Sprache und Religion: Tendenzen und Perspektiven 9783110604696, 9783110602272

This volume contains systematic considerations about the different methods and theories of religious linguistics and als

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Sprache und Religion: Tendenzen und Perspektiven
 9783110604696, 9783110602272

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Teil I: Systematische Aspekte religionslinguistischen Forschungsinteresses
Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus als Ausgangspunkt einer Neuformulierung der religionslinguistischen Idealtypen
Sendung. Auftrag und Ermächtigung
Teil II: Gegenwartssprachliche Themenstellungen
Die islamische Freitagspredigt im deutschsprachigen Kontext
Grenzüberschreitung als Zeichen des Transzendenten: wiederkehrendes Motiv im interkulturellen Predigtdialog
Religion „on air“ – Konfessioneller Sprachgebrauch in Radiopredigten
Religiöse Sprachgebrauchsmuster: Das Beispiel Online-Trauer
Teil III: Sprachhistorische Anwendungsfelder
Metaphern aus Nonnenhand
Indizes zur Erschließung pejorativer Wortbildungsmuster im Schmähwortschatz des Reformationszeitalters
Diachroner Wandel und Konstanz – Das Lexem Opfer als Zeichen des gesellschaftlichen Wandels
Von Schmeichlern und Verführern
Teil IV: Perspektiven und Ausblicke
Metaphernszenarien der Transzendenz
Transformationen religiöser Semantik im öffentlichen Sprachgebrauch
Stichwortverzeichnis

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Sprache und Religion

Sprache und Wissen

Herausgegeben von Ekkehard Felder Wissenschaftlicher Beirat Markus Hundt, Wolf-Andreas Liebert, Thomas Spranz-Fogasy, Berbeli Wanning, Ingo H. Warnke und Martin Wengeler

Band 56

Sprache und Religion Tendenzen und Perspektiven Herausgegeben von Maria Fritzsche, Kerstin Roth, Alexander Lasch und Wolf-Andreas Liebert

ISBN 978-3-11-060227-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-060469-6 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-060239-5 ISSN 1864-2284 Library of Congress Control Number: 2023942138 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhalt Maria Fritzsche, Kerstin Roth, Alexander Lasch & Wolf-Andreas Liebert Einleitung | 1

Teil I: Systematische Aspekte religionslinguistischen Forschungsinteresses Elias Schmitt Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus als Ausgangspunkt einer Neuformulierung der religionslinguistischen Idealtypen | 9 Alexander Lasch Sendung. Auftrag und Ermächtigung | 31

Teil II: Gegenwartssprachliche Themenstellungen Vedad Smailagić Die islamische Freitagspredigt im deutschsprachigen Kontext | 57 Cornelia F. Bock Grenzüberschreitung als Zeichen des Transzendenten: wiederkehrendes Motiv im interkulturellen Predigtdialog | 85 Anna-Maria Balbach & Jan Oliver Rüdiger Religion „on air“ – Konfessioneller Sprachgebrauch in Radiopredigten | 105 Karina Frick Religiöse Sprachgebrauchsmuster: Das Beispiel Online-Trauer | 147

Teil III: Sprachhistorische Anwendungsfelder Simone Schultz-Balluff & Timo Bülters Metaphern aus Nonnenhand | 171

VI | Inhalt Rüdiger Harnisch Indizes zur Erschließung pejorativer Wortbildungsmuster im Schmähwortschatz des Reformationszeitalters | 213 Kerstin Roth Diachroner Wandel und Konstanz – Das Lexem Opfer als Zeichen des gesellschaftlichen Wandels | 235 Holger Kuße Von Schmeichlern und Verführern | 259

Teil IV: Perspektiven und Ausblicke Franc Wagner Metaphernszenarien der Transzendenz | 277 Ulrich Welbers Transformationen religiöser Semantik im öffentlichen Sprachgebrauch | 295 Stichwortverzeichnis | 317

Maria Fritzsche, Kerstin Roth, Alexander Lasch & Wolf-Andreas Liebert

Einleitung Mehr als fünf Jahre nach dem Erscheinen des Handbuchs Sprache und Religion sollen mit dem hier vorliegenden Band Sprache und Religion – Tendenzen und Perspektiven aktuelle Forschungsprojekte, empirische und methodologische Weiterführungen der religionslinguistischen Ideen und Ansätze sowie mögliche Erweiterungen dieses umfassenden Forschungsfeldes präsentiert werden. Der Band bietet zum einen die Möglichkeit, Ergebnisse der lebendigen Tagungen des Arbeitskreises Religionslinguistik zu veröffentlichen, und zum anderen eine Plattform für Wissenschaftler:innen, die sich unabhängig davon intensiv mit religionslinguistischen Themen auseinandergesetzt haben. Zum dritten werden mit diesem Band Ideen und Perspektiven für weitere Forschungen eröffnet. Den strukturellen Rahmen bilden (1) systematische Überlegungen zur methodischen und theoretischen Ausdifferenzierung der Religionslinguistik. Der Band vereint zudem (2) empirische Analysen zeitgenössischer Diskurse und (3) Anwendungsbeispiele in sprachhistorischer Orientierung. Dieser dreifache Zugang steht für eine Religionslinguistik, die sich als Aspekt einer Transzendenzlinguistik begreift, Religion als anthropologisches Konstituens auffasst, und mithin Sprachgebräuche und politische Praxen – um nur zwei zentrale Gegenstände zu nennen – in den Blick nimmt, die auf Transzendenz(en) fokussieren.

1 Systematische Aspekte religionslinguistischen Forschungsinteresses Elias Schmitt eröffnet den Band mit dem Beitrag „Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus als Ausgangspunkt einer Neuformulierung der religionslinguistischen Idealtypen“, in dem er in Anlehnung an die im Handbuch Sprache und Religion eingeführte Terminologie neben einer transzendenten Lesart des Fragments eine trans-transzendente vorschlägt und so eine Neurelationierung der religionslinguistischen Idealtypen aufstellt. Anhand des fragmentarischen Primärtextes plausibilisiert er die These, dass die drei idealtypischen Positionierungen zu Transzendentem als Kontinuum zueinander konzipiert werden können. Im ausgewählten Fragment zeigt diese Triade eine „religionslinguistihttps://doi.org/10.1515/9783110604696-001

2 | Maria Fritzsche, Alexander Lasch, Wolf-Andreas Liebert & Kerstin Roth

sche Beweglichkeit“: Sie ermöglicht es, den Vorteil einer idealtypisch gestützten Hypothesenbildung auch für Daten auszuspielen, die in sich Aspekte jeder der drei Positionierungen vereinen. Alexander Lasch wendet sich mit „Sendung. Auftrag und Ermächtigung“ einem zentralen Konzept im Spannungszusammenhang von Sprache und Politik zu. Ihn interessiert, wie zwei zentrale Konzepte jüdisch-christlicher bzw. christlicher Religionspraxis (nämlich die so genannte Landverheißung und der so genannte Missionsbefehl) „europäischem Expansionismus“ als Rechtfertigung dienen. Dazu kontrastiert er religions- und politolinguistische Prämissen und zeigt an Beispielen im Spannungsfeld postkolonialer linguistischer Studien aus der Mission unter den Native Americans Nordamerikas, dass Mission als Auftrag und Expansion als Ermächtigung zu konzeptualisieren sind, die sich als die zwei Seiten der Medaille Sendung verstehen lassen.

2 Gegenwartssprachliche Themenstellungen Vedad Smailagić stellt in „Die islamische Freitagspredigt im deutschsprachigen Kontext“ eben diese Textsorte ins Zentrum seiner Analyse. Zunächst verweist er auf das Forschungsdesiderat hinsichtlich deutschsprachiger Freitagspredigten. Diese werden in dem hier vorliegenden Band nun erstmals ausführlich aus sprachwissenschaftlicher Perspektive vorgestellt. 20 dieser Khutben umfasst sein Korpus, in denen zentrale Glaubensfragen, aber auch aktuelle Themen innerhalb der deutschen Gesellschaft behandelt werden. Auf der Folie der bereits ausführlich religionslinguistisch analysierten christlichen Predigten ordnet Smailagić die Freitagspredigt als eigene Form ein. Aus einer kulturhistorischen und sprechakttheoretischen Einordnung der Freitagspredigt ergibt sich, dass es sich um eine persuasive Unterweisung handelt und ihr somit andere pragmatische Funktionen zukommen, als aus christlicher Perspektive erwartet. Auch der Beitrag von Cornelia F. Bock, „Grenzüberschreitung als Zeichen des Transzendenten: wiederkehrendes Motiv im interkulturellen Predigtdialog“, handelt von der Textsorte Predigt. Bock nimmt eine außergewöhnliche Situation einer Hamburger Gemeinde in den Blick, die deutschen Protestantismus und pfingstlich-charismatische Traditionen West-Afrikas erfolgreich vereint. Der Beitrag basiert auf Transkriptausschnitten dieser deutsch-afrikanischen Gottesdienste. Als zentral kann das Motiv der Grenzüberschreitungen herausgearbeitet werden, die innerhalb der christlichen Strömungen und durch die Themenwahl auch über Religionsgemeinschaften, wie beispielsweise den Islam, und hinsichtlich kultureller Gepflogenheiten hinweg erfolgen und bei einem westafrikanisch

Einleitung | 3

geprägten Gottesdienst in Deutschland automatisch notwendig werden. Gerade das Miteinander von Menschen unterschiedlicher Herkunft und kultureller Prägung ist von besonderer Bedeutung in dieser Gemeinde und so wird die Frage nach der Identität in den Predigten immer wieder ausgehandelt. Anna-Maria Balbach und Jan Oliver Rüdiger wählen für „Religion on air – Konfessioneller Sprachgebrauch in Radiopredigten“ einen korpuslinguistischen Zugang, um den Sprachgebrauch in evangelisch-lutherischen und römischkatholischen Radiopredigten kontrastiv zu untersuchen. In ihrem Beitrag werten sie über 2.700 dieser 90-sekündigen Predigten aus. Aus verschiedenen qualitativen sowie quantitativen Analysen ergibt sich, dass die beiden großen Kategorien „Glaube an Gott“ und „sinnvolle Lebensgestaltung“ in beiden Konfessionen in Form eines ähnlichen Wortschatzes wiedergegeben werden, doch auch konfessionalle Unterschiede werden deutlich. Die Pandemiejahre 2020 und 2021 zeugen von einer markanten Veränderung im Sprachgebrauch der Radiopredigten. Karina Frick stellt schließlich „Religiöse Sprachgebrauchsmuster: Das Beispiel Online-Trauer“ ins Zentrum ihres Beitrags. Digitale Trauer kann zum einen in kleinen sozialen Kreisen, in speziellen digitalen Trauerräumen begangen werden, zum anderen bieten Social-Web-Communities die Möglichkeit, als breite Masse zu trauern und sich beispielsweise unter gemeinschaftsstiftenden Hashtags zu versammeln. Zwei Zugänge werden für die Datenanalyse gewählt: Sammlungen von Inhalten im Internet, die bestimmten kollektiven Momenten der Trauer gewidmet sind, und Online-Gedenkseiten, auf denen beispielsweise virtuelle Kerzen entzündet werden können. Der Beitrag verdeutlicht die Aktualisierungsformen von Trauerritualen im digitalen Raum und zeigt aus religionslinguistischer Perspektive ihre spezifischen Potenziale auf.

3 Sprachhistorische Anwendungsfelder Mit „Metaphern aus Nonnenhand. Komplexe Sprachbildlichkeit in den Grußformeln spätmittelalterlicher Briefe aus dem Kloster Lüne“ betiteln Simone SchultzBalluff und Timo Bülters ihren Beitrag. In der Analyse dieser spätmittelalterlichen Grußformeln fokussieren sie besonders die Verwendung von Metaphern, die von den Nonnen eingesetzt werden, um ihre religiösen Gefühle und Gedanken zu verdeutlichen. Die zugrundeliegenden Konzeptualisierungen dieser Metaphern werden mit Hilfe der Blending-Theory untersucht, so dass der Beitrag eine interessante Kombination historischer Daten mit einem zeitgenössischen theoretischen Modell exploriert. Schultz-Balluff und Bülters diskutieren abschließend, inwiefern

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diese konventionalisierten Sprachgebrauchsmustern des 15. Jahrhunderts folgen oder als idiolektaler Stil zu bewerten sind. Rüdiger Harnisch legt in seinem Beitrag „Indizes zur Erschließung pejorativer Wortbildungsmuster im Schmähwortschatz des Reformationszeitalters“ genau die im Titel genannten Indizes vor, die als Ausgangspunkt weitere Analysen in diesem Forschungsfeld erleichtern können. Neben einem initial-alphabetischen Index steht hier nun auch ein final-alphabetischer zur Verfügung. Letzterer erleichtert es deutlich, Schmäh- und Schimpfwörter auf Grund ihrer gemeinsamen Letztglieder ausfindig zu machen und zu gruppieren, so zum Beispiel Wortbildungen auf -fresser oder Verwendungen des Suffixes -ei. Gerade durch die Kombination beider Indizes wird vor Augen geführt, dass auf diese Weise ganzheitlichere Analysen des reformatorischen Schmähwortschatzes möglich werden. Einen diachronen Überblick über das Wort Opfer bietet Kerstin Roth in „Diachroner Wandel und Konstanz der Wortbildungen mit Opfer als Zeichen des gesellschaftlichen Wandels“. Beim Blick in historische Wörterbücher und Wörterbücher der historischen Sprachstadien des Deutschen wird deutlich, dass Wortbildungen mit Opfer gesellschaftlichen Wandel spiegeln können. Das Lexem Opfer findet sich in drei Kategorien, als konkretes Opfer oder Opferung im religiösen Sinn, als immaterielles Opfer im religiösen Sinn oder als säkularisiertes Opfer im metaphorischen Gebrauch. Geopfert wird immer, was den Menschen viel bedeutet: Tiere, Gold, Geld und inzwischen auch Zeit. Der sprachhistorische Überblick verdeutlicht, dass der sprachliche Gebrauch des Wortes Opfer auch zukünftig etwas über gesellschaftliche Prozesse und Werte aussagen können wird. Mit Holger Kußes Beitrag „Von Schmeichlern und Verführern. Transaktionale und nicht transaktionale Perlokutionen in der ostslavischen und russischen Religions- und Kommunikationsgeschichte“ eröffnet sich das Spektrum dieses Bandes bis in die ostslavische und russische Religions-, Literatur-, Kommunikations- wie Politikgeschichte. Die Verben verführen, verdunkeln, betrügen, zombieren oder zombifizieren werden in spezifischen kommunikativen Handlungssituationen beleuchtet, ganz besonders jedoch das Verb schmeicheln. Dabei werden konkrete Belege bei Tolstoi und Dostoevskij sowie bei möglicherweise weniger bekannten Vertretern der russischen Literatur des 17. bis 19. Jahrhunderts in den Blick genommen. Insbesondere bei Übersetzungen kann es durch die Wortwahl in der Zielsprache Deutsch (im Beitrag wird stets von russischen Texten ausgegangen) zu Funktionsverschiebungen kommen. Durch die besondere Bedeutung, die das untersuchte Wortfeld heute im öffentlichen Diskurs einnimmt, greift der Beitrag Aspekte aus dem Spannungsfeld Sprache, Religion und Politik ebenso auf, wie er gegenwartssprachliche Interpretationen sprachhistorisch motiviert und damit die ersten beiden Teile des Bandes zusammenführt.

Einleitung | 5

4 Perspektiven und Ausblicke Mit zwei Beiträgen, die aufgrund der gewählten Methodik und disziplinenübergreifenden theoretischen Einbettung über die bisherigen Ansätze der Religionslinguistik hinausreichen, öffnet der Band schließlich Anschlussmöglichkeiten für weitere Fragestellungen. Zunächst handelt es sich um den Beitrag von Franc Wagner: „Metaphernszenarien der Transzendenz: Die Metaphorisierung des Jüngsten Gerichts in klassischen Mythen“. Wagner stellt darin Ähnlichkeiten, Verbindungen und Übereinstimmungen in der Narration des Sumerischen Mythos Inannas Gang in die Unterwelt, des assyrischen Mythos Istars Höllenfahrt, in den Totenbüchern im Frühen Ägyptischen Reich, dem antiken griechischen Mythos von Orpheus und Eurydike, des Mythos ER bei Platon dar. Diese werden den Darstellungen des Jüngsten Gerichts in den abrahamitischen Religionen gegenübergestellt und in Beziehung zueinander gesetzt. Aus der Analyse ergeben sich kulturgeschichtlich höchst relevante und interessante Traditionslinien, die die Perspektive auf die Konzeptualisierung allgemeiner Narrations- und damit auch (funktionaler) Metaphernszenarien zukünftig erweitern können. Mit Ulrich Welbers „Transformationen religiöser Semantik im öffentlichen Sprachgebrauch. Heuristik, Begriffsarbeit und Beispielerkundung zu einem diskurssemantischen Forschungsprogramm“ schließt der Band und gibt zugleich mannigfaltige Denkanregungen. Indem Welbers auf religiöse Semantik im öffentlichen Sprachgebrauch hinweist, macht er Spuren des Religiösen in einer scheinbar säkularen Gesellschaft ausfindig. Wörter, wie (Ver-)Wandlung oder Exodus erfahren situationsbezogene Umdeutungen, Licht-Metaphorik wird für Erzählungen von Hoffnung oder Erfolg genutzt. Auch die im politischen Diskurs prävalente Darstellung des Auserwählt-Seins geht auf religiöse Kontexte zurück. In dem vorliegenden Beitrag werden viele weitere Kategorien aufgezählt und mit einer Vielzahl an Beispielen unterfüttert.

| Teil I: Systematische Aspekte religionslinguistischen Forschungsinteresses

Elias Schmitt

Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus als Ausgangspunkt einer Neuformulierung der religionslinguistischen Idealtypen 1 Einleitung Zwischen 1796 und ’97 setzt sich Georg Wilhelm Friedrich Hegel hin und schreibt einen Text (ab?), der 1913 von Franz Rosenzweig als Fragment ersteigert und zum ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus erklärt wird (vgl. Henrich 1976). Seit diesem Zeitpunkt bewahrt dieser Text – wenn auch selbstredend nicht alleine – die Erforschung der klassischen deutschen Philosophie vor Ruhe und Selbstbestätigungsschleifen: Kontrovers, hitzig und nicht immer dem historischen Kontext angemessen wurde über diese wenigen Zeilen gestritten (vgl. für eine Übersicht bis 1989 Hansen 1989). Ich kann im Folgenden natürlich nicht behaupten, der historisch-philosophischen Forschung neue Einsichten in diesen Text vermitteln zu können. Die durch meine Überlegungen angestrebte Vermittlung ist vielmehr eine zwischen diesem Text und religionslinguistischen Konzepten, wie sie im Handbuch Sprache und Religion (vgl. Lasch& Liebert 2017) vorliegen.¹ Dass ich ein vermeintliches Systemprogramm unklarer Autorschaft (Hölderlin, Hegel, Schelling, ein unbekannter Vierter…; vgl. Hansen 1989: 82) der Religionslinguistik vorstellen möchte, kann durch den Hinweis auf seine debattenbefeuernde Kraft nachvollzogen werden. Was sich im philologischen Autorstreit, in Wirkungs- und Rezeptionsfragen der philosophischen Forschung Bahn bricht, lässt sich für den hiesigen Fokus als religionslinguistische Beweglichkeit fassen: Sensibel für den historischen Kontext lässt sich kaum eine Passage des Systemprogramms einer der idealtypischen Positionierungen zu Transzendentem (vgl. Liebert 2017a) auf eine Weise zuordnen, die die Vorteile eines entsprechend aufgezogenen Ansatzes mit sich bringt. Da Idealtypen nun keine starren Größen sind, sondern durch ihre Erhebung aus Daten – freilich mit anschließender

1 Um den Beitrag als Weiterentwicklung des religionslinguistischen Paradigmas und nicht als Wiedergabe desselben aufziehen zu können, baue ich für die folgende Argumentation auf eine Grundkenntnis religionslinguistischer Konzepte auf. https://doi.org/10.1515/9783110604696-002

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Überspitzung (vgl. MWG I/7: 203–204) –in der Diachronie dynamisch gedacht werden müssen, muss ihre Weiterentwicklung durch neu zugeführte Daten vorangetrieben werden, um bspw. dieses Hemmnis der Zuordnung zu überwinden. Damit soll keineswegs auf Progressionshemmnisse seitens des Arbeitskreises Religionslinguistik hingewiesen werden – mir ist kein hierzu entsprechendes Referenzobjekt bekannt –, sondern vielmehr Ziel und Richtung dieses Beitrags beschrieben werden. Der folgende Text changiert zwischen dem primären Datum – dem Systemprogramm – en bloc mit den sekundären Daten zur historischen Kontextualisierung des primären und den bisherigen Konzeptionen, religiösen Sprachgebrauch durch religionslinguistische Konzepte für die Sprachwissenschaft untersuchbar zu machen. Im hiesigen Kontext sind das vor allem die drei idealtypischen Positionierungen zu Transzendentem – transzendent, non-transzendent und transtranszendent – (vgl. Liebert 2017a) sowie der Gegenstandsbegriff von Transzendenz als außerweltliche Innerweltlichkeit (vgl. Lasch 2017). In einem ersten Schritt werden ausgewählte Stellen des Fragments mit diesen Konzepten untersucht. Ohne diese Entwürfe von Grund auf bezweifeln zu wollen, verfolgt die Eröffnung des Beitrags eine Problemdiagnose, die allerdings erst mit dem zweiten Kapitel eingeholt wird: Dort werden die Ansätze zur Weiterentwicklung – speziell der Idealtypen – durch eine historische Kontextualisierung des Datums deutlicher hervorgekehrt. Dabei werde ich mich auf die Moraltheologie Kants, Jacobis Spinozabriefe sowie andere Früh-Werke (Schelling) bzw. zu deren Lebzeiten unveröffentlichte Schriften (Hölderlin, Hegel) der potentiellen Autoren des Fragments beziehen. Das Systemprogramm selbst bildet das jüngste Datum dieser Zusammenstellung. Der Ankündigung des Changierens entsprechend bezieht sich das dritte Kapitel vermittelt der Kenntnisse aus eins und zwei wieder auf die Religionslinguistik: Dort soll ein Vorschlag zur Neukonzipierung der religionslinguistischen Idealtypen zur Diskussion gestellt werden. Dieser bezieht sich zum einen auf die Relation zwischen den Idealtypen und bewegt sich mit der konkreten Forderung eines Kontinuums zwischen den drei Positionierungen noch nah am status-quo der Religionslinguistik. Der zweite Aspekt des Vorschlags leitet sich aus dem Kontinuum ab, denn die Neurelationierung der Idealtypen fordert ihre inhaltliche Neukonzipierung. Ausgangspunkt derselben muss im Falle der vorgeschlagenen Verbindung ein gemeinsamer Ausgangspunkt, ein Vermittlungszentrum sein, das überhaupt erst ein Kontinuum zwischen sich gegenseitig negierenden (transzendent vs. non-transzendent) oder, im zweiten Sinne des Hegel’schen Wortspiels, aufhebenden (trans-transzendent vs. transzendent und non-transzendent) Positionierungen zu Transzendentem ermöglichen kann. Nun besteht mit dem Konzept einer Transzendenz dieses Zentrum natürlich auf inhaltlicher Ebene. Ich werde allerdings zeigen, dass dieses Zentrum allein nicht

Neuformulierung der religionslinguistischen Idealtypen | 11

zur Neurelationierung, die sich wiederum aus den Daten herleiten lässt, geeignet ist. Ich schlage daher vor, ein Zentrum, das diese Vermittlung leisten kann, sprachtheoretisch zu konzipieren und stütze mich mit dieser Herangehensweise auf die meta-methodologische Einordnung der Religionslinguistik in die hermeneutische Linguistik (vgl. Liebert 2017a: 32).

2 Das Fragment als transzendente Positionierung Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus kommt dem hier ermöglichten Rahmen sehr entgegen, denn es besteht lediglich aus sieben Absätzen und insgesamt rund 730 Wörtern. Es entwickelt auf diesem geringen Platz eine religonslinguistische Beweglichkeit, die, so die These, den bisher etablierten Idealtypen davonläuft. Die folgenden Ausführungen sollen natürlich nicht so verstanden werden, dass sie sich ausschließlich auf diesen Text beziehen: Mein Anspruch ist, die Plausibilität der Annahme zu skizzieren, dass sich mithilfe der am konkreten Datum vorgeschlagenen Erweiterungen der religionslinguistischen Idealtypen eine Perspektive eröffnet, die auch andere Daten (besser) zu verstehen hilft. Da Ausgangs- und Evidenzpunkt meines Vorschlags dennoch nur ein Text bildet, kann hier natürlich nicht weiter als zur Diskussion meiner Vorschläge angeregt werden. Textlinguistische Debatten vom Zaun zu brechen scheint für das vorliegende Interesse genauso wenig zielführend wie eine genaue Ausdifferenzierung entsprechenden Vokabulars. Ich verbleibe dementsprechend bei einem oberflächlichen Zugriff, wenn ich mit „Ist Geist oder lebendiges Dasein für die nachkantische Generation in ein System integrierbar oder nicht?“ auf das Thema des Textes – hier nach Lötscher als mangelhaftes Objekt verstanden (vgl. Lötscher 1987: 84) – und mit Eggs (vgl. 2000) auf sein vorwiegend argumentatives Vertextungsmuster verweise. Bedeutendstes Kohäsionsmittel des Textes besteht in den 37 Wiederaufnahmen des Bezugs Idee, gefolgt von den Bezügen der/die Philosoph/en (15 Wiederaufnahmen) und Menschenwerk (14 Wideraufnahmen): Aus der ersten Idee überhaupt, der von mir als einem absolut freien Wesen, lässt das Systemprogramm interdependent die Welt bzw. Natur hervorgehen. Die Reflexion beider Umstände, der ersten beiden Bezüge, Ich und Welt/Natur, resultiert in Ethik und Physik. Gestärkt durch diese Reflexionsstufe will sich der Autor² dem Menschenwerk destruktiv zuwenden, um nach der Dekonstruktion den Wiederaufbau eines Men-

2 Autor wird im Folgenden als Platzhalter für den weiterhin unklaren Verfasser des Systemprogramms verwendet.

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schenwerks, das sich im Gegensatz zum destruierten nach Ideen richtet, das Ideen versteht, voranzutreiben. Dieser Wiederaufbau soll nicht unkontrolliert, sondern geordnet, einem Prinzip unterstehend erfolgen: also ein systematischer Wiederaufbau. Es werden allerdings nicht die der Ethik und Physik korrespondierenden Ideen des Guten und des Wahren das Prinzip hierfür liefern, sondern die Idee des Schönen, samt seiner Reflexion als Ästhetik. Diese wird mit Mythologie gleichgesetzt und unter der Formel eines Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst mit den Reflexionsstufen des ersten Teils, dem Monotheismus der Vernunft und des Herzens, zur Idee einer neuen Mythologie vereint. Diese soll alle Geister an ihre bzw. jedes lebendige Dasein an seine Freiheit erinnern, so ewige Einheit unter denselben erreichen und ist damit nicht mehr bloßes Menschenwerk, sondern solches mit himmlischer Unterstützung. Um diesen energischen Vorstoß in Fragmentform zu verstehen, kann man sich zunächst abduktiv des Behauptungsgefüges bedienen, das eine transzendente Positionierung ausmache: a) dass die Exzentrik überwunden werden könne, b) dass es ein Definitivum gebe, c) dass eine Verbindung mit einem Transzendenten bestehe, d) dass diese Verbindung über Praktiken und Rituale hergestellt werden könne und e) dass die Religion nicht nur einem Kreis von Auserwählten zugänglich sei, sondern direkt oder indirekt allen initiierten Gläubigen, die sich in die transzendente Ordnung einfügen können. (Liebert 2017a: 20)

Bevor dieses Paket auf das Datum angewandt werden kann, müssen kurz die Begriffe Exzentrik und Definitivum geklärt werden. An ihnen lässt sich die enge Verbindung der Religionslinguistik zu Helmuth Plessners philosophischer Anthropologie erkennen. Die exzentrische Positionalität gilt Plessner als distinktes Merkmal des Menschen, das ihn vom nur positionalen Tier dadurch abhebt, dass es ihm ein Verhältnis zu sich selbst, zur eigenen Positionalität ermöglicht (vgl. Plessner 1975: 292). Diese Möglichkeit scheint allerdings nicht selten als humanspezifische Belastung durch, da sie dem Menschen einen andauernden Ruhezustand, eben ein Definitivum, verwehrt: Die andauernde Bezugnahme auf sich selbst – und so, für den stets an Kant orientierten Plessner (vgl. Plessner 1981), auf alles – gewährt dem zerrissenen Menschen keine dauerhaft unvermittelte, unmittelbare Nähe zu sich, zu anderen wie anderem. Plessner schreibt den Menschen damit eine Rastlosigkeit zu, die nicht allen angenehm erscheint und für deren Überwindung, nach Plessner hoffnungslose, Konzepte, Praktiken etc. geschaffen wurden, von denen eine die Religion ist (vgl. Plessner 1975: 342). Sie vermittelt, wie oben beschrieben, ihren Anhängern die Möglichkeit einer Überwindung der Exzentrik, der Rastlosigkeit vermittels eines Definitivums: „Letzte Bindung und Einordnung, den Ort seines Lebens und seines Todes, Geborgenheit, Versöhnung

Neuformulierung der religionslinguistischen Idealtypen | 13

mit dem Schicksal, Deutung der Wirklichkeit, Heimat schenkt nur die Religion.“ (Plessner 1975: 342) Nach diesem Exkurs lässt sich mit a) bis e) das Systemprogramm strukturieren und als transzendente Positionierung erkennen: Natürlich greifen Autoren des späten 18. Jahrhunderts nicht auf Plessners Terminologie zurück, allerdings lässt sich die Schlusspassage des Fragments – „Dann herrscht ewige Einheit unter uns. […] Dann herrscht allgemeine Freiheit und Gleichheit der Geister!“ (o. A. 1971: 236)³ – in Richtung der Behauptung a) verstehen. Zumal, wenn der letzte Satz des Textes scheinbar eine Transzendenz zur Unterstützung in der Verwirklichung eines Definitivums anruft: „Ein höherer Geist, vom Himmel gesandt muß diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte größte Werk der Menschheit sein.“ (o. A. 1971: 236) Darüber hinaus lässt sich diese Lesart weiter plausibilisieren, wenn im fokussierten Kontext auf einen zentralen Bezug des Textes – Menschenwerk (s. o.) – eingegangen wird. Im letzten Satz des Textes erfährt dieses eine transzendente Ausdeutung, die ihm zu Beginn des Fragmentes noch gänzlich fehlt. Dieser Wandel kann als Transformation eines anfangs non-transzendenten (s. u.) zu einem transzendenten Werkbegriff verstanden werden: Von der Natur komme ich aufs Menschenwerk. Die Idee der Menschheit voran, will ich zeigen, daß es keine Idee vom Staat gibt, weil der Staat etwas Mechanisches ist […] Nur was Gegenstand der Freiheit ist, heißt Idee. Wir müssen also über den Staat hinaus! – Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören. (o. A. 1971: 234–235)

Diese durch den Text in Kombination mit a) ermöglichte Gegenüberstellung plausibilisiert zusätzlich die transzendente Interpretation des Textes. Um b) in den Text integrieren zu können, muss mit demselben die Frage beantwortbar sein, was Heimat, was Ruhe vor der Exzentrik stiftet. Auch hierauf kann das eschatologische Finale (vgl. Henrich 1982: 13) des Fragments antworten: Ehe wir die Ideen ästhetisch, d. h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse; und umgekehrt, ehe die Mythologie vernünftig ist, muß sich der Philosoph ihrer schämen. So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden und das Volk vernünftig, und die Philosophie muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns. (o. A. 1971: 236)

3 Ich zitiere im Folgenden das Systemprogramm ohne Ausschreibung der Autorschaft (o. A.), auch wenn ich es nach der Theorie-Werkausgabe Hegels (TWA) zitiere.

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Dieses Bedingungsgefüge führt aus, was die wohl berühmteste Forderung des Fragments griffig macht: „Monotheismus der Vernunft und des Herzens, Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst, dies ist’s, was wir bedürfen.“ (o. A. 1971: 235–236.) Die geforderte neue Mythologie scheint sich also als Definitivum anzubieten. Die von c) vorgegebene Verbindung zu Transzendentem ist bereits durch den höheren Geist vorausgesetzt, der die neue Religion bzw. neue Mythologie vom Himmel gesandt stiften müsse (vgl. o. A. 1971: 236). Die von d) geforderten Rituale und Praktiken finden sich ebenfalls im zuletzt eingerückten Zitat, wenn auch noch vage – ohne strenge Ordnung prototypischer Rituale – wieder: Sie sind gleichsam in den romantischen Diskurs der Kunstreligion eingelassen (vgl. Frank 1982). Fehlt noch e), also die Behauptung, dass Religion nach einer Initiation prinzipiell allen offen steht. Die diese Behauptung bedienenden bereits zitierten Einheitsvorstellungen werden nochmal durch eine Gegenüberstellung zweier Gruppen – derer, die Ideen verstehen, und derer, die Ideen nicht verstehen – untermauert: „Zu gleicher Zeit hören wir so oft, der große Haufen müsse eine sinnliche Religion haben. Nicht nur der große Haufen, auch der Philosoph bedarf ihrer.“ (o. A. 1971: 235) Es spricht also vieles für eine Lesart, die im ältesten Systemprogramm des deutschen Idealismus eine transzendente Positionierung zu Transzendentem versteht.⁴ Im folgenden Kapitel möchte ich diesen Eindruck nicht ausräumen, diese Lesart jedoch durch den historischen Kontext um eine trans-transzendente ergänzen, um so die Forderung nach einem Kontinuum zwischen den religionslinguistischen Idealtypen zu plausibilisieren.⁵ Dadurch soll im gleichen Zug die Ankündigung unter den hier gegebenen Bedingungen eingelöst werden, durch ein Kontinuum zwischen den Idealtypen konkrete Daten besser verstehen zu können.

4 Dafür spricht zusätzlich die Vereinbarkeit dieser Lesart mit den an das Konzept der Prophetie – als Propheten erscheinen im Datum Philosophen (vgl. o. A. 1971: 235–236) – anknüpfenden Konzepten der Verkündigung, Verehrung und Vergegenwärtigung im Kontext von Transzendenz (vgl. Lasch 2017: 249–254). 5 Dem Datum geschuldet begrenze ich mich hier auf das Kontinuum zwischen transzendenter und trans-transzendenter Positionierung. Dass aber eine entsprechende Relation zwischen allen drei Idealtypen besteht, bezweifle ich damit nicht – es wird von Liebert selbst nahegelegt (vgl. 2017a: 21) –, sondern begrenze mich hier datumsbezogen auf eine spezielle Idealtypenkombination.

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3 Das Fragment als trans-transzendente Positionierung Was spricht also für eine trans-transzendente Lesart des Datums, die zugleich die transzendente nicht über Bord wirft? Ich möchte diese Frage mit Hinblick auf ein Fragment möglichst strukturiert beantworten und gehe dazu in zwei Schritten vor, die sich jeweils an einem Aspekt der bereits genannten griffigen Formel des Systemprogramms – Monotheismus der Vernunft und des Herzens, Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst (vgl. o. A. 1971: 235–236) – orientieren.

3.1 Monotheismus der Vernunft und des Herzens Die Bedeutung des Monotheismus der Vernunft und des Herzens lässt sich u. a. an einer grammatisch hervorgehobenen und so, das wird zu zeigen sein, auch thematisch relevanten Stelle des Textes erläutern. Endlich kommen die Ideen von einer moralischen Welt, Gottheit, Unsterblichkeit, – Umsturz alles Afterglaubens, Verfolgung des Priestertums, das neuerdings Vernunft heuchelt, durch die Vernunft selbst. – Absolute Freiheit aller Geister, die die intellektuelle Welt in sich tragen und weder Gott noch Unsterblichkeit außer sich suchen dürfen. (o. A. 1971: 235)

Neben einer Ausnahme, die für die hiesigen Interessen wenig relevant ist⁶, sind diese mit Relativsätzen attribuierten Nominalphrasen die einzig nicht satzfähigen⁷ Segmente des Textes. Zusätzlich zu dieser elliptischen Hervorhebung, die eine Gegenüberstellung schon erahnen lässt, scheint der Autor diesen Teil durch die adverbielle Bestimmung „endlich“, das auf die Transformation des Menschenwerks verweist (s. o.), hervorheben zu wollen. An demgemäß exponierter Stelle wartet der Text mit den kantschen Postulaten der reinen praktischen Vernunft (Welt, Gott, Unsterblichkeit) auf. Diese reinen Vernunftbegriffe, die wir entsprechend nur durch dieses Vermögen kennen, wurden, und das scheint den Autor besonders hart zu treffen, zweckentfremdet. Als Akteur dieser Entfremdung lässt sich das Priestertum als Wiederaufnahme des nicht ideenverbundenen Menschenwerks benennen. Das Heucheln von Vernunft durch die Vernunft selbst geht

6 „– die einzig wahre und gedenkbare Schöpfung aus Nichts“ (o. A. 1971: 234). 7 Um die Argumentation meines Beitrags möglichst stringent und frei von Exkursen zu halten, beschränke ich mich hier auf einen Satzbegriff, der sicherlich hinter spezifisch grammatischen Diskussionen zurückbleibt, allerdings für die hiesigen Zwecke vollkommen ausreicht: Satz = Verbindung von Subjekt und prädikatbildender Verbalphrase.

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auf die theologische Aufnahme der kantschen Konzeption der praktischen Vernunft, besonders eben der Postulate, zurück und kritisiert, dass die spezifische Ausdeutung derselben durch die Theologie dieser Zeit hinter die Grundfesten des kritischen Unternehmens zurückfalle und weiter Vorführt, was Kant später in seiner Religionsschrift selbst harsch kritisiert, worauf ich durch eine Verständigung über den Begriff des Afterglaubens näher eingehe. An ihm lässt sich deutlich die Gegenüberstellung beider Forderungen zeigen. Das Kompositum Afterglauben taucht dem Deutschen Wörterbuch zufolge erstmals im 15. Jahrhundert auf, wobei After wahrscheinlich aus dem Müllerhandwerk und dem Bergbau kommt, wo es je einen minderwertigen Teil der Produktion als unnützen Rest bezeichnet. Darüber hinaus kann After, „wo ein ‚folgendes, weiteres‘ als echtes gegenstück nicht denkbar ist, […] die bed. ‚unecht, falsch, scheinbar‘ entwickeln“ (DWB After-). Der Afterglaube steht damit teilsynonym zu Aberglauben als ein in einem Glaubenskontext notwendig den richtigen nur schädigender Glauben (vgl. DWB After-). Durch die bisherige Kontextualisierung muss ein Afterglaube im Kontext des Systemprogramms einer, gleich allen anderen noch nicht durch die neue Mythologie transformierten Menschenwerken, ohne Ideenbezug, ein mechanischer sein. Dieser Glaube wird von zwei Hauptquellen des Diskurses, dem das Systemprogramm zugeordnet werden kann, ablehnend thematisiert: Friedrich Heinrich Jacobi und Immanuel Kant. Ich skizziere beide Thematisierungen in dieser Reihenfolge. Ein Glaube ohne Ideenbezug kann den Gegenstand des Fragmentthemas – lebendiges Dasein oder den Geist – nicht integrieren. Mit diesem Bezug greift der Autor des Fragments auf Jacobis Einführung des Unbedingten in den philosophischen Diskurs des späten 18. Jahrhunderts zurück (vgl. Sandkaulen 2002). Es ist spätestens durch die Konstellationsforschung Dieter Henrichs bekannt, dass die Schüler des Tübinger Stifts und damit Schelling, Hölderlin und Hegel durch ihren Lehrer Johann Friedrich Flatt die zweite Auflage der Spinozabriefe kennen gelernt haben. (vgl. Henrich 2004a: 66) Im Briefwechsel mit Moses Mendelssohn und unter Aufführung Lessings thematisiert Jacobi Spinozas Ethik als die konsequenteste und bei aller Ablehnung damit ihn beeindruckendste Ausführung eines wie oben thematisierten Glaubens. Seine Ablehnung Spinozas resultiert nun daraus, dass dieser und mit ihm jedes System seine, Jacobis, lebendigste Überzeugung (vgl. Jacobi 2000: 33) verdeckt, nämlich „daß ich tue was ich denke, anstatt, daß ich nur denken sollte was ich tue. Freilich muß ich dabei eine Quelle des Denkens und Handelns annehmen, die mir durchaus unerklärlich bleibt.“ (Jacobi 2000: 33) Spinoza habe Jacobi diese Überzeugung durch dessen, der eigenen entgegengesetzten Position, wie sie in der Ethik ausgedrückt ist, als Gewissheit verdeutlicht. Diese Überzeugung scheint auch im Systemprogramm durch die oben genannte erste Idee, aus der alles weitere entstehe, durch. Die Autoren, so meine

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Festsetzung des Textthemas für die hiesigen Erkenntnisabsichten, suchen weiterzuführen, was Jacobi und Kant in ihrem Briefwechsel (vgl. ihren Briefwechsel in Jacobi 1980) für sie nicht zufriedenstellend lösen konnten: die Vereinigung des Gedankens des Unbedingten nach Jacobi mit dem systematischen Aufbau einer Philosophie nach Kant. Nun hat letzterer natürlich selbst versucht, lebendiges Dasein in einen systematischen Aufbau der Philosophie zu integrieren und die philosophiehistorische Forschung kann bspw. an den verschiedenen Auflagen der Kritik der reinen Vernunft sehr schön Kants Versuche nachzeichnen, selbst auf die Kritik seiner Zeitgenossen diesbezüglich zu reagieren (vgl. bspw. Frank 2007). Ansatzpunkt der rezeptionsmäßig gefassten nachkantischen Generation – hier weniger durch Reinhold, Fichte, Maimon, Anaesidemus etc., sondern v. a. durch Schelling, Hölderlin und Hegel thematisiert – bildete eine von Kant selbst explizit stets verworfene (vgl. bspw. über die KrV hinaus KpV AA V: 31), aber, so zumindest Schelling (vgl. VI SW I: 181)⁸, praktisch immer vorausgesetzte Anschauung: die intellektuale bzw. intellektuelle Anschauung. Sich dieser Diskussion en detail hinzugeben, ist äußerst interessant, für meine hiesige Absicht allerdings weniger relevant. Entscheidend für das mangelhafte Objekt (vgl. Lötscher 1987: 84) als Thema des Systemprogramms ist allerdings, dass die vornehmlich hier thematisierten Autoren sich durch diese vermeintliche Widersprüchlichkeit des Kant’schen Ansatzes zum konsequenten Finalisieren des kritischen Unternehmens aufgerufen sahen. Dieser Selbsteindruck verstärkte sich sicherlich durch die oben genannte theologisch-philosophische Übernahme der kantschen praktischen Postulate, die Schelling bereits früh kritisiert: Denn da ein großer Theil jener Philosophen ohne Hehl bekennt, daß es um die theoretische Realität jenes Begriffs [der Offenbarung; E. S.] sehr mißlich aussehe, daß er durch theoretische Vernunft inconstruktibel, d. h. daß er schlechthin unvernünftig sey, und da ebendieselben doch von einer praktischen Realität dieses Begriffs träumen, so müssen sie in dem Wahne stehen, daß, was theoretisch höchst unvernünftig ist, doch praktisch (was mögen sie wohl dabei denken?) höchst vernünftig seyn könne. (OV SW I: 475)⁹

Die Kant von besagten Autoren zumindest in ihren frühen Phasen attestierte Widersprüchlichkeit mündet demnach in eine Thematisierung des Offenbarungsbegriffs und damit zurück in unseren Ausgangspunkt, der grammatischen Hervorhebung im Systemprogramm. Damit vor diesem begrifflichen Hintergrund diese Stelle allerdings im historischen Kontext, neben Jacobis Einfluss, verstanden wer-

8 SW = Friedrich Wilhelm Joseph von Schellings sämtliche Werke; VI = Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen. 9 OV = Ueber Offenbarung und Volksunterricht.

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den kann – und so der erste Schritt hin zu einer trans-transzendenten Interpretation des Systemprogramms abschließend möglich wird – gehe ich kurz auf Kants Religionsschrift ein. Dafür lässt sich der oben genannte Afterglaube weiter einspannen, genauer: seine Liturgie, die mit Afterdienst erstmals in Kants Religionsschrift zu Buche schlägt. (vgl. DWB Afterdienst) Hier führt Kant aus, dass die wahre Religion, also seine Moraltheologie, nur Gesetze enthält, „d. i. solche praktische Prinzipien, deren unbedingter Notwendigkeit wir uns bewußt werden können, die wir also, als durch reine Vernunft (nicht empirisch) offenbart, anerkennen.“ (RGV AA VI: 168) Den Gesetzen stellt Kant Statute gegenüber: „für göttlich gehaltene Verordnungen […], die für unsere reine moralische Beurteilung willkürlich und zufällig sind.“ (RGV AA VI: 168) Diesen statutarischen Glauben nun (der allenfalls auf ein Volk eingeschränkt ist, und nicht die allgemeine Weltreligion enthalten kann) für wesentlich zum Dienste Gottes überhaupt zu halten, und ihn zur obersten Bedingung des göttlichen Wohlgefallens am Menschen zu machen, ist ein Religionswahn, dessen Befolgung ein Afterdienst, d. i. eine solche vermeintliche Verehrung Gottes ist, wodurch dem wahren, von ihm selbst geforderten Dienste gerade entgegen gehandelt wird. (RGV AA VI: 168)

Der Offenbarungsvorgang qua reine Vernunft als Paraphrase der ersten Idee zeigt also schon bei Kant eine religionslinguistische Beweglichkeit. Worin sich nichtsdestotrotz Kant, wie auch Schelling (vgl. OV SW I: 475–476.), Hölderlin (vgl. 1998a: 11) und Hegel (vgl. GW 1: 358) in dieser Phase einig scheinen, ist, dass diese Offenbarung nicht hinter die Grundsätze des kritischen Unternehmens, sprich, nicht hinter das „Ich denke“, das „alle meine Vorstellungen begleiten können“ muss (KrV AA III: 132), zurücktreten darf. Freilich unterscheiden sich alle drei zusätzlich mit Fichte in der Ansicht, was denn Ich in diesem Fall bedeutet. Aber Nichtsdestotrotz kann der Autonomie-Anspruch insgesamt hier als verbindendes Moment der aufgeführten Ansätze nicht verleugnet werden (vgl. Hermanni et al. 2015). Verschwimmt die von diesem Moment markierte Trennlinie zwischen Gesetz und Statut oder kehrt sich dieses Verhältnis sogar um, ist also gerade in religiösen Fragen und durch dieselben die Autonomie, die absolute Freiheit als erste Idee und Offenbarungsgehalt der reinen Vernunft ‚in Gefahr‘. Kant beweist hier erstaunliche Ähnlichkeiten zur Argumentation Lessings im Fragmentenstreit (vgl. Lessing 1989: 439–440), wenn er von einem auf bloße Fakten, also nicht durch Offenbarung der reinen Vernunft gegründeten historischen Glauben (vgl. RGV AA VI: 103) spricht. Zwar geht er nicht so, wie Lessing es zumindest etwas tut, auf die semiotischen Vorannahmen seiner diskutierten Positionen in religiösen Fragen ein, er stellt aber sehr deutlich heraus, was es mit dem obigen verbindenden

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Moment auf sich hat: In der Unterscheidung zwischen wahrem Religionsglauben mit seinen Gesetzen und historischem Glauben mit seinen Statuten besteht die wahre Aufklärung; der Dienst Gottes wird dadurch allererst ein freier, mithin moralischer Dienst. Wenn man aber davon abgeht, so wird, statt der Freiheit der Kinder Gottes, dem Menschen vielmehr das Joch eines Gesetzes (des statutarischen) auferlegt, welches dadurch, daß es als unbedingte Nötigung, etwas zu glauben, was nur historisch erkannt werden kann, und darum nicht für jedermann überzeugend sein kann, ein für gewissenhafte Menschen noch weit schwereres Joch ist, als der ganze Kram frommer auferlegter Observanzen immer sein mag, bei denen es genug ist, daß man sie begeht, um mit einem eingerichteten kirchlichen gemeinen Wesen zusammen zu passen, ohne daß jemand innerlich oder äußerlich das Bekenntnis seines Glaubens ablegen darf, daß er es für eine von Gott gestiftete Anordnung halte; denn durch dieses wird eigentlich das Gewissen belästigt. (RGV AA VI: 179)

Schelling führt diesen Gedanken dann auf den Offenbarungsbegriff der Religion zurück, wenn er an seine Ausführungen zu der theologisch-philosophischen Übernahme der kantschen Postulate anknüpft: Zugleich […] setzen sie [, die auf theoretischer Ebene eine göttliche Offenbarung bestreiten, sie aber auf praktischer Eben annehmen; E. S. (s. o.)] in dem menschlichen Geiste eine Receptivität voraus, die seiner ganzen Natur zuwider ist. Denn da das Wesen des Geistes in Aktivität besteht, so ist er nur eines solchen Leidens empfänglich, das in anderer Rücksicht zugleich ein Thun ist, d. h. es kann im menschlichen Geiste keine absolute Passivität gedacht werden, und jeder Begriff ist seiner Natur nach falsch, der eine absolute Passivität im menschlichen Geiste voraussetzt. […] Nun läßt aber eine Offenbarung, so wie sie in jener Philosophie bestimmt wird, d. h. eine reelle Einwirkung des höchsten Wesen auf den menschlichen Geist, dem letztern nichts als absolute Passivität übrig; (OV SW I: 475–476)

Damit kann zum Ausgangszitat des ersten Schritts – „Absolute Freiheit aller Geister, die die intellektuelle Welt in sich tragen und weder Gott noch Unsterblichkeit außer sich suchen dürfen.“ (o. A. 1971: 235) – zurückgekehrt werden. Die adverbielle Bestimmung „außer sich“ kann durch die terminologische Anbindung des Fragments an Kant mit dem spezifischen Offenbarungsverständnis des Systemprogramms synchronisiert und so eine trans-transzendente Lesart stark gemacht werden, die die transzendente weiterhin nicht aufhebt. Es ist klar geworden, dass ein nicht mit Ideen verbundener Glaube ein dogmatischer Glaube ist. Dieser konzipiert Gott bzw. allgemeiner eine Transzendenz als Substanz, also außerhalb der freien Geister, wodurch er sich als freier Glaube disqualifiziert und als Afterglaube mit Statuten anstatt Gesetzen, mit Glaubensverwaltern (vgl. Lasch 2017: 250–251) und so als Institution enttarnt. Die Institution eines statutarischen Glaubens muss durch die außerhalb lebendigen Daseins gefasste substantielle Transzendenz gleich dem Staat freie

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Menschen wie mechanisches Räderwerk behandeln und kann so nicht die lebendigste Überzeugung (vgl. Jacobi 2000: 33) in ihr Schalten und Walten integrieren. Der so erschwerte bis unmögliche Ideenbezug der Gläubigen hemmt die schöpferische Kraft lebendigen Daseins, die aus der ersten Idee entspringt: daher die Forderung, Gott nicht außer sich zu suchen. Mit einem Blick auf Schellings Briefe wird darüber hinaus, erinnernd an die Figuration der trans-transzendenten Positionierung mit der sich unendlich anders wiederholenden Möbiusschleife (vgl. Liebert 2017a: 22), deutlich, was es heißen kann zu fordern, Ideen, das Absolute/Unbedingte, Gott¹⁰ etc. immanent, nicht transzendent zu verstehen: „Diese Forderung nun kann ich nur durch ein unendliches Streben, das Absolute in mir selbst zu realisiren – durch unbeschränkte Aktivität – erfüllen“ (BDK SW I: 335).¹¹ Hierbei muss beachtet werden, dass – gewissermaßen an den Diskurs um die intellektuelle Anschauung – „in mir selbst“ hier keine adverbielle Bestimmung des Realisierens, sondern ein Präpositionalattribut zum Absoluten ist: Uns allen nämlich wohnt ein geheimes, wunderbares Vermögen bei, uns aus dem Wechsel der Zeit in unser Innerstes, von allem was von außenher hinzukam, entkleidetes Selbst zurückzuziehen, und da unter der Form der Unwandelbarkeit das Ewige in uns anzuschauen. Diese Anschauung ist die innerste, eigenste Erfahrung, von welcher allein alles abhängt, was wir von einer übersinnlichen Welt wissen und glauben. (BDK SW I: 318)

Es wird also die trans-transzendente Lesart durch die Ablehnung einer substantiellen Transzendenz sowie durch die Vermeidung eines bloßen Inversionsdenkens die Ablehnung einer non-transzendenten Positionierung deutlich. Auf letztere soll hier weniger eingegangen werden, als, im Vorblick auf das kommende Kapitel, auf den Idealtypus einer transzendenten Positionierung, wie er zur ersten Interpretation des Systemprogramms diente. Denn durch die Vermeidung einer substantiellen Transzendenz, die erst die Möglichkeit einer Dogmatik eröffnet, scheint ein grundlegender Punkt dieses Idealtypus ausgehebelt: die Binarität. Natürlich trifft Lasch einen forschungstheoretisch relevanten Punkt, wenn er für die Religionslinguistik fordert, Transzendenz als außerweltliche Innerweltlichkeit zu verstehen (vgl. Lasch 2017: 242–248): Für Initiierte einer transzendenten Positionierung kann diese gegenstandskonstitutive Hinsicht allerdings kein Definitivum versprechen, da im Phänomenbereich ein binäres „Verständnis von Transzendenz im Selbstverständnis vieler Akteure eine wichtige Rolle“ (Liebert 2017a: 20) spiele. Ist also durch das Einbeziehen der referierten und weiterer Texte des gleichen Diskurses eine nicht-binäre Lesart des Systemprogramms möglich,

10 Zu dieser Gleichsetzung vgl. Henrich (2004b: 1494–1498). 11 BDK = Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritizismus.

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so wird klar, dass damit nicht nur eine transzendente Interpretation des Datums, sondern eben auch eine trans-transzendente plausibel erscheinen muss. Damit ist der erste Schritt getan, der auf dem Boden der theoretischen Philosophie beschritten wurde. Ihre Hinsicht sucht der Monotheismus-Aspekt der Formel zu fassen. Die Rolle dieses Aspekts wurde mit der durch Jacobi und Kant geschärften Perspektive auf die erste Idee und ihre Konfrontation mit geoffenbarten Wahrheiten umrissen: „Gebt mir tausend Offenbarungen einer absoluten Causalität außer mir, und tausend Forderungen einer verstärkten praktischen Vernunft, ich werde nie an sie glauben können, solange meine theoretische Vernunft dieselbe bleibt!“ (BDK SW I: 287)

3.2 Polytheismus der Einbildungskraft und der Kunst Es bleibt allerdings noch der zweite Teil der Formel, der Polytheismus, offen. Diesen Aspekt kurz zu behandeln antwortet ebenfalls auf die Frage, warum es denn schlimm sei, das schöpferische Potential der ersten Idee, bspw. durch eine substantielle Transzendenz, einzuschränken.¹² Die Behandlung dieser Frage wird die schon nahegelegte trans-transzendente Lesart des Datums untermauern und entscheidend zur Neufassung der Idealtypen im kommenden Kapitel beitragen. Was geht also ohne das schöpferische Potential der ersten Idee von mir als einem absolut freien Wesen verloren? Kurz: der Absolutheitscharakter der Transzendenz. Ich knüpfe damit an den bisher nicht thematisierten Anfang des Fragments an, in dem es heißt, dass alle Metaphysik künftig in die Moral falle (vgl. o. A. 1971: 234). Damit kann erneut das strukturierende Moment der MonotheismusPolytheismus-Formel, die Unterscheidung von theoretischer und praktischer Philosophie, eingespannt werden. Denn die unter 3.1 als Teil der theoretischen Philosophie erkannte erste Idee hat praktische Konsequenzen: Hegels Diktum, dass der Geist nur auf Umwegen zu sich selbst komme (vgl. TWA XVIII: 55), ist sicherlich die bekannteste Formulierung dieses Gedankens, den er sehr wahrscheinlich von Hölderlin (vgl. Henrich 1988), auf den ich gleich genauer eingehe, übernommen hat. Auch Schelling fasst die im Systemprogramm mit dem Fallen der Metaphysik in die Moral skizzierte Konsequenz in seinen Briefen über Dogmatismus und Kritizismus ähnlich:

12 Die Beantwortung dieser Frage kehrt damit auch die Aktualität des Textes hervor und bestärkt seine Relevanz für eine Neurelationierung der religionslinguistischen Idealtypen. Denn was im Systemprogramm als Hemmnis des Schöpfungspotentials der ersten Idee behandelt wird, findet sich heute durch ein Kreativitätsdispositiv thematisiert (vgl. Reckwitz 2013).

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Der Dogmatismus […] kann so wenig als der Kriticismus das Absolute, als Objekt, durch theoretisches Wissen erreichen, weil ein absolutes Objekt kein Subjekt neben sich duldet, theoretische Philosophie aber eben auf jenen Widerstreit zwischen Subjekt und Objekt gegründet ist. Für beide Systeme bleibt also nichts übrig als das Absolute, da es nicht Gegenstand des Wissens seyn konnte, zum Gegenstand des Handelns zu machen, oder die Handlung zu fordern, durch welche das Absolute realisirt wird. In dieser nothwendigen Handlung vereinigen sich beide Systeme. (BDK SW I: 333)

Warum scheint diese Handlung nun notwendig und was hat diese Frage mit der Neukonzipierung der religionslinguistischen Idealtypen zu tun? Ich gehe zunächst auf die erste Frage ein um dann die resultierenden Unklarheiten für meinen Vorschlag der Weiterentwicklung der religionslinguistischen Idealytpen im Resümee aufzulösen. In seinem Fragment philosophischer Briefe versucht Hölderlin der Frage nach der Notwendigkeit einer das Absolute realisierenden Handlung durch die Frage, warum hat der Mensch ein Bedürfnis, Transzendentes, Absolutes oder Unbedingtes auszudrücken, zu begegnen. Er antwortet: Der Mensch kann sich durch sein besonderes Geschick (vgl. Hölderlin 1988a: 11), sich über alles Notdürftige zu erheben, über den Umstand einer Einigkeit des Ganzen mittels der durch ihn führenden Relationen zwischen ihm als Einzigem und allem anderen versichern. Diese All-Einigkeit thematisiert Hölderlin im Fragment Seyn, Urtheil… (vgl. Hölderlin 1988b). Durch dieses Geschick empfinde der Mensch diese Verbindung mit allem unendlicher und durchgängiger und zieht aus dieser Empfindung eine durchgängigere und unendlichere Befriedigung. Die Möglichkeit dieser ‚Versicherung‘ mit daran gekoppelter Empfindung beschränkt Hölderlin nicht auf einen bestimmten Lebensbereich oder Kontext: „Greift es aber der Mensch nur recht an, so giebt es für ihn, in jeder ihm eigentümlichen Sphäre, ein mehr als nothdürftiges, ein höheres Leben, also eine mehr als nothdürftige, eine unendlichere Befriedigung.“ (Hölderlin 1988a: 12) Diese humanspezifische Befriedigung muss für Hölderlin im Geist stattfinden. Hier werde das wirkliche Leben als Gegenpart zum geistigen wiederholt, mehr noch: „aus dieser Befriedigung gehe das geistige Leben hervor, wo er [der Mensch; E. S.] gleichsam sein wirkliches Leben wiederhole.“ (Hölderlin 1988a: 12) Es gilt zu bemerken, dass Hölderlin kein Materialist ist, denn seine Überlegungen gehen, in Anlehnung an Jacobi, vom Unbedingten im Menschen vermittelt durch das oben genannte Geschick aus: „Weder aus sich selbst allein, noch einzig aus den Gegenständen, die ihn umgeben, kann der Mensch erfahren, daß ein Geist, ein Gott, ist in der Welt, aber wohl in einer lebendigeren, über die Nothdurft erhabnen Beziehung, in der er stehet mit dem was ihn umgiebt.“ (Hölderlin 1988a: 10) Die geistige Wiederholung wirklichen Lebens begreift Hölderlin nun als bloßen Gedanken, der „doch nur den nothwendigen Zusammenhang, nur die unver-

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brüchlichen, allgültigen, unentbehrlichen Geseze des Lebens wiederholen“ (Hölderlin 1988a: 12) kann. Ganz im Einklang mit Seyn, Urhteil… geht Hölderlin dazu über, den bloßen, notwendigen Gedanken der zuvor im wirklichen Leben qua Geschick empfundenen, mehr als notwendigen Alleinigkeit gegenüberzustellen. Aus dieser Gegenüberstellung leitet er seine Antwort auf die eingangs gestellte Frage nach dem humanen Ausdrucksbedürfnis des Transzendenten her: Jene unendlicheren mehr als nothwendigen Beziehungen des Lebens können zwar auch gedacht, aber nur nicht blos gedacht werden; der Gedanke erschöpft sie nicht, und wenn es höhere Geseze giebt, die jenen unendlichern Zusammenhang des Lebens bestimmen, wenn es ungeschriebene göttliche Geseze giebt, […] so sind sie, insofern sie blos für sich und nicht im Leben begriffen vorgestellt werden, unzulänglich, einmal weil in eben dem Grade, in welchem der Zusammenhang des Lebens unendlicher wird, die Thätigkeit und ihr Element, die Verfahrungsart, und die Sphäre in der sie beobachtet wird, also das Gesez, und die besondere Welt in der es ausgeübt wird, unendlicher verbunden ist und eben deswegen das Gesez, wenn es auch gleich ein für gesittete Menschen allgemeines wäre, doch niemals ohne einen besondern Fall, niemals abstract gedacht werden könnte, wenn man ihm nicht seine Eigentümlichkeit, seine innige Verbundenheit mit der Sphäre in der es ausgeübt wird, nehmen wollte. […] Also kann dieser höhere Zusammenhang nicht blos in Gedanken wiederholt werden. (Hölderlin 1988a: 12–13)

Zwischen dem mehr als notwendigen, unendlichen Zusammenhang, der Transzendenz und dem ‚bloß‘ notwendigen Gedanken besteht ein Bedingungsgefüge derart, dass Transzendenz als das Unbedingte das geistige Leben bedingt. Die bloß notwendigen Gedanken sind nicht mehr als notwendig, weil Notwendigkeit eine Kategorie des Verstandes ist, sich also auf erkennbare Objekte etc., richtet und hier der bloße Gedanke, ganz kantianisch, seinen Zuständigkeitsbereich nicht überschreitet. Hölderlin behauptet aber im Einklang mit Schelling und in Einschränkungen mit Hegel, dass sich die bloßen Gedanken aus dem Unbedingten herleiten lassen. Da Hölderlin von eben dieser transzendenten All-Einigkeit ausgeht, kann er fordern, dass auch abstrakte Gesetze etc. stets mit dieser aus dem wirklichen Leben, dem lebendigen Dasein empfundenen All-Einigkeit bzw. Differenzlosigkeit (vgl. Liebert 2017b: 284–285) auf spezielle Weise verbunden bleiben müssen. Die vollständige Abkoppelung beider Bereiche würde wieder ideenvergessenes Menschenwerk bedeuten. Diese Verbindung ist eine, die mit ästhetischen Mitteln im weiten Sinn gedacht werden kann, weil sie nur semiotisch erhalten bleiben kann. Denn mit seiner Verwendung von Geist knüpft Hölderlin offensichtlich an die jacobische Verwendungsweise dieses Begriffs an, der speziell Sprache als effektivstes Erhaltungsmedium des Lebens beschrieb (vgl. Jacobi 2000: 273–274). So erhält sich lebendiges Dasein bei Jacobi vermittelst Sprache, wodurch die Gesetze bzw.

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bloßen Gedanken, von denen Hölderlin spricht, erzeugt werden und über Sprache, über Ausdrückliches müssen diese Abstrakta entsprechend dem Leben, das durch sie im Fall der Artikulation erhalten wurde, wieder zurückgeführt werden. „Und diß ist eben die höhere Aufklärung die uns größtentheils abgeht“ (Hölderlin 1988a: 14).¹³ In dieser Hinsicht ist also die von Schelling angesprochene Handlung, die mit Hölderlin als Veräußerung geistigen Lebens im weiten Sinn semiotisch zu fassen ist, notwendig: Nach dem Systemprogramm baut lebendiges Dasein auf der ersten Idee auf und widerspricht sich selbst im praktischen Lebensvollzug, wenn es seine Handlungen nicht als relevant für Absolutes, für Transzendentes begreift. Jede Artikulationsbewegung des Menschen – und speziell Kunst – bewahrt als Rückführungen der Gedanken in den Lebenszusammenhang in dieser Hinsicht die Verbindung beider Bereiche, die Verbindung zwischen Transzendenz und Immanenz, die dadurch eben nicht mehr binär, wie in der transzendenten Positionierung, vorliegen. Denn indem das wirkliche Leben vergeistigt wird, ist die Herkunft dieser Sphäre klar und seine Verbindung zum Absoluten bewahrt. Indem dann aber diese Verbindung auch interdependent bleibt, in anderem Sinn: ein sich verändernder Kreislauf als Möbiusband (vgl. Liebert 2017a: 19) entsteht, muss das Geistige der aus dem wirklichen Leben heraus empfundenen All-Einigkeit wieder zurückgeführt werden können. Hölderlin verbindet diese sich so als unendlich herausstellende Bewegung mit ästhetischen Kategorien über ein Denken des Anderen (vgl. Liebert 2017a: 25), also aus einer trans-transzendenten Positionierung heraus, und begründet dadurch, dass das Unbedingte ausgedrückt, also bedingt in besonderer Kenntnis dieses Ungenügens, werden muss, um gelebt werden zu können.

4 Resümee: Neufassung der religionslinguistischen Idealtypen Zum Abschluss dieses Beitrags muss ein Resümee aus der historischen Kontextualisierung des Datums und der Möglichkeit, neben der transzendenten eine transtranszendente Lesart stark zu machen, gezogen werden. Dem Platz geschuldet muss dieses möglichst kurz ausfallen. Ich beanspruche dennoch mit dem Geleis-

13 Vgl. hierzu auch Hegel später in der PhG: „Die Kraft des Geistes ist nur so groß als ihre Äußerung, seine Tiefe nur so tief, als er in seiner Auslegung sich auszubreiten und sich zu verteilen getraut“ (GW 9: 14).

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teten einen Punkt getroffen zu haben, der die Diskussion über die religionslinguistischen Idealtypen nicht abschließt, sondern anregt: Eine Schwalbe macht noch keinen Sommer, aber gibt doch einen Anhaltspunkt für den jahreszeitlichen Wechsel. Dementsprechend kann durch ein so kurzes Datum nicht das Paradigma der Religionslinguistik umgeworfen werden, allerdings ließen sich die Schlüsse aus dem oben Stehenden an weiteren Zeugnissen religiösen Sprachgebrauchs testen, vielleicht verfeinern und könnten so zur Weiterentwicklung der linguistischen Beschäftigung mit religiösem Sprachgebrauch konstruktiv beitragen. In diesem Sinne und unter der Hinsicht, dass sich in der Gegenüberstellung von Kapitel 1 und 2 zwei mögliche Interpretationen desselben Datums ohne eindeutiges Übergewicht seitens einer der beiden Lesarten abzeichneten, schlage ich als erstes Ergebnis vor, ein Kontinuum zwischen den Idealtypen der Religionslinguistik einzurichten, um Daten entsprechender Unentschiedenheit besser verstehen zu können. Diese können so als Zeugnisse von Verständigungen über Transzendentes offener als im Fall eines dreiwertigen Kategoriensystems analysiert werden. Aus diesem ersten Ergebnis heraus resultiert das zweite Ergebnis meiner kurzen Untersuchung: ein Vorschlag, wie die religionslinguistischen Idealtypen gemäß ihrer Neurelationierung inhaltlich neu miteinander vermittelt werden können. Dafür greife ich besonders auf den zuletzt behandelten Aspekt der Artikulation im Zusammenhang mit Transzendentem und so auf ein sprachtheoretisch ausgerichtetes Vermittlungszentrum der drei Typen zurück. In Bezug auf die verschiedenen Konzepte, Gott außer sich und Gott innerhalb der immanenten intellektuellen Welt zu suchen, schlage ich vor, künftig eine typisch transzendente Positionierung zu Transzendentem über die Vorstellung zu definieren, dass es ein inhaltlich wie formal artikulationsunabhängiges Definitivum gebe. Die Unabhängigkeit dieses infalliblen Definitivums von jeder Art von Kommunikation macht seinen absoluten, seinen transzendenten Charakter aus. Alle Vorgänge des Transzendierens sowie die davon unter Umständen angestoßenen Prozesse der Transzendierung (vgl. Lasch 2017: 248) lassen im subjektiv gemeinten Sinn der jeweiligen Akteure die Transzendenz selbst unberührt. Dieser Nullpunkt aller Koordinaten, so oft daran neu angeknüpft, so weit sich davon entfernt wird, stellt immer wieder die verheißene Heimat, die Ruhe der Exzentrik als Unwandelbares, als Definitivum neu in Aussicht. Im Anschluss daran ließe sich eine typisch non-transzendente Positionierung durch die Ablehnung eines infalliblen, also artikulationsunabhängigen Definitivums definieren. Jede Transkription, Adressierung und Lokalisierung (vgl. Jäger

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2004) kann das Definitivum aus seinem status quo¹⁴ heben: Definitiva gibt es also auch hier, nur eben nicht zeitlich unbegrenzt. Damit büßt diese Positionierung allerdings aber auch eine nicht-relative Teleologie ein: Kennt die transzendente Positionierung noch eine Heils- oder Unheilsgeschichte, so können sich die Handlungen aus einer non-transzendenten Positionierung an keinem jeder Artikulation übergeordneten Ziel orientieren. Eine typisch trans-transzendente Positionierung schlage ich unter diesen Vorzeichen von +/– Artikulationsunabhängigkeit und +/– nicht-relative Teleologie als Vermittlungsposition zwischen beiden zuerst genannten Positionierungen vor: Sie bringt eine fallibilistisch gestützte Aussicht auf immer längere Exzentriküberwindung zum Ausdruck. Die immer länger andauernde Exzentriküberwindung ist dort, unter Anknüpfung an den aktuell akut relevanten Diskurs der Romantik (vgl. Reckwitz 2012, v. a. Kap. 2.2 & 2013), dem unser Datum zuzuordnen ist, als unendliche Annäherung an ein absolutes Definitivum zu verstehen: Dieses ist hier die neue, die kommende Transzendenz, die der artikulierte Zweifel immer neu gebiert und die in diesem Moment des Zweifels wirklich vorausgesetzt wird und werden muss.

Primärliteratur Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1833/1971): Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie I. Frankfurt a. M.: Suhrkamp (Theorie-Werkausgabe; 18). Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1807/1988): Phänomenologie des Geistes. Neu herausgegeben von Hans-Friedrich Wessels und Heinrich Clairmont. Mit einer Einleitung von Wolfgang Bonsiepen. Hamburg: Felix Meiner. Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1795/96/1989): Ein positiver Glauben…In Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Frühe Schriften I. Herausgegeben von Friedhelm Nicolin und Gisela Schüler, 352–358. Hamburg: Felix Meiner (Gesammelte Werke; 1). Hölderlin, Johann Christian Friedrich (1796/1998a): Fragment philosophischer Briefe. In Johann Christian Friedrich Hölderlin, Theoretische Schriften. Mit einer Einleitung herausgegeben von Johann Kreuzer, 10–15. Hamburg: Felix Meiner. Hölderlin, Johann Christian Friedrich (1795/1998b): Seyn, Urtheil, …. In Johann Christian Friedrich Hölderlin, Theoretische Schriften. Mit einer Einleitung herausgegeben von Johann Kreuzer, 7–8. Hamburg: Felix Meiner.

14 Je länger es diesen Status erhalten kann, desto größer wird sein Potential, von den eigenen AnhängerInnen zu einem infalliblen Definitivum transformiert zu werden. Hier läge dann wieder ein Vorgang des Transzendierens mit potentiell darauf folgenden Prozessen der Transzendierung vor: So würde sich also eine non-transzendente zu einer transzendenten Positionierung wandeln.

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Jacobi, Friedrich Heinrich (1789/1980): An Immanuel Kant. In Friedrich Heinrich Jacobi, Werke. Dritter Band. Herausgegeben von Friedrich Roth und Friedrich Köppen. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft. 525–533. Jacobi, Friedrich Heinrich (1789/2000): Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Mendelssohn. Auf der Grundlage der Ausgabe von Klaus Hammacher und IrmgardMaria Piske bearbeitet von Marion Lauschke. Hamburg: Felix Meiner. Kant, Immanuel (1787/1904): Kritik der reinen Vernunft. 2. Aufl. In Immanuel Kant, Gesammelte Schriften. Band III. Herausgegeben von der Preussischen Akademie der Wissenschaften. Berlin: Reimer. Kant, Immanuel (1788/1913): Kritik der praktischen Vernunft. In Immanuel Kant, Gesammelte Schriften. Band V. Herausgegeben von der Preussischen Akademie der Wissenschaften, 1–163. Berlin: Reimer. Kant, Immanuel (1793/1914): Die Religion innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft. In Immanuel Kant, Gesammelte Schriften. Band VI. Herausgegeben von der Preussischen Akademie der Wissenschaften, 1–202. Berlin: Reimer. Lessing, Gotthold Ephraim (1777/1989): Über den Beweis des Geistes und der Kraft. In Gotthold Ephraim Lessing, Werke 1774–1778. Herausgegeben von Arno Schilson, 437–445. Frankfurt a. M.: Deutscher Klassiker Verlag (Gotthold Ephraim Lessing. Werke und Briefe in zwölf Bänden; 8). Ohne Autor (1796/97/1971): Das älteste Systemprogramm des deutschen Idealismus. In Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Werke 1. Frühe Schriften, 234–236. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1795/1965): Philosophische Briefe über Dogmatismus und Kritizismus. In Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Schellings Werke. Nach der Originalausgabe in neuer Anordnung herausgegeben von Manfred Schröter. Erster Hauptband. Jugendschriften 1793–1798, 205–265. München: C. H. Beck’sche Verlagshandlung (Münchner Jubiläumsausgabe; 1. Hauptband). Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph (1798/1965): Über Offenbarung und Volksunterricht. In Friedrich Wilhelm Josef Schelling, Schellings Werke. Nach der Originalausgabe in neuer Anordnung herausgegeben von Manfred Schröter. Erster Hauptband. Jugendschriften 1793–1798, 398–406. München: C. H. Beck’sche Verlagshandlung (Münchner Jubiläumsausgabe; 1. Hauptband). Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph: (1795/1965): Vom Ich als Princip der Philosophie oder über das Unbedingte im menschlichen Wissen. In Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, Schellings Werke. Nach der Originalausgabe in neuer Anordnung herausgegeben von Manfred Schröter. Erster Hauptband. Jugendschriften 1793–1798, 73–168. München: C. H. Beck’sche Verlagshandlung (Münchner Jubiläumsausgabe; 1. Hauptband).

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Neuformulierung der religionslinguistischen Idealtypen | 29

Lötscher, Andreas (1987): Text und Stilistik. Studien zur thematischen Konstituierung von Texten. Tübingen: Niemeyer. Plessner, Helmuth (1975): Die Stufen des Organischen und der Mensch. Einleitung in die philosophische Anthropologie. Dritte, unveränderte Auflage. Berlin, New York: De Gruyter. Plessner, Helmuth (1981): Untersuchungen zu einer Kritik der philosophischen Urteilskraft. In Helmuth Plessner: Gesammelte Schriften II. Frühe philosophische Schriften 2, 7–322. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. Reckwitz, Andreas (2012): Das hybride Subjekt. Eine Theorie der Subjektkulturen von der bürgerlichen Moderne zur Postmoderne. Zweite Auflage. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft. Reckwitz, Andreas (2013): Die Erfindung der Kreativität – Zum Prozess gesellschaftlicher Ästhetisierung. 3. Auflage. Berlin: Suhrkamp. Sandkaulen, Birgit (2002): „Was geht auf dem langen Wege vom Geist zum System nicht alles verloren“. Problematische Transformationen in der klassischen deutschen Philosophie. Deutsche Zeitschrift für Philosophie 50,3. 363–375. Weber, Max (1904/2018): Die „Objektivität“ sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis. In Max Weber, Zur Logik und Methodik der Sozialwissenschaften. Schriften 1900–1907. Herausgegeben von Gerhard Wagner, 142–234. Tübingen: J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) (Max Weber Gesamtausgabe; I/7).

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Alexander Lasch

Sendung. Auftrag und Ermächtigung 1 Einleitung Im vorliegenden Beitrag steht das Konzept der Sendung im Mittelpunkt – es wird ein religionslinguistischer Vorschlag für die Analyse sehr unterschiedlicher Begründungsstrategien für Sendung und Sendungsbewusstsein unterbreitet. Leitend ist dabei die Idee, dass sich nicht jeder Rückbezug auf (christliche) religiöse Schriften und Praxen gleichermaßen eignet, um politisch expansives Handeln religiös zu begründen. Zunächst wird das Konzept Sendung deshalb religionslinguistisch und politolinguistisch verortet, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen „Missionsbefehl“ und „Landverheißung“ herauszuarbeiten. In einem zweiten Schritt werden die Modellierungen im Kontext postkolonialer linguistischer Studien auf einen konkreten Gegenstand übertragen – Mission (Sendung als Auftrag) und Expansion (Sendung als Ermächtigung) in Nordamerika am Beispiel herrnhutischer Überlieferung aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In diesem Artikel werden diskriminierende Wörter oder Begriffe verwendet (vgl. exemplarisch Hoffmann 2020, Lasch 2019 und Lobenstein-Reichmann 2021). Sie wurden mit einem Asterisk gekennzeichnet zur kritischen Distanzierung. Diese Kennzeichnung wurde ausnahmslos auch auf Buchtitel und Zitate angewandt.

2 Sendung Einleitend wird sich dieser Beitrag vor exemplarischen Analysen mit dem Begriff und Konzept Sendung zu beschäftigen haben. Den Fokus legen wir auf die Aspekte, die im Kontext postkolonialer linguistischer Studien relevant werden. Andere Bedeutungsdimensionen können dagegen in diesem Beitrag nicht berücksichtigt werden. Im Mittelpunkt des Kapitels steht demzufolge die religionsund politolinguistische Auseinandersetzung mit Sendung (Kap. 2.2). Diese wird gerahmt zum einen durch Einordnungen in den Kontext des europäischen Expansionismus (Kap. 2.1) und zum anderen zu Expansion und Mission im Rahmen (post)kolonialer linguistischer Studien (Kap. 2.3).

https://doi.org/10.1515/9783110604696-003

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2.1 Europäischer Expansionismus Der Begriff ‚europäischer Expansionismus‘, der sich in der Forschung zunehmend durchsetzt, meint mehr als ‚Kolonialgeschichte‘. […] Immer deutlicher tritt […] die Bedeutung von Entwicklungen in den Vordergrund, die weit ins Mittelalter zurückreichen. Zwei dieser Entwicklungsstränge – den Kreuzzügen und den Frühformen kolonialer Politik der italienischen Seerepubliken, die sich mit dem Begriff ‚Protokolonialismus‘ charakterisieren lassen. Sie führen zu zwei völlig unterschiedlichen Bereichen von Bedingungsfaktoren des europäischen Expansionismus – zu religiös motivierten Militäraktionen und zu von Profitinteressen getragener Wirtschaftspolitik. (Mitterauer 2009: 199)

Im Kern ist der ‚europäische Expansionismus‘, so wie ihn Mitterauer prägt, Ausdruck und Gestalt eines spezifischen Sendungsbewusstseins, das, zunächst religiös aufgefasst und gelebt, auch zur Rechtfertigung politischen und militärischen Handelns dient. Der Begriff ist also in besonderem Maße geeignet, die enge Verflechtung zwischen religiösen und politischen Deutungsangeboten, Argumentationsketten und Handlungsbegründungen religionslinguistisch aufzudecken und in ihrer Relevanz für eine zu schreibende europäische Diskursgeschichte einzuordnen. Die Setzung von Mitterauer, nämlich von einem ‚Protokolonialismus‘ zu sprechen und damit eine weitere Antwort auf die Frage Max Webers nach einer eigenständigen kulturellen Entwicklung des Abendlands zu wagen, werden wir in unserem Kontext nicht kritisch würdigen, da wir in der Gegenstandsanalyse nicht ins 12. Jahrhundert zurückschauen werden (vgl. dazu aber Lasch 2012). Interessant ist vielmehr die Markierung der langen Tradition (post-)kolonialer Praktiken, die „– wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen“ (Mitterauer 2009: 8). Aus linguistischer Perspektive ist die Hypothese naheliegend, dass spezifische Denkfiguren und Sprachgebräuche eben jene Behauptung universeller Bedeutung und Gültigkeit etablieren, stabilisieren und schließlich perpetuieren halfen – eine der zentralen Prämissen der germanistischen Diskurslinguistik nach Foucault. Der Begriff der Sendung ist dabei im christlich geprägten Europa von ganz entscheidender Bedeutung, um diesen Zusammenhang ausleuchten zu können – und daher von besonderem religions- und politolinguistischem Interesse.

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2.2 Zum Konzept und Begriff Sendung ¹⁶ Aber die elf Jünger gingen nach Galiläa auf den Berg, wohin Jesus sie beschieden hatte. ¹⁷ Und als sie ihn sahen, fielen sie vor ihm nieder; einige aber zweifelten. ¹⁸ Und Jesus trat herzu, redete mit ihnen und sprach: Mir ist gegeben alle Gewalt im Himmel und auf Erden. ¹⁹ Darum gehet hin und lehret alle Völker: Taufet sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes ²⁰ und lehret sie halten alles, was ich euch befohlen habe. Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende. Mt 28,16–20 (Luther 2017, Hervorh. A. L.)

Nicht nur der so genannte „Missionsbefehl“, der bei Matthäus (hier nach Luther 2017) als direkte Rede Jesu Christi berichtet wird, kann im christlichen Abendland immer wieder argumentativer Ausgangspunkt für die Rechtfertigung politischer und militärischer Handlungen werden. Möglicherweise noch wirkmächtiger waren die Landverheißungen des Alten Testaments in der christlichen Tradition, wie nicht nur Mitterauers Blick auf die protokolonialistischen Kreuzzüge nahelegt, u. a. auf der Basis von Gen 26,3: ² Da erschien ihm [sc. Issak] der HERR und sprach: Zieh nicht hinab nach Ägypten, sondern bleibe in dem Lande, das ich dir sage. ³ Bleibe als Fremdling in diesem Lande, und ich will mit dir sein und dich segnen; denn dir und deinen Nachkommen will ich alle diese Länder geben und will meinen Eid wahr machen, den ich deinem Vater Abraham geschworen habe, ⁴ und will deine Nachkommen mehren wie die Sterne am Himmel und will deinen Nachkommen alle diese Länder geben. Gen 26,2–4 (Luther 2017, Hervorh. A. L.)

In der Verheißung wird, wie beim Missionsbefehl, direkte Rede Gottes zitiert, die in der christlichen Tradition zur Rede vom verheißenen oder gelobten Land gerinnt: [S]eit der Zeit Martin Luthers wird [in diesem Zusammenhang] statt vom ‚verheißenen Land‘ auch vom ‚gelobten Land‘ gesprochen; dadurch wird insbesondere betont, dass Gott seine Verheißung des Landes mit einem Schwur bekräftigt hat (vgl. 1. Mose 26,3). (EKD, UEK & VELKD 2012: 16. Hervorh. A. L.)¹

Die Prägungen verheißenes Land und gelobtes Land, und darauf werden wir neben dem Missionsbefehl im Folgenden einzugehen haben, sind kategorial durchaus zu scheiden und religions- (Kap. 2.2.1) wie politolinguistisch (Kap. 2.2.2) einzuordnen.

1 Tatsächlich lässt sich diese recht pauschale Einordnung zumindest tendenziell durch das Metakorpus des Deutschen Textarchivs (DTA-Kernkorpus und Erweiterungen) für das 16. Jahrhundert bestätigen (vgl. DTA_001).

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2.2.1 Direktiva und Kommissiva in der Verkündigung Die diesem Artikel zugrundeliegende religionslinguistische Kommunikationstypologie geht von den zentralen Handlungsformen Verkündigung und Verehrung in Vergegenwärtigung aus (vgl. Lasch 2011; Lasch & Liebert 2014). Diese sind für die Kommunikation in sozialen Gruppen dann relevant, wenn sie auf Jenseitiges, nicht Fassbares, Transzendentes Bezug nehmen: Sowohl der Missionsbefehl Jesu Christi, charismatische Mittlerfigur im Neuen Testament, wie die durch Schwur bekräftigte Landverheißung Gottes als transzendente Macht im Alten Testament werden in religiösen Gruppen verhandelt. In diesen Gruppen verantworten, tradieren und beglaubigen Verwalter:innen, in den christlichen Religionen sind dies in der Regel Priester:innen und Prediger:innen, die Verkündigung an Stelle der Mittlerfiguren – besonders im Fall der Landverheißung lässt sich diese Arbeit an der Tradition in zwei Paulusbriefen direkt nachvollziehen, doch dazu später. Gemeinsam mit einer religiösen Gemeinschaft verehren Priester:innen eine Gottheit und vergegenwärtigen sich im Vollzug von diskursiven (z. B. Predigt) und rituellen Handlungen (z. B. Abendmahlsfeier) der Gemeinschaft und ihrer Glaubensinhalte und Werte. In diesem Spannungsfeld sind Missionsbefehl und gelobte Landverheißung in hunderten Jahren der Tradition zu denken. Sprechakttheoretisch ist der Missionsbefehl schon als solcher bezeichnet – es handelt sich um einen direktiven Sprechakt, der zur Ausbreitung des christlichen Glaubens durch Lehre und Taufe auffordert, in dem alle Christ:innen zu jenen hingehen sollen, die weder christlich unterwiesen, noch getauft sind: Alle Angehörigen der Glaubensgemeinschaft sind durch die Taufe gesendet zur Taufe. Das direkt wiedergegebene Wort des Propheten Jesus Christus ist zentraler Bestandteil der Verkündigung in der Taufliturgie aller christlichen Kirchen, womit in jeder vollzogenen Taufe Jesus Christus als Prophet, die Geschichte aller christlichen Taufen und explizit auch die Aussendung zur Unterweisung und Taufe rituell vergegenwärtigt werden und damit einen Kern der christlichen Ideenlehre sowohl fokussieren, als auch stabilisieren. Eine Umdeutung oder Reinterpretation der Worte Christi, die nicht auf ihn als Mittlerfigur zurückführt, ist damit wesentlich erschwert, wenn nicht gar ausgeschlossen. Ganz anders verhält es sich mit den Landverheißungen des Alten Testaments. Sie sind rituell in Verkündigung, Verehrung und Vergegenwärtigung nicht verankert, sondern werden ausschnitthaft als Teile der biblischen Ursprungsgeschichten aus der Genesis als Lese- und Lehrtext in der christlichen Unterweisung oder Predigt in ihrem historischen Kontext zitiert, der für die christliche Lehre keinesfalls die gleiche Bedeutung hat wie für den jüdischen Glauben und die jüdische Geschichte. Die fehlende rituelle Verankerung und die Historizität der Geschichten, die mit dem Vollzug christlichen Glaubens nur noch lose in Verbindung zu

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Abb. 1: Religionslinguistische Kommunikationstypologie (Grafik folgt der Darstellung in Schindler 2019).

stehen scheinen, öffnen die Landverheißungen in der christlichen Tradition für Umdeutungen, Neubewertungen, metaphorische Übertragung durch Interpretation (vgl. EKD, UED & VELKD 2012). Eine der neutestamentlichen Grundlagen dafür, und damit schon eine dieser Interpretationen, liefert Paulus im Brief an die Galater, der die Einheit aller Erben Abrahams in Jesus Christus herausstellt: ²⁸ Hier ist nicht Jude noch Grieche, hier ist nicht Sklave noch Freier, hier ist nicht Mann noch Frau; denn ihr seid allesamt einer in Christus Jesus. ²⁹ Gehört ihr aber Christus an, so seid ihr ja Abrahams Nachkommen und nach der Verheißung Erben. Gal 3,28–29 (Luther 2017, Hervorh. A. L.)

Eine zweite Setzung nimmt er im Brief an die Römer vor: ¹³ Denn die Verheißung, dass er der Erbe der Welt sein sollte, ist Abraham oder seinen Nachkommen nicht zuteilgeworden durchs Gesetz, sondern durch die Gerechtigkeit des Glaubens. Röm 4,13 (Luther 2017)

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Durch den Glauben an den Gott Abrahams gilt die Verheißung, nicht durch ein Gesetz. Die Frage „Wenn die, die an Gott glauben, Erben der Welt sind, ist ihnen dann nicht jedes Land verheißen?“ wird demzufolge im Verlauf der letzten 21 Jahrhunderte immer wieder neu gestellt und neu beantwortet – allerdings in nicht eben wenigen Fällen zur Rechtfertigung politischer und militärischer Unterwerfung. Die Selbstverpflichtung Gottes in Gen 26,2–4, ein kommissiver Sprechakt, die Landverheißung nämlich zu geloben, und die neutestamentlichen Interpretationen bei Paulus bieten dafür argumentativ sehr gute Voraussetzungen. Als kommissiver, göttlicher Sprechakt ist er in der Auslegung Ausgangspunkt, um diesseitige und jenseitige Orte als verheißene oder gelobte Länder zu deklarieren. Die überlieferte göttliche Verheißung wird mit einem deklarativen Sprechakt dazu genutzt, um sprachlich eine spezifische Wirklichkeit als gültig auszuweisen, die dann nicht selten politisch und militärisch erst hergestellt wird: Die, die an Gott glauben, könnte man zusammenfassen, sind Erben der Welt. Anders als im Missionsbefehl ist die Sendung in einem ersten Argumentationsschritt der gelobten Verheißung (Datum [Argument]¹) und Deklaration (Konklusion [Schlussfolgerung]¹) aber noch nicht einmal angelegt, sondern folgt erst in einem zweiten Argumentationsschritt der Deklaration (Datum²) als eine Konklusion² unter vielen denkbaren anderen Alternativen (wie z. B. der Reflexion über die eigene gesellschaftliche Verfasstheit, kultureller Austausch usw.) (zur Argumentationslogik nach Toulmin vgl. Niehr 2017: 169–170). Sendung kann im religionslinguistischen Sinne und mit dem Fokus auf postkoloniale linguistische Studien also als Konzept begriffen werden, das sprachlich begründet auf explizitem Missionsbefehl und/oder auf dem komplexen Argumentationszusammenhang Verheißung – Deklaration / Deklaration – Sendung aufruht, der alt- und neutestamentlich gestützt ist. Letzterer ist in besonderem Maße der interpretativen Deutung zugänglich, da er zum einen der Interpretation, bspw. durch Einbettung in rituelle Vollzüge, nicht entzogen ist, und zum anderen je nach historischer Situation auf je unterschiedliche diesseitige und jenseitige Orte bezogen werden kann.

2.2.2 Politolinguistische Einordnung Wenn besonders der zweischrittige Argumentationszusammenhang (1) Verheißung → Deklaration und (2) Deklaration → Sendung der Deutung zugänglich ist, dann ist zu erwarten, dass dieser nicht nur im Kontext der religiösen Verkündigung, sondern auch in der Begründung politischen Handelns eine tragende Rolle spielt. Mitterauer (2009) setzte bei der Erläuterung seines Konzepts des „europäischen Expansionismus“ u. a. bei den Kreuzzügen an, die er als ‚religiös

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motivierte Militäraktionen‘ kategorisierte. Wie wirkmächtig der skizzierte Argumentationszusammenhang genau in dieser historischen Situation war, kann man sich an der mittellateinischen Formel Deus (lo) vult! für ‚Gott will es!‘ vor Augen halten. Die Antwort auf den Aufruf in der Predigt zur Befreiung Jerusalems, einer Verkündigung durch den Stellvertreter Christi auf Erden, Urban II. (1035–1099, Papst ab 1088), Ende 1095 durch die Teilnehmer auf der Synode von Clermont, ist Ausdruck einer Interpretationsleistung. Aus der ‚gelobten Landverheißung‘ (Datum¹) in Gen 26, 3 und der argumentativ bereits verfestigten Deklaration Palästinas als verheißenes Land (Konklusion¹/Datum²) wird der Auftrag zur Sendung (Konklusion²) geschlossen mit der Begründung, dass Gott dies so wolle, wenn er die Verheißung schon gelobt habe (Datum¹). Die hier explizierte Begründung – im Argumentationszusammenhang ist dies die Schlussregel (SR) (vgl. erneut Niehr 2017: 169–170) – ist selbst nur interpretativer Schluss und Zuweisung an die transzendente Macht, die sich dazu nicht verhalten kann, und steht für den gesamten Argumentationszusammenhang, der als Initial der Kreuzzüge gilt. Die Brisanz des Beispiels aus heutiger Sicht – der Stellvertreter Christi auf Erden legitimiert einen militärischen Eroberungszug – ist im historischen Kontext durchaus differenzierter zu betrachten. Allerdings kann es prototypisch stehen für die enge Verzahnung religiösen und politischen Handelns, das über lange Jahrhunderte in Europa, wenn überhaupt, häufig nur analytisch zu unterscheiden ist. Um diese Setzung vornehmen zu können, ist ein Blick auf die Frage, was Politik sei und was die Politolinguistik oder eine an der Domäne des Politischen interessierte Diskurslinguistik darunter versteht, nicht unerheblich. Eine leistungsfähigere Definition von Politik „– im Vergleich zu anderen Vorschlägen, so Girnth (2015: 2) –“ findet sich bei Strauß [u. a.] (1989: 29): Vielmehr sehen wir Politik als in sich differenzierten Großbereich der Kommunikation, in dem über Angelegenheiten öffentlichen Interesses gehandelt wird, in dem Meinungen gefaßt werden und Prozesse ablaufen, die der Herstellung und Durchsetzung verbindlicher oder auch umstrittener gesellschaftlicher Entscheidungen dienen.

Politisches Handeln ist hier als Handeln in „Angelegenheiten öffentlichen Interesses“ zur „Herstellung und Durchsetzung […] gesellschaftlicher Entscheidungen“ aufgefasst und greift damit sehr viel weiter aus als engere politikwissenschaftliche Bestimmungen. Im Begriff der Durchsetzung scheint zweierlei durch, was für unseren Zusammenhang der Sendung relevant wird. Um die Welt deuten zu können und gesellschaftlich relevante Entscheidungen herbeizuführen, müssen Akteur:innen im politischen Handlungsfeld zum einen in der Lage sein, in der öffentlichen Auseinandersetzung für gesellschaftliche Gestaltung zu werben:

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Demnach beziehen politische Akteure Stellung zu bestimmten Themen, indem sie aus der Perspektive auf Situationsdaten verweisen, Bewertungen der Situationsdaten vornehmen, leitende Prinzipien oder Werte anführen, Ziele benennen und Konsequenzen des thematischen Handels oder auch der Daten, Bewertungen, Prinzipien und Ziele hinweisen. (Girnth 2015: 33 in Bezug auf Klein 2003)

Zum anderen aber müssen sie in der Lage sein, Gesellschaft zu gestalten: Wie für die anderen gesellschaftlichen Funktionssysteme (Wirtschaft, Recht, Wissenschaft, Religion) ist bei Luhmann auch der Politik ein „symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium“ zugeordnet, und zwar das Medium Macht, das mit seinem Kode der Unterscheidung von Machthabern und Machtuntergebenen bestimmte Erwartungen und entsprechende Handlungen wahrscheinlich macht. (Holly 2017: 6)

Auch wenn man unterstellen mag, dass Urban II. eine durchaus nicht unerhebliche weltliche Machtbasis hatte, hätte er 1095 nicht die Möglichkeiten gehabt, nach Deklaration und Sendungsaufruf die Eroberung des verheißenen Landes militärisch durchzusetzen. Das musste er allerdings auch nicht, denn seine politische Macht rührt aus dem unumschränkten Weltdeutungsanspruch als Stellvertreter Christi her, der militärische Operationen durch Sprachhandlungen (vgl. dazu Holly 2017) initiiert und religiös legitimiert. Dieser für das 11. Jahrhundert und noch viele Jahrhunderte danach häufig nicht unterscheidbare Zusammenhang von Religion und Politik in Europa verliert ab dem Zeitalter der Konfessionalisierung zwar immer stärker an Bindungskraft, was jedoch nicht heißt, dass der Argumentationszusammenhang nicht mehr für militärische Operationen genutzt würde. Auch wenn die Kirchen in späterer Zeit nicht mehr selbst zum Krieg aufrufen oder Krieg führen, so haben sie doch nicht zu unterschätzenden Einfluss auf weltliche Herrscher:innen, die das Machtmonopol innehaben. Denn diese bedienen sich häufig des dargelegten Argumentationsmusters, um militärische und von der Kirche legitimierte Operationen zu rechtfertigen, bis sich auch dieser Zusammenhang historisch auflöst. In der modernen Gegenwart ermächtigen sich Machthaber:innen selbst, um mit dem deutungsoffenen Argumentationszusammenhang (1) Verheißung → Deklaration und (2) Deklaration → Sendung politisches Handeln zu legitimieren. Die Beispielkette ist endlos und reicht (leider) bis in die jüngste Gegenwart wie die Rechtfertigung des Angriffskriegs Putin-Russlands auf die Ukraine.

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2.3 Mission als Auftrag, Expansion als Ermächtigung Sendung bezieht sich im hier skizzierten Aufriss auf zweierlei Phänomene – (1) die biblisch begründete und im wiederkehrenden Ritual der Taufe verankerte Sendung zur Mission und (2) die Sendung zur Inbesitznahme des verheißenen oder gelobten Landes als Konklusion aus einem komplexen Argumentationszusammenhang (1) Verheißung → Deklaration und (2) Deklaration → Sendung. Diese beiden auf den ersten Blick sehr ähnlich erscheinenden Konzepte sind kategorial höchst unterschiedlich, wenn man sie, wie gesehen, sprechhandlungslogisch analysiert und religionslinguistisch kategorisiert. Der ‚Missionsbefehl‘ ist direktiver Sprechakt Jesu Christi und genereller Natur, rituell eingebunden und Deutungen nicht zugänglich. Er wirkt performativ, wird im Ritual bestätigt und dort als einer der Aufträge christlicher Kirchen immer wieder erneuert. Im Kontext des „europäischen Expansionismus“ entfaltet der ‚Missionsbefehl‘ nicht die verheerende Wirkung wie die Aneignung des Argumentationszusammenhangs von der Eroberung des verheißenen und gelobten Landes; Ausnahmen wie die „Gewaltmission“ der Sachsen (772–804) durch den um 800 zum christlichen Kaiser gekrönten Karl den Großen (747/748–814) bestätigen eher die Regel (Becher 2013: 321). Der Argumentationszusammenhang (1) Verheißung → Deklaration und (2) Deklaration → Sendung ist anders als der ‚Missionsbefehl‘ in seiner Deutung nicht beschränkt, sondern, im Gegenteil, auch durch die neutestamentlichen Setzungen durch Paulus dieser gerade offen zugänglich. Urban II. bezog sich 1095 auf das alttestamentliche verheißene Land; spätere Machthaber:innen Europas deklarieren andere verheißene Länder, zu denen sie sich durch Gott gesendet sehen, und schließlich wird der Argumentationszusammenhang zu einem der zentralen Topoi für die Rechtfertigung für die Kolonisierung der Welt im kommunikativen Haushalt des christlichen Europas, zu der sich Europa selbst ermächtigt – der kommissive Sprechakt Gottes in Gen 26,3 sagt ja weder etwas über seinen Willen, noch über seine Absicht oder notwendige Konsequenzen aus. All dies wird argumentativ verarbeitet (über eine z. B. 1095 explizierte) Schlussregel, einer Zuweisung an die Transzendenz, die dieser Zuweisung nicht widersprechen wird: ‚Gott will es‘. Diese beiden Aspekte von Sendung sind zwei Seiten einer Medaille, ohne die europäischer (Proto-)Kolonialismus nicht zu verstehen oder zu erklären ist: Expansion und Mission. Mission begleitet Expansion und umgekehrt, beide Bewegungen sind verstrickt in dunkle Phasen der ‚Entdeckung‘, Unterwerfung und Ausbeutung anderer, außereuropäischer Kulturformationen. Aus sprachwissenschaftlicher Perspektive sind dabei neben der religionslinguistischen Fundierung der Mission und Expansion z. B. auch die sprachliche Konstitution des Wissens über das Andere und sprachliche Wertungen in Narrationen, die unser Weltbild

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bis heute prägen, interessante Gegenstände. Die (post-)koloniale Linguistik (beginnend z. B. mit Warnke 2009, Schmidt-Brücken et al. 2015 sowie Stolz & Warnke & Schmidt-Brücken 2016) bedient sich dafür des methodischen Inventars einer germanistischen Diskurslinguistik und behält die Perspektiven einer kritischen Diskursanalyse im Blick. So wird der Blick geöffnet für Formen der Herabsetzung auf der Basis von Heterostereotypen bis zu ausgrenzendem bis vernichtendem Rassismus (Lasch 2019, Hoffmann 2020 oder jüngst Lobenstein-Reichmann 2022), die im Argumentationszusammenhang (1) Verheißung → Deklaration und (2) Deklaration → Sendung nicht selten die entscheidende Schlussregel (‚Gott will es‘) stützen. Weitere zentrale Ansatzpunkte sind deshalb auch Othering und Decentering. Othering (Begriff nach Spivak 1985) zielt auf eine (kommunikative) Praxis, in der Andere von einem Wir abgekoppelt und stigmatisiert werden. In diesem Zusammenhang kann Decentering besonders relevant werden. In wissenschaftlichen Kontexten ist damit die Erweiterung einer zentrierten Perspektive gemeint. In der (Sozio-)Linguistik kann dies zum Beispiel bedeuten, dass Gruppen, die außerhalb einer etablierten Diskursgemeinschaft stehen, eine Stimme bekommen. Obwohl die Religionslinguistik einen sehr engen Bezug zur Missionarslinguistik (vgl. z. B. Zimmermann & Kellermeier-Rehbein 2015) hat, die Kodifizierungsversuche indigener Sprachen durch sogenannte ‚Missionarslinguisten‘ zum Zwecke der Verkündigung beobachtet und die daraus resultierenden sprachlichen Artefakte beschreibt, blenden wir diesen Aspekt in diesem Beitrag aus.

3 Nordamerika als gelobtes Land Nach der theoretischen Auseinandersetzung mit dem Konzept Sendung wenden wir uns in der Analyse einem historischen Beispiel aus der herrnhutischen Überlieferung zu, das geeignet ist, beide Aspekte von Sendung zu analysieren. Die Herrnhuter Brüdergemeine ist eine pietistische Gemeinschafts-gründung des 18. Jahrhunderts (vgl. Meyer 2021 und Vogt 2022 im Detail und im Kontext des Pietismus übergreifend Breul 2021), die früh Missionen in verschiedensten Teilen der Welt etablierte (vgl. u. a. Vogt 2021 und Lasch 2009) und schnell mit Kulturkreisen in Berührung kam, über die in Europa zu diesem Zeitpunkt meist nur wenig bekannt war. Da die Brüdergemeine viel aus und über die Missionsgebiete publizierte, trug sie maßgeblich zu dem Bild bei, das in der europäischen Öffentlichkeit über weite Teile der Welt entstand: Sie bringt eines der zentralen Archive europäischen Wissens hervor. Auf der Basis herrnhutischer Quellen wenden wir uns nach einer kurzen Charakterisierung der politischen Verhältnisse an der Ostküste Nordamerikas zum einen der herrnhutischen Missionstheologie zu (Kap.3.1)

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und zum anderen dem Zusammenhang zwischen Mission und Expansion, wie er sich in herrnhutischen Missionsnarrativen entfaltet (Kap. 3.2). Die Geschichte Nordamerikas in der zweiten Hälfte des 18. und im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts ist äußerst wechselhaft und ereignisreich; und die Herrnhuter dokumentieren sie in vielfältiger Weise. Zum äußeren Rahmen gehört: Nach dem Ende des britisch-französischen Kolonialkriegs steigt zum einen Großbritannien gegen seinen Konkurrenten Frankreich zur dominierenden Kolonialmacht in Nordamerika auf, während beinahe zeitgleich der amerikanische Unabhängigkeitskrieg, für den die Boston Tea Party (1773) als wichtige Initialzündung gilt, beginnt. 1783 erkennt Großbritannien die Unabhängigkeit der Vereinigten Staaten von Amerika (1776) an. Damit hat sich die junge Nation endgültig von der ‚alten Welt‘ politisch emanzipiert, auch wenn der Prozess der Amerikanischen Revolution (1763–1787/88) zu diesem Zeitpunkt noch lange nicht abgeschlossen ist (vgl. Depkat 2008: 213–219) – es ist eine Nation im Entstehen mit den damit verbundenen gewaltsamen Konflikten. Erst 1787 wurde die Verfassung der Vereinigten Staaten verabschiedet, nach der George Washington (1732–1799, Präsident 1789– 1797) und Thomas Jefferson (1743–1826, Präsident 1801–1809) die innere Entwicklung der USA vorantreiben konnten (vgl. Baillie 1998 und Depkat 2008); Sklaverei und das Verhältnis von Bundesmacht und Einzelstaaten waren die drängendsten Probleme in den frühen Jahren (vgl. Depkat 2008: 2019). Während die USA außenpolitisch einen Kurs der Neutralität verfolgen (Monroe-Doktrin, 1823), schreiten die Besiedlung des Westens und die Staatenbildung nach dem Louisiana-Kauf von Frankreich 1803 unter Jeffersons Präsidentschaft rasch voran. Zu den Gründungsstaaten an der Ostküste des nordamerikanischen Kontinents gesellen sich bis 1821 Vermont (1791), Kentucky (1792), Tennessee (1796), Ohio (1803), Louisiana (1812), Indiana (1816), Mississippi (1817), Illinois (1818), Alabama (1819), Maine (1820) und Missouri (1821). Erst 1836 wurde auch Arkansas als Staat aus dem Landkauf von Louisiana gegründet (siehe Depkat 2008: 43–46). Mit der Gründung neuer Staaten wird die sogenannte „frontier“, die Grenze zwischen den Staaten und dem Gebiet der Native Americans, immer weiter nach Westen verschoben (vgl. Heideking & Mauch 2006: 1–132). Das ganze 19. Jahrhundert hindurch bestand die Politik der Vereinigten Staaten darin, das Territorium der Natives zu verkleinern und/oder weiter nach Westen zu verschieben. 1824 wurde das Bureau of *Indian Affairs (BIA) gegründet, das bis 1849 dem Kriegsministerium unterstellt war und zunehmend Einfluss auf die Selbstverwaltung der Natives nahm (vgl. Carter 1976: 13, 70, 85). Auch die „fünf zivilisierten Nationen“ (Cherokee, Chickasaw, Choctaw, Muskogee [Creek] und Seminole), die seit 1820 ein an die Lebensweise der Kolonist:innen angepasstes Regierungssystem nach dem Vorbild der Vereinigten Staaten (Chief, Rat, Repräsentantenhaus) etabliert hatten, wurden zunehmend eingeschränkt. Trauriger Höhepunkt dieser Verdrängungspolitik ist der Kurswechsel

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zur Vertreibungspolitik mit dem Resettlement Act (*Indian Removal Bill) unter der Präsidentschaft von Andrew Jackson (1767–1845, Präs. 1829–1837) am 28. Mai 1830 (vgl. insb. Carter 1976: 96–108, 112–113 und 116–117). Es ermächtigte den Präsidenten, die östlich des Mississippi lebenden Natives in Gebiete westlich der Grenze umzusiedeln. Die Deportation der Cherokee wurde in den darauffolgenden Jahren durchgesetzt und geht als eines der dunkelsten Kapitel in die Geschichte der USA als Trail of Tears (1838 und 1839) ein. Die Natives wurden ihres traditionellen Lebensraums beraubt und in neu eingerichtete Reservate im so genannten *Indian Territory im heutigen Oklahoma verlegt. Während der Umsiedlung und in den kargen Reservaten verloren Tausende Natives ihr Leben (siehe Carter 1976 und weiterführend Fitzgerald & King 2007). Die Geschichte der Herrnhutischen Mission unter den Natives spiegelt diese politischen Hintergründe unmittelbar wider. Herrnhutische Quellen offenbaren Unterdrückung und Anpassung der Natives ebenso wie die Verbundenheit der missionierenden Herrnhuter, die sich auf den Missionsbefehl berufen, mit den Natives (Mission). Sie bieten aber auch ein beunruhigend klares Bild auf die Kultur und die Lebenspraxen der Natives und die Rolle der Amerikaner bei deren Niedergang (Expansion) und weisen Positionierungen auf, anhand derer man deutlich abzulesen vermag, wer die Herrnhuter und ihre Mitglieder fördert oder bedroht, wer der Mission wohlgesonnen ist oder schadet, wer für den Frieden auf einem Missionsfeld eintritt oder die politische Eskalation bis hin zum Krieg fördert.

3.1 Grundlagen herrnhutischer Missionstheologie Die von Nikolaus Ludwig, Reichsgraf von Zinzendorf (1700–1760) (vgl. Wesseling 1998, Atwood 2021: 194–195) im frühen 18. Jahrhundert im ostsächsischen Herrnhut gegründete und innerhalb weniger Jahrzehnte den Globus umspannende Herrnhuter Brüdergemeine ist eine pietistische Gemeinschaft, die in einzigartiger Weise Wissen über die Welt nach Europa bringt. Ihre Quellen bieten einen hervorragenden Zugang für die interdisziplinäre Forschung, um Forschungsthemen aus verschiedenen wissenschaftlichen Perspektiven und die globalen Auswirkungen des europäischen Expansionismus zu verstehen. Zugleich bieten ihre Quellen eine Möglichkeit, die europäische Perspektive auf die Welt zu dezentrieren. Die Herrnhuter geraten in den 1720er und 1730er Jahren aufgrund ihrer theologischen Prämissen und der praktischen Umsetzung des Glaubens in Opposition zum halleschen Pietismus einerseits und zur lutherischen Orthodoxie Sachsens andererseits (vgl. Meyer 1995: 20 und 2000: 18, vgl. auch Beyreuther 1962). Das wird spätestens mit der Ausweisung August Gottlieb Spangenbergs (1704–1792) (vgl. Meyer 1995: 62; Springlane 1995; Reichel 1906: 62–81) aus Halle 1733 und der

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Einsetzung einer ersten kurfürstlichen Untersuchungskommission um 1732 überdeutlich. Für Zinzendorf persönlich hatten diese Auseinandersetzungen in den 1730er Jahren zur Folge, dass er ins Exil gehen musste, was er jedoch als Auftrag zur Verbreitung seiner Gemeinschaft interpretierte (vgl. Atwood 2021: 189– 190). Darin sind die Anfänge der Herrnhutischen Mission zu sehen; Zinzendorf verstand die Gemeinschaft als „Pilgergemeine“. Der biblische Missionsbefehl Jesu Christi, der in der Herrnhutischen Theologie im Zentrum steht, wird konsequent angenommen und umgesetzt: Bereits 1732 werden Leonard Dober (1706– 1766) und David Nitschmann (1703–1779) nach Westindien entsandt, woraufhin sich die missionarische Tätigkeit der Herrnhuter rasant entwickelt. Missionare werden nach Grönland (1733), Nordamerika (1734), Südamerika (1735) und Südafrika (1737) geschickt (vgl. Academy of Fulneck 1853 und Lasch 2009). Das Missionsfeld wächst also bis zum Ende des 18. Jahrhunderts schnell (vgl. Vogt 2021), doch die Ausbildung der Missionare ist lange Zeit zweitrangig. In den ersten Jahren machte man sich ohne finanzielle Absicherung oder Sprachkenntnisse, ohne Ausbildung für die Arbeit in den Missionsgebieten und ohne missionstheologische Unterweisung auf den Weg – und berichtet aus der Mission. Diese Informationen werden zunächst handschriftlich überliefert und sie sind wichtige Quellen für die angehenden Missionare; sie werden abgeschrieben und weitergegeben (Reinke 1840: 887). Spangenberg legt dann in den 1780ern zwei missionstheologische Schriften vor, nämlich Von der Arbeit der evangelischen Brüder unter den Heiden (1782) und Unterricht für die Brüder und Schwestern, welche unter den Heiden am Evangelio dienen (1784). Der Tenor der Anordnungen lautet: Die Missionare sind Fremde und verhalten sich entsprechend tolerant gegenüber den Einwohnern, loyal und gehorsam gegenüber der Obrigkeit. Die Beobachtung und Akzeptanz der bestehenden Verhältnisse, der kulturellen Eigenheiten und der Mentalität der Bewohner sind die Grundlage der missionarischen Tätigkeit. Missionare sollen sich von den kulturellen Eigenheiten, Sitten und Gebräuchen der Bewohner nicht abschrecken lassen, sondern vor allem mit Geduld auf eine „Verbesserung“ hinarbeiten. Das gilt auch für die Bekehrung, die auch auf den Missionsfeldern als Gnadengeschenk betrachtet wird: „Denn die Bekehrung der Heiden ist Gotteswerk“ (Spangenberg 1782: §37). Die Missionare machen die Einwohner:innen mit der Heiligen Schrift vertraut, bemühen sich, die Sprache der Landesbewohner:innen zu erlernen und sie auch zu kodifizieren. Solange dies nicht geschehen sei, „lehren die Brüder [...] mit ihrem Wandel“ (Spangenberg 1782: §39), also ihrem Verhalten. Am Beginn der Missionsarbeit stehen stets die Sicherung des Lebensunterhalts und die Schaffung der Grundlagen für ein stabiles soziales Miteinander an erster Stelle. Die Missionare unterrichten Kinder, versorgen Kranke. Sie sind seelsorgerisch tätig, kümmern sich um Witwen und Waisen und schützen Familien. Wenn dergestalt an einem Posten eine stabile Ge-

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meinschaft etabliert werden kann, sollen die Missionare sie in Chöre einteilen und sich um den Bau einer Kirche für die Versammlungen bemühen. Auf diese Weise entstehen Ortsgemeinden, die noch heute die Kulturlandschaft zahlreicher europäischer Länder und amerikanischer Staaten und ehemaliger Kolonien architektonisch prägen (vgl. Harasimowicz 2004: 466–470, hier 466). In den Versammlungen predigen die Missionare den liebenden Gott, „immer denselben Christum“, der am Kreuz für die Vergebung der Sünden gestorben ist (Spangenberg 1782: §47) und sie tun dies „einfältig“ und „ungekünstelt“ (Spangenberg 1782: §50). Spangenbergs Grundsätze bilden den Grundstein der Missionstheologie und gelten im Wesentlichen auch für das 19. Jahrhundert, wie die Kurzgefaßte Darstellung des dermaligen inneren und äußeren Zustandes der Missionen der evangelischen Brüder=Gemeine (1820) in den Kapiteln „Erforderliche Eigenschaften der Missionarien und Berufung derselben“ und „Methode der Brüder bey der Verkündigung des Evangelii, wie auch bey der Leitung und Pflege der Seelen unter den Heiden“ zeigt. Die Schriften Spangenbergs werden außerdem von verschiedenen Missionsgeschichten flankiert. Dazu gehören z. B. die Historie von Grönland (Cranz 1765), die Geschichte der Mission der evangelischen Brüder auf den carabischen Inseln (Oldendorp 1777/1995) und die Geschichte der Mission der evangelischen Brüder unter den *Indianern in Nordamerika (Loskiel 1789/1990) mit Übersetzungen wie History of the Moravian Mission among the North American *Indians (Latrobe 1794). Ab 1817 werden Berichte aus den Missionen gedruckt und jährlich in den Beyträgen zur Erbauung aus der Brüder-Gemeine (BBG) und später in den Nachrichten aus der Brüder-Gemeine (NBG) veröffentlicht; in England sind die Periodical Accounts Relating to the Missions of the Church of the United Brethren (Periodical Accounts) bereits Ende des 18. Jahrhunderts verfügbar. Dem Druck gehen handschriftliche Vorläufer (ab 1765 fortlaufend) voraus. Die Herrnhutische Mission ist, ausgehend von dem Sendungsbewusstsein, das Zinzendorf der Gemeine als „Pilgermeine“ einschreibt, zum einen gelebter Missionsbefehl, der in der Nachfolge Christi zu verstehen ist: Sie gehen hin und lehren alle Völker. Sie taufen sie auf den Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes und lehren sie halten alles, was Christus befohlen hat. Denn, und das ist eine zentrale Prämisse in der Herrnhutischen Theologie, er ist bei Ihnen alle Tage bis an der Welt Ende (vgl. Mt 28,16–20 nach Luther 2017). Zum anderen jedoch, und zwar sobald man, ausgesendet, das christliche Europa verlässt, greift die oben skizzierte Verzahnung von Mission und Expansion, zu der sich auch Herrnhut verhalten muss und deshalb besonders im 19. Jahrhundert in die Kritik gerät, die sich auch auf die Haltung der Gemeinschaft in den Missionsgebieten bezieht. Für die Westindischen Inseln beispielsweise stellte Spangenberg 1782 besondere Regeln auf, um den Plantagenbesitzern die Angst zu nehmen, dass Sklaven durch Bildung ihre Lage in besonderem Maße verdeutlicht werde

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und sie zur Rebellion ermuntert werden könnten: „Wir wollen [...] immer darauf sehen, daß sie sich von Herzen zu Jesu bekennen. Denn wenn das geschieht, so werden sie nicht nur klüger, sondern auch besser.“ (Spangenberg 1782: §32) Wo man missioniere, so Spangenberg weiter, werde man sich nicht in die Geschäfte der herrschenden europäischen Minorität einmischen, außerdem solle den Sklaven stets die gottgefällige Knechtschaft gepredigt werden. Diese Sichtweise aus dem 18. Jahrhundert mag heute verstören, aber man muss sich zweierlei daran deutlich machen. Vielleicht ist es schon als Errungenschaft zu werten, dass Versklavten Lesen und Schreiben beigebracht und grundlegende medizinische Versorgung ermöglicht wurde, vielleicht leistet man damit einen Beitrag zur Emanzipation und Befreiung der Sklaven im 19. Jahrhundert. Zum anderen war man auf die Zustimmung der herrschenden europäischen Minorität angewiesen; eine Infragestellung der neuen, expansiv agierenden Herren konnte das Ende der Missionsbemühungen bedeuten. Ob Spangenbergs Antwort auf die Vorbehalte der Sklavenhalter Westindiens (und Südamerikas) deshalb nicht auch doppeldeutig zu lesen ist, muss hier offenbleiben. Für die Herrnhuter ist es jedenfalls typisch, dass sie sich in besonderer Weise an diejenigen wenden, die zu ihrer von der Gnade Gottes erwählten Gemeinschaft gehören. Dabei spielt es keine Rolle, ob Native Americans, aus Afrika verschleppte Sklaven oder Erben mitteleuropäischen Handwerks angesprochen werden – wer in die Gemeinschaft aufgenommen wird, ist Bruder oder Schwester. Trotz alledem ist zu konstatieren, dass auch unter strengem Rückbezug auf den Missionsbefehl, den die Herrnhuter exemplarisch vorleben und umsetzen, Mission immer mit Expansion und Expansion mit Mission in enger Korrelation steht, inklusive der Auffassung, dass Kolonisierung stets eine wie auch immer geartete Besserung von Europa aus in die Welt bringe, was ein typischer Ausdruck für die Superioritätsauffassung ist, die dem europäischen Expansionismus von Anfang an eingeschrieben ist (vgl. Lasch 2019).

3.2 Mission und Expansion in den herrnhutischen Missionsnarrationen David Zeisberger (1721–1808) ist nicht nur einer der bekanntesten Missionare der Herrnhuter unter den Native Americans im 18. Jahrhundert – am bekanntesten sind vielleicht seine nordamerikanischen Tagebücher (1772–1781, hrsg. von Wellenreuther & Wessel 1995) –, sondern ab 1739 auch ganz wesentlich mit verantwortlich für die Etablierung der Herrnhuter in Pennsylvania. Seine Arbeiten sind als Gegenstand (post-)kolonialer linguistischer Studien zu identifizieren (vgl. zum Kontext Stolz & Warnke & Schmidt-Brücken 2016; Zimmermann & Kellermeier-

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Rehbein 2015) und bisher unter dieser Perspektive nur unzureichend erschlossen. Dabei ist der sprachbegabte Zeisberger für eine historische Linguistik besonders interessant. Denn er erlernt während seiner Missionstätigkeit verschiedene Sprachen der Indigenen, die er grammatisch und lexikographisch dokumentiert, wie er in einem Brief, der in den handschriftlichen Gemein-Nachrichten verbreitet wird, an Gotthold Reichel schreibt: Noch kann ich etwas schreiben und da ist die *indianische Sprache meine Hauptbeschäftigung, worin ich immer ein besonderes Vergnügen gehabt habe. Das gehört auch dazu: eine Sprache zu lernen und je mehr man hineinkommt, desto mehr Lust kriegt man. (Zeisberger 1806, 16–17)

Aus diesem knappen Briefzitat tritt nicht nur Zeisbergers lebenslange Begeisterung für die Sprachen der Natives kurz vor seinem Lebensende in Goshen (Ohio) am Muskingum heraus, sondern auch sein Einsatz für die Mission und das Interesse an der Kultur der Natives sind beinahe greifbar. Noch deutlicher wird das in anderen Texten, wie etwa im „Bericht von Br. David Zeisbergers Reise mit den *Jndianer Brüdern Isaac u. Wilhelm zu den Schawanosen“, der, über 30 Jahre früher, 1774, als Abschrift in den handschriftlichen Gemein-Nachrichten weitergegeben worden ist und der jetzt genauer analysiert werden soll (nachdem er in einem bürgerwissenschaftlichen Workshop zur Kurrentschrift erschlossen wurde; MKN_001). Zeisberger beabsichtigt auf der Reise von Schönbrunn über Gnadenhütten nach Geckelemuckpechünk (Zeisberger 1774: 720) mit verschiedenen Chiefs der Natives über die Missionsarbeit der Herrnhuter ins Gespräch zu kommen:² Sowol Jsaack als ich, sprachen verschiedenes mit Whyte Eye, & auch mit unter manches Wörtgen vom Heiland. Whyte Eye ist ein Capitain & Chief & ein verständiger Mann, von welchen Jsaack der sein bester Freund gewesen, & ihn daher gut kennt, glaubt, daß, wenn derselbe nur einmal von der Wahrheit überzeugt würde, so würde ihn auch niemand leicht wieder abwendig machen. Jch gab ihm auch einen Begriff von der Brüder=Arbeit unter den *Jndianern & sagte ihm, daß wir nichts anders suchten als der *Jndianer ewiges Wohl & Seligkeit. (Zeisberger 1774: 722)

Das jedoch zieht z. B. Gischenetsy, Shawano-Chief, in Zweifel (725–727): Vermutlich kommt dieser her /: wobey er auf mich Br. David wieß:/ & will uns gute Worte sagen. […] Aber auf eben die Weise haben es die weisen Leute gemacht, so lange ich sie kenne. Sie sagen uns immer von ihren großen Verstand & Weisheit vor, den sie von oben her

2 In den Zitaten sind die Graphien für s homogenisiert und Abkürzungen aufgelöst. Einzelne Eigenwilligkeiten (z. B. Kasusrektion oder Wortstellungen) werden hingegen erhalten.

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bekommen hätten, betrügen uns aber dabey nach aller ihrer Lust, denn sie halten uns vor Narren & Unwißende & elende Leute, welches auch zum Theil wahr ist. Weil nun die weisen Leute unsre Schwächen & Unvermögen kennen; so behalten sie, immer eine gewiße Oberhand über uns, & es ist ihnen was leichtes, den *Jndianern, bey alle dem, daß sie dieselben betrügen, weiß zu machen, sie meynten es gut mit mit ihnen. Wenn sie Rum in unsre Towns bringen; so bieten sie den *Jndianern so lange davon an, bis sie närrisch werden, & sich wie verrückte Leute auf führen. Dann stehen sie da, zeigen mit fingern auf uns & sprechen zu einander, indem sie uns aus lachen: Seht was für Narren die Shawanosen sind. Aber, wer macht sie so närrisch? wer ist Schuld daran? Er wieß auf mich [sc. David Zeisberger] & sagte: ‚der, & seines gleichen die sind es; & dabey sagen sie uns immer gute Worte auf diese Weise: Seht, so & so ƒind wir von Gott gelehret, der hat uns solchen Verstand gegeben, der der *Jndianer ihren weit übertrifft. Die *Jndianer zu betrügen, sie um ihr Land, Haab & Gut zu bringen, das ist die große Weisheit, die sie besitzen. […] So habe ich es noch jederzeit gefunden, daß die weisen Leute Gutes reden wenn sie im Herzen böses & arges über die *Jndianer denken, ja wol gar schon beschloßen haben.[‘] Das war ohngefehr der Jnnhalt, aber noch lange nicht, die Hälfte seiner Rede.

Gischenetsy adressiert den europäischen Expansionismus unverblümt. Die „weißen Leute“ nutzen ‚solchen, von Gott gegebenen, Verstand‘, um die Natives um ihre Lebensgrundlagen zu bringen – sie ‚reden Gutes‘ und ‚denken Böses und Arges‘ und nutzen Gottes Lehre dafür als Vorwand. Zeisberger erwidert (728–731): Darauf sagte ich zu Jhm: ‚Bruder! Jch sehe; daß du uns, die wir uns die Brüder nennen, noch gar nicht kennst, & zwischen uns & den weißen Leuten keinen Unterschied machst, welches ich Dir wegen deiner Unwißenheit nicht verarge. Daher will ich dir jezo sagen, was wir für ein Volck sind. Wir Brüder sind schon 30. Jahr unter den *Jndianern, & niemand kan uns mit Recht nachsagen, daß wir dieselben über vortheilt, betrogen & verführt hätten. Unsre ganze Absicht & Zweck zielt dahin, die *Jndianer mit unserm Gott bekannt zu machen, und ihnen den rechten Weg zum ewigen Leben, den sie nicht wißen, zu zeigen. Wir suchen weder ihr Land, noch Felle, noch Geld, noch Reichthum, sondern nur ihr Zeitliches & ewiges Wohlseyn zu befördern. Das wißen alle die uns kennen. Ich muß dir aber auch sagen, daß es zweyerley Sorten Menschen gibt. Es gibt gute und Böse, Kinder=Gottes & Kinder des Satans & Verderbens, Gläubige & Ungläubige, solche die in der Welt schon selig sind, & solche die ohne Gott in der Welt leben, & deren Vergnügen darinn besteht, nur böses zu thun. Wer nun im Unglauben beharret, der gehet verloren. Du must nun nicht denken, daß ich & meine Brüder solche Schawonaks sind, wie du sie oft hier siehest. Viele weiße Leute wißen & lesen die Schrift, & sehen den Willen Gottes gut ein; aber nicht alle thun & leben darnach. Weil nun die *Jndianer gar nichts von Gott & seinem Worte wißen, & nie dasselbe gehört haben: so sind die weißen Leute die ich genennt habe nicht beßer, sondern noch schlechter als die *Jndianer. […] [D]is Wort von Seinem Leiden & Sterben haben wir, auf Seinen Befehl an alle Nationen zu bringen, weil Er gnädig ist, & niemand will verloren gehen laßen.

Dem Vorwurf Gischenetsys, dass sich ausnahmslos alle „weißen Leute“ expansiv die Lebensgrundlagen der Natives aneigneten, entgegnet Zeisberger, dass „die Brüder“ nicht mit den „Schawonaks“ zu vergleichen wären, „wie du sie oft hier

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siehest“. Zeisberger spricht als Europäer nicht nur wie Gischenetsy von „den weißen Leuten“, sondern nutzt mit „Schawonaks“ einen Begriff der Natives, um sie zu charakterisieren. Bei Georg Heinrich Loskiel (1789/1990) findet man später dafür eine Erläuterung (vgl. dazu auch Lasch im Druck): Getaufte Natives wurden für den sonntäglichen Kirchenbesuch „von den übrigen [Natives] eben so öffentlich gehaßt und Sonntags–*Jndianer, auch wol Schwonnaks, das ist, weiße Leute, genannt, welches der ärgste Schimpfname seyn sollte.“ (Loskiel 1789/1990: 542–543) Politolinguistisch ist eine solche Benennungspraxis mit Wengeler (2017: 26, nach Burkhardt) als negativ bewertendes Schlagwort zu beschreiben: „Schawonaks“ ist ein Schimpfwort ebenso wie „weiße Leute“ als eine verfestigte Mehrworteinheit für die „Europäer“. Zeisberger gibt in seinem Bericht Gischenetsy nicht nur eine Stimme, sondern er übernimmt in seinen Sprachgebrauch auch sprachliche Abwertungen von den Natives – beides sind deutliche Hinweise auf eine dezentrierte Diskursposition: Mit den sprachlichen Abwertungen, einer Praxis des Otherings, positioniert sich Zeisberger eindeutig auf der Seite der Natives, um dem Missionsbefehl, dem er sich explizit verpflichtet sieht – „dis Wort von Seinem Leiden & Sterben haben wir, auf Seinen Befehl an alle Nationen zu bringen“ – und den er in seiner Antwort ausbreitet, buchstäblich folgen zu können. Gemäß der Missionstheologie, wie sie für die Herrnhuter kurz dargelegt worden ist, unterscheidet Zeisberger nicht zwischen Natives und „weißen Leuten“ – das ist die übliche Kategorisierung im Mehrheitsdiskurs –, sondern „zweyerley Sorten Menschen“, jene, „die in der Welt schon selig sind, & solche die ohne Gott in der Welt leben“, aber von ihm wissen – das sind die Anderen, die Zeisberger mit „Schawonaks“ adressiert und zu denen er sich und „die Brüder“ explizit nicht rechnet. „Sie“, so ergänzt der bereits getaufte Isaac in Zeisbergers Brief, „wandeln auch so, wie sie uns lehren, & wir haben nie etwas schlechtes an ihnen gesehen, wie wir es an andern weisen Leuten sehen, von denen viele nicht besser als die *Jndianer sind.“ (737) Dennoch ist die Brüdergemeine mit ihren Bestrebungen trotz Rückbezug auf den „Missionsbefehl“ Teil eines europäischen kolonialen Systems. Was „gut“ und was „böse“ sei, hängt schließlich von einem europäischen, christozentrischen Weltbild ab, das das Leitkonzept für alle Menschen dieser Erde ist, ob sie wollen, oder nicht. Allerdings: Wir dringen uns aber auch niemand auf. Denn wer uns nicht hört & unser Zeugniß nicht annimt, den laßen wir stehen & laßen ihn seinen freyen Willen, entweder selig zu werden, oder verloren zu gehen. Nur finden wir uns schuldig & verbunden, das Evangelium zu predigen, & wenn man uns an einem Orte nicht hören will so gehn wir wieder. (Zeisberger 1774: 731)

Gleichwohl, und das legten nicht nur die einführenden Überlegen nahe, sondern machen die von tiefem Misstrauen geprägten Worte von Gischenetsy überdeut-

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lich (Zeisberger 1774: 725–727), wird Nordamerika für die Siedler:innen aus Europa das gelobte Land, the promised land. Dieser Aspekt von Sendung bezieht sich immer wieder auf die Landverheißungen und ist auch für die Bestrebungen der herrnhutischen Mission gefährlich. Die Expansion der sendungsbewussten europäischen Siedler:innen richtet sich nämlich nicht nur gegen andere Weiße, nämlich z. B. die frühere französische und dann die britische Kolonialmacht, sondern führt auch zur Vertreibung und Vernichtung der Native Americans, wie das Beispiel eines Berichts über das so genannte (zweite) Gnadenhütten-Massaker von 1782 zeigt (Loskiel 1789/1990: 760): Die Regierung in Pittsburg hatte für billig erachtet, die gläubigen *Jndianer, die nebst dem Bruder Schebosch im vorigen Jahre in Schönbrunn von den Amerikanern gefangen und nach Pittsburg geführt worden, wieder in Freiheit zu setzen. Sie kamen auch im Frühjahr dieses Jahrs [1782] glücklich in Sandusky an [...]. Dieses menschliche Betragen der Regierung in Pittsburg verdroß jene Amerikaner, von welchen schon mehrmals angezeigt worden, daß sie Amerika für das gelobte Land, und die *Jndianer für Cananiter hielten, die schlechterdings ausgerottet werden müßen.

Loskiel macht mehr als deutlich, auf welcher Seite er und die Herrnhuter stehen. „Diesem menschlichen Betragen“ der britischen Regierung steht das unmenschliche Verhalten jener „Amerikaner“ – „Um der Deutlichkeit willen nenne ich die Großbrittannischen Truppen und Anhänger Engländer, die jetzigen Freystaaten aber und deren Truppen und Anhänger Amerikaner“ (Loskiel 1789/1990: 634) – gegenüber, die den im amerikanischen christlichen Fundamentalismus bis heute verbreiteten Topos des gelobten Landes (vgl. Brockschmidt 2021) als Argument zur Rechtfertigung der Vertreibung und Ausrottung der Native Americans verwenden: Sie bezeichnen sie als Canaaniten, d. h. als eines der Völker Kanaans, die die Israeliten auf Gottes Befehl hin vernichten (Dtn 20,10–18 und Josua 20). Die „Amerikaner“ sind Teil jener „Schawonaks“, auf die auch Zeisberger zeigte. Noch schärfer als Loskiel weist Latrobe 1794 auf den seiner Ansicht nach verwerflichen christlich begründeten Fundamentalismus hin, der zu den Waffen auch gegen die Natives greift, die, um es klar zu sagen, durch die Taufe bereits Christen sind (wie in Gnadenhütten). Was Latrobe (1794: 176) in der Übersetzung Loskiels hier in textliche Form gießt, ist die argumentative Rechtfertigung dessen, was die soziologische Forschung „Vernichtungsrassismus“ nennt (vgl. Fredrickson 2011: 233 nach Taguieff): The humans behavior of the [british] Governor at Pittsburg greatly incensed those people, who, according to the account given the forther Part of this History, represented the *Jndians as Canaanites, who without mercy ought to be destroyed from the face of the earth, and considered America as the land of promise given to the Christians.

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4 Zusammenfassung In der Analyse historischer Missionsnarrationen herrnhutischer Provenienz wird augenscheinlich, wie eng Mission als Auftrag und Expansion als Ermächtigung verzahnt sein können. Während sich die Mission auf den neutestamentlichen Missionsbefehl bezieht, der wenig Interpretationsspielraum belässt, beziehen sich politische und militärische Expansionen auf die Interpretationen zugänglicheren alttestamentlichen Landverheißungen, die neutestamentlich metaphorisch erweitert worden sind. Sendung, so wird deutlich, ist in erstem Fall ein Auftrag, im zweiten Fall eine Ermächtigung, die den komplexen Argumentationszusammenhang (1) Verheißung → Deklaration und (2) Deklaration → Sendung ausnutzt. Dieser ist in besonderem Maße der interpretativen Deutung zugänglich, da er, anders als der Missionsbefehl, nicht in rituelle Vollzüge eingebettet ist – und somit für die Begründung politischen Handelns herangezogen werden kann.

Nachweise digitaler Ressourcen DTA_001: https://www.dwds.de/r/?q=near%28gelobt%2C+Land%2C+5%29&corpus=dtae (letzter Zugriff: 23.08.2022). MKN_001: https://dhh.hypotheses.org/655 (letzter Zugriff: 23.08.2022).

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| Teil II: Gegenwartssprachliche Themenstellungen

Vedad Smailagić

Die islamische Freitagspredigt im deutschsprachigen Kontext 1 Einleitung In diesem Beitrag geht es um eine mehrdimensionale sprachwissenschaftliche Beschreibung der islamischen Freitagspredigt, die als eine besondere Gattung islamischer Reden zu verstehen ist und die man allesamt mit dem arabischen Wort Khutba bezeichnen kann. Alle islamischen Khutben lassen sich nach Jones in drei Gruppen einteilen: 1) liturgische Predigten (liturgical preaching und pulpit oratory), zu der auch die Freitagspredigt als obligatorischer und zentraler Teil des islamischen Freitagsgottesdienstes gehört sowie die Predigten zu den beiden großen islamischen Festen (ʿīds) oder bei Feiern von Heiligengeburtstagen (mawlids) und bei weiteren besonderen Anlässen, 2) nichtliturgische mahnende Predigten (hortatory preaching) und 3) homiletische Erzählungen von Geschichten (homiletic storytelling) (Jones 2012: 9). Die genannte mehrdimensionale Beschreibung der islamischen Freitagspredigt, die ich an einer anderen Stelle als eine neue und sich etablierende Textsorte des Deutschen sehe (Smailagić 2021: 32), erfolgt hier im deutschsprachigen Kontext und umfasst textexterne, thematisch-strukturelle und funktionale Aspekte der Freitagspredigt. Allein zur Illustration einiger thematischer und semantisch-struktureller Aspekte der Freitagspredigt im deutschen Kontext habe ich ein Korpus aus 20 ausgewählten deutschsprachigen Predigten zweier Prediger (arab.: Khatib) erstellt: Es handelt sich um 10 deutschsprachige Predigten des Frankfurter Imams Mohammed Johari¹ mit Migrationshintergrund und 10 deutschsprachige Predigten des deutschen Konvertiten Marcel Krass² aus Hannover. In Tabelle 1 sind die Themen der Freitagspredigten der deutschsprachigen muslimischen Gemeinden aus Frankfurt und Hannover mit den entsprechenden Zeiträumen aufgeführt. Alle diese Freitagspredigten sind über YouTube aufrufbar:

1 Diese Predigten stammen vom Verein Islamische Informations- und Serviceleistungen e. V. und werden auf dem offiziellen YouTube-Kanal veröffentlich: https://www.youtube.com/user/iisevDE/videos (Belege #212-#221). 2 Diese Khutben stammen vom Verein Föderale Islamische Union https://islamische-union.de/ und werden auf dem offiziellen YouTube-Kanal veröffentlicht: https://www.youtube.com/channel/UCCFZPTqvDZN7_XwA4XIlBkQ/videos. https://doi.org/10.1515/9783110604696-004

58 | Vedad Smailagić Tab. 1: Korpus mit Themen und Zeiträumen. Gemeinde in Frankfurt (2/2020–6/2021)

Gemeinde in Hannover (7/2020–5/2021)

Glücklichsein mit dem Bestimmten Sei wie ein Fremder oder Reisender Hanau Malcolm X Prüfungsmanagement Coronavirus Fazit des Ramadan Allah, der Allmächtige Sei ein Gottverbundener Rassismus und Diskriminierung Dankbarkeit für den Segen der Sinne und des Herzens

Die Frau, die ihre Stimme gegen den Propheten (saw) erhoben hat. Anstrengung auf dem Wege Allahs, so wie es ihm gebührt Die Ehre der Gläubigen Das werde ich morgen erledigen Rufe zum Weg deines Herrn Derjenige, der Allah nur am Rande dient. Wie der Shaitan uns attackiert Teil 1 Wie der Shaitan uns attackiert Teil 2 Wie der Shaitan uns attackiert Teil 3 Die Lage der Muslime

Dazu habe ich noch 13 ursprünglich arabisch- und türkischsprachige Khutben teilweise berücksichtigt, die der Journalist Constantin Schreiber in seinem Buch Inside Islam. Was in Deutschlands Moscheen gepredigt wird (Schreiber 2017) zunächst ins Deutsche übersetzte, dann deren Inhalt mit Fachleuten und mit einigen dieser Prediger direkt besprach und zum Schluss jede einzelne Freitagspredigt hinsichtlich unterschiedlicher Aspekte kommentierte. Da aber diese Freitagspredigten nicht in deutscher Sprache gehalten wurden, beschränkt sich ihre Relevanz lediglich auf thematische Aspekte der Predigten.

2 Islamische Freitagspredigt in den bisherigen Untersuchungen In der einschlägigen deutschsprachigen Literatur gibt es kaum nennenswerte sprachwissenschaftliche Untersuchungen zur Freitagspredigt, aber in englischer Sprache finden sich einige interessante und ergebnisreiche Dissertationen oder kürzere Abhandlungen zu unterschiedlichen Aspekten der Freitagspredigt, die sich grob in zwei Gruppen einteilen lassen: 1) Untersuchungen in mehrheitlich islamischen Ländern wie Jordanien (Antoun 1989; Madanat 2016; Madanat 2019), Ägypten (Gaffney 1994) oder Malaysia (Ibrahim 2016), oder 2) Untersuchungen in den westlichen Ländern wie Italien (Sbai 2019) oder den USA (Hashem 2010), in denen Musliminnen und Muslime soziale, religiöse und ethnische Minderheiten sind.

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Abgesehen von Ibrahim (2016), die in ihrer Dissertation 55 Predigten des Department of Islamic Development Malaysia (JAKIM) vor allem aus der Perspektive ihres theologischen Nutzens für die aktuelle malaysische islamische Gesellschaft analysiert, sind die anderen Untersuchungen in den islamischen Ländern typische ethnologische, jedoch nicht unbedingt oder nicht primär linguistische Feldstudien, die sich teilweise auch über einige Jahrzehnte hinzogen und die islamische Lebensweise in ehemaligen Kolonien erforschten. So findet sich bei Antoun (1989: 126–153) eine ausführliche ethnologische Untersuchung des islamischen Lebens in den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, in der er in der kulturanthropologischen Tradition von einer Fallstudie ausgehend induktiv auf die allgemeinen Phänomene islamischer religiöser Tradition schließt. Konkret stand bei Antouns Untersuchungen ein Prediger in einem jordanischen Dorf im Fokus, den er jahrelang begleitete und dessen Predigten er unter einem bestimmten thematischen Schwerpunkt beobachtete, nämlich: Wie können die lokalen Dorfprediger mit ihren Predigten die Modernisierungen und die Entwicklung des Landes thematisieren oder gar vorantreiben. Diese vor allem anthropologische, inhaltsbezogene Untersuchung von Wissens- und Arbeits-Topoi in den Freitagspredigten des Dorfimams ergab für Antoun die Funktion der Ermutigungen und Aufforderungen an die Gemeinde zur Modernisierung durch Bildung und Arbeit. Diese Untersuchung von inhaltlichen Aspekten der Khutba in einem – zumindest aus der Perspektive des Westens der 60er Jahre rückständigen – jordanischen Dorf ergänzte Antoun um die Analyse eines textexternen Merkmals der Khutba, das in aller Regel textintern begründet wird: die Freiheit der Themenwahl – im Vergleich etwa zu Ägypten zu der Zeit, wo die Freiheit der Themenwahl stark eingeschränkt war (Antoun 1989: 139–140). Antouns Arbeit wird von Madanat (2016) in seiner Dissertation fortgesetzt, der nach der Untersuchung der meinungsbildenden Funktion der Khutba in der jordanischen Öffentlichkeit zu folgendem Fazit kommt: Friday congregational sermon represents the centerpiece of the mosque’s function; the medium through which different actors (preacher, audience, State, law as institution, worshippers and society at large) interrelate to convey or receive messages of religious essence and worldly influence. (Madanat 2016: 254)

Seine weiteren Schlussfolgerungen (Madanat 2016: 254–261), die sich konkret auf die thematischen und rhetorischen Aspekte der Khutba in der damaligen politischen Lage in Jordanien beziehen, lassen sich folgenderweise zusammenfassen: Die spirituelle Essenz und die religiösen Inhalte der Khutba sind als Interpretationsvorlage bzw. framing tool, für die weltlichen Belange zu verstehen, die unter anderem aufgrund ihres islamischen Charakters vor jedweden Unterstel-

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lungen seitens der öffentlichen Akteure wie bspw. der Politik, der Medien, oder der Muslim-Brüder den Prediger und die unparteiischen Gläubigen schützen sollen. Gaffney (1994) ließ sich ebenfalls durch Antouns Arbeiten inspirieren und erforschte die Freitagspredigten in Oberägypten in der südlichen Minya-Region und insbesondere ihren Einfluss auf die öffentliche Meinung sowie ihre Bedeutung bei der Entstehung von Basisorganisationen und von Führungspersonal für die breite islamistische Agenda in den Jahren des Aufstiegs des islamischen Fundamentalismus. Auch in den westlichen Ländern, wo Musliminnen und Muslime eine soziale Minderheit und häufig Menschen mit Migrationshintergrund sind, wurden in den einschlägigen Untersuchungen primär die inhaltlichen Aspekte der Freitagspredigten erforscht. So ging Hashem (2010) bei seiner Untersuchung von Khutben im Süden Kaliforniens zwei Fragen nach: 1) Wie wird die Umma, die islamische Weltgemeinschaft, in den Khutben projiziert?; und 2) inwiefern haben die Khutben einen zivilen Charakter? Am Ende kam er zu der Schlussfolgerung, dass die Khutben unter den Musliminnen und Muslimen in Südkalifornien, sowohl Immigranten als auch Einheimischen, der Identifikation mit den islamischen Werten in der lokalen amerikanischen Realität dienen. Hashem konnte feststellen, dass in vielen Khutben Ermutigungen und Aufforderungen zur Teilnahme am gemeinsamen gesellschaftlichen Leben aller Bürger gepredigt werden (Hashem 2010: 55), worin er den Beweis für den zivilen oder auch säkularen neben dem sakralen Charakter der Freitagspedigt sieht: „Furthermore, the content analysis of khutbas shows that the khutbas simultaneously stand for a religious practice and a civil discourse“ (Hashem 2010: 56). Sbai (2019) untersucht in seinem Aufsatz einige Aspekte der Freitagspredigt in Italien und unter anderem auch ihre diskursive Leistung in einem Land ohne zentrale islamische Autorität, wie es in den islamischen Ländern üblicherweise der Fall ist. Dieser islamische Dezentralismus ist auch im deutschen Kontext wichtig, weil immer dort, wo Musliminnen und Muslime religiöse Minderheit sind, vor allem im Westen, mangels einer Zentral- oder Dachinstitution und dank der demokratischen und freiheitlichen politischen Ordnung die Prediger scheinbar die Freiheit genießen, ihre Predigten thematisch, diskursiv und rhetorisch nach ihrem eigenen Willen zu gestalten. Sbai zeigt aber am Beispiel italienischer Freitagspredigten aus dem ganzen Land, dass trotz der Möglichkeit der freien Meinungsäußerung die Gemeindevorsteher und die Gemeinde selber in der Regel auch eine Art Autozensur verhängen, vor allem wenn es um Themen ihrer islamischen Herkunftsländer geht (Sbai 2019: 7–12), jedoch nicht bei den Themen ihrer Gastländer. Die Politik der Herkunftsländer wird auch in den Predigten meines Korpus außen vor gelassen. Diesen ersten und kurzen Überblick über die einschlägige Forschung zu Freitagspredigten schließe ich mit dem Verweis auf die Arbeit von Jones (2012) ab,

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die sich in ihrer Dissertation und später in ihrem Buch mit islamischen Predigten auf der Iberischen Halbinsel in der maurischen Zeit zwischen dem 11. und 15. Jahrhundert intensiv beschäftigt hat. Sie hat anhand von historischen Predigten selber oder anhand von historischen Handbüchern insbesondere die rituelljuristischen und rhetorisch-ästhetischen Merkmale zur Gestaltung von Khutben erforscht, und sie schließlich unter dem grobstrukturalen, symbolischen und rhetorischen Aspekt an zwei Fallstudien historischer Khutben aus dem muslimischen Spanien analysiert. Unter anderem konnte sie dort zeigen, dass sich islamische Gelehrte jener Zeit vor allem mit präskriptiven und funktionalistischen im Sinne der Einwirkung auf die Gläubigen und weniger mit strukturalistischen Gattungsaspekten von Khutben auseinandergesetzt haben (Jones 2012).

3 Textexterne Merkmale der Freitagspredigt Dieser erste oben skizzierte Überblick von einschlägigen wissenschaftlichen Publikationen zu Freitagspredigten in westlichen und in mehrheitlich islamischen Ländern, zu denen auch das Spanien im Zeitraum zwischen dem 9. und dem 15. Jahrhundert gehört, lässt schon einige wichtige textexterne Merkmale erkennen, auf die in allen Untersuchungen immer eingegangen wird und die sich daher als bedeutende Textmerkmale der Freitagspredigt ergeben: 1) der institutionelle Charakter der Freitagspredigt, 2) der Prediger als charismatischer Textproduzent mit einer Agenda, der er als Mitglied einer institutionalisierten bzw. pseudoinstitutionalisierten Berufsgruppe der Prediger in seinen persönlichen Freitagspredigten folgt und 3) die Freiheit der Themenwahl. Denn unabhängig davon, ob es um Khutben im islamischen Osten oder im Westen geht, ist ihr institutioneller Charakter die Ursache dafür, dass die Freiheit bei der Themenwahl überhaupt eine Rolle spielt, was der Prediger als Angestellter in vielen islamischen Ländern, seltener auch im westlichen Ausland, stets zu berücksichtigen hat. Manchmal unterstehen die Prediger wie in den traditionellen oder mehrheitlich islamischen Ländern einer zentralen islamischen Behörde (z. B. in Ägypten), manchmal einer zentralen gesetzlich geregelten Nichtregierungsinstitution (z. B. in BosnienHerzegowina) und im Westen werden sie in der Regel von einer vereinsähnlichen islamischen Organisation angestellt, unterstehen dadurch dem Vereinsvorstand und sind somit auf die Finanzierung durch die Mitgliederbeiträge angewiesen. Die Freiheit bei der Themenwahl ist für die Untersuchung von deutschsprachigen Predigten insofern wichtig, als in Deutschland einerseits Imame aus dem

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islamischen Ausland nach Deutschland³ entsandt und sicher auch von den Institutionen ihrer Heimatländer kontrolliert werden und somit nicht richtig frei sind, während andererseits die zahlreichen unabhängigen islamischen Gemeinden in Deutschland ihren Prediger selber auswählen, ihn durch Mitgliederbeiträge finanzieren, aber keinerlei ideologischen oder politischