Staat, wach auf!: Warum die Wirtschaft einen externen Regulator braucht [1 ed.] 9783205232643, 9783205232629

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Staat, wach auf!: Warum die Wirtschaft einen externen Regulator braucht [1 ed.]
 9783205232643, 9783205232629

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Hellmut Butterweck

STAAT, WACH AUF! Warum die Wirtschaft einen externen Regulator braucht

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek  : Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie  ; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Umschlagabbildung  : France Shipping (© Thibault Camus/AP/picturedesk.com) © 2019 by Böhlau Verlag Ges.m.b.H & Co. KG, Wien, Kölblgasse 8–10, A-1030 Wien Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Korrektorat  : Kornelia Trinkaus, Meerbusch Einbandgestaltung  : Michael Haderer, Wien Satz  : Michael Rauscher, Wien Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-205-23264-3

Inhalt

Einleitung. Die Flucht auf das sinkende Schiff, oder: Was nicht in Köpfen vorbereitet ist, wird niemals Wirklichkeit. . . . . . . . .    7 I. Diagnostischer Teil. Das Wertparadox der fossilen Energieträger, oder  : Die unsichtbare Hand hat keinen Kopf. . . .   16 II. Historischer Teil. Der kognitive Blackout und das herzlose ­Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .   52 III. Praktischer Teil. Roadmap nach Utopia, oder  : Was geschehen muss – und was getan werden kann. . . . . . . 113 Anhang. Das Wertparadox der fossilen Energieträger . . . . . . . 159 Anmerkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166

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Ich widme dieses Buch Herrn Dr. Hans Peter Haselsteiner, der das Erschei­nen möglich gemacht hat. H. B.

Es läßt sich nicht leugnen: Die einzige Tatsache von universaler ethischer Bedeutung in der aktuellen Welt ist die diffus allgegenwärtig wachsende Einsicht, daß es so nicht weitergehen kann. Peter Sloterdijk, Du mußt dein Leben ändern

Einleitung Die Flucht auf das sinkende Schiff, oder: Was nicht in Köpfen vorbereitet ist, wird niemals Wirklichkeit

Es ist eine Illusion zu glauben, dass eine Überzeugung, die von Jahrhundert zu Jahrhundert & von Generation zu Generation ­weitergegeben wurde, nicht vollkommen falsch sein könnte. Pierre Bayle, Pensées diverses, Rotterdam 16831

Die unheilvolle Rolle entfesselter Finanzmärkte dürfte in Europa den meisten Menschen bewusst sein und es gibt darüber eine Fülle von Literatur. Thema dieses Buches ist die Fehlsteuerung der Realwirtschaft, welche die Reichen immer reicher werden lässt und die Arbeitenden ins Abseits drängt. Sie hat die Ausbeutung der Arbeiter durch die Ausbeutung der Naturvorräte ersetzt, mit dem Ergebnis, dass die Überlebensbasis aller nach uns Kommenden dahinschwindet und die Zeit der Vollbeschäftigung nach dem Zweiten Weltkrieg heute bereits als die gute alte Zeit erscheint. Nach einer Phase steigenden Wohlstandes ist die Weltwirtschaft zu einem Mechanismus verkommen, der unersetzliche Ressourcen, auf die alle nach uns lebenden Menschen ein Anrecht haben, in Wärme, nach einer in historischer Perspektive verschwindend kurzen Nutzung der Produkte in Abfall und in gigantische Anhäufungen von Gewinnen verwandelt, während das in den Industriestaaten erreichte Niveau von allgemeinem Wohlstand und sozialer Sicherheit nicht mehr weiter steigt, sondern sinkt. Es ist das Ende einer Epoche. Sie hat vor zweihundert Jahren damit begonnen, dass die Dampfmaschine dem Menschen die Schwerarbeit abnahm, die Produktionsstätten eroberte und Arbeitslosigkeit erzeugte. Sie war aber vor allem dadurch gekennzeichnet, dass eine vordem unvorstellbare Fülle von Innovationen und Produkten für neue

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Einleitung

Arbeitsplätze sorgte. In der letzten Phase dieser Epoche, nach dem Zweiten Weltkrieg, erreichte ein Teil der Industriestaaten dank einer weiteren Innovation, Sozialstaat genannt, für einen Großteil seiner Bevölkerungen ein zuvor niemals gekanntes Ausmaß von Wohlstand und Sicherheit. Damit ist es vorerst vorbei. Die Industriegesellschaften sind in ein Stadium eingetreten, in dem Innovationen nach wie vor entstehen, aber nicht mehr in der Lage sind, den durch den technischen Fortschritt bedingten Verlust von Arbeitsplätzen aufzufangen, zumal gerade die Speerspitze des menschlichen Erfindungsgeistes darauf abzielt, immer mehr menschliche Arbeit durch schnellere, genauere, vor allem aber billigere Maschinenarbeit und steuernde Algorithmen zu ersetzen. Die Hoffnung, dass für die Arbeitsplätze, die Innovationen zum Opfer fallen, so wie bisher durch weitere Innovationen genügend neue entstehen, ist nur noch eine gefährliche Illusion. Millionen Menschen wissen auf diffuse Weise, dass es so nicht weitergehen kann. Ausgerechnet in dieser kritischen Phase, in der die Wirtschaft ihre Fähigkeit verliert, nicht nur Güter und Dienstleistungen, sondern auch genügend Arbeit für Menschen bereitzustellen, kommt seit dem Jahr 2015 die Angst vor der Zuwanderung hinzu und befeuert den Rechtspopulismus. Die Politik ist ratlos angesichts eines Phänomens, auf das sie nicht gefasst war. Ratlose Politiker genossen noch nie das Vertrauen der Wähler. Die Rechtspopulisten haben zwar auch keine Lösung, lügen den Menschen aber vor, sie hätten eine und appellieren an archaische Emotionen. Zur von Peter Sloterdijk erwähnten diffus allgegenwärtigen Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann, gesellt sich ein erschreckendes Gefühl des politischen Déjà-vu. Ich habe allerdings Bedenken gegen die Bezeichnung »rechtspopulistisch« für Europas äußere und äußerste Rechte, weil Populismus umgangssprachlich mit Opportunismus assoziiert wird und ich sie nicht für opportunistisch halte. Sie vertreten ihre Positionen aus innerster, von allen humanen Bedenken freier Überzeugung und kommen damit bei erschreckend vielen Menschen an. Italiens Fünfsterne-Bewegung ist populistisch, Horst Seehofer ist ein Populist. Selbstverständlich

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Die Flucht auf das sinkende Schiff

bedienen sich auch AfD, FPÖ, Marine le Pen & Co. populistischer Methoden, aber sie haben übergeordnete, der liberalen, pluralistischen Demokratie feindliche Ziele. Sie meinen, was sie sagen, sagen aber bei Weitem nicht alles, was sie meinen. Im 19. und 20. Jahrhundert kamen Millionen nach Amerika. Wenige brachten mehr mit als ihre Arbeitskraft und ihren Hunger nach Freiheit und einem besseren Leben. Amerika nahm sie alle auf, und sie machten die USA zur mächtigsten Nation der Erde. 25 Millionen Italiener verließen von der Staatswerdung Italiens im Jahre 1861 bis zum Ersten Weltkrieg ihre Heimat – die größte Migrationsbewegung der jüngeren Geschichte. Sie stärkten die Innovations- und Wirtschaftskraft Argentiniens und der USA und mehrerer europäischer Länder, allen voran Österreich-Ungarn und Frankreich. Als Ursache der italienischen Diaspora wird meist die Bevölkerungsvermehrung infolge der verbesserten hygienischen Verhältnisse genannt. Bei Gunnar Myrdal (1898–1987) finden wir eine andere, sehr aktuell anmutende Ursache  : Die Zusammenlegung Italiens zu einem gemeinsamen Wirtschaftsund Währungsraum habe zum Zusammenbruch der florierenden, aber plötzlich nicht mehr konkurrenzfähigen Wirtschaft des Mezzogiorno geführt, erst dadurch sei Italiens Süden zum Armenhaus geworden. Noch nach dem Zweiten Weltkrieg suchten viele Industriestaaten Arbeitskräfte. Denken wir nur an Australien oder an die Anwerbung türkischer Industriearbeiter für Deutschland. Heute schotten alle ­ihren Arbeitsmarkt ab. Wie konnte sich die Welt so schnell zu ­ihrem Nachteil verändern  ? Die gängige Antwort kennt jeder  : Der ­technische Fortschritt habe der globalen Willkommenskultur ein Ende gemacht. Europa braucht keine Zuwanderer mehr, aber sie kommen trotzdem. Und die, die schon da sind oder noch kommen werden, werden freiwillig nicht so bald wieder gehen, wenn überhaupt, denn in ihren Herkunftsländern sind Verhältnisse, die zur Heimkehr oder zum Bleiben einladen, nicht in Sicht. Die Unterscheidung zwischen Kriegsflüchtlingen, Flüchtlingen vor politischer Verfolgung und Wirtschaftsflüchtlingen ist ohnehin fragwürdig. Unerträglichen Zuständen entfliehen die ­einen wie die anderen.

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Einleitung

In einer Wirtschaft, die nicht nur Produkte, sondern auch genug Arbeit bereitstellte, war immer für Zuwanderer Platz. Jeder Neuankömmling stärkte die Wirtschaftskraft des Landes, in das er kam, indem er mit seiner Arbeitskraft zur Produktion und mit dem Geld, das er verdiente, zum Konsum beitrug. Heute machen die Arbeit immer »intelligentere« Maschinen. An die Menschen, welche die verbleibende Arbeit verrichten, werden immer höhere Anforderungen gestellt. Viele müssen die Abwertung ihrer Qualifikationen und ein niedrigeres Einkommen hinnehmen. Die Migranten, die heute nach Europa gelangen, kommen auf ein leckendes Schiff mit überlasteten Pumpen. Auch auf einem lecken Schiff gibt es freilich Luxuskabinen, und verglichen mit den Zuständen in ihren Herkunftsländern erscheint den Zuwanderern selbst das Zwischendeck, das sie mit etwas Glück erreichen, als erstrebenswerter Ort. Um das Lebensgefühl derer zu beschreiben, die schon an Bord sind, genügen drei Wörter  : Unsicherheit, Ratlosigkeit, Angst. Ein dumpfes Gefühl, dass alles irgendwie in die falsche Richtung läuft, ist allgegen­ wärtig. Europa dämmt die Zuwanderung ein, so gut es kann, muss sich aber trotzdem darauf einstellen, dass weitere Menschen kommen. Kann es diejenigen, die schon da sind und die, die noch kommen und denen es gelingt zu bleiben, nicht integrieren und ihnen Arbeit und eine Zukunft bieten, stehen uns dunkle Zeiten bevor. Europa würde sich einen sozialen und politischen Zeitzünder einhandeln, eine mehrheitlich islamische Unterschicht von Menschen ohne Chance auf Aufstieg und Wohlstand, unter denen die muslimischen Hassprediger ihre Opfer finden, und auf der anderen Seite eine nach der Macht greifende Rechte mit ihren Hasspredigern. Die überbeanspruchten Arbeitsmärkte, die Zuwanderung, die begreiflichen Ängste der Menschen, die Ausnützung dieser Ängste durch die Rechte drohen dem aufgeklärten Europa, wie wir es kennen, mit seinem Pluralismus, seiner Meinungs- und allen seinen sonstigen Freiheiten, den Garaus zu machen. Der religiöse und ideologische Fanatismus ist wohl unausrottbar, ein sicheres Rezept dagegen hat niemand. Wenn es überhaupt eine Möglichkeit gibt, Ausbrüchen von kollektivem Wahnsinn

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Die Flucht auf das sinkende Schiff

aller Art so gut wie möglich vorzubeugen, bieten soziale Sicherheit und materieller Wohlstand aber immer noch die besten Voraussetzungen. Heute treffen Arbeitslosigkeit und triste berufliche Aussichten auch die Eingesessenen, verstärken den Konkurrenzdruck und verschärfen das innenpolitische Klima. Wenn wir uns nicht aufraffen, dem Versagen der Arbeitsmärkte auf den Grund zu gehen und es zu beheben, werden mehr und mehr Menschen, Eingesessene wie Eingewanderte, ganz oder teilweise in die sozialen Netze fallen, bis die nachgeben, und dann stehen wir möglicherweise schlimmer da als 1930. Wirtschaft ist nun einmal nur dann funktionsfähig, wenn sie nicht nur alles hervorbringt, was Menschen brauchen oder wünschen, sondern sie auch in die Lage versetzt, es zu erwerben. In der Gesellschaft, in der wir leben, können sie es nur durch ihre Erwerbsarbeit. Eine andere Gesellschaft ist nicht in Sicht und die Sehnsucht der meisten Menschen nach einer ganz anderen Gesellschaft hält sich nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts in Grenzen. ***

Dass es auf der Erde immer wärmer wird, lässt kaum jemanden mehr kalt, doch nur Wachstum hält die freie Marktwirtschaft in Gang. Daher muss Wachstum sein, um jeden Preis, immer mehr von allem und jedem. Mehr Produktion bedeutet aber zwangsläufig mehr Kohlendioxid, CO2, in der Atmosphäre. Ignorieren wir die Warnungen der Klimaforscher und Biologen, gerät das Ökosystem, auf das alles Leben angewiesen ist, immer tiefer in die Krise. Die Temperaturrekorde, die regelmäßig eintretenden Dürre-, Sturm- und Flutkatastrophen sind nur ein Vorgeschmack dessen, was noch bevorsteht. Ignorieren wir aber die Forderung nach weiterem Wachstum, gerät die freie Marktwirtschaft in die Krise und die Arbeitslosigkeit wächst dem Sozialstaat über den Kopf. Daher ist es höchste Zeit, darüber nachzudenken, ob exponentielles Wachstum nicht einem exponentiell wachsenden Widerstand begegnet. Wie angesichts eines kontinuierlich oder in Schüben abflachenden Wachstums soziale und politische Katastrophen vermieden werden

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Einleitung

können. Wie lange die Wirtschaft noch wachsen kann und soll, wo und auf welche Weise, wie wir vom Zwang zum permanenten Wachstum auf kontrollierte Weise loskommen können und wie es nachher weitergehen soll. Auch die Frage, ob das Zusammenwachsen der Welt zu einem einzigen großen Markt, so wie es in Szene gesetzt wurde und wie wir es heute erleben, der richtige Weg ist, steht unbeantwortet im Raum. Hätte TTIP am Anfang tatsächlich neue Jobs geschaffen, wie die Lobbyisten der Großkonzerne behaupteten, wären sie bald wieder verschwunden. Größere Märkte ermöglichen höhere Produktivität. Steigende Produktivität spart Arbeitsplätze ein. Noch größere Con­ tai­nerfrachter hätten die Güter noch billiger transportiert, der Güterstrom wäre angeschwollen und insgesamt noch mehr Erdöl verbrannt worden und noch mehr CO2 in die Atmosphäre gelangt. ***

Die Geschichte der ökonomischen Theorien ist keineswegs die einer reinen Wahrheitssuche wie jene der Mathematik oder der Astronomie. Sie dienten immer auch Interessen. Über zweihundert Jahre lang hatten die merkantilistischen Ökonomen das Recht des Staates und der Herrscher verteidigt, sich die Wirtschaft zum Diener zu machen. Ihre Nachfolger, die klassischen Ökonomen, wurden zu Bannerträgern der Produzenten und Händler in ihrem Kampf um die Emanzipation vom Staat. Darauf geht die traditionelle Staatsskepsis des Liberalismus zurück. Der schottische Aufklärer, Moralphilosoph und Ökonom Adam Smith (1723–1790) brachte die wirtschaftlichen Vorgänge in ein System, in dem der Eigennutz, dem der Einzelne im Rahmen der vom Staat vorgegebenen Regeln folgt, zum allgemeinen Besten führt. Das 19. Jahrhundert wähnte sich mit seinem 1776 erschienenen Wohlstand der Nationen2 nicht nur im Besitz einer Theorie, die alle ökonomischen Erscheinungen auf zufriedenstellende Weise erklärte und keiner kritischen Überprüfung mehr bedurfte. Es verstand auch nur zu bald, entgegen den Intentionen des Autors, Egoismus statt Eigennutz. Wie wenig Ähnlichkeit eine Welt, in der Dampfmaschinen die Fabri­ken und Dampfschiffe die Flüsse und Meere eroberten, mit der

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Die Flucht auf das sinkende Schiff

Welt Adam Smiths noch hatte, wurde völlig übersehen. Die überlebens­ große Gestalt des Adam Smith steht dem unbefangenen Blick auf die Wirklichkeit bis heute im Wege. Er hat sich geirrt, als er die Arbeitsteilung zum Motor der Entwicklung erhob. Er hat den Übergang von der menschlichen Arbeit zum Verbrauch beschränkter Energiereserven nicht vorhergesehen. Er konnte auch leicht das Loblied des weltweiten Freihandels singen, er kannte ja nur das umweltfreundlichste, nachhaltigste Ferntransportmittel aller Zeiten, das in Jahrhunderten perfektionierte Segelschiff. Von der Ressourcenverschwendung und den Umweltschäden durch einen entfesselten Welthandel, zu dessen Rechtfertigung er herhalten muss, konnte er nichts ahnen. Ein im Sinne Adam Smiths verstandener Liberalismus übersteht jedoch auch die Korrektur jener Punkte, in denen er sich geirrt hat. Seine Aussagen waren in seiner Zeit richtig oder zumindest mit Überzeugung vertretbar, auch wenn sich die Verhältnisse wenig später völlig veränderten. Erst durch das dogmatische Festhalten an Auffassungen, die einer neuen Wirklichkeit nicht mehr entsprachen, wurde die Wissenschaft von der Wirtschaft zum Hort ewiger Wahrheiten, die sich jedem Zweifel entziehen. Adam Smith wird, völlig richtig, als Vorkämpfer des Liberalismus wahrgenommen, aber er war alles andere als das, was man heute unter einem Neoliberalen versteht. Sein humaner Liberalismus ist sowohl mit Sozialstaat und Gewerkschaften als auch mit einer ökologischen Politik vereinbar. Manche Liberale mögen Aversionen gegen den Sozialstaat, die Gewerkschaften oder die Forderungen einer umweltgerechten Politik haben, aber es gibt keinen grundlegenden Gegensatz zwischen einer liberalen Wirtschaftsordnung und den Gewerkschaften oder dem Schutz von Klima und Umwelt, einer liberalen Wirtschaftsordnung und dem Sozialstaat und einer solidarischen demokratischen Gesellschaft oder gar zwischen Liberalismus und Demokratie. Der Liberalismus ist, ebenso wie die Demokratie, möglicherweise nur eine unter vielen Möglichkeiten, das Zusammenleben der Menschen zu organisieren. Besser als Liberalismus und Demokratie hat das aber bisher noch kein anderes System zustande gebracht. Sie haben im

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Einleitung

fortgeschrittensten Teil der Welt, allen voran in den skandinavischen Ländern, nach dem Zweiten Weltkrieg gemeinsam ein Maximum von materiellem Wohlstand, politischer Freiheit und sozialer Sicherheit ermöglicht. Was dort erzielt wurde, konnte aber nur kurze Zeit aufrechterhalten werden. Seither kam es zu einer erschreckenden Entsolidarisierung der Menschen und zu einer Erosion von Wohlstand und Demokratie. Die Vernichtung unersetzlicher Ressourcen und die Zerstörung der Überlebensbasis unserer Nachkommen wurden prolongiert. Nach den Fehlprognosen des Club of Rome, wichtige Ressourcen würden bereits binnen weniger Jahrzehnte zu Ende gehen, wird heute wieder so gehandelt, als wären sie unerschöpflich. Die Rechnung für das Verbrechen, das wir mit dem Raubbau an sämtlichen nicht vermehrbaren Naturvorräten und mit unseren zerstörerischen Eingriffen in Weltklima und Umwelt an allen nachkommenden Generationen verüben, wird aber nicht uns, sondern ihnen präsentiert – allen, denn was wir heute vernichten, ist verloren für alle Zeiten. Seit der Mensch lernte, nicht nur die fossilen Brennstoffe, sondern auch das Uran in Arbeit, Abfall und Wärme zu verwandeln, reichen die Folgen seines Handelns weit in die Zukunft. Dafür macht sich unsere technische Zivilisation immer verwundbarer. Daraus ergibt sich die Forderung nach der Etablierung steuernder und planender Intelligenz in der Politik. Die Wende von einer zum Zwang zu permanentem Wachstum verurteilten zu einer nachhaltigen Wirtschaft ist zu einer Überlebensfrage der Menschheit geworden. Doch der Gedanke, nicht nur unsere Enkel und Urenkel, sondern auch die Jahrhunderte nach uns lebenden Menschen könnten nicht nur auf ein lebensfreundliches Klima und eine Umwelt ohne strahlende Zeitbomben, sondern auch auf die fossilen und sonstigen Ressourcen, die wir bedenkenlos vergeuden, nach wie vor angewiesen sein und wir müssten auch dabei an sie denken, ist bisher weder bei den Ökonomen noch in der Politik angekommen. Menschen werden hoffentlich auch noch viele Jahrtausende nach uns auf der Erde leben, doch wie sie es in 100 oder 500 Jahren tun werden, kann niemand wissen. Unser heutiges Wirtschaften ist aber einer

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Die Flucht auf das sinkende Schiff

der Faktoren, von denen es abhängt, möglicherweise der wichtigste. Die Verantwortung für jegliches menschliche Tun kann keinesfalls weniger weit reichen als die Folgen dieses Tuns und die Folgen unseres heutigen Tuns reichen Jahrtausende in die Zukunft. Eine solche Verantwortung an sich heranzulassen, bedeutet, bei unserer wirtschaftlichen Tätigkeit nicht nur an unsere Enkel und Urenkel, sondern auch an die lange nach uns lebenden Menschen zu denken – mit allen sich daraus ergebenden Konsequenzen. Jede große Veränderung beginnt im Kopf, dort sitzt auch der Widerstand. Aber im Kopf und nur im Kopf haben wir auch die Freiheit, jene Lösungen für unsere Probleme zu entwickeln, die auf den ersten Blick utopisch erscheinen und in der Gegenwart noch an Vorurteilen, Denkgewohnheiten, handfesten Interessen oder einfach an der Trägheit der Institutionen scheitern. Doch was nicht in Köpfen vorbereitet ist, wird niemals Wirklichkeit.

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I. Diagnostischer Teil Das Wertparadox der fossilen Energieträger, oder  : Die unsichtbare Hand hat keinen Kopf

Was hat denn die Nachwelt für mich getan  ? Nichts  ! Gut, das nämliche tu’ ich für sie  ! Johann Nestroy, Der Schützling

Die klassischen Ökonomen verstanden die Wirtschaft als ein selbsttätig nach einem Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage strebendes System. So, wie sie von Adam Smith vorgetragen wurde, hatte diese Erzählung unbestreitbar die Überzeugungskraft und Schönheit der Einfachheit. Eine auf steigende und sinkende Preise reagierende Nachfrage lenkt die Marktpreise immer wieder zum natürlichen Preis zurück. Der natürliche Preis setzt sich aus den Gestehungskosten der Güter und dem Gewinn zusammen. Steigt der Marktpreis einer Ware über den natürlichen Preis, steigt auch der Gewinn, daher wird mehr davon produziert. Dies zieht ein Überangebot nach sich, welches den Marktpreis unter den natürlichen Preis sinken lässt. Damit wird die Produktion dieser Ware wieder weniger lohnend und geht zurück. Steigen in einem Segment die Profite, zieht es Investition an, sinken sie, wird in Produktionen investiert, die höheren Gewinn versprechen, so dass die Marktpreise um die natürlichen Preise oszillieren* und die Konkurrenz zur Vereinheitlichung der Profitrate führt  – mit langfristig sinkender Tendenz. Funktionieren kann dies allerdings nur, wenn keine Zölle, keine Zünfte, vor allem aber keine Monopole den Wettbewerb behindern und niemand die Freizügigkeit der Arbeit suchenden Menschen einschränkt. * Diese Darstellung ist stark vereinfacht. Smith berücksichtigte zum Beispiel bereits sehr wohl die Markteintritts- und Marktaustrittsschranken und die verzögerte Reaktion der Investitionstätigkeit auf Veränderungen der Nachfrage.

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Die unsichtbare Hand hat keinen Kopf

Adam Smith verdanken wir auch die schöne Metapher der unsicht­ baren Hand, die dafür sorgt, dass jeder zum allgemeinen Besten beiträgt, indem er nach seinem persönlichen Vorteil strebt, so lange er den vom Staat vorgegebenen Regeln folgt. Das Lob des ungehinderten Wettbewerbs lesen wir ebenfalls bereits im Wohlstand der Nationen  : »Überhaupt, wenn irgend ein Zweig des Handels, irgend ein Teil menschlicher Arbeiten dem Publikum vorteilhaft ist  : so ist er es um desto mehr, je freier und allgemeiner die Wettbewerbung in demselben ist.«3 (Ich halte mich in diesem Buch wegen ihrer zeitnahen Sprache wo immer möglich an die alten Übersetzungen.) Die Überschrift des dritten Kapitels muss 1776 geradezu elektrisierend gewirkt haben, sie klingt wie ein Aufruf zur Globalisierung  : »Dass die Verteilung der Arbeit durch die Größe und Ausdehnung des Marktes ihre Schranken erhält«.4 Im Originaltext benötigte Smith dafür nur dreizehn Wörter  : »That the division of labour is limited by the extent of the market«.5 Adam Smiths Werk gilt nach wie vor als »das tragende Fundament für jene modernen Theorien, die die beste Chance haben, die Arbeitsweise einer effizienten und gerechten Wirtschaft und Gemeinschaft der Zukunft zu erklären und sinnvoll zu beeinflussen«.6 Die überwiegende Mehrzahl der Ökonomen dürfte diesen Satz von Horst Claus Recktenwald aus dem Jahre 1978 auch heute unterschreiben. Die beiden grundlegenden Annahmen, die Wirtschaft sei grundsätzlich ein ohne Zutun einer externen Instanz zur Herstellung von Gleichgewichtszuständen tendierendes System und Freihandel wo immer möglich erstrebenswert, zählen auch heute zu den Fundamenten des ökonomischen Denkens, ungeachtet aller Entwicklungen, die es seit 1776 durchgemacht hat. Ist aber der Vorteil für die Menschen in jedem Zweig des Handels tatsächlich umso größer, je freier der Wettbewerb in diesem Bereich ist, wenn er die ganze Welt erfasst  ? Hat der freie und immer freiere Verkehr der Waren und Dienstleistungen tatsächlich Vorteile für alle  ? Kann sich die Vorstellung von einem dem System Wirtschaft innewohnenden Streben nach Gleichgewichtszuständen auf Erkenntnis berufen – oder handelt es sich um eine bloße Vermutung  ? Der Glaube

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I. Diagnostischer Teil

daran ist nach wie vor vorhanden. Wir brauchen nur eines der neueren Lehrbücher aufzuschlagen, um uns davon zu überzeugen, etwa die Grundzüge der Volkswirtschaftslehre von Helmut Wienert, der in Pforzheim Volkswirtschaft lehrte und dem eine besonders bildkräftige Darstellung glückte  : »Ein Gleichgewicht ist stabil, wenn Abweichungen davon Anpassungsprozesse auslösen, die wieder zum Gleichgewicht hinführen. Zur Illustration kann das Pendel dienen  : Aus seiner Ruhelage gebracht, wird es unter dem Einfluss der Schwerkraft stets wieder in seine Ausgangslage zurückschwingen. Ein labiles (instabiles) Gleichgewicht liegt dann vor, wenn nach irgendwie ausgelösten Abweichungen von der Ruhelage keine Gegenkräfte aktiviert werden, sodass die Abweichungstendenz dauerhaft ist – ein Beispiel aus der Physik wäre ein am Hang ins Rollen gebrachter Stein (schiefe Ebene).« Denken in Gleichgewichtslagen, verrät uns der Autor, sei für Volkswirte charakteristisch. Empirisch zeige sich »zum Glück, dass durch Wettbewerbsprozesse der verschiedenen Wirtschaftssubjekte in der Regel Gleichgewichtstendenzen erzeugt werden.«7 Ist dem tatsächlich so  ? Erzeugen die Wettbewerbsprozesse der Wirtschaftssubjekte in der Regel Gleichgewichtstendenzen  ? Ein unbefangener Blick auf die Wirklichkeit hätte die Ökonomen bereits im frühen 19. Jahrhundert davon überzeugen können, dass mit dem Einzug der Dampfmaschinen in die Produktionsstätten ein dauerhaftes Ungleichgewicht entstanden war. Das sogenannte Wasser-Diamanten-Paradoxon beschäftigte sie seit dem 16. Jahrhundert. Im historischen Teil wird davon noch die Rede sein. Sie hätten bloß nach dem Verhältnis zwischen dem Preis der Kohle und dem Wert der von ihr in den Dampfmaschinen geleisteten Arbeit fragen müssen, um auf ein weiteres Paradoxon von sehr viel größerer praktischer Bedeutung zu stoßen. Der natürliche Preis der Kohle setzte sich aus den bei der Gewinnung und Vermarktung anfallenden Kosten und dem Gewinn zusammen – ebenso wie der Preis von Kartoffeln, Hosen, Pflügen oder Bauholz. Zwischen der Kohle und jeder anderen Ware bestand aber ein gravierender Unterschied. Verbrannte man Kohle in einer Dampfmaschine,

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Die unsichtbare Hand hat keinen Kopf

leistete sie Arbeit. Um 1824 gewannen moderne Dampfmaschinen aus einem Kilogramm Steinkohle bereits genügend Energie, um eine Last von einer Tonne über hundert Meter hoch zu heben.8 Zwischen dem Preis der Kohle und dem Wert der bei ihrer Verbrennung gewonnenen Energie bestand offensichtlich ein gewaltiger Unterschied. Wenn sich der Preis der Kohle, wie von Adam Smith beschrieben, aus den Gestehungskosten und dem Profit zusammensetzte, konnte es auch nicht anders sein. Zwischen dem Preis der Kohle und dem Gegenwert, den der Käufer in Form der freigesetzten Energie erhielt, bestand demnach kein direkter Zusammenhang. Wo blieb dann aber das Entgelt für die Differenz zwischen dem Preis eines Kilogramms Kohle und den Arbeitskosten, die anfielen, wenn die tausendfache Last anders, zum Beispiel händisch, 25 Stockwerke hoch befördert wurde  ? Und wem hätte es zugestanden  ? Da ein solches Entgelt nirgends zu finden ist, hätten die Ökonomen, wenn sie dem Zusammenhang zwischen dem Preis der Kohle und dem Wert der in ihr gebundenen Energie nachgegangen wären, wohl oder übel zu der Schlussfolgerung gelangen müssen, dass es sich um einen Mehrwert handelte, für den kein Entgelt entrichtet wurde. Dieser Mehrwert stand den Besitzern der Dampfmaschinen in Form von unentgeltlicher Arbeit zur Verfügung. Wer Kohle kaufte, um sie in einer Dampfmaschine zu verbrennen, erhielt für ihren Preis mehr, als er bezahlte. Auf die Gründe, warum den Ökonomen des frühen 19. Jahrhunderts dieses Paradoxon entgehen musste, komme ich im historischen Teil zurück. Damit entging ihnen aber auch die Konsequenz, dass der Arbeit des Menschen, für die Lohn bezahlt werden musste, eine Konkurrenz erstanden war, die unentgeltliche Arbeit leistete. Das Wertparadox der fossilen Energieträger lässt sich anhand eines alltäglichen Beispiels illustrieren. Wir brauchen bloß einmal jemanden dafür zu entlohnen, dass er unseren Wagen hundert Meter weit zur nächsten Tankstelle schiebt, um uns eine Vorstellung vom Unterschied zwischen dem zu verschaffen, was der Treibstoff kostet und der Gegenleistung, die wir dafür erhalten. Nehmen wir an, dass das Fahrzeug der Mittelklasse im Stadtverkehr zehn Liter Benzin pro hundert Kilo-

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I. Diagnostischer Teil

meter verbraucht. Für eine Distanz von hundert Metern wird also im Schnitt ein Zentiliter benötigt, ein Esslöffel voll Benzin zum Preis von 1,2 Cent, wenn ein Liter Eurosuper, so wie im Februar 2019 in Wien bei vielen Tankstellen, 1,20 Euro kostet. In Österreich behält der Staat knapp die Hälfte des Treibstoffpreises ein, in den meisten Ländern Europas ist es mehr. Das im Motor des Wagens verbrennende Benzin leistet also für 0,6 Cent eine physische Arbeit, für die ein kräftiger Mann mehrere Minuten aufwenden muss. Für das kleine Wasserglas Benzin, dessen Energie ausreicht, um eine Tonne Metall und Kunststoff, Insassen und allenfalls auch G ­ epäck nach jedem Halt an einer Ampel erneut in Bewegung zu setzen und auf diese Weise einen Kilometer weit durch den Stadtverkehr zu befördern, bezahlen wir lediglich zwölf Cent – aber die Hälfte davon sind Steuern. Sechs Cent sind unser Entgelt für den Aufwand an Arbeit, Energie und in die technischen Anlagen investiertem Kapital, der für die Bereitstellung dieses Gläschens Benzin benötigt wurde, und auch unser Beitrag zu den Gewinnen der Mineralölindustrie. Nehmen wir an, am Steuer sitze ein Baufacharbeiter mit zwei Kindern und einem Stundenlohn von netto 11,10 Euro.9 Die in einem Zehntelliter Benzin enthaltene Energie, die ihn und sein Auto einen Kilometer weit durch den Stadtverkehr befördert, kostet ihn das Netto-­ Entgelt für weniger als eine Minute Arbeit, wovon aber nur die Hälfte in die Kassen der Mineralölindustrie gelangt. Auch wenn es ihm wirtschaftlich nicht besonders gut geht, bezieht er doch mit dem kleinen Glas voll Treibstoff Arbeit im Wert eines Vielfachen dessen, was von der Erdölindustrie dafür aufgewendet wurde und was er an der Tankstelle abgilt. Der Autofahrer erhält mehr, als er bezahlt.* Die Gegenüberstellung der beim händischen Schieben eines Autos anfallenden Arbeitskosten mit dem Preis des für die gleiche Arbeit * 2013 musste ein Facharbeiter für einen Liter Normalbenzin 5,3 Minuten arbeiten, 1980 waren es noch 7,5 Minuten gewesen. (Österreichisches Institut für Wirtschaftsforschung) Man kann in diesem wohlbekannten Argument für steigenden Lebensstandard auch eines für den zunehmenden Raubbau an unersetzlichen Ressourcen sehen.

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Die unsichtbare Hand hat keinen Kopf

verbrauchten Treibstoffs illustriert den Mehrwert der fossilen Brennstoffe auf besonders sinnfällige Weise. Dabei geht durch den schlechten Wirkungsgrad der Kfz-Motoren der größte Teil dieses Mehrwerts verloren. Mit Kohle, Öl oder Erdgas betriebene Kraftwerke arbeiten mit einem besseren Wirkungsgrad und in den unzähligen Elektromotoren, die das Leben in den Industriestaaten erleichtern, geht ebenfalls weniger Energie verloren. Daher kommt vom Mehrwert des Energieträgers bei jedem von uns mehr an, wenn wir die Bahn, die U-Bahn oder den Aufzug benützen, den Staubsauger oder eine Küchenmaschine einschalten oder am Abend Licht machen und uns zum Fernseher setzen, als wenn wir ins Auto steigen. Dieser Mehrwert ist ein Geschenk der Natur, ebenso wie die Kraft eines Flusses, der einst die Wasserräder eines Hammerwerks, oder des Windes, der den Mechanismus einer Mühle antrieb. Adam Smith behandelte zwar das Geschenk der Natur, das der Grundeigentümer in Form der Fruchtbarkeit des Bodens empfängt, und wurde in diesem Fall von David Ricardo (1772–1823) kritisiert. In der Nutzung des Windes und des fließenden Wassers sahen sie kein ihre Aufmerksamkeit forderndes Phänomen. Wind und Wasser kosteten nichts – ebenso wie heute der Mehrwert der fossilen Brennstoffe, deren Energie eine integrierte Fertigungsstraße betreibt. Die Kraft der Flüsse und des Windes ist eine unerschöpfliche Energiequelle, die fossilen Energieträger hingegen sind ein endlicher Vorrat. Auch waren Wind und Wasserkraft damals nur unter speziellen Bedingungen nutzbar. Durch die flächendeckende Distribution der Kohle wurde sie binnen weniger Jahrzehnte, historisch gesehen blitzschnell, und etwas später auch das Erdöl und das Erdgas, zum Energielieferanten schlechthin. Damit trat die Draufgabe der Natur auf den Preis der Kohle, ihr Mehrwert als unentgeltliche Energiequelle, auf breiter Front in Konkurrenz zur Arbeit des Menschen. Der Umstand, dass zwar für die Förderung und Distribution der Kohle bezahlt werden musste und sie daher zu einem wichtigen Faktor der kaufmännischen Kalkulation wurde, dass ihr Mehrwert aber in den Maschinen unentgeltliche Arbeit leistete, wurde auch von den Nachfolgern der klassischen Ökonomen übergangen.

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I. Diagnostischer Teil

Dem Mehrwert der fossilen Brennstoffe, der als unentgeltliche Arbeit konsumiert wird, verdanken die aufstrebenden Industriestaaten den Großteil ihres Reichtums. Die durch Verbrennung eines dahinschwindenden Vorrates gewonnene Energie holt alle anderen Bodenschätze aus der Tiefe und verarbeitet sie. Sie schafft das Material für die Industrieanlagen und Städte herbei, sie baut die Metropolen, taucht sie in Fluten von Licht, betreibt Massenverkehrsmittel und private Autos und schenkt dem Menschen die heute selbstverständlich gewordene Mobilität. Sie bringt nicht nur die gesamte Palette der Industrieprodukte hervor, sondern nimmt auch den Bauern ihre schwere Arbeit ab. Mit jeder Nahrungskalorie, die der Mensch in Form eines Stückes Brot, eines Tellers Suppe, einer Banane zu sich nimmt, konsumiert er ein Vielfaches an Energie der fossilen Energieträger. Ohne sie sind die Städte in Dunkel gehüllt und ohne Verkehrsmittel. Die in den fossilen Brennstoffen in Millionen Jahren gespeicherte Energie befördert Milliarden Tonnen Güter in von ihr selbst hervorgebrachten Transportmitteln kreuz und quer über den Erdball und transportiert schließlich all das großartige Geschaffene zu den Deponien, Schrottplätzen oder zur Müllverbrennung, sobald es ausgedient hat. Dank dem Mehrwert der Energieressourcen, sprich  : unentgeltlicher Arbeit, lebt der Mensch im industrialisierten Teil der Welt so bequem wie nie zuvor in seiner Geschichte. Allein mit der Arbeitsteilung, die Adam Smith für den Motor der Entwicklung hielt, wäre die Menschheit über die Welt des 18. Jahrhunderts nicht weit hinausgekommen. Das Atomzeitalter beendet die Alleinherrschaft der fossilen Brennstoffe und um die Wende zum dritten Jahrtausend gewinnen auch die erneuerbaren Energiequellen an Bedeutung. 1990 deckt die EU ihren Energiebedarf zu 57 Prozent mit fossilen Brennstoffen, 31 Prozent Kernenergie (zusammen 88 Prozent), 8 Prozent Wasserkraft und 4 Prozent erneuerbaren Energiequellen.* 2016 sind es nur noch 49 Prozent fossile Brennstoffe und 27 Prozent Kernenergie (zusammen 76 * Die Statistiken unterscheiden nicht zwischen erneuerbaren (z.B. Biomasse) und unerschöpflichen Energiequellen (wie Wasser und Wind).

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Prozent), dafür je 12 Prozent Wasserkraft und erneuerbare Energiequellen.10 Die globale Statistik sieht etwas anders aus. Die Welt, EU eingeschlossen, deckte 2016 ihren Primärenergiebedarf, ähnlich wie die EU, zu 86 Prozent mit fossilen Energieträgern und Kernenergie, wobei aber 81,1 Prozent auf die fossilen Brennstoffe und 4,9 Prozent auf die Kernenergie entfallen. Auch hier sind die Erneuerbaren (Biokraftstoff, Abfallverbrennung) mit 9,8 Prozent im Vormarsch. (Wasserkraft 2,5 Prozent, sonstige Energielieferanten 1,7 Prozent.)11 ***

John Stuart Mill (1806–1873) war wohl seiner Zeit etwas voraus, als er meinte, die Zunahme der Produktion sei nur noch in zurückgebliebenen Ländern »eine wichtige Angelegenheit  ; in den am meisten fortgeschrittenen ist es eine bessere Verteilung«. Der oft zitierte Satz wird meistens ohne die Fortsetzung wiedergegeben, Voraussetzung sei »eine stärkere Einschränkung der Bevölkerungszunahme.«* Heute ist dieses Stadium tatsächlich erreicht. Hat der zeitweilige tschechische Shooting Star unter den Ökonomen, Tomáš Sedláček, also recht  ? Er meint, es müsse doch vorstellbar sein, »dass wir unseren Level von Wohlstand einfach halten. Wir sollten dankbar sein, wenn es zu ökonomischem Wachstum kommt, aber es sollte nicht um jeden Preis sein, weil dies unsere Ökonomien irgendwann unweigerlich kollabieren lässt. Gerade wegen des technologischen Fortschritts sollten wir mit dem derzeitigen Wohlstandslevel auch mal zufrieden sein. Wirtschaftswachstum ist kein Recht.«12 Das ist nicht nur richtig und er hat damit nicht nur eine Forderung ausgesprochen, die wir derzeit von vielen Seiten hören, sondern * Der Autor setzte hinzu  : Nivellierende Maßnahmen »sowohl gerechter als ungerechter Art … mögen vielleicht die Höhen der Gesellschaft erniedrigen, aber sie sind nicht im Stande, die Tiefen derselben zu erhöhen.« John Stuart Mill, Grundsätze der Politischen Oekonomie, nebst einigen Anwendungen auf die Gesellschaftswissenschaft. Aus dem Englischen übersetzt und mit Zusätzen versehen von Adolph Soetbeer, Hamburg 1852, 2. Band, S. 226.

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sogar eine von höchster ethischer Priorität, denn unser Luxus wird die Menschheit noch teuer zu stehen kommen. Einen Umstand hat er dabei aber übersehen  : Ohne Wirtschaftswachstum drohen die Industriestaaten nicht irgendwann, sondern sehr schnell zu kollabieren, weshalb dieses zwar kein Recht, aber leider vorläufig noch eine Notwendigkeit ist. Wirtschaftsweise beschwören zwar täglich die Notwendigkeit eines weiteren Wachstums, doch sie begründen sie nicht mit einem etwa noch vorhandenen Bedarf an Gütern und Dienstleistungen. Davon haben wir in den alten Industriestaaten längst mehr als genug. Trotzdem sind auch sie vom irdischen Paradies nicht nur weit entfernt, sie entfernen sich auch immer weiter von diesem Ziel. Selbst die fortgeschrittensten Länder waren nicht in der Lage, das in einer kurzen Phase nach dem Zweiten Weltkrieg erreichte Niveau von Wohlstand und sozialer Sicherheit zu halten. Die Jahre der Vollbeschäftigung bei langsam steigenden Masseneinkommen und hoher sozialer Sicherheit sind eine Erinnerung, die langsam verblasst. Sie wurden zur rückwärtsgewandten Utopie ähnlich dem verlorenen Goldenen Zeitalter der antiken Mythen. Die unentgeltliche Arbeit dient nämlich nicht nur der Bequemlichkeit und Mobilität jedes Einzelnen. Wenn sich aus der Relation zwischen dem Aufwand für die Bereitstellung des Energieträgers und der von ihm geleisteten Arbeit tatsächlich ein Überschuss ergibt, muss die Arbeit des Energieträgers überall dort, wo sie diese ersetzen kann, billiger sein als die menschliche Arbeit. Wenn dem so ist, besteht überall, wo der Mensch durch die in Maschinen Arbeit leistende Energie ersetzt werden kann, ein Konkurrenznachteil für die menschliche Arbeit. Dadurch wird das Eintreten eines Gleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt und von dort ausgehend auf allen anderen Märkten verhindert. Die fossilen Energieträger ebenso wie alle anderen nicht erneuerbaren Ressourcen, also vor allem die Metalle, unter ihnen das Uran, werden einem Vorrat entnommen, auf den nicht nur wir, unsere Kinder und Enkel angewiesen sind, sondern mit dem alle nach uns lebenden Generationen bis zum Ende der Menschheit auskommen müssen. Mit

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jeder entnommenen Tonne wird dieser Vorrat verringert. Bereits im frühen 19. Jahrhundert wurde die Gefahr diskutiert, wichtige Rohstoffe könnten knapp werden. David Ricardo erklärte, sie würden nicht zu Ende gehen, sondern durch den Zugriff zu schwieriger auszubeutenden Lagerstätten bloß immer teurer werden. Wenige Jahrzehnte nach seinem Tod stieg der britische Kohleverbrauch um 3,5 Prozent pro Jahr und William Stanley Jevons (1835–1882) dachte darüber nach, wie künftige Generationen für gegenwärtigen Raubbau entschädigt werden können. In seinem Buch The Coal Question13 sah er – 1865  ! – die einzige Möglichkeit darin, dass man ihnen wenigstens keine Schulden hinterließ. Ein Entgelt für die Verringerung der Vorräte müsste nämlich an jene entrichtet werden, zu deren Lasten sie erfolgt. Jede von den Vorräten zehrende Generation wird aber zum Schuldner aller folgenden. Mit der Ausbeutung der Rohstoffvorräte wird die Überlebensbasis aller Menschen, die nach uns auf der Erde leben werden, verkleinert, doch ein Entgelt für die Verringerung und Ausdünnung der Vorräte kann nicht entrichtet werden und ist daher in den Preisen der Ressourcen und in den Preisen der hergestellten Güter auch nicht zu finden. Man kann die Energiewirtschaft mit einem Wirt vergleichen, der am Zapfhahn steht, aber das Bier geschenkt bekommt oder die kostbare Flüssigkeit einfach stiehlt, nachdem er einen Zugang zum Lager entdeckt hat. Wir zahlen ihm seine Spesen und einen im Vergleich mit dem Wert dessen, was wir bekommen, bescheidenen Gewinn. Dabei wird eine Fülle von Tätigkeiten geschaffen. Die Förderung des Energieträgers, sein Transport, die Raffinierung und so weiter erfordern einen hohen Energieeinsatz und technische Anlagen, die ihrerseits unter Einsatz von Rohstoffen und Energie, also unentgeltlicher Arbeit, errichtet und laufend erneuert werden. Die Arbeit des Menschen besteht darin, diese Vorgänge zu planen, zu optimieren, zu steuern, zu überwachen und zu verwalten. Seine physische Arbeit fällt dabei nicht ins Gewicht. Die verbrauchte Energie wird vom in vielen Millionen Jahren von der Natur angesparten, nie mehr auffüllbaren fossilen Energiekapital

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der Menschheit abgebucht. Der Blick des Menschen reichte noch nie so tief in die Vergangenheit zurück, während die Folgen seines Handelns immer weiter in die Zukunft reichen. Er leidet aber unter hochgradiger Kurzsichtigkeit, was den Schaden betrifft, den er allen nach ihm Kommenden zufügt. Die Maschinenarbeit wird von allen nach uns Lebenden unfreiwillig subventioniert. Für diese Wettbewerbsverzerrung interessiert sich keine der sonst unbarmherzig gegen jede Subvention einschreitenden Wettbewerbsbehörden der EU oder der World Trade Organisation (WTO). Die Auswirkungen sind allgegenwärtig. Kein Unternehmen kann es sich noch leisten, Menschen für ihre Arbeit zu bezahlen, wenn die im Erdöl, Erdgas oder in der Kohle gebundene, in einem Kraftwerk in Elektrizität umgewandelte Energie dasselbe leistet – und wenn dafür eine geeignete Maschine zur Verfügung steht. Die Maschinen selbst arbeiten nicht, sondern sind Vorrichtungen, in denen Energie Arbeit leistet. Maschinenarbeit ist Arbeit ohne Lohnkosten. Den mit ihr erzielten Gewinn muss der Unternehmer mit niemandem teilen, denn er wird auf Kosten unserer Nachkommen erzielt. Der Raubbau an ihrer Überlebensbasis ist die effizienteste Form der Ausbeutung, die der Mensch jemals erfunden hat. Darum setzen Heerscharen hochqualifizierter Menschen ihr ganzes Wissen, ihre Fantasie, ihren beruflichen Ehrgeiz dafür ein, die Ablösung menschlicher Arbeit durch Energieeinsatz voranzutreiben und die technischen Anlagen so zu verbessern, dass weniger Personal benötigt wird, aber auch der Anteil weniger qualifizierten, billigeren Personals erhöht werden kann. Auch sie, die ihre Fähigkeiten in den Dienst dieser Art von technischem Fortschritt stellen, leisten Erwerbsarbeit. Auch ihre Arbeit ist eingepreist. Daher sind es wir selbst, die mit allem, wofür wir bezahlen, auch die Leute bezahlen, die an der Verbesserung all der hochintegrierten Anlagen arbeiten und dafür sorgen, dass sie von einer Maschinengeneration zur nächsten mit immer weniger menschlicher Arbeit immer mehr leisten. In einer gegen Unendlich tendierenden Verästelung werden wir mit einem kleinen Anteil von allem, wofür wir bezahlen,

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zur Finanzierung eines Prozesses herangezogen, der immer mehr Arbeit des Menschen durch die der Maschinen ersetzt, Qualifikationen abwertet und immer mehr von uns arbeitslos macht. Dieser Prozess nimmt auch sich selbst nicht aus. Der Computer ersetzte Regimenter über ihre Berechnungen gebeugter Ingenieure und die Reihen technischer Zeichner, welche die Ideen der Maschinenbauer in Form genauer Pläne zu Papier brachten. Über die ganze Bandbreite der Wirtschaft hinweg bis zur Bananenplantage erzwingt der laut Adam Smith in jedem Zweig des Handels vorteilhafte Konkurrenzkampf die laufende Einsparung menschlicher Arbeit durch Abbuchung vom dahinschmelzenden fossilen Energiekonto der Menschheit. Wie »vollständig übrigens die Dampfmaschinen die physischen Kräfte des Menschen aus dem Gebiete der Industrie verdrängten«, konnte man schon im Brockhaus von 1852 unter dem Schlagwort Dampfmaschine nachlesen. Heute übernehmen die Maschinen immer komplexere Aufgaben und sie dringen immer tiefer auch in den Bereich der hochqualifizierten Tätigkeiten vor, auf der Strecke bleiben aber vor allem die einfacheren Arbeiten – also genau jene, mit denen Zuwanderer einst Fuß fassen konnten. Wer erinnert sich noch an den Mann, der im Supermarkt die leeren Flaschen entgegennahm und dafür einen Gutschein aushändigte  ? Der Automat, der jede Flasche erkennt, macht es billiger. Die Arbeit der Energieressourcen zieht die Flaschen ein, erkennt sie und druckt den Gutschein. Damit der Supermarkt konkurrenzfähig bleibt, ziehen Billigkräfte in den Kassen Ware nach Ware über die Lesegeräte. Wo sind die Frauen geblieben, die jeden Preis im Kopf hatten und eintippten  ? Die in den Lesegeräten arbeitende elektrische Energie hat ihre Qualifikation, ihr bewundernswertes Gedächtnis, entwertet. Der Barcode senkte die Anforderungen an den Job der Kassiererin – und damit die Personalkosten der Unternehmen. Kassen, an denen die Kunden die Barcodes selbst über das Lesegerät ziehen, gibt es längst. In Schweden wurden die ersten Supermärkte eröffnet, in denen das Personal nur noch die Waren in die Regale schlichtet. Einen Ersatz für die Arbeitsplätze der Kassiererinnen wird es schwerlich geben.

