des Verwaltungsrechts im Steuerungsparadigma der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft, Die Verwaltung 39 (2006), S. 335 (350 ff.). 20 So wäre auch z. B. eine Analyse anhand der „Ökonomisierung des Öffentlichen Rechts“ interessant; vgl. dazu Christoph Möllers, Kooperationsgewinne im Verwaltungsprozess – Zugleich ein Beitrag zu Theorie und Praxis ökonomischer Analyse im Verwaltungsrecht, DÖV 2000, S. 667 ff.; Maximilian Wallerath, Der ökonomisierte Staat, JZ 2001, S. 209 ff.; Thilo Weichert, Die Ökonomisierung des Rechts auf informationelle Selbstbestimmung, NJW 2001, S. 1463 ff.; Christoph Gröpl, Ökonomisierung von Verwaltung und Verwaltungsrecht, VerwArch 93 (2002), S. 459 ff.; Bernd Grzeszick, Lässt sich eine Verfassung kalkulieren?, JZ 2003, S. 647 ff.; Michael Fehling, Kosten-Nutzen-Analysen als Maßstab für Verwaltungsentscheidungen, VerwArch 95 (2004), S. 443 ff.; Christian Bernd Hüsken / Suzanne Mann, Der Staat als „Homo Oeconomicus“?, DÖV 2005, S. 143 ff.; Utz Schliesky, Wirtschaftlichkeit als Organisationsprinzip der öffentlichen Verwaltung?, in: Utz Schliesky / Christian Ernst (Hrsg.), Recht und Politik – Wissenschaftliches Symposium für Edzard Schmidt-Jortzig, 2007, S. 35 ff. 21 Zu deren Bedeutung bereits Eberhard Schmidt-Aßmann, Der Beitrag der Gerichte zur verwaltungsrechtlichen Systembildung, VBlBW 1988, S. 381 ff. 22 Dazu Matthias Ruffert, Die Europäisierung der Verwaltungsrechtslehre, Die Verwaltung 36 (2003), S. 293 ff.

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ins Zentrum der Fachdisziplin führen. Die sieben Prüfpunkte hierzu werden nachfolgend bisweilen thesenartig und mitunter zugespitzt behandelt.

1. Gegenstand der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht

Die am Anfang der Überlegungen stehende notwendige Vergewisserung über den Gegenstand der jeweiligen Disziplin23 führt bei einem Blick in führende Lehrbücher rasch zu der Erkenntnis, dass „Verwaltung und Verwaltungsrecht“ Objekte der Verwaltungsrechtswissenschaft sind24. Zwar lässt sich eine exakte und abschließende Definition von „Verwaltung“ kaum finden, jedoch hat dieses – ohnehin eher Randbereiche betreffende – Defizit der Entwicklung der Verwaltungsrechtswissenschaft nicht geschadet25. Aufschluss bietet auch die Umschreibung des „Verwaltungsrechts“ als Gesamtheit der geschriebenen und ungeschriebenen Rechtssätze des Öffentlichen Rechts (mit Ausnahme des Verfassungsrechts und des Prozessrechts), die die Verwaltung(sorganisation) konstituieren und die Verwaltungstätigkeit regeln26. Eine genaue Betrachtung der Rechtsquellen des Verwaltungsrechts zeigt, dass dieses Rechtsgebiet in Deutschland durch ein dichtes Netz vor allem von Gesetzen, Rechtsverordnungen, Satzungen und Verwaltungsvorschriften geprägt ist27; auch wird deutlich, dass die Einwirkungen des Verfassungsrechts und des EG-Rechts mittlerweile zum Standardrepertoire des Verwaltungsrechts gehören28. Die Wissenschaft vom Verwaltungsrecht findet in Deutschland ein an Fülle und Dichte nur schwer zu übertreffendes Normenmaterial vor29. 23 Treffend Breuer (FN 5), Die Verwaltung 36 (2003), S. 271: „Jede Wissenschaft bedarf einer Definition ihres Gegenstandes . . . Fehlt es an einem . . . Bild der Verwaltung, so droht der Verwaltungsrechtswissenschaft . . . eine diffuse oder zirkuläre Selbstreflexion.“ 24 Vgl. Dirk Ehlers, Verwaltung und Verwaltungsrecht im demokratischen und sozialen Rechtsstaat, in: Hans-Uwe Erichsen / Dirk Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 13. Aufl. 2006 (Überschrift zum Ersten Abschnitt); Hartmut Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl. 2006, 1. Teil: „Verwaltung und Verwaltungsrecht“. 25 Vgl. zur Problematik Gerd Roellecke, Verwaltung und Verwaltungsrecht, Die Verwaltung 29 (1996), S. 1 ff.; dens., Das Interesse der Rechtswissenschaft an Nichtwissen – Der Verwaltungsbegriff als Beispiel, DÖV 2003, S. 896 ff. 26 Ehlers, AllgVerwR (FN 24), § 3 Rn. 1; Maurer, AllgVerwR (FN 24), § 3 Rn. 1 27 Hinzu treten (z. B. im Staatshaftungsrecht) ungeschriebene Rechtssätze; vgl. auch Fritz Ossenbühl, Allgemeine Rechts- und Verwaltungsgrundsätze – eine verschüttete Rechtsfigur?, in: Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, S. 289 ff. 28 Eindrucksvoll dazu Ehlers, AllgVerwR (FN 24), § 2 Rn. 95 ff. und § 4 Rn. 43 ff.; vertiefend Matthias Ruffert, Rechtsquellen und Rechtsschichten des Verwaltungsrechts, in: GVwR I (FN 8), § 17 Rn. 8 ff., 121 ff. 29 Hinzu tritt die Dichte der Regelungsstruktur; dazu (rechtsvergleichend mit Frankreich und Großbritannien) Rüdiger Breuer, Konditionale und finale Rechtsetzung, AöR 127 (2002), S. 523 ff.

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Gegenstand der Staatsrechtswissenschaft sind vornehmlich der (konkrete) Staat und sein Verfassungsrecht, streng genommen die in der Verfassungsurkunde zusammengefassten grundlegenden Rechtsnormen des Gemeinwesens30. Das müssen sogar Kritiker einräumen, die einen Paradigmenwechsel in der deutschen Staatsrechtslehre von „Staat“ zu „Verfassung“ beklagen und ein „Staatsrecht ohne Staat“ befürchten; denn letztlich ist anzuerkennen, dass die Verfassung als Grundordnung und als Grundgesetz des Staates fungiert31. Die Rechtsmasse, mit der sich die Staatsrechtswissenschaft im wesentlichen zu beschäftigen hat, wird danach in erster Linie durch die 185 Artikel des Grundgesetzes repräsentiert. Fülle und Dichte des Normenmaterials zwischen Verwaltungsrecht einerseits und Verfassungsrecht andererseits unterscheiden sich also erheblich.

2. Eigenart des Rechtsstoffes

Der rasche erste Blick auf den Forschungsgegenstand der Teildisziplinen der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht besagt nun allerdings noch nichts zu den wissenschaftlichen Herausforderungen. Insoweit ist die Eigenart des jeweiligen Rechtsstoffes aussagekräftig. Drei Beobachtungen sind in unserem Zusammenhang von besonderem Interesse: l

Normenstruktur: Das Verfassungsrecht ist ausweislich des mitunter spärlichen Verfassungstextes durch Offenheit (vor allem für die rechtliche Verarbeitung künftiger Entwicklungen), inhaltliche Weite (zur Domestizierung neu auftretender Rechtsprobleme) und auch durch Unvollständigkeit gekennzeichnet32. Auf der anderen Seite treffen wir auf ein Verwaltungsrecht, das – obgleich selbstverständlich nicht völlig lückenlos – durch eine hohe Normierungsdichte auffällt, teilweise sogar kleinteilige Regelungsstrukturen aufweist und mitunter durch eine spezifische Maßnahmegesetzgebung entstanden ist33; man denke z. B. an die Beschleunigungsgesetzgebung der 1990er Jahre34 oder aktuell an das „BauGB 30

Hesse, Grundzüge (FN 11), Rn. 16 ff. Josef Isensee, Staat und Verfassung, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II, 3. Aufl. 2004, § 15 Rn. 6 ff. (Kritik an der Staatsrechtslehre) und § 15 Rn. 166 ff. (rechtliche Fundierung des Verfassungsstaates). 32 Näher zur Eigenart des Verfassungsrechts Konrad Hesse, Verfassung und Verfassungsrecht, in: Ernst Benda / Werner Maihofer / Hans-Jochen Vogel (Hrsg.), Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, § 1 Rn. 13 ff. 33 Vgl. zur Illustration nur etwa den Überblick zum Allgemeinen und Besonderen Verwaltungsrecht bei Ehlers, AllgVerwR (FN 24), § 3 Rn 8 f., und Maurer, AllgVerwR (FN 24), § 3 Rn. 2 ff. 34 Knappe Zusammenstellung dazu (m. umfangr. Nachw.) bei Friedrich Schoch, Die europäische Perspektive des Verwaltungsverfahrens- und Verwaltungsprozessrechts, in: Eberhard Schmidt-Aßmann / Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts, 1999, S. 279 (288 f.). 31

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2007“35. Es leuchtet unmittelbar ein, dass die unterschiedlichen Normstrukturen Konsequenzen für die rechtswissenschaftliche Bearbeitung zeitigen. l

Tradition: Die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht kann in ihren Teildisziplinen nicht nur auf unterschiedliche Traditionen zurückblicken, sie kann und muss zudem unterschiedlich hieran anknüpfen. Für die Verwaltungsrechtswissenschaft lässt sich – ungeachtet der im Detail anzubringenden Differenzierungen – eine große Entwicklungslinie vom Ende des 19. Jahrhunderts bis in die heutige Zeit nachweisen36. Die – jedenfalls in den Grundlinien (ungeachtet wichtiger partieller Neuausrichtungen, z. B. Grundrechtsbezug) – relativ hohe Kontinuität im Verwaltungsrecht37 betrifft sowohl den Rechtsstoff als auch, wie vor allem die Rechtsdogmatik zeigt, seine wissenschaftliche Bearbeitung. Ob die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft wirklich zu einem „Quantensprung“ oder gar zu einem Traditionsbruch führen wird, bleibt abzuwarten38. Die Staatsrechtswissenschaft kann auf eine vergleichbare, über hundertjährige Tradition, die durch ein hohes Maß an inhaltlicher Kontinuität geprägt ist, nicht verweisen39. Mit dem Bonner Grundgesetz von 1949 begann für die Wissenschaft weithin ein Neuanfang bei der Bearbeitung des Verfassungsrechts40.

35 Vgl. dazu Heinz G. Bienek, Die Novelle des Baugesetzbuches 2007, SächsVBl 2007, S. 49 ff.; Ulrich Battis / Michael Krautzberger / Rolf-Peter Löhr, Gesetz zur Erleichterung von Planungsvorhaben für die Innenentwicklung der Städte („BauGB 2007“), NVwZ 2007, S. 121 ff.; Michael Krautzberger / Bernhard Stüer, BauGB 2007: Stärkung der Innenentwicklung, DVBl 2007, S. 160 ff. 36 Ausführlich dazu Christian Bumke, Die Entwicklung der verwaltungsrechtswissenschaftlichen Methodik in der Bundesrepublik Deutschland, in: Eberhard Schmidt-Aßmann / Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 73 (85 ff.). 37 Zu früheren, vereinzelten Reformüberlegungen zur Verwaltungsrechtswissenschaft, die aber weitgehend folgenlos geblieben sind, vgl. Klaus Obermayer, Verwaltungsrecht im Wandel, NJW 1987, S. 2642 ff.; Martin Bullinger, Verwaltung im Rhythmus von Wirtschaft und Gesellschaft – Reflexionen und Reformen in Frankreich und Deutschland, JZ 1991, S. 53 ff.; Werner Thieme, Über die Notwendigkeit einer Reform des Allgemeinen Verwaltungsrechts, DÖV 1996, S. 757 ff. 38 Vgl. dazu unten IV. 2. und V. 39 Dieter Grimm, Das Grundgesetz in der deutschen Verfassungstradition, in: Aus Politik und Zeitgeschichte – Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament, B 16 – 17 / 89, S. 3 ff., arbeitet heraus, dass mit dem Grundgesetz der Anschluss an die westliche Verfassungstradition vollzogen worden ist. 40 Zu grundsätzlichen Differenzen zwischen dem deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts und dem Grundgesetz Rainer Wahl, Die Entwicklung des deutschen Verfassungsstaates bis 1866, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band I, 3. Aufl. 2003, § 2 Rn. 45 ff.; zu vereinzelten Kontinuitätslinien zwischen der Paulskirchenverfassung und dem Grundgesetz Walter Pauly, Die Verfassung der Paulskirche und ihre Folgewirkungen, ebd., § 3 Rn. 54 ff.; Hasso Hofmann, Die Entwicklung des Grundgesetzes von 1949 bis 1990, ebd., § 9 Rn. 1 bemerkt: „Als Staatsgründungsgesetz der Bundesrepublik Deutschland war das Grundgesetz Verfassungsneuschöpfung.“

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Methode: Die Unterschiede in den Normstrukturen und in den Traditionen zwischen Verwaltungsrecht(swissenschaft) und Verfassungsrecht(swissenschaft) haben Konsequenzen für die Methode der jeweiligen Disziplin. Für das Verwaltungsrecht hatte sich für lange Zeit die „juristische Methode“ Otto Mayers durchgesetzt. Ihre Leistungsfähigkeit (Rationalität, Legitimation, Integration)41 lässt sich – wenn man den Boden des geltenden Rechts nicht verlässt – kaum bestreiten42. Fraglich geworden ist jedoch, ob die „juristische Methode“ noch zureichend ist. Streit herrscht demzufolge neuerdings über ihre Leistungsgrenzen. Vertreter der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft sehen die traditionelle Verwaltungsrechtswissenschaft in der Krise und möchten sich mit der Konstituierung eines steuerungstheoretischen Ansatzes deutlich von der „juristischen Methode“ abheben43. Insoweit gibt es allerdings, da die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft nicht etwa als „kanonisierte Formation“ auftritt, Nuancierungen in der Akzentuierung. Vorsichtiger formulierte Reformanliegen warnen daher vor Einseitigkeit, reflektieren unterschiedliche administrative Gestaltungs- und Entscheidungssituationen und plädieren daher für eine situationsangemessene Methodenlehre44. Die Verfassungsrechtswissenschaft konnte mit dem Inkrafttreten des Grundgesetzes nicht an ein tradiertes Konzept der Verfassungsinterpretation anknüpfen und dies ungezwungen fortschreiben. Die Offenheit der Verfassungsnormen lässt Raum für Vor-Verständnisse, macht dadurch die wissenschaftliche Bearbeitung des Rechtsstoffes auch von verfassungstheoretischen Annahmen abhängig und lässt sich schon von daher kaum auf ein einheitliches Konzept einschwören45. Besonders deutlich wird dies am Beispiel der Grundrechtstheorie46. Als gesichert wird man im-

41 Ausführlich dazu Walter Krebs, Die Juristische Methode im Verwaltungsrecht, in: Eberhard Schmidt-Aßmann / Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 209 (217 ff.). 42 Differenzierte Darstellung der Vorzüge und partiellen Nachteile bei Christoph Möllers, Methoden, in: GVwR I (FN 8), § 3 Rn. 23 ff. – Engagiert Breuer (FN 5), Die Verwaltung 36 (2003), S. 271 (273 f.); Wahl, Das Öffentliche Recht (FN 9), S. 93 f. 43 Voßkuhle, in: GVwR I (FN 8), § 1 Rn. 16 ff.; Wolfgang Hoffmann-Riem, Eigenständigkeit der Verwaltung, ebd., § 10 Rn. 14 f. 44 Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (FN 19), 1 / 48. 45 Vgl. nur z. B. die unterschiedlichen Positionen von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, NJW 1976, S. 2089 ff.; Erhard Blankenburg / Hubert Treiber, Die geschlossene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1982, S. 543 ff. 46 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Grundrechtstheorie und Grundrechtsinterpretation, NJW 1974, S. 1529 ff.; Fritz Ossenbühl, Die Interpretation der Grundrechte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1976, S. 2100 ff.; Winfried Brugger, Elemente verfassungsliberaler Grundrechtstheorie, JZ 1987, S. 633 ff.; Peter Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat, JZ 1989, S. 913 ff.; Bernd Jeand’Heur, Grundrechte im Spannungsverhältnis zwischen subjektiven Freiheitsgarantien und objektiven Grundsatznormen, JZ 1995, S. 161 ff.; Ernst-Wolfgang Böckenförde, Wie werden in Deutschland die Grundrechte

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merhin ansehen dürfen, dass zu den herkömmlichen Interpretationsregeln weitere Prinzipien der Verfassungsinterpretation hinzutreten (Einheit der Verfassung, praktische Konkordanz, funktionelle Richtigkeit, integrierende Wirkung)47. Insgesamt beschert die Eigenart des Rechtsstoffes der Verwaltungsrechtswissenschaft die klareren Konfliktlinien. Ob man die Offenheit der Verfassungsrechtsnormen als „Fluch“ oder als „Segen“ für die Verfassungsrechtswissenschaft begreifen möchte, muss hier nicht abschließend beantwortet werden. Es darf aber darauf hingewiesen werden, dass es in einem demokratisch verfassten Gemeinwesen einen politischen Prozess gibt, der verfassungsrechtlich eher gesteuert als (partiell) blockiert werden sollte. Außerdem haben wir inzwischen gewisse Erfahrungen mit der „Vergesetzlichung“ von Verfassungsnormen: Die Einführung von Art. 16a GG oder Art. 23 GG werden wir (unabhängig vom jeweiligen Inhalt) kaum als Sternstunden der Verfassungsgebung bezeichnen wollen.

3. Prägekraft der Rechtsprechung

a) Bundesverfassungsgericht. Im System des Grundgesetzes mit einer voll ausgebauten Verfassungsgerichtsbarkeit (vgl. Art. 93, 100 GG; § 13 BVerfGG) verfügt das Bundesverfassungsgericht über eine einzigartige Interpretationsmacht48; das Verfassungsrecht gilt, so wie das Gericht es ausgelegt und zur Anwendung gebracht hat49. Diese Feststellung ist weder überraschend noch besorgniserregend, sie entspricht vielmehr verfassungsrechtlicher Normalität und staatspolitischer Notwendigkeit, weil die Verwirklichung der Verfassung im Sinne realer Geltung50 sichergestellt wird51. im Verfassungsrecht interpretiert?, EuGRZ 2004, S. 598 ff.; Karl-Heinz Ladeur, Die objektiv-rechtliche Dimension der wirtschaftlichen Grundrechte – Relativierung oder Abstützung der subjektiven Freiheitsrechte?, DÖV 2007, S. 1 ff. – Umfassend Fritz Ossenbühl, Grundsätze der Grundrechtsinterpretation, in: Detlef Merten / Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Band I, 2004, § 15. 47 Hesse, Grundzüge (FN 11), Rn. 70 ff. 48 Entfaltung dieses Aspekts bei Ernst-Wolfgang Böckenförde, Verfassungsgerichtsbarkeit: Strukturfragen, Organisation, Legitimation, NJW 1999, S. 9 (12 f.): Interpretationsmacht aus der Verbindung von Vorrang der Verfassung, Zuständigkeit zur letztverbindlichen Interpretation der in weiten Teilen inhaltlich unbestimmten Verfassung und Fehlen eines anerkannten Kanons der Interpretationsmethoden. 49 Thomas Oppermann, Das Bundesverfassungsgericht und die Staatsrechtslehre, in: FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Band I, 2001, S. 421. („The constitution is what the judges say it is.“) 50 Näher zu diesem zentralen Aspekt eines auf Verwirklichung angelegten Verfassungsrechts Hesse, Grundzüge (FN 11), Rn. 41 ff. 51 Es stellt daher – gelinde gesagt – einen schiefen Vergleich dar, wenn die heutige Staatsrechtswissenschaft mit derjenigen des 19. Jahrhunderts in Beziehung gesetzt wird, soweit es um die Einflussnahme auf Gesetzgebung und Rechtsprechung geht, so aber Schlink (FN 1), Der Staat 28 (1989), S. 161 (162).

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Unzutreffend ist die an diesen Befund anknüpfende Behauptung, die Staatsrechtswissenschaft betreibe nur noch „Bundesverfassungsgerichtspositivismus“ und habe die Kritikfähigkeit gegenüber dem Gericht verloren52. Das mag für große Teile der Lehrbuchliteratur, die ohnehin die Gattung der Studienliteratur bevorzugt, gelten. Einer Nachprüfung im übrigen hält jene These nicht stand. Das gilt, wie jeweils fünf Beispiele (zu Grundlinien der Judikatur und nicht etwa zu Einzelfragen) deutlich machen, sowohl in allgemeinen verfassungsrechtlichen Grundsatzfragen als auch für den Grundrechtsbereich und das Staatsorganisationsrecht: l

Grundsätzliches: Unter dem Aspekt des Kontrollumfangs (Grundrechtsdimensionen!) und der Kontrolldichte (Verhältnismäßigkeit!) wird dem Bundesverfassungsgericht seit langer Zeit vorgehalten, es habe sich „zu einer Art Oberrevisionsgericht in Grundrechtsfragen“ entwickelt und beschreite den „Übergang vom parlamentarischen Gesetzgebungsstaat in einen verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat“53. Die neuere Grundrechtsjudikatur des Ersten Senats wird mit dem nicht eben leichten Vorwurf konfrontiert, durch mitunter „freischwebende“ Wertungen den Freiheitsschutz einer Erosion auszusetzen54. Immer wieder (und bis in unsere Tage) wird die seit Jahrzehnten etablierte objektivrechtliche Dimension der Grundrechte attackiert55. Starker Kritik ist auch die Abwägungsdogmatik im Bereich der Grundrechte ausgesetzt56. Und zum entformalisierten staatlichen (Informations-)Handeln durch die Regierung konnte dem Bundesverfassungsgericht die Beseitigung verfassungsrechtlicher Bindungen vorgeworfen werden57.

l

Grundrechte: In Bezug auf die Judikatur zu einzelnen Grundrechten darf zunächst daran erinnert werden, dass das Bundesverfassungsgericht mit seinem Modell zur Lösung des Konflikts zwischen Ehrenschutz und Medienfreiheit über viele Jahre seitens der h. L. vehemente Kritik erfahren hat58. Zu Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG ist die gerichtliche Nichtanerkennung 52

Vgl. oben Text zu FN 1. – Belegt ist die These nicht. Böckenförde (FN 46), EuGRZ 2004, S. 598 (603). 54 Wolfgang Kahl, Neuere Entwicklungen der Grundrechtsdogmatik – Von Modifikationen und Erosionen des grundrechtlichen Freiheitsparadigmas, AöR 131 (2006), S. 579 ff. 55 Monographisch z. B. Ralf Poscher, Grundrechte als Abwehrrechte, 2003, S. 153 ff., 227 ff.; Josef Franz Lindner, Theorie der Grundrechtsdogmatik, 2005, S. 430 ff., 441 ff. 56 Karl-Heinz Ladeur, Kritik der Abwägung in der Grundrechtsdogmatik, 2004, S. 12 ff. 57 Friedrich Schoch, Entformalisierung staatlichen Handelns, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 3. Aufl. 2005, § 37 Rn. 112 f. 58 Vgl. aus der Flut von kritischen Stellungnahmen nur etwa Martin Kriele, Ehrenschutz und Meinungsfreiheit, NJW 1994, S. 1897 ff.; Georgios Gounalakis, „Soldaten 53

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der Unterscheidung zwischen inhaltsbestimmenden und schrankenziehenden Gesetzen in der Wissenschaft nie vollständig akzeptiert worden59. Ähnliches gilt für die verfassungstextwidrige Einebnung der Unterscheidung zwischen Berufswahl und Berufsausübung in Art. 12 Abs. 1 GG und die Kreation eines einheitlichen Grundrechts der Berufsfreiheit60. Auch die undifferenzierte Verklammerung von Art. 4 Abs. 1 und Abs. 2 GG zu einem einheitlichen Grundrechtstatbestand (mit Folgeproblemen bei der Schrankenziehung) ist der Rechtsprechung immer wieder kritisch vorgehalten worden61. Und dass die zu Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG entwickelte Rundfunkrechtsprechung in der Wissenschaft nicht auf ungeteilte Zustimmung gestoßen ist62, dürfte ebenfalls bekannt sein. l

Staatsorganisationsrecht: Bekannte Beispiele zu einem grundlegenden Dissens zwischen dem Bundesverfassungsgericht und großen Teilen der Staatsrechtswissenschaft bietet die Rechtsprechung zur Vertrauensfrage (Art. 68 GG)63, die in der Rechtsanwendung „lasche“ Judikatur zur willkürlichen Manipulation des Gesetzgebungsverfahrens durch den „geheimrätlich“ agierenden Vermittlungsausschuss (Art. 77 Abs. 2 GG)64

sind Mörder“, NJW 1996, S. 481 ff.; Walter Schmitt Glaeser, Meinungsfreiheit, Ehrenschutz und Toleranzgebot, NJW 1996, S. 873 ff.; Rupert Scholz / Karlheinz Konrad, Meinungsfreiheit und allgemeines Persönlichkeitsrecht, AöR 123 (1998), S. 60 ff.; Fritz Ossenbühl, Medienfreiheit und Persönlichkeitsschutz, ZUM 1999, S. 505 ff.; Harro Otto, Der strafrechtliche Schutz vor ehrverletzenden Meinungsäußerungen, NJW 2006, S. 575 ff. 59 Vgl. nur etwa Rudolf Wendt, Eigentum und Gesetzgebung, 1985, S. 147 ff.; zusammenfassend (und m. umfangr. Nachw.) ders., in: Michael Sachs (Hrsg.), GG, 4. Aufl. 2007, Art. 14 Rn. 55 ff. 60 Friedhelm Hufen, Berufsfreiheit – Erinnerung an ein Grundrecht, NJW 1994, S. 2913 ff. 61 Friedrich Schoch, Die Grundrechtsdogmatik vor den Herausforderungen einer multikonfessionellen Gesellschaft, in: FS Hollerbach, 2001, S. 149 ff.; Kristian Fischer / Thomas Groß, Die Schrankendogmatik der Religionsfreiheit, DÖV 2003, S. 932 ff.; Oliver Lepsius, Die Religionsfreiheit als Minderheitenrecht in Deutschland, Frankreich und den USA, Leviathan 34 (2006), S. 321 ff. 62 Vgl. nur etwa Thomas Vesting, Fortbestand des Dualen Systems?, K&R 2000, S. 161 ff.; Josef Franz Lindner, Verfassungsrechtliche Ewigkeitsgarantie für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk?, AfP 2005, S. 429 ff. (mit Erwiderung Daniel Krausnick, AfP 2006, S. 125 ff.); Matthias Cornils, Rundfunk-Grundversorgung durch subventionierten Privatrundfunk?, DVBl 2006, S. 789 ff.; Martin Bullinger, Von presseferner zu pressenaher Rundfunkfreiheit, JZ 2006, S. 1137 ff. 63 Zur Kritik an BVerfGE 62, 1 vgl. z. B. Norbert Achterberg, Vertrauensfrage und Auflösungsanordnung, DVBl 1983, S. 477 ff.; Jost Delbrück / Rüdiger Wolfrum, Die Auflösung des 9. Deutschen Bundestages vor dem BVerfG, JuS 1983, S. 758 ff. – Zur Kritik an BVerfGE 114, 121 vgl. Christian Starck, Urteilsanmerkung, JZ 2005, S. 1053 ff.; Christian Pestalozza, Art. 68 GG light oder Die Wildhüter der Verfassung, NJW 2005, S. 2817 ff.; Wolf-Rüdiger Schenke, Das „gefühlte“ Misstrauen. Zur Verfassungsrechtslage nach der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 25. 08. 2005 zur Vertrauensfrage nach Art. 68 GG, ZfP 53 ( 2006), S. 26 ff.; Daniela Winkler, Die Verfassungsmäßigkeit der Bundestagsauflösung, AöR 131 (2006), S. 441 ff. 64 Walter Georg Leisner, Die Erhöhung der Erbschaft- und Schenkungsteuer durch das Haushaltsbegleitgesetz 2004 – verfassungswidrig?, NJW 2004, S. 1129 ff.; Peter

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und die indolente Rechtsprechung zur Durchgriffskompetenz des Bundes auf die Kommunen nach Art. 84 Abs. 1 (a. F.) GG65. Grundsätzliche Kritik hat auch die Rechtsprechung zum Bund-Länder-Verhältnis nach Art. 85 GG erfahren66. Schließlich war die praeter constitutionem entwickelte Sonderabgaben-Konzeption, die der verfassungsrechtlichen Umhegung auf Grund des staatlichen Finanzhungers zunehmend entronnen ist, von Anfang an der Kritik ausgesetzt67. Die Beispiele ließen sich vermehren. Hinzufügen könnte man unzählige Einzelkritiken. Es kann – sofern man sich die Mühe der genauen Analyse macht – keine Rede davon sein, dass die Staatsrechtswissenschaft dem Bundesverfassungsgericht die gebotene Kritik schuldig bleibt. Auf einem anderen Blatt steht, was die Kritik bewirkt. Teilweise wird sie vom Gericht ignoriert68, teilweise wird sie von ihm verarbeitet und in der Sache zurückgewiesen69, teilweise ist das Gericht auf Grund seiner gefestigten Rechtsprechung zu einer bestimmten Frage eben anderer Auffassung70; nicht auszuschließen ist allerdings auch eine Änderung der Rechtsprechung infolge wissenschaftlicher Kritik, was jedoch – da dies nicht immer offen gelegt wird71 – verlässlich nur von Richtern des Bundesverfassungsgerichts beantwortet werden könnte.

M. Huber / Daniel Fröhlich, Die Kompetenz des Vermittlungsausschusses und ihre Grenzen, DÖV 2005, S. 322 ff.; Winfried Kluth, Der Vermittlungsausschuß, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 3. Aufl. 2005, § 60 Rn. 54 ff. – Bemerkenswert nun auch Wiss. Mitarbeiterin am BVerfG Andrea Erbslöh, Bestenfalls überflüssig – Überlegungen zur Abschiebungsanordnung (§ 58a AufenthG), NVwZ 2007, S. 155 (157): Verfassungswidrigkeit des § 58a AufenthG, da die Regelung vor dem Vermittlungs(ausschuss)verfahren nicht Gegenstand parlamentarischer Befassung gewesen sei. 65 Friedrich Schoch / Joachim Wieland, Kommunale Aufgabenträgerschaft nach dem Grundsicherungsgesetz, 2003, S. 32 ff.; dies., Aufgabenzuständigkeit und Finanzierungsverantwortung verbesserter Kinderbetreuung, 2004, S. 60 ff. 66 Heike Jochum, Die Bundesauftragsverwaltung im Umbruch: Wie weit reicht die Sachkompetenz des Bundes?, DÖV 2003, S. 16 ff.; Fritz Ossenbühl, Abschied von der Ländertreue?, NVwZ 2003, S. 53. 67 Vgl. Paul Henseler, Die Künstlersozialabgabe im System der öffentlichen Abgaben, NJW 1987, S. 3103 ff.; jüngst z. B. Fritz Ossenbühl, Zur Rechtfertigung von Sonderabgaben mit Finanzierungszweck, DVBl 2005, S. 667 ff.; Heike Jochum, Neustrukturierung der Sonderabgabendogmatik, StuW 2006, S. 134 ff. 68 BVerfGE 105, 252 („Glykol“) und BVerfGE 105, 279 („Osho“) sind nicht nur grundrechtsdogmatisch höchst angreifbar, sondern zeigen sich informationsrechtlich gänzlich uninformiert, indem das zu entscheidungserheblichen Fragestellungen reichhaltig vorhandene Schrifttum ausgeblendet bleibt; vgl. dazu Schoch, in: HStR III (FN 57), § 37 Rn. 113. – Krebs, in: Methoden (FN 41), S. 216, zieht aus den zahlreichen rechtsdogmatischen Unzulänglichkeiten der Entscheidungen die Schlussfolgerung, „dass das Ergebnis so gewollt worden ist“. 69 Mitunter wird das erst aus einem Sondervotum recht deutlich, vgl. BVerfGE 93, 266 ff. („Soldaten sind Mörder“). 70 Ein signifikantes Beispiel hierfür ist die Rundfunk-Rechtsprechung; vgl. zuletzt BVerfG, NVwZ 2006, S. 201 ff.

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b) Bundesverwaltungsgericht. Auch dem Bundesverwaltungsgericht wird bisweilen eine „Dominanz . . . gegenüber der Wissenschaft“ attestiert72. Diese Einschätzung vermag ich nicht zu teilen. Sie stößt schon rechtsempirisch auf drei wesentliche Vorbehalte: Soweit sich die Wissenschaft mit dem im Öffentlichen Recht nicht unwichtigen Landesrecht beschäftigt (z. B. Kommunalrecht, Polizei- und Ordnungsrecht), hat das Bundesverwaltungsgericht mangels Zuständigkeit (vgl. § 137 Abs. 1 VwGO) nichts Wesentliches beizutragen; im Bereich des vorläufigen Rechtsschutzes, von dem wichtige Impulse für das Verwaltungsrecht und seine wissenschaftliche Durchdringung ausgehen, ist das Bundesverwaltungsgericht aus prozessualen Gründen (§ 152 Abs. 1 VwGO) kaum präsent; auf Grund der Konstitutionalisierung der (Verwaltungs-)Rechtsordnung behält vielfach das Bundesverfassungsgericht zu verwaltungsrechtlichen Fragestellungen das letzte Wort und hat gerade bei wissenschaftlich ergiebigen Fragestellungen immer wieder Impulse gegeben und zudem das Bundesverwaltungsgericht oftmals korrigiert73. In der Sache selbst ist ebenfalls Zurückhaltung geboten. Nimmt man die „großen Entscheidungen“ des Bundesverfassungsgerichts zum Maßstab74, kann als verwaltungsgerichtliches innovatives „Glanzstück“ wohl nur die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum rechtsstaatlichen Abwägungsgebot bei staatlichen und kommunalen Planungen verzeichnet werden75, wobei die Urheberschaft dazu auch einem Staatsrechtslehrer zugewiesen werden könnte76. Die Verwaltungsrechtsprechung insgesamt zeigt 71 Vgl. BVerfGE 111, 147 ff. (materiell-akzessorischer Maßstab im Eilverfahren bzgl. Versammlungsrecht nach § 32 BVerfGG); ebenso BVerfG (K), DVBl 2005, S. 969 ff. – Ferner BVerfGE 114, 339 ff. (Stärkung des allg. Persönlichkeitsrechts gegenüber der Meinungsfreiheit bei Unterlassungsansprüchen); ebenso BVerfG (K), NJW 2006, S. 3769 ff. 72 Helmuth Schulze-Fielitz, Notizen zur Rolle der Verwaltungsrechtswissenschaft für das Bundesverwaltungsgericht, Die Verwaltung 36 (2003), S. 421 (440); ders., Das Bundesverwaltungsgericht als Impulsgeber für die Fachliteratur, in: Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, S. 1061 (1071); ähnlich Breuer (FN 5), Die Verwaltung 36 (2003), S. 271 (273): Verwaltungsgerichtsbarkeit als „treibende Kraft“ bei der Entwicklung des Verwaltungsrechts; Wahl, Das Öffentliche Recht (FN 9), S. 55, sieht am Beispiel des Baurechts das Richterrecht in der Vorhand. 73 Vgl. dazu unten III. 2. 74 Z. B. BVerfGE 7, 198 („Lüth“); BVerfGE 65, 1 („Volkszählung“), aber auch z. B. wegen der gesellschaftlichen bzw. politischen Bedeutung BVerfGE 89, 214 („Bürgschaftsvertrag“) und BVerfGE 106, 62 („Altenpflege“). 75 BVerwGE 34, 301 ff.; 45, 309 ff. – Zur Entwicklungsgeschichte des planungsrechtlichen Abwägungsgebots Helmuth Schulze-Fielitz, Das Flachglas-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts, BVerwGE 45, 309, Jura 1992, S. 201 ff. 76 Werner Hoppe, Bauleitplanung und Eigentumsgarantie – Zum Abwägungsgebot des § 1 Abs. 4 Satz 2 BBauG, DVBl 1964, S. 165 ff. – Wahl, Das Öffentliche Recht (FN 9), S. 51 Fn. 128, bezeichnet diesen Beitrag als „Pionieraufsatz zum Abwägungsgebot“; zur prägenden Kraft von Werner Hoppe ausführlich Helmuth Schulze-Fielitz, Verwaltungsgerichtliche Kontrolle der Planung im Wandel – Eröffnung, Maßstäbe, Kontrolldichte, in: FS Hoppe, 2000, S. 997 ff.

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sich – ebenso wie übrigens der Bundesgerichtshof im Rahmen seiner Zuständigkeit zur Entscheidung öffentlichrechtlicher Streitigkeiten (z. B. Staatshaftungsrecht) – tendenziell „strukturkonservativ“, verwaltet eher den status quo (und zwar ungeachtet neuer gesellschaftlicher Herausforderungen)77 und agiert allenfalls in Einzelfragen hin und wieder innovationsfreudig78. Sucht man in der jüngeren Rechtsprechungsgeschichte ein Beispiel für ein „mutiges“ Urteil, das sowohl vor dem Hintergrund heftiger literarischer Kontroversen gefällt worden ist als auch eine politisch erhebliche Streitfrage betroffen hat, so kann einem die Anerkennung des Art. 104a Abs. 5 S. 1 GG als Anspruchsgrundlage im Bund-Länder-Verhältnis79 einfallen80. Wirklich große Entwicklungslinien im Verwaltungsrecht (z. B. Entfaltung des subjektiven öffentlichen Rechts, Entwicklung des Folgenbeseitigungsanspruchs, Analyse normstruktureller Vorgaben wie etwa Ermessen und unbestimmter Rechtsbegriff, Forcierung des verfahrensrechtlichen Denkens, Ausdifferenzierung des Übermaßverbots im Verwaltungsrecht) sind, wie bekannt ist, von der Wissenschaft gezogen worden81.

4. Systemdenken der Rechtswissenschaft

Die deutsche Rechtswissenschaft ist traditionell dem Systemdenken verpflichtet82. Das gilt in Sonderheit auch für die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht und braucht hier nicht näher erläutert zu werden83. Für das Ver77 Vgl. hierzu Analyse und Kritik von Friedrich Schoch, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit vor den Herausforderungen der jüngeren Rechtsentwicklung, VBlBW 2000, S. 41 ff.; Eberhard Schmidt-Aßmann, Aufgaben- und Funktionswandel der Verwaltungsgerichtsbarkeit vor dem Hintergrund der Verwaltungsrechtsentwicklung, VBlBW 2000, S. 45 ff. 78 Bekannte Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit: BVerwGE 94, 151: nachbarschützende Wirkung der Festsetzung von Baugebieten durch Bebauungsplan; BVerwGE 107, 215: drittschützende Wirkung des Abwägungsgebots nach § 1 Abs. 6 (a. F.) BauGB; BVerwGE 119, 217: Regionalplan (bzgl. der Ziele der Raumordnung) als Gegenstand der Normenkontrolle nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO; BVerwGE 122, 264: Verwaltungsvorschrift mit unmittelbarer Außenwirkung gegenüber Dritten als Gegenstand der Normenkontrolle nach § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO. 79 BVerwGE 96, 45; BVerwG, NVwZ 1995, S. 991; BVerwGE 100, 56; 104, 29; 116, 234 (241). 80 Bestätigung der Rechtsprechung (FN 79) durch BVerfG, DVBl 2007, S. 47 = NVwZ 2007, S. 190 = JZ 2007, S. 248 (m. Anm. Kotzur). 81 Christoph Möllers, Theorie, Praxis und Interdisziplinarität in der Verwaltungsrechtswissenschaft, VerwArch 93 (2002), S. 22 (59), konstatiert zutreffend (im Vergleich zu anderen Rechtssystemen) einen „bemerkenswerten Einfluss“ der deutschen Verwaltungsrechtswissenschaft auf die Rechtsprechung. 82 Dazu gilt unverändert das Diktum von Hans J. Wolff, Typen im Recht und in der Rechtswissenschaft, STUDIUM GENERALE 1952, S. 195 (205): „Rechtswissenschaft zumindest ist systematisch oder sie ist nicht.“ 83 Allgemein (mit starkem Bezug zum Zivilrecht) Fritz Rittner, Über die Notwendigkeit des rechtssystematischen Denkens, in: FS Nörr, 2003, S. 805 ff.

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waltungsrecht ist dies mehrfach eindrucksvoll beschrieben worden84; auch die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft sieht sich dem Systemdenken verpflichtet, strebt jedoch eine Erweiterung der überkommenen Systembildung (z. B. um Organisation, Verfahren, Personal, „weiche“ Maßstäbe) an85. Die deutsche Verfassungsrechtswissenschaft ist ebenfalls in hohem Maße durch Systemdenken geprägt. Ablesen kann man dies, um einige Beispiele zu geben, an der Verteidigung des rechtsstaatlichen Verteilungsprinzips auf der Grundlage des dem Freiheitsschutz verpflichteten Grundrechtsverständnisses86, der Entfaltung der Einheit der Verfassung bei der Einschränkung vorbehaltloser Grundrechte87 oder dem Bemühen um die stimmige Zuordnung der verschiedenen Grundrechtsfunktionen88. Konrad Hesse hat eindrucksvoll beschrieben, wie in einem nicht abgeschlossenen System des Verfassungsrechts durch die Nutzung der Rechtsdogmatik (unter Einbeziehung von Präjudizien) juristisches Systemdenken zur Entfaltung und Fortentwicklung des Verfassungsrechts eingesetzt werden kann89.

5. Einbeziehung des Realbereichs

Ein besonders heikler Punkt für die rechtswissenschaftliche Forschung ist die Einbeziehung und Verarbeitung sog. Realfaktoren im Verfassungsrecht und im Verwaltungsrecht, also die adäquate Einbeziehung des Realbereichs. Dazu lassen sich – pointiert – folgende Feststellungen treffen: Die Schwierigkeiten beginnen bereits im Methodischen. Hält man die Unterscheidung von „Recht“ und „Wirklichkeit“ im Sinne einer basalen Differenzierung schon im Ausgangspunkt für verfehlt, weil das Recht fester Bestandteil der gesellschaftlichen Wirklichkeit sei90, haben wir ein grundsätzliches Problem mit diesem Ansatz. Nimmt man an, dass es „die“ Wirklichkeit nicht gibt, sondern dass sie uns immer nur als Effekt der realitätskonstruierenden Wirkung wissenschaftlicher Erkenntnis erscheint, wird 84 Vgl. nur etwa Eberhard Schmidt-Aßmann, Der Beitrag des öffentlichen Wirtschaftsrechts zur verwaltungsrechtlichen Systembildung, in: Hartmut Bauer u. a. (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht, 2002, S. 15 ff.; dens., Ordnungsidee (FN 19), 1 / 2 ff. 85 Voßkuhle, in: GVwR I (FN 8), § 1 Rn. 46 f. 86 Zuletzt Kahl (FN 54), AöR 131 (2006), S. 579 (605 ff.). 87 Vgl. z. B. Joachim Becker, Materielle Wirkung von Kompetenz, Organisationsund Zuständigkeitsregelungen des Grundgesetzes?, DÖV 2002, S. 397 ff.; Sebastian Lenz / Philipp Leydecker, Kollidierendes Verfassungsrecht – Verfassungsrechtliche Maßstäbe der Einschränkbarkeit vorbehaltloser Freiheitsrechte, DÖV 2005, S. 841 ff. 88 Vgl. die Beiträge in Detlef Merten / Hans-Jürgen Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Band II, 2006, §§ 38 bis 46. 89 Hesse, Grundzüge (FN 11), Rn. 66 ff. (unter ausdrücklicher Ablehnung der topischen Methode). 90 Bumke, Methodik (FN 36), S. 130.

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der Umgang mit dem Realbereich unsicher91. Doch selbst dann, wenn man einen anspruchslosen, um nicht zu sagen „schlichten“ Zugang zu der Fragestellung wählt, ist die Ernüchterung groß. Das liegt zunächst einmal an der Ausgangslage: Die Rechtstatsachenforschung führt in Deutschland ein Schattendasein92. Nun könnte man für die Verfassungsrechtswissenschaft vermuten, der einzelne Rechtswissenschaftler könne das politische Geschehen, da dieses doch weithin öffentlich stattfindet, wenigstens teilweise in seine Forschungen einbeziehen93. Indes: Überwiegend geschieht dies nicht. Mustert man Lehrbücher, Kommentare, Handbuchbeiträge, mitunter sogar: Staatsrechtslehrerreferate94 durch, stellt man fest, dass das tatsächliche politische Geschehen – rezipiert z. B. durch Presseveröffentlichungen, „graue Literatur“, Materialien aus dem politischen Prozess, politikwissenschaftliche Forschungsergebnisse95 – in der staatsrechtlichen Literatur überwiegend kaum Berücksichtigung findet. Immerhin bleibt ein gewisser Zugang zum Realbereich dadurch erhalten, dass die Staatsrechtswissenschaft die intensive Auseinandersetzung mit dem Bundesverfassungsgericht pflegt96. Nicht besser sieht es in Bezug auf die Verwaltungsrechtswissenschaft aus. Wie kann man überhaupt als Außenstehender in fundierter Weise Einblick in die Verwaltungspraxis gewinnen? Hilfreich sind sicherlich Veröffentlichungen von Praktikern97 und Tagungen mit Praktikern98; doch wieweit werden derartige Erfahrungsschätze durch die Wissenschaft rezipiert? Ähnliches gilt für das umfangreiche Berichtswesen; unzählige Gesetze schreiben 91 Andreas Voßkuhle, Methode und Pragmatik im Öffentlichen Recht, in: Hartmut Bauer u. a. (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht, 2002, S. 171 (185 f.). 92 Dazu am Beispiel des Verwaltungsrechts Andreas Voßkuhle, Verwaltungsdogmatik und Rechtstatsachenforschung, VerwArch 85 (1994), S. 567 ff. 93 Vorbildlich insoweit Helmuth Schulze-Fielitz, Der informale Verfassungsstaat, 1984. 94 Vgl. als Anschauungsmaterial die Unterschiedlichkeit des Problemzugangs von Matthias Herdegen und Martin Morlok, Informalisierung und Entparlamentarisierung politischer Entscheidungen als Gefährdungen der Verfassung?, VVDStRL 62 (2003), S. 7 ff. bzw. S. 37 ff. 95 Näher zu dieser Vorgehensweise Schoch, in: HStR III (FN 57), § 37 Rn. 28 ff. 96 Klaus von Beyme, Das Bundesverfassungsgericht aus der Sicht der Politik- und Gesellschaftswissenschaften, in: FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Band I, 2001, S. 493 ff., berichtet, dass die Politikwissenschaft das Bundesverfassungsgericht kaum zur Kenntnis nehme. 97 Wichtig z. B., da „Insiderwissen“ voraussetzend, Manfred Bulling, Kooperatives Verwaltungshandeln (Vorverhandlungen, Arrangements, Agreements und Verträge) in der Verwaltungspraxis, DÖV 1989, S. 277 ff.; Jürgen Busse, Kooperatives Recht im Bauplanungsrecht, BayVBl 1994, S. 353 ff.; Carsten Tegethoff, Projektbezogene Umweltabsprachen in der Verwaltungspraxis – Eine Untersuchung am Beispiel des immissionsschutzrechtlichen Genehmigungsverfahrens, BayVBl 2001, S. 644 ff. 98 Ein Beispiel hierfür sind die „Professorengespräche des Deutschen Landkreistags“, zuletzt Hans-Günter Henneke (Hrsg.), Kommunale Verwaltungsstrukturen der Zukunft, 2006.

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Berichtspflichten vor99, deren in der Regel periodisch wiederkehrende Wahrnehmung wertvolle Fakten zu Tage fördert, die jedoch von der Wissenschaft weitgehend ignoriert werden100. Die Tätigkeitsberichte der Beauftragten für Datenschutz und Informationsfreiheit101 beispielsweise enthalten reichhaltiges Material für jeden informationsrechtlich arbeitenden Wissenschaftler102. Band II der „Grundlagen des Verwaltungsrechts“ behandelt unter anderem das „Verwaltungsrecht als Informations- und Kommunikationsordnung“ (§§ 20 bis 26); die dazu vorliegenden Manuskripte lassen nicht erkennen, dass die erwähnten Tätigkeitsberichte ausgewertet worden sind. Die Bundesnetzagentur veröffentlicht seit einiger Zeit in Fachzeitschriften wichtige Beschlüsse103; wieweit werden diese wissenschaftlich rezipiert? Der Erschließung der Praxis über die die Rechtsprechung beschäftigenden Konfliktfälle droht neuerdings Gefahr dadurch, dass Vertreter der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft die Rechtsprechung weitgehend unberücksichtigt lassen; auf diese Entwicklung ist gesondert einzugehen104.

6. Europäisierung und Internationalisierung

Die Europäisierung und Internationalisierung der innerstaatlichen Rechtsordnung hat die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht mittlerweile erreicht und nahezu vollständig erfasst. Die Entwicklungsgeschichte darf hier als bekannt vorausgesetzt werden, ebenso die verbreitete Einschätzung, dass es sich dabei um die wohl wirkungsmächtigste Einflussnahme 99 Z. B. §§ 63, 112, 112a EnWG; §§ 121, 122 TKG; § 84 SGB VIII; § 20 EEG; § 22 BKGG; § 14 IFG; § 11 UIG. – Einzelheiten dazu bei Schoch, in: HStR III (FN 57), § 37 Rn. 65 ff. 100 Eine Ausnahme bildet neuerdings der Verfassungsschutzbericht; vgl. Dietrich Murswiek, Meinungsäußerungen als Belege für eine verfassungsfeindliche Zielsetzung – Zu den rechtlichen Anforderungen und zur Praxis der Verfassungsschutzberichte, in: FS von Arnim, 2004, S. 481 ff.; dens., Der Verfassungsschutzbericht – das scharfe Schwert der streitbaren Demokratie, NVwZ 2004, S. 769 ff., mit Erwiderung Hans-Jürgen Doll, NVwZ 2005, S. 658 ff.; Dietrich Murswiek, Neue Maßstäbe für den Verfassungsschutzbericht, NVwZ 2006, S. 121 ff. 101 Vgl. dazu Kai von Lewinski, Tätigkeitsberichte im Datenschutz, RDV 2004, S. 163 ff. – Aus der Praxis (für den Bund zuletzt) Der Bundesbeauftragte für den Datenschutz und die Informationsfreiheit, Tätigkeitsbericht 2005 – 2006 (21. Tätigkeitsbericht), 2007; ferner Berliner Beauftragter für Datenschutz und Informationsfreiheit, Jahresbericht 2005; LDA Brandenburg, Tätigkeitsbericht 2004 / 2005 (13. Tätigkeitsbericht); Landesbeauftragte für Datenschutz und Informationsfreiheit Nordrhein-Westfalen, Datenschutz und Informationsfreiheit, Bericht 2007 (für die Jahre 2005 und 2006); Tätigkeitsbericht 2006 des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz Schleswig-Holstein (Berichtszeitraum 2005). 102 Zur wissenschaftlichen Verarbeitung der Informationen aus der Praxis vgl. Friedrich Schoch / Michael Kloepfer, Informationsfreiheitsgesetz (IFG-ProfE), 2002 (unter Gliederungspunkt I. 3. der jeweiligen Erläuterung). 103 Vgl. z. B. BNetzA, MMR 2006, S. 266 ff. 104 Vgl. unten IV. 2.

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der letzten Jahre auf das nationale Recht handelt105. Unabhängig von den inhaltlichen Fragestellungen, die zu bewältigen sind, scheinen mir drei eher wissenschaftssystematische Beobachtungen bemerkenswert zu sein: der Zeitpunkt der Problemwahrnehmung, die Art und Weise der Problemverarbeitung sowie die Rolle der Rechtsprechung. Dazu in Thesen: l

Selbstkritisch wird man einräumen müssen, dass die deutsche Rechtswissenschaft insgesamt zu spät auf den Prozess der Europäisierung der innerstaatlichen Rechtsordnung reagiert hat. Noch am ehesten zeigte die Verwaltungsrechtswissenschaft Problembewusstsein und stellte sich den aufgeworfenen Fragen106. Erst „mit einiger zeitlicher Verzögerung“107 folgte die – zu lange und sehr einseitig auf „Solange I“, „Solange II“ und „Maastricht“ fixierte – Verfassungsrechtswissenschaft108; fast könnte man meinen, dass erst seit dem Jahr 2000 die Tragweite der Entwicklung in voller Breite richtig erkannt wird109. Dabei mag hier offen bleiben, ob das Versäumnis eher auf Nachlässigkeit beruht oder zu einem erheblichen Teil von einem bewusst traditionellen (und die politische Wirklichkeit mitunter ignorierenden) Staatsverständnis getragen ist.

l

Die Verwaltungsrechtswissenschaft hat sich dem Europäisierungsprozess von Anfang an systematisch genähert, ihn in seiner vollen Breiten- und Tiefenwirkung verarbeitet und dabei neben den Spezifika im Besonderen Verwaltungsrecht die Europäisierung im Allgemeinen Verwaltungsrecht110, im Verwaltungsverfahrensrecht111 und im Verwaltungsprozess-

105 Vgl. Horst Dreier, Die drei Staatsgewalten im Zeichen von Europäisierung und Privatisierung, DÖV 2002, S. 537 ff. 106 Vgl. zu Beginn der 1990er Jahre Dirk Ehlers, Die Einwirkungen des Rechts der Europäischen Gemeinschaften auf das Verwaltungsrecht, DVBl 1991, S. 605 ff.; Christoph Engel, Die Einwirkungen des Europäischen Gemeinschaftsrechts auf das deutsche Verwaltungsrecht, Die Verwaltung 25 (1992), S. 437 ff.; Eberhard SchmidtAßmann, Deutsches und Europäisches Verwaltungsrecht – Wechselseitige Einwirkungen, DVBl 1993, S. 924 ff.; Manfred Zuleeg und Hans-Werner Rengeling, Deutsches und europäisches Verwaltungsrecht – Wechselseitige Einwirkungen, VVDStRL 53 (1994), S. 154 ff. und S. 202 ff. 107 So Bauer, SIPE (FN 14), S. 486. 108 Vgl. etwa Jürgen Schwarze, Die europäische Dimension des Verfassungsrechts, in: FS Everling, 1995, S. 1355 ff. – Die Thematik der Staatsrechtslehrertagung 1990 „Der Verfassungsstaat als Glied einer europäischen Gemeinschaft“ mit Referaten von Helmut Steinberger, Eckart Klein, Daniel Thürer, VVDStRL 50 (1991), S. 9 ff., S. 56 ff., S. 97 ff., betraf eher institutionelle Fragestellungen. 109 Als Indikator hierfür können einige Staatsrechtslehrertagungen gelten; Ingolf Pernice / Peter M. Huber / Gertrude Lübbe-Wolff / Christoph Grabenwarter, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 148 ff., S. 194 ff., S. 246 ff., S. 290 ff.; Stefan Korioth / Armin von Bogdandy, Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, VVDStRL 62 (2003), S. 117 ff. und S. 156 ff.; Juliane Kokott / Thomas Vesting, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung, VVDStRL 63 (2004), S. 7 ff. und S. 41 ff. 110 Vgl. Friedrich Schoch, Die Europäisierung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, JZ 1995, S. 109 ff.; Claus Dieter Classen, Die Europäisierung des Verwaltungsrechts,

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recht112 in den Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses gerückt. Ähnliches wird man von der Verfassungsrechtswissenschaft nur mit einer gewissen Zurückhaltung sagen können113. Auffällig sind eher (verdienstvolle) Untersuchungen zu Einzelthemen114. Nicht von ungefähr ist kürzlich bemerkt worden, die „innere Europäisierung“ des nationalen Verfassungsrechts finde nicht in dem notwendigen Maße statt, weil sich die deutsche Europarechtswissenschaft zu wenig mit dem staatlichen Europaverfassungsrecht beschäftige115. l

Erneut – wie schon in den 1970er und den 1990er Jahren – wird die Wissenschaftsentwicklung zur Europäisierung im Verfassungsrecht stark vom Bundesverfassungsgericht geprägt. Die Annahme, es habe mit dem Europäischen Gerichtshof seinen „Frieden“ geschlossen, stimmt nur teilweise. Wir müssen sehen, dass das Bundesverfassungsgericht seiner Vorlagepflicht nach Art. 234 EGV nicht nachkommt. Zuletzt war dies anlässlich der Entscheidung zum Verstoß des staatlichen Wettmonopols gegen Art. 12 Abs. 1 GG der Fall. Damit ist gleichsam automatisch die Europa-

in: Karl F. Kreuzer u. a. (Hrsg.), Die Europäisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen in der Europäischen Union, 1997, S. 107 ff.; Thomas von Danwitz, Die Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten für die Durchführung von Gemeinschaftsrecht, DVBl 1998, S. 421 ff.; Friedrich Schoch, Europäisierung der Verwaltungsrechtsordnung, VBlBW 1999, S. 241 ff.; Eberhard Schmidt-Aßmann, Allgemeines Verwaltungsrecht in europäischer Perspektive, ZÖR 55 (2000), S. 159 ff.; Ruffert (FN 22), Die Verwaltung 36 (2003), S. 293 ff. 111 Vgl. Eberhard Schmidt-Aßmann, Die Europäisierung des Verwaltungsverfahrensrechts, in: Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, S. 487 ff.; Rainer Wahl, Das Verhältnis von Verwaltungsverfahren und Verwaltungsprozessrecht in europäischer Sicht, DVBl 2003, S. 1285 ff.; Wolfram Cremer, Der Einfluss des Europarechts auf die Gestaltung des Verwaltungsverfahrens in den Mitgliedstaaten, in: Wilfried Erbguth / Johannes Masing (Hrsg.), Verwaltung unter dem Einfluss des Europarechts, 2006, S. 207 ff. 112 Vgl. Volkmar Götz, Europarechtliche Vorgaben für das Verwaltungsprozessrecht, DVBl 2002, S. 1 ff.; Friedrich Schoch, Die Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, in: Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, S. 507 ff.; Wolfram Cremer, Gemeinschaftsrecht und deutsches Verwaltungsprozessrecht – Zum dezentralen Rechtsschutz gegenüber EG-Sekundärrecht, Die Verwaltung 37 (2004), S. 165 ff.; Dirk Ehlers, Die Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, DVBl 2004, S. 1441 ff. 113 Vgl. aber Dieter H. Scheuing, Die Europäisierung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland, in: Hartmut Bauer u. a. (Hrsg.), Ius Publicum im Umbruch, 2000, S. 47 ff.; Hartmut Bauer, Europäisierung des Verfassungsrechts, JBl 2000, S. 750 ff.; Karl-E. Hain, Zur Frage der Europäisierung des Grundgesetzes, DVBl 2002, S. 148 ff.; Horst Dreier, in: ders. (Hrsg.), GG, Band I, 2. Aufl. 2004, Vorb. Art. 1 Rn. 53 ff. (zur Einwirkung des EG-Rechts auf die Grundrechte des GG). 114 Z. B. zur Grundrechtsberechtigung von EG-Bürgern, vgl. Hartmut Bauer / Wolfgang Kahl, Europäische Unionsbürger als Träger von Deutschen-Grundrechten?, JZ 1995, S. 1077 ff.; Hartmut Bauer, Zur Aufnahme einer Unionsbürgerklausel in das Grundgesetz, in: FS Maurer, 2001, S. 13 ff. – Ferner z. B. zur Verordnungsgebung Hartmut Bauer, Das Bestimmtheitsgebot für Verordnungsermächtigungen im Europäisierungssog, in: FS Steinberger, 2002, S. 1061 ff. 115 Ulrich Hufeld, Buchbesprechung Peter Häberle, Europäische Verfassungslehre, NJW 2007, S. 423.

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rechtswidrigkeit mit festgestellt116. Dennoch hat das Gericht gesagt, jenes Sportwettenrecht bleibe für eine Übergangszeit in Kraft117; wie dies mit dem effet utile des EG-Rechts vereinbar sein soll, wird nicht gesagt118. Ob der Europäische Gerichtshof in diesem Fall nicht als „gesetzlicher Richter“ gemäß Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG angesehen werden muss, hat das Bundesverfassungsgericht nicht geprüft119. Bekannt ist auch, dass das Bundesverfassungsgericht mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte noch längst nicht „im Reinen“ ist120. Und dennoch wird seitens der Wissenschaft wieder121 die Frage nach einem (gemein)europäischen Verfassungsrecht auf die Tagesordnung gesetzt122. Dieses Projekt kann man als weitsichtiges Forschungsprogramm rühmen; man kann aber auch fragen, ob hier nicht der zweite Schritt vor dem ersten gemacht werden soll.

116 BVerfGE 115, 276 (316) stellt mit Blick auf die Verletzung des Art. 12 Abs. 1 GG ausdrücklich fest: „Insofern laufen die Anforderungen des deutschen Verfassungsrechts parallel zu den vom Europäischen Gerichtshof zum Gemeinschaftsrecht formulierten Vorgaben.“ – In der Sache liegt ein Verstoß gegen Art. 49 EGV (bzw. auch Art. 43 EGV) vor; OLG München, NJW 2006, S. 3588 (3589 f.). Vgl. auch EuGH, EuZW 2007, S. 209 ff. (m. Anm. Ronald Reichert / Michael Winkelmüller): Unvereinbarkeit der italienischen Rechtsvorschriften über Sportwetten mit Art. 43 EGV und Art. 49 EGV. 117 BVerfGE 115, 276 (317 ff.). 118 Vgl. zur Kritik Michael Schmittmann / Annemarie Bloß, Das Sportwettenurteil des BVerfG vom 28. 03. 2006 im Lichte des Gemeinschaftsrechts, AfP 2006, S. 433 ff.; Karsten Mertens, „Bet and loose“ oder doch „betandwin“?, DVBl 2006, S. 1564 ff.; OVG NW, DVBl 2006, S. 1462 (1464) = NVwZ 2006, S. 1078 (1080) meint, das „allgemeine Prinzip der Rechtssicherheit“ beschränke den Anwendungsvorrang des EGRechts, „um unerträgliche Konsequenzen einer sonst eintretenden Regelungslosigkeit zu vermeiden“, bis der nationale Gesetzgeber eine gemeinschaftsrechtskonforme Lösung gefunden habe. Was „unerträglich“ sein soll, wenn (ggf. für eine Übergangszeit) wie bisher auch privatrechtlich organisierte Sportwetten angeboten werden, wird nicht gesagt. 119 Das ist um so erstaunlicher, als das BVerfG gegenüber den „Fachgerichten“ bei einer Missachtung des Art. 234 EGV gemäß Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG kein Pardon kennt; vgl. BVerfG (K), DVBl 2001, S. 720 = DÖV 2001, S. 379 = NJW 2001, S. 1267; BVerfG (K), DVBl 2004, S. 1411 (1413 f.) = NVwZ 2004, S. 1224 (1227). 120 Vgl. Stefan Kadelbach, Der Status der Europäischen Menschenrechtskonvention im deutschen Recht – Anmerkungen zur neuesten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, Jura 2005, S. 480 ff.; Dirk Buschle, Ein neues „Solange“? – Die Rechtsprechung aus Karlsruhe und Straßburg im Konflikt, VBlBW 2005, S. 283 ff. – Bemerkenswert das Interview des Präsidenten des Bundesverfassungsgerichts in FAZ Nr. 288 vom 09. 12. 2004, S. 5. 121 Vgl. bereits Peter Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 ff. 122 Vgl. Bauer, SIPE (FN 14), S. 507 f.

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Friedrich Schoch 7. Reformdiskussion

Der letzte Prüfpunkt zur Standortbestimmung der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht ist rasch abgehandelt. In der Verwaltungsrechtswissenschaft findet – in der Sache sehr zu begrüßen – seit etwa 15 Jahren eine Reformdiskussion statt. Sie wurde durch sog. DFG-Rundgespräche systematisch geführt, findet ihren Fortgang in dem dreibändigen Werk „Grundlagen des Verwaltungsrechts“ (2006 – 2008) und wird im Oktober 2007 im Rahmen der diesjährigen Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer aufgegriffen123. Ein vergleichbares Projekt ist mir aus dem Bereich der Verfassungsrechtswissenschaft nicht bekannt. Weder das „Handbuch des Staatsrechts“ noch das „Handbuch der Grundrechte“ können als Reformanliegen verstanden werden, wie dies die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft für sich beansprucht; hier zeigt sich ein rechtswissenschaftlich kaum vertretbares Defizit der Verfassungsrechtslehre, wie z. B. die angesprochene Ausblendung des Realbereichs und das „Verschlafen“ der Europäisierung des Staatsrechts gezeigt haben. Es bedarf offenbar bestimmter institutioneller Vorkehrungen und Verfestigungen, um eine folgenreiche Reformdiskussion in der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht initiieren zu können124.

III. Zwischenbilanz Staatsrechtslehre (i. e. S.) und Verwaltungsrechtslehre weisen in vielem parallele Entwicklungen auf. Das gilt für Stärken (z. B. Systemdenken) und für Schwächen (z. B. Vernachlässigung des Realbereichs). Die Einheit des Öffentlichen Rechts zeigt insoweit ihre Früchte. Einige signifikante Unterschiede zwischen den beiden Teildisziplinen konnten aufgezeigt werden (z. B. Gegenstand und Eigenarten des Rechtsstoffes, Europäisierung, Reformdiskussion).

1. Dominanz der Verfassungsrechtsprechung

Über allem steht die prägende Wirkung des Bundesverfassungsgerichts. Eine Staatsrechtswissenschaft, die – etwa um zu theoretischen „Höhenflügen“ anzusetzen – die Verfassungsrechtsprechung ausblendete, wäre nicht mehr ernst zu nehmen. Es ist deshalb in keiner Weise zu kritisieren, wenn die Staatsrechtslehre bei der wissenschaftlichen Durchdringung des 123 Mit Referaten von Ivo Appel und Martin Eifert zu dem Thema „Das Verwaltungsrecht zwischen klassischem dogmatischem Verständnis und steuerungswissenschaftlichem Anspruch“. 124 Bumke, Methodik (FN 36), S. 129, erwähnt neben dem Gesprächskreis um die Reform des Verwaltungsrechts Bemühungen um eine Neubegründung der Staatswissenschaft sowie die Max-Planck-Projektgruppe Recht der Gemeinschaftsgüter.

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Rechtsstoffes von dem Verfassungsrecht ausgeht, wie es das Bundesverfassungsgericht auslegt und anwendet; dass die Wissenschaft dennoch nicht kritiklos sein muss, wurde gezeigt. Gegenüber dem dominierenden Bundesverfassungsgericht bleibt der Wissenschaft letztlich nur die Kraft des Arguments. Ob und wann es fruchtet, ist nur schwer festzustellen125; vieles bleibt insoweit Spekulation126. Manchmal beschert der Zufall der Wissenschaft Erfolgserlebnisse. So war der vielfach kritisierte ominöse „Halbteilungsgrundsatz“ im Rahmen des Art. 14 Abs. 1 GG127 nicht mehr viel wert, als sein Erfinder aus dem Bundesverfassungsgericht ausgeschieden war128. Ähnlich könnte es mit (neueren) Rechtsprechungsentwicklungen gehen, die ganz deutlich von einem „volkspädagogischen Impetus“ getragen sind.

2. Konstitutionalisierung und Europäisierung der Rechtsordnung

Zur Kenntnis zu nehmen, zu durchdringen und ggf. zu kritisieren hat die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht die mittlerweile weit fortgeschrittene Konstitutionalisierung der Rechtsordnung129. Man kann die Entwicklung beklagen und grundsätzlich kritisieren, aber zunächst einmal sollte man sie genau analysieren. Einige wenige Beispiele mögen den Befund verdeutlichen: l

Das Versammlungsrecht kann ohne Beachtung der Ausstrahlungswirkungen gemäß Art. 8 Abs. 1 GG (und Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG) nicht mehr verstanden werden130.

l

Im (landesgesetzlichen) Polizei- und Ordnungsrecht haben die Gefahrenund Strafverfolgungsvorsorge in den letzten Jahren deutlich an Bedeu125

Vgl. oben Text zu FN 71. Das dürfte auch für die Untersuchung von Oppermann, FS BVerfG (FN 49), S. 428 ff., zum Einfluss von Staatsrechtslehrern als Richter auf die Verfassungsrechtsprechung gelten. 127 BVerfGE 93, 121 (138). 128 Vgl. BVerfGE 115, 97 (108 ff.). 129 Näher dazu Rainer Wahl, Konstitutionalisierung – Leitbegriff oder Allerweltsbegriff?, in: FS Brohm, 2002, S. 191 ff.; ders., Der Konstitutionalismus als Bewegungsgeschichte, Der Staat 44 (2005), S. 571 ff.; Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (FN 19), 1 / 17 ff.; Christoph Schönberger, Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht, in: Michael Stolleis (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz, 2006, S. 53 ff.; zu einzelnen Aspekten Rüdiger Breuer, Konkretisierungen des Rechtsstaats- und Demokratiegebotes, in: Festgabe 50 Jahre Bundesverwaltungsgericht, 2003, S. 223 (239 ff.); ausführlich Gunnar Folke Schuppert / Christian Bumke, Die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung, 2000. 130 Vgl. zur Erläuterung Wolfgang Hoffmann-Riem, Neuere Rechtsprechung des BVerfG zur Versammlungsfreiheit, NJW 2002, S. 257 ff.; dens., Demonstrationsfreiheit auch für Rechtsextremisten?, NJW 2004, S. 2777 ff.; kritisch Wolfram Höfling / Steffen Augsberg, Versammlungsfreiheit, Versammlungsrechtsprechung und Versammlungsgesetzgebung, ZG 2006, S. 151 ff. 126

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tung zugenommen; für die Ermittlung der Balance zwischen Freiheit und Sicherheit ist mittlerweile die Verfassungsrechtsprechung (über den jeweils entschiedenen Fall hinaus) maßgeblich131. l

Im Verwaltungsprozessrecht sind wesentliche Weichenstellungen vom Bundesverfassungsgericht getroffen worden: Einführung der Normenkontrolle nach § 43 VwGO132, Stärkung des nachträglichen Rechtsschutzes (§ 113 Abs. 1 S. 4 VwGO)133, Effektuierung des vorläufigen Rechtsschutzes (§§ 80 Abs. 5, 123 Abs. 1 VwGO)134, Absenkung der Anforderungen an die Berufungszulassung (§ 124 VwGO)135.

Diese und viele weitere Einflussnahmen des Bundesverfassungsgerichts auf das Verwaltungsrecht treffen die Verwaltungsrechtsprechung und betreffen die Rechtswissenschaft. Die „Macht des letzten Wortes“ aus Karlsruhe kann an einem prominenten Beispiel aufgezeigt werden: Als das Bundesverwaltungsgericht (in Übereinstimmung mit einem Großteil der Staatsrechtslehre) auf der Grundlage unbestimmter Rechtsbegriffe im Prüfungsrecht und nach dem GjS behördliche Beurteilungsspielräume über das bis dato allgemein anerkannte Maß hinaus anerkennen wollte136, wurde es vom Bundesverfassungsgericht sofort in die Schranken verwiesen (Art. 19 Abs. 4 GG)137. Derart einschneidende Judikate zu Grundsatzfragen kann die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht nicht übergehen. Die parallel verlaufende Europäisierung der innerstaatlichen Rechtsordnung muss insbesondere von der Verfassungsrechtswissenschaft stärker beachtet und in ihrer vollen „Wucht“ zur Kenntnis genommen und erforscht werden. Damit ist keine Kritik geübt an den vielen verdienstvollen Einzeluntersuchungen138. Aber die Einwirkungen des Europarechts auf das Verfassungsrecht sind breiter angelegt und reichen tiefer, als dies der bloße Ver131 So haben z. B. die Darlegungen zur präventiven polizeilichen Rasterfahndung in BVerfGE 115, 320 (346 ff.) für „verdachtlose“ Grundrechtseingriffe Bedeutung weit über den entschiedenen Fall hinaus. 132 BVerfGE 115, 81 (91 ff.); dazu Frank Fellenberg / Ulrich Karpenstein, Feststellungsklagen gegen den Normgeber, NVwZ 2006, S. 1133 ff., mit Erwiderung Clemens Weidemann, NVwZ 2006, S. 1259 ff.; Wolf-Rüdiger Schenke, Rechtsschutz gegen normatives Unrecht, JZ 2006, S. 1004 ff. 133 BVerfGE 110, 77 (85 ff.). 134 Z. B. BVerfG (K), NVwZ 2003, S. 1112 („Vorwegnahme der Hauptsache“); BVerfG (K), DVBl 2003, S. 1524 (Rechtsschutz bei Beförderungsentscheidungen); BVerfG (K), NVwZ 2005, S. 438 (Grundrechtsschutz im Aussetzungsverfahren); BVerfG (K), NVwZ 2005, S. 1053 (Tatsachenfeststellung im Eilverfahren). 135 BVerfG (K), DVBl 2000, S. 1458, dazu Bespr. Wolfgang Kuhla, DVBl 2001, S. 172. 136 BVerwG, DÖV 1983, S. 804; BVerwGE 77, 75 (77 f.); BVerwG, NJW 1987, S. 1431 (1432). 137 BVerfGE 83, 130 (147 f.); 84, 34 (49 ff.); 84, 59 (77 ff.). 138 Vgl. Nachw. oben FN 114; ferner z. B. zur Grundrechtsfähigkeit juristischer Personen aus anderen EG-Mitgliedstaaten Dreier (FN 113), Art. 19 III Rn. 21, 83 f.

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fassungstextbefund dokumentieren kann139. So müsste z. B. untersucht werden, ob die gleichzeitige rechtliche Erfassung eines einheitlichen Lebenssachverhalts (z. B. Produktsicherheit) durch Grundfreiheiten (z. B. Art. 29, 30 EGV) und EU-Grundrechte (z. B. Berufsfreiheit) sowie nationale Grundrechte (z. B. Art. 12 Abs. 1 GG) nicht zu Konsequenzen bei der Auslegung und Strukturierung der betreffenden Normen (z. B. im Sinne einer Konvergenz) führen muss140. Zum Schutz der Grundfreiheiten gegenüber staatlichem Informationshandeln liegt Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs vor; warum wird diese nicht fruchtbar gemacht zur Konturierung des Grundrechtsschutzes141? Es sind solche eher „quer liegenden“ Fragestellungen, die auf Defizite der Verfassungsrechtswissenschaft bei der Durchdringung der innerstaatlichen Rechtsordnung hinweisen142. Deshalb ist diese Art der Europäisierung in der Tat „ein zentrales, bislang über weite Strecken noch eher unerschlossenes Arbeitsfeld der Staatsrechtslehre“143.

IV. Kritikfähigkeit als Kernelement von Wissenschaftlichkeit Die ernsthafte, kritische Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung ist für eine das geltende Recht nicht aus dem Auge verlierende Rechtswissenschaft unverzichtbar. Nur wer mit Unterstellungen arbeitet und sich den Luxus erlaubt, die Breite der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht nicht (genau) zur Kenntnis zu nehmen, kann darin sogleich einen „Rechtsprechungspositivismus“ erkennen. Klar ist aber auch, dass sich die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht nicht etwa in der Analyse, Systematisierung und Kritik der Judikatur erschöpfen darf. Vielmehr müssen darüber hinausweisende Konzepte und Vorschläge entwickelt werden. Dafür gibt es gerade in der jüngeren Vergangenheit ermutigende Beispiele (vgl. unten 3.).

139 Hartmut Bauer, Die Verfassungsentwicklung des wiedervereinten Deutschland, in: Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band I, 3. Aufl. 2003, § 14 Rn. 82, der von „verdeckt-europäisierungsstimulierten“ und von „stummen Grundgesetzänderungen“ spricht. 140 Vgl. dazu Holger Weiß, Die Gewährleistung der Produktsicherheit, Diss. Freiburg i. Br. 2007, S. 88 ff., 113 ff. 141 Zur Problematik bereits Schoch, in: HStR III (FN 57), § 37 Rn. 165. 142 In seiner Buchbesprechung „Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Band III“ bemängelt Friedhelm Hufen, BayVBl 2007, S. 159 (160), zutreffend die generell defizitäre Berücksichtigung der Europäisierung und Internationalisierung des nationalen Verfassungsrechts im HStR und weist der Behebung dieses Defizits „die erste Stelle des Ergänzungsprogramms für die nächste Auflage“ zu. 143 So Bauer, in: HStR I (FN 139), § 14 Rn. 82 (a. E.).

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Friedrich Schoch 1. Kritische Begleitung der Verfassungsrechtsprechung

Wenn zunächst noch einmal auf die Notwendigkeit einer kritischen Begleitung der Verfassungsrechtsprechung durch die Wissenschaft hingewiesen wird, so geschieht dies mit dem Zusatz, dass die Kritikfähigkeit auch dort nicht erlahmen darf, wo wir es offenbar mit festliegenden Rechtsauffassungen zu tun haben und die Rechtswissenschaft vom Bundesverfassungsgericht – entgegen dem sonst gepflegten Stil144 – ignoriert wird. Das betrifft zunächst Einzelthemen. Ich erwähne beispielhaft die freihändige Erfindung eines Art. 13 Abs. 8 GG145 durch Übertragung der Schranken des Art. 2 Abs. 1 GG auf behördliche Betretungsrechte für Betriebs- und Geschäftsräume146, die Aushöhlung des Art. 33 Abs. 2 GG (und damit die Beförderung der Ämterpatronage) durch die Verweigerung eines wirksamen Hauptsacherechtsschutzes bei der Konkurrentenklage im Beamtenrecht147 und die für Externe kaum nachvollziehbare Entscheidungsfindung im Eilverfahren nach § 32 BVerfGG148. Wichtiger ist die wissenschaftliche Kritik bei „tektonischen Verschiebungen“ im System des Verfassungsrechts. Deshalb muss z. B. die jüngst angelaufene Diskussion um die richtige und zukunftsfähige Grundrechtsdogmatik149 unbedingt weitergeführt werden150. Die Wissenschaft vom Öffentli144 Vgl. Angelika Nußberger, Wer zitiert wen? – Zur Funktion von Zitaten bei der Herausbildung gemeineuropäischen Verfassungsrechts, JZ 2006, S. 763 (765): Die Auseinandersetzung mit der wissenschaftlichen Literatur präge den Rechtsprechungsstil des BVerfG. 145 Oliver Lepsius, Die Unverletzlichkeit der Wohnung bei Gefahr im Verzug, Jura 2002, S. 259 (260), spricht von einem richterlichen Eingriffsvorbehalt als ungeschriebenem Art. 13 Abs. 8 GG. 146 BVerfGE 32, 54 (75 ff.); 97, 228 (266); dem folgend BVerwGE 121, 345. 147 Nach Auffassung des BVerwG hat eine (Dritt-)Anfechtungsklage nach Besetzung der Planstelle „von vornherein keinen Erfolg“ (BVerwGE 80, 127; BVerwG, DVBl 1989, S. 1150; BVerwGE 118, 370). Das BVerfG billigt diese verfassungswidrige Rechtsprechung wegen seines angeblich eingeschränkten Prüfungsmaßstabs und verlagert den (noch möglichen vorherigen) Rechtsschutz vollständig in das Eilverfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO; BVerfG (K), DVBl 1989, S. 1247; DVBl 2002, S. 1633; DVBl 2003, S. 1524; NVwZ 2006, S. 1401. 148 Vgl. Darstellung und Kritik bei Friedrich Schoch, Einstweilige Anordnung, in: FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Band I, 2001, S. 695 ff. 149 Ernst-Wolfgang Böckenförde, Schutzbereich, Eingriff, verfassungsimmanente Schranken – Zur Kritik gegenwärtiger Grundrechtsdogmatik, Der Staat 42 (2003), S. 165 ff.; Wolfgang Kahl, Vom weiten Schutzbereich zum engen Gewährleistungsgehalt – Kritik einer neuen Richtung der deutschen Grundrechtsdogmatik, Der Staat 43 (2004), S. 167 ff.; dazu Erwiderung von Wolfgang Hoffmann-Riem, Grundrechtsanwendung unter Rationalitätsanspruch, Der Staat 43 (2004), S. 203 ff.; ders., Enge oder weite Gewährleistungsgehalte der Grundrechte?, in: Michael Bäuerle u. a. (Hrsg.), Haben wir wirklich Recht? – Zum Verhältnis von Recht und Wirklichkeit, 2004, S. 53 ff.; Uwe Volkmann, Veränderungen der Grundrechtsdogmatik, JZ 2005, S. 261 ff.; Christoph Möllers, Wandel der Grundrechtsjudikatur, NJW 2005, S. 1973 ff. 150 Den Anstoß hierfür liefert Kahl (FN 54), AöR 131 (2006), S. 579 (602 ff.); ferner Dietrich Murswiek, Grundrechtsdogmatik am Wendepunkt, Der Staat 45 (2006), S. 473 ff.

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chen Recht muss sich aber auch solcher Fragestellungen durch systematische Forschung annehmen, die das Bundesverfassungsgericht bislang nur punktuell beschäftigt haben, in der Praxis aber weit verbreitet sind und dem Rechtsstaat Sorgen bereiten (können). Ein Beispiel hierfür ist der Einsatz von „Information“ als Steuerungsressource. Die dazu vorliegenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts151 vermitteln nicht den Eindruck, dass sie von übergreifenden konzeptionellen Vorstellungen getragen sind; der Forschungsbedarf liegt also auf der Hand152.

2. Risiken der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft

Die Kritikfähigkeit der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht muss sich, will sie glaubwürdig sein, gleichsam „im eigenen Haus“ beweisen. Ich erlaube mir daher einige kritische Anmerkungen zur Entwicklung der Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft, die ich in der Gefahr sehe, die selbst gesteckten Ziele teilweise zu verfehlen. Die Legitimation zur Kritik sehe ich – neben der selbstverständlichen wissenschaftlichen Freiheit – vor allem auch darin begründet, dass ich den steuerungswissenschaftlichen Ansatz teile153, freilich nur im Sinne einer Akzentuierung und Ergänzung der bewährten „traditionellen“ Verwaltungsrechtswissenschaft154. Wer in der öffentlichen Verwaltung – zutreffend – einen Akteur sieht, der durch das Verwaltungsrecht determiniert ist, aber nicht allein nach Maßgabe rechtlicher Kriterien agiert155, muss auf der Grundlage eines steuerungswissenschaftlichen Ansatzes möglichst viel über die Verwaltung und ihre Handlungsmaximen wissen. Wie kann dieses Wissen aber umfassend genug und hinreichend verlässlich generiert werden, wenn man kein „Insider“ ist? Auf dieses Informationsproblem wurde bereits hingewiesen156. Einen gewissen Zugang jedenfalls zu dem Konfliktpotenzial der ordnenden und gestaltenden Verwaltung vermittelt die Rechtsprechungsanalyse157. Mit 151 Die Entscheidungen entspringen unterschiedlichen Bereichen: BVerfGE 44, 125 und 63, 230 (Öffentlichkeitsarbeit der Regierung); E 98, 83 und 98, 106 (Kooperation im Umweltrecht); E 104, 249 („Biblis“); E 105, 252 („Glykol“); E 105, 279 („Osho“); E 110, 199 (Parlamentsrecht auf Information); E 108, 186 und 110, 370 (Information des Parlaments und der Öffentlichkeit über Sonderabgabenbelastung). 152 Zu einigen Fragestellungen bereits Schoch, in: HStR III (FN 57), § 37 Rn. 168 f. 153 Die Legitimation hierfür liegt vor allem darin, dass Recht nicht um seiner selbst willen gesetzt wird, sondern auf reale Geltung zielt (vgl. oben I. 2. b.); näher dazu Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (FN 19), 1 / 33 ff. 154 Vgl. dazu unten Text zu FN 195 und 196. 155 Voßkuhle, in: GVwR I (FN 8), § 1 Rn. 48 ff. 156 Vgl. oben II. 5. 157 Beginnend mit Bd. 31 (1998) hat „Die Verwaltung“ die Rubrik „Rechtsprechungsanalyse“ eingeführt, mit Beiträgen von Dirk Ehlers, Das Verwaltungsverfahrensgesetz im Spiegel der Rechtsprechung (S. 53 ff.), Janbernd Oebbecke, Der Grund-

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Verwunderung nimmt man zur Kenntnis, dass einige der im Jahr 2006 vorgelegten, maßgeblichen Arbeiten zur Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft (fast) ohne Verarbeitung der Rechtsprechung auskommen (wollen)158. In dieser Abwendung von der Judikatur zeichnet sich ein signifikanter Unterschied nicht nur zur „traditionellen“ Verwaltungsrechtswissenschaft ab, sondern auch zur Verfassungsrechtswissenschaft159. Diese Entwicklung muss mit einer gewissen Sorge betrachtet werden; sie könnte in eine Sackgasse führen. Selbstverständlich kann die Berücksichtigung der Rechtsprechung nur einen Ausschnitt der „Wirklichkeit“ bieten160. Aber der Verzicht hierauf vernachlässigt sogar diesen ohne weiteres zugänglichen Teil der Verwaltungsrealität. Im Übrigen geht es der wissenschaftlichen Arbeit nicht um den einzelnen Fall; zu sichten ist vielmehr das Fallmaterial, das in einer Kette von Entscheidungen aufbereitet wird und damit einen durchaus signifikanten Ausschnitt aus bestimmten Bereichen der Verwaltungswirklichkeit bietet. Christoph Möllers hat darauf hingewiesen, wie wissenschaftlich herausfordernd die anspruchsvolle, kontextorientierte Urteilsanalyse als Beschreibungsform der Verwaltung ist, und er hat darauf aufmerksam gemacht, dass eine Verwaltungsrechtswissenschaft ohne angemessene Berücksichtigung des zur Verfügung stehenden Fallmaterials in der Gefahr steht, „mit Begriffswelten zu arbeiten, die weder für das Rechtssystem noch für andere Wissenschaften von irgendeiner Bedeutung sind“161. Sogar am Beispiel „klassischer“ Materien des Verwaltungsrechts, die es ungeachtet aller Neuerungen immer geben wird, kann gezeigt werden, dass die Praxis in vielen Bereichen viel weiter entwickelt ist, als dies Teile der Verwaltungsrechtswissenschaft vermuten. Über die Rechtsprechungsanalyse kann man sogar so etwas wie „Kontextsteuerung“ finden; die Praxis nennt es nur nicht so, weil sie sich derartiger Begrifflichkeiten (bislang) nicht bedient. Zur Illustration des Befundes seien fünf Beispiele angeführt: satz der gleichen Wahl im Kommunalwahlrecht (S. 219 ff.) und Hans-Joachim Koch, Der Schutz der Umwelt in der Rechtsprechung zum Bauplanungsrecht (S. 505 ff.). 158 Exemplarisch der (ansonsten so verdienstvolle) Aufsatz von Franzius (FN 19), Die Verwaltung 39 (2006), S. 335 ff., der die spärlich berücksichtigte Rechtsprechung nur zu marginalen Fragestellungen zitiert (Fn. 29, 160, 186, 187, 199, 209); auch etliche Beiträge in GVwR I kommen mit (sehr) wenig Rechtsprechung aus. 159 Zutreffend beobachtet von Möllers (FN 81), VerwArch 93 (2002), S. 22 (56): Es sei auffällig, „dass die fallbezogene Untersuchung theoretischer Probleme in der aktuellen verwaltungsrechtlichen Diskussion – anders als in der verfassungsrechtlichen – eine relativ geringe Rolle spielt und nicht selten gegen eine Orientierung an der ,Verwaltungspraxis‘ ausgespielt wird“. 160 Voßkuhle, in: GVwR I (FN 8), § 1 Rn. 29. 161 Möllers (FN 81), VerwArch 93 (2002), S. 22 (56). – Matthias Ruffert, Die Methodik der Verwaltungsrechtswissenschaft in anderen Ländern der Europäischen Union, in: Eberhard Schmidt-Aßmann / Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 165 (166 f.), berichtet, dass die deutsche Diskussion über die Reform des Verwaltungsrechts im europäischen Ausland nicht wahrgenommen werde.

