Staat und Parteien: Festschrift für Rudolf Morsey zum 65. Geburtstag [1 ed.] 9783428474226, 9783428074228

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Staat und Parteien: Festschrift für Rudolf Morsey zum 65. Geburtstag [1 ed.]
 9783428474226, 9783428074228

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STAAT UND PARTEIEN Festschrift für Rudolf Morsey

STAAT UND PARTEIEN Festschrift für Rudolf Morsey zum 65. Geburtstag

herausgegeben von

Karl Dietrich Bracher, Pani Mikat, Konrad Repgen Martin Sehnmacher und Hans-Peter Schwarz

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Staat und Parteien : Festschrift für Rudolf Morsey zum 65. Geburtstag I hrsg. von Kar! Dietrich Bracher ... - Berlin : Duncker und Humblot, 1992 ISBN 3-428-07422-X NE: Bracher, Kar! Dietrich [Hrsg.]; Morsey, Rudolf: Festschrift

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Fremddatenübemahme: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Druck: Color-Druck Dorfi GmbH, Berlin 49 Printed in Germany ISBN 3-428-07422-X

Vorwort Rudolf Morsey, der als Geschichtsforscher, Geschichtsschreiber und Wissenschaftsorganisator seit mehr als dreißig Jahren zu den markanten Figuren der deutschen Wissenschaft zählt, vollendet am 16. Oktober 1992 sein 65. Lebensjahr. Dieses Fest haben die Herausgeber zum Anlaß genommen, unter seinen Fachgenossen, Freunden und Kollegen zu einer Festschrift einzuladen. Sie haben dabei sehr viel Resonanz gefunden und legen hiermit einen stattlichen Sammelband pünktlich auf den Gabentisch des Jubilars. Das ausgebreitete zeit-und gegenwartsgeschichtliche CEuvre Morseys hat zwei deutliche Schwerpunkte, die mit den Stichworten ,,Staat" und "Parteien" überschrieben werden können. Dies hat dem vorliegenden Buch Ziel und Richtung gegeben. Was Rudolf Morsey zu diesen Themenbereichen publiziert hat, bildet ein wesentliches Stück des großen Aufschwungs, den die Zeitgeschichte seit den späten fünfzigerJahrengenommen hat. Spielte sie bis dahin für die professionelle Geschichtswissenschaft Deutschlands eher eine Rolle am Rande, so steht sie seither bei uns im Brennpunkt der geschichtswissenschaftliehen Aktivitäten beflügelt, aber auch bedroht durch ein unvermindertes öffentliches Interesse. Morseys Werk zeichnet sich zum einen aus durch eine vorbildliche Solidität faszinierender Quellenkenntnis und peinlicher Akribie, zum anderen durch die Unbestechlichkeit eines immer sach- und qualitätsorientierten Urteils. Dieser nüchterne katholische Westfale, den sein Lebensweg zwischen 1957 und 1970 zuerst nach Bonn, dann nach Würzburg und schließlich in die Rheinpfalz geführt hat, ist stets der Wertewelt seiner Herkunfttreu geblieben. Morseys Distanz zu flüchtigen Tagesmoden und bequemer Anpassungsbereitschaft ist sprichwörtlich. Er gilt deshalb als Verläßlichkeit in Person. Das weiß man in mehr als einem Dutzend wissenschaftlicher Gremien zu schätzen, von denen einige hier genannt seien: vor allem die Bonner Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien, die er seit 1968 leitet, daneben die Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft, der Beirat des Instituts für Zeitgeschichte in München und die Kommission für Zeitgeschichte in Bonn. Die achtundvierzig Beiträge dieser Festschrift greifen unter historischen, juristischen und soziologischen Aspekten lauter Fragestellungen und Probleme auf, zu denen sich, hier und da, auch Rudolf Morsey selbst geäußert hat. Indem alle Beiträge über diese beiden Grundfragen unserer zeitgeschichtlichen Erinnerung und politischen Gegenwart handeln, über "Staat" und "Parteien", spiegelt sich in ihnentrotzder Vielfalt ihrer Perspektiven die große thematische Einheitlichkeit