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Das Maß für den sukzessiven Übergang von der menschlichen Arbeit zur Maschinenarbeit heißt Produktivität. Dieser Schlüsselbegriff begegnet uns täglich in Zeitungen, Radio und Fernsehen und kann, mitunter, alles mögliche bedeuten. In diesem Buch bezeichnet er ausnahmslos das »Verhältnis zwischen Output und den für die Produktion verwendeten Inputs.«14 Ein Unternehmen arbeitet umso produktiver, je sparsamer es teure Produktionsfaktoren einsetzt beziehungsweise je umfassender es teurere durch billigere ersetzt. In der Zeit Adam Smiths waren die Rohstoffe teuer und die Transportkosten hoch, dafür war die Arbeit billig. Mit ihr wurde verschwenderisch umgegangen, mit den Rohstoffen wurde gespart. Noch im späten 19. Jahrhundert sammelten »Strotter« in den Kanälen Knochenreste für die Seifenfabriken, bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts hinein lohnte es sich, von Haus zu Haus zu gehen und Alteisen, oder Lumpen für die Erzeugung hochwertigen Papiers, in kleinen und kleinsten Mengen zu sammeln. Je mehr menschliche Arbeit auf Maschinenarbeit, also Arbeit der endlichen Energiere­ serven überging, desto teurer wurde in Relation die menschliche Arbeit. In den Industriestaaten ist sie längst zum teuersten Produktionsfaktor geworden. Daher ist, wenn ohne weitere Präzisierung von Produktivität gesprochen wird, heute fast immer die Produktivität der Arbeit gemeint. Wohin geht also die Reise  ? In der freien Marktwirtschaft sind die ungezählten Millionen kleiner und großer Entscheidungen, die von Anbietern und Käufern in aller Welt Minute um Minute getroffen werden, die einzige dafür zuständige Instanz. Von Adam Smith stammt, wie erwähnt, die großartige Metapher der unsichtbaren Hand, die dafür sorgen soll, dass dabei das beste mögliche Ergebnis für alle zustande kommt. Doch weit davon entfernt, das Verhalten der Marktteilnehmer auf eine für alle vorteilhafte Weise zu koordinieren, bewirkt sie heute den laufenden Abtausch von menschlicher Arbeit gegen Maschinenarbeit. Weil sie keinen Kopf hat, bleibt die Endlichkeit der Substanz, von welcher dieser Austauschprozess zehrt, für die unsichtbare Hand transzendent. Daher ersetzt sie Nachfrage nach Arbeit durch Nachfrage nach fossilen Brennstoffen, treibt die Entwicklung immer komplexerer, »intelligenterer« Maschinen voran und wird, wenn

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man sie nicht daran hindert, fortfahren, es zu tun, bis die Substanz aufgezehrt ist, das heißt, bis entweder keine fossilen Brennstoffe oder bis keine Arbeitsplätze mehr vorhanden sind, die durch Energieeinsatz ersetzt werden können. Die Zunahme der Produktivität gibt Auskunft über die »Fortschritte« in einem tendenziell dem finalen Zustand einer Wirtschaft ohne menschliche Arbeit zustrebenden Vorgang. Die Erosion der Arbeit ist daher ein strukturelles, von der freien Marktwirtschaft nicht zu trennendes Phänomen. Bis zum Sankt-Nimmerleinstag einer völlig anderen Gesellschaft bleibt Produktion jedoch untrennbar an den Verkauf und für die überwältigende Mehrheit aller Menschen der Konsum an die Erwerbsarbeit gebunden. Die Wirtschaft lebt von der Kaufkraft, die Kaufkraft aber wird von den Einkommen und somit von der Beschäftigung gespeist. Die Marktkräfte, die bei den Produktionskosten lediglich auf den Preis­unterschied zwischen menschlicher Arbeit und Maschinenarbeit reagieren, sind auch nicht fähig, eine Verbindung zwischen der Funktion der menschlichen Arbeit als Produktions- und zugleich als Konsumfaktor herzustellen. Auch diese doppelte Funktion der menschlichen Arbeit bleibt für die unsichtbare Hand transzendent. In der freien Marktwirtschaft ist eine Instanz, die in das blinde Spiel der Marktkräfte eingreifen könnte, nicht vorgesehen und es gibt in ihr keinen Mechanismus, der die unsichtbare Hand befähigen könnte, auf die doppelte Funktion der Arbeit und auf den Zusammenhang zwischen steigender Produktivität und Schwund der fossilen Brennstoffe zu reagieren. Da sie unfähig ist, den Sachverhalt wahrzunehmen, schafft sie laufend Arbeit ab und verringert unaufhaltsam das in Jahrmillionen entstandene, nie mehr auffüllbare fossile Energiekapital der Menschheit. Der technische Fortschritt befähigt sie dazu immer besser. Gemeinsam untergraben sie systemintern den Arbeitsmarkt und damit den Konsum, systemextern die Überlebensbasis der Menschheit. Die Vernichtung der fossilen Brennstoffe kann und muss durch den Übergang zu den alternativen Energiequellen beendet werden. Der Konkurrenznachteil der menschlichen Arbeit gegenüber einem unentgeltlichen Energieangebot wird davon allerdings nicht berührt.

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Der Abtausch menschlicher Arbeit gegen die der Maschinen, der Wachstumszwang als Folgeerscheinung und der progressiv steigende Verbrauch aller anderen Rohstoffe finden  – aller Voraussicht nach verlangsamt  – weiterhin statt. Daher ist die Selbststabilisierung des Systems Marktwirtschaft durch Angebot und Nachfrage auch in einer Welt klimaneutraler, nachhaltiger Energiequellen nicht möglich. Die Wirtschaft ist, um auf den prächtigen Vergleich im Lehrbuch von Helmut Wienert zurückzukommen, unter den herrschenden Verhältnissen jedenfalls kein in eine Ausgangslage zurückschwingendes Pendel. Sie gleicht aber auch keinem alles zermalmenden rollenden Stein, sondern sehr viel eher einer löchrigen Badewanne, deren laufender Verlust von Wasser (Abtausch von Arbeit gegen Verbrauch von Ressourcen) durch nachfließendes Wasser (Wachstum) immer unvollständiger ausgeglichen wird, weil die Löcher im durchgerosteten Boden größer werden. Indessen macht die unsichtbare Hand immer mehr Menschen überflüssig, indem sie die Erde immer schneller auspowert, und sie powert die Erde immer schneller aus, um weitere Gewinnmöglichkeiten zu schaffen. Durch das Wachstum entsteht kein voller, aber zumindest teilweiser Ersatz für die vernichteten Arbeitsplätze und die ausfallende Kaufkraft. Doch die Gründe, aus denen die Staaten auf Wirtschaftswachstum angewiesen sind und die Gründe, aus denen die Wirtschaft tatsächlich wächst, haben wenig miteinander zu tun. Die Staaten brauchen das Wirtschaftswachstum, weil ihnen sonst die Arbeitslosigkeit und die Schulden über den Kopf wachsen. Die verheerenden Folgen eines ungenügenden Wachstums, von der Überbeanspruchung der sozialen Netze bis zum Vormarsch der extremen Rechten, sind längst eingetreten. Die Wirtschaft wächst aber nicht aus Sorge um die Arbeitsplätze oder um die politische Stabilität. Selbst Ersatz für vernichtete Arbeitsplätze zu schaffen und damit die Kaufkraft zu erhalten, auf die sie selbst angewiesen sind, zählt nicht zu den Zielen der Unternehmen. Die Wirtschaft wächst, weil sie dazu und nur dazu da sind, Gewinne zu erzielen oder jedenfalls heute von der Ausschließlichkeit dieses Lebenszwecks überzeugt sind. Sie wächst, weil, während unersetzliche

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Ressourcen zu Abfall und Wärme werden, das investierte Geld nicht zu Abfall und Wärme wird, sondern vermehrt um die Gewinne zu den Unternehmen zurückkehrt, um weitere Ressourcen in Abfall und Wärme zu verwandeln und dabei weitere Gewinne hervorzubringen. Die reinvestierten Gewinne sind, neben den Krediten, der Motor des Wachstums. Zu Adam Smiths Zeiten und auch noch lange nach ihm war Geld das knappe Gut, das akkumuliert werden musste, um Investitionen vornehmen zu können und die Entwicklung voranzutreiben. Heute ist Geld im Überfluss vorhanden, knapp wurden die Möglichkeiten, es mit der Aussicht auf Gewinn zu investieren. ***

Dem kurzen, von der Erinnerung vergoldeten Zeitalter der Vollbeschäftigung und der überschaubaren Märkte folgte der für die Energieressourcen vollends tödliche Tango des Gewinnstrebens mit der Globalisierung. Damit erreichte die Verschwendung eine neue Dimension. Seither konkurriert der Mensch nicht nur überall mit der Maschinenarbeit, sondern es konkurriert auch die teurere menschliche Arbeit in den Industriestaaten mit höherem Lebensstandard und sozialer Absicherung mit der Arbeit in den Niedriglohnländern. Die Voraussetzung dafür war, neben dem Abbau der Handelshemmnisse, die Übernahme der einst so aufwendigen Transportarbeit durch die Arbeit der Energieressourcen. Wer 2018 in der Adventzeit in Wien Walnüsse heimischer Herkunft für sein Weihnachtsbackwerk kaufen wollte, musste erst einmal auf die Suche gehen. In vielen Supermärkten waren nur Nüsse aus Peru zu haben. In spanischen Supermärkten ist auch der billigste Tintenfisch derjenige aus Peru und der in europäischen Supermärkten präsentierte Atlantik-Lachs ist oft zweimal um die halbe Erde gereist. Norwegische Lachse werden im Tiefkühlcontainer auf den Weg nach Hamburg oder Rotterdam gebracht. Dort wird der Container sofort wieder an eine Steckdose angeschlossen, um dann auf ein nach China auslaufendes Containerschiff gehievt und mit der bordeigenen Stromversorgung verbunden zu werden. In Tsingtau wird der Lachs aufgetaut und mit

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Tausenden anderen Lachsen von Tausenden Frauen in riesigen Hallen enthäutet, entgrätet und filetiert. Ansprechend verpackt, wird er wieder in einem Tiefkühlcontainer verstaut und auf ein mit Tausenden Con­ tainern nach Europa oder Amerika abgehendes Schiff gehoben, um am anderen Ende der Welt in einem Supermarkt zu landen.15 Dringend benötigte Rohstoffe wurden schon in prähistorischer Zeit über große Entfernungen transportiert. Zum Beispiel das Zinn, das in Cornwall abgebaut und im Mittelmeerraum mit dem dort reichlich vorhandenen Kupfer zur Bronze legiert wurde. Wie weit die Globalisierung der Märkte für Luxusgüter im 17. Jahrhundert gediehen war, wies der kanadische Sinologe Timothy Brook anhand der exotischen Gegenstände nach, die auf den Gemälden von Johannes Vermeer16 zu sehen sind. Doch erst der Mehrwert der fossilen Energieträger machte es möglich, Rohstoffe, Halbfertig- und Fertigprodukte sowie empfindlichste Lebensmittel nach Belieben kreuz und quer über Kontinente und Meere zu transportieren. Adam Smith rechnete seinen Lesern vor, um wie viel billiger der Seeweg im Vergleich mit dem Transport über Land im 18. Jahrhundert war. In sechs Wochen bringe ein »breiträderiger Fuhrwagen, von zwei Menschen begleitet, und von acht Pferden gezogen … Waren von ohngefähr vier Tonnen an Gewicht, von Edinburg nach London, und von da wieder zurück.« Ein Segelschiff mit sechs bis acht Mann Besatzung bringe in der gleichen Zeit 200 Tonnen hin und her. Die Kosten des Transportes über Land seien der Grund dafür, dass sich die Kultur an den Küsten und Flussufern entwickelt und von dort »bis zu den innern Gegenden des Landes«17 ausgebreitet habe. Der Transport einer Tonne Fracht kostet nach wie vor über Land mehr als auf dem Seeweg. Die Arbeit der fossilen Brennstoffe ebnete den Unterschied jedoch ein. Was vom Fahrer eines Lastzuges gefordert wird, sind Aufmerksamkeit und Ausdauer, nicht körperliche Kraft. Die Schaltvorgänge erledigt die Automatik, die Muskelkraft zur Bedienung des Lenkrades wird von der Servolenkung vervielfacht, die gesamte physische Arbeit wird von einer stinkenden Flüssigkeit verrichtet, von der Adam Smith noch nichts ahnte und von der ein klei-

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ner Kochtopf, wenig mehr als ein Liter, genügt, um eine Tonne Fracht hundert Kilometer weit zu befördern. Da ihr Mehrwert unentgeltlich genutzt wird, macht der Lohn des Fahrers bei leichteren Nutzfahrzeugen rund 60, bei den schweren Lastzügen 30 bis 40 Prozent der Gesamtkosten aus.18 Kein Wunder, dass schon bald die ersten fahrerlosen 60-Tonnen-Lastzüge über die Autobahnen donnern sollen. Fahrerlose U-Bahn-Züge sind in vielen Großstädten schon heute eine Selbstverständlichkeit. Die unsichtbare Hand hat keinen Kopf, aber die öffentliche Hand sollte einen haben. Trotzdem schafft auch sie Arbeit und damit Kaufkraft ab, wo sie kann, auch dort, wo keine Konkurrenz sie dazu zwingt. Ob über Land oder über See, die Transportkosten sind so niedrig, dass in der Konkurrenz der Arbeitskosten die Entfernung zwischen der billigeren und der teureren menschlichen Arbeit kaum eine Rolle spielt. Der Mehrwert des Erdöls und dessen Verschwendung in den Schiffsmaschinen, Automotoren und Kühlaggregaten machte den armen Chinesen, die arme Pakistanerin oder Marokkanerin und den Menschen in den Industriestaaten in ihrer Beziehung als Produzenten und Konsumenten zu Haus an Haus lebenden Nachbarn. Daher subventionieren unsere Nachkommen nicht nur die mit der menschlichen Arbeit konkurrierende Maschinenarbeit, sondern auch billige Arbeit im Wettbewerb mit teurer Arbeit. Auch daran nimmt keine Wettbewerbsbehörde Anstoß. Dank Billigarbeit und Auspowerung der Energiereserven wurde, was einst Luxus war, zum Massenprodukt. Der Konsument kann sich darauf verlassen, dass die Temperatur des Kühlgutes laufend kontrolliert und die Kühlkette niemals unterbrochen wird. Auch beim Auslösen der Nordseegarnelen in Marokko geht es hygienischer zu als in der guten alten Zeit, als sie in der nächsten Umgebung der Fischereihäfen in Heimarbeit gepult wurden. Diese Tätigkeit wurde immer schon so schlecht bezahlt, dass sie nur als Nebenerwerb in Frage kam, bis die Heimarbeit wegen der unkontrollierbaren hygienischen Verhältnisse überhaupt verboten wurde. Noch gibt es keine Maschine, welche die Nordseegarnele, Crangon crangon, so schält, dass es den Anforderun-

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gen der Großvermarkter genügt. Die Garnelen sind zu unterschiedlich, der Abfall ist zu groß. Daher lässt der größte europäische Garnelenanbieter eine ganze Flotte von Lkws ständig zwischen der Nordseeküste und Marokko hin- und herfahren. In Tetouan schälen tagaus, tagein mehrere Tausend Frauen in gekühlten Hallen die roten, bereits an Bord gekochten Krabben unter hygienischer Aufsicht. Ich konnte mich selbst davon überzeugen, dass es auch schon an Bord nicht unbedingt umweltfreundlich zugeht.19 Sechstausend Kilometer lang ist der Weg von Büsum, einem Mittelpunkt der deutschen Krabbenfischerei, nach Marokko und zurück zum Vermarkter. Die Zentrale in Holland weiß jederzeit, wo sich jedes Fahrzeug befindet und kontrolliert aus der Ferne die Temperatur der Ladung. »Krabben-Irrsinn« lautete der Titel eines Zeitungsberichts.20 Ökologisch ist es selbstverständlich einer und im Hinblick auf die Verschwendung von Ressourcen erst recht. Unter den herrschenden Rahmenbedingungen ist das Krabben-Shuttle aber nicht nur betriebs-, sondern sogar volkswirtschaftlich eine sinnvolle Innovation. Kein Geringerer als der Nobelpreisträger Paul Krugman erklärte, dass in der Stagnationsfalle die Gesetzmäßigkeiten soliden Wirtschaftens nicht mehr gelten. Jede Art von Geldausgeben sichere Jobs, auch wenn es sich nach normalen Maßstäben um Verschwendung handle.21 Machte man sich wirklich einst über die Kartoffeln lustig, die zum Waschen von Deutschland nach Italien gekarrt wurden  ? Keine andere Innovation hat den Arbeitsaufwand im Transportwesen so verringert wie der Container. Wo einst in den Häfen Tausende wuselten, genügen heute ein paar Leute, um die elektronisch gesteuerten Verladeeinrichtungen zu überwachen und in kürzester Zeit Hunderte Container aus- und einzuladen und an Deck fest zu verbinden. Die Schiffe verbrauchen so wenig Öl, dass Äpfel aus Neuseeland oder China, Wein aus Australien und Trauben aus Südafrika in den europäischen Supermärkten mit den heimischen Produkten konkurrieren. Die Arbeit des Erdöls ließ den Güterverkehr auf den Meeren jahrelang mit Wachstumsraten von sechs und mehr Prozent explodieren. Es kam zu einer Überinvestitionskrise in der Container-Schifffahrt und

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zu einem mörderischen Konkurrenzkampf. Der Preis für den Transport eines Normcontainers im Europa-Asien-Verkehr spielte zeitweise Achterbahn  – auf die Preise der Autos, der Fernseher, Bananen und neuseeländischen Äpfel wirkte sich dies kaum aus. Der Transport einer Flasche Wein aus Australien nach Europa kostet 12 Cent, von einem Pfund Kaffee aus Mittelamerika drei Cent.22 Als Adam Smith die Vorteile des weltweiten Freihandels pries, gab es nur Segelschiffe, die keine Schadstoffe ausstießen und keine unersetzlichen Ressourcen verbrauchten. Heute verbrauchen die Schiffe immer weniger Öl pro Tonne Fracht, je weniger Öl sie verbrauchen, desto billiger wird der Seetransport, je billiger der Seetransport wird, desto mehr Güter werden verschifft und desto mehr Öl wird insgesamt verbraucht. Auch der Rebound-Effekt wurde erstmals in William Jevons’ Buch The Coal Question beschrieben.* Nach den spektakulären Fehleinschätzungen des Club of Rome wandte sich der Zeitgeist jedoch neuen Themen zu. Umweltschäden, Luftverpestung, Artensterben, kippendes Klima verdrängten den Schwund der Naturvorräte aus dem Diskurs. Die Verschwendung geht nicht nur ungebremst weiter, sondern legt an Tempo zu. Die Ressourcendebatte geriet aber völlig in den Schatten der Klimadebatte, die solche Dynamik gewann, dass es zum politischen Eingriff in den Markt kam. Die kostspielige Förderung alternativer Energiequellen wird ebenso wie das Elektroauto nahezu ausschließlich mit dem Klima-Argument motiviert, das Ressourcen-Argument ist nebensächlich geworden oder völlig untergegangen. Indirekt kommt die Sensibilität für Klimaschäden zwar auch den fossilen Reserven zugute. Doch Projekte, wie etwa das CO2 in den Tiefen der Erde oder der Ozeane verschwinden zu lassen, oder der Plan, es unter Zugabe des 25-fachen Volumens von Wasser in Basaltgestein * Einsparung von Kohle führe zu deren Verbilligung, billigere Kohle zur Erschließung weiterer Anwendungen, Ergebnis sei ein Mehrverbrauch. Sparsamere Verwendung der Kohle, deren Verbrauch damals in England um 3,5 Prozent pro Jahr stieg, sei daher keine Lösung. Die von ihm empfohlene Alternative, der Abbau von Staatsschulden, sei hingegen geeignet, das Wachstum zu verlangsamen.

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einzuleiten und in ein Mineral zu verwandeln, beweisen, dass Umwelt- und Ressourcenproblem nicht mehr im Verbund gesehen werden, sondern dass das eine das andere völlig überwuchert hat. Welch geniale Idee aus dem Geist des Neoliberalismus  ! Wir verwandeln auch noch den Rest eines Energievorrats, den nichts und niemand mehr auffüllen kann, in Gestein und merken nicht einmal mehr, welches Verbrechen wir an allen nach uns Lebenden begehen. In diesem Geist wird über die Umweltbelastung geredet, die der massenhafte Gütertransport über die Weltmeere erzeugt, aber nicht mehr darüber, wie die Globalisierung dazu beiträgt, dass das fossile Energiekonto der Menschheit dahinschmilzt. ***

Ein oder zwei Generationen nach uns wird man fassungslos fragen, wie es den Ökonomen des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts möglich war, so beharrlich über die Unmöglichkeit eines unbegrenzten exponentiellen Wachstums hinwegzusehen. Wächst eine Größe jeweils in gleichen Zeitabschnitten, also zum Beispiel pro Jahr, um einen gleich bleibenden Betrag, sprechen wir von einem linearen oder konstanten, wächst sie um einen bestimmten Prozentsatz, sprechen wir von expo­ nen­tiellem Wachstum. Ich habe das Phänomen des exponentiellen Wachstums bereits in meinem Buch Die Rache des Geldes23 anhand der berühmten Schach-Legende veranschaulicht. Es gibt nichts Besseres zur Visualisierung eines exponentiellen Wachstums als das Schachbrett. Aufgefordert, einen Wunsch zu äußern, sagt der Erfinder der Schachspiels zum König  : Lege mir ein Reiskorn auf das erste Feld des Schachbretts, zwei auf das nächste, vier auf das dritte, und so weiter, auf jedes der 64 Felder doppelt so viele Körner wie auf das vorige. Bekanntlich hätten alle Reisbauern im Reich des legendären Königs selbst in Jahrtausenden nicht genug Reis geerntet, um diesen unmöglichen Wunsch zu erfüllen. Die Endwerte sind astronomisch anmutende Größen, sie sind aber irrelevant. Die Lehre liegt bereits in den ersten und den auf sie folgenden Schritten.

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Am Ende der ersten Reihe auf dem achten Feld liegen 128 Reiskörner, am Ende der zweiten Reihe keine Reiskörner mehr, sondern ein Ein-Kilogramm-Paket Reis. Nur fünf Felder weiter, in der dritten Reihe vor dem Königsbauern, liegen bereits drei Zehn-Kilogramm-­ Säcke.24 Um das Gleichnis auf das Wachstum der Realwirtschaft anzuwenden, müssen wir den Faktor Zeit ins Spiel bringen, und zwar die Zeit zwischen dem Schritt auf ein Feld des Schachbretts und dem Schritt auf das nächste. Zwei Prozent Wirtschaftswachstum bedeuten das Doppelte nach 35 Jahren, das Vierfache nach 70 Jahren, das Achtfache nach 105 Jahren, drei Prozent das Doppelte nach etwas über 23 Jahren, das Achtfache nach 70 Jahren. Bei einem vierprozentigen Wachstum ergibt sich nach 35 Jahren bereits das Vierfache des Anfangswertes und nach 70 Jahren das Sechzehnfache. Wie stark das BIP jährlich wachsen muss, wenn neue Arbeitsplätze den Schwund der Arbeit zur Gänze ausgleichen sollen, ließ der Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz im Oktober 2009 in einem in Wien gehaltenen Vortrag wissen  : Um drei bis 3,5 Prozent pro Jahr. Der Chefökonom der Wiener Arbeiterkammer Günther Chaloupek war einige Jahre zuvor zu fast dem gleichen Ergebnis gelangt. Sollen, zwei Prozent Wirtschaftswachstum zuliebe, die Kinder in 35 Jahren doppelt so oft wie wir heute ein neues Auto kaufen, bei drei Prozent die Urenkel sich in 70 Jahren achtmal so oft wie wir neu einrichten, in den Urlaub fliegen, den achtfachen Verkehr auf den Autobahnen und die achtfache Bautätigkeit ertragen  ? Um eine bestimmte Wachstumsrate zu erzielen, müssen alle Bereiche entsprechend wachsen  – oder Teile überproportional. Welche könnten das sein  ? Bei einem kontinuierlichen Wachstum von zwei Prozent müssten unsere Nachkommen fünf Generationen nach uns bereits 32-mal so oft wie wir ein neues Haus bauen, nach sechs Generationen 64-mal so oft wie wir zum Friseur gehen, nach sieben Generationen 128-mal so oft einen Geschirrspüler kaufen und schnell eine Tasse Tee trinken, nebst allem anderen, ebenfalls entsprechend Vervielfachten. Stellen wir uns statt Reiskörnern Baustellen, Lebensmittelindustrien, Kraftwerke, Autofabriken vor, haben wir das Bild junger, auf-

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strebender Volkswirtschaften vor uns – und bekommen zugleich auch eine Vorstellung von den Grenzen eines Vorganges von solcher Dynamik. Chinas Wirtschaft hat sich von ihren über zehnprozentigen Wachstumsraten verabschiedet, sie sanken seit 2011 kontinuierlich von 9,5 auf 6,6 Prozent,25 was immer noch einer BIP-Verdoppelung (BIP  : Bruttoinlandsprodukt) in zehneinhalb Jahren entspricht und daher ebenfalls nicht lange durchzuhalten ist. In den alten Industriestaaten müssen sich die Wachstumsskeptiker nicht den Kopf darüber zerbrechen, wie man das exponentielle Wachstum einbremsen kann – es nähert sich langsam, aber sicher linearen Werten. Das Problem ist nicht die Kontrolle des Wachstums, sondern die Kontrolle der Ursache, die das Wachstum notwendig macht. Ab einem bestimmten Level lässt sich weiteres Wachstum nicht mehr erzwingen, indem man das System mit Geld überschwemmt. Auf diese Weise fügt man bloß den Problemen auf dem Arbeitsmarkt auch noch Probleme auf dem Geldsektor hinzu. Zu den beliebtesten Argumenten, mit denen Mainstream-Ökonomen auf jede Art Wachstumskritik antworten, zählt die Behauptung, das Wachstum sei immer weniger von der quantitativen und immer mehr von der qualitativen Sorte. In dem Buch Wachstum  ! Die Zukunft des globalen Kapitalismus von Karl-Heinz Paqué* können wir lesen, die Verbesserung der Produkte gehe in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung ein, was dazu führe, dass »ein qualitatives Wachstum im Gewande des quantitativen daherkommt und zu Fehlinterpretationen einlädt.«26 Wenn das stimmt, müssen unsere Nachkommen in hundert Jahren nicht achtmal so viele Autos kaufen wie wir, sondern nur achtmal so gute, aber auch achtmal so teure. Verbesserungen können * Paqué vertritt die originelle Ansicht, dass es gerade wegen der langen Verweildauer des CO2 in der Erdatmosphäre »für die langfristige Wirkung nur von begrenzter Bedeutung« sei, »ob die Verringerung des Ausstoßes ›heute‹ oder ›morgen‹ (sagen wir, in 30 Jahren) erfolgt.« Daher könne man ohne Weiteres einige Zeit so weitermachen wie bisher. (Paqué 2010, S. 104) Auf die von der Zukunft erhofften Technologien und Kenntnisse wird man sich auch in 30 Jahren ebenso wie weitere 30 Jahre später ausreden können.

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nämlich nur dann in die volkswirtschaftliche Gesamtrechnung eingehen, wenn die Produkte dabei auch teurer werden. Tatsächlich findet aber die qualitative Verbesserung vieler Produkte bei gleich bleibenden oder sinkenden Preisen statt. Die Autopreise sind nur ein, aber ein gutes Beispiel dafür. Aus einer Untersuchung der Deutschen Bundesbank geht hervor, dass preisgünstige Alltagsfahrzeuge heute kaum mehr als vor einigen Jahrzehnten kosten. Der Preis des ersten Ford Fiesta betrug 1976 in der Basisversion nach dem Geldwert des Jahres 2012 10.040 Euro. 2012 war er für 10.950 Euro zu haben, um neun Prozent teurer.27 Eine sehr mäßige Preissteigerung, wenn man bedenkt, was nun zur Grundausstattung gehörte, wovon aber 36 Jahre früher noch keine Rede gewesen war. Der Opel Corsa kostete 2012 in der Basisausstattung inflationsbereinigt nur um ganze 2,1 Prozent mehr als der erste Corsa anno 1982. Dies bei größerer Leistung, weniger Verbrauch, mehr Platz, Servolenkung und Airbags. Die Messgröße des Wirtschaftswachstums ist aber nun einmal die Veränderung des BIP, also des Gesamtwerts aller von einer Volkswirtschaft in einem Jahr hervorgebrachten Güter und Dienstleistungen. Wenn ein Opel Corsa 30 Jahre nach seiner Einführung nur um 2,1 Prozent und ein Ford Fiesta nach 37 Jahren inflationsbereinigt nur um neun Prozent mehr kostet, war die alljährliche Preissteigerung dieser Alltagsfahrzeuge und damit auch der Beitrag der Produktverbesserungen zum Wirtschaftswachstum marginal. Der Fiesta ist heute allerdings um 300 und der Corsa sogar um fast 400 Kilogramm schwerer. Man bekommt also für den im Lauf der Jahrzehnte kaum gestiegenen Preis nicht nur eine größere Menge von Metallen und Kunststoffen, sondern auch eine Reihe anspruchsvoller Industrieprodukte (Servolenkung, Airbags…) dazu, die es damals noch nicht gegeben hat oder für die damals extra bezahlt werden musste. Der dafür notwendige Mehraufwand an Energie, Rohstoffen und Maschinen findet Jahr für Jahr statt, schlägt sich aber im Preis und damit im BIP und in den Zahlen über das Wirtschaftswachstum nicht nieder. Unter dem in dieser Fahrzeugklasse herrschenden Konkurrenzdruck

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I. Diagnostischer Teil

wurde, wie bei unzähligen Industrieprodukten, der Mehraufwand von der steigenden Produktivität aufgefangen. Das heißt, der Verbrauch von Rohstoffen und Energie hat bei fast gleichem Preis zugenommen. Dabei handelt es sich um ein materielles Wachstum, das nicht ins BIP und damit auch nicht in die Statistiken über das Wirtschaftswachstum einging. Der Ressourcenverbrauch und der CO2-Ausstoß nehmen daher bei steigender Produktivität selbst bei stagnierendem BIP zu  : ein stilles Wachstum des Ressourcenverbrauchs und der Umweltschäden ohne Wirtschaftswachstum. Die Ökonomen werden sich mit der Realität einer Wirtschaft mit kontinuierlich oder in Schüben sinkendem und schließlich ohne oder mit minimalem Wachstum ebenso abfinden müssen wie einst die Kirche mit der Realität der Sonnenflecken. Je länger sie zögern, sich ihr zu stellen, desto größer werden die Probleme. Daher kann man nur mit Schrecken zur Kenntnis nehmen, wie weit sie von einem solchen Schritt noch entfernt sind. Selbst Wachstumskritiker wie Robert und Edward Skidelsky vertreten in ihrem Buch Wie viel ist genug  ? zwar die Ansicht, dass das Wachstum »für die reiche Welt … kein vernünftiges langfristiges Ziel mehr ist«, wollen dies aber »als eine ethische Wahrheit, nicht als eine Folgerung aus wissenschaftlichen Fakten« verstanden wissen  : »So ernsthaft die Probleme durch die Erderwärmung sind, sie allein verlangen nicht, dass wir uns vom Wachstum abwenden. Dazu bedarf es der zusätzlichen Annahme, die allerdings weithin geleugnet wird, dass Wachstum ab einem bestimmten Punkt grundsätzlich unerwünscht und diese Schlussfolgerung zwingend ist.«28 Die Voraussagen des Club of Rome »erwiesen sich als Panikmache«.29 Die Möglichkeit, dass die angebliche Panikmache auf die Dauer sehr wohl ihre Berechtigung haben könnte, wischen sie mit einem bekannten, David Ricardo entlehnten Argument vom Tisch  : »Wenn bei einem Rohstoff die Reserven schwinden, steigt sein Preis, und damit wird ein Anreiz geschaffen, a) neue Reserven zu suchen, b) vorhandene Reserven effizienter auszubeuten und c) Alternativen zu erforschen. … Wenn wir es mit einer technisch fortgeschrittenen Kultur zu tun haben, die das Bevölkerungswachstum kontrolliert, ist es sehr unwahrscheinlich,

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dass unserem Planeten die Nahrungsmittel, die Energie und andere lebensnotwendige Dinge ausgehen werden. Die Lebensqualität auf einem solchen Planeten steht freilich auf einem anderen Blatt.«30 Wenn, ja, wenn c) nicht zu spät kommt, weil a) und b) inzwischen das Wenige, das von den einst vorhandenen Vorräten übrig war, auch noch aufgezehrt haben. Das Klimaargument weisen Robert und Edward Skidelsky mit einer Schärfe, die schwer zu verstehen ist, zurück  : »Die Forderung der Umweltschützer nach einer Verringerung des Wachstums lässt sich nicht als pragmatische Reaktion auf bekannte Fakten erklären. Darin kommt eine Leidenschaft zum Ausdruck, eine Inbrunst, die sich nicht um Fakten schert. … Die Umweltschutzbewegung ist eine Glaubenslehre, keine Wissenschaft.«31 Robert Skidelsky schrieb das Buch Wie viel ist genug  ? gemeinsam mit seinem Sohn Edward. Er selbst lebt auf John Maynard Keynes’ (1883–1946) einstigem Landsitz Tilton, wurde, wie einst Keynes, ebenfalls als Baron of Tilton geadelt und schrieb eine dreibändige Keynes-Biographie sowie das Buch Die Rückkehr des Meisters – Keynes für das 21. Jahrhundert. Als Ausgangspunkt ihrer Betrachtungen diente den Skidelskys Keynes’ Text über Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder32 aus dem Jahre 1928.* Wenn irgend jemand, dann * Seine Frage war nicht, wie viel der Mensch in hundert Jahren mindestens werde arbeiten müssen. Er überlegte, wie viel Arbeit der Mensch mindestens benötigen werde, um nicht der Langeweile und dem Gefühl der Leere zu verfallen. Was ihm vorschwebte, war nicht mehr und nicht weniger als der Traum vom Goldenen Zeitalter. Keinem verlorenen wie in den antiken Mythen, sondern als Zielvorstellung – und nicht ohne Verweis auf den schweren Weg dahin. Das war ganz aus der unerschöpflichen Fülle technischer Möglichkeiten gedacht, aus dem Geist des grenzenlosen Fortschrittsglaubens und der sozialen Utopien des 19. Jahrhunderts. Die Welt leide »nicht unter dem Rheumatismus des Alters, sondern unter den Wachstumsschmerzen überschneller Veränderungen,« sie sei »von einer neuen Krankheit befallen, deren Namen einige Leser noch nicht gehört haben mögen, von der sie aber in den nächsten Jahren noch recht viel hören werden, nämlich technologischer Arbeitslosigkeit … weil unsere Entdeckung von Mitteln zur Ersparung von Arbeit schneller voranschreitet als unsere Fähigkeit, neue Verwendung für die Arbeit zu finden.« Das sei aber nur ein vorübergehender Zustand.

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I. Diagnostischer Teil

kann Robert Skidelsky als Ökonom in der direkten Keynes-Nachfolge bezeichnet werden. Umso mehr Beachtung verdient eine schroffe Absage an jede Wachstumskritik als »Folgerung aus wissenschaftlichen Fakten« von dieser Seite. Mit ihrer Position zum grenzenlosen Wachstum unterscheiden sich die Keynesianer nicht grundsätzlich von den Mainstream-Ökonomen. Dies gilt auch für den Nobelpreisträger Joseph E. Stiglitz, einen der profiliertesten Kritiker des Mainstreams. In seinem Buch Der Preis der Ungleichheit  – Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht33 erwähnt er Wachstum an vielen Stellen ohne jede differenzierende Einschränkung als Ziel. Er verspricht sich von der Rückkehr zu »unserem historischen Erbe und unseren Werten … nicht nur eine deutlich höhere Lebensqualität … sondern auch ein stärkeres Wirtschaftswachstum … als es der Fall wäre, wenn sich die sozialen Gräben vertiefen« (S. 371). Er meint, »dass Fairness und Gerechtigkeit keine große Rolle mehr spielen,« zeigt sich von »Defiziten in puncto Wachstum und BIP« (S. 23) überzeugt, kritisiert den Mythos, nur eine »strenge Sparpolitik, nicht die Erhöhung der Staatsausgaben könnten die Wirtschaft auf den Wachstumspfad zurückbringen« (S. 302) und befürchtet, dass »effizienzverbessernde Strukturreformen nur bewirken, dass die Wirtschaft weniger Arbeitskräfte braucht, ganz gleich, wie viel Output sie produziert«, wenn »jetzt nichts zur Ankurbelung von Nachfrage und Wachstum getan wird« (S. 308). Paqué, der unter anderem Finanzminister des Bundeslandes Sach­ sen-Anhalt und Mitglied der Enquete-Kommission Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität des deutschen Bundestages war, vertritt die Wachstumsideologie zwar mit besonderer Radikalität. Er spricht aber nur deutlich aus, was viele denken  : »Beim derzeitigen Verbrauch reichen die Vorräte an Steinkohle für über 100, an Braunkohle über 200, an Erdöl über 40 und an Erdgas über 60 Jahre. Zwar schrumpfen diese Zeiträume rein rechnerisch, wenn wir eine kräftige wachstumsbedingte Zunahme des Verbrauchs unterstellen. Allerdings bleibt dann die Frage, inwieweit nicht durch Preissteigerungen wieder verstärkte Suchprozesse nach neuen Technologien und Vorräten angestoßen

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würden, genau wie bei den Ölpreisschocks der Vergangenheit. Obendrein bietet die Nutzung der Kernkraft im Grundsatz bereits heute einen Weg der schier unbegrenzten Energieproduktion. … Es geht also im Kern gar nicht mehr um die physischen Grenzen der Nutzung des Planeten auf der Suche nach Rohstoffen.«34 Wenn Steinkohle, Erdöl und Erdgas zu Ende gehen, können sich also unsere Urenkel noch eine Weile mit der Braunkohle behelfen. Nehmen wir einmal an, dass sie sich auf die Kernenergie mit all ihren prinzipiellen Risiken eingelassen haben. Bei einem jährlichen Wirtschaftswachstum von zwei Prozent, wie es sich die Gläubigen des ewigen Wachstums so schön vorstellen, müssten unsere Nachfahren in 200 Jahren bereits die volle heutige Wirtschaftsleistung zusätzlich aufbringen, um die zwei Prozent Wachstum ein weiteres Jahr durchzuhalten. Die Vorstellung von einem 200-jährigen Wachstum von zwei Prozent jährlich ist zwar völlig irreal, aber das Beispiel führt uns vor Augen, dass ein so kräftiges Wachstum nicht ad infinitum weitergehen kann, sondern irgendwann abflachen, enden oder sich in der Nähe eines Minimalwertes einpendeln muss. ***

Die Produktivität steht bekanntlich im engen Zusammenhang mit den Produktionsmengen. Autowerke sind heute mit Stückzahlen, mit denen sie einst hohe Gewinne einfuhren, längst nicht mehr lebensfähig.* Mit ihren Tausenden Beschäftigten sind Autowerke die Flaggschiffe der Industrie, Schließungen gelten als Menetekel. Doch was für die Kraftfahrzeuge gilt, gilt längst auch für eine Unzahl anderer Produkte, von der Jacke über den Stuhl aus Kunststoff bis zum Handy. Steigende Produktivität bedeutet nicht nur weniger, sondern auch einen Konzentrationsprozess der verbleibenden Arbeit. So wurde Wirtschaftspolitik zur Standortpolitik und Standortpolitik zum Synonym für einen * Opel-Vauxhall wurde mit 12 Mann-Tagen pro Fahrzeug zum Sanierungsfall – unter dem neuen Konzerndach Peugeot wurden nur noch zehneinhalb Arbeitstage pro Fahrzeug aufgewendet. (Der Standard, Wien, 8.11.2017).

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I. Diagnostischer Teil

Kampf, in dem es auch unter den hochentwickelten Industriestaaten darum geht, das Abwandern von Produktion zu verhindern und sie aus anderen Ländern abzuwerben. Weil dabei die Erfolge der einen Verluste für andere bedeuten, fallen zwangsläufig ganze Regionen zurück. Nordafrika und der Nahe Osten waren schon vor dem amerikanischen Angriff auf den Irak und dem arabischen Frühling, die direkt in den syrischen Bürgerkrieg und den islamistischen Wahnsinn führten, auf dem Weg, eine ökonomische Sahelzone zu werden. Dank Freihandel kann der kleine arabische Schneider mit dem Preis der in Bangladesch produzierten Jeans unmöglich mithalten. Für den Preis eines zu Zehntausenden erzeugten Schuhs kann ein arabischer Schuster allenfalls eine einfache Sandale machen, aber auch keine regionale Schuhproduktion kann mit Bata & Co. konkurrieren. Der trügerische arabische Frühling brach nicht zufällig in Tunesien aus. Gerade weil das Land so viele gut ausgebildete junge Menschen hatte, wurden die schlechten Berufsaussichten dort als besonders drückend empfunden. Der von der Polizei schikanierte Gemüsehändler Mohamed Bouazizi, dessen Selbstverbrennung zum Fanal wurde, konnte trotz seiner guten Ausbildung nirgends Fuß fassen und war damit typisch für eine ganze Generation. Der Konkurrenzvorteil höherer Produktivität durch große Produktionsmengen kommt überall zum Tragen und erschlägt regionale Produktionen. Dieser Prozess hat längst auf Europa übergegriffen. Wenn der lokale Bedarf nicht genügend Beschäftigung schafft, weil zwar alles, was der Mensch braucht, in den Läden liegt, aber immer weniger davon im Land oder in der Region erzeugt wird, ist guter Rat nicht teuer, sondern es gibt keinen mehr. Wo zu wenig erzeugt wird, entsteht zu wenig Kaufkraft. Griechenland droht dauerhaft zu einer industriellen Erosionszone in Europa zu werden. In einigen Balkanländern sieht es noch viel schlechter aus. Die Kosovaren im Kosovo würden ohne die Geldsendungen der Kosovaren im Ausland verhungern. Wir dürfen uns daher nicht wundern, wenn sich 2015 dem Zug der Flüchtlinge aus Syrien, Irak und Afghanistan auf ihrem Weg in den Norden auch auf dem Balkan Menschen anschlossen.

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Die blühenden Landschaften, die Helmut Kohl 1990 den Ostdeutschen versprach, erwiesen sich als Fata Morgana. Dies war vorhersehbar. In der ehemaligen DDR hat sich der gleiche Prozess abgespielt, den Gunnar Myrdal am Beispiel des italienischen Mezzogiorno und der Südstaaten der USA analysierte  : Dem Aufgehen in einem größeren, fortgeschritteneren Wirtschafts- und Währungsraum folgten Stagnation und Rückschritt  – nur enorme Geldflüsse aus dem Westen konnten in Grenzen halten, wovon sich der Mezzogiorno und die US-Südstaaten, trotz starker Abwanderung, bis heute nicht völlig erholten. Dabei war damals die Weltwirtschaft eine starke Wachstumswirtschaft, während heute ein Wirtschaftsraum wie die EU bereits froh sein muss, Produktionsstandorte zu halten. Wenn sich die Hoffnung auf blühende Landschaften und Arbeit für alle immer deutlicher als Illusion erweist, sollte sich die Politik endlich die Frage stellen, ob die über zwei Jahrhunderte alte Behauptung, ungehinderter Freihandel sei immer und überall gut, auch in der heutigen Welt noch gilt. Wer die Augen nicht vor der Wirklichkeit verschließt, wird zur Erkenntnis gelangen, dass dies nicht der Fall ist  – falls es jemals gestimmt hat. Friedrich List (1789–1846) und Gustav von Schmoller (1838–1917) äußerten bereits im 19. Jahrhundert ihre Bedenken. Dem Konzentrationsprozess unterliegt nicht nur die Produktion, sondern ebenso auch die Distribution. Noch vor wenigen Jahrzehnten hat der Städter das Brot bei einem der vielen kleinen Bäcker, das Fleisch beim Fleischhauer, die offen verkaufte Milch in einem eigenen, besonderen hygienischen Vorschriften unterliegenden Laden und die übrigen Lebensmittel bei einem Händler gekauft, der nicht auch Geschirr, Blumen, Wäsche und Zeitungen führte und dazu noch ein Gasthaus und ein Reisebüro betrieb. Zuletzt ging man vielleicht noch zum Süßwarenhändler. An diese kleinteilige Struktur erinnern sich immer weniger Menschen, bald wird sich niemand mehr an sie erinnern. Eine große Zahl über die Städte verteilter Einzelhändler gibt es nach wie vor, vor allem für Kleidung und Schuhe, Spezial- und gehobene Bedürfnisse, aber der Großteil des Geldes, das für den täglichen Bedarf ausgegeben wird, landet bei einer kleinen Zahl von Einzelhan-

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I. Diagnostischer Teil

delsriesen, die mit ihren Eigenmarken auch immer mehr Produktion okkupieren. Über den Vorteilen für den Konsumenten, vor allem der Auswahl unter einer einst unvorstellbaren Vielfalt von Waren, dürfen wir ihren bedeutendsten volkswirtschaftlichen Effekt nicht vergessen. Obwohl es auch in der Zwischenkriegszeit längst eine Reihe von Handelsketten gab, floss damals und auch noch geraume Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg ein großer Teil der Masseneinkommen in die Kassen einer Unzahl kleiner und mittlerer Unternehmer, die zwar auch Vermögen bildeten, aber einen großen Teil ihrer Gewinne für ihre kleinen und großen Bedürfnisse auch wieder ausgaben, so dass diese im Wirtschaftskreislauf verblieben. Dies ist mit den Gewinnen jener kleinen Zahl von Konzernen und Handelsketten, die heute einen großen Teil unserer alltäglichen und auch weniger alltäglichen Bedürfnisse bedie­ nen, nicht mehr der Fall. Wer sich den Zusammenhang zwischen den Konzentrationsprozessen in Produktion und Distribution und der Konzentration der Gewinne vergegenwärtigt, wird sich über den Befund von Thomas Piketty, Joseph Stiglitz und anderer Autoren, wonach sich immer mehr Geld in immer weniger Händen ansammelt, die Reichen immer reicher werden und immer breitere Schichten zurückfallen, nicht mehr wundern. Die Europäische Zentralbank EZB pumpt immer mehr Geld in ein längst mit Geld geflutetes System und sucht auf diese Weise Wachstum auch dort zu erzwingen, wo es sich totgelaufen hat. Sie überschwemmt den Geldsektor mit Krediten zum Nulltarif, um die Investitionen anzuregen – offenbar zieht sie die Möglichkeit, dass nicht das fehlende Geld, sondern die gesättigten Märkte die Investitionstätigkeit hemmen, nicht in Betracht. Auch der günstigste Kredit muss schließlich zurückgezahlt werden. Sie fördert damit die weitere Aufblähung der Geldblasen und unterminiert die private Altersvorsorge, da es immer schwerer wird, Ersparnisse so anzulegen, dass sie wenigstens nicht an Wert verlieren. Die gut Verdienenden investieren ihre Rücklagen in Eigentumswohnungen, Bauland, Kunst und so fort, weil dies die letzten Alternativen zu den von vielen Menschen als riskanter eingeschätzten

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Die unsichtbare Hand hat keinen Kopf

Anlageformen sind. Wenn Wohnungen und Baugrund in guten Lagen zu Anlageobjekten werden und eine wirklich reiche, international agierende Klientel auch noch nach den »Filetstücken« greift, wird aber ein Preisschub in Gang gesetzt, der unweigerlich auch die Kleinwohnung erreicht, so dass ein immer größerer Teil der Einkommen für das Wohnen ausgegeben werden muss. So wird den Menschen das deutliche Gefühl vermittelt, sich auf die sozialen Netze nicht mehr verlassen zu können, während ihnen die Politik der Geldschwemme die Eigenvorsorge erschwert, da das fürs Alter zurückgelegte Geld immer schwerer werterhaltend, aber risikoarm angelegt werden kann. Ein weiterer Grund für den Verlust des Vertrauens in das politische System und seine Träger. Die Kapitalerträge zählen zu den am besten gehüteten Geheimnissen. Die amerikanischen Universitäten, die eigene Stiftungsfonds verwalten, zählen zu den wenigen Anlegern, die regelmäßig über den Ertrag ihrer Rücklagen öffentlich Auskunft geben. Thomas Piketty weist anhand der Berichte von 853 Universitäten über ihre inflationsbereinigten Renditen der Jahre 1980 bis 2010 nach Abzug der Verwaltungskosten den Zusammenhang zwischen der Größe der Vermögen und deren Ertrag nach.35 Sie erzielten im Durchschnitt eine jährliche Rendite von 8,2 Prozent. Die Universitäten Harvard, Yale und Princeton mit einem Stiftungsvermögen von 15 bis 30 Milliarden Dollar am Beginn der 2010er Jahre erzielten jedoch 10,2 Prozent, die 60 Universitäten mit über einer Milliarde Dollar Vermögen 8,8 Prozent, die nächsten 66 Universitäten mit einer halben bis einer Milliarde Vermögen 7,8 Prozent, weitere 226 Universitäten mit 100 bis 500 Millionen Vermögen 7,1 Prozent und die übrigen 498 Unis mit unter 100 Millionen Vermögen 6,2 Prozent.* Wenn Vermögen von 15 bis 30 Milliarden um so vieles gewinnbringender verwaltet werden können als die der * Der mit einem Vermögen von 895 Milliarden Dollar (30. 9. 2018) größte Staatsfonds der Welt, der norwegische, erzielte von 1998 bis 2014 jeweils nur drei statt der vorgegebenen vier Prozent Rendite – für den kleinen Sparer noch immer eine wunderschöne Verzinsung. Harvards Erfolgsgeschichte wird durch Fehlspekulatio-

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500 »armen« amerikanischen Universitäten mit unter 100 Millionen, verstehen wir wohl besser, warum die Ersparnisse von Millionen kleinen Leuten, die sich keinen teuren Vermögensberater leisten können, nicht an Wert gewinnen, sondern von Jahr zu Jahr verlieren. Österreichs Sparer wurden von 2012 bis 2016 pro Jahr im Durchschnitt um 2,6 Milliarden, 2017 um 4,7 Milliarden Euro ärmer.36 ***

Nur die Ökonomen und die Politiker können der unsichtbaren Hand zum fehlenden Kopf verhelfen. Doch sie haben Handelshemmnisse beseitigt und Märkte vergrößert, bis fast die ganze Welt ein einziger Markt wurde. Sie haben der freien unternehmerischen Betätigung immer mehr Hindernisse aus dem Weg geräumt und dabei den Staat entmachtet. Die europäischen Industriestaaten haben kein Rezept gegen den Schwund der Arbeit, kein Rezept für die Integration der Zuwanderer, kein Rezept gegen die Konzentrationsprozesse, keines gegen die zunehmende Ungleichheit und auch kein Rezept gegen die Entwertung der Rücklagen der vielen Millionen kleinen Sparer. Wenn Politiker heute das Wort Globalisierung in den Mund nehmen, klingt es wie eine Naturgewalt, gegen die kein Mensch etwas tun kann, und wenn sie von notwendigen Reformen reden, klingt es für die Reichen wie eine Verheißung und für die anderen wie eine gefährliche Drohung. Das Geld und der Handel sind Produkte der kulturellen Evolution, also einer langen, zum Teil friedlich, zum Teil gewalttätig verlaufenen Entwicklung. Hingegen ist der Welthandel, wie wir ihn heute kennen, das Ergebnis einer binnen weniger Jahrzehnte durchgezogenen, schematischen Umsetzung theoretischer Annahmen. Dabei wurde nicht auf die Rückmeldungen der Wirklichkeit geachtet und ohne Rücksicht auf die Natur und auf die Interessen späterer Generationen, dafür aber umso mehr auf die von mächtigen Lobbys vertretenen Gewinninteressen vorgegangen. nen in Brasilien getrübt. Mittlerweile haben auch institutionelle Anleger wie die Lebensversicherungen Probleme, die für sie existenziellen Renditen zu erzielen.

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Die unsichtbare Hand hat keinen Kopf

Um die für den Erwerb der Güter notwendige Kaufkraft hervorzubringen, braucht jeder Wirtschaftsraum, jedes Land, jede Region genug Produktion. Die von der ständig wachsenden Produktivität vorangetriebenen Konzentrationsprozesse und die Abwanderung von Arbeit infolge der Globalisierung laufen dieser einfachen Gesetzmäßigkeit zuwider. Während die Politiker in ihren Leerläufen rotieren und auf bessere Zeiten und eine lukrative zweite Karriere nach dem Ausstieg aus der Politik hoffen, wächst die Produktivität, schwindet die Arbeit, werden immer mehr Produkte an immer weniger Standorten konkurrenzfähig produziert und die verbleibende Arbeit wandert in die Niedriglohnländer ab. Prophezeiungen sind ein unsicheres Geschäft, doch mit welchen Gefühlen spätere Zeitalter auf uns zurückblicken werden, ist leicht vorauszusehen. Wir werden als jene Epoche in die Weltgeschichte eingehen, die nahezu den gesamten Weltvorrat an leicht zugänglichen Naturvorräten vernichtete. Man wird sich an uns als diejenigen erinnern, die auf ihrer unentwegten Suche nach Brauchbarem binnen kürzester Zeit tiefer und tiefer in die Erdkruste vordrangen und sich, wo immer sie fündig wurden, berserkerhaft auf das Gefundene stürzten, um es bis auf den letzten Rest zu verbrauchen. Wir werden als diejenigen in die Geschichte eingehen, die bildungsbewusst durch die Überreste versunkener Städte stapften, zehntausende Jahre alte Malereien an Höhlenwänden bestaunten und die sich freuten, zu hören, wenn auch das Erdöl zu Ende gehe, werde doch wenigstens die Braunkohle noch zwei Jahrhunderte reichen. Wir werden zu jener rätselhaften Epoche werden, die allen Späteren nur noch ausgedünnte Reste und als Entgelt für die irreversible Schmälerung ihrer Überlebensbasis einen ungedeckten Scheck auf Erfindungen hinterließ, die es der Menschheit ermöglichen sollten, von Wind, Luft und Sonne zu leben. Dazu freilich auch den anwachsenden Atommüll, der selbst dann noch seine tödliche Strahlung aussenden wird, wenn er so alt geworden sein wird wie heute Troja oder Knossos. Spätere Zeitalter werden den Kopf schütteln über unseren Glauben an ein unbegrenztes Wachstum menschlichen Wissens und Könnens. Verständnislos wird man registrieren, dass wir scharfsinniger als je zu-

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I. Diagnostischer Teil

vor die Vergangenheit mit ihren Brüchen erforschten und genau wussten, mit welcher Plötzlichkeit die Geschichte gelegentlich ihre Haken schlägt. Dass wir im Vernichtungsrausch, dem wir verfallen waren, aber keinen Gedanken daran verschwendeten, wie unsere Nachkommen in einer tabula-rasa-Situation nach Katastrophen, Kulturbrüchen und Latenzperioden gleich welcher Art an Erdöl gelangen sollen, wenn dieses nur noch tausende Meter unter dem Meeresboden zu finden ist. Karl Marx (1818–1883) hat die Ausbeutung der Lebenden wie kein anderer beschrieben. Die Ausbeutung der Ungeborenen durch den Raub der Ressourcen und die Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen konnte auch er nicht vorhersehen. Ratlos wird man sich fragen, welcher Dämon in einer Phase der wissenschaftlichen und technischen Hochblüte die Menschen mit Blindheit geschlagen hatte und ohne Rücksicht auf ihre Kindeskinder handeln ließ. Obwohl wir es nicht wissen können, dürfen wir doch hoffen, dass es auch dann noch Historiker geben wird. Vielleicht werden sie die Protokolle vergessener Aufsichtsratssitzungen längst versunkener Konzerne, falls man sie noch in irgendeinem Archiv findet, nach der einen, einzigen Wortmeldung durchsuchen, man könne die Ausbeutung eines Gewinn versprechenden Vorkommens doch auch unterlassen  – nicht aus Gründen mangelnden Bedarfes, zu geringer Rentabilität, auch nicht wegen der bei der Gewinnung drohenden Schäden für die Umwelt, sondern weil es sich um einen Vorrat handle, auf den auch spätere Zeiten einen Anspruch hätten. Sie werden nichts dergleichen finden, es sei denn in der Krankengeschichte eines mit akuten Wahnideen in eine verschwiegene kleine Privatklinik eingelieferten Managers. Unsere fernen Nachkommen werden von uns sagen, wir hätten gehandelt wie einer, der, bis zum Erbrechen satt, seinen Nachkommen auch noch den letzten Bissen wegfraß. Vielleicht werden leidgeprüfte Forscher dereinst das ganze Politiker-­ Gelaber unserer Zeit noch einmal über sich ergehen lassen, weil sie einfach nicht glauben können, dass keine und keiner von ihnen aussprach, was offenbar mit einem mächtigen Tabu belegt war  : Zukunft sei grundsätzlich unvorhersehbar, daher könne auch niemand das

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Die unsichtbare Hand hat keinen Kopf

Eintreten von Situationen ausschließen, in denen leicht zugängliche, schnell erschließbare Rohstoffe überlebenswichtig werden könnten. Deshalb dürften gerade diese Reserven nicht völlig verschwinden. Welche der Hypotheken, die unsere Nachkommen erben, ihnen am meisten schaden wird, dürfte sich erst im Lauf vieler Jahrzehnte, zum Teil noch nach Jahrhunderten, erweisen. Die Spätfolgen der militärischen und zivilen Atomwirtschaft  ? Die unkalkulierbaren Folgen des gewissenlosen, nur von Profitinteressen geleiteten Umganges mit der Gentechnik  ? Das gekippte Klima  ? Die Ausdünnung der Naturvorräte dürfte die Lösung jedes dieser Probleme erschweren. Wir wissen, dass wir allen nach uns kommenden Generationen schweren Schaden zufügen. Ob und wie sie damit fertig werden, entzieht sich jeder Voraussicht.

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II. Historischer Teil Der kognitive Blackout und das herzlose Jahrhundert

Ich bin sicher, Sie haben in vielen Ihrer Spekulationen Unrecht, besonders in denen, wo Sie nicht meiner Meinung sind. David Hume an Adam Smith, 1769

Der technische Wandel, der um 1800 einsetzte, veränderte das Leben des Menschen so schnell und tiefgreifend wie nie zuvor. Die Welt, in der Adam Smith lebte und an seinem Werk über den Wohlstand der Nationen schrieb, war in eine Phase der stürmischen technischen Entwicklung eingetreten, die mit Macht der Industrialisierung zustrebte. Trotzdem war aber die Wirtschaft, die er kannte und aus der er sein System der Politischen Ökonomie ableitete, noch immer die uralte Kreislaufwirtschaft. Noch immer wuchs, außer der Kohle, nahezu alles, was der Mensch verbrauchte, nach. Die Metalle, die er seit der Bronze- und Eisenzeit verarbeitete, wurden fast zur Gänze wiederverwendet. Neben seiner eigenen Arbeitskraft stand ihm nur die Kraft des Windes, des Wassers und der Tiere zur Verfügung. Schneller als das dahineilende Pferd oder ein Segelschiff vor dem Wind konnte sich kein Mensch fortbewegen und keine Nachricht über eine größere Entfernung als die Reichweite einer Brieftaube verbreiten. Diese Beschränkungen hatten der Produktion und dem Handel seit Jahrtausenden ihre Grenzen gesetzt. Auch die Bücher, die der gebildete Europäer kennen musste, waren seit Jahrhunderten zum Großteil dieselben. Wir verstehen die Abruptheit des um 1800 über die Welt hereinbrechenden Wandels besser, wenn wir uns vergegenwärtigen, wie wenig sich, im Verhältnis zu dem, was nun kam, die materiellen Lebensbedingungen von der Antike bis zum 18. Jahrhundert verändert hatten, wie tief aber auch das Denken dem der griechischen und römischen Antike verhaftet war.

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Der kognitive Blackout und das herzlose Jahrhundert

Das London, das Adam Smith kannte, hatte mehr Ähnlichkeit mit dem Athen des Sokrates und des Aristophanes oder dem Rom des Plutarch als mit dem, was nun innerhalb eines Jahrhunderts daraus wurde. Sein großes Werk erschien genau in dem Augenblick, in dem sich der Mensch anschickte, das Korsett der Natur zu sprengen. In der ersten industriellen Baumwollspinnerei der Welt arbeiteten seit mehreren Jahren die von dem ehemaligen Perückenmacher Richard Arkwright und dem Uhrmacher John Kay erfundenen, noch vom Wasser des Flusses Derwent angetriebenen Spinnmaschinen. 1776, im Erscheinungsjahr des Wohlstandes der Nationen, baute Arkwright bereits seine zweite Fabrik und im gleichen Jahr wurde in einem Produktionsbetrieb in der Nähe von Birmingham die erste von James Watt verbesserte Dampfmaschine aufgestellt, um ihre Fabriktauglichkeit zu erweisen. Nichts illustriert symbolhafter Smiths Stellung zwischen den Zeiten. Arkwright baute in schneller Folge weitere Fabriken, bereits 1779 wurde erstmals eine von Maschinenstürmern zerstört. Noch sah die Staatsmacht dabei zu. Zwei Jahrzehnte später wusste sie sich gegen die Maschinenstürmer nur noch mit Todesurteilen und Deportationen nach Australien zu helfen. Vielleicht hätte ein Besuch in Arkwrights Fabrik Adam Smiths Festlegung auf die Rolle der Arbeitsteilung als Motor der Entwicklung erschüttert. Doch der geniale, aber etwas schrullige Mann hatte sich in sein Haus in Kirkcaldy zurückgezogen, um, verwöhnt von seiner Mutter und einer Cousine und umgeben von einer auf 3.000 Bände anwachsenden Bibliothek, an seinem Werk zu arbeiten. Eine passende Frau hat er nie gefunden. Kein Wunder angesichts der dominanten Mutter, seiner Gewohnheit, überall laute Gespräche mit sich selbst zu führen und seiner Art zu gehen, die von den einen als »seltsam schlängelnd«, von anderen als »wurmartig« beschrieben wurde. Und seiner sagenhaften Zerstreutheit. Als Gast in einem Londoner Salon warf er sein Sandwich in die Teekanne, brühte es mit heißem Wasser auf und wunderte sich über den Geschmack des Tees. Er entstammte Schottlands anglisierter Oberschicht. Nach dem in Schottland damals gebräuchlichen Julianischen Kalender am 5. Juni

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II. Historischer Teil

1723 getauft und wahrscheinlich auch geboren, wuchs er in einem Land auf, das zwischen Hoffnung und Empörung schwankte. Adam Smith war ein Büchermensch, aber auch ein guter Beobachter. Als er im August 1746 mit 23 Jahren seine Studien in Oxford abgeschlossen hatte und sich nach Hause begab, hat er sicher wahrgenommen, durch welches emotional aufgewühlte, tief gespaltene Land er reiste. Die kurze, aber blutige Schlacht von Culloden lag erst vier Monate zurück und Charles Edward Stuart, der mit französischer Unterstützung gelandet war, um den Thron des Vereinigten Königreiches für die Stuarts zurückzuerobern, war nach seiner vernichtenden Niederlage untergetaucht und wurde überall fieberhaft gesucht. Adam Smith hat dem tradierten Clansystem, das nun systematisch zerstört wurde, sicher keine Träne nachgeweint. Die endgültige Vereinigung mit England im Jahre 1707 hatte Schottland den Zugang zum englischen Markt und zu den Märkten der englischen Kolonien geöffnet. Die Freisetzung der in den ­»Killing Times« vom Kampf aller gegen alle absorbierten Energien führte zu einer explosiven Entfaltung schottischer Kreativität, die durch den wirtschaftlichen Aufstieg Großbritanniens auch eine Fülle von Möglichkeiten vorfand, sich zu betätigen. Ein vorbildliches Bildungssystem hatte Schottland bereits, nun öffnete es sich neuen Ideen. Schotten wie James Watt (1736–1819) standen plötzlich an vorderster Front des technischen Fortschritts und die pragmatische, naturwissenschaftlich orientierte schottische Aufklärung mit ihren radikalen philosophischen Fragestellungen wurde zum starken Gegenpol der französischen Aufklärung. Auch die Armen scheint vom einsetzenden Wohlstand ein Zipfel erreicht zu haben, wenn wir Adam Smith glauben dürfen. Um »den Bedürfnissen der Natur abzuhelfen« sei »der Lohn, den der geringste Taglöhner verdient, hinreichend. … Untersuchen wir seine Haushaltung genau, so finden wir dass er ein großes Teil seines Verdienstes noch für Bequemlichkeiten ausgibt, die im Grunde betrachtet, nicht so gar notwendig sind…« Der Satz steht in Smiths erstem großen Werk, mit dem der 36-Jährige zur europäischen Berühmtheit und das auch

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von Immanuel Kant gelesen und in Lessings Laokoon zitiert wurde  : The Theory of Moral Sentiments.37 Den radikalsten Denker Schottlands, seinen späteren Freund David Hume (1711–1776), hatte Smith schon als Student gelesen, das ihm gehörende Exemplar von Humes Traktat über die menschliche Natur war während seiner Studienzeit in Oxford entdeckt, beschlagnahmt und verbrannt worden. In der Theorie der ethischen Gefühle machte Smith ein grundsätzlich positives Menschenbild zur Grundlage einer Ethik, die nicht auf Gott, sondern auf die natürliche Empathie des Menschen für seine Mitmenschen zurückgeführt wurde. Die halbwegs guten Zeiten, wenn sie es denn waren, währten kurz. Nach der Entvölkerung Englands durch die Pest in den Jahren 1348/49 war ein großer Teil der nicht mehr benötigten Äcker in Schafweiden umgewandelt worden. Als die Bevölkerung wieder zunahm, wurden die Schafweiden nach und nach wieder unter den Pflug genommen und die Schafzucht, die in der Zwischenzeit zur Grundlage bedeutender Wirtschaftszweige geworden war, wich nach Schottland aus.* Dies führte zur massenhaften Vertreibung der kleinen Pächter und Kleinbauern, die ihren kargen Böden einen bescheidenen Ertrag abrangen. Ganze Dörfer wurden zerstört, die Bewohner gewaltsam auf Auswandererschiffe nach Amerika oder Australien verfrachtet. »Modernisie* Der deutsche Anglist Hans-Dieter Gelfert führt die »für jede Art Mystik und spekulativer Metaphysik so ganz und gar nicht anfällige« englische Mentalität und die führende Rolle Englands bei der Industrialisierung auf die Schafzucht zurück  : »Reine Ackerbauern, deren Wohl und Wehe von den Zufälligkeiten des Wetters abhängt, werden immer zu irrationalen Weltbildern tendieren. Wenn ein einziger Frost die gesamte Aussaat vernichten und ein einziger Hagelsturm die gesamte Ernte zerschlagen kann, werden solche Ackerbauern dazu neigen, die Naturmächte durch magische Rituale gnädig zu stimmen. … Ganz anders in der Schafzucht. Sie ist zu hoher Rationalität prädestiniert. Wolle lässt sich beliebig lange lagern, so dass man mit ihr spekulieren kann. … Eine Gesellschaft, die diese Herausforderung annimmt und auf sie kreativ reagiert, wird nahezu automatisch ein hohes Maß an Rationalität entfalten.« (Gelfert, Typisch Englisch – Wie die Briten wurden, was sie sind, München 1995, S. 52).

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rungsopfer« würde man heute dazu sagen. Als Adam Smith an seiner Theorie der ethischen Gefühle schrieb, hatten die »highland clearances« aber noch nicht begonnen. In den Sätzen, in denen nicht nur von der Freiheit des Individuums, sondern auch von der Notwendigkeit wirksamer Sanktionen die Rede ist, grollt noch wie der Donner eines abziehenden Gewitters der Nachhall der gewaltsamen schottischen Geschichte. Der Mensch habe »eine natürliche Liebe zur Gesellschaft, er wünscht, dass die Vereinigung unter den Menschen erhalten werde«, er habe »einen Abscheu gegen alles, was auf ihre Zerstörung abzielt, und ist bereit jedes Mittel zu gebrauchen, das einen so verhassten und schrecklichen Erfolg hindern kann.«38 Und zwar bis zur Todesstrafe, bei deren Verteidigung Smith aber plötzlich anderen das Wort überlässt, vielleicht ist ihm dabei doch nicht ganz wohl zumute  : »Daher kommt es, sagt man ferner, dass er es gut heißt, dass die Gesetze der Gerechtigkeit auch durch Lebens-Strafen an denen, die dagegen verbrochen, eingeschärft werden.«39 So wichtig nämlich Wohltätigkeit für die Gesellschaft auch sei, so könne diese ohne sie, »obgleich nicht in dem angenehmsten Zustande, noch fortdauern. Wo aber Ungerechtigkeit überhand nimmt, da muss sie völlig untergehen.«40 Der Ruf »Laissez-faire, Laissez-passer«, lasst die Unternehmer gewähren und die Waren passieren, schallte längst von Frankreich bis nach Schottland herüber. Als Professor für Moralphilosophie an der Universität Glasgow verkündete Adam Smith die von seinem Mentor, dem berühmten Francis Hutcheson (1694–1746) übernommenen philosophischen und gesellschaftspolitischen Lehren, nicht zuletzt jene von den Vorteilen der Handels- und Gewerbefreiheit. Er verfügte über ausgeprägte pädagogische und rhetorische Fähigkeiten, kümmerte sich um die kleinen und großen Probleme der Studenten, trieb Geldmittel auf, betrieb den Bau einer Sternwarte und eines Chemielabors, nahm an zahllosen Debatten teil, bei denen sich mitunter sein cholerisches Temperament entlud und erfüllte ein immenses Pensum an Vorlesungen. Die Buchhandlungen verkauften bereits Gipsbüsten von ihm und der seit Geburt Kränkliche war mit seinen vierzig Jahren einem kör-

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perlichen Zusammenbruch nahe, als er die aufreibende, an den Kräften zehrende Stellung aufgab. Ein Traumjob war ihm in den Schoß gefallen. Er durfte den jungen Herzog von Buccleuch auf seiner Grand Tour, der großen Bildungsreise reicher britischer Adeliger, als Privatlehrer begleiten und wurde dafür mit einer Rente von jährlich 300 Pfund auf Lebenszeit entlohnt. Damit war er für den Rest seiner Tage aller materiellen Sorgen enthoben. Die Reise – von Februar 1764 bis Oktober 1766 – wurde zur an Anregungen und fruchtbaren Begegnungen reichsten Zeit seines Lebens. Sie besuchten Voltaire in Genf und verbrachten, von dem an der britischen Botschaft tätigen, aber in Abreise begriffenen David Hume schnell noch in die Gesellschaft eingeführt, zehn Monate in Paris. Adam Smith verkehrte im Salon des Barons Holbach, wo sich die radikalsten der radikalen französischen Aufklärer trafen, und war häufiger Gast bei den Physiokraten, einem ökonomischen Debattierklub, dessen Wortführer der aus einfachsten Verhältnissen stammende, in den Adelsstand erhobene königliche Leibarzt François Quesnay war. Quesnay (1694–1774) hatte sich in einem Alter, in dem andere nur noch an den wohlverdienten Ruhestand denken, für die ökonomischen Zusammenhänge zu interessieren begonnen. Er schenkte Adam Smith ein Exemplar seines berühmten Tableau Economique und dieser wollte ihm sein eigenes ökonomisches Werk widmen, doch als es erschien, war Quesnay tot. Ein tragisches Ereignis, der plötzliche Tod des jüngeren Buccleuch, der in Südfrankreich zu ihnen gestoßen war, veranlasste den Herzog und seinen Begleiter zur unverzüglichen Heimkehr. Adam Smith hielt sich noch einige Zeit in London auf, um eine Neuausgabe seiner Theory of Moral Sentiments vorzubereiten und begab sich dann umgehend nach Kirkcaldy. Er war ein Mann von großem wissenschaftlichem Ehrgeiz  – nun galt es, sein ökonomisches Werk zu vollenden. Über zwei Jahrhunderte lang hatte der Merkantilismus in seinen diversen Spielarten den Handel als Nullsummenspiel gesehen, bei dem stets einer verlor, was der andere gewann, und die wichtigste Aufgabe der Wirtschaft darin, Überschüsse im Außenhandel zu erzielen und die

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für die Kriegführung und die Bedürfnisse der Herrscher notwendigen Goldreserven aufzubauen. Quesnay hatte das Gold von seinem Thron gestoßen und die Landwirtschaft zur einzigen produktiven Klasse erklärt. Er, Adam Smith, würde nun auch die Landwirtschaft aus ihrer zentralen Stellung vertreiben und an ihrer Stelle die Arbeit einsetzen, und als Motor des Fortschritts die Arbeitsteilung. Er konfrontierte den Leser denn auch schon auf den ersten Seiten mit dem grundlegenden Gedanken des Werks und man meint seine innere Erregung noch heute zu spüren, wenn man diese Stelle liest  : »Der eine Mensch zieht den Draht, der andere streckt ihn, der dritte schneidet ihn in Stücke, der vierte macht die Spitze daran, der fünfte schleift ihn am anderen Ende, um den Knopf darauf zu setzen. Den Nadelknopf zu machen, erfordert selbst zwei oder drei von einander verschiedene Operationen. Den Knopf auf die Nadel zu setzen, ist ein eigenes Geschäft – die Nadeln weiß zu machen ein anderes. Es macht sogar ein Gewerbe aus, die Nadeln in die Papiere zu stecken. … Ich habe eine geringe Fabrik dieser Art gesehen, worin nicht mehr als zehn Menschen arbeiteten, daher zwei oder drei der gedachten Arbeiten von einem verrichtet wurden. … Diese zehn Personen also konnten in einem Tage mehr denn 48.000 Nadeln machen. … Wenn aber jeder für sich hätte alles machen müssen, was zur Verfertigung einer Nadel gehört, ohne dass sie einander in die Hand gearbeitet, ohne dass jeder von ihnen in einem besonderen Zweige der ganzen Arbeit eine besondere Fertigkeit erworben hätte  : so würde, wie gesagt, jeder vielleicht nur eine, gewiss aber nicht mehr als zehn Nadeln zu Stande gebracht haben. … Je höher in jedem Lande die Kultur steigt, je vollkommener der Kunstfleiß in demselben wird  : desto weiter geht auch die Abteilung und Trennung der Gewerbsarten. Was unter einem noch rohen Volke, und in einem noch wenig gebildeten Zustande der Gesellschaft das Werk eines einzigen Menschen ist, macht in einer betriebsamen und verfeinerten Nation die Arbeit von vielen aus.«41 Zu den interessanten Persönlichkeiten, denen er in Paris begegnet war, zählte Denis Diderot (1713–1784), der die arbeitsteilige Herstel­ lung in seiner Enzyklopädie erwähnt hatte. Die Vermutung, dass viel-

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leicht er dem Gast aus Schottland eine solche Manufaktur gezeigt haben könnte, ist gewiss nicht abwegig, doch Adam Smith hatte noch vor seiner ersten und einzigen Auslandsreise dem späteren britischen Finanzminister Charles Townshend beim Besuch einer Gerberei die Vorteile der Arbeitsteilung erläutert und war bei dieser Gelegenheit ausgerutscht und in die stinkende, von giftigen Dämpfen erfüllte Grube mit den Tierhäuten gestürzt. In den auf die große Auslandsreise folgenden Jahren verließ er seinen Geburtsort nur noch selten. Fast schon rührend die Briefstellen, in denen der auf der anderen Seite des Firth of Forth in Edinburgh lebende David Hume den Besuch des Freundes reklamiert. Eine Stelle aus dem Jahre 1769 deutet darauf hin, dass Hume nicht ungern Einfluss auf das im Entstehen begriffene Werk ausgeübt hätte. Adam Smith hatte aber offensichtlich bereits eine feste Vorstellung von dem, was er schreiben wollte, als er sich in eine von allen Störungen abgeschirmte Arbeitssituation zurückzog. Trotzdem musste er seinen auf das Manuskript wartenden Verleger von Jahr zu Jahr vertrösten. Denn obwohl – in Gestalt seiner in Glasgow gehaltenen Vorlesungen – bereits umfangreiches Material vorlag, strich er ständig große Teile dessen, was er zuvor diktiert hatte und setzte immer wieder neu an, um das Geschriebene wiederum zu verwerfen. Zwischendurch machte er lange Spaziergänge oder saß auf einem Hügel in seinem ans Meer grenzenden Garten und starrte stundenlang in die Ferne. Als er nach sechs Jahren mit dem noch immer nicht ganz fertigen Manuskript in London ankam, bat er zunächst den Herzog von Buccleugh um seine Meinung – ob es wert sei, gedruckt zu werden. Dass das Wesen des Handels darin bestand, allen Beteiligten Vorteile zu verschaffen, war unter den Vorkämpfern des Freihandels längst gängige Ansicht, die Vorteile der Handels- und Gewerbefreiheit waren in aller Munde, und auch die Arbeitsteilung war ein bekanntes Phänomen. Doch die Verbindung der beiden Elemente zum Motor des Fortschritts, die fortschreitende Arbeitsteilung als treibende Kraft, die jedoch große Produktionsmengen und daher große Märkte erforderte und somit ihre volle Wirkung nur dort entfalten konnte, wo Handels-

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und Gewerbefreiheit herrschten  : Das war eine zündende Idee mit allen Merkmalen eines der berühmten Geistesblitze, wie sie Archimedes oder Newton zugeschrieben wurden. Damit wurde die Forderung nach Freihandel auf völlig neue Weise untermauert. Hatte Adam Smith ein sogenanntes Aha-Erlebnis  ? Das Verschmelzen bekannter Elemente zu einem neuen System der Politischen Ökonomie erfüllte alle Voraussetzungen, um eine kurze hochfrequente Aktivität in einem menschlichen Gehirn auszulösen.* Vielleicht rief Adam Smith tatsächlich »Heureka  !« Wenigstens innerlich. Seinen Plutarch hatte er ja gelesen. Wachstum und Wohlstand durch fortschreitende Arbeitsteilung, die ihr Potenzial aber nur dann ausspielen kann, wenn der Tätigkeit des nach Verbesserung seiner Lage strebenden Individuums keine unnötigen Hindernisse in den Weg gelegt werden – so etwa lässt sich Adam Smiths Kernbotschaft zusammenfassen. Sie steht im Mittelpunkt eines so komplexen und unübersichtlichen Theoriegebäudes, dass die Debatten, was er gesagt oder nicht gesagt und wer ihn in dieser oder jener Frage völlig missverstanden, nur halb verstanden oder diese oder jene Facette übersehen habe, auch im späten 20. Jahrhundert nicht verstummten. Im 19. Jahrhundert durfte er in den Bücherschränken des Bildungsbürgertums nicht fehlen, aber viel mehr als der Ruf nach Freihandel dürfte in den Köpfen nicht angekommen sein und in den Köpfen vieler Ökonomen auch nicht sehr viel mehr als die Botschaft von der Arbeitsteilung als Quell des Reichtums der miteinander Handel treibenden Menschen und Völker. * Der Ausdruck Aha-Erlebnis für das schlagartige Erkennen eines Zusammenhanges oder einer Problemlösung stammt von dem vor 1938 in Wien tätigen, von den Nazis vertriebenen Sprachtheoretiker Karl Bühler. Das berühmteste Beispiel ist der aus dem Bad springende und mit dem Ruf »Heureka  !« nackt auf die Straße laufende Archimedes. Er soll, ins volle Bad steigend, dieses zum Überlaufen gebracht und im gleichen Augenblick gewusst haben, wie er das Gold der Königskrone auf seine Reinheit prüfen konnte, ohne sie zu beschädigen. Amerikanische Gehirnforscher wollen herausgefunden haben, dass sich das typische Aha-Erlebnis einen Sekundenbruchteil vorher mit einer kurzen hochfrequenten Aktivität im rechten Schläfenlappen des menschlichen Gehirns ankündigt.

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Die unsichtbare Hand kommt in den beiden großen Werken jeweils ein einziges Mal vor. Auch wenn der Reiche, lautet in der Theorie der ethischen Gefühle die Argumentation, die Ernte seiner Äcker am liebsten allein aufessen würde, fasse doch sein Magen nur einen winzigen Teil, außerdem brauche er Personal. Sie alle bekommen daher »den Teil von den Bedürfnissen des Lebens, den sie von seiner Menschlichkeit oder Gerechtigkeit vergebens würden erwartet haben. Die Früchte des Landes ernähren zu jeder Zeit fast die ganze Zahl der Einwohner, die es ernähren kann. Die Reichen haben nichts voraus als die Freiheit, aus dem Haufen das Kostbarste und Beste für sich auszusuchen. … Sie werden durch eine unsichtbare Hand geleitet, bei nahe eben die Austeilung der Notwendigkeiten des Lebens zu machen, welche würde gemacht sein, wenn die Erde unter all ihre Einwohner in gleiche Portionen verteilt wäre.«42 Die unsichtbare Hand ist eine herrliche Metapher, doch die zentrale Bedeutung, die man ihr später unterlegte, hat ihr Adam Smith nicht zugedacht. Er hätte sie sonst im Wohlstand, ebenso wie die Arbeitsteilung, schon viel früher eingeführt als im Vierten Buch, wo von den Systemen der Politischen Ökonomie die Rede ist und die unsichtbare Hand Nutzen für die Handelsbilanz stiftet, indem sie den vorsichtigen Kaufmann veranlasst, lieber im In- als im Ausland zu investieren. Sie war damals möglicherweise einfach eine gängige Redensart. Dass sie eine solche Karriere machen würde, hätte sich Adam Smith niemals träumen lassen. Den Rücksichtslosen späterer Epochen kam aber eine Instanz, die noch den krassesten Egoismus und die wildeste Gier angeblich in eine Wohltat für alle verwandelt, wie gerufen. Adam Smith war ein Musterexemplar des Gelehrten, der die Welt lieber durch den Filter des Geschriebenen als aus direkter Anschauung wahrnimmt, aber alles andere als ein Träumer. Als er am Wohlstand der Nationen schrieb, wusste er über die Ungerechtigkeit in der Welt längst Bescheid. Er ließ keinen Zweifel darüber aufkommen, auf welcher Seite er stand. Den Müßiggang am Wochenende, dessen damals »manche gut bezahlte Arbeiter so allgemein und so laut angeklagt«43 wurden, verteidigte er  – im 18. Jahrhundert  !  – als notwendige Erho-

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lungszeit. Er erklärte nicht nur die Überarbeitung für gefährlich, sondern schrieb, viele Jahrzehnte vor Karl Marx, lebenslange eintönige Arbeit mache stumpfsinnig und unwissend. Er forderte öffentlich finanzierte Elementarschulen und appellierte mit dem Argument, die aktiveren, sorgfältigeren, schnelleren Arbeiter seien stets dort zu finden, wo die Löhne höher seien, an den Eigennutz der Unternehmer. Auch gegen den Kolonialismus und die Sklaverei argumentierte er nicht moralisch, sondern ökonomisch. Englands Kolonien seien wegen der Militärausgaben ein Verlustgeschäft, während der Handel zwischen freien Nationen allen Beteiligten Gewinn bringe. Auch die Produktion von Baumwolle, Tabak und Zucker sei nicht dank, sondern trotz Sklavenarbeit so lukrativ  ; mit freien, bezahlten, motivierten Arbeitskräften würden die Gewinne noch höher ausfallen  : »Ich glaube, daß die Arbeit von Sklaven, ob sie gleich nur den Unterhalt derselben zu kosten scheint, im Grunde die teuerste von allen Arbeiten ist. Ein Mensch, der sich kein Eigentum erwerben kann, hat kein anderes Interesse, als so viel zu essen und so wenig zu arbeiten, als möglich. … Die Zucker- und Tobakspflanzungen ertragen die Unkosten, die mit dem durch Sklaven betriebenen Anbaue verbunden sind  ; der Getreidebau aber erträgt, wie es scheint, zu unsrer Zeit, diese Unkosten nicht. – In den englischen Kolonien (den nordamerikanischen Freistaaten) deren vornehmstes Erzeugnis Getreide ist, wird die meiste Feldarbeit durch freie Leute verrichtet.«44 Und zwar, weil dort die Gewinne so niedrig seien, dass man sich die Sklavenarbeit nicht leisten könne. Smith bezog sein Wissen über die amerikanischen Verhältnisse aus erster Hand, nämlich von Benjamin Franklin, einem erklärten Gegner der Sklaverei, den er schon in Frankreich kennengelernt hatte und der sich von 1773 bis 1775 ebenso wie er in London aufhielt. Seine Antwort an jene Unternehmer, die überzogene Preise damit verteidigten, die Arbeit koste zu viel, könnte von einem Gewerk­schafter unserer Tage stammen  : Überhöhte Gewinne würden »viel mehr dazu beitragen, die Waren zu verteuern, als hohe Arbeitspreise.«45 Auch seine Kritik am Verabredungsverbot für Arbeiter wird von vielen, die sich sonst gern auf ihn berufen, mit Vorliebe vergessen  : Auch wenn

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vielleicht »in der Länge der Zeit … die Arbeiter dem Meister so notwendig werden, als dieser ihnen ist«, könnten sie Lohnkämpfe viel weniger lang durchhalten als die Unternehmer. Zwar seien »die Verbindungen der Arbeitsleute strenge untersagt«, doch wer daraus, dass die Lohnabsprachen der Meister kaum bekannt werden, auf deren Seltenheit schließe, »kennet eben so wenig die Welt, als die Sache, wovon hier die Rede ist.«46 Er war aber fest davon überzeugt, dass die Marktkräfte Ungleichgewichte selbsttätig beseitigen, wenn der Wettbewerb nicht behindert wird, und ebenso stand für ihn außer Zweifel, dass dies auch auf dem Arbeitsmarkt galt. Größere Märkte und eine immer ausgefeiltere Arbeitsteilung würden dafür sorgen, dass jeder Arbeit fand und Arbeitslosigkeit und Not verschwanden. ***

Die faszinierende Idee, die im Wohlstand der Nationen konsequent ausgeführt wurde, hatte nur eine einzige fatale Schwäche  : Sie entsprach nicht der sich anbahnenden Entwicklung. Richard Arkwrights Baumwollspinnerei, in der ein Arbeiter mehrere Maschinen bediente, hatte wenig Ähnlichkeit mit einer Fabrik, in der einer den Draht zog, ein anderer ihn streckte und ein dritter ihn in Stücke schnitt. Die Zukunft gehörte Arkwrights Fabrik und nicht der arbeitsteiligen händischen Herstellung. Bald sollte die in der Dampfmaschine freigesetzte Kraft der Kohle statt jener der Flüsse die Spinn- und auch alle anderen Maschinen antreiben. Ein um zehn Jahre jüngerer Mann mit den Geistesgaben und dem scharfen Blick Adam Smiths hätte die Diskrepanz wahrscheinlich erkannt. Er aber hatte sich mit seinem mehr oder weniger fertigen Werk im Kopf nach Kirkcaldy zurückgezogen, wo ihm die Mutter und die Cousine den Haushalt führten, um, so wie wir ihn mit allen seinen liebenswerten Eigenschaften und originellen Eigenheiten kennen, einmal pro Woche beim Essen vor den Schulfreunden zu monologisieren und den Rest seiner Zeit mit der Aufgabe zu ringen, sein gewaltiges Gedankengebäude vom Kopf auf das Papier zu bringen. James Watt war gleichzeitig mit ihm an der Universität von Glasgow tätig und sie waren befreundet gewesen. Smith erwähnte die

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Dampfmaschine auch – allerdings lediglich als Beispiel für die Krea­ tivität der Arbeiter  : Ein junger Arbeiter habe bemerkt, »daß, wenn er an die Handhabe des Ventils, welches die Communication geöffnet, einen Strick befestigte, und ihn mit einem gewissen andern Teile der Maschine in Verbindung brächte, das Ventil sich von selbst, ohne sein Zutun, öffnen und schließen« würde und er im Hof mit den anderen spielen konnte, was zu einer »der größten Verbesserungen … bei dieser Maschine, seit ihrer ersten Erfindung« geführt habe.47 Die Dampfmaschinen, von denen er wusste, dienten in erster Linie dazu, das in die Bergwerke eindringende Wasser abzupumpen. Englands, vor allem Londons Haushalte und florierende Gewerbebetriebe hatten im 18. Jahrhundert einen steigenden Bedarf an Kohle. Die Gruben wurden tiefer, das Wasser wurde zu einem immer größeren Problem. Die im Kreise laufend die Pumpen antreibenden Pferde waren ihrer Aufgabe immer weniger gewachsen. Hier kam die Dampfmaschine trotz ihres schlechten Wirkungsgrades als Problemlöser gerade recht. Sie verbrauchte zwar Unmengen von Kohle, aber die fiel ja in den Bergwerken an, während das Futter für die Pferde landwirtschaftliche Nutzflächen beanspruchte und mit hohen Kosten herangeschafft werden musste. Als Konkurrenz für die menschliche Arbeit bei der Produktion der Güter kamen die Dampfmaschinen, die Adam Smith kannte, noch nicht in Frage. Nachdem es James Watt gelungen war, den Wirkungsgrad der Dampfmaschine zu erhöhen, änderte sich das schnell. Er war zwar zunächst noch immer nicht besser als der unserer guten alten Glühbirnen, aber der Überschuss der in der Kohle gebundenen, in der Dampfmaschine freigesetzten Energie gegenüber dem für die Gewinnung und den Transport der Kohle notwendigen Aufwand erreichte nunmehr ein Ausmaß, das hinreichte, um den Siegeszug der Dampfmaschine im Gewerbe und in der aufstrebenden Industrie in Gang zu setzen. Adam Smith hat sein Werk in den letzten Lebensjahren überarbeitet, aber auf den Einzug der Dampfmaschinen in die Fabriken nicht mehr reagiert. Die Botschaft von der Arbeitsteilung als Motor der Entwicklung wurde begeistert aufgenommen, der Autor wurde geehrt

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und zu einem der Zollinspektoren von Schottland ernannt, eine sehr gut bezahlte, aber auch mit Arbeit verbundene Stellung. Bald wurde er, mehr oder weniger gut übersetzt, in aller Welt gelesen. In einer für die Wahrnehmung der Wirklichkeit offeneren Situation wäre der Umstand, dass die Arbeitsteilung nicht beliebig ausgeweitet werden konnte und die Entwicklung längst einen anderen Weg eingeschlagen hatte, der Aufmerksamkeit schwerlich entgangen. Doch Adam Smith hatte, wie man meinte, alles gesagt, was zu sagen war und das ökonomische Denken stand im Bann seines Werks. Während die Ökonomen nachbeteten, Arbeitsteilung und offene Märkte würden den Reichtum der Nationen vermehren, war diese Rolle längst auf die Kraft der Kohle übergegangen. Er starb hochgeehrt im Jahre 1790. Er hatte sich in einem wesentlichen Punkt geirrt, oder er war zu früh stehen geblieben. Er hinterließ seinen Nachfolgern einen solchen Fundus von Themen, dass sich die Suche nach weiteren zu erübrigen schien. Sie waren in der angenehmen Lage, sich auf ihn stützen, ihn interpretieren, drehen und wenden zu können – ausgerechnet in einer Zeit, in der das Neue mit ungeheurer Wucht über die Welt hereinbrach und sie binnen weniger Jahrzehnte völlig veränderte. Damit wurde sein Werk zu einem Schulbeispiel für die Macht, mit der ein gewaltiger Wurf neuer Erkenntnis im Weg stehen kann. ***

Es folgte die Trias der frühen klassischen Ökonomen Thomas Malthus, Jean Baptiste Say und David Ricardo. Smith dürfte nur wiedergegeben haben, was gängige Ansicht war, als er schrieb  : »In dem größten Teile von Europa verdoppelt sich, nach wahrscheinlichen Voraussetzungen, die Menschenzahl erst in fünfhundert Jahren.«48 Acht Jahre nach seinem Tod, 1798, war die Hoffnung auf den steigenden Wohlstand der Arbeiterschaft zerstoben und ein anonym erschienenes Werk mit dem Titel Essay on the principles of Population fand gewaltigen Widerhall. Der Autor blieb nicht lange unbekannt. Es handelte sich um den 32 Jahre alten, kürzlich ernannten Gemeindepfarrer von Albury, Thomas

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Robert Malthus. Das Buch, das ihn berühmt und berüchtigt machen sollte, behandelte kein ökonomisches, sondern ein bevölkerungspolitisches Thema, doch in den späteren ökonomischen Debatten sollte er noch eine wichtige Rolle spielen. Er prophezeite gigantische Hungersnöte als Folge einer exponentiellen Zunahme der Bevölkerung bei lediglich linearer Zunahme der Agrarproduktion. Ausgehend von der Verknappung der Nahrungsmittel, die er als Tatsache voraussetzte, für die er jedoch keinen Beweis vorbrachte, bestritt er jenes Recht, »das man dem Menschen ganz einstimmig beilegt, das er nach meiner Überzeugung aber durchaus nicht besitzt und nicht besitzen kann, das Recht zur Subsistenz, wenn er sie durch seine Arbeit nicht wirklich erkaufen kann.«49 Er müsse lernen, »dass er schlechthin kein Recht habe, von der Gesellschaft auch nur den kleinsten Bissen mehr zu verlangen, als was seine Arbeit den Umständen gemäß aufwiegen kann«.50 Malthus (1766–1834) war gerade drei Wochen alt, als, zwei Feen gleich, David Hume und Jean-Jacques Rousseau an seiner Wiege erschienen, um, wie Keynes in seinem biographischen Essay meinte, mit ihrem Kuss mancherlei Geistesgaben auf das Kind zu übertragen. Es wurde von zwei Privatlehrern unterrichtet, äußerst unangepassten Geistern. Der Vater war ein glühender Anhänger Rousseaus und der damals weit verbreiteten sozialutopischen Theorien, doch die Indoktrinierung mit den Überzeugungen des begüterten Herrn Papa scheint beim Sohn Widerstand erzeugt zu haben. Der Hochbegabte kämpfte mit enormer Willenskraft gegen die von einem Vorfahren geerbte Sprechbehinderung durch eine Lippenspalte und schloss seine Studien am Jesus College der Universität Cambridge als bester Mathematiker seines Jahrganges ab. In seinem skandalträchtigen ersten Buch stand genau das, was ein großes Publikum keine zehn Jahre nach den Schrecken der französischen Revolution hören wollte. Seine Ideen waren zum Teil nicht neu, aber erst in der Form, die er ihnen gab, gewannen sie die Durchschlagskraft einer aktuellen, dem Zeitgeist Ausdruck gebenden Ideologie. Er forderte die Einstellung jeder Armenunterstützung und begründete dies damit, jeder überzählige Mensch vermehre nur die Zahl der

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ohnehin zum Tod durch Hunger oder Seuchen Verurteilten. Seine Vorschläge liefen allerdings darauf hinaus, der Unbarmherzigkeit der Natur zuvorzukommen und sie noch weit zu übertreffen  : »Statt den Armen Reinlichkeit zu empfehlen, muss man die Unsauberkeit anpreisen. In den Städten muss man die Straßen wieder enger machen, die Menschen noch enger zusammendrängen, und Äser herumstreun, um die Pest wieder herbei zu locken. … Die notwendige Mortalität muss statt haben, nur ihre Maske ist verschieden, sie selbst immer sich gleich, immer gleich furchtbar. Gelingt wirklich, eine Krankheit auszuroden, so wird alsbald eine andere, vielleicht noch verderblichere hervorschießen.«51 Kinder kriegen sollten die Armen schon gar nicht  : »Wenn die Leute zum Heiraten durch die Aussicht auf die sichere Versorgung durch Pfarralmosen im Hintergrunde verleitet werden, so werden sie nicht nur unverantwortlich verführt … Elend über sich und ihre Kinder zu bringen, sondern auch, ohne es zu wissen, zu gleicher Zeit den Zustand aller ihres Gleichen zu verschlechtern.«52 Doch nicht nur die Sexualität, auch die Mildtätigkeit beschert dem Menschen Lust und ist daher gefährlich, freilich lang nicht so wie die Sexualität  : »Die Erfahrung hat allerdings gelehrt, dass der Trieb zur Mildtätigkeit nicht so stark ist, als die Geschlechtsneigung und dass, im Allgemeinen genommen, weit weniger Gefahr von wilder Befriedigung des erstern als des leztern zu befürchten ist … Uns, denen Gewissen verliehn ist, liegt daher offenbar die Pflicht ob … es dahin zu bringen, dass wir diesen Trieben nur dann freien Lauf lassen … wenn die Summe des Menschenglücks offenbar dadurch vermehrt und der erkennbare Endzweck des Schöpfers dadurch erreicht wird.«53 Der Endzweck des Schöpfers, über den Malthus als Geistlicher ja Bescheid wissen musste, bestand darin, die Reichen leben und die Armen verhungern zu lassen, zu welchem Zweck Gott das Privateigentum und die Ungleichheit geschaffen hatte. Wie weise die Welt auf diese Weise eingerichtet sei, müsse ihnen, den Armen, endlich jemand erklären  : »Wenn diese großen Wahrheiten allgemeiner anerkannt und in Umlauf gebracht würden, wenn die niedern Volksklassen überzeugt

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werden könnten, dass nach den Gesetzen der Natur, abgesehn von jeder menschlichen Satzung, ausgenommen der des Eigentums, welche schlechthin notwendig ist, damit eine irgend beträchtliche Menge von Nahrungsmitteln erzielt werde, niemand ein Recht habe, von der Gesellschaft Subsistenz zu fordern, wenn er für seine Arbeit seine Bedürfnisse nicht eintauschen kann, so würde das heillose Geschwätz über die ungerechten Einrichtungen der Gesellschaft größtenteils von selbst verstummen.«54 Doch leider hatte es den niederen Klassen noch keiner erklärt. Daher »werden wir vielleicht auf unsrer Insel selbst erfahren, wie dem Dunghaufen des Pöbels die giftige Pflanze der Tyrannei entsproßt.«55 Den Bevölkerungstheoretiker wollte auch Keynes nicht in seiner ganzen Schrecklichkeit wahrnehmen, wohl deshalb, weil er in Malthus den Ökonomen sah, der seine Konjunkturtheorie bestätigte. Malthus hatte erklärt, wenn 50 Menschen zu ernähren seien, das Korn aber nur für 40 reiche, und wenn man die zehn Ärmsten trotzdem in die Lage versetze, die zum Überleben notwendige Portion Korn zu kaufen, müsse der Preis steigen, trotzdem sei aber nur genug Korn für 40 vorhanden. Keynes sah darin den »Anfang systematischen volkswirtschaftlichen Denkens«,56 verlor aber in seinem biographischen Essay kein Wort über die Inhumanität der von Malthus erhobenen Forderungen. Selbst ein souveräner Formulierer, konnte er es, hingerissen von Malthus’ Sprache, »da ich nun einmal beim Zitieren bin … nicht unterlassen, eine berühmte Stelle … folgen zu lassen, wo in einem abweichenden Zusammenhang … ein zum Teil gleicher Gedanke, prächtiger gekleidet, eingeführt wird  : ›Ein Mensch, der in eine schon in Besitz genommene Welt geboren wird, hat keinen Rechtsanspruch auf die kleinste Menge von Nahrung und hat in der Tat kein Recht, zu sein, wo er ist, falls er nicht von seinen Eltern, gegen die er einen rechtmäßigen Anspruch hat, Unterhalt erlangen kann, und falls die Gesellschaft seine Arbeitskraft nicht braucht. An der großen Festtafel der Natur ist kein Gedeck für ihn gelegt. Sie sagt ihm, sich zu packen, und sie wird ihre eigenen Befehle rasch ausführen, falls er nicht das Mitleid eines ihrer anderen Gäste

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erregen kann. Wenn diese Gäste aufstehen und Platz für ihn machen, erscheinen sofort andere Eindringlinge und verlangen die gleiche Gunst … die vorher herrschende Fülle ist in Knappheit verwandelt.‹« Keynes’ Kommentar  : »Nationalökonomie ist eine sehr gefährliche Wis­senschaft.«57 Die Zeit verstand die Botschaft, Menschlichkeit sei kontraproduktiv. Sie nahm bereitwillig zur Kenntnis, dass die Gesetze der Natur dasselbe aussprechen, »was Paulus sagt  : ›Wer da nicht arbeiten will, der soll auch nicht essen.‹«58 Wer arbeiten will, aber keine Arbeit findet, offenbar auch nicht. Die Entstehung der Armut, wie denn eigentlich die Überzähligen überzählig geworden waren, interessierte Malthus wenig. Eine Begründung dafür, dass die Gesetze der Natur auf der Seite der Reichen stehen und ausgerechnet den Arbeitslosen, den Armen, Menschen der Unterschicht das Lebensrecht verweigern, konnte er sich ersparen. Für das Publikum, an das er sich wendete, war das selbstverständlich. Er konnte seine Behauptung, die Bevölkerung vermehre sich exponentiell, während »bei Annahme der allergünstigsten Umstände der Ertrag der Erde auf keine Weise schneller, als in arithmetischer Progression zunehmen könne«,59 nicht beweisen. Dafür lieferte er jenen, deren Rücksichtslosigkeit keine menschliche Anwandlung im Wege stand, das pseudowissenschaftliche Alibi. Aber auch Wohlmeinende wie Charles Darwin (1809–1882) waren von seinen so überzeugend klingenden Argumenten beeindruckt. Malthus wurde zum ersten Sozialdarwinisten, bevor Darwin geboren war. Für den zur Enthaltsamkeit gezwungenen Geistlichen Malthus gab es nur ein einziges zulässiges Mittel gegen die Bevölkerungsexplosion  : sexuelle Enthaltsamkeit. Alles andere lehnte er als verderbliches Laster strikt ab. Der Verdacht, Sexualneid könnte dabei eine Rolle gespielt haben, liegt nahe  : »In manchen Ländern des Südens, wo die Lust des Augenblicks augenblicklich Genuß wird, sinkt die Liebe zum Weibe zum tierischen Appetit, der alsbald in Unmäßigkeit erstickt.«60 Die Heirat des 38-Jährigen mit seiner Cousine Harriet führte zum Verlust seiner Fellowship am Jesus College, dafür wurde ein Jahr später für

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Malthus die erste Professur der Welt für Politische Ökonomie geschaffen. Er zeugte in drei Ehejahren drei Kinder, worauf sich der Hohn der Gegner über den Prediger der Enthaltsamkeit ergoss. Doch dieser Thomas Malthus ist nicht der ganze Thomas Malthus. Er ist vor allem nicht der Thomas Malthus, den Keynes im 20. Jahrhundert als Vorläufer seiner Konjunkturtheorie wiederentdeckte und als Zeugen gegen David Ricardo und Jean-Baptiste Say in Anspruch nahm. Ricardo und Say waren von Adam Smith geprägte unerschütterliche Gleichgewichtsdenker, während Malthus darauf beharrte, dass jene Situation, die sie für ausgeschlossen hielten, sehr wohl eintreten könne – nämlich, dass die Kaufkraft so zurückfiel, dass sie nicht in der Lage war, das gesamte Angebot aufzunehmen. Angebot und Nachfrage, hielt ihnen Malthus entgegen, könnten sehr wohl aus dem Gleichgewicht geraten, so dass es zur Krise kam. Jean-Baptiste Say (1767–1832) war von seinem Vater nach England geschickt worden, um die Sprache zu lernen und eine kaufmännische Ausbildung zu absolvieren. Sein Traité d’économique politique, in dem er, aufbauend auf Adam Smith, erklärte, wie die ­Reichtümer des Privatmanns, der Völker und Regierungen erzeugt, verteilt und konsumiert werden,61 erschien 1803 in Paris. Ricardo fiel Adam Smiths Werk 1799 in der Leihbücherei des Kurortes Bath in die Hände und das Werk schlug ihn sofort in seinen Bann. Der 1772 in London geborene Nachkomme vor der Inquisition aus Portugal nach Holland geflohener Juden hatte mit 14 Jahren begonnen, beim Vater das Börsengeschäft zu erlernen und sich, nach dem Bruch mit der Familie wegen der Heirat mit einer Christin, selbstständig gemacht. Nachdem ihn das Geldverdienen nicht mehr ausgefüllt und er sich mit Mathematik, Chemie und Geologie befasst hatte, wurde er unter dem Einfluss Adam Smiths und dem Eindruck der Entwertung des Papiergeldes zu einem der einflussreichsten Ökonomen aller Zeiten, aber auch zu einem, der wie wenige andere die Meinungen polarisierte. Say und Ricardo waren mit dem Phänomen einer Maschine konfrontiert, die innerhalb kurzer Zeit die Welt völlig veränderte. Dampfschiffe befuhren Flüsse und Meere, Dampfmaschinen arbeiteten »nicht allein

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beim Bergbau, sondern auch bei den Spinnmaschinen, in den großen Brauhäusern zu London und in anderen Fabriken, wo große Bewegungskräfte gebraucht werden, mit außerordentlichem Nutzen« und auch die Times wurde bereits mit der »Dampf-Buchdrucker-Maschine« gedruckt, »die einschließlich des Heizers und des Knaben, der die bedruckten Blätter entnimmt, nur vier Personen zur Bedienung benötigt«.62 Ricardo und Say stimmten darin überein, die Maschinen könnten das Gleichgewicht auf dem Arbeitsmarkt auf keinen Fall dauerhaft gefährden. Beide beschäftigte aber nicht weniger die seit über einem Jahrhundert erörterte Frage, was den Wert der Güter ausmache. Wieso hat Wasser, ohne das der Mensch nicht leben kann, keinen Wert, während ein so nutzloser Gegenstand wie ein Diamant ein Vermögen kostet  ? Das Wasser-Diamanten-Paradoxon hatte zwar kaum praktische Bedeutung, umso mehr faszinierte es die Ökonomen. John Law (1671–1729) erklärte 1705, der Wert der Güter sei größer oder kleiner »durch den Gebrauch, für den sie bestimmt sind … in Proportion zur Nachfrage. Beispiel  : Wasser ist von großem Nutzen, aber geringem Wert, denn die Menge des Wassers ist viel größer als die Nachfrage danach. Diamanten sind von geringem Nutzen, jedoch von großem Wert, denn die Nachfrage nach Diamanten ist viel größer als ihre Menge.«63 Bernardo Davanzati (1529–1606) hatte das Problem bereits 1588 in seinen Lezione delle monete anhand lebenswichtiger Dinge wie der Nahrung und e­ ines für das Überleben so nutzlosen Dinges wie des Goldes erörtert und erklärt, ein Ei zum Preis eines halben Kornes Gold hätte ausgereicht, »den Grafen Ugolini* zehn Tage im Hungerturm am Leben zu erhalten, während das ganze Gold der Welt dazu nicht imstande gewesen wäre.«64 Adam Smith griff John Laws Beispiel auf, unterließ es allerdings, Law an dieser Stelle zu erwähnen – dies geschah nur dort, wo er sich kritisch über ihn äußern konnte. Sein schottischer Landsmann war als Abenteu* Graf Ugolini della Gherardesca war 1289 von seinem Todfeind, dem Erzbischof von Pisa Ruggiero Ubaldini, gestürzt worden. Der Erzbischof ließ den Grafen mit mehreren seiner Söhne und Enkel in einen Turm sperren und die Schlüssel in den Arno werfen. Das Gelass mit den Skeletten soll erst viele Jahrzehnte später wieder geöffnet worden sein.

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rer, Schwindler und Bankrotteur verrufen, bis der österreichische Ökonom Joseph Schumpeter (1883–1950) einen Platz in der ersten Reihe der großen Geldtheoretiker für ihn reklamierte. Smith räumte den Seltenheitsgütern eine Sonderstellung ein, erklärte, das Maß für den Wert aller vom Menschen produzierten Dinge sei die zu ihrer Herstellung aufgewendete Arbeit, und erhob das Getreide in den Rang eines allgemeinen Wertmessers. Da sich die Arbeiter hauptsächlich von Brot ernähren, könne man mit einem Scheffel Getreide überall gleich viel Brot backen, damit gleich viele Arbeiter gleich lange ernähren und gleich viele Güter von ihnen herstellen lassen oder mit dem Gegenwert eines Scheffels Getreide gleich viele von Arbeitern hergestellte Güter kaufen. Für David Ricardo blieb das Werk Adam Smiths mit seiner Fülle von Ansätzen, von denen aus er weiterdenken konnte, aber auch mit seinen verwirrenden und unklaren Stellen, bis zu seinem frühen Tod mit nur 51 Jahren der Bezugsrahmen seines Denkens. Er beharrte auf der Richtigkeit der Arbeitswertlehre  : Die für die Herstellung aufgewendete Arbeit zuzüglich der Gewinne sei maßgeblich für den »natürlichen Preis« der Güter, um den die Marktpreise schwanken. Say hingegen ergänzte zwar das Getreide um den Reis, der in Asien eine vergleichbare Rolle spiele, erklärte aber bereits unmittelbar anschließend an die Einleitung, »woher den Dingen ihr Wert erwachse«  : Die Untersuchung ergebe, »dass er aus dem Gebrauch entstehe, wozu sie geeignet sind. … Immer bleibt es gewiss, dass wenn der Mensch einer Sache Wert zuschreibt, dies lediglich in Rücksicht auf ihren Gebrauch geschehe.«65 Say trat der Auffassung, die Maschinenarbeit könne zu Überproduktion und Absatzkrisen führen, mit seinem berühmten Say’schen Theorem entgegen, jedes Angebot schaffe sich seine Kaufkraft  : »Produkte kauft man nur mit Produkten, und das zum Einkauf dienende Geld selber musste erst mit irgend einem Produkt eingetauscht werden.«66 Karl Marx wirft ihm vor, diesen Satz von Guillaume-François Le Trosne abgeschrieben zu haben.* Da »die bloße Tatsache der Bil* »Say … entlehnt ihn ziemlich unbekümmert den Physiokraten. Die Art, wie er ihre zu seiner Zeit verschollenen Schriften zur Vermehrung seines eigenen ›Wertes‹ aus-

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dung eines Produktes, sogleich wie sie erfolgt ist, für andere Produkte einen Absatz herbeiführt«,67 müsse immer so viel Kaufkraft vorhanden sein, wie der Menge aller angebotenen Waren entspricht und die gesamte Kaufkraft gleich dem gesamten Angebot von Gütern sein. Ein Überangebot könne daher nur auf Teilmärkten entstehen. Mit anderen Worten  : Arbeit und Materialien, die zur Produktion von zehn Hüten aufgewendet wurden, haben, wenn die Hüte zum Verkauf gelangen, bereits Kaufkraft im Gegenwert von zehn Hüten geschaffen. Sollten »Waren auf überschwengliche Preise steigen«, so dass in einem Sektor eine »Anpfropfung und Stockung entsteht … strömen auch die Produktionsmittel nach den leeren Kanälen, und … das Gleichgewicht stellt sich wieder her, und würde selten gestört werden, wenn die Produktionsmittel stets ihrer völligen Freiheit überlassen blieben.«68 Er sah darüber hinweg, dass nach umfangreichen ­Fehlinvestitionen nur die der Vernichtung entgangenen Produktionsmittel nach den leeren Kanälen strömen können. Wir müssen uns nicht an Abertausende unverkäufliche Immobilien in Spanien erinnern, welche die Banken, von denen sie leichtfertig finanziert wurden, in den Abgrund rissen, aus dem sie die Steuerzahler herausholen durften. Bereits 25 Jahre nach Says Tod, 1857, bewies die erste weltweite Wirtschaftskrise mit Millionen Arbeitslosen in Amerika und Europa, deren Folgen bis nach Indien reichten, wie sehr er sich geirrt hatte. Die übermäßigen Investitionen im amerikanischen Eisenbahnbau waren zwar nur eine von mehreren Ursachen, aber die wichtigste, und die Fehlallokation erreichte ein solches Ausmaß, dass es zum Systemabsturz kam. Für den an seinem Traité d’économique politique schreibenden Say eine völlig unmögliche Vorstellung. Dem gegen das Say’sche Theorem anschreibenden Malthus genügte die »Handelsstockung« der Jahre 1814 und 1815, um zu erklären, die Wirklichkeit habe Say widerlegt. Er hielt gebeutet hat, zeige folgendes Beispiel  : ›Der ›berühmteste‹ Satz des Monsieur Say ›On n’achète de produits qu’avec des produits‹ … lautet im physiokratischen Original  : ›Les productions ne se paient qu’avec des productions.‹ (Le Trosne l.c.p. 899.)« Karl Marx, Das Kapital, 1. Band, 2. Auflage, Hamburg 1872, S. 148, Fußnote.

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ihm vor, dass er das Geld als reines Tauschmittel behandelt und die Funktion des Geldes als Mittel der Wertaufbewahrung und damit den Faktor Zeit vernachlässigt habe. Sein Theorem könne daher nur auf eine reine Realtauschwirtschaft angewendet werden. Das Say’sche Theorem wurde in den Rang eines Dogmas erhoben. Die Erzeugung von Menschen führt zwar nicht, »sogleich wie sie erfolgt ist, für andere Produkte einen Absatz« herbei und die menschliche Arbeitskraft verschwindet nicht vom Markt, wenn es zu einem Überangebot kommt, ganz abgesehen von der mangelnden Flexibilität des Angebots infolge der langen Produktionszeit einer einsatzfähigen Arbeitskraft. Trotzdem fand das Say’sche Theorem auch in der Interpretation, dass nicht nur stets genug Kaufkraft für die gesamte Gütermenge vorhanden sein müsse, sondern dass es auch weder ein Überangebot von Kapital noch ein Überangebot von Arbeit geben könne, wenn keine Einmischung marktfremder Kräfte (Gewerkschaften, Mindestlöhne …) erfolgt, seine Anhänger, unter ihnen auch Friedrich von Hayek (1899–1992). In einer Zeit, in der der Großteil der Arbeit von der Energie der fossilen Energieträger verrichtet wird, ist die Behauptung, dass sich jedes Angebot selbst seine Kaufkraft schafft, vollends obsolet. Vom Kopf auf die Füße gestellt besagt Says Theorem jedoch, dass die zum Erwerb der Güter erforderliche Kaufkraft bei der Herstellung der Güter entsteht und dass es daher dort, wo zu wenig produziert wird, auch an der Kaufkraft fehlt. In diesem Sinne sollte man sich vielleicht doch dann und wann daran erinnern. Say war ein aufgeklärter, gegen den aufkeimenden Nationalismus immuner liberaler Humanist. Sein deutscher Übersetzer Morstadt war es nicht. Eine von ihm völlig unmotiviert eingefügte Fußnote zeigt, in welchem Ausmaß bereits 1830 der Antisemitismus das intellektuelle Leben Deutschlands verseucht und wie sehr das herzlose Jahrhundert das Denken der Nazis schon damals vorweg genommen hatte.* * Morstadt nahm eine negative Bemerkung Says über den Feudalismus zum Anlass für eine Anmerkung, in der ehemals polnischen Ukraine grassiere nicht nur die Geißel des Feudalunwesens, sondern »auch die Landplage eines Gewimmels von Juden …

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Der weitaus wichtigere Streitpartner für Malthus hieß David Ricardo. Mit seinem Vorschlag, die Bank of England solle das Papiergeld zwar in Gold einlösen, aber, statt Goldmünzen zu prägen, nur in Form von Barren, die als tägliches Zahlungsmittel nicht in Frage kamen, war er seiner Zeit um Jahrzehnte voraus, ebenso mit der Ansicht, die Bank gehöre verstaatlicht. Das lukrative Privateigentum an der Bank of England endete erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Ricardos Aufsätze zum Thema Geld und Gold bescherten ihm öffentliche Aufmerksamkeit. Als sich Malthus im Juni 1811 brieflich »die Freiheit nahm, sich bekannt zu machen« um »vielleicht durch eine freundschaftliche persönliche Aussprache über die Punkte, in denen wir abweichen, die Notwendigkeit einer langen gedruckten Auseinandersetzung überspringen«69 zu können, begann eine lebenslange Freundschaft. Sie wurde legendär, weil sie in fast allen Fragen gegensätzliche Ansichten vertraten und einander erbitterte öffentliche Wortgefechte lieferten, ohne dass ihre gegenseitige Zuneigung darunter litt. Er hätte ihn »nicht lieber mögen, als ich es tue, würden Sie und ich die gleiche Auffassung teilen«,70 schrieb Ricardo vor seinem Tod an Malthus. Adam Smith hatte sich nicht nur geirrt, als er die Arbeitsteilung in Verbindung mit immer größeren Märkten für die Triebfeder des Fortschritts hielt. Sein elegantes Modell hatte eine weitere Schwäche, von der er meinte, sie nicht berücksichtigen zu müssen. Dafür durfte sich David Ricardo umso mehr mir ihr herumplagen. Eine Ware, deren Preis zwar entsprechend Angebot und Nachfrage steigt oder sinkt, die vom Markt aufgenommen werden muss, weil man sie nicht einlagern oder ins Meer schütten kann, deren Produktion aber nicht nach Bedarf welche, nach Malte-Brun, verderblicher ist als Heuschrecken, weil sie in jederlei Jahreszeit herrscht.« ( Jean Baptiste Say, Ausführliche Darstellung der Nationalökonomie oder der Staatswirthschaft. Aus dem Französischen der fünften Ausgabe, übesetzt, und, theils kritisch, theils erläuternd, glossirt, sowie mit einem vollständigen Real-Auszuge von Say’s Cours d’Économie Pratique begleitet, von Prof. Dr. Carl Eduard Morstadt. Dritte, äußerst stark vermehrte Ausgabe. Heidelberg 1830. 2. Band, S. 467) Der 1775 geborene Geograph Conrad Malte-Brun, hinter dem er sich versteckt, war im Jahre 1800 wegen seiner radikalen Flugschriften aus Dänemark lebenslänglich verbannt worden.

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erhöht oder zurückgefahren werden kann, war in diesem Modell nicht vorgesehen. Eine solche Ware gab es aber, nämlich die menschliche Arbeit. Ricardo behandelte, auch in dieser Frage auf Adam Smiths Linie, die Unterhaltskosten der Arbeiter als Teil der natürlichen Preise. Das natürliche Lohnniveau musste für ein Dach über dem Kopf, Nahrung, Bekleidung und die Aufzucht von Kindern, doch nicht zu vieler, ausreichen. Die Lohnhöhe hing aber von Angebot und Nachfrage ab und eine Alternative dazu war für Ricardo nicht denkbar. Die Schlussfolgerung, die sich daraus ergab, lautete  : »Der natürliche Preis der Arbeit ist jener Preis, der es den Arbeitern, einem wie dem anderen, ermöglicht, zu überleben und sich fortzupflanzen, ohne dass sich ihre Zahl vergrößert oder verringert.«71 Die Erfahrung, dass die Geburtenrate auch bei den Armen sinkt, wenn sie der Armut entkommen, war noch ferne Zukunft. Ricardos Annahme, sinkende Löhne würden die Geburtenrate sinken lassen und umgekehrt, so dass es auch bei der Arbeit zu einem Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage kam, erwies sich als falsch. In den drei Jahrzehnten nach seinem Tod vermehrte sich die britische Bevöl­ kerung um rund 2,3 Prozent jährlich auf über das Doppelte. Dabei dürften aber die Fortschritte der Medizin und Hygiene eine wichtigere Rolle gespielt haben als die Geburtenrate, deren Flexibilität der mechanistisch denkende Ricardo – wohl nicht zuletzt unter Malthus’ Einfluss – weit überschätzte. Der neuen Realität des Maschinenzeitalters kam Say näher als Ricardo, er kam ihr sogar sehr nahe, wo er den Einwand entkräftete, »dass die dem Eigentumsrechte nicht unterliegenden Naturkräfte, wie zum Beispiel der Druck der Atmosphäre in den Dampfmaschinen, nicht wertproduzierend seien. Da ihre Mitwirkung eine unentgeltliche ist, sagt man, so entsteht daraus kein Zuwachs am Tauschwerte der Produkte – dem einzigen Maß des Reichtums. Allein man wird tiefer unten sehen, dass jede produzierte Brauchbarkeit, wofür dem Konsumenten keine Zahlung abgefordert wird, so viel ist, als ein demselben gemachtes Geschenk – als eine Vermehrung von dessen ­Einkommen.«72 Dass

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der Druck der Atmosphäre in den Dampfmaschinen von der verbrennenden Kohle erzeugt wird, die sehr wohl dem Eigentumsrecht unterliegt, kam Say seltsamerweise, jedenfalls in diesem Zusammenhang, nicht in den Sinn. In seinem Cours d’Economie Politique Pratique findet sich jedoch folgende Stelle  : »Die Dampfmaschinen setzen, bis zu einem gewissen Grad, an die Stelle der Konsumtion der Produkte der Oberfläche des Bodens, die Konsumtion eines unterirdischen Produktes, nämlich der Steinkohle.«* Der Liberalismus eines Ricardo und Say war noch immer der ­humane Liberalismus Adam Smiths, aber eine Alternative zur sich selbst regelnden und immer wieder ins Gleichgewicht bringenden Wirtschaft war für sie nicht denkbar. Sie waren die Vorkämpfer einer von der staatlichen Umklammerung befreiten Wirtschaft und daher schicksalhaft an ihr Gleichgewichtsdenken gekettet. Eine sich nicht selbst regelnde, nicht stets selbsttätig zu einem Gleichgewicht findende Wirtschaft hätte eines externen Regulators bedurft. Dafür wäre damals wie heute nur der Staat in Frage gekommen. Ihm eine solche Funktion zuzugestehen, hätte damals für den Liberalismus den Zusammenbruch seiner Grundlagen bedeutet, es hätte bedeutet, zu Kreuz zu kriechen und dem Staat neuerlich das Sagen in der Wirtschaft einzuräumen. Es war das Undenkbare schlechthin. Daher der Widerstand, welcher die klassischen Ökonomen das Wertparadox der Kohle übersehen ließ, daher auch die tiefe Skepsis gegenüber dem Staat, die im Liberalismus auch heute noch vorhanden ist. Ricardo wollte finden, was die Fähigkeit des Systems Wirtschaft, sich immer wieder selbst zu stabilisieren, bestätigte. Jedes Gegenargument, lesen wir bei Keynes, stieß auf »einen so völlig verschlossenen Verstand, dass Ricardo nicht einmal erfaßt, was Malthus meint.«73 * Der Satz steht im Kontext einer Berechnung, wonach in Großbritannien 15.000 Dampfmaschinen mit durchschnittlich je 25 Pferdekräften arbeiteten, und da zur Produktion des Futters pro Pferd drei Morgen Landes benötigt wurden, kämen »diese Maschinen dem Ertrage von 1,125.000 Morgen Landes gleich.« Say/Morstadt 1830, 2. Band, S. 474.

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Offenbar gab es eine Sperre, wahrzunehmen, was seinem Gleichgewichtsdenken widersprach. Da eine vom Staat emanzipierte Wirtschaft nur eine selbsttätig zu einem Gleichgewicht von Angebot und Nachfrage findende Wirtschaft sein konnte und durfte, war der kognitive Blackout unvermeidlich. Malthus konnte das Gleichgewichtsdenken Ricardos und Says leicht kritisieren. Er stand nicht in der von Adam Smith begründeten liberalen Tradition. Auch Keynes hatte es leicht, Malthus gegen Ricardo auszuspielen. Der Staat, den er zur Bekämpfung der Weltwirtschaftskrise in die Pflicht nahm, hatte mit dem Staat des 18. und frühen 19. Jahrhunderts nur noch wenig gemeinsam. Neue Maschinen, meinte Say, würden zwar Arbeiter brotlos machen, dem sei aber bald abgeholfen  : Die Produktion eines Gutes in größerer Menge »verringert dessen Preis  : die Wohlfeilheit erweitert dessen Absatz  ; und dessen Produktion beschäftigt, trotz ihrer Vereinfachung, gar bald mehr Arbeiter als zuvor.«74 Das meinte zunächst auch Ricardo, doch da sich die Wirklichkeit offensichtlich nicht daran hielt, fügte er in die 1821, zwei Jahre vor seinem Tod, erschienene dritte Auflage seines Werks On the Priciples of Political Economy and Taxation75 ein neues Kapitel ein  : On Machinery. Er rückte darin von seiner Ansicht ab, die von den Maschinen um ihre Arbeit Gebrachten würden vom Arbeitsmarkt alsbald wieder aufgenommen. Sie war auch nicht mehr zu halten. Er korrigierte sich in dem Sinne, dass die Maschinen zwar die Nachfrage nach Arbeit zunächst verringerten, dass es aber in weiterer Folge, durch die erhöhten Gewinne und Investitionen, auch wieder zu einer erhöhten Nachfrage nach Arbeit kommen werde. Als Say 1832 und Malthus 1834 starb, wurden Bahnlinien gebaut und von Jahr zu Jahr ging mehr menschliche Arbeit auf die Dampfmaschinen über. 1827 arbeiteten in Großbritannien 10.000 Dampfmaschinen, »welche einer Gesamtleistung von wenigstens 300.000 Pferden oder eineinhalb bis zwei Millionen Menschen gleich kommen.«76 Nur einen Teil dieser Arbeit hatten zuvor Menschen verrichtet. Die Palette der vom Menschen hergestellten Dinge hatte sich nie zuvor so sprunghaft erweitert. Viele der Arbeitsplätze, die Jahr für Jahr verloren gingen, wurden durch neue Produktionen ersetzt. Die Kraft der Kohle

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übernahm auch die mit ihrem eigenen Transport verbundene Arbeit, so dass sie in den Industriestaaten bald überall zur Verfügung stand. ***

Thomas Malthus konnte einen der schrecklichsten Sätze, die er geschrieben hatte, nicht mehr zurücknehmen, als in Irland die Große Hungersnot ausbrach und sich zeigte, in welchem Ausmaß der Mal­ thusianismus binnen weniger Jahrzehnte den humanen Liberalismus Adam Smiths unterwandert hatte. Die, wie so viele, von Vorurteilen durchtränkte Stelle lautet  : »Einige haben vorgeschlagen, unsre Armen­ ordnung auch in Irland einzuführen. Aber der elende und verworfne Zustand des gemeinen Irländers, in dem kein Fünkchen des wohlanständigen Stolzes ist, der in England so manchen abhält, um Almosen zu betteln, läßt ziemlich sicher erwarten, dass bald nach Einführung solcher Gesetze alles Einkommen der Grundstücke von den Armen verschlungen werden würde, oder daß man verzweifelnd die Gesetze würde vernichten müssen.«* Dass mit der flächendeckenden Vernichtung der irischen Kartoffel­ ernte durch den Pilz Phytophtora infestans im Jahre 1845 eine Serie von Missernten und eine mehrjährige Hungersnot begann, die eine Million Tote forderte und weitere eineinhalb Millionen Iren zur Auswanderung zwang, ist weithin bekannt. Weniger bekannt ist, wie die Lehren Thomas Malthus’ dazu beitrugen, dass die Katastrophe derartige Ausmaße annahm. Die Mehrheit der katholischen irischen Landbevölkerung bestand aus Unter-Unterpächtern winziger Grundstücke und die Kartoffel war die einzige Nahrung, die sie sich noch leisten konnte. Dank der Kartoffel konnten auf einem Grundstück mehr Menschen überleben als mit jeder anderen Kultur und der Übergang zur Kartoffel als Hauptnahrung der unterdrückten katholischen Landbevölkerung hatte ein starkes Bevölkerungswachstum bewirkt. Dieses war aber nach einer * Das Wort »gemein« wurde damals im Sinne von »gewöhnlich« verwendet. Malthus 1807, 2. Band, S. 239 f.

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Reihe von Missernten, unter anderen nach dem Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora im Jahre 1816 und dem berühmt-berüchtigten europäischen »Jahr ohne Sommer«, wieder stark zurückgegangen.* Mit ihren unbarmherzig eingetriebenen Pachtzinsen und als mise­ rabel bezahlte Arbeiter der für den Export produzierenden Landwirtschaft waren Irlands Arme die Basis des Reichtums der zu einem großen Teil abwesenden protestantischen Gutsbesitzer, der »absentees«, und ihrer als Eintreiber fungierenden Pächter und Verwalter. Die irischen Zustände waren lange vor der Großen Hungersnot ein europäischer Skandal. »Die Vorstädte, wie alle Dörfer, durch die unser Weg führte, waren von einer Beschaffenheit, der ich nichts bisher Gesehenes gleichstellen kann. Schweineställe sind Paläste dagegen« lesen wir beim Fürsten Hermann von Pückler-Muskau, einem unermüdlichen Reisenden, der sich auch über die Unbildung der protestantischen Oberschicht wunderte  : in Galway mit seinen 40.000 Einwohnern sei weder ein Buchladen noch eine Leihbibliothek zu finden gewesen.77 Der französische Politiker und Publizist Prosper Duvergier de Hauranne berichtete einer entsetzten Öffentlichkeit, wie sich die protestantische Geistlichkeit an der Ausbeutung der katholischen ländlichen Unterschicht beteiligte  : »Von zehn Kartoffeln gehört eine ihm, dem Priester einer feindlichen Religion, der nichts anderes kann als zu verfluchen und zu beleidigen.« Werde eine neue protestantische Kirche gebaut oder die alte restauriert, müsse auch der arme Katholik mitzahlen  : »Wenn er sich weigert oder nicht bezahlen kann, wird ihm sein Schwein genommen und sein Ruin besiegelt.«78 Hat er sein oft nur ein Handtuch breites Stückchen Land verloren, ist auch er einer der vielen, die, wenn sie keine Arbeit finden, hungern und wenn sie * Die von britischer Seite damals mit Vorliebe als exorbitant dargestellte Vermehrung der »zügellosen Iren« von vier bis fünf Millionen im Jahre 1801 auf knapp über acht Millionen 1841 entsprach ziemlich genau dem Bevölkerungswachstum in England und Wales im gleichen Zeitraum, betrug aber zwischen den Zählungen von 1831 und 1841 nur noch 0,5 Prozent pro Jahr. In Irland wirkt sich der Aderlass bis heute aus.

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eine finden, selten satt werden. Phytophtora infestans verursachte auch in anderen Ländern schwere Schäden, doch nirgends sonst war eine so arme, unterdrückte, unterhalb jedes Existenzminimums dahinkümmernde Bevölkerung betroffen. Mitte August 1845 hatten die Zeitungen noch eine Rekordernte angekündigt und das Einbringen der Kartoffeln begann vielversprechend, aber während binnen weniger Tage die oberirdischen Teile der Pflanzen abzusterben begannen, zerfielen die eingebrachten, äußerlich schönen Kartoffeln zu einer faulenden Masse. Was folgte, hat sich tief in das Bewusstsein der Iren eingegraben. Die Kartoffelernte des Jahres 1845 war nahezu flächendeckend vernichtet. Der konservative Premierminister Sir Robert Peel ließ Mais aus Amerika kommen. Mais war billig und störte den Markt nicht, da er in Großbritannien nicht produziert wurde. Er wurde in bewachten Depots gelagert, um an die Bevölkerung ausgegeben zu werden, sobald die anderen Lebensmittel für sie unerschwinglich wurden. Hilfskomitees sollten Arbeitsprogramme organisieren, damit ihn die Armen kaufen konnten. Spendengelder wurden mit Regierungszuschüssen verdoppelt. Der für die Durchführung zuständige Charles Trevelyan war ein überzeugter liberaler Anhänger der Ideen von Thomas Malthus oder malthusianischer Liberaler und sah in der Hungersnot eine göttliche Maßnahme zur Reduktion der Überbevölkerung. Er bremste die Hilfsmaßnahmen, wo er konnte. Im Juni 1846 setzte Peel durch, was David Ricardo vergeblich gefordert hatte  : die Abschaffung der Getreidezölle. Die künstlich hochgehaltenen Getreidepreise zu senken, war nicht nur richtig, sondern doppelt richtig angesichts der Hungersnot, bekam aber dem Oberhaupt der Tory-Partei, deren Anhänger die Welt durch die Brille der Getreideproduzenten sahen, nicht gut. Wenige Tage später war er gestürzt. Premier wurde John Russell, der Parteichef der Liberalen. Peels Sturz, dem der massenhafte Überlauf Konservativer zu den Liberalen und zwei Jahrzehnte liberaler Vorherrschaft im Unterhaus folgten, wurde für die Tory-Partei zum Urschock, für die irische Landbevölkerung aber zur Katastrophe. Trevelyans erste Amtshandlungen

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unter der neuen Regierung waren die Zurückweisung einer Schiffsladung Mais, da er nicht mehr gebraucht werde, und der Vorschlag, alle Hilfsmaßnahmen einzustellen. Es sei die »einzige Möglichkeit zu verhindern, dass die Leute gewohnheitsmäßig von der Regierung abhängig werden … sonst laufen wir Gefahr, alle private Initiative zu lähmen und uns das ganze Land für eine endlose Zahl von Jahren auf den Hals zu laden.«79 Nach einem feuchten, kühlen, der Ausbreitung der Pilzkrankheit günstigen Sommer war die Kartoffelernte auch 1846 katastrophal. Sie reichte gerade für einen Monat, und der folgende Winter war der härteste, an den man sich erinnern konnte. Während Irland in all den Jahren der Großen Hungersnot weiterhin Getreide, Vieh und Milchprodukte nach England lieferte und auch im Land für Geld außer Kartoffeln jederzeit alles zu haben war, verbreiteten Elendsgestalten, die auf der Suche nach Essbarem das Land durchstreiften, Cholera, Typhus und Fleckfieber. Die Arbeitshäuser glichen Gefängnissen, trotzdem wurden sie von den Hungernden, die hinein wollten, gestürmt. Im April 1847 stieg die Sterberate in ihnen auf über vier Prozent – pro Woche. Trevelyan warnte vor dem Missbrauch der Lebensmittelverteilung zur Hebung des Wohlbefindens der unteren Schichten. Als gegen Ende des Jahres einige örtliche Hilfskomitees mit der kostenlosen Ausgabe von Nahrungsmitteln begannen, wurde dies sofort untersagt. Es hätte, wie Trevelyan meinte, den Charakter der Iren verdorben. Sir Randolph Routh, der ihm unterstehende Generalkommissar, erklärte, es gebe »keinen Fleck … an dem sich nicht etwas Eßbares finden ließe, und wir müssen die Leute zwingen, das zu verzehren. … Es ist jetzt an der Zeit, etwas Druck auf die Menschen auszuüben.«80 Hätte es damals schon das Unwort des Jahres gegeben, wäre die Wahl wohl auf das Wort Eigeninitiative gefallen. Trevelyan wusste nicht nur die Regierung hinter sich. Der Zeitgeist war liberal, aber längst nicht mehr human, er war zum Geist einer Ellbogengesellschaft geworden. Die Auszahlung der Löhne für geleistete Arbeiten wurde bürokratisch verzögert, immer öfter war eine ganze Familie tot, als das Geld endlich kam. Irische Zeitungen prangerten

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diese Zustände an – zur Empörung der Times angesichts solcher Undankbarkeit  : »Das ist also der Dank, den eine Regierung für ihre Bemühungen erntet, das Elend durch notwendige, aber ruinöse Wohltätigkeit zu lindern … Es ist die alte Sache, die alte Krankheit bricht aus. Es ist der nationale Charakter, die nationale Unbekümmertheit, die nationale Faulheit.«81 Verantwortlich für das Ausmaß der irischen Katastrophe war die Verbindung der zum Dogma erhobenen und rücksichtslos durchgezogenen liberalen Lehren mit einer Ideologie, die das Recht auf Leben ausschließlich dem zugestand, der das nötige Geld dafür hatte und jedem, der es nicht hatte, jedes Recht auf Leben absprach  : »Das Kind eines Armen hat keinen Rechtsanspruch auf die kleinste Menge von Nahrung, wenn seine Eltern es nicht ernähren können und die Gesellschaft seine Arbeitskraft nicht braucht.« Unter den Opfern der Hungersnot waren Hunderttausende Kinder. Trevelyans Verzögerungstaktik bei der Umsetzung der Hilfsprogramme, die Knappheit der später in den Suppenküchen ausgegebenen Rationen, zuletzt die Einstellung der Küchen und die Hinnahme des Massensterbens, all das zählt zur Wirkungsgeschichte von Thomas Malthus. Seine Bedeutung beim Abstieg des Liberalismus von der Humanität Adam Smiths zum »Manchester-Liberalismus« kann nicht hoch genug eingeschätzt werden. Malthusianisch kontaminiert, verlor der Liberalismus in Irland seine Unschuld und sein humanes Gesicht. Die Verheerungen, die Malthus in den Köpfen anrichtete, die indirekten, schleichenden Einflüsse, die er auf das Denken des 19. und 20. Jahrhunderts ausübte, sind keineswegs Geschichte, sie dauern bis heute an. Glaubt man sich sicher, dass sie nicht zuhören, lässt man der Verachtung für die Unterlegenen freien Lauf, wie der damalige amerikanische Präsidentschaftskandidat Mitt Romney, als er im Herbst 2012 bei einem Essen mit reichen Wahlkampf-Unterstützern mit hohntriefender Stimme 47 Prozent der Amerikaner für Parasiten erklärte, während seine Rede von einem Unbekannten mitgeschnitten wurde.* * Dazu Joseph Stiglitz  : »Er unterstellt damit, viele Amerikaner – die Unterstützer von

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Hohn und Verachtung für die Langsameren, weniger Gierigen, die von Skrupeln Gehemmten, Zurückbleibenden zählten damals wie heute zur mentalen Ausstattung des rücksichtslosen Überholers, der jede Chance ohne Rücksicht auf Verluste der anderen ergreift. Er bleibt der Typ, dem der junge Thomas Malthus nach dem Munde schrieb. Es gibt ihn zu jeder Zeit, aber während der beginnenden Industrialisierung vermehrte er sich explosiv. In unseren Tagen erzeugte die Liberalisierung des Geldsektors ideale Bedingungen für diesen Menschenschlag. Der junge Malthus hat das Publikum, für das er weit über seinen Tod hinaus schrieb, offenbar intuitiv erfasst. Sein Essay on the principles of Population, 1798 erschienen, wurde zum Paukenschlag für den Anbruch des herzlosen Jahrhunderts, er gab ihm den Ton an, er wurde zum Alibi, die Armen verhungern zu lassen – in den rasant aufstrebenden Industriestaaten, in den Kolonien, in Irland. ***

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gelangte die bürgerliche Nationalökonomie an einen toten Punkt. Immer mehr Ökonomen erkannten, dass sie ein Statusproblem hatten. Während die Bedeutung der Naturwissenschaften sprunghaft zunahm, war ihre von einem Zustand, in dem sie auf Augenhöhe mit den sogenannten exakten Wissenschaften bestehen konnte, weit entfernt. Ihre Aussagen waren viel zu oft dunkel und voll von Widersprüchen. Wenn sie ihr Fach auf das Niveau einer exakten Wissenschaft heben wollten, konnten sie es nicht dabei belassen. Willkürlich verwendete Begriffe bedurften endlich der Klärung. Nutzwert, Gebrauchswert, Tauschwert waren noch immer nicht scharf abgegrenzt. Schon Jean Baptiste Say war wegen ihres Barack Obama – seien Trittbrettfahrer. Die Ironie besteht darin, dass vielmehr Menschen wie Romney Trittbrettfahrer sind. Er zahlt laut eigener Aussage viel weniger Steuern (in Prozent seines angegebenen Einkommens) als Personen mit viel geringerem Einkommen.« (Reich und Arm – Die wachsende Ungleichheit in unserer Gesellschaft, München 2015, S. 255) Eine weitere Ironie besteht darin, dass Romney, wie einst der junge Malthus, bloß aussprach, was für seine Zuhörer ohnehin eine Selbstverständlichkeit darstellte.

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schwammigen Gebrauches von David Ricardo mit köstlicher Ironie abgekanzelt worden.* Um 1870 traten William Jevons (1835–1882), Léon Walras (1834– 1910) und Carl Menger (1840–1921) fast gleichzeitig mit der Idee hervor, die stufenweise Annäherung an einen Grenzwert zur neuen, alleinigen, sogenannten marginalanalytischen Methode der ökonomischen Analyse zu erheben. Die neue Denkrichtung hatte sich angekündigt. Johann Heinrich von Thünen (1783–1850) hatte das Prinzip des Grenznutzens bereits 1826, lang, bevor dieser Begriff geprägt wurde, in seinem Werk Der isolirte Staat in Beziehung auf Landwirthschaft und Nationalökonomie auf verblüffend einfache Weise am Beispiel der Kartoffelernte veranschaulicht  : »Werden bloß die nach dem Ausgraben oder Aushaken oben auf liegenden Kartoffeln gesammelt, so kann eine Person täglich mehr als 30 Berliner Scheffel auflesen. Verlangt man aber, dass die Erde mit der Handhacke aufgekratzt wird, um noch mehrere mit Erde bedeckte Kartoffeln zu sammeln, so sinkt das Arbeitsprodukt einer Person sogleich tief herab. … Bis zu welchem Grade der Reinheit muss nun der Landwirt beim konsequenten Verfahren das Aufnehmen der Kar* »Wenn ich durch eine verbesserte Maschine mit derselben Menge Arbeit zwei Paar Strümpfe anstatt nur ein einziges Paar machen kann, so verringere ich die Nutzbarkeit eines Strumpfpaares nicht im geringsten, obgleich ich ihren Tauschwert verringere. Wenn ich nun also genau dieselbe Menge Röcke, Schuhe, Strümpfe und aller andern Dinge hätte, wie zuvor, so müsste ich auch genau dieselbe Menge nutzbarer Gegenstände haben und folglich gleich reich sein, wenn Nutzbarkeit der Maßstab des Vermögens wäre  ; aber ich müsste einen geringeren Betrag Tauschwert haben, denn meine Strümpfe würden nur von einem halb so großen Tauschwerte sein, als früher. Nutzbarkeit ist denn also nicht der Maßstab des Tauschwertes. Fragen wir Hrn. Say, worin das Vermögen bestehe, so sagt er uns, im Besitze von Gegenständen, welche Wert haben. Fragen wir ihn dann, was er unter Wert verstehe, so antwortet er uns, dass die Dinge Wert haben, im Verhältnisse, als sie Nutzbarkeit besitzen. Bitten wir dagegen, uns aus einander zu setzen, durch was für Mittel wir im Stande sind, über die Nutzbarkeit der Gegenstände zu urteilen, so antwortet er, durch ihren Wert. So ist also der Maßstab des Wertes die Nutzbarkeit und der Maßstab der Nutzbarkeit der Wert.« (Ricardo 1837, S. 301 f.).

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toffeln betreiben lassen  ? Unstreitig bis zu dem Punkt, wo der Wert des mehr erlangten Ertrags durch die Kosten der darauf verwandten Arbeit kompensirt wird.«82 Der Grenznutzen der Arbeit ist demnach erreicht, sobald jeder weitere Aufwand von Arbeit für die Suche nach weiteren Kartoffeln den Nutzen der gesamten Ernte nicht mehr erhöht. Wird darüber hinaus gesucht, sinkt der Nutzen der gesamten Arbeit.* 1854 reizte ein vom Größenwahn gestreifter genialischer Außenseiter das marginalanalytische Denken bereits bis an die Grenze des Möglichen aus. Die meisten, die Hermann Heinrich Gossens Entwickelung der Gesetze des menschlichen Verkehrs und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handeln zur Hand nahmen, dürften das Buch angesichts des bombastischen Vorworts aber sogleich wieder weggelegt haben  : »Was einem Kopernikus zur Erklärung des Zusammenseins der Welten im Raum zu leisten gelang, das glaube ich für die Erklärung des Zusammenseins der Menschen auf der Erdoberfläche zu leisten. … Und wie die Entdeckungen jenes Mannes es möglich machten, die Bahnen der Weltkörper auf unbeschränkte Zeit zu bestimmen  : so glaube ich mich durch meine Entdeckungen in den Stand gesetzt, dem Menschen mit untrüglicher Sicherheit die Bahn zu bezeichnen, die er zu wandeln hat, um seinen Lebenszweck in vollkommenster Weise zu erreichen.« Er hoffe, »einem Kepler, einem Newton« – er selbst war ja der neue Kopernikus – möge es gelingen, »die Gesetze der Wirksamkeit jener die Menschheit bewegenden Kraft näher zu präzisieren.«83 Für Gossen (1810–1858) bestand der Lebenszweck des Menschen einzig darin, seinen Lebensgenuss zu maximieren  : »Es muss das Genießen so eingerichtet werden, dass die Summe des Genusses des ganzen Lebens ein Größtes werde.«84 Schon Jeremy Bentham (1748– 1832) hatte die Ansicht vertreten, Freude und Leid könnten größer oder kleiner und müssten daher quantitativ zu erfassen sein, doch es * Thünen rechnete bis in die kleinste Einzelheit vor, wie ein höherer Preis, etwa wenn die Kartoffeln für die Alkoholbrennerei statt als Schaffutter verkauft werden, eine intensivere Suche rechtfertigt, andererseits aber höhere Löhne, wenn Knappheit an Arbeitskräften herrscht, das Gegenteil bewirken.

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gibt keinen Beleg für Benthams Einfluss auf Gossen. Über dessen Leben, er starb mit 48 Jahren an Lungentuberkulose, ist wenig bekannt. Niemand weiß, welche Bücher er gelesen hat, es gibt kein Bild von ihm. Sein mit Formeln und Diagrammen gespicktes Werk ist ein auf unhaltbare psychologische Annahmen gegründeter Versuch, die quantitative Erfassung der Lust und der zu ihrer Befriedigung aufgewendeten Mühe in ein mathematisches System zu bringen. Es war ein Glück für William Jevons, dass er nichts von Gossen wusste, als er 1871 seine (bereits 1862 erstmals publizierte) Theory of Political Economy veröffentlichte. Für William Jevons stellte die Etablie­ rung naturwissenschaftlichen Denkens in der Ökonomie ein zentrales Anliegen dar. Seine Forderung lautete, »ebenso, wie all die Naturwissenschaften ihre Grundlage mehr oder minder offensichtlich in den Grundprinzipien der Mechanik haben,« müssten »alle Fachgebiete und Sparten der Wirtschaftswissenschaft von bestimmten Grundprinzipien durchdrungen sein«85. Ausgehend von Jeremy Bentham entwickelte er eine mathematische Theorie der Tauschbeziehungen. Die Kernaussage lautete, dass beim Streben der Wirtschaftssubjekte, ihren Nutzen zu maximieren, die letzten Teileinheiten des Nutzens proportional dem Preis für jedes Gut sein müssen. Worin auch immer der Nutzen eines Diamanten, einer Hose, eines Glases Wasser oder eines Kilogramms Kohle bestehen mochte  : Sein Wert entsprach nun genau dem Nutzen, den sich der Nachfrager davon versprach, ein Gut zu diesem Preis zu erwerben, und dem Nutzen, den sich der Anbieter davon versprach, es zu diesem Preis zu verkaufen, und wo sich daher Angebot und Nachfrage trafen. Wenige Jahre später sprach man nicht mehr von den letzten Teileinheiten des Nutzens, sondern nur noch vom Grenznutzen. Auch Léon Walras hielt sich bei der Arbeit an seinem Allgemeinen Gleichgewichtsmodell für den alleinigen Entdecker der neuen Methode, bis er von Jevons’ Werk erfuhr. In seinem 1874 erschienenen Werk Eléments d’économie politique pure ou théorie de la richesse sociale wurde das in eine Serie mathematischer Formeln gefasste Modell einer Marktwirtschaft entwickelt, in der, allerdings nur unter der Vor-

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aussetzung vollkommener Konkurrenz, der Gral der klassischen wie der neoklassischen Ökonomen, das Gleichgewicht, erscheinen konnte, aber nicht unbedingt erscheinen musste, und wenn es erschien, dann möglicherweise nur für einen kurzen Augenblick. Nur noch sechs Studenten besuchten zuletzt die Vorlesungen des in Lausanne lehrenden Franzosen. Jevons und Walras waren von der Überzeugung durchdrungen, die Ökonomie könne als Wissenschaft nur dann ernst genommen werden, wenn sie sich, ebenso wie die exakten Wissenschaften, mathematischer Methoden bediente. Der Österreicher Carl Menger hingegen blieb der Tradition Adam Smiths und der frühen Klassiker treu, indem er in seinem Werk Grundsätze der Volkswirthschaftslehre in einer für jedermann zugänglichen Sprache erklärte, was bei Jevons und Walras für Nichtmathematiker zu einem guten Teil unverständlich blieb. In den grundlegenden Aussagen stimmten sie weitgehend überein. Menger erklärte mit dem Anspruch, eine absolute Wahrheit auszusprechen, dass »die Erscheinungen des wirtschaftlichen Lebens sich strenge nach Gesetzen regeln, gleich jenen der Natur« und dass sich die ökonomische Theorie »zu der praktischen Tätigkeit der wirtschaftenden Menschen … nicht anders, als etwa die Chemie zur Tätigkeit des praktischen Chemikers«86 verhalte. Der Wert sei keine den Gütern anhaftende Eigenschaft, sondern existiere nur in der Einschätzung ihres Nutzens durch den Menschen, der sie erwirbt. Er sei »nicht nur seinem Wesen, sondern auch seinem Maße nach subjektiver Natur. Die Güter haben ›Wert‹ stets für bestimmte wirtschaftende Subjekte, aber auch nur für solche einen bestimmten Wert.«87 Bereits bei Gossen konnte man lesen  : »Wer mit einer einzigen Speise seinen Hunger stillt, dem wird der erste Bissen am Besten schmecken  ; schon weniger gut der zweite, noch weniger der dritte, und so weiter, bis es ihm nach fast eingetretener Sättigung auch fast gleichgültig geworden sein wird, ob er diesen letzten Bissen noch zu sich nimmt oder nicht.«88 Daher habe jeder weitere für den Hungrigen weniger Wert und der Wert des letzten sei gleich null, was freilich der bekannten Tatsache widerspricht, dass der Gesättigte den Rest seines

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Brotlaibes nicht wegwirft, weil er wertlos ist, sondern im Schrank verwahrt, weil er weiß, dass er wieder hungrig werden wird. Bei Menger liest es sich folgendermaßen  : »Demgemäß ist auch die Bedeutung, welche die einzelnen konkreten Akte der Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses für die Menschen haben, eine sehr ungleiche. Die Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses bis zu jenem Punkte, wo hiedurch das Leben gesichert ist, hat für jeden Menschen die volle Bedeutung der Erhaltung seines Lebens, die darüber hinausgehende Konsumtion hat bis zu einem gewissen Punkte für die Menschen die Bedeutung der Erhaltung ihrer Gesundheit, das ist ihrer dauernden Wohlfahrt, die auch noch darüber hinausreichende Konsumtion hat für dieselben lediglich die Bedeutung eines  – wie die Beobachtung lehrt – noch überdies sich immer mehr abschwächenden Genusses, bis die Konsumtion endlich an eine gewisse Grenze gelangt, wo die Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses bereits eine so vollständige ist, dass jede weitere Aufnahme von Nahrungsmitteln weder zur Erhaltung des Lebens, noch zu jener der Gesundheit beiträgt, noch auch dem Konsumenten einen Genuß gewährt, sondern ihm gleichgültig zu werden beginnt, um bei der etwaigen Fortsetzung derselben zur Pein zu werden, die Gesundheit und schließlich das Leben zu gefährden.«89 Gossen hatte es einfacher und schöner gesagt. Die marginalanalytischen Lehren übertrugen das fragwürdige Prinzip des mit der Bedürfnisbefriedigung abnehmenden Wertes für den Einzelnen auf die Volkswirtschaft, obwohl diese kein Monstrum ist, das sich an einer Ware sättigt und dann genug hat, sondern ein Aggregat nebeneinanderher laufender und ineinander übergehender individueller Bedürfnisbefriedigungen. Sie postulierten, die letzte verfügbare Einheit eines Gutes, die marginale oder Grenzeinheit, bestimme den Wert der gesamten Menge. Eine einzige nicht mehr nachgefragte Einheit eines Wirtschaftsgutes setze den Wert sämtlicher vorhandenen Einheiten auf Null. Mengers Großvater war Gutsbesitzer. Er kannte sehr wohl die Bedeutung langfristiger Waldbewirtschaftung und kam an anderer Stelle auch darauf zurück, dass der Wald für den Landwirt einen Teil seines

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Vermögens darstellt, auch wenn vielleicht erst der Enkel das Holz verkaufen wird. Trotzdem wählte er zur Erläuterung der subjektiven Wertlehre, die eine zentrale Stelle in seinem Werk einnimmt, folgendes Beispiel  : »Wenn der Bewohner eines Urwaldes über einige hunderttausend Baumstämme verfügt, während er doch nur etwa zwanzig Baumstämme jährlich zur vollen Befriedigung seines Holzbedarfes benötigt, so wird er sich in der Befriedigung seiner Bedürfnisse keineswegs geschädigt erachten, wenn durch einen Waldbrand etwa tausend seiner Baumstämme zugrunde gehen würden, insolange er eben mit dem Rest derselben seine Bedürfnisse so vollständig wie früher zu befriedigen in der Lage ist. Von der Verfügung über einen einzelnen Baumstamm hängt demnach unter solchen Verhältnissen die Befriedigung keines seiner Bedürfnisse ab, und hat ein solcher für ihn deshalb auch keinen Wert.«90 Dass Menger ausgerechnet das Beispiel eines auf niedriger ökonomischer Stufe, vermutlich noch in einer Naturaltauschwirtschaft lebenden Urwaldbewohners wählte, eines »Primitiven« in der Diktion seiner Zeit, lässt tief blicken. Ihm konnte er implizit das fehlende Bedürfnis nach der Erhaltung eines Vermögens unterstellen, das er ihm mit der Wendung, wonach er »über einige hunderttausend Baumstämme verfügt«, seltsamerweise sehr wohl zugestand. Er bestand darauf, dass nur Güter, von denen weniger vorhanden ist, als im Moment benötigt und nachgefragt wird, Wert haben und als ökonomische Güter bezeichnet werden können. Güter, von denen auch nur um eine einzige Einheit mehr vorhanden ist, als nachgefragt wird, seien keine ökonomischen Güter. Von ihnen hänge keine Bedürfnisbefriedigung ab, weshalb sie »auch keinen Wert für uns haben.«91 Die Folgerung, der sich zwar das verrufenste aller Denkwerkzeuge, der Hausverstand, widersetzt, auf der Menger jedoch ebenfalls bestand,* * Eine Vorahnung der marginalistischen Logik findet sich bereits in Bruno Hildebrands 1848 erschienenem Werk Die Nationalökonomie der Gegenwart und Zukunft  : »Je mehr die Quantität eines nutzbaren Gegenstandes vermehrt wird, destomehr fällt bei unverändertem Bedürfnis der Nutzwert jedes einzelnen Stückes.« (Frankfurt/M. 1848, 1. Band, S. 318) Dass Kochtöpfe bei gleichbleibender Nachfrage billiger wer-

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lautet  : »Die nichtökonomischen Güter haben … nicht nur, wie dies bisher angenommen wurde, keinen Tauschwert, sondern überhaupt keinen Wert, und somit auch keinen Gebrauchswert.«92 Eine »große Zahl von Volkswirtschaftslehrern«, die »den nicht ökonomischen Gütern zwar keinen Tauschwert, wohl aber Gebrauchswert zuschreibt, ja … an dessen Stelle den Begriff der Nützlichkeit gesetzt sehen wollen« erliegen, so Menger, »einer Verkennung des wichtigen Unterschiedes zwischen den beiden obigen Begriffen und den ihnen zu Grunde liegenden Lebenserscheinungen.«93 Der Urwaldbewohner hatte offenkundig in die Baumstämme, über die er »verfügte«, nichts investiert. Hätte Menger seine Wertlehre anhand von Blumentöpfen oder Jacken erläutert, hätte eingewendet werden können, dass niemand Blumentöpfe oder Jacken wegwirft, weil ein Überangebot besteht, sondern dass sie aufbewahrt oder allenfalls zu einem reduzierten Preis abgestoßen werden, was sich mit der behaupteten völligen Wertlosigkeit schlecht verträgt. Als weiteres Beispiel für seine These, die unabdingbare Eigenschaft jedes ökonomischen Gutes bestehe darin, dass der Bedarf größer sei als die verfügbare Quantität, wählte Menger denn auch wiederum nicht Jacken und Blumentöpfe, sondern die Luxusgegenstände, »weil bei diesen das obige Verhältnis klar zu Tage tritt.«94 Was ebenfalls verwundert, da man jederzeit überall in einen Laden gehen und einen Pelz oder eine Luxusuhr kaufen kann. Wären sie nicht, ebenso wie der Großteil des gesamten Warenangebotes, stets in einer den Bedarf übersteigenden Quantität vorhanden, könnten sie nicht jederzeit verfügbar sein. Sein ausschließlich auf die Nutzenschätzung der einzelnen Wirtschaftssubjekte abstellender methodologischer Individualismus hatte wenig mit der Wirklichkeit zu tun, aber vielleicht kam es darauf gar den, wenn mehr Kochtöpfe auf den Markt kommen, begreift jeder. Muss dabei aber auch der Nutzwert des einzelnen Kochtopfes sinken, verliert der Begriff seinen Sinn. Menger sah in dieser Stelle »eine unvergleichliche Anregung zur Forschung« (Erich Streissler, Carl Menger (1840–1921), in  : Starbatty 1989, 2. Band, S. 125).

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nicht so sehr an. Das Kapital von Karl Marx, Erster Band, war gerade erst erschienen, während er über seiner Volkswirthschaftslehre saß  ; sein Werk lag druckfeucht in der Buchhandlung, als die Pariser Commune blutig niedergeschlagen wurde. Mengers Wertlehre war, beabsichtigt oder nicht, Munition gegen Karl Marx  : »Weder die zur Produktion eines Gutes verwendete, noch die zur Reproduktion eines Gutes erforderliche Quantität von Arbeit oder sonstigen Gütern ist demnach das maßgebende Moment des Güterwertes, sondern vielmehr die Größe der Bedeutung jener Bedürfnisbefriedigungen, rücksichtlich welcher wir von der Verfügung über ein Gut abhängig zu sein uns bewußt sind, denn dies Prinzip der Wertbestimmung gilt für alle Fälle der Werterscheinung und ist keine Ausnahme hievon im Bereiche der menschlichen Wirtschaft vorhanden.«95 Damit war nicht nur Smith’ und Ricardos Arbeitswertlehre, sondern jeder Anspruch der Arbeiter auf den Mehrwert ihrer Arbeit für die bürgerliche Nationalökonomie erledigt. Im Namen quasi-naturwissenschaftlicher Gesetze erteilte Menger der für David Ricardo noch eine Selbstverständlichkeit darstellenden Forderung, die Löhne hätten zumindest das Überleben sicherzustellen, eine klare Absage. Da die »Arbeitsleistungen … nicht an und für sich und unter allen Umständen Güter, oder gar ökonomische Güter« sind und »nicht notwendigerweise Wert« haben, lasse sich »nicht für jede Arbeitsleistung ein Preis überhaupt, am wenigsten aber ein bestimmter Preis erzielen. Die Erfahrung lehrt uns denn auch, dass viele Arbeitsleistungen von dem Arbeiter nicht einmal gegen die notdürftigsten Subsistenzmittel ausgetauscht werden können.«96 Die Fußnote dazu lautet  : »In Berlin kann keine Weißnäherin sich mit ihrer Hände Arbeit bei fünfzehnstündigem täglichem Nähen dasjenige verdienen, was sie zu ihrem Leben braucht  ; Nahrung, Wohnung und Holz vermag ihre Einnahme zu decken, aber die Kleidung kann sie sich auch bei dem angestrengtesten Fleiße nicht verdienen. Ein Ähnliches ist auch in den meisten der übrigen Großstädte zu beobachten.« Aus dem Zusammenhang geht hervor, dass Menger dies keineswegs als Forderung nach der Abschaffung schrecklicher Zustände verstan-

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den wissen wollte, sondern damit seine Theorie untermauerte, wonach selbst der ärgste Hungerlohn dem Wert der menschlichen Arbeit entspricht, wenn er sich mit der subjektiven Einschätzung ihres Nutzens durch die Arbeitgeber und dem, worauf sie einander unterbieten und was die Arbeiter akzeptieren müssen, wenn sie nicht verhungern wollen, deckt  : Die »Subsistenzminima können demnach weder die unmittelbare Ursache, noch auch das maßgebende Prinzip des Preises der Arbeitsleistungen sein.«97 Er gestattete sich nur einige behübschende Floskeln wie »dem Menschenfreund mag betrübend erscheinen …«, wenn er aussprach, was seiner Theorie nach eben leider die unvermeidliche Folge eherner Gesetze war. Alle, die »einen größeren Anteil der einer Gesellschaft verfügbaren Genussmittel den Arbeitern zugewendet sehen möchten, als dies gegenwärtig der Fall ist, verlangen demnach … nichts anderes als eine Entlohnung der Arbeit über ihren Wert … nach dem Maßstabe einer würdigeren Existenz derselben, einer möglichst gleichen Verteilung der Genussmittel und Mühseligkeiten des Lebens. Die Lösung der Frage auf dieser Grundlage hat nun aber allerdings eine völlige Umgestaltung unserer sozialen Verhältnisse zur Voraussetzung.«98 Diese Passagen erschrecken durch ihre an den Thomas Malthus der Bevölkerungstheorie gemahnende Eiseskälte und durch einen Wahrheitsanspruch, der ebenfalls des jungen Malthus würdig war. Mit seiner Wertlehre lieferte Carl Menger die Theorie zur Praxis seiner Zeit und erteilte selbst der schamlosesten Ausbeutung die Absolution der Wissenschaft. Denker über Stock und Stein waren Jevons wie Menger, aber Jevons verlor nicht in dem Maß die Bodenhaftung wie Menger – Bodenhaftung im Sinne eines nie ganz aus dem Kopf verbannten Bewusstseins der sozialen Realität. Mathematische Aussagen erreichen freilich auch niemals die Kälte des von Menger mit Worten über die Berliner Weißnäherinnen und die Entlohnung der menschlichen Arbeit über ihren Wert Gesagten. Was immer ihm vorgeschwebt haben mag, im Ergebnis holte, siebzig Jahre nach Malthus’ Grauen erregender Bevölkerungstheorie, nun auch die reine ökonomische Theorie die inhumane Praxis des mit dem Malthusianismus amalgamierten Libe-

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ralismus ein. Mit dem Siegeszug der Neoklassik erteilte die ökonomische Theorie dem ungehemmten Gewinnstreben die Legitimation der Wissenschaft und erhob es zum Alleinherrscher über die Wirtschaft. Die Behandlung der menschlichen Arbeit als Ware wie jede andere dürfte einer der Gründe dafür sein, dass sich diese Theorie mit solcher Macht durchsetzen konnte und ihre Vormachtstellung bis heute behauptet. Sie befreite das unternehmerische Handeln von jeder sozialen Verantwortung. Wenn sie so richtig und tatsächlich im Bereiche der menschlichen Wirtschaft keine Ausnahme hiervon vorhanden ist, besteht aber auch keine Möglichkeit, den Wert eines begrenzten Naturvorrates und den eines vom Menschen erzeugten Produktes unterschiedlich zu behandeln. Damit ist den Rohstoffreserven, weil sie, solange von ihnen überhaupt noch etwas übrig ist, zu jeder Zeit in größerer als in der für die wirtschaftenden Subjekte auf absehbare Zeit* benötigten Menge vorhanden sind, mit dem Status eines ökonomischen Gutes »nicht nur, wie dies bisher angenommen wurde,« jeder Tauschwert, sondern überhaupt jeder Wert und somit auch jeder Gebrauchswert aberkannt. Der Wert der Naturvorräte ist somit für die neoklassischen Theorien nicht fassbar, weil ihnen zufolge gleich Null. Das Wertparadox der fossilen Energieträger und der Menger’sche Anspruch auf ausnahmslose Geltung seiner Wertlehre im Bereiche der * »Endlich sind auch noch jene Güter hieher zu rechnen, welche zwar mit Rücksicht auf die Gegenwart noch den nicht ökonomischen Charakter aufweisen, im Hinblick auf künftige Entwickelungen jedoch von den wirtschaftenden Menschen in mancher Beziehung bereits den ökonomischen Gütern gleichgeachtet werden. Wenn nämlich die verfügbare Quantität eines nicht ökonomischen Gutes sich fortdauernd verringert, beziehungsweise der Bedarf an demselben sich fortdauernd vermehrt, und das Verhältnis zwischen beiden ein solches ist, dass der endliche Übergang des nicht ökonomischen Charakters des in Rede stehenden Gutes in den ökonomischen vorausgesehen werden kann, so pflegen die wirtschaftenden Individuen konkrete Teilquantitäten desselben, auch wenn das den nicht ökonomischen Charakter des Gutes begründende Quantitätenverhältnis noch tatsächlich vorliegt, mit Rücksicht auf künftige Zeiträume, doch bereits zu Gegenständen ihrer Wirtschaft zu machen und … sich ihren individuellen Bedarf durch Besitzergreifung entsprechender Quantitäten sicherzustellen.« (Menger 1871, S. 65).

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menschlichen Wirtschaft schließen allerdings einander aus. Menger entwickelte seine Preistheorie analog zu seiner Wertlehre als System von Tauschbeziehungen, in dem sich der Preis dort bildet, wo die Einschätzung des Wertes, der aus dem Kauf beziehungsweise Verkauf eines Wirtschaftsgutes für sie erwachsen wird durch die beteiligten Transaktionspartner,* übereinstimmt. Die Preise seien hierbei »lediglich accidentielle Erscheinungen, Symptome des ökonomischen Ausgleiches zwischen den menschlichen Wirtschaften.«99 Werden die Preise der fossilen Energieträger auf die dort dargestellte Weise ermittelt, bleibt ihr Mehrwert unberücksichtigt und ihr Preis entspricht ebenso wenig wie der aus den Gestehungskosten und Gewinnen gebildete Preis dem vollen Wert. Erfasst hingegen die subjektive Einschätzung den vollen Wert des Energieträgers einschließlich seines Mehrwertes, stimmen Wert und Preis nicht überein. Im einen wie im anderen Fall sind wir bei den fossilen Energieträgern Wert und Preis als eigenständigen Kategorien konfrontiert. *** * »Setzen wir z. B. den Fall, es hätten für A 100 Maß seines Getreides einen eben so großen Wert, als 40 Maß Wein, so ist zunächst sicher, dass A unter keinen Umständen mehr als 100 Maß Getreide für jene Quantität Wein im Austausche hinzugeben bereit sein wird, da nach einem solchen Tausche für seine Bedürfnisse schlechter vorgesorgt sein würde, als vor demselben. … Findet aber A ein zweites wirtschaftendes Subjekt B, für welches z. B. schon 80 Maß Getreide einen eben so hohen Wert haben, als 40 Maß Wein, so ist, wofern die beiden hier in Rede stehenden Subjekte dies Verhältnis erkennen und dem Tausche keine Hindernisse entgegenstehen, für A und B allerdings die Voraussetzung eines ökonomischen Tausches vorhanden, damit aber zugleich eine zweite Grenze der Preisbildung gegeben. Folgt nämlich aus der ökonomischen Lage des A, dass der Preis für 40 Maß Wein sich unter 100 Maß Getreide wird stellen müssen, (indem er sonst keinen ökonomischen Nutzen aus dem Tauschgeschäfte ziehen würde,) so folgt aus jener des B, dass ihm für seine 40 Maß Wein eine größere Quantität Getreide, als 80 Maß, geboten werden muß. Wie immer sich demnach der Preis von 40 Maß Wein bei einem ökonomischen Tausche zwischen A und B stellen wird, so viel ist sicher, dass er sich zwischen den Grenzen von 80 und 100 Maß Getreide … wird bilden müssen.« Menger 1871, S. 176 f.

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In Österreich verlief der Paradigmenwechsel reibungslos. Ohne Gustav von Schmoller und die von ihm angeführte Historische Schule wäre es wahrscheinlich in Deutschland zu einer ähnlichen Entwicklung gekommen. Schmoller trat für eine aktive staatliche Sozialpoli­ tik ein, lehnte aber die theoretische Fundierung der ökonomischen Wissenschaft ab. Der jahrelange, auf beiden Seiten aggressiv geführte »Methodenstreit« verstärkte bei den Österreichern die Neigung zum Dogmatismus und führte zu einem ausgeprägten Lagerdenken und zur Ausbildung aggressiver Durchsetzungsstrategien. Schmoller und die Historische Schule gerieten unrettbar ins Abseits. Die Quantität des von ihnen zusammengetragenen historischen Materials schlug niemals in die Qualität einer brauchbaren allgemeinen Erkenntnis um. Aber sie waren wenigstens offen für die sozialen Probleme. Die österreichische Schule entwickelte ein ausgeprägtes Wir-­Ge­ fühl und eine scharfe Frontstellung gegenüber Marxismus und Sozia­ lismus. In England hatte man nie so viel Angst vor Karl Marx wie auf dem Kontinent. In Wien fürchtete sich nicht nur das Kaiserhaus, sondern auch das Bürgertum, dem schon 1848 die Revolution zu weit gegangen war, vor den Unmutsäußerungen der »Ware Arbeit«. Die anstelle der geschleiften Stadtmauer errichtete Ringstraße wurde von drei Kasernen flankiert,* so dass das Militär jederzeit schnell eingreifen konnte. Die Bildungsvereine der Arbeiter wurden erst 1867 erlaubt, beim geringsten Verdacht sozialistischer Tendenzen aber sofort wieder verboten. Als die Werke von Jevons, Walras und Menger erschienen, war Gossen, sofern er jemals wahrgenommen worden war, vergessen. Sein Buch war zwar im renommierten Vieweg-Verlag erschienen, doch waren nur wenige Exemplare verkauft worden. Der Autor hatte den Druck selbst finanziert. Ein einziger Zeitgenosse, Julius Kautz, nahm Gossen in zwei Fußnoten seiner Theorie und Geschichte der National-Ökonomik überhaupt zur Kenntnis  : »Eine formelle Theorie und Philosophie des * Das Arsenal und die Rossauer Kaserne bestehen noch. Die Franz-Josephs-Kaserne im Bereich des heutigen Stubenringes wurde 1901 abgerissen.

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Genusses (und noch dazu auf mathematischer Grundlage  !) hat in jüngster Zeit Fr. Gossen in seinem Werke ›Entwicklung der Gesetze des menschlichen Verkehrs‹ … zu liefern gestrebt…« Gossen bemerke, »dass selbst der Ascet, welcher die Welt flieht und in der Einöde sich durch Entbehrung und Kasteiungen peinigt, nur diesem Triebe huldigt, indem er den Himmel sucht und sich zu einem zukünftigen Genusse würdig zu machen trachtet.«100 Offenbar nahm Kautz das Buch nicht noch einmal zur Hand, sonst hätte er wahrscheinlich nicht Fr. Gossen statt H. H. Gossen geschrieben. Vielleicht hatte er an H.H. Gossens Onkel, den preußischen Verwaltungsbeamten Franz Heinrich Gossen, gedacht. Die beiden Fußnoten führten jedoch dazu, dass der tote Gossen doch noch zu seinem Platz in der Geschichte kam. Nachdem Jevons’ Kollege Robert Adamson auf die Fußnoten bei Kautz gestoßen war und sich ein Exemplar von Gossens Buch beschafft hatte, ging Jevons im Vorwort zur 1879 erschienenen Neuauflage seiner Theory of Political Economy ausführlich darauf ein. Er gelangte aufgrund dessen, was ihm Adamson über den Inhalt mitteilte und seiner Prüfung von Gossens Formeln und Diagrammen zu dem Schluss, dass Gossen »mich hinsichtlich meiner allgemeinen Prinzipien und meiner theoretischen ökonomischen Methode komplett vorweggenommen hat.«101 Gossen hätte der Verschmelzung von Wert und Preis durch die Neoklassiker mit Sicherheit widersprochen. Bei der Frage, wie der Preis der Güter zustande komme, blieb er konsequent auf einer Linie mit Smith und Ricardo  : »Wenn wir uns die Art und Weise vergegenwärtigen, wie sich die Preise feststellen, so leuchtet sofort ein, dass das Geld kein Maßstab des Wertes, sondern ein Maßstab der Arbeit ist, die die Herstellung des Gegenstandes erfordert.« Wenn man an einem Orte für einen Taler drei Pfund Kaffee, acht Pfund Fleisch oder 40 Pfund Roggenbrot, das Trinkwasser aber umsonst bekomme, sei doch klar, dass all diese Dinge nicht gleich viel wert, das Wasser aber wertlos sei, »sondern nur, dass es der Menschheit gleich viel Arbeit gekostet hat,« an jenem Orte drei Pfund Kaffee, acht Pfund Fleisch oder 40 Pfund Brot »zur Konsumption herzustellen … und dass die Arbeit,

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an jenem Orte das Trinkwasser zu beschaffen, gleich null zu schätzen ist.«102 Gossens Sätze über den Grenzwert hingegen stimmen mit den Aussagen der Neoklassiker auf tatsächlich geradezu frappante Weise überein  : »Von Allem, welches überhaupt Wert erlangen kann, hat nur ein bestimmtes mehr oder weniger großes Maß Wert, eine Vermehrung dieses Maßes über diesen Punkt hinaus bleibt wertlos. Dieser Wertlosigkeit nähert sich die Sache immer mehr mit der Vergrößerung des Maßes, so dass mithin das Erste, was von einer Sache Wert erhält, den höchsten Wert hat, jedes neu Hinzukommende von gleicher Größe einen mindern Wert, bis zuletzt Wertlosigkeit eintritt.«103 Von Mengers Buch hat Jevons wahrscheinlich nie erfahren. Menger hingegen verlor in seinen Grundsätzen der Volkswirthschaftslehre, dem Werk, mit dem er sich habilitierte, kein Wort darüber, was er Gossen verdankte, doch der Vergleich mehrerer Textstellen deutet darauf hin, dass es einen solchen Einfluss sehr wohl gegeben hat. Der Hungrige wird, noch bevor sein Hunger gestillt ist, auch trinken. Dies kann auf das gesamte komplexe System der simultanen Befriedigung verschiedener Bedürfnisse angewendet werden. Bei Gossen muss der Mensch, »dem die Wahl zwischen mehren Genüssen frei steht, dessen Zeit aber nicht ausreicht, alle vollaus sich zu bereiten … wie verschieden auch die absolute Größe der einzelnen Genüsse sein mag, um die Summe seines Genusses zum Größten zu bringen, bevor er auch nur den größten sich vollaus bereitet, sie alle teilweise bereiten, und zwar in einem solchen Verhältnis, dass die Größe eines jeden Genusses in dem Augenblick, in welchem seine Bereitung abgebrochen wird, bei allen noch die gleiche bleibt.«104 Menger veranschaulicht das »Abwägen der verschiedenen Bedeutung der Bedürfnisse, die Wahl zwischen jenen, welche unbefriedigt bleiben, und jenen, welche, je nach den verfügbaren Mitteln, zur Befriedigung gelangen, und die Bestimmung des Grades, bis zu welchem diese letzteren ihre Befriedigung finden« sollen, anhand des Bedürfnisses nach einer Pfeife oder Zigarre  : »Obzwar nämlich die Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses im Allgemeinen eine ungleich höhere

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Bedeutung, als die Befriedigung des Bedürfnisses nach dem Tabakgenusse, für das in Rede stehende Individuum hat, so tritt doch bei fortgesetzter Befriedigung des ersteren … ein Stadium ein, wo die weiteren Akte der Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses doch für jenes Individuum eine geringere Bedeutung besitzen, als die ersten Akte der Befriedigung des im Allgemeinen minder wichtigen, aber noch gänzlich unbefriedigten Bedürfnisses nach dem Tabakgenusse.«105 Selbst die Klassifizierung der nicht dem Endkonsum dienenden Wirtschaftsgüter bei Menger entsprechend ihrer Stellung im Produktionsprozess findet sich ähnlich bereits bei Gossen. Da fällt die Parallele zwischen dem an Genüssen übersättigten Ludwig XV. bei Gossen, »dem es nicht mehr gelingen wollte, die tödlichste Langeweile zu verscheuchen«106 und Mengers Stadium, in dem »eine noch vollständigere Befriedigung des betreffenden Bedürfnisses … zur Last, zur Pein wird«,107 nicht mehr ins Gewicht. ***

Den Männern, welche die Nationalökonomie zu einer exakten Wissen­ schaft machen wollten, scheint es mehr auf innere ­Folgerichtigkeit als auf Übereinstimmung mit der Wirklichkeit angekommen zu sein. Sie stellten ihre Fragen nicht, wie es die Naturwissenschaften tun, der Wirklichkeit, sondern fanden im Fundus des Geschriebenen die Widersprüche, deren Auflösung eine neue Ära einleiten sollte. Wieder einmal ersetzte ein geniales Konstrukt die Anschauung der Wirklichkeit. Sie lösten Probleme, die sich in der Praxis noch niemals störend bemerkbar gemacht hatten und errichteten dafür eine Barriere gegen das Erkennen jener, die uns heute zu schaffen machen. Adam Smith, hatte man einst gemeint, habe alles gesagt, was zu sagen war. Er selbst hatte etwas Derartiges niemals behauptet. Die Neuerer waren nicht so bescheiden. Sie erhoben den dezidierten Anspruch, die ökonomische Theorie auf ein gesichertes Fundament gestellt und das Wertproblem ein- für allemal gelöst zu haben. Bis zu Jevons, Walras und Menger blieb der Wert der Güter eine nicht mit ihrem Preis identische Kategorie und zugleich ein nicht entsprechend

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den Ansprüchen einer exakten Wissenschaft gelöstes Problem. Wenn auch noch niemand seinen Blick von den Werken der Klassiker abgewendet und die Wirklichkeit ins Auge gefasst hatte, um nach dem Wert der Energieressourcen zu fragen und dabei das Konkurrenzverhältnis zwischen bezahlter und unentgeltlicher Arbeit zu entdecken, das dem klassischen Gleichgewichtsdenken widersprach, so war dies doch noch jederzeit möglich. Die Klassiker hatten nach der Wahrheit gesucht. Die Neoklassiker hatten sie, wie sie meinten, gefunden. Das Fenster wurde allerdings in Österreich fester verriegelt als in England. Die österreichische und die englische Neoklassik waren unabhängig voneinander entstanden und entwickelten sich bis zum Zusammenprall zwischen Friedrich Hayek und dem um 16 Jahre älteren John Maynard Keynes auch ohne genaue Kenntnis der anderen Seite weiter. Hier wie dort stand man fest auf dem Boden einer Theorie, die keinen Zweifel daran zuließ, dass die subjektive Einschätzung ihres Nutzens durch zahllose Einzelne das Geschehen auf dem Markt regelte und jeder direkte staatliche Eingriff in den Markt schädlich war. Die Überzeugung, dass Angebot und Nachfrage auf allen Märkten selbsttätig ins Gleichgewicht kommen, war in England stärker ausgeprägt als bei den Österreichern. Der Gedanke, im System Wirtschaft könnte irgendwo ein Mechanismus verborgen sein, der das Eintreten eines Gleichgewichtszustandes beharrlich untergrub, kam hier wie dort keinem der tonangebenden Ökonomen in den Sinn. Der überarbeitete und erschöpfte William Jevons erlitt am 13. August 1882 mit nur 47 Jahren während eines Erholungsaufenthaltes beim Schwimmen einen Kollaps und ertrank. Mehreren Generationen englischer Ökonomen bis hin zu Arthur Cecil Pigou (1877–1959) und John Maynard Keynes wurden die neoklassischen Lehren von Alfred Marshall (1842–1924) vermittelt. Marshall war in Bermondsey geboren worden, dem Londoner Viertel, in dem die Gerbereien ihre beißenden Gerüche verströmten. Er hatte mit dem autoritären Vater gebrochen, um nicht Priester werden zu müssen, sondern Mathematik studieren zu können und hatte versucht, in den Elendsvierteln der englischen Großstädte dem Phänomen der Armut auf den Grund zu

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gehen. Er betrachtete die Nationalökonomie als eine der Praxis verpflichtete Wissenschaft, die stets die realen Gegebenheiten im Auge behalten müsse. Vor allem aber folgte Marshall sein Leben lang einem der österreichischen Schule völlig fremden Leitstern. Schon in seiner Antrittsvorlesung in Cambridge hatte er die Armut für das Hauptproblem der Ökonomen erklärt. Deren Grundhaltung müsse »das Vertrauen auf die Veränderbarkeit der Verhältnisse«, auf »die Möglichkeit einer gewaltigen Verbesserung der Lebensbedingungen der arbeitenden Klassen«108 sein. Auch als viele Jahre später endlich seine Principles of Economics erschienen, vertrat er darin nach wie vor die Meinung, das wichtigste Forschungsthema der Wirtschaftswissenschaft müsse die Armut und die Frage sein, »ob es wirklich unmöglich sei, dass ein jeder ein kulturgemäßes Leben führe, frei von den Kümmernissen der Armut und dem stagnierenden Einfluss der bloßen mechanischen Arbeit.«109 Marshall war ein britischer Gentleman und was ihm vorschwebte, war der materielle Aufstieg und die Gentlemanisierung der Arbeiterschaft. Liest man die Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes, im Original  : General Theory of Employment, Interest and Money von Keynes, kann man den Eindruck gewinnen, dass England die »marginalanalytische Revolution« völlig internalisiert und Jevons selbst vergessen hatte. Keynes operiert souverän mit dem ganzen einschlägigen Begriffsapparat, Grenznutzen und Grenzkosten, Grenzerzeugnis, Grenzleistungsfähigkeit des Kapitals, Grenznachteil der Arbeit, Grenzhang zum Verbrauch, aber William Jevons kommt in dem ganzen Werk nur ein einziges Mal vor, und zwar mit seiner Vermutung, die Konjunkturzyklen seien auf die Ernteschwankungen zurückzuführen. Keine Spur in Keynes’ Hauptwerk von der tiefen Zäsur, die Jevons im ökonomischen Denken hatte hinterlassen wollen. Keynes scheint den Bruch nicht einmal wahrgenommen zu haben. Die Neoklassiker waren, ganz anders als in Österreich, für ihn einfach Klassiker wie Smith und Ricardo. ***

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Die politischen Implikationen seiner Wertlehre haben Carl Menger gewiss nicht geschadet, auch wenn sie nicht der Grund dafür waren, dass er zum Lehrer des 18-jährigen Kronprinzen Rudolf im Fach Politische Ökonomie ausersehen wurde. Ausschlaggebend war Mengers Ruf als dezidierter Vertreter der liberalen Lehren – das Bildungsprogramm des österreichischen Thronerben war moderner als an ­anderen Höfen. Menger und der Kronprinz wurden enge Freunde, Menger durfte auf eine glanzvolle Karriere hoffen, doch nach Rudolfs Selbstmord und der die Monarchie erschütternden Tragödie von Mayerling im Jahre 1889 musste er alle derartigen Hoffnungen begraben. Erich Streissler zufolge, der Rudolfs Mitschriften untersuchte, spielte Adam Smith in der Unterweisung des Thronfolgers eine wichtige Rolle, marginalistische Ideen kamen nicht zur Sprache. Menger wies »auf die sehr begrenzten Möglichkeiten staatlicher Eingriffe hin. Außerdem hemmten Staatseingriffe die Privatinitiative (die ›Selbstbestimmung‹), weswegen Sozialismus und Kommunismus abzulehnen seien. Die Verschiedenheit der individuellen Eigenheiten der Staatsbürger ließen eine  – notgedrungen vereinheitlichende  – Staatsversorgung als nicht bedarfsgerecht erscheinen.«110 Streissler schließt aus den Heften, »dass Menger doch eine sehr strikte liberale Position vertrat. Kein Wort von sozialer Kranken- oder Altersvorsorge  !«111 Radikale Lehren neigen dazu, sich weiter zu radikalisieren, indem sie die entsprechenden Typen anziehen. Ludwig von Mises (1881–1973), der Direktor der Wiener Handels- und Gewerbekammer, dachte nicht nur doktrinär, sondern war auch ein Hasser jeder noch so gemäßigten sozialistischen Tendenz. Mit seinem Buch Die Gemeinwirtschaft erreichte die politische Radikalisierung der österreichischen Schule einen vorläufigen Höhepunkt  : »Ideen können nur durch Ideen überwunden werden. Den Sozialismus können nur die Ideen des Kapitalismus und des Liberalismus überwinden. Nur im Kampfe der Geister kann die Entscheidung fallen.«112 Die These, dass jede Planwirtschaft am Fehlen der auf freien Märkten von der Nachfrage ausgehenden Preissignale scheitern müsse, war konsequent ausgeführt – doch Mises unterließ es nicht bloß, auch et-

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waigen Fehlfunktionen des kapitalistischen Systems nachzugehen, er schloss solche dezidiert aus  : »Liberale … haben geglaubt, ›Auswüchse‹ des Kapitalismus bekämpfen zu müssen  ; damit haben sie die charakteristische asoziale Betrachtungsweise der Sozialisten übernommen. Eine Gesellschaftsordnung hat keine ›Auswüchse‹, die man beliebig beschneiden kann. Wenn eine Erscheinung sich notwendig aus dem Wirken des auf dem Sondereigentum an den Produktionsmitteln beruhenden Gesellschaftssystems ergibt, kann keine ethische oder ästhetische Laune sie verurteilen.«113 Mises hielt in seinem Arbeitszimmer ein privates Postgraduate-Seminar ab und wurde auch zum Mentor eines jener blutjungen Ex-Offiziere, die mit dem Gefühl, »dass die Kultur, in der wir a­ ufgewachsen waren, zusammengebrochen war«114 aus dem Ersten Weltkrieg zurück­ gekehrt waren. Der Schützling Ludwig von Mises’ hatte das Kriegsende 1918 als Leutnant an der italienischen Front erlebt und sich von sehr gemäßigten linken Ansichten nach rechts bewegt. Er hieß Friedrich August von Hayek* und hatte die Idee, ein österreichisches Insti­ tut für Konjunkturforschung zu gründen, dessen Chef und einziger Mitarbeiter er unter Mises’ Ägide mehrere Jahre lang war. Seine Aufsätze über geldpolitische Themen machten Lionel R ­ obbins, den Direktor der London School of Economics (LSE), auf Hayek aufmerksam. Der junge Österreicher qualifizierte sich mit ihnen als Verstärkung im Revierkampf mit Keynes, dessen Aufstieg in Cambridge nicht nur die LSE misstrauisch verfolgte. Hayek durfte Keynes mit einer Besprechung seines Buches A Treatise on Money verärgern und wurde schließlich 1931 als erster Ausländer an die LSE berufen. Noch vor seiner Antrittsvorlesung hielt er in Cambridge einen Vortrag in * »Eigentlich kam ich von dem anderen der beiden ursprünglichen Zweige der Öster­ reichischen Schule. Während Mises ein begeisterter Schüler von Eugen von Böhm-­ Bawerk gewesen war, der verhältnismäßig früh starb und den ich nur als einen Freund meines Großvaters kannte … war ich persönlich ein Schüler seines Zeitgenos­sen, Freundes und Schwagers, Friedrich von Wieser.« Friedrich A. von Hayek, Gesammelte Schriften in Deutscher Sprache, Abt. A, Bd. 1, Wissenschaftstheorie und Wissen – Aufsätze zur Erkenntnis- und Wissenschaftslehre, Tübingen 2007, S. 99.

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der von Keynes dominierten Marshall-Gesellschaft. Keynes selbst war in London, aber im Publikum saß eine ganze Reihe von Größen der Fakultät. Statt der üblichen lebhaften Diskussion herrschte, als Hayek geendet hatte, betretenes Schweigen. Richard Kahn, Keynes’ späterer literarischer Nachlassverwalter, wollte das Eis brechen, stand auf und fragte, offenbar etwas ratlos  : »Sind Sie der Ansicht, dass, wenn ich morgen hingehe und mir einen neuen Mantel kaufe, dies zu einer Zunahme der Arbeitslosigkeit führen würde  ?« Hayek wies auf seine mathematischen Formeln auf der Tafel und sagte  : »Ja, aber es würde eine sehr lange mathematische Ausführung beanspruchen, um zu erklären, warum.«115 Der Konflikt zwischen Keynes und Hayek war der Konflikt zweier Konjunkturtheoretiker. Hayek und die Ökonomen der österreichischen Schule waren zwar keine so ausgeprägten Gleichgewichtsdenker wie Marshall und die englischen Neoklassiker, doch die Möglichkeit einer permanenten Fehlfunktion der Marktwirtschaft zog weder der eine noch der andere in Betracht. Eine solche Fehlfunktion machte sich damals auch noch nicht bemerkbar, von Wachstumsgrenzen konnte noch keine Rede sein. Hayek führte die Weltwirtschaftskrise auf Fehlinvestitionen infolge einer falschen Kreditpolitik der Banken zurück, aus der Krise herausführen konnten seiner Ansicht nur die Marktkräfte. Jede staatliche Intervention führe zu Inflation. Keynes hielt Investitionen für den Schlüssel zur Konjunkturbelebung  ; blieben die privaten Investitionen aus, musste der Staat sie wieder in Gang bringen, indem er selbst auf Kredit investierte. Zwischen den Kontrahenten bestand aber auch ein tiefes Unverständnis für die wissenschaftliche Tradition, in welcher der andere dachte und für die Methoden, mit denen er arbeitete. Keynes hatte erhebliche Probleme, Hayeks Berechnungen nachzuvollziehen. Dafür dürfte Hayek niemals verstanden haben, dass Keynes erst einmal beweisen musste, dass der Arbeitsmarkt überhaupt aus dem Gleichgewicht geraten konnte, ehe er sich der Frage zuwendete, ob etwas zu tun sei, und, wenn ja, was. Für die Schüler Marshalls stellte unfreiwillige Arbeitslosigkeit eine glatte Unmöglichkeit dar. Wer arbeitslos war,

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hatte sich entschieden, seine Freizeit zu genießen, statt sich mit einer seiner Ansicht nach zu geringen Bezahlung zu begnügen. Neoliberale Ökonomen verweisen gerne auf die von den Regierungen zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit getätigten Investitionen als Beweis dafür, dass man noch immer auf die Keynesianer höre. Der Staat hat sich aber auch schon vor Keynes, er hat sich seit Jahrhunderten veranlasst gesehen, in der Not Arbeit zu schaffen. Die österreichischen Politiker, welche die Arbeitslosigkeit mit dem Bau der Großglockner- und der Wiener Höhenstraße bekämpften und den Einsatz von Spitzhacken und Schaufeln statt von Baumaschinen anordneten, hatten wahrscheinlich keine Ahnung von Keynes. Auch US-Präsident Herbert Hoover, in dessen Amtszeit der Bau der später Hoover-Dam genannten Colorado-Talsperre begonnen wurde, hatte die Notwendigkeit Arbeit schaffender öffentlicher Investitionen bereits als Handelsminister kurz nach dem Ersten Weltkrieg vertreten, als von Keynes noch keine Rede war. Hayeks Rezension des Treatise folgte ein gegenseitiger öffentlicher Schlagabtausch und ein persönlicher Briefwechsel, der Keynes bald langweilte. Trotzdem entstand zwischen den beiden Männern, die eine leidenschaftliche Bibliophilie verband, eine Beziehung, die offenbar auf Keynes’ Seite vorwiegend von einer etwas herablassenden Freundlichkeit und auf der anderen von Hayeks Bemühungen gekennzeichnet war, von Keynes ernst genommen zu werden. Er hatte als Student dessen 1920 erschienenes Buch Die wirtschaftlichen Folgen des Friedensvertrages mit Begeisterung gelesen, seine Gefühle für Keynes hatten alle Merkmale einer Hassliebe, von der nach Keynes’ Tod die positive Komponente dahinschwand und die negative dominierte. Keynes sei »der einzige wirklich große Mann, den ich jemals kannte und den ich grenzenlos bewunderte« gewesen, schrieb er 1946 nach Keynes’ Tod an dessen Witwe, die Welt werde ohne ihn ein »sehr viel ärmerer Ort«116 sein. 36 Jahre später, im Krisenjahr 1982, platzte es in einem Interview unvermittelt aus ihm heraus  : »Keynes hat, was an Einsicht vorhanden war, praktisch ausgelöscht.«117 In Hayek und Keynes standen einander die Grundhaltungen zweier Schulen gegenüber. Mengers Kälte gegen Marshalls Anteilnahme. Für

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den Österreicher war das politisch untätige Warten auf die segensreiche Tätigkeit der Marktkräfte nicht nur theoretisch richtig, sondern auch trotz des Elends erträglich. Für Keynes war die Krise eine unerträgliche Situation, in der man nicht untätig bleiben konnte. Sie hatte Millionen Menschen in die tiefste, überwunden geglaubte Armut zurückgeworfen. Wenn die Theorie im Vertrauen auf die Selbstheilungskraft der Märkte tatsächlich tatenloses Abwarten forderte, war Keynes bereit, im Vertrauen auf die Veränderbarkeit der Verhältnisse die Theorie zu opfern. Damit brach er zwar mit den Lehren, die er von Marshall empfangen hatte, folgte aber dessen Maxime, die wichtigste Aufgabe der Ökonomen müsse die Bekämpfung der Armut sein. Marshalls Lieblingsschüler und Nachfolger auf dessen Lehrstuhl, Arthur Cecil Pigou, hielt länger an der etablierten Theorie fest und beantwortete im Macmillan-Ausschuss mitten in der tiefsten Krise die Frage, ob sinkende Löhne zu einem erhöhten Bedarf an Arbeitskräften führen würden  : »Ja, ich glaube, dann würde ein erhöhter Arbeitskräftebedarf entstehen.«118 Eine Antwort nicht ohne unfreiwillige Komik angesichts der Millionen Hungernden, die bereit waren, für jeden Preis zu arbeiten. Pigou war ein sozial denkender Mann, aber er hatte sich noch nicht vom verinnerlichten Credo gelöst. In seiner Besprechung der General Theory verglich er Keynes mit einem Schützen, der Pfeile zum Mond schießt. Die Fortsetzung der Geschichte verdanken wir der »Links-Keynesianerin« Joan Robinson (1903–1983)  : »Als er das Buch dreizehn Jahre später zur Hand nahm und mit Ruhe las, stellte er zu seinem Erstaunen fest, dass er in den meisten Punkten gleicher Meinung war und dass er Keynes mit seiner Besprechung Unrecht getan hatte. Pigou hatte sich zurückgezogen und Keynes war tot  ; aber er bat darum, den Undergraduates zwei Vorlesungen halten zu dürfen, um Keynes für seine unfaire Besprechung Genugtuung zu leisten. Für die jungen Studenten, für die die General Theory vermutlich eines von diesen klassischen Werken ist, bei denen sie hoffen, dass der Tutor nicht merke, dass sie es nicht gelesen haben, war das ziemlich verwirrend  ; für diejenigen jedoch, die diese alten Kämpfe miterlebt hatten, war es eine bewegende