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Die örtliche Gesamtplanung (Bauleitplanung) stellt ihrer Zielsetzung nach eine Steuerung durch Angebotsplanung dar. Mittels Änderung der Rahmenbedingungen erfolgt letztlich eine Kontextsteuerung des Baugeschehens162.

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Wer das reichhaltige Fallmaterial zur „Abrissverfügung“ gegenüber Schwarzbauten im Bauordnungsrecht studiert163, kann erfahren, wie die Bauaufsichtsbehörden im „Korridor des Ermessens“ (umhegt von Art. 3 Abs. 1 GG) über Gestaltungsbefugnisse zur Entwicklung von Konzepten verfügen164, die insbesondere die Außenbereichsbebauung (mit)steuern.

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Die Rechtsprechung zu behördlichen Aufenthaltsverboten nach Polizeiund Ordnungsrecht165 lehrt uns, wie der klassische Gesetzesvollzug in der Praxis einhergeht mit der konzeptionell angelegten Sicherheitsplanung vor allem in Innenstädten166.

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Anhand der Rechtsprechung zum Kooperationsprinzip im Versammlungsrecht167 kann man erfahren, welche Steuerungsleistungen die Verwaltung durch Absprachen mit Bürgern im Bereich des Demonstrationswesens zu erbringen vermag168.

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Die Rechtsprechung zum Abfallrecht zeigt, wie einzelne Verwaltungsentscheidungen weit über den konkreten Fall hinaus ganze „Abfallströme“ (zum Teil europaweit) lenken169. Aus eigener richterliche Erfahrung kann ich berichten, dass genau dies von der Verwaltung bei dem „Kampf um den Abfall“ intendiert ist.

162 Vgl. nur etwa Ursula Steinkemper, Neuregelungen des BauGB durch das Europarechtsanpassungsgesetz Bau (EAG Bau), VBlBW 2004, S. 401 (404): Flexibilisierung des Baurechts durch neue Steuerungsmöglichkeiten. 163 Zusammenstellung wesentlicher Gerichtsentscheidungen bei Friedrich Schoch, Eingriffsbefugnisse der Bauaufsichtsbehörden, Jura 2005, S. 178 (181 f.). 164 Das behördliche Steuerungspotenzial im Rahmen des Übermaßverbots betonend BVerfG (K), NVwZ 2005, S. 203 (204). 165 Dazu z. B. Wolfgang Hecker, Neue Rechtsprechung zu Aufenthaltsverboten im Polizei- und Ordnungsrecht, NVwZ 2003, S. 1334 ff.; Thorsten Finger, Betretungsund Aufenthaltsverbote im Recht der Gefahrenabwehr, Die Polizei 2005, S. 82 ff. 166 Vgl. dazu etwa VGH BW, NVwZ 2003, S. 115 (117) = DÖV 2003, S. 127 (128 f.) = VBlBW 2003, S. 31 (33 f.); BayVGH, NVwZ 2000, S. 454 (455 f.) = DÖV 1999, S. 520 (522); OVG Bremen, NVwZ 1999, S. 314 (317 f.); OVG NW, NVwZ 2001, S. 231 (232) und NVwZ 2001, S. 459 (460); VG Leipzig, NVwZ 2001, S. 1317 (1319). 167 Kreiert durch BVerfGE 69, 315 (354 ff.); erläuternd dazu BVerfG (K), NVwZ 2002, S. 982. 168 Vgl. VGH BW, VBlBW 2002, S. 383 (385 f.); ThürOVG, NVwZ-RR 2003, S. 207 (209 f.), mit Erläuterung Wolfgang Leist, Kooperation bei (rechtsextremistischen) Versammlungen, BayVBl 2004, S. 489 ff. 169 Vgl. am Beispiel des Abfallverbringungsrechts BVerwG, DVBl 2003, S. 743 ff. und DVBl 2004, S. 625 ff.; VGH BW, NVwZ-RR 1999, S. 733 f. = VBlBW 1999, S. 387 ff.; DVBl 2001, S. 651 ff. = DÖV 2001, S. 427 ff. = NVwZ 2001, S. 577 ff.; VBlBW 2006, S. 305 ff.

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Das zuletzt genannte Beispiel gibt Anlass zu dem Hinweis, dass das „Gespräch“ zwischen Rechtsprechung und Verwaltung in Gestalt von Gerichtsverfahren und Entscheidungen „spill over-Effekte“ zeitigt, die von der Verwaltungsrechtswissenschaft nicht unterschätzt werden sollten. Die Verfassungsrechtswissenschaft zweifelt nicht daran, dass es „Schlüsselentscheidungen“ des Bundesverfassungsgerichts gibt, die im Verbund mit den Schlussfolgerungen des politischen Systems zu Steuerungswirkungen führen, die weit über den entschiedenen Fall hinausgehen170. Nicht anders verhält es sich vielfach bei verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen171. Der Neuausrichtung der Verwaltungsrechtswissenschaft als Steuerungswissenschaft sollte unter allen Umständen daran gelegen sein, auch die Rechtspraxis zu erreichen. Reiner Schmidt hat in einer Stellungnahme zur Reformdebatte vor einem „Theorieüberhang“ gewarnt, der am Ende kaum mehr als „rein verbale Innovationen“ hervorbringen könnte172. Wenn es schon an empirischen Studien zum Verwaltungsgeschehen mangelt, sollte nicht auch noch der über die Rechtsprechung zugängliche Erfahrungsschatz achtlos zur Seite gelegt werden173.

3. Innovationen der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht

Ist demnach eine Rechtswissenschaft, die sich mit der Rechtsprechung beschäftigt, keineswegs geradezu zwangsläufig nur „rechtsaktbezogen“, so ist die Rechtsprechung ihrerseits auf (Vor-)Leistungen der Wissenschaft angewiesen, wo sich neue Fragestellungen auftun, mit denen die Judikatur (bislang) nur punktuell befasst ist oder wo es um die notwendige Entwicklung durchgearbeiteter Konzepte geht. Auch dazu seien zur Veranschaulichung einige Beispiele angeführt:

170 Helmuth Schulze-Fielitz, Wirkung und Befolgung verfassungsrechtlicher Entscheidungen, in: FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, 2001, S. 385 (395 ff.). 171 Die große Masse der Verwaltungsangelegenheiten wird von den unteren (staatlichen) Verwaltungsbehörden und den Kommunalbehörden erledigt. Alle wesentlichen Gerichtsentscheidungen werden sofort durch Rundschreiben vor allem der kommunalen Spitzenverbände bei den Behörden bekannt gemacht; schon daraus werden Steuerungseffekte über den konkreten Fall hinaus erzielt. Hinzu kommen Publikationen von Gerichtsentscheidungen in Verbandszeitschriften mit Analyse und Erläuterung der Konsequenzen seitens der Verbände; signifikant hierzu z. B. VGH BW, BWGZ 2007, S. 83 ff. 172 Reiner Schmidt, Die Reform von Verwaltung und Verwaltungsrecht, VerwArch 91 (2000), S. 149 (168). 173 Möllers (FN 81), VerwArch 93 (2002), S. 22 (57), weist am Beispiel des Vergaberechts darauf hin, dass die Wissenschaft überhaupt erst durch die Rechtsschutzperspektive inspiriert worden sei.

Verwaltungsrechtslehre und Staatsrechtslehre

207

l

Die Privatisierung war (neben der Europäisierung) der (zweite) große „Schub“, der in den 1990er Jahren die Rechtsordnung und die Wissenschaft stark beschäftigt hat174. Die Rechtsprechung musste sich mit Privatisierungsfragen bislang nur punktuell befassen175. Die Wissenschaft hat Konzepte entwickelt und ein systematisch ausgearbeitetes Privatisierungsrecht vorgelegt176. Nun greift die Rechtsprechung in komplexen Fallgestaltungen auf die wissenschaftlichen Ausarbeitungen zurück177.

l

Auch das Regulierungs(verwaltungs)recht ist in hohem Maße auf die wissenschaftliche Bearbeitung angewiesen. Die Überwindung sektoraler Rationalitäten durch Schaffung eines übergreifenden Ordnungsrahmens (ohne Vernachlässigung legitimer Spezifika) wird ohne wissenschaftliche Bearbeitung nicht gelingen178.

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Das öffentlichrechtliche Gewährleistungsrecht ist in seiner heutigen Erscheinungsform ein Produkt rechtswissenschaftlicher Forschung179. Einen Praxistest hat es gerade bestanden; die Kapitalprivatisierung der Flugsicherung scheiterte auf Grund des „Vetos“ des Bundespräsiden174

Vgl. dazu (zusammenfassend) Voßkuhle, in: GVwR I (FN 8), § 1 Rn. 58 ff. Z. B. BVerfG (K), NJW 1995, S. 514 (Privatisierung der Hamburger Feuerkasse); BayVerfGH, BayVBl 1996, S. 590 und S. 626 (Privatisierung von Feuerbestattungsanlagen); BayVerfGH, NJWE-VHR 1997, S. 2 (Privatisierung von Versicherungsanstalten); VerfGH Berlin, DVBl 2000, S. 51 (Teilprivatisierung der Berliner Wasserbetriebe); BVerwG, DÖV 2001, S. 124 (Privatisierung der Eisenbahn-Wohnungsgesellschaften). 176 Vgl. nur etwa Friedrich Schoch, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, DVBl 1994, S. 962 ff.; Lerke Osterloh und Hartmut Bauer, Privatisierung von Verwaltungsaufgaben, VVDStRL 54 (1995), S. 204 ff. und S. 243 ff.; monographisch z. B. Christof Gramm, Privatisierung und notwendige Staatsaufgaben, 2001; Jörn Axel Kämmerer, Privatisierung – Typologie, Determinanten, Rechtspraxis, Folgen, 2001. 177 Vgl. BremStGH, NVwZ 2003, S. 81 (83 ff.); SächsOVG, SächsVBl 2005, S. 14 (16 f.). 178 Vgl. zu der Diskussion Hans Christian Röhl, Soll das Recht der Regulierungsverwaltung übergreifend geregelt werden?, JZ 2006, S. 831 ff.; Stefan Storr, Soll das Recht der Regulierungsverwaltung übergreifend geregelt werden?, DVBl 2006, S. 1017 ff.; Martin Burgi, Übergreifende Regelung des Rechts der Regulierungsverwaltung – Realisierung der Kodifikationsidee?, NJW 2006, S. 2439 ff.; umfassend Johannes Masing, Soll das Recht der Regulierungsverwaltung übergreifend geregelt werden?, Gutachten D zum 66. DJT, 2006. 179 Vgl. insbes. Andreas Voßkuhle, Beteiligung Privater an der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben und staatliche Verantwortung, VVDStRL 62 (2003), S. 266 (307 ff.); mit europarechtlicher Perspektive Claudio Franzius, Die europäische Dimension des Gewährleistungsstaates, Der Staat 45 (2006), S. 547 ff.; vgl. ferner Friedrich Schoch, Gesellschaftliche Selbstregulierung innerhalb des staatlichen Ordnungsrahmens, in: Dieter Leipold (Hrsg.), Verbände und Organisationen im japanischen und deutschen Recht, 2006, S. 259 (262 ff.). – Monographisch Matthias Knauff, Der Gewährleistungsstaat: Reform der Daseinsvorsorge – Eine rechtswissenschaftliche Untersuchung unter besonderer Berücksichtigung des ÖPNV, 2004; Reinhard Ruge, Die Gewährleistungsverantwortung des Staates und der Regulatory State – Zur veränderten Rolle des Staates nach der Deregulierung der Stromwirtschaft in Deutschland, Großbritannien und der EU, 2004; Hendrik Lackner, Gewährleistungsverwaltung und Verkehrsverwaltung, 2004. 175

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Friedrich Schoch

ten180 an der unzulänglichen rechtlichen Gewährleistung des staatlichen Einflusses in der DFS-GmbH181. l

Das im Entstehen befindliche Informationsrecht kann von der Rechtsprechung naturgemäß nur einzelne Impulse erhalten. Die Gesetzgebung beschränkt sich auf sektorspezifische Regelungen182. Das übergreifende Regelungsmodell kann nur von der Wissenschaft entwickelt werden183.

l

Auch die Europäisierung und Internationalisierung der innerstaatlichen Rechtsordnung kann – systematisch sowie mit der notwendigen Breitenund Tiefenwirkung betrieben – von der Rechtsprechung nicht geleistet werden. Insoweit ist die Wissenschaft gefordert. Ihren beachtlichen Leistungen zum Verwaltungsrecht müssen neue Anstrengungen zum Verfassungsrecht folgen184. Nun steht auch die Entwicklung eines Internationalen Verwaltungsrechts185 auf dem Programm186.

Gewiss ließen sich weitere Perspektiven für die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht anfügen. Neben dem Hinweis auf das Innovationspotenzial unserer Wissenschaft ist mir die Erkenntnis wichtig, dass die erwähnten Beispiele für die Einheit des Öffentlichen Rechts stehen (sowie zum Teil sogar in das Zivilrecht ausgreifen) und die eingangs erwähnte Skepsis zur Trennung von „Staatsrechtslehre“ und „Verwaltungsrechtslehre“ bestätigen187.

180 Vgl. dazu BT-Drs. 16 / 3262 (Begründung der Nichtausfertigung des Gesetzes durch den Bundespräsidenten). 181 Näher dazu Friedrich Schoch, Vereinbarkeit des Gesetzes zur Neuregelung der Flugsicherung mit Art. 87d GG, 2006, S. 47 ff. 182 Ein Beispiel hierfür bietet der gesetzliche Ausbau des Informationsfreiheitsrechts; dazu bestehen auf Bundesebene das Umweltinformationsgesetz, das Informationsfreiheitsgesetzes und das Informationsweiterverwendungsgesetz; zum Verhältnis des IFG zum IWG vgl. Friedrich Schoch, Der Entwurf eines Informationsweiterverwendungsgesetzes des Bundes, NVwZ 2006, S. 872 (874 f.); Marc Maisch, Das Informationsweiterverwendungsgesetz – der neue Markt für IT-Dienstleister?, K&R 2007, S. 9 (10). 183 Erster monographischer Versuch von Michael Kloepfer, Informationsrecht, 2002. 184 Vgl. dazu oben III. 2. 185 Zuletzt hierzu Eberhard Schmidt-Aßmann, Die Herausforderung der Verwaltungsrechtswissenschaft durch die Internationalisierung der Verwaltungsbeziehungen, Der Staat 45 (2006), S. 315 ff.; ders., Verfassungsprinzipien für den Europäischen Verwaltungsverbund, in: GVwR I (FN 8), § 5 Rn. 41 ff. 186 Thema 4 der Staatsrechtslehrertagung 2007 in Freiburg i. Br. mit Referaten von Claus Dieter Classen und Giovanni Biaggini zu dem Thema „Die Entwicklung eines Internationalen Verwaltungsrechts als Aufgabe der Rechtswissenschaft“. 187 Vgl. dazu oben I. 2. a)

Verwaltungsrechtslehre und Staatsrechtslehre

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V. Postulat: Unaufgebbarkeit juristischer Rationalität Am Ende meiner tour d’horizon lässt sich ein knappes Fazit nicht ziehen. Etwas anderes war als Ergebnis auch kaum zu erwarten. Drei Lehren kann man aus der Bestandsaufnahme aber ableiten: l

Für die Verabschiedung der Staatsrechtswissenschaft aus der spezifisch juristischen Rationalität und ihre Überführung in den allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Diskurs188 gibt es keinen Grund. Die Beschreibung von Untergangsszenarien und die Schilderung von Verfallserscheinungen mögen – vielleicht wie in einem Kriminalroman – eine gewisse Faszination und sogar Anziehungskraft entfalten, in Bezug auf die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht sind sie jedoch ohne Grundlage.

l

Ausgesprochen unfruchtbar sind wissenschaftliche Selbstblockaden, die durch unproduktive und in der Sache falsche Entgegensetzungen entstehen. So kann vor der Befolgung des Ratschlags, „das Verwaltungsrecht auf die Rechtsanwendung auszurichten“189, wegen der darin eingeschlossenen Einseitigkeit nur gewarnt werden. Zu erwarten sind von der Wissenschaft vom Öffentlichen Recht auch neue, zukunftsweisende Konzepte, mitunter sogar Gesetzgebungsvorschläge, wie z. B. die Arbeiten zu einem Umweltgesetzbuch190 und einem Informationsgesetzbuch191 zeigen. Gerade die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft müsste in der Tat die Gesetzgebungslehre wiederbeleben192.

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Ein Haus ist schnell abgerissen, der Aufbau eines neuen Hauses dauert gemeinhin etwas länger; das gilt auch für Lehrgebäude. Deshalb sollte man es sich gründlich überlegen, die (in einer aufgeklärten Form arbeitende und nicht mit der „juristischen Methode“ gleichzusetzende) Rechtsdogmatik als das Herzstück einer systematisch betriebenen Rechtswissenschaft193 zu verabschieden, bevor man weiß, was an deren Stelle tritt und dass das Neue auch funktioniert. Außerdem: Die überkommende Grundrechtsdogmatik hat sich in der Vergangenheit als hinreichend flexibel erwiesen, um neue Herausforderungen zu bewältigen194; es ist nicht zu erkennen, wieso dies bei behutsamer Fortentwicklung in Zukunft nicht möglich sein sollte. Die Neue Verwaltungsrechtswissen188

So Schlink (FN 4). So Franzius (FN 19), Die Verwaltung 39 (2006), S. 335 (343). 190 Vgl. dazu Eberhard Bohne, Das Umweltgesetzbuch vor dem Hintergrund der Föderalismusreform, EurUP 2006, S. 276 ff. 191 Teilpublikation hieraus zuletzt Friedrich Schoch / Michael Kloepfer / Hansjürgen Garstka, Archivgesetz (ArchG-ProfE) – Entwurf eines Archivgesetzes des Bundes, 2007. 192 So Wahl, Das Öffentliche Recht (FN 9), S. 90. 193 Näher dazu Schmidt-Aßmann, Ordnungsidee (FN 19), 1 / 33 ff. 194 Kahl (FN 54), AöR 131 (2006), S. 579 (619). 189

14 Die Verwaltung, Beiheft 7

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schaft wird das Schicksal der Planungseuphorie der 1970er Jahre nur vermeiden können, wenn sie sich als Fortentwicklung und Ergänzung der überkommenen Verwaltungsrechtswissenschaft begreift195; in der Verbindung von Bewährtem und Neuem dürfte die Erfolgschance liegen196. Deshalb dürfte der Ton richtig getroffen sein, wenn die Proklamation einer Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft der Form nach als „Fanfarenstoß“ bezeichnet, in der Sache jedoch das Evolutionäre der Reformdiskussion im Verwaltungsrecht hervorgehoben wird197. Diese Lehren sind von der Einsicht getragen, dass die hohe Qualität unserer Wissenschaft vom Öffentlichen Recht und ihre weltweite Anerkennung im Kern auf der disziplinierenden und rationalisierenden Kraft unseres Öffentlichen Rechts beruhen198. Dieses Rechtsgebiet und die ihr verbundene Wissenschaft haben es fortwährend mit der Disziplinierung, Ordnung, Stabilisierung, Kanalisierung und Entfaltung von Macht zu tun. Deshalb muss – gerade in Reformdiskussionen zum Öffentlichen Recht – der Gefahr einer Verwischung der Grenzlinien zwischen Recht und Politik (bei allen Schwierigkeiten im Detail) widerstanden werden199. Was die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht daher unter keinen Umständen tun sollte, ist die Preisgabe juristischer Rationalität200.

195

Wahl, Das Öffentliche Recht (FN 9), S. 92. Zutreffend die Einschätzung von Bumke, Methodik (FN 36), S. 127. 197 Fritz Ossenbühl, Grundlagen des Verwaltungsrechts (= Besprechung von GVwR I, FN 8), Die Verwaltung 40 (2007), S. 125 ff. 198 Anerkannt auch von Schlink (FN 4), JZ 2007, S. 157 (162). 199 Klaus Lange, Grundlagen des Verwaltungsrechts (= Besprechung von GVwR I, FN 8), Die Verwaltung 40 (2007), S. 135 (136, 137). 200 Schmidt (FN 172), VerwArch 91 (2000), S. 149 (168). – Näher dazu Arno Scherzberg, Rationalität – staatswissenschaftlich betrachtet, in: Liber Amicorum Hans-Uwe Erichsen, 2004, S. 177 (189 ff.), zu spezifischen Rationalitätsproblemen des Rechts. 196

Verwaltungsrechtswissenschaft und Verwaltungswissenschaft Von Janbernd Oebbecke, Münster

I. Begriffliche Annäherung Bekanntlich wird darüber, was unter Verwaltungswissenschaft oder Verwaltungslehre zu verstehen ist, und ob es sie im Singular oder nur im Plural gibt, schon lange diskutiert1. Weil es dabei weniger um die sachlichen Befunde als um Begriffe geht, dürfte die Diskussion eine hohe Lebenserwartung haben. Hier soll nicht versucht werden, dazu einen substantiell weiterführenden Beitrag zu leisten. Für die Zwecke dieser Untersuchung sollen als Verwaltungswissenschaft alle Disziplinen bezeichnet werden, die sich mit der Verwaltung befassen; die Verwaltungswissenschaften werden also durch ihren Gegenstand konstituiert2. In diesem Sinne ist die Verwaltungsrechtswissenschaft eine Verwaltungswissenschaft. Soweit sie sich mit der Verwaltung befassen, sind auch die Politikwissenschaft, die Soziologie, die Betriebswirtschaft usw. Verwaltungswissenschaften. Wenn man annimmt, dass es Verwaltungswissenschaft als eigenständige Disziplin gibt, sei es institutionell in Speyer, in Konstanz, in Potsdam oder in den USA, sei es konzeptionell etwa bei Bernd Becker3 oder bei Gunnar Folke Schuppert4, gehört auch sie in diesem Sinne zu den Verwaltungswissenschaften. Im juristischen Sprachgebrauch werden die Begriffe „Verwaltungswissenschaft“ und „verwaltungswissenschaftlich“ aber häufig anders benutzt. Als Verwaltungswissenschaft oder Verwaltungslehre wird die Teilmenge der Verwaltungswissenschaften im eben bestimmten Sinne verstanden, die 1 Siehe etwa Klaus König, Verwaltungswissenschaft in der internationalen Entwicklung, VerwArch 94 (2003), S. 267 ff. sowie die Beiträge in: Jan Ziekow (Hrsg.), Verwaltungswissenschaften und Verwaltungswissenschaft, 2003; Bernd Becker, Öffentliche Verwaltung, 1989, insb. § 10; Günter Püttner, Verwaltungslehre, 3. Aufl. 2000, S. 1 ff.; Werner Thieme, Verwaltungslehre, 4. Aufl. 1984, S. 1 ff.; zur noch älteren Diskussion siehe die Beiträge in: Heinrich Siedentopf (Hrsg.), Verwaltungswissenschaft, 1976. 2 In diesem Sinne z. B. Hans Peter Bull, in: Ziekow (FN 1), S. 121. 3 Becker (FN 1), insb. § 9. 4 Gunnar Folke Schuppert, Verwaltungswissenschaft, 2000, vor allem S. 41 ff.

14*

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Janbernd Oebbecke

nicht Rechtswissenschaft ist5; in diesem Sinne ist Verwaltungswissenschaft jede wissenschaftliche Befassung mit der Verwaltung, die nicht rechtswissenschaftlich ist. Die Begriffe Verwaltungswissenschaft und Rechtswissenschaft stehen also in Opposition zueinander. In dieser Entgegensetzung ist für die Unterscheidung zwischen Verwaltungswissenschaft und Rechtswissenschaft offenkundig nicht der Gegenstand Verwaltung konstitutiv; auch die Verwaltungsrechtswissenschaft befasst sich ja mit der Verwaltung. Offensichtlich ist auch die Ausbildung oder die Sozialisation des Wissenschaftlers, der in diesem Sinne Verwaltungswissenschaft betreibt, kein ausreichendes Kriterium für die Unterscheidung. Die Befassung eines Historikers mit historischen Rechtstexten ist in dieser Terminologie nicht Rechtswissenschaft, wohl aber – wenn es um Verwaltung geht – Verwaltungswissenschaft. Juristen können im Sinne dieser Unterscheidung aber verwaltungswissenschaftlich arbeiten. Zu klären ist also: Wann ist die Befassung eines Rechtswissenschaftlers mit der Verwaltung rechtswissenschaftlich und wann ist sie verwaltungswissenschaftlich? Helmuth Schulze-Fielitz hat in seinem Rostocker Vortrag über die Verwaltung als Gegenstand interdisziplinärer Forschung daran erinnert, dass wissenschaftstheoretisch die Zusammenarbeit mit anderen Disziplinen nur auf der Basis der methodischen Grundlagen der eigenen Disziplin und ihrer Identität erfolgen kann6. Das scheint Konsens zu sein7. Gerade wenn das richtig ist, muss die Frage beantwortet werden, was denn Rechtswissenschaft und andere Verwaltungswissenschaften unterscheidet. Wenn man etwas nicht weiß, schlägt man im Lexikon nach: In der Neuausgabe des Evangelischen Staatslexikons8 findet sich das Lemma Rechtswissenschaft nicht. Im Register wird zu diesem Stichwort auf den Artikel „Rechtssoziologie“ verwiesen. Dort taucht der Begriff Rechtswissenschaft als solcher allerdings nicht auf. Man erfährt jedoch, dass Rechtsdogmatik sich mit Rechtsregeln befasst, während die Rechtssoziologie sich „für das am Recht orientierte (also auch das von ihm abweichende) tatsächliche Handeln“ interessiert9 – offenbar im Gegensatz zur Rechtswissenschaft. Ein bisschen anders sieht das der Artikel „Verwaltungswissenschaft“. Dort kann man im Abschnitt „Verwaltungswissenschaft und Verwaltungsrechtswissenschaft“ lesen, dass die juristische Verwaltungswissenschaft auch Verwaltungslehre genannt wird, die Verwaltungsrechtswissenschaft 5

Siehe dazu etwa Thieme (FN 1), Rn. 10; Schuppert (FN 4), S. 42. Gleichsinnig H. Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Wissenschaft: Dimensionen einer nur scheinbar akademischen Fragestellung, in diesem Bande S. 11 (17, 24 ff.). 7 Siehe etwa Schuppert (S. 22 f.) und Bull (S. 119), beide in: Ziekow (FN 1). 8 Werner Heun u. a. (Hrsg.), Evangelisches Staatslexikon, Neuausgabe, 2006. 9 Stefan Machura, Artikel Rechtssoziologie, in: EvStL (FN 8), Sp. 1920. 6

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sie in den Status einer bloßen Hilfswissenschaft drängte, sie aber durch die Öffnung der Rechtswissenschaft gegenüber verhaltensbezogenen Betrachtungen und die damit einhergehende Neuausrichtung zu einer rechtssetzungsorientierten Handlungs- und Entscheidungswissenschaft eine deutliche Aufwertung erfährt10. Eine Antwort auf unsere Frage ist das nicht. Immerhin wissen wir: Rechtswissenschaft ist etwas, das sich öffnen und neu ausrichten kann oder lässt. Der erste Satz des Wikipedia-Artikels „Rechtswissenschaft“11 lautet: „Die Rechtswissenschaft oder Jurisprudenz befasst sich mit der Auslegung, der systematischen und begrifflichen Durchdringung gegenwärtiger und geschichtlicher juristischer Texte und sonstiger rechtlicher Quellen.“ Es handelt sich danach um eine hermeneutische Wissenschaft, die ihre Sonderstellung gegenüber den anderen Geisteswissenschaften „aus der Allgemeinverbindlichkeit von Gesetzestexten ab[leitet], welche sie in Bezug zu den konkreten Lebenssachverhalten kraft Gerichtsbarkeit zu lösen hat.“ [sic!] Im Abschnitt „Abgrenzung und Einordnung“ kann man dann noch lesen, dass die Rechtswissenschaft „in ihrer aktuellen Form“ sich nicht mit objektiven Erkenntnissen im Sinne von realen, sinnlich erfahrbaren Phänomenen beschäftigt; dies bleibe Nebenzweigen der Rechtswissenschaft vorbehalten, „wie etwa der Rechtsphilosophie, der Rechtssoziologie und der Kriminologie.“12 Bis zu diesem – doch ein wenig windigen – Ort im schnellen Medium Internet hat sich die Öffnung und Neuausrichtung der Rechtswissenschaft jedenfalls noch nicht herumgesprochen. Aus dem eher zivilrechtlich bestimmten Schrifttum zur allgemeinen Einführung in die Rechtswissenschaft, zur Methodenlehre oder zur Rechtstheorie wird man zu unserer Frage auch nur wenig klüger. Eindeutig hat Rechtswissenschaft mit dem Entscheiden nach Maßgabe des Rechts zu tun, wobei mit Entscheiden mindestens in erster Linie das Entscheiden von Fällen gemeint ist13. Rechtspolitik taucht in manchen Werken nur im Zusammenhang mit Nachbarwissenschaften auf14, in anderen gibt es wenigstens einen Abschnitt über Gesetzgebungslehre15. Wenn die juristische Methode behandelt wird, geht es aber auch dort ums Fällelösen.

10

Christian Bumke, Artikel Verwaltungswissenschaft, in: EvStL (FN 8), Sp. 2633. Abfrage am 24. 01. 2007 um 18.03 Uhr. 12 Wikipedia, Artikel „Rechtswissenschaft“ (Zugriff am 24. 1. 2007). 13 So etwa Karl Larenz / Claus-Wilhelm Canaris, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 3. Aufl. 1995, S. 55; Norbert Horn, Einführung in die Rechtswissenschaft und Rechtsphilosophie, 4. Aufl. 2007, S. 112; Bernd Rüthers, Rechtstheorie, 2. Aufl. 2005, S. 200 ff.; Reinhold Zippelius, Juristische Methodenlehre, 10. Aufl. 2006. 14 Siehe etwa Hans Peter Schwintowski, Juristische Methodenlehre, 2005, S. 155 ff., 164 ff.; bei Horn (FN 13), S. 257 ff. unter Rechtsphilosophie. 15 Larenz / Canaris (FN 13), S. 57 f.; Johann Braun, Einführung in die Rechtswissenschaft, 2. Aufl. 2001, S. 361 ff. 11

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Viele Lehrbücher des Verwaltungsrechts gehen nicht ausdrücklich darauf ein, was Verwaltungsrechtswissenschaft ist16. Es gibt aber Ausnahmen: Nach Ehlers ist für die Verwaltungsrechtswissenschaft die juristische Methode konstitutiv, die freilich „nicht zu einer Ausblendung der Verwaltungswirklichkeit und der auf dem Spiel stehenden Interessen führen“ dürfe17. Die Verwaltungsrechtswissenschaft im Sinne von Ehlers hat die Öffnung also offenbar bereits hinter sich, wenn auch vielleicht nur einen Spalt breit. Stober unterscheidet immerhin die „positive oder dogmatisch beschreibende Verwaltungsrechtswissenschaft, die das geltende Verwaltungsrecht systematisiert, strukturiert und interpretiert“, die Verwaltungsrechtsvergleichung18 und die Verwaltungsrechtspolitik, die es mit der Verbesserung und Optimierung des positiven Verwaltungsrechts zu tun hat19. Die Frage, wann die Befassung eines Rechtswissenschaftlers mit der Verwaltung rechtswissenschaftlich und wann sie verwaltungswissenschaftlich ist, ist damit nicht beantwortet. Immerhin kann man als Kriterien für die Unterscheidung zwei – offenbar nah miteinander verwandte – Kandidaten in die engere Wahl ziehen: Die juristische Methode und das Ziel der Erkenntnis, Entscheidung nach den Maßstäben des Rechts.

II. Der Nutzen der Verwaltungswissenschaften für die Verwaltungsrechtswissenschaft Dass es – mindestens auch – Sache des Verwaltungsrechts ist, zu bestimmen, was in verwaltungsrechtlichen Fällen von Rechts wegen gilt, steht außer Streit. Die Verwaltungsrechtswissenschaft liefert dafür eine Systematik und bietet Lösungen an. Ganz überwiegend wird das auch heute noch als ihre Hauptaufgabe angesehen. Nicht-juristische Aussagen haben deshalb für die in diesem Sinne als Falllösungswissenschaft verstandene Verwaltungsrechtswissenschaft Bedeutung, soweit sie für das Lösen von verwaltungsrechtlichen Fällen wichtig sind20. Juristische Aussagen über Geeignetheit oder Erforderlichkeit etwa 16 Zum Beispiel Hans Peter Bull / Veith Mehde, Allgemeines Verwaltungsrecht mit Verwaltungslehre, 7. Aufl. 2005; Steffen Detterbeck, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 2006; Heiko Faber, Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 1995; Jörn Ipsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, 4. Aufl. 2005; Hartmut Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 16. Aufl. 2006. 17 Dirk Ehlers, in: Hans-Uwe Erichsen / Dirk Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 13. Aufl. 2005, S. 159. 18 Zur Bedeutung des Vergleichs siehe auch Christoph Möllers, Theorie, Praxis und Interdisziplinarität in der Verwaltungsrechtswissenschaft, VerwArch 93 (2002), S. 48 ff. 19 Hans J. Wolff / Otto Bachof / Rolf Stober, Verwaltungsrecht Bd. 1, 11. Aufl. 1999, S. 150 ff. 20 Siehe dazu Oliver Lepsius, Sozialwissenschaften im Verfassungsrecht – Amerika als Vorbild?, JZ 2005, S. 1 ff.

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lassen sich nur mit Hilfe nicht-juristischer Aussagen treffen. Überall da, wo Prognosen erstellt werden, setzen rechtliche Entscheidungen nicht-rechtliche Erkenntnisse über die zu erwartende Entwicklung voraus. Überall da, wo Teleologie wichtig ist, geht es nicht ohne Erkenntnisse über Wirkungszusammenhänge, wie sie andere Wissenschaften zur Verfügung stellen können. Gute Dienste dieser Art nehmen Verwaltungsrechtler bei der Lösung verwaltungsrechtlicher Fälle nicht nur von den Wissenschaften in Anspruch, die gemeinhin als Verwaltungswissenschaften bezeichnet werden. Zu den Verwaltungswissenschaften gehören üblicherweise weder die Biologie noch die Geschichte. Kommt es im Fall auf die Gefährlichkeit eines Tieres an, wird man aber auf biologische Erkenntnisse zurückgreifen21; geht es wie im Kopftuchstreit um Symbole, ist es sehr nützlich, von den Historikern zu erfahren, wie Symbole funktionieren22. Für das verwaltungsrechtliche Falllösen können also alle anderen Disziplinen von Bedeutung sein; die Verwaltungswissenschaften im üblichen Sinne sind es allerdings vielleicht häufiger als andere. Nun lösen in der Praxis tätige Juristen keineswegs nur Fälle, sondern sie sind auch rechtspolitisch tätig. Dabei ist jetzt nicht an politische Wertungen gedacht, wie sie in mehr oder weniger großem Umfang unvermeidlich auch mit der Rechtsanwendung im Einzelfall verbunden sind23. Es geht vielmehr um die auf Zukunft gerichtete Gestaltungsaufgabe, die Juristen wahrnehmen, indem sie etwa Verträge, Satzungen oder Gesetze entwerfen, also um Tätigkeiten von der Kautelarjurisprudenz bis zur Verfassungsgebung. Dabei wird mehr oder weniger explizit so vorgegangen, dass ein Problem definiert, Lösungsmöglichkeiten zusammengestellt und nach den im Einzelfall relevanten Kriterien – Mandanteninteresse etwa oder Gemeinwohl – zwischen ihnen ausgewählt wird. Bei dieser Auswahl zwischen Gestaltungsmöglichkeiten kann man wiederum zwei Schritte unterscheiden: Aus den in Betracht kommenden Regelungsmöglichkeiten werden die ausgeschlossen, die rechtswidrig sind. Dieser Teilschritt ist der Sache nach wieder nichts anderes als Falllösen. Zwischen den verbleibenden rechtmäßigen Lösungen muss nach anderen Kriterien als nach rechtmäßig / rechtswidrig entschieden werden. Wenn es um Verwaltungsrechtspolitik geht, spielen dabei Erkenntnisse der Verwaltungswissenschaften eine wichtige Rolle. Das gilt nicht erst für die Auswahl 21

Das ist im Zusammenhang mit den sog. Kampfhunden geschehen. Siehe meinen Beitrag: Das „islamische Kopftuch“ als Symbol, in: FS Rüfner, 2003, S. 593 ff. 23 Siehe dazu Rüthers (FN 13), S. 228 f. und jüngst die Kontroverse zwischen Horst Heinrich Jakobs (Abermals Wiedergelesen, JZ 2006, S. 1115 ff.) und Christoph Engel (Schlußwort, JZ 2006, S. 1118 f.). 22

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zwischen rechtmäßigen Lösungen, sondern schon für das Auffinden der in Betracht kommenden Lösungsvarianten. Soweit die Verwaltungsrechtswissenschaft sich mit der so verstandenen Verwaltungsrechtspolitik befasst, sind die Verwaltungswissenschaften also von erheblicher Bedeutung für ihre Arbeit. Aussagen, die als verwaltungswissenschaftlich charakterisiert werden können, sind für die Verwaltungsrechtswissenschaft aber, wenn man dem Schrifttum glauben darf, noch in anderer Hinsicht von Bedeutung. Verbreitet gehört es zur Rhetorik verwaltungsrechtswissenschaftlicher Publikationen, darauf hinzuweisen, dieses oder jenes Phänomen sei neu und deshalb sei es geboten, sich damit zu befassen. Außerrechtliche Erkenntnisse oder Beobachtungen steuern also – tatsächlich, vermeintlich oder vorgeblich – die rechtswissenschaftliche Aufmerksamkeit. Das ist für eine Wissenschaft keineswegs selbstverständlich. So unverkennbar Nutzenerwägungen auch in anderen Disziplinen eine Rolle spielen, so würde ein Natur- oder Geisteswissenschaftler die Auswahl eines Forschungsgegenstandes doch wohl eher wissenschaftsimmanent begründen: Wir wissen etwas und etwas anderes noch nicht, oder aus dem, was wir wissen, ergibt sich die oder die neue Frage. Natürlich werfen neue Phänomene neue Fragen auf24. Die Verwaltungsrechtswissenschaft neigt aber gelegentlich dazu, auch da neue Sachlagen auszumachen, wo sie in Wirklichkeit neue Fragen stellt25. Noch in guter Erinnerung ist das Beispiel des informalen Verwaltungshandelns26. Soweit man schließlich zur Verwaltungsrechtswissenschaft auch die thematisch einschlägigen Aktivitäten der Rechtssoziologie, der Rechtsgeschichte usw. rechnet, liegt der Nutzen der entsprechenden Verwaltungswissenschaften auf der Hand. Dabei spielen hier neben deren Erkenntnissen auch ihre Methoden und Standards eine wichtige Rolle.

III. Die Notwendigkeit der Unterscheidung Damit sind wir wieder bei der Frage, was denn Rechtswissenschaft in Abgrenzung von juristischer Verwaltungswissenschaft ist. Die Beispiele Rechtsgeschichte oder Rechtssoziologie belegen, dass eine Unterscheidung nach methodischen Kriterien oder nach dem Erkenntnisinteresse offenbar nicht sinnvoll ist, weil sich rechtswissenschaftliche Forschung hier nicht oder nicht wesentlich von der soziologischen oder historischen Forschung unterscheidet. Insoweit wird man in der Tat nur darauf abstellen können, wer wissenschaftlich tätig wird und wie die wissenschaftliche Tätigkeit in24 Dann kann man mit Schuppert (in: Ziekow [FN 1], S. 39) von „Impulsgebungsfunktion“ der Verwaltungswissenschaft sprechen. 25 Zu diesem Komplex umfassend Möllers (FN 18), S. 26 ff. 26 Möllers (FN 18), S. 35.

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stitutionell eingebunden ist. Für die Unterscheidung von Verwaltungsrechtswissenschaft und juristischer Verwaltungswissenschaft ist das, wie erwähnt, kein ausreichendes Kriterium. Eine beliebte und überzeugende Lösung für schwer lösbare Probleme liegt darin, sie für irrelevant zu erklären. Kriterien für eine Unterscheidung werden nicht benötigt, wenn man gar nicht unterscheiden muss. Und aus zwei Gründen liegt es ja durchaus nahe, darüber nachzudenken, ob es überhaupt notwendig ist, zwischen Verwaltungsrechtswissenschaft und Verwaltungswissenschaft zu unterscheiden. Erstens ist die Trennung historisch keineswegs alt, sondern ein Kind des neunzehnten Jahrhunderts27. Dass es anders gewesen ist, belegt, dass es anders sein kann. Zweitens gibt es gegenwärtig eine erkleckliche Anzahl von Autoren, welche eine methodische Neuausrichtung im Sinne der erwähnten Öffnung für notwendig halten und die „überkommene Dominanz“28 der juristischen Methode ablösen wollen. Dieser „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“ liegt nach eigener Aussage zwar kein „in sich abgeschlossenes methodisches Konzept zugrunde“, aber die „unterschiedlichen, gleichwohl miteinander verbundenen methodischen Elemente“29 werden als verwaltungswissenschaftlich charakterisiert. Nicht nur die Bezeichnung „Neue Verwaltungsrechtswissenschaft“ mit der Majuskel bei „neu“, sondern auch das Fehlen des geschlossenen Konzepts und der Umstand, dass dieses Fehlen ausdrücklich eingeräumt wird30, erinnern an die „Neue Steuerung“. Es gibt weitere Parallelen: Kaum ein Element ist auch wirklich neu31. Auch die von Klaus König für die „Neue Steuerung“ konstatierte „gewisse Vorliebe für rhetorische Figurinen“32 lässt sich bei der „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“ hier und da ausmachen. Der Parallele lässt sich im Blick auf die Zukunft aber durchaus Ermutigendes abgewinnen. Immerhin hat die „Neue Steuerung“, auch wenn heute niemand mehr davon spricht, in der Praxis der Verwaltung einige deutliche Spuren hinterlassen. Zurück zu der Frage, ob man wirklich zwischen Rechtswissenschaft und Verwaltungswissenschaft unterscheiden muss. Die richtige Antwort darauf 27 Michael Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. 2, 1992, besonders S. 381 ff. 28 Andreas Voßkuhle, in: Wolfgang Hoffmann-Riem / Eberhard Schmidt-Aßmann / Andreas Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Bd. 1, 2006, § 1 Überschrift vor Rn. 2 m. w. Nachw. 29 Voßkuhle (FN 28), § 1 Rn. 16. 30 Voßkuhle (FN 28), § 1 Rn. 16. 31 Für die „Neue Steuerung“ Maximilian Wallerath, Verwaltungserneuerung, VerwArch 88 (1997), S. 1 (6). 32 Klaus König, Markt und Wettbewerb als Staats- und Verwaltungsprinzipien, DVBl. 1997, S. 239 (240).

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wird – spitzzüngige juristische Laien würden sagen: erwartungsgemäß – lauten: Es kommt darauf an! Überall da, wo die Rechtswissenschaft die Frage danach beantwortet, was im Einzelfall von Rechts wegen gilt oder die Antwort auf diese Frage zu programmieren sucht, ist die Unterscheidung aus ethischen und berufspolitischen Gründen unverzichtbar. Wo es um rechtmäßig und rechtswidrig geht, um das Fällelösen, üben Juristen nämlich Gewalt aus33. Das gilt nicht nur für den rechtsanwendenden Richter, Staatsanwalt oder Verwaltungsbeamten. Das gilt auch für den Rechtsanwalt, der seinem Mandanten Erfolgsaussichten eines Rechtsmittels erläutert oder aus Rechtsgründen zum Hartbleiben oder Nachgeben bei Verhandlungen rät. Es gilt schließlich auch für den Rechtswissenschaftler, der Rechtsprechung kritisch kommentiert, ein neues Feld dogmatisch erschließt, vorschlägt, Fälle anders als bisher zu lösen, oder aus rechtlichen Gründen eine Lösung für ein Gestaltungsproblem ausschließt. Sie alle, auch der Anwalt und der Rechtswissenschaftler, berufen sich bei ihren Aussagen implizit oder explizit auf die Geltung des Rechts, meistens darauf, dass Gerichte so entscheiden würden oder entscheiden könnten, wie sie behaupten. Sie üben Gewalt aus, denn sie schränken damit den Entscheidungsfreiraum von Menschen ein. Es ist ein Gebot der professionellen Ehrlichkeit, das beim Gegenüber für juristische Aussagen dieser Art in Anspruch genommene Vertrauen nicht zu enttäuschen. Es ist auch ein Gebot der professionellen Glaubwürdigkeit, weil wir ja darauf angewiesen sind, dass die nicht-juristische Umwelt juristische Aussagen als von politikwissenschaftlichen oder psychologischen Aussagen deutlich unterscheidbar wahrnimmt. Aussagen über das, was gilt, sind also deutlich abzusetzen von solchen über das, was unserem Dafürhalten nach gelten sollte, oder auch von Beschreibungen oder Erläuterungen, die nicht mit den Kategorien rechtswidrig und rechtmäßig arbeiten, sondern etwa mit wahr oder falsch. Solche Aussagen sind keine juristischen in diesem Sinne und wir können dafür nicht die Autorität von Aussagen über das, was im Einzelfall von Rechts wegen gilt, in Anspruch nehmen. Dieses Ideal der Trennung von Recht und Rechtspolitik mag im Verfassungsrecht manchmal nur schwer realisierbar sein34; deshalb darauf verzichten zu wollen, ist schon dort keine überzeugende Antwort. Im Verwaltungsrecht gibt es keinen Grund, die Trennung aufzugeben. Als Verwaltungsrechtler dürfen wir die Unterscheidung zwischen in diesem Sinne juristischen Aussagen und anderen auch deshalb nicht nivellie33 Bernd Jeand’Heur, Das Studium der Rechtswissenschaften zwischen Effizienzdenken, arbeitsmarktpolitischen Überlegungen und rechtsstaatlichen Anforderungen, JuS 1999, S. 423 (426 ff.). 34 Zum Problem etwa: Wolfgang Hoffmann-Riem, Die Klugheit der Entscheidung ruht in ihrer Herstellung – selbst bei der Anwendung von Recht, in: Arno Scherzberg u. a. (Hrsg.), Kluges Entscheiden, 2006, S. 3 ff.

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ren, weil wir damit die Gemeinsamkeiten und die Gemeinschaft mit den anderen Zweigen der Rechtswissenschaft in Frage stellen würden. Schon wegen der zahlreichen Übergänge und der Substitutionserscheinungen zwischen öffentlichem Recht und Privatrecht müssen wir darauf achten, dass wir uns verständigen können und uns nicht methodisch isolieren. Vielleicht könnte eine Revolution der juristischen Methode zum Lösen von Fällen auch von einem Fach wie dem Verwaltungsrecht ihren Ausgang nehmen. Schon weil sie ihren dauerhaften Sieg aber auf dem Weg über die Ausbildung erringen müsste, könnte ihre Durchsetzung aber nur gelingen, wenn dafür auch das Zivilrecht gewonnen werden kann. In der Debatte über die Neue Verwaltungsrechtswissenschaft ist bisher nicht einmal der Anspruch erkennbar, über das Verwaltungsrecht hinaus zu greifen, geschweige denn, dass entsprechende Argumente genannt würden. Warum es eine vergleichbare Diskussion im Zivilrecht nicht gibt, ist eine interessante Frage. Vielleicht hängt die Antwort mit der vor allem durch den Ausschluss der Popularklage bedingten Durchsetzungsschwäche weiter Teile des Verwaltungsrechts zusammen. Richtig ist zwar, dass Recht immer wieder auch beachtet wird, wenn keine hoheitliche Durchsetzung droht. Ebenso richtig ist aber, dass das Recht in solchen Fällen vielfach missachtet und sehr häufig einfach ignoriert wird. Soweit die Verwaltungsrechtswissenschaft sich mit dem Fällelösen befasst, ist die Unterscheidung zwischen juristisch und nicht-juristisch also unverzichtbar. Das gilt nicht für die anderen Bereiche der Verwaltungsrechtswissenschaft. Es gibt neben dem Falllösen, der Frage nach rechtmäßig und rechtswidrig, zum Beispiel auch die Beschreibung und Erklärung dessen, was Rechtsanwendung und Rechtswissenschaft tun, wenn sie sich mit dem Falllösen befassen. Es gibt Rechtsphilosophie, Rechtsgeschichte, Rechtssoziologie und Rechtstheorie. Vor allem aber befassen sich Verwaltungsjuristen und Verwaltungsrechtswissenschaft immer wieder auch mit normativen Aussagen im Sinne von zweckmäßig und unzweckmäßig, nämlich überall da, wo sie rechtspolitisch arbeiten. Auch wenn ihre Rhetorik manchmal wenig speziell daher kommt, liegt das Hauptinteresse der „Neuen Verwaltungsrechtswissenschaft“ offensichtlich auf diesem hier als Rechtspolitik bezeichneten Feld. In der Rechtspolitik konkurrieren Aussagen der Rechtswissenschaft allerdings mit solchen aus anderen Disziplinen. Eine kategoriale Unterscheidung von Verwaltungsrechtswissenschaft und Verwaltungswissenschaft ist hier weder möglich noch erforderlich. Ohne ein vergleichbares Monopol innezuhaben wie da, wo es um rechtmäßig und rechtswidrig geht, spielen Juristen aber auch in der Rechtspolitik eine besondere Rolle35. Dafür dürften drei Gründe maßgeblich sein. Sie

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verfügen erstens über Erfahrung und Vertrautheit mit der Gestalt und dem Funktionieren von Regelungen. Sie nehmen deshalb für rechtliche Konstruktionen eine Ingenieurfunktion wahr. Zweitens kennen sie häufig das Regelungsfeld besser als andere; in vielen Fällen fehlen für den speziellen Wirklichkeitsausschnitt Erkenntnisse anderer Wissenschaften ganz oder sie liegen nur in weit geringerem Umfang vor als bei der Rechtswissenschaft. Für diesen Befund dürften vor allem zwei Gründe maßgeblich sein, auf die Jan Ziekow hingewiesen hat: Die rechtlichen Vorgaben konstituieren, jedenfalls in Deutschland, die Realität der Verwaltung maßgeblich mit, und die meisten Rechtswissenschaftler pflegen permanenten Austausch mit der Praxis36. Man kann die juristische Verwaltungswissenschaft oder Verwaltungslehre verstehen als Pflege und Ausbau der Kenntnisse über das Regelungsfeld des Verwaltungsrechts und über die erwähnten ingenieurmäßigen Aspekte. Wahrscheinlich leisten Juristen aber noch in einem dritten Punkt einen eigenständigen und unverzichtbaren Beitrag. Andreas Voßkuhle hat als ein Element einer „transdisziplinären Metatheorie“ den Aufbau von Schutzmechanismen gefordert, „die bei zu starker und damit unproduktiver Komplexitätssteigerung durch externe Wissenszufuhr auch eine teilweise Schließung der Verwaltungsrechtswissenschaft gegenüber der wissenschaftlichen Umwelt zulassen“37. Christoph Möllers hat die „rechtswissenschaftliche Ignoranz“ als notwendige Funktionsbedingung des Rechts charakterisiert38. Christoph Engel sieht bei der Grenzziehung zu den Sozialwissenschaften das Proprium der Rechtswissenschaft in der „Herrschaftsausübung bei offener Wirklichkeitsdefinition“39. Dass man zuviel wissen kann, ist ein sehr juristischer Gedanke. Juristen leben – so hat Werner Thieme vor einem Vierteljahrhundert denselben Gedanken weniger anspruchsvoll formuliert – eben „in der Erkenntnis, daß die zweitbeste Entscheidung besser als keine Entscheidung ist“40. Noch weniger anspruchsvoll begegnet uns dieselbe Erkenntnis in dem als Amtsrichterweisheit überlieferten Diktum „Je weniger ich weiß, desto sicherer bin ich in meinem Urteil“. Juristen verfügen traditionell über Techniken und, vielleicht ebenso wichtig, sozialisationsbedingt über die Bereitschaft, auch in Unkenntnis wichtiger Umstände – man kann sagen: unter Unsicherheit – 35 Etwa Helmuth Schulze-Fielitz, Zwanzig Jahre „Zeitschrift für Gesetzgebung“ als Seismograph der Gesetzgebungslehre in Deutschland, ZG 21 (2006), S. 209 (215 ff.). 36 Ziekow, in: ders. (FN 1), S. 64 f. 37 Voßkuhle (FN 28), § 1, Rn. 39. 38 Möllers (FN 18), S. 60. 39 Christoph Engel, Herrschaftsausübung bei offener Wirklichkeitsdefinition, Preprint Max Planck Institut für die Erforschung von Gemeinschaftsgütern, 2006 / 13, S. 29 ff. 40 Werner Thieme, Entscheidungen in der öffentlichen Verwaltung, 1981, S. VII.

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vernünftige und akzeptable praktische Entscheidungen zu treffen. Diese Techniken und die Erfahrungen mit ihrer Anwendung sind nicht nur beim Fällelösen nützlich, sondern auch bei rechtspolitischen Entscheidungen. Verwaltungsrechtswissenschaft, Rechtswissenschaft überhaupt, beschränkt sich also keineswegs auf die Generierung von Aussagen über das, was von Rechts wegen gilt, und sie darf sich nicht darauf beschränken. Die wissenschaftliche Praxis wie die gesellschaftlichen Erwartungen gehen darüber traditionell weit hinaus. Die Generierung rechtlicher Aussagen ist und bleibt aber das Kerngeschäft der Jurisprudenz; zu ihrer Wissenschaftlichkeit gehört es, diesen Kern deutlich zu markieren. Sicher ist aber auch, dass es lohnend wäre, über Rechtspolitik und ihre Methoden intensiver nachzudenken als bisher41.

IV. Anforderungen an die Rechtswissenschaft Gleichgültig auf welchem Feld sie tätig wird: Wegen ihrer praktischen Verantwortung wie wegen ihres wissenschaftlichen Anspruchs muss die Rechtswissenschaft überall da, wo sie auf Kenntnisse aus anderen Disziplinen zurückgreift, auf der Höhe von deren Diskussion sein – wenigstens halbwegs. Das setzt voraus, dass man sich für das interessiert, was andere Disziplinen tun, für ihre Methoden und Standards und für ihre Ergebnisse. Schließlich müssen der irgendwann sinnvolle und unvermeidliche Verzicht auf weitere Aufklärung oder der Rückgriff auf Alltagswissen ja vor dem Diskussionsstand der anderen Disziplinen zu rechtfertigen sein. Wenn man will, steht man dabei praktisch auch nicht vor unüberwindlichen Schwierigkeiten: An unseren Universitäten findet sich meistens jemand, der einem weiterhelfen kann; die Bereitschaft dazu ist erfahrungsgemäß groß. Wenn man diese Forderung für berechtigt hält, muss man feststellen: Hier liegt manches im Argen. Ein Beispiel ist der manchmal doch recht leichtfertige Umgang mit Begriff und Konzept des Wettbewerbs. Weitere Beispiele ließen sich nennen. Hier mag eines genügen: In einer im Übrigen durchaus ansprechenden monographischen Untersuchung, einer Qualifikationsarbeit zu Rechtsfragen der Kommunalfinanzen, wird als Beleg für die tatsächliche Lage der Kommunalfinanzen an keiner Stelle auf amtliche Statistik, sondern ausschließlich auf Publikationen der kommunalen Spitzenverbände zurückgegriffen. Als Beleg für die These, die Kommunen seien vom Staat in der Geschichte finanziell oft mit den Resten abgespeist worden, die sonst von niemandem beansprucht wurden, wird zum einen auf eine Rede Konrad Adenauers auf der Hauptversammlung des Städtetags im Jahre 1921, zum 41 Dazu Peter Noll, Von der Rechtsprechungswissenschaft zur Gesetzgebungswissenschaft, in: Hans Albert u.a (Hrsg.), Rechtstheorie als Grundlagenwissenschaft der Rechtswissenschaft, 1972, S. 524 ff.

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anderen auf einen Artikel im Verbandsorgan des Städtetages aus dem Jahre 1996 hingewiesen. – Ein wenig mehr darf es doch schon sein.

V. Fazit Die vorgestellten Überlegungen lassen sich in fünf Leitsätzen zusammenfassen: 1. Die Erkenntnisse anderer Disziplinen, nicht nur der im herkömmlichen Sinne verwaltungswissenschaftlichen Disziplinen, sind für die Rechtswissenschaft in vielfältiger Weise relevant. 2. Verwaltungsrechtswissenschaft und Verwaltungswissenschaft kann und muss man jedenfalls da unterscheiden, wo sich die Verwaltungsrechtswissenschaft mit der Entscheidung von Einzelfällen nach den Kategorien rechtmäßig und rechtswidrig befasst. 3. In der Verwaltungsrechtspolitik stehen Rechtswissenschaftler in Kooperation und in Konkurrenz mit den Vertretern anderer Fächer. Die Rechtswissenschaft leistet zur rechtspolitischen Diskussion allerdings spezifische Beiträge: – Sie hat „ingenieurmäßige“ Erfahrung mit Regelungen. – Häufig kennen Juristen auch das Regelungsfeld besser als andere. – Nicht zuletzt hat die Rechtswissenschaft Erfahrung damit, Entscheidungen unter Unsicherheit zu treffen. 4. Juristische Verwaltungswissenschaft oder Verwaltungslehre lässt sich als das Bemühen um die Kenntnis des Regelungsfeldes und um die ingenieurmäßigen Elemente der Verwaltungsrechtspolitik verstehen. 5. Wo die Rechtswissenschaft auf Erkenntnisse anderer Wissenschaften zurückgreift, sollte sie halbwegs auf der Höhe der Diskussion im jeweiligen Fach sein.

V. Europarechtswissenschaft oder Staatsrechtslehre?

Europarechtswissenschaft oder Staatsrechtslehre? Eigenarten und Eigenständigkeit der Europarechtslehre Von Ingolf Pernice, Berlin

I. Einleitung Kann man Staatsrechtslehre als Wissenschaft in Deutschland noch betreiben, ohne Europa und damit die Europäisierung des Staats- und Verwaltungsrechts in den Blick zu nehmen? Ist die Europarechtswissenschaft also heute Teil der Staatsrechtslehre? Oder gibt es sie gar nicht mehr, wie Peter Häberle in seinem großen Werk „Europäische Verfassungslehre“ in Bezug auf die Staatslehre andeutet1 und wie er es jetzt mit dem Hinweis bekräftigt, es gebe nur noch Europäische Verfassungslehre und Europäisches Verwaltungsrecht? Und umgekehrt, kann es eine Wissenschaft des Europarechts geben ohne Staatsrechtslehre? – Oder gibt es vielleicht nur noch eine Wissenschaft des öffentlichen Rechts, die alles umfasst, so wie Friedrich Schoch das jetzt andeutet? Meine Antwort auf alle diese Fragen lautet: Nein! Europarechtswissenschaft und Staatsrechtslehre beziehen sich auf grundsätzlich verschiedene Gegenstände: Auf die Europäische Union einerseits und auf den Staat andererseits. Weil die EU kein Staat ist und auch ihre „Finalität“ nicht in der Neuauflage des längst überholten Modells souveräner Nationalstaatlichkeit zu sehen ist2, bleibt auch die Lehre ihres Rechts auf etwas anderes als auf den Staat bezogen. Und der Staat ist nicht durch die EU aufgehoben, sondern ihre Basis und Funktionsvoraussetzung. Weil der Staat als Mitgliedstaat der Europäischen Union indessen in eine supranationale Ordnung integriert ist, sind auch Staatsrecht und Europarecht miteinander verwoben, beeinflussen sich gegenseitig. Statt der Alternative: Europarechtswissen1 P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 4. Aufl. 2006, S. 36 mit dem Hinweis, dass solches für Europa gar nicht erst begonnen werden sollte; s. auch ebd., S. 646: „Abschied vom sog. ,Europarecht‘ als eigener Wissenschaftsdisziplin“. Zur Europäisierung der Staatsrechtslehre: ders., Diskussionsbeitrag, VVDStRL 50 (1991), S. 156 f.; ders., Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 ff. 2 Anders J. Sack, Die Staatswerdung Europas – kaum eine Spur von Stern und Stunde, Der Staat 44 (2005), S. 67 ff.; vgl. auch schon F. Mancini, Europa: Gründe für einen Gesamtstaat, KritV 81 (1998), S. 386 ff.; ders., Europe: A Case for Statehood, ELJ 4 (1998), S. 29. Zur Finalität siehe dagegen I. Pernice, Zur Finalität Europas, in: G. F. Schuppert / I. Pernice / U. Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft, 2005, S. 743 (780).

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schaft „oder“ Staatsrechtslehre, gibt es also nur ein Nebeneinander und enges Miteinander. Dies ist meine These. Europarechtswissenschaft kann ohne Staatsrechtslehre, ohne Anleihen an das innerstaatliche Recht und Einbeziehung des nationalen Verfassungsund Verwaltungsrechts nicht auskommen, und umgekehrt: Eine Verfassungs- und Verwaltungsrechtswissenschaft, die das Europarecht nicht in den Blick nimmt, wäre blind für rechtliche Veränderungen, mit denen wir seit rund 50 Jahren umgehen. Es sind die normative Verklammerung beider Rechtsebenen, die institutionelle und personelle Verflechtung beider Handlungsebenen, ja schon die konzeptionellen und begrifflichen Anleihen des Europarechts im Staatsrecht und zunehmend auch umgekehrt3, die dazu zwingen, bei der Betrachtung des einen das andere nie aus dem Blick zu verlieren. Beide Rechtsebenen sind miteinander verbunden als komplementäre Ordnungen im System der „Europäischen Verfassung“, das ich Verfassungsverbund nenne4. Das eine Recht geht aber nicht im anderen auf. Selbst wenn man dem Bundesverfassungsgericht folgt, für das die innerstaatliche Geltung des europäischen Rechts auf dem Rechtsanwendungsbefehl des Zustimmungsgesetzes nach Art. 23 Abs. 1 GG beruht5, wird dieses Recht doch nicht „Staatsrecht“. Zwar kann Art. 23 GG als „Anerkennung der Verklammerung des Verfassungsprozesses der Union und der Mitgliedstaaten“ angesehen werden, wie es Peter Badura kürzlich sagte, mit ihr wurde aber keineswegs „die Gemeinschaftsverfassung in die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland inkorporiert“, auch nicht, wie er sagt, „gewissermaßen in nuce“6. Denn das europäische Gemeinschaftsrecht ist jedenfalls formal eine eigenständige Rechtsordnung7. Umgekehrt wird man auch nicht sagen kön3 Zur Wechselwirkung zwischen den Verfassungsebenen siehe etwa J. Schwarze, Einführung, in: ders. (Hrsg.), Die Entstehung einer neuen Verfassungsordnung, 2000, S. 11 (13); C. Grabenwarter, Staatliches Unionsverfassungsrecht, in: A. v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht. Theoretische und dogmatische Grundzüge, 2003, S. 283 (297 ff., 332 f.). 4 I. Pernice, Bestandssicherung der Verfassungen: Verfassungsrechtliche Mechanismen zur Wahrung der Verfassungsordnung, in: R. Bieber / P. Widmer (Hrsg.), L’espace constitutionnel européen. Der europäische Verfassungsraum. The European constitutional area, 1995, S. 225 (261 ff.); weiterführend: ders., Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 148 (163 ff.); zuletzt ders., in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz. Kommentar, Bd. II, 2. Aufl. 2006, Art. 23 Rn. 17 (Fn. 104, m. w. N. zur Diskussion). 5 St. Rspr. seit BVerfGE 73, 339 (367 f., 375) – Solange II. Vgl. auch BVerfGE 89, 155 (190) – Maastricht. 6 Siehe aber P. Badura, Verfassung und Verfassungsrecht in Europa, AöR 131 (2006), S. 423 (435). 7 Grundlegend EuGH Rs. 26 / 62 – Van Gend & Loos, Slg. 1963, 1 (Ls. 3 und S. 24 f.); deutlicher EuGH Rs. 6 / 64 – Costa / ENEL, Slg. 1964, 1253 (Ls. 3 u. S. 1269): „Zum Unterschied von gewöhnlichen internationalen Verträgen hat der EWG-Vertrag eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die bei seinem Inkrafttreten in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und von Ihren Gerichten anzuwenden

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nen, dass das Staatsrecht nur noch ein Teil des Europa- oder des Europäischen Verfassungsrechts wäre, denn es hat einen anderen, originären Ausgangspunkt. Wenn es einer Bestimmung dazu bedürfte, wäre die Eigenständigkeit des nationalen Rechts jedenfalls durch die Identitätsklausel des Art. 6 Abs. 3 EU verbürgt8. Beide Rechtskreise bleiben also unterschieden, so etwa wie man Bundes- und Landesrecht kategorial trennt. Die Frage ist indessen, ob und worin sich die Europarechtswissenschaft wesentlich von der Staatsrechtslehre unterscheidet und deswegen eine (gewisse) Eigenständigkeit besitzt. Es sind, soweit ersichtlich, einerseits die besonderen Aufgaben [dazu II.], andererseits die besonderen Methoden [dazu III.].

II. Aufgaben der Europarechtswissenschaft Die Aufgaben der Europarechtswissenschaft bestehen zunächst in der Beschreibung und Abgrenzung ihres Gegenstandes selbst: Was ist die EG bzw. die EU und ihr Recht [dazu 1.]? Es wird sich zeigen, dass sie vom Staat und seinem Recht in vielen Dingen sehr verschieden ist. Daraus resultieren besondere Anforderungen an die Entwicklung einer Dogmatik des Europarechts [dazu 2.].

1. Beschreibung des Gegenstandes

Wer das Europarecht wissenschaftlich behandeln will, muss sich zunächst der Frage widmen, was die EU rechtlich ist [dazu a)]. Daran knüpft sich die Frage nach ihrer Verfassung, ihrer Struktur und Funktionsweise [dazu b)]. Die Europarechtswissenschaft hat sich mit einer Vielzahl von Fragen des Verwaltungs-, insbesondere des Verfahrensrechts, aber auch des Zivilrechts, ja neuerdings sogar mit Fragen des Strafrechts zu beschäftigen (dazu c)]. Schließlich ist zu klären, wo eigentlich der Anwendungsbereich des Europarechts seine Grenze findet [dazu d)]. Diesen Fragen will ich mich nacheinander widmen. a) Rechtliche Einordnung der Europäischen Union: Vom Staat haben wir ein relativ gefestigtes Vorstellungsbild. Daher hat die allgemeine Staatslehist.“ Siehe auch EuGH Rs. 11 / 70 – Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125, Rn. 3: „Die Gültigkeit solcher Handlungen kann nur nach dem Gemeinschaftsrecht beurteilt werden, denn dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht können wegen seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll.“ 8 Weitergehend BVerfGE 89, 155 (189) – Maastricht: „Unabhängigkeit und Souveränität der Mitgliedstaaten“; auch nach A. Puttler, in: C. Calliess / M. Ruffert, EUV / EGV Kommentar, 3. Aufl. 2007, Art. 6 EUV Rn. 44, umfasst die „Achtungsverpflichtung jedenfalls die Staatlichkeit und die Souveränität der Mitgliedstaaten“. 15*

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re heute schlechte Konjunktur9. Für die Europäische Union fehlt ein entsprechendes Raster. Schon über die begriffliche Einordnung herrscht Ratlosigkeit: Sie ist weder Staat – Bundesstaat – noch internationale Organisation – Staatenbund. Weiter reicht das klassische Begriffsinstrumentarium seit Georg Jellineks Lehre von den Staatenverbindungen10 nicht. Wer dem Begriff der „supranationalen Union“11 nichts abgewinnen kann, spricht von der Gemeinschaft „sui generis“12. Keiner der bislang vorgeschlagenen Begriffe erzeugt ein kommunizierbares Vorstellungsbild; auch der von Paul Kirchhof kreierte13, im Maastricht-Urteil des Bundesverfassungsgerichts offiziell in den Sprachschatz des Verfassungsrechts eingeführte Begriff des „Staatenverbundes“14 bleibt konturlos. Hier ist die Wissenschaft gefragt. Langsam etabliert sich die Europawissenschaft als neue, interdisziplinär angelegte Disziplin15, aber auch sie hat noch keine überzeugende Antwort entwickelt. Wenn die Europäische Union, wie Walter Hallstein sagte, eine „Rechtsgemeinschaft“ ist, kommt jedenfalls auch der (Europa-)Rechtswissenschaft ein wesentlicher Anteil an der Erklärung dafür zu, was diese Union ist. Von Bedeutung und auch ein spezifisches Problem ist dabei die Besonderheit der europäischen Integration als Aufgabe und Prozess: Die Union ist nicht statisch, sondern auf dynamische Entwicklung und entwicklungsoffen angelegt. In den 50 Jahren der europäischen Einigung hat sich die EG von 9 Siehe aber das große interdisziplinär angelegte Werk von G.F. Schuppert, Staatswissenschaft, 2003, sowie den neuen Versuch der Aktualisierung bei A. Voßkuhle, Die Renaissance der „Allgemeinen Staatslehre“ im Zeitalter der Europäisierung und Internationalisierung, JuS 2004, 1 ff. 10 G. Jellinek, Die Lehre von den Staatenverbindungen, 1882 (Nachdruck 1996, hrsgg. von W. Pauly). Aufschlussreich auch die Einführung von W. Pauly, ebd., S. VII, der die EU als Sonderfall einer internationalen Organisation behandelt (ebd., S. XXIV), aber im „Staatenverbund“, wie das Bundesverfassungsgericht ihn sieht, möglicherweise auch nur eine „Übergangsfigur“ in Richtung Bundesstaatlichkeit sieht und einstweilen von einem „status mixtus“ ausgeht (ebd., S. XXVI). 11 A. v. Bogdandy, Die Verfassung der europäischen Integrationsgemeinschaft als supranationale Union, in: ders. (Hrsg.), Die Europäische Option, 1993, S. 97 (119); siehe auch ders., Supranationaler Föderalismus als Wirklichkeit und Idee einer neuen Herrschaftsform. Zur Gestalt der Europäischen Union nach Amsterdam,1999, S. 61 ff. 12 Krit. A. v. Bogdandy, Beobachtungen zur Wissenschaft vom Europarecht – Strukturen, Debatten und Entwicklungsperspektiven der Grundlagenforschung zum Recht der Europäischen Union, Der Staat 40 (2001), S. 3 (10): „. . . nur eine Floskel, die klassifikatorische Impotenz maskiert.“ 13 P. Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozess der europäischen Integration, in: HStR VII, 1. Aufl. 1992, § 183 Rn. 38, 50 ff., 69. Siehe zudem ders., Die rechtliche Struktur der Europäischen Union als Staatenverbund, in: A. v. Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, S. 893 ff., sowie zuletzt ders., The Legal Structure of the European Union as a Union of States, in: A. v. Bogdandy / J. Bast (Hrsg.), Principles of European Constitutional Law, 2005, § 18 (S. 765 ff.). 14 BVerfGE 89, 155 (181, 188 ff.) – Maastricht. 15 Vgl. Schuppert / Pernice / Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft (FN 2).

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der Wirtschaftsgemeinschaft zur politischen Union entwickelt. Sie ist, anders als der Staat, schon im Ansatz kein festes, klar umrissenes Objekt, kein kohärenter und zeitloser Normkörper16. Zu ihrer Beschreibung können folglich staatsrechtliche Begriffe und Figuren auch nicht ohne weiteres auf sie übertragen werden17. Die Europäische Union hat darüber hinaus, anders als der Staat, einen pluralistischen, nicht hierarchischen, dialogischen Charakter18. Mit ihr löst sich das Recht vom Staat und damit vom Gewaltmonopol, wenngleich es das Gewaltmonopol der Mitgliedstaaten zu seiner Durchsetzung in Anspruch nimmt19. Es entsteht eine neue Form politischer und rechtlicher Herrschaft, die allein auf der Autorität des Rechts, auf Freiwilligkeit beruht; es fehlt die eigene Durchsetzungsmacht20. Damit wird eine grundlegende Neudefinition des Rechts erforderlich21. Anders, jedenfalls mehr als die Staatsrechtslehre, hat die Europarechtswissenschaft also die spezifische Aufgabe, ihren Gegenstand erst einmal zu erläutern und auf einen Begriff zu bringen: Was ist die Europäische Union, was ist ihr Recht und wie funktioniert sie? b) Verfassung, Struktur und Funktionsweise der Europäischen Union: Eng mit dem Begriff der Europäischen Union im Zusammenhang steht die Erklärung ihrer Verfassung, ihrer Struktur und Funktionsweise. Es geht um die dogmatische Einordnung und Erläuterung des Primärrechts, in Abgrenzung vom und im Verhältnis zum innerstaatlichen Recht. Während das Grundgesetz als legitime Verfassung der Bundesrepublik Deutschland anerkannt ist, bedarf die Qualifizierung des europäischen Primärrechts als (Komplementär-)Verfassung besonderer Begründung. Es ge16 U. Haltern, Europarecht, 2005, S. 5; A. v. Bogdandy, Europäische Prinzipienlehre, in: ders. (Hrsg.), Verfassungsrecht (FN 13), S. 149 (152), bezeichnet das Europarecht als „normativen Dschungel“. 17 v. Bogdandy, Beobachtungen (FN 12), S. 34 ff.; ders., Zur Übertragbarkeit staatsrechtlicher Figuren auf die Europäische Union – Vom Nutzen der Gestaltidee supranationaler Föderalismus anhand des Demokratieprinzips, in: FS Peter Badura, 2004, S. 1033 ff. (1034). Siehe auch unten FN 23. 18 v. Bogdandy, Beobachtungen (FN 12), S. 37. 19 Die bundesstaatliche Deutung meines Ansatzes, in dem ich die nationalen Behörden beim Vollzug des europäischen Rechts in einer „agency-situation“ zur EG sehe (so v. Bogdandy, Beobachtungen [FN 12], S. 27), beruht auf der missverständlichen Formulierung, sie seien „part of the European executive and exercising European authority“. Dies war nur bildlich gemeint, formal bleibt es bei der auf Art. 10 EG gegründeten Rechtspflicht zum loyalen Vollzug, ohne Weisungs- oder gar Zwangsbefugnisse der europäischen Institutionen. Das gilt erst recht für die Gerichte, siehe dazu I. Pernice, Das Verhältnis europäischer zu nationalen Gerichten im europäischen Verfassungsverbund, 2006, S. 47 ff. 20 Siehe F. Mayer, Europa als Rechtsgemeinschaft, in: Schuppert / Pernice / Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft (FN 2), S. 429 (479 f.). 21 Vgl. v. Bogdandy, Beobachtungen (FN 12), S. 9, 13, 20; ders., Übertragbarkeit staatsrechtlicher Figuren (FN 17), S. 1043.

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hört also zu den Aufgaben der Europarechtswissenschaft, den Verfassungsbegriff bezogen auf Europa zu diskutieren22, Parallelen, aber auch Unterschiede zur Staatsverfassung aufzuzeigen und die Wechselwirkungen zwischen den Rechtsebenen zu erklären. Themen und Gegenstände des Europarechts sind auch hinsichtlich der institutionellen Ordnung und Verfahren zwar denjenigen des staatlichen Verfassungsrechts vergleichbar, doch sind sie auf die supranationale Ordnung bezogen und damit von ihm verschieden: Das Europäische Parlament ist nicht (allein) Gesetzgeber, die Kommission nur sehr eingeschränkt Exekutive, sondern weitgehend Initiator der Gesetzgebung, während Exekutivgewalt auch beim Rat und vor allem bei den Mitgliedstaaten liegt, so wie der Rechtsschutz primär Sache der nationalen Gerichte ist. Es geht um das Verständnis und die kohärente Beschreibung und kritische Betrachtung der Institutionen, der Verbands- und Organkompetenzen, der Rechtsquellen und Normenhierarchie, der Handlungsformen und Beschlussverfahren, der demokratischen und föderalen Mitwirkung, des Rechtsstatus der Unionsbürger und des Grundrechtsschutzes – dies alles auch im Blick auf das innerstaatliche Verfassungsrecht und in Abgrenzung zu ihm23. c) Querschnittscharakter des Europarechts: Das Europarecht und damit der Gegenstand der Europarechtswissenschaft beschränkt sich nicht auf typische Gebiete des Verfassungs-, Verwaltungs- und Verfahrensrechts. Er erfasst auch das Privat- und neuerdings das Strafrecht. Beispiele sind das Beamten-, das Kartell- und Beihilfen-, das Regulierungs-, das Landwirtschafts- und Umweltrecht, das Lebensmittel- und das Zollrecht. Hier gibt es z. T. ausführliche europäische Regelungen des Verwaltungsverfahrens24. Zum Privatrecht gehören die Bestimmungen etwa über die Nichtigkeit bzw. Freistellung von Kartellvereinbarungen oder die Richtlinien zum Verbrau22 Vgl. dazu meinen Vorschlag eines „postnationalen“ Verfassungsbegriffs, Pernice, Verfassungsrecht (FN 4), S. 155 ff.; krit. C. Möllers, Verfassungsgebende Gewalt – Verfassung – Konstitutionalisierung, in: v. Bogdandy (Hrsg.), Verfassungsrecht (FN 13), S. 1 (19): „Die deutsche Verfassungsgeschichte kennt einen Konstitutionalismus ohne Nationalstaat und ohne verfassungsgebende Gewalt, ist also mit dem vermeintlich neuen Modell der postnationalen Verfassung pränational vertraut.“ 23 Vgl. im Einzelnen: R. Wahl, Erklären staatstheoretische Leitbegriffe die Europäische Union?, JZ 2005, S. 916 ff.; v. Bogdandy, Übertragbarkeit staatsrechtlicher Figuren (FN 17), S. 1034, 1043, der dies für den Begriff des Föderalismus und das Demokratieprinzip untersucht und die Übertragbarkeit unter Modifizierungen bejaht; siehe auch: ders., Beobachtungen (FN 12), S. 10; ders., Skizzen einer Theorie der Gemeinschaftsverfassung, in: T. v. Danwitz u. a., Auf dem Wege zu einer Europäischen Staatlichkeit, 1993, S. 9 ff. (11); ders., Prinzipienlehre (FN 16), S. 149 ff.; P. Dann, Überlegungen zu einer Methodik des europäischen Verfassungsrechts, in: V. Becker u. a., Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, S. 161 ff. (180 ff.). Dagegen J. Shaw / A. Wiener, The Paradox of the „European Polity“, in: M. G. Cowles / M. Smith (Hrsg.), State of the European Union 5: Risks, Reform, Resistance and Revival, 2000, S. 64 ff., die den „touch of stateness“ kritisieren. 24 Vgl. die Kartellverordnung (VO 1 / 2003), die Verordnung über das Beihilfeverfahren (VO 659 / 1999) sowie den Zollkodex (VO 2913 / 92).

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cherschutz-, zum Gesellschafts- oder zum Arbeitsrecht. Das „europäische Privatrecht“ entwickelt sich zu einer neuen Teildisziplin des Europarechts25. Das Strafrecht wird u. a. mit der als Richtlinie vorgeschlagenen, als Rahmenbeschluss ergangenen, vom Gerichtshof deswegen aber aufgehobenen Regelung zum Umweltstrafrecht berührt26, aber auch durch die Rahmenbeschlüsse nach der Dritten Säule27. Selbst wenn Richtlinien und schon gar europäische Rahmenbeschlüsse auch im Privat- und Strafrecht grundsätzlich keine unmittelbar anwendbaren Vollregelungen enthalten, muss sich die Europarechtswissenschaft doch damit befassen, um Orientierungshilfen für die innerstaatliche Umsetzung und Rechtsanwendung zu geben. Europarecht und damit auch die Wissenschaft dazu sind jedenfalls nicht auf das öffentliche Recht beschränkt. d) Bestimmung der Grenzen des Europarechts? Die Rechtsprechung des EuGH zeigt, dass die Kompetenzordnung der EG allein nicht dazu geeignet ist, den Gegenstand der Europarechtslehre zuverlässig zu definieren. Schon die finale Formulierung etlicher Kompetenzzuweisungen bereitet Probleme der Abgrenzung28. Hinzu kommt aber die unmittelbare Wirkung bestimmter Normen des Primärrechts: Wo das Europarecht nicht über aktive Rechtsetzung, sondern mittels primärrechtlicher Verbotsvorschriften gewissermaßen „negativ“ integriert, erfasst der Anwendungsbereich des Europarechts alles, was die Wirksamkeit etwa einer Grundfreiheit oder eines Diskriminierungsverbots beschränken kann29. Ein besonders folgenreiches Beispiel dafür bietet Art. 12 EG. Von Anfang an in den Verträgen enthalten, ist das Diskriminierungsverbot in den letzten fünfzig Jahren in Abhängigkeit vom jeweiligen Umfang des Anwendungsbereichs des EG-Vertrags in immer neue Rechtsgebiete „hineingewachsen“, bis hin in den Bereich des Sozialrechts30. Auch das berühmte Urteil in der Sache Kreil zur Gleichstel25 Siehe etwa die seit 1993 von J. Basedow, U. Blaurock, A. Flessner, R. Schulze und R. Zimmermann herausgegebene eigene „Zeitschrift für europäisches Privatrecht“ (ZeuP). 26 Rahmenbeschluss 2003 / 80 / JI des Rates vom 27. 01. 2003 über den Schutz der Umwelt durch das Strafrecht. Dazu EuGH, Rs. C-176 / 03 – Umweltstrafrecht. Kritisch dazu M. Heger, Anmerkung zu EuGH Urteil C-176 / 03 v. 13. 09. 2005, JZ 2006, S. 310 ff. 27 Vgl. hierzu BVerfGE 113, 273 – Darkazanli; im Vorfeld: I. Pernice, Die horizontale Dimension des Europäischen Verfassungsverbundes. Europäische Justizpolitik im Lichte von Pupino und Darkanzali, in: FS Jürgen Meyer, 2006, S. 359 ff. Zum Europäischen Strafrecht gibt U. Sieber seit 1993 eine Schriftenreihe unter dem Titel „Ius Criminale“ heraus; auch zur Gründung der Vereinigung für Europäisches Strafrecht e.V., siehe etwa Bd. 1: ders. (Hrsg.), Europäische Einigung und Europäisches Strafrecht, 1993. 28 Vgl. dazu auch A. v. Bogdandy / J. Bast, Die vertikale Kompetenzverteilung in der Europäischen Union, EuGRZ 2001, S. 441 (446). 29 Krit. daher P. Steinberg / R. Kanitz, Grenzenloses Gemeinschaftsrecht? Die Rechtsprechung des EuGH zu Grundfreiheiten, Unionsbürgerschaft und Grundrechten als Kompetenzproblem, EuR 2003, S. 1013 ff. 30 Man denke nur an die Entwicklung der EuGH-Rechtsprechung zu studienbezogenen Gebühren und Sozialleistungen: von EuGH Rs. 293 / 83 – Gravier, Slg. 1985,

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lung der Soldatinnen31 hat für einige Überraschung gesorgt32, wobei die Anwendung der betreffenden Richtlinie auf den Soldatenberuf im Nachhinein durchaus selbstverständlich erscheint. Läuft das Europarecht also gewissermaßen „quer“ zum gesamten innerstaatlichen Recht, so tritt es doch nicht an seine Stelle. Eine besondere Aufgabe der Europarechtswissenschaft ist es, die Mechanismen und Reichweite der Überlagerung, Ergänzung, Prägung des nationalen Rechts durch europäische Vorgaben transparent zu machen und dogmatisch einzufangen. 2. Entwicklung einer europarechtlichen Dogmatik und Methodik

Die juristische Dogmatik ist in Deutschland eine, wenn nicht die zentrale Aufgabe der Rechtswissenschaft33. Es geht darum, über Begriffe, Prinzipien und Methoden der Auslegung das geltende Recht als System verständlich zu machen und damit Rationalität, Rechtssicherheit, vielleicht auch ein Stück mehr Akzeptanz und Gerechtigkeit zu gewährleisten. Welches aber ist der Stellenwert der Dogmatik im Europarecht? Kann es angesichts des grenzüberschreitenden Charakters sowie der Vielfalt der Ausgangsrechtsordnungen und Rechtskulturen in den Mitgliedstaaten überhaupt eine einheitliche Dogmatik des Europarechts geben? Und was folgt aus dieser Vielfalt für die Methodenfrage? a) Stellenwert einer Dogmatik im Europarecht: Das Gemeinschaftsrecht wird vom Gerichtshof in Luxemburg seit 1963 als eigenständige Rechtsordnung bezeichnet34. Wenn es überhaupt – wie wir in Deutschland anzunehmen geneigt sind – einer Dogmatik bedarf, spricht diese Eigenständigkeit des Europarechts dafür, dass die Wissenschaft auch eine eigenständige europarechtliche Dogmatik entwickelt. 593, Rn. 14 – 25, über EuGH Rs. 197 / 86 – Brown, Slg. 1988, 3205, Rn. 14 – 19, und EuGH Rs. C-184 / 99 – Grzelczyk, Slg. 2001, I-6193, Rn. 34 – 36, bis hin zu EuGH Rs. C-209 / 03 – Bidar, Slg. 2005, I-2119, Rn. 37 – 48. 31 EuGH Rs. C-285 / 98 – Kreil, Slg. 2000, I-69. 32 Vgl. etwa R. Streinz, Frauen an die Front, DVBl. 2000, S. 185 ff.; R. Scholz, Frauen an die Waffe kraft Europarecht?, DÖV 2000, S. 417 ff.; T. Sieberichs, Nochmals: Waffeneinsatz von Frauen bei der Bundeswehr, NJW 2000, S. 2565 f. 33 Vgl. dazu C. Möllers, Methoden, in: W. Hoffmann-Riem / E. Schmidt-Aßmann / A. Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band 1, 2006, § 3 Rn. 35: „Dogmatik, verstanden als die Entwicklung von normativen Instituten und Sinnzusammenhängen, die auf der Grundlage des positiven Rechts entwickelt werden, die aber nicht vom Bestand einzelner Rechtssätze abhängen, steht einer weit verbreiteten Ansicht zufolge im Zentrum der Rechtswissenschaft. Dogmatik scheint die rechtswissenschaftliche Methode par excellence zu sein“. In Möllers Augen dagegen ist sie „eher das Gemeinsame – die Schnittmenge – von praktischer Rechtsanwendung und Rechtswissenschaft“ (ebd.); „Von der Dogmatik zu unterscheiden, wenn auch nicht zu trennen ist der Anspruch auf Systematik oder Systembildung“ (Rn. 35). 34 EuGH Rs. 26 / 62 – Van Gend & Loos, Slg. 1963, 1 (Ls. 3 und S. 24 f.); siehe auch EuGH Rs. 6 / 64 – Costa / ENEL, Slg. 1964, 1253 (Ls. 3 u. S. 1269); EuGH Rs. 11 / 70 – Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125, Rn. 3.

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Angesichts des komplementären, fragmentarischen Charakters des Gemeinschaftsrechts, der Unklarheit zahlreicher Bestimmungen des Primärrechts und des eher sporadischen, unsystematischen Charakters des Sekundärrechts ist der Bedarf an dogmatischer Fügung und Ergänzung hier besonders hoch. In erster Linie ist es allerdings die Rechtsprechung des EuGH, zunehmend auch die des Gerichts erster Instanz (EuG), aus der man zum Bestand des geltenden Rechts und zum Verständnis der einzelnen Bestimmungen Orientierung zu finden sucht. Prominente Beispiele sind die prätorische Entwicklung des Grundrechtsschutzes und die Auslegung der Art. 28 / 30 EG zur Freiheit des Warenverkehrs und ihren Grenzen. Ein Bemühen des Gerichtshofs um systematisierende Dogmatik ist hier indessen kaum zu erkennen. Der Gerichtshof bildet und verwendet Begriffe und Argumentationsfiguren, die in einzelnen Rechtsordnungen bekannt, ihnen entlehnt, in anderen unbekannt sind: Vorrang, Institutionelles Gleichgewicht, effet utile, Verhältnismäßigkeit, Wesensgehalt, Konformauslegung etc. Ihre Bedeutung und jeweilige Systemstelle zu erarbeiten, ist Aufgabe der Europarechtswissenschaft. Das Bemühen, hier ergänzend, vielleicht auch orientierend einzuspringen, zeigt sich in der Fülle systematischer Lehrbücher zum Europarecht, angefangen mit dem Klassikerwerk Hans-Peter Ipsens von 1972 bis hin zu neueren englischsprachigen Werken zum „European Constitutional Law“35. Vergleicht man sie, so sind sie sehr verschieden, in Aufbau, Ansatz und Darstellungsweise. Dass es eine einheitliche Dogmatik gäbe oder auch nur ein Bemühen darum, ist nicht zu erkennen. Für die Kohärenz und Verlässlichkeit des Rechts aber und auch die Einheitlichkeit seiner Anwendung wäre sie von Nutzen. b) Vielfalt der Rechtskulturen und Einheit der Dogmatik: Wie aber soll es eine einheitliche Dogmatik des Europarechts geben, wenn doch die Systeme und Grundverständnisse des Rechts in den jetzt 27 Mitgliedstaaten hochgradig verschieden sind? Augenfällig sind nicht nur die Gegensätze zwischen dem anglo-amerikanischen common law und dem kontinentalen System, wo das richterliche Präjudiz nicht bindend ist, sondern nur Gegenstand und Orientierung der Dogmatik36. Auch die sehr unterschiedlichen historischen Bedingungen, unter denen die nationalen Rechtssysteme sich entwickelt haben, erklären, warum derselbe Begriff für die verschiedenen Kultur- und Bevölkerungskreise ganz unterschiedliche Bedeutung haben kann. Paradebeispiel ist das Wort „föderal“: Bei uns wird es im Sinne von 35

Vgl. etwa K. Lenaerts / P. V. Nuffel, European Constitutional Law, 2. Aufl. 2005. Zum Unterschied vgl. näher F. Müller / R. Christensen, Juristische Methodik, Bd. II Europarecht, 2003, S. 235 ff.; zur Bedeutung von Präjudizien als Ausgangspunkt der Normbildung siehe auch I. Pernice, Billigkeit und Härteklauseln im öffentlichen Recht, 1991. Ein Beispiel für die aus dem Präjudizienrecht folgende Methode auch in der Lehre ist das Buch von S. Weatherill, Cases & Materials on EU Law, 7. Aufl. 2006. 36

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Autonomie und Bürgernähe geradezu idealisiert, bei den Briten ist das „f-word“ Synonym für Zentralisierung und Autonomieverlust. Aber auch Wert und Bedeutung eines Grundrechtskatalogs wird, so zeigt die aktuelle Debatte um die Verfassung für Europa, in beiden Ländern völlig gegensätzlich beurteilt37. Die Antwort auf die Frage der einheitlichen Dogmatik muss differenziert ausfallen: Wenn die Gleichheit vor dem Gesetz auch auf der europäischen Ebene für alle Betroffenen nicht nur als grundrechtliches Postulat, sondern auch als Voraussetzung der Akzeptanz und Geltung des Rechts europaweit gilt, ist eine Verständigung über den Inhalt der Norm unerlässlich. Das Instrument, welches der Vertrag vorsieht, um insofern die einheitliche Rechtsanwendung gemeinschaftsweit sicherzustellen, ist der richterliche Dialog nach Art. 234 EG. Ihn muss ein kritischer europaweiter rechtswissenschaftlicher Dialog unterstützen und begleiten, mit dem Ziel der Verständigung über den Inhalt der Normen und Begriffe und ihren Platz im System. Werden gemeinsame Begriffe und dogmatische Figuren aber auf europäischer Ebene unter Gerichten und Experten auch noch so sorgfältig erarbeitet, können sie aufgrund des unterschiedlichen Bodens, auf den sie in den nationalen Rechtskulturen fallen, doch zu völlig verschiedenen Lösungen führen. Eine wirklich einheitliche Anwendung des Gemeinschaftsrechts setzt folglich u.U. auf der innerstaatlichen Ebene statt formaler Gleichheit eine differenzierende Umsetzung voraus. Darin liegt der besondere Effizienzgewinn der zweistufigen Rechtsetzung durch Richtlinien nach Art. 249 Abs. 3 EG, wenn die europarechtliche Vorgabe sachgerecht in das innerstaatliche Begriffs- und Rechtssystem umgesetzt wird. Dies ist aber auch der Grund, warum der Gerichtshof nach Art. 234 EG den ihm vorgelegten Fall des innerstaatlichen Gerichts nicht selbst entscheidet, sondern darauf beschränkt ist, dem Gericht die aus europäischer Sicht maßgebenden Auslegungsgesichtspunkte an die Hand zu geben, damit es vor Ort, für die Betroffenen in ihrer Sprache, gemäß ihren Rechtserwartungen nachvollziehbar und (einzelfall-)gerecht urteilen kann. Europarechtswissenschaft muss diese „Einheit in Vielfalt“ daher dogmatisch so ins Werk setzen, dass um der materiellen Gleichheit und Einheitlichkeit der Rechtsanwendung willen sowohl horizontal Verständigung möglich als auch vertikal nötigenfalls eine differenzierte und damit im Ergebnis äquivalente Umsetzung der erarbeiteten Begriffe und Konzepte passend für das jeweils betroffene nationale Rechtssystem erreicht wird.

37 Vgl. dazu etwa Lord Goldsmith, A Charter of Rights, Freedoms and Principles, CMLRev 38 (2001), S. 1201 ff. (1214 f.); siehe auch Europäischer Konvent, Schlussbericht der Gruppe II „Einbeziehung der Charta / Beitritt zur EMRK“ vom 22. 10.2002, CONV 354 / 02.

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c) Problemstellungen einer europäischen Methodenlehre: Ist das Prinzip der Einheitlichkeit der Rechtsanwendung Funktionsbedingung der Gemeinschaftsrechtsordnung überhaupt38, so stellt sich als besondere Aufgabe für die Europarechtswissenschaft die Frage der Methoden der Auslegung und Anwendung ihrer Normen39. Nur gemeinsame Auslegungsmethoden können die Einheitlichkeit der Rechtsanwendung und damit Gleichheit und Rechtssicherheit gewährleisten. Das Problem stellt sich in besonderer Schärfe im europäischen Recht, denn sein Vollzug ist grundsätzlich Sache der nationalen Behörden und der Rechtsschutz ist primär Sache der innerstaatlichen Gerichte, wenn auch nach Art. 234 EG in Kooperation mit dem EuGH. Sie alle sind nicht nur nach Art. 10 EG an das Effektivitätsprinzip und das Diskriminierungsverbot gebunden40. Gravierende Fehlinterpretationen mit Verstoß gegen die Vorlagepflicht können sogar die Haftung des Mitgliedstaats für seine Gerichte auslösen41. Besondere Anforderungen sind an die Auslegung des Europarechts schon wegen der Vielsprachigkeit der Texte und des gleichen Rangs aller inzwischen 23 Amtssprachen (Art. 314 EG) gestellt, aber auch wegen der im Vertrag angelegten Entwicklungsdynamik und schließlich wegen des Zusammenspiels mit den verschiedenen nationalen Rechtsordnungen. aa) Das Sprachenproblem: Ersteres führt den Richter in den „unsicheren Raum zwischen verschiedenen Sprachen“42 – und Rechtskulturen. Der Blick auf andere Sprachversionen kann eine Hilfe bei der grammatikalischen Auslegung sein, er ist aber auch gemeinschaftsrechtlich geboten43. Schon die Rechtsvergleichung allgemein umschließt notwendig auch eine „Sprachenvergleichung“44. Im Europarecht speziell aber gilt das „principle of equal 38 In diesem Sinne zur Begründung des Anwendungsvorrangs vgl. EuGH Rs. 6 / 64 – Costa / ENEL, Slg. 1964, 1253 (Ls. 3); EuGH Rs. 11 / 70 – Internationale Handelsgesellschaft, Slg. 1970, 1125, Rn. 3 f.; EuGH Rs. 106 / 77 – Simmenthal II, Slg. 1978, 629, Rn. 13 ff.; und auch EuGH Rs. C-213 / 89 – Factortame I, Slg. 1990, I-2433, Rn. 17 ff.; vgl. auch Pernice, Verhältnis (FN 19), S. 22 ff. 39 Vgl. Müller / Christensen, Methodik (FN 36); siehe auch J. Anweiler, Die Auslegungsmethoden des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften, 1997, oder den „Leitfaden“ von W. Buerstedde, Juristische Methodik des Europäischen Gemeinschaftsrechts, 2006. Im Bezug auf das Internationale Privatrecht vgl. K. Riesenhuber (Hrsg.), Europäische Methodenlehre, 2006. 40 Richtungweisend EuGH Rs. 205– 15 / 82 – Milchkontor, Slg. 1983, 2633; aus neuerer Zeit vgl. EuGH Rs. C-453 / 00 – Kühne & Heitz, Slg. 2004, I-837. 41 EuGH – Rs. C-224 / 01 – Köbler; Slg. 2003, I-10239; aus neuerer Zeit vgl. EuGH Rs. C-173 / 03 – Traghetti del Mediterraneo, noch nicht veröff. 42 So Müller / Christensen, Methodik (FN 36), S. 23. 43 Ausdrücklich gefordert in EuGH Rs. 283 / 81 – CILFIT, Slg. 1982, 3415, Rn. 17: „. . . die Auslegung einer gemeinschaftsrechtlichen Vorschrift erfordert somit einen Vergleich ihrer sprachlichen Fassungen.“ 44 Zutreffend W. Kahl, Sprache als Kultur- und Rechtsgut, VVDStRL 65 (2006), S. 386 (454), zur zentralen Bedeutung der Rechtsvergleichung, „die stets zugleich auch Sprachenvergleichung ist“.

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multilingualism“45. Bei Übersetzungen von einer Sprache in die andere kann indessen keineswegs immer von demselben Bedeutungsgehalt eines Wortes ausgegangen werden. Je nach Kontext, der Einbettung in das betreffende Rechtssystem und kulturellen Rahmenbedingungen kann derselbe Begriff, wie erwähnt, unterschiedliche Vorstellungen und Erwartungen erzeugen46. Dem ist Rechnung zu tragen. Die Frage, nach welchen Methoden vorzugehen ist, um nicht nur die relevante Auslegung auf europäischer Ebene festzulegen47, sondern auch den adäquaten, d. h. funktionell äquivalenten Begriff im innerstaatlichen Recht, ist noch weitgehend ungeklärt. bb) Dynamik des Europarechts: Die Bedeutung der spezifischen Dynamik des Europarechts48 wird an der häufig verwendeten Formulierung des EuGH erkennbar, „beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts“ etwa sei es Sache der Mitgliedstaaten, rechtswidrige Geldleistungen nach ihrem jeweiligen Recht zurückzufordern49, oder sei angesichts der Besonderheiten des Elektrizitätsmarktes ein Verstoß gegen Art. 28 EG nicht festzustellen50. Dabei wäre es die Aufgabe der Europarechtswissenschaft, nicht nur die mögliche rechtliche Fortentwicklung der Integration und damit die zeitliche Dimension und Bedingtheit als Gesichtspunkt der Normauslegung zu artikulieren, sondern auch, wie Martin Morlok vorschlägt, die Dynamik konkreter an Kriterien festzumachen und ihr ggf. Grenzen zu setzen51. 45 Vgl. F. Mayer, The Language of the European Constitution – beyond Babel?, in: A. Bodnar / M. Kowalski / K. Raible / F. Schorkopf (Hrsg.), The Emerging Constitutional Law of the European Union – German and Polish Perspectives, 2003, S. 359 (363). Zur „faktischen Anerkennung“ der Sprache der Originalfassung des Rechtsakts oft als „führender Sprache“ durch die Generalanwälte siehe aber Kahl, Sprache (FN 44), S. 456, unter Berufung auf die Analyse von I. Schübel-Pfister, Sprache und Gemeinschaftsrecht, 2004, S. 289 ff., 320 f. Dass es „unpraktikabel ist, verschiedene sprachliche Fassungen von Gesetzestexten als gleichermaßen verpflichtende Urtexte zu betrachten und auf dieser Basis Recht zu sprechen“, zeigt auf linguistischer Basis überzeugend P. Braselmann, Übernationales Recht und Mehrsprachigkeit. Linguistische Überlegungen zu Sprachproblemen in EuGH-Urteilen, EuR 1992, S. 55 (59 ff.), mit der Empfehlung, zur bewährten Praxis im Völkerrecht zurückzukehren: „einer Urversion“ (S. 73 f.). 46 Zu den Sprachproblemen in der Praxis siehe die illustrative Darstellung Mayer, Language (FN 45), S. 372 ff. 47 Dass hierzu die systematische und vor allem die teleologische Auslegungsmethode zum Tragen kommen, betont Kahl, Sprache (FN 44), S. 456, mit Nachw. auch aus der Rspr. des EuGH (ebd., FN 284). 48 Siehe auch unten S. 248 bei FN 105 ff. 49 EuGH Rs. 205 – 215 / 82 – Milchkontor, Slg. 1983, 2633, und Rs. C-24 / 95 – Alcan, Slg. 1997, I-1591, etc. 50 EuGH Rs. C-379 / 98 – Preußen Elektra, Slg. 2001, I-2099, Rn. 72 ff., 81: „Nach alledem ist auf die dritte Vorlagefrage zu antworten, dass eine Regelung wie das geänderte Stromeinspeisungsgesetz beim gegenwärtigen Stand des Gemeinschaftsrechts auf dem Gebiet des Elektrizitätsmarkts nicht gegen Artikel 30 EG-Vertrag verstößt“. Allgemein: EuGH Rs. 283 / 81 – CILFIT, Slg. 1982, 3415, Rn. 20: „Schließlich ist jede Vorschrift des Gemeinschaftsrechts in ihrem Zusammenhang zu sehen und im Lichte des gesamten Gemeinschaftsrechts, seiner Ziele und seines Entwicklungsstands (!) zur Zeit der Anwendung der betreffenden Vorschrift auszulegen.“

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cc) Das europäische Recht als zusammengesetztes System: Eine weitere Anforderung an eine Methodenlehre im Europarecht ergibt sich daraus, dass im Europäischen Mehrebenensystem Normen der verschiedenen Rechtsebenen miteinander verbunden sind52. Dieser Verbundcharakter des Europäischen Rechtssystems schließlich äußert sich u. a. in der permanenten Wechselwirkung beider Verfassungsebenen53. Er zwingt nicht nur vertikal zur wechselseitigen Berücksichtigung der Bedeutung, die einem Begriff auf europäischer bzw. auf nationaler Ebene gegeben wird, sondern auch horizontal zum aufmerksamen Dialog zwischen Behörden und Gerichten, aber auch den Wissenschaftlern der verschiedenen Mitgliedstaaten54. Neben dem klassischen Kanon kommen daher nicht nur der Konformauslegung55 und der Figur des effet utile, sondern vor allem aber auch der Rechtsvergleichung56 und – zu den allgemeinen Rechtsgrundsätzen nach Art. 6 Abs. 2 EU bzw. Art. 288 Abs. 2 EG – der vom EuGH entwickelten Methode der wertenden Rechtsvergleichung sowie der zeitlichen Dimension und Bedingtheit jeder Norm in ihrem rechtlichen Kontext ganz besondere Bedeutung zu57. Konformauslegung und effet utile dienen der Verwirk51 M. Morlok, Möglichkeiten und Grenzen einer europäischen Verfassungstheorie, in: R. Lhotta / J. Oebbecke / E. Reh (Hrsg.), Deutsche und europäische Verfassungsgeschichte: Sozial- und rechtswissenschaftliche Zugänge, 1997, S. 113 ff. (119 f.). 52 Die Themen der Staatsrechtslehrertagung 2006 in Rostock spiegeln die Reichweite der Problemfelder wider: S. Kadelbach und C. Tietje, Autonomie und Bindung der Rechtsetzung in gestuften Rechtsordnungen, VVDStRL 66 (2007), S. 7 f. bzw. 45 ff.; E. Pache und Thomas Groß, Verantwortung und Effizienz in der Mehrebenenverwaltung, ebd., S. 106 ff. bzw. 152 ff.; C. Waldhoff und J. Hey, Finanzautonomie und Finanzverflechtungen in gestuften Rechtsordnungen, ebd., S. 216 ff. bzw. 277 ff.; sowie S. Oeter und F. Merli, Rechtsprechungskonkurrenz zwischen nationalen Verfassungsgerichten, Europäischem Gerichtshof und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte, ebd., S. 361 ff. bzw. 392 ff. 53 Dazu näher Schwarze, Einführung (FN 3), S. 13; Grabenwarter, Unionsverfassungsrecht (FN 3), S. 297 ff., 332 f. 54 So schon v. Bogdandy, Supranationaler Föderalismus (FN 11), S. 18: „Hier wird der Nationalstaat nicht ,nach oben‘, sondern ,zur Seite‘ zu anderen Mitgliedstaaten hin, porös“. In diesem Sinne weiterführend: Pernice, Dimension (FN 27). Aufschlussreich schon die Formulierungen in EuGH Rs. 283 / 81 – CILFIT, Slg. 1982, 3415, Rn. 16, wonach ein Gericht von der Offenkundigkeit einer bestimmten Auslegung nur ausgehen kann, „wenn es überzeugt ist, dass auch für die Gerichte der übrigen Mitgliedstaaten und den Gerichtshof die gleiche Gewissheit bestünde“. Die Notwendigkeit der vertikalen Berücksichtigung ist angedeutet, ebd., Rn. 19: „. . . Im Übrigen ist hervorzuheben, dass Rechtsbegriffe im Gemeinschaftsrecht und in den verschiedenen nationalen Rechten nicht unbedingt den gleichen Gehalt haben müssen.“ 55 Siehe hierzu schon EuGH Rs. 14 / 83 – Von Colson und Kamann, Slg. 1984, 1891, Rn. 26; EuGH Rs. C-106 / 89 – Marleasing, Slg. 1990, I-4135, Rn. 8; EuGH Rs. C334 / 92 – Wagner Miret, Slg. 1993, I-6911, Rn. 20; EuGH Rs. C- 91 / 92 – Faccini Dori, Slg. 1994, I-3325, Rn. 26, EuGH Rs. C- 240 / 98 bis 244 / 98 – Océano Grupo, Slg. 2000, I-4941, Rn. 30. Ausführlich: Müller / Christensen, Methodik (FN 36), S. 322 ff. 56 Näher m. w. N. Müller / Christensen, Methodik (FN 36), S. 305 ff. 57 Siehe hierzu K. M. Meessen, Zur Theorie allgemeiner Rechtsgrundsätze des internationalen Rechts: der Nachweis allgemeiner Rechtsgrundsätze des Europäischen Gemeinschaftsrechts, JfIR 17 (1975), S. 283 ff.

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lichung der Ziele von Vertrags- und insbesondere Richtlinienrecht, die Rechtsvergleichung – als fünfte Auslegungsmethode58 – ist nicht nur „exogen“ Verständnishilfe, Anregung und Lösungsreservoir, sondern im Europarecht auch systemintern Bedingung der Verständigung und der Einheit des Rechts59.

III. Methoden der Europarechtswissenschaft Der Selbststand einer Wissenschaft soll darin liegen, dass sie Maßstäbe systemimmanenter Kritik entwickelt60. Es geht um eigene, für sie spezifisch entwickelte Kriterien wissenschaftlicher Arbeit und Methoden. Dabei stellt sich die Methodenfrage der Europarechtswissenschaft selbst in anderer Weise als die Frage nach den Methoden der Auslegung und Anwendung des Rechts, die auf einer zweiten Ebene im Rahmen der Dogmatik betrachtet werden muss. Im Folgenden geht es lediglich um die selbstreflexive Frage der Methoden der Europarechtswissenschaft: Was zeichnet diese spezifisch aus? Unterscheiden sie sich von denjenigen der Wissenschaft des öffentlichen Rechts, des Staatsrechts, des Verwaltungsrechts? Und was folgt aus den Besonderheiten ggf. für den europäischen Wissenschaftsprozess?

1. Vergleichobjekt: Methoden der Staatsrechtswissenschaft

Die Frage nach den Methoden der Staatsrechtswissenschaft wird in der Literatur selten gestellt oder gar behandelt. Gibt es, wie Andreas Voßkuhle sagt, eine „Methodenmüdigkeit“61? Nach der Einführung der „juristischen Methode“ in den Staatswissenschaften durch Carl Friedrich von Gerber62 und der Fragmentierung der Staatswissenschaften in einzelne Disziplinen63 58 Grundlegend: P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat. Zugleich zur Rechtsvergleichung als „fünfter“ Auslegungsmethode, JZ 1989, S. 913 ff. 59 Jedenfalls für das Europarecht ist die Vergleichung insofern Teil der Auslegung und „endogen“, anders aber P. Dann, Überlegungen zu einer Methodik des europäischen Verfassungsrechts, in: Y. Becker u. a. (Hrsg.), Die Europäische Verfassung – Verfassungen in Europa, 2005, S. 161 (175 f.). 60 So v. Bogdandy, Beobachtungen (FN 12), S. 40. 61 A. Voßkuhle, Methode und Pragmatik im Öffentlichen Recht. Vorüberlegungen zu einem differenziert-integrativen Methodenverständnis am Beispiel des Umweltrechts, in: H. Bauer u. a. (Hrsg.), Umwelt, Wirtschaft und Recht, 2002, S. 171 (172). 62 Vgl. C.F. v. Gerber, Über öffentliche Rechte, 1852 (1968, unveränd. reprogr. Nachdr. d. Ausg. Tübingen 1913); ders., Grundzüge eines Systems des deutschen Staatsrechts, 1865 (2. Aufl. Leipzig 1869). Zur „‘Verwissenschaftlichung‘ des Verwaltungsrechts in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ vgl. M. Stolleis, Entwicklungsstufen der Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I (FN 33), § 2 Rn. 47 ff.

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war der bislang wichtigste Schnittpunkt vielleicht die Debatte der 70er Jahre um die (Wieder-)Einbeziehung der Sozialwissenschaften in das Öffentliche Recht. Der Richtungsstreit der Weimarer Zeit und die Diskussion um die Prinzipien der Verfassungsinterpretation64 können dagegen kaum als Beispiele für einen Methodenstreit der Staatsrechtswissenschaft selbst betrachtet werden. Der Richtungsstreit betrifft das Grundverständnis von Staat und Gesellschaft65, die Debatte um die Prinzipien der Verfassungsinterpretation die auf der zweiten Ebene betrachteten Auslegungsmethoden. Heute allerdings gibt es neue Überlegungen zur Methode der Wissenschaft vom öffentlichen Recht. Die Impulse kommen von der Europäisierung und Internationalisierung des nationalen Rechts. Den Worten von Rainer Wahl zufolge wird eine „zweite Phase des Öffentlichen Rechts“ in Deutschland eingeläutet66. „An die Stelle einer national introvertierten Norm- und Rechtsprechungsexegese tritt“, so Andreas Voßkuhle, „ein problemorientierter grenzüberschreitender Austausch von rechtlichen Argumenten, Lösungsansätzen und Erfahrungen“. Der Schwerpunkt verlagere sich „von der anwendungsbezogenen Interpretations- zur rechtssetzungsorientierten Entscheidungswissenschaft“67. Mit sieben Analyse-Ansätzen sucht er dem entgegenzutreten, was er an „Rationalitätsverlusten durch mangelndes Methodenbewusstsein“ diagnostiziert: Motivations-, Sachverhalts-, Bestands-, Alternativen-, Rahmen-, Begründungs- und Aktionsanalyse68. Allein: Sind damit die Methoden des Öffentlichen Rechts als Wissenschaft abgebildet, oder geht es um Methoden der Anwendung des öffentlichen Rechts? Mit welchen Methoden wurden diese Analyse-Ansätze entwickelt? Was ist hier die wissenschaftliche Methode der Staatsrechtswissenschaft? 63 Die Staatswissenschaften haben sich im 19. Jahrh. in einzelne Disziplinen aufgespalten. Diese Fragmentierung ist insbesondere aufgrund des sehr unterschiedlichen Staatsbegriffs in Rechts- und Politikwissenschaft sehr stark verfestigt und eine Wiederannäherung wird daher für schwer erreichbar gehalten, vgl. dazu und v. a. zur Bedeutung der Verfassungsgeschichte für die Staatslehre: R. Lhotta, Der Beitrag der Verfassungsgeschichte zur Einheit der Staatswissenschaften, in: ders. / Oebbecke / Reh (Hrsg.), Verfassungsgeschichte (FN 51), S. 163 ff. 64 Siehe insbes. H. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 1 ff.; richtungweisend auch K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 19 ff. 65 Siehe im Einzelnen M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Bd. III, 1999, S. 153 ff. 66 R. Wahl, Die zweite Phase des Öffentlichen Rechts in Deutschland, Der Staat 38 (1999), S. 495 ff.; F. Schoch, Die Europäisierung des Allgemeinen Verwaltungsrechts und der Verwaltungsrechtswissenschaft, DV, Beiheft 2 (1999), S. 135 ff.; vgl. zur Europäisierung auch Lhotta, Beitrag der Verfassungsgeschichte (FN 63), S. 165 ff. 67 Voßkuhle, Methode (FN 61), S. 178 ff. In Bezug auf das Verwaltungsrecht vgl. auch ders., Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I (FN 33), § 1 Rn. 15. 68 Voßkuhle, Methode (FN 61), S. 181 ff., 188 ff. Zur allgemeinen Staatslehre verwendet dieselben Ansätze Voßkuhle, Renaissance (FN 9), S. 5 f.

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Die „Eigenart der Staatsrechtswissenschaft“ behandelt Ernst-Wolfgang Böckenförde, und für ihn ist sie „als juristische Wissenschaft von ihrer Aufgabe her in besonderer Weise darauf angelegt, dogmatische Wissenschaft zu sein“69. Sie sei damit „an die Grunddogmata, d. h. die tragenden ethischrechtlichen und politisch-rechtlichen Prinzipien und Entscheidungen, durch die die Einheit des staatsrechtlichen Normgefüges vermittelt und von denen sie getragen wird, gebunden“70. Ist es aber nicht die Dogmatik, die diese Einheit erst erarbeitet und darstellt, wo kommen die Prinzipien her, die die „Grunddogmata“ ausmachen? Jedenfalls kann das Geforderte so für die Europarechtswissenschaft nicht gelten, denn das staatsrechtliche Normgefüge ist hier nicht maßgeblich. Unbestreitbar dürfte dagegen ein weiterer Anspruch sein: Die Staatsrechtswissenschaft erfordere einerseits „politische Bewusstheit“, verlange andererseits „die Bindung an eine gesicherte juristische Methode, die nach rationalen, intersubjektiv vermittel- und nachprüfbaren, insofern objektiven Kriterien und Standards argumentiert und daher nicht subjektiver Beliebigkeit oder wahlweisen Vorverständnissen offensteht“71. Welches diese Methode ist, bleibt indessen offen. Auch der Ertrag der Referate zum Thema der Hamburger Staatsrechtslehrertagung 2003: „Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung“ ist, bei allem Reichtum an sonstigen Gedanken, in der Methodenfrage gering: Dass die Staatsrechtslehre europäisiert und internationalisiert werden müsse, stellt Juliane Kokott fest72, während Thomas Vesting erst die „Verselbständigung des Europarechts gegenüber dem Staatsrecht“ beschreibt, dann aber im Blick auf „seine Rückwirkungen“ eine „Interdependenz und Kooperation zwischen verschiedenen Rechtsordnungen“ beobachtet und ein pluralistisch strukturiertes „neues Öffentliches Recht jenseits des Staates“ kommen sieht73. Die Methodenfrage wurde auch hier nicht artikuliert. Auch in den Überlegungen von Eberhard Schmidt-Aßmann zur Verwaltungsrechtswissenschaft geht es um etwas Anderes: Sein Thema sind Ordnungsidee und System im Verwaltungsrecht, dessen Erforschung auch als Steuerungswissenschaft zu verstehen sei; es geht ihm nicht um die metho69 E.-W. Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation – Bestandsaufnahme und Kritik, in: ders., Recht, Staat, Freiheit, 1991, S. 11 (20). 70 Ebd., S. 20. 71 Ebd., S. 26 f. 72 J. Kokott, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung, VVDStRL 63 (2004), S. 7 (35). 73 T. Vesting, Die Staatsrechtslehre und die Veränderung ihres Gegenstandes: Konsequenzen von Europäisierung und Internationalisierung, VVDStRL 63 (2004), S. 41 (48, 60, 66).

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dische Selbstreflexion. Bei allen wertvollen Einsichten zu den Herausforderungen an die moderne Verwaltungsrechtswissenschaft behandelt er zum Methodenthema doch nur die „Methoden administrativer Rechtskonkretisierung“74. Vielleicht gibt es wirkliche „Methoden“ der Wissenschaft im Staatsrecht gar nicht, sondern nur Versuche, aus den Rechtstexten, der Judikatur und dem Schrifttum Erkenntnisse über Zusammenhänge, Leitideen, ein System, Argumentationsmuster zu gewinnen. Allerdings könnte die Frage nach der Qualität öffentlich-rechtlicher Forschung, die Helmuth Schulze-Fielitz 2002 stellte75, ein Zugang zur Methodendiskussion sein. Aus den hier erwähnten Kriterien – Zitierweise, Stil und Stringenz, theoretischer Tiefgang, Innovation und Originalität der Begriffsprägungen, interdisziplinäre Transferleistungen oder Argumentationsniveau – wären methodische Regeln zu entwickeln. Solche Regeln freilich wären sehr allgemein und übergreifend, also für das Staatsrecht von gleicher Bedeutung wie für jedes andere Rechtsgebiet. Angesichts mancher Überlegungen zu diesen Grundsatzfragen in den vorangehenden Referaten76 möchte ich die Frage nach spezifischen Methoden der Staatsrechtslehre hier nicht weiter vertiefen. Jeder Staatsrechtslehrer wird sich Gedanken darüber machen und nach Möglichkeit seinen Schülern vermitteln, wie er seine Arbeiten aufbaut, seine Theorien aufstellt und prüft, seine Argumentation gestaltet. Gleichwohl stehen diese Fragen offensichtlich nicht im Mittelpunkt der aktuellen wissenschaftlichen Debatte unserer Disziplin.

2. Spezifische Methoden der Europarechtswissenschaft?

Damit aber wird die Frage nach der Eigenständigkeit der Europarechtswissenschaft gegenüber der Staatsrechtswissenschaft im Blick auf die Methoden schwierig. Die folgenden Überlegungen beschränken sich daher eher auf die abstrakte Frage, welche besonderen methodischen Anforderungen die Europarechtswissenschaft gegenüber anderen Bereichen der Rechtswissenschaften auszeichnen könnten77. Ansätze ergeben sich aus dem Verbund74 E. Schmidt-Aßmann, Das Allgemeine Verwaltungsrecht als Ordnungsidee. Grundlagen und Aufgaben der Systembildung, 2. Aufl. 2004, S. 1 ff., 18 ff., 26 ff., 29. 75 H. Schulze-Fielitz, Was macht die Qualität öffentlich-rechtlicher Forschung aus? JöR 50 (2002), S. 1 ff. 76 Vgl. insbesondere (in diesem Band): H. Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Wissenschaft: Dimensionen einer nur scheinbar akademischen Fragestellung, S. 11 (18 ff.); M. Morlok, Reflexionsdefizite in der deutschen Staatsrechtslehre, S. 49 (61 ff.); H. Dreier, Hans Kelsens Wissenschaftsprogramm, S. 81 (106 ff); H.-H. Trute, Staatsrechtslehre als Sozialwissenschaft?, S. 115 (125 ff.). 77 Wichtige Überlegungen hierzu finden sich bei Dann, Überlegungen (FN 59), S. 161 ff., 170 ff., mit der Unterscheidung der „drei Dimensionen der Analyse von Recht, nämlich Auslegung, Vergleichung und Systembildung“.

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charakter des Bezugssystems [dazu a)], aus der Originalität der europäischen Konstruktion [dazu b)] und aus der ihr immanenten Entwicklungsdynamik [dazu c.)]. Dass die Reflexion über die Methode selbst zu den Gegenständen auch der so verstandenen Europarechtswissenschaft gehört78, sei dabei nur am Rande bemerkt. a) Verbundcharakter des Bezugssystems: Bezugs- und Analyserahmen des Europarechts sind die Europäische Union und ihre Mitgliedstaaten, ein vertikaler und auch horizontaler Verbund formal getrennter Rechtsordnungen. Dieser Gegenstand fordert ein wissenschaftliches Vorgehen, in dem die Trennlinien zwischen den Ebenen sowie zwischen den Rechtskulturen durchlässig werden79. Wenn Armin von Bogdandy in seinen aufschlussreichen „Beobachtungen zur Wissenschaft vom Europarecht“ dagegen nicht nur eine „theoretische Abstinenz“ diagnostiziert, sondern auch als wesentlichen „Selektionsmechanismus“ bei der Verarbeitung von Literatur neben der Beschränkung auf rechtswissenschaftliches Schrifttum vor allem die zunehmende (!) „Konzentration auf muttersprachliche Publikationen aus dem Wissenschaftssystem des Verfassers“ hervorhebt80, so deutet das auf ein doppeltes Versagen. Diese Bedingungen deuten kaum darauf, dass alle nationalen Europarechtswissenschaften der jetzt 27 Mitgliedstaaten eine Methodenreflexion ihrer Wissenschaft überhaupt anstellen oder gar auf eine gemeinsame Methodenlehre hinstreben. Das Zusammenspiel der verschiedenen Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten als Elemente der europäischen Gesamtordnung erzwingt indessen gerade die Rechtsvergleichung81 als eine spezifische Notwendigkeit, hori78 In diesem Sinne auch für die Methodik des europäischen Verfassungsrechts Dann, Überlegungen (FN 59), S. 170. 79 Im Ansatz ebenso: Möllers, Methoden (FN 33), § 3 Rn. 31: „Für einen methodengerechten Umgang ist es unerlässlich, sich auch in die Perspektive anderer mitgliedstaatlicher Anwender zu versetzen, um die Ratio von Diskriminierungsverbot und Effektivitätsgebot zu verstehen. ( . . . ) Sind die methodischen Wirkungen des Europarechts insoweit hierarchisch-vertikaler Art, so zeigt sich nunmehr eine neue Phase horizontaler Verknüpfung, in der das Europarecht eine wechselseitige materielle Berücksichtigung anderer mitgliedstaatlicher Verwaltungspraxen anordnet; ein besonders weitgehendes Beispiel bieten die § 10 ff. TKG. Bei der Auslegung des deutschen Verwaltungsrechts ist insoweit auch die ausländische Verwaltungspraxis zu berücksichtigen.“ 80 v. Bogdandy, Beobachtungen (FN 12), S. 4, 6 ff.; siehe auch Mayer, Rechtsgemeinschaft (FN 20), S. 480: „. . . dass in den Mitgliedstaaten jeweils eigene, nahezu geschlossene Diskurskreise bestehen.“ 81 Zur Rechtsvergleichung grundlegend: V. Constantinesco, Rechtsvergleichung I – Einführung in die Rechtsvergleichung, 1971; ders. Rechtsvergleichung II – Die rechtsvergleichende Methode, 1972; ders., Rechtsvergleichung III – Die rechtsvergleichende Wissenschaft, 1983; P. Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992. Speziell für das öffentliche Recht vgl. S. Baer, Verfassungsvergleichung und reflexive Methode, ZaöRV 64 (2004), S. 737 ff.; R. Bernhardt, Eigenheiten und Ziele der Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, ZaöRV 24 (1964), S. 431 ff.; Häberle, Grundrechtsgeltung (FN 58); H. Krüger, Eigenart, Methode und Funktion der Rechtsvergleichung im Öffentlichen Recht, in: FS Martin Kriele, 1997, S. 1393 ff.; J. M.

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zontal zwischen den nationalen Rechtsordnungen und vertikal zwischen den Ebenen. Die Funktion geht dabei über die der reinen Erkenntniserweiterung hinaus: Im europäischen Verfassungsverbund ist die Rechtsvergleichung vielmehr Voraussetzung der Funktionsfähigkeit des Systems und bildet einen zentralen Pfeiler seiner Rechtsfortbildung und -entwicklung. Bei der Auslegung und Anwendung von Gemeinschaftsrecht und auf solchem beruhenden nationalen Recht ist insbesondere der horizontale Vergleich mit dem Recht und seiner Auslegung in den anderen Mitgliedstaaten erforderlich, damit sich tatsächlich ein gemeinsames, konvergentes Recht entwickeln kann. Ansätze hierzu gibt es durchaus. Auf der Grundüberlegung eines themenbezogenen horizontalen Vergleichs baut etwa der bottom up approach auf, den das „Ius Commune Casebook“-Projekt von Walter van Gerven verfolgt82. In eine ähnliche Richtung weist auch die Forderung von Miguel Poiares Maduro, die nationalen Gerichte und anderen Akteure sollten insbesondere wegen der gemeinsamen Grundprinzipien und -werte, die das Verfassungsrecht auf nationaler und europäischer Ebene prägen, mehr auf die Rechtsordnungen der jeweils anderen Mitgliedstaaten und die europäische Ebene eingehen. Die nationalen Gerichte sollten nach Maduro ihre Entscheidungen in „universal terms“ begründen und vergleichbare Urteile anderer Mitgliedstaaten berücksichtigen. Mit gemeinsamen Regeln für die Entscheidungsfindung könnten so trotz der unterschiedlichen zugrunde liegenden Rechtsordnungen kohärente Ergebnisse erzielt werden83. Unter dem Mössner, Rechtsvergleichung und Verfassungsrechtsprechung, AöR 99 (1974), S. 193 ff.; K.-P. Sommermann, Funktionen und Methoden der Grundrechtsvergleichung, in: D. Merten / H.-J. Papier (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte in Deutschland und Europa, Bd. I, 2004, S. 659 ff.; C. Starck, Rechtsvergleichung im öffentlichen Recht, JZ 1997, S. 1021 ff.; H. Strebel, Vergleichung und vergleichende Methode im öffentlichen Recht, ZaöRV 24 (1964), S. 405 ff.; R. Teitel, Comparative Constitutional Law in a Global Age, Harvard Law Review 2003 / 2004, 2570; G. Trantas, Die Anwendung der Rechtsvergleichung bei der Untersuchung des öffentlichen Rechts, 1998; M. Tushnet, The Possibilities of Comparative Constitutional Law, Yale Law Journal 108 (1998 / 1999), S. 391 ff.; B. Wieser, Vergleichendes Verfassungsrecht, 2005. Im Bezug auf das internationale Privatrecht vgl. A. Schwartze, Die Rechtsvergleichung, in: K. Riesenhuber (Hrsg.), Methodenlehre (FN 39), § 4 (S. 75 ff.). 82 Das Projekt ist eine Zusammenarbeit der Universiteit Maastricht und der Katholieke Universiteit Leuven mit dem Ziel, für jedes wichtige Rechtsgebiet ein Casebook herauszugeben, welches eine Sammlung von kommentierten und annotierten Rechtsvorschriften, Urteilen und Schrifttum enthält. Sie beziehen sich vorrangig auf die drei einflussreichsten Europäischen Rechtsordnungen, d. h. das deutsche, englische und französische Recht, und deren Wechselwirkungen mit dem durch die Europäische Union und den Europarat entstandenen Recht. Ausgewählte Materialien werden mit einer „bottom-up“ und funktionalistischen Methode analysiert, um die möglicherweise schon bestehende Konvergenz der europäischen Rechtsordnungen zu erörtern oder gegebenenfalls eine Bestandsaufnahme der vorhandenen Ähnlichkeiten und Unterschiede zwecks künftiger Annäherungsversuche zu skizzieren, vgl. z. B. W. v. Gerven (Hrsg.), Tort Law – Scope of Protection, 1998; zu dem Projekt im Internet: http: / / www.law.kuleuven.be / casebooks / german.php. 83 M. P. Maduro, Contrapunctual Law: Europe’s Constitutional Pluralism in Action, in: N. Walker (Hrsg.), Sovereignty in Transition, 2003, S. 501 ff. (526 ff.); ders., 16*

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Stichwort „principle of the best fit“ plädiert seinerseits Mattias Kumm dafür, die Normen im Europarecht stets auf der Basis der gemeinsamen Prinzipien und in der Weise auszulegen, die am besten der Verwirklichung der gemeinsamen Ideale von Union und Mitgliedstaaten dient84. Nach Martin Morlok können der Vergleich der nationalen Rechtsordnungen untereinander und dieser mit der europäischen Rechtsentwicklung, also die Kommunikation der Rechtsordnungen untereinander zu Reinterpretationen des nationalen und des europäischen Rechts führen, ja ggf. sogar zu legislatorischen Änderungen, die der Rechtsentwicklung aller Beteiligten dienlich sind85. Durch Rechtsvergleichung und mehr horizontalen Dialog könnten so eine wirkliche Europäische Rechtsgemeinschaft86, gemeineuropäisches Verfassungsrecht87, Einheit in der Vielfalt entstehen.88 Dabei reicht Rechtsvergleichung im klassischen Sinne nicht aus. Erst die Verständigung über Auslegungsmethoden, die theoretische Debatte über das sich neu formende Rechtssystem und vor allem der Austausch mit den Wissenschaftlern der anderen Mitgliedstaaten kann dazu führen, dass Europarecht als gemeinsames, einheitliches Recht verstanden und auch wirksam wird. Die Suche nach dem gemeinsamen Begriff, hinter dem eine gemeinsame Vorstellung, eine „Theorie“ steht89, die Erkenntnis von GesetzEurope and the Constitution, in: J. H. H. Weiler / M. Wind (Hrsg.), European Constitutionalism Beyond the State, 2003, S. 74 ff. (95 ff., 99 f.). 84 M. Kumm, The Jurisprudence of Constitutional Conflict: Constitutional Supremacy in Europe before and after the Constitutional Treaty, ELJ 11 (2005), S. 262 (286 ff.): „The task of national courts is to construct an adequate relationship between the national and the European legal order on the basis of the best interpretation of the principles underlying them both. The right conflict rule or set of conflict rules for a national judge to adopt is the one that is best calculated to produce the best solutions to realise the ideals underlying legal practice in the European Union and its Member States.“; vgl. auch: A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, S. 325, die eine Parallelisierung der Rechtsprechungen als Lösung ansieht; weitergehend P. Kirchhof, Rechtsschutz durch Bundesverfassungsgericht und Europäischen Gerichtshof, in: D. Merten (Hrsg.), Föderalismus und Europäische Gemeinschaften, 1990, S. 109 ff. (110), der homogenere mitgliedstaatliche Verfassungen als Voraussetzung für eine Entschärfung des Konfliktpotentials ansieht. 85 Morlok, Verfassungstheorie (FN 51), S. 123. 86 Vgl. I. Pernice, Die Dritte Gewalt im Europäischen Verfassungsverbund, EuR 1996, S. 27 ff. (38 ff.). 87 Häberle, Verfassungsrecht (FN 1), S. 261 ff. 88 So nennt es M. Rosenfeld, Comparing Constitutional Review by the European Court of Justice and the U.S. Supreme Court, in: I. Pernice / J. Kokott / C. Saunders (Hrsg.), European Constitutional Law Network-Series Vol. 6 – The Future of the European Judicial System in a Comparative Perspective, 2006, S. 33 (61, 63). 89 Zur Bedeutung der Theorie hinter dem Begriff vgl. Möllers, Methoden (FN 33), § 3 Rn. 38: „Die Entwicklung neuer Begriffe ist eine zentrale Aufgabe der Rechtswissenschaft . . . Die vorherrschende Form der Begriffsbildung besteht in der Typisierung, also in der Entwicklung von komparativen Begriffen“. . . Ein Begriff bedürfe allerdings eines „theoretischen Unterbaus“, vgl. ebd., Rn. 39, mit Verweis auf R. Haller, Begriff, in: J. Ritter (Hrsg.), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, 1971, S. 780 (784 f.): „Erst eine Theorie macht aus einem Wort einen Begriff.“

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mäßigkeiten, Regeln, Systemstrukturen bleibt Stückwerk, wenn sie nicht im europaweiten Diskurs erfolgt, im Anschluss an und in der Auseinandersetzung mit Deutungsansätzen und Prägungen in den anderen Mitgliedstaaten und in den europäischen Institutionen: Der Rechtsgemeinschaft muss die „europäische Juristengemeinschaft“ korrespondieren90. b) Originalität der europäischen Konstruktion und interdisziplinäre Forschung: Soll der Rechtsvergleich hilfreich sein, ein wirkliches Verständnis der anderen Rechtsordnungen hervorbringen, so muss er schon allgemein über den Vergleich nur von Rechtsnormen hinaus gehen. Es muss der Vergleich von Rechts- und Gesellschaftsordnungen sein, von Regelungsmechanismen, Selbstverständnissen, von Traditionen und Rechtskulturen, von historischen Entwicklungen, von ökonomischen Ursachen und Zusammenhängen, also von Gesamtsystemen mitsamt ihrer politischen, historischen, ökonomischen und ideengeschichtlichen Hintergründe. Es bedarf eines interdisziplinären Austausches. Dies ist bei der Europarechtswissenschaft91 besonders wichtig, denn es geht um einheitliches Recht unter unterschiedlichen Geltungsbedingungen. Der interdisziplinäre Ansatz rechtfertigt sich indessen auch deswegen in besonderer Weise, weil die Europäische Union als Typus politischer Ordnung neuartig und daher in die bestehenden Begriffskategorien nicht einzuordnen ist. Mit ihr wird der Staat relativiert, aber nicht imitiert, sondern sie entwickelt sich als aliud politischer Ordnung zur Ergänzung staatlicher Wirksamkeit. Verständigung, zumal juristische Argumentation aber ist nur über Begriffe möglich, die in dem Sinne „anschlussfähig“ sind, dass sie beim Auditorium ein bestimmtes, möglichst dasselbe Vorstellungsbild erzeugen wie beim Autor. Wie man sich die europäische Konstruktion vorzustellen hat, bleibt weiterhin offen. Und der Klärungsbedarf betrifft nicht nur Europa, sondern auch die Mitgliedstaaten, die es tragen.

90 Vgl. Mayer, Rechtsgemeinschaft (FN 20), S. 480. Einen Schritt in diese Richtung geht bereits P. Häberle, Der europäische Jurist, JöR 50 (2002), S. 123 (139 f.), mit dem Stichwort „europäische Öffentlichkeit als ,Resonanzboden‘ für den europäischen Juristen“, wenn er hierzu Tagungen, „Treffen der europäischen Verfassungsrichter, europäische Juristenvereinigungen aller Art“ als Beispiele aufführt; siehe auch unten S. 250 f. bei FN 110 ff. 91 F. Snyder, New Directions in European Community Law, 1990, S. 1 ff., 12 ff. (15, 17, 30), der damit eines der wenigen juristischen Lehrbücher verfasst hat, welches politologische und ökonomische Aspekte in seine Darstellung des Gemeinschaftsrechts einbezieht und damit interdisziplinär arbeitet; zur Notwendigkeit interdisziplinären Arbeitens auch v. Bogdandy, Beobachtungen (FN 12), S. 6 f.; Dann, Überlegungen (FN 59), S. 175 f.; H.-P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, 1972, § 1 Rn. 1, S. 3; G.F. Schuppert, „Theorizing Europe“ oder die Überfälligkeit einer diziplinenübergreifenden Europawissenschaft, in: Schuppert / Pernice / Haltern (Hrsg.), Europawissenschaft (FN 2), S. 3 ff. (9, 17); Haltern, Europarecht (FN 16), S. 3 ff., 22 ff.; ders., Europarechtswissenschaft und ihre politisch-kulturellen Voraussetzungen, ZSE 2006, S. 364 (376 ff.); Morlok, Verfassungstheorie (FN 51), S. 124 ff., auch speziell zur Rolle der Wirtschaftswissenschaft.

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Hier kann der Rückgriff auf andere Disziplinen, der Dialog mit ihren Erkenntnissen helfen, um Begriffe wirklichkeitsgerecht zu variieren, zu modifizieren, zu ergänzen: Dass mit „Staat“ nicht der souveräne Nationalstaat des 19. Jahrhunderts gemeint sein muss, kann ein Blick in die Geschichte verdeutlichen, ebenso wie die Erfahrung der Bundesstaatlichkeit. Was Wettbewerb als System der Freiheit und der dezentralen Steuerung speziell für einen transnationalen Binnenmarkt bedeutet, was eine Wettbewerbsbeschränkung oder eine Beihilfe ist, lässt sich ohne Rückgriff auf Erkenntnisse der Ökonomie nicht beschreiben. Dem Verständnis des Zusammenwirkens europäischer und nationaler Akteure und der hierfür geltenden Normen im Mehrebenensystem dienen Modelle aus der Politikwissenschaft92. Interdisziplinäre Arbeit ist also unerlässlich, wenn es darum geht, das bestehende Begriffsinstrumentarium überwiegend staatsrechtlichen Ursprungs für die spezifisch europarechtlichen Phänomene einsetzbar und kommunizierbar zu machen, neu zu deuten und zu ergänzen, ohne ihre möglicherweise bleibende klassische Bedeutung zu verwässern oder gar sich dem Vorwurf des Missbrauchs auszusetzen93. Auch die Staatsrechtslehre ist zwar interdisziplinär geprägt94. Es gibt allerdings zumindest einen graduellen Unterschied, begründet in der Geschichte der deutschen Staatslehre einerseits und andererseits darin, dass die EU wegen ihres prozessualen, dynamischen Charakters in ihrer Entwicklung weit stärker als ein Staat von politischen Einflüssen abhängt95. Dabei ist interdisziplinäres Vorgehen im Sinne des „law in context“ in anderen Mitgliedstaaten teilweise verbreiteter als in Deutschland96. 92 Zur Bedeutung von Typen und Modellen gerade im Bereich des europäischen Verfassungsrechts siehe Dann, Überlegungen (FN 59), S. 184. 93 Die Bedeutung interdisziplinärer Arbeit bei der Begriffsbildung wird bislang nur ansatzweise ins Auge gefasst, so etwa bei Dann, Überlegungen (FN 59), S. 171, 175 ff. – Zur Kritik einer entfremdenden, ja missbräuchlichen Verwendung des Verfassungsbegriffs u. a. durch den Verf. siehe P. Kirchhof, Staatenverbund (FN 13), S. 896: „begriffliche Verheißung von Einheit und Demokratie“, und ebd., S. 897: „Schließlich ist dem Begriff der ,Verfassung‘ ein Legitimations- und Sympathiewert eigen, der dem Organisationsstatut der EU und der EG-Verträge mehr Glanz demokratischer Legitimation und rechtsstaatsähnlicher Geschlossenheit zusprechen soll“. – Dass es bei der Verwendung des Verfassungsbegriffs hierum gehe, beruht freilich auf einem staatsorientierten Verständnis von Verfassung, dessen Korrektur durch interdisziplinäre Anknüpfungen möglich werden sollte. Konzilianter die Kritik der Verwendung des Verfassungsbegriffs bei H. Hofmann, Zu Entstehung, Entwicklung und Krise des Verfassungsbegriffs, in: FS Peter Häberle, 2004, S. 157 (168 ff.), allerdings stellt er fest: „Solange keine irgendwie geartete Vorstellung eines ureigenen europäischen Geltungsgrundes des europäischen Rechts die Gemüter beherrscht, bleibt jede rechtliche Organisation Europas eine von den nationalen Einheiten abgeleitete, eine sekundäre Ordnung“ (ebd., S. 170), es fehle der „prinzipielle konstruktive Zusammenhang gemäß dem vernunftrechtlichen Sozialmodell“ (ebd., S. 171). 94 Vgl. nur Voßkuhle, Renaissance (FN 9); Lhotta, Beitrag der Verfassungsgeschichte (FN 63), S. 163 ff.; Morlok, Verfassungstheorie (FN 51), S. 127, hofft, dass die interdisziplinären Erfordernisse auf europäischer Ebene auch auf nationaler Ebene die Einheit der Staatswissenschaften befördern. 95 Vgl. auch Schuppert, „Theorizing Europe“ (FN 91), S. 8 f., 17 f.

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Das Recht muss also ganz besonders für Europa in den weiteren Kontext der Nachbarwissenschaften gestellt werden97, die Jurisprudenz muss sich der „Lebensganzheit des Rechts“ verpflichten und „philosophisch, historisch, soziologisch, ökonomisch . . . usw. informiert sein“98. Interdisziplinarität99 beruht dabei auf dem Willen, die Methoden und Konzepte des anderen wirklich zu verstehen, auf gemeinsamem Denken, gemeinsamen Diskussionen, gemeinsamer Forschung100. Dabei muss der Kommunikationsund Koordinationsprozess zwischen den einzelnen Disziplinen von einer losen Pluridisziplinarität hin zu einer auf gemeinsamer Terminologie, Methode und koordinierter Arbeitsteilung beruhenden Interdisziplinarität bzw. sogar Transdisziplinarität verdichtet werden101 – zu einer „Metaebene der Kommunikation“102. Dies schärft das Bewusstsein der Vorzüge und Gren96 Zum Ansatz des „law in context“ siehe insbesondere J.H.H. Weiler, The Constitution of Europe, 1999; ders., The Community System: The Dual Character of Supranationalism, Yearbook of European Law 1 (1981), S. 267 ff.; M. Cappelletti / M. Seccombe / J.H.H. Weiler (Hrsg.), Integration through Law, Vol. I, 1986; E. Stein, Lawyers, Judges and the Making of a Transnational Constitution, AJIL 75 / 1 (1981), S. 1 ff.; H. Rasmussen, On Law and Policy in the European Court of Justice, 1986; Snyder, New Directions (FN 91); den Ansatz verfolgt insgesamt die in Florenz herausgegebene Zeitschrift European Law Journal (ELJ), vgl. http: / / www.europeanlawjournal.com / aims.htm. 97 Dann, Überlegungen (FN 59), S. 175; Snyder, New Directions (FN 91), S. 1 f.; vgl. auch Häberle, Verfassungslehre (FN 1), S. 10 ff.; Haltern, Europarecht (FN 16), S. 22, beklagt die Vernachlässigung des Kontextes und kritisiert den formalistischen Rechtsdiskurs und die Ansicht, das Politische habe etwas Dynamisch-Irrationales, während der juristische Diskurs die höhere Rationalitätsvermutung besäße (S. 3 ff.). 98 Sog. „integrative Jurisprudenz“, A. Hollerbach, Laudatio auf Hasso Hofmann, in: H. Dreier (Hrsg.), Philosophie des Rechts und Verfassungstheorie, 2000, S. 9 ff. (22). 99 Allgemein hierzu: J. Kocka (Hrsg.), Interdisziplinarität, 1987; M. Käbisch, Interdisziplinarität, 2001; E. Schmidt-Aßmann, Zur Situation der rechtswissenschaftlichen Forschung, JZ 1995, S. 2 (7 ff.). 100 Schuppert, „Theorizing Europe“ (FN 91), S. 18; vgl. auch die Formulierung von Hollerbach, Laudatio (FN 98), S. 22: „nicht äußerlich-additiv oder formal-interdisziplinär, sondern mit dem Ziel, in einem fortwährenden Dialog ( . . . ) in der Weise des Hin- und Herwanderns des Blicks die vielfältigen Aspekte, Faktoren, Dimensionen und Horizonte zusammenzuführen und so sachhaltige juridische Aussagen zu ermöglichen und den Sinn von Normen und normativen Prinzipien in ihrer spezifischen Eigenart zu verstehen“. Natürlich gibt es auch Sprachschwierigkeiten bei der Kooperation von Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen, dazu näher die verschiedenen Beiträge etwa J. Kocka, Einleitung, in: ders. (Hrsg.), Interdisziplinarität (FN 99), S. 7 ff. (9), und es besteht auch das Problem der großen Masse an Publikationen im Europarecht, schon in den einzelnen Disziplinen, vgl. v. Bogdandy, Beobachtungen (FN 12), S. 3. 101 Haltern, Europarechtswissenschaft (FN 91), S. 365 f.; vgl. auch Morlok, Verfassungstheorie (FN 51), S. 127, der für eine systematische Theorieintegration plädiert, nicht im Sinne einer Verschmelzung der Wissenschaftsdisziplinen, sondern einer gemeinsamen Arbeit. 102 Schuppert, „Theorizing Europe“ (FN 91), S. 18; ders., Staatswissenschaft, 2003, S. 47; vgl. die Formulierung von J. Mittelstraß, Die Stunde der Interdisziplinarität, in: Kocka (Hrsg.), Interdisziplinarität (FN 99), S. 152 ff. (156), wonach die Interdisziplinarität „nicht zwischen den Disziplinen hin oder her schwebt“, sondern vielmehr Transdisziplinarität sei und die Einheit der Wissenschaft als Einheit der wis-

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zen der jeweiligen Betrachtungsweise und damit die Selbstreflexion103 und kann so zur Nutzung der „kollektiven Weisheit“ führen104. c) Die Entwicklungsdynamik der EU und ihre methodischen Konsequenzen: Besonderer Berücksichtigung bedarf schließlich die schon erwähnte Tatsache, dass die Europäische Union, anders als der Staat, als Prozess angelegt ist. Die Verträge – oder ihre Verfassung – enthalten ein „Integrationsprogramm“105, Ziel ist es nach der Präambel des EG-Vertrags, einen „immer engeren Zusammenschluss der europäischen Völker zu schaffen“. Den Institutionen sind Kompetenzen übertragen, damit sie dies schrittweise realisieren. Seit 1985 kommen Kompetenzen für flankierende und gemeinsame Politiken hinzu, soweit die Verwirklichung des Binnenmarktes sie erfordert oder ihre Ziele auf europäischer Ebene effektiver zu verwirklichen sind. Die Einführung der Wirtschafts- und Währungsunion war ein bedeutender, das Bild der Union und ihre Rechtsordnung insgesamt verändernder Schritt. Die intensive Zusammenarbeit auf den Gebieten Inneres und Justiz gibt der europäischen Politik eine weitere, neue Dimension. Die Intensivierung einer strukturierten Außen- und Sicherheitspolitik wird das Bild weiter verändern. Wissenschaftliche Arbeit im Europarecht muss diese Zeitdimension in den Blick nehmen, einschließlich der Ungleichzeitigkeit, welche in den Ausnahmeregelungen für einzelne Mitgliedstaaten oder den Verfahren der verstärkten Zusammenarbeit angelegt ist106. Begriffe, Dogmen, juristische Konstruktionen ändern sich mit der Verwirklichung der europäischen Politiken zunächst zwar kaum spürbar, plötzlich aber fällt auf, dass etwas nicht (mehr) stimmt. Die mit der Integration aufgrund der europäischen Verträge intendierte Verwirklichung, wie es in der Präambel des EU-Vertrags heißt, „einer immer engeren Union der Völker Europas“, durch sukzessive Änderungen, vor allem aber auch durch die Anwendung und Umsetzung der Verträge unterwirft das staatliche Recht, aber auch die reale Machtverteilung einem ständigen Wandel und bringen eingebürgerte Kategorien ins Wanken. Die Kategorien bedürfen der ständigen kritischen Überprüfung, wenn der rechtswissenschaftliche Diskurs nicht den Boden verlieren, nicht „an der Sache vorbei“ gehen soll. senschaftlichen Rationalität wiederherstelle. Die Erfolgsaussichten sind allerdings umstritten, vgl. Kocka, Einleitung (FN 100), S. 9. 103 A. Voßkuhle, Der „Dienstleistungsstaat“, Der Staat 40 (2001), S. 495 ff. (505). 104 Den Begriff „collective wisdom“ verwendet G. Rowe, Reflections on the Common Law – Relating It to the European Context, in: T. Beichelt u. a. (Hrsg.), EuropaStudien. Eine Einführung, 2006, S. 289 ff. (291), für die interdisziplinäre Methodik im Common Law. 105 So der Begriff in BVerfGE 89, 155 (187 f.) – Maastricht. 106 Grundlegend: D. Thym, Ungleichzeitigkeit und europäisches Verfassungsrecht, 2004, sowie ders., Supranationale Ungleichzeitigkeit im Recht der europäischen Integration, EuR 2006, S. 637 ff. Vgl. auch Dann, Überlegungen (FN 59), S. 183.

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Wissenschaftliche Arbeit im Europarecht muss sich auf diese Dynamik also einstellen, sie ist im System angelegt. Der Übergang vom Ansatz der negativen Integration zur positiven Integration spätestens seit der Einheitlichen Europäischen Akte oder die Einführung neuer Kompetenzen im Umweltbereich blieben nicht ohne Auswirkung auf die Auslegung auch der Vorschriften über den freien Warenverkehr. Mit neuen Zuständigkeiten der Union etwa zum Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts, künftig eventuell der Energiepolitik und insbesondere der Energiesicherheit verändert sich auch die Rolle der Institutionen, insbesondere der Kommission. Keine Norm des europäischen Rechts kann abstrakt als mit festliegendem Inhalt betrachtet werden, stets ist der sich wandelnde Kontext mit bei der Auslegung zu berücksichtigen. Teil des Systems ist auch das Staatsrecht. Es ist zu berücksichtigen, soweit es um die Ziele und Grenzen der europäischen Integration geht107. Die nationale Identität der Mitgliedstaaten, die von der Union gemäß Art. 6 Abs. 3 EU zu respektieren ist, findet ihren Niederschlag ganz besonders deutlich in den Grundsatzbestimmungen, z. T. auch in den Integrationsklauseln der mitgliedstaatlichen Verfassungen. Die europäische Integration ist mit ihrer Dynamik also nicht losgelöst von den Verfassungen der Mitgliedstaaten, auf denen sie aufbaut. Ihre grundlegenden Bestimmungen sind Teil des Kontextes, der bei der Auslegung des europäischen Rechts zu berücksichtigen ist. Die dynamische Entwicklung der Europäischen Union betrifft andererseits aber auch das nationale Recht, im Sinne einer fortschreitenden Europäisierung praktisch aller Rechtsbereiche. „Mitgliedstaat“ in der EU wird zunehmend etwas anderes sein, als was Staat im klassischen Sinne bedeutet. Seine Verfassung wird Teilverfassung108 im europäischen Verbund. Auch die Funktion der Regierung verändert sich, sie ist Hauptakteur der europäischen Legislative, den nationalen Parlamenten verantwortlich. Diese werden zunehmend auch europäische Kontroll- und hinsichtlich der Umsetzung von Richtlinien europäische Vollzugsorgane. Ihre Arbeit ist insofern durch die europäische Dimension geprägt, einschließlich der Notwendigkeit der horizontalen Rücksicht auf die Gesetzgeber der anderen Mitgliedstaaten. Anerkennungssysteme und europäische Netzwerke verbinden innerstaatliche Akteure horizontal. Verwaltung und Verwaltungsrecht müssen im Kontext eines europäischen Verwaltungsverbundes erfasst und begriffen 107 So nach Morlok, Verfassungstheorie (FN 51), S. 119 f., zur Aufgabe einer europäischen Verfassungstheorie. Insofern gehe es um die Koexistenz zweier Rechtsordnungen und damit die Integration von europäischer und nationalen Sichtweisen. Um dies zu verwirklichen sei es wichtig, die Außenbeobachtung in die eigene Sichtweise, die Selbstbeobachtung einzubeziehen; erst dann sei es wirklich eine Reflexion. Europaspezialisten müssten also die nationalen Interessen, Besonderheiten und Befindlichkeiten in die europäische Perspektive einbeziehen. 108 Siehe auch Häberle, Verfassungslehre (FN 1), S. 37 f., 221 ff.

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werden109. Die Bedeutung der Entwicklungen des europäischen, einschließlich des europa-ausländischen Rechts auf das innerstaatliche Recht und seine Auslegung als Teil des Gesamtsystems aufzuzeigen, gehört zu den zentralen Aufgaben der Europarechtswissenschaft. Die Dynamik der europäischen Integration hat zur Folge, dass Erkenntnisse sowohl über den Gegenstand, die Europäische Union, als auch über ihre Verfassung und ihr Sekundärrecht oft nur vorläufig sind. Die – wenn auch kritische – Beobachtung der fortschreitenden Rechtsetzung und auch der Rechtsprechung ist mitbestimmend für die Beurteilung einer Rechtsfrage zum jeweiligen Zeitpunkt. Was daraus für die Methodik der Europarechtswissenschaft folgt, ist noch weitgehend unklar. Über die bewusste Einbeziehung der Zeitdimension, der Veränderung des Rechts und seiner Begriffe hinaus wird der horizontale Seitenblick auf das Geschehen und die wissenschaftliche Analyse in anderen Mitgliedstaaten, ja die horizontale Kooperation zwischen den Akteuren in den Mitgliedstaaten ebenso wie die vertikale Kooperation mit den Institutionen der EU an Bedeutung gewinnen.

3. Ein europaweiter Wissenschaftsprozess

Europarechtswissenschaft kann aus all diesen Gründen nicht aus der nationalen Perspektive eines Mitgliedstaats allein betrieben werden, sondern sie muss stets im Dialog mit den anderen Mitgliedstaaten und ihren Rechtskulturen stehen, ja mit den europäischen Institutionen. Desiderat ist nach wie vor die „Europäisierung der national ausgerichteten Europarechtswissenschaften“, wie Armin von Bogdandy sie schon 2001 forderte110. Die scientific community wird notwendigerweise europäisch, wegen der vielfach hilfreichen distanziert-neutralen Außenperspektive zunehmend aber auch global. Was der französische, britische oder auch amerikanische Kollege zu einem Thema sagt oder schreibt, ist für den deutschen Europarechtler von großer Relevanz, weit mehr als für den Staatsrechtslehrer. Dieser nutzt den ausländischen Kommentator, den Rechtsvergleich als Anregung und Lösungsreservoir für nationale Rechtsfragen. Jener benötigt die ausländische Meinung und die Kenntnis der Verfassungs- oder Rechtslage der anderen Mitgliedstaaten unabdingbar, wenn er für das gemeinsame Europarecht adäquate Lösungen und Vorschläge entwickeln will. Entsprechend grenzüberschreitend muss sich der Wissenschaftsprozess organisieren. Beispiele wären die Tagungen der F.I.D.E., deren Nutzen freilich kritisch bewertet wird111, die seit drei Jahren tagende Societas Iuris 109 Schmidt-Aßmann, Das allgemeine Verwaltungsrecht (FN 74), S. 6, 31 – 41, in der Ausführung ebd., S. 377 ff.; siehe auch Pache, Mehrebenenverwaltung (FN 52), S. 107 ff. (111): „Informations-, Handlungs- und Kontrollverbund“. 110 v. Bogdandy, Beobachtungen (FN 12), S. 41. Zu seinen Beobachtungen ebd., S. 7.

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Publici Europae (SIPE)112 oder auch das European Constitutional Law Network (ECLN)113. Mit besonderer Reichweite auch für die Praxis entwickelt sich der Europäische Juristentag, der seine vierte Tagung 2007 in Wien abhält114. Auch das Europäische Hochschulinstitut in Florenz könnte diese Integrationsfunktion stärker übernehmen115. Der EuGH in seiner spezifisch europäischen Zusammensetzung und das in seinen Verfahren organisierte europaweite kommunikative System116 bilden daneben einen besonders wirksamen Kristallisationspunkt für wirklich europäische Lösungen in den Fragen, denen sich auch die Europarechtswissenschaft zu widmen hat.

IV. Ausblick Die Wissenschaft des öffentlichen Rechts und die des Europarechts berühren, ja überschneiden sich nach allem umso mehr, je deutlicher sich das Recht im Sinne von Thomas Vesting als übergreifendes, mehrdimensionales, pluralistisches System darstellt, in dem die Bezeichnung Staats- oder Europarecht nur eine Frage der Perspektive oder des Schwerpunkts ist. Von wirklich getrennten oder trennbaren Gegenständen kann dann nicht mehr gesprochen werden. Dennoch bleiben die spezifischen Rechtsfragen etwa der Struktur und des institutionellen Rechts der EU, der Kompetenzordnung, der Handlungsformen und Gesetzgebungstechnik bis hin zum materiellen Recht der Währungsunion, der Wettbewerbs- oder Agrarmarktordnungen, oder auch der Unionsbürgerschaft und der Grundfreiheiten wegen der Eigenarten der Dogmatik und der zu ihr führenden Methoden Gegenstand einer besonderen Wissenschaft. Ihre Arbeit gibt Anregung und Impulse für die korrespondierenden Disziplinen etwa des Staats- und Verwaltungsrechts, zunehmend aber auch des Privat- und des Strafrechts. Erst der Dialog der Fächer mit ihren je eigenen Perspektiven fördert allerdings die nötige Breite der Erkenntnisse zutage. Das schließt nicht aus, sondern setzt voraus, dass auch der deutsche Staatsrechtslehrer sich mehr und mehr als „europäischer Jurist“ fühlt117.

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Vgl. v. Bogdandy, Beobachtungen (FN 12), S. 8. Zur Geschichte und Tätigkeit vgl. H. Bauer, Entstehung und Entwicklung der Societas Iuris Publici Europaei. Zugleich ein Beitrag zur Europäischen Wissenschaft vom Öffentlichen Recht, in: FS Christian Starck, 2007, S. 485 ff. 113 Näheres auf der Webseite unter www.ecln.net. 114 Vgl. http: / / www.eujurist2007.at / . 115 Vgl. das Votum bei v. Bogdandy, Beobachtungen (FN 12), S. 42 f. 116 Siehe näher Pernice, Dritte Gewalt (FN 86), S. 33 ff., 38 ff. 117 Zum Begriff vgl. Häberle, Jurist (FN 90), S. 123 ff. 112

Was kann die deutsche Europarechtslehre von der Europarechtswissenschaft im europäischen Ausland lernen? Von Matthias Ruffert, Jena

I. Zur Fragestellung Was kann die deutsche Europarechtslehre von der Europarechtswissenschaft im europäischen Ausland lernen? Die Gegenfrage lautet: Muss sie das? Das gegenwärtige Defizit in der Diskussion um die europäische Integration ist kein wissenschaftliches, und schon gar kein rechtswissenschaftliches. Im Europäischen Verfassungsrecht liegen nicht nur zahlreiche Theoriekonzepte vor1, auch die Ergebnisse der bisherigen politischen Verfassungsdebatte in Gestalt des 2004 unterzeichneten Vertrages über eine Verfassung für Europa (VerfEU) sind – teilweise bis in die äußersten Verzweigungen – gerade in der deutschen Europarechtslehre umfassend analysiert worden2. Im Europäischen Verwaltungsrecht ist die deutsche Europarechtswissenschaft führend, von den Pionierarbeiten Jürgen Schwarzes, die jeder europäische Verwaltungsrechtler kennt3, über die Europäisierungsdiskussion der 1990er Jahre4 bis zur neueren Konzeption eines Europäischen Verwaltungsverbundes5. Die gegenwärtige Krisenstimmung, die auch die deutsche Europarechtswissenschaft erfasst, ist jedenfalls nicht durch sie verursacht, sondern Folge eines transnationalen, wenn nicht sogar gemeineuropäischen Politikversagens. 1 Siehe nur Anne Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001; Thomas Schmitz, Integration in der Supranationalen Union, 2001; Utz Schliesky, Souveränität und Legitimität von Herrschaftsgewalt, 2004; sowie den Sammelband von Armin von Bogdandy (Hrsg.), Europäisches Verfassungsrecht, 2003, und die Beiträge zur Staatsrechtslehrertagung 2002: Ingolf Pernice, Peter M. Huber, Gertrude Lübbe-Wolff und Christoph Grabenwarter, Europäisches und nationales Verfassungsrecht, VVDStRL 60 (2001), S. 148, 194, 246 bzw. 290; Diskussion S. 350 ff. 2 Siehe nur Christian Calliess / Matthias Ruffert (Hrsg.), Vertrag über eine Verfassung für die Europäische Union, 2006. 3 Jürgen Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, 1. Aufl. 1988, 2. Aufl. 2005; engl.: European Administrative Law, 1992; frz.: Droit administratif européen, 1994. 4 Siehe die Darstellung bei Matthias Ruffert, Die Europäisierung der Verwaltungsrechtslehre, Die Verwaltung 36 (2003), S. 293 (297 – 299). 5 Umfassend Eberhard Schmidt-Aßmann / Bettina Schöndorf-Haubold (Hrsg.), Der Europäische Verwaltungsverbund, 2005.

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Auch in der Selbstreflexion der Disziplin fallen die Defizite jedenfalls in Deutschland geringer aus als in anderen Bereichen des Öffentlichen Rechts. Dies gilt schon für den Grad der interdisziplinären Vernetzung. Ausgangspunkt der Europarechtslehre ist ein ökonomisches Konzept, durch Privatrechtler in sie hineingetragen und in der dynamischen Verknüpfung von Grundfreiheiten und Wettbewerbsrecht wirkmächtig entfaltet: Ohne die Verbindung wirtschaftswissenschaftlicher (Walter Eucken) und rechtswissenschaftlicher (Franz Böhm) Erkenntnis von geordneter Marktwirtschaft einerseits und Privatrechtsgesellschaft andererseits – heute oft pauschal als „Neoliberalismus“ verunglimpft – ist das Europarecht bis zur Vollendung des Binnenmarkts 1992 und auch weit darüber hinaus – was ebenfalls häufig unterschätzt wird – nicht erklärbar6. Seit der politischen Wende 1989 / 90 und der aufkeimenden Verfassungsdebatte ist es die interdisziplinäre Verknüpfung von Rechts- und Politikwissenschaft, aus der sich die Diskussion speist. Der Verweis auf den Verbundbegriff des Mehrebenensystems (Fritz Scharpf) mag an dieser Stelle genügen7. Um solchen wirtschafts- und politikwissenschaftlichen „Input“ sollte das Staatsrecht die Europarechtslehre eigentlich beneiden, und hinzu kommt eine europäische Verflechtung, die jedenfalls im Staatsrecht nicht annähernd weit ausgeprägt ist. Dennoch kann sich die deutsche Europarechtslehre nicht gleichsam entspannt zurücklehnen und ihren Vorsprung genießen. Armin von Bogdandy hat schon vor sechs Jahren sehr zu recht moniert, dass sie ihre internationale Anschlussfähigkeit noch erheblich ausbauen muss8, und neuere Entwicklungen im Staatsrecht – Stichwort: postnationale Konstellation9 – sowie 6 Siehe bereits Carl Friedrich Ophüls, Grundzüge europäischer Wirtschaftsverfassung, ZHR 124 (1962), S. 136. Grundlegend Werner Mussler, Die Wirtschaftsverfassung der Europäischen Gemeinschaft im Wandel, 1998; zusammenfassend Matthias Ruffert, Die Wirtschaftsverfassung im Vertrag über eine Verfassung für Europa, 2004, S. 4 f.; siehe auch Armin Hatje, Wirtschaftsverfassung, in: von Bogdandy (FN 1), S. 684 (685 und 688); Christian Joerges, What is Left of the European Economic Constitution, EUI Working Paper Law No. 2004 / 13 (deutsch: Macht Europa seiner Wirtschaftsverfassung den Prozess? – Ein melancholischer Rückblick, in: Gert Brüggemeier [Hrsg.], Liber Amicorum Eike Schmidt, 2005, S. 187). 7 Siehe gewissermaßen klassisch Fritz Scharpf, Community and autonomy: multilevel policy-making in the European Union, Journal of European Public Policy 1:2 (1994), S. 219 (227): „The European Union is no, and cannot be, a unitary nation; it can at best be a multi-level political system in which national and subnational units retain their legitimacy and political viability. Thus, while for (many) nation states centralization and political, cultural and legal unification were (and still may be) considered legitimate purposes in their own right, that is not true of Europe. The legitimacy of European rule-making must rest on, and is limited by, functional justifications.“ 8 Armin von Bogdandy, Beobachtungen zur Wissenschaft vom Europarecht, Der Staat 40 (2001), S. 3. 9 Siehe nur den Titel der Sammlung von Jürgen Habermas, Die postnationale Konstellation, 1998, sowie Ulrich Haltern, Internationales Verfassungsrecht?, AöR 128 (2003), S. 511.

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Verwaltungsrecht – Stichwort: neue Verwaltungsrechtswissenschaft10 – müssen rezipiert und aufgearbeitet werden. Im folgenden Beitrag soll in den Blick genommen werden, inwieweit Entwicklungen im europäischen Ausland für die Fortentwicklung der deutschen Europarechtslehre fruchtbar gemacht werden können – und inwieweit Importmöglichkeiten an ihre Grenzen stoßen.

II. Europarechtswissenschaft und Europarechtswissenschaften Eigentlich sollte die Frage nach der Einflussnahme der ausländischen auf die deutsche Europarechtswissenschaft Verwunderung auslösen. Dass man in den einzelnen Teildisziplinen der Rechtswissenschaft nach nationalen Wissenschaftsgemeinschaften und -diskursen unterscheidet, ist vor allem deswegen offensichtlich, weil unterschiedliche, national abgegrenzte Gegenstände in Rede stehen. So befasst sich eben die englische Verwaltungsrechtslehre vor allem mit dem case law zu judicial review und den daraus entwickelten Maßstäben für die Verwaltung, die französische Lehre arbeitet die vom Conseil d’État entwickelten principes généraux de droit heraus – und in Deutschland konzentriert sich die Praxis auf die Interpretation des Verwaltungsverfahrensgesetzes und der häufig landesrechtlichen Quellen des Besonderen Verwaltungsrechts11. Im Europarecht geht es aber um ein und denselben Gegenstand. Primärrecht, Sekundärrecht wie auch Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sind unionsweit gleich und liegen den Europarechtswissenschaftlern in ihrer jeweiligen Sprache vor. Die Herausbildung spezifisch nationaler wissenschaftlicher Diskurse muss also eine andere Ursache haben als die Ausdifferenzierung des Gegenstandes. Vergleichbare Erscheinungen gibt es auch in der Völkerrechtslehre, wo immer wieder örtliche Sonderentwicklungen auftreten, wie ganz aktuell die amerikanisch-hegemoniale Deutung des Gewaltverbots12, die sogar im weltweiten Diskurs die Oberhand gewinnen können – wie in historischer Perspektive die in Belgien begründete Bewegung um Institut de Droit International und International Law Association in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts13 und die „Wiener Schule“ in den 20er Jahren des 10 Siehe Andreas Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Wolfgang Hoffmann-Riem / Eberhard Schmidt-Aßmann / ders. (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, 2006, § 1. 11 Rechtsvergleichend insoweit Matthias Ruffert, Die Methodik der Verwaltungsrechtswissenschaft in anderen Ländern der Europäischen Union, in: Eberhard Schmidt-Aßmann / Wolfgang Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 165 (172 ff.). 12 Statt aller Michael Glennon, Why the Security Council Failed, Foreign Affairs 2003, S. 20 ff. 13 Dazu Martti Koskenniemi, The Gentle Civilizer of Nations, 2002, S. 39 ff.

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20. Jahrhunderts14. Tatsächlich geht es vor allem um die Übertragung methodischer und inhaltlicher Standpunkte der nationalen Rechtswissenschaft auf das Europarecht. Außerdem ist der Gegenstand Europarecht zwar unionsweit identisch, aber in seinen Ursprüngen nicht homogen; im Europarecht sind die verschiedenen Rechtstraditionen Europas miteinander „verschraubt“ (Ulrich Haltern)15, woraus sich wiederum unterschiedliche Anknüpfungspunkte für die jeweilige Europarechtswissenschaft ergeben können. Ebenso ist es problematisch, von einer in sich homogenen nationalen Europarechtswissenschaft zu sprechen. Dies gilt nicht zuletzt für die deutsche Europarechtslehre. Sie hat sich spät, aber nachhaltig von ihrem Exotendasein emanzipiert und ist mittlerweile als fester Bestandteil in die Wissenschaft vom Öffentlichen Recht integriert, wobei Themen, die nicht verfassungsrechtliche Grundfragen und öffentlich-rechtliche Gebiete betreffen, selbstverständlich, wenngleich mit einiger Verzögerung, Eingang in die Zivil- und Strafrechtswissenschaft16 gefunden haben. Beharrungskräfte wenden sich weniger gegen die Existenz der europäischen Ebene und des Europarechts an sich als gegen die Überbetonung supranationaler Konzeptionen, wodurch die Europarechtswissenschaft weiter ausdifferenziert wird17. Gerade die thematische Vielfalt des Europarechts, das nun auch beispielsweise weite Bereiche des Sicherheitsrechts oder das Planungsrecht erfasst, betrifft insbesondere das Öffentliche Recht. Besonders aufwendig ist schließlich die Suche nach einem der europarechtlichen Entwicklung inhärenten System, das nicht nur im Sinne eines EuGH-Positivismus die Rechtsprechungstätigkeit nachzeichnet. So vielfältig sich die deutsche Europarechtslehre darstellt, so verhältnismäßig gering ist ihre Resonanz im europäischen Konzert. Deutsche bzw. deutschsprachige Zeitschriften oder gar Monographien spielen in der europarechtlichen Praxis jedenfalls – außerhalb des Europäischen Verwaltungsrechts Schwarzescher Prägung – nur eine nachrangige Rolle. Auch die französische Europarechtslehre hat sich nicht durchsetzen können18, obwohl – 14 Siehe nur Hans Kelsen, The Law of the United Nations, 1950. In Deutschland ist die Wiener Schule im Völkerrecht wirkmächtig durch das Völkerrechtslehrbuch von Alfred Verdross / Bruno Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984. 15 Siehe Ulrich Haltern, Europarecht, 2005, S. 5. 16 Für das Zivilrecht statt aller Stefan Leible, Wege zu einem Europäischen Privatrecht, 2007, i.E.; für das Strafrecht statt aller Helmut Satzger, Die Europäisierung des Strafrechts, 2001. 17 Siehe die überzeugende Gegenposition zu den Beharrungstendenzen bei Jochen Abr. Frowein, Kritische Bemerkungen zur Lage des deutschen Staatsrechts aus rechtsvergleichender Sicht, DÖV 1998, S. 806. 18 Claus Dieter Classen, Die deutsche Europarechtswissenschaft und Frankreich: die Geschichte einer punktuellen Wahrnehmung, in: Olivier Beaud / Erk-Volkmar Heyen (Hrsg.), Eine deutsch-französische Rechtswissenschaft? – Une science juridique franco-allemande?, 1999, S. 351.

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oder vielleicht weil – weite Teile des Europarechts und der Organisation der Institutionen französisch geprägt sind, ob man die Klagebefugnis bei der Nichtigkeitsklage nach Art. 230 Abs. 4 EGV, die Kabinettstruktur der Kommission oder ein anderes Beispiel heranzieht19. Zu dominieren scheint weithin die angelsächsische Sicht auf das Europarecht. Ist das wirklich so? Wenn ja, ist es gerechtfertigt? Was ist dann zu tun?

III. Großbritannien als europarechtlicher Exportweltmeister? 1. Ansätze eines methodischen Vorsprungs

Eine eigenartige List der Vernunft scheint bewirkt zu haben, dass sich gerade die Rechtsordnung desjenigen großen Mitgliedslandes, das sich der europäischen Integration am heftigsten zu widersetzen versucht, in der Rechtspraxis einen Vorsprung erarbeitet hat, der auch auf den rechtswissenschaftlichen Diskurs zurückwirkt. Für die erkennbare Dominanz der britischen Debatte gibt es eine Reihe von Gründen. Offensichtlich ist der Vorteil, dass die Europarechtslehre nun in der neuen lingua franca europäischer Wissenschaft, dem Englischen, kommunizieren kann. Langsam aber sicher und mit jedem Beitritt intensiver verdrängt das Englische die Vorherrschaft des Französischen in den Europäischen Institutionen, und so gehört es für jeden – auch den deutschen – Europarechtler zum guten Ton, eigene Forschungsergebnisse auch auf Englisch zu publizieren. Hinzu tritt das amerikanische Interesse am Integrationsprozess, personifiziert in Joseph H. H. Weiler und den Aktivitäten der New York University20 – methodisch natürlich am angelsächsischen Raum orientiert. Der alleinige Blick auf die sicherlich nicht zu vernachlässigende Sprachenfrage würde jedoch die Gründe für die Vorreiterrolle nur unzureichend erfassen. Hinzu treten Startvorteile Großbritanniens, die sich in der Summe als methodischer Vorsprung kennzeichnen lassen. Bei der wissenschaftlichen Erschließung einer im Entstehen begriffenen, sich Schritt für Schritt in Breite und Tiefe vorantastenden Rechtsordnung ist ein methodischer Ausgangspunkt offensichtlich vorteilhaft, der das Recht ohnehin von der Einzelfallgerechtigkeit her begreift und dem die Konzentration auf kasuistische Fortentwicklung – anstelle systematischer Deduktion – immanent ist. Noch heute ähnelt das Europarecht viel mehr einem common law, das seine wesentlichen Inhalte und Strukturen erheblich stärker aus der fortschreitenden Verzweigung der EuGH-Rechtsprechung zieht als aus den Vorgaben 19 Klassisch Michel Fromont, L’influence du droit français et du droit allemand sur les conditions de recevabilité des recours en annulation devant la Cour de Justice des Communautés européennes, RTDE 2 (1966), S. 47. 20 Übersicht über diese Aktivitäten unter http: / / www.jeanmonnetprogram.org / .

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des rahmenartigen Primärrechts und des oft kompromisshaften Sekundärrechts. Wer ernsthaft an europarechtlichen Diskussionen teilnehmen will, muss die bisherige und künftige EuGH-Rechtsprechung kennen und rezipieren und so über weite Strecken wie ein britischer Jurist arbeiten. Die pragmatische Methode verschafft noch an anderer Stelle Vorteile. Die grundsätzliche Unterscheidung zwischen Privatrecht und Öffentlichem Recht, die im kontinentaleuropäischen Rechtskreis eine erhebliche Systematisierungsleistung erbringt, vollzieht das englische Recht erst in neuerer Zeit und nur sehr fragmentarisch nach21. Für das Europarecht mit seinem wirtschaftsrechtlichen Ausgangspunkt ist sie im Ansatz unbedeutend, so dass wiederum im angelsächsischen Rechtskreis eine einfachere Rezeption möglich ist22. Diese vereinfachte Einbindung wird noch durch den wissenschaftsorganisatorischen Gesichtspunkt verstärkt, dass Forschung und Lehre in der britischen Rechtswissenschaft nicht nach den großen „Säulen“ organisiert sind, sondern nach thematischen Kriterien23. Schließlich ist dieses thematisch-kasuistische Arbeiten offen für den interdisziplinären Austausch. Intensive Vernetzungen vor allem mit der Politikwissenschaft finden sich in der britischen Europarechtslehre seit langem24 und werden vor allem über das Europäische Hochschulinstitut in Florenz maßstabsbildend entwickelt25. Dementsprechend konnten auch neuere theoretische Bewegungen wie die Governance-Debatte oder die Theoretisierung der „postnationalen Konstellation“ zunächst von hier aus aufgegriffen werden.

2. Methodische Durchsetzung

Der methodische Vorsprung setzt sich überdies in praktischen Ergebnissen durch. Offensichtlich gelingt es Konzepten aus dem angelsächsischen Rechtsraum besser als kontinentaleuropäischen, prägend auf die europäische Rechtsordnung zu wirken. Dies ist im Öffentlichen Recht zunächst im Rahmen der Verfahrensorientierung des Europäischen Umweltrechts deut21 Siehe Mark Freedland, The evolving approach to the public / private distinction in English law, in: Jean-Bernard Auby / ders. (Hrsg.), La distinction du droit public et du droit privé: regards français et britanniques – The Public Law / Private Law Divide: une entente assez cordiale?, 2004, S. 101 ff. 22 Siehe daher das Plädoyer von Karl M. Meessen, Zu einer Neuaufteilung des Fächerkanons: Wirtschaftsrecht im Zeichen internationaler und vergleichender Rechtstheorie, ZVglRWiss 100 (2001), S. 41. 23 Nur das klassische Lehrbuch für ausländische Juristen ordnet die thematische Untergliederung den Überschriften public law / private law zu: Peter Shears / Graham Stephenson, James’ Introduction to English Law, 1996. 24 Siehe der Hinweis bei von Bogdandy (FN 8), S. 6 Fn. 15. 25 Vgl. von Bogdandy (FN 8), S. 42. Bereits „klassisch“ der Ansatz von Francis Snyder, New Directions in European Community Law, 1990.

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lich geworden. Die „Verfahrenslastigkeit“ von Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) und Integrierter Verschmutzungsvermeidung (IVU) sind insoweit vielfach thematisiert worden, wobei die britische Herkunft der IVU offenkundig ist26. In neuerer Zeit ist die Durchsetzung des Regulierungsrechts zu nennen, organisatorisch begleitet durch den Aufschwung unabhängiger Regulierungsagenturen. Ursache sind die sektoralen Erfolge der britischen Privatisierungspolitik seit Margaret Thatcher27.

3. Methodischer Vorsprung als wissenschaftlicher Vorsprung?

Inwieweit ist dieser methodische Vorsprung auch ein wissenschaftlicher Vorsprung? Es mag sein, dass die kasuistische Annäherung ohne weitere Säulendifferenzierung dem Europarecht – jedenfalls temporär – besser gerecht wird als ein systematisierender Ansatz. Es spricht auch vieles für eine ökonomische Überlegenheit einer Wirtschaftsverfassung, die auf Regulierung durch unabhängige Agenturen setzt statt auf staatliche Daseinsvorsorge oder service public28. Führen diese Feststellungen aber dazu, dass die methodischen Grundausrichtungen der deutschen Europarechtslehre umjustiert werden müssen? Ist die englische Europarechtswissenschaft tatsächlich auf ganzer Breite überlegen? Auf diese Frage kann es nur eine differenzierte Antwort geben. Natürlich sind interdisziplinäre Ansätze und Projekte auch für die deutsche Europarechtslehre vorbildhaft, wie dies das vorzügliche European Law Journal, vor allem mit thematisch gebündelten Ausgaben, oder das exzellente Lehrbuch von Paul Craig und Gráinne de Búrca belegen29. Andere Lehrbücher heben sich durch andere Vorzüge heraus. So ist das – mittlerweile in fünfter Auflage von einem Autorenteam bearbeitete – Standardwerk von Derrick Wyatt / Alan Dashwood30 zwar ausgesprochen theoriearm, in der Aufarbeitung der Kasuistik des EuGH gerade zu den praxisrelevanten Gebieten Grundfreiheiten, Wettbewerb und Beihilfen aber nach wie vor unübertroffen. Was in Deutschland oft als EuGH-Positivismus angegriffen worden ist, erweist sich hier als ausgesprochen fruchtbare Verbindung zwischen Lehre 26 Vgl. nur Gertrude Lübbe-Wolff, Integrierter Umweltschutz – Brauchen die Behörden mehr Flexibilität, NuR 1999, S. 241 (245 f.); Eberhard Bohne / Doris Dietze, Pollution Prevention and Control in Europe Revisited, European Environmental Law Review 2004, S. 198. 27 Siehe die Darstellungen bei Rainer Eising, Liberalisierung und Europäisierung, 2000, S. 135 ff., sowie Ruffert (FN 11), S. 184 ff. 28 Zu den Defiziten des service public-Ansatzes Johann-Christian Pielow, Frankreich – Service Public, in: Rudolf Hrbek / Martin Nettesheim (Hrsg.), Europäische Union und mitgliedstaatliche Daseinsvorsorge, 2002, S. 155. 29 Paul Craig / Gráinne de Búrca, EU Law, 3. Aufl. 2003; siehe jetzt auch Paul Craig, EU Administrative Law, 2006. 30 Anthony Arnull et al., Wyatt & Dashwood’s European Union Law, 5. Aufl. 2006.

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und Praxis. Deutsprachige Fallbücher („Casebooks“) füllen diese Lücke erst allmählich und auf andere Weise31. Andererseits hat es aber die britische Lehre keinesfalls besser als die deutsche Europarechtswissenschaft vermocht, einen konsistenten Erklärungsansatz für den Integrationsprozess zu liefern. Einige Theoriebausteine fehlen sogar ganz, etwa die föderalistischen Deutungen der Integration, die im anglo-amerikanischen Bereich auf der geistesgeschichtlichen Basis der Gründungsphase der U.S.A. in missverständlicher Weise als zentralistische Tendenzen gedeutet werden müssen32. Insgesamt beruhen die Vorsprünge eher auf den geschilderten Vorteilen des Rechtskreises denn auf besonderen Unterschieden in der Qualität der Forschungsergebnisse. Mit zunehmender systematischer Verdichtung des EU-Rechts sollte der Vorsprung schwinden. Deutlich wird dies schon im Bereich der Literaturgattung Kommentar. Diese ist im angelsächsischen Rechtskreis unbekannt, so dass hier die deutsche Literaturproduktion dominiert.

IV. Wege zu einer europäischen Europarechtslehre Natürlich kann die deutsche Europarechtslehre vom britischen Vorsprung lernen. Das bedeutet nicht, die methodischen Ansätze ohne Berücksichtigung der eigenen rechtswissenschaftlichen Tradition zu übernehmen. Einiges ist schon gewonnen, wenn die Gründe für die gute Ausgangsstellung der englischsprachigen Europarechtswissenschaft erkannt und analysiert werden, um Rückschlüsse auf die Struktur des Europarechts und seine Entwicklung ziehen zu können. Befriedigend ist ein solcher Befund jedoch nicht. Die europäischen Institutionen, allen voran der EuGH, werden sich stets hüten, ihre Praxis bzw. Rechtsprechung an die Resultate der Europarechtswissenschaft eines einzigen Mitgliedstaates anzulehnen. Erforderlich ist die noch stärkere Vernetzung der europarechtlichen Forschung und Lehre im Sinne einer Europäisierung der Europarechtswissenschaft33. Als forschungspolitisches Desiderat ist dies keine Neuheit. An dieser Stelle sollen nur einige mögliche Schritte auf dem Weg zu einer solchen Europäisierung angedeutet werden – 31 Die Sammlung von Waldemar Hummer / Christoph Vedder, Europarecht in Fällen, 2005 in 4. Aufl. erschienen, gibt es allerdings schon seit 1991 (1. Aufl.), Vorläufer reichen bis 1984 zurück (Waldemar Hummer / Bruno Simma / Christoph Vedder, 50 Fälle zum Europarecht, 1. Aufl. 1984). Hinzugekommen sind Ute Mager / Daniela Herrmann, Höchstrichterliche Rechtsprechung zum Europarecht, 2004; Hans-Joachim Schütz / Thomas Bruha / Doris König, Casebook Europarecht, 2004; Matthias Pechstein, Entscheidungen des EuGH, 3. Aufl. 2005. 32 Zu dieser missverständlichen Deutung der Föderalismus-Theorie im anglo-amerikanischen Raum siehe die klärende Darstellung bei Fritz Scharpf, Die Politikverflechtungs-Falle, PVS 26 (1984), S. 323 (324 f.). 33 Insoweit fragend von Bogdandy (FN 8), S. 41.

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ohne den Anspruch zu erheben, diese erstmals zu benennen oder gar den Vorwurf, sie würden leichtfertig oder vorsätzlich unterlassen. l

Grenzgänger: Die gegenseitige Beeinflussung und argumentative Vernetzung der nationalen Europarechtswissenschaften leben von einzelnen Wissenschaftlern, deren Hauptreferenzmaßstab nicht der nationale Diskurs, sondern der internationale Austausch ist. Tendenziell sind solche Wissenschaftler im nationalen „Karrierewettbewerb“ im Nachteil, fehlt diesem doch das sichere Urteil über Gewicht und Wert der grenzüberschreitenden wissenschaftlichen Leistung. Zudem sind die Möglichkeiten für kurz- wie langfristige Gastaufenthalte im europäischen Ausland noch schwach ausgeprägt. Auch das Europäische Hochschulinstitut in Florenz könnte gerade für die deutsche Europarechtslehre noch an Bedeutung gewinnen.

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Institutionen: Die optimale Organisationsstruktur für eine Europäisierung der Europarechtslehre ist noch nicht gefunden. Über die Fédération Internationale de Droit Européen (F.I.D.E.) gibt es sehr kritische Urteile34; die Wirkung ihrer Berichte scheint sich – sehr zu Unrecht – in Grenzen zu halten. Die erst vor wenigen Jahren gegründete, in Deutschland initiierte Societas Iuris Publici Europeae35 muss ihr Potential noch entfalten36. Auch das European Constutitional Law Network wurde erst zu Beginn des Jahrtausends gegründet37. Das im Sechsten Forschungsrahmenprogramm von der Kommission finanzierte Forschernetzwerk CONNEX ist sozialwissenschaftlich dominiert38. Die Arbeit an besonderen europarechtlichen Einzelfragen in kleineren Zirkeln ist über weite Strecken national zersplittert.

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Rechtsvergleichung: Rechtsvergleichende Betrachtungen im Öffentlichen Recht müssen sich von der im Zivilrecht dominierenden funktionalen Betrachtung lösen. Entscheidend für das Verständnis europarechtlicher Entwicklung ist die Öffnung zu einem Methodenvergleich, der mitgliedstaatliche Prinzipien, Regeln und Konzepte umfassend in den Blick nimmt39. Insoweit kann von der Notwendigkeit zur strukturellen Rechtsvergleichung gesprochen werden40. 34

Drastisch von Bogdandy (FN 8), S. 8: „Eklatant . . . versagen“. Näher: http: / / www.uni-potsdam.de / sipe-office / . 36 Bislang ist erst der Tagungsband 2004 erschienen. Umfassend zur Arbeit der SIPE jetzt Hartmut Bauer, Entstehung und Entwicklung der Societas Iuris Publici Europaei, in: FS Starck, 2007, S. 485. 37 Näher http: / / www.ecln.net / index.php?option=com_content&task=view&id=27 &Itemid=47. 38 Näher: http: / / www.mzes.uni-mannheim.de / projekte / connex / . 39 Zur Rolle der Rechtsvergleichung im Europarecht aus neuerer Zeit Koen Lenaerts, Le droit comparé dans le travail du juge communautaire, RTDE 37 (2001), S. 487. 40 So Christoph Möllers, Theorie, Praxis und Interdisziplinarität in der Verwaltungsrechtswissenschaft, VerwArch 93 (2002), S. 22 (52 ff.); siehe auch Karl-Peter 35

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Matthias Ruffert

V. Was kann die Europarechtswissenschaft im Ausland von der deutschen Europarechtslehre lernen? Von den wissenschaftspolitischen Desideraten zurück zum Ausgangspunkt – zu den wechselseitigen Lernbeziehungen zwischen den national aufgeteilten Zweigen der Europarechtswissenschaft. Das Lernpotential für die deutsche Europarechtslehre insbesondere aus der englischen Europarechtswissenschaft ist hier aufgezeigt worden – einschließlich seiner Grenzen. Abschließend sollen noch einige Punkte Erwähnung finden, an denen die Europarechtslehre des Auslands, namentlich des angelsächsischen Sprachraums, durchaus auch Orientierung an der deutschen Europarechtswissenschaft finden können. Zu nennen ist hier vor allem die systematisch-theoretische Reflexion. Sofern sie nicht als selbstorientierte Nabelschau41, sondern als Selbstvergewisserung auf den Erkenntnisstand betrieben wird – wie im Rahmen dieses Symposions – stehen ihre wissenschaftliche Notwendigkeit und Leistungsfähigkeit außer Frage42. Langfristig ist eine vorhersehbare Entwicklung der Judikatur des EuGH und der Praxis der übrigen Organe ohne vorhergehende theoretische Reflexion kaum denkbar. Durch diese theoretische Selbstvergewisserung kann auch eine reflektiertere disziplinäre Zuordnung des Europarechts erreicht werden. Einer isolierten Betrachtung alles „Europäischen“ im Sinne eines eigenen Faches ist letztlich eine Perspektive vorzuziehen, die auch die Einflussnahmen auf verschiedene thematische Felder verarbeiten kann. Hier sollte sich mittelfristig das Denken in Rechtsschichten durchsetzen43. Alles in allem: Die deutsche Europarechtslehre tut gut an einem wissbegierigen Blick über die Grenzen der eigenen Rechtsordnung, aber es besteht kein Anlass, das eigene Exportpotential zu unterschätzen. Das ruft die abschließende Frage auf den Plan, die vordergründig nur ein Instrument rechtswissenschaftlichen Arbeitens betrifft, in der Diskussion Sommermann, Die Bedeutung der Rechtsvergleichung für die Fortentwicklung des Staats- und Verwaltungsrechts in Europa, DÖV 1999, S. 1017; Georgios Trantas, Die Anwendung der Rechtsvergleichung bei der Untersuchung des öffentlichen Rechts, 1998. 41 Warnend Philipp Dann, Thoughts on a Methodology of European Constitutional Law, in: ders. / Micha|l Rynkowski (Hrsg.), The Unity of the European Constitution, 2006, S. 37 (40). 42 Siehe z. B. Walter van Gerven, Toward a Coherent Constitutional System within the European Union, in: Die Verfassung der Europäischen Union: Referate im Rahmen des 5. Bonner Europa-Symposions, 1995, S. 9. 43 Begriffsbildend Wolfgang Hoffmann-Riem, Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts – Perspektiven der Systembildung, in: Eberhard Schmidt-Aßmann / ders. (Hrsg.), Strukturen des Europäischen Verwaltungsrechts, 1999, S. 317 (321 ff.); Matthias Ruffert, Rechtsquellen und Rechtsschichten des Verwaltungsrechts, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (FN 10), § 17 Rn. 26 ff.

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aber große, teilweise emotionale Auseinandersetzungen hervorzurufen droht: Soll die deutsche Europarechtslehre ihre Diskussionen auch in englischer Sprache führen44? Davon abgesehen, dass die überwiegende Mehrzahl der deutschen Europarechtswissenschaftler ohnehin regelmäßig auf Englisch publiziert, kann die Frage nur bejaht werden. Natürlich gehen im nicht-muttersprachlichen Diskurs wichtige Nuancen (oft auch mehr) der eigenen Konzeptionen verloren, natürlich gibt es keinen fachlichen Grund für den Vorrang einer anderen Sprache – aber die Entwicklung ist derart dynamisch, dass man es sich nicht leisten kann, über dieser Frage zu lange zu verharren oder sich sogar über die Dominanz des Englischen zu empören, bevor man nicht den Versuch unternommen hat, sich in englischer Sprache sachlich zu positionieren.

44 Siehe zu diesem Punkt – mit der expliziten Ausnahme für Europa- und Völkerrecht – Wolfgang Kahl, Sprache als Kultur- und Rechtsgut, VVDStRL 65 (2006), S. 381 (425 ff.).

VI. Die bundesdeutsche Staatsrechtslehre im internationalen Vergleich

Die Staatsrechtswissenschaft und ihr Gegenstand: Wechselseitige Bedingtheiten am Beispiel der Schweiz Von Giovanni Biaggini, Zürich

I. Gemeinsamkeiten und Unterschiede (Einleitung) „Drei Breitengrade näher zum Pol stellen die ganze Rechtswissenschaft auf den Kopf; ein Längengrad entscheidet über Wahrheit [ . . . ]. Seltsame Gerechtigkeit, die ein Fluss begrenzt! Diesseits der Pyrenäen Wahrheit, jenseits Irrtum.“1 Im zusammenwachsenden Europa unserer Tage scheint das Diktum von Blaise Pascal einer fernen Vergangenheit anzugehören. Die Entwicklung und Umsetzung gemeineuropäischer Standards im Bereich des öffentlichen Rechts ist in vollem Gang, gefordert und gefördert durch Institutionen wie den Strassburger Menschenrechtsgerichtshof und den EuGH sowie durch weitsichtige Wissenschaftler. Im deutschsprachigen Raum ist der wissenschaftliche Austausch, begünstigt durch vergleichbare bundesstaatliche Strukturen und die gemeinsame Sprache, besonders intensiv. Die schweizerische Staatsrechtswissenschaft zeigt viele Gemeinsamkeiten mit den gleichnamigen Disziplinen in Deutschland und Österreich. Überraschen kann dies nicht, sind doch die zu lösenden Aufgaben dieselben oder doch ganz ähnliche: Es gilt, Verfassungsrecht und Staatspraxis dogmatisch zu durchdringen und kritisch zu begleiten, die Internationalisierung und Europäisierung des Rechts zu bewältigen, einen Beitrag zur rechtsstaatlich-demokratischen Bändigung von Macht zu leisten (die es ja auch im modernen Verfassungsstaat unausweichlich gibt). Die Gemeinsamkeiten gehen darüber hinaus: Hier wie da wird (aus guten Gründen) auf die in anderen Ländern übliche strenge Trennung zwischen Staatsrecht (Verfassungsrecht) und Verwaltungsrecht im Lehr- und Wissenschaftsbetrieb verzichtet. Auch bei den Literaturgattungen gibt es viele Parallelen. In der Schweiz fällt die Literaturproduktion natürlich quantitativ wesentlich bescheidener aus. In den letzten Jahren wurde sie durch den Übergang zur neuen Bundesverfassung (vom 18. April 1999) geprägt, den es auf vielfältige Weise literarisch zu verarbeiten galt: Lehrbücher (um)schrei1 „Trois degrés d’élévation du pôle renversent toute la jurisprudence; un méridien décide de la vérité [ . . . ]. Plaisante justice qu’une rivière borne! Vérité au deçà des Pyrénées, erreur au delà.“ (Pensées, 1670, no294)

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Giovanni Biaggini

ben2, erste Stellungnahmen, Tagungsbände und Einführungen redigieren3, Handbücher und Kommentare4 verfassen. Auch in der Schweiz entspricht es langer Tradition, dass Staatsrechtslehrer nicht nur als Forscher und Lehrer in Erscheinung treten, sondern auch als Gutachter, Experten oder (nebenamtliche) Richter5, mitunter auch als aktive Politiker im Bundesparlament6. Was den Universitätsbetrieb betrifft, scheint man sich etwas voneinander weg zu bewegen. In der Schweiz haben nun alle Fakultäten auf das „Bologna-System“ sowie auf neue Semesterdaten7 umgestellt. Doch der Wissenschaftsbetrieb verläuft in durchaus vergleichbaren Bahnen. Auch in der Schweiz pflegen sich die Staatsrechtslehrer einmal jährlich zu einer Tagung zu versammeln (traditionell Ende April).

2 Vgl. Andreas Auer / Giorgio Malinverni / Michel Hottelier, Droit constitutionnel suisse, 2 Bde., 2. Aufl. 2006; Ulrich Häfelin / Walter Haller, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 6. Aufl. 2005 (mit einem von Helen Keller mitverfassten Supplement zur Justizreform, 2006); René A. Rhinow, Grundzüge des Schweizerischen Verfassungsrechts, 2003; Jörg Paul Müller, Grundrechte in der Schweiz, 3. Aufl. 1999 (mit einem von Markus Schefer verfassten Ergänzungsband, 2005); Pierre Tschannen, Staatsrecht der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2004; Regina Kiener / Walter Kälin, Grundrechte, 2007. 3 Vgl. Ulrich Zimmerli (Hrsg.), Die neue Bundesverfassung, Berner Tage für die juristische Praxis 1999, 2000; Aktuelle Juristische Praxis, Sondernummer „Die neue Bundesverfassung“, AJP 6 / 1999, S. 647 ff.; Peter Gauch / Daniel Thürer (Hrsg.), Die neue Bundesverfassung, 2002; René A. Rhinow, Die Bundesverfassung 2000, Eine Einführung, 2000; Thomas Gächter / Martin Bertschi (Hrsg.), Neue Akzente in der „nachgeführten“ Bundesverfassung, 2000; Thomas Fleiner u. a., BV-CF 2000: Die neue schweizerische Bundesverfassung, 2000; Thomas Fleiner / Alexander Misic / Nicole Toepperwien, Swiss Constitutional Law, 2005. – Aus der Aufsatzliteratur vgl. (statt vieler) die im Ausland erschienenen Beiträge von Rainer J. Schweizer, Die erneuerte schweizerische Bundesverfassung vom 18. April 1999, JöR 2000, S. 263 ff.; Giovanni Biaggini, Verfassungsreform in der Schweiz, ZÖR 1999, S. 433 ff.; Martin Kayser / Dagmar Richter, Die neue schweizerische Bundesverfassung, ZaöRV 1999, S. 985 ff. 4 Vgl. Daniel Thürer / Jean-François Aubert / Jörg Paul Müller (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, 2001; Jean-François Aubert / Pascal Mahon, Petit commentaire de la Constitution fédérale de la Confédération suisse du 18 avril 1999, 2003; Bernhard Ehrenzeller / Philippe Mastronardi / Rainer J. Schweizer / Klaus A. Vallender (Hrsg.), Die Schweizerische Bundesverfassung. Kommentar, 2002 (sog. St.GallerKommentar; 2. Aufl. in Vorbereitung); Giovanni Biaggini, Kommentar zur Bundesverfassung, 2007 (im Druck). Vgl. auch Thomas Sägesser (Hrsg.), Die Bundesbehörden. Bundesversammlung – Bundesrat – Bundesgericht, 2000. – Nach wie vor unentbehrlich (auch wenn zur BV 1874) Jean-François Aubert u. a. (Hrsg.), Kommentar zur Bundesverfassung der schweizerischen Eidgenossenschaft vom 29. Mai 1874, 1987 – 1996 (Loseblatt) sowie Walther Burckhardt, Kommentar der schweizerischen Bundesverfassung vom 29. Mai 1874, 3. Aufl. 1931. 5 Vgl. (aus deutscher Sicht) Andreas Voßkuhle, Die politischen Dimensionen der Staatsrechtslehre, in diesem Band S. 135 ff. 6 Ende der 1990er Jahre wurde der Ständerat (zweite Kammer) in zwei aufeinander folgenden Jahren von Staatsrechtslehrern präsidiert: 1998 bekleidete Ulrich Zimmerli (Universität Bern), im Jahr darauf René Rhinow (Universität Basel) das protokollarisch zweithöchste Amt in der Schweizerischen Eidgenossenschaft. 7 Ab dem akademischen Jahr 2007 / 08 gibt es neu ein Herbstsemester (Mitte September bis Weihnachten) und ein Frühjahrssemester (Mitte Februar bis Ende Mai).

Die Staatsrechtswissenschaft und ihr Gegenstand

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Bei näherer Betrachtung der Verhältnisse im Land südlich des Rheins treten allerdings auch Eigenheiten und Unterschiede zutage. Die Staatsrechtslehrer-Tagungen, die in einem kleinen, fast schon familiären Rahmen stattfinden8, werden zweisprachig durchgeführt (deutsch / französisch), wobei ganz selbstverständlich jeder seine Sprache spricht und ebenso selbstverständlich vorausgesetzt wird, dass man die Sprache der anderen (unter Einschluss der Fachbegriffe) versteht. Die kleinen, überschaubaren Verhältnisse werden allgemein als Glücksfall empfunden. Man ist sich aber auch dessen bewusst, dass die Kleinheit eine Kehrseite haben kann. Das in den 1960er Jahren sprichwörtlich gewordene „Unbehagen im Kleinstaat“ und das vom Staatsrechtslehrer (und aktiven Politiker) Max Imboden (1915 – 1969) diagnostizierte „Helvetische Malaise“9 sind nicht vergessen. Zu den Schattenseiten der Kleinheit gehört auch, dass es weniger wissenschaftliche Auseinandersetzungen gibt und der Grad der systematischen Durchdringung vieler Rechtsgebiete wesentlich geringer ist als in Deutschland10. In der geringeren Literaturproduktion liegt auch eine Chance. Wer sich mit Fragen des schweizerischen öffentlichen Rechts wissenschaftlich vertieft auseinandersetzt, richtet den Blick auf der Suche nach Literatur fast zwangsläufig auch über die Landesgrenzen hinaus (wie dies schon die Verfassungsväter von 1848 taten). Die Grössenverhältnisse mögen manche Eigenheit der schweizerischen Staatsrechtswissenschaft erklären. Ein viel wichtigerer Faktor ist jedoch die Beschaffenheit ihres zentralen Gegenstands: des Verfassungsrechts. Im Folgenden sollen an zwei klassischen Themenkomplexen, den Grundrechten (III.) und dem Rechtsschutzsystem (IV.), Wechselwirkungen zwischen der Bundesverfassung und „ihrer“ Wissenschaft aufgezeigt werden. Vorweg soll kurz auf einige Eigenheiten der schweizerischen Verfassungsordnung und ihrer Entwicklung hingewiesen werden.

8 Eine förmliche Vereinigung (und eine feste Begrenzung des Teilnehmerkreises) besteht nicht. 9 So der Titel einer 1964 veröffentlichten Schrift. Das kurz darauf erschienene Plädoyer für eine „Verfassungsrevision als Weg in die Zukunft“ (beides in: Max Imboden, Staat und Recht, 1971, S. 279 ff. bzw. S. 309 ff.) gab wichtige Impulse für die (1999 abgeschlossene) Totalrevision der Bundesverfassung. 10 Dies ist nicht gleichzusetzen mit einem Theoriedefizit. So ist das Interesse an Methodenfragen (Rechtsanwendung wie Rechtsetzung) nach wie vor gross. Vgl. etwa die Arbeiten von René Rhinow, Rechtsetzung und Methodik, 1979; Kurt Eichenberger, Sinn und Bedeutung einer Verfassung, Zeitschrift für Schweizerisches Recht (ZSR) 1991 II, S. 143 ff.; Georg Müller, Elemente einer Rechtssetzungslehre, 2. Aufl. 2006.

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Giovanni Biaggini

II. Eigenheiten der Verfassung und der Verfassungsentwicklung 1. Die Schweiz: (K)ein Sonderfall?

In der Schweiz gehörte es lange zum guten Ton, das Land und seine rechtliche Grundordnung als „Sonderfall“ darzustellen. Mit der Ende der 1980er Jahre einsetzenden Annäherung an den Europäischen Integrationsprozess ist dies (zu Recht) etwas ausser Gebrauch gekommen. Das Bild des „Sonderfalls“ sollte reserviert bleiben für wahrhaft singuläre Konstellationen, wie man sie etwa im Jahr 1980 beobachten konnte, als die Schweiz für einen Sommer lang zu einer „Zeitinsel“ mitten in Europa wurde, weil sich die Schweizer Stimmberechtigten in der Referendumsabstimmung vom 28. Mai 1978 mit 886’376 Ja zu 963’862 Nein gegen die von Bundesversammlung (Parlament) und Bundesrat (Regierung) befürwortete Einführung der Sommerzeit ausgesprochen haben11. Tatsache bleibt, dass die schweizerische Verfassungsordnung verschiedene Besonderheiten aufweist12, die man im Auge zu behalten hat, wenn man die Stellung der Staatsrechtslehre und ihr Selbstverständnis näher untersuchen will. Die wohl bekanntesten Besonderheiten sind die stark ausgebauten direktdemokratischen Instrumente auf nationaler Ebene13 sowie ein sehr ausgeprägter Föderalismus. Der schweizerische Bundesstaat vereint auf kleinstem Raum 26 sehr unterschiedliche Kantone14. Die Schweizerische Eidgenossenschaft zeigt auch nach knapp 160 Jahren Bundesstaatlichkeit gewisse staatenbündische Züge (während monarchisches Erbgut ganz und gar fehlt). Beispiele sind die Namensgebung in den Landessprachen lateinischen Ursprungs (Confédération suisse, Confederazione svizzera, Confederaziun svizra), die Bezeichnung der Kantone als „souverän“ (Art. 3 BV) oder die auf den Erlass von „Mindestvorschriften“ begrenzte Regelungskom11 Gegen das von der Bundesversammlung am 21. März 1980 verabschiedete zweite Zeitgesetz (SR 941.299) wurde das Referendum nicht ergriffen. Seit 1981 gehen die Uhren in der Schweiz im Sommer wieder gleich wie in den Nachbarländern. 12 Vgl. Giovanni Biaggini, Grundstrukturen staatlichen Verfassungsrechts: Schweiz (§ 10), in: Armin von Bogdandy / Pedro Cruz Villalón / Peter M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Band I: Grundlagen und Grundzüge staatlichen Verfassungsrechts, 2007, S. 565 ff. 13 Eingehend Yvo Hangartner / Andreas Kley, Die demokratischen Rechte in Bund und Kantonen der Schweizerischen Eidgenossenschaft, 2000; Étienne Grisel, Initiative et référendum populaires, Traité de la démocratie semidirecte en droit suisse, 3. Aufl. 2004. – Für einen Überblick vgl. Giovanni Biaggini, Ausgestaltung und Entwicklungsperspektiven des demokratischen Prinzips in der Schweiz, in: Hartmut Bauer / Peter M. Huber / Karl-Peter Sommermann (Hrsg.), Demokratie in Europa, 2005, S. 107 ff. 14 Die Bevölkerungszahl liegt heute zwischen 15’000 (Appenzell Innerrhoden) und rund 1,25 Millionen (Zürich). Der flächenmässig grösste Kanton, Graubünden (7’100 km2), ist rund 190mal grösser als der Stadtkanton Basel-Stadt (37 km2). – In Bezug auf die Zahl der politischen Grundeinheiten wurde die Schweiz erst am 1. Januar 2007 von der EU überflügelt.

Die Staatsrechtswissenschaft und ihr Gegenstand

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petenz des Bundes im Bereich der sog. ordentlichen Einbürgerung von Ausländerinnen und Ausländern (Art. 38 Abs. 2 BV), die eine nationale Einbürgerungspolitik stark erschwert. Von den weltweit 728 Volksabstimmungen, die im Zeitraum zwischen 1900 und 1993 auf nationaler Ebene durchgeführt wurden, entfielen 357 auf die Schweiz15. Aus verfassungsrechtlicher Perspektive stehen im Vordergrund das obligatorische Referendum bei Verfassungsänderungen sowie die Volksinitiative auf Teilrevision der Bundesverfassung. Die Volksinitiative als „Antrag aus dem Volk [ . . . ] an das Volk“, wie Fritz Fleiner (1867 – 1937), einer der Altmeister des schweizerischen Verfassungsrechts, treffend formulierte16, ermöglicht Verfassungsgebung „am Parlament vorbei“. Das System der Volksrechte hat unter anderem zur Folge, dass die Bundesverfassung nicht nur inhaltliche Vorgaben für die Politik statuiert, sondern selbst in hohem Masse Gegenstand der Politik ist. Dies wird im sog. „Zuständigkeits“-Kapitel deutlich (Art. 54 – 125 BV), das reich ist an detaillierten Handlungsvorgaben17 (und insoweit eher dem EGV gleicht als den entsprechenden Teilen anderer bundesstaatlicher Verfassungen, z. B. Art. 70 ff. GG). Auch dass die Schweiz erst im Jahr 2002 der UNO beitrat18 – als 190. Mitglied: nach Tuvalu, aber vor Ost-Timor – und dass die Schweiz nach wie vor nicht Mitglied der EU ist, hat viel mit Tradition und Ausbaustand der Volksrechte zu tun. Umgekehrt wurden, paradoxerweise, im westlichen Europa einzig die Schweizer Stimmberechtigten zur EUOsterweiterung befragt. Die Antwort war zweimal positiv: am 25. September 2005, als die Ausdehnung des Personenfreizügigkeitsabkommens auf die zehn neuen EU-Staaten genehmigt wurde, sodann am 26. November 2006, als die revidierte Fassung des Bundesgesetzes über die Zusammenarbeit mit den Staaten Osteuropas (und damit indirekt die Schweizer Kohäsionszahlung im Betrag von 1 Milliarde Franken zu Gunsten neuer EU-Mitgliedstaaten) gutgeheissen wurde.

15 Vgl. Alexander H. Trechsel, Volksabstimmungen, in: Ulrich Klöti u. a. (Hrsg.), Handbuch der Schweizer Politik, 4. Aufl. 2006, S. 460 (gestützt auf David Butler / Austin Ranney, Referendums Around the World, 1994). Gemäss Aufstellung der Bundeskanzlei ist man mittlerweile bei 542 eidgenössischen Abstimmungsvorlagen angelangt (Stand Januar 2007). 16 Fritz Fleiner, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 1923, S. 398. 17 Besonders ausgeprägt etwa Art. 119 BV (Fortpflanzungsmedizin und Gentechnologie im Humanbereich). 18 Den Weg ebnete die im März 2000 eingereichte und in der Volksabstimmung vom 3. März 2002 knapp gutgeheissene Volksinitiative „für den Beitritt der Schweiz zur Organisation der Vereinten Nationen (UNO)“ (Art. 197 Ziff. 1 BV). – Am 16. März 1986 hatten Volk und Stände dem von Parlament und Regierung angestrebten UNOBeitritt in einer obligatorischen Referendumsabstimmung noch eine sehr deutliche Absage erteilt (Stimmenverhältnis 1 : 3).

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Giovanni Biaggini 2. Besondere Rahmenbedingungen für die Verfassungsauslegung

Die Auswirkungen der direkten Demokratie auf die Wissenschaft vom Staatsrecht treten noch deutlicher zutage, wenn man die Rechtswissenschaft (auch) als Entscheidungswissenschaft begreift, der es (u. a.) aufgetragen ist, Entscheidungen vorzubereiten, zu analysieren, zu kritisieren bzw. Rahmenbedingungen, Prämissen und Beschränkungen aufzuzeigen. In dieser Perspektive rücken die Entscheidungsträger in den Vordergrund. Mit den an Sachabstimmungen beteiligten Stimmberechtigten (bzw. „Volk und Ständen“, Art. 140 BV) ist in der Schweiz ein zusätzlicher Akteur im Spiel (bei Verfassungsänderungen obligatorisch). Der gemäss den „anerkannten Auslegungsregeln“19 mit zu berücksichtigende Wille des historischen Gesetz- bzw. Verfassungsgebers – ohnehin eine schwierige Methodenfigur – ist unter den Bedingungen der Referendumsdemokratie kaum fassbar. Noch heikler ist die Aufgabe der Verfassungsauslegung20, wenn es um Bestimmungen geht, die aus einer von Volk und Ständen gutgeheissenen Volksinitiative hervorgegangen sind. Hier stellt sich zusätzlich die Frage, inwieweit der Wille der Initianten21 berücksichtigt werden darf oder muss (bzw. der mutmassliche Wille jener mindestens 100’000, früher 50’000 Stimmberechtigten, welche die Volksinitiative mit ihrer Unterschrift unterstützten). Bei drei von vier seit 1994 gutgeheissenen Volksinitiativen gibt es handfeste Auslegungsschwierigkeiten22. Hinzu kommt die Gleichwertigkeit der deutschen, französischen und italienischen Fassung. Zu den interpretationsrelevanten organisatorisch-strukturellen Besonderheiten der schweizerischen Verfassungsordnung gehört auch die Ausgestaltung des Rechtsschutzsystems. Die Schweiz kennt, wie die Vereinigten Staaten, kein spezialisiertes Verfassungsgericht, besitzt aber seit 1874 ein respektables System der Verfassungsgerichtsbarkeit23. Die Verfassungsgerichtsbarkeit ist jedoch primär auf die Bedürfnisse des Individualrechts19

So die Terminologie des Bundesgerichts (vgl. z. B. BGE 130 I 26, 31). Zu Rahmenbedingungen und Besonderheiten der Verfassungsinterpretation Pierre Tschannen, Verfassungsauslegung, in: Thürer / Aubert / Müller, Verfassungsrecht (FN 4), S. 149 ff.; Hans Huber, Der Formenreichtum der Verfassung und seine Bedeutung für ihre Auslegung, ZBJV 1971, S. 172 ff.; Giovanni Biaggini, Verfassungsinterpretation in der Schweiz, in: FS Heinz Schäffer, 2006, S. 109 ff. 21 Das sog. Initiativkomitee umfasst von Gesetzes wegen mindestens 7 und höchstens 27 Stimmberechtigte. 22 Es sind dies die am 20. Februar 1994 von Volk und Ständen angenommene sog. Alpenschutz-Initiative (Art. 36sexies BV 1874; heute Art. 84 BV), die am 8. Februar 2004 angenommene Volksinitiative „Lebenslange Verwahrung für nicht therapierbare, extrem gefährliche Sexual- und Gewaltstraftäter“ (sog. Verwahrungsinitiative; Art. 123a BV) sowie die am 27. November 2005 angenommene Volksinitiative „für Lebensmittel aus gentechnikfreier Landwirtschaft“ (Art. 197 Ziff. 7 BV). – Seit 1891 wurden insgesamt 15 Volksinitiativen angenommen. 23 Vgl. Walter Kälin, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Thürer / Aubert / Müller, Verfassungsrecht (FN 4), S. 1167 ff. – Näher hinten IV.2., S. 281 ff. 20

Die Staatsrechtswissenschaft und ihr Gegenstand

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schutzes zugeschnitten (Schutz verfassungsmässiger Rechte). Die Beurteilung von (Zuständigkeits-)Konflikten zwischen obersten Bundesbehörden obliegt nicht etwa dem Bundesgericht, sondern der Bundesversammlung (Art. 173 BV). Für die Beurteilung öffentlichrechtlicher Streitigkeiten zwischen Bund und Kantonen oder zwischen Kantonen ist zwar das Bundesgericht zuständig (staatsrechtliche Klage). Klagen im Verhältnis BundKantone sind indes sehr selten24. Ein Grund dafür ist, dass hier – wie in den übrigen Verfahren vor dem Bundesgericht und generell im Rechtsschutzsystem – eine wesentliche Einschränkung greift. Gemäss Art. 190 BV sind „Bundesgesetze und Völkerrecht [ . . . ] für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend.“25 Bundesgesetze müssen mit anderen Worten selbst dann angewendet werden, wenn sie sich als verfassungswidrig erweisen sollten (vgl. hinten IV.2.). Der sehr reichhaltigen (und innovativen; vgl. III.2.) höchstrichterlichen Rechtsprechung betreffend Auslegung und Konkretisierung der Grundrechte (und der EMRK) steht eine sehr spärliche Rechtsprechung betreffend die bundesstaatlich relevanten Verfassungsbestimmungen und das Staatsorganisationsrecht gegenüber. Hier haben vielfach politische Instanzen das „letzte Wort“ (de facto, oft auch de iure). Die Disziplinierung der Staatspraxis (Bundesrat, Bundesversammlung, Stimmberechtigte) erfolgt hier im Wesentlichen ohne Hilfe der Justiz über die blosse Kraft des guten Arguments – keine einfache Aufgabe für die Staatsrechtslehre. Ihr Gesprächspartner ist, mehr als in anderen Systemen, der Verfassungsgeber. Sie steht in einem intensiven Dialog mit dem „Souverän“ (wie man in der Schweiz die Stimmberechtigten bzw. „Volk und Stände“ zu nennen pflegt). Dass unter diesen organisatorischstrukturellen Bedingungen aus der Sicht der Verfassungsrechtslehre die Systembildung nicht im Zentrum steht, liegt auf der Hand.

3. Bundesstaatsgründung und „Gründungsmängel“: Das Erbe von 1848

Einige Besonderheiten der schweizerischen Verfassungsordnung und die damit zusammenhängenden Eigenheiten der Staatsrechtswissenschaft treten deutlicher hervor, wenn man sich in die Zeit der Bundesstaatsgründung zurückversetzt und einige wichtige Wegmarken der seitherigen Verfassungsentwicklung in den Blick nimmt. Die Bundesverfassung von 1848, welche die noch heute im Wesentlichen gültigen Grundlagen des schweizerischen Bundesstaates schuf, entstand zu einer Zeit, in der es eine Staatsrechtswissenschaft im heutigen Sinne in der Schweiz bestenfalls in Ansät24 Jüngere Beispiele sind BGE 125 II 152 (1999), Kanton St. Gallen gegen Schweizerische Eidgenossenschaft (Abgrenzung der Kompetenzen bei der Zulassung von Geldspielautomaten); BGE 117 Ia 202 (1991), Schweizerische Eidgenossenschaft gegen Kanton Basel-Landschaft (Behandlung von Staatsschutzakten des Bundes). 25 Bis Ende 2006 (gleich lautend) Art. 191 BV.

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zen gab. Gemessen an heutigen Massstäben zeigt die erste Bundesverfassung vor allem in rechtsstaatlicher Hinsicht bemerkenswerte Defizite. Diese erscheinen in einem milderen Licht, wenn man sich vergegenwärtigt, vor welch schwieriger Aufgabe die Verfassungsväter damals standen. Diese hatten eine eigentliche Pionierleistung zu vollbringen: An die Stelle des eher lockeren Staatenbundes sollte ein handlungsfähiges Gebilde treten, von einem festen rechtlichen Band zusammengehalten, das jedoch die einzelnen Kantone als weiterhin eigenständige Gemeinwesen nicht allzu sehr einengen durfte. Eine wichtige Quelle der Inspiration war die Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika. Daneben schöpfte man aus den Grundprinzipien der französischen Revolution (Gleichheit, individuelle Freiheit, demokratische Partizipation) und aus den Erfahrungen und Errungenschaften der kantonalen Verfassungskämpfe. Das bemerkenswerte Ergebnis war der erste moderne Bundesstaat auf europäischem Boden in Verbindung mit einer im Wesentlichen repräsentativen Demokratie26 auf der Grundlage des allgemeinen Männerstimm- und Wahlrechts27. Zu den sachlichen Schwierigkeiten traten politische hinzu: Als die von der Tagsatzung, dem Hauptorgan des Staatenbundes, eingesetzte Reformkommission am 17. Februar 1848 mit der Ausarbeitung der Bundesverfassung begann, hatte die Schweiz eben erst eine schwere innere Krise durchlebt (Sonderbundskrieg, November 1847), und noch war sie von lauter Monarchien umgeben. Bereits am 8. April 1848 lag der Verfassungsentwurf vor. Die Tagsatzung verabschiedete nach kurzen Beratungen einen in einzelnen Punkten modifizierten Text. Es war nun an den Kantonen, nach Massgabe ihrer verfassungsrechtlichen Vorschriften über die Annahme der neuen Verfassung Beschluss fassen. Zwischen dem 5. August und dem 3. September 1848 fanden in den Kantonen Volksabstimmungen oder Landsgemeinden statt28. Am 12. Herbstmonat (= September) 1848 stellte die Tagsatzung fest, dass 17 Kantone, welche die überwiegende Mehrheit der schweizerischen 26 Dies betont zu Recht Jean-François Aubert, Bundesstaatsrecht der Schweiz, 1991 / 95, Bd. I, S. 44. – Von den direktdemokratischen Instrumenten, die das schweizerische politische System heute prägen, gehen nur zwei auf die Bundesstaatsgründung zurück: das obligatorische Referendum für Verfassungsänderungen (das 1866 erstmals zur Anwendung kam) sowie die Volksinitiative auf Revision der Bundesverfassung (die allerdings bis zur Reform von 1891 praktisch kaum Bedeutung hatte). Dieser Befund ist nur vordergründig Wasser auf die Mühlen jener, welche die „Mittelbare / repräsentative Demokratie als eigentliche Form der Demokratie“ auffassen (so der Titel des Beitrags von Ernst-Wolfgang Böckenförde in: FS Kurt Eichenberger, 1982, S. 301 ff.). 27 Die Einführung des Frauenstimmrechts auf Bundesebene erfolgte erst 1971. Verschiedene Kantone hatten das Frauenstimmrecht in kantonalen und kommunalen Angelegenheiten schon vor 1971 eingeführt; die übrigen sollten bald folgen – mit Ausnahme des (Landsgemeinde-)Kantons Appenzell Innerrhoden, den schliesslich das Bundesgericht im Jahr 1990 im Aufsehen erregenden Urteil Rohner (BGE 116 Ia 359) zu diesem Schritt zwingen musste. 28 Die Ausnahme bildete der Kanton Freiburg, wo das Kantonsparlament abschliessend entschied.

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Bevölkerung repräsentierten, die Bundesverfassung angenommen hatten. Der (Mehrheits-)Beschluss der Tagsatzung, die Bundesverfassung für angenommen zu erklären und sie für die ganze Eidgenossenschaft in Kraft zu setzen, stellte klarerweise einen Bruch mit den bisherigen staatenbündischvertraglichen Rechtsgrundlagen dar.29 Die überstimmten Kantone30 lenkten, wenn auch zum Teil nur widerwillig, ein und entsandten schliesslich Abgeordnete in die beiden Kammern der Bundesversammlung, die am 6. November 1848 erstmals in Bern zusammentrat. Die Ereignisse von 1848 bieten reiches Material für eine staatsrechtliche Theorie der Gründungsmängel (bzw. des Umgangs mit ihnen). Man hatte damals jedoch andere Sorgen und Bedürfnisse. Um die zügige Behandlung und Annahme der Verfassung nicht zu gefährden, hatten die Staatsreformer von 1848 nicht unerhebliche Abstriche an ihrem ehrgeizigen Programm gemacht. Der Bund erlangte nur begrenzte Kompetenzen. Von der angestrebten Einheit des (Zivil-)Rechts blieb man weit entfernt, ebenso vom Ziel einer nationalen Armee. Diese und andere Anliegen wurden zurückgestellt. 1848 wurde ein erstes Mal praktiziert, was man als die „Kunst des Ausklammerns“ bezeichnen könnte – eine Methode, die auch bei den Totalrevisionen von 1874 und von 1999 angewendet werden sollte, im Wesentlichen mit Erfolg. Das Werk von 1848 war in mancherlei Hinsicht „unfertig“ – dies schon in den Augen der Verfassungsväter selbst. Nicht als defizitär empfand man allerdings im Allgemeinen, dass die neue Verfassung (ähnlich wie in den Vereinigten Staaten) auf Bundesebene eine im Wesentlichen repräsentative Demokratie schuf, nur ganz punktuell Bundesgrundrechte gewährleistete und auf Bundesebene bloss rudimentären gerichtlichen Rechtsschutz bot. Auf die beiden zuletzt genannten Punkte soll im Folgenden näher eingegangen werden (vgl. III. und IV.), weil sie für Entwicklung und Selbstverständnis der schweizerischen Staatsrechtswissenschaft eine wichtige Rolle spielten.

4. Ausgleich von Defiziten als verfassungspolitische Herausforderung

Wie geht man mit „Unfertigem“ um? Für die politische Praxis des noch jungen Bundesstaates stellte sich dieses Problem in erster Linie als Frage des weiteren Vorgehens in einem unvollendeten Zentralisierungsprozess 29 Von einer „kleinen Revolution“ spricht Alfred Kölz, Zur Staatenbildung im 19. Jahrhundert mit besonderer Berücksichtigung der Schweiz, Der Staat, Beih. 12 (1998), S. 172. Zurückhaltender äussern sich ältere Autoren wie Fritz Fleiner, Die Gründung des Schweizerischen Bundesstaates im Jahre 1848, 1898, S. 14 ff. 30 Von den acht ablehnenden Kantonen sprachen sich sechs später auch gegen die Verfassungen von 1874 und von 1999 aus. Dass diese sechs Kantone (Uri, Schwyz, Obwalden, Nidwalden, Appenzell Innerrhoden, Wallis) nie einer Bundesverfassung zugestimmt haben, ändert nichts an der Zugehörigkeit zum schweizerischen Bundesstaat.

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dar. Beim Ausbau der Bundeskompetenzen entschied man sich aus verschiedenen Gründen nicht für die problematische (US-amerikanische Methode) der kreativ-extensiven Verfassungsinterpretation, sondern für den beschwerlicheren Weg der förmlichen Verfassungsänderung. Nach ersten gescheiterten Versuchen (1866, 1872) konnte im Rahmen der Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 ein wichtiger Durchbruch im Bereich der „left overs“ von 1848 erzielt werden (wie man in der lingua franca unserer Tage sagen könnte). Die angestrebten substanziellen Kompetenzausweitungen (Rechtseinheit, Armee) forderten aber ihren Preis. Mit den für die Verfassungsrevision nötigen Mehrheiten (National- und Ständerat; Volk und Stände) konnte man nur rechnen, wenn dafür gesorgt war, dass die Bundesgewalt (d. h. der Bundesgesetzgeber) bei Bedarf in die Schranken gewiesen werden konnte. Wer sollte den Bundesgesetzgeber stoppen? Die Antwort der Totalrevision von 1874 lautete: durch Unterstellung der Bundesgesetze unter das fakultative Gesetzesreferendum. Die Bundesversammlung hatte in der Gesetzgebung fortan, ausser in Fällen „dringlicher Natur“, nicht mehr das letzte Wort (Art. 89 BV 1874 ursprüngliche Fassung), denn von nun an konnten acht Kantone oder 30’000 (heute 50’000) Stimmberechtigte verlangen, dass ein von der Bundesversammlung verabschiedetes Gesetz dem Volk zur Abstimmung vorgelegt wird (heute Art. 141 BV). Mit dem fakultativen Gesetzesreferendum, das zu Recht als „Prunkstück der Revision“ (Aubert) gilt,31 kam eine Prise „Rousseau“ in die Verfassungsordnung des Bundes, auch wenn die Lösung von 1874 um einiges hinter der dezidierten Forderung des Contrat social – „Toute loi que le peuple en personne n’a pas ratifiée est nulle; ce n’est point une loi.“ – zurückblieb32. Gezügelt werden musste auch die kantonale Staatsgewalt. Im jungen, noch „unreifen“ Bundesstaat konnte man nicht ohne weiteres darauf vertrauen, dass sich die Kantone durchweg an die Vorgaben des Bundesrechts halten würden. Die Antwort von 1874 fiel anders aus als jene von 1848: Nicht die Politik (Bundesrat, gegebenenfalls Bundesversammlung) sollte hier die Hauptrolle spielen, sondern das gestärkte Bundesgericht (vgl. hinten IV.2.). Weitsichtig setzte man auf die Verfassungsgerichtsbarkeit und auf (Verfassungs-)Beschwerden betroffener Individuen.

31 Abgedruckt in Giovanni Biaggini / Bernhard Ehrenzeller, Studienausgabe Öffentliches Recht, 3. Aufl. 2007, Nr. 4. 32 Jean-Jacques Rousseau, Vom Gesellschaftsvertrag (oder die Prinzipien des Staatsrechts), 1762, 3. Buch, 15. Kapitel: „Ein Gesetz, das nicht vom Volk gutgeheissen wurde, ist null und nichtig“. – Der stolze Bürger der freien Republik Genf geniesst in der Schweiz nach wie vor viel Wertschätzung. Man weiss sich dabei in guter Gesellschaft: Ein Porträt von Rousseau soll das einzige Bild gewesen sein, das in Immanuel Kants Königsberger Domizil (über dem Schreibtisch) hing (vgl. Manfred Kühn, Kant, 2003, S. 315).

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III. Reaktionen auf Grundrechtsdefizite 1. Lückenhafte Gewährleistung in den Bundesverfassungen von 1848 und 1874

Zu den bundesrechtlichen Grundrechtsgarantien der ersten Stunde gehörten die Rechtsgleichheit (Art. 4 BV 1848), die interkantonale Handelsfreiheit (Art. 29 BV 1848), eine begrenzte Niederlassungsfreiheit für Schweizer (Art. 41 BV 1848), Teilaspekte der Religionsfreiheit, vorerst nur für Angehörige christlicher Konfessionen (Art. 44 BV 1848), die Pressefreiheit (Art. 45 BV 1848) sowie die Vereinigungsfreiheit (Art. 46 BV 1848). Im Rahmen der Totalrevision von 1874 kamen einige Garantien, für welche die Zeit 1848 noch nicht ganz reif gewesen war, hinzu, so die Handels- und Gewerbefreiheit (Art. 31 BV 1874, heute Wirtschaftsfreiheit), das Recht auf Ehe (Art. 54 BV 1874) und Weiterungen bei der Niederlassungs- (Art. 45 BV 1874) und bei der Glaubens- und Gewissensfreiheit (Art. 49 und 50 BV 1874). Die Auswahl wirkt aus heutiger Sicht etwas zufällig und „lückenhaft“. Grundlegende Garantien wie die Meinungsäusserungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit oder die Eigentumsgarantie fehlten. 1848 hatte man (auch um den Bogen der Reform nicht zu überspannen) keine umfassende Gewährleistung von Grundrechten durch den Bund angestrebt. Es macht den Anschein, es sei den Verfassungsvätern nicht zuletzt darum gegangen, in Rechtsgebieten, für die der Bund (noch) keine Regelungskompetenz besass (z. B. Regelung des Vereinswesens, des Wirtschaftsverkehrs), wenigstens gewisse freiheitliche Mindeststandards mit Hilfe von Grundrechtsgewährleistungen gesamtschweizerisch durchzusetzen. Der lückenhafte Katalog ist somit wohl auch Ausdruck eines instrumentellen Verständnisses der Grundrechte (das auch heute spürbar ist33) sowie einer gewissen Arbeitsteilung zwischen Bund und Kantonen in Sachen Grundrechtsschutz. Verfassungsvergleichend ist es im Übrigen nicht aussergewöhnlich, dass man zu Beginn eines Integrationsprozesses den Grundrechten nur begrenzt Aufmerksamkeit schenkt. Man denke an die Verfassungsväter der „sister republic“ USA (1787) oder an den europäischen Integrationsprozess, wo das Bedürfnis nach einem „eigenen“ Grundrechtskatalog (jenseits der Binnenmarktfreiheiten) erst nach Jahren manifest wurde. In den USA musste der Verfassungsgeber alsbald „nachsitzen“; das Versäumte wurde rasch nachgeholt (Amendment I–X). In der Schweiz dauerte es 150 Jahre, bis die Bundesversammlung (just noch im Dezember des Jubiläumsjahres 1998) im Rahmen der Verfassungsreform einen Grundrechtskatalog, der diesen Na33 Vgl. Walter Kälin, Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, 1987. – Grundrechte wie die Wirtschaftsfreiheit (Art. 27 BV) und die Rechtsgleichheit (Art. 8 BV) spielen auch heute eine wichtige Rolle als Mittel bundesstaatlicher Integration.

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men verdient, verabschiedete. In der EU ist man bekanntlich noch immer am „Nachsitzen“.

2. Anerkennung ungeschriebener Grundrechte als Ausweg

Mit dem unaufhaltsamen Ausbau der Rechtsordnung auf Bundesebene, verstärkt durch den Interventionismus der Kriegs- und Krisenzeiten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, entstanden neue Gefährdungslagen und Schutzbedürfnisse. Da Grundrechte nicht auf eine starke KodifikationsLobby zählen können, suchte man nach anderen Möglichkeiten zur Stärkung des Grundrechtsschutzes. Ein besonders aktiver Vorkämpfer war Zaccaria Giacometti (1893 – 1970). In seinem wegweisenden „Staatsrecht der schweizerischen Kantone“34 und in weiteren Schriften35 ebnete der Zürcher Staatsrechtslehrer (mit Wurzeln im italienischsprachigen Teil Graubündens) der Anerkennung von ungeschriebenen Grundrechten durch das Bundesgericht den Weg36. Eine seiner Schlüsselthesen lautete37: „Die Zerlegung der individuellen Freiheit in einzelne Freiheitsrechte durch die Freiheitsrechtskataloge der geltenden Verfassungen kann [ . . . ] keine endgültige sein. Wenn neue Seiten der individuellen Freiheit aktuell werden, so müssen sich aus den Freiheitsrechtskatalogen die entsprechenden neuen Freiheitsrechte ableiten lassen, es wäre denn, dass die Verfassung ausdrücklich gegenteilige Vorschriften enthalten sollte“. Entsprechend der von Giacometti postulierten „Lückenlosigkeit der Freiheitsrechtskataloge“ gewährleiste die Bundesverfassung in ihrem (unvollständigen) Katalog „nicht nur die darin aufgezählten Freiheitsrechte, sondern alle individuellen Freiheiten, die rechtlich relevant sind oder werden können“ („umfassende Gewährleistung aller aktuellen und potentiellen individuellen Freiheiten durch die Bundesverfassung“). Ermutigt durch die Thesen Giacomettis und durch weitere Stellungnahmen in der Verfassungsrechtslehre anerkannte das Bundesgericht nach und nach mehrere ungeschriebene Grundrechte. Der erste (kleine) Schritt spielte sich gleichsam im Verborgenen ab: In einem nicht in die amtliche Sammlung aufgenommenen Urteil vom 11. Mai 196038 wies das Bundesgericht auf zwei 34

Zaccaria Giacometti, Das Staatsrecht der schweizerischen Kantone, 1941. So etwa in der Zürcher Rektoratsrede von 1955 (Die Freiheitsrechtskataloge als Kodifikation der Freiheit, in: Zaccaria Giacometti, Ausgewählte Schriften, 1994, S. 23 ff.). 36 Zum Ganzen auch Alfred Kölz, Neuere schweizerische Verfassungsgeschichte, Band II, 2004, S. 817 ff. 37 Giacometti (FN 34), S. 169 f. 38 Auszugsweise wiedergegeben in: Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Gemeindeverwaltung (heute: Schweizerisches Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht), ZBl 1961, S. 69. 35

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im Vorjahr ergangene unveröffentlichte Urteile hin, worin es die damals nicht in der Bundesverfassung figurierende Eigentumsgarantie als bundesverfassungsrechtlich geschütztes Recht eingestuft habe. Für den Eigentumsschutz änderte sich dadurch nur wenig, denn das Bundesgericht hatte schon zuvor aus den Gewährleistungen des Eigentumsgrundrechts in den Kantonsverfassungen eine Art „gemeineidgenössischen“ Schutzstandard entwickelt. Tief greifend waren hingegen die Folgen für die allgemeine Entwicklung im Grundrechtsbereich. Denn schon bald anerkannte das Bundesgericht, nun jeweils in amtlich veröffentlichten Urteilen, eine Reihe von weiteren ungeschriebenen Grundrechten des Bundes: zunächst, in einem blossen obiter dictum, die Meinungsäusserungsfreiheit (1961), kurz darauf – nunmehr unter direkter Bezugnahme auf Giacometti und weitere Autoren – die persönliche Freiheit (1963), die Sprachenfreiheit (1965) und die Versammlungsfreiheit (1970), schliesslich, gleichsam als Nachzügler, das Recht auf Existenzsicherung (1995), das dem Einzelnen in Notlagen Anspruch auf staatliche Hilfe und Betreuung und die für ein menschenwürdiges Dasein unerlässlichen Mittel gibt39. Nach anfänglicher Unsicherheit entwickelte das Bundesgericht, mit Unterstützung der Rechtslehre, eine feste Formel im Geiste Giacomettis. Danach können in der Verfassungsurkunde nicht genannte Individualrechte dann als (ungeschriebene) Grundrechte des Bundes anerkannt werden, wenn sie eine „Voraussetzung für die Ausübung anderer (in der Verfassung genannter) Freiheitsrechte bilden oder sonst als unentbehrliche Bestandteile der demokratischen und rechtsstaatlichen Ordnung des Bundes erscheinen“; mit Blick auf die „dem Verfassungsrichter gesetzten Schranken“ ist gemäss Bundesgericht weiter zu prüfen, „ob die in Frage stehende Gewährleistung bereits einer weitverbreiteten Verfassungswirklichkeit in den Kantonen“ entspricht und „von einem allgemeinen Konsens getragen“ ist40. Bereits vor der Anerkennung ungeschriebener Grundrechte hatte das Bundesgericht damit begonnen, aus dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 4 BV 1874, heute Art. 8 Abs. 1 BV) rechtsstaatlich motivierte Garantien und Grundsätze – wie das Willkürverbot, den Vertrauensschutzgrundsatz, den Anspruch auf rechtliches Gehör und weitere Verfahrensgarantien – „abzuleiten“41 (ohne sich dabei auch nur entfernt auf den Text der Verfassung stützen zu können). 39 BGE 87 I 114 (117), Sphinx-Film S.A.; BGE 89 I 92 (98), Kind X.; BGE 91 I 480 (486), Association de l’École française; BGE 96 I 219 (224), Nöthiger und Pinkus; BGE 121 I 367 (371), V. – Das Grundrecht der persönlichen Freiheit drohte zwischenzeitlich zu einer konturlosen allgemeinen Handlungsfreiheit auszuufern, bis das Bundesgericht im Jahr 1975, nicht zuletzt angesichts dezidierter Kritik in der Rechtslehre, zu einem engeren Verständnis zurückkehrte (vgl. BGE 101 Ia 336, 347). – Für eine eingehende (zeitnahe) Analyse Peter Saladin, Grundrechte im Wandel (1970), 3. Aufl. 1982. 40 BGE 121 I 367, 370 f.; ähnlich bereits BGE 100 Ia 392, 400 f. 41 Eingehend Arthur Haefliger, Alle Schweizer sind vor dem Gesetze gleich, 1985.

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Die Verfassungsordnung des Bundes enthielt zwar nach wie vor nicht einen „von einem Parlament beschlossenen und in Geltung stehenden formulierten Katalog von Grundrechten“; doch spätestens ab 1970 (d. h. noch vor dem Beitritt der Schweiz zur EMRK im Jahr 1974) konnte man guten Gewissens sagen, dass die Rechtsprechung „einen wirksamen Schutz der Grundrechte [ . . . ] generell gewährleiste[t]“42. Dass sich Staatsrechtslehre und Bundesgericht gerade in dem von der Verfassungsgebung vernachlässigten Grundrechtsbereich engagierten und schöpferisch zusammenwirkten, überrascht im Nachhinein nicht sonderlich. Bemerkenswert ist immerhin, dass sich in einer derart direktdemokratisch durchdrungenen Rechtsordnung wie der schweizerischen (in der sonst jede noch so geringfügige Änderung der Verfassung einer Volksabstimmung bedarf) in grösserem Umfang „undemokratisches“ Verfassungsrichterrecht herausgebildet hat. Noch erstaunlicher ist, dass sich die Kritik aus Kreisen der Politik in engen Grenzen hielt43. Im Gegenteil: Bei der nächsten sich bietenden Gelegenheit (die allerdings bis Ende des 20. Jahrhunderts auf sich warten liess) wurden die vom Bundesgericht anerkannten ungeschriebenen Grundrechte zusammen mit den „Ableitungen“ aus Art. 4 BV 1874 kodifiziert (Art. 7 – 36 BV), dies wiederum mit tatkräftiger Unterstützung seitens der Staatsrechtslehre44.

IV. Reaktionen auf Defizite im Rechtsschutzsystem 1. Anfänge der Bundesgerichtsbarkeit

Wesentlich schwieriger gestaltete sich der Prozess der Modernisierung im Bereich des Rechtsschutzsystems. Auch hier spielte und spielt die Staatsrechtswissenschaft eine massgebliche Rolle. Das bei Bundesstaatsgründung geschaffene Bundesgericht war zunächst (bis 1874) eine nicht-permanente Einrichtung. Für das Gerichtswesen waren die Kantone zuständig. Das Bundesgericht besass nur ganz punktuelle Zuständigkeiten auf den Gebieten des Privat- und des Strafrechts45. Ausserdem war vorgesehen, dass das 42 Erstes Zitat: BVerfGE 37, 271 (285), „Solange I“ (1974); zweites Zitat: BVerfGE 73, 339 (387), „Solange II“ (1986). 43 Zum Teil heftige Kritik musste das Bundesgericht dagegen einstecken bei einzelnen Urteilen, in denen es im Grunde lediglich seine Aufgabe als Wächter der Verfassung erfüllte, ohne einen sonderlich schöpferischen Beitrag zur Verfassungsfortbildung zu leisten. Dazu gehören etwa das 1990 ergangene sog. Kruzifix-Urteil (BGE 116 Ia 252, Comune di Cadro) und ein 2003 ergangenes Urteil betreffend Unzulässigkeit von Einbürgerungsentscheidungen per Volksabstimmung (BGE 129 I 232, Schweizerische Volkspartei der Stadt Zürich). 44 Vgl. etwa den „Privatentwurf“ von Alfred Kölz und Jörg Paul Müller (Entwurf für eine neue Bundesverfassung vom 16. Mai 1984, 3. Aufl. 1995). 45 Für das damalige Rechtsstaatsverständnis bezeichnend ist, dass im Verhältnis zwischen Bundesversammlung und Bundesgericht bis 1874 keine personelle Gewal-

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Bundesgericht Beschwerden betreffend Verletzung der neu durch den Bund garantierten verfassungsmässigen Rechte beurteilt, wobei allerdings das Bundesgericht nur dann zuständig war, wenn die Bundesversammlung beschloss, die Sache nicht selbst zu entscheiden, sondern „hierauf bezügliche Klagen“ an das Bundesgericht zu überweisen (Art. 105 BV 1848). Unter der Bundesverfassung von 1848 geschah dies nur ein einziges Mal46. Was auf den ersten Blick irritiert, hat durchaus seine innere Logik. Zum einen entsprach es in der Schweiz langer und bewährter Tradition, die Beurteilung von öffentlichrechtlichen Streitigkeiten bei den politischen Behörden anzusiedeln. Der Rechtsweg führte typischerweise zur Regierung (als Rekursinstanz), mit Weiterzugsmöglichkeit an das Parlament. Zum andern waren die reformwilligen Kräfte an die Macht gelangt. Sie beherrschten die Legislative und die Exekutive im Bund; das Interesse und Bedürfnis, eine unabhängige Justiz als Kontrollinstanz und „Gegenkraft“ aufzubauen, war nicht sonderlich gross. Die Aufgabe, die Errungenschaften von 1848 gegen widerstrebende kantonale Behörden zu schützen und durchzusetzen, sah man bei den (demokratisch legitimierten) politischen Instanzen am besten aufgehoben. Noch heute fällt die Beurteilung von Kompetenzkonflikten zwischen den obersten Bundesbehörden in die alleinige Zuständigkeit der Bundesversammlung (Art. 173 Abs. 1 Bst. i BV).

2. Das Modell von 1874: „Gespaltene“ Verfassungsgerichtsbarkeit und „Immunisierung“ der Bundesgesetze

Einen wichtigen ersten Schritt in Richtung rechtsstaatliche Normalisierung brachte die Totalrevision der Bundesverfassung von 1874. Das Bundesgericht wurde zu einem permanenten obersten Gericht ausgebaut und mit der Rolle des Garanten der Rechtseinheit sowie mit gewissen (begrenzten) verfassungsrichterlichen Funktionen betraut. So war das Bundesgericht für die Beurteilung von „Beschwerden betreffend Verletzung verfassungsmässiger Rechte der Bürger sowie über solche von Privaten wegen Verletzung von Konkordaten und Staatsverträgen“ zuständig (nunmehr ohne „Umweg“ über die Bundesversammlung). Noch lange vor der Errichtung der ersten modernen Verfassungsgerichtshöfe in Österreich und in der Tschechoslowakei entstand in der Schweiz ein spezifisches Rechtsmittel der Verfassungsgerichtsbarkeit: die staatsrechtliche Beschwerde (Verfassungsbeschwerde). Dieses Rechtsmittel stand allerdings, bezeichnenderweise, nur gegen Akte der kantonalen Staatsgewalt zur Verfügung, während es gegen Akte der Bundesgewalt vorerst kein Rechtsmittel an das Bundesgericht tentrennung bestand: Parlamentsabgeordnete konnten zugleich Bundesrichter sein (Art. 97 BV 1848 e contrario). 46 Urteil des Bundesgerichts vom 3. 7. 1852 in Sachen Dupré (abgedruckt in: ZSR 1853, S. 41 ff.).

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gab47. Dies war nicht die einzige rechtsstaatliche „Anomalie“ im Rechtsschutzsystem von 1874. So ermöglichte eine Ausnahmeklausel es dem Bundesgesetzgeber, die Beurteilung bestimmter Beschwerden betreffend Verletzung verfassungsmässiger Rechte (durch kantonale Behörden) weiterhin in die Hände des Bundesrates (als Rechtsmittelinstanz) zu legen (Art. 113 Abs. 2 BV 1874), mit Beschwerdemöglichkeit an die Bundesversammlung (Art. 85 Ziffer 12 BV 1874). Zur Rechtfertigung dieser Ausnahmeklausel wurde angeführt, dass in einigen Regelungsmaterien „die Rechtsverhältnisse noch schwankend“ seien48, weshalb manchen Grundrechten neben der rechtlichen auch eine gesteigerte „politische Bedeutung“ zukomme. Dazu zählte man im noch jungen Bundesstaat vor allem die Niederlassungsfreiheit, die Glaubens- und Gewissensfreiheit sowie die Handels- und Gewerbefreiheit. Die Rechtsprechungszuständigkeit ging erst nach und nach auf das Bundesgericht über49. Die Verfassungsväter von 1848 hatten angesichts der sehr begrenzten Zuständigkeiten des Bundesgerichts noch keinen Anlass gesehen, in der Verfassung eine Regelung für die heikle Frage der (höchst)richterlichen Normenkontrollbefugnisse gegenüber dem Bundesgesetzgeber zu treffen. Auch in der US-Verfassung von 1787 hatte man die Frage nicht ausdrücklich geregelt. Im Urteil Marbury v. Madison, 5 U.S. (1 Cranch) 137 (1803) beanspruchte der Supreme Court das Recht, Gesetze des Bundes im Anwendungsfall auf ihre Verfassungsmässigkeit hin zu überprüfen. In den USA entschied die Justiz die Frage zu Gunsten der Justiz. In der Schweiz entschied die Politik die Frage – zu Gunsten der Politik. Die im Rahmen der Totalrevision der Bundesverfassung von 1874 geschaffene Bestimmung über die Zuständigkeiten des Bundesgerichts in öffentlichrechtlichen Angelegenheiten wurde durch die folgende Klausel abgerundet: „In allen diesen Fällen sind jedoch die von der Bundesversammlung erlassenen Gesetze und allgemeinverbindlichen Beschlüsse sowie die von ihr genehmigten Staatsverträge für das Bundesgericht massgebend.“ (Art. 113 Abs. 3 BV 1874). Diese folgenschwere Einschränkung höchstrichterlicher Normenkontrollbefugnisse besteht (in textlich leicht modifizierter Form) noch heute (Art. 190 BV)50. 47 Vgl. Zaccaria Giacometti, Die Verfassungsgerichtsbarkeit des schweizerischen Bundesgerichts, 1933, S. 40 f. – Nachdem die altehrwürdige staatsrechtliche Beschwerde per 1. Januar 2007 in den wohlverdienten Ruhestand trat, gilt nun Entsprechendes für das im Rahmen der Justizreform geschaffene Rechtsmittel der Verfassungsbeschwerde (Art. 113 des Bundesgesetzes vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht). 48 So die bundesrätlichen Erläuterungen zur Revision der Bundesverfassung (Bundesblatt 1870 II 700). 49 Zu ersten Verlagerungen kam es 1893 und 1911, für einzelne Grundrechte (u. a. Anspruch auf genügenden, unentgeltlichen Grundschulunterricht) erst Ende 1999. 50 Art. 190 BV (bis Ende 2006: Art. 191 BV) lautet: „Bundesgesetze und Völkerrecht sind für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden massgebend.“

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Aus der Perspektive der dritten Gewalt kann man die Ergebnisse der Totalrevision von 1874 auf folgenden kurzen Nenner bringen: „Immunisierung“ der Bundesgesetze und „gespaltene“ Verfassungsgerichtsbarkeit. Kantonale Hoheitsakte unterliegen einer echten, strengen Verfassungsgerichtsbarkeit, ausgeübt durch das Bundesgericht (soweit nicht die Ausnahmeklausel des Art. 113 Abs. 2 BV 1874 greift). Gegenüber Bundesakten besteht weder eine Verfassungs- noch eine Verwaltungsgerichtsbarkeit. Den Bundesgesetzgeber zu disziplinieren, sah man als eine Aufgabe des Volkes (Gesetzesreferendum), nicht der Justiz an. Für die Zügelung der kantonalen Staatsgewalt hingegen setzte man (zunehmend) auf die Verfassungsgerichtsbarkeit (Bundesgericht) und auf die Individuen als Beschwerdeführer (staatsrechtliche Beschwerde). Machtkontrolle – dies das Ergebnis von 1874 – war fortan eine Mischung aus (direkt)demokratischen und rechtsstaatlichen (justiziellen) Kontrollmechanismen.

3. Späte Einführung und zögerlicher Ausbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit

In Anbetracht der sich ändernden Rahmenbedingungen konnte die 1874 gefundene Lösung nicht auf Dauer befriedigen. Die sukzessive Erweiterung der zunächst schmalen Bundeskompetenzen, die immer wichtiger und umfangreicher werdende Bundesgesetzgebung, der Grössen- und Bedeutungszuwachs der Bundesverwaltung: all dies liess die Einführung einer unabhängigen (verwaltungs-)gerichtlichen Überprüfung immer drängender werden. Impulse für eine Reform gingen allerdings weniger von der Politik aus (wo man sich nicht sonderlich daran zu stören schien, dass die Exekutive oft Richter in eigener Sache war), sondern vor allem von der Staatsrechtslehre. Als Vorkämpfer für Einführung und Ausbau der Verwaltungsgerichtsbarkeit taten sich namentlich Gustav Vogt (1829 – 1901) und, etwas später, Fritz Fleiner (1867 – 1937) hervor51. Vogt, zunächst Professor in Bern, ab 1870 Professor für „demokratisches Staatsrecht“ in Zürich sowie Chefredaktor der Neuen Zürcher Zeitung (1878 – 1885), trat immer wieder dezidiert für die „Einsetzung eines eidgenössischen Verwaltungsgerichtshofes“52 ein. Fritz Fleiner, Professor zunächst in Zürich, dann in Basel, Tübingen und Heidelberg, ab 1915 wieder in Zürich53, führte die Bemühungen Vogts hartnäckig fort – mit Erfolg. Als die Idee der Verwaltungsgerichtsbarkeit auch in politischen Kreisen Fuss fasste, wurde Fleiner massgeblich an 51 Vgl. zum Ganzen Kölz (FN 36), S. 8511 ff. (mit Hinweisen auf weitere Protagonisten). 52 So der Titel eines Beitrags in der Zeitschrift für Schweizerisches Recht 1897, S. 821 ff. 53 Vgl. Roger Müller, Verwaltungsrecht als Wissenschaft: Fritz Fleiner (1867 – 1937), Diss. Zürich 2005, S. 293 ff.

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der Ausarbeitung einer neuen Verfassungsbestimmung beteiligt. Diese wurde im Jahr 1914 von Volk und Ständen gutgeheissen (Art. 114bis BV 1874). Damit war die Grundlage für eine zunächst begrenzte Verwaltungsgerichtsbarkeit im Bund gelegt. In der Folge arbeitete Fleiner mehrere Entwürfe für die Ausführungsgesetzgebung aus. Seine Forderung, die Zuständigkeit des Bundesgerichts (als Verwaltungsgericht des Bundes) mittels Generalklausel zu umschreiben, fand aber im Bundesgesetz vom 11. Juni 1928 über die eidgenössische Verwaltungs- und Disziplinarrechtspflege keinen Niederschlag. Für viele Beschwerden blieb es zudem vorerst beim rein verwaltungsinternen Rechtsweg. Der Wechsel zum System der Generalklausel liess bis Ende der 1960er Jahre auf sich warten. Die lange Liste der Ausnahmen wurde nach und nach verkürzt54. Seit dem 1. Januar 2007 ist der Zugang zur (Verwaltungs-)Justiz durch eine Rechtsweggarantie (Art. 29a BV) grundrechtlich abgesichert. Noch heute allerdings ist der Bundesrat, gestützt auf eine Ausnahmeklausel, für die Beurteilung bestimmter Rechtsstreitigkeiten abschliessend zuständig55.

4. Erfolglose Bemühungen um eine Erweiterung der Verfassungsgerichtsbarkeit

Für Beschränkungen der richterlichen Kontrollbefugnisse gegenüber dem Bundesgesetzgeber gab es im ausgehenden 19. Jahrhundert einleuchtende Gründe. Der Bundesgesetzgeber (insb. der Nationalrat) galt „als Motor von Fortschritt und Freiheit“56. Das 1874 eingeführte Gesetzesreferendum war schon Bremse genug. Der Aufbau des Bundesstaates sollte nicht unnötig erschwert werden; die Inhalte und die Geschwindigkeit wollte man allein politisch bestimmt wissen. Allerdings wurde auch hier der Wandel der Bedürfnisse und der möglichen Gefährdungen unterschätzt, die der fortschreitende Integrations- und Zentralisierungsprozess mit sich brachte. Mit zunehmender Gesetzgebungstätigkeit und Stärkung der Bundesgewalt wuchsen auch die Gefahren für Individualrechte und für die gliedstaatlichen Kompetenzen; dies galt erst recht, als in den Jahren während und nach dem Ersten Weltkrieg immer häufiger Regelungen dem Referendum, und damit der direktdemokratischen Kontrolle, entzogen wurden, sei es im Rahmen des sog. „Vollmachtenregimes“ (ab 1914), sei es gestützt auf die sog. Dringlichkeitsklausel (Art. 89 BV 1874 ursprüngliche Fassung; vgl. II.4.). Unter diesen Erlassen gab es nicht wenige, die verfassungsrechtlich zweifelhaft, wenn nicht verfassungswidrig waren. Schon im ausgehenden 19. Jahrhundert war in der Staatsrechtslehre immer wieder die Forderung nach Erwei54 Zur Entwicklung vgl. Heinrich Koller, Die Verwaltungsrechtspflege des Bundesrates als Residuat, in: FS Arnold Koller, 1993, S. 359 ff. 55 Vgl. Art. 29a Satz 2 und Art. 187 Abs. 1 Bst. d BV. 56 Kölz (FN 36), S. 823.

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terung der Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesgesetze erhoben worden, nicht zuletzt unter Hinweis auf das US-amerikanische Vorbild57. Da Vorstösse im Parlament nichts fruchteten, lancierte ein vorab aus Juristen bestehendes Initiativkomitee mit Unterstützung der beiden Zürcher Staatsrechtsprofessoren Fleiner und Giacometti die Eidgenössische Volksinitiative „Wahrung der verfassungsmässigen Rechte der Bürger (Erweiterung der Verfassungsgerichtsbarkeit)“. Die von 58’690 gültigen Unterschriften unterstützte Volksinitiative wurde am 29. Juni 1936 eingereicht. Sie verlangte eine Revision von Art. 113 BV. Fortan sollten dem Bundesgericht auch Beschwerden betreffend Verletzung verfassungsmässiger Rechte der Bürger durch die Bundesgesetzgebung und durch weitere eidgenössische Rechtsakte vorgelegt werden können. Weiterhin „immunisiert“ bleiben sollten Staatsverträge „sowie die in einer Volksabstimmung angenommenen Bundesgesetze und Bundesbeschlusse“. Trotz dieser Konzession an das System der direkten Demokratie wurde die Volksinitiative zur Enttäuschung der Protagonisten in der Volksabstimmung vom 22. Januar 1939 überaus deutlich abgelehnt (lediglich 29% Ja-Stimmen; Ablehnung durch alle Kantone). Dafür gelang es in zwei Schritten (1939 und 1949), welche wiederum von Exponenten der Staatsrechtslehre gefordert und massgeblich gefördert wurden, das sog. Dringlichkeitsrecht zu disziplinieren und (dank einer 1949 gutgeheissenen Volksinitiative) einer direktdemokratischen Kontrolle zu unterwerfen58 (Einführung eines nachträglichen Referendums, Art. 89bis BV 1874, heute Art. 165 BV). Verschiedene Versuche, die Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesgesetze auszudehnen, blieben indes erfolglos, so zuletzt im Rahmen der Justizreform (1998 / 99) und der Finanzausgleichsreform (2002 / 3). Die Anträge des Bundesrates auf Einführung einer beschränkten, beim Bundesgericht konzentrierten Normenkontrolle im konkreten Anwendungsfall (Justizreform) bzw. auf Einführung einer auf Kompetenzstreitigkeiten beschränkten Normenkontrolle (Finanzausgleichsreform) scheiterten jeweils am Widerstand der Bundesversammlung59. Bundesgesetze bleiben somit bis auf weiteres „immunisiert“, was dem Bundesgesetzgeber selbstverständlich keinen Freipass gibt, die Verfassung zu verletzen, an die er, ungeachtet der fehlenden gerichtlichen Kontrolle, gebunden ist.

57 Vgl. Kölz (FN 36), S. 821 ff. (mit Hinweisen auf Diskussionsbeiträge insb. von Johann Jakob Rüttimann und Gustav Vogt). 58 Vgl. Kölz (FN 36), S. 763 ff.; vgl. auch Fritz Fleiner / Zaccaria Giacometti, Schweizerisches Bundesstaatsrecht, 1949, S. 775 ff. 59 In der Staatsrechtslehre gab es bezeichnenderweise nur wenig Support für die Kompetenzgerichtsbarkeit.

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Giovanni Biaggini 5. Überlistung des „Immunsystems“

Obwohl der Bundesgesetzgeber im Allgemeinen bestrebt ist, die ihm durch die Verfassung gezogenen Grenzen zu respektieren60, kann es doch vorkommen, dass eine Gesetzesnorm sich in einem speziell gelagerten Anwendungsfall als verfassungswidrig erweist oder dass sie im Lauf der Zeit verfassungswidrig wird, weil sich das Verfassungsrecht weiterentwickelt. Im Wissen darum, dass die Forderung nach förmlicher Erweiterung der (höchst)richterlichen Normenkontrollbefugnisse wenig Aussicht auf Erfolg hat, entwickelte man in Lehre und Rechtsprechung verschiedene Strategien, die es erlauben, wenigsten gewisse stossende Konsequenzen der rechtsstaatlich fragwürdigen „Immunität“ der Bundesgesetze abzumildern61. So wird in der Lehre schon lange betont, dass die „Massgeblichkeitsklausel“ (Art. 113 Abs. 3 BV 1874, heute Art. 190 BV) dem Bundesgericht in Bezug auf Bundesgesetze nicht ein Prüfungsverbot, sondern ein (blosses) Anwendungsgebot auferlegt, so dass höchstrichterliche Kritik am Bundesgesetzgeber möglich ist, wenn auch ohne direkte Folgen (denn die Korrektur ist allein Sache des Gesetzgebers, nicht der Gerichte). Das Bundesgericht hat sich diese Position zu eigen gemacht62; es übt Kritik, früher zögerlich, heute mitunter recht dezidiert63. Eine andere (nicht ganz unproblematische) Methode besteht darin, allgemeine Rechtsgrundsätze wie das Vertrauensschutzprinzip oder das Rechtsmissbrauchsverbot heranzuziehen, um im Einzelfall ein Abgehen von der durch das Gesetz vorgegebenen Lösung zu rechtfertigen. Weiter wird postuliert, dass Bundesgesetze jedenfalls dann nicht massgebend seien, wenn sie grundrechtliche Kerngehalte (im Sinne von Art. 36 Abs. 4 BV) verletzen64. Der (verdeckten) „Normkorrektur“ dienen auch Methodenfiguren wie die zeitgemässe Auslegung (insb. bei alten, grundrechtlich problematisch gewordenen Gesetzen), die verfassungskonforme Interpretation (bei „Bedarf“ auch über den Gesetzeswortlaut hinaus) oder die Annahme (oft eher: „Konstruktion“) einer Gesetzeslücke, die man dann verfassungskonform füllen kann. Dass die Methoden60 In jüngerer Zeit scheint allerdings der Respekt vor der Verfassung tendenziell zu schwinden. 61 Zum Folgenden vgl. Andreas Auer, Die schweizerische Verfassungsgerichtsbarkeit, 1984, S. 85 ff.; Walter Kälin, Das Verfahren der staatsrechtlichen Beschwerde, 2. Aufl. 1994, S. 11 ff.; Giovanni Biaggini, Verfassung und Richterrecht, 1991, S. 426 ff.; Thomas Gächter, Rechtsmissbrauch im öffentlichen Recht, 2005. 62 Vgl. BGE 129 II 249, 263, A. X. (2003): „Anwendungsgebot, nicht Prüfungsverbot“. 63 Vgl. BGE 132 I 68, 78 (2006) betreffend Art. 30 Abs. 2, 160 Abs. 1, 161 und 271 ZGB (Gleichbehandlung von Mann und Frau bzw. der Ehegatten); BGE 131 II 697, 705 (2005) und BGE 131 II 710, 719 (2005), beide betreffend Art. 11 Abs. 1 Satz 2 des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 1990 über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden. 64 Vgl. Markus Schefer, Die Kerngehalte von Grundrechten, 2001, S. 323 f.; Biaggini (FN 61), S. 446.

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lehre in der Schweiz neuen, auch unorthodoxen Ansätzen gegenüber allgemein aufgeschlossen ist, hat seinen Grund nicht zuletzt (auch) in der „Immunität“ der Bundesgesetze. Eine wichtige Rolle beim Abbau rechtsstaatlicher Defizite spielte und spielt die Europäische Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (EMRK), welcher die Schweiz nach längerem Zögern im Jahr 1974 beitrat65. Das Bundesgericht betonte schon bei der ersten sich bietenden Gelegenheit den verfassungsrechtlichen Charakter der EMRKGarantien und stellte sie in verfahrensrechtlicher Hinsicht den verfassungsmässigen Rechten der Bundesverfassung gleich66. Mit Hilfe der EMRK kann das dem Schutz der Bundesgesetze dienende „Immunsystem“ ein Stück weit überlistet werden. Art. 190 BV erklärt nämlich nicht nur Bundesgesetze, sondern auch das Völkerrecht für „massgebend“ (ähnlich schon Art. 113 Abs. 3 BV 1874). Nach einer traditionsreichen (wenn auch nicht immer unangefochtenen) Maxime, die sich in der neuen Bundesverfassung textlich niedergeschlagen hat (Art. 5 Abs. 4 BV), geht in der Schweiz das Völkerrecht dem nationalen Recht im Konfliktfall grundsätzlich vor67. Die Lehre ging (und geht) ganz überwiegend davon aus, dass einer völkerrechtswidrigen Norm die Anwendung auch dann zu versagen ist, wenn es sich um eine Norm der Stufe Bundesgesetz handelt. Das Bundesgericht schloss sich dieser Position grundsätzlich an. Und vor kurzem hielt es, erstmals in dieser Deutlichkeit, fest, diese Lösung dränge sich umso mehr auf, „wenn sich der Vorrang aus einer völkerrechtlichen Norm ableitet, die dem Schutz der Menschenrechte dient“68. Konsequenterweise müsste das Bundesgericht nun EMRK-widrigen Bestimmungen in Bundesgesetzen jeweils die Anwendung versagen69. Ob dies künftig stets geschehen wird, muss sich noch weisen. Da die Garantien der EMRK und die Grundrechte der Bundesverfassung in weiten Bereichen parallel laufen, besteht im Ergebnis eine Art de 65 Zu den Gründen für den späten Beitritt vgl. Jon A. Fanzun, Die Grenzen der Solidarität. Schweizerische Menschenrechtspolitik im Kalten Krieg, 2005. – Vgl. auch Michel Hottelier / Hanspeter Mock / Michel Puéchavy, La Suisse devant la Cour européenne des droits de l’homme, 2005; Mark E. Villiger, Handbuch der europäischen Menschenrechtskonvention, 2. Aufl. 1999. 66 BGE 101 Ia 67, 69 (1975). 67 Vgl. Daniel Thürer, Verfassungsrecht und Völkerrecht, in: ders. / Aubert / Müller, Verfassungsrecht (FN 4), S. 179 ff.; Helen Keller, Rezeption des Völkerrechts, 2003, S. 341 ff., 723 ff. 68 So BGE 125 II 417, 424 f. (1999), sog. PKK-Urteil, betreffend Einziehung von Propagandamaterial der Kurdischen Arbeiterpartei. – Das Bundesgericht liess offen, ob in besonders gelagerten Fällen davon abweichende Konfliktlösungen in Betracht zu ziehen seien (wie man sie etwa im 1973 ergangenen Urteil Schubert, BGE 99 Ib 39, praktiziert hatte, wo das Bundesgericht die Gesetzesnorm vorgehen liess, weil der Bundesgesetzgeber einen allfälligen Widerspruch zum internationalen Recht bewusst in Kauf genommen hatte). 69 Vgl. in diesem Sinn BGE 128 III 113, 116 (2002). – Anders etwa noch: BGE 120 II 384, 387 (1994).

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facto-Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber dem Bundesgesetzgeber im Anwendungsfall. Im Nachhinein erweist es sich als glückliche Fügung, dass 1848 / 74 ein (schlichtes) Bundesgericht geschaffen wurde und nicht ein Verfassungsgericht, das (gleichsam begriffsnotwendig) „nur“ die Verfassung zu schützen hat und staatliche Akte somit nur am Massstab der Verfassung prüfen kann. Auch wenn im Einzelnen noch vieles kontrovers ist, verschafft Art. 190 BV, so wie die Massgeblichkeit in Lehre und Rechtsprechung heute gedeutet wird, den Bundesgesetzen keine absolute, sondern nur eine relative „Immunität“. Unbefriedigend bleibt die Situation vor allem bei jenen Grundrechten, die durch die EMRK und die von der Schweiz ratifizierten Zusatzprotokolle nicht oder nicht voll abgedeckt sind (z. B. allgemeines Rechtsgleichheitsgebot, Eigentumsgarantie, Wirtschaftsfreiheit)70. Die Erweiterung der Verfassungsgerichtsbarkeit bleibt ein wichtiges rechtsstaatliches Desiderat, für dessen Verwirklichung sich die Staatsrechtslehre weiter einsetzen wird.

V. Offenheit und Wandel (Schlussbetrachtung) Die beiden hier stellvertretend referierten Beispiele geben nicht nur Einblick in wichtige Entwicklungslinien des schweizerischen Verfassungsrechts; sie geben gleichzeitig Aufschluss über Rolle und Selbstverständnis der Staatsrechtslehre in der Schweiz und die (jedenfalls für die Schweiz charakteristischen) Wechselbezüge zwischen der Wissenschaft vom Staatsrecht und der Beschaffenheit ihres zentralen Gegenstands (Verfassung). Ein durchgehender Grundzug ist das Engagement für Vernachlässigtes, für Anliegen, die im stark durch die Volksrechte geprägten Prozess der Verfassungsentwicklung zu kurz zu kommen drohen. Dabei handelt es sich, historisch bedingt, vielfach um Fragen aus dem rechtsstaatlichen Bereich, mitunter aber auch um Anliegen betreffend die direkte Demokratie71 oder den Föderalismus. Diesem Selbstverständnis der schweizerischen Staatsrechtslehre entspricht eine (mehr angelsächsische als deutsche72) problemorientiert-pragmatische Vorgehensweise, wobei man das Bundesgericht häufig als eine Art natürlichen Verbündeten sieht. Man darf jedoch den Theoriebedarf dieses Ansatzes nicht unterschätzen (wie dies in der Schweiz mitunter geschieht). Die Verzahnung von Staats70

Nicht ratifiziert hat die Schweiz das 1., 4. und 12. Zusatzprotokoll zur EMRK. Ein Beispiel ist das engagierte Eintreten weiter Teile der Staatsrechtslehre für die Einführung des (innovationsfreundlicheren) Systems des „doppelten Ja mit Stichfrage“ im Falle einer gleichzeitigen Abstimmung über eine Volksinitiative und über einen sog. Gegenentwurf der Bundesversammlung (eingeführt im Jahr 1987, heute Art. 139b BV). 72 Vgl. Oliver Lepsius, Was kann die deutsche Staatsrechtslehre von der amerikanischen Rechtswissenschaft lernen?, in diesem Band S. 319 ff. 71

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rechtslehre und Verfassungsentwicklung (bzw. Verfassungspolitik) wirft grundlegende Fragen auf (die hier nicht vertieft werden können), etwa betreffend Möglichkeiten und Grenzen der Verfassungsinterpretation und der Verfassungsfortbildung, allgemein betreffend Funktion(en) und Leistungsfähigkeit einer Verfassung. Die Figur der „Lücke“ – Lückenhaftigkeit des Grundrechtskatalogs (III.1.), bestehende bzw. drohende Rechtsschutzlücken (IV.), Gesetzeslücken (IV.5.) – ist rasch bei der Hand. Beim Einsatz dieser suggestiven (und vielleicht auch deshalb so beliebten) Argumentationsfigur kommt es immer wieder vor, dass nicht genauer dargelegt wird, was denn das „Ganze“ ist, auf das hin die (postulierte) „Lücke“ gefüllt werden soll. In dieser Hinsicht kann man in der Schweiz durchaus gewisse Transparenz-, vielleicht auch Selbstreflexionsdefizite konstatieren. Im Rückblick fällt es nicht sonderlich schwer zu sagen, wo die rechtsstaatlichen Defizite der beiden ersten, im 19. Jahrhundert geschaffenen Bundesverfassungen lagen. Für die Verfassungsväter von 1848 und von 1874, deren Blick vorab durch die Bedürfnisse des Tages gelenkt war, waren diese Defizite womöglich gar nicht so leicht zu erkennen. Dieser Schwierigkeit wird man sich bewusst, wenn man exakt zu benennen versucht, was im gegenwärtigen Verfassungsrecht vernachlässigt wird bzw. vernachlässigt zu werden droht. Erschwerend kommt heute hinzu, dass die Verfassungsentwicklung in der Schweiz auch nach der Konsolidierung in Gestalt der primär „nachführenden“ Bundesverfassung von 1999 nicht still steht, im Gegenteil. Seit dem Jahr 2000 haben Volk und Stände bereits rund zehn Verfassungsvorlagen gutgeheissen73, welche mehr als 50 Verfassungsartikel betreffen (teilweise noch nicht in Kraft); eine stolze Zahl, auch wenn es sich dabei zum Teil um aus der Totalrevision von 1998 / 9 „Ausgeklammertes“ (oder left overs) handelt. Darunter befinden sich grundlegende Reformen in den Bereichen Justiz, Volksrechte und Föderalismus74. Es bedarf keiner langen Erläuterung, dass die Zeiten für Systembildung und für die Errichtung verfassungsrechtlicher Theoriegebäude ungünstig sind. Dies ist aber ohnehin nicht das vorrangige Anliegen der Staatsrechtslehre in der Schweiz, die ihre Aufgabe primär darin sieht, Wandel kritisch zu begleiten (nötigenfalls anzustossen), indem (verborgene) Defizite aufgedeckt und Wege des Ausgleichs aufgezeigt werden. Dieses eher prozessorientierte Selbstverständnis hängt eng zusammen mit der Verfassungsentwicklung, die einerseits (seit der Bundesstaatsgründung) durch grosse Kontinuität geprägt ist, andererseits aber auch immer wieder „Unvollendetes“ (1848, 1874) und Gegensätzliches hervorgebracht hat wie das (spannungsreiche, aber auch produktive75) Neben73 Darunter drei Volksinitiativen. Rund drei Dutzend Verfassungsvorlagen wurden abgelehnt (überwiegend Volksinitiativen). 74 Für einen Überblick vgl. Biaggini (FN 12), S. 565 ff. (insb. Rdn. 20 ff., 37 ff.). 75 Die Anerkennung ungeschriebener Grundrechte (III.2.) wäre dem Bundesgericht wohl nicht so leicht gefallen, wenn die einschlägigen Streitigkeiten ihren Ausgangs-

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einander von schwacher Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber dem Bund und starker Verfassungsgerichtsbarkeit gegenüber den Gliedstaaten (IV.2.). Es entspricht nicht dem Schweizer Naturell, sich als Lehrmeister der Welt zu sehen. Die Worte, die der Pfarrerssohn Friedrich Dürrenmatt dem Protagonisten einer seiner Romane in den Mund gelegt hat – „die Welt wird entweder untergehen oder verschweizern“76 –, wird man in der schweizerischen staatsrechtlichen Literatur, wenn überhaupt, nur scherzhaft-ironisch zitiert sehen. Dank einer langen kontinuierlichen Entwicklung ohne grössere Brüche kann die Schweiz immerhin einiges an Erfahrungen weitergeben, die für „jüngere“ Verfassungsordnungen von Interesse sind, die sich auf eine längere Periode kontinuierlicher Verfassungsentwicklung einstellen können. Eine der schweizerischen Grunderfahrungen ist es, dass eine gewisse Offenheit – des Verfassungssystems (für Impulse von aussen), aber auch der Staatsrechtswissenschaft – ein grosser Vorzug ist, wenn es (wie dies in der Langfristperspektive typisch ist) darum geht, Wandel und neue Problemlagen zu verarbeiten. Neue Problemfelder und Spannungslagen zeichnen sich in der Schweiz vor allem im Kontext der Bundesstaatlichkeit ab. Der traditionsreiche kooperative Föderalismus wurde im Zuge der Finanzausgleichsreform mit neuartigen Maximen und Instrumenten angereichert. So erlangt die Bundesversammlung mit dem vollständigen Inkrafttreten von Art. 48a BV und der ausführenden Gesetzgebung (voraussichtlich per Anfang 2008) die Befugnis, interkantonale Verträge in neun Aufgabenbereichen auf Antrag interessierter Kantone allgemein verbindlich zu erklären, d. h. widerstrebende Kantone zum Beitritt zu verpflichten. Auch wenn das (ungeachtet offizieller Beteuerungen) wenig autonomie- und demokratiefreundliche Zwangskooperations-Instrument77 in der Praxis wohl nur selten zum Einsatz kommen wird, dürfte es (als Drohmittel) nicht ohne Wirkungen auf den Gang der Politik und auf das bundesstaatliche Gleichgewicht bleiben. Die ebenfalls im Zuge der Finanzausgleichsreform in die Verfassung aufgenommenen „Grundsätze für die Zuweisung und Erfüllung staatlicher Aufgaben“ (Art. 43a BV, noch nicht in Kraft) würden einem ökonomischen Lehrbuch gut anstehen, werden aber, in eine Verfassungsurkunde verpflanzt und mit normativer Kraft ausgestattet, mehr Probleme schaffen als lösen, wenn man sie allzu wörtlich nimmt. Bereits bestehende Spannungen könnten sich noch verstärken, wenn es nicht gelingt, die kaum mehr zeitgemässe Kompetenzlage im Bereich der Einbürgerung (vgl. II.1.) zu moderni-

punkt nicht in der Sphäre der Kantone, sondern in jener des Bundes gehabt hätten. Das Ergebnis strahlte dann aber (unweigerlich) auf die Bundesebene aus. Zu diesem spill over-Effekt vgl. auch Auer (FN 61), S. 109 f. 76 Justiz. Roman, 1985, S. 57. 77 Zu Recht kritisch René A. Rhinow, Bundesstaatsreform und Demokratie, in: René L. Frey (Hrsg.), Föderalismus zukunftstauglich?!, 2005, S. 63 ff.

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sieren. Ob diese Fragen zu den Punkten gehören werden, welche spätere Generationen als die verfassungsrechtlichen Defizite unserer Zeit einstufen werden, lässt sich nicht abschätzen. Fest steht aber, dass es wichtig ist, eine fundierte Vorstellung davon zu haben, was grundlegende Konzepte wie Demokratie, Rechtsstaatlichkeit oder Bundesstaatlichkeit in einer sich ändernden Wirklichkeit bedeuten, wenn man in der Lage sein will, Vernachlässigtes (bzw. eine drohende Vernachlässigung) verlässlich frühzeitig zu erkennen. Eine wichtige Hilfestellung kann hier neben der Staats- und Verfassungstheorie die Verfassungsvergleichung geben.

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Denken vom Recht her Über den modus austriacus in der Staatsrechtslehre Von Ewald Wiederin, Salzburg

Im Jahre 1965 hielt Günther Winkler, damals junger Dekan der Rechtswissenschaftlichen Fakultät an der Universität Wien, an der RuprechtKarls-Universität Heidelberg einen Vortrag zum Thema „Wertbetrachtung im Recht und ihre Grenzen“. Mit großem Erfolg: Im Anschluss an den Vortrag erhielt er einen Ruf nach Heidelberg, den er jedoch nach längeren Verhandlungen und Überlegungen im Jahr 1968 ablehnte. Diese Episode erscheint mir für das Verhältnis zwischen österreichischer und deutscher Staatsrechtslehre symptomatisch. Zum einen sind Rufe über die österreichisch-deutsche Grenze im öffentlichen Recht nach dem Zweiten Weltkrieg Ausnahmephänomene; und wenn sie denn doch ergehen, lehnen nicht wenige Gerufene am Ende ab. Dem kargen Ausmaß des personellen Austausches1 korrespondiert, dass auch literarische Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Österreichern kaum mehr stattfinden. Was in der Monarchie und in der Zwischenkriegszeit noch ein reger, selbstverständlicher, wechselseitig befruchtender Austausch war, hat sich zum Einbahnverkehr gewandelt. Österreicher lesen und rezipieren deutsches Schrifttum, um es im eigenen nationalen Kontext zu verarbeiten; in deutsche Debatten mischen sie sich nicht ein. Der große Nachbar scheint das Interesse am kleinen gänzlich verloren zu haben2 – je länger, je mehr.3 Daran ändern auch die Begegnungen im gemeinsamen institutionellen Rahmen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer wenig. 1 Zu nennen sind Adolf Merkl (1941 – 1950 Tübingen), Hans Spanner (1956 Erlangen, 1960 München), Ludwig Fröhler (1965 Linz), Hans-Ulrich Evers (1971 Salzburg), Ferdinand O. Kopp (1970 – 1978 Graz), Bruno Simma (1973 München), Hans-Ernst Folz (1976 – 1980 Linz), Franz Merli (1995 Heidelberg, 1998 – 2006 Dresden), Benjamin Davy (1998 Dortmund), Ulrike Davy (1998 Bielefeld), Christoph Grabenwarter (1999 – 2002 Bonn), Christian Calliess (2001 – 2003 Graz), Werner Schroeder (2001 Innsbruck), Kirsten Schmalenbach (2003 Graz). 2 Vgl. Michael Holoubek, Grundrechtliche Gewährleistungspflichten, 1997, S. 78 Fn. 14: „[D]ie Beziehungen zwischen der deutschen und der Schweizer Grundrechtslehre hatten freilich immer deutlich mehr den Charakter eines Dialogs [ . . . ] als dies für das Verhältnis der deutschen zur österreichischen Lehre behauptet werden könnte.“ 3 Vgl. Matthias Jestaedt, Buchbesprechung, JRP 1998, S. 112 (112).

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Ewald Wiederin

Zum anderen zeigt die Episode, dass Deutsche und Österreicher im öffentlichen Recht durch die gemeinsame Sprache eher getrennt sind als verbunden. Über die Gründe, die die Heidelberger bewogen haben, Herrn Winkler4 an ihre Universität zu berufen, kann man heute zwar nur mehr spekulieren. Liest man den 1969 als Buch im Druck erschienenen Vortrag und legt man an das in ihm präsentierte Methodenprogramm5 die zeitgenössischen deutschen Maßstäbe an, so drängt sich freilich die Einschätzung auf, das damals in Heidelberg ansässige Zentrum der Schmitt-Schule habe im Kampf gegen die grassierende „Tyrannei der Werte“ einen ebenso streitbaren wie positivistisch ausgerichteten Mitstreiter gewinnen wollen. In Österreich wurde hingegen der gleiche Vortrag völlig anders aufgenommen. Hier gilt er bis heute als klassischer Text, der die Methodendiskussion belebt und die Öffnung hin zu materialer Verfassungsauslegung sowie eine Abkehr vom Positivismus eingeleitet hat.6 In weiterer Folge hat sich Günther Winkler denn auch wie kein anderer Österreicher in der KelsenKritik engagiert.7 Kurzum: Während diesseits des Walserberges die Behauptung und Verteidigung einer Zulässigkeit von Wertbetrachtungen neu und bemerkenswert erschien, wurde in der Rezeption jenseits der Grenze der Akzent auf die Grenzen gelegt. Vergleichbare Missverständnisse sind noch immer vorprogrammiert. Österreichische Autoren, die sich selbst als progressiv, den Nachbarwissenschaften gegenüber offen und prononciert antipositivistisch verstehen, fänden sich mit ihren dogmatischen Arbeiten, in denen sich Methode zeigt und nicht deklariert, in Deutschland wohl als textfixierte Fachvertreter mit einem Hang zu rigide-antiquiertem Argumentationsstil eingestuft. Das liegt weniger an methodischen Gräben als an einer anderen Rechtskultur, die als 4 Ein erstes unjuristisches Beispiel dafür, dass dieselben Worte anderes bedeuten: Diese Anrede gilt in Deutschland als Gebot der Höflichkeit; vgl. die schroffe Zurechtweisung von Helmut Rumpf durch Werner Weber, weil jener es gewagt hatte, Ernst Forsthoff (wie im übrigen auch Weber selbst) in seinem Referat schlicht als „Forsthoff“ anzusprechen: vgl. Helmut Rumpf, Verwaltung und Verwaltungsrechtsprechung, VVDStRL 14 (1956), S. 136 (136, 144), sowie die Nachweise bei Frieder Günther, Denken vom Staat her, 2004, S. 75; im Abdruck der Diskussionsrede Webers (vgl. VVDStRL 14 [1956], S. 188 ff.) ist dieser Einschub getilgt. – Unter Österreichern signalisiert hingegen die Anrede eines Kollegen als „Herr X“ in einem Vortrag im besten Falle Distanz. Wer höflich sein will, führt neben dem Nachnamen der bezogenen Person auch ihren Vornamen an. 5 Günther Winkler, Wertbetrachtung im Recht und ihre Grenzen, 1969, S. 35 ff. 6 Vgl. Alexander Somek, Wissenschaft vom Verfassungsrecht: Österreich, in: Armin von Bogdandy / Pedro Cruz Villalón / Peter M. Huber (Hrsg.), Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. 2: Offene Staatlichkeit – Wissenschaft vom Verfassungsrecht, 2008 (im Druck), § 33 Rz. 28. 7 Günther Winkler, Sein und Sollen, Rechtstheorie 10 (1979), S. 257; ders., Sein und Sollen, Rechtstheorie Beiheft 1 (1979), S. 177; ders., Glanz und Elend der Reinen Rechtslehre, 1988; ders., Rechtstheorie und Erkenntnislehre, 1990; ders., Rechtswissenschaft und Rechtserfahrung, 1994. Antikritik durch Robert Walter, Rechtstheorie und Erkenntnislehre gegen Reine Rechtslehre? Eine Buchbesprechung und eine Erwiderung, 1990, und Rainer Lippold, Buchbesprechung, ZfV 1995, S. 14.

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Ambiance offenbar prägend wirkt. Ihr wollen die nachfolgenden Ausführungen nachspüren, die sich als Beitrag zu einem interkulturellen Dialog verstehen. Der Umstand, dass der Autor die deutsche Szene längst nicht so gut kennt, wie es für die angemessene Bewältigung dieses wissenschaftssoziologischen und wissenschaftsgeschichtlichen Themas erforderlich wäre, bedingt eine Beschränkung. Es kann und soll nicht darum gehen, Österreicher mit deutschen Besonderheiten vertraut zu machen. Beabsichtigt ist allein, deutschen Lesern einige österreichische Eigenarten näher zu bringen und diese in einen breiteren Kontext zu stellen. Dass es dabei nicht ohne Vereinfachungen und Zuspitzungen abgehen kann und soll, liegt auf der Hand.

I. Der archimedische Punkt: Denken vom Recht, nicht vom Staat her Der erste und wichtigste Unterschied zur deutschen Staatsrechtslehre liegt darin, dass die österreichische Staatsrechtslehre nicht vom Staat her denkt.8 Ausgangspunkt und Endpunkt der Beschäftigung mit Verfassung und Verwaltung ist allein das Recht. Wenn von Verfassung die Rede ist, ist folglich die Verfassung als Gesetz gemeint und nicht ein Akt der Grundentscheidung über das Gemeinwesen. Dementsprechend zählt auch allein das rechtliche Argument. Ökonomische, historische, soziologische, politologische und psychologische Überlegungen werden als „politische Argumente“ ausgegrenzt, sofern sie nicht als Hilfsargumente deklariert und in „juristische Argumente“ eingebettet sind, um auf Akzeptanz zu stoßen. Besonders auffällig ist das Bemühen um eine scharfe Grenzziehung zwischen Recht und Moral, die der österreichischen Zivil- und Strafrechtslehre fremd sind. Die öffentlichrechtliche Kultur ist eine legalistische Kultur, die Abwägungen und Werten misstraut und stattdessen auf rechtlich verfasste Institutionen, auf klar geschiedene Kompetenzen und auf geordnete Verfahren setzt. Diese Ausrichtung auf das Recht hat zur Folge, dass der Staat nicht oder nur ganz am Rande interessiert.9 Wenn der Begriff ausnahmsweise doch einmal fällt, dann fungiert er als Oberbegriff für die verschiedenen Erscheinungsformen der öffentlichen Gewalt.10 Als solcher schließt er alle Träger von imperium bis hin zu den Selbstverwaltungskörperschaften und den Beliehenen mit ein. 8 Mehr, als ich durch Zitate belegen kann, bin ich den Arbeiten von Günther (FN 4) und Christoph Möllers, Staat als Argument, 2000, verbunden. 9 Symptomatisch: Keines der gängigen Lehrbücher führt „Staat“ im Schlagwortverzeichnis an. 10 Vgl. Walter Berka, Lehrbuch Verfassungsrecht, 2005, Rz. 1248.

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Als dem Recht voraus liegende Entität wird der Staat teils geleugnet, teils ignoriert. Auch der Begriff Souveränität kommt im Schrifttum nicht vor. Die österreichische Staatsrechtslehre ist eine Staatsrechtslehre ohne Staat. Mehr noch: Sie versteht sich auch als solche, indem sie den Begriff vermeidet und sich selbst als Verfassungs- und Verwaltungsrechtswissenschaft bezeichnet. Sowohl in den Benennungen der universitären Institute, die zur Pflege des öffentlichen Rechts eingerichtet sind,11 als auch auf den Umschlägen der Lehrbücher ist der Staat ein seltener Gast.12 Und wenn das Wort Staatsrecht als Buchtitel Verwendung findet, wird mitunter durch Beifügungen signalisiert, dass der Leser eine Darstellung des Verfassungsund Verwaltungsrechts zu erwarten hat.13 Es ist wohl nur eine Folge dieser Ausrichtung auf das Recht und der Marginalisierung des Staates, dass die Doktrin in Österreich weniger staatstragend operiert als in Deutschland. Wenn man Juristen mit Ärzten vergleicht, dann drängt sich für den deutschen Staatsrechtslehrer die Rolle des Kardiologen auf, der seine Funktion primär darin sieht, den Kreislauf des staatlichen Gemeinwesens stabil zu halten und Störungen der Versorgung der Organe des Staatskörpers umgehend zu beheben. Staatsbejahung gilt denn auch allenthalben als Berufsvoraussetzung. In Österreich ist das Rollenspektrum weniger eng. Selbst Chirurgen und Pathologen finden hier ihre Nischen.

1. Der Einfluss der Reinen Rechtslehre

Man geht nicht fehl, die eben grob umrissenen Eigenheiten mit dem Einfluss der Reinen Rechtslehre in Verbindung zu bringen.14 Diese auch als 11 Mit der Ausnahme Wiens, dessen Institut seit jeher als Institut für Staats- und Verwaltungsrecht firmiert. Zur Geschichte vgl. Robert Walter, Die Lehre des Verfassungs- und Verwaltungsrechts an der Universität Wien von 1810 – 1938, JBl. 1988, S. 609. 12 Erste – und bis heute seltene – Ausnahme ist ausgerechnet Hans Kelsen mit seinem 1923 erschienenen Lehrbuch „Österreichisches Staatsrecht, entwicklungsgeschichtlich dargestellt“. 13 Vgl. die 1927, 1932 und 1935 erschienenen Auflagen des Grundrisses von Ludwig Adamovich, die jeweils als „Grundriß des österreichischen Staatsrechtes (Verfassungs- und Verwaltungsrechtes)“ überschrieben waren. Ab der vierten Auflage erschien die Darstellung in getrennten Bänden: vgl. den Grundriß des österreichischen Verfassungsrechts, 1947, sowie den Grundriß des österreichischen Verwaltungsrechts, 1948. – Umgekehrt die Darstellungen des Verfassungs- und Verwaltungsrechts, die zunächst getrennt erschienen waren (Ludwig K. Adamovich / Bernd-Christian Funk, Österreichisches Verfassungsrecht, 11982, 21984, 31985; dies., Allgemeines Verwaltungsrecht, 11980, 21984, 31987), wieder in einem auf vier Bände angelegten „Staatsrecht“ zusammenfügend: Ludwig K. Adamovich / Bernd-Christian Funk / Gerhart Holzinger, Österreichisches Staatsrecht, Bd. 1, 1997, Bd. 2, 1998, Bd. 3, 2003. 14 So András Jakab, Die Dogmatik des österreichischen öffentlichen Rechts aus deutschem Blickwinkel – ex contrario fiat lux, Der Staat (im Druck), der sämtliche

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„Wiener Schule“ bezeichnete methodische Richtung hat einerseits das Bemühen um Methodenreinheit und Wissenschaftlichkeit auf ihre Fahnen geschrieben.15 Andererseits hat sie Staat und Recht miteinander identifiziert oder, präziser formuliert, dem Staat eine vom Recht unabhängige Existenz abgesprochen.16

2. Der Hintergrund des Vielvölkerstaates

Die Reine Rechtslehre ist aber nur ein Einflussfaktor unter vielen. Sie stellt eine typisch österreichische Theorie dar, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wohl nur in Wien entwickelt werden konnte und die erst vor dem Hintergrund der Donaumonarchie verständlich wird. Die Dezemberverfassung 1867 konstituierte keinen homogenen „Staat“, sondern bildete den letzten Versuch, ein heterogenes Gebilde aus verschiedenen Nationalitäten, Sprachen, Religionen und Kulturen im Wege des Rechts zusammenzuhalten.17 Da es keine gemeinsamen Werte gab, war mit ihnen auch kein Staat zu machen. Es verblieb nur die Option, auf die rechtliche Gewährleistung von Zuständigkeiten und Verfahren zu setzen. Im Rückblick hat auch Kelsen selbst diesen Zusammenhang herausgestrichen. In seiner 1947 in Kalifornien niedergeschriebenen, lange Zeit verschollen geglaubten Autobiographie hält er fest: „Es mag sein, dass ich zu dieser Anschauung nicht zuletzt dadurch gekommen bin, dass der Staat, der mir am naechsten lag und den ich aus persoenlicher Erfahrung am besten kannte, der oesterreichische Staat, offenbar nur eine Rechtseinheit war. Angesichts des oesterreichischen Staates, der sich aus so vielen nach Rasse, Sprache, Religion und Geschichte verschiedenen Gruppen zusammensetzte, erwiesen sich Theorien, die die Einheit des Staates auf irgendeinen sozialpsychologischen oder sozial-biologischen Zusammenhang der juristisch zum Staat gehoerigen Menschen zu gruenden versuchten, ganz offenbar als Fiktionen.“18

Unterschiede zwischen deutscher und österreichischer Staatsrechtslehre an der Reinen Rechtslehre festmacht. 15 Die erste, im Jahr 1934 erschienene Auflage der „Reinen Rechtslehre“ von Hans Kelsen will ihrem Untertitel zufolge „Einleitung in die rechtswissenschaftliche Problematik“ sein. 16 Vgl. Hans Kelsen, Allgemeine Staatslehre, 1925, S. 7 ff., 47 ff. 17 Vgl. aus nationalistischer Perspektive Eric Voegelin, Der autoritäre Staat, 1936 / Neudruck 1997, S. 3 ff.: „[D]as politische Gebilde ist nie ,Staat‘ geworden, sondern hat wesentliche Züge des vorstaatlichen ,Reiches‘ bis zu seinem Ende behalten.“ 18 Hans Kelsen, Autobiographie, Typoskript 1947, S. 21 f., zitiert nach: Matthias Jestaedt (Hrsg.), Hans Kelsen im Selbstzeugnis. Sonderpublikation anlässlich des 125. Geburtstages von Hans Kelsen am 11. Oktober 2006, 2006, S. 31 (62).

298

Ewald Wiederin 3. Der zeitgenössische Kontext

Neben dem Erfahrungshorizont der untergegangenen Monarchie hat aber wohl auch die spezifische Situation Österreichs in der Zwischenkriegszeit die Staatsabgewandtheit der österreichischen Verfassungs- und Verwaltungsrechtslehre befördert. Nach 1918 bildete Österreich den Rest eines untergegangenen größeren Gebildes, an dessen Lebensfähigkeit niemand glaubte und dessen Fortexistenz als eigenständiger Staat wenige für wünschenswert hielten. Dass die Alliierten die Eigenstaatlichkeit Österreichs erzwangen und die Bezeichnung der jungen Republik als Deutschösterreich untersagten, änderte nichts an der Tatsache, dass die politischen Eliten überwiegend auf das Aufgehen Österreichs im Deutschen Reich setzten und mit der Bundesverfassung 1920 eine lediglich transitorische Staatlichkeit einrichten wollten.19

4. Entsprechungen im B-VG

Neben Theorie und Geschichte trug und trägt aber auch das positive Verfassungsrecht zur Staatsvergessenheit der österreichischen Doktrin bei. Das Methodenprogramm der Reinen Rechtslehre hat die Ausgestaltung der Bundesverfassung 1920 beeinflusst, und vice versa haben originelle Lösungen der Bundesverfassung auf den theoretischen Rahmen der Wiener Schule zurückgestrahlt.20 So manches wird erst durch diese Verbindung verständlich. Im Unterschied zur Dezemberverfassung 1867 und zu den meisten anderen europäischen Konstitutionen handelt es sich beim Bundes-Verfassungs19 Vgl. für viele Kelsen (FN 12), S. 238: „Stärker als all dies, stärker als der aller Vernunft und Sittlichkeit Hohn sprechende Verlauf der jüngsten Geschichte, deren Produkt das heutige Oesterreich ist, stärker als Oesterreich selbst ist sein Wunsch: aufzugehen im deutschen Vaterland.“ 20 Bestes Beispiel ist der Bundesstaat. 1920 drangen die Sozialdemokraten, die nach Weimarer Muster eine Bestimmung durchsetzen wollten, dass Bundesrecht Landesrecht bricht, mit ihrem Anliegen nicht durch. Das Schweigen der neuen Verfassung zum Verhältnis zwischen Bundes- und Landesgesetzen wurde deshalb allgemein als Bestätigung der Geltung des Satzes lex posterior derogat priori gedeutet, der schon in der Monarchie bei Konflikten zwischen Reichs- und Landesgesetzen zur Anwendung gekommen war. Auch im Übrigen war die neue Verfassung bemüht, die materiell schwache Stellung der Länder durch eine möglichst paritätische Ausgestaltung der Rechtsstellung von Bund und Ländern zu kompensieren. Diese neuartige Ausgestaltung der österreichischen Bundesstaatlichkeit veranlasste Kelsen, der zunächst die Subordination der Glieder noch für ein Essentiale des Bundesstaats gehalten hatte (Hans Kelsen, Reichsgesetz und Landesgesetz nach österreichischer Verfassung, AöR 32 [1914], S. 202, 390 [210 ff., 415 ff.]), seine als Drei-Kreise-Theorie bekannt gewordene Bundesstaatstheorie vorzulegen, welche die Gleichwertigkeit von Bund und Ländern unter dem Dach einer gemeinsamen Gesamtverfassung postuliert (vgl. dens., Die Bundesexekution, in: FS Fleiner, 1927, S. 127 [128 ff.]). Ohne die Anstöße der neuen Verfassung wäre es hierzu nicht gekommen.

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gesetz 1920 um eine weitgehend „gewaltfreie“ Verfassung. In Abkehr von traditionellen Demokratieproklamationen ist in seinem Art. 1 festgehalten, dass nicht alle öffentlichen Gewalten, sondern dass das Recht der demokratischen Republik vom Volk ausgeht. Auch in den übrigen Bestimmungen der Verfassung wird der Begriff „öffentliche Gewalt“ konsequent vermieden.21 Die Ablehnung der Gewaltenterminologie gilt denn auch allgemein als Identitätsmerkmal des B-VG. Ähnlich zurückhaltend verwendet die Bundesverfassung 1920 den Begriff Staat.22 Ohne weitere Beifügungen und Zusammensetzungen wird „Staat“ nur zur Bezeichnung ausländischer Staaten verwendet; mit solchen Staaten abgeschlossene völkerrechtliche Verträge werden, aus dem Rahmen des international Üblichen fallend, als „Staatsverträge“ bezeichnet. Davon abgesehen kommt das Wort nur in Verbindungen – wie z. B. in Bundesstaat (Art. 2 B-VG) oder in Staatssprache (Art. 8 B-VG)23 – sowie als Adjektiv im Zusammenhang mit der staatlichen Verwaltung24 und ihren Behörden25 vor. Die letzterwähnte Begriffsverwendung ist im Übrigen ein gutes Beispiel dafür, dass die österreichische Staatsvergessenheit auch Missverständnissen Vorschub leisten kann. Im Zuge der Generaldebatte über das B-VG hatte Ignaz Seipel als Berichtserstatter noch unterstrichen, dass das B-VG 1920 – ganz einem klassischen Staatsbegriff verpflichtet – dort, wo von „staatlich“ die Rede ist, stets den Bund und die Länder meint.26 Die weitere Entwicklung hat hingegen die staatliche Verwaltung mit der hoheitlichen Verwaltung identifiziert und auch die Selbstverwaltung unter den Begriff subsumiert.27

21 Einzige (und wohl unbeabsichtigte) Ausnahme bildet Art. 79 Abs. 2 der Stammfassung, wo von einer Inanspruchnahme des Bundesheeres durch die „gesetzmäßige bürgerliche Gewalt“ die Rede ist. 22 Wenn es das Ganze der res publica zu bezeichnen gilt, fällt regelmäßig der Begriff „Republik“, in deren Namen übrigens auch die Urteile und Erkenntnisse der Gerichte verkündet werden: vgl. Art. 1, Art. 6 Abs. 1, Art. 8, 8a, 23a, 62, 65 Abs. 1, 82 Abs. 2 B-VG. 23 Für weitere Verwendungen vgl. Art. 11 Abs. 1 Z 1 B-VG (Staatsbürgerschaft), Art. 19 Abs. 1, 78 Abs. 2 und 3 B-VG (Staatssekretäre), Art. 121 Abs. 1 B-VG (Staatswirtschaft), Art. 121 Abs. 3 B-VG (Staatsschulden), Art. 149 Abs. 1 B-VG (Staatswappen, Staatssiegel). 24 Art. 18 Abs. 1 B-VG. 25 Art. 115, 120 Abs. 1 B-VG. 26 100. Sitzung der Konstituierenden Nationalversammlung vom 29. 9. 1920, StProtKNV S. 3381. 27 Vgl. Heinz Peter Rill, Art. 18 Abs. 1 und 2 B-VG, in: ders. / Schäffer (Hrsg.), Bundesverfassungsrecht. Kommentar, 1. Lfg. 2001, Rz. 21 ff. m. w. N.

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II. Die Leittheorie: Die Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung als juristisches Welterklärungsmodell Die Fokussierung auf das Recht und die Auflösung des Staates im Recht sind freilich zu konturenarm, um auf die vielfältigen Verzahnungen zwischen Recht und Wirklichkeit, zumal zwischen Verfassungsrecht und Politik, überzeugende Antworten zu geben. In Form der Lehre vom Stufenbau der Rechtsordnung bot die Reine Rechtslehre jedoch eine juristische Systemtheorie avant la lettre an, die auf der operativen Geschlossenheit des Rechtssystems insistieren konnte, ohne die kognitive Offenheit gegenüber anderen sozialen Systemen leugnen zu müssen. Die Stufenbaulehre hat sich in Österreich restlos durchgesetzt.28 Vom ersten Semester an werden die Studierenden in den Einführungsveranstaltungen des öffentlichen Rechts mit ihren Theoremen regelrecht imprägniert.29 Die Stufenbaulehre ist ebenfalls ein gutes Beispiel für die wechselseitige Beeinflussung von Rechtstheorie und positivem Recht. Sie wurde in ihren Grundzügen von Adolf Merkl während des Ersten Weltkrieges konzipiert30 und eröffnete die – von Kelsen bereitwillig aufgegriffene31 – Option, die Statik und die Gesetzesfixierung der Rechtsbetrachtung des Kelsenschen Frühwerks32 aufzubrechen und für die Dynamik und die Positivität des Rechts eine plausible Erklärung anzubieten. Unter dem Einfluss von Kelsen und Merkl, die beide an der Ausarbeitung des Bundes-Verfassungsgesetzes 1920 maßgeblichen Anteil hatten, wurden die Bestimmungen über die Verfassungsgerichtsbarkeit theoriekompatibel formuliert: Während die Verfassungen des 19. Jahrhunderts die Prüfung der Gültigkeit von Gesetzen und Verordnungen regelten, um sie dem Richter bald zu verwehren und bald zur Pflicht zu machen, griff das B-VG bei Bestimmung des Prüfungsmaßstabes auf die hierarchischen Schichtungen der Rechtsordnung zurück: Verordnungen sind gemäß Art. 139 B-VG auf Gesetzwidrigkeit, Gesetze sind gemäß Art. 140 B-VG auf Verfassungswid28

Gleiche Einschätzung bei Somek (FN 6), Rz. 7. Vgl. aus der Einführungsliteratur Bernd-Christian Funk, Einführung in das österreichische Verfassungsrecht, 112003, Rz. 011 f.; Friedrich Koja, Einführung in das öffentliche Recht, 1998, 2; Manfred Stelzer, Grundzüge des Öffentlichen Rechts, 2005, S. 11 ff.; Harald Stolzlechner, Einführung in das öffentliche Recht, 32004, Rz. 108 ff.; Manfried Welan, Recht in Österreich, 42005, S. 32 f., 59. 30 Zur Genese vgl. Martin Borowski, Die Lehre vom Stufbau des Rechts nach Adolf Julius Merkl, in: Stanley L. Paulson / Michael Stolleis (Hrsg.), Hans Kelsen. Staatsrechtslehrer und Rechtstheoretiker des 20. Jahrhunderts, 2005, S. 122 (125 ff.). 31 Vgl. Kelsen (FN 16), S. 248 ff., 285 ff.; ders., Reine Rechtslehre, 11934, S. 63 ff. 32 Vgl. Hans Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, entwickelt aus der Lehre vom Rechtssatze, 1911, wonach alles Recht notwendig im Gesetz in Erscheinung tritt, in dem alle Verordnungen und individuellen Rechtsakte in nuce mit eingeschlossen sind (S. 537 ff., 556 ff.), und wonach Gesetzgebung ein Mysterium darstellt, das sich rechtswissenschaftlicher Erfassung entzieht (S. 411). 29

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rigkeit zu prüfen. Diese positivrechtliche Anerkennung hat sowohl die Rezeption der damals jungen Lehre befördert als auch deren Weiterentwicklung durch Merkl stimuliert. Wer österreichische Öffentlichrechtler verstehen will, kommt um eine Auseinandersetzung mit der Stufenbaulehre nicht umhin.33 Mit Merkl ist ein Name gefallen, der im Ausland nur rechtstheoretischen Insidern geläufig ist, der aber innerhalb Österreichs großes Ansehen genießt. Die zentrale Stellung Hans Kelsens als Begründer, Protagonist, Proponent und Verteidiger der Reinen Rechtslehre überstrahlt die Beiträge, die sein Umfeld zur Entwicklung der Wiener Schule beigesteuert hat. Dieses Umfeld war an Rechtsdogmatik stärker interessiert als Kelsen selbst. Für Merkl gilt dies in besonderem Maße. Seine Beiträge zur Theorie sind einerseits traditioneller, andererseits dadurch aber auch „anschlussfähiger“, indem sie weniger auf Erkenntnistheorie und Ideologiekritik denn auf Nutzanwendung für die Praxis zielen. Wenn es denn gälte, jenes Buch zu benennen, das – der Bedeutung der „Verfassungslehre“ Carl Schmitts für die Formation seiner Schule vergleichbar – die österreichische Verfassungs- und Verwaltungsrechtslehre im 20. Jahrhundert am stärksten geprägt hat: Ich würde nicht zögern, mich gegen die „Reine Rechtslehre“ Kelsens und für das „Allgemeine Verwaltungsrecht“ Merkls zu entscheiden. Dieses 1927 erschienene Werk, außerhalb Österreichs fast unbekannt, ist das Referenzbuch des modus austriacus schlechthin. Der Grundgedanke der Stufenbaulehre lautet, dass das Recht seine eigene Erzeugung wie seine Vernichtung regelt und dass sich sowohl die Produktion als auch die Derogation von Recht in Stufen vollzieht. Blickt man auf die Erzeugung, ergibt sich ein Stufenbau nach der rechtlichen Bedingtheit; analysiert man die Vernichtung, zeigt sich ein Stufenbau nach der derogatorischen Kraft. In Ermächtigungsnormen legt das Rechtssystem Bedingungen fest, die erfüllt sein müssen, damit neues Recht entsteht; in Derogationsnormen stellt es Voraussetzungen auf, unter denen es wieder vergeht. Hier wie dort bringt es die verschiedenen Rechtssatzformen in ein Verhältnis der Super- und Subordination. Die Verfassung bedingt das Gesetz, das Gesetz die Verordnung, die Verordnung das Urteil und den Verwaltungsakt, ohne dass die jeweils erstgenannte Rechtssatzform ihrerseits durch die zweitgenannte bedingt wäre. Desgleichen vermögen Normen der jeweils 33 Erste geschlossene Darstellung des Autors: Adolf Merkl, Die Lehre von der Rechtskraft, 1923, S. 201 ff.; letzte Beschäftigung mit dem Thema bei Adolf Merkl, Prolegomena einer Theorie des rechtlichen Stufenbaues, in: FS Kelsen, 1931, S. 252. Grundlegende Arbeiten seither: Robert Walter, Der Aufbau der Rechtsordnung, 2 1974; Theo Öhlinger, Der Stufenbau der Rechtsordnung. Rechtstheoretische und ideologische Aspekte, 1975; Jürgen Behrend, Untersuchungen zur Stufenbaulehre Adolf Merkls und Hans Kelsens, 1977; Stanley L. Paulson, Zur Stufenbaulehre Merkls in ihrer Bedeutung für die Allgemeine Rechtslehre, in: Robert Walter (Hrsg.), Adolf J. Merkl. Werk und Wirksamkeit, 1990, S. 93; Borowski (FN 30).

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ersten Form Normen der zweiteren außer Kraft zu setzen, während umgekehrt eine Derogation nicht möglich ist. Hier ist nicht der Ort, die Stufenbaulehre in ihren Verästelungen nachzuzeichnen. Ziel ist vielmehr, einige ihrer Implikationen aufzuzeigen, die in der österreichischen Doktrin weithin akzeptiert werden, um die Eingangsthese plausibel zu machen.

1. Expansions- und Homogenisierungstendenzen in der Rechtsquellenlehre

Die augenfälligste Folge ist die Absage an die traditionelle Gleichsetzung von Recht und Gesetz. Neben dem Gesetz und der Verordnung werden in Österreich auch Urteile, Bescheide und andere Verwaltungsakte als Rechtsnormen anerkannt. Zugleich wird betont, dass zwischen den verschiedenen Rechtssatz- oder Rechtsnormformen, in denen das Recht in Erscheinung tritt, kein wesentlicher Unterschied besteht. Das Resultat ist eine breitere und ausdifferenziertere Rechtsquellenlehre, die vom Verfassungsrecht bis hin zu individuellen Rechtsnormen reicht und selbst die verwaltungsinternen Akte wie insbesondere Weisungen einbezieht. Das eine wie das andere ist Norm und unterscheidet sich nur hinsichtlich der Autoren- und der Adressateneigenschaft. Als Nebenfolge befördert die damit verbundene Expansion der Rechtsquellen den Hang, hinter jedem Verwaltungsakt eine Norm zu vermuten. An einem Beispiel erläutert: Die Verfassung lässt in Art. 129a Abs. 1 Z 2 B-VG gegen Akte unmittelbarer verwaltungsbehördlicher Befehls- und Zwangsgewalt die Beschwerde an die unabhängigen Verwaltungssenate zu. Die Doktrin ist nahezu geschlossen der Versuchung erlegen, selbst dem Schlag eines Polizisten mit dem Gummiknüppel oder dem Abschleppen eines Fahrzeugs durch Konstruktion eines impliziten Duldungsbefehls an die Adresse des Geschlagenen bzw. des Halters noch zu normativen Weihen zu verhelfen,34 um ihn in die gestufte Welt der Rechtsnormen bruchlos einfügen zu können. In Kombination mit den tiefen Einschnitten, die in der österreichischen Verfassungsgeschichte zu registrieren sind, vermag die Stufenbaulehre aber auch das phasenweise fast schon obsessive Interesse zu erklären, das dem Thema der Rechtsüberleitung in Österreich zeitweise entgegengebracht wurde.35 Wenn Normen dadurch gekennzeichnet sind, dass sie sowohl be34

Grundlegend Bernd-Christian Funk, Der verfahrensfreie Verwaltungsakt, 1975. Vgl. Fred Brande, Verfassungs- und Rechtsüberleitung und einige Bemerkungen zu ihrer Bedeutung für das Wirtschaftsrecht, in: FS Wenger, 1983, S. 181 ff. mit umfassenden Nachweisen. In jüngerer Zeit nimmt das Interesse aber spürbar ab: In den Lehrbüchern von Berka (FN 10), Rz. 40 ff., und Theo Öhlinger, Verfassungsrecht, 35

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dingt als auch bedingend sind – und wenn die Zugehörigkeit einer Norm zum Rechtssystem mit dem Bedingungszusammenhang steht und fällt –, dann liegt nicht nur die Notwendigkeit eines Regresses zur historisch ersten Verfassung auf der Hand, an welcher alle Rechtskontinuität endet; zugleich wird die Weitergeltung früheren Rechts unter einer neuen, auf eine juristische Revolution zurückgehende Verfassung zum erklärungsbedürftigen Problem. Die Stufenbaulehre bot aber auch ein theoretisches Fundament, um die Rechtsordnung über die Verfassung hinaus zu erweitern und durch Integration des Völkerrechts ein einheitliches Weltrechtssystem zu konstruieren.36 Es kommt daher wenig überraschend, dass sich die Diskussion um das Verhältnis von europäischem und nationalem Recht in Österreich weitgehend in dem von ihr vorgegebenen analytischen Rahmen vollzogen hat.37

2. Das Verhältnis Recht und Politik als Wechselspiel zwischen Bindung und Freiheit

Die Stufenbaulehre hat nicht nur die Vorstellung von der Allmacht des Gesetzgebers verabschiedet und dadurch, dass sie seine Verfassungsunterworfenheit herausgearbeitet hat, die Einrichtung der Verfassungsgerichtsbarkeit unterstützt. Sie hat zugleich das Verhältnis von Recht und Politik neu zu bestimmen versucht. Wenn und weil Normen auf allen Ebenen bedingt und bedingend sind, besteht zwischen Rechtserzeugung und Rechtsanwendung kein qualitativer Unterschied. Sie sind miteinander verbunden, weil jeder Normenkreationsakt zugleich die Anwendung einer Ermächtigungsnorm und die Erzeugung einer neuen Norm darstellt. Sie fließen aber auch deshalb ineinander, weil keine Ermächtigungsnorm die Erzeugung der auf ihrer Grundlage erlassenen Normen vollständig regeln kann. Soweit Ermächtigungsnormen Determinanten enthalten, ist das ermächtigte Organ 5

2003, Rz. 52 ff., sind die Ausführungen zur Rechtsüberleitung in den verfassungsgeschichtlichen Abschnitt integriert. 36 Vgl. Hans Kelsen, Das Problem der Souveränität und die Theorie des Völkerrechts, 21928 / Neudruck 1960, Alfred Verdroß, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes, 1922, und Adolf Merkl, Das Problem der Rechtskontinuität und die Forderung eines einheitlichen rechtlichen Weltbildes, ZöR 5 (1926), S. 497. 37 Gerhard Baumgartner, Der Rang des Gemeinschaftsrechts im Stufenbau der Rechtsordnung, JRP 2000, S. 84 (84 ff.); Stefan Griller, Der Stufenbau der österreichischen Rechtsordnung nach dem EU-Beitritt, JRP 2000, S. 273 (274 ff.); Wolf-Dietrich Grussmann, Grundnorm und Supranationalität – Rechtsstrukturelle Sichtweisen der europäischen Integration, in: Thomas v. Danwitz u. a. (Hrsg.), Auf dem Weg zu einer Europäischen Staatlichkeit, 1993, S. 47 (51 ff.); Hans René Laurer, Europarecht und österreichische Rechtsordnung – Rechtsnormen in einem einheitlichen Stufenbau? – Ein „Vorwort“, ÖJZ 1997, S. 801 (801 ff.); Reinhold Moritz, Zum Stufenbau nach dem EU-Beitritt, ÖJZ 1999, S. 781 (783 ff.); Michael Thaler, Rechtsphilosophie und das Verhältnis zwischen Gemeinschaftsrecht und nationalem Recht, JRP 2000, S. 75 (79 ff.).

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gebunden; soweit sie schweigen, lassen sie dem Organ Freiheit und geben damit außerrechtlichen Faktoren Raum. Auf die Verfassung umgelegt, hat dies zur Folge, dass die Verfassung mitunter einseitig auf das Gesetz bezogen und ihre Funktionen am Gesetz ausgerichtet werden: so etwa, wenn Verfassung im materiellen Sinn als Summe der Rechtserzeugungsregeln definiert wird.38 Es bedeutet aber auch, dass die Verfassung als tendenziell weiter Rahmen begriffen wird, der Politik – und mit ihr Demokratie – ermöglichen soll.39 Selbst die Grundrechte erscheinen in dieser Perspektive primär als negative Kompetenznormen, indem sie es der Legislative verbieten, Regelungen bestimmten Inhalts in Gesetzesform zu gießen. Auf das Gesetz bezogen, legt die Stufenbaulehre eine politische Funktion der Richter und Verwaltungsorgane frei, die sich von der Rolle der Parlamente nur graduell unterscheidet. Auch die rechtsanwendenden Organe agieren wie der Gesetzgeber in Bindung an heteronome Determinanten. Weil die letzteren den zu erlassenden Akt aber niemals vollständig bestimmen, bringen die Vollzugsorgane bei der Erlassung von Urteilen und Verwaltungsakten stets auch autonome Elemente in ihre Entscheidungen mit ein. Ihre Funktion ist folglich im Ansatz nicht minder politisch als jene des Gesetzgebers.40 Die Wissenschaft hat einerseits auf die Einhaltung der Bindungen zu achten; andrerseits hat sie den bestehenden Freiraum auf allen Ebenen zu akzeptieren und gegen Angriffe zu verteidigen. Die Konsequenzen geraten vor allem mit dem traditionellen Rollenbild des Richters in Konflikt. Da Gesetze und Verordnungen niemals vollständig binden, gibt es für fast jeden Fall mehr als eine richtige Lösung. Und eben deshalb, weil mit der rechtlichen Bindung auch deren wissenschaftliche Rekonstruktion am Ende ist, muss die Rechtswissenschaft schweigen und den Platz für jene Organe räumen, die zur Entscheidung des Falles – zur Setzung der individuellen Rechtsnorm – zuständig sind. „Verfassungskonkretisierung“ ist ebenso wie „Gesetzeskonkretisierung“ nicht das Geschäft der Rechtswissenschaft, sondern allein Aufgabe der demokratisch legitimierten Rechtspraxis.

38 Robert Walter, Österreichisches Bundesverfassungsrecht. System, 1972, S. 9 f.; Robert Walter / Heinz Mayer, Grundriss des österreichischen Bundesverfassungsrechts, 92000, Rz. 4. 39 Das kommt in der Charakterisierung des B-VG als Spielregelverfassung zum Ausdruck; zuletzt Gerhart Holzinger / Benedikt Kommenda, Verfassung kompakt, 2007, S. 23: „Die Verfassung – Spielregeln für Österreich“. 40 Pointiert Kelsen (FN 31), S. 98: „Die Aufgabe: aus dem Gesetz das richtige Urteil oder den richtigen Verwaltungsakt zu gewinnen, ist im wesentlichen dieselbe wie die: im Rahmen der Verfassung die richtigen Gesetze zu schaffen. So wenig wie man aus der Verfassung durch Interpretation richtige Gesetze, kann man aus dem Gesetz durch Interpretation richtige Urteile gewinnen.“

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Die Stufenbaulehre integriert dadurch Elemente der Freirechtsbewegung in die klassische Jurisprudenz. 41 Sie verbindet Wirklichkeit und Recht, indem sie den positiven Setzungsakt mit seinen normativen Grundlagen in Beziehung setzt; sie ebnet aber den kategorialen Unterschied nicht ein. Dass zwischen Recht und Rechtswirklichkeit ein Gegensatz besteht, den es zu überwinden gelte, oder dass Verfassung und Politik miteinander zu versöhnen seien, ist denn auch eine Vorstellung, die dem prototypischen österreichischen Öffentlichrechtler nicht vermittelbar ist, weil sie am Primat des Rechts rüttelt. Recht ist dazu gemacht, um Wirklichkeit zu steuern, und nicht, um sich vor ihr zu verbiegen. Die daraus resultierenden Spannungen gilt es auszuhalten, ist doch das aggiornamento des Rechts allein Sache des Parlaments. Bei alledem sind auch Österreicher nicht naiv genug, die Grenzlinie zwischen Recht und Politik für scharf und Abwägungen für vermeidbar zu halten. Wenn sie dennoch auf Trennung insistieren, dann deshalb, weil sie die Funktion des Verfassungsrechts als gemeinsame Sprache für politische Gegner nicht gefährden wollen; und wenn sie dazu tendieren, Abwägungen als „Willensakte“ den Parlamenten und den Rechtsstäben zu überlassen, dann deswegen, weil sie keine Hoffnung hegen, dass sich politische Gegner durch einen Rekurs auf ethische Prinzipienargumente überzeugen ließen.42

3. Gewaltenteilung

Auch die Gewaltenteilung erscheint in anderem Licht. In der Ersten Republik überwiegend noch für überwunden erklärt, hat sie zwar in den vergangenen Jahrzehnten eine Renaissance erfahren.43 Ihr Entfaltungsraum blieb dennoch eng gesteckt. Da Verfassung und Gesetz den administrativen Verordnungen sowie den individuellen Rechtsakten der Verwaltung wie der Gerichtsbarkeit im Stufenbau vorgeordnet sind, gebührt der Legislative der Vorrang vor den anderen Staatsfunktionen, die allesamt als „Schichten des rechtlichen Stufenbaues“ erscheinen.44 Die Gesetzgebung hat umfassenden 41 Für eine Auseinandersetzung Merkls mit der Freirechtsschule vgl. dens., Das Recht im Lichte seiner Anwendung, DRZ 1917, Heft 7 / 8, S. 3 ff., zitiert nach: Hans Klecatsky / René Marcic / Herbert Schambeck (Hrsg.), Die Wiener Rechtstheoretische Schule, Bd. I, 1968, S. 1167 (1172 ff.); zum selben Thema Alfred Verdroß, Das Problem des freien Ermessens und die Freirechtsbewegung, ÖZöR 1 (1914), S. 616 (616 ff.). 42 Vgl. Somek (FN 6), Rz. 11: „Die Stufenbaulehre repräsentiert eine abwägungsskeptische Verfassungskultur, nicht insofern als sie die Relevanz von Güterabwägungen leugnet, sondern indem sie die Abwägung für den Teil des Problems hält, dessen Lösung sie verspricht.“ 43 Günther Winkler, Das Konzept der Gewaltentrennung in Recht und Wirklichkeit, Der Staat 6 (1967), S. 293 (298 ff.); Karl Korinek, Von der Aktualität der Gewaltenteilungslehre, JRP 1995, S. 151 (153 ff.).

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Zugriff, soweit sie nur die Form wahrt und ihre Anordnungen in Gesetze kleidet.45 Einen Reservatbereich der Verwaltung braucht sie nicht zu achten. Die Zulässigkeit von Maßnahmegesetzen wurde zwar vereinzelt problematisiert. Seit Art. 140 Abs. 1 B-VG gegen solche Gesetze Rechtsschutz sicherstellt, ist die Debatte hierüber aber wieder eingeschlafen.46 Nachdem Exekutive und Judikative, vom B-VG im Oberbegriff Vollziehung zusammengefasst, der Gesetzgebung gleichermaßen nachgeordnet erscheinen, ist die Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Recht für die Verfassungsrechtslehre kein Thema. Auch auf das Verständnis der in Art. 94 B-VG deklarierten Trennung zwischen Justiz und Verwaltung in allen Instanzen sind Ausstrahlungen zu registrieren. Sie gilt als schwach ausgeprägt, weil sie sich nach herrschendem Verständnis in einer Trennung der Apparate dieser beiden Staatsfunktionen erschöpft.47 Diese organisatorische Gewaltentrennung wird jedoch in einem Maße kultiviert, dass sich die politische Funktion des Trennungsgrundsatzes längst in einen Schutz der Verwaltung vor gerichtlicher Kontrolle verkehrt hat.48

4. Rechtsschutz

Selbst der Rechtsschutz bleibt vom Einfluss der Stufenbaulehre nicht unberührt. Durch die These, dass jede Nichterfüllung rechtlich statuierter Bedingungen das Fehlschlagen des Normsetzungsversuches bedeutet, sofern die Anforderungen an den Rechtsakt niedriger Stufe nicht durch die Rechtsordnung selbst herabgesetzt sind, bietet die Stufenbaulehre zugleich eine Fehlerlehre an. Die Konsequenzen für den Rechtsschutz sind mit Händen zu greifen: Von diesen Prämissen ausgehend ist nicht die Wahrung der Grundrechte oder sonstiger subjektiver Rechte, sondern die Sicherung der normativen Geschlossenheit und Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung sein Leitmotiv. Ziel ist die objektive Rechtsmäßigkeitskontrolle, die Gewährleistung der Übereinstimmung von Normen niedrigen mit Normen hö44 Merkl, Prolegomena (FN 33), S. 286 (Zitat); vgl. auch die prägnante Überschrift bei Kelsen (FN 16), S. 248: „Subordination, nicht Koordination der Staatsfunktionen.“ 45 Verordnungen zu erlassen, ist der Legislative verwehrt: vgl. Leopold Werner, Kann der Nationalrat Verordnungen erlassen?, JBl. 1951, S. 353; ders., Kann der Nationalrat Verordnungen erlassen – ein Nachwort, JBl. 1952, S. 553; VfSlg. 2320 / 1952, 5023 / 1965. 46 Vgl. Peter Kostelka, Maßnahmengesetz – Zulässigkeit und Grenzen, in: FS Rosenzweig, 1988, S. 249 (252 ff.). Der VfGH hält Maßnahmegesetze für zulässig: vgl. VfSlg. 3118 / 1956, 13.738 / 1994. 47 Zum Stand der Dogmatik vgl. Berka (FN 10), Rz. 388 ff. 48 Im Ausland sozialisierte Juristen sind hierob regelmäßig irritiert: vgl. Otto Lagodny, How the Austrians or Germans do without it?, in: FS Burgstaller, 2004, S. 409 (416 ff.).

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heren Ranges. Die Grundrechte sind lediglich Mittel zum Zweck. Als „verfassungsgesetzlich gewährleistete Rechte“ bilden sie ein Vehikel, das objektive Kontrollverfahren in Gang setzt, indem sie dem Verfassungsgericht Gelegenheit zur amtswegigen Prüfung von Verordnungen auf ihre Gesetzmäßigkeit und von Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit geben. Der Verfassungsgerichtshof teilt diese Sichtweise im Ansatz. In ständiger Rechtsprechung sieht er die Rechtsstaatlichkeit darin gipfeln, „daß alle Akte staatlicher Organe im Gesetze und mittelbar letzten Endes in der Verfassung begründet sein müssen und ein System von Rechtsschutzeinrichtungen die Gewähr dafür bietet, daß nur solche Akte in ihrer rechtlichen Existenz dauernd gesichert erscheinen, die in Übereinstimmung mit den sie bedingenden Akten höherer Stufe gesetzt wurden.“49 Die damit beschworene Rechtsstaatskonzeption dürfte der angelsächsischen rule of law näher stehen als der Rechtsstaatlichkeit deutscher Prägung, in welcher Bürger und Staat einander als Antipoden gegenüber stehen. Zugleich wird sie der österreichischen Verfassung auch besser gerecht. Das B-VG verbindet in Art. 1 die Herrschaft des Volkes mit der Herrschaft des Rechts, indem es in unmittelbarem Anschluss an die solenne Proklamation Österreichs als demokratischer Republik bestimmt, dass ihr Recht vom Volk ausgeht. In Art. 18 setzt es fort, dass die gesamte staatliche Verwaltung nur auf Grund der Gesetze ausgeübt werden darf. In Art. 129 schließlich wird die Aufgabe der Verwaltungsgerichtsbarkeit als „Sicherung der Gesetzmäßigkeit der gesamten öffentlichen Verwaltung“ charakterisiert.

III. Wissenschaftsverständnis und Verfassungsverständnis von 1920 bis heute Dass trotz der Ausrichtung auf das Recht und seine Binnendifferenzierungen weder das Verfassungsverständnis noch das Wissenschaftsverständnis seit 1920 Konstanten geblieben sind, wird niemanden überraschen. Ich möchte die Entwicklung anhand des Verhältnisses von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis nachzeichnen, in dem Phasen der Distanz und Phasen der Nähe aufeinander folgten.

1. Rollentrennung in der 1. Republik

In der Zwischenkriegszeit bildete die Wiener Schule die rechtstheoretische Avantgarde. Sie dominierte noch nicht die Szene, gab aber vielleicht 49 VfSlg. 2929 / 1955 im Anschluss an Ludwig Adamovich, Grundriß des österreichischen Verfassungsrechts, 41947, S. 71. Aus der jüngeren Rechtsprechung vgl. VfSlg. 11.196 / 1986, 13.223 / 1992, 13.699 / 1994, 13.834 / 1994.

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deshalb die entscheidenden Impulse. Vor allem blieb sie ihrem Methodenprogramm und der darin enthaltenen Forderung nach Trennung der wissenschaftlichen von den forensischen und politischen Rollen treu. In der wissenschaftlichen Befassung mit dem Recht standen die Erkenntnistheorie des Rechts, die Beschäftigung mit seinen Strukturproblemen und die Ideologiekritik im Vordergrund. Anwendungsorientierte Dogmatik galt als wenig karrierefördernd, wenn nicht als suspekt.50 Wenn sich die erste Garnitur überhaupt auf Kommentare und Lehrbücher einließ, dann beschäftigte sie sich mit Institutionen, Kompetenzen und Verfahren, nicht mit materiellem Recht.51 Und sie verlor sich nicht in die Niederungen des Details, sondern skizzierte mit breitem Pinsel den Hintergrund und die Systematik der Regelungen und legte die wesentlichen Probleme frei.52 Lösungen galten ihr als Schall und Rauch. Verfassungsinterpretation war deshalb Domäne der Praxis. Der Verfassungsgerichtshof agierte von Anfang an als aktiver Gerichtshof, der sich ungeachtet verbaler Distanz zur Politik und trotz großer – wenngleich mitnichten unpolitischer – Zurückhaltung in Abwägungsfragen, vor allem in wirtschaftlichen Zusammenhängen,53 seiner Entscheidungsspielräume bewusst war und sie in „formalen“ Fragen auch selbstbewusst ausschöpfte. Prominentestes Beispiel ist die mit VfSlg. 176 / 1923 einsetzende Judikatur zum Legalitätsprinzip des Art. 18 B-VG, die durch ein Verständnis von Demokratie als Leitprinzip der Verfassung inspiriert ist und aus einer unscheinbaren Bestimmung einen Totalvorbehalt des Gesetzes und ein universelles Wesentlichkeitsprinzip formte.54 Damit war das Gesetz als Drehschei50 Eine Literaturübersicht gibt Rudolf A. Métall, Das Schrifttum zur österreichischen Bundesverfassung 1920 – 1930, ÖVwBl. 1931 / 5, S. 128 (128 ff.). 51 Auf die Parallele zur amerikanischen Wissenschaftslandschaft sei hingewiesen: vgl. den Beitrag von Oliver Lepsius, Was kann die deutsche Staatsrechtslehre von der amerikanischen Rechtswissenschaft lernen?, in diesem Band S. 319 ff. 52 Vgl. für viele den Kommentar von Hans Kelsen / Georg Froehlich / Adolf Merkl, Die Bundesverfassung vom 1. Oktober 1920, 1922, der 2003 als Nachdruck wieder erschienen ist. 53 VfSlg. 1123 / 1928 zur Eigentumsgarantie: „Das allgemeine Wohl oder das allgemeine Beste ist ein juristisch gar nicht faßbarer Begriff, es ist ausschließlich die Aufgabe des Gesetzgebers, das Vorhandensein dieser Voraussetzungen festzustellen [ . . . ]. Der Verfassungsgerichtshof muß es aber entschieden ablehnen, in einer solchen Frage eine Meinung zu äußern.“ 54 In der Entscheidung liest sich das so (VfSlg. 176 / 1923): „Damit überhaupt von einer näheren Durchführung eines Gesetzes gesprochen werden kann, muß dieses Gesetz nicht nur die Bestimmung enthalten, daß überhaupt irgendwelche Maßnahmen getroffen werden – in diesem Falle läge nur eine formalgesetzliche Delegation vor –, sondern das Gesetz muß auch bestimmen, welche Maßnahmen zu treffen sind, wenn es auch die nähere Durchführung dieser Maßnahmen der Verordnung überläßt. Damit ein Gesetz durch Verordnung überhaupt durchführbar ist, muß es im Sinne der Bundesverfassung hinreichend bestimmt sein, müssen schon aus dem Gesetz allein – und ohne daß es der Heranziehung der Durchführungsverordnung bedarf – alle wesentlichen Momente der beabsichtigten Regelung ersehen werden. Nicht nur das ,Ob‘, sondern auch das ,Wie‘ der Regelung muß in Gesetzesform bestimmt sein.“

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be demokratischer Steuerung und als Garant von Rechtssicherheit inauguriert. Als zweites Exempel mag die völlig ahistorische Rechtsprechung zum Bescheid als Beschwerdegegenstand vor dem Verfassungsgerichtshof gelten: Indem der Verfassungsgerichtshof den Bescheid mit einem hoheitlichen Eingriff in Rechte gleichsetzte,55 korrigierte er im Grunde die rechtsschutzfeindliche Systementscheidung der Verfassung, die Eröffnung des Rechtswegs nicht schon bei möglicher Verletzung subjektiver Rechte zuzulassen, sondern neben diesem materiellen Kriterium ein weiteres Erfordernis – die Bescheidform des Eingriffs in Rechte – aufzustellen. Ein Erbe der Monarchie bildet die Neigung, Zurückhaltung bei materiellen Garantien durch die Betonung von Form, Kompetenz und Verfahren zu kompensieren. Sie wird in der fein gesponnenen Rechtsprechung zur bundesstaatlichen Kompetenzverteilung sichtbar, die vielfach zu Lasten des Bundes ging,56 aber auch in der Judikatur zu den Rechtssatzformen und zu ihrer wechselseitigen Abgrenzung.57 Es fügt sich in dieses Bild, dass die sensibelste Problematik der Ära, der Konflikt um die sog. Sever-Ehen, unter dem Thema „Kompetenzkonflikt“ abgehandelt – und doch im Grunde politisch entschieden wurde.58 Bei aller Präferenz für formale Lösungen nahm der Gerichtshof aber auch die Grundrechte ernst: etwa, wenn er das Recht auf ein Verfahren vor dem gesetzlichen Richter zu einer umfassenden Garantie behördlicher Zuständigkeiten ausbaute,59 wenn er den Ausschluss der Frauen von der Taxilenkerzulassung als gleichheitswidrig qualifizierte60 oder wenn er in der Weigerung der Behörden, die Kinder von aus der Kirche ausgetretenen Eltern mit diesen in die Konfessionslosigkeit zu entlassen, eine Verletzung der Glaubens- und Gewissensfreiheit der Eltern sah.61 Mitunter begegnen ausgesprochen extensive Interpretationen – so etwa, als mit kühnem Griff jedwede Schmälerung von Privatrechten als Enteignung gewertet wurde.62 Diese vergleichsweise strikte Rollentrennung zwischen wissenschaftlichem und richterlichem Geschäft ist umso bemerkenswerter, als so mancher

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VfSlg. 1037 / 1928, 118 / 1928, 1496 / 1932. VfSlg. 157 / 1922, 328 / 1924, 414 / 1925, 436 / 1925, 720 / 1926, 1240 / 1929, 1390 / 1931. 57 Zur „verschleierten Verfügung in Verordnungsform“ etwa VfSlg. 313 / 1924. 58 Eingehend Christian Neschwara, Kelsen als Verfassungsrichter, in: Hans Kelsen (FN 30), S. 353 (366 ff.), und Robert Walter, Hans Kelsen als Verfassungsrichter, 2005, S. 57 ff. 59 VfSlg. 4 / 1921, 5 / 1921, 118 / 1922, 313 / 1924, 639 / 1926. 60 VfSlg. 651 / 1926. 61 VfSlg. 797 / 1927. 62 VfSlg. 71 / 1921. Diese Auffassung wurde vom Gerichtshof nach 1945 mit gutem Grund korrigiert. 56

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prominente Rechtswissenschaftler eine Doppelrolle spielte. Auch Kelsen war bis 1929 Verfassungsrichter, und wie kein anderer hat er die Rechtsprechung als Diskutant mitgestaltet und als Referent geprägt.63 Wenngleich – oder vielleicht weil – sich seine Auslegungsskepsis auch durch die Akten des Gerichtshofes zieht,64 zeichnen diese das Bild eines methodisch großzügigen, mehr an Systematik und Teleologie der Verfassung denn an Wortlaut und Absichten der Verfassungsschöpfer orientierten Richters, der seine eigentliche Aufgabe in der Problemanalyse sah und dem der Prüfungsmaßstab ein Anliegen war, wohingegen er den Prüfungsgegenständen wenig Interesse entgegen brachte.65 Die Doktrin beschränkte sich in dieser Ära darauf, die höchstgerichtlichen Entscheidungen zu protokollieren und zu referieren. Systematisierung oder gar Kritik der Rechtsprechung ist ein Randphänomen.66 Im Vergleich zur unmittelbar vorangegangenen Epoche ist ein weiterer herber Verlust zu registrieren: Rechtsvergleichende Untersuchungen, historische Grundlegungen und staatstheoretische Betrachtungen, in der Monarchie noch durchaus gängig und auf hohem Niveau betrieben,67 waren als „unjuristisch“ punziert und fanden kaum mehr statt.68

2. Dominanz der Praxis in der Nachkriegszeit

Schon im Ständestaat, vor allem aber im Anschluss an den Zweiten Weltkrieg blieben die ideologiekritischen und die dogmatikkritischen Anliegen der Wiener Schule weitgehend auf der Strecke.69 Ihre Vertreter waren in alle Winde zerstreut. Kelsen blieb in Amerika; Merkl führte seine rechtstheoretischen Arbeiten nicht fort. Auch sonst waren die Fächer personell und 63

Vgl. die Studie von Walter (FN 58) und sein Resümee ebd., S. 91. Vgl. etwa seine Stellungnahme zu VfSlg. 157 / 1923, zitiert nach Walter (FN 58), S. 27: „Die vorliegende Frage ist im wesentlichen eine Subsumtionsfrage. Man könnte natürlich auch anders subsumieren.“ 65 Vgl. das Material bei Walter (FN 58). Zwei Bemerkungen seien herausgegriffen: eine erste aus der Beratung zu VfSlg. 720 / 1926, das Übergangsgesetz 1920 sei „aus dem Zusammenhang des ganzen Gesetzes“ zu interpretieren, nicht aus den „Absichten vor der Gesetzesanwendung“; eine zweite zu VfSlg. 299 / 1924, wonach der Verfassungsgerichtshof seiner Beurteilung die Auslegung des Prüfungsgegenstandes durch die Praxis zugrunde zu legen habe (ebd. S. 30, 29). 66 Exemplarisch für die Art der Auseinandersetzung Ludwig Adamovich, Zur Judikatur des Verfassungsgerichtshofes, ZöR 4 (1925), S. 367; ders., Zur Judikatur des österreichischen Verfassungsgerichtshofes, ZöR 6 (1927), S. 128. 67 Vgl. etwa Georg Jellinek, System der subjectiven öffentlichen Rechte, 1892, dens., Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, 1895, und Max Layer, Principien des Enteignungsrechtes, 1902. 68 Ausnahme ist einmal mehr Hans Kelsen, der sich auf der Höhe seiner Zeit in Staatstheorie, Philosophie, Soziologie und Psychologie einließ: vgl. nur sein „Vom Wesen und Wert der Demokratie“, 21929. 69 Somek (FN 6), Rz. 5, spricht treffend von einer Halbierung Kelsens. 64

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intellektuell ausgedünnt. Der Verfassungsgerichtshof stieß in die Lücke und nahm das Heft in die Hand. Dazu trug wesentlich bei, dass neben anderen starken Persönlichkeiten auch einige führende Köpfe der Lehre dem Gerichtshof angehörten und zwischen ihren Rollen weniger trennten. Ihr wissenschaftlicher Anspruch auf intersubjektive Überprüfbarkeit von Ergebnissen und ihr Bedürfnis nach Abgrenzung gegenüber der Politik übertrugen sich auf das Amt: Der Verfassungsgerichtshof argumentierte wissenschaftlicher, und er agierte vorsichtiger. Indiz für die rollenkonfundierende Verwissenschaftlichung der Praxis sind Theorien, die im Schoße des Verfassungsgerichtshofes entstanden sind. Neben der Herzog-Mantel-Theorie und der Überschattungstheorie ist vor allem die Versteinerungstheorie zu nennen, die der Verfassungsauslegung fortan ihren Stempel aufdrücken wird.70 Sie postuliert, dass in der Verfassung gebrauchte Begriffe in jenem Sinne zu verstehen sind, den sie im Zeitpunkt der Entstehung der zu interpretierenden Bestimmung nach dem Stande der einfachen Gesetzgebung hatten.71 Dass diese auf die Vergangenheit rückprojizierte gesetzeskonforme Interpretation der Verfassung in Österreich Fuß zu fassen vermochte, mag erstaunen, hat aber nachvollziehbare Gründe. Entwickelt wurde sie als Instrument zur Interpretation der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung. In diesem Einsatzfeld trägt die der Theorie zugrunde liegende Hypothese: Dass Kompetenzbegriffe, die vertraute Politikfelder bezeichnen, an überkommene Besitzstände anknüpfen, die in Gesetze und Verordnungen ihren Niederschlag gefunden haben, ist so unplausibel nicht.72 Ihre Akzeptanz verdankt die Versteinerungstheorie gleichwohl der spezifischen Situation der Nachkriegszeit. Die Repräsentanten der wiedererstandenen Republik hatten sich 1945 nach kurzem Zögern entschlossen, gegen den Widerstand der Alliierten das B-VG 1920 wieder in Kraft zu setzen und damit in jene demokratische Verfassung zurück zu schlüpfen, die man zwölf Jahre zuvor weggelegt hatte wie einen unpassenden Anzug.73 Die Identität der Verfassung sollte die Identität des Staates unterstreichen, die Periode des Austrofaschismus 1933 – 1938 ausblenden helfen und die These von der völkerrechtlichen Okkupation Österreichs durch das Deutsche Reich stützen.74 Die Rückwendung zur alten Verfassung sollte 70 VfSlg. 2319 / 1952, 2721 / 1954, 3472 / 1958. Als Vorläufer in anderem Zusammenhang vgl. VfSlg. 299 / 1924, 1327 / 1930. 71 Eingehend Heinz Schäffer, Verfassungsinterpretation in Österreich, 1971, S. 64 f., 97 ff.; Bernd-Christian Funk, Das System der bundesstaatlichen Kompetenzverteilung im Lichte der Verfassungsrechtsprechung, 1980, S. 69 ff. 72 Vgl. Ewald Wiederin, Anmerkungen zur Versteinerungstheorie, in: FS Winkler, 1997, S. 1231 (1235 f.). 73 Im Zuge der Wiederinkraftsetzung des B-VG 1920 nahm man 1945 / 46 sogar einen Verfassungsbruch in Kauf: eingehend Johannes Schnizer, Österreichische Verfassungsmythen und Erkenntnis des Rechts, JRP 2004, S. 16 (20 ff.).

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aber vor allem die Ausarbeitung einer neuen Konstitution verhindern, weil auf deren Inhalt sowohl die Alliierten als auch die Kommunisten hätten einwirken können. Außerdem war sie deshalb stringent, weil es unmittelbar nach dem zweiten verlorenen Krieg neben dem B-VG 1920 wenig gab, was eine demokratische österreichische Identität hätte stiften können. In der Praxis der zweiten Republik ist deshalb der Ursprungskontext des B-VG 1920 präsenter und bestimmender geworden, als er es in der ersten Republik je war. Parallel zur Entwicklung der Versteinerungstheorie gewann die herkömmliche historische Interpretation im Verfassungsrecht an Boden. Beiden Interpretationsmethoden ist gemeinsam, dass sie zu Messinstrumenten taugen und als ubiquitär einsetzbare Begründungsinstrumente versagen. Wer auf die Absichten des Verfassunggebers abstellt oder die Bedeutung von Verfassungsbegriffen von ihrem zeitgenössischen Verständnis in der Staatspraxis abhängig macht, liefert sich der Vergangenheit aus und gibt diskretionären Spielraum preis. Exakt das war willkommen: für die unter dem Methodenreinheitspostulat sozialisierten Wissenschaftler deswegen, weil hierdurch intersubjektive Überprüfbarkeit sichergestellt war; für die zurückhaltenden Richter deswegen, weil dies ihre Tätigkeit unpolitisch erscheinen ließ.

3. Selbststand der Doktrin in den Sechziger- und Siebzigerjahren

In den Sechziger Jahren schloss die Doktrin zur Praxis auf – und sie ging zugleich wieder stärker zu ihr auf Distanz. Erster Vorbote des Erstarkens der Rechtsdogmatik war das 1954 erschienene „Allgemeine Verwaltungsrecht“ von Walter Antoniolli, das eine intensive Auseinandersetzung mit der zeitgenössischen deutschen Verwaltungsrechtslehre bot. In der Folge mehrten sich Aufsätze, die die Rechtsprechung kritisch würdigten75 und die geschlossene Gegenentwürfe präsentierten. Den Beginn der neuen Epoche markiert aber wohl jenes Erkenntnis, in dem der von Antoniolli präsidierte Verfassungsgerichtshof – Auseinandersetzungen mit der Wissenschaft bislang strikt abhold76 – einer Lehrmeinung77 folgte und der eingelebten 74 Leopold Werner, Das Wiedererstehen Österreichs als Rechtsproblem, JBl. 1946, S. 85 – 93, 105 – 108; Nachwort JBl. 1947, S. 137 ff., 161 ff.; im Rückblick Felix Ermacora, Österreichische Verfassungslehre, 1970, S. 61 ff. 75 Vgl. vor allem die in der ÖJZ erschienene, von Felix Ermacora, Hans Klecatsky und Kurt Ringhofer begründete Serie „Die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes“. 76 Vgl. etwa die Feststellung des Gerichtshofs in VfSlg. 2455 / 1952, „daß seine Erkenntnisse nicht der Ort sind, wissenschaftliche Meinungsverschiedenheiten zu erörtern, zu ihnen Stellung zu nehmen und sie auszutragen.“ 77 Günther Winkler, Der Verfassungsrang von Staatsverträgen, ZöR 10 (1959 / 60), S. 514 (520 ff.).

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Staatspraxis, Verfassungsbestimmungen in Staatsverträgen zwar mit erhöhten Quoren zu beschließen, sie aber nicht als solche zu bezeichnen, die Grundlage entzog.78 Den Anlass bot die damals ungeliebte EMRK,79 und es ist einmal mehr bezeichnend, dass sich für das inhaltliche Problem eine formale Lösung fand. Die Ausrichtung auf die Form ist für die dogmatischen Arbeiten der Epoche insgesamt bezeichnend.80 Ähnlich wie zeitgleich in Deutschland kamen eine Aufladung der Verfassung und eine Konstitutionalisierung der Rechtsordnung in Gang. Anders als dort setzte der verfassungsfundamentalistische Trend jedoch nicht bei den Grundrechten, bei Demokratie und bei Rechtsstaatlichkeit an, sondern bei den Institutionen und bei den Handlungsformen. Der Verfassung wurde unterstellt, das Rechtsquellensystem unter Einschluss der zulässigen Typen von Verwaltungsakten abschließend zu regeln und den Bereich der Hoheitsverwaltung mit dem Einsatzfeld eben dieser Verwaltungsakte gleichzusetzen; ihr wurde die Grundentscheidung entnommen, mit der Verankerung einer Weisungsbindung der Verwaltungsorgane die in ihr nicht erwähnte berufliche und soziale Selbstverwaltung zu verbieten; der Gesetzesvorbehalt des Art. 18 B-VG wurde auf die Leistungsverwaltung erstreckt; das Staatsgebiet wurde zum exklusiven räumlichen Sanktionsbereich österreichischer Organe stilisiert. Der Verfassungsgerichtshof begegnete diesen Entwürfen überwiegend zurückhaltend bis ablehnend.81 In der Staatspraxis trafen sie aber mitunter auf Resonanz. Um verfassungsrechtliche Zweifel zu zerstreuen, wurden vielfach Bestimmungen als Verfassungsbestimmungen beschlossen. Allein in völkerrechtlichen Verträgen haben sich auf diese Weise mehr als fünfhundert Verfassungsbestimmungen angesammelt, die keine wie immer gearteten Verfassungsfunktionen erfüllen, aber durch ihre schiere Existenz als Ausnahmen die behauptete Regel bestätigen. Die Versteinerungstheorie stieg in dieser Phase zur zentralen Sinnermittlungsmethode für Verfassungsbestimmungen auf.82 Nicht zuletzt aufgrund einer Edition von Protokollen zur Entstehung des B-VG 192083 gewann freilich auch die herkömmliche historische Interpretation an Bedeutung. Der 78

Vgl. VfSlg. 4049 / 1961. Zuvor hatte der VfGH in VfSlg. 3767 / 1960 dem Art. 6 EMRK die unmittelbare Anwendbarkeit abgesprochen. 80 Vgl. für viele das in jeder Hinsicht herausragende „System“ von Walter (FN 38). Wichtigste Ausnahme: Felix Ermacora, Handbuch der Grundfreiheiten und der Menschenrechte, 1963. 81 Vgl. etwa VfSlg. 8215 / 1977. 82 Vgl. die Einschätzungen bei Heinz Mayer, Entwicklungstendenzen in der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, ÖJZ 1980, S. 337 (338), Harald Stolzlechner, Öffentliche Fonds, 1982, S. 11 Fn. 31, und Karl Korinek, Zur Interpretation von Verfassungsrecht, in: FS Walter, 1991, S. 363 (380). 83 Felix Ermacora, Quellen zum Österreichischen Verfassungsrecht (1920), 1967. 79

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wiedergewonnene Abstand zur Praxis kommt schließlich in methoden- und dogmatikkritischen Arbeiten zum Ausdruck. 84

4. Die Wende zu Grundrechten und Prinzipien

1984 griff der VfGH die Forderung der Lehre auf, bei den im Staatsgrundgesetz 1867 – dem 1920 rezipierten Grundrechtskatalog der Monarchie – enthaltenen „verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten“85 neben der gesetzlichen Grundlage des Eingriffs, die im Text der Gewährleistungen verlangt wird, auch dessen Verhältnismäßigkeit zu prüfen. Das Erkenntnis zur Schrottlenkung86 bedeutete zwar mitnichten jenen Paradigmenwechsel, zu dem es in der Folge hochstilisiert wurde.87 Schon 1959 hatte der Gerichtshof Enteignungen auf ihre Tauglichkeit und Erforderlichkeit geprüft,88 und er hatte seine Abstinenz in Proportionalitätsbeurteilungen durch eine Rechtsprechung zum Gleichheitssatz kompensiert, dem er ein umfassendes Sachlichkeitsgebot entnahm. Das Erkenntnis markiert aber im Rückblick in der Tat eine Wende: Der Verfassungsgerichtshof nahm fortan das Heft wieder in die Hand und gab die Richtungen vor. Auf die Neuorientierung der Grundrechtsjudikatur folgte die Entfaltung des Rechtsstaatsprinzips89 und eine am Demokratieprinzip orientierte Rechtsprechung zum Staatsorganisationsrecht.90 Beide Rechtsprechungslinien bildeten insofern genuine Leistungen, als der Gerichtshof auf keine Vorarbeiten der österreichischen Lehre zurückgreifen konnte; sie waren aber sichtlich durch deutsche Dogmatik inspiriert.91 Obwohl sich in ihnen ein materialeres Verfassungsverständnis ausdrückt, hat die historische Interpretation nicht an Bedeutung verloren. Der Verfassungsgerichtshof greift selbst dann auf sie zurück, wenn es den Inhalt der verfassungsrechtlichen Grundordnung zu ermitteln gilt.92 In der Lehre sind Text und Entstehungskontext der Verfassungsbestimmungen in der dogmatischen Auseinandersetzung nach wie vor die validesten Argumente, und 84 Vgl. Kurt Ringhofer, Strukturprobleme des Rechtes, 1966, und Michael Thaler, Mehrdeutigkeit und juristische Auslegung, 1982. 85 So die juristisch-technisch akzentuierte Bezeichnung der Grundrechte in Art. 144 Abs. 1 B-VG. 86 VfSlg. 10.179 / 1984. 87 Anders die Einschätzung von Somek (FN 6), Rz. 34 f. m. w. N. 88 VfSlg. 3666 / 1959. 89 VfSlg. 11.196 / 1986, 12.184 / 1989, 12.409 / 1990, 16.460 / 2002. 90 VfSlg. 14.473 / 1996, 15.427 / 1999, 16.048 / 2000, 16.400 / 2001, 17.421 / 2004. 91 Prägend war neben dem Rechtsstaatsprinzip insbesondere das herrschende etatistische Demokratieverständnis. Zu ihm Helmuth Schulze-Fielitz, Grundsatzkontroversen in der deutschen Staatsrechtslehre, Die Verwaltung 32 (1999), S. 241 (256 ff.). 92 VfSlg. 16.241 / 2001.

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die Ermittlung des Willens des Verfassungsgesetzgebers ist weithin akzeptiertes Ziel der Auslegung geblieben.93 Die Neigung, über diesen Willen zu spekulieren und „dem Verfassungsgesetzgeber“ Zweckerwägungen aller Art zu unterlegen, hat sich allerdings sichtlich verstärkt. In der Staatspraxis ist hingegen vom letzterwähnten Trend bislang wenig zu spüren. Der Verfassungsdienst des Bundeskanzleramts argumentiert in seinen Gutachten und Stellungnahmen mit Vorliebe historisch, und er trifft dadurch in seiner Rolle als neutraler Schiedsrichter innerhalb der Verwaltung auf hohe Akzeptanz. Dennoch hat sich etwas Grundlegendes verändert – und einmal mehr ist der Stufenbau der Rechtsordnung mit im Spiel. In Art. 44 Abs. 3 B-VG wird – dem Art. 79 Abs. 3 GG funktional vergleichbar – für jede Gesamtänderung der Bundesverfassung neben einem parlamentarischen Beschluss mit qualifizierter Mehrheit die Durchführung einer Volksabstimmung verlangt. Der Begriff Gesamtänderung wird jedoch im Verfassungstext nach keiner Richtung spezifiziert. Es ist erstaunlich, dass sich in der legalistischen Kultur Österreichs die „verfassungsrechtliche Grundordnung“ als ranghöchste Normschicht, zu welcher das Resultat der Dogmatik des Art. 44 Abs. 3 B-VG ontologisiert wurde, aus der Auslegung eines einzigen Wortes speist; und es grenzt fast schon an ein Paradoxon, dass der Begriff „Gesamtänderung“ – der sonstigen Präferenz für formelle Deutungen zuwider – in materiellem Sinne verstanden wird. Lehre und Rechtsprechung haben aber unisono lange Zeit der Versuchung widerstanden, Art. 44 Abs. 3 B-VG als Schleuse für ethische Prinzipien und Werte zu benutzen, indem sie den Inhalt der Grundordnung induktiv aus den Kerngehalten der Stammfassung des B-VG 1920 erschlossen.94 In jüngerer Zeit mehren sich allerdings die Stimmen, die diesen Grundkonsens aufkündigen. Sie reden entweder einer material-aktualisierenden Deutung das Wort,95 sie postulieren unabänderliche Verfassungsgehalte, über die Parlament und Bundesvolk selbst im Zusammenwirken nicht zu disponieren vermögen,96 oder sie halten inhaltliche Verfassungsdurchbrechungen als Missbrauch der Verfassungsform schlechterdings für unzulässig.97 Diese Ansätze reagieren sichtlich auf die Tatsache, dass das detailverliebte Verfassungsrecht seine Funktionen nur mehr schlecht erfüllt, sodass sich nach einem pointierenden Diktum Theo Öhlingers die Verfassung im materiellen Sinn in der verfassungsrechtlichen 93

Vergleiche mit der amerikanischen „original intent“-Strömung drängen sich

auf. 94 Beste Darstellung und Übersicht bei Heinz Peter Rill / Heinz Schäffer, Art. 44 B-VG, in: dies. (FN 17), Rz. 11 ff. 95 Vgl. Andreas Janko, Gesamtänderung der Bundesverfassung, 2004. 96 Peter Oberndorfer, Art. 1 B-VG, in: Karl Korinek / Michael Holoubek (Hrsg.), Österreichisches Bundesverfassungsrecht, 3. Lfg. 2000, Rz. 10. 97 Chefœuvre: Peter Pernthaler, Der Verfassungskern, 1998.

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Grundordnung erschöpft.98 All das wäre nicht weiter bemerkenswert,99 hätte nicht der Verfassungsgerichtshof in seiner ersten Entscheidung, in der er eine Verfassungsbestimmung wegen unterlassener Volksabstimmung als verfassungswidrig aufhob, der These von der Unzulässigkeit von Verfassungsdurchbrechungen breiten Raum gewidmet.100 Das zeugt von Irritation – und es erzeugt Irritation: „Das Verfassungsverständnis ist in Gefahr, von einem Extrem ins andere zu fallen.“101 In der Verfassungslegislative, für ihren technischen Zugang und für ihren nüchternen Stil bekannt, schlägt das Pendel neuerdings ebenfalls punktuell in die Gegenrichtung aus. In den 2005 neu gefassten Bestimmungen über die Schule begegnen Passagen, denen selbst der wohlmeinendste Kommentator eine starke Kitschkomponente nicht absprechen kann.102

IV. Ausblick Trotz dieser Erschütterungen: Für einen Abgesang auf die österreichische Annäherung an das Verfassungsrecht ist es wohl noch zu früh.103 Die Republik hat ihre Unzufriedenheit mit der eigenen Verfassung, die vielfach mit einer Ruine verglichen wird,104 im Jahre 2003 zum Anlass genommen, 98 Theo Öhlinger, Braucht Österreich eine Verfassung?, juridikum 0 / 00, 2000, S. 4 (5 f.). 99 Schon in den 60er- und 70er-Jahren ist von der Neutralität über die Sozialstaatlichkeit bis hin zur Gemeindeselbstverwaltung so manches als Teil der verfassungsrechtlichen Grundordnung ausgegeben worden: vgl. Rill / Schäffer (FN 94), Rz. 22 ff. Diese Auffassungen blieben allesamt Außenseiterpositionen. 100 VfSlg. 16.327 / 2001, freilich ohne abschließende inhaltliche Auseinandersetzung. 101 Richard Novak, Demokratisches Prinzip und Verfassungswandel, in: FS Mantl, Bd. 1, 2004, S. 117 (128 f.); ähnlich Rill / Schäffer (FN 94), Rz. 9. 102 Vgl. Art. 14 Abs. 5a B-VG, eingefügt durch BGBl. I 2005 / 31: „Demokratie, Humanität, Solidarität, Friede und Gerechtigkeit sowie Offenheit und Toleranz gegenüber den Menschen sind Grundwerte der Schule, auf deren Grundlage sie der gesamten Bevölkerung, unabhängig von Herkunft, sozialer Lage und finanziellem Hintergrund, unter steter Sicherung und Weiterentwicklung bestmöglicher Qualität ein höchstmögliches Bildungsniveau sichert. Im partnerschaftlichen Zusammenwirken von Schülern, Eltern und Lehrern ist Kindern und Jugendlichen die bestmögliche geistige, seelische und körperliche Entwicklung zu ermöglichen, damit sie zu gesunden, selbstbewussten, glücklichen, leistungsorientierten, pflichttreuen, musischen und kreativen Menschen werden, die befähigt sind, an den sozialen, religiösen und moralischen Werten orientiert Verantwortung für sich selbst, Mitmenschen, Umwelt und nachfolgende Generationen zu übernehmen. Jeder Jugendliche soll seiner Entwicklung und seinem Bildungsweg entsprechend zu selbständigem Urteil und sozialem Verständnis geführt werden, dem politischen, religiösen und weltanschaulichen Denken anderer aufgeschlossen sein sowie befähigt werden, am Kultur- und Wirtschaftsleben Österreichs, Europas und der Welt teilzunehmen und in Freiheits- und Friedensliebe an den gemeinsamen Aufgaben der Menschheit mitzuwirken.“ 103 Anders Somek (FN 6), wenn er den Untergang des traditionellen österreichischen Positivismus teils feiert (Rz. 33 ff.), teils beklagt (Rz. 42 ff.).

Über den modus austriacus in der Staatsrechtslehre

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einen Österreich-Konvent einzuberufen und ihn mit der Ausarbeitung einer neuen Verfassung zu betrauen. Der Konvent hat einen umfassenden Bericht mit einer Fülle von Verbesserungsvorschlägen gelegt, aber keine neue Konstitution vorgeschlagen.105 Denn im Zuge der Beratungen hat sich erstens gezeigt, dass wir mit der Substanz des B-VG 1920 so unglücklich nicht sind. Zweitens hat sich erwiesen, dass diese mittlerweile älteste republikanische Verfassung Europas ein getreuer Spiegel unseres Verfassungsverständnisses ist. Was 2003 als Neubauvorhaben begonnen wurde, wird mittlerweile auch offiziell als Renovierungsprojekt weiter verfolgt.106 Deshalb sei abschließend eine Prognose gewagt: Solange das B-VG 1920 weiter gilt, wird der modus austriacus weiter gepflegt werden.

104 Das Bild geht zurück auf Hans R. Klecatsky, Bundes-Verfassungsgesetz und Bundesverfassungsrecht, in: Herbert Schambeck (Hrsg.), Das österreichische Bundes-Verfassungsgesetz und seine Entwicklung, 1980, S. 83 (83 mit Nachweisen früherer Arbeiten in Fn. 2). 105 Vgl. Büro des Österreich-Konvents (Hrsg.), Bericht des Österreich Konvents, 4 Bände, 2005. Teil 4B enthält einen Verfassungsentwurf, den der Vorsitzende des Konvents ausgearbeitet und eingebracht hatte, nachdem klar geworden war, dass dem Konvent keine Einigung auf eine neue Verfassung gelingen würde. 106 Vgl. Abschnitt 2 des Regierungsprogramms für die XXIII. Gesetzgebungsperiode, 2007.

Was kann die deutsche Staatsrechtslehre von der amerikanischen Rechtswissenschaft lernen? Von Oliver Lepsius, Bayreuth

„Lernen“ setzt in unserem Zusammenhang voraus, dass jemand etwas anders macht und dieses andere zugleich als vorbildlich empfunden wird. Am Beginn dieser Betrachtungen muss daher die Beschreibung einiger grundlegender Unterschiede zwischen dem deutschen und dem amerikanischen Rechtsdenken stehen. Dies freilich ist ein weites Feld. Nur einige besonders tiefe Furchen können im folgenden gezogen werden, auch auf die Gefahr der Verzerrung oder Vereinseitigung hin (I.). Auf dieser Grundlage sollen einige Vorzüge (II.) aber auch Nachteile (III.) des amerikanischen rechtswissenschaftlichen Denkens ausgemacht werden, um daran eine Bewertung zu knüpfen, was das staatsrechtliche Denken in Deutschland von der amerikanischen Rechtswissenschaft lernen könnte (IV.).

I. Unterschiede Gemeinhin werden die Unterschiede in der Zugehörigkeit zum Rechtskreis des Common Law bzw. des Civil Law gesehen1. Im Common Law stellen Präjudizien den Corpus des Rechts dar, während im Civil Law Gesetze die primäre Rechtsquelle sind. Das besagt für sich noch wenig, zumal in den Vereinigten Staaten die Gesetzesdichte ständig zunimmt, während im deutschen Recht immer größere Bereiche richterrechtlich überwölbt sind2. Der 1 Zur Entwicklung der Lehre von den Rechtskreisen und ihren unterschiedlichen Stilen siehe M. Rheinstein, Einführung in die Rechtsvergleichung, 1974, S. 77 – 83; J. H. Merryman, The Civil Law Tradition, 2. Aufl. 1985; R. David / G. Grasmann, Einführung in die großen Rechtssysteme der Gegenwart, 2. Aufl. 1988, S. 46 – 80; K. Zweigert / H. Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996, S. 62 – 72; H. P. Glenn, Legal Traditions of the World, 2000, S. 116 – 156, 205 – 250, mit kritischer Rezension durch J. Q. Whitman, Rechtsgeschichte 4 (2004), S. 206 – 208. 2 Daraus schließt eine eher quantitative Betrachtung auf eine Annäherung der Rechtskreise (Konvergenzthese), während eine qualitative Betrachtung auf der Unterschiedlichkeit der Rechtskreise besteht. Die Konvergenzthese wird überwiegend für das englische Recht aufgestellt, während sich die Vertreter, die die Unterschiedlichkeit der Rechtssysteme betonen, überwiegend auf das amerikanische Recht beziehen. Für Konvergenz etwa K. Zweigert / H. Kötz, Einführung (FN 1), S. 256; S. Vogenauer, Die Auslegung von Gesetzen in England und auf dem Kontinent, 2001, S. 14

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springende Punkt scheint mir beim Normverständnis zu liegen, und hier sehe ich trotz aller quantitativen Annäherung der Rechtsquellen Gesetz und Präjudiz eine entscheidende Trennlinie, jedenfalls zwischen dem deutschen und amerikanischen Rechtsdenken. Diese Trennlinie soll hier in vierfacher Perspektive beschrieben werden3.

1. Normbegriff und Faktenorientierung

Ein Hauptunterschied liegt im Normverständnis. Wenn amerikanisches und deutsches Rechtsdenken in diesem Punkt kontrastiert werden, kann dies nicht ohne eine gewisse Vereinseitigung und Schablonisierung bleiben. Der Vielfalt unterschiedlicher Normstrukturen in den jeweiligen Rechtsordnungen kann hier naturgemäß nicht Rechnung getragen werden. Uns interessiert aber keine allgemeingültige, realistische Beschreibung der tatsächlich vorhandenen Normstrukturen, sondern es geht um den Versuch einer Typisierung des jeweiligen Normenmodells, welches dem juristischen Denken gedanklich zugrunde liegt. Im Hinblick auf eine typologische Unterscheidung unterschiedlicher Normverständnisse lässt sich – bei aller Vielfalt im Einzelnen – gleichwohl ein signifikantes Unterscheidungsmerkmal erkennen. Im amerikanischen Rechtsdenken besitzt der Normbegriff eine andere Struktur als im deutschen, vor allem im Hinblick auf seine Faktenorientierung. Die Faktenorientierung ist Bestandteil der Normstruktur selbst. Normen setzen die Anwendung auf Tatsachen voraus, nicht indes liegen sie, wie und öfter; für Unterschiedlichkeit etwa D. Osler, The Fantasy Men, Rechtsgeschichte 10 (2007), S. 169 – 193; C. Harlow, Global Administrative Law, EJIL 17 (2006), S. 187 (207 – 209); M. Cappelletti, The Doctrine of Stare Decisis and the Civil Law: A Fundamental Difference – or no Difference at All?, in: FS Konrad Zweigert, 1981, S. 381 – 393 (381 – 383, 388); P. Legrand, European Legal Systems Are Not Converging, International and Comparative Law Quarterly 45 (1996), S. 52; ders., How to Compare Now, Legal Studies 16 (1996), S. 232; ders., Fragments on Law-as-Culture, 1999; wohl auch U. Mattei, Comparative Law and Economics, 1997, S. 69 – 99; M. Reimann, Die Fremdheit des amerikanischen Rechts – Versuch einer historischen Erklärung, in: K. Krakau / F. Streng (Hrsg.), Konflikt der Rechtskulturen? Die USA und Deutschland im Vergleich, 2003, S. 23 – 36. Auch die in den USA maßgebliche Darstellung des Civil Law System von J. H. Merryman, Civil Law (FN 1), betont die Unterschiede und widerspricht implizit der Konvergenz-Idee. Insgesamt wird die Debatte überwiegend materiellrechtlich und auf das Zivilrecht bezogen geführt. Zur Kritik des Vorgehens der gegenwärtigen Rechtsvergleichung M. Reimann, The Progress and Failure of Comparative Law in the Second Half of the Twentieth Century, American Journal of Comparative Law 50 (2002), S. 671 ff., der u. a. beklagt, man gehe zu punktuell und unverbunden vor und verfüge über keine theoretische und methodologische Basis (mehr). 3 Vgl. alternativ M. Reimann, Fremdheit (FN 2), S. 24 – 28, der charakteristische Merkmale des amerikanischen Common Law benennt, anhand derer sich wesentliche Unterscheidungsmerkmale festmachen lassen: 1. Die Zentralität von Richter und Prozess im Common Law, 2. Das Paradigma der Einzelfallentscheidung, 3. Induktive Bindung und enge Fassung von Regeln.

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im deutschen Rechtsdenken, den Sachverhalten voraus. In Deutschland trennen wir Norm und Tatsache. Wir sprechen von der Subsumtion der Tatsachen unter die Norm4. Dem amerikanischen Vorgehen ist eine solche gedankliche Trennung fremd. Eine Technik der Subsumtion wie in Deutschland gibt es nicht; schon der Begriff „Subsumtion“ ist ungewohnt. Hier liegt ein wichtiger Unterschied, der rechtstheoretischer Natur ist und in dem sich das methodische Erbe des Common Law spiegelt. „Die Rechtsnorm des common law ist nicht abstrakt gefasst, sie beruht auf am Einzelfall entwickelter Erfahrung und ist nicht als Gebot für die Zukunft, sondern als Konkretisierung von auf die gegenwärtigen Verhältnisse zugeschnittenen rules of conduct zu verstehen, ohne sich dabei auf Definitionen und Verallgemeinerungen festzulegen“5. Das Präjudiz bleibt das theoretische Muster der Norm, anders gesagt, die normative Aussage wird auf einen bestimmten Sachverhalt bezogen. Im amerikanischen Rechtsdenken hängen Verallgemeinerbarkeit und Bindungswirkung der normativen Aussage von der Vergleichbarkeit der Sachverhalte ab. Folglich ist die normative Aussage eines Präjudizes nur in ihrer Sachverhaltsbezogenheit erfassbar6. Die Ermittlung der Präjudizienbindung (doctrine of stare decisis7) strukturiert die Ar4 Wie „Subsumtion“ methodologisch vorgeht und welche paradigmatische Bedeutung sie für das deutsche Rechtsdenken hat, ist nicht oft untersucht worden. Verbreitet ist das Bild vom „hin und her wandernden Blick“. Mit dem Begriff wird weithin „sorglos“ umgegangen, so K. Engisch, Einführung in das juristische Denken, 8. Aufl. 1983, S. 211, vgl. im Übrigen S. 43 – 62. Die Vorstellung einer logischen Subsumtionstechnik wird von der methodologischen Literatur nicht vertreten, vgl. J. Esser, Vorverständnis und Methodenwahl in der Rechtsfindung, 1970, S. 43 – 56, der von der „Zurichtung der Prämissen“ spricht; auch K. F. Röhl, Allgemeine Rechtslehre, 2. Aufl. 2001, S. 112 f.; A. Rinken, Einführung in das juristische Studium, 3. Aufl. 1996, S. 217 – 219; selbst K. Larenz, Methodenlehre der Rechtswissenschaft, 6. Aufl. 1991, S. 271 – 277. Die „Subsumtionstechnik“ wird in der deutschen methodologischen Literatur jeweils als Anlass für eigenständige, fortführende Beiträge genommen, so etwa zum Ansatz eines Prinzipiendenkens bei J. Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956, insbes. S. 132 ff.; oder einer Fallnorm bei W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Band IV, 1977, S. 180 ff., 202 ff. bzw. bei F. Müller / R. Christensen, Juristische Methodik, Band I, 8. Aufl. 2002, S. 144 ff., oder dem Plädoyer für rationale Begründungen bei M. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, 1967, S. 47 ff. Aus der Einsicht, wie begrenzt und voraussetzungsvoll die Idee der „Subsumtion“ ist, leiten die Autoren die Notwendigkeit von Prämissen für die Rechtsanwendung ab, so dass über die unterschiedlichen Vorverständnisse gerungen werden muss. In neueren rechtstheoretischen Werken ist „Subsumtion“ kein Stichwort mehr, vgl. S. Buckel / R. Christensen / A. Fischer-Lescano (Hrsg.), Neue Theorien des Rechts, 2006; anders aber J. Bung, Subsumtion und Interpretation, 2004. 5 So H. Neumayer, in: David / Grasmann (FN 1), S. 60. 6 Viele Beispiele dafür bei D. Kennedy, A Critique of Adjudication (fin de siècle), 1997, S. 100, 104, 146, 154, 240 f. 7 Zur Stare-Decisis-Doktrin K. N. Llewellyn, The Common Law Tradition, 1960, insbes. S. 75 – 90; ders., Präjudizienrecht und Rechtsprechung in Amerika, 1933, S. 47 ff.; J. Esser, Grundsatz und Norm (FN 4), S. 185 ff.; K. Zweigert / H. Kötz, Einführung (FN 1), S. 253 – 259; H. P. Monaghan, Stare decisis and constitutional adjudication, Columbia Law Review 88 (1988), S. 723 – 773; P. S. Atiyah / R. Summers, Form and Substance in Anglo-American Law, 1987, S. 116 – 127, 139 f.; L. Kähler, Strukturen und Methoden der Rechtsprechungsänderung, 2004; K. Pilny, Präjudizienrecht

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gumentation, indem sie über das distinguishing normative Freiräume entweder schafft oder schließt8. In Deutschland hingegen ist das Muster die generell-abstrakte Norm, das allgemeine Gesetz9. Die Bindung der Rechtsakteure an das Gesetz bestimmt sich nach seinem Sinn und Zweck; Art und Maß der Gesetzesbindung variiert also nach Funktion, Struktur und Regelungsdichte des Gesetzes10. Ohne diese schwierige verwaltungs- und verfassungsrechtliche wie rechtstheoretische Grundfrage hier vertiefen zu können, ist für unsere Zwecke lediglich festzuhalten: Die Bindung hängt nicht von einem Faktenvergleich, sondern von einem Wertungsvergleich ab. Sie wird primär materiellrechtlich, nämlich generell-abstrakt bestimmt, während sie in den Vereinigten Staaten primär prozessrechtlich, also individuell-konkret, ermittelt wird. Dieser Unterschied wird z. B. beim Analogieschluss deutlich. In den USA treffen im anglo-amerikanischen und im deutschen Recht, 1993; T. Probst, Die Änderung der Rechtsprechung. Eine rechtsvergleichende methodologische Untersuchung zum Phänomen der höchstrichterlichen Rechtsprechungsänderung in der Schweiz und den USA, 1993, sowie M. Cappelletti, Stare Decisis (FN 2), der die Unterschiede bei der Präjudizienbindung im Civil und Common Law betont. Differenziert K. Zweigert / H. Kötz, Einführung (FN 1), S. 256 f. (unter Berufung auf E. Rabel): keine Unterschiede von stare decisis und Präjudizienbindung im Civil Law im Ergebnis, wohl aber in der Methode. 8 Aus der umfangreichen Literatur etwa G. Postema, Philosophy of the Common Law, in: J. Coleman / S. Shapiro (Hrsg.), The Oxford Handbook of Jurisprudence and Philosophy of Law, 2002, S. 588 (595 – 599); B. Levenbrook, The Meaning of Precedent, Legal Theory 6 (2000), S. 185 – 240; L. Alexander, Precedent, in: D. Patterson (Hrsg.), A Companion to Philosophy of Law and Legal Theory, 1996, S. 503 – 513; ders., Constrained by Precedent, Southern California Law Review 63 (1989), S. 64; F. Schauer, Precedent, Stanford Law Review 39 (1987), S. 571 – 605; W. Fikentscher, Methoden des Rechts, Band II, 1976, S. 95 ff. Einen Überblick über Fragen der Präjudizienbindung aus englischer Perspektive verschafft der Sammelband: L. Goldstein (Hrsg.), Precedent in Law, 1987. 9 Dazu H. Hofmann, Das Postulat der Allgemeinheit des Gesetzes (1987), in: ders., Verfassungsrechtliche Perspektiven, 1995, S. 260, gegen Forsthoffs und Schmitts Stilisierung des Gesetzesbegriffs zu einem (entpolitisierten) Begriff des Gesetzes als einer generellen Norm. Hofmann weist demgegenüber nach, dass der vermeintlich systembildende rechtsstaatliche Begriff des generellen Gesetzes die Rechtslehre und Staatspraxis nie durchgehend beherrscht hat. Es sei allerdings nicht zu bestreiten, dass der Gedanke der Allgemeinheit des Gesetzes im Sinne der Fixierung auf generell-abstrakte Regeln die Aufklärung und konstitutionelle Bewegung „mit der Kraft eines Archetypus fasziniert hat“ (S. 264). Kritisch zu einem auf das Gesetz reduzierten Begriff der Rechtsnorm: M. Jestaedt, Das mag in der Theorie richtig sein . . . , 2006, S. 19 – 26. 10 Statt vieler: M. Jestaedt, in: H.-U. Erichsen / D. Ehlers (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, 13. Aufl. 2006, § 10 Rn. 5 f.; M. Pöcker, Das Parlamentsgesetz im sachlich-inhaltlichen Steuerungs- und Legitimationsverbund, Der Staat 41 (2002), S. 616 – 635; H. Schulze-Fielitz, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz, Band II, 2. Aufl. 2006, Art. 20 (Rechtsstaat) Rn. 81, 93, 96, 101; E. Schmidt-Aßmann, Gefährdungen der Rechts- und Gesetzesbindung der Exekutive, in: FS Klaus Stern, 1997, S. 745 (747 f., 750 – 758): „Vielfalt der Bindungsmaßstäbe und Verläßlichkeit der Bindungsergebnisse“ (S. 747), „Zusammenstellung eines Bindungsprogramms“ (S. 757); ders., Zur Gesetzesbindung der verhandelnden Verwaltung, in: FS Winfried Brohm, 2002, S. 547 (549 f.); W. Schmidt, Gesetzesvollziehung durch Rechtsetzung, 1969, S. 75 ff.

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wir auf eine Faktenanalogie11 mit kunstvollen Formen des distinguishing12, in Deutschland indes auf die Wertungsanalogie, basierend auf der Vorstellung einer Regelungslücke13. Kommt bei uns der Wertungsanalogie eine Rechtserkenntnisfunktion zu, zieht das amerikanische Vorgehen Rechtserkenntnis aus der Faktenanalogie14. Der hier schematisch beschriebene Unterschied im Normverständnis zeigt sich jeweils spiegelbildlich beim Umgang mit dem anderen Normtypus, also beim Umgang mit Gesetzen in den USA bzw. beim Umgang mit Richterrecht in Deutschland15. In den USA werden Gesetze nicht in einer generell-abstrakten Form subsumiert, sondern regelmäßig in Gestalt desjenigen Präjudizes zitiert, welches das Gesetz auf einen einschlägigen Sachverhalt angewendet hat. Selbst im Verfassungsrecht wird der Name des Falles zitiert, nicht die Norm selbst, weil die Norm ohne Sachverhaltsbezug juristisch nicht greifbar ist16. Auch „constitutional law is a form of casuistry“17. Amerikanische Juristen denken im Umgang mit Gesetzen meist noch als case lawyers und deshalb in Einzelproblemen18. Insgesamt kann die me11 Das Vorgehen wird in extenso geschildert (ohne es freilich abstrakt zu formulieren) bei E. Levi, An Introduction to Legal Reasoning, 1949; siehe auch C. Sunstein, On Analogical Reasoning, Harvard Law Review 106 (1993), S. 741; ders., Legal Reasoning and Political Conflict, 1996, S. 62 – 100; G. Postema, Philosophy (FN 8), S. 602 – 609. 12 Zum Verfahren des distinguishing etwa R. Bronaugh, Persuasive Precedent, in: L. Goldstein (Hrsg.), Precedent in Law, 1987, S. 217 – 247 (223 – 230); erhellend auch R. S. Summers, Why Common Law Courts Seldom Need to Assess Closely the Comparative Force of Conflicting Substantive Reasons, in: Reasoning in Law 1 (1987), S. 207 – 223; W. Fikentscher, Methoden II (FN 8), S. 95 – 103; C. K. Allen, Law in the Making, 7. Aufl. 1964, S. 268 ff., 285 ff. 13 Statt vieler C.-W. Canaris, Die Feststellung von Lücken im Gesetz, 2. Aufl. 1983, S. 71 ff. 14 C. Sunstein, Legal Reasoning (FN 11), S. 68: „The key point is that analogical reasoning involves a process in which principles are developed from and with constant reference to particular cases.“ 15 Erhellend I. Zajtay, Begriff, System und Präjudiz in den kontinentalen Rechten und im Common Law, AcP 165 (1965), S. 97 – 114. Die Bindung des Richters im deutschen und amerikanischen Zivilrecht kontrastierend M. Auer, Materialisierung, Flexibilisierung, Richterfreiheit, 2005, S. 64 ff. („institutioneller Grundwiderspruch“ des deutschen Privatrechtsdenkens). 16 Methodologisch gerechtfertigt durch D. Strauss, Common Law Constitutional Interpretation, University of Chicago Law Review 63 (1996), S. 877 – 935. Zum methodisch Common Law-vorgeprägten Umgang mit Gesetzen in britischer Perspektive: P. S. Atiyah, Common Law and Statute Law, Modern Law Review 48 (1985), S. 1 – 28; T. R. S. Allan, Law, Liberty, and Justice, 1993, S. 62 – 64, 135 – 162. 17 C. Sunstein, Legal Reasoning (FN 11), S. 79. 18 So M. Reimann, Einführung in das US-amerikanische Privatrecht, 1997, S. 67; ähnlich P. S. Atiyah, Common Law (FN 16), S. 3. A. Scalia, Common-Law Courts in a Civil-Law System: The Role of United States Federal Courts in Interpreting the Constitution and Laws, in: ders., A Matter of Interpretation, 1997, S. 3 – 47 (14) beklagt: „We American judges have no intelligible theory of what we do most [statutory interpretation]. Even sadder, however, is the fact that the American bar and American legal education, by and large, are unconnected with the fact that we have no intelligible theory.“

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thodologische Grundprägung des Rechtsdenkens durch das Common Law nicht hoch genug veranschlagt werden19. Dies zeigt sich auch in der Literatur, die sich mit den Methoden der Gesetzesauslegung beschäftigt20. Trotz verschiedener Versuche, eigenständige Kriterien für die Auslegung von Gesetzen zu entwickeln21, tut sich die Rechtswissenschaft mit dem Thema insgesamt schwer. Fragen der Textinterpretation werden nach wie vor ganz überwiegend am Beispiel von Gerichtsentscheidungen diskutiert. Spezifische Fragen der Auslegung von Gesetzen haben regelmäßig einen institutionellen Ausgangspunkt22. Entweder überwiegt die Perspektive des Gesetzgebers (legislative intent), oder die des Gerichts (Bindungswirkung anhand von Faktenanalogie), oder die einer Verwaltungsbehörde. Neuerdings wächst das Bewusstsein für die Besonderheiten beim Umgang mit Gesetzen, die entstehen, wenn Behörden (und nicht Gerichte) die Primäradressaten der Normen sind23. Gilt für die Kontrollperspektive des Richters dann ein anderer Auslegungsmaßstab als für die Entscheidungssituation der Behörde?24 Die Norm wird also nicht selbst zum abstrakten Gegenstand der Sinn19 Ein Common Law-geprägter Umgang mit dem Gesetz wird in der Literatur sogar ausdrücklich propagiert, einflussreich insoweit G. Calabresi, A Common Law for the Age of Statutes, 1982. Verherrlichende Beschreibungen des Common LawRechtsdenkens bei M. Eisenberg, The Nature of the Common Law, 1988; A. Kronman, The Lost Lawyer, 1993, insbes. S. 110 ff., 159 ff.; J. Stoner, Common-Law Liberty, 2003. Zum Verhältnis von Common Law und Verfassungsrecht erhellend auch W. Heun, Verfassungsrecht und einfaches Recht – Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichtsbarkeit, VVDStRL 61 (2002), S. 80 (81 – 95); D. Lieberman, Legislation in a Common Law Context, ZNR 28 (2006), S. 107. 20 Vgl. W. Eskridge, Norms, Empiricism, and Canons in Statutory Interpretation, University of Chicago Law Review 66 (1999), S. 671; ders., Dynamic Statutory Interpretation, 1994; N. Zeppos, Legislative History and the Interpretation of Statutes: Toward a Fact-Finding Model of Statutory Interpretation, Virginia Law Review 76 (1990), S. 1295; F. Easterbrook, Statutes‘ Domains, University of Chicago Law Review 50 (1983), S. 533. 21 Bemerkenswerte Ansätze (mit erheblichen rechtspolitischen Unterschieden im Ergebnis) bei C. Sunstein, After the Rights Revolution, 1990; A. Scalia, Common-Law Courts (FN 18). Einen dem zweckorientierten deutschen Vorgehen vergleichbaren Ansatz vertritt (ohne darauf zurückzugreifen) F. Schauer, Playing by the Rules. A Philosophical Examination of Rule-Based Decision-Making in Law and Life, 1991. 22 Vgl. F. Easterbrook, Abstraction and Authority, University of Chicago Law Review 59 (1992), S. 349; J. Manning, Textualism as a Nondelegation Doctrine, Columbia Law Review 97 (1997), S. 673; ders., Constitutional Structure and Statutory Formalism, University of Chicago Law Review 66 (1999), S. 685; A. Vermeule, Interpretive Choice, N.Y.U. Law Review 75 (2000), S. 74; C. Sunstein / A. Vermeule, Interpretation and Institutions, Michigan Law Review 101 (2003), S. 885. 23 Darauf wies insbesondere C. Sunstein hin: After the Rights Revolution, 1990, S. 160 ff.; zuvor ders., Interpreting Statutes in the Regulatory State, Harvard Law Review 103 (1989), S. 405. Siehe auch A. Scalia, Judicial Deference to Agency Interpretations of Law, Duke Law Journal 1989, S. 511; Symposium on Statutory Interpretation, Chicago-Kent Law Review 66 (1990), S. 301 – 505; Symposium: A Reevaluation of the Canons of Statutory Interpretation, Vanderbilt Law Review 45 (1992), S. 529 – 795; Symposium: Formalism Revisited, University of Chicago Law Review 66 (1999), S. 636. 24 Der vielleicht berühmteste Fall, an dem diese Frage diskutiert wird, ist Chevron U.S.A., Inc. v. Natural Resources Defense Council, Inc., 467 U.S. 837 (1984).

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ermittlung herangezogen, sondern in einer institutionalisierten Perspektive traktiert. Ein zeitloser, übergreifender, transpersoneller Sinn und Zweck der Norm kann auf diese Weise nicht ermittelt werden. In ihrer Entstehung und in ihrer Anwendung bleiben Normen immer Menschenwerk, seien die Normen Präjudizien, Verwaltungsentscheidungen (regulations) oder Gesetze. Was auf einen deutschen Beobachter als Defizit wirken mag, kann auch positiv beschrieben werden: Dem amerikanischen Rechtswissenschaftler ist implizit bewusst, dass Normen je nach dem individuellen und institutionellen Normadressaten anders auszulegen, anzuwenden und womöglich auch anders zu formulieren sind. In der deutschen Rechtswissenschaft hat man hingegen lange an der Vorstellung einer einheitlichen Methodenlehre festgehalten, die auf die unterschiedlichen Normadressaten keine prinzipielle Rücksicht nimmt und den Anspruch hat, für Zivilrecht und öffentliches Recht, einfaches Recht und Verfassungsrecht gleichermaßen tauglich zu sein. Von dieser Vorstellung hat man jedenfalls im deutschen öffentlichen Recht wohl inzwischen implizit Abstand genommen, ohne dass daraus bereits verallgemeinerungsfähige methodische Einsichten gezogen worden wären. Der in den Vereinigten Staaten übliche sachverhaltszentrierte Umgang mit Normen hat Rückwirkungen auf die Bindungswirkung von Gesetzen wie auch auf die Gesetzgebung selbst25. Gesetze werden anders formuliert als in Deutschland; sie weisen bereits einen geringeren Abstraktionsgrad auf. Dies wiederum ist Voraussetzung für ihre praktische Anwendbarkeit. Generell-abstrakte Gesetze wären im amerikanischen Rechtsdenken mangels Faktennähe selten anwendbar und würden die Institutionen unzureichend binden. Im amerikanischen Rechtsdenken sind die institutionellen Aspekte den materiellrechtlichen ebenbürtig. Die Frage der Gesetzesbindung zeigt dies deutlich: Ob eine Norm das Ergebnis materiellrechtlich beeinflusst, hängt davon ab, in welchem Umfang sie auf die institutionellen Bindungsfaktoren Rücksicht nimmt. Mit anderen Worten: Gerichte können generell-abstrakte Normen schlechter verarbeiten als individuell-konkrete, bei denen der Faktenbezug greifbarer ist. Das führt zu einem aus deutscher Sicht bisweilen paradoxen Zustand: Je konkreter das Gesetz gefasst ist, desto größer ist seine Bindungswirkung. In Deutschland würden wir umgekehrt entscheiden: Das Gesetz bindet alle Institutionen gleich (Art. 20 Abs. 3 GG). Dies ist Ausdruck seiner primär materiellrechtlichen Natur, die einer generell-abstrakten Form bedarf (Allgemeinheit des Gesetzes). Die paradigmatische Prägung des juristischen Denkens durch einen jeweils unterschiedlich idealisierten Normbegriff zeigt sich auch beim Um25 Näher am Beispiel amerikanischer Verwaltungsgesetze: O. Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, 1997, S. 128 – 140, 296 f.

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gang mit Richterrecht in Deutschland. Wir gehen mit Präjudizien nach dem Muster unseres zweck- und wertungsorientierten Normverständnisses um. Deutsches Richterrecht zeichnet sich daher durch abstrakte Fallgruppenbildung aus. Die Sachverhaltsbezüge des Falles werden zum Ausgangspunkt neuer generell-abstrakter Normen genommen. Normstrukturell orientiert sich das deutsche Richterrecht am Muster der generell-abstrakten Norm. Wenn Obergerichte Richterrecht setzen, greifen sie zum Abstraktionsniveau der Gesetzgebung, was gerade das Richterrecht unter dem Aspekt der Gewaltenteilung und demokratischen Legitimation so prekär werden lässt26. Es wird nicht mehr nur ein Fall entschieden, sondern ein Wertungskonflikt gelöst27. Urteile des Bundesverfassungsgerichts, die Normprogramme vorzeichnen, sind legendär.28 Auch über das Verfassungsrecht hinaus gewinnt man den Eindruck, als ob obiter dicta beliebter werden. Die bisherigen Erörterungen zusammenfassend kann man die Vorbildwirkung der jeweiligen Normverständnisse spiegelbildlich gegenüberstellen: In Deutschland kopieren die Gerichte die Bindungswirkung des Gesetzes, während in den USA der Gesetzgeber auf die Bindungswirkung des Präjudizes abzielt.

2. Dogmatik und Systembildung

Weitere Unterschiede leiten sich aus diesem Grundunterschied ab. Das faktenorientierte Normverständnis bewirkt das Fehlen von Dogmatik und Systemorientierung im amerikanischen Rechtsdenken29. Der Begriff „Sys26 Kritische Bestandsaufnahme im Zivilrecht mit zahlreichen Beispielen bei U. Foerste, Verdeckte Rechtsfortbildung in der Zivilgerichtsbarkeit, JZ 2007, S. 122 (123, 129 – 131); ferner W. Seiler, Höchstrichterliche Entscheidungsbegründungen und Methode im Zivilrecht, 1992. 27 Wie ein generell-abstrakter Normbegriff zum Ideal des Richterrechts erhoben wird, verdeutlicht BVerfGE 34, 269 (292) [1973]: Der BGH habe „nicht das System der Rechtsordnung verlassen und keinen eigenen rechtspolitischen Willen zur Geltung gebracht, sondern lediglich Grundgedanken der von der Verfassung geprägten Rechtsordnung mit systemimmanenten Mitteln weiterentwickelt. Der so gefundene Rechtssatz ist deshalb legitimer Bestandteil der Rechtsordnung und bildet als ein ,allgemeines Gesetz‘ im Sinne des Art. 5 Abs. 2 GG eine Schranke der Pressefreiheit.“ (Nachweise weggelassen). 28 Beispielhaft BVerfGE 39, 1 (44 – 50); 88, 203 (209 – 213). Zu Beispielen und Problemen K. Schlaich / S. Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 6. Aufl. 2004, Teil 5 E, Teil 7 III; H. Säcker, Gesetzgebung durch das BVerfG, in: M. Piazolo (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht, 1995, S. 189 – 225; F. Ossenbühl, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgebung, in: FS 50 Jahre BVerfG, Band I, 2001, S. 33 (42 – 46); H. SchulzeFielitz, Wirkung und Befolgung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, ebd., S. 385 (396 – 399); R. van Ooyen, Der Begriff des Politischen des Bundesverfassungsgerichts, 2005; W. Heun, Rechtliche Wirkungen verfassungsgerichtlicher Entscheidungen, in: C. Starck (Hrsg.), Fortschritte der Verfassungsgerichtsbarkeit in der Welt, 2006, S. 173 – 186. 29 Plastisch die Beschreibung von M. Reimann, Einführung (FN 18), S. 66: „Bei der Anwendung muss man sich deshalb gesetzliche Vorschriften und Gerichtsentscheidungen je nach Einschlägigkeit zusammensuchen und ein Flickwerk daraus machen. Dabei hilft keine übergreifende Systematik. Es bleibt einem nur die Hoffnung, dass

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tem“ wird im amerikanischen Recht gemieden30, während er im deutschen Rechtsdenken eine omnipräsente Vokabel darstellt und als Inbegriff wissenschaftlichen Anspruchs gelten darf31. In den USA hat „the system“ eine bedrohliche Konnotation und steht unter dem latenten Verdacht, anti-individualistischem, unfreiheitlichem Denken Vorschub zu leisten32. Systembildung kann kein plausibles wissenschaftliches Ziel sein angesichts eines faktenorientierten Normverständnisses33. Schließlich ergeben die Fakten kein System. Die Welt ist vielfältig, dynamisch, die Menschen sind sozial unterschiedlich und verfolgen individuelle Interessen. Mehr als eine Konsistenz der an den Sachverhalten orientierten Entscheidungen kann redlicherweise nicht verlangt werden34. Neuere methodologisch orientierte Werke prominenter amerikanischer Autoren argumentieren wie selbstverständlich für einen eher kleinteiligen, fallbezogenen Konsens und sich die Teile wie bei einem Puzzle irgendwie zusammenfügen werden. Auch diese Hoffnung wird allerdings oft enttäuscht.“ 30 Als Negativbeweis: Weder bei D. Patterson (Hrsg.), A Companion to Philosophy of Law and Legal Theory, 1996, noch bei J. Coleman / S. Shapiro, The Oxford Handbook (FN 8) steht „System“ im Index. Für das ausgehende 19. und beginnende 20. Jahrhundert M. Reimann, Historische Schule und Common Law, 1993, S. 25 – 29, 121 – 130, 142 – 147. Zwar ist auch im Common Law die Strukturierung des Rechtsstoffes eine Aufgabe der Wissenschaft, die man als „Systematisierung“ bezeichnen könnte, aber nicht sollte. Reimann benennt den Unterschied, ebd., S. 146: Den Common Lawyers fehlte die Vorstellung, dass das System selbst seine Rechtsquelle sein konnte. Es geht ihnen um die Ordnung der Begriffe, nicht um eine (wissenschaftliche) Quelle des Rechts; diese war und blieb das Case Law. Siehe auch ders., Rechtskulturelle Wandlungen des Civil Law und Common Law, ZNR 28 (2006), S. 209 (229 – 231). 31 Vgl. nur fürs Zivilrecht C.-W. Canaris, Systemdenken und Systembegriff in der Jurisprudenz, 2. Aufl. 1983; M. Schmoeckel, Der allgemeine Teil in der Ordnung des BGB, in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Band I, 2003, Vor § 1, Rn. 14 – 22, 35 – 41; fürs Verfassungsrecht M. Kriele, Rechtsgewinnung (FN 4), S. 97 ff.; fürs Verwaltungsrecht H. Schulze-Fielitz, Notizen zur Rolle der Verwaltungsrechtswissenschaft für das Bundesverwaltungsgericht, Die Verwaltung 36 (2003), S. 421 (423 f., 426, 431 f.); kritisch M. Jestaedt, Theorie (FN 9), S. 81 ff. In begriffshistorischer und wissenschaftstheoretischer Perspektive M. Riedel, Artikel „System, Struktur“, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Band 6, 1990, S. 285 – 322. 32 Eine aufschlussreiche erkenntnistheoretische Perspektive über die Rechtswissenschaft hinaus bietet N. Cartwright, Against „The System“, in: C. Engel / L. Daston (Hrsg.), Is There Value in Inconsistency?, 2006, S. 17 – 38. 33 Zur Illustration die Einschätzung von J. H. Merryman, Civil Law (FN 1), S. 66: „Although the common law world has seen occasional brief trends toward the kind of thinking that characterizes legal science, it has never really caught on here. Legal science is a creation of the professors – it smells of the lamp – and our judge-dominated law is fundamentally inhospitable to it. Common law judges are problem solvers rather than theoreticians, and the civil law emphasis on scientism, system-buildung, formalism, and the like gets in the way of effective problem solving.“ 34 Aufschlussreich insofern die Debatte zwischen C. Engel, Inconsistency in the Law: In Search of a Balanced Norm, in: C. Engel / L. Daston, Value (FN 32), S. 221 – 281, der vor dem Hintergrund des deutschen Systemdenkens größere Inkonsistenz zulassen will und C. Kutz, Consistency’s Value, ebd., S. 291 – 298, der vor dem Hintergrund des Case Law mehr Konsistenz einfordert; siehe auch ders., Just Disagreement. Indeterminacy and Rationality in the Rule of Law, Yale Law Journal 103 (1994), S. 997 – 1030.

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lehnen großflächige, systematische Richtigkeitserwägungen ab35. Dieses Methodenverständnis wird im Übrigen mit demokratischen Erkenntniszielen und -zwängen begründet, so dass „judicial reasoning“ in den Kontext einer arbeitsteiligen demokratischen Entscheidungsfindung gestellt wird36. Im amerikanischen Rechtsdenken unterentwickelt ist im übrigen auch die soziale Kehrseite des juristischen Systembegriffs, nämlich die Orientierung des Rechts auf die Gesellschaft. Es ist eher der Einzelne, auf den Recht bezogen ist, als die Gemeinschaft. Hier manifestiert sich erneut die Abneigung gegen großflächige, artifizielle Konstrukte im Rechtsdenken. Individuen mit ihren Interessen sind in den USA viel eher der Bezugspunkt einer sich sozial informiert gebenden Rechtswissenschaft als ein überindividuelles Konstrukt namens „Gesellschaft“. Deutschen Juristen mag es merkwürdig erscheinen, aber für amerikanische Juristen wird der Sozialbezug des Rechts nicht durch Theorie-Rekurse auf die Gesellschaft hergestellt, sondern auf individuelle Fallkonstellationen heruntergebrochen. In deutschen Diskursen ist viel öfter vom Begriffspaar Recht und Gesellschaft die Rede als in amerikanischen, die die Sozialbezüge offenbar mit anderen Mitteln herstellen. Als Beispiel mag nur auf den Legal Realism oder die Critical Legal Studies verwiesen werden, als zwei einflussreiche sozialwissenschaftlich orientierte rechtstheoretische Ansätze. Der Legal Realism überwand die „sociological jurisprudence“37 eines Roscoe Pound38, indem er sich empirischen Fragestellungen zuwandte, also Verhaltensforschung in überschaubaren Kontexten propagierte39. Auch die Bewegung der Critical Legal Studies 35 R. Posner, Overcoming Law, 1995; ders., The Problematics of Moral and Legal Theory, 1999, S. 227 ff.; ders. Law, Pragmatism, and Democracy, 2003; C. Sunstein, Legal Reasoning (FN 11), insbes. die Unterkapitel Incompletely Theorized Agreements, S. 35 und In Defense of Casuistry, S. 121; ders., One Case at a Time, 1999, mit einem Plädoyer für leichtere Konsensbildung auf kleinstem gemeinsamen Nenner und der daraus folgenden Ablehnung von ambitionierten, prinzipienübergreifenden Gerichtsentscheidungen, die über den entscheidungserheblichen Sachverhalt hinaus zielen. 36 Besonders durch C. Sunstein, Legal Reasoning (FN 11) und One Case (FN 35), sowie durch R. Posner, Law, Pragmatism, and Democracy, 2003. Siehe auch W. Murphy, Civil Law, Common Law, and Constitutional Democracy, Louisiana Law Review 52 (1991), S. 91 ff., sowie P. Craig, Public Law and Democracy in the United Kingdom and the United States of America, 1990. 37 Der Hegelianer Pound, wie kaum ein anderer Amerikaner in der Tradition der deutschen Rechtsphilosophie bewandert, wird bis heute eher distanziert betrachtet, vielleicht auch weil die neuere rechtshistorische Forschung bei Pounds sociological jurisprudence kontinentaleuropäische Einflüsse nachgewiesen hat, vgl. M. Reimann, Continental Imports. The Influence of European Law and Jurisprudence in the United States, Tijdschrift voor Rechtsgeschiedenis 64 (1996), S. 391 – 410 (398). In doppelbiographischer Sicht N. E. H. Hull, Roscoe Pound and Karl Llewellyn. Searching for an American Jurisprudence, 1997, mit kritischer Rezension durch T. Henne, Ius Commune XXVI (1999), S. 492 – 494. 38 Zu Roscoe Pound: W. Fikentscher, Methoden II (FN 8), S. 225 – 239; V. Winkler, In memoriam Roscoe Pound, ZEuP 13 (2005), S. 105 f. 39 Umfassend zur empirischen Ausrichtung des Legal Realism J. Schlegel, American Legal Realism and Empirical Social Science, 1995. Zum Legal Realism im Übrigen etwa: B. Leiter, Naturalizing Jurisprudence, 2007; M. A. Rea-Frauchiger, Der

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ist nicht primär an gesellschaftlichen Bezügen interessiert, sondern an den politischen Interessen, die subkutan dem Fallrecht zugrundeliegen40. Ihre kritische Dimension richtet sich darauf, den vermeintlich unpolitischen Umgang mit scheinbar neutralen Fakten zu entlarven. Die Critical Legal Studies behandeln in erster Linie privatrechtliche Aspekte. Sie können einen allgemeinen Anspruch erheben, das amerikanische Recht als verkappt politisch zu kritisieren, weil die zivilrechtliche Behandlung von Fällen im Case Law das Normverständnis der Rechtsordnung insgesamt prägt. Auf „die Gesellschaft“ bezogen ist auch diese Richtung nicht41. Man darf resümieren: Einem amerikanischen Juristen ist „die Gesellschaft“ als soziales Konstrukt zu abstrakt, wie auch „das System“ als normatives Konstrukt zu abstrakt ist. Auch hier zeigt sich ein nicht unbedeutender Unterschied zum Vorgehen in Deutschland, das, will es sozialwissenschaftlich informiert sein, sich gerade nicht mit dem Bezug auf Individualinteressen, Fallgruppen oder empirischen Fragestellungen zufrieden zu geben pflegt. In Deutschland beobachten wir vielmehr eine prinzipielle Orientierung an der Gesellschaft bei denjenigen, die für sozialwissenschaftliche Bezüge im Rechtsdenken eintreten. Dadurch kommt es unter deutschen Juristen zu einer eigentümlichen Bevorzugung der Sozialtheorie gegenüber der empirischen Sozialforschung42. Dies ist die Kehrseite ihres systematischen Anliegens, das nur durch den Gesellschaftsbezug als solchen, nicht aber durch empirische Forschung, konkrete Sachverhalte oder individuelle Interessen verfolgt werden kann. Anders ausgedrückt: Amerikanische Rechtswissenschaftler erwarten von sozialwissenschaftlichen Bezügen verhaltensorientierte Einsichten, deutsche hingegen systemorientierte. Hier

amerikanische Rechtsrealismus, 2006; U. Drobnig (Hrsg.), Rechtsrealismus, multikulturelle Gesellschaft und Handelsrecht, 1994; W. Fisher (Hrsg.), American Legal Realism, 1993; G. Aichele, Legal Realism and Twentieth-Century American Jurisprudence, 1990; N. Reich, Sociological Jurisprudence und Legal Realism im Rechtsdenken Amerikas, 1967; G. Casper, Juristischer Realismus und politische Theorie im amerikanischen Rechtsdenken, 1967; W. Fikentscher, Methoden II (FN 8), S. 273 – 325; E. Bodenheimer, Jurisprudence, 2. Aufl. 1974, S. 115 – 128; E. Patterson, Jurisprudence, 1953, S. 509 – 558. 40 Grundlegung durch R. M. Unger, The Critical Legal Studies Movement, 1983; Kanonisierung durch M. Kelman, A Guide to Critical Legal Studies, 1987; Kritik durch A. Altman, Critical Legal Studies. A Liberal Critique, 1990; Neuausrichtung durch D. Kennedy, A Critique of Adjudication (FN 6), dazu Besprechung durch O. Lepsius, RabelsZ 63 (1999), S. 378 – 382. Siehe auch C. Joerges, Amerikanische und deutsche Traditionen der soziologischen Jurisprudenz und Rechtskritik, 1988. 41 Vgl. aber das freilich wenig gelesene und nicht sehr einflussreiche Frühwerk des „Theorievaters“ der Critical Legal Studies, R. M. Unger, Law in Modern Society. Toward a Criticism of Social Theory, 1976. 42 O. Lepsius, Sozialwissenschaften im Verfassungsrecht – Amerika als Vorbild?, JZ 2005, S. 1 (12); C. Möllers, Theorie, Praxis und Interdisziplinarität in der Verwaltungsrechtswissenschaft, VerwArch. 93 (2002), S. 22 (40 – 42); ders., Braucht das öffentliche Recht einen neuen Methoden- und Richtungsstreit?, VerwArch. 90 (1999), S. 187 (203 – 205).

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mag auch eine unterschiedliche rechtsphilosophische Sozialisation deutscher und amerikanischer Juristen durchschlagen.

3. Institutionen und materielles Recht

Als weiterer Unterschied kann vermerkt werden: Institutionen spielen eine größere Rolle als im deutschen Recht43. Zentrale Institution ist der Richter, nicht das Gesetz, also ein Handelnder, nicht eine Handlungsform. Eine Zentralfrage im amerikanischen Rechtsdenken lautet: Wer entscheidet? Ihre Beantwortung stellt schon für die Präjudizienbindung eine wichtige Vorfrage dar, denn nur Präjudizien desselben Gerichts binden. Eine (informelle) Bindungswirkung über die Zuständigkeitsgrenzen hinaus kommt nur den Entscheidungen bestimmter Richter zu, die über besonderes Prestige verfügen und persönliche Autorität erworben haben44. Über große Richterpersönlichkeiten werden in den USA regelmäßig Biographien verfasst, während in Deutschland nicht Richter-, sondern Gelehrtenbiographien („Leben und Werk“) verbreitet sind45. Neben die Faktenorientierung, die das materielle Recht beherrscht, tritt die Akteurszentrierung, die das formelle Recht dominiert. Organisationsrecht, Kompetenzfragen, Institutionen und Verfahrensrecht sind tendenziell wichtiger als in Deutschland, während unser Rechtsverständnis alles in allem doch primär materiellrechtlich (und das heißt substanziell) geprägt bleibt. Diese Akteurszentrierung schlägt auch auf die Behandlung der Rechtsbindung durch, während es in Deutschland gerade der Sinn der Bindung an Gesetz und Recht ist, individuelle Vorurteile der Rechtsanwender auszuschalten. Zwar wird in den USA immer betont, ein „government of laws, not of men“ zu besitzen, doch werden methodologische Fragen der Bindung des Richters an Präjudiz und Gesetz als spezifische Rechtsanwendungstechnik des Common Law gerade auch in einer auf den einzelnen Richter bezogenen Dimension erörtert. Der personalistische Einschlag der Rechtsbindung wird positiv gewürdigt. Recht neutral, weitsichtig und gut zu sprechen 43 Dies verdeutlicht etwa ein Vergleich zwischen zwei neuen Handbüchern. The Oxford Companion to American Law, K. Hall (Hrsg.), 2002, enthält neben Lemmata zum materiellen Recht zahlreiche Artikel zu Einzelpersonen, bedeutenden Verfahren und Entscheidungen sowie zu rechtserzeugenden Institutionen. Die Neuausgabe des Evangelischen Staatslexikons, W. Heun u. a. (Hrsg.), 2006, ist – im juristischen Teil – ganz überwiegend materiellrechtlich strukturiert. 44 Große Richterpersönlichkeiten, auf die dieses zutraf bevor sie an den U.S. Supreme Court berufen wurden, waren etwa O. W. Holmes oder B. Cardozo. Cardozo wird selbst vom BVerfG im Lüth-Urteil zitiert, BVerfGE 7, 198 (208). 45 Ausnahmen betreffen in der Regel Gelehrte, die Ämter außerhalb der Universitäten bekleideten, etwa in commissions und regulatory agencies, vgl. etwa W. Twining, Karl N. Llewellyn and the Realist Movement, 1973; D. A. Ritchie, James M. Landis. Dean of the Regulators, 1980; R. J. Glennon, The Iconoclast as Reformer. Jerome Frank’s Impact on American Law, 1985.

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setzt auch charakterliche Fähigkeiten voraus. Angesehene Richter sind Klugheitskünstler. Methodologische Darstellungen, die die Rechtstechnik des Common Law beschreiben, betreten hier nicht selten einen Bereich psychologischer Beschwörungen46 wie etwa die einer „Common-Law statesmanship“47. Ohne dies in der Sache bewerten zu wollen, verdeutlichen solche Betrachtungen jedenfalls die Bedeutung des personellen Charakters und des institutionellen Rahmens der Rechtsanwendung in den USA, mit dem sich die Wissenschaft auseinandersetzen muss. Nebeneffekte davon sind unter anderem, dass die Psychologie zu einer für Juristen interessanten Nachbardisziplin wird, dass Rechts- und Richtersoziologie essentielle Forschungsrichtungen sind, dass Feminismus oder Race Theory plausible, anschlussfähige Fragestellungen aufweisen. Die Subjektivierung der Rechtserkenntnis verstärkt schließlich die Notwendigkeit, sich um so intensiver mit den Tatsachen auseinanderzusetzen. Da Amerikaner Rechtserkenntnis als einen institutionell strukturierten und personell beeinflussten Prozess wahrnehmen, entsteht gewissermaßen als Gegengewicht zur Subjektivierung und Institutionalisierung eine bewusste Hinwendung zu den Tatsachen, auf die Recht angewendet wird. Es ist nicht zuletzt die Faktenorientierung, die die Objektivität und Kommensurabilität der Rechtserkenntnis gewährleistet. Die institutionelle Perspektive führt zu einem weiteren Charakteristikum des amerikanischen Rechtsdenkens, nämlich dem selbstverständlichen Umgang mit unterschiedlichen Spruchkörpern. Pluralismus ist nicht nur eine soziale Tatsache, die vom Recht verarbeitet wird, sondern eine Eigenschaft des Rechts selbst. Denn es gibt innerhalb des materiellen Rechts bereits miteinander rivalisierende Lösungen, die durch die Vielfalt der Institutionen und Personen ausgelöst werden. Durch die zahlreichen Gerichte und Jurisdiktionen, die unterschiedlichen rechtsetzenden Verwaltungsbehörden (regulatory agencies) und nicht zuletzt die 51 Legislativen (des Bundes und der 50 Bundesstaaten) entwickelt sich die Rechtsproduktion in einem natürlichen Sinne uneinheitlich48. Dabei entsteht eine Rechtsvielfalt und Un46 Legendär ist insoweit K. N. Llewellyn, The Common Law Tradition, 1960, der neben einem „realm of science“ als Richtertugenden „art“ und „craft“ stark macht. Siehe etwa auch A. Kronman, Lost Lawyer (FN 19), S. 54 ff., 137, 209, 225, 355 ff. Die Ersetzung des Charakters durch Methode prangert Kronman als gefährlich an, ebd. S. 376. Auch R. Posner streicht unter dem Oberbegriff des „Alltagspragmatismus“ subjektive Komponenten der Rechtserkenntnis heraus, vgl. ders., The Problems of Jurisprudence, 1990, S. 71 ff., 124 ff., 454 ff. („a pragmatic manifesto“); ders., Law, Pragmatism and Democracy, 2003, S. 24 ff., 57 ff. Vgl. dazu die Kontroverse zwischen Posner und R. Epstein in: University of Chicago Law Review 71 (2004), S. 639, 659, 675, 683 sowie C. Lebeck, How pragmatic should democracy’s law be?, ARSP 90 (2004), S. 287 – 296. 47 So W. Murphy, Civil Law (FN 36), S. 96, der im Übrigen im Civil Law-Hintergrund der osteuropäischen Staaten ein Hindernis für die Durchsetzung des demokratischen Verfassungsstaats erblickt und die Rezeption des Common Law-Rechtsdenkens empfiehlt (S. 98 f., 133 – 136).

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übersichtlichkeit auch in Bereichen, die in Deutschland im Wege der konkurrierenden Gesetzgebungskompetenz des Bundes bewusst einheitlich geregelt werden, etwa dem Zivil- und Strafrecht, aber auch dem Umweltrecht, das zum Beispiel in Kalifornien ein strengeres Schutzniveau als in anderen Staaten aufweist. „Die“ amerikanische Rechtsordnung gibt es daher nicht, und selbst das Bundesrecht bleibt, vom Verfassungsrecht abgesehen, eine nur bruchstückhafte Rechtsordnung. All dies führt im Ergebnis zu einem Pluralismus der Rechtsakteure und dieser Pluralismus ist eine Eigenschaft des Rechtssystems selbst. In Deutschland hingegen begreifen wir Pluralismus als ein soziales oder politisches Phänomen, nicht aber als eine Eigenschaft des Rechtssystems49. Unser systematischer Anspruch50 führt zur Vorstellung einer Einheit der Rechtsordnung51, mitunter sogar zur Idee einer Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung52. Umgekehrt spielen institutionelle Differenzierungen im 48 M. Reimann beginnt daher seine Einführung in das amerikanische Recht (FN 18) mit einem Abschnitt zum „Problem der Vielfalt“, ebd., S. 1. 49 Anders insoweit P. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 – 305; ders., Die Verfassung des Pluralismus, 1980; ders., Die Verfassung als öffentlicher Prozeß, 3. Aufl. 1998. 50 Charakteristisch etwa H. Schulze-Fielitz, Was macht die Qualität öffentlichrechtlicher Forschung aus?, JöR N.F. 50 (2002), S. 1 (35): „Juristische Theorien zielen als Theorien über normative Aussagen auf die systematische Einordnung nach Kriterien der Ordnung und Einheit, auf eine widerspruchsfreie Herstellung von Begründungszusammenhängen, auf die Analyse von Zusammenhängen ,hinter‘ einzelnen dogmatischen Argumenten oder Figuren, letztlich auf das Öffentliche Recht als ein in sich konsistentes System aus Strukturen und Prozessen.“ 51 Einflussreich K. Engisch, Die Einheit der Rechtsordnung, 1935, mit einem programmatischen Bezug zur Dogmatik, S. 1: „Wenn irgend etwas der dogmatischen Wissenschaft vom Recht Antrieb zur Erhebung über bloßes noch nicht ,dogmatisches‘ auch dem Laien mögliches Aufgreifen und Deuten einzelner Rechtsvorschriften zu geben vermag, wenn irgend etwas der Rechtsdogmatik den von ihr begehrten Rang einer echten Wissenschaft – wir dürfen sogar noch anspruchsvoller sagen: den Rang der Wertungswissenschaft par excellence – zu sichern geeignet ist, so ist es die beherrschende Bedeutung des Prinzips der Einheit der Rechtsordnung, neben dem freilich noch das mit ihm in Beziehung stehende aber auch wieder von ihm zu unterscheidende Prinzip der Geschlossenheit (der normativen – nicht logischen – Lückenlosigkeit) der Rechts- (nicht der Gesetzes-)ordnung zu nennen wäre.“ Kritische Untersuchung verschiedenster Verwendungen dieses Topos durch M. Baldus, Die Einheit der Rechtsordnung, 1995; siehe auch F. Ossenbühl, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 1988, § 61 Rn. 62 – 71; D. Felix, Einheit der Rechtsordnung. Zur verfassungsrechtlichen Relevanz einer juristischen Argumentationsfigur, 1998; A. Hanebeck, Die Einheit der Rechtsordnung als Anforderung an den Gesetzgeber?, Der Staat 41 (2002), S. 429 – 451; R. Christensen / A. FischerLescano, Die Einheit der Rechtsordnung. Zur Funktionsweise der holistischen Semantik, Zeitschrift für Rechtsphilosophie 4 (2006), S. 8 – 14. 52 BVerfGE 98, 83 (97 f.); 98, 106 (119). Kritisch unter anderem M. Führ, Widerspruchsfreies Recht im uniformen Bundesstaat?, KJ 31 (1998), S. 503 – 513; H. Sendler, Grundrecht auf Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung?, NJW 1998, S. 2875 – 2877; U. Kischel, Systembindung des Gesetzgebers und Gleichheitssatz, AöR 124 (1999), S. 174 (175 f.); H. D. Jarass, Die Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung als verfassungsrechtliche Vorgabe, AöR 126 (2001), S. 588 – 607; C. Brüning, Widerspruchsfreiheit der Rechtsordnung, NVwZ 2002, S. 33 – 37.

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deutschen Rechtsdenken nur eine Nebenrolle. Leitend scheint die Vorstellung zu sein, dass die Rechtsanwendung gerade nicht von Personen oder Instanzen abhängen darf. Dies ist die Folge der Bindung an das Gesetz: Jeder Richter und jeder Verwaltungsbeamte ist an das Gesetz gebunden. Hinter dieser materiellrechtlichen Bindung tritt die personelle Konkretisierungsaufgabe bei der Rechtsanwendung zurück. Die Eigenheit des deutschen Modells offenbart sich auch in der Terminologie, die üblicherweise zwischen Rechtsetzung und Rechtsanwendung unterscheidet und die Tätigkeit des „Rechtsanwenders“ nicht als einen Akt der (individuell-konkreten) Rechtsetzung begreift. Ein weiterer Punkt: In der deutschen Rechtsordnung werden die Binnendifferenzierungen eher materiellrechtlich als institutionell gewonnen. Sie nehmen die letztlich gegenständlich gezogenen Fachgrenzen zwischen Öffentlichem Recht, Privatrecht und Strafrecht sowie ihre graduellen Verschränkungen zum Ausgangspunkt. Im anglo-amerikanischen Rechtsdenken indes sind materiellrechtliche Binnendifferenzierungen weniger wichtig als institutionelle53. Das erklärt auch, warum es nicht zur Ausbildung einer strengen Fächerkultur an den Universitäten gekommen ist.

4. Recht und Politik

Ein vierter Unterschied ist das Verhältnis von Recht und Politik, das aus den jeweiligen Normbegriffen folgt. In den USA ist Recht viel unverblümter ein Mittel zum Zweck als in Deutschland. Es dient der Durchsetzung individueller Interessen bzw. der Umsetzung demokratisch legitimierter Geltungsansprüche der Mehrheit. Recht entsteht aus Interessen und Politik. Hier zeigt sich auch die Grundeigenschaft einer seit Anbeginn demokratisch legitimierten Rechtskultur. Recht ist ein legitimes Mittel zur Herrschaftsausübung. Sein politischer Charakter reflektiert daher einen Zustand der Normalität. Gerade für das Zivilrecht, das sich in Deutschland betont unpolitisch gibt, ist dies herausgearbeitet worden54. Recht, auch Zi53 M. Bullinger, Öffentliches Recht und Privatrecht, 1968; O. Lepsius, Artikel „Öffentliches Recht“, in: Evangelisches Staatslexikon, 4. Aufl. 2006, Sp. 1644 – 1656; am Beispiel Englands J. W. F. Allison, A Continental Distinction in the Common Law, 1996. 54 Die politischen und kapitalistischen Hintergründe bei der Entwicklung des USamerikanischen Zivilrechts betont besonders M. Horwitz, The Transformation of American Law, Band I: 1780 – 1860, 1977, Band II: 1870 – 1960, 1992; dazu auch D. Ernst, The Critical Tradition in the Writing of American Legal History, Yale Law Journal 102 (1993), S. 1019 – 1076; stärker sozialgeschichtlich orientiert ist L. Friedman, A History of American Law, 2. Aufl. 1985; ders., American Law in the Twentieth Century, 2002; die wirtschaftlichen und sozialen Einflüsse auf das Vertrags- und Eigentumsrecht im Kontext des Bürgerkriegs analysiert H. Schweber, The Creation of American Common Law 1850 – 1880, 2004; dazu die Besprechung durch O. Lepsius, Der Staat 45 (2006), S. 300 – 303.

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vilrecht, steht im Dienst sozialpolitischer Ziele. Rechtsregeln werden selbstverständlich als Instrumente zur Verbesserung der Lebensbedingungen betrachtet55. In Deutschland hingegen dürfte weithin die Vorstellung einer Trennung von Politik und Recht bestehen56. Rechtsetzung und Rechtsanwendung werden als Folge der Gewaltenteilung bereits institutionell geschieden, was in einer Fallrechtskultur naturgemäß anders gesehen wird57. In Deutschland begrenzt Recht eher die Politik als dass es ihr Mittel ist. Recht hat eine überwiegend neutrale Funktion, man trennt zwischen dem Rechtssystem und dem politischen System. Der Rechtsstaat verkörpert unser Leitbild, weniger die Demokratie. Seinem Anspruch nach sollen Recht und Politik separiert werden. Die Politisierung des Rechts gilt als genauso unerwünscht wie die Verrechtlichung der Politik. Besonders deutlich zeigt sich der unpolitische Charakter des deutschen Rechtsdenkens im Zivilrecht, hier erneut einen Kontrast zu den USA bildend. Das Zivilrecht, die ordentliche Gerichtsbarkeit und damit die „Justiz“ im engeren Sinne, erheben einen unpolitischen Geltungsanspruch, weil bereits in der Staatsrechtslehre des Kaiserreichs zwischen dem politischen Staat und der unpolitischen Gesellschaft getrennt wurde. Zwischen unpolitischen, gesellschaftlichen Regelungsgegenständen einerseits und politischen Staatsaufgaben andererseits zu unterscheiden war eine Aufgabe, die die konstitutionelle Doktrin dem öffentlichen Recht zuwies (Rechtsstaat, Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, Gesetzesvorbehalt für Eingriffe in „Freiheit und Eigentum“, funktionale Selbstverwaltung). Auf wundersame Weise ist seitdem das deutsche Privatrecht scheinbar von den politischen Verteilungskämpfen befreit, die statt dessen juristisch den Grundrechten aufgebürdet werden. Auch dort aber werden die politischen Implikationen verdeckt, wenn man, wie lange in der deutschen Tradition, die Gewerbefreiheit zum Modellgrundrecht stilisiert, ein unpolitisches Grundrecht, das keine Pluralismusprobleme aufwirft oder bewältigt58. In der Grundrechtstheorie 55

Vgl. M. Reimann, Einführung (FN 18), S. 12. Dagegen bereits deutlich W. Schmidt, Einführung in die Probleme des Verwaltungsrechts, 1982, S. 240: „Vergröbernde Darstellungen begünstigen gelegentlich die immer noch verbreitete Meinung, die Politik beginne dort, wo Recht endet; Recht und Politik seien unversöhnliche Gegensätze; dem Juristen aufgegeben sei die Arbeit an einem unpolitischen Recht. Diese Meinung ist falsch.“ Ebenso W. Hoffmann-Riem, Die Klugheit der Entscheidung ruht in ihrer Herstellung – selbst bei der Anwendung von Recht, in: A. Scherzberg u. a. (Hrsg.), Kluges Entscheiden, 2006, S. 3 (3). Dort eine karikierende Schilderung des Ideals rechtsstaatlicher Rationalität (und seiner Erosion) auch im Hinblick auf den Normbegriff: Bindung an ein allgemeines, auf prinzipiell dauerhafte Geltung angelegtes Gesetz, dessen Normgehalt spezifisch juristisch ermittelt und vom Nichtrechtlichen getrennt werden kann; Rechtswissenschaft und Rechtsordnung seien dem Ziel logischer Widerspruchsfreiheit, begrifflicher Konsistenz, systematischer Geschlossenheit, rechtsstaatlicher Berechenbarkeit und damit auch der Gleichförmigkeit des Geltungsinhalts verpflichtet. 57 Vgl. J. H. Merryman, Civil Law (FN 1), S. 151. 56

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sind die Politikbezüge zwar nicht so radikal wie im Zivilrecht, aber doch auch zu einem erklecklichen Teil abgedrängt worden. Die deutsche Privatrechtswissenschaft scheint sich mit politisch (demokratisch) motivierter Rechtsetzung noch schwerer zu tun als das öffentliche Recht, wie etwa die im Zivilrecht weithin geteilte Ablehnung des Verbraucherschutzrechts zeigt. Auch die unter Zivilrechtlern verbreitete Empörung über die Drittwirkung der Grundrechte darf insofern als Ausdruck einer Rückholung der politischen Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen ins Zivilrecht bewertet werden, abgesehen davon, dass es sich normstrukturell in erster Linie um das gewöhnliche Problem der Normenhierarchie zwischen Verfassungsrecht und einfachem Recht handelt, das als solches nicht das Zivilrecht allein betrifft, sondern für das Verwaltungsrecht gleichermaßen gilt. Deutschen Juristen scheint es insgesamt schwer zu fallen, das Verhältnis von Recht und Politik mit den Mitteln der Rechtswissenschaft zu behandeln, weil die Mittel und die ihnen zugrunde liegenden Leitbilder Politisches abschotten und andere Ziele in den Mittelpunkt rücken: Dogmatik und Systembildung, Konzentration auf das materielle Recht, einen neutralen Normbegriff, der auf Allgemeinheit abzielt und zwischen Norm und Faktum trennt.

II. Vorzüge Diese in der Knappheit des zur Verfügung stehenden Raums naturgemäß schematisierten und zugespitzten Unterschiede führen zu spezifischen Vorzügen, aber auch zu Verlusterscheinungen der amerikanischen Rechtswissenschaft im Vergleich zur deutschen. Beginnen wir mit den Vorzügen.

1. Tatsachenbezüge

Amerikanische Juristen sind im Umgang mit Tatsachen überlegen. Dies ist die Folge des faktenorientierten Normverständnisses. Auf das Genaueste analysieren sie Sachverhalte und zerpflücken sie in ihrer Funktion für die Begründung von Entscheidungen. Bisweilen verlagert sich die juristische Argumentation fast ausschließlich auf einen Disput um Fakten und ihre Ergebnisrelevanz. Legendär ist in diesem Zusammenhang die Technik des „Brandeis Briefs“, mit dem die dogmatische Rechtsprechung zu den im Geiste des Wirtschaftsliberalismus aufgeladenen Grundrechten in der Lochner-Ära bei hinreichendem empirischen Gegenbeweis durchbrochen werden konnte59. Als weiteres Beispiel könnte auf die Relevanz sozialpsy58 Zum Modellgrundrecht m. w. N. O. Lepsius, Die Religionsfreiheit als Minderheitenrecht in Deutschland, Frankreich und den USA, Leviathan 34 (2006), S. 321 (340 – 348).

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chologischer Untersuchungen bei der Beurteilung von Ungleichheit hingewiesen werden60. Die Strukturierung des Fallmaterials erfolgt in erster Linie nach der jeweiligen Sachverhaltsnähe. Wie die Faktenbezüge sortiert werden, welche Eigenschaften Fälle vergleichbar machen oder sie gerade voneinander unterscheiden, ist eine genuin juristische Aufgabe. Vom entsprechenden Aufarbeiten der den Entscheidungen zugrunde liegenden Sachverhalte mitsamt ihrer prinzipiellen oder bloß zufälligen Bedeutung hängt schließlich die Entscheidung der zukünftigen Fälle ab. Mit Hilfe der Tatsacheninterpretation können Präjudizien schön oder schlecht geredet werden, kann ihre Verbindlichkeit und Vorbildlichkeit erhöht oder gemindert werden. Die Art und Weise, in der ein Richter den Tatbestand schildert, beeinflusst die normative Bindungswirkung der Entscheidung über den zu entscheidenden Fall hinaus. Entsprechend behandeln wissenschaftliche Artikel in den Law Reviews die facts of the case in einer Weise, die deutsche Leser für ausschweifend und nebensächlich halten mögen. Man darf aber nicht übersehen: Juristische Kritik an Entscheidungen setzt bei der Erfassung und Behandlung der Sachverhalte an. Dies erklärt auch die für deutsche Leser ungewohnte Detailarbeit mit case studies, die amerikanische Abhandlungen durchziehen. Ähnliches gilt für die Analyse und Kritik des administrative rulemaking der regulatory agencies. Die Vorzüge dieser Hinwendung zu den Sachverhalten liegen in der Eröffnung harter Kontrollmaßstäbe, die auf überprüfbaren Tatsachen gründen, folglich weniger von subjektiven Präferenzen und Werturteilen abhängen als normative Maßstäbe und zudem kommensurabel und intersubjektiv konsensfähig sind. Vorzüge liegen des weiteren in einer intensiveren Auseinandersetzung mit den Begründungen, die Gerichte oder Behörden für ihre Entscheidungen geben. Nirgendwo, darf anerkennend formuliert werden, ist die Begründungskultur so entwickelt wie in den USA61. Als ein Vorzug darf 59 Nach dem Muster eines sich im Wesentlichen auf empirische Nachweise von Gesundheitsgefahren stützenden Schriftsatzes von Louis Brandeis im Fall Muller v. Orgeon 1908, dem. sog. „Brandeis Brief“, teilweise abgedruckt bei A. Lief (Hrsg.), The Social and Economic Views of Mr. Justice Brandeis, 1930, S. 337 – 348; siehe auch J. Johnson, American Legal Culture 1908 – 1940, 1981, S. 29 – 51; P. Rosen, The Supreme Court and Social Science, 1972, S. 75 – 98; B. Schwartz, Main Currents in American Legal Thought, 1993, S. 412 – 423. 60 Brown v. Board of Education, 347 U.S. 483 (1954). Zur Ergebnisrelevanz sozialpsychologischer Untersuchungen bei der verfassungsrechtlichen Beurteilung der Rassentrennung P. Rosen, Social Science (FN 59), S. 173 ff., 197 ff.; K. Löwenstein, Verfassungsrecht und Verfassungspraxis der Vereinigten Staaten, 1959, S. 600; siehe auch O. Lepsius, Sozialwissenschaften (FN 42), S. 9 f. m. w. N. 61 Siehe aber R. Christensen / H. Kudlich, Theorie richterlichen Begründens, 2001; aus öffentlich-rechtlicher Perspektive (vor einem amerikanischen Erfahrungshintergrund): U. Kischel, Die Begründung, 2003; D. Looschelders / W. Roth, Juristische Methodik im Prozess der Rechtsanwendung, 1996; sowie M. Kriele, Rechtsgewinnung (FN 4).

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auch bezeichnet werden, dass über die Tatsachenbezüge die soziale, wirtschaftliche und politische Wirklichkeit immer Gegenstand des juristischen Diskurses ist, von ihr gerade nicht abstrahiert werden kann und sie daher auch nicht mühsam reintegriert werden muss, wie in Deutschland. Eine natürliche Nähe zu den Nachbardisziplinen ist ein damit zusammenhängender weiterer Vorzug.