VI

Vorwort

eines bedeutenden Lebenswerkes wider, das noch keineswegs abgeschlossen ist. Fünfundsechzig Jahre sind kein Alter für einen Mann wie Rudolf Morsey, von dem wir noch viel erwarten dürfen. Sein Geburtstag ist eine willkommene Gelegenheit, mit großem Dank für das bisher Geleistete die besten Wünsche für das Kommende zu verbinden. Karl Dietrich Bracher Paul Mikat Konrad Repgen Martin Schumacher Hans-Peter Schwarz

Inhalt Erster Teil VERFASSUNG- VERWALTUNG Erich Meuthen Modi electionis. Entwürfe des Cusanus zu Wahlverfahren . . . .. . . . . . . . . . . . . . .

3

Detlef Merten Die Justiz in den Politischen Testamenten brandenburg-preußischer Souveräne

13

Elisabeth Fehrenbach Bürokratische Verfassungspolitik und gesellschaftliche Bewegung. Zur sozialen Basis des deutschen Frühkonstitutionalismus 1818/20 . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

47

Carl Hermann Ule Über den Einfluß der politischen Parteien auf die Verwaltungsgerichtsbarkeit (in der Weimarer Republik und unter dem Grundgesetz) .. . ... . . . . . .. .. . . .. .

59

Roman Herzog Relikte des konstitutionellen Verfassungswesens im Grundgesetz

85

Alexander Hollerbach Zur Problematik staatskirchenrechtlicher Grundsatzaussagen in verfassungsgeschichtlicher Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

97

Klaus König Politiker und Beamte. Zur personellen Differenzierung im Regierungsbereich

107

VIII

Inhalt

Waldemar Schreckenberger Veränderungen im parlamentarischen Regierungssystem. Zur Oligarchie der Spitzenpolitiker der Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

133

Heinrich Oberreuter Politische Führung in der parlamentarischen Demokratie

159

Zweiter Teil DEUTSCHLAND-EUROPA Walter BuBmann Adalbert Stifter und der Österreichische Staatsgedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

177

Hermann Hili Deutschland und Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . .

201

Siegfried Magiera Kompetenzgrenzen und Strukturprinzipien der Europäischen Gemeinschaft

211

Urs Altermatt Schweizer Regierung: Sieben Bundesräte und kein Ministerpräsident . . . . . . .

237

Dritter Teil KIRCHE -

KATHOLIZISMUS -

ZEITGESCHICHTE

Hans-Jürgen Becker Das Problem der Bischofsernennungen in der Kirchengeschichte

255

Hans Maier Katholisch-protestantische Ungleichgewichte in Deutschland. Ein Vorspiel zum Kulturkampf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

275

Inhalt

IX

Heinz Gollwitzer Bemerkungen zum politischen Katholizismus im bayrischen Vormärz und Nachmärz . .. . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . ..

283

Heinz Boberach Organe der nationalsozialistischen Kirchenpolitik. Kompetenzverteilung und Karrieren in Reich und Ländern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

305

Anton Rauscher Die personale Struktur des gesellschaftlichen Lebens. Gustav Gundlach und sein Beitrag zur katholischen Soziallehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

333

Norbert Trippen Interkonfessionelle Irritationen in den ersten Jahren der Bundesrepublik Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

345

Ulrich von Hehl Umgang mit katholischer Zeitgeschichte. Ergebnisse, Erfahrungen, Aufgaben

379

Vierter Teil WIRTSCHAFT UND GESELLSCHAFT IM WANDEL LotbarGall Das wirtschaftende Bürgertum und die Revolution von 1848 in Deutschland

399

Wolfgang Zorn Vertagte Problemlösungen. Unerledigte sozial- und wirtschaftspolitische Einzelthemender Frankfurter Nationalversammlung von 1848/49 . . . . . . . . . . . . . .

411

Dieter Albrecht Die Sozialstruktur der bayerischen Abgeordnetenkammer 1869-1918

427

Gerhard A. Ritter Zum Wandel der deutschen Gesellschaft seit dem Kaiserreich

453

Inhalt

X

Paul Mikat Wirtschaftliche Entwicklung und Probleme des Strukturwandels in NordrheinWestfalen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

489

Helmut Klages Verlaufsanalyse eines Traditionsbruchs. Untersuchungen zum Einsetzen des Wertewandels in der Bundesrepublik Deutschland in den 60er Jahren . . . . . .

517

Rainer Pitschas Staat und Arbeitsmarkt. Sozialhistorische Erfahrungen und verfassungspolitische Folgerungen für die Diskussion um eine neue Arbeits- und Sozialverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

545

Fünfter Teil

WEIMARER REPUBLIK- NATIONALSOZIALISMUS Hugo Stehkämper Westfalen und die Rheinisch-Westfälische Republik 1918/19. Zentrumsdiskussionen über einen bundesstaatliehen Zusammenschluß der beiden Preußischen Westprovinzen . . . . ...... .. . . . . . . . . . . . . ........... .. . . . . . . . ... ... ..........

579

Andreas Kraus "Monarchistische Umtriebe" in Bayern 1925. Ein Beitrag zum Selbstverständnis der Bayerischen Volkspartei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

635

Heinz Hürten Das Schicksal der Deutschen Zentrumspartei in universaler Perspektive. Eine diskrete Polemik Alcide de Gasperis gegen Jacques Maritain . . . .. . . . . . .. .. .

657

Gerhard Schulz Die Suche nach dem Schuldigen. Heinrich Brüning und seine Demission als Reichskanzler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

669

Knut Borchardt Das Attentat auf Hans Luther 1932 und eine Intervention gegen Hjalmar Schacht 1934. Zwei Anschläge auf Reichsbankpräsidenten in ihrem Zusammenhang dargestellt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

689

Inhalt

XI

Klaus Gotto Die historisch-politische Beurteilung des Zentrums aus nationalsozialistischer Sicht..............................................................................

711

Klaus Hildebrand Das Ungewisse des Zukünftigen. Die Bedeutung des "Hitler-Stalin-Pakts" für Beginn und Verlauf des Zweiten Weltkrieges 1939- 1941- Eine Skizze

727

Sechster Teil NACHKRIEGSGESCHICHTE Karl Dietrich Bracher Die doppelte Herausforderung der Nachkriegszeit

747

Horst Möller Deutschland zwischen Ost und West: Die deutschen Parteien und die Westintegration nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . . .. . . . . . .. . . . . . . . .. .

771

Hans-Peter Schwarz Dannie N. Heineman und Konrad Adenauer im Dialog (1907- 1962)

803

Adolf M. Birke Die territoriale Integrität und die staatliche Kontinuität Deutschlands aus britischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

827

•Winfried Becker Um Verfassungstheorie, Föderalismus und Parteipolitik. Zwei Kontroversen im Parlamentarischen Rat . . . . . . .. . . . . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . .. .. .. . . . . . . . . . . . . . . . .. .

841

Konrad Repgen Bundesverfassungsgerichts-Prozesse als Problem der Zeitgeschichtsforschung

863

Günter Buchstab Geheimdiplomatie zwischen zwei bequemen Lösungen. Zur Ost- und Deutschlandpolitik Kiesingers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

883

XII

Inhalt

Hans Günter Hockerts Vom Nutzen und Nachteil parlamentarischer Parteienkonkurrenz. Die Rentenreform 1972 - ein Lehrstück . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

903

Walter Först Zwischen Reichsreformdiskussion und Wiedervereinigung. Die mitteldeutschen Länder von 1945 und 1990 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

935

Hermann Weber Das Ende der DDR

961

Joseph Bücker Der erweiterte Deutsche Bundestag vom 3. Oktober bis 20. Dezember 1990

979

Franz-Josef Heyen Nichtwähler und verlorene Stimmen. Am Beispiel Rheinland-Pfalz . . . . . . . . .

997

Wolfgang Zeh Die deutsche Parteienprüderie in neuen Kleidem

1009

Martin Schumacher Gründung und Gründer der Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1029

Bibliographie Margit Lindenschmitt Rudolf Morsey. Schriftenverzeichnis 1949- 1991 Verzeichnis der Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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ERSTER TEIL

Verfassung und Verwaltung

I Festschrift Morsey

Modi electionis Entwürfe des Cusanus zu Wahlverfahren Von Erich Meuthen, Köln

Im Zusammenhang mit seinen Vorschlägen zur Reichsieform hat Nikolaus von Kues in seiner ,Concordantia catholica' (1433), besonders im Hinblick auf die Kaiserwahl, einen modus eligendi vorgestellt, für den er mit Nachdruck Originalität in Anspruch nimmt 1• Zunächst ist kurz zu skizzieren, um was es sich dabei handelt. Cusanus geht von einer relativ hohen Zahl von 10 Kandidaten aus. Ein Notar fertigt für die sieben Kurfürsten in diesem Falle 70 Wahlzettel an, auf denen jeweils einer der 10 Kandidaten notiert ist. Hinter jeden Namen schreibt er die Zahlen von "1" bis "10". Die Kurfürsten, von denen jeder einen solchen ,,Satz" von 10 Stimmzetteln erhält, markieren sodann auf jeweils einem von ihnen die unterschiedliche Präferenz, mit der sie die Kandidaten gewählt wissen wollen, indem sie die entsprechende Rangnummer auf dessen Namenskarte von "1" (niedrigste Präferenz) bis "10" (höchste Präferenz) abhaken. Die in eine Wahlurne geworfenen Zettel werden daraufhin von dem Notar in der Weise ausgezählt, daß er für jeden Kandidaten die ihm durch die sieben Wähler gegebenen Punktzahlen von "1" bis "10" addiert. Als gewählt gilt, wer die höchste Punktzahl erreicht (maximal 70). Es gebe keine practica - so Cusanus - , die besser gegen Wahlmißbrauch schütze und gerechter, ordentlicher und freier sei, zumal allfälligen Kandidaten aus dem Wählerkreise selbst die auf ihren Namen lautenden Zettel vorenthalten werden sollen. Ähnlich könne in der Weise dieses electivum artificium auch in Sachfragen aller Art abgestimmt werden. Man fordere zu Meinung und Gegenmeinung und sodann zu möglichst vielen sich zwischen ihnen bewegenden Kompromißformulierungen heraus, die in sovielen gleichlautenden Listen jeweils hintereinander abgeschrieben werden, wie es Stimmberechtigte gibt. Diese tilgen auf der jedem von ihnen ausgehändigten Liste alle Vorschläge bis auf den ihnen genehmsten. I Nicolai de Cusa Opera omnia. lussu et auctoritate Academiae Litteramm Heidelbergensis ... edita XIV I 3: De concordantia catholica. Liber tertius. Ed. Gerhardus Kallen, Harnburg 1959 (künftig: h), S. 450 n. 540: quem ego non absque magno studio etiam non potui invenire. Et credas, quod perfectior inveniri nequit. Zur Sache insgesamt cap. 37 f. ebendort S. 448-454 n. 535-551.

I*

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Erich Meuthen

Der Vorschlag, der arn häufigsten übriggeblieben ist, gilt dann als der allgemein akzeptierte. Das Verfahren ist weniger originell als das erste. Mit diesem verbindet es jedoch der offensichtliche Wunsch nach einer größeren Zahl von Abstimmungsobjekten anstelle bloßer Alternativen. Andererseits wird hier wie dort die relative Mehrheit statt der absoluten als hinreichend angesehen. In beiden Fällen gibt es auf der Seite der Wahlobjekte mehr Wahlmöglichkeiten als üblich, also eine numerische Steigerung. Hingegen bleibt der Wählerwille numerisch undeutlicher. Doch zeigt das zweite Beispiel, daß die Abstimmungsobjekte qualitativ zugerichtet werden. Aber auch bei der Kaiserwahl ist das in verdeckter Weise der Fall; denn jeder Kandidat soll an jedem nach seiner Qualität gemessen werden. Am Ende steht das numerische Ergebnis; aber die Wähler sind doch erst durch viel umfangreichere Abwägung und entsprechend intensivere Beschäftigung mit den Qualitäten der Kandidaten dorthin gelangt. Möglicherweise könnte sich der Verzicht auf absolute Mehrheiten damit legitimieren. Jedenfalls mündet der kombinierte Vergleich seinerseits wieder in ein numerisches Ergebnis; aber es ist, wie Cusanus glaubt, besser als jedes andere 2 • Wenn Nikolaus für seinen modus Originalität beansprucht, so hält ihn die Forschung hierzu freilich nicht ganz berechtigt. Schon vor mehr als 50 Jahren hat Martin Honecker nämlich die Anregungen ermittelt, die der junge Gelehrte von Raimundus Lullus und dessen Traktat ,De arte electionis' (1299) empfangen hat, den er 1428 kennenlernte und durcharbeitete\ Die weit darüber hinausreichende Bedeutung des Katalanen für das Denken des Cusanus ist inzwischen in aller Ausführlichkeit erschlossen worden 4, und die Anregungen zum Abstimmungsverfahren sind darin einzubauen. Lullus entwickelt es im Rahmen der für sein ganzes Denken grundlegenden ars combinatoria, die alles Seiende in einem umfassenden Beziehungsnetz versteht 5 •

2 Nec poterit excogitari ... eligendi modus ... , qui ex omnium iudicio simul collecto melior iudicatur; h n. 540. 3 Martin Honecker, Rarnon Lulls Wahlvorschlag Grundlage des Kaiserwahlplanes bei Nikolaus von Cues?, in: Historisches Jahrbuch, 57, 1937, S. 563-574. 4 Martin Honecker, Lullus-Handschriften aus dem Besitz des Kardinals Nikolaus von Cues. Nebst einer Beschreibung der Lullus-Texte in Trier und einem Anhang über den wieder aufgefundenen Traktat "De arte electionis", in: Span. Forsch. d. Görres-Gesellschaft I. Reihe. Gesammelte Aufsätze zur Kulturgeschichte Spaniens, 6, 1937, S. 252309; Eusebio Colomer S. J., Nikolaus von Kues und Raimund Llull, Berlin 1961 (zum Wahlverfahren: S. 113 f.); zuletzt (Literatur): Theodor Pindl-Büchel, The Relationship Between the Epistemologies of Rarnon Lull and Niebolas of Cusa, in: American Catholic Philosophical Quarterly, 64, 1990, S. 73-87 (hinsichtlich der Datierung möchte ich jedoch auch weiterhin bei "1428" bleiben), sowie: Cusanus-Texte III. Marginalien 3. Raimundus Lullus. Die Exzerpte und Randnoten des Nikolaus von Kues zu den Schriften des Raimundus Lullus. Extractum ex Libris Meditationum Raymundi ed. Theodor PindlBüchel, Heidelberg 1990, und letztens (Morimichi Watanabe ), Rarnon Lull and Nicolaus Cusanus, in: American Cusanus Society Newsletter, 8, 1991, S. 27 f.

Modi electionis

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Auch Lullus vermehrt die Kandidatenzahl und geht bei der Exemplifizierung seines modus electionis von 9 Kandidaten aus, die er ihrem Amtsalter entsprechend von "B" bis "K" durchzählt und von den Wählern in 8 aufeinanderfolgenden Wahlgängen in der vorbezeichneten Reihenfolge paarweise miteinander vergleichen läßt, also zunächst "B" mit "C", den daraus hervorgegangenen Sieger mit "D" usw. bis zum abschließenden Vergleich von "K" mit dem letztvorherigen Sieger 6 • Die altersabhängige Reihung von "B" bis "K" stellt hier eine wohl ganz bewußt qualifizierende Vorgabe dar, nämlich zugunsten der jeweils Amtsjüngeren; denn der Dienstälteste muß achtmal gesiegt haben, um gegen den Dienstjüngsten überhaupt erst antreten zu können. Ein ähnliches Verfahren führt der Katalane in seinem ,Libre de Blanquerna' vor, den Cusanus aber wohl nicht gekannt hat 7 • Auch hier werden, und zwar für eine Äbtissinnenwahl, 9 Kandidaten paarweise zur Wahl gestellt. Cusanus tut indes mit der von ihm vorgeschlagenen mixtura einen neuen Schritt, nämlich über die bloße comparatio hinaus, indem er von Anfang an und bis in das abzählbare Schlußergebnis hinein alle Kandidaten skalieren läßt 8 • Vielleicht ist es etwas kühn, ihn damit als einen Vorläufer des sozialwissenschaftliehen Skalierungsverfahrens zu bezeichnen 9 • Ein Grundmuster seines "modernen" Denkens zeigt sich dabei allemal; wird er doch später im vierten Buch seines ,ldiota': ,Oe staticis experimentis' (1450) die Reihung von naturwissenschaftlich-experimentell ermittelten Meßergebnissen als Auskunftsmittel naturwissenschaftlicher Erkenntnis empfehlen 10• Wenn er für das Abstimmungsverfahs Literatur s. Wilhelm Totok, Handbuch der Geschichte der Philosophie II. Mittelalter, Frankfurt 1973, S. 467 -476; Erhard Wolfram Platzeck, Raimund Lull. Sein Leben seine Werke. Die Grundlagen seines Denkens (Prinzipienlehre) I I ll, Rom 1962 und 1964; Mark D. Johnston, The Spiritual Logic of Rarnon Llull, Oxford 1986. 6 Nach dem Druck des Traktats bei Honecker, Lullus-Handschriften, 1937, S. 308 f. Innerhalb der neuen Raimundi Lulli Opera Latina ist er bislang noch nicht erschienen; s. Opera XVII, Tumhout 1989, S. X. 7 Ohres autentiques de Rarnon Lull IX, Palma de Mallorca 1914 (hier: c. 24 S. 90 ff.). Vgl. hierzu Honecker, Rarnon Lulls Wahlvorschlag, 1937, S. 567. 8 Quoniam omnes comparationes omniumpersonarum et omnes mixturae et syllogismi per unumquemque ex electoribus factibiles in hoc modo includuntur; h n. 540. 9 Zum Forschungsstand s. Erwin K. Scheuch und Helmut Zehnpfennig, Skalierungsverfahren in der Sozialforschung, in: Handbuch der empirischen Sozialforschung, hrsg. von Rene König, Band 3 a, 3 1974, Stuttgart, S. 197, Anm. 27: "Eine umfassende Darstellung der Geschichte der Skalierung oder allgemein des Messens in der Soziologie steht noch aus." IO Opera omnia (wie Anm. 1), V, Harnburg 1983, S. 219-241, ex editione Ludovici Baur (1937). Hierzu Fritz Nagel, Nicolaus Cusanus und die Entstehung der exakten Wissenschaften, Münster 1984, S. 83 f.: qualitative Phänomene einer quantitativen Bestimmung zugänglich zu machen. "Auffallend ist dabei, daß Cusanus nie direkt Qualitäten, sondern in erster Linie meist Qualitätsunterschiede (differentiae) untersuchen will." Möglichst häufige Wiederholung der jeweiligen Versuche, deren Ergebnisse "in großen Zahlentafeln (collationes) tabellarisch aufgezeichnet werden."