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und noble Szene. Uns gibt das heute ein außergewöhnlich klares Beispiel davon, wie die Verteidigung der alten Ideen gegenüber den neuen auf persönlichen Gefühlen basieren kann. Natürlich hat das auch eine rein intellektuelle Grundlage. Neue Ideen sind schwierig, gerade weil sie neu sind. Die ständige Wiederholung hat die Lücken und Widersprüche der alten Ideen auf irgendeine Weise übertüncht, und die neuen können nicht durchdringen. Sie brauchen einen so ungestümen Bulldozer, wie Keynes es war, um sich ihren Weg zu bahnen.«119 Wie man sich irren kann. Hayek war, mit all seinen psychischen Problemen, aber auch seiner selbstbezogenen rechthaberischen Beharrlichkeit, auf lange Sicht wohl der mächtigere Bulldozer. Nur allzu bald kam es zu staatlichen Investitionen gigantischen Aus­maßes, von denen Keynes gehofft hatte, er werde sie nicht ­erleben  : Flugzeugträger, Transportschiffe, Langstreckenbomber, Panzer, Uniformen, Munition und Massen von Kraftfahrzeugen aller Art. Das war zwar lang nicht so vernünftig wie das von ihm nur halb im Scherz empfohlene Graben von Löchern durch die eine Hälfte der Arbeitslosen und Zuschütten der Löcher durch die andere, aber die Arbeitslosigkeit hatte ein Ende. Die wissenschaftliche Aussagefähigkeit des größten keynesianischen Experiments aller Zeiten wurde dadurch beeinträchtigt, dass es nicht nur Arbeit schuf, sondern auch Millionen von Arbeitskräften dem Markt entzog, viele für immer. Was Keynes’ wahre Größe ausmacht, ist seine grundsätzliche Offen­ heit für unkonventionelle Lösungen und die Forderung, in kritischen Situationen müsse der Staat eingreifen – einer der großen Traditions­ brüche in der Geschichte des ökonomischen Denkens. Er hat die Zwangs­jacke einer etablierten Theorie gesprengt und die Voraussetzun­ gen geschaffen, um über Klassik und Neoklassik und auch über ihn, Keynes selbst, hinaus zu gelangen. Auch Keynes’ Tragik besteht darin, dass sich seine Schüler gebärdeten, als hätten sie die letzte Wahrheit in Händen. »Hayek war übers Wochenende hier. Privat kommen wir sehr gut miteinander aus. Aber was für ein Quatsch seine Theorie ist  ! Ich hatte heute das Gefühl, dass er selbst anfängt, nicht mehr daran zu glau-

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ben«120 heißt es in einem Brief Keynes’ aus dem Jahre 1933. Ach, wie sehr hatte er sich getäuscht  ! Möglicherweise war Hayek keine Antwort mehr auf Keynes’ beißende Argumentation eingefallen, doch abgerückt ist er von seinen Ansichten nie einen Schritt. Nachdem der amerikanische Kolumnist und Mitbegründer der Zeitschrift New Republic Walter Lippmann in seinem Buch The Good Society den Liberalen vorgeworfen hatte, ihre Doktrinen würden es ihnen nicht gestatten, »ihren Neigungen Gehör zu schenken und an die Idee zu glauben, dass das menschliche Los einer Verbesserung zugänglich sei«121 kam es im August 1938 in Paris zum legendären Walter Lippmann Kolloquium mit dem Ziel, den verrufenen alten Liberalismus auf eine neue, zeitgemäße Grundlage zu stellen. Dabei erwies sich eine Einigung zwischen den gemäßigten Liberalen wie Wilhelm Röpke und Alexander Rüstow und den Marktradikalen, allen voran Hayek und Mises, als unmöglich. Einigen konnte man sich nur auf den Begriff Neoliberalismus, den Rüstow vorgeschlagen hatte. Rüstow muss das Treffen ziemlich wütend verlassen haben. Hayek und sein Meister Mises, schrieb er Röpke, »gehörte in Spiritus gesetzt ins Museum als eines der letzten überlebenden Exemplare jener sonst ausgestorbenen Gattung von Liberalen, die die gegenwärtige Katastrophe heraufbeschworen haben.«122 Röpke und Rüstow überlebten den Krieg weitgehend isoliert in der Türkei, Mises mit einer Lehrverpflichtung in New York, Hayek jedoch ging in England mit unendlicher Geduld daran, der ausgestorbenen Gattung von Liberalen zur Auferstehung zu verhelfen. Weder der keynesianische Zeitgeist noch seine eigenen Perioden schwerer Depressionen konnten ihn davon abhalten, an der Restauration dessen zu arbeiten, was er für die einzig legitime Version des Liberalismus hielt. Im Frühjahr 1944 erschien sein Buch The Road to Serfdom, deutsch  : Der Weg zur Knechtschaft. Noch hatte England in Winston Churchill einen erzkonservativen Kriegspremier, doch die Stimmung im Land bewegte sich nach links. Die Gleichsetzung der Sozialdemokratie mit dem diktatorischen Kommunismus war eine der Obsessionen, die Hayek mit Mises teilte. Sozialismus bedeutete unweigerlich Planwirtschaft, Planwirtschaft funktionierte nicht, daher musste der Versuch, sie einzufüh-

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ren, zur Diktatur führen. Sozialismus war in Hayeks Augen alles, was auch nur einen Schritt vom Weg der reinen Marktwirtschaft abwich. Daher befand sich England auf dem direkten Weg in die Diktatur  : »Wir müssen die bittere Wahrheit aussprechen, daß sich das Schicksal Deutschlands an uns zu wiederholen droht. … Der Weg mag zwar lang sein, aber die Umkehr auf ihm wird um so schwieriger, je weiter man auf ihm fortschreitet.«123 Im Weg zur Knechtschaft sprach er deutlich aus, was er von der Demokratie hielt  : »Wir dürfen auch nicht vergessen, daß es unter einem autokratischen Regiment oft mehr kulturelle und geistige Freiheit gegeben hat als in einzelnen Demokratien, während wir uns zum mindesten vorstellen können, daß eine demokratische Regierung unter der Herrschaft einer sehr homogenen und doktrinären Majorität die Menschen ebenso verknechten könnte wie die schlimmste Diktatur. … Die heutige Mode, die Demokratie als den bedrohten Eckpfeiler unserer Zivilisation hinzustellen, hat ihre Gefahren. Sie ist weitgehend für den irreführenden und unbegründeten Glauben verantwortlich, daß keine Willkürherrschaft möglich ist, solange der Wille der Majorität für die Ausübung der Macht maßgebend ist.«124 Nicht zuletzt das Prestige, das Hayek dem Weg zur Knechtschaft verdankte, verschaffte ihm die Möglichkeit, nach dem Krieg eine wichtige Weichenstellung vorzunehmen. Er initiierte 1947 die Gründung der Mont Pèlerin Society (MPS). In ihr konnte der nach dem Geschmack Hayeks und Mises’ konsolidierte Liberalismus die Keynesianischen Jahrzehnte überwintern. Bald nach der Gründung kam es zum Konflikt zwischen den Marktradikalen, allen voran Friedrich von Hayek, Ludwig von Mises und Milton Friedman, und Gemäßigten wie Walter Eucken und Ludwig Erhard. Letztere konnten die Gesellschaft nur noch verlassen. Dieser Konflikt wird heute nur zu gerne vergessen. Hayeks berühmten Satz »Wahr ist nur, daß eine soziale Marktwirtschaft keine Marktwirtschaft, ein sozialer Rechtsstaat kein Rechtsstaat, ein soziales Gewissen kein Gewissen – und ich fürchte auch, soziale Demokratie keine Demokratie ist« haben viele gelesen oder gehört. Weniger bekannt ist, dass Hayek mit dem ihm eigenen Takt mit die-

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sem Satz ausgerechnet in seiner Festrede anlässlich des 25-jährigen Bestehens des Walter-Eucken-Instituts am 6. Februar 1979 die Anhänger Euckens und der Sozialen Marktwirtschaft noch einmal wissen ließ, wie wenig er von ihnen und ihrem toten Wortführer hielt. Er hat die Gleichsetzung der Sozialdemokratie mit Nationalsozialismus, Kollektivismus und Diktatur später relativiert, aber niemals dezidiert zurückgenommen. Er fand auf der anderen Seite kein kritisches Wort über die gewaltsame Ausschaltung jener, die seiner Meinung nach falsch wählten  – weder in Österreich durch den katholischen Ständestaat noch in Chile durch Pinochet, mit dem er sympathisierte. In einem wütenden Leserbrief an die Frankfurter Allgemeine Zeitung verteidigte er den Massenmörder Augusto Pinochet gegen die Gleichstellung mit General Jaruzelski, der in Polen das Kriegsrecht verhängt hatte. Die Karikatur, in der die beiden Generäle die Gerte schwingend auf ihren Völkern ritten und einander grüßten, sei nur »entweder durch völlige Unkenntnis der Tatsachen oder durch die systematisch geförderten sozialistischen Verleumdungen der gegenwärtigen Zustände in Chile zu erklären, von denen ich nicht erwartet hätte, daß die F.A.Z. auf sie hereinfallen könnte. Ich glaube, daß alle Teilnehmer der vor wenigen Wochen in Chile veranstalteten Tagung der Mont-Pèlerin-Society mit mir übereinstimmen, daß Sie der chilenischen Regierung eine demütige Entschuldigung für eine derartige Entstellung der Tatsachen schulden. Jeder Pole, der das Glück hätte, nach Chile entkommen zu können, könnte sich glücklich preisen.«125 Auf die Idee, umgekehrt könnte es auch so sein, kam er nicht. Margaret Thatcher soll schon 1975 während einer Strategiedebatte der Konservativen einen Vertreter des ihr verhassten »middle way« unterbrochen, Hayeks Buch Die Verfassung der Freiheit aus ihrer Handtasche geholt und mit den Worten »Das ist, woran wir glauben  !« auf den Tisch geknallt haben. So schildern jedenfalls, gestützt auf Thatcher’s People von John Ranelagh (London 1992), Hayeks Biograph Hans Jörg Hen­ necke126 und, auf ihn gestützt, Philip Plickert127 die Szene. Bei Hayeks amerikanischem Biographen Alan Ebenstein wurde The Way to Serfdom mit den Worten »Das ist, woran ich glaube  !« auf den Tisch geknallt. So

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oder ähnlich wird es sich wohl abgespielt haben. In den USA konnten Mitglieder der MPS oder ihr Nahestehende noch vor dem Amtsantritt Ronald Reagans den Kurs der Regierung formulieren und dominierten dann die wirtschaftspolitische Beratergruppe des Präsidenten. Thatcher und Reagan führten die Welt in die marktradikale Sackgasse. Hayek war einst von Keynes nicht ernst genommen worden. Nun wurde er mit dem Nobelpreis* ausgezeichnet und lehrte die Keynesianer das Fürchten. Große Teile der Wirtschaftswissenschaft versanken in einen tiefen Dornröschenschlaf und verschwanden hinter einem aus Mathematik errichteten Dorngestrüpp von Unverständlichkeit. Selbst Milton Friedman (1912–2006) äußerte sich kurz vor seinem Tod ärgerlich über den Umstand, dass er keine Fachzeitschrift mehr aufschlagen konnte, ohne etwas anderes als mathematische Formeln zu Gesicht zu bekommen. »In der Hauptrichtung der heutigen ökonomischen Theorie spielt die Mathematik eine noch größere und der gesunde Menschenverstand praktisch keine Rolle mehr,« lesen wir in Robert Skidelskys Buch Die Rückkehr des Meisters.128 Auch der Grazer Professor für Volkswirtschaftslehre Heinz D. Kurz zieht eine traurige Bilanz  : Trotz aller Anstrengungen, »eine normale Wissenschaft wie beispielsweise die Physik zu werden« habe, so scheine es, die Wirtschaftswissenschaft »einen signifikanten Reputationsverlust in akademischen Kreisen und der Öffentlichkeit erlitten. Heute schwimmt die Ökonomik auf einer Welle intellektueller Verachtung und allgemeinen Spotts.«129 * Man wollte dem 1974 für den Preis vorgesehenen »linken« Gunnar Myrdal ein konservatives Gegenstück zur Seite stellen. »Der Präsident der schwedischen R ­ eichsbank, Erik Lundberg, war als Vorsitzender des mehrheitlich sozialdemokratisch besetzten Auswahlkomitees für den Ökonomie-Nobelpreis mit der Lösung dieses Problems betraut. Bei einer Sitzung der International Economic Association hatte er sich an seinen deutschen Kollegen und Freund Herbert Giersch gewandt, der im Pausengespräch die Möglichkeit aufwarf, Hayek als komplementären zweiten Preisträger auszuwählen. Dieser Vorschlag fand spontan breite Zustimmung.« (Plickert 2008, S. 361) In der offiziellen Bekanntgabe der Preisträger wurden diese nicht, wie sonst üblich, in alphabetischer Reihenfolge genannt, sondern Myrdal an erster Stelle.

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II. Historischer Teil

Spott löst aber leider auch keines der ignorierten Probleme und alle an der Wirtschaftswissenschaft geübte Kritik ändert nichts daran, dass die Politiker auf die Ökonomen hören. Das vielzitierte Elend der Ökonomik aber besteht vor allem darin, dass sie verweigert, was jede Wissenschaft, die diesen Namen verdient, immer wieder tut und tun muss  : ihre eigenen grundlegenden Annahmen in Frage zu stellen. Daher muss sie, wenn sie der Welt aus der Bredouille helfen soll, erst einmal erkennen, in welche Bredouille sie sich selbst mit ihren zwei Jahrhunderte lang nicht mehr ernsthaft hinterfragten grundlegenden Dogmen hineingeritten hat.

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III. Praktischer Teil Roadmap nach Utopia, oder  : Was geschehen muss – und was getan werden kann

In der Regierungskunst, so scheint es, bleiben die Leistungen der Menschheit weit hinter dem zurück, was sie auf fast allen anderen Gebieten vollbracht hat. Barbara Tuchman, Die Torheit der Regierenden

Ich stand auf dem Balkon einer mittelalterlichen Burg im Inneren Spaniens, die in einen Parador umgewandelt worden war, ein romantisches, komfortables Hotel. Drinnen das Flair vergangener Zeiten, vor mir eine große ländliche Weite. Inmitten einer aus der Ferne idyllisch und ungestört anmutenden Landschaft stieg, es war ein windstiller Tag, eine pechschwarze Rauchsäule kerzengerade in den Himmel. Ich hatte plötzlich das Gefühl, von einer inneren Alarmglocke aufgeschreckt zu werden. Die schwarze, kompakte Rauchsäule einer Industrieanlage, die in wenigen Kilometern Entfernung in der klaren Luft stand und sich im blauen spätnachmittägigen Sommerhimmel verlor  – nichts hätte den Kontrast zwischen der Empfindlichkeit unserer Welt und der Unerbittlichkeit, mit der wir sie Stunde um Stunde, Sekunde um Sekunde mit ungezählten Tonnen von CO2, Ruß und Schadstoffen aller Art belasten und vergiften, sinnlicher erfahrbar machen können. Wenn ich auf der Terrasse sitze und hoch über mir die Wölkchen dahinschweben, erscheint mir der Himmel sehr hoch. Nehme ich aber einen Tischglobus zur Hand, ist der Raum, in dem sich das gesamte irdische Leben zusammendrängt, samt der Luft, auf die es angewiesen ist, so dünn wie das mit den Kontinenten und Meeren bedruckte Papier und vielleicht auch noch der schützende Lack darauf. In den oberen Regionen des Luftverkehrs haben wir 90 Prozent der gesamten irdischen Luftmasse unter uns. Unser ganzer, uns so gewaltig erschei-

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III. Praktischer Teil

nender Lebensraum ist ein dünner Überzug auf der Oberfläche des Planeten. Außerhalb ist kein Leben möglich, in ihm sammelt sich alles an, was wir in die Luft blasen, in die Meere, Flüsse und Bäche einleiten oder in der Erde für unsere Augen verschwinden lassen. Winde und Meeresströmungen verteilen den größten Teil davon über die ganze Erde. Cyanobakterien und andere Organismen benötigten viele Jahrmillionen, um diese dünne Gashülle mit so viel Sauerstoff anzureichern, dass die Vielfalt des Lebens, wie wir es kennen, entstehen konnte. Der Mensch kann wochenlang ohne Nahrung, tagelang ohne Wasser, aber nur Minuten ohne Atmung existieren, dennoch sind einige Milliarden Individuen emsig damit beschäftigt, zu überleben, ihr Dasein, soweit es ihnen möglich ist, zu verbessern und dabei ihre gesamte Umwelt, nicht zuletzt aber die Zusammensetzung der Luft, die sie atmen, ein weiteres Mal irreversibel zu verändern. Dünner als das mit den Kontinenten und Meeren bedruckte Papier  : Industrie und Gewerbe, der Energiebedarf der Privathaushalte, die Massenverkehrsmittel zu Lande, der Luftverkehr, das Militär mit seinen Vergeudungsorgien, nicht zu vergessen die Energieverschwendung durch die Fluten von Licht, in die wir unsere Städte tauchen, reichern diesen empfindlichen Lebensraum mit CO2 an. Von vielen der ungezählten, laufend entstehenden neuen chemischen Substanzen kennen wir weder ihre Langzeitwirkungen auf lebende Organismen,* noch, oder nur höchst ungenau, ob und wie sie in der Umwelt abgebaut werden, wie das im Einzelnen geschieht, wie sie langfristig auf das menschliche Genom und das aller anderen Lebewesen wirken, zu welchen Interaktionen der bestenfalls einzeln unter Laborbedingungen auf ihre biologischen Auswirkungen geprüften Stoffe es kommt. Wir wissen nicht, was das Plutonium und die anderen radioaktiven Stoffe, die durch Kernwaffenversuche und Kraftwerksunfälle in die Umwelt * Nach einer Meldung von Die Welt, Berlin, Internet-Ausgabe, 29.9.2018, bedrohen die Rückstände der bereits Ende der 80er Jahre verbotenen polychlorierten Biphenyle (PCB) heute weltweit die Schwertwal-(Orca-)Populationen.

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Roadmap nach Utopia

gelangten, auf lange Sicht anrichten und nicht, ob wir durch unser heutiges Wirtschaften die Lebenszeit unserer Spezies dramatisch verkürzen. Wer all das an sich heranlässt, der wird auch die Aussagen jener Naturwissenschaftler ernst nehmen, die das selbstverschuldete Aussterben der Menschheit als realistische Möglichkeit ins Auge fassen. In jeder Sekunde vermehrt sich die Zahl der eineinviertel Milliarden Autos um ein weiteres. In Deutschland kommen auf tausend Einwohner 532 Pkws,130 und keine Macht der Erde kann den Chinesen, Indern und allen anderen verbieten, alles daran zu setzen, um so zu leben wie wir. Dank Internet und Fernsehen wissen die Menschen überall sehr gut, wie wir leben. Daran orientiert sich ihre Vorstellung von einem erstrebenswerten Dasein. Warum sollten sie ihre Ansprüche reduzieren, solange wir, die schon um soviel mehr haben, nach Wachstum streben, das heißt nach immer noch mehr  ? Hängen wir ihnen nicht, wie dem Esel die Rübe, unerreichbare Ziele vor die Nase  ? Das meiste der Bedürfnisse, die uns die Marketing-­ Strategen zur Freude ihrer Aktionäre aufs Auge drücken, geht in die Zielvorstellungen der Milliarden in der Warteschlange ein. Indes heißt unser eigenes Ziel immer mehr von allem und jedem ad infinitum, nicht weil wir so gierig sind und uns immer mehr von allem wünschen oder gar immer noch mehr brauchen, sondern weil sonst die Wirtschaft in die Krise gerät und die Arbeitslosigkeit explodiert und weil die Politik Realitätsverweigerung betreibt. Wie würde das Ökosystem dieses dünnen Lebensraumes, auf den der Mensch angewiesen ist, auf 7,6 Milliarden Erdenbewohner mit einem Energieverbrauch, der 6.916 Kilogramm Rohöl pro Kopf und Jahr entspricht wie in den USA, oder auch bloß 3.868 Kilogramm wie in Deutschland,131 reagieren  ? Nahrung, Kleidung, soziale Sicherheit, ein Dach über dem Kopf und einiges mehr könnte auch den von der UNO für das Jahr 2100 erwarteten elf Milliarden geboten werden. Auto und Flugreisen für jeden auch  ? Müssten nicht, wenn nicht alle Menschen so leben können wie wir, auch wir selbst so leben, wie alle Menschen leben können  ? Oder wenigstens aufhören, den Abstand immer weiter zu vergrößern  ? An eine Zeit, in der es all das nicht gab und

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III. Praktischer Teil

man trotzdem sehr gut leben konnte, wenn man Arbeit hatte, wird sich bald niemand mehr erinnern. Die klassischen Ökonomen haben sich eine Welt der miteinander Handel treibenden Völker vorgestellt, in der jedes Land nicht nur am eigenen, sondern auch am Wohl der anderen interessiert ist, weil der Austausch zwischen funktionierenden Volkswirtschaften ­ allen zum größten Vorteil gereicht. Ihre geistige Welt war aber noch jene alte Welt, in der alles, was erzeugt wurde, auch gekauft wurde, seit der Antike, so weit das Gedächtnis der Menschheit reichte. Die modernen volkswirtschaftlichen Theorien gehen auf Männer zurück, für die Produktionsüberschüsse unvorstellbar waren. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass für David Ricardo und Jean-Baptiste Say Absatzstockungen ein völlig neues Phänomen waren (Adam Smith hatte es nicht mehr erlebt), auf das sie keine befriedigende Antwort fanden. Der Export stellte für sie eine Notwendigkeit dar, damit jedes Land die Importgüter, die seine Einwohner benötigten oder zu haben wünschten, einführen konnte. Heute muss produziert und exportiert werden auf Teufel-komm-raus und jede Regierung ihrer Wirtschaft dabei helfen, so gut sie kann, während der knappe Lebensraum der Menschheit zum Misthaufen einer anschwellenden Ressourcen-Vergeudung wird und das Klima zu kippen droht. Wir haben eine Welt geschaffen, in welcher der Verbrauch zum Selbstzweck geworden ist. Nur, weil wir uns daran gewöhnt haben, fällt uns die Perversität dieses Zustandes nicht mehr auf. Der Mensch hat die Maschinen erfunden, um sich das Leben zu erleichtern. Heute schreibt er Dutzende Bewerbungen, auf die er meist keine Antwort bekommt, damit er arbeiten darf, nur um immer mehr von dem zu erzeugen, wovon längst übergenug erzeugt wird, und wenn er die entsprechende Ausbildung hat, arbeitet er daran, diesen Prozess zu beschleunigen, damit das Erdöl, die Kohle und das Erdgas schneller zu Ende gehen und die Vernichtung der Vorräte an Eisen, Kupfer, Mangan, Seltenen Erden und aller anderen Rohstoffe nicht zurückbleibt. Was sich heute Welthandel nennt, hat mit den Vorstellungen von Smith, Ricardo und Say nur noch wenig zu tun.

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Roadmap nach Utopia

Zwischen naturwissenschaftlichem und ökonomischem Denken entstand eine tiefe Kluft und ein gegenseitiges Nichtverstehen, denn viele Naturwissenschaftler und naturwissenschaftlich geprägte Wachstumskritiker stellen sich den Übergang zur nachhaltigen Wirtschaft viel zu leicht vor. Man kann es ihnen schwerlich verübeln, wenn selbst Tomáš Sedláček meint, wir könnten »unseren Level von Wohlstand einfach halten« und auf Wirtschaftswachstum so verzichten wie auf eine schlechte Gewohnheit – immerhin war er einer der Wirtschaftsberater des tschechischen Staatspräsidenten Václav Havel. Doch wer, wenn nicht die Ökonomen, sollte berufen und in der Lage sein, der Politik gangbare Auswege aus dem Dilemma anzubieten  ? Unsicherheit, Ratlosigkeit und Angst kennzeichnen längst auch das Lebensgefühl von Akademikern und gut Ausgebildeten. Das Verschwinden der Arbeitsplätze für gering Qualifizierte erschwert die Integration der Zuwanderer in den Arbeitsmarkt. Aber nicht nur die Hochbegabten mit großartigen Zeugnissen, sondern auch die sozial Benachteiligten, Menschen mit schlechten Schulnoten oder lückenhaften Sprachkenntnissen haben ein Recht zu leben, und zwar nicht nur als Sozialfälle. Sie haben Anspruch auf eine ihren Fähigkeiten entsprechende Arbeit. Trotzdem drohen noch die letzten anspruchsloseren Tätigkeiten auf Maschinen überzugehen, um auf Kosten unserer Nachkommen und des Weltklimas durchgeführt zu werden, während die heute Lebenden, die in der Lage wären, sie auszuführen, keine Arbeit bekommen. Indes wird das autonome Fahren in wenigen Jahren die nächste Welle der Jobvernichtung auslösen. Der Elektromotor ist einfacher her­ zustellen als der Verbrennungsmotor und wartungsfrei. Daher würde auch der Übergang zum Elektroauto mit all seinen Vorteilen und Problemen* zum Jobkiller werden. In Deutschland und Österreich * Der Ausbau der Leitungsnetze einschließlich der Hochspannungsleitungen für die flächendeckende Bereitstellung des Ladestroms für Millionen Elektroautos würde gewaltige Investitionen erfordern. Ein weiteres Beispiel für eine Politik, die meint, die Zukunftsprobleme mit Methoden lösen zu können, die prolongiertes Wirt-

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III. Praktischer Teil

hängen über zehn Prozent der Arbeitsplätze vom Auto ab. Wo kündigen sich die Innovationen an, die Arbeit für die Millionen unnötig werdenden Fahrer, unnötig werdenden Arbeitskräfte in den Autofabri­ ken und Autowerkstätten versprechen  ? Die Ära, deren Ende wir erleben, begann mit dem Siegeszug der Dampfmaschine und endet damit, dass das, was zwei Jahrhunderte lang schlecht und recht funktionierte, dies nicht mehr tut. Für die Arbeitsplätze, die durch eine Innovation unnötig wurden, entstanden anderswo neue – wenn nicht gleich, dann etwas später. Je »intelligenter« aber die Hervorbringungen des technischen Fortschritts werden, desto weniger Arbeitsplätze schaffen Innovationen. Im jetzigen Stadium der Entwicklung sind es zu wenige – so weit die Innovationen nicht überhaupt dazu dienen, Arbeit einzusparen, denn darauf läuft ein Großteil des technischen Fortschritts hinaus. Die überwältigende Mehrheit der Menschen lebt von der Erwerbsarbeit. Dessen ungeachtet ist das unternehmerische Gewinnstreben im Bündnis mit dem menschlichen Erfindungsgeist angetreten, so viel menschliche Arbeit wie möglich unnötig zu machen und drauf und dran, sie aus den Bereichen, in denen sie noch gebraucht wird, auch zu vertreiben. Statt steuernd einzugreifen, sieht der Staat zu, und da niemand das Selbstverständliche ausspricht, schließt sich die öffentliche Hand dem Wahnsinn an. Statt ein positives Beispiel zu geben und sich einer gigantischen Fehlentwicklung zu widersetzen, stellt sie nicht nur die U-Bahnen auf fahrerlosen Betrieb um, sondern will demnächst auch noch in den Wiener Vorstädten mit fahrerlosen Autobussen experimentieren. Die unsichtbare Hand ist für die ökonomischen Zusammenhänge blind. Die öffentliche Hand stellt sich blind. schaftswachstum für viele Jahre versprechen. Für die Akkus, die nur für einen Teil ihrer technischen Lebenszeit im Kfz-Betrieb verwendbar sind, zeichnet sich immer­ hin eine Weiterverwendung zur lokalen Speicherung des Solarstroms ab, wenn die Energiewende zügig vorangetrieben wird. Würde aber allein VW seine gesamte Auto­produktion auf E-Antrieb umstellen, wären dafür bei einer Weltproduktion von derzeit 130.000 Tonnen Kobalt 120.000 Tonnen notwendig. Den Weltvorrat an Seltenen Erden würde das Elektroauto dahinschmelzen lassen wie Butter in der Sonne.

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Roadmap nach Utopia

Angesichts der Alternativen ist die Frage nicht mehr, ob eine externe Instanz in das Spiel der Marktkräfte eingreifen muss, sondern bloß noch, auf welche Weise sie es tun kann und soll. Für eine solche Funktion kommt nun einmal nur der Staat in Frage. Damit beginnt nolens volens ein neues Kapitel der Beziehungsgeschichte zwischen der Wirtschaft und dem Staat. Keynes brach mit der Forderung, dass er in der Krise investierend aktiv werden müsse, den Bann. Nach dem Zweiten Weltkrieg hat der Liberalismus vor allem in Skandinavien seinen Frieden mit einem gründlich gewandelten Staat gemacht. Nun ist er, ob wir es wollen oder nicht, ob er selbst es will oder nicht, ein weiteres Mal gefragt. Niemand sonst als er, der Staat, kann der unsichtbaren Hand die Führung geben, die notwendig ist, wenn sie dem Menschen dienen und nicht schaden soll. Die Industriestaaten brauchen immer weniger Arbeit und verbrauchen dafür immer mehr vom nie mehr auffüllbaren Ressourcenvorrat der Menschheit. Dieser Trend muss, ehe er eines Tages umgekehrt werden kann, verlangsamt und zum Stillstand gebracht werden. Und zwar in einer demokratischen Gesellschaft mit liberaler Wirtschaftsordnung. Die hier entwickelten Strategien mögen brauchbar sein oder nicht  – das Wichtigste ist, dass wir den Schub von Veränderungen, denen wir ausgesetzt sind, nicht als Schicksal hinnehmen, gegen das niemand etwas tun kann und dem wir uns anpassen müssen, sondern prüfen, was von alledem, das uns als Fortschritt verkauft wird, uns tatsächlich nützt, was uns schadet und dass ein Diskurs darüber in Gang kommt. Keynes ist uns dabei keine große Hilfe mehr. Sein Deficit ­Spending* sah vor, in der Depression die Investitionstätigkeit durch kreditfinanzierte staatliche Investitionen wieder in Gang zu bringen und die Schulden im folgenden Aufschwung abzuzahlen. Das Auf und Ab der Konjunktur wird es auch in Zukunft geben, daher wird man wohl immer wieder auf Keynes zurückgreifen, obwohl die Staatsverschuldung den Spielraum einengt und die Wirkung der Investitionen auf * Der Ausdruck stammt nicht von ihm selbst, sondern von Michal Kałecki.

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III. Praktischer Teil

die Beschäftigung laufend nachlässt. Durch die steigende Produktivität wird nämlich mit jeder staatlichen wie auch jeder privaten Investition immer weniger Beschäftigung und damit Konsum und immer mehr Maschinenarbeit geschaffen. Gegen einen permanent wirkenden Effekt wie den laufenden Abtausch von menschlicher Arbeit gegen Maschinenarbeit bietet Keynes keine Handhabe. ***

Dass die Arbeit verbilligt und die Energie verteuert werden muss, wurde schon in den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts erkannt. Der in St. Gallen lehrende Hans Christoph Binswanger machte damals den Vorschlag, die Beiträge der Arbeitgeber zur sozialen Absicherung der Arbeitnehmer zu senken und dafür eine Energiesteuer mit gleich hohem Aufkommen einzuheben. Der Effekt wäre eine Umverteilung von Lasten von oben nach unten gewesen. Die Arbeitnehmer hätten mit einer generellen Verteuerung des Energiekonsums zur Entlastung der Arbeitgeber beitragen müssen. In den europäischen Sozialversicherungsländern werden die Kosten der sozialen Sicherheit in einem historisch gewachsenen System auf die Arbeitgeber und Arbeitnehmer aufgeteilt. Es ist kein vertretbarer Grund zu erkennen, warum der Anteil der Arbeitnehmer plötzlich erhöht werden sollte. Die Idee wurde von der Politik niemals ernsthaft erwogen. Vom 1989 bei einem Flugzeugabsturz tödlich verunglückten österreichischen Sozialminister Alfred Dallinger stammte der Vorschlag einer »Maschinensteuer«, deren Ertrag ebenfalls zur Finanzierung der sozialen Sicherheit beitragen sollte. Was Dallinger tatsächlich im Sinn hatte, war jedoch eine Wertschöpfungsabgabe, die den sinkenden Beitrag der Lohnnebenkosten zur sozialen Sicherheit durch eine neue Steuer kompensieren sollte. Die Lohnnebenkosten sind ein Ballast, der die Arbeit verteuert und den Konkurrenzvorteil der Maschinenarbeit verstärkt. Durch Kündigungen werden Arbeitskosten eingespart, die Unternehmen senken dabei aber auch ihren Beitrag zu den Kosten der sozialen Sicherheit, die sie zugleich mit jedem Gekündigten, der nicht sofort einen neuen

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Roadmap nach Utopia

Arbeitsplatz findet, erhöhen. Daher verschärfen Lohnnebenkosten die Auswirkungen konjunktureller Schwankungen auf den Arbeitsmarkt. In der heutigen Situation ist dieses System kontraproduktiv. Die skandinavischen Länder, deren Sozialsysteme immer noch vergleichsweise vorbildlich sind, finanzieren die Sozialausgaben zum Großteil aus dem staatlichen Budget, dem Steueraufkommen. Sie beweisen damit, dass die Aufbringung der Mittel für die soziale Sicherheit nicht im direkten Zusammenhang mit dem Beschäftigungsverhältnis des Einzelnen stehen muss. Sie machen damit aber auch den in der EU nach wie vor vorhandenen Spielraum für unterschiedliche Gestaltungen deutlich. Im Goldenen Zeitalter der Vollbeschäftigung mögen Lohnnebenkosten nicht besser und nicht schlechter gewesen sein als das skandinavische Modell. Doch je weiter die Ablösung der menschlichen Arbeit durch die der Maschinen voranschreitet, desto mehr erscheint es gerechtfertigt und notwendig, die Unternehmen an den Kosten der sozialen Sicherheit auf andere Weise als im Verhältnis zu ihrem Einsatz von menschlicher Arbeit zu beteiligen. Als Alternative bietet sich eine Sozialabgabe von der Wertschöpfung der Unternehmen an, deren Ertrag dem Aufkommen an Lohnnebenkosten entspricht, das sie ersetzt. Das Soll ergibt sich aus den Abrechnungen der Betriebe, welche die Lohnabzüge der Arbeitnehmer zur sozialen Sicherheit, die bestehen bleiben, weiterhin abliefern. Die Wertschöpfung der Unternehmen ergibt sich allerdings erst nachträglich. Daher wird man zu einem System von Vorauszahlungen und Endabrechnungen greifen. Ich bin 1995 in meinem Buch Arbeit ohne Wachstumszwang zu dem Ergebnis gelangt, dass der Anteil der menschlichen Arbeit im Aggregat der Kosten auf diese Weise in Österreich um 20, Deutschland 15, Frankreich 22, Italien 30 und in Spanien um 19 Prozent gesenkt werden könnte.132 Wenn die Umlegung der Lohnnebenkosten auf eine Abgabe von der Wertschöpfung als striktes Nullsummenspiel gestaltet wird, entspricht die neue Abgabe für ein breites Mittelfeld von Unternehmen mit einer vergleichbaren Relation von Arbeitskosten und Wertschöpfung etwa den bisherigen Lohnnebenkosten. Gewinner sind die mit hohem Ar-

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III. Praktischer Teil

beitseinsatz arbeitenden Bereiche, Verlierer die energieintensiven Unternehmen. Alles im Geltungsbereich der Regelung mit hohem Energieeinsatz Produzierte wird teurer, alles, wo überdurchschnittlich viel menschliche Arbeitskraft zum Einsatz kommt, billiger. Die Pflege Alter und Kranker wird leichter bezahlbar. Der medizinische Sektor, der mit seinem hohen Arbeitseinsatz einen besonders wichtigen Beitrag zur Beschäftigung leistet, wird entlastet, der Fremdenverkehr konkurrenzfähiger. Reparaturen werden sich wieder öfter lohnen – ein Schritt zur Überwindung der Wegwerfgesellschaft mit ihrer ausufernden Ressourcenverschwendung.* Eine Abgabe von der Wertschöpfung anstelle der Lohnnebenkosten hätte auch den höchst erwünschten Kollateralnutzen eines WTOund EU-konformen Sozialzolls, da dabei der Wert der Importe in die Bezugsbasis einginge und sie zur Finanzierung der sozialen Sicherheit beitragen würden. Ein weiterer positiver Effekt wäre, dass Baufirmen aus EU-Ländern mit niedrigen Sozialleistungen und Lohnnebenkosten ihren unfairen Konkurrenzvorteil in EU-Ländern mit hohen Sozialleistungen und Lohnnebenkosten verlieren. Osteuropäische Baufir­ men arbeiten in Österreich auch dann um 20 bis 30 Prozent billiger als österreichische, wenn sie die EU-Richtlinie einhalten, wonach sie gleiche Löhne wie österreichische Firmen zahlen müssen.133 Die Zeit ist überreif für eine solche Reform. Sie wurde schon vor Jahrzehnten erörtert,** kann jederzeit in Angriff genommen werden und verspricht eine positive Reaktion des Arbeitsmarktes. Dies sollte uns aber nicht dazu verleiten, eine Maßnahme mit zeitlich begrenzter Wirkung für der Weisheit letzten Schluss zu halten. Die Ablösung der * In Schweden trat Anfang 2017 eine Halbierung der Mehrwertsteuer auf Reparaturen in Kraft, kommen Handwerker ins Haus, um Reparaturen durchzuführen, können 50 Prozent der Arbeitskosten von der eigenen Steuerleistung abgezogen werden. Ein bemerkenswerter Schritt in die richtige Richtung. ** Der wichtigste Einwand lautete, dadurch würden langfristig die Kapitalkosten steigen  – mit negativen Folgen für den technischen Fortschritt, die Entwicklung der Produktivität und die Beschäftigung. Er lief auf die Fortsetzung der Flucht nach vorne, in ein als unbegrenzt gedachtes Wachstum, hinaus.

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Roadmap nach Utopia

menschlichen Arbeit durch Energieeinsatz ist ein mit konjunkturellen Remissionen verlaufender Prozess, in dessen weiterem Fortgang die Abschaffung der Lohnnebenkosten immer mehr von ihrer Wirkung verliert. Die Maßnahme ist richtig und wichtig, genügt aber nicht und setzt nicht an der Wurzel des Übels an. Die permanente Störung des Arbeitsmarktes ist darauf zurückzuführen, dass Maschinenarbeit die menschliche Arbeit verdrängt. Die Übermacht dieser Konkurrenz erhellt allein aus dem winzigen Anteil der Energiekosten an den Gesamtkosten der Unternehmen. Nur in den energieintensivsten Wirtschaftszweigen erreichen die Energiekosten die Höhe der Arbeitskosten  – in der Papierindustrie in Österreich je 15 bis 20 Prozent der Produktionskosten.134 In den nicht energie­ intensiven Bereichen betragen sie durchschnittlich weniger als drei Prozent.135 Im Konkurrenzkampf der Unternehmen, in dem kleine und kleinste Vorteile über Sein oder Nichtsein entscheiden können, ist auch der Preis der Energie, die nahezu die gesamte physische und immer mehr »geistige« Arbeit verrichtet, von Bedeutung. In der Konkurrenz mit der Arbeit des Menschen spielt er keine Rolle. Mit dem billigsten Produktionsfaktor wird immer am sorglosesten umgegangen. Wenn es uns mit der Sorge um Arbeitsmarkt, Klima und fossile Reserven wirklich ernst ist, wird kein Weg daran vorbeiführen, den Produktionsfaktor Energie in Relation zur Arbeit zu verteuern und den Produktionsfaktor menschliche Arbeit in Relation zur Energie zu verbilligen, um den Abtausch von menschlicher Arbeit gegen Energieeinsatz einzubremsen. Dabei geht es nicht darum, weniger produktiv zu werden, sondern darum, statt der Produktivität der Arbeit die Produktivität des Energieeinsatzes zu forcieren. Von einer nachhaltigen Wirtschaft können wir erst dann sprechen, wenn Produktivität zum Synonym für die Produktivität der Energie, statt, wie heute, für die Produktivität der Arbeit geworden ist. Die Marktkräfte sind von sich aus nicht in der Lage, dieses Verhältnis umzukehren. Eine Verteuerung der Energie, mit der das erreicht werden soll, darf sich ausschließlich auf das Konkurrenzverhältnis zwischen Mensch und Maschine auswirken, nirgends sonst. Folglich dürfen mit ihr nur

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III. Praktischer Teil

die Unternehmen belastet werden. Eine Steuer, die einem solchen Konkurrenzvorteil gegenüber ins Gewicht fiele, müsste jedoch so hoch sein, dass sich jede Debatte darüber erübrigt. Trotzdem muss die menschliche Arbeit in Relation zur Maschinenarbeit billiger werden, wenn sie nicht immer weiter verdrängt werden soll. Die Arbeitenden dürfen aber nicht weniger verdienen. Dies sowohl aus sozialen Gründen als auch deshalb, weil der Massenkonsum von existentieller Bedeutung für die Aufrechterhaltung des Wirtschaftskreislaufs ist. Wenn nicht nur die Energie verteuert, sondern auch die Arbeit verbilligt werden soll, und zwar so, dass die Kaufkraft nicht sinkt, kann eine mögliche Lösung darin bestehen, eine Belastung, die der Wirtschaft nicht zumutbar wäre, mit einer Gegenleistung zu verbinden und mit Vorteilen für die einen und Nachteilen für die anderen den gewünschten Lenkungseffekt in Gang zu setzen. Als Mittel dazu bietet sich eine Energieabgabe der Unternehmen an, die in voller Höhe wieder an sie ausgeschüttet wird, wobei sich ihre Höhe nach dem Energieverbrauch des einzelnen Unternehmens, die Rückerstattung nach seinem Einsatz von menschlicher Arbeit richtet. Je höher die Abgabe ist, desto stärker wird der Energieverbrauch verteuert und die Arbeit verbilligt. Ähnlich wie bei der Umlegung der Lohnnebenkosten auf eine Abgabe von der Wertschöpfung ändert sich für ein breites Mittelfeld von Unternehmen mit einer vergleichbaren Relation zwischen Arbeitskosten und Energieverbrauch zunächst wenig. Für sie entspricht ihr Anteil an der Refundierung etwa der geleisteten Abgabe. Wiederum sind die nach heutigen Begriffen Hochproduktiven, mit hohem Energieeinsatz Arbeitenden Verlierer eines Nullsummenspieles, die Arbeits­ intensiven Gewinner. Die Kaufkraft bleibt gleich, es kommt zu einer Verschiebung von der Ressourcenkaufkraft zur Arbeitskaufkraft, also von den Industrieprodukten, die in den letzten Jahrzehnten immer billiger wurden, zu den arbeitsintensiveren und zu den immer teurer werdenden persönlichen Dienstleistungen. Der Druck, die Arbeitsproduktivität zu erhöhen, lässt nach. Schwarzarbeit wird weniger lohnend. Da die refundierte Energieabgabe direkt in das Konkurrenzverhält-

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Roadmap nach Utopia

nis zwischen menschlicher Arbeit und Maschinenarbeit eingreift, ist sie nachhaltig, und da sie keine bestehende Abgabe ersetzt, kann ihre Höhe variabel sein. »Eine zunächst niedrige und langsam steigende Energieabgabe«, schrieb ich 1995, »würde es ermöglichen, den Übergang zu einer nachhaltigen Wirtschaftsweise gleitend zu gestalten, Erfahrungen zu sammeln und die notwendige Akzeptanz in den Unternehmen zu erreichen. Kein Regelungsschritt ist irreversibel, vor allem aber wird von niemandem … gefordert, Opfer zu bringen für einen Lohn, der erst in einer fernen Zukunft winkt und der sich einstellen oder auch ausbleiben kann. Vielmehr wird – ohne den Anspruch zu erheben, es sei der einzig mögliche – ein Weg gezeigt, wie ein System verbessert werden kann, ohne es vorher zu zerschlagen, und den Übergang zur von vielen Menschen erhofften und für notwendig gehaltenen nachhaltigen Wirtschaftsweise auf kontrollierbare, konsensfähige, für die Wirtschaft verkraftbare Weise einzuleiten, ohne auf den Sankt-Nimmerleins-Tag des großen geistigen Paradigmenwechsels zu warten. … Trial and error bedeutet in diesem Fall das Herantasten an eine Energieabgabe mit dem maximal erzielbaren arbeitsmarktpolitischen Effekt.«136 Stellen wir allerdings die niedrigen Energie- und die hohen Arbeits­ kosten einander gegenüber, sehen wir, dass die Abgabe hoch aus­fallen muss, wenn eine nennenswerte Wirkung erreicht werden soll. Dies entspricht unserem verschwenderischen Umgang mit den Naturvorräten, es vermittelt uns aber auch eine Vorstellung von der Schwierigkeit, vom Raubbau wegzukommen. Die Stahlwerke, die Pipe­lines, die Walzwerke und die riesigen Containerschiffe – der ganze Riesen­ apparat der Industriegesellschaft führt uns die Macht des Faktischen vor Augen. Dem armen Würmchen Mensch könnte da leicht der Mut vergehen. Die Alternative hieße aber, die Dinge laufen und alle nach uns Kommenden den Preis des Nichtstuns angesichts einer längst sinnlos gewordenen Vernichtung ihrer Lebensgrundlagen zahlen zu lassen, weil wir zu träge waren, unsere weiche Hardware, der das alles entsprungen ist, endlich auch dafür zu gebrauchen, um Auswege aus

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III. Praktischer Teil

dem Teufelskreis zu suchen und zumindest erste Schritte in eine andere Richtung zu wagen. Eine bequeme Medizin ohne unangenehme Nebenwirkungen kann und wird es nicht geben. Nun werden zwar desto unangenehmere Nebenwirkungen in Kauf genommen, je schwerer die Krankheit und der Leidensdruck ist, sofern eine Therapie Erfolg verspricht. Wir heute Lebenden muten aber den Leidensdruck unseren Nachkommen zu, während die Nebenwirkungen jeder Therapie wir selbst zu spüren bekämen. Doch je schwerer es wird, die Wachstumsraten zu erzielen, die für die Beherrschung der Arbeitslosigkeit unter den Eingesessenen und für die Integration der Zuwanderer notwendig sind, desto eher darf man hoffen, dass sich die diffus allgegenwärtige Einsicht, dass es so nicht weitergehen kann, konkretisiert und die Politik erreicht. Als die Idee einer refundierten Energieabgabe entstand, war Österreich noch nicht in der EU. Im Gemeinsamen Markt sind der Höhe einer solchen Abgabe, wenn sie in einem Land eingeführt wird, engere Grenzen gesetzt und es wird Verlierer geben, auf die um der Konkurrenzfähigkeit des Landes willen mehr Rücksicht genommen werden muss. Andererseits geht es darum, bereits mit dem ersten Schritt Hoffnung zu wecken und Aufbruchsstimmung zu erzeugen. Daher wird es sich empfehlen, die Höhe so festzusetzen, dass mit dem Ertrag in einem Teilsegment des Arbeitsmarktes ein spürbarer Effekt erreicht werden kann – die älteren Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer oder die Geringqualifizierten bieten sich dafür an. Mit der refundierten Energieabgabe wird keine irreversible Entwicklung in Gang gesetzt, sondern soll versucht werden, in einem schrittweisen, in jeder Phase evaluierbaren Vorgehen die Ablösung der Arbeit durch Energieverbrauch und damit den Wachstumszwang unter Kontrolle zu bringen. Führen die ersten Schritte zu einem überzeugenden Ergebnis, kann – unter der Voraussetzung einer weiterhin positiven Rückmeldung der Wirklichkeit – die Abgabe und Rückerstat­tung schrittweise erhöht und die Förderung auf weitere Segmente des Arbeitsmarktes ausgeweitet werden.

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Roadmap nach Utopia

Für die Überwachung sowohl der Einhebung und Weiterleitung der Wertschöpfungsabgabe an die Versicherungsträger als auch für die Einhebung und Ausschüttung der refundierten Energieabgabe wäre eine nur dem Gesetz unterworfene Stelle zu schaffen. Als Modell für deren Rechtsstellung kann der Rechnungshof dienen. Hat sich die refundierte Energieabgabe in einem Land bewährt, wird ihr Effekt sehr viel größer sein, wenn die Beispielswirkung dazu führt, dass sie auch in den anderen hochproduktiven EU-Staaten eingeführt wird. Ihren vollen Effekt wird sie erst entfalten, wenn die Globalisierung auf ein verträgliches Maß zurückgeführt wird. ***

Ist das fahrerlose Fahren erst einmal Wirklichkeit, bringt auch keine Befreiung der Arbeit von den Lohnnebenkosten und keine refundierte Energieabgabe den Menschen ins Fahrerhaus zurück. Das fahrerlose Fahren steht für eine ganze Welt neuer, Arbeit einsparender Technologien von solcher Leistungsfähigkeit bei so geringem Energieverbrauch, dass ihnen mit der Verteuerung der Energie und Verbilligung der menschlichen Arbeit nicht mehr beizukommen ist. Dazu zählen die Kassen in den Supermärkten, in denen die Kunden heute schon die Barcodes selbst über die Lesegeräte ziehen und die eines Tages den Inhalt eines vollen Einkaufskorbes automatisch erfassen werden. Dazu zählen die Callcenters, in denen bald schon künstliche Intelligenz, KI, und künstliche Stimme die zu Niedriglöhnen arbeitenden Menschen ersetzen werden, die, oft Tausende Kilometer von den Kunden entfernt, deren Anfragen beantworten. Dazu zählen aber auch mit einem Minimum von menschlicher Arbeit weltweit tätige Dienste wie Airbnb, der Europas Städte in Tourismuswüsten verwandelt, oder Uber, der uns vorführt, wie man als kapitalstarkes Unternehmen von Amerika aus das lukrative Geschäft der Fahrtenvermittlung okkupiert und nebenbei den Vollzeitjob der Taxifahrer in einen Nebenerwerb verwandelt, was zu den gesellschaftspolitischen Vorstellungen von Uber-Investoren wie Goldman Sachs und Google bestens passen dürfte. Die Vermittlungsgebühr beträgt bis

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III. Praktischer Teil

zu 20 Prozent – das 2009 gegründete und 2016 weltweit in 471 Städten tätige Unternehmen wurde bereits 2015 mit über 50 Milliarden Dollar bewertet. Die Elektronik arbeitet nicht nur billiger, sondern auch schneller und sicherer als der Mensch und die Prophezeiung, das autonome Fahren werde die Zahl der Verkehrsunfälle senken, ist zwar nicht nachprüfbar, kann sich aber als zutreffend erweisen. Allerdings müsste man zuvor wohl Motorräder und Selberfahren verbieten. Auf elektronische Assistenzsysteme und GPS-Navigation verzichtet nicht mehr gerne, wer sie kennt. Soweit die Errungenschaften der Sicherheit und Bequemlichkeit des Einzelnen dienen, sind sie willkommen. In der Wirtschaft wird das autonome Fahren dazu dienen, noch mehr menschliche Arbeit einzusparen. Daher müssen wir uns fragen, ob wir immer mehr menschliche Arbeit einsparende Technologien noch wollen, wenn sie der Gesellschaft mehr schaden als nützen, weil sie übereffizient geworden sind. Ob uns die billige Arbeit, die Präzision und Sicherheit der Maschinen tatsächlich eine unaufhaltsam steigende Arbeitslosigkeit, gegen die unter den heutigen Rahmenbedingungen niemand ein Rezept hat, wert ist. Oder ob wir nicht doch lieber in einer Welt leben wollen, in der jeder Arbeit findet, die seinen Fähigkeiten entspricht, und davon leben kann. So grundlegende, tief in unser Leben eingreifende Entscheidungen dürfen wir, die immer noch in demokratischen Ländern lebenden Europäer, uns nicht von einem Gewinnstreben, das jedes Maß verloren hat, aus der Hand nehmen lassen. Der Staat kann die Gewohnheit des Rauchens bekämpfen. Es gibt eine Menge Dinge, die er dem Einzelnen verbietet oder die er reguliert, darunter manches, das ihn eigentlich nichts angeht. Wenn er all das kann, muss er auch fähig sein, gegen Technologien vorzugehen, die der Gesellschaft schaden. Wenn sich Innovationen gegen den Menschen wenden, ist es die Aufgabe der Politik und des Staates, nicht das Gewinnstreben einer Minderheit, sondern das Wohl des Ganzen zu schützen. Fassen wir zusammen  : Die Marktkräfte können den laufenden Abtausch von menschlicher Arbeit gegen Energieverbrauch nur immer

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Roadmap nach Utopia

weiter anheizen. Dass er zu Lasten aller nach uns Lebenden erfolgt und in der Gegenwart zu schweren sozialen und politischen Erschütterungen führt, bleibt für sie transzendent. Auch die sozialen und politischen Folgen neuer Technologien, welche die Abschaffung der menschlichen Arbeit bei verhältnismäßig geringem Energieverbrauch weiter vorantreiben, bleiben für sie transzendent. Die Abschaffung der Arbeit ist zum Selbstläufer geworden. Aus diesem Teufelskreis herauszukommen, ist eine Menschheitsaufgabe von höchster Priorität. Da wir in den hochentwickelten Industriestaaten die Welt in diese Wirtschaftsweise hineingehetzt haben, müssen auch wir, und zwar hier, den Ausweg finden. Voraussetzung dafür ist eine Autorität, über die nun einmal nur der Staat oder eine überstaatliche Organisation wie die EU verfügt. Da der Eingriff in das System Wirtschaft notwendig ist und keine andere Instanz über die notwendige Macht verfügt, ist die Frage nicht, ob wir dem Staat und der EU diese Aufgabe zutrauen, sondern sie sind unsere einzige Alternative. Sind sie, so wie sie sich heute präsentieren, dazu nicht fähig, müssen sie dazu befähigt werden. ***

Für eine solche Aufgabe ist die EU derzeit noch in keiner Weise gerüstet. Die Vereinigten Staaten von Europa sind längst Realität, und sie sind dabei, etwas historisch völlig Neues zu werden. Dass dieses befriedete Europa auf lange Sicht nur immer weiter zusammenwachsen kann, ist zwar längst in den Köpfen verankert, aber so, wie die EU heute ist, hat sie ein gewaltiges Defizit an Glaubwürdigkeit und Akzeptanz. Grundsätzlich in Frage gestellt wird sie von immer weniger Menschen, was selbst die Rechte nur noch zur Kenntnis nehmen kann. Doch die Vorstellungen, wie es weitergehen soll, klaffen weit auseinander. Die einen möchten, dass die europäischen Nationalstaaten so schnell wie möglich für immer verschwinden und machen den anderen Angst, ihre nationale Identität gegen eine vage, im Werden befindliche eintauschen zu müssen. Diese brauchen bloß das Wort Vertiefung zu hören, um mit Schrecken an noch zentralistischere

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III. Praktischer Teil

Strukturen und noch effizienter über ihre Köpfe hinweg durchgezogene Entscheidungen zu denken. Das Zwitterwesen aus Demokratie, Oligarchie und Bürokratie, als das sich die EU heute präsentiert, wird die Liebe der Bürgerinnen und Bürger schwerlich gewinnen. Unbehagen angesichts ihres Nachholbedarfes an Demokratie und Transparenz breitet sich aus. Wenn sich nur die Eliten in ihr gut aufgehoben fühlen, werden wir eines nahen Tages in einer nicht mehr weiter nach rechts driftenden, weil dort angekommenen EU aufwachen. Wenn das nicht geschehen soll, wird sie breite Wählerschichten davon überzeugen müssen, dass mehr Europa nicht bedeutet, dass noch mehr Selbstbestimmung verloren geht und bloß die Reichen den Nutzen haben. Sie wird die Ängste der Menschen ernst nehmen müssen und sie wird auch gut daran tun, sich zu fragen, ob ihre marktlastige Ausrichtung demokratisch legitimiert ist und dem Mehrheitswillen der Europäer entspricht, oder ob sie nicht zu deren Enttäuschung beiträgt. Kein Wähler wird gefragt, ob er ein weiteres Land mit ­instabiler Demokratie und fragwürdiger Rechtssicherheit in der EU haben will. Wie solche Abstimmungen ausgingen, kann man sich a­usrechnen. Wie die EU dann aussähe, auch  : kleiner und handlungsfähiger. Die EU-Politiker haben offen­bar noch immer nicht begriffen, dass die Aufnahme von Ländern wie Bulgarien und Rumänien ein Fehler war und welch teurer Wahnsinn es wäre, auch noch die Ukraine an die EU heranzuführen. Doch diese betreibt ihre Aufnahmepolitik, so wie ihre gesamte Politik, ohne demokratisches Korrektiv und ohne Rückhalt in der Bevölkerung. Ein gemeinsamer Markt kann nur mit Ländern vergleichbarer Produktivität, vergleichbaren Löhnen und sozialen Standards funktionieren. Wenn nach dem Beitritt alle Handelsschranken fallen, werden die Märkte weniger produktiv produzierender Länder mit den in anderen EU-Ländern billiger produzierten Gütern überschwemmt. Leidlich funktionierende Arbeitsmärkte kommen zum Erliegen und die Jungen, die Aktivsten, diejenigen, auf die das Land am meisten angewiesen wäre, suchen das Weite.

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Die Abwanderung, vor allem qualifizierter, mit hohen Kosten ausgebildeter Arbeitskräfte, ist schon für die nicht oder noch nicht der EU angehörenden Länder Osteuropas und des Balkan ein Problem. Treten sie der Gemeinschaft bei, nimmt die Abwanderung dramatische Ausmaße an. In Rumänien stieg die Zahl der über ein Jahr abwesenden Einwohner mit Hauptwohnsitz im Inland von 2003 bis 2017 von 1,1 auf 2,57 Millionen (ohne Saisonarbeiter), seit dem EU-Beitritt im Jahre 2007 mit stark steigender Tendenz. 11,6 Prozent der Bevölkerung arbeiten bereits dauernd außer Landes – vor allem 25- bis 39-Jährige, mehr als doppelt so viele aus dem städtischen wie aus dem ländlichen Umfeld, wo die Saisonarbeit in der Fremde überwiegt.137 800.000 Ungarn arbeiteten bereits Mitte des Jahres 2017 im Ausland,138 in wenigen Jahren werden es eine Million oder zehn Prozent der Bevölkerung sein. Bis Anfang 2014 hatten allein 5.000 Ärzte das Land verlassen. Arbeitslose Ukrainer suchen heute ihr Glück in Polen, während laut offizieller polnischer Statistik zwei Millionen Polen, tatsächlich wohl bis zu drei Millionen, im EU-Ausland arbeiten. In England nannten vor der Brexit-Abstimmung 550.000 Personen Polnisch als Muttersprache, die größte Gruppe hinter Englisch und Walisisch. In wenigen Ländern wurde die Abwanderung in solchem Ausmaß zur Entwicklungsbremse wie in Litauen, das seit den frühen neunziger Jahren 20 bis 25 Prozent seiner Bevölkerung verlor. Die 40.000 Litauer, die das Land Jahr für Jahr verlassen, entsprechen gut 1,4 Prozent der Bevölkerung. Nicht zuletzt durch diesen Aderlass ist das Land trotz guter Wirtschaftsdaten nach wie vor vom Anschluss an das westeuropäische Wohlstandsniveau weit entfernt. In einem so kleinen Land wie Lettland mit seiner von 2000 bis 2018 von 2,38 auf 1,95 Millionen zurückgegangenen Bevölkerung macht sich ein sekundärer Effekt der Abwanderung besonders bemerkbar  : Da vor allem junge Menschen auswandern, wird die Entvölkerung durch das Sinken der Geburten- und das Steigen der Sterbezahlen verstärkt. »Bei dieser Rate hört Lettland in 50 Jahren auf zu existieren« meinte der bekannte TV-Kommentator Otto Ozols.139 Dafür verkommt die von Billiglinien angeflogene Hauptstadt Riga zum beim einschlägigen

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III. Praktischer Teil

männlichen britischen Publikum besonders beliebten »Bangkok des Baltikums«. Die Zwillingsschwester des Elends hörte schon immer auf den Namen Prostitution. Bulgariens Bevölkerungsschwund wird in der EU nur von den baltischen Staaten übertroffen. Vom 1. Jänner 2009 bis 1. Jänner 2016 verloren Litauen und Lettland jeweils neun, Bulgarien 4,2 Prozent der Bevölkerung. Die Auswanderungstendenz der mit hohen Kosten ausgebildeten jungen Akademiker ist in Bulgarien besonders groß. Der Mindestlohn beträgt 261, das Durchschnittsgehalt arbeitender Bulgaren 560 Euro. Der Frust macht sich vor allem in einem aggressiven, gegen die Minderheit der Roma und deren angeblich oder wirklich höhere Geburtenrate gerichteten Rassismus Luft. Auch dieses 2007 der EU beigetretene Land wurde seither nicht reicher, sondern ärmer. Reich wurde »vor allem, wer skrupellos genug vorging bei der Privatisierung und später bei der Vergabe der ersten Fonds aus Brüssel für Infrastruktur- und Wirtschaftsprojekte.«140 Eine Politik, die zu Binnenwanderungen solcher Art und solchen Ausmaßes führt, bewirkt das Gegenteil dessen, was sie angeblich bezweckt. Die Arbeitsmigranten sind der lebende Beweis für das Versagen der Aufnahmepolitik. Die EU eignet sich nicht zur Quarantänestation für zurückbleibende Volkswirtschaften. Wenn deren Schulen und Universitäten Menschen ausbilden, die dann auswandern, leisten sie Entwicklungshilfe für die Überentwickelten. Die Abwanderung genau jener, auf die sie am dringendsten angewiesen sind, wird zur Entwicklungsbremse und führt zur Überforderung der Sozialsysteme. Gewinner sind, durch den Druck auf die Arbeitsmärkte und die Vergrößerung ihrer Absatzmärkte, die Unternehmen der Aufnahmeländer. Dort sieht sich die Mehrheit der Arbeitnehmer nicht als Gewinner, obwohl die billigere Arbeit der Zuwanderer auch ihnen zugutekommt. Ob sie es richtig sehen oder nicht – ohne eine Aufnahmepolitik, die derartige Binnenwanderungen produziert, hätte Europa die Briten nicht verloren. Es war für alle ein schlechter Tausch. Eine gemeinsame Währung für Länder mit unterschiedlichem Produktivitätsniveau widerspricht vollends jeder ökonomischen Vernunft.

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Roadmap nach Utopia

Griechenlands Pro-Kopf-Einkommen war 2015 um 27,5 Prozent niedriger als 2006, ein klassischer Fall von Entindustrialisierung. Portugal stagnierte mit einem Minus von 0,4 Prozent.141 In Italien war das Pro-Kopf-Einkommen 2016 um sieben Prozent niedriger als im Jahre 2000.142 Im Pro-Kopf-Einkommen sind auch die Einkommen der Reichen und Reichsten enthalten. Daher ist davon auszugehen, dass die Einkommensverluste im mittleren und niedrigen Bereich noch um einiges größer waren. Leider kommt man in eine gemeinsame Währung leicht hinein, aber nicht ohne unkalkulierbare Folgen wieder heraus. Wären sie nicht dem Euro beigetreten, könnten die Griechen ihre Währung abwerten und so ihre Exporte verbilligen. Ein Land mit niedriger Produktivität, das einer gemeinsamen Währung beitritt, handelt wie ein Autokon­ strukteur, der das Differentialgetriebe vergisst. Im Falle eines Austritts aus dem Euro würde aber die Drachme, die Lira oder wie immer das neue Geld hieße, sofort in den Keller spekuliert. Niemand ließe sein Geld auf der Bank liegen. Bisher wurde nämlich bei jeder Währungsreform das alte Geld ungültig. Aber der Euro bliebe ja im übrigen Europa Zahlungsmittel. Jedes den Euro verlassende Land würde ein Land mit zwei Währungen, in einem so kleinen Land wie Griechenland wäre die Nebenwährung in großen Teilen der Wirtschaft nicht der Euro. Folge wäre eine ausufernde Schattenwirtschaft, ein noch geringeres Steueraufkommen und die weitere Verelendung der kleinen Gehalts- und Pensionsbezieher, die sich nicht dagegen wehren könnten, mit der Landeswährung bezahlt zu werden. Sollte sich jedoch ein Platzen des Euro abzeichnen, würde sofort ein Run auf den Dollar, den Franken und das Gold einsetzen, und wie es hernach der europäischen Wirtschaft erginge, das kann man sich nur in den schwärzesten Farben ausmalen. Der lachende Zuschauer wären vor allem die USA, deren Ökonomen den Euro bei jeder Gelegenheit schlecht reden. Europa braucht den Willen zum Zusammenhalt, es braucht die Entschlossenheit, den Euro zu erhalten, es würde Möglichkeiten zur Disziplinierung und im äußersten Fall zum Ausschluss von Staaten brauchen, die den Weg der pluralistischen Demokratie verlassen. Was

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III. Praktischer Teil

Europa am wenigsten braucht, ist eine monströse Zentralregierung, die sich auf keinerlei Erfahrungen stützen könnte und voraussichtlich nur Unfug stiften würde. Wie sie Länder wie Deutschland, Ungarn, Polen, Italien und Frankreich außenpolitisch unter einen Hut bringen könnte, ist ohnehin ein Rätsel. Was Europa hingegen tatsächlich nützen könnte, wäre ein Sozialkommissar mit einem Sozialbudget, in das jedes Land entsprechend seiner Leistungsfähigkeit einzahlt. Ein halbgarer »Marshallplan« sollte Griechenland zu konkurrenzfähigen Industrien verhelfen. Zum Glück wurde rechtzeitig erkannt, dass dies nur zu riesigen Verlusten geführt hätte. Der historische Marshallplan war dazu bestimmt, die Investitio­ nen in Gang zu bringen, an denen es nach dem Zweiten Weltkrieg fehlte, statt Konsum, um den sich damals niemand sorgen musste. Ein europäisches Sozialbudget würde Konsum anregen, wo heute Mangel herrscht, statt Investition, die ohnehin sofort zur Stelle ist, wo sich eine Gewinnchance bietet. Doch an der großen Festtafel ist kein Gedeck für arbeitslose Griechen, Portugiesen, Kosovaren, Bulgaren und Rumänen gelegt. Ein ka­­ puttes Gesundheitssystem, das Menschen sterben lässt, weil es an Medikamenten und Ärzten fehlt, vollstreckt nur den Befehl der Natur an die Armen, sich zu packen. Bei Thomas Malthus steht es. Menschenschlangen vor den Suppenküchen 1847 in Irland, 2017 in Athen* – worin sich die Bilder bei allen Unterschieden gleichen, das ist die unbarmherzige Härte, mit der Elend hingenommen wird. Irland lieferte in den Jahren der großen Hungersnot weiter Nahrungsmittel nach England, Griechenland zahlt weiter seine Schulden. Ein europäisches Sozialbudget wäre gelebte Solidarität, wäre volkswirtschaftlich sinnvoll, wäre jederzeit möglich, wenn Menschlichkeit und der politische Wille vorhanden wären. * Allein in Athen waren Anfang des Jahres 2017 11.000 Familien mit 5.000 Kindern als Empfänger kostenloser Lebensmittel registriert, an manchen Tagen war jedoch nicht einmal Milch für die Kleinkinder vorhanden. Zur gleichen Zeit wurden die Budgetvorgaben übererfüllt. Kurier (Wien), 22.2.2017.

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Roadmap nach Utopia

Die europäische Politik gegenüber den Nachzüglern und Zurückfallenden ist die des alten, mit dem Malthusianismus amalgamierten Manchester-Liberalismus. Außer Sparen, Sparen und wieder Sparen und Kürzen, Kürzen und noch einmal Kürzen fällt Politikern und Ökonomen wenig ein. Doch das Kürzen und Sparen geht daran vorbei, dass die Lasten und sozialen Einschnitte, die man Menschen zumuten kann, Grenzen haben. Welche Unterschiede im Lebensstandard und in der sozialen Absicherung ein Gebilde wie die EU gerade noch erträgt, sollte man besser nicht austesten, sonst sind plötzliche Migrationswellen in der EU, von denen wir uns heute noch keine Vorstellung machen, nämlich nur eine Frage der Zeit. Doch keine der Optionen, die heute den vom Niedergang bedrohten Staaten bleiben, verspricht die blühenden Landschaften, für die in einer Gesellschaft, die auf Kosten aller nachkommenden Generationen lebt, alle materiellen Voraussetzungen gegeben sein sollten. Wir plündern das Erbe aller nach uns Kommenden, sind aber nicht einmal mehr in der Lage, Millionen jungen Europäern Zukunftschancen zu bieten. Von den Flüchtlingen und von Hunger und Not in der Welt ganz zu schweigen. ***

Menschen suchen seit grauer Vorzeit, von dort, wo sie Not leiden, dorthin zu kommen, wo ihnen ein besseres Leben winkt. Das Angebot der Schlepper reagiert auf eine schier unersättliche Nachfrage. Daher kann die Zuwanderung nach Europa eingeschränkt, aber nicht verhindert werden, was immer eine Regierung verspricht. Wer will, dass die Menschen dort bleiben, wo sie sind, muss bei der Nachfrage ansetzen und etwas dafür tun, dass sie dort, wo sie sind, auch leben können und Hoffnung auf eine gute Zukunft fassen. Das hermetisch abgeriegelte Europa neben einem von Trumps Mauer eingeigelten Amerika in einer Welt der Abgehängten, der Hoffnungslosen, der Armen, das den Rechten und den Populisten vorschwebt, wäre der noch schlimmere Alptraum als das mit der Zuwanderung kämpfende Europa. Wir würden uns eines solchen Friedens wohl nicht lange erfreuen.

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III. Praktischer Teil

Europa wird die Zuwanderung auf die Dauer nur in den Griff bekommen können, wenn es etwas unternimmt, um die Situation in den Herkunftsländern zu verbessern. Dem allerdings steht nicht zuletzt eine Weltordnung entgegen, in der offene Märkte unantastbare Götzen sind, die zu missachten sich nur die Starken und Mächtigen leisten können. In unserer von überholten Dogmen und kurzsichtigem Egoismus bestimmten Weltordnung haben Alternativen derzeit kaum eine Chance. Doch nicht nach Alternativen zum Bestehenden zu suchen, würde bedeuten, die Hoffnung auf eine vernunftgeleitete, eine von etwas mehr Vernunft geleitete Welt zu begraben. Wenn wir von den politischen und religiösen Zuständen in vielen dieser Länder, von der Verfolgung Andersdenkender und Andersgläubiger und von der herrschenden Korruption absehen und uns auf die wirtschaftlichen Gründe konzentrieren, die Menschen zur Auswanderung veranlassen, dürfte ziemlich klar sein, was diese Länder wie überhaupt die Nachzügler und Zurückfallenden mehr als alles andere brauchen, wenn Hoffnung auf eine Zukunft im eigenen Land entstehen soll  : sichere Arbeitsplätze und die Aussicht auf langsam, aber sicher steigenden Wohlstand. Die Gründe der Binnenwanderungen in der EU und die Gründe, die Menschen nach Europa aufbrechen lassen, haben vieles gemeinsam. Erinnern wir uns an das vom Kopf auf die Füße gestellte Say’sche Theorem. Das zur Erwerbung der Güter notwendige Geld wird bei ihrer Produktion erworben, denn nur Arbeit schafft Kaufkraft – und zwar die menschliche und nicht die der Maschinen. Maschinenarbeit spart menschliche Arbeit, schafft aber keine Kaufkraft, dafür umso mehr Gewinne. Darum kann nur genug gekauft werden, wo so viel produziert wird, dass dabei auch genug menschliche Arbeit entsteht. Wenn keine Scheuklappen den Blick behindern, ist leicht zu erkennen, warum dies in vielen Ländern nicht oder nicht mehr der Fall ist. Sie können zu wenig von all dem, das sie brauchen, auch selbst produzieren, weil zu viel anderswo billiger produziert wird. Die Konkurrenz von außen, vom Welt- oder vom Binnenmarkt, ist billiger, weil sie durch größere Produktionsmengen in der Lage

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Roadmap nach Utopia

ist, mehr menschliche Arbeit durch Maschinenarbeit zu ersetzen. Ihr Konkurrenzvorteil beruht darauf, dass sie von unseren wehrlosen Nachkommen stärker subventioniert wird. In vielen Ländern blieb die Entwicklung vor allem deshalb stecken, weil sie infolge zu k­ leiner Märkte keine ausreichende Inlandsproduktion aufbauen konnten, die eine Chance gegen die produktivere Konkurrenz gehabt hätte. So kommt keine Aufwärtsspirale in Gang. Die Zurückfallenden hingegen büßen durch den Konzentrationsprozess und die Standortkonkurrenz so viel Produktion ein, dass sie Gefahr laufen, in die Abwärtsspirale zu geraten und zu Rückentwicklungsländern zu werden. Mit einem umfassenden, die Teilhabe am technischen Fortschritt und die Entwicklung hemmenden Zollschutz wurden bereits genug schlechte Erfahrungen gemacht. Die Erfahrung hat aber auch gezeigt, dass sich Aufholprozesse nicht auf den Rohstoff- und auch nicht auf den Agrarsektor, aber auch nicht allein auf den für Konjunkturschwankungen und Terrorakte anfälligen Tourismus stützen können. Ohne eine genügend große Bandbreite industrieller Produktion kommen sie nicht voran. Was diese Länder daher tatsächlich mehr als alles andere brauchen, sind geschützte Teilmärkte für eine hinreichend große Zahl im Inland hergestellter und hier nachgefragter Konsumgüter, die mit höherem Einsatz von menschlicher Arbeit und daher teurer als die Produkte vom Weltmarkt erzeugt werden. Nur so können Arbeitsplätze geschaffen werden, kann ein Wachstum der Kaufkraft einsetzen, können Lebenschancen und Optimismus entstehen und kann das Verbleiben in der Heimat attraktiv werden. Auf dem Weltmarkt sind solche Güter nicht konkurrenzfähig. Industrieproduktion benötigt aber Investitionsgüter, Energie, Rohstoffe – Produktionsfaktoren, die, soweit nicht im Lande vorhanden, importiert und mit Exporterlösen bezahlt werden müssen. An diesem einfachen Zusammenhang ist schon manche Hoffnung auf Entwicklung und Wohlstand zerbrochen. Soll sie nicht immer wieder scheitern, muss es solchen Ländern ermöglicht werden, unter hoher Energieproduktivität und niedriger Arbeitsproduktivität für den Inlandsmarkt produzierende Industrien aufzubauen und sie vor der Konkurrenz der unter

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III. Praktischer Teil

hoher Arbeits- und niedriger Energieproduktivität erzeugten Importprodukte zu schützen. Zugleich muss es ihnen aber auch ermöglicht werden, so viel zu exportieren, dass sie importieren können, was sie brauchen, um ihren Wirtschaftskreislauf in Gang zu halten. In einer solidarischen Staatengemeinschaft könnten Industrialisie­ rungsprojekte auf den Weg gebracht werden, indem man Ländern gestattet, ihre Exporte im notwendigen Ausmaß durch Subventionen zu stützen. In einem solchen Modell müsste die hochproduktive Welt in einer neuen Form von Entwicklungszusammenarbeit für kontingentierte Importe aus diesen Ländern auf Einfuhrabgaben verzichten, obwohl diese für eine in entsprechenden Abkommen definierte Bandbreite im Inland nachgefragter Industrieprodukte selbst solche einheben. Dies wäre nicht nur gelebte Nächstenliebe, sondern eine Möglichkeit, Ländern, aus denen Menschen nicht aus politischen, sondern aus wirtschaftlichen Gründen abwandern, zum funktionierenden Arbeitsmarkt und zum Aufschwung zu verhelfen, der zum Bleiben einlädt. Dabei entstünde Investitionsbedarf. Ausländische Investoren wurden in vielen Ländern zu einem wichtigen Motor des Fortschritts. In Wien errichteten britische Unternehmen bereits um 1845 Gaswerke und Gasleitungen für die Straßenbeleuchtung. Die Investitionen für die ersten elektrisch betriebenen Straßenbahnen und für die Gasversorgung der Haushalte wurden ebenfalls von britischen Unternehmen getätigt. Kapitalzuflüsse erleichterten, neben dem Konkurrenzvorteil der billigen Arbeit, nach dem Zweiten Weltkrieg die Aufholprozesse junger Industriestaaten in Asien. Kehrseite der Erfolgsmodelle waren Monokulturen im Hightech-Bereich und die Vernachlässigung des ländlichen Raumes. Diese Beispiele sind aber ohnehin nicht reproduzierbar. Grund dafür ist die seither eingetretene weltweite Knappheit der Absatzmöglichkeiten auf zu vielen Märkten. Die Nachzügler brauchen ein den heutigen Gegebenheiten entsprechendes Industrialisierungsmodell light, das sich auf den inländischen Bedarf an Konsumgütern und landwirtschaftlichen Erzeugnissen und auf geschützte Märkte stützt.

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Roadmap nach Utopia

In einem solchen Modell würden die Industriestaaten zunächst Märkte verlieren, allerdings Märkte mit geringer Kaufkraft. Widerstand wäre vor allem von jenen zu erwarten, die von der Ausbeutung der Rohstoffvorräte in den armen Ländern profitieren. Dafür würden Gewinn versprechende Investitionsmöglichkeiten eröffnet, die Jobs schaffen, das Ansteigen der Kaufkraft bewirken und eine Aufwärtsspirale in Gang setzen. Die in den entwickelten Industriestaaten erzielten Gewinne, die nicht mehr in die Realwirtschaft zurückfinden, könnten Entwicklung und Wachstum schaffen, wo es noch daran fehlt, statt die Geldblasen weiter aufzublähen. So könnten Bereiche mit hoher Energieproduktivität, das heißt teurer Energie und hohem Einsatz von menschlicher Arbeit, in einer Umwelt forcierter Arbeitsproduktivität, das heißt teurer Arbeit und zu billiger Energie, entstehen. Es dürfte, trotz allem, Staaten geben, die für einen solchen Versuch reif wären. ***

Die Botschaft der Klimaforscher ist einhellig. Es gibt keinen Zweifel mehr daran, dass vor allem der Mensch die Veränderung des globalen Klimas verursacht. Auch wenn er für die Erwärmung der vergangenen hundert Jahre nur zu etwa 50 Prozent verantwortlich ist, fällt der anthropogene Beitrag besonders ins Gewicht, weil er mit den natürlichen Schwankungen nicht wieder verschwindet. Wenn, so wie jetzt, erklärt etwa der Wiener Klimaforscher Michael Hofstädter, »ein zufälliges Schwanken dazukommt und noch ein halbes oder ein Grad dazulegt, kommt eine große Veränderung in Gang«, denn »die anthropogene Erhöhung bleibt ja stehen, die ist in Stein gemeißelt, und sie geht in den nächsten Jahrzehnten noch weiter. Wir können das höchstens bremsen.«143 So oder ähnlich ist es heute von einer überwältigenden Mehrheit der Klimaforscher zu hören. Sollte die Welt so weitermachen, wie sie nicht weitermachen darf, würde die Welttemperatur bis zum Jahre 2100 um 3,2 Grad gegenüber den Werten vor der Industrialisierung und dann lange Zeit auf eine vom Menschen nicht mehr beeinflussbare Weise

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III. Praktischer Teil

weiter steigen.144 Mehr als die Hälfte des Spielraums ist verbraucht. Daher ist kein Tag, keine Stunde zu verlieren. Die gute Nachricht  : Der Übergang zur Nutzung alternativer Energiequellen wird in vielen Ländern staatlich gefördert und ist voll im Gange. Windräder und Solarzellen sind ausgereifte technische Produkte, wobei vor allem die Weiterentwicklung der letzteren noch viel erwarten lässt. Der örtliche Widerstand gegen den Bau der Hochspannungsleitungen, die notwendig sind, um die Energie von dort, wo sie gewonnen wird, dorthin zu bringen, wo sie gebraucht wird, ist zwar noch groß, dafür befindet sich die Technik der Energiespeicherung in stürmischer Entwicklung. Lange Zeit standen dafür fast ausschließlich Pumpspeicherkraftwerke wie etwa im österreichischen Kaprun zur Verfügung  : Wasserkraftwerke, in denen überschüssiger Strom dazu verwendet wird, Wasser in höher gelegene Becken zu pumpen, um bei Bedarf in die Turbinen zu strömen und elektrische Energie zu erzeugen.* Mit der Nutzung alternativer Energiequellen steigt auch die Bedeutung der Stromspeicherung in den Solarenergie gewinnenden Privathaushalten. Batterieerzeuger in den USA und in Asien forcieren ihre Entwicklungsarbeit und vergrößern laufend ihre Kapazitäten. Batteriespeicherkraftwerke spielen eine wichtige Rolle bei der Frequenzund Netzstabilisierung und bilden damit eine Voraussetzung für die vermehrte Einspeisung von Solar- und Windenergie in die Netze. Das derzeit größte Batteriespeicherkraftwerk der Welt in Hornsdale, Australien, funktioniert auf Lithium-Ionen-Basis, wurde von TESLA errichtet und hat eine Speicherkapazität von bis zu 129 Megawattstunden. Den Pumpspeicherkraftwerken mit ihrer Speicherkapazität und Leistungsabgabe kommen die Batteriespeicherkraftwerke bis auf weiteres nicht in die Nähe, Wasser bleibt bis auf weiteres als Energiespeichermedium ohne Konkurrenz. Auf dem heutigen Stand der Technik könnten die Nachzügler der Industrialisierung das fossile Energiezeitalter bereits überspringen, in* In den USA wird seit einiger Zeit über den eventuellen Ausbau des Hoover-Staudammes zu einem Pumpspeicherkraftwerk diskutiert.

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Roadmap nach Utopia

dem sie energieeffiziente, Arbeit schaffende Leichtindustrien parallel mit einer Energieversorgung aus alternativen Energiequellen aufbauen. Eine weitere, vorerst noch utopische Idee für eine zur Vernunft kommende, zu solidarischen Verhaltensweisen findende Welt. Die weniger gute Nachricht  : Der Übergang schreitet zu langsam voran. Selbst in einem Land mit so hochentwickeltem Umweltbewusstsein wie Deutschland ist die Politik nicht bereit oder nicht fähig, Profitinteressen zu zügeln, die die Umweltpolitik konterkarieren. Mit einem Stromexport von neun Prozent der Erzeugung, 50 Milliarden Kilowattstunden im Jahre 2017, wurde Deutschland in den letzten Jahren zu Europas größtem Stromexporteur. Die Braunkohle machte es möglich. Ihr Strom ist der schmutzigste mit dem höchsten CO2-Ausstoß, aber auch der billigste, noch billiger als der aus den abgeschriebenen alten Wasserkraftwerken. Obwohl die Kohlekraftwerke für 40 Prozent der deutschen CO2-Emissionen verantwortlich sind, soll ein Teil der alten Braunkohle-Kraftwerke noch über das Jahr 2020 hinaus in Betrieb bleiben und das letzte Kohlekraftwerk erst 2038 stillgelegt werden. Die Verstromung der Braunkohle ist auch der tiefere Grund für Deutschlands Erklärung, seinen CO2-Ausstoß bis zum Jahr 2020 nicht um die im Pariser Klimaabkommen festgelegten 40 Prozent senken zu können. 32 Prozent gegenüber dem Jahr 1990 gelten unter diesen Umständen als realistisch. Sie ist ferner der Grund dafür, dass Deutschlands CO2-Produktion derzeit bei steigender Nutzung alternativer Energiequellen stagniert. Obwohl der Ökostrom-Anteil an der öffentlichen Elektrizitätsversorgung 2017 von 34 auf den bisherigen Rekordwert von 38,5 Prozent zunahm, stieg auch das CO2 geringfügig an. Dabei ist die Braunkohle das geradezu klassische Beispiel einer oberflächennahen Ressource, auf die das Land, nach einer Natur- oder sonstigen Katastrophe, angewiesen sein und die in einer solchen Situation lebenswichtig sein könnte. Und dafür, dass gerade solche Reserven, eben deshalb, weil sie so billig vernichtet werden können, ohne Rücksicht auf die Zukunft vernichtet werden. Wenn selbst die Europäer, die große Teile ihrer Industrieproduktion nach Asien auslagern, ihre Kli-

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III. Praktischer Teil

maziele nicht oder nur mit Mühe erreichen, geht es offensichtlich so weiter, wie es nicht weitergehen darf. Deutschland ist nur ein Beispiel. Verantwortlich für diese Situation ist die Politik. Es besteht wenig Aussicht, dass sie in absehbarer Zeit fähig sein könnte, auf die Herausforderung durch den Klimawandel von sich aus adäquat zu reagieren. Christine Hoffmann, als stellvertretende Leiterin des Berliner Spiegel-Büros eine Beobachterin im Zentrum des Geschehens, brachte den traurigen Zustand der Politik auf den Punkt  : »Wir leben in wahnsinnigen Zeiten, genauer  : Zeiten, in denen ein Rest von Vernunft und Rationalität mit dem Irrsinn ringt, der sich überall ausbreitet.«145 Der Satz wurde im Juli 2018 geschrieben, nachdem Außenminister Boris Johnson und der für den Brexit zuständige Minister David Davis aus Protest gegen die Absicht von Premierministerin Theresa May, einen für die britische Industrie verkraftbaren Brexit zustande zu bringen, zurückgetreten waren. Im Jänner 2019, zwei Monate vor dem drohenden Sturz auf den harten Boden der Tatsachen, bot Großbritannien den Anblick eines Landes im Zustand progressiver politischer Umnachtung. Die USA in ihrer traurigen Verfassung sind als Partner in Sachen Klima und Umwelt zu vergessen. In Europa zittert alles, was noch Aufklärung und Demokratie hochhält, vor der äußeren und äußersten Rechten und vor den Populisten. Ganz ohne Populismus hat Demokratie noch nie funktioniert und kann sie wahrscheinlich auch nicht, so wenig wie die Wirtschaft ohne das Gewinnstreben. Doch was wir heute erleben, ist ein überschießender Populismus, der jedes Maß verloren hat. Den Nährboden liefern ihm die Ängste von Millionen Menschen vor der Einwanderung, dem Islam, der Arbeitslosigkeit, vor dem sozialen Abstieg, dem Strudel von Veränderungen, der sie zu verschlingen droht. In einer Demokratie kann nichts und niemand die Rechtsaußen-Parteien und Populisten daran hindern, diese Ängste auszuschlachten. Auch wenn man hoffen darf, dass Fremdenfeindlichkeit nach wie vor nicht mehrheitsfähig ist, so bedient sie doch eine so große, wenn auch alles andere als homogene Minderheit, dass immer schwerer gegen sie regiert werden kann. Österreich musste erleben, wie eine

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Roadmap nach Utopia

Rechtsaußen-Partei so stark wurde, dass sich ohne sie immer nur dieselbe Koalitionsvariante ausging, aus der ein Partner schließlich absprang. Deutschland droht möglicherweise eine ähnliche Erfahrung. Wie es dann weitergeht, demonstrierte ebenfalls Österreichs rechtslastige ÖVP-FPÖ-Koalition, indem sie nicht nur gegen die Zuwanderer, sondern alsbald auch gegen die in Österreich seit dem Zweiten Weltkrieg bewährte Sozialpartnerschaft, gegen sozialstaatliche Einrichtungen, die Rechte der Arbeitnehmer und mit Druck auf die öffentlich-rechtlichen Medien, Einschüchterungsversuchen und Drohungen auch gegen die Pressefreiheit vorzugehen begann. Die größte Stärke der Rechten sind aber nicht die Ängste der Menschen. Ihr größter Helfer ist der Zustand der Demokratie. Dass die AfD im Herbst 2017 in Deutschland drittstärkste Partei wurde, war den anderen noch nicht Lehre genug. Statt mit einer schnellen Regierungsbildung den Zusammenhalt der Demokraten gegen ihre Feinde zu demonstrieren, bewiesen sie ein solches Defizit von Gesprächs- und Kompromissfähigkeit, dass es fast zu Neuwahlen gekommen wäre. Mit dem Schwund der weltanschaulichen Bindungen kam den Parteien auch die Loyalität ihrer Wähler, auf die sie sich einst blind verlassen konnten, abhanden. Christentum, Sozialismus, Liberalismus, Nation – damit konnte man sich noch identifizieren. Doch je mehr aus den alten Gesinnungsgemeinschaften in einem schleichenden Prozess um Marktanteile ringende Unternehmen werden, desto mehr gleichen sich auch ihre Programme einander an und desto schwieriger wird es, eine verblassende Identität zu verteidigen. Ist schon zu wenig davon da, müssen Ecken und Kanten her wie beim Autodesign. Nur die Rechten und Populisten sind von der Erosion der Ideologien nicht betroffen – sie wurden zum Sammelbecken der Frustrierten mit ihrer zum Teil sehr begreiflichen Wut. Statt Mut zu zeigen und auszusprechen, was in der Luft liegt, dass wir nicht weiter so wirtschaften können wie bisher und einen tiefgreifenden Umbau ins Auge fassen müssen, starrt die Politik auf die Bedrohung von rechts wie das Kaninchen auf die Schlange. Dabei sind sich wache, interessierte Menschen, wo immer sie zusammenkommen, heute schnell darüber einig, dass alles irgendwie in

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III. Praktischer Teil

die falsche Richtung läuft. Könnten sonst tausend Dinge des t­ äglichen Bedarfes aus China oder anderen asiatischen Staaten kommen und selbst das Obst in den Supermärkten aus fernen Kontinenten, obwohl die Maschinen schon genug Arbeit vernichten und das Klima am Kippen ist  ? Auch wenn die Transportkosten in den Preisen kaum eine Rolle spielen, produzieren die Schiffsmaschinen und Kühlaggregate der Containerfrachter doch Unmengen von CO2. Der Schaden ist nicht eingepreist. Man braucht keinen Computer, um sich auszurechnen, wohin das alles führt. Den Ökonomen und den auf sie hörenden Politikern darf man mit solchen Ideen nicht kommen. Das ändert aber nichts an der Verbreitung solcher Ansichten bis tief in die aufgeklärten Bildungsschichten. Der Menschen, die so denken, sind viele, mehr, als sich die Partei­ strategen träumen lassen, aber sie werden von der Politik völlig allein gelassen. Wenn die liberale, pluralistische Demokratie das System bleiben soll, in dem sich die Menschen am besten aufgehoben fühlen und wenn die demokratischen Parteien der Rechten und den Populisten eine Alternative entgegensetzen wollen, können sie sich um diese Themen auf die Dauer nicht herumdrücken. »Das Dahinschwinden der ehemaligen Volksparteien, ganz dramatisch bei der Sozialdemokratie beobachtbar, und die Zersplitterung der Parteienlandschaft sind ein deutliches Signal, dass die Parteien sich erneuern müssen, um das Vertrauen der Wähler wiederzugewinnen« schreibt die deutsche Politologin Barbara Zehnpfennig.146 ***

Ohne Impulse von außen, von unten, ohne personelle Erneuerung, ohne neue Formen der politischen Mitwirkung werden die demokratischen Parteien weder das verlorene Vertrauen zurückgewinnen noch sich selbst so wandeln können, dass sie den notwendigen Wandel der Gesellschaft einleiten können. Mit intelligenten, gewaltfreien politischen Aktionen und neuen Formen politischer Mitwirkung und Einflussnahme wurden in den letzten Jahren bereits positive Erfahrungen gemacht, von denen man viel zu wenig hört. Eine ganze Reihe von

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Beispielen dafür, wie Bürger aktiv werden können, sammelte Philippe Narval, der Geschäftsführer des Europäischen Forums Alpbach, in seinem Buch Die freundliche Revolution – Wie wir gemeinsam die Demokratie retten.147 Ich gehe hier auf drei davon ein. In Mäder, einer 4000-Seelen-Gemeinde in Vorarlberg, hatte ein Bür­ germeister vor 20 Jahren vor dem damaligen Lokal- und späteren FPÖ-­ Politiker Ewald Stadler kapituliert und sein Nachfolger Rainer Siegele sich mit einer konsequent ökologischen, durch Bürgerbeteiligung abgesicherten Politik durchgesetzt. Heute wird in Mäder Selbstbestimmung bereits im Kindergarten eingeübt. Lebendige, schon im Vorschulalter eingeübte Demokratie als Rezept gegen Rechts  : eine ermutigende Erfahrung im lokalen Rahmen, die es wert wäre, eingehend analysiert zu werden. Irland schob mit der gleichgeschlechtlichen Ehe und dem Schwangerschaftsabbruch emotional aufgeladene Themen, die keine ­Regierung mehr anzufassen wagte, vor sich her, bis der Politologe David Farrell ein bereits in der kanadischen Provinz British Columbia erprobtes Modell der »Deliberativen Demokratie«* ins Spiel brachte. Der Probelauf, bei dem an einem Wochenende im Juni 2011 unter dem Motto We the Citizens hundert per Los ausgewählte Bürgerinnen und Bürger, von einem Moderatorenteam begleitet, über politische Reformen und Steuern berieten, konnte nur realisiert werden, weil ein irischstämmiger amerikanischer Mäzen die Kosten übernahm. Die Ergebnisse waren ebenso überraschend wie zuvor in Kanada. Die Versammlung hatte sich, wissenschaftlich begleitet, nicht, wie erwartet, für Steuersenkungen, sondern für die Beibehaltung der Steuer­ quote ausgesprochen und sinnvolle Vorschläge für politische ­Reformen gemacht. Damit war erwiesen, dass Bürgerversammlungen sehr wohl zur besseren Entscheidungsfindung in der Gesellschaft beitragen kön* Deliberation, aus dem Lateinischen  : Beratschlagung, Überlegung. »Der Begriff deliberative Demokratie wurde von Joseph M. Bessette in dem 1980 erschienenen Buch Deliberative Democracy  : The Majority Principle in Republican Government geprägt und in dem 1994 erschienenen Buch The Mild Voice of Reason weiter ausgearbeitet.« (Wikipedia, letzte Änderung 2.10.2018).

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III. Praktischer Teil

nen, wenn auch die psychologische Begleitung stimmt und aus der Unkenntnis gruppendynamischer Vorgänge resultierende Fehler vermie­ den werden.* Trotzdem bleibt es ein kleines Wunder, dass Farrell und seine Mitstreiterin Jane Suiter alle Parteien dazu bewegen konnten, die Bürgerbeteiligung noch im Wahljahr 2011 in der einen oder anderen Form in ihre Wahlprogramme aufzunehmen und dass die Convention of the Constitution bereits im Frühjahr 2013 stattfand. Diesmal berieten 66 per Zufallsprinzip ausgewählte Bürgerinnen und Bürger aus allen Schichten gemeinsam mit 33 Abgeordneten aller Parteien mehrere Wochen lang acht die überfällige Verfassungsreform betreffende Themen, von der Herabsetzung des Wahlalters bis zur »Ehe für alle«. Die von den Medien als verrückte Idee abgetane Bürgerversammlung sprach sich für eine umfassende Verfassungsreform, die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe und für eine Neuauflage der Bürgerversammlung nach den nächsten Parlamentswahlen aus und löste sich auf. Am 22. Mai 2015 stimmten in einer Volksabstimmung, die ohne die Convention nie zustande gekommen wäre, 62 Prozent der Wahlbeteiligten für die gleichgeschlechtliche Ehe. »Niemals davor hatte ein Land seine Verfassung auf Basis von Beratungen durch per Los ausgewählte Bürger aus allen sozialen Schichten und Landesteilen geändert. Das Misstrauen gegenüber dem Verfahren begann zu bröckeln.«148 Seine Feuerprobe bestand es von Herbst 2016 bis Frühjahr 2017. Der UN-Menschenrechtsrat hatte die irische Abtreibungs-Gesetzgebung als »grausam, unmenschlich und erniedrigend« verurteilt. Aber erst die Citizen Assembly, in der 99 per Los bestimmte Bürgerinnen * Kritische Medienvertreter meinten, »es sei viel zu einfach, die Beratungen von Bürgern in Kleingruppen zu manipulieren, was gar nicht so unwahr ist, denn es besteht in solchen Diskussionsprozessen die reale Gefahr, dass das Phänomen des sogenannten ›Group Think‹ auftritt … Dominante Meinungen werden im ›Group Think‹ am Ende weniger hinterfragt und dort, wo Sichtweisen sehr eingeschränkt oder verzerrt sind, wird das Ergebnis oft in extreme Richtungen tendieren. Das Verständnis von ›Group-Think-Dynamiken‹ erklärt auch so manche Polarisierung in religiösen Sekten, kriminellen Verschwörungen oder extremistischen Parteien.« (Narval, S. 96).

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und Bürger – diesmal ohne Politiker – über fünf Themen, darunter die Abtreibungsfrage, berieten, verhalf der Regierung zur nötigen Rückendeckung, um ein Gesetz zu ändern, das die irische Gesellschaft spaltete. In der Volksabstimmung vom 25. Mai 2018 stimmten bei einer Wahlbeteiligung von 64 Prozent 66 Prozent der Teilnehmer für die von der Bürgerversammlung vorgeschlagene Verfassungsänderung. Unter spezifischen Bedingungen entwickelte Problemlösungen sind selten anderswo eins zu eins umsetzbar. Das in Irland entwickelte Modell der Bürgerbeteiligung jedoch erscheint allgemein anwendbar und geeignet, die Situation zu entschärfen und einer Lösung näherzukommen, wenn emotional hochbesetzte Themen eine Gesellschaft polarisieren. Was die Bürgerversammlung vorschlägt, ist demokratisch abgesichert und stärkt der Politik den Rücken für Entscheidungen, die einen Mut erfordern, den sie sonst nicht aufgebracht hätte. »Die Erfahrungen mit der Bürgerversammlung in Irland,« schreibt Philippe Narval, »zeigen, dass dieses deliberative Verfahren ausgereift genug ist, um auch auf europäischer Ebene Anwendung zu finden. Könnte nicht eine permanente europäische Bürgerversammlung oder ein europäischer Bürgerrat, wie auch immer man es nennen mag, mit einer alle zwei Jahre wechselnden Zusammensetzung wertvolle Politikempfehlungen abgeben, die der Kommission als Arbeitsgrundlage dienen könnten. Der Auftrag einer solchen Versammlung, die sich wie in Irland aus einer Gruppe per qualifizierter Zufallsauswahl nominierter Bürger zusammensetzt, könnte bewusst darin liegen, die europäische Politik auf ihre Nachhaltigkeit und Zukunftsfähigkeit hin zu überprüfen. Hätte nicht ein Europäischer Bürgerrat, abseits des Erwartungsdrucks, dem die Politik permanent unterliegt, eine Chance, die großen Fragen der Zukunft zu stellen  : Wie wollen wir in Zukunft leben  ? Wie wollen wir mit der Umwelt und unserem Planeten umgehen  ? Welchem Zweck dient die Wirtschaft  ? Was sichert ein friedliches Zusammenleben mit unseren Nachbarn  ?«149 Die Macht engagierter Bürger, die entschlossen sind, einen Anschlag auf die Demokratie abzuwehren, lernte Narval in der Schweiz kennen. Die berühmte direkte Demokratie hatte 150 Jahre lang funk­

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III. Praktischer Teil

tioniert, bis der milliardenschwere Christoph Blocher vorführte, welches Unheil man anrichten kann, indem man eine unbedeutende Kleinpartei wie die SVP in eine aggressive rechtspopulistische Kraft umformt, Zeitungen zu seinem persönlichen Sprachrohr macht und ein altes demokratisches Instrument wie den direkten Volksentscheid zum Werkzeug der Parteipolitik umfunktioniert. Die Ausschaffungsinitiative zur Ausweisung krimineller Ausländer war 2010 von den Wählern angenommen worden. Nun sollte mit einer Durchsetzungsinitiative auch der Ermessensspielraum der Richter verschwinden, indem das Parlament gezwungen wurde, den Text der Initiative auf Punkt und Beistrich als Gesetz zu beschließen, obwohl er den Menschenrechten widersprach und die Richter zu Urteilsautomaten degradiert werden sollten. Hybris pur, ein Frontalangriff auf Rechtsstaat, Menschenrechte und richterliche Unabhängigkeit. Die SVP hatte wenige Monate zuvor ihr bestes Ergebnis eingefahren. Die anderen Parteien waren finanziell am Ende. Die Medien debat­ tierten über die angebliche Ausländerkriminalität und nicht über den Rechtsstaat. Eine erste Meinungsumfrage ergab 66 Prozent Zustim­mung. Bloß mit den Liberos hatte die SVP nicht gerechnet. Sie hatten sich nach dem 9. Februar 2014 zusammengefunden, dem Tag, an dem die Initiative »Gegen Masseneinwanderung« mit einer hauchdünnen Mehrheit von 0,3 Prozent angenommen worden war. Um sie konsequent umzusetzen, hätte die Schweiz das Abkommen über die Personenfreizügigkeit mit der EU und mehrere weitere Abkommen aufkündigen müssen. Das bunt zusammengesetzte Grüppchen wollte etwas Konkretes dagegen tun, dass ein Mann und eine Partei das einst so weltoffene Land mehr und mehr zumauerten. So entstand eine überparteiliche Plattform, die auch die Zusammenarbeit mit der Politik suchen und sie mit wissenschaftlich abgesicherten Argumenten unterstützen sollte. Nur mit fachlicher Expertise (zwei Mitglieder waren Assistenten am Berner Institut für öffentliches Recht) und unbedingter Verlässlichkeit aller vorgelegten Fakten und Argumente würde es möglich sein, die von der SVP okkupierte Meinungshoheit wieder zu erobern.

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Sie waren belächelt, aber auch als erfrischender Neuzugang in der politischen Landschaft wahrgenommen worden, als mit der Durchsetzungsinitiative der Ernstfall eintrat. Da alle anderen kapitulierten, wurden die Liberos zum letzten Aufgebot der offenen Gesellschaft gegen ihre Feinde. Mit von Amnesty International zur Verfügung gestellten 10.000 Franken als Startkapital gegen ein auf 3,5 bis 4 Millionen geschätztes SVP-Budget konnten sieben junge Leute in den verbleibenden drei Monaten die Stimmung drehen. Sie standen nicht auf der Straße, sondern saßen am PC, warben um Spenden, ließen keine Behauptung der Gegenseite und kein Facebook- oder Twitter-Posting unbeantwortet, bearbeiteten die Medien und motivierten »Online Warriors«, die ihrerseits weitere »Online Warriors« für eine Kampagne anwarben, an der man sich auch am Abend oder in der Nacht zu Hause am Computer beteiligen konnte. Sie vermieden jede persönliche Herabsetzung des Gegners, doch einer an zwei Millionen Haushalte verschickten SVP-Werbung für die Initiative folgte bereits am nächsten Tag die Aufzählung der fünf größten darin verbreiteten Lügen. Der Slogan »Der Richter als Automat, so etwas gibt es sonst nur in der Scharia« schaffte es in die Schlagzeilen. Viele, die beabsichtigt hatten, der SVP-Initiative zuzustimmen, begriffen erst jetzt, dass ein von einem Jugendlichen gestohlener Apfel die gleichen Konsequenzen gehabt hätte wie ein Raubüberfall, nämlich die Abschiebung eines womöglich in dritter Generation in der Schweiz lebenden Menschen. Zuletzt redete die Schweiz über die Gegenkampagne und nicht mehr über die SVP-Initiative. Diese wurde am 28. Februar 2017 bei einer Wahlbeteiligung von 63,7 Prozent mit 58,9 Prozent Nein-Stimmen abgelehnt. In einer Welt, in der so etwas möglich ist, haben Vernunft, Verantwortungsgefühl und persönliches Engagement ohne persönlichen Vorteil noch nicht ausgespielt. ***

Der Übergang von der repräsentativen zur partizipativen Demokratie, für den sich Narval einsetzt, ist eine faszinierende Idee. Ich glaube

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III. Praktischer Teil

allerdings, dass dazu auch eine Erneuerung des politischen Personals kommen muss. Die ist aber ohnehin überfällig. Auch dafür, wie dringend die Politik offenbar der personellen Auffrischung bedarf, liefert Österreich die Beispiele. Bei der Bundespräsidentenwahl des Jahres 2016 ließen der Mann der äußeren Rechten und zwei Quereinsteiger, Irmgard Griss und Alexander van der Bellen, im ersten Durchgang die Kandidaten der ÖVP und der SPÖ weit hinter sich. Der Professor für Finanzwissenschaft van der Bellen, der aus der Wiederholung der Stichwahl als klarer Sieger hervorging, war zwar bereits jahrelang als Sprecher der Grünen tätig, aber von seinem Studenten Peter Pilz in die Politik geholt worden und daher ebenso wie die ehemalige Präsiden­tin des Obersten Gerichtshofes Griss der klassische Quereinsteiger. Im September 2018 holten sodann die Sozialdemokraten die Tropenmedizinerin und Epidemiologin Pamela Rendi-Wagner, die erst vor eineinhalb Jahren, einen Tag vor ihrer Ernennung zur Gesundheitsministerin, in die SPÖ eingetreten war, an ihre Spitze. Quereinsteiger sind frei von alledem, was den Berufspolitiker nicht nur in den Augen der Wähler belastet. Von den Verbiegungen und Anpassungsprozessen im Lauf der »Ochsentour«. Von den Techniken und Verhaltensweisen, die der Politiker entweder bereits mitbringt oder während seines Aufstieges in den Parteiapparaten entwickelt und die nicht immer gerade jene sind, die ihn zum Erkennen und zur Lösung der anstehenden Probleme befähigen. Quereinsteiger gehören keiner Seilschaft an und schleppen keinen mit den spezifischen Interessen ihrer Wählergruppe gefüllten Rucksack mit sich. Sie haben fern der Politik einen Beruf erlernt und ausgeübt, statt viele Jahre alle Kraft in ihre politische Karriere zu investieren. Ihr Blick ist offener und freier. Eine Erfolgsgarantie sind sie nicht und können sie nicht sein. Eine Quereinsteigerin aus Österreichs Medienwelt wechselte, als ihre politische Karriere zu enden drohte, zur äußeren Rechten. Quereinsteiger werden von Politikern, die sich von ihnen etwas erwarten, in die Politik geholt – nicht immer die beste Methode zur gewünschten und notwendigen Blutauffrischung der Politik. Es gibt da aber eine Idee, die immer wieder hervorgeholt wird und immer wieder in der

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Versenkung verschwindet, faszinierend und für viele politisch denkende Menschen befremdend zugleich – die vor zweieinhalb Jahrtausenden in Athen praktizierte Auswahl der Volksvertreter durch das Los. Die Erfinder der Demokratie haben ständig neue Ideen erprobt, und sie hatten sehr viele gute Ideen. Zum Beispiel das Scherbengericht. So genannt, weil der Name in einen als Wahlzettel dienenden Tonscherben geritzt wurde. Und zwar der Name dessen, den der Wähler nicht mehr wollte und der, wenn er mindestens 6.000 Stimmen bekam, für zehn Jahre aus Athen verschwinden musste. Vielleicht würden die Wähler von der Möglichkeit, einmal im Jahr dem unbeliebtesten Politiker die rote Karte zu zeigen, auch heute gerne Gebrauch machen, aber damit war man uns im alten Athen wohl doch etwas zu weit voraus. Einen Teil der Parlamentssitze durch die in Irland angewendete qualifizierte Zufallsauswahl zu vergeben, wäre aber nicht nur für die Demokratie, sondern auch für die Parteien von Vorteil. Unter den vom Los bestimmten Abgeordneten wäre mit größter Wahrscheinlichkeit auch so manches politische Talent, das sie sich sichern könnten, das in der Politik verbliebe und von dem man hoffen dürfte, dass es sich die Glaubwürdigkeit dessen, der seine Position nicht angestrebt hat, auch erhält. Den ausgelosten Abgeordneten müssten die gleichen Bezüge und die gleichen Infrastrukturen wie allen anderen zustehen. Ein Teil würde sich wohl einer bestehenden Fraktion anschließen. Für die anderen wären, da sie keiner Fraktion angehören, Redezeiten und Plätze in den Ausschüssen zu reservieren. Bleibt die Frage, wie viele es sein sollen. Man könnte sie auf perfekt demokratische Weise lösen, indem man diejenige Zahl von Sitzen per Los vergibt, die auf die Zahl der Nichtwähler und der ungültigen Stimmen entfällt. Der gravierendste Einwand, die Qualifikation betreffend, dürfte in Irland hinreichend widerlegt worden sein. Die erste Supermarkt-Kassiererin, der erste Tischler, Schlosser, Werbegraphiker oder Verkäufer, die in den Nationalrat einziehen, dürfte mehr Menschen davon überzeugen, dass es ihre Sache ist, um die es dort geht, als hundert Tage der Offenen Tür. Vom Los bestimmte Abgeordnete brächten die Vorteile der Quereinsteiger mit, ohne den Nachteil, ihr Mandat einer Partei zu

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verdanken – vor allem den unbefangenen, von parteipolitischen Rücksichtnahmen freieren Blick. ***

Peter Sloterdijk hat mit seinem Satz von der diffus allgegenwärtigen Einsicht genau die Stimmung beschrieben, die schon öfter in der Geschichte einer Revolution oder einem Quantensprung des Zeitgeistes vorausging. Dass das Alte unerschütterlicher denn je dazustehen scheint, passt ins Bild. Doch der Anstoß, der die Politik in Bewegung setzt, kann wohl nur noch von außen, er muss von der Zivilgesellschaft kommen. Solange von außen kein Druck ausgeübt wird, tendieren die Möglichkeiten des einzelnen Politikers, initiativ zu werden, gegen Null. Um ihn zu verstehen, brauchen wir uns nur einmal in die Lage ­eines Abgeordneten aus dem konservativen Lager zu versetzen, der in der Industriellenvereinigung verkündet, es müsse endlich Schluss sein mit dem Hin und Her der Containerfrachter auf den Weltmeeren und den endlosen Lastwagenkolonnen auf den Autobahnen. Klima und Umwelt seien wichtiger als ihre Bilanzen. Oder eines Sozialdemokraten, der vor die Betriebsräte hintritt und ihnen erklärt, auch wenn das Wirtschaftswachstum die Jobs und den Wohlstand sichere, so müssten sie doch auch an die Zukunft der Menschheit denken. Das Wachstum sei sowieso nicht mehr lange durchzuhalten. Beide würden nur aussprechen, was auf uns zukommt, doch das würde ihnen wenig helfen. Doch auch Politiker haben Kinder und Enkel und sorgen sich um deren Zukunft und manchem sitzt vielleicht auch schon der Zweifel an der Richtigkeit der ökonomischen Dogmen im Hinterkopf. Ein Druck von außen, der die Politik in Bewegung bringt, darf auf Verbündete in der Politik zählen – offene und klammheimliche. Ein mögliches Szenario könnte so aussehen, dass eine Bürgerbewegung nach dem Muster der Liberos so viel Widerhall findet, dass die Politik reagieren muss. In einer solchen Situation hätte der Vorschlag, auf das irische Modell zurückzugreifen und eine Bürgerversammlung einzuberufen, gute Chancen, angenommen zu werden. Die Politik könnte Verantwortung delegieren und Zeit gewinnen, zugleich würde aber ein Prozess in Gang

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gesetzt, dessen Eigendynamik sich der Kontrolle entzieht – vor allem, wenn es nicht nur in einem einzigen Land geschieht. Auch die Klimaforscher, Biologen, Ökologen und so fort, die uns mit alarmierenden Botschaften eindecken, sind Teil der Zivilgesellschaft. Wenn sieben Personen in der Schweiz mit bescheidensten Mitteln in drei Monaten die Stimmung drehen konnten, ist kein Grund erkennbar, warum nicht den Studierenden der einschlägigen Fächer, den in den wissenschaftlichen Betrieb integrierten Dissertanten und Assistenten, mit etwas mehr Zeit noch viel mehr gelingen sollte. Eine kleine Gruppe mit wissenschaftlicher Expertise und jugendlichem Elan, die sich an die Spitze einer Bürgerbewegung setzt und die Politik zum Handeln veranlasst – auch das wäre ein mögliches Szenario. Der Großteil der Prominenz war zwar schon abgereist, als ihr die 16jährige schwedische Schülerin und Umweltaktivistin Greta Thunberg gegen Ende des Weltwirtschaftsforums 2019 in Davos in einem der kleineren Säle erklärte, sie möge sich ihre Hoffnung sparen und dafür so handeln, als würde ihr Haus brennen, denn das tue es. Dafür wurde ihre Botschaft auf der ganzen Welt gehört. Der von ihr initiierte Schulstreik fürs Klima hatte zu diesem Zeitpunkt bereits auf mehrere Länder übergegriffen und Tausende Jugendliche in Bewegung gebracht. Ein Teil wird sich sein Engagement bewahren und in wenigen Jahren die Zivilgesellschaft stärken. Wie auch immer, auf diese oder jene Weise  – sie muss aktiv werden, denn wenn sie es nicht wird, wird es niemand. Sie muss um aller nachkommenden Generationen willen aktiv werden, aber auch um der Menschen willen, die um ihre Jobs und um die Zukunft ihrer Kinder bangen. Sie muss aktiv werden, wenn Europa nicht von rechts überrollt werden soll, wenn die offene Gesellschaft eine offene bleiben soll, wenn die Demokratie das verlorene Vertrauen wieder gewinnen, wieder attraktiv werden und Menschen begeistern soll. Sie muss aktiv werden, wenn das unwiderrufliche Kippen des Klimas in letzter Minute verhindert werden soll, und es muss schnell geschehen. Auf der einen Seite die unsichtbare Hand, die, blind für die Folgen, Wachstum um jeden Preis erzwingt und menschliche Arbeit abschafft, bis keine mehr da ist,

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III. Praktischer Teil

und auf der anderen Seite die zurückschlagende Natur – die Fahrrinne zwischen Skylla und Charybdis wird eng. ***

Am 25. August 1543 lief ein chinesisches Schiff in die südliche Bucht der japanischen Insel Tanegashima ein. Die drei portugiesischen Abenteurer, die mit an Bord waren, waren die ersten Europäer, von denen verbürgt ist, dass sie japanischen Boden betraten. Einer ist namentlich bekannt – nicht aus europäischen, sondern aus japanischen Quellen  : Kirishitamota  – da Mota, vermutlich Cristóvão, Christoph. Ihn beobachtete der Feudalherr der Insel, wie er ein schweres Rohr auf eine Gabel stützte, es auf eine im Wasser schwimmende Ente richtete und sie mit einem gewaltigen Knall erlegte. Herr Tokitaka war sehr beeindruckt, der Künstler Hokusai hat die Szene verewigt. Tokitaka erwarb die beiden Arkebusen der Portugiesen und ließ sich gründlich in ihren Gebrauch einweisen. Dank der tausend Tael in Gold, die er für jede der beiden Waffen bezahlte, waren die Portugiesen reiche Leute. Tokitaka übergab die Gewehre sofort seinem obersten Schwertschmied Yatsuita Kinbei, der binnen eines Jahres weitere zehn Stück anfertigte. Das Können der japanischen Schmiede war dem der europäischen weit überlegen. Sie begannen unverzüglich mit der Herstellung und Verbesserung der neuen Waffe und bereits aus dem Jahre 1549 ist die Bestellung des Fürsten Obu Nobunaga über 500 Gewehre erhalten. Er hielt sie zwar auch noch zehn Jahre später für weniger wichtig als die Lanze – bis er 1575 mit 10.000 Arkebusieren, darunter 3.000 ausgebildete Schützen (die übrigen besorgten das Nachladen), seinen Gegner Takeda Katsuyori besiegte. Die Geschichte des Gewehrs in Japan ist in Europa wenig bekannt. Doch jeder Politiker sollte das Buch Keine Feuerwaffen mehr des amerikanischen Literaturprofessors Noel Perrin kennen.150 Es ist die Geschichte einer Innovation und ihres Siegeszuges – und des Abschieds von dieser Innovation, nachdem man ihre schädliche Seite erkannt hatte. Im frühen 17. Jahrhundert gab es in Japan mehr Feuerwaffen als irgendwo sonst auf der Welt. Für die Krieger, etwa acht Prozent

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der Bevölkerung, blieben sie aber ein plebejisches Tötungswerkzeug, das die ritualisierten Zweikämpfe der traditionellen Kriegführung, in denen der Mann seinen Mut unter Beweis stellte, unmöglich gemacht hatte. Vor allem aber forderte das Gewehr in den permanenten Kriegen der Feudalherren zu viele Opfer. Damit standen die Japaner vor einem ähnlichen Problem wie wir heute – dem einer übereffizient gewordenen Technologie. Der Ausstieg aus dieser Technologie und die Rückkehr zum Schwert zog sich über Jahrzehnte hin, aber als die US-Korvette Vincennes 1855 in der südlichen Bucht der Insel Tanegashima ankerte, bestaunten unweit der Stelle, wo Herr Tokitaka vor dreihundert Jahren den Portugiesen ihre Gewehre abgekauft hatte, die Japaner die Feuerwaffen der Amerikaner. Von so etwas hatten sie noch nie gehört. Die Geschichte des Schießgewehrs in Japan ist die schlagende Widerlegung des zynischen Satzes von Lord Dunsany, wir könnten »ebensowenig vom Giftgas zurück zum Gewehr, wie wir vom Gewehr zum Schwert zurückkönnen.«151 Sie beweist, so Noel Perrin, »dass menschliche Wesen weniger die passiven Opfer der eigenen Kenntnisse und Fertigkeiten sind, als die meisten Menschen im Westen annehmen. ›Den Fortschritt kann niemand aufhalten‹, so heißt es im Allgemeinen. Oder in einer Formulierung, wie sie besonders gern von Wissenschaftlern gebraucht wird  : ›Alles, was für den Menschen machbar ist, wird auch gemacht.‹ … Das klingt so, als sei Fortschritt – wie immer man diesen schwammigen Begriff definieren mag – etwas Halbgottgähnliches, eine unerbittliche Kraft, die sich jeder menschlichen Kontrolle entzieht. Natürlich ist er das nicht. Er ist etwas, dessen Richtung wir bestimmen und das wir sogar aufhalten können.«152 Die Japaner haben sich von einer Innovation, die sie nach kurzer Zeit meisterhaft beherrschten, die ihnen aber auf die Dauer mehr Schaden als Nutzen bescherte, getrennt. Sie bewiesen, dass der Fortschritt keine Einbahnstraße mit Halteverbot ist und dass man sich von den Errungenschaften des menschlichen Erfindungsgeistes, wenn der Schaden größer wird als der Nutzen und wenn, auch wenn es schwer fällt, der Wille dazu da ist, sehr wohl auch wieder verabschieden kann.

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III. Praktischer Teil

Die Menschheit löst sich von ihren Irrtümern heute um nichts leichter als vor fünf Jahrhunderten, als sie mühsam aufs Neue entdecken musste, dass die Erde eine Kugel ist oder jedenfalls ein sehr ähnliches Gebilde, obwohl der alexandrinische Gelehrte Eratosthenes bereits über 200 Jahre vor unserer Zeitrechnung auf Grund seiner geometri­schen Kenntnisse ihren Umfang mit frappierender Genauigkeit berech­net hatte.* Wenn der Preis der Arbeit genügend nachgebe, würden alle, die Arbeit suchen, Arbeit finden. Darauf hatte Ricardo in seiner Debatte mit Malthus beharrt. 150 Jahre später konnte es Milton Friedman noch immer behaupten. Die Marktkräfte würden alle Spannungen ausgleichen, daher könne es weder Krisen noch Arbeitslosigkeit geben, wenn man alle marktfremden Einflüsse ausschalte, worunter er in erster Linie die verhassten Gewerkschaften verstand. Wolfram Engels, ein verblichener marktradikaler deutscher Ökonom und Herausgeber der Wirtschaftswoche, brachte die neoliberale Auffassung vom Wert der Arbeit so prägnant wie kein zweiter auf den Punkt  : »Die Ursache der Arbeitslosigkeit ist seit einigen Jahrhunderten bekannt  : Es ist überall und ausschließlich die Höhe der Arbeitskosten … Für Arbeit gilt nun einmal dasselbe wie für Bananen und Krawatten  : Wenn die Preise steigen, sinkt die Nachfrage.«153 Überall und ausschließlich. Der gute Mann vergaß bloß die vielen Menschen, die in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts keine Arbeit fanden, obwohl sie bereit waren, jeden Hungerlohn zu akzeptieren. Umgekehrt stimmt die Sache also nicht. Er vergaß aber auch, dass Krawatten keine Bananen essen und Bananen sich keine Krawatten umbinden und weder Bananen noch Krawatten Auto fahren und Urlaube buchen, während der arbeitende Mensch mit seinem Lohn Bananen und unzählige andere Dinge kauft, darunter vielleicht auch Kra* Die Sonne scheint zur Mittagsstunde in Asssuan senkrecht, nach seiner Messung mit einem Schattenstab in Alexandria aber mit einem Einfallswinkel von 7 Grad in einen Brunnenschacht. Der Vollkreis hat 365 Grad, der Erdumfang musste daher das 52,14-fache der Entfernung von Alexandria nach Assuan betragen.

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watten, und so den Wirtschaftskreislauf in Gang hält. Doch je billiger die Menschen arbeiten müssen, desto weniger können sie kaufen, und je gescheiter die Maschinen werden, desto mehr muss die Wirtschaft wachsen, wenn sie nicht zusammenbrechen soll und desto schneller gehen dabei Klima, Umwelt und Ressourcen zugrunde. Die Bananen binden sich weiterhin keine Krawatten um, die Krawatten essen noch immer keine Bananen und beide kaufen keine iPhones. Krawatten werden immer weniger getragen, was aber nichts mit ihrem Preis zu tun hat, und man kann sogar die Produktion von Bananen einstellen, wenn sie keiner mehr essen will. Die Erzeugung von Menschen aber eher nicht. Die Natur könnte sich dazu jedoch sehr wohl entschließen, wenn wir so weitermachen wie bisher. Der Mensch hat im Lauf seiner Entwicklung immer wieder die notwendigen Kenntnisse und Fähigkeiten erlangt, um sein Leben zu verbessern und sein Überleben sicherzustellen. Über zwei Jahrhunderte nach Adam Smith ist erkennbar, dass die unsichtbare Hand die Lebensgrundlagen seiner Nachkommen zerstört, ohne sein eigenes Leben weiter zu verbessern. Er hat gelernt, aus Erfahrung klug und immer klüger zu werden, auch wenn seine Fähigkeit, die Konsequenzen aus selbst verschuldeten Katastrophen zu ziehen, noch viel zu wünschen übrig lässt. Die Warnung vor Entwicklungen, deren Folgen bereits vorhersehbar, aber noch nicht manifest geworden sind, was mit Sicherheit der Fall sein wird, wenn man auf die Warnung nicht hört, hat hingegen noch selten genützt. Wir haben im 19. und 20. Jahrhundert die Fähigkeit zu einem Handeln erworben, dessen Folgen so weit in die Zukunft reichen wie unser gewaltig erweiterter Blick in die Vergangenheit, aber noch nicht gelernt, aufgrund abstrakter Erkenntnis zu handeln. In der historischen Situation, in der sich unsere Spezies befindet, ist genau diese Fähigkeit gefragt. Damit treten völlig neue Anforderungen an die kognitiven, mentalen und organisatorischen Fähigkeiten des Menschen als zoon politikon heran, sie bedeutet aber auch die Chance, seine kulturelle Evolution bewusst voranzutreiben und seine Intelligenz für ein vorausschauendes, verantwortungsvolles Handeln zu benützen.

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III. Praktischer Teil

Die klassischen Ökonomen nahmen an, das Wachstum werde abflachen und enden, sobald die Menschen mit allem Notwendigen und Wünschenswerten versorgt sein würden. John Maynard Keynes und Joseph Schumpeter waren noch im 20. Jahrhundert dieser Meinung. Heute bilden die Ökonomen, die ihren zaghaften Zweifel an der Notwendigkeit des dauernden Wachstums äußern, eine kleine Minderheit, was nicht zuletzt daran liegen dürfte, dass niemand ein Rezept vorweisen kann, um davon loszukommen. Um ein solches bemüht sich aber niemand, da das Thema so fernab von allem liegt, worum das ökonomische Denken kreist. So beißt sich die Schlange in den Schwanz. Die »Ware Arbeit« setzt der Ausbeutung ihres Mehrwerts Widerstand entgegen. Menschen demonstrieren, organisieren sich, über ihr Bis-hierher-und-nicht-weiter setzt man sich nicht ungestraft hinweg. Die Bodenschätze setzen ihrer Ausbeutung keinen Widerstand entgegen, kein Bis-hierher-und-nicht-weiter. Selbst wenn der Heilige Geist schon morgen, statt noch einmal in die Laterne des Petersdomes in die Köpfe der Politiker einschlagen sollte, ließe sich nur noch ein kläglicher Rest vom einstigen Reichtum der Erde retten. Aber auch dieser klägliche Rest ist Reichtum, verglichen mit dem, was in einigen Jahrzehnten noch vorhanden sein wird, wenn wir alle so weitermachen wie bisher und wenn es so weitergeht, wie es nicht weitergehen darf. Unsere Nachkommen können nicht streiken. Sie können nicht schreiend mit Transparenten auf die Straße gehen. Sie wissen nicht, was wir ihnen antun und was ihnen bevorsteht, denn es gibt sie nicht. Aber es wird sie geben und sie werden die Folgen unseres Handelns tragen. Sie werden uns nicht zur Verantwortung ziehen können, denn uns wird es dann nicht mehr geben. Sie brauchen Anwälte in der Gegenwart, schnell handelnde Anwälte, wenn es nicht zu spät sein soll.

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Anhang Das Wertparadox der fossilen Energieträger

Für den Preis der fossilen Energieträger ist nicht die bei ihrer Verbren­ nung freigesetzte Energie, sondern der für ihre Bereitstellung getätigte Aufwand maßgeblich. Daraus ergibt sich ein Mehrwert des Energieträgers, für den kein Entgelt entrichtet wird. Dieser Mehrwert ist gleich der Differenz zwischen dem Wert der vom Energieträger geleisteten Arbeit und dem Aufwand für seine Gewinnung, Weiterverarbeitung und Distribution und den Gewinnen. Er wird in Form von unentgeltlicher Arbeit konsumiert. Da er jedermann unter den gleichen Bedingungen zur Verfügung steht, kann ihn der Einzelne nicht als finanziellen Gewinn lukrieren. Dies ist jedoch überall möglich, wo zwischen der entgeltlichen Arbeit des Menschen und der Nutzung dieses Mehrwerts, das heißt der unentgeltlichen Arbeit der endlichen Energiereserven, gewählt werden kann. Daher konkurriert menschliche Arbeit mit unentgeltlicher Arbeit. In der freien Marktwirtschaft weitet der technische Fortschritt den Bereich, in dem dies der Fall ist, kontinuierlich aus. Er verhindert damit das Eintreten eines Gleichgewichts zwischen Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt und von dort ausgehend auf allen anderen Märkten. Daher ist die Annahme, das System Wirtschaft könne sich selbsttätig stabilisieren, notwendigerweise falsch. Zukunft ist grundsätzlich unvorhersehbar. Daher sind Aussagen über die Bedeutung der fossilen Energiereserven in nicht vorhersehbaren Situationen zu nicht vorhersehbaren Zeitpunkten und damit auch über ihren Wert und den jeder Teilmenge weder jetzt noch zu einem künftigen Zeitpunkt möglich. Demnach vermittelt weder der Preis noch der Mehrwert fossiler Energieträger eine vollständige Wertinformation.

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Anmerkungen   1 Zit. n. Philipp Blom, Böse Philosophen, München 2011, S. 72.  2 An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, London 1776. Die Zitate in diesem Buch folgen im Allgemeinen der Übersetzung von Christian Garve und August Dörrien: Untersuchung über die Natur und die Ursachen des Nationalreichthums, in drei Bänden nach der vierten Ausgabe, Breslau und Leipzig 1810. Aktuelle Übertragungen ins Deutsche: Untersuchung über Wesen und Ursachen des Reichtums der Völker, übersetzt nach der Glasgow Edition of the Works and Correspondence of Adam Smith, Oxford 1976, von Monika Streissler, herausgegeben und eingeleitet von Erich W. Streissler, Düsseldorf 1999. Der Wohlstand der Nationen, Übersetzung und Einleitung von Horst Claus Recktenwald, nach der 5. Auflage (letzter Hand) London 1789, München 1974.   3 Smith 1810, 2. Band, S. 90.   4 Smith 1810, 1. Band, S. 27.   5 Adam Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, complete in one volume, Edinburgh 1838, S. 8.   6 Horst Claus Recktenwald im Vorwort zum Wohlstand der Nationen, München 1978, S. XIII.   7 Helmut Wienert, Grundzüge der Volkswirtschaftslehre, Stuttgart 2008, Band 1, S. 31 f.   8 Christoph Bernoulli, Anfangsgründe der Dampfmaschinenlehre für Techniker und Freunde der Mechanik, Basel 1824, S. 251 ff.   9 Wirtschaftskammer Österreich, Lohntabelle für ArbeiterInnen in der Bauindustrie und im Baugewerbe, gültig ab 1.5.2018. 10 Verbund europäischer Übertragungsnetzbetreiber, ENTSO-E. 11 Statistik-Portal Statista. 12 Der Standard, Wien 11./12.2.2012. 13 William Stanley Jevons, The Coal Question; An Inquiry concerning the progress of the nation, and the probable exhaustion of our coal mines, London 1865. 14 Hohlstein, Pflugmann, Sperber, Sprink, Lexikon der Volkswirtschaft, München 1999. 15 Jeff Rubin, Warum die Welt immer kleiner wird – Öl und das Ende der Globalisierung, München 2010, S. 1 ff. 16 Timothy Brook, Vermeers Hut, Berlin 2009. 17 Smith 1810, 1. Band, S. 29. 18 Der Standard, Wien, 9.11.2016. 19 Hellmut Butterweck, Arbeit ohne Wachstumszwang, Frankfurt/M. 1995, S. 125 ff. 20 Bild.de, 5. Mai 2011. 21 Die Zeit, Hamburg, Nr. 49/2013.

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Anmerkungen 22 Wikipedia, Stichwort Containertransport, letzte ausgewiesene Änderung 20.1.2019. 23 Hellmut Butterweck, Die Rache des Geldes – Von Wachstumsgrenzen und dem Ende des Neoliberalismus, Sankt Augustin 2009, S. 75 ff. 24 Http://www.uni-weimar.de/projekte/oil/hw03_reis2.html. 25 Statistik-Portal Statista. 26 Karl-Heinz Paqué, Wachstum! Die Zukunft des globalen Kapitalismus, München 2010, S. 25. 27 Die Zahlen beruhen auf einem von der deutschen Bundesbank im Auftrag der Zeitschrift Focus erstellten Gutachten. Zusammenfassung im Internet unter Autopreise und Inflation. 28 Robert und Edward Skidelsky, Wie viel ist genug? Vom Wachstumswahn zu einer Ökonomie des guten Lebens, München 2013, S. 175. 29 Skidelsky 2013, S. 173. 30 Skidelsky 2012, S. 174. 31 Skidelsky 2012, S. 181. 32 Abgedruckt in: Politik und Wirtschaft – Männer und Probleme, Ausgewählte Abhandlungen von John Maynard Keynes, übertragen durch Eduard Rosenbaum, Tübingen 1956. 33 Joseph E. Stiglitz, Der Preis der Ungleichheit – Wie die Spaltung der Gesellschaft unsere Zukunft bedroht, München 2012. 34 Paqué 2010, S. 75. 35 Thomas Piketty, Das Kapital im 21. Jahrhundert, München 2014, S. 597 f. 36 Der Standard, 21./22. April 2018, Berechnung: UniCredit Bank Austria. 37 Adam Smith, The Theory of Moral Sentiments, London 1759, deutsch: Theorie der moralischen Empfindungen, Übersetzung nach der dritten englischen Ausgabe von Christian Günther Rautenberg, Braunschweig 1770, S. 118 f. 38 Smith 1770, S. 208 f. 39 Smith 1770, S. 209. 40 Smith 1770, S. 204. 41 Smith 1810, 1. Band, S. 9. 42 Smith 1770, S. 371 f. 43 Smith 1810, 1. Band, S. 128. 44 Smith 1810, 2. Band, S. 179 f. 45 Smith 1810, 1. Band, S. 153 f. 46 Smith 1810, 1. Band, S. 103 f. 47 Smith 1810, 1. Band, S. 16. 48 Smith 1810, 2. Band, S. 224. 49 Thomas Malthus, Versuch über die Bedingung und die Folgen der Volksvermehrung, aus dem Englischen von Dr. F. H. Hegewisch, Altona 1807, 2. Band, S. 215 f. Der Über-

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Anmerkungen setzung von Franz Herrmann Hegewisch liegt die Third Edition, London 1806, zugrunde. 50 Malthus 1807, 2. Band, S. 230. 51 Malthus 1807, 2. Band, S. 194 ff. 52 Malthus 1807, 2. Band, S. 69 f. 53 Malthus 1807, 2. Band, S. 258 f. 54 Malthus 1807, 2. Band, S. 217 f. 55 Malthus 1807, 2. Band, S. 209. 56 John Maynard Keynes, Robert Malthus 1766–1835, Der Erste der Cambridger Nationalökonomen, in: Keynes 1956, S. 143. 57 Keynes 1956, S. 143 ff. 58 Malthus 1807, 2. Band, S. 266. 59 Malthus 1807, 1. Band, S. 13 f. 60 Malthus 1807, 2. Band, S. 147 f. 61 Jean Baptiste Say, Darstellung der Nationalökonomie oder der Staatswirthschaft: enthaltend eine einfache Entwickelung, wie die Reichtümer des Privatmanns, der Völker und Regierungen erzeugt, vertheilt und consmirt werden: von ( Johann) Babtist Say, Übersetzung nach der 3. Auflage: Carl Eduard Morstadt, Heidelberg 1818. 62 Allgemeine deutsche Real-Encyklopädie für die gebildeten Stände (Conversations-Lexikon) von F. A. Brockhaus, fünfte Auflage, 1822, Dampfmaschine. 63 John Law, Money and Trade Considered – With a Proposal for Supplying the Nation with Money, Edinburgh 1705, S. 4. 64 Veit Thomas, Würde und Verhältnismäßigkeit  – Grundbegriffe der Zivilisierung wirtschaftspolitischen Handelns, Berlin 2007, S. 305. 65 Say 1818, 1. Band, S. 102 f. 66 Say 1818, 1. Band, S. 240. 67 Say 1818, 1. Band, S. 245. 68 Say 1818, 1. Band, S. 246 f. 69 Keynes 1956, S. 148. 70 Heinz D. Kurz, Ökonomisches Denken in klassischer Tradition  – Aufsätze zur Wirtschaftstheorie und Theoriegeschichte, Marburg 1998, S. 104. 71 David Ricardo, On the Priciples of Political Economy, and Taxation, Third Edition, London 1821, S. 86. 72 Say 1827, S. 15 f. 73 Keynes 1956, S. 152. 74 Say 1818, 1. Band, S. 157. 75 Erste deutsche Übersetzung: David Ricardo’s Grundgesetze der Volkswirthschaft und Besteuerung. Aus dem Englischen übersetzt von Dr. Edw. Baumstark, Privatdocenten in Heidelberg. Leipzig 1837. 76 Brockhaus 7. Auflage, 1827, Dampfmaschine.

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Anmerkungen   77 Hermann von Pückler-Muskau (ohne Angabe des Verfassers): Briefe eines Verstorbenen. Ein fragmentarisches Tagebuch aus England, Wales, Irland und Frankreich, geschrieben in den Jahren 1828 und 1829. Dritte Auflage, erster Teil, Stuttgart 1836, S. 226.  78 Duvergier de Hauranne, Lettres sur les Élections Francaises, et sur la Situation de l’Ir­ lande, Paris 1827, S. 164 f.   79 Klaus Schulte Das Herz bricht einem beim Anblick (Die Zeit Nr. 42/1995, 13.10.1995, S. 56 ff.).  80 Schulte 1995.   81 Schulte 1995.   82 Johann Heinrich von Thünen: Der isolirte Staat in Beziehung auf Landwirthschaft und Nationalökonomie, 2. Auflage, Rostock 1842, S. 175 f.   83 Hermann Heinrich Gossen, Entwickelung der Gesetze des menschlichen Verkehrs und der daraus fließenden Regeln für menschliches Handelns, Braunschweig 1854, S. V.  84 Gossen 1854, S. 1.  85 William Stanley Jevons, The Theory of Political Economy, Third Edition, London 1888, S. XVI.   86 Carl Menger, Grundsätze der Volkswirthschaftslehre, Wien 1871, S. VIII f.   87 Menger 1871, S. 119.   88 Gossen 1854, S. 6.   89 Menger 1871, S. 91.  90 Menger 1871, S. 82.   91 Menger 1871, S. 82.  92 Menger 1871, S. 83.  93 Menger 1871, S. 84.  94 Menger 1871, S. 51.   95 Menger 1871, S. 121.  96 Menger 1871, S. 150 f.   97 Menger 1871, S. 151.   98 Menger 1871, S. 144, Fußnote.   99 Menger 1871, S. 172. 100 Julius Kautz, Theorie und Geschichte der National-Ökonomik, Wien 1858, S. 9. 101 Jevons 1888, S. XXXIV. 102 Gossen 1854, S. 149. 103 Gossen 1854, S. 33. 104 Gossen 1854, S. 12. 105 Menger 1871, S. 94 f. 106 Gossen 1854, S. 12. 107 Menger 1871, S. 92.

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Anmerkungen 108 Heinz Rieter, Alfred Marshall (1842–1924), in: Joachim Starbatty (Hg.), Klassiker des ökonomischen Denkens, München 1989, 2. Band, S. 142. 109 Rieter 1989, S. 142. 110 Erich Streissler, Carl Menger (1840–1921), in: Starbatty 1989, 2. Band, S. 133. 111 Streissler 1989, S. 134. 112 Ludwig von Mises, Die Gemeinwirtschaft  – Untersuchungen über den Sozialismus, Nachdruck der zweiten, umgearbeiteten Auflage von 1932, München 1981, S. 471. 113 Mises 1989, S. 473. 114 Alan Ebenstein, Friedrich Hayek – A Biography, New York 2001, S. 40. 115 Richard F. Kahn, The Making of Keynes’ General Theory, Cambridge 1984, zit. n. Ebenstein 2001, S. 53. 116 Ebenstein 2001, S. 344. 117 Interview mit Adelbert Reif, Conturen, Wien 1982, Nr. 6A/Sommer 1982. 118 Committee on Finance and Industry, Minutes of Evidence, zit. n. Robert Lekachman, John Maynard Keynes – Revolutionär des Kapitalismus, München 1966, S. 72. 119 Joan Robinson, Doktrinen der Wirtschaftswissenschaft, München 1965, S. 99. 120 Ebenstein 2001, S. 72. 121 Walter Lippmann, The Good Society, deutsch: Die Gesellschaft freier Menschen, Bern 1945, S. 271 f. 122 Kathrin Meier-Rust, Alexander Rüstow  – Geschichtsdeutung und liberales Engagement, Stuttgart 1993, S. 69 f. 123 Friedrich A. Hayek, Der Weg zur Knechtschaft, München 1994, S. 19. 124 Hayek 1994, S. 99 f. 125 Frankfurter Allgemeine Zeitung, 6.1.1982. 126 Hans Jörg Hennecke, Friedrich August von Hayek – Die Tradition der Freiheit, Düsseldorf 2000, S. 330. 127 Philip Plickert, Wandlungen des Neoliberalismus – Eine Studie zur Entwicklung und Ausstrahlung der Mont Pélerin Society, Dissertation der Universität Tübingen, Stuttgart 2008, S. 394. 128 Robert Skidelsky, Die Rückkehr des Meisters – Keynes für das 21. Jahrhundert, München 2010, S 170. 129 Heinz D. Kurz, Vom Fall und Wiederaufstieg einiger Ideen von Lord Keynes – Oder: Zum trostlosen Zustand einer »elenden Wissenschaft«, in: Wirtschaft und Gesellschaft, 37. Jg., Heft 1, Wien 2011, S. 15–35. 130 Statistik-Portal Statista, Werte des Jahres 2012. 131 Statistik-Portal Statista, Werte des Jahres 2013. 132 Butterweck 1995, S. 171 f. 133 Die Presse, Wien, 24.4.2016. 134 Auskunft Austropapier – Vereinigung der Österreichischen Papierindustrie, 13.9. 2018.

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Anmerkungen 135 Auskunft Bundeskammer der gewerblichen Wirtschaft, Wien, 18.9.2018. 136 Butterweck 1995, S. 202 f. 137 Friedrich-Ebert-Stiftung, Sozialmonitor 11.2.2018. 138 Pester Lloyd, Internetportal, 2.6.2017. 139 Baltische Rundschau, 19/02/2018. 140 Der Standard, Weltchronik, Online, 6. August 2018. 141 Statistik-Portal Statista. 142 Clemens Fuest, Präsident des Münchener ifo-Instituts, im Österreichischen Fernsehen, 20.2.2017, Zeit im Bild 2. 143 Michael Hofstädter, Leiter der Abteilung Klimasystem der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik in Wien, im Interview mit den Salzburger Nachrichten, 28.7.2018. 144 Emissions Gap Report (jährlicher Treibhausgasreport) der UNO vom 23.11.2018. 145 Der Spiegel Online, Zur Lage, 10.7.2018. 146 Barbara Zehnpfennig, Transformation der Demokratie?, in: Wiener Zeitung, 27./ 28.10.2018. 147 Philippe Narval, Die freundliche Revolution  – Wie wir gemeinsam die Demokratie retten, Wien 2018, S. 23. 148 Narval S. 99. 149 Narval S. 154 f. 150 Noel Perrin, Keine Feuerwaffen mehr  – Japans Rückkehr zum Schwert 1543–1879, Stuttgart 1996. 151 Perrin 1996, S. 7. 152 Perrin 1995, S. 139. 153 Wirtschaftswoche, 23.7.1993.

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Personenregister Adamson, Robert 97 Archimedes 59, 60 Aristophanes 53 Arkwright, Richard 52, 53, 63

Erhard, Ludwig 109 Eucken, Walter 109, 110

Baumstark, Edw. 162 Bayle, Pierre 7 Bentham, Jeremy 86, 87 Bernoulli, Christoph 160 Bessette, Joseph M. 145 Binswanger, Hans Christoph 120 Blocher, Christoph 148 Blom, Philipp 160 Böhm-Bawerk, Eugen 103 Bouazizi, Mohamed 44 Brook, Timothy 32, 160 Buccleuch, Herzog von 57 Bühler, Karl 60 Butterweck, Hellmut 160, 162, 164, 165 Chaloupek, Günther 37 Churchill, Winston 108 da Mota, Cristóvão (?) 154 Dallinger, Alfred 120 Darwin, Charles 69 Davanzati, Bernardo 71 Davis, David 142 Diderot, Denis 58 Dörrien, August 160 Dunsany, Edward (Edward Plunkett) 155 Duvergier de Hauranne, Prosper 80, 163 Ebenstein, Alan 110, 164 Engels, Wolfram 156 Eratosthenes 156

Farrell, David 145, 146 Franklin, Benjamin 62 Friedman, Milton 109, 111, 156 Fuest, Clemens 165 Garve, Christian 160 Gelfert, Hans-Dieter 55 Giersch, Herbert 111 Gossen, Franz Heinrich 97 Gossen, Hermann Heinrich 86 – 89, 96 – 99, 163 Griss, Irmgard 150 Habsburg, Rudolf 102 Havel, Václav 117 Hayek, Friedrich August 74, 100, 103, 104, 105, 107 – 111, 164 Hegewisch, F. H. 161, 162 Hennecke, Hans Jörg 110, 164 Hildebrand, Bruno 90 Hoffmann, Christine 142 Hofstädter, Michael 139, 165 Hohlstein, Michael 160 Hokusai, Katsushika 154 Holbach, Paul-Henri Thiry 57 Hoover, Herbert 105, 140 Hume, David 52, 55, 57, 59, 66 Hutcheson, Francis 56 Jaruzelski, Wojciech 110 Jevons, William Stanley 25, 35, 85, 87, 88, 93, 96 – 101, 160, 163 Johnson, Boris 142

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Personenregister Kahn, Richard F. 104, 164 Kałecki, Michal 119 Kant, Immanuel 55 Katsuyori, Takeda 154 Kautz, Julius 96, 97, 163 Kay, John 53 Kepler, Johannes 86 Keynes, John Maynard 41, 42, 66, 68 – 70, 77, 78, 100, 101, 103 – 109, 111, 119, 120, 158, 161, 162, 164 Kinbei, Yatsuita 154 Kohl, Helmut 45 Kopernikus, Nikolaus 86 Krugman, Paul 34 Kurz, Heinz D. 111, 162, 164 Law, John 71, 162 le Pen, Marine 9 Le Trosne, Guillaume-François 72, 73 Lekachman, Robert 164 Lippmann, Walter 108, 164 List, Friedrich 45 Ludwig XV. 99 Lundberg, Erik 111 Malte-Brun, Conrad 75 Malthus, Thomas 65 – 70, 73, 75 – 79, 81, 83, 84, 93, 134, 156, 161, 162 Marshall, Alfred 100, 101, 104, 106, 164 Marx, Karl 50, 62, 72, 73, 92, 96 May, Theresa 142 Meier-Rust, Kathrin 164 Menger, Carl 85, 88 – 96, 98, 99, 102, 163, 164 Mill, John Stuart 23 Mises, Ludwig 102, 103, 108, 109, 164 Morstadt, Carl Eduard 74, 75, 77, 162 Myrdal, Gunnar 9, 45, 111 Narval, Philippe 145 – 148, 150, 165 Nestroy, Johann 16

Newton, Isaac 60, 86 Nobunaga, Obu 154 Obama, Barack 84 Ozols, Otto 131 Paqué, Karl-Heinz 38, 42, 161 Paulus, Apostel 69 Peel, Robert 81 Perrin, Noel 154, 155, 165 Pflugmann, Barbara 160 Pigou, Arthur Cecil 100, 106 Piketty, Thomas 46, 47, 161 Pilz, Peter 150 Pinochet, Augusto 110 Plickert, Philip 111, 164 Plunkett, Edward  : siehe Dunsany, ­Edward Plutarch 53, 60 Pückler-Muskau, Hermann 80, 163 Quesnay, François 57, 58 Ranelagh, John 110 Rautenberg, Christian Günther 161 Reagan, Ronald 111 Recktenwald, Horst Claus 17, 160 Reif, Adelbert 164 Rendi-Wagner, Pamela 150 Ricardo, David 21, 25, 40, 65, 70 – 72, 75 – 78, 81, 85, 92, 97, 101, 116, 156, 162 Rieter, Heinz 164 Robbins, Lionel 103 Robinson, Joan 106, 164 Romney, Mitt 83, 84 Röpke, Wilhelm 108 Rosenbaum, Eduard 161 Rousseau, Jean-Jacques 66 Routh, Randolph 82

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Personenregister Rubin, Jeff 160 Russell, John 81 Rüstow, Alexander 108, 164 Say, Jean Baptiste 65, 70 – 78, 84, 85, 116, 162 Schmoller, Gustav 45, 96 Schulte, Klaus 163 Schumpeter, Joseph 72, 158 Sedláček, Tomáš 23, 117 Seehofer, Horst 8 Siegele, Rainer 145 Skidelsky, Edward 40, 41, 161 Skidelsky, Robert 40, 41, 42, 111, 161, 164 Sloterdijk, Peter 6, 8, 152 Smith, Adam 12, 13, 16, 17, 19, 21, 22, 27, 28, 31, 32, 35, 52 – 65, 70 – 72, 75 – 79, 83, 88, 92, 97, 99, 101, 102, 116, 157, 160, 161 Soetbeer, Adolph 23 Sokrates 53 Sperber, Herbert 160 Sprink, Joachim 160 Stadler, Ewald 145 Starbatty, Joachim 91, 164 Stiglitz, Joseph E. 37, 42, 46, 83, 161

Streissler, Erich W. 91, 102, 160, 164 Streissler, Monika 160 Stuart, Charles Edward 54 Suiter, Jane 146 Thatcher, Margaret 110, 111 Thomas, Veit 162 Thunberg, Greta 153 Thünen, Johann Heinrich 85, 86, 163 Tokitaka, Tanegashima 154, 155 Townshend, Charles 59 Trevelyan, Charles 81 – 83 Trump, Donald 135 Tuchman, Barbara 113 Ubaldini, Ruggiero 71 Ugolini della Gherardesca 71 Van der Bellen, Alexander 150 Vermeer, Johannes 32 Voltaire 57 Walras, Léon 85, 87, 88, 96, 99 Watt, James 53, 54, 63, 64 Wienert, Helmut 18, 30, 160 Wieser, Friedrich 103

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