2. Zeitbezüge

Aus der Faktizität des Rechts folgt seine zeitliche Relativität. Im amerikanischen Rechtsdenken ist die Normauslegung zeitbezogen, schon allein, weil die zugrunde liegenden Sachverhalte dazu zwingen. Das fördert die Relativität des materiellen Rechts, erleichtert die Wahrnehmung rechtlichen Wandels und bringt eine natürliche Dynamik in die Rechtswissenschaft – eine Dynamik, die losgelöst ist von der Rechtsproduktion, die vielmehr intern von der Wissenschaft erzeugt wird. Die Rechtswissenschaft ist aus sich selbst heraus bereits dynamisch, ohne dass dafür neue Gesetze oder sozialer Wandel nötig wären. Im deutschen Rechtsdenken wird Dynamik zu einer Eigenschaft der sozialen Welt, mit der das Recht gewissermaßen von außen konfrontiert wird. In unserer Wahrnehmung muss die Rechtswissenschaft die Dynamik der Rechtsetzung oder des wirtschaftlichen und technischen Wandels bewältigen, weil die materielle Rechtsordnung generell-abstrakt, und das heißt in erster Linie statisch, gedacht wird. „Wandel und Evolution“ wird im deutschen juristischen Denken zu einem exogenen Problem der sozialen Welt, nicht aber zur endogenen Eigenschaft der Rechtsordnung selbst62. Beim Verhältnis von Recht und Dynamik zeigt sich eine Variante der deutschen Trennung von Recht und Tatsache, wie wir sie auch schon im Verhältnis zum Pluralismus vorfanden. Wie Pluralismus zählt auch Dynamik nicht zum Proprium des juristischen Denkens; sie geriete ebenfalls mit dem Anspruch auf Systematik und Dogmatik in einen Zielkonflikt. Es gilt in Deutschland als Ausdruck wissenschaftlicher Professionalität, sich auf die Beobachtung des sozialen Pluralismus oder der zeitlichen Dynamik zurückzuziehen. Amerikanische Rechtswissenschaftler indes können gar nicht anders als unter den Bedingungen einer dynamischen und pluralistischen Wissenschaft arbeiten – sofern sie nicht explizit rechtshistorische Fragestellungen verfolgen. 62 Treffend kritisiert von M. Jestaedt, Theorie (FN 9), S. 55 – 57: „Die statische Rechtsdeutung verdeckt (oder übersieht?) jedoch, dass die schier unüberblickbare Vielzahl der vom positiven Recht selbst bereitgestellten Zuständigkeiten und Ermächtigungen just dazu dient, den permanenten Wandel des Rechts durch Recht – also rechtsordnungsendogen – zu organisieren“ (S. 56). Siehe auch A. v. Arnauld, Möglichkeiten und Grenzen dynamischer Interpretation von Rechtsnormen, Rechtstheorie 32 (2001), S. 465 – 495; S. Kirste, Die Zeitlichkeit des positiven Rechts und die Geschichtlichkeit des Rechtsbewußtseins, 1998, S. 386 – 389.

22 Die Verwaltung, Beiheft 7

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Zudem zwingt die zeitliche Relativität des Rechts dazu, frühere Entscheidungen permanent auf den Prüfstand zu stellen. Ein Großteil des Unterrichts an den amerikanischen Law Schools beschäftigt sich mit der Kritik früherer Entscheidungen. Den Studenten im Wege der socratic method immer wieder gestellte Fragen lauten etwa: Gilt das Präjudiz noch? Unter welchen Bedingungen? Was wäre, wenn der Sachverhalt leicht anders liegt? Die deutsche Rechtswissenschaft geht demgegenüber mit Zeitablauf erstaunlich unbekümmert um. Rechtssätze besitzen eine scheinbar zeitlose Gültigkeit. Wie Art. 74, 75 der Einleitung des Preußischen Allgemeinen Landrechts von 1794 im Staatshaftungsrecht der Gegenwart fortwirken, mag noch als Kuriosum verbucht werden. Dahinter steckt ein Glaube an epochenübergreifende, zeit-indifferente Rechtsgrundsätze: Gute Gesetzgebung beweist sich in der Beständigkeit ihrer Systematik. Die Zeitlosigkeit deutscher Rechtssätze hat erneut mit unserem Normverständnis zu tun. Das dem Systemgedanken verpflichtete allgemeine Gesetz erhebt gerade den Anspruch, beständig zu sein. Die Subsumtionsbedürftigkeit der Normen und ihre wissenschaftliche Abschottung vor den Sachverhalten fördert diese Zeitlosigkeit, denn das Zeitproblem wird zur Aufgabe der Rechtsanwendung im Einzelfall, welche die Norm als solche erst einmal nicht tangiert. Ähnlich zeitlos wie mit Gesetzen gehen wir aber auch mit Gerichtsentscheidungen um. Nur in der deutschen Rechtsordnung werden Gerichtsentscheidungen wie zeitlos gültige Autoritäten zitiert. Die Jahreszahl der Entscheidung anzuführen gehört sich nicht, und dies ist keine Frage des persönlichen Stils, sondern der professionellen Zitierpraxis. An der Gerichtsentscheidung interessiert den Wissenschaftler primär der Beitrag zur Normauslegung als solcher, nicht indes die Lösung des einzelnen Falles. Die Judikatur haftet an der Norm, nicht an den Sachverhalten. Werden Gerichtsentscheidungen zitiert, verbirgt sich hinter den Nachweisketten der BVerfGE, BVerwGE oder BGHZ daher oft kaum miteinander zu vereinbarendes. Im öffentlichen Recht stellt das Jahr 1949 wenigstens eine zeitliche Abschichtung dar. Im Zivilrecht indes sind RGZ-Zitate etwas Selbstverständliches, und wer kann ohne weiteres wissen, ob es in diesen Entscheidungen um BGB, Code Civil oder die nationalsozialistische Weltanschauung geht? Da die Entscheidungszeitpunkte (und damit die politischen und sozialen Kontexte) aus der wissenschaftlichen Verarbeitung der Entscheidung ausscheiden, lässt sich der Eindruck einer dogmatischen Stringenz, neutralen Systematik und zeitübergreifenden Richtigkeit erwecken. Bei Gerichtsentscheidungen keine Jahre anzugeben ist geradezu eine Voraussetzung für dogmatisches Arbeiten.

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3. Politikbezüge

Auf die politische Natur des amerikanischen materiellen Rechts reagiert die amerikanische Rechtswissenschaft ambivalent. Inhaltlich neigt sie gerne einem Relativismus zu, der auf das Vertrauen in eine demokratisch legitimierte und kontrollierte Rechtspolitik gründet. Politik und Rechtswissenschaft inhaltlich zu vermengen lässt sich durch eine relativistische Grundhaltung ausschalten. Freilich schaffen das nicht alle Rechtswissenschaftler und manche politisieren recht munter. Statt mit den in erster Linie politisch zu verantwortenden Inhalten zu hadern, konzentriert sich die Rechtswissenschaft eher auf Verfahrensfragen, institutionelle Aspekte und die Tagespolitik übergreifende Prinzipien. Dies trägt dazu bei, dass die wissenschaftliche Beschäftigung mit dem geltenden Recht einen weitaus geringeren Stellenwert einnimmt als in der deutschen Rechtswissenschaft. In den USA fragt man nicht: Was ist Recht?, sondern: Wie entsteht Recht? Rechtswissenschaftler stellen diese Frage in einer zeitlichen und in einer institutionellen Dimension, also zum einen in der Perspektive: Warum hat das Gericht so entschieden? Wie wird das Gericht in Zukunft entscheiden?, zum anderen in der Perspektive: Wie entsteht Recht an den Gerichten, in den Behörden (administrative rulemaking), in den gesetzgebenden Körperschaften (legislative process)? Die wissenschaftliche Zurückhaltung gegenüber den politischen Inhalten im materiellen Recht wird also produktiv gewendet und ermöglicht die Einbeziehung des Entwicklungsprozesses von Recht. In Deutschland überwiegt demgegenüber die auf das geltende Recht gerichtete Frage: Was ist Recht, bzw.: Was ist rechtens? – und damit eine Perspektive, die die zeitliche Dynamik der Rechtserzeugung mit ihren im weiteren Sinne politischen Ursachen nicht abdeckt und vor rechtspolitischen Aspekten zurückschreckt. Unsere Literaturproduktion (dogmatische Abhandlungen, Lehrbücher, Kommentare) spiegelt die Ausrichtung am geltenden Recht der Gegenwart wider63. Die bereits genannten Eigenschaften des amerikanischen Rechtsdenkens (geringere Konzentration auf substantielle Aspekte, interner Pluralismus, zeitliche und rechtliche Dynamik, institutionelle Perspektive, Prozesse der Rechtsverwirklichung statt Aspekte der Rechtserkenntnis, Objektivität und Kommensurabilität über Faktenbezüge statt Normansprüche) hingegen ermöglichen es dem amerikanischen Rechtswissenschaftler, mit politischem und instrumentellem Recht umzugehen, ohne deswegen schon zum Rechtspolitiker zu werden. 63 Zu wissenschaftlichen Eigenheiten und Qualitätsanforderungen der deutschen rechtswissenschaftlichen Literaturgattungen H. Schulze-Fielitz, Qualität (FN 50), S. 16 – 26; unter dem Aspekt genuin wissenschaftlicher Beiträge eher kritische Bestandsaufnahme dieser Literaturgattungen durch C. Möllers / A. Voßkuhle, Die deutsche Staatsrechtswissenschaft im Zusammenhang der internationalisierten Wissenschaften, Die Verwaltung 36 (2003), S. 321 (326). Siehe auch H. Goerlich, Verfassungsrecht – Verfassungsgeschichte – Verfassungspolitik. Gängige Inszenierungen einer Wissenschaft und ihre Ebenen, Comparativ 16 (2006), S. 171 – 186.

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Oliver Lepsius 4. Theoriebezüge

Die amerikanische Rechtswissenschaft fragt jedoch nicht nur „wie entsteht Recht“, sondern darüber hinaus: Wie sollte Recht entstehen? Daraus folgt – als 4. Vorzug – ein spezifischer Bedarf an Theorie. Gerade weil nach dem zukünftigen Recht gefragt wird, bedarf es konstruktiver Maßstäbe, sei es zur Evaluation, sei es zur Präskription. Die Hinwendung zur theoretischen Behandlung des Rechts ist also die Folge der Faktizität des geltenden Rechts, seiner Politisierung sowie der prozeduralen Betrachtung. In der scientific community wird daher Aufmerksamkeit erlangen, wer eine Theorie entwickelt. Wer sich hingegen primär mit dem geltenden Recht beschäftigt, wird es schwerlich in die erste Reihe seines Faches schaffen. Für einen Außenstehenden mag daher mitunter verwirrend scheinen, wenn man von Autoren mit großen Namen Bücher liest, wie es gekommen ist oder wie es kommen sollte. Man schreibt also über die Vergangenheit oder die Zukunft, meist über beides64, weniger aber über die Gegenwart65. So entsteht eine ausgesprochene Theorievielfalt in den USA. In keinem Land werden so viele Theorien über Recht entwickelt wie hier. Mögen auch manche etwas absurd sein, es bleibt genug, was sich durchsetzt und den internationalen Diskurs beherrscht. Als kleine Auswahl: Ökonomische Analyse des Rechts, Prozeduralismus, deliberative Rechtstheorie, Kommunitarismus, Regel- und Prinzipiendenken, behavioral law and economics, Feminismus / Gender Theory / Critical Race Theory, sprachphilosophische Ansätze, Textkritik und Interpretationstheorien, law and literature. Solche Theorien beherrschen auch die Curricula der Law Schools, in deren classrooms Theoriefragen eine ungleich wichtigere Rolle spielen als in der deutschen Juristenausbildung. Die Theoriefreudigkeit hat interdisziplinär betrachtet zwei nicht zu unterschätzende Vorzüge: Zum einen entsteht eine natürliche, aus dem Diskurs über Recht selbst entwachsende Nähe zu Nachbardisziplinen, insbesondere zur Geschichte, Literaturwissenschaft, Ökonomie, Psychologie, 64 Als jüngeres Beispiel: S. Breyer, Active Liberty. Interpreting Our Democratic Constitution, 2005. Das Buch besteht aus einem Rückgriff auf die Verfassungs- und Theoriegeschichte („The Theme: Active Liberty“) und sachbereichsbezogenen Anwendungen („Applications“). Vgl. die kritische Besprechung durch R. Posner, Justice Breyer Throws Down the Gauntlet, Yale Law Journal 115 (2006), S. 1699. 65 Als Gegenbeispiel darf verwiesen werden auf das berühmte Werk von L. H. Tribe, American Constitutional Law, 3. Aufl. 2000. Dieter Grimm verdanke ich den Hinweis, dass Tribe die Arbeit an Neuauflagen eingestellt hat, weil ihm eine Darstellung des geltenden amerikanischen Verfassungsrechts nicht mehr möglich erscheint; vgl. L. H. Tribe, The Treatise Power, The Green Bag 8 (2005), S. 292 – 306. Daneben existieren große, lehrbuchartige Darstellungen des geltenden Rechts, sog. hornbooks, die in der Regel von Gelehrten verfasst werden, die nicht an den Top-Ten-Law Schools lehren. In der wissenschaftlichen Auseinandersetzung spielen diese Werke nur eine geringe Rolle. Ein für die Informationsbedürfnisse deutscher Leser vorzüglich geeignetes Werk ist etwa J. Nowak / R. Rotunda, Constitutional Law, 7. Aufl. 2004.

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Soziologie, Philosophie, auch wenn diese Nähe teilweise als zwanghafte Suche nach neuen „isms“ oder einem „law and . . .-movement“ karikiert wird. Zum anderen sind die rechtswissenschaftlichen Theoriediskurse anschlussfähig an den allgemeinen Wissenschaftsdiskurs. Rechtswissenschaftler (und nicht nur Supreme Court-Richter) spielen tatsächlich eine Rolle in der Öffentlichkeit, und dies nicht nur als Auguren des Supreme Court (worin freilich ein steter Quell der Aufmerksamkeit liegt). Auf dem Buchmarkt haben nur Werke eine Chance, die sich den Fragen „wie ist Recht entstanden, wie wird es werden und wie sollte es sich entwickeln“ widmen und möglichst auch theoretisch ambitioniert sind. Geltendrechtliche Darstellungen werden weder von den University Presses verlegt66 noch von den Law Reviews gedruckt67. Das geltende Recht ist eher ein Fall für Datenbanken. Die rechtswissenschaftliche Literatur ist in den USA von der rechtspraktischen klar getrennt. Sie findet Eingang in die Feuilletons, ihre Autoren schreiben in der New Republic, sie sind public intellectuals68.

III. Verluste Verluste dürfen nicht verschwiegen werden, sollen angesichts der Fragestellung hier allerdings nur knapp erwähnt werden. Erneut scheinen mir vier Punkte hervorhebenswert.

1. Fallrechtskompatibilität und Gerichtszentrierung

Im amerikanischen Rechtsdenken werden Probleme und Gegenstände verdrängt bzw. vernachlässigt, die sich nicht kasuistisch aufbereiten lassen. Leidtragender ist, um ein Beispiel zu nennen, das Verwaltungsrecht. Es verdankt seine Entstehung der Gesetzgebung, nicht dem Fallrecht. Historisch gab es in den USA keine verselbständigte, prinzipiell allzuständige Verwaltung nach dem Muster eines deutschen Landratsamts, die das öffentliche Interesse verkörperte. Erst durch Gesetze, die bestimmte Behörden schufen und ihnen Kompetenzen übertrugen, entstand eine Verwaltungsstruktur. Sowohl in materieller als auch in institutioneller Hinsicht unterscheidet sich das Verwaltungsrecht von der amerikanischen Rechtstradition: Mate66 Sie sind beispielsweise beim Verlagsimperium der West Publishing Company, St. Paul, oder bei Aspen Publishers, einem Ableger von Wolters Kluwer, beheimatet. 67 Vgl. R. Zimmermann, Law Reviews – Ein Streifzug durch eine fremde Welt, in: ders. (Hrsg.), Amerikanische Rechtskultur und europäisches Privatrecht. Impressionen aus der neuen Welt, 1995, S. 87 ff. 68 Vgl. R. Posner, Public Intellectuals. A Study of Decline, 2001, mit Zitationsindices S. 194 – 220, in denen Rechtswissenschaftler auch auf vorderen Plätzen vertreten sind. Für Deutschland kommen zu einem gerade gegenteiligen Ergebnis C. Möllers / A. Voßkuhle, Staatsrechtswissenschaft (FN 63), S. 324.

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riell beruht es auf Gesetzgebung, also nicht auf Fallrecht, und dementsprechend auf einem Normtypus, der von der Wissenschaft nicht abstrakt verarbeitet werden kann, sondern eine sachverhaltsbezogene Anwendung voraussetzt69. Als Rechtsgebiet konnte sich Verwaltungsrecht an den Law Schools daher erst durchsetzen, nachdem genügend Fälle der gerichtlichen Nachprüfung vorlagen, mit anderen Worten nachdem die Fallrechtskompatibilität hergestellt war70. Auch institutionell beruht das Verwaltungsrecht auf einer durch Gesetze instrumentell geschaffenen Behördenstruktur, was den herkömmlichen Common Law-Institutionen widerspricht. Der Primäradressat verwaltungsrechtlicher Organisations- und Kompetenznormen ist weder der Bürger noch der Richter, sondern der Verwaltungsbeamte. Da das amerikanische Rechtsdenken institutionell aber einseitig auf den Richter fixiert war, kam Verwaltungsrecht lange Zeit nicht in den Blick der Juristen. Es waren eher Politikwissenschaftler, die sich ihm als Unterfall exekutiven Handelns zuwandten, oder in Deutschland in dieser Form unbekannte Wissenschaftszweige, die sich mit administration und government beschäftigten. Weder materiell noch institutionell passte Verwaltungsrecht ins Raster der amerikanischen Rechtswissenschaft. Lange behandelte man Verwaltungsrecht fast ausschließlich aus einer gerichtlichen Kontrollperspektive (judicial review): Dies war die sowohl institutionell auf den Richter als auch materiellrechtlich auf das case law bezogene Form, in der amerikanische Juristen Rechtsfragen behandeln können71. Seit etwa 1980 hat sich dies zum Positiven verändert. Zum einen wurde die institutionelle Fixierung auf den Richter erweitert durch einen Blick auf die rechtsetzende und -konkretisierende Funktion der zahlreichen commissions und agencies. Sie werden als rechtserzeugende Institutionen begriffen und passen sich dann der Gerichtsperspektive in der Rechtswissenschaft an. Eine auf judicial review konzentrierte Perspektive wird inzwischen um administrative rulemaking ergänzt. Im Mittelpunkt steht dann das Verfahrensrecht (administrative procedure act [APA] sowie die entsprechenden Bestimmungen der Spezialgesetze), nicht indes wie in Deutschland das materielle Recht. Zum anderen ist in den USA erst in den letzten 30 Jahren eine Auseinandersetzung um Fragen der Gesetzesauslegung entstanden72. Es wächst das Bewusstsein, dass Gesetze nicht 69

Vgl. oben bei I. 1., S. 320 f. Dazu ausführlich O. Lepsius, Verwaltungsrecht unter dem Common Law, 1997. 71 Näheres bei O. Lepsius, Common Law (FN 70), S. 217 ff., 259 ff. 72 Die ältere Literatur zur Gesetzesauslegung ist im Ergebnis versprengt geblieben. Eine Fokussierung auf das Thema hat erst nach 1980 eingesetzt. Aus der älteren Literatur etwa M. Smith, State Statute and Common Law, Political Science Quarterly 2 (1887), S. 105 – 134; R. Pound, Common Law and Legislation, Harvard Law Review 21 (1908), S. 383 – 407; E. Freund, Standards of American Legislation, 1917; zum Beginn der Debatte um 1980: G. Calabresi, A Common Law for the Age of Statutes, 1982; F. Easterbook, Statutes’ Domain (FN 20); R. Pildes, Intent, Clear Statement and 70

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mehr in der klassischen Manier des Common Law-Rechtsdenkens als eng auszulegende Einzelfallkorrekturen der Rechtsprechung zu verstehen sind, sondern ganze Rechtsgebiete konstituieren. Zaghaft arbeitet man daran, sich von den alten Auslegungsgrundsätzen zu lösen, die für Common LawRechtsbereiche entwickelt worden waren, um neue canons of statutory interpretation zu entwickeln. Jedenfalls tritt zunehmend ins Bewusstsein, dass Gesetze Rechtsquellen sind, die einer eigenständigen methodologischen Behandlung bedürfen. Da amerikanische Gesetze insgesamt aber konkreter und sachverhaltsbezogener verfasst werden, also nicht über das generell-abstrakte Niveau kontinentaleuropäischer Gesetze verfügen, wird die Entwicklung einer vom Common Law unabhängigen Lehre der Gesetzesauslegung wieder gehemmt. Bei der Behandlung des Verwaltungsrechts lassen sich diese Eigenheiten des amerikanischen Rechtsdenkens vorzüglich beobachten. Das Muster der Norm bleibt, auch wenn es um Gesetze geht, die sachverhaltsbezogene, faktenorientierte Norm. Diesem Muster passt sich auch die Verwaltungsgesetzgebung an. Sie bevorzugt dementsprechend Verfahrensregelungen gegenüber materiellen Festlegungen. Einerseits konnte sich ein auf Gesetze gegründetes Rechtsgebiet wie das Verwaltungsrecht daher in materieller und institutioneller Hinsicht teilweise etablieren; andererseits reflektiert seine Etablierung gerade wieder spezifische Eigenheiten des amerikanischen Rechtsdenkens. Fallrechtskompatibilität und Gerichtszentrierung bleiben die im Hintergrund bestimmenden Faktoren: Man kann zwar andere Normen als Präjudizien und andere Institutionen als Gerichte rechtswissenschaftlich untersuchen, tut dieses letztlich aber mit den herkömmlichen Mitteln.

2. Eigennormativität

Im amerikanischen Rechtsdenken unterentwickelt ist sodann eine Strukturierung und Rationalisierung des Rechtsstoffes, die autonom juristisch vorgeht. Dies ist die Kehrseite der fehlenden Dogmatik und Systematik. In den USA gibt es keine einheitlichen Definitionen oder allgemeinen Teile. Die deutsche Selbstverliebtheit in Begriffe, deren Umdeutung und Neuschöpfung wird dort nicht geteilt. Rechtsbegriffe und Definitionen sind situationsgebunden und dementsprechend unübersichtlich. Bei der Aufgabe, das Recht zu strukturieren, steht die amerikanische Rechtswissenschaft daher vor einem Problem. Sie muss einerseits von den Faktenbezügen abstrathe Common Law Statutory Interpretation in the Supreme Court, Havard Law Review 95 (1982), S. 892 – 915; R. Posner, Statutory Interpretation – in the Classroom and in the Courtroom, University of Chicago Law Review 50 (1983), S. 800 – 822; C. Sunstein, After the Rights Revolution, 1990; W. Eskridge, Dynamic Statutory Interpretation, 1994; weitere Nachweise bei O. Lepsius, Common Law (FN 70), S. 37 ff., 111 ff., 254 ff.

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hieren, gibt durch die Abstraktion aber andererseits ihren spezifisch faktenbezogenen Normbegriff preis und verliert dann die Praxisrelevanz. Zur Ausbildung einer Dogmatik im deutschen Sinne, wie immer man sie im einzelnen verstehen will73, ist es in den USA nicht gekommen. Das Problem der wissenschaftlichen Strukturierung durchzieht auch die amerikanische Rechtstheorie. Man hat verschiedene Modelle entwickelt, um dem Problem der Strukturierung des Rechts Rechnung zu tragen. Heute sind unter anderem verbreitet: das Prinzipiendenken, ein Alltagspragmatismus74, die Zuflucht zu außerjuristischen Maßstäben – vornehmlich der ökonomischen Theorie75 – oder auch nur die Genügsamkeit eines harten und oft politisierten Kritizismus76. Hingegen ist das Argumentieren mit einem normativ abstrahierten System in den USA ungewöhnlich77. Eine Strukturierung erfolgt zwar durch 73 Der viel beschworene und zitierte Begriff „Dogmatik“ ist nie allgemeingültig definiert worden. Dogmatik wird eher funktional im Hinblick auf eine bestimmte Systematisierungs- und Rationalisierungsleistung verstanden. Neuere Umschreibungen etwa unter Rückgriff auf A. Podlech bei B. Schlink, Abschied von der Dogmatik. Verfassungsrechtsprechung und Verfassungsrechtswissenschaft im Wandel, JZ 2007, S. 157 – 162 (162): „Dogmatische Theorien haben erstens die Funktion, den Rechtsstoff lernbar zu machen, sie haben zweitens die Funktion, Lücken im Recht zu füllen und Kollisionen im Recht zu entscheiden, und sie haben drittens die Funktion, in der rechtspolitischen Diskussion die rechtlichen Folgen einer intendierten rechtlichen Regelung zu prognostizieren.“ Etwas später heißt es, dogmatische Theorien „stehen als wissenschaftliche Theorien auch unter wissenschaftstheoretisch begründeten Forderungen der Konsistenz, Abgeschlossenheit, Ausdruckskonstanz, Überprüfbarkeit und Fruchtbarkeit, die Rationalität verbürgen.“ Der Kontrast zum amerikanischen Vorgehen wird in dieser Aufzählung besonders deutlich. 74 Vgl. B. Schwartz, Main Currents in American Legal Thought, 1993, S. 465 – 532; in der Gegenwart vor allem die Schriften von R. Posner (FN 35, 46). 75 Der Rückgriff auf die ökonomische Theorie besitzt eine Tradition, die über die in den 1960er Jahren entstandene ökonomische Analyse des Rechts hinausreicht. Vgl. E. Kitch (Hrsg.), The Fire of Truth: A Rememberance of Law and Economics at Chicago, 1932 – 1970, Journal of Law and Economics 26 (1983), S. 163 – 234; N. Duxbury, Patterns of American Jurisprudence, 1995, S. 97 – 111. Eine klassische Untersuchung ist schließlich C. Beard, Eine ökonomische Interpretation der amerikanischen Verfassung, 1974 (1913). Zur ökonomischen Analyse des Rechts in neuerer Zeit R. Posner, Economic Analysis of Law, 7. Aufl. 2007; ders., The Law and Economics Movement: From Bentham to Becker, in: ders., Frontiers of Legal Theory, 2001, S. 31 – 61; W. Landes / R. Posner, The Influence of Economics on Law: A Quantitative Study, Journal of Law and Economics 36 (1993), S. 385 – 424; H. Eidenmüller, Effizienz als Rechtsprinzip, 1995; ders., Rechtsanwendung, Gesetzgebung und ökonomische Analyse, AcP 197 (1997), S. 80 – 135; E.-J. Mestmäcker, A Legal Theory without Law, 2007. 76 Wie etwa der Schule der Critical Legal Studies und ihrer zeitgenössischen Fortentwicklungen (Critical Race Theory, Gender Theory). Als neueres Beispiel aus dem Verfassungsrecht etwa M. Tushnet, Taking the Constitution Away From the Courts, 1999, mit explizit politischer Sicht, S. 130 ff., 148, 172, 186; dazu auch die Besprechung durch W. Brugger, Der Staat 39 (2000), S. 135 – 137. 77 Vgl. K. N. Llewellyn, Präjudizienrecht und Rechtsprechung in Amerika, 1933, S. 2, der vom „bekannten Mangel an Systematik mit den hieraus sich ergebenden Folgen, der Unübersichtlichkeit und dem Vorhandensein widerspruchsvoller Tendenzen“ spricht. Im Umkehrschluss etwa auch J. H. Merryman, Civil Law (FN 1), S. 39 – 67, 90 ff.

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die Bildung von Prinzipien, doch setzen diese auf zu großer Abstraktionshöhe an, so dass eine unmittelbare Ergebnisrelevanz des Prinzips für die Entscheidung eines neuen Falles selten gegeben ist. In der Praxis wichtiger sind Fallgruppenbildungen, die in erster Linie nach vergleichbaren Sachverhalten erfolgen, nicht indes nach abstrahierbaren normativen Gesichtspunkten. Im Ergebnis fehlt eine mittlere Abstraktionsstufe, die in Deutschland durch das Rechtssystem eingenommen und als Dogmatik behandelt wird. Die fehlende Strukturierung auf einer mittleren juristischen Abstraktionsstufe war seit jeher eine Herausforderung für die Rechtswissenschaft78 und führt immer wieder zu akademischer Krisenliteratur79. Hier liegen insgesamt erhebliche Defizite gegenüber dem kontinentaleuropäischen Rechtsdenken des Civil Law, die nicht zuletzt zu Einbußen an Rechtssicherheit führen. Daran ändert auch die umfangreiche Gesetzgebung in den Vereinigten Staaten nichts prinzipiell, weil auch sie faktenorientiert entsteht und folglich eine Technik aufweist, die für eine Systematisierung auf mittlerer Abstraktionsebene nicht geeignet ist. Gesetze verstehen sich als Partikularregeln, nicht als Ausschnitt einer einheitlichen Rechtsordnung. Sie bauen daher in der Regel nicht auf anderen Gesetzen auf und verweisen selten auf andere Normen. Der Eindruck einer Systematik zwischen den Gesetzen fehlt. Ein gutes amerikanisches Gesetz ist aus sich selbst heraus verständlich und regelt ein mehr oder minder umfangreiches Problem abschließend. Es muss daher vieles immer wieder neu geregelt werden. Da es zudem zu entsprechenden sachbereichsspezifischen Abweichungen kommt, sind amerikanische Gesetze höchst individuelle Texte, die man im Sinne einer Handlungsanleitung lesen muss. Typischerweise beginnen sie mit einer Anhäufung von umfänglichen Definitionen, die sowohl der Situationsgebundenheit des Gesetzes als auch der Bindung des Richters bzw. Verwaltungsbeamten an das Gesetz geschuldet sind. Viel stärker als in Deutschland will das Gesetz eine unmittelbare Handlungsanleitung treffen. Es ist daher konkreter verfasst, zielt auf direkte Verhaltensbeeinflussung ab. Erneut zeigt sich der faktenorientierte Normbegriff der Präjudizienkultur. Das Denken vom Boden einer Systematik oder mit den Mitteln der Dogmatik setzt indes eine Verallgemeinerbarkeit der Rechtsregeln in normativer Hinsicht voraus. Daran hat man in den USA kein Interesse. Folglich fehlen Literaturgattungen, die eine solche Verallgemeinerbarkeit zum Ziel haben wie etwa die in Deutschland ausufernde Kommentarliteratur. 78 Dazu in historischer Perspektive M. Reimann, Historische Schule und Common Law, 1993, mit Besprechung durch O. Lepsius, Ius Commune XXI (1994), S. 482 – 487. 79 Einige Beispiele: M. A. Glendon, A Nation Under Lawyers. How the Crisis in the Legal Profession Is Transforming American Society, 1994; A. Kronman, Lost Lawyer (FN 19); R. Bork, The Tempting of America. The Political Seduction of the Law, 1990; auch R. Posner, Problems of Jurisprudence (FN 46), S. 424 ff. („decline of law as an autonomous discipline“); aus anwaltlicher Perspektive: P. Howard, The Death of Common Sense. How Law Is Suffocating America, 1994.

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Oliver Lepsius 3. Praxiseinfluss

Ein auf Dogmatik gegründetes Gespräch zwischen der Rechtswissenschaft und der Rechtspraxis80 gibt es in den USA nicht. Das ist auch der Preis für die Theorie-Orientierung der Rechtswissenschaft und den Zeitbezug der Rechtspraxis. Die Praxis empfindet keinen Bedarf für eine wissenschaftliche Aufbereitung des Rechtsstoffes in systematischer oder dogmatischer Hinsicht, denn davon hängt die Lösung neuer Fälle nicht ab. Den größten Einfluss auf die Praxis hat die Wissenschaft vielmehr, wenn sie Präjudizien der Kritik unterzieht, also eine ex post-Betrachtung vornimmt, während der Praxiseinfluss der deutschen Rechtswissenschaft insgesamt wohl eher auf einer vorausschauenden normativen Hilfestellung beruht. Ob aber die wissenschaftliche Kritik an den getroffenen Entscheidungen in den USA die Praxis tatsächlich beeinflussen wird, ist ungewiss: Dem nächsten Fall wird ein neuer Sachverhalt zugrunde liegen, den die Wissenschaft nicht antizipieren konnte. Über zukünftige Sachverhalte kann nur spekuliert, kaum aber mit rationalen rechtswissenschaftlichen Mitteln diskutiert werden. Liefert die Wissenschaft hingegen Theorien über zukünftiges Recht, interessiert dies rechtsetzende Institutionen, die Einzelfälle lösen müssen, wenig bis gar nicht. An die Stelle eines verallgemeinerbaren, auf Dogmatik und Systematik gegründeten Dialogs von Wissenschaft und Praxis tritt in den USA ein eher individuell-persönlicher Ansatz. Man darf nicht die Bedeutung der Individuen in der amerikanischen Rechtspraxis verkennen. Bestimmte Richter oder Commissioners sind (auch in positiver Hinsicht) für bestimmte Argumente empfänglicher als andere. Deshalb ist immer wichtig, wer entscheidet – eine im deutschen Rechtsdenken zugunsten der inhaltlichen Bindung an das Gesetz und der personellen Bindung an den gesetzlichen Richter eher vernachlässigte Perspektive. Auch der Sprachgebrauch ist hier transatlantisch ganz anders. In Deutschland etwa pflegt man zu sagen, das Gericht habe seine Rechtsprechung geändert. Wenn etwa, um das wahrscheinlich prominenteste Beispiel aus der Zivilrechtsjudikatur der letzten Jahre zu wählen, der BGH die Rechtsfähigkeit der BGB-Gesellschaft richterrechtlich anerkennt, liegt dem in deutscher Wahrnehmung eine objektiv bessere Rechtserkenntnis zugrunde. In Deutschland ist die Rechtserkenntnis entpersönlicht. Es geht um die Entscheidung und ihre Gründe, nicht um die Entscheidenden und ihre Begründungen. Ein amerikanischer Beobachter würde 80 Vgl. H. Schulze-Fielitz, Das Bundesverwaltungsgericht als Impulsgeber für die Fachliteratur, in: FS 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 1061 – 1084; ders., Verwaltungsrechtswissenschaft und Bundesverwaltungsgericht (FN 31), S. 422 – 437; ders., Grundsatzkontroversen in der deutschen Staatsrechtslehre nach 50 Jahren Grundgesetz, Die Verwaltung 32 (1999), S. 241 – 282; P. Lerche, Rechtswissenschaft und Verfassungsgerichtsbarkeit, BayVBl. 2002, S. 649 – 652, auch in: ders., Ausgewählte Abhandlungen, 2004, S. 529; T. Oppermann, Das Bundesverfassungsgericht und die Staatsrechtslehre, in: FS 50 Jahre BVerfG, Band I, 2001, S. 421.

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demgegenüber untersuchen, welche Richter entschieden haben, und dann vielleicht feststellen, dass dem Rechtsprechungswandel Neubesetzungen vorausgehen und die neuen Senatsmitglieder womöglich der bisher im dogmatischen Streit unterlegenen Schule zuzurechnen sind, wie aus den Dissertationen der betreffenden Richter und dem betreuenden Doktorvater geschlossen werden kann81. Mit anderen Worten: In den USA knüpft der Praxiseinfluss an die Personen und ihre institutionelle Verantwortung an. Der institutionelle Bezug ist hier wichtiger als im deutschen Diskurs, der wiederum den materiellrechtlichen Bezug in den Mittelpunkt stellt.

4. Internationalität

Als weiterer Verlustposten kann schließlich die Internationalität vermerkt werden. Sie ist gering, zum einen weil die Rechtskultur der USA im Weltmaßstab eine Ausnahme darstellt, zum anderen weil die USA sich auch wegen ihrer Größe und ihres Rechtspluralismus selbst genug sind. Den Anstoß, den wir etwa aus der Rechtsvergleichung mit dem Ausland ziehen, gewinnen die USA schon mit den Mitteln ihrer nationalen Rechtsvielfalt. Einerseits besteht daher kein aus der Rechtswissenschaft selbst begründetes Interesse an Internationalität, andererseits spüren amerikanische Juristen, dass die Welt um sie herum anders tickt. In der Tat finden sie zentrale Elemente ihres Rechts im Ausland nicht vor wie etwa die genuin demokratische Wurzel ihrer Rechtskultur oder die Faktenorientierung ihres Rechtsdenkens, also dessen Hinwendung zu Tatsachen und seine Abwendung von zeitlosen, demokratisch nicht zu verantwortenden Rechtsideen. Zur Verdeutlichung dieser Haltung sei auf die viel diskutierte Entscheidung des U.S. Supreme Court im Fall Lawrence v. Texas 2003 verwiesen82. In ihr wurde ein Gesetz des Staates Texas, das Homosexualität unter Strafe stellte, für verfassungswidrig erklärt, obwohl der Supreme Court noch 1986 ein ähnliches Gesetz des Staates Georgia für verfassungsmäßig gehalten hatte83. Materiellrechtlich ging es um die Reichweite des rights of privacy, das der Gerichtshof im Zusammenhang mit der Abtreibungsfrage um 1970 entwickelt hatte84. Die Gerichtsmehrheit begründete den fundamentalen Rechtsprechungswandel bei der Anwendung des rights of privacy auf Homosexualität mit den Wertüberzeugungen ausländischer Staaten und zitierte explizit den EGMR. Dieser Rekurs auf ausländische Gerichtsentscheidungen zur Begründung eines nationalen Rechtsprechungswandels führte 81 Zum Rechtsprechungswandel des II. Zivilsenats des BGH in dieser Frage und seinen Ursachen vgl. S. Lepsius, in: Historisch-kritischer Kommentar zum BGB, Band 3, 2007, §§ 705 – 740, insbes. Rn. 38 mit Fn. 134. 82 Lawrence v. Texas, 539 U.S. 558 (2003). 83 Bowers v. Hardwick, 478 U.S. 156 (1986). 84 Griswold v. Connecticut, 381 U.S. 479 (1965); Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (1973).

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zu einer heftigen Kontroverse um Fragen der Verfassungsauslegung und die verfassungsrechtlich relevanten Wertüberzeugungen, aber auch um die national-grundrechtliche oder international-menschenrechtliche Dimension des Falles85. Auch in anderen Fällen mit menschenrechtlichen Bezügen griff der Supreme Court auf ausländische Gerichtsentscheidungen zurück, nämlich wenn es um die Hinrichtung jugendlicher Straftäter86 oder geistig Behinderter ging87. Diese internationale bzw. menschenrechtliche Argumentation zerrt an Grundfesten des amerikanischen Rechtsdenkens, auch weil sie die Einbindung der USA in ein individualrechtsbezogenes Völkerrecht nahelegt. Der Fall und die durch ihn ausgelöste Aufregung verdeutlicht den Ausnahmecharakter – in materiellrechtlicher wie methodischer Hinsicht. Zugleich zeigt sich: Am anschlussfähigsten sind internationale Aspekte als Gerichtsentscheidungen, denn dann können sie institutionell verarbeitet werden.

IV. Vorbilder Nach alledem stellt sich die Frage: Was kann das deutsche staatsrechtliche Denken von der amerikanischen Rechtswissenschaft lernen? Wir trafen auf attraktive Ansätze gerade im Hinblick auf die wissenschaftliche Behandlung einer pluralistischen, demokratischen Rechtskultur, aber auch auf Bereiche, in denen unsere Rechtskultur und Rechtswissenschaft für überlegen gehalten werden darf. Die Frage ist also eher, was man lernen sollte – und die Beantwortung dieser Frage setzt naturgemäß voraus, in der eigenen Wissenschaft Defizite oder Desiderate auszumachen88. Wenn im folgenden einige Felder benannt werden, auf denen man vom amerikanischen Rechtsdenken lernen sollte, so geschieht dies auf der Basis einer subjektiven, selbstkritischen Wahrnehmung unseres Tuns als Staatsrechtslehrer. Vier Lernfelder möchte ich vorstellen: 85 Ausführliche Darstellung und Diskussion bei J. Eisfeld, Liberalismus und Konservatismus, 2006. Aus der amerikanischen Literatur etwa Colloquium, in: Michigan Law Review 102 (2004), S. 1447 ff.; Symposium, in: Minnesota Law Review 88 (2004), S. 1021; L. Tribe, Lawrence v. Texas: The „Fundamental Right“ That Dare Not Speak Its Name, Harvard Law Review 117 (2004), S. 1893; C. Sunstein, What Did Lawrence Hold? Of Autonomy, Desuetude, Sexuality and Marriage, Supreme Court Review 2003, S. 27; R. Glensy, Which Countries Count? Lawrence v. Texas and the Selection of Foreign Persuasive Authority, Viriginia Journal of International Law 45 (2005), S. 357; P. Zumbansen, Globalization and the Law: Deciphering the Message of Transnational Human Rights Litigation, German Law Journal 5 (2004), S. 1499 – 1520. 86 Roper v. Simmons, 543 U.S. 551 (2005). 87 Atkins v. Viriginia, 536 U.S. 304 (2002). 88 Vgl. dazu die Beiträge von H. Schulze-Fielitz, Staatsrechtslehre als Wissenschaft: Dimensionen einer nur scheinbar akademischen Fragestellung, und M. Morlok, Reflexionsdefizite in der deutschen Staatsrechtslehre, beide in diesem Bande S. 11 ff. bzw. S. 49 ff., sowie C. Möllers / A. Voßkuhle, Staatsrechtswissenschaft (FN 63); für die Verwaltungsrechtslehre bereits W. Schmidt, Einführung (FN 56), S. 240 ff.

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1. Umgang mit Tatsachen

Beim Umgang mit Tatsachen kann man von den USA viel lernen. Wir deutsche Rechtswissenschaftler beschäftigen uns, seien wir ehrlich, nicht mit Tatsachen. Dies scheint mir aber mehr denn je ein Gebot der Stunde, weil unsere Rechtsquellen zeit- und tatsachenbezogener werden. Dies betrifft sowohl die Gesetzgebung als auch die untergesetzliche Normsetzung und die Rechtsprechung. Es liegt in der Natur einer demokratischen Rechtspolitik, auf aktuelle Missstände mit einer schnell umsetzbaren und möglichst wirksamen Rechtsetzung zu reagieren89. In der Demokratie wird Gesetzgebung durch politisch bedeutsame Vorfälle motiviert. Der sogenannte „Handlungsbedarf“ führt zu punktuellen, mitunter auch populistischen und symbolischen Reaktionen, selten indes zu prinzipiellen, langwierigen, systematischen Überlegungen. Das ist nicht mit nostalgischem Blick zu beklagen90, sondern die Folge einer demokratisch initiierten und verantwortlichen Rechtspolitik, die auf politischen und sozialen Wandel reagiert. Um einer weithin reaktiven, politisch motivierten Normsetzung gerecht zu werden, müssen die zugrundeliegenden Vorfälle und Tatsachen wissenschaftlich einbezogen werden. Entsprechende Ansätze bestehen sowohl in der Praxis als auch in der Wissenschaft. Das Bundesverfassungsgericht fragt bei der Normenkontrolle typischerweise, ob der Gesetzgeber die relevanten Daten erhoben und nachvollziehbar gewichtet hat91. Mitunter will das Bundesverfassungsgericht rechtsordnungsexogenen Rechtswandel institutionalisieren, wenn es etwa dem Gesetzgeber eine Beobachtungspflicht auferlegt92. Eine intensive Be89 Vgl. statt vieler G. F. Schuppert (Hrsg.), Das Gesetz als zentrales Steuerungsinstrument des Rechtsstaats, 1998. Welche Auswirkungen politischer Regelungswille auch auf andere Handlungsformen hat, analysiert am Beispiel der Rechtsverordnung J. Saurer, Die Funktionen der Rechtsverordnung, 2005, insbes. S. 177 ff., 187 ff., 241 ff., 298 ff., 404 ff. 90 Ebenso in Bezug auf die politischen Bedingungen einer Entformalisierung staatlichen Handelns als Konsequenz einer auf aktuelle Bedürfnisse reagierenden Rechtspolitik F. Schoch, in: J. Isensee / P. Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 3. Aufl. 2005, § 37 Rn. 15 – 19 („Realfaktoren staatlichen Handelns“). 91 Vgl. insbesondere die prinzipiellen Aussagen im Altenpflege-Urteil BVerfGE 106, 62 (150 – 152) [2002]: „. . . prognostische Urteile gründen auf Tatsachenfeststellungen, die ihrerseits einer Prüfung und Bewertung zugänglich sind (vgl. BVerfGE 50, 290 [332]). Überprüfbar ist hier ebenso wie bei der Beurteilung gegenwärtiger oder vergangener Sachverhalte vor allem, ob der Gesetzgeber seine Entscheidung auf möglichst vollständige Ermittlungen gestützt oder ob er relevante Tatsachen übersehen hat“ (151). Zum Problem aus der Literatur vor allem F. Ossenbühl, Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen und Prognoseentscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht, in: FS 25 Jahre BVerfG, Band I, 1976, S. 458 (505 ff.); B.-O. Bryde, Tatsachenfeststellungen und soziale Wirklichkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, in: FS 50 Jahre BVerfG, Band I, 2001, S. 533 (534 – 539); K. Schlaich / S. Korioth, Bundesverfassungsgericht (FN 28), Rn. 532 ff. 92 Neuere Beispiele: BVerfGE 111, 333 (356) – Brandenburgisches Hochschulgesetz [2004]; BVerfG, 2 BvR 556 / 04 v. 6. 3. 2007, B II b) cc) – Ballungsraumzulage.

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schäftigung mit den Tatsachen wird auch von der Wissenschaft angemahnt, etwa in Gestalt der Forderung nach einer „Realbereichsanalyse“ der Norm93. Die amerikanische Rechtswissenschaft kann uns hier eine Hilfestellung liefern. Das Neue für unser Rechtsdenken wäre, dass Tatsachenforschung mit dem Ziel betrieben würde, die normativen Wertungen zu erkennen und zu behandeln, also als intradisziplinäre Aufgabe der Rechtswissenschaft selbst und nicht im Nachgang als Frage, ob die Norm etwa, wie es oft so schön heißt, der sozialen Wirklichkeit oder den gesellschaftlichen Bedürfnissen gerecht wird. Zu fördern ist ein juristisch erheblicher Tatsachenbezug, nicht ein sozial diffuser Wirklichkeitsbezug. Eingelöst werden kann er nicht durch Sozialtheorie, sondern durch Empirie. In der deutschen Rechtswissenschaft freilich überwiegt gegenüber den Sozialwissenschaften ein auf Sozialtheorie bezogener integrativer Ansatz, der zu überdenken und vor dem Hintergrund der amerikanischen Erfahrung zu ergänzen wäre94. Nehmen wir als Beispiel eine Norm, die zu einem hard case geführt hat, nämlich § 14 Abs. 3 LuftSiG. Ihr Regelungsgehalt lässt sich ohne die Anschläge in New York und Washington nicht begreifen. Untersuchen wir kurz, wie ihre Verfassungsmäßigkeit in Deutschland diskutiert und gelöst wurde. Können wir insofern vom amerikanischen Rechtsdenken lernen? Wie der Diskurs über diese Vorschrift und ihr verfassungsrechtliches Schicksal in Deutschland geführt wurde95, ist methodologisch aufschluss93 Insbesondere durch W. Hoffmann-Riem, Methoden einer anwendungsorientierten Verwaltungsrechtswissenschaft, in: E. Schmidt-Aßmann / ders. (Hrsg.), Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004, S. 9 (34 – 39); auch schon ders., Sozialwissenschaftlich orientierte Rechtsanwendung, in: ders. (Hrsg.), Sozialwissenschaften im Öffentlichen Recht, 1981, S. 3 (13). 94 Nähere Analyse bei O. Lepsius, Sozialwissenschaften (FN 42), S. 3 f., 11 f. Zur Kritik einer sozialtheoretisch begründeten Wirklichkeitswahrnehmung, die Erwartungen gegenüber dem Recht begründet: ders., Steuerungsdiskussion, Systemtheorie und Parlamentarismuskritik, 1999, insbes. S. 10 ff., 30 ff., 67 ff. Eine überwiegend kritische Auseinandersetzung auch bei C. Bumke, Die Entwicklung der verwaltungsrechtswissenschaftlichen Methodik in der Bundesrepublik Deutschland, in: E. Schmidt-Aßmann / W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden (FN 93), S. 73 (78, 100 – 108, 118, 124 – 130). 95 Vgl. statt vieler die Besprechungen der Entscheidung des BVerfG vom 15. 2. 2006 durch W.-R. Schenke, NJW 2006, S. 736; M. Baldus, NVwZ 2006, S. 532; aus der Literatur zuvor seien hervorgehoben F. Hase, Abschuss von Flugzeugen als „Hilfe bei einem Unglücksfall“?, DÖV 2006, S. 213 – 218; W. Höfling / S. Augsberg, Luftsicherheit, Grundrechtsregime und Ausnahmezustand, JZ 2005, S. 1080 – 1088; J. Kersten, Die Tötung von Unbeteiligten, NVwZ 2005, S. 661 – 663; der Schriftsatz B. Hirschs, der der Verfassungsbeschwerde zugrunde lag, ist abgedruckt in KritV 2006, S. 3; siehe auch P.-A. Albrecht, Menschenwürde als staatskritische Absolutheitsregel, KritV 2006, S. 295 – 306. Zur „Dogmatik“ der Menschenwürde in anderem Kontext auch H. Dreier, Menschenwürde in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, in: FS 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 201 ff.; H. Schulze-Fielitz, Verfassungsvergleichung als Einbahnstraße? Zum Beispiel der Menschenwürde in der biomedizinischen Forschung, in: FS Peter Häberle, 2004, S. 355 (364 ff.); P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 3. Aufl. 2005, insbes. S. 90 ff.; H. Hofmann, Der Menschenwürdesatz am Scheideweg der Disziplinen, demnächst in: Der Staat 46 (2007).

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reich. Das Bundesverfassungsgericht hat den Fall, wenn wir die föderativen, kompetentiellen Aspekte außer Acht lassen, in erster Linie über Tatsachen entschieden, indem es herausgearbeitet hat, dass das Gesetz zur Erreichung des intendierten Zwecks ungeeignet ist und deswegen schon gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstößt96. Es war kein realistisches Szenario vorstellbar, in dem der Bundesminister der Verteidigung die für den gesetzlichen Tatbestand nötigen Informationen besitzt und beurteilen kann, ob ein Abschuss das letzte Mittel ist. Die Anwendbarkeit des Gesetzes stand vor einem unüberwindlichen Zeit- und Tatsachenproblem97. In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht hat die Aussage des Vertreters der Pilotenvereinigung Cockpit über die tatsächlichen Abläufe im Luftverkehr und an Bord dabei eine wichtige, aufklärende Rolle gespielt98. Gleichwohl hat der Senat die Sache materiellrechtlich durchentschieden bis hin zum Menschenwürdesatz des Art. 1 Abs. 1 GG, also der auf Tatsachen gestützten Begründung eine wertbezogene Begründung beigegeben. Der rechtswissenschaftliche Diskurs hat sich auf letztere konzentriert. Ist dies nicht symptomatisch für das deutsche Rechtsdenken? Es verlangt eine Kohärenz in Wertfragen, die zur Letztbegründung neigt und die Entscheidungsbegründung an Erwartungen der Stimmigkeit misst, die ein Gericht, das nur den Fall zu lösen hat, nicht erfüllen kann. Zum Problem wird, dass die mittlere Abstraktionsebene durch eine Dogmatik der Menschenwürde besetzt wird. Ein Begriff wie „Menschenwürde“ indes entzieht sich einer dogmatischen Verarbeitung auf mittlerer Abstraktionsstufe. Sonst müssten Abschussbefugnis und Abtreibung nach einheitlichen normativen Grundlagen entschieden werden. Wer jedoch die jeweils zugrunde liegenden Sachverhalte ernst nimmt, wird eine solche normative Kohärenz kaum verlangen können, sondern eingestehen, dass über Fragen der Menschenwürde wohl kaum mit den Mitteln der Dogmatik geurteilt werden kann. Dafür bedürfte es verfassungstheoretischer und rechtsphilosophischer Überlegungen, die in einer rechtsdogmatischen Behandlung aber gerade ausgeklammert bleiben. Im Ergebnis prallen dann in der deutschen Diskussion zwei nicht kommensurable Ebenen aufeinander: die Menschenwürde auf einer hohen Abstraktionsstufe, die philosophisch und theoretisch geprägt ist, und die Menschenwürde der kleinen Münze, subsumtionsmäßig aufbereitet zum Lösen von Fällen. Wenn die mittlere Abstraktionsstufe fehlt, weil Dogmatik sie nicht liefern kann, entstehen in der deutschen Grundrechtstheorie unnötige Krisengefühle. Ein amerikanisches Vorgehen würde diese mittlere Ebene zwar nicht zustande bringen, aber ihr Fehlen wettmachen. Es würde die wissenschaftli96

BVerfGE 115, 118 (153 – 159) [2006]. O. Lepsius, Das Luftsicherheitsgesetz und das Grundgesetz, in: F. Roggan (Hrsg.), Mit Recht für Menschenwürde und Verfassungsstaat, 2006, S. 47 – 74 (65 – 67). 98 BVerfGE 115, 118 (155 f.). 97

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che Diskussion einem stärkeren Tatsachenbezug unterziehen mit dem Effekt, dass eine Systematisierung so unterschiedlicher Fälle wie Abtreibung und Abschuss kein plausibles Erkenntnisziel mehr wäre. Der Drang nach einer Dogmatik der Menschenwürde aus Gründen der Einheit und Widerspruchslosigkeit der Rechtsordnung entfiele. Außerdem ermöglichte die auch zeitlich bedingte Relativität der Lösungen neue politische Freiräume für die Zukunft und womöglich zeigte sich, dass die unter Art. 1 Abs. 1 GG „gelösten“ Fälle anders noch besser zu begründen gewesen wären. Der verfassungsrechtlich positive Effekt wäre jedenfalls, dass die Würde des Menschen ihre hehre Stellung als oberster Wert bewahrte und nicht in einer scheinbar faktenindifferenten, normativ gradualisierten Dogmatik subsumtionsfähig hergerichtet wird und dann zur kleinen Münze gerinnt. Der Tatsachenbezug würde in methodologischer Hinsicht auf jene mittlere Abstraktionsstufe einwirken, die momentan durch die Dogmatik besetzt ist. An einer Frage wie der Abschussbefugnis zeigt sich, worauf die rechtswissenschaftliche Diskussion ausgerichtet ist und wo ihre Grenzen liegen. Dabei besitzen wir bereits die wissenschaftlichen Mittel, um die erforderlichen Tatsachenbezüge zu verarbeiten: in erster Linie nämlich mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Als Zweck-Mittel-Relation setzt er die Kenntnis von Tatsachen voraus, besonders auf den Stufen der Geeignetheit und Erforderlichkeit99. Ohne sie kann weder der Zweck noch das Mittel des Gesetzes geprüft noch gar beide in eine Relation zueinander gestellt werden. Typischerweise übergehen wir jedoch diese Stufen gerne und streben zur Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, zur Angemessenheit, in der es um eine Rechtsgüterabwägung geht – also gerade nicht mehr um den Tatsachenbezug. Immer öfter freilich führt diese Prüfungsstufe zu einem non liquet. Die objektiven Grundrechtslehren und die Schutzpflichtendogmatik schalten die Angemessenheitsprüfung als Kontrollmaßstab zunehmend aus, weil gegenüber Eingriffen in individuelle Grundrechte die grundrechtlich geschützten Belange der Allgemeinheit in aller Regel überwiegen werden100. 99 Ohne Tatsachenbezug läuft eine Zweck-Mittel-Relation leer, vgl. nur P. Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, 2. Aufl. 1999, S. VIIff. (XVIf.), auch in: ders., Ausgewählte Abhandlungen, 2004, S. 244 ff. Lerche betont zudem die „punktuelle Ausrichtung“ des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, die „strukturelle Verschiedenheit der jeweiligen Angemessenheitsvorstellungen“ und die damit notwendigen Differenzierungen. Zur Umsetzung M. Kloepfer, Die Entfaltung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, in: FS 50 Jahre BVerwG, 2003, S. 329 – 346 (334 – 336, 339 f.); siehe auch A. v. Arnauld, Die normtheoretische Begründung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, JZ 2000, S. 276 – 280; M. Hochhuth, Relativitätstheorie des Öffentlichen Rechts, 2000, S. 86 ff. 100 Das ahnten bereits W. Rupp-v. Brünneck / H. Simon in ihrem berühmten Sondervotum gegen das Erste Schwangerschaftsurteil, in dem die Schutzpflichten richterrechtlich erfunden wurden, BVerfGE 39, 1, 68 ff. (71 – 73) [1975]. Auf die Sonderstellung, die die deutsche Grundrechtstheorie mit der Schutzpflichtendogmatik einnimmt, weist hin: R. Wahl, Die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte im

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Bei den neuen Sicherheitsgesetzen wird der praktische Ausfall dieser Prüfungsstufe besonders deutlich, weil bei terroristischen Gefahren die Schutzpflichten des Staates gegenüber der Gemeinschaft die grundrechtlich geschützten Individualrechte zu übertrumpfen pflegen101. Wer jetzt Rechtsgüter abwägt, wird es schwer haben, einen qualitativen Vorrang des individuellen gegenüber dem kollektiven Rechtsgut zu begründen. Dies erklärt wiederum, warum das Bundesverfassungsgericht gerade bei Verfassungsbeschwerden gegen die neuen Sicherheitsgesetze immer wieder auf den abwägungsresistenten Art. 1 Abs. 1 GG zurückgreifen muss102, nämlich um einer Abwägungsdogmatik zu entgehen, die aus objektivrechtlichen Schutzinteressen eingriffsfreundlich geworden ist. Die Abwägungsdogmatik hat die Beweislast umgekehrt und mag die Rechtspolitik geradezu verleiten, zum Schutz der Vielen in die Rechte Weniger eingreifen zu müssen. Diese Kontrolleinbußen beim Maßstab der Angemessenheit, der über Jahrzehnte hinweg die zentrale materiellrechtliche Entscheidungsgrundlage des Bundesverfassungsgerichts bildete, sind wohl auch dafür verantwortlich, dass die vernachlässigten Prüfungsstufen der Geeignetheit und Erforderlichkeit in neueren Entscheidungen aus Karlsruhe deutlich an Gewicht gewonnen haben. Überging das Gericht diese Prüfungsstufen früher, um den Fall mit Hilfe einer Rechtsgüterabwägung zu entscheiden, so beobachten wir inzwischen einen umgekehrten Trend, besonders bei Materien, die objektivrechtliche Bezüge aufweisen bzw. schutzpflichtenrelevant sind, wie die Sicherheitsgesetzgebung103. Auch das Bestimmtheitsgebot sieht insofern einer Renaissance als Kontrollmaßstab entgegen104, weil es einen internationalen Vergleich, in: H.-J. Papier / D. Merten (Hrsg.), Handbuch der Grundrechte, Band I, 2004, § 19. 101 Vgl. T. Groß, Terrorbekämpfung und Grundrechte. Zur Operationalisierung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, KJ 2002, S. 1 (8 ff., 16 f.); W. Hoffmann-Riem, Freiheit und Sicherheit im Angesicht terroristischer Anschläge, ZRP 2002, S. 497; H. Schulze-Fielitz, Nach dem 11. September: an den Leistungsgrenzen eines verfassungsstaatlichen Polizeirechts?, in: FS Schmitt Glaeser, 2003, S. 407 – 434; ders., Innere Sicherheit: Terrorismusbekämpfung auf Kosten der Freiheit?, in: Adolf-ArndtKreis (Hrsg.), Sicherheit durch Recht in Zeiten der Globalisierung, 2003, S. 25 – 39; O. Lepsius, Freiheit, Sicherheit und Terror: Die Rechtslage in Deutschland, Leviathan 32 (2004), S. 64 (82 – 88). 102 BVerfGE 109, 279 (314 – 318) [2004]; 110, 33 (53) [2004]; 113, 348 (391) [2005]; 115, 118 (151 – 153, 157) [2006]; 115, 320 (346 ff.) [2006]. 103 Gerade die verfassungsrechtliche Prüfung neuerer Sicherheitsgesetze führte zu erheblichen Zweifeln auf den Stufen der Geeignetheit und Erforderlichkeit. Gleichwohl hat das BVerfG die Fälle jeweils materiell bis zur Stufe der Angemessenheit durchentschieden. Vgl. neben BVerfGE 115, 118 (153 – 159) [2006]: BVerfGE 109, 279 (335 – 343) – großer Lauschangriff [2004]; BVerfGE 110, 33 (55 – 59) – Überwachung der Auslandstelekommunikation [2004]; 113, 348 (385 f.) – präventive Telefonüberwachung [2005]. Ambivalent ist BVerfGE 115, 320 – Rasterfahndung [2006]: Die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes konzentriert sich auf seine Angemessenheit (345 – 365), die der Maßnahme auf eine fehlende („zu diffuse“) Tatsachenbasis am Maßstab des einfachen Rechts (369). 23 Die Verwaltung, Beiheft 7

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Tatsachenbezug einfordert, während es solange eine stumpfe Waffe bleiben musste, als der Tatsachenbezug vernachlässigt wurde. Deutlich wird hier: Der Rekurs auf Tatsachen stärkt die subjektive Abwehrfunktion der Grundrechte, während der Fokus auf eine Rechtsgüterabwägung zu einer abstrakten normativen Diskussion führt, bei der Individualbelange gegenüber gesellschaftlichen Interessen schlechtere Karten haben. Formelle und tatsachenbezogene Prüfungskriterien stellen neuerdings schärfere Anforderungen auf als materielle Rechtsgüterabwägungen105. 2. Umgang mit Kasuistik

Angesichts von demnächst 120 Entscheidungsbänden des Bundesverfassungsgerichts kann eine Kohärenz, gar eine Systematik der Verfassungsrechtsprechung nicht (mehr) erwartet werden106. Das muss Folgen haben. Einerseits wurde die Abhängigkeit der Staatsrechtslehre von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als „Entthronisierung“ oder Bundesverfassungsgerichtspositivismus beklagt107, andererseits bot die Verfassungsrechtsprechung der Staatsrechtslehre einen im Rückblick betrachtet neuen Gegenstand, der sie außerordentlich befruchtete – in inhaltlicher wie in methodischer Weise108. Von den USA kann man Techniken übernehmen, wie mit Kasuistik, ihrer Widersprüchlichkeit und Zeitgebundenheit umzugehen ist. Nötig ist auch hier ein stärkerer Faktenbezug, der Widersprüche auf einer abstrakt normativen Ebene juristisch erklären hilft und sie dann politisch erträglich macht. Wir hingegen erwarten von unserer Rechtsprechung zu oft bleibende, den Fall überdauernde Beiträge zur Normauslegung. Das muss an Grenzen stoßen, weil die Normauslegung des Gerichts im Hinblick auf den vorliegenden Sachverhalt getroffen wird und folglich ihre Permanenz von der Fortdauer des Sachverhalts abhängen muss109. 104

BVerfGE 110, 33 (71 – 74); 113, 348 (375 – 381). O. Lepsius, Die Grenzen der präventivpolizeilichen Telefonüberwachung, JURA 2006, S. 929 (936). 106 Dauerkritik an der Rechtsprechung als neue Normalität gedeutet bei H. Schulze-Fielitz, Das Bundesverfassungsgericht in der Krise des Zeitgeistes, AöR 122 (1997), S. 1 (25 – 27); siehe auch W. Heun, Begriff, Eigenart, Methoden der Verfassungsrechtsdogmatik, in: C. Starck (Hrsg.), Die Rolle der Verfassungsrechtswissenschaft im demokratischen Verfassungsstaat, 2004, S. 35 – 43. 107 B. Schlink, Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, Der Staat 28 (1981), 161 ff.; aus heutiger Sicht M. Jestaedt, Verfassungsgerichtspositivismus, in: FS Josef Isensee, 2002, S. 183 – 228. 108 P. Lerche, Rechtswissenschaft und Verfassungsgerichtsbarkeit (FN 80). Im Kontext der Methodenentwicklung der frühen Bundesrepublik: O. Lepsius, Die Wiederentdeckung Weimars durch die bundesdeutsche Staatsrechtslehre, in: C. Gusy (Hrsg.), Weimars lange Schatten – „Weimar“ als Argument nach 1945, 2003, S. 354 (383 – 390). 109 Vgl. D. Grimm, Staatsrechtslehre und Politikwissenschaft, in: ders. (Hrsg.), Rechtswissenschaft und Nachbarwissenschaften, Band 1, 2. Aufl. 1976, S. 53 (54); sie105

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Das Bundesverfassungsgericht trägt zur Verschleierung dieses Umstands bei, wenn es die Entscheidungsgründe in den sog. Maßstäbeteil, in der Regel Gliederungspunkt C. I, und den Subsumtionsteil, in der Regel Gliederungspunkt C. II, aufteilt. Von der Rechtswissenschaft aber auch vom Gericht selbst werden regelmäßig nur Aussagen aus C. I zitiert. Das hat weitreichende Konsequenzen, denn die abstrakte Auslegung der Norm überdauert den seinerzeitigen Anlass der Normauslegung. Eine an Dogmatik und Systembildung orientierte Rechtswissenschaft muss auch solche vermeintlich generell-abstrakten Aussagen zur Normauslegung verarbeiten, obwohl die Normauslegung im Hinblick auf den zu entscheidenden Sachverhalt gerade so und nicht anders getroffen wurde. Doch im Gewande generell-abstrakter Normauslegung bildet das Gericht in Wirklichkeit nur subsumtionsfähige Obersätze110. Die Behandlung der Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts lässt indes ein Bewusstsein für die seinerzeitige Faktenabhängigkeit der Obersatzbildung vermissen und betreibt Normauslegung zu oft nach dem Muster der Gesetzesbindung. Die Bindungswirkung von Bundesverfassungsgerichtsentscheidungen wird auf diese Weise unnötig übertrieben. Mit der Zeit werden die Spielräume für eine Auslegung immer enger und die Not, die in den Maßstäbeteilen bereits getroffenen Auslegungen zu harmonisieren, immer größer. Weil das allermeiste schon entschieden zu sein scheint, nimmt die Konstitutionalisierung der Rechtsordnung zu und der Gestaltungsfreiraum der Politik ab. Es bedarf daher einer Technik, wie von der Verfassungsrechtsprechung noch nicht besetzte Freiräume gewonnen werden können: um den Selbststand des einfachen Rechts zu bewahren, der Politik Handlungsoptionen zu belassen und überhaupt eine Grundbedingung der Demokratie zu respektieren, nämlich inhaltlichen Relativismus und permanente Revidierbarkeit zu sichern. Auch hier können Anleihen bei der Fakten- und Zeitbezogenheit des amerikanischen Rechtsdenkens hilfreich sein. Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts sind zu kontextualisieren111 und zu historisieren112. Beides wird in Deutschland bislang nur in Ansätzen gemacht. he auch W. Hoffmann-Riem, Sozialwissenschaftlich orientierte Rechtsanwendung (FN 93), S. 12 f. 110 Vgl. vor allem die Analyse von P. Lerche, Stil und Methode der verfassungsrechtlichen Entscheidungspraxis, in: FS 50 Jahre BVerfG, Band I, 2001, S. 333 – 361. Lerche tritt der Vorstellung einer rigiden, methodengeleiteten Systembildung entgegen und hebt die Bedeutung von Entscheidungsspielräumen, jeweils von neuem konkretisierungsbedürftigen Maßstäben sowie zeitlicher Relativität der Ergebnisse und ihrer Korrektur hervor. 111 Auch über die Judikatur hinaus gefordert von M. Jestaedt, Theorie (FN 9), S. 78. 112 In diese Richtung implizit: J. Menzel (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung. Hundert Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts in Retrospektive, 2000, sowie W. Schmidt, Grundrechte – Theorie und Dogmatik seit 1946 in Westdeutschland, in: D. Simon (Hrsg.), Rechtswissenschaft in der Bonner Republik, 1994, S. 188 (208 ff.). Die Historisierung des geltenden öffentlichen Rechts schlägt vor: R. Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das Öffentliche Recht der letzten fünf Jahrzehnte, 2006, ins23*

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Hier läge auch ein Mittel, um dem Eindruck von Rationalitätsverlusten entgegenzutreten, den eine dogmatisch verpflichtete Rechtswissenschaft gewinnt, wenn sie die Entwicklung der Rechtsprechung über längere Zeiträume beobachtet ohne den Wandel der Fallkonstellationen sowie das „C. I-Problem“ in Rechnung zu stellen113. Die Vorstellung, ein System sei einmal abgeschlossen und danach bedürfe es nur noch der Schließung einzelner Lücken und der Perfektionierung des Rechtsschutzes114, ist unhistorisch gedacht. Dann müsste das nach dem Erlass des BGB entstandene System im Zivilrecht genauso überdauern wie jenes, das sich aus der Rechtsprechung zum Grundgesetz in den ersten Jahrzehnten der Bundesrepublik herausbildete. Warum aber soll sich die Rechtsprechung oder die Rechtswissenschaft an das Jahr 1900 im Zivilrecht binden? Welches Jahr bildete den systematischen Kulminationspunkt im Verfassungsrecht, 1949 oder vielleicht 1980115? Wegen der Dominanz der zivilrechtlichen Methodenlehre mit ihrem materiellrechtlichen „Normaljahr 1900“ hat die deutsche Rechtswissenschaft insgesamt wohl die Vorstellung verloren, dass das Recht und seine Dogmatik immer ein Kind der Zeit ist, wie natürlich auch die neuere Rechtsprechung, die gerne als Abweichung von einer als zeitlos stilisierten dogmatischen Systembildung getadelt wird. Der Punkt ist erneut: Die Rechtsproduktion selbst erzeugt Dynamik und Wandel – während in den Augen vieler Juristen Dynamik und Wandel ein primär gesellschaftliches Phänomen sind, das vom Recht zu verarbeiten ist. Älterem Recht per se Präeminenz zuzubilligen ist unter den Vorzeichen einer demokratischen Rechtsetzung, die auf Relativität und Wechsel basiert, nicht per se plausibel. Jede neue Rechtsetzung (Gesetz, Verordnung, Verwaltungsakt, Urteil) bedarf einer normativen Rechtfertigung. Wer zu diesem Zweck auf die Kohärenz mit früherer Rechtsetzung abstellt, etwa indem aktuelle Rechtsprechung an früheren Entscheidungen gemessen wird oder indem Gesetzgebung Vertrauensschutz berücksichtigen muss, kommt nicht umhin, den existierenden Fundus an bereits gesetztem Recht normativ hinterfragen zu müssen, also das zum Maßstab erhobene historische Recht erneut begründen zu müssen: Bindet das Präjudiz noch? Verdienen gesetzlich erfasste Tatbestände Vertrauensschutz gegenüber der Rechtsänderung? Verbes. S. 12 – 16; siehe auch C. Bumke, Entwicklung (FN 94), S. 84 ff., 95 ff.; C. Möllers, Historisches Wissen in der Verwaltungsrechtswissenschaft, in: E. Schmidt-Aßmann / W. Hoffmann-Riem (Hrsg.), Methoden (FN 93), S. 131 (133 – 135, 142 ff.); C. Schönberger, „Verwaltungsrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht“, in: M. Stolleis (Hrsg.), Das Bonner Grundgesetz, 2006, S. 53 ff.; W. Meyer-Hesemann, Methodenwandel in der Verwaltungsrechtswissenschaft, 1981; P. Badura, Das Verwaltungsrecht des liberalen Rechtsstaats, 1967. 113 Vgl. B. Schlink, Abschied von der Dogmatik (FN 73), S. 158 f., der beklagt, wie kasuistisch die neuere Rechtsprechung vorgehe, und dadurch ein stimmiges dogmatisches System in Gefahr sieht. 114 Anklingend bei B. Schlink (FN 73), S. 159. 115 Für letzteres wohl B. Schlink (FN 73).

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gangene Rechtszustände als Maßstab für die Gegenwart heranzuziehen, ersetzt nicht die normative Begründung der Gegenwartsentscheidung. Das Privatrecht muss nicht einem liberalistischen Modell aus 1900 folgen, die Grundrechte nicht als „objektive Wertordnung“ anno 1958 verstanden werden. Ob die zum System oder zur Dogmatik geronnene Interpretation Bestand hat, ist eine Frage der heutigen Begründung. Hier jedoch gehen wir uneinheitlich vor. Wenn Begründungen auf Normtexte gestützt werden, seien es Gesetze (generell-abstrakte Rechtsetzung), seien es Verfassungsgerichtsentscheidungen (individuell-konkrete Rechtsetzung), unterliegen diese Texte immer wieder neuen Interpretationen. Für die Verfassungsinterpretation ist dies allerdings viel selbstverständlicher als für die Interpretation von Verfassungsgerichtsentscheidungen, die in der deutschen Rechtswissenschaft eine zeitlose Qualität erhalten. Man denke nur an die eigentümliche Zitierweise deutscher Gerichtsentscheidungen, die jede Kontextualisierung vermissen lässt, weil weder der Name des Sachverhalts noch der Zeitpunkt mitgeteilt wird116. So verselbständigen sich Formulierungen des Bundesverfassungsgerichts, die letztlich dem Augenblick geschuldet sind, zu tieferen Einsichten der Verfassungsauslegung. Funktionell werden die Entscheidungen der Bundesgerichte und des Bundesverfassungsgerichts wie generell-abstrakte Rechtsetzung behandelt, nicht aber als solche interpretiert, weil sie ihrerseits nur eine Interpretation eines generell-abstrakten Normtextes sind und die interpretationsleitenden Sachverhalte ausgeblendet bleiben. Die Textinterpretation bezieht sich typischerweise auf den Wortlaut des Gesetzes oder der Verfassungsbestimmung. Dadurch aber bleibt die Verbindlichkeit der judikativen Verfassungsauslegung normativ im Unklaren, auch wenn das Grundgesetz de facto so gilt, wie es das Bundesverfassungsgericht auslegt. Auf die Verfassungsbindung durch Rechtsprechung ist das deutsche Rechtsdenken, das einen generell-abstrakten Normbegriff idealisiert, methodologisch nicht hinreichend eingestellt. Man denke, um ein Beispiel zu geben, an das prominente Diktum „staatliche Entscheidungen [sollen] möglichst richtig, das heißt von Organisationen getroffen werden, die dafür nach ihrer Organisation, Zusammensetzung, Funktion und Verfahrensweise über die besten Voraussetzungen verfügen“, das sich hinter der Ziffernkombination BVerfGE 68, 1 (86) verbirgt. In welchem Zusammenhang die prinzipielle Privilegierung der Exekutive, die aus diesen Worten spricht, entstand (Nachrüstung, Außenpolitik, Kalter Krieg, fortwirkendes Besatzungsrecht, Friedensbewegung), bleibt im deutschen rechtswissenschaftlichen Diskurs im Dunkeln117: Die Bundestagsfraktion 116

Vgl. oben bei II. 2., S. 338. Kritisch indes C. Möllers, Gewaltengliederung, 2005, S. 74, 362 – 364, der von „schlechter deutscher parlamentskritischer Tradition“ spricht, vgl. ebd., S. 364 117

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der Grünen, soeben mit Turnschuhen und Blumentöpfen in den Bundestag eingezogen, wurde vom Bundesverfassungsgericht über ihre institutionelle Stellung und prozessrechtlichen Chancen belehrt. Dass sich das Bundesverfassungsgericht vielleicht unter dem Eindruck von NATO-Bündnistreue und deutsch-amerikanischer Freundschaft auf der einen Seite sowie einer unreif erscheinenden, friedensseligen Bürgerbewegung auf der anderen Seite zu Äußerungen hinreißen ließ, die die Entscheidungserheblichkeit weit überschritten, wird selten thematisiert. Die Karriere dieses Satzes blendet seine Entstehungsbedingungen aus, nämlich die Nachrüstungsdebatte im Kalten Krieg und den Wandel in der Parteienlandschaft in Gestalt der Grünen. Kann aber auf Gerichtsentscheidungen, die hochgradig zeitkontingent sind, ein System oder eine Dogmatik der „möglichst richtigen“ Allokation von Kompetenzen zwischen den Gewalten gegründet werden, die zugleich den Anspruch erheben darf, sachverhaltsunabhängige normative Direktiven zu geben? Was der deutschen Rechtswissenschaft hier verloren geht durch fehlendes Verständnis zeitlicher Relativität im Umgang mit Kasuistik mögen zwei weitere Beispiele erläutern. Die Grundrechtstheorie der Bundesrepublik ist, neben „Elfes“ und „Apotheke“, maßgeblich durch das Lüth-Urteil begründet worden. In aller Kürze kann man sagen, „Elfes“ steht für die prozedurale Einbettung, „Apotheke“ für die Prüfungsdogmatik und „Lüth“ für die Normenhierarchie. Die Erhebung der Grundrechte zu einer „objektiven Wertordnung“ über ihren subjektivrechtlichen Abwehrcharakter hinaus, ihre Ausstrahlungswirkung auf die einfache Rechtsordnung, gewissermaßen die objektivrechtliche Deutung der Grundrechte insgesamt, nahm hier ihren Ausgang. Zum Verständnis dieser weitreichenden Konsequenzen wäre es gut zu wissen, dass dem Lüth-Urteil ein Sachverhalt mit nationalsozialistischem Hintergrund zugrunde lag. Symbolisch ging es um den erstarkten gesellschaftlichen Einfluss der alten NS-Eliten in der jungen Bundesrepublik, die sich nun mit den Mitteln des Zivilrechts gegen die Zivilcourage derjenigen wehrten, die auf die NS-Vergangenheit aufmerksam machten. Das Bundesverfassungsgericht, überwiegend zusammengesetzt aus Emigranten und Gegnern des Nationalsozialismus, konnte es kaum zulassen, dass ein vermeintlich unpolitisches Zivilrecht im politischen Meinungskampf die alten NS-Eliten privilegierte. Zugleich musste sich das Bundesverfassungsgericht institutionell gegenüber dem BGH etablieren, dessen Naturrechtsrenaissance118 den Vorrang der Verfassung bedrohte. Fn. 187. Zum Zeitkontext der Entscheidung R. Müller-Terpitz, in: J. Menzel (Hrsg.), Verfassungsrechtsprechung, 2000, S. 364 – 371; zur vielfältigen dogmatischen Verarbeitung dieses Grundsatzes der funktionsadäquaten Aufgabenwahrnehmung J. Saurer, Rechtsverordnung (FN 89), S. 347 – 350 und öfter. 118 Positive Würdigungen bei: A. Langner, Der Gedanke des Naturrechts seit Weimar und in der Rechtsprechung der Bundesrepublik, 1959, S. 91 ff.; H. Weinkauff, Der Naturrechtsgedanke in der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs, NJW 1960,

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Das Diktum der „objektiven Wertordnung“ ist daher in hohem Maße der spezifischen Fallkonstellation geschuldet, auch wenn der Begründungsdiskurs im Gericht auf Gedanken Günter Dürigs zurückgriff119. Ohne eine Einbettung in den historischen Kontext wird man dem Lüth-Urteil nicht gerecht120. In der deutschen Rechtswissenschaft freilich wird es gerade nicht historisiert121. Von ihrem spezifisch anti-nationalsozialistischen Anlass hat sich die „objektive Wertordnung“ im deutschen juristischen Diskurs entfernt und verselbständigt122. Amerikanische Juristen würden hier sehr viel kontextbezogener und kritischer vorgehen: Hat die „objektive Wertordnung“ eine spezifisch anti-nationalsozialistische Stoßrichtung mit der Folge, dass sie auf das neue, demokratisch legitimierte Recht nicht in gleicher Weise korrigierend anzuwenden ist wie auf vorkonstitutionelles Recht? Öffnet die „objektive Wertordnung“ das Verfassungsrecht für überpositive Vorstellungen als Folge des NS-Unrechts oder bezweckt sie gerade umgekehrt die Positivierung der Rechtsidee im Text des Grundgesetzes als Abwehrreaktion auf das Naturrecht des BGH? Eine amerikanisierte Rechtswissenschaft würde wahrscheinlich solche Fragen stellen, um der Bindungswirkung eines Satzes wie dem von der „objektiven Wertordnung“ gerecht werden zu können123.

S. 1689 – 1696. Kritisch H.-U. Evers, Zum unkritischen Naturrechtsbewußtsein in der Rechtsprechung der Gegenwart, JZ 1961, S. 241 – 248; A. Kaufmann, Die Naturrechtsrenaissance der ersten Nachkriegsjahre – und was daraus geworden ist, in: FS Sten Gagnér, 1991, S. 105 – 132; U. Neumann, Rechtsphilosophie in Deutschland, in: D. Simon (Hrsg.), Rechtswissenschaft (FN 112), S. 145 (145 – 156); K. Kühl, Kontinuitäten und Diskontinuitäten im Naturrechtsdenken des 20. Jahrhunderts, in: K. Acham / K. W. Nörr / B. Schefold (Hrsg.), Erkenntnisgewinne, Erkenntnisverluste. Kontinuitäten und Diskontinuitäten in den Wirtschafts-, Rechts- und Sozialwissenschaften zwischen den 20er und 50er Jahren, 1998, S. 605 (612, 621 ff.). 119 Vgl. E.-W. Böckenförde, Zur Lage der Grundrechtsdogmatik nach 40 Jahren Grundgesetz, 1989, S. 26. Zu Dürigs Beiträgen: P. Häberle, Staatsrechtslehre im Verfassungsleben – am Beispiel Günter Dürigs, in: ders., Die Verfassung des Pluralismus, 1980, S. 110 – 125, auch in: ders., Kleine Schriften, 2002, S. 53; P. Lerche / M. Ronellenfitsch / W. Schmitt Glaeser / W. Graf Vitzthum, Zum Gedenken an Professor Dr. iur. Günter Dürig (1920 – 1996), 1999. 120 Zur politischen Bedeutung des Urteils D. Gosewinkel, Adolf Arndt, 1991, S. 493 – 498; A. Rinken, Einführung (FN 4), S. 190 – 200; U. Wesel, Der Gang nach Karlsruhe, 2004, S. 131 – 139, 163 f. 121 Für eine Historisierung aber M. Jestaedt, Die Meinungsfreiheit und ihre verfassungsrechtlichen Grenzen – Das Lüth-Urteil zwischen Dogmatisierung und Historisierung, in: H. P. Rill (Hrsg.), Grundrechte – Grundpflichten: Eine untrennbare Verbindung, 2001, S. 67 ff.; R. Wahl (FN 100), § 19 Rn. 12 ff.; T. Henne / A. Riedlinger (Hrsg.), Das Lüth-Urteil aus (rechts-)historischer Sicht. Die Konflikte um Veit Harlan und die Grundrechtsjudikatur des Bundesverfassungsgerichts, 2005. 122 Vgl. aus der umfangreichen Literatur die klassische Kritik von H. Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz. Kritik einer Argumentationsfigur des Bundesverfassungsgerichts, 1973; sowie statt vieler H. D. Jarass, Grundrechte als Wertentscheidungen bzw. objektivrechtliche Prinzipien in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 110 (1985), S. 363 ff.; H. Dreier, Dimensionen der Grundrechte, 1993, S. 10 ff., 27 ff.

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Als zweites Beispiel sei auf die Entstehung des Vertrauensschutzes verwiesen, gleichfalls ein von der Dogmatik aus der Judikatur abstrahiertes und generalisiertes Rechtsinstitut. Vom Bundesverwaltungsgericht wurde der Vertrauensschutzgedanke anlässlich von „Kleine-Leute-Fällen“ aufgeworfen, bei denen eine soziale Komponente mitschwang124. Die von der Rechtsprechung entwickelten Strukturen des Vertrauensschutzes und seiner Grenzen125 erlebten eine ungeahnte Karriere, die in der generell-abstrakten Norm des § 48 VwVfG kulminierte. Was einst für den Rentenbescheid von Lieschen Müller entwickelt wurde, gilt dogmatisch nun auch für Subventionen der Global Player AG, in deren Rechtsabteilung Heerscharen von Juristen nach Rechtslücken suchen. Der Gedanke hat sich verselbständigt und wird inzwischen zum Kernbestand des Rechtsstaatsprinzip gezählt, mit dessen Grundsatz der Gesetzmäßigkeit er doch einst kollidierte126. Sogar das Bundesverfassungsgericht hat ihn aufgegriffen und auf alle Staatsfunktionen bezogen, ihn also über das exekutivische Handeln bei der Rücknahme von Versorgungsbezügen hinaus auf den Wechsel der höchstrichterlichen Rechtsprechung sowie die Gesetzgebung erstreckt127. Die an der Billigkeit orientierte Durchbrechung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, der als Inbegriff des Rechtsstaatsprinzips gilt, mutierte im Namen einer gleichfalls auf das Rechtsstaatsprinzip gestützten Rechtssicherheit zur Negation rechtlichen Wandels. Sie führte zur Einengung der rechtspolitischen Handlungsmöglichkeiten in der notwendig auf Wandel 123 Vgl. den insofern „amerikanischen Ansatz“ H. Ehmkes, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 53 – 102, der sowohl der Vorstellung einer systematischen Einheit als auch einer werthierarchischen Einheit entgegentrat. 124 BVerwGE 9, 251 [1959]. In dem zuvor vom OVG Berlin, DVBl. 1957, 503, entschiedenen Fall ging es um die Rücknahme der rechtswidrigen Festsetzung von Witwengeld einer 1895 geborenen, seit 1938 verwitweten Klägerin, deren Berliner Wohnung (Stichtag 8. 5. 1945) in der sowjetischen Besatzungszone lag. Die Begründung des BVerwG stellte seinerzeit auf die „ganz besonderen Umstände des vorliegenden Falles“ und einen Verstoß gegen Treu und Glauben im einzelnen Fall (256) ab. Vgl. zuvor schon BVerwGE 6, 1; 8, 255. 125 Eine Zusammenfassung der frühen Entscheidungen durch BVerwGE 19, 188 (189 f.) [1964]. Den Fällen lagen in der Regel Sachverhalte zugrunde, in denen es um die Rückforderung von Dienst- und Versorgungsbezügen ging. Vgl. F. Ossenbühl, Die Rücknahme fehlerhafter begünstigender Verwaltungsakte, 2. Aufl. 1965 (1964); ders., Vertrauensschutz im sozialen Rechtsstaat, DÖV 1972, 25 – 36 (bereits zu den Gefahren und Grenzen „ausufernden“ Vertrauensschutzes). Die Fragwürdigkeit und Diffusität des Vertrauensschutzes machten deutlich: G. Kisker / G. Püttner, Vertrauensschutz im Verwaltungsrecht, VVDStRL 32 (1974), S. 149 ff., 200 ff. („völlig unbefriedigende rechtsdogmatische Aufarbeitung“, G. Kisker, S. 151); skeptisch auch H. Maurer, Kontinuitätsgewähr und Vertrauensschutz, in: P. Kirchhof / J. Isensee (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band III, 1988, § 60 Rn. 4. 126 Darauf wies vor allem E. Forsthoff hin. Im Vertrauensschutzgedanken sah er eine Durchbrechung des Rechtsstaatsprinzips, vgl. ders., Lehrbuch des Verwaltungsrechts, 10. Aufl. 1974, S. 262 f. („Selbstaufgabe des Rechtsstaats“); deutlich bereits das Vorwort zur 7. Aufl. 1958. 127 Vgl. P. Kunig, Das Rechtsstaatsprinzip, 1986, S. 208 – 223, 416 – 437; K. Sobota, Das Prinzip Rechtsstaat, 1997, S. 154 – 188, die Vertrauensschutz als Teil der Rechtssicherheit behandelt.

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und Veränderung gegründeten Demokratie128. Dogmatische Systembildung hebt individuell-konkrete Rechtsetzungen auf eine grundsätzliche Ebene, auf der sie ihre individuell-konkrete Direktionskraft verlieren, ohne der Vielfalt der Einzelfälle dogmatisch Rechnung zu tragen oder institutionelle Eigenheiten der Rechtsetzung über funktionell-rechtliche Überlegungen einzubauen. Entsprechend bald schon wurde die Abstraktionshöhe des Vertrauensschutzgedankens beklagt. Seine magische Kraft habe ohne Notwendigkeit zahlreiche Rechtsinstitute und Probleme in seinen Bann gezogen. Man solle stattdessen einem problemorientierten, topischen Denken den Vorrang geben129. Die Entwicklung des Vertrauensschutzes in der Bundesrepublik erhellt, wie aus einer explizit einzelfallbezogenen Kasuistik ein generell-abstrakter Grundsatz wird, der ein normatives Eigenleben zu entfalten beginnt, das nicht mehr sachverhaltsgerecht subsumiert werden kann. Ein zeit- und kontextbezogenes Vorgehen à la Americana hätte sich beispielsweise leichter getan, die Sachverhalte mit persönlichen Einzelschicksalen und jene mit prinzipiellen wirtschaftlichen oder institutionellen Folgen auseinander zu halten.

3. Umgang mit Grundlagenfächern

Auch in diesem Punkt könnte man vom Erfahrungsschatz der amerikanischen Rechtswissenschaft profitieren. Die Kontextualisierung der Kasuistik führt nämlich dazu, dass ein amerikanischer Verfassungsrechtler wegen seines Interesses an den Fakten, die der Entscheidung zugrunde liegen, ein Interesse an nicht-normativen Disziplinen hat, die ihm bei der Aufklärung und Deutung der Fakten helfen können. Greifen wir zur Verdeutlichung auf das Beispiel der Geschichte zurück. Ein amerikanischer Verfassungsrechtler muss stets in die Geschichte blicken, um Aussagen für die Gegenwart und Zukunft treffen zu können, also gewissermaßen mit einem Auge auch ein Verfassungshistoriker sein130. Das wird durch den Umstand verdeut128 Perfektioniert durch A. Leisner, Kontinuität als Verfassungsprinzip, 2002, der die Veränderungsbedürftigkeit einer demokratischen Rechtspolitik kein Anliegen ist. 129 F. Ossenbühl, Vertrauensschutz (FN 125), S. 36: „Der Vertrauensschutzgedanke mag Anstoß für eine Problemerörterung sein, eine unmittelbare Problemlösung bietet er nicht“. (Hervorhebung im Original.) Ähnlich ders., Diskussionsbemerkung, VVDStRL 32 (1974), S. 240 f.: Differenzierungsnotwendigkeit nach Rechts-, nicht primär nach Lebensbereichen. 130 Beispiele: A. R. Amar, The Bill of Rights. Creation and Reconstruction, 1998; ders., America’s Constitution. A Biography, 2005; D. Currie, The Constitution in the Supreme Court, Band I: 1789 – 1888, 1985, Band II: 1888 – 1986, 1990; ders., The Constitution in Congress, Band I: 1789 – 1801, 1997, Band II: 1801 – 1829, 2001, Band III und IV: 1829 – 1861, 2005. Umgekehrt kann auch ein Historiker Erhebliches für das geltende Verfassungsrecht beitragen, vgl. J. Rakove, Original Meanings. Politics and Ideas in the Making of the Constitution, 1997.

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licht, dass jede Vorlesung zum Verfassungsrecht mit dem richterlichen Prüfungsrecht und Marbury v. Madison131 beginnt, also mit einem institutionellen Grundproblem und keinem materiellem. Die genaue Analyse auch alter Fälle ist für die Behandlung des geltenden Verfassungsrechts wichtig. Daher hat die Analyse und Beschreibung alter Entscheidungen regelmäßig einen Bezug zur Deutung der Gegenwart132. Selbst bei hochpolitischen Gegenwartsfragen, wie etwa den Befugnissen des Präsidenten in Kriegszeiten (oder Zeiten, die sich im Kriege wähnen), ist es nicht unüblich, das Argument mit einer Analyse vergleichbarer Fälle aus der Verfassungsgeschichte zu beginnen133, selbst wenn der Krieg gegen Mexiko oder gegen Indianerstämme im 19. Jahrhundert kaum mit dem im Irak vergleichbar ist. Im amerikanischen Verfassungsrecht besitzt die Geschichte eine wesentlich größere Gegenwartsbedeutung als es in Deutschland der Fall ist. Das beruht zum einen auf der Präjudizienbindung und dem evolutiven Charakter des Rechtssystem. Zum anderen ist es der langen kontinuierlichen Verfassungsgeschichte der Vereinigten Staaten geschuldet. Es ist unklar, wann die Geschichte beginnt. Einerseits ist jeder Fall sogleich Geschichte, andererseits kann jeder weit zurück liegende Fall in der Gegenwart Bedeutung erlangen. Die Rechtswissenschaft hat daher in einem sehr viel größeren Maße mit Zeitproblemen zu tun. In Deutschland hingegen haben wir uns an abschließbare Periodisierungen gewöhnt, an Zäsuren in der Verfassungsentwicklung. Dies begünstigt den unhistorischen Umgang mit Recht in Deutschland. Die Wissenschaft muss aber eine Antwort auf die Frage haben, ob das Lüth-Urteil Verfassungsrecht oder Verfassungsgeschichte ist. Das traditionelle deutsche Vorgehen, Dogmatik von Grundlagen oder Praxis von Theorie zu scheiden, versagt vor solchen Aufgaben, die allein schon durch Zeitablauf entstehen. Für eine demokratischer Rechtspolitik verpflichtete Rechtswissenschaft können erhebliche Defizite entstehen, wenn mangels Kontextualisierung gedankliche „Systeme“ subkutan vom Konstitutionalismus bis zu Zeiten der Globalisierung überdauern und rechtswissenschaftliche Fragestellungen petrifizieren. In den Vereinigten Staaten ist man insofern in einer glücklicheren Lage. Deutungserhebliche Entwicklungsschritte müssen wissenschaftlich immer wieder neu begründet oder eingerissen werden. Wissenschaftlich wird die Idee der amerikanischen Verfassung daher ständig neu erfunden: Mit Hilfe einer Neuinterpretation der zentralen Texte und Entwicklungsschritte, 131 5 U.S. 137 (1803). Siehe W. Heun, Die Geburt der Verfassungsgerichtsbarkeit, Der Staat 42 (2003), S. 267 – 283; W. Brugger, Kampf um die Verfassungsgerichtsbarkeit, JuS 2003, S. 320 – 325; W. Nelson, Marbury v. Madison: The origins and legacy of judicial review, 2000. 132 Deutlich z. B. P. Kahn, The Reign of Law. Marbury v. Madison and the Construction of America, 1997; ders., Legitimacy and History. Self-Government in American Constitutional Theory, 1992. 133 J. Yoo, The Powers of War and Peace, 2005.

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etwa den Dokumenten der Verfassungsväter, vor allem der Federalist Papers, in den Amendments nach dem Bürgerkrieg, im New Deal Roosevelts. Unterschiedliche Modelle einer historischen Verfassungsdeutung konkurrieren miteinander134. Hamilton und Madison, Lincoln, Roosevelt sind im Gegenwartsdiskurs präsent. Sie vertreten konkurrierende Stadien der Verfassungsgebung und Verfassungsänderung, deren Bindungswirkung wissenschaftlich umstritten und praktisch relevant ist (wie das Beispiel der Kriegsbefugnisse des Präsidenten belegen mag). Die Haltung gegenüber Grundlagenfächern ist daher eine ganz andere als in Deutschland. Grundlagenfächer wie Rechts- und Verfassungsgeschichte, aber auch Rechtssoziologie, Psychologie, politische Ökonomie, schließlich auch Literaturwissenschaft und textkritische Philologie, oder Disziplinen, die diverse methodische Aspekte sammeln und gegenständlich bündeln wie etwa Feminismus oder Kulturwissenschaften, sind nicht im Fächerkanon separiert, sondern integraler Bestandteil des Unterrichts im geltenden Recht. Sie dienen nicht der metadogmatischen Ebene der Selbstreflexion135, sondern gerade auch konkreten handlungsanleitenden Entscheidungsvorschlägen. Im deutschen Rechtsdenken sozialisierten Studenten macht diese Präsenz „unjuristischer“ Fächer an amerikanischen Law Schools gelegentlich zu schaffen. Aber, wie oben schon bemerkt, es geht weniger um die Frage „Was ist Recht?“ als um die Fragen „Wie entstand Recht?“ und „Wie sollte Recht entstehen?“. Der rechtswissenschaftliche Diskurs an den Universitäten vermengt daher geltendrechtliche mit grundlagenorientierten Aspekten, während bei uns der dogmatische Zugriff zur Abspaltung der Grundlagenfächer führt sowie theoretische und praktische Diskurse getrennt werden. Auf die wissenschaftlich entscheidende mittlere Abstraktionshöhe, die von Dogmatik und Systembildung dominiert wird, haben die Grundlagenfächer in der Bundesrepublik einen zu geringen Einfluss. Zu oft sind sie auf die Ebene eines Metadiskurses abgedrängt. Methodenfragen werden von den Sachthemen abgekoppelt136, die Bewältigung geltendrechtlicher Fragestellungen 134 Vgl. die Idee der „constitutional moments“ von B. Ackerman, We the People, Band I: Foundations, 1991, Band II: Transformations, 1998; oder das Anknüpfen am New Deal durch C. Sunstein, The Second Bill of Rights. FDR’s unfinished revolution and why we need it more than ever, 2004. 135 Das Verhältnis wird für Deutschland gerade anders beschrieben, so etwa bei H. Schulze-Fielitz, Verwaltungsrechtswissenschaft und Bundesverwaltungsgericht (FN 31), S. 425; zum Erfordernis einer Metatheorie M. Morlok, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Verfassungstheorie?, 1988, S. 51 – 54; zur disziplinären Abgrenzung ebd., S. 20 – 39; W. Schmidt, Einführung (FN 56), S. 257 f. Eher für eine gegenseitige Ausrichtung dogmatischer und Grundlagenfächer E. Schmidt-Aßmann, Zur Situation der rechtswissenschaftlichen Forschung, JZ 1995, S. 2 (2, 8); sowie C. Möllers, Methoden, in: W. Hoffmann-Riem / E. Schmidt-Aßmann / A. Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, Band I, 2006, § 3 Rn. 42 – 51. 136 Das war nicht immer so. Zeiten, in denen die Behandlung von Sachthemen nicht ohne theoretische Vorklärungen möglich war, bleiben als wissenschaftlich gol-

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scheint theorielos möglich, was naturgemäß für praktisch arbeitende Juristen Vorteile bietet. Die Schwäche der Grundlagenfächer in Deutschland rührt gerade daher, dass sie keinen Einfluss auf das geltende Recht haben, Praktiker sie nicht berücksichtigen zu müssen meinen und ergo Studenten sie zu wenig nachfragen. Um so größer ist dann der intellektuelle Aufwand, den Dogmatiker betreiben müssen, um wieder Anschluss an die „Wirklichkeit“ zu finden. Der deutschen Rechtswissenschaft genügt hierfür nicht die Kasuistik, die doch gerade den Wirklichkeitsbezug darstellt. Verlangt wird vielmehr, den Wirklichkeitsbezug des Rechts als „systemische Leistung“ herzustellen137. Statt mit den intradisziplinären Mitteln der juristischen Grundlagenfächer arbeitet die deutsche Rechtswissenschaft insgesamt wohl lieber mit zu hoch aggregierten Theorien von der sozialen Welt, die entweder erhebliche Probleme beim Methodentransfer aufweisen, oder mit zu komplexen Gegenständen wie „Staat“ oder „Gesellschaft“ operieren138. Hier offenbart sich das an Dogmatik und Systematik geschulte deutsche juristische Denken mit seinem generell-abstrakten idealen Normbegriff139. Es verlangt keine einzelfallorientierten Wirklichkeitsbezüge, sondern prämiert einen Zugriff auf die soziale Welt, der mit dem normativ verselbständigten juristischen System kompatibel ist. Die gern beklagte Wirklichkeitsferne der juristischen Dogmatik wird dadurch aber nur in theoretischer Hinsicht behoben. Grundlagenfächer-freundlich ist dieser Ansatz jedenfalls nicht. Zur oft geforderten interdisziplinären Arbeitsweise und Anschlussfähigkeit140 scheint der amerikanische Umgang mit Grundlagenfächern und Nachbardisziplinen jedenfalls erfolgversprechender.

4. Umgang mit Theorie

Der letzte Punkt könnte lauten: mehr Theorie! – gemeint nicht im Sinne von isolierten Theoriediskursen auf Metaebenen, sondern im Sinne von Theorien mittlerer Reichweite, die ein Abstraktionsniveau im Blick haben, das momentan noch durch Dogmatik und Systemdenken allein besetzt wird. Wenn die kursorischen Seitenblicke auf das deutsche Rechtsdenken ein Quentchen Wahrheit besitzen, werden wir um einen größeren Beitrag dene Zeiten in Erinnerung. Vgl. für den Richtungsstreit der Weimarer Staatsrechtslehre und sein programmatisches Fortwirken in die Bundesrepublik: O. Lepsius, Wiederentdeckung (FN 108), S. 355 – 357, 373 f., 386 – 394. 137 So jedenfalls M. Morlok, Verfassungstheorie (FN 135), S. 68. 138 Zur Kritik des einen O. Lepsius, Steuerungsdiskussion (FN 94); zur Kritik des anderen ders., Braucht das Verfassungsrecht eine Theorie des Staates?, EuGRZ 2004, S. 370 (375 – 377); C. Möllers, Staat als Argument, 2000; A. Rinken, Einführung (FN 4), S. 213 ff. 139 Vgl. bereits oben bei I. 2., S. 327 f. 140 Etwa durch H. Schulze-Fielitz, Qualität (FN 50), S. 10, 39.

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rechtstheoretischer Eigenleistungen der Rechtswissenschaft nicht herumkommen. Die wissenschaftlich zu verantwortende mittlere Abstraktionsstufe kann nicht mehr allein von Dogmatik und Systembildung besetzt bleiben. Ein dogmatisches Grundverständnis von Rechtswissenschaft wird die Masse an Kasuistik mit ihrer sachverhaltsbedingten Uneinheitlichkeit genauso wenig stimmig verarbeiten können wie die demokratisch verantwortete Rechtsetzung, die dem politischen Wechsel gehorchen muss. Der Gegenstand der Rechtswissenschaft, das positive Recht, ist seiner Entstehung und Form nach ein politischer Parameter. Unter den Bedingungen einer demokratischen Rechtspolitik mit ihren instrumentellen Zielen erhält das positive Recht eine Gestalt, auf die eine nur der Systematik und Dogmatik verpflichtete Rechtswissenschaft nicht hinreichend eingestellt ist. Tatsachenvielfalt und Zeitbezug modifizieren den im generell-abstrakten Gesetz idealisierten Normbegriff und werten andere Rechtsquellen auf, besonders im Verwaltungsrecht. Die Berücksichtigung der Zweckmäßigkeit, die Beurteilung einzelfallbezogener Entscheidungen, ihrer Sachprobleme und ihres institutionellen Kontextes, wird zu einer (neuen?) Aufgabe der Rechtswissenschaft, die über einen am Gesetz orientierten normativ-systematischen Zugriff hinausgeht. Faktenpluralismus und Zeitlichkeit sind in der Demokratie zu einer Eigenschaft des Rechtssystems selbst geworden und werden nicht mehr nur als soziales, außerrechtliches Phänomen an das Recht herangetragen. Auch andere Faktoren tragen zu einer Veränderung des Gegenstandes bei: Die Rechtsprechung wird durch Zahl und Masse unübersichtlich und muss sich einer Systembildung entziehen, weil sie zum einen laufend fortschreitet, zum anderen selbst historisiert wird. Hinzu kommt: Internationalisierung und Europäisierung, Probleme des Föderalismus, der Gewaltenteilung und Demokratie lassen sich nicht mehr ausschließlich in einem nationalen verfassungsrechtlichen Kontext wissenschaftlich behandeln. Die normative Präeminenz des Grundgesetzes und der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wird relativiert. Entsprechend steigt das Interesse an Grundkategorien jenseits der spezifisch deutschen Normvorgaben. Eine dogmatische Rechtswissenschaft ist hier hilflos. Schließlich erwacht das Interesse, die historische Kontingenz rechtlicher Grundbegriffe zu thematisieren. Inwieweit wirkt beispielsweise das konstitutionelle Staatsrecht des 19. Jahrhunderts begriffsprägend fort? Sind gerade deutsche juristische Grundkategorien durch vordemokratische Rechtstraditionen vorgeprägt? Zur Behandlung solcher Fragen und Themen sind Theorien erforderlich, die zum geltenden Recht Distanz einnehmen. Die amerikanische Rechtswissenschaft jedenfalls zeigt einen Weg, wie Rechtswissenschaft durch Theoriebildung den Spezifika eines demokratisch entstandenen und verantworteten Rechts gerecht werden und zugleich von der Rechtspraxis, für die in Deutschland in einem hohen Maße auch die Anwaltsliteratur steht, unterschieden werden kann. Dabei muss die theoriegeleitete Hinwendung zu den „amerikanischen Fragen“ „Wie entsteht

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Recht?“ und „Wie sollte Recht entstehen?“ nicht automatisch zu den für die USA beschriebenen Verlusterscheinungen führen, sondern kann und sollte eine Rechtsgewinnungstheorie zum Ziel haben141 und auf diese Weise dem schöpferischen Charakter demokratischer Rechtspolitik wissenschaftlich gerecht werden. Der Ruf nach mehr Theorie dient der Neuausrichtung jener mittleren Abstraktionsebene, deren wissenschaftliche Verantwortung immer eine große Leistung der deutschen Rechtswissenschaft gewesen ist. Denn Theoriefragen sollen der Behandlung von Sachproblemen dienen und nicht nur einen von diesen abgelösten Metadiskurs führen.

141 Vgl. den Ansatz von M. Jestaedt, Theorie (FN 9), S. 18 ff., 43 ff., 67 f., der von einer „Rechtsgewinnungstheorie“ spricht in begrifflicher Anlehnung an M. Kriele, Rechtsgewinnung (FN 4).

Unabhängige Behörden in der „république indivisible“ – die französische Staatsrechtswissenschaft im Spiegel von Reformen der Verwaltungsorganisation Von Johannes Masing, Freiburg

Das französische Parlament veröffentlichte im letzten Sommer einen Bericht, nach dem Frankreich nunmehr 39 unabhängige Verwaltungsbehörden habe1. Es handelt sich um Behörden, die außerhalb jeder politischen Anleitung durch die Regierung stehen. Dieser Befund überrascht und wird auch in Frankreich als diskussionsbedürftig angesehen. Er ist Ergebnis einer zwar schon länger währenden, aber zu Recht noch als „neu“ empfundenen Entwicklung, mit der die tradierten Organisationsformen programmatisch reformierend tiefgreifend relativiert werden. Ich möchte diese Diskussion aufgreifen, um anhand ihrer, unserem Thema entsprechend, einen Zugriff auf Methodik und Selbstverständnis der französischen Staatsrechtswissenschaft zu gewinnen. Dabei werde ich meine Gedanken in fünf Schritte gliedern: Erstens soll das zentralstaatlich-hierarchische Grundkonzept als traditioneller Ausgangspunkt des französischen Rechts skizziert werden und zweitens ein Abriss über die Struktur dieser neuen Behörden, die hiervon grundlegend abweichen. Im Zentrum sollen drittens dann die Art der Auseinandersetzung hiermit in Rechtsprechung und Schrifttum sowie viertens ein Vergleich mit dem deutschen Zugang zu entsprechenden Fragen stehen. Zum Schluss sei eine Deutung dieser Behörden aus allgemeinen Traditionslinien des französischen Staatsdenkens versucht.

I. Das zentralstaatlich-hierarchische Grundkonzept als traditioneller Ausgangspunkt des französischen Staatsrechts Die Errichtung unabhängiger Verwaltungsbehörden überrascht gerade in einer Staatsordnung wie in Frankreich. In langer und gefestigter Tradition steht hier die Bestimmung des Staates als „république indivisible“, 1848 1 Patrice Gélard, Les autorités administratives indépendantes: évaluation d’un objet juridique non identifié, Tome I – Rapport, 2006, S. 35 ff. In dem Bericht ist zum Teil auch von 50 Behörden – je nachdem, wieweit man den Kreis dieser Behörden zieht – die Rede.

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hieß es noch pathetischer „une et indivisible“2, gleich am Anfang der Verfassung (Art. 2 FranzVfg), und das Verständnis als politische Einheit entspricht einem tief verankerten kollektiven Selbstverständnis. Wenn die Vorstellung einer rational streng durchkonstruierten Rückbeziehung der Staatsgewalt auf ein Staatsvolk als unteilbarer Souverän überhaupt irgendwo als gedankliche Folie der Verfassungsordnung erkannt werden kann, dann in Frankreich. Sicher, auch hier hat es einen demokratischen Monismus nie in Reinform gegeben, und insbesondere seit der Dezentralisierung durch die Reformen von 1982 und 2003 kennt Frankreich nicht nur auf Kommunal-, sondern auch auf Departement- und Regionalebene Entscheidungseinheiten, die auf der Grundlage eines eigenen Wahlkörpers, d. h. als eigene demokratische Einheiten von unten organisiert sind3. Dennoch bleibt die Überwölbung solcher Gliederungen durch das einheitliche Staatsvolk rechtlich wie erst recht symbolisch dominierend, in dessen demokratischer Geschlossenheit die verschiedenen Entscheidungsebenen sich nicht mehr als selbstgewählte Ausschnitte des einen Volkes darstellen. Die verschiedenen Ebenen sind durch nationales Gesetz konstituiert, ihre Organisation ist vom Wahlrecht bis zur Größe der Repräsentationsorgane zentral vorgegeben, ihre Kompetenzen werden in Gesamtverantwortung vor dem französischen Volk durch Gesetz widerruflich4 zugewiesen und die Stellung der Beamten im gesamten Staat einheitlich bestimmt. Dementsprechend werden die Repräsentationsorgane dieser sogenannten „collectivités territoriales“ (wörtlich: Territorialkollektive) bewusst nicht Parlamente und die von ihnen erlassenen Normen keinesfalls „Gesetz“ (loi) genannt. Die égalité vor dem Gesetz und bei der Mitwirkung am Gesetz ist eine gesamtfranzösische Gleichheit und bildet das innere Zentrum der „république indivisible“. Die Einheitlichkeit und Unteilbarkeit spiegeln dabei insbesondere auch eine als durchsetzungsfähig konstruierte Exekutive. Gerade die Fünfte Republik sollte mit der – auch in Frankreich inzwischen zunehmend kritisierten – Schwächung des Parlaments und Stärkung des Präsidenten Handlungsfähigkeit herstellen. Der Dualismus zwischen Premierminister und Präsident war, zumindest seiner Konzeption nach, nicht als mäßigendes Ele2

Französische Verfassung vom 4. November 1848, Préambule, II. René Chapus, Droit administratif général, Tome 1, 15e éd. 2001, S. 389 ff., 403 ff.; Pierre-Laurent Frier / Jacques Petit, Précis de droit administratif, 4e éd. 2006, S. 99 ff.; Philippe Tronquoy (Hrsg.), Décentralisation, État et territoires (no 318 janvierfévrier), 2004; vgl. auch etwa: Petra Zimmermann-Steinhart, Dezentralisierung in Frankreich, Acte II: Mehr Aufgaben, weniger Handlungsspielraum für die Gebietskörperschaften? (2006), Frankreich im Jahr 2004: Auf dem Weg zu mehr Dezentralisierung? (2005), Akt II der französischen Dezentralisierung: Konsequenzen für das politische System und die Gesellschaft (2004), alle in: Europäisches Zentrum für Föderalismus-Forschung (Hrsg.), Jahrbuch des Föderalismus, 2006, S. 336 ff.; 2005, S. 363 ff.; 2004, S. 219 ff. 4 Allerdings sind diese heute vom Grundsatz her auch in der Verfassung anerkannt, vgl. Art. 72 ff. FranzVfg.; an dem nationalstaatlichen Charakter der jeweiligen Zuweisung der konkreten Kompetenzen ändert dies jedoch nichts. 3

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ment im Sinne von „checks and balances“ gedacht, sondern eher als Disziplinierung der vom Parlament abhängigen Regierung, wie sowohl im Recht der Parlamentsauflösung als auch in der Leitungsgewalt des Staatspräsidenten im Conseil des Ministres deutlich wird5. Zusammenfassend spiegeln die verfassungsrechtlichen Organisationsstrukturen sicher nicht die Vorstellung eines Nebeneinanders disaggregierter Entscheidungsträger wieder, die im Vertrauen auf sich selbst herstellende Ausgleichseffekte sich selbst überlassen oder nur durch die unsichtbar ordnende Hand von Netzstrukturen zusammengehalten werden sollen. Es unterliegt ihnen vielmehr das in Ordnungskategorien der Vernunftphilosophie wurzelnde Konzept rational-voluntativer Entscheidungen – systematisch in einer Spitze zusammengeführt und durch klare, tief durchgearbeitete Hierarchien umgesetzt. Blumig ausgedrückt: Die Anlage dieser Architektur hat ihre Parallele eher in den durchkonstruierten französischen Gärten als in den urwüchsigen englischen – ein Element französischer Identität in der Tradition der Aufklärung.

II. Die Ausbildung unabhängiger Verwaltungsbehörden Umso erstaunlicher ist es, dass unter diesen Vorbedingungen, kaum bemerkt, ein der Regierung entwachsenes Geflecht unabhängiger Verwaltungsbehörden entstanden ist, das im föderalen und romantischen Deutschland jedenfalls bisher kaum vorstellbar ist. Solchen Behörden kommen weitreichende Entscheidungs- und Einwirkungsbefugnisse in den verschiedensten Bereichen zu6. In ihren Händen liegen nicht nur die Energie-, Telekommunikations-, Post- und Rundfunkregulierung, sondern auch die gesamte Aufsicht über die Versicherungen, Banken und Finanzmärkte. Unabhängiger Kontrolle und Anleitung unterliegen weiterhin die Wahlkämpfe – etwa die Zuteilung von Sendezeiten –, die Parteienfinanzierung oder die Durchführung von Meinungsumfragen. Durch unabhängige Behörden werden auch Universitäten und andere wissenschaftliche Einrichtungen evaluiert – immerhin eine echte Alternative zu den selbsternannten Juroren des CHE –, und durch sie werden Verhaltenskodexe für die Beamten im Bereich der inneren Sicherheit festgelegt. In unabhängigen Händen liegen weiter etwa auch der Schutz vor Fluglärm, die Produktkontrolle zur Verbrauchersicherheit, die Dopingkontrolle, die Entscheidungen der staatlichen Gesundheitsbehörden und neuerdings auch – und jedenfalls das macht frösteln – die Atomaufsicht. 5

Art. 9, Art. 12 FranzVfg. Vgl. nur die Aufstellung in: Gélard (FN 1), S. 35 ff.; Conseil d’État, Rapport public 2001 – Jurisprudence et avis de 2000, Les autorités administratives indépendantes, S. 300 ff., jeweils auch mit Nachweis der einschlägigen Rechtsquellen. 6

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Was heißt nun „unabhängig“? Tatsächlich meint dies einen formell gesicherten Status: Zunächst unterliegt keine dieser Behörden einer Weisungsbefugnis, und zwar weder im Sinne der Fach- noch der Rechtsaufsicht. Allenfalls – und bisher nie praktiziert – kann eine Gesetzmäßigkeitskontrolle mittels einer Klage zu den Verwaltungsgerichten ausgeübt werden7. In dem neuesten Parlamentsbericht heißt es insoweit: „L’indépendance de l’autorité implique d’abord l’absence de toute tutelle ou pouvoir hiérarchique à son égard de la part du pouvoir exécutif. Une AAI ne reçoit ni ordre, ni instruction du Gouvernement.“8 Darüber hinaus handelt es sich bei grundsätzlich allen Behörden um kollegiale Entscheidungskörper, die ihre Entscheidungen gemeinsam treffen, so dass auch strukturell eine Einflussnahme schwierig ist9. Überwiegend bestehen die Behörden dabei aus sieben bis elf Kommissaren, Räten oder anders bezeichneten Führungspersönlichkeiten, die unter einem Präsidenten kollegial zusammenarbeiten. Dabei ist der Rechtsstatus der Mitglieder des Kollegiums auch je einzeln gesichert. Sie werden auf Zeit, häufig auf sechs Jahre, bestellt und sind weder versetzbar noch abberufbar. Auch ihre Ernennung ist aus der Ministerialhierarchie in der Regel herausgenommen. Vielfach lehnt sie sich an die Regeln über die Ernennung der Verfassungsrichter an. Sie stützt sich so, meistens quotiert, etwa auf persönliche Entscheidungen des Präsidenten der Nationalversammlung, des Senats und des Wirtschafts- und Sozialrats oder folgt den Vorschlägen der Präsidenten der obersten Gerichte oder des Rechnungshofs. Vorbereitet werden die Entscheidungen der Behörden von den technischen Diensten als dem Behördenunterbau. Die Behörden haben dabei ein eigenes Budget, das weithin als Globalbudget ausgestaltet und von der vorgängigen Finanzkontrolle freigestellt ist. Es unterliegt im Wesentlichen nur der Kontrolle durch das Parlament und den Rechnungshof. Teilweise noch bestehende Fesseln durch das Rechnungswesen, insbesondere solche, die eine Globalisierung des Personalbudgets hindern, stehen unter aktuellem Reformdruck10. Jedenfalls wählt sich die Behörde ihre Mitarbeiter – auch soweit es um Abordnungen geht – frei aus. Die Größe und Bedeutung der Behörde sind dabei völlig unterschiedlich: So hat die Wettbewerbsbehörde einen Etat von 11 Millionen Euro, die Regierung für Telekommunikation einen Etat von 21 Millionen Euro und die Aufsichtsbehörde für die Finanzmärkte von 63 Millionen Euro pro Jahr. Keine einheitlichen Aussagen lassen sich zu den Befugnissen treffen11. Ganz überwiegend haben sie aber echte Gestaltungs- und Entscheidungs7 Vgl. dazu Gérard Marcou, Régulation, services publics et intégration européenne en France, in: Marcou / Moderne (Hrsg.), Droit de la régulation, service public et intégration régionale, Tome 2 – Expériences européennes, 2005, S. 29 (66 f.); CC no 86 – 217 DC, 18 septembre 1986, cons. 23. 8 Gélard (FN 1), S. 34. 9 Vgl. zum Folgenden Gélard (FN 1), S. 45 ff., 107 ff.; Conseil d’État (FN 6), S. 312 ff. m.w.N; Marcou, Introduction, in: Marcou / Moderne (FN 7), Tome 1, S. 24. 10 Gélard (FN 1), S. 90 ff.

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befugnisse. Ihre Aufgaben reichen von faktisch wie oft auch rechtlich bindenden Stellungnahmen über Vorschlagsrechte für Tarife, Ver- und Gebote gegenüber Marktteilnehmern, Genehmigungsentscheidungen, Zuteilungen knapper Ressourcen, Erarbeitung technischer Standards bis hin zur Ahndung von Ordnungswidrigkeiten. Vielfach haben die Behörden auch ein Verordnungsrecht, das zwar oft, keinesfalls aber immer, einer ministeriellen Inkraftsetzung (homologation) bedarf. Die Ausgliederung solcher Entscheidungen aus der Ministerialverwaltung ist Ergebnis eines Entwicklungsprozesses. Er setzte 1978 mit der Schaffung einer Datenschutzbehörde ein. Die Presse hatte Pläne des damaligen Innenministers aufgedeckt, ohne jede Rechtsgrundlage und entgegen dem Votum des Conseil d’État und des Justizministeriums die Daten aller Sicherheitsdienste zu einer großen Polizeidatei zusammenzuführen12. Die CNIL13, eine Behörde, die anders als unsere Datenschutzbeauftragte echte Entscheidungsbefugnisse hat, war hierauf die Reaktion und ein erklärtes Widerlager zur Regierung. 1984 folgten, zunächst wiederum zum Schutz der Grundrechte vor Übergriffen der Regierung, die Rundfunkbehörde und die Behörde für die Transparenz der Presse, und zwei Jahre später wurde schließlich auch die Wettbewerbsbehörde als unabhängig qualifiziert. Von da an griff die Schaffung unabhängiger Behörden schnell Platz und erfasste bald und zunehmend die Wirtschaftsaufsicht. Gegenüber der traditionellen Verwaltungsorganisation lag hierin ein bemerkenswerter Bruch. Wie reagierten hierauf nun die Rechtsprechung und die Rechtswissenschaft?

III. Rechtsprechung und wissenschaftliche Diskussion Der Conseil Constitutionnel hatte wiederholt Gelegenheit, sich zur Verfassungsmäßigkeit solcher Ausgliederungen zu äußern: In mehreren Verfahren hatte er über die Verfassungsmäßigkeit insbesondere der neuen Strukturen des Rundfunkrechts, des Wettbewerbsrechts und des Telekommunikationsrechts zu entscheiden14. Die organisationsrechtlichen Aussagen dieser Entscheidungen bleiben indes mehr als blass. Die grundsätzliche Frage der Zulässigkeit unabhängiger Behörden und ihrer Legitimationsgrundlagen wird als solche sachhaltig gar nicht aufgegriffen. Vielmehr wurden schon früh auch Behörden, deren Stellung einfachgesetzlich nicht ausdrücklich qualifiziert war, en passant ohne weiteres als unabhängig qualifi11

Vgl. hierzu m. w. Nw. Conseil d’État (FN 6), S. 335 ff. Conseil d’État (FN 6), S. 261 f. 13 Commission nationale de l’informatique et des libertés (CNIL), loi no 78 – 17 du 6 janvier 1978 (art. 11) relative à l’informatique, aux fichiers et aux libertés. 14 CC no 88 – 248 DC du 17 janvier 1989; CC no 86 – 224 DC du 23 janvier 1987; CC no 96 – 378 DC du 23 juillet 1996; CC no 86 – 217 du 18 septembre 1986. 12

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ziert15. Später wurde die Verfassungsmäßigkeit unabhängiger Institutionen wie selbstverständlich unterstellt und blieb hierbei ohne verfassungsrechtliche Maßgaben oder auch nur Deutung. Als Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz wurde allerdings eine Bestimmung aufgehoben, die den Präsidenten der Rundfunkbehörde auch von jeder persönlichen rechtlichen Verantwortlichkeit freistellen wollte16. Zurückgewiesen wird auch ein Argumentationsversuch von Antragstellern, die Unabhängigkeit der Rundfunkbehörde gegenüber dem Gesetzgeber selbst in Stellung zu bringen und ihn an einer Umgestaltung der Behörde zu hindern17. Eine etwas eingehendere Rechtsprechung findet sich nur zum Verordnungsrecht solcher Behörden – wobei es sich hierbei streng genommen nicht um ein spezifisches Problem nur der unabhängigen Behörden handelt. In der Verfassung heißt es ausdrücklich, dass das Verordnungsrecht – vorbehaltlich der Präsidialbefugnisse – vom Premierminister ausgeübt wird (Art. 21 Abs. 1 Satz 3 FranzVfg). Das Gericht sieht „deshalb“ – in der der französischen Rechtsprechung eigenen lapidaren Thetik – eine Delegation an andere Behörden durch den Gesetzgeber nur dann als zulässig an, wenn die Maßnahmen „sowohl ihrem Anwendungsbereich als auch ihrem Inhalt nach von begrenzter Reichweite“ bleiben18. Die fehlende Auseinandersetzung mit den Legitimationsanforderungen an solche Behörden ist dabei nicht etwa durch die französische Verfassung vorgezeichnet. Vielmehr enthält diese ausdrückliche Bestimmungen, die jedenfalls erklärungswürdig scheinen, wie insbesondere: „Le Gouvernement détermine et conduit la politique de la nation. Il dispose de l’administration . . . Le Premier ministre dirige l’action du Gouvernement . . . Il assure l’exécution des lois . . . et nomme aux emplois civils et militaires“ (Art. 20, 21 FranzVfg). Auch die Grundlagenbestimmung des Art. 2 FranzVfg, die Frankreich als unteilbare demokratische Republik kennzeichnet mit einem „gouvernement du peuple“, hätte Grundlage einer eingehenden rechtlichen Prüfung sein können. Am grundsätzlichsten bestimmt schließlich auch Art. 3 der Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte, die bis heute in die Französische Verfassung als geltendes Recht hineingelesen wird19, dass niemand Hoheitsgewalt ausüben kann, die nicht ausdrücklich aus der Nation hervorgeht. All diese Bestimmungen blieben indes von der Rechtsprechung ungenutzt. Sie werden noch nicht einmal auch nur in Bezug genommen.

15 Haute autorité de la communication audiovisuelle, CC no 84 – 173 DC du 26 juillet 1984; Commission de contrôle des campagnes électorales et des financements politiques (CCFP), CC no 91 – 1141 / 1142 / 1143 / 1144 DC du 31 juillet 1991; Autorité de régulation des télécommunications (ART), CC no 96 – 378 DC du 23 juillet 1996. 16 CC no 88 – 248 DC du 17 janvier 1989, cons. 9. 17 CC no 86 – 217 DC du 18 septembre 1986, cons. 3 ff. 18 CC no 96 – 378 DC du 23 juillet 1996, cons. 11. 19 CC no 71 – 44 DC du 16 juillet 1971.

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Die französische Literatur teilt die Wortkargheit des Conseil Constitutionnel nicht. Unabhängige Verwaltungsbehörden sind ein Thema, das seit 25 Jahren intensiv bearbeitet wird. Es hat viele Monographien, Sammelbände und Einzelabhandlungen hervorgebracht20 und verbindet sich zunehmend mit der Auseinandersetzung um den Begriff der Regulierung21. Die unabhängigen Verwaltungsbehörden sind nun schon seit zwei Jahrzehnten ein zentrales und hochaktuelles Thema. Bemerkenswert ist freilich, dass auch hier eine verfassungsrechtlich vertiefte Durchdringung der Legitimationsgrundlagen fehlt oder jedenfalls in der Regel von untergeordneter Bedeutung bleibt. Grundsätzlich verzichtet man auf die Entwicklung normativ hergeleiteter und dogmatisch ausgearbeiteter Maßstäbe zur rechtlichen oder auch theoretischen Beurteilung der Organisationsstrukturen als solcher. Man behandelt eher Probleme, die sich in deren Kontext stellen, wie die Delegationsmöglichkeit des Verordnungsrechts22 oder überhaupt die Befugnis der Verwaltung, Sanktionen zu verhängen23. Eine Auseinandersetzung mit den genannten Verfassungsbestimmungen fehlt folglich oft ganz beziehungsweise beschränkt sich auf Bemerkungen en passant oder ein politisch wägendes Räsonnieren24. Wenn sich die Literatur auf diese Bestimmungen näher einlässt25, dann eher im Sinne einer darstellenden Durch20 Vgl. etwa Catherine Teitgen-Colly, Les instances de régulation et la constitution, RDP 1990, S. 153 ff.; Colliard / Timsit (Hrsg.), Les autorités administratives indépendantes, 1988; Marie-José Guédon, Les autorités administratives indépendantes, Librairie générale de droit et de jurisprudence, 1991; Françoise Dreyfus, Les autorités administratives indépendantes: de l’intérêt général à celui des grands corps, in: Cadeau (Hrsg.), Perspective du droit public – Études offertes à Jean-Claude Hélin; Jean-Louis Autin, Réflexion sur le principe du contradictoire dans la procédure administrative, in: Conseil d’État (FN 6), S. 389 ff.; Michel Gentot, Les autorités administratives indépendantes, 2e éd. 1994. 21 Marcou, Régulation, services publics et intégration européenne en France, in: Marcou / Moderne (Hrsg.) (FN 7), S. 65 ff.; Bertrand du Marais, Droit public de la régulation économique, 2004, S. 518 ff.; Laurence Boy, Réflexions sur „le droit de la régulation“ (à propos du texte de M.-A. Frison-Roche), Le Dalloz 2001, no 37, S. 3031 (3032 ff.); Marie-Anne Frison Roche, Le droit de la régulation, Le Dalloz 2001, no 7, S. 610 (614 ff.); Félix François Lissouck, La régulation des services publics en réseau: Réflexion sur la recherche d’un équilibre entre l’ouverture à la concurrence et l’exigence de service public, Revue de la recherche juridique 2005, S. 841 ff.; Elisabeth Zoller, Les agences fédérales américaines, la régulation et la démocratie, RFDA 2004, S. 757 ff.; vgl. auch die Beiträge in: Lombard (Hrsg.), Régulation économique et démocratie, 2006. 22 Vgl. nur Paule Quilichini, Réguler n’est pas juger – Réflexions sur la nature du pouvoir de sanction des autorités de régulation, AJDA 2004, S. 1060 ff.; Sonia Benhadjyahia, La nature juridictionnelle des autorités de régulation, Revue de droit prospectif no 4, 2004, S. 2005 ff. 23 Etwa José Lefebvre, Un pouvoir réglementaire à géométrie variable, in: Decoopman (Hrsg.), Le désordre des autorités administratives indépendantes: L’exemple du secteur économique et financier, 2002, S. 97 ff. 24 Vgl. etwa Jacques Chevalier, Réflexions sur l’institution des autorités administratives indépendantes, JCP I 3254, 1986; Jean-Louis Autin, Du juge administratif aux autorités administratives indépendantes: un autre mode de régulation, RDP 1988, S. 1213 ff.; Dreyfus (FN 20); Sébastien Renaud, Les autorités de régulation et le démembrement du pouvoir central, Revue de la Recherche Juridique 2001, S. 2203 ff.

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musterung der Ergebnisse der Rechtsprechung, aus der Schlüsse auf die Bedeutung dieser Vorschriften gezogen werden, verbunden etwa dem Resümee, es handele sich um eine „kühne Auslegung“, die aber – angesichts der fachgerichtlichen Kontrolle der Behördenmaßnahmen und bestimmter Verfahrensgarantien bei der Verhängung von Sanktionen – immerhin nicht eine absolute Unabhängigkeit sanktioniere. Nur die Zukunft könne entscheiden, ob eine verbleibende Sorge hinsichtlich der Wirksamkeit solcher Strukturen berechtigt sei26. Der Schwerpunkt und die große Leistung der Literatur liegen demgegenüber vorwiegend in der Analyse und Ordnung der tatsächlichen, vom Gesetzgeber geschaffenen Entwicklung. Ein maßgebliches Anliegen ist eine differenzierte verwaltungsrechtliche Erfassung und systematische Zusammenführung der neugeschaffenen Strukturen27. Das Schrifttum erarbeitet differenzierte Darstellungen zur Zusammensetzung der Behörden und der Ernennung ihrer Beamten, zu deren Status, deren Budget oder deren Handlungsformen. Es extrahiert übergreifende Gründe für die Schaffung solcher Behörden und schließt hieran dann selbstverständlich auch verschiedene Einschätzungen dieser Entwicklung – die in der Regel übrigens eher zurückhaltend oder indirekt formuliert sind. Als Gründe genannt werden vor allem das Misstrauen hinsichtlich der Unparteilichkeit der Verwaltung oder – vorsichtiger – die Glaubwürdigkeit der Verwaltung gegenüber ausländischen Investoren, eine größere Nähe und Sachkunde zu den betroffenen Sektoren, die Fähigkeit zu schnelleren Entscheidungen oder die Erwartung einer dauerhaften Politik. Auch sucht man Klassifizierungen, wie als „summa divisio“ die Unterscheidung zwischen Behörden, die der Gewährleistung von Freiheitsrechten dienen, und solchen, die die Wirtschaftsaufsicht und -regulierung zur Aufgabe haben28. Insgesamt steht hierhinter weithin das Bemühen, einen Rechtsbegriff der „unabhängigen Regulierungsbehörden“ zu gewinnen. Die Konstruktion eines Begriffes soll rechtliche Ordnung und Systematik gewährleisten. Sie soll das Bedürfnis nach Eingliederung der neuen Erscheinungen in das Rechts25 Vgl. insbesondere die eingehende Abhandlung von Teitgen-Colly (FN 20), S. 153 ff. 26 Teitgen-Colly (FN 20), S. 258 f. 27 Vgl. etwa die Beiträge in dem Sammelband Colliard / Timsit (FN 20), der, nach der ersten Studie des Conseil d’État (Études et documents du Conseil d’État, no 35 [1983 / 1984], Étude sur les autorités administratives indépendantes), die erste eingehende wissenschaftliche Aufbereitung des Themas leistet; siehe auch Charley Hannoun, Comment interpréter le désordre des autorités administratives indépendantes?, in: Decoopman (FN 23), S. 7 ff.; Marie-José Guédon, L’hétérogénité des données organiques, in: Decoopman (FN 23), S. 57 ff.; Gaetan Guerlin, Regard sur la dépendance fonctionnelle des autorités administratives indépendantes, in: Decoopman (FN 23), S. 79 ff. 28 Vgl. dazu Marie-Anne Frison-Roche, Études dressant un bilan des autorités administratives indépendantes, in: Gélard (FN 1), Tome II – Annexes.

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system befriedigen und damit faktisch zugleich eine Legitimationsfunktion surrogieren. Der Sache nach sucht man so aus der einfachen Rechtslage ein allgemeines Prinzip abzuleiten, das als solches dann über diese hinausreicht und – in dieser Weise mit einem Mehrwert versehen – auf deren Auslegung und künftige Ausgestaltung normativ zurückwirken kann. Man extrapoliert den Organisationstypus der unabhängigen Verwaltungsbehörde als tertium comparationis und definiert damit den Normalfall ebenso wie Abweichungen und Defizite. Die Arbeit am Begriff gerät so in den Fokus rechtlicher Durchdringung. Nach meiner Beobachtung ist diese Art begriffsgeleiteter Systematisierung für das französische öffentliche Recht nicht untypisch. Sie findet sich im Begriff des „service public“, in der Diskussion um einen Begriff der „régulation“ – die in jüngerer Zeit Bände füllt29 – oder auch in einer neueren Diskussion um den Begriff der „fédération“30; und es lohnte eine Untersuchung, ob nicht letztlich auch die Beschäftigung mit den „libertés publiques“, also den Grundrechten, weithin ähnlich geführt wird. Diese Suche nach der Konturierung von Rechtsbegriffen lässt sich nicht einfachhin als Begriffsjurisprudenz abtun und ist jedenfalls nicht eine Neuauflage der Methodik des 19. Jahrhunderts (so unklar im Übrigen oft ist, welcher methodische Missstand mit dem Vorwurf der Begriffsjurisprudenz genau gegeißelt werden soll). Jedenfalls erreicht das französische Schrifttum mit dieser Methode eine beachtliche und zum Teil faszinierende Durchdringung und Inbezugsetzung der verschiedenen Rechtsmaterien. Das Organisationsrecht wird hierbei nicht nur differenziert erfasst, sondern auch kritisch daraufhin durchleuchtet, welche der verschiedenen Regelungen konsistentere Lösungen bieten und mit welchen Hintergründen welche Mechanismen zur Geltung kommen. Die Realität wird nicht aus dem Recht eskamotiert, sondern vielmehr eingefangen. Insbesondere für Reformdiskussionen gelingt es, aus dem Vergleich verschiedener Regelungen weiterführende und praktisch rückgekoppelte Lösungen anzubieten. Und der Sache nach fließen hierüber de facto auch quasi-normative Elemente mit ein. Gerade in jüngerer Zeit wurde so etwa die politische Kontrolle durch das Parlament als wichtiges und zu verstärkendes Element zur Kompensation der Unabhängigkeit entdeckt31. Freilich bleiben solche Erkenntnisse letztlich von geringer Durchschlagskraft. Denn hergeleitet nicht aus normativen Vorgaben der Verfassung, sondern eher aus einer synthetisierenden Arbeit an einem funktionalen Gesamtprofil der unabhängigen Verwaltungsbehörden fehlt ihnen der Halte29

Vgl. Nw. FN 21. Vgl. Olivier Beaud, Théorie constitutionnelle de la Fédération (im Erscheinen). 31 Martine Lombard, Institutions de régulation économique et démocratie politique, AJDA 2005, S. 530 ff.; de Charette (Hrsg.), Le contrôle démocratique des autorités administratives indépendantes à caractère économique, 2002; Vgl. auch die Beiträge in: Lombard (FN 21). 30

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punkt, der ihnen Stringenz und Verbindlichkeit verleihen könnte. Sie bleiben gefangen in dem unaufhebbaren Grundproblem dieser Methode: Die Beschreibung der Rechtswirklichkeit kann eine normative Ordnung nicht surrogieren, sondern muss in der Vielfalt steckenbleiben. Und so zerrinnt der Literatur der Begriff der unabhängigen Verwaltungsbehörde in ihren Händen, noch bevor er geschaffen ist. Alsbald nämlich musste man feststellen, dass sich weder ein übergreifendes Konzept noch ein homogenes Bild, geschweige denn eine konsistente Legitimitätsidee unabhängiger Verwaltungsbehörden synthetisieren lässt, und jede Arbeit weist die Heterogenität und Inkommensurabilität der verschiedenen Behörden auf. Der neueste, 600 Seiten starke Sachverständigenbericht für das Parlament schließlich trägt – rückgreifend immerhin auf zwei Jahrzehnte Forschung – den ernüchternden Titel: „Die unabhängigen Verwaltungsbehörden – Evaluierung eines nicht identifizierten Rechtsgegenstands“32. Auch wenn sich die Arbeiten intensiv mit Abgrenzungsfragen beschäftigen, was als unabhängige Verwaltungsbehörde zu gelten hat, sie die Behörden in verschiedene Gruppen oder Typen einteilen, ihre Rechtsformen und Befugnisse unterscheiden und fragen, wie neu oder nicht neu diese Form der Aufgabenauslagerung ist – am Ende steht nur ein raffiniert geordnetes, letztlich aber „impression“ bleibendes Bild der Vielfalt. Die unabhängigen Verwaltungsbehörden leiden damit das gleiche Schicksal wie selbst der für das französische Recht fundamentale Begriff des „service public“: Obwohl kategoriale Klammer des gesamten französischen Verwaltungsrechts zerfällt er in so viele Gestaltungsformen und Erscheinungen, dass er nur noch in einer sich immer weiter zergliedernden Beschreibung erfasst werden kann und in der Literatur mittlerweile zum Teil schon die Aufgabe dieses Begriffs wegen Konturenlosigkeit gefordert wird.

IV. Ein gemeinsames Manko in Frankreich und Deutschland Der französische Zugriff bildet damit ein Gegenmodell zu einer normativ verfassungsrechtlich zentrierten Methode, wie sie zum Teil und jedenfalls ausgeprägter als in Frankreich in der deutschen Tradition zu finden ist. Verbunden mit langen Traditionen dürfte dieses maßgeblich auch mit der unterschiedlichen Stellung, Ausstattung und Anerkennung der Verfassungsgerichtsbarkeit zusammenhängen. Durch ein starkes, materiell argumentierendes Verfassungsgericht wird auch der Rechtsdiskurs auf die Unterscheidung der Rechtsebenen verpflichtet und die Verfassung als normatives Widerlager aufgewertet. Die verfassungszentrierte Sicht ist damit der französischen aber in der Praxis nicht von vornherein überlegen – jedenfalls dann nicht, wenn sie hierüber in einen realitätsblinden Dogmatismus ab32

Gélard (FN 1).

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gleitet. Die verbreiteten Gefahren sind einerseits eine rechtspolitische Programmatik mit wirklichkeitsfernen Thesen, die als verfassungsrechtlich geboten ausgegeben werden, und andererseits ein Verfassungsgerichtspositivismus in Form eines bloßen Nachzeichnens der Verfassungsrechtsprechung. Nicht zufällig fehlt es hierbei – außerhalb der Rechtspraktik – vielfach an einer differenzierten Wahrnehmung und rechtlichen Durchdringung des positiven Rechts sowie der Rechtswirklichkeit, und große Bereiche bleiben, abgeschoben als Spezialmaterien oder Sonderkonstellationen, rechtlich kaum reflektiert. Gerade etwa Fragen der Verwaltungsorganisation sind so im deutschen Schrifttum weithin unterbelichtet. Die rechtlichen Alternativen, Ausgestaltungsformen und Konsequenzen etwa der Errichtung von Landesoberbehörden, von Anstalten oder von formalprivatisierten und gemischten Verwaltungsträgern werden kaum reflektiert, eine Behörde wie das Bundeskartellamt wird fast nur von den Kartellrechtlern wahrgenommen33 und selbst weitreichende Reformen wie die Abschaffung der Regierungspräsidien in Niedersachsen bleiben kaum beachtet34. Auch verfassungsdogmatisch ist das Repertoire beschränkt. An anspruchsvollen Maßstäben verharrt das Schrifttum weithin bei der verfassungsgerichtlichen Lehre der Legitimationsketten35 und steht hierbei in Gefahr, diese aus ihrem konkreten Kontext herauszulösen und ohne Blick auf die Wirklichkeit zu verabsolutieren36. Freilich hat gerade diese Lehre bei einem Teil des Schrifttums auch viel Widerspruch erfahren37 und bildet sich in Deutschland, allgemeiner, über33 Vgl. Rainer Bechtold, in: Bechtold, Kartellgesetz Kommentar, 4. Aufl. (2006), § 51 Rn. 1 ff.; Christian Bahr, in: Langen / Bunte, Kommentar zum deutschen und europäischen Kartellrecht, Band I – Deutsches Kartellrecht, 10. Aufl. 2006, § 51 Rn. 1 ff.; Bernhard Duijm, Die Unabhängigkeit von Kartellbehörden, ORDO 50 (1999), S. 323 ff.; Wernhard Möschel, Die Unabhängigkeit des Bundeskartellamtes, ORDO 48 (1997), S. 241 ff.; dazu aber auch Marian Döhler, Das Modell der unabhängigen Regulierungsbehörde im Kontext des deutschen Regierungs- und Verwaltungssystems, Die Verwaltung 34 (2001), S. 59 ff.; Johannes Masing, Die Regulierungsbehörde im Spannungsfeld von Unabhängigkeit und parlamentarischer Verantwortung, in: FS Reiner Schmidt, 2006, S. 521 ff. 34 Siehe aber Hinnerk Wißmann, Staatliche Mittel- und Sonderbehörden – eine Altlast der Verwaltungslandschaft?, DÖV 2004, S. 197 ff. 35 Nw. BVerfGE 47, 253 (275); 77, 1 (40); 83, 60 (72 f.); 93, 37 (66 f.); vorbereitet wurde diese Rechtsprechung durch die grundlegenden Arbeiten von Ernst-Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: Isensee / Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Band II – Verfassungsstaat, 3. Aufl. (2004), § 24 Rn. 11 ff. 36 Vgl. etwa Matthias Jestaedt, Demokratieprinzip und Kondomialverwaltung, 1993. 37 Vgl. nur Brun-Otto Bryde, Die bundesrepublikanische Volksdemokratie als Irrweg der Demokratietheorie, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1994, S. 305 ff.; Andreas Fisahn, Demokratie und Öffentlichkeitsbeteiligung, 2002, S. 278 ff.; weiterhin die Beiträge in: Redaktion Kritische Justiz (Hrsg.), Demokratie und Grundgesetz, 2000, S. 59 ff., jeweils m. w. Nw.; anders und weiterführend demgegenüber jetzt HansHeinrich Trute, Demokratische Legitimation der Verwaltung, in: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (Hrsg.), Grundlagen des Verwaltungsrechts, 2006, § 6 Rn. 68.

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haupt gegenüber der dogmatisch normativen Tradition eine Gegenströmung38. Gefordert wird – insoweit ähnlich wie in Frankreich – eine systematisch umfassendere Berücksichtigung verschiedener Regelungsmuster als Referenzmaterien zur Gewinnung allgemeiner Grundsätze sowie eine stärkere Einbeziehung der komplexen Wirkzusammenhänge von Recht und Rechtswirklichkeit. So fruchtbar dieses ist – und zwar gerade auch, wenn über das positive Recht hinaus handlungsleitend konzeptionelle Modelle entwickelt werden sollen –, so wenig geklärt ist dabei aber noch das methodische Grundverständnis. Nicht gebannt ist insbesondere die Gefahr, mit diesem Ansatz nun umgekehrt die kontrafaktische Kraft eines normativ verfassungsrechtlichen Fundaments zu verlieren. Die für das Organisationsrecht entwickelte „output-These“ jedenfalls, nach der all das demokratisch legitimiert sein soll, was funktional ist39, bedeutet letztlich nur den Verzicht auf eine inhaltliche und dogmatische Durchdringung der Legitimationsstrukturen überhaupt. Der Sache nach ist man hier auf dem Weg, eine normative Widerständigkeit und Ordnungskraft des Verfassungsrechts aufzugeben40. Mit einem solchen reformierten Ansatz wäre dann dem französischen Verwaltungsrecht gegenüber nichts gewonnen. Das französische Verwaltungsrecht könnte vielmehr umgekehrt für die wenig befriedigenden Einführungen, die hieraus folgen können, ein hilfreiches Spiegelbild sein41. Blickt man so auf die methodischen Schwierigkeiten zurück, die die Rechtswissenschaft in beiden Rechtsordnungen mit der Verarbeitung der Verwaltungsorganisation und ihrer Entwicklung haben, zeigt sich, wie die im Zuge der Internationalisierung unsicher gewordenen Legitimationsgrundlagen den rechtswissenschaftlichen Zugriff als solchen erfassen: Man vollzieht nach, macht die Wirklichkeit oder Effizienz zum Richtigkeitskriterium oder verweist umgekehrt auf die alleinige Maßgeblichkeit des Modells von gestern. Die Legitimationsfrage wird veräußerlicht zu einer deskriptiv deutenden Legitimitätsbetrachtung und wird damit als grundsätzliche nicht mehr gestellt. Das gemeinsame Manko ist so der Verlust eines theoretischen Fundaments, und mehr noch, der theoretischen Reflexion der Grundlagen von Recht. Es rächt sich nun, dass die Rückkopplung von Recht und demokratischer Organisation lange zu selbstverständlich schien, um 38 Vgl. programmatisch das neu herausgegebene Handbuch: Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (FN 37). 39 So im Wesentlichen die eher auf Destruktion als auf Rekonstruktion gerichtete Kritik an der Legitimationskettenlehre, siehe o. FN 37. 40 Nicht anders liegt das bei der letztlich kriterienlosen Entscheidung in BVerfGE 107, 59. 41 Die Parallele zum französischen Verwaltungsrecht betrifft dabei aber – das sei betont – nicht den Ansatz von Hoffmann-Riem / Schmidt-Aßmann / Voßkuhle (FN 37) als solchen. Im Gegensatz zu der eher begrifflich ordnenden und bewertenden Zugriffsweise der dargestellten französischen Literatur, versteht sich dieser eher problemorientiert und rechtspolitisch gestaltend. In einem nicht positiv-rechtlichen Sinn ist auch dieser Ansatz normativ und hat darin seine spezifische Stärke.

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als erörterungsbedürftig zu gelten. Die Rechtswissenschaft meinte, sich auf die Auslegung und Anwendung von Gesetz und Verfassung beschränken zu können. Gerade die Demokratie gründet aber in einer anspruchsvollen Dialektik von veritas und auctoritas, Norm und Wirklichkeit, Subjekt und Objekt, die mit der Organisationsfrage unmittelbar verbunden ist. Verliert sich die theoretische Verständigung über diese Rückkopplung als Grundlage jeder Legitimation, verliert die Verfassungsrechtswissenschaft ihr Fundament und die Verwaltungsrechtswissenschaft einen zentralen Punkt ihrer Ordnungs- und Unterscheidungskraft.

V. Unabhängige Verwaltungsbehörden und französische Verwaltungstradition Ich komme damit zu meinem letzten Teil und möchte dafür noch einmal die Perspektive wechseln. Unabhängig von dem wissenschaftlichen Diskurs: Wie lässt sich die Entstehung der unabhängigen Verwaltungsbehörde in Frankreich gesellschaftspolitisch-kulturell deuten? Es ist kaum vorstellbar, dass eine solche Entwicklung sich ohne Dispositionen in der gesellschaftlichen Grundverfasstheit und ohne ein dieses ermöglichendes kollektives Bewusstsein Bahn bricht. Ein erstes Erklärungsmoment ist sicher das einer Gegenbewegung: Die traditionell enge Verklammerung von Staat und Wirtschaft schafft das Bedürfnis von Instanzen, die hier Distanz wahren. Frankreich kennt traditionell eine Verbindung von Staat und Wirtschaft, die Deutschland fremd ist: Das Führungspersonal der Wirtschaft erhält seine Ausbildung weitgehend im Beamtenstatus an staatlichen Eliteschulen, die Fluktuation zwischen Staat und Wirtschaft ist erheblich und die Politik nimmt auf wirtschaftliche Entscheidungen wesentlichen aktiven Einfluss; für faktische Monopole sieht die Verfassung sogar die Nationalisierung als Rechtspflicht vor. Auch und gerade wenn diese Verklammerung als solche fest verankert ist, wächst mit ihr das Erfordernis nach kompensierenden Entscheidungsträgern, die Abstand von der Tagespolitik halten. Die unabhängigen Verwaltungsbehörden sollen diese Funktion erfüllen. Dabei verbindet sich die Schaffung unabhängiger Behörden dann aber mit einem weiteren kontinuitätswahrenden Traditionsstrang: dem allgemein hohen Vertrauen in fachlich hochqualifizierte Eliten. Sie hat ihre Parallele in dem auch sonst in Staat und Gesellschaft anzutreffenden großen Einfluss von Entscheidungsträgern, die – in staatlichen Kaderschmieden geformt – ihr Selbstverständnis aus ihrer Fachkompetenz, ihrer Zugehörigkeit zu einem Corps und dabei gerade auch aus ihrer Unabhängigkeit von politischen Parteiungen beziehen. Der Glaube an die Vernunft und Rationalisierbarkeit politischer Entscheidungen trägt sich im Land der Aufklärung durch als Instituierung von relativ ent-

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politisierten Eliten. Ein besonders signifikantes und – bei aller im Übrigen möglichen Kritik – auch gelungenes Beispiel ist hierfür der Conseil d’État, der nicht nur Gericht, sondern primär Beratungsorgan der Regierung ist, aber eben auch in dieser Funktion mit dem Selbstbewusstsein einer entpolitisierten unabhängigen Fachelite erheblichen Einfluss ausübt. Nicht zufällig wurde denn der Conseil d’État in der Literatur – für die meisten eher eine Provokation – als die erste unabhängige Verwaltungsbehörde Frankreichs bezeichnet42. Vielleicht erklärt sich aus solchem Grundvertrauen in politisch enthobene, durch Qualifikation legitimierte Führungskräfte tatsächlich die Leichtigkeit, mit der unabhängige Verwaltungsbehörden in Frankreich Verbreitung fanden. Böse Zungen in Frankreich deuten dies zugleich als Fortwirken eines gewissen Legitimismus, der von der starken Stellung des Präsidenten bis zur Skepsis gegenüber dem Parlament auch sonst in der Verfassung fortwirken würde. Die Stellung des Parlaments könnte im Zuge der Reformen im Übrigen aber vielleicht letztlich eine Stärkung finden: Jedenfalls ist die Notwendigkeit einer stärkeren parlamentarischen Kontrolle der unabhängigen Behörden in Frankreich mittlerweile ein großes Thema. Traditionelle Strukturen sind, das zeigt die Entwicklung der unabhängigen Verwaltungsbehörden einmal mehr, immer entwicklungsoffen.

42

Gérard Timsit, Synthèse, in: Colliard / Timsit (FN 20), S. 310 (316 f.).

Teilnehmerverzeichnis Prof. Dr. Hartmut Bauer, Universität Potsdam Prof. Dr. Giovanni Biaggini, Universität Zürich Prof. Dr. Christian Bumke, Bucerius Law School Hamburg Prof. Dr. Horst Dreier, Universität Würzburg Prof. Dr. Helmut Goerlich, Universität Leipzig Prof. Dr. Dieter Grimm, Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Rolf Gröschner, Universität Jena Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Häberle, Universität Bayreuth Prof. Dr. Wolfgang Hoffmann-Riem, Universität Hamburg / Bundesverfassungsgericht Karlsruhe Prof. Dr. Michael Kilian, Universität Halle / Saale Prof. Dr. Oliver Lepsius, Universität Bayreuth Prof. Dr. Johannes Masing, Universität Freiburg Prof. Dr. Dr. h.c. Hans Meyer, Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Martin Morlok, Universität Düsseldorf Prof. Dr. Janbernd Oebbecke, Universität Münster Prof. Dr. Lerke Osterloh, Universität Frankfurt a. M. / Bundesverfassungsgericht Karlsruhe Prof. Dr. Eckhard Pache, Universität Würzburg Prof. Dr. Dr. h.c. Ingolf Pernice, Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Matthias Ruffert, Universität Jena Prof. Dr. Dieter H. Scheuing, Universität Würzburg Prof. Dr. Reiner Schmidt, Universität Augsburg Prof. Dr. Friedrich Schoch, Universität Freiburg Prof. Dr. Martin Schulte, Technische Universität Dresden Prof. Dr. Helmuth Schulze-Fielitz, Universität Würzburg Prof. Dr. Gunnar Folke Schuppert, Humboldt-Universität zu Berlin / Wissenschaftszentrum Berlin Prof. Dr. Joachim Suerbaum, Universität Würzburg Prof. Dr. Hans-Heinrich Trute, Universität Hamburg Prof. Dr. Andreas Voßkuhle, Universität Freiburg Prof. Dr. Rainer Wahl, Universität Freiburg

382

Teilnehmerverzeichnis

Prof. Dr. Beatrice Weber-Dürler, Universität Zürich Prof. Dr. Ewald Wiederin, Universität Salzburg Prof. Dr. Joachim Wieland, Universität Frankfurt a. M.

Personen- und Sachverzeichnis Bearbeiter: Matthias Knauff, Würzburg Abhängigkeit 162 Abwägung 353 Ackerman, B. 67 Adenauer, K. 148, 221 Akteurszentrierung 330 Albert, H. 13 Allgemeine Staatslehre 126, 227 Analogie 322 Anschlussfähigkeit 17, 76, 117, 153, 254, 341, 364 Anwendungsorientierung 71, 74, 139 Arbeitsteilung 75, 89 Aubert, J.-F. 166 Auslegung 25, 235, 249, 286, 315, 324, 342 Ausnahmerecht 99

Bachof, O. 109 Bacon, F. 164 Badura, P. 126, 226 Balaguer-Callejon, F. 166 Becker, B. 211 Begriffsjurisprudenz 375 Begründung 71, 336 Belaunde, G. 166 Berg, W. 169 Berichtswesen 193 Berufungspraxis 142 Berufungsverfahren 168 Berufungswesen 293 Betriebswirtschaftslehre 40 Blankenagel, A. 168 Böckenförde, E.-W. 240 Bogdandy, A. von 242, 250, 254 Böhm, F. 254 Bonavides, P. 166 Breuer, R. 41, 178 Bryde, B.-O. 122 Bull, H.-P. 144

Bundesverfassungsgericht 21, 25, 28, 186 – Entscheidungsgründe 355 – Entscheidungswirkungen 357 – und Europäischer Gerichtshof 196 – und Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 197 Bundesverfassungsgerichtspositivismus 58, 187 Bundesverwaltungsgericht 190 Búrca, G. de 259 Burckhardt, J. 162

Carstens, K. 144, 148 Casebook 260 Common Law 233, 257, 319, 330 Conseil d’État 380 Craig, P. 259 D’Atena, A. 166 Dashwood, A. 259 Demokratie 379 Deregulierung 39 Deutscher Juristentag 149 Dilettantismus 19, 25 Diskurs 31, 146, 245, 255, 261, 269, 337, 363, 376 Distanz 153 Drei-Elemente-Lehre 97 Dreier, H. 171 Dürig, G. 169, 359 Dürrenmatt, F. 290 Dynamik 356 effet utile 237 Ehlers, D. 214 Ehmke, H. 144 Ehrlich, E. 87 Empirie 53, 92, 329, 350

384

Personen- und Sachverzeichnis

Engel, C. 25, 124, 220 Englisch 257, 263 Entscheidung – Techniken 220 – Theorie der Suboptimalen ~ 65 Erfahrungsgrundlage 72 Eucken, W. 254 Europäische Gemeinschaft 103 Europäische Juristengemeinschaft 245 Europäische Kommission 41 Europäische Union 225, 227 – Besonderheit 245 – Dynamik 248 – Verbundcharakter 242 – Verfassung 229 – Verfassungsvertrag 253 Europäischer Gerichtshof 233 Europäisches Verfassungsrecht 161, 197 Europäisches Verwaltungsrecht 161, 253 Europäisierung 40, 116, 194, 208, 239, 249 Europarecht 161 – Dynamik 236 – Einwirkungen des englischen Rechts 258 – Grenzen 231 – Querschnittscharakter 230 – Rechtsprechung 233 – Sprachenproblematik 235 – und mitgliedstaatliches Recht 64, 104 – Verbundcharakter 237 Europarechtswissenschaft 161 – Aufgaben 227 – Ausdifferenzierung 256 – britische 257 – deutsche 253, 256, 262 – Eigenständigkeit 251 – Einheitlichkeit 234 – Europäisierung 250, 260 – französische 256 – Interdisziplinarität 228, 245, 254 – und Privatrecht 230 Externalisierung 75 Exzellenzinitiative 12

Fachzeitschriften 170 Fakten 130 Faktenorientierung 320, 335, 349, 354 Falllösung 26, 214 Fernsehen 152 Festschriften 171 Feuilleton 152, 341 Fix-Zamudio, H. 166 Fleiner, F. 271, 283, 285 Forsthoff, E. 170, 171 Frankreich – Selbstverständnis 367 – unabhängige Verwaltungsbehörden 369 Freirechtsschule 109 Fremdbeschreibung 118 Friesenhahn, E. 167 Frowein, J. A. 177 Gemeinwohl 101 Generationenvertrag 161, 171 Gerber, C. F. von 238 Gerven, W. van 243 Gesetz 345 Gesetzesbindung 322, 325 Gesetzgebungslehre 209 Gesprächskreise 151 Gewährleistungsrecht 207 Gewaltausübung 218 Gewaltenteilung 334 Giacometti, Z. 278, 285 Glaubwürdigkeit 218 Goerlich, H. 172 Goethe, J. W. von 162, 164 Gremien 142 Grenzgänger 261 Grewe, W. G. 144, 148 Grimm, D. 173 Grundlagenfächer 14, 19, 34, 74, 117, 361 Grundnorm 87, 103

Häberle, P. 63, 67, 169, 225 Habermas, J. 161 Hallstein, W. 148, 228 Haltern, U. 256 Hamilton, A. 363 Hammarskjöld, D. 163

Personen- und Sachverzeichnis

Handbuchliteratur 171 Haverkate, G. 57 Hayek, F. A. von 163 Herzog, R. 144, 170 Hesse, K. 170, 173, 192 Heye, J. 164 Hierarchie 162 Hill, H. 144 Historisierung 68, 355 Hoffmann-Riem, W. 67, 129, 142, 145 Hofmann, H. 169 Holmes, O. B. 58 Holstein, G. 161 Hugo, V. 164

Imboden, M. 269 Information 208 Innenperspektive 62 Innovation 206 Institutionen 330 Interdisziplinarität 24, 122, 124, 340 – Brückenbegriffe 23 – im Europarecht 245 – Probleme 19, 117, 125 – Voraussetzungen 61, 212, 221, 258 Internationalisierung 40, 116, 194, 208, 239, 378 Internationalität 347 Interpretation 357 – als schöpferischer Akt 108 – authentische 110 – rechtswissenschaftliche 110 Ipsen, H.-P. 233 Isensee, J. 142 Italien 166 Jaspers, K. 162, 163 Jellinek, G. 95, 97, 228 – Selbstbindungslehre 98 – Staatsbegriff 97 Jestaedt, M. 25 Jonas, H. 161 Kant, I. 174 Kasuistik 257, 259, 354, 361 Kaufmann, E. 148, 161 Kelsen, H. 14, 15, 81, 166, 297 – Wissenschaftsprogramm 82

Kewenig, W. 144 Kilian, M. 161 Kirchhof, P. 148, 228 Klecatsky, H. R. 166 Knies, W. 144 Kokott, J. 240 Koller, P. 163 Kommentarliteratur 171, 260, 345 Kommers, D. P. 57 Konformauslegung 237, 286 König, K. 217 Konstitutionalismus 38, 99 Konstruktivismus 66 Kontextualisierung 355, 361 Kontrollmaßstäbe 336 Kumm, M. 244

Laband, P. 107 Landa, C. 166 Landau, P. 169 Lateinamerika 166 Latenz 73, 122 Laun, R. von 156 Leibholz, G. 173 Leicht, R. 168 Lepsius, O. 120, 162 Lerche, P. 172 Lincoln, A. 363 Literaturgattungen 170 López-Guerra, L. 166 Lübbe-Wolff, G. 142 Luhmann, N. 54, 165 Macht 162 Machtausübung 31, 165 Madison J. 363 Maduro, M. P. 243 Mähler, G. 171 Maunz, T. 144 Maurer, H. 169 Mayer, O. 19, 185 Mendes, G. F. 166 Merkl, A. 103, 107, 300 Merten, D. 142 Metapher 52 Metatheorie 26 Methode – Alternativen 26

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Personen- und Sachverzeichnis

– andere Wissenschaften 61 – angelsächsische 257, 323 – Bedeutung 25, 185, 363 – französische 375, 378 – Funktionalisierung 46 – juristische 19, 88, 136, 219 – Wandel 21, 239 Methodenarmut 21 Methodenlehre 106 – europäische 235 Methodenpluralismus 22 Methodenstreitigkeiten 30 Methodensynkretismus 19, 25, 106, 125 Meyer, H. 169 Modelle 62, 65 Molière 164 Möllers, C. 126, 204, 220 Monographie 170 Montesquieu, C. de Secondat, Baron de 163 Morlok, M. 236, 244 Müller, F. 106, 120, 129 Müller, G. 167 Münch, I. von 144 Nachbardisziplinen 61, 121, 247, 331, 337, 340 Naturrecht 90, 114 Neues Steuerungsmodell 24, 39, 217 New Public Management 24, 39 Nicht-Thematisierung 73 Nietzsche, F. 162 Normativität 132 Normenstruktur 183 Normverständnis 320 Objektive Wertordnung 359 Öffentliches Recht – Einheit 179, 208 – und Privatrecht 258 Öffentlichkeit 154 Öhlinger, T. 315 Ökonomisierung 39 Oppermann, T. 148 Organisationsrecht 375, 377 original intent 26 Österreich 166, 293

Pace, A. 166 Parsons, T. 165 Pascal, B. 267 Pernthaler, P. 166 Personen 346 Perspektive 61, 250, 342 Pizzorusso, A. 166 Pluralismus 30, 161, 169, 331 Pluralismustheorie 102 Popper, K. R. 161 Populärwissenschaft 153 Portugal 166 Pound, R. 328 Präjudiz 321, 326, 330, 336 Praxisorientierung 26 Privatisierung 39, 44, 207 Problemzugang 35 Publizität 147, 154 Rationalität 64, 209 Rawls, J. 59 Realbereich 192 Recht – Instrumentalisierung 45 – Fremdbeobachtung 121 – materielles 333, 337 – Problemlösungsauftrag 26 – und Gesellschaft 328 – und Kausalwissenschaften 86 – und Macht 100 – und Moral 58, 90, 114, 295 – und Politik 83, 113, 210, 273, 333 – und Sprache 51 – und Staat 295 – und Wirklichkeit 192 Rechtsanwendung 333, 303, 338 Rechtsdogmatik 14, 16, 128, 131, 184, 209, 326, 337, 338, 344, 351, 361 – Funktion 21, 209, 240 – und Europarecht 232 Rechtsetzung 333, 303, 356 Rechtsgeschichte 216 Rechtsgestaltung 45 Rechtsgutachten 147 Rechtskonkretisierung 129, 130 Rechtskultur 140, 294 Rechtsordnung – amerikanische 332

Personen- und Sachverzeichnis

– Begriff 107 – Einheit 332 – Konstitutionalisierung 199, 355 – Stufenbau 103, 105, 107, 300 – und Gesetze 345 Rechtspolitik 83, 136, 143, 167, 215, 218, 219, 339, 349, 353, 365 Rechtssicherheit 345 Rechtssoziologie 87, 119, 216 Rechtsstaat 94 Rechtssystem 121, 326 365 Rechtstatsachenforschung 193 Rechtstheorie 344 Rechtsvergleichung 57, 61, 162, 235, 261, 347 – Bedeutungsgewinn 45 – Funktion 63, 291 – im Europarecht 237, 242 Rechtswissenschaft – als Entscheidungswissenschaft 139, 272 – als Erfahrungswissenschaft 64 – als Kulturwissenschaft 16, 160 – Dynamik 337 – Eigenständigkeit 13 – Gegenstand 365 – Objektivität 112 – Perspektive 339 – Rezeption 117, 129 – und praktische Jurisprudenz 74 – und Rechtspraxis 71, 110, 111, 140, 204, 341, 346 – und Rechtssystem 121 – und Sozialwissenschaft 13, 88 – und Sprachwissenschaft 52 Reflexion 50, 262 Reflexionsdefizite 49, 254, 289 – Beispiele 51 – Fiktionsbewahrung 73 – Gründe 76 – Maßstab 76 Reflexionstheorien 75 Regulierung 207 Reine Rechtslehre 14, 82, 296, 298, 300 Reputation 71, 157 Rezensionswesen 169 Rhinow, R. A. 166

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Richter 146, 330, 346 Richterrecht 326 Ridola, P. 166 Ritter, G. 162 Rollenkonflikte 146, 157 Roosevelt, F. D. 363 Rubio Llorente, F. 166 Rundfunk 152 Rupp, H. H. 173 Rüthers, B. 25

Sarlet, W. 166 Scharpf, F. W. 254 Schäuble, W. 160 Schiller, F. von 164 Schlink, B. 21, 172, 177, 178 Schmidt, R. 206 Schmidt-Aßmann, E. 240 Schmidt-Jortzig, E. 144, 145 Schmitt, C. 97, 100, 113 Schmitt Glaeser, W. 144, 169 Schneider, H.-P. 148 Schoch, F. 225 Scholz, R. 144 Schröder, G. 148 Schulze-Fielitz, H. 63, 67, 77, 119, 169, 212, 241 Schuppert, G. F. 168, 211 Schwarz, V. 170 Schwarze, J. 161, 253 Schweiz 166, 267 Seilschaften 169 Sein und Sollen 15, 86 Seipel, I. 299 Sekundärliteratur 171 Selbstbeobachtung 11 Selbstbeschreibung 118 Selbstreflexion 24, 34, 47, 248 Selbstverpflichtungslehre 98, 100 Selbstverwaltung 142 Siebeck, G. 170 Simon, N. 170 Skeptizismus 156 Smend, R. 57, 85, 93, 97, 113 Souveränität 102, 296 Soziologie 76, 122 Spanien 166 Sprachenproblematik 257, 235, 269

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Personen- und Sachverzeichnis

Staat – „an sich“ 96 – Begriff 92, 97 – Rechtsordnungsidentität 95 – und Markt 23 – und Wirtschaft 379 – und Wissenschaft 163 Staatenverbund 228 Staatsnotrecht 100 Staatsrecht 249 Staatsrechtslehre – als Normwissenschaft 15 – als Reflexionstheorie 117 – als soziales System 31 – als Sozialwissenschaft 17, 115, 123 – als Wissenstheorie 132 – amerikanische 319 – Ebenen 34, 75 – Einheitsanspruch 37 – Erkenntnisinteresse 43 – Forschungsgegenstand 12 – französische 367 – Gegenstand 38, 183 – Instrumentalisierung 27, 30 – Interdisziplinarität 246 – österreichische 293 – Pluralismus 30, 33 – Politiknähe 27, 37, 135 – Reflexionsleistungen 68 – schweizerische 267 – Theoriebildung 17 – und Bundesgericht 278, 288 – und Bundesverfassungsgericht 172, 177, 187, 198, 202, 354 – und Bundesverwaltungsgericht 190 – und Conseil Constitutionnel 373 – und Rechtspraxis 120, 140 – und Rechtsprechung 26, 29, 72 – und Europäisierung 195, 200 – und Europarechtswissenschaft 225, 251 – und Verfassungsinterpretation 161 – und Verwaltungsrechtslehre 179 – und Volksgesetzgebung 272, 280, 283, 285 – Vorrang 31 – Wissenschaftscharakter 26, 74, 117 – Wissenschaftstheorie 15

Staatsrechtslehrer – als Berater 147 – als Gutachter 147, 172 – als Politiker 144, 166 – als Rechtsanwälte 148 – als Richter 146 – Gruppenbildung 36 – Selbstverständnis 71 – Spezialisierung 34 Staatsrechtslehrervereinigung 32, 74, 142, 151, 168, 179, 268, 293 Staatswissenschaften 238 Standards 155 Steiner, G. 161 Steuerung 204 Steuerungsperspektive 43 Stiftungen 150 Stober, R. 214 Stolleis, M. 68, 135 Strukturierung 343 Studierende 141 Studium 74, 340 Subsumtion 321 Systematik 337 Systembildung 327 Systemdenken 191 Systemtheorie 121

Tagore, R. 164 Talleyrand, C.-M. de 165 Tatsachenforschung 350 Teufel, E. 148 Thatcher, M. 259 Themenwahl 216 Theorie 340, 346, 364, 378 Theoriebildung 119, 131 Theorieimporte 116 Theorielosigkeit 54 Thieme, W. 220 Thürer, D. 168 Topitsch, E. 91 Tradition 184 Transdisziplinarität 24 Transformation 128, 129 Transparenz 154 Trendverstärkung 156 Triepel, H. 135, 161

Personen- und Sachverzeichnis

Unabhängigkeit 155

Valadés, D. 166 Verbundbegriffe 127 Verdi, G. 164 Verfassungsgerichtsbarkeit 104 – Schweiz 272, 283, 284 Verfassungsinterpretation 186 Verfassungsrecht – Folgenbeobachtung 72 – Grundfragen 55 – Kryptomoralität 59 – Österreich 298 – Schweiz 270 – und Politik 60 Verfassungsrechtslehre 161 Verfassungsverbund 226, 249 Vergottini, G. de 166 Verhältnismäßigkeitsgrundsatz 352 Verlagswesen 169 Vermarktung 161 Vertrauensschutz 360 Verwaltung 40, 42 Verwaltungsgerichtsbarkeit / Schweiz 283 Verwaltungsrecht 341 – instrumentelle Veränderung 41, 44 – und Privatrecht 40, 208 Verwaltungsrechtswissenschaft 22 – als Steuerungswissenschaft 43, 206 – Aufgabe 214 – Defizite 201 – Gegenstand 182 – Neue ~ 178, 184, 192, 194, 198, 203, 209, 217, 219 – Reform 198 – und andere Wissenschaften 215 – und Europäisierung 195

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– und Verwaltungsrechtspolitik 45, 215 – und Verwaltungswissenschaft 211, 217 Verwaltungsverbund 42, 249 Verwaltungswissenschaft 126, 211 Vesting, T. 240, 251 Vogt, G. 283 Völkerrecht 165 Vorverständnis 26, 139, 185 Voßkuhle, A. 220, 238, 239

Wahl, R. 64, 68, 179, 239 Wahrheitssuche 160 Wahrnehmungsdefizite 72 Weber, M. 84, 97, 142, 162 Weiler, J. H. H. 257 Wiener Schule 109, 297 Winkler, G. 293, 294 Wirtschaft 163 Wissenschaft – und Staat 163 – und Wissenschaftler 164 Wissenschaftsinstitutionen 149 Wissenschaftsprozess 250 Wissenschaftssoziologie 67 Wissenschaftstheorie 117, 121, 124 Wyatt, D. 259 Zagrebelsky, G. 166 Zeidler, W. 172 Zeitbezug 248, 250, 337, 354, 365 Zeitgeist 156 Ziekow, J. 220 Zitierpraxis 338 Zitierwesen 171 Zivilrecht 40, 219, 334 Zwei-Seiten-Lehre 95