6

Erich Meuthen

ren in ,De concordantia catholica' infallibilitas annimmt 11 , so entspricht dies sicher noch nicht seiner erst einige Jahre später entwickelten ,konjekturalen' Vermutungssicherheit für irdische Erfahrungsergebnisse 12 • Aber man kann unterstellen, daß es doch die von ihm bloß den Umständen nach "bestmögliche" Ermittlungsmethode ist 13 , für die er sich freilich auch noch ein gutes Stück Originalität zugute schreiben kann. Indem er grundsätzlich jeden (Kandidaten) mitjedem in Vergleich setzen läßt, weist er schon in ,De concordantia catholica' auf die grundlegende Bedeutung hin, welche die Relationalität in seinem Denken insgesamt haben wird 14 • Die von Cusanus vorgestellten modi electionis sind natürlich zugleich auch im Rahmen der Entwicklung der europäischen Wahl- und Abstimmungsweisen zu beurteilen, nicht zuletzt der ihnen zugrundeliegenden Prinzipien. Die diesbezüglichen Tendenzen lassen sich dahingehend zusammenfassen, daß die zunächst recht starke Saniorität im späten Mittelalter der numerischen Maiorität immer stärker die Führung überlassen mußte 15 • Die Konstituierung von bis dahin in dieser Universalität unbekannten Repräsentativgremien, wie sie die allgemeinen Konzilien des 15. Jahrhunderts darstellten, regten die Maioritätsdiskussion erneut an, im besonderen, als es in Basel zur Spaltung des Konzils kam und Mehrheit wie Minderheit für sich die maßgebliche Saniorität in Anspruch nahmen 16 • In diese Diskussion hat auch Cusanus eingegriffen. Er tadelte dabei die Reduzierung der "Wahrheit" auf nackte numerositas 17 , betonte die Qualität der Voten, scheute II Non poterit alius modus securior, immo ex quo illa infallibilis sententia haberi passet, inveniri; h n. 540. 12 Josef Koch, Die Ars coniecturalis des Nikolaus von Kues, Opladen 1956. Dazu auch Nagel, Nicolaus Cusanus, 1984, S. 84: Nach der Tabeliierung kann der Wissenschaftler darangehen, "Mutmaßungen (coniecturae) darüber anzustellen. Getreu seinem Erkenntnisprinzip ist sich Cusanus aber bewußt, daß dadurch die gerraue Wahrheit über die Natur nicht erreicht wird." 13 Siehe o. Anm. 1 und 2. 14 Vgl. etwa Nagel, Nicolaus Cusanus, 1984, S. 12- 17 ("Der ontologische Grundcharakter der Geschöpfe ist ihre Relationalität"). 15 Hans-Jürgen Becker, Mehrheitsprinzip, in: Handwörterbuch der deutschen Rechtsgeschichte 111, Berlin 1984, Sp. 431-438; Wahlen und Wählen im Mittelalter. Hrsg. von Reinhard Schneider und Harald Zimmermann, Sigmaringen 1990; in diesem insgesamt überaus informationsreichen Sammelband für uns hier besonders einschlägig: Wemer Maleczek, Abstimmungsarten. Wie kommt man zu einem vernünftigen Wahlergebnis? (S. 79-134). 16 Johannes Helmrath, Das Basler Konzil1431- 1449. Forschungsstand und Probleme, Köln-Wien 1987, S. 30-34 (Literatur). Dazu jüngstens (vom Titel aus zunächst nicht ersichtlich): Helmut G. Walther, Die Gegner Ockhams: Zur Korporationslehre der mittelalterlichen Legisten, in: Politische Institutionen im gesellschaftlichen Umbruch, hrsg. von Gerhard Göhler u. a., Opladen 1990, S. 113- 139 (s. S. 113 ff.: "Der Repräsentationsstreit auf dem Basler Konzil"). 17 Vgl. etwa 1441 in seinem ,Dialogus': omnia in mathematicam abstractionem resolvunt; Erich Meuthen, Nikolaus von Kues: Dialogus concludens Amedistarum errorem ex gestis et doctrina concilii Basiliensis, in: Mitteilungen und Forschungsbeiträge der

Modi electionis

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sich freilich später auch nicht, die wachsende Anerkennung Eugens IV. in der Christenheit argumentativ gegen die Basler zu nutzen 18 • Dennoch darf das von Cusanus vorgeschlagene Verfahren nicht als Rückkehr zur Saniorität älterer Provenienz mißverstanden werden. Diese Saniorität gründete in objektiven Sachverhalten. Deshalb oblag z. B. einer übergeordneten Instanz die Feststellung der Saniorität. Das sanior = melior des Cusanus verlegt das Urteil darüber in die subjektive Prüfung durch den Wähler. Natürlich wird man unterstellen, daß solches eine Selbstverständlichkeit bei allen Wahlen in unserem Sinne ist. Aber Cusanus zwingt die Wähler zu einer dezidierten Urteilsbildung, indem sie jede von ihnen erteilte Platzziffer qualitativ zu begründen haben. Die Ausführungen zum Wahlverhalten in ,De concordantia catholica' wie auch die späteren naturwissenschaftlichen Interessen, aber noch manch anderes darüber hinaus, all dieses zeigt im übrigen, wie stark ihn die Problematik QuantitätQualität zeitlebens beschäftigt hat. Bislang unbekannt ist, daß er auch später noch auf den modus electionis ganz ausdrücklich zurückgekommen ist. Es handelt sich um zwei Stellungnahmen, die er als päpstlicher Legat auf seiner deutschen Legationsreise 1451 I 52 19 anläßtich des von ihm Anfang Februar 1451 präsidierten Salzburger Provinzialkonzils abgefaßt hat; die eine blieb in der Form eines Avisaments 20, die andere ist in der zeitgenössischen Kopie eines sich als Ausfertigung gebenden Erlasses erhalten 21 • Obwohl die erste anonym überliefert ist, kann die Verfasserschaft des Cusanus voll und ganz gesichert werden, und zwar nicht zuletzt durch wörtliche Übereinstimmungen mit der zweitgenannten Überlieferung und mit dieser zusammen wiederum durch mancherlei Textparallelen zu ,De concordantia catholica' 22 •

Cusanus-Gesellschaft, 8, 1970, S. 103. Weitere Beleges. Erich Meuthen, Konsens bei Nikolaus von Kues und im Kirchenverständnis des 15. Jahrhunderts, in: Politik und Konfession. Festschrift für Konrad Repgen, Berlin 1983, S. 18 f. 18 Vgl. etwa 1444 in Nümberg: In alldiesen sedes, regna et nationes, so fragt er, sollte es überall dort an der veritas ecclesie promissa gefehlt haben? Acta Cusana. Quellen zur Lebensgeschichte des Nikolaus von Kues. Im Auftrag der Heidelberger Akademie der Wissenschaften, hrsg. von Erich Meuthen und Hermann Hallauer, I I 2, Harnburg 1983, S. 476 Nr. 599 Z. 97 f. 19 Erich Meuthen, Die deutsche Legationsreise des Nikolaus von Kues 1451 I 1452, in: Lebenslehren und Weltentwürfe im Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit. Hrsg. von Hartmut Boockmann, Bemd Moeller und Kar! Stackmann, Göttingen 1989, S. 421499. 20 Gleichzeitige Kopie in Salzburg, Abtei St. Peter, Stiftsarchiv, HsA 203 f. 59rv. 21 Hildesheim, Dombibliothek, Hs 516 (St. Mauritius) f. 68v -69r. BeideStücke werden der Aufspürung durch Hermann Hailauer verdankt. Wie der für Salzburg bestimmte Erlaß nach Bildesheim gelangt ist, läßt sich nicht sagen. Vielleicht führte Cusanus den Text in seinem Reisegepäck mit und gab ihn einem Interessenten in Bildesheim zur Abschrift. Er weilte dort im Juli 1451. 22 Ausführlich hierzu in Verbindung mit dem bevorstehenden Druck aller Texte in: Acta Cusana (wie Anm. 18) I/3.

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Erich Meuthen

Zur Rede steht die Wahl von Vorständen kirchlicher Korporationen, etwa von Stiftskapiteln und anderen Konventen. Cusanus empfiehlt hierfür eine Art Vorratssystem. Sich auf die von Augustinus vorgenommene Designation des Eraclius als seinen Nachfolger berufend 23 , schlägt er ein jährliches Kapitel aller W abiberechtigten unter Einschluß des amtierenden Prälaten und unabhängig vom Vakanzfall vor. Das Kapitel hat dabei mindestens 10 Kandidaten zu nominieren, die für eine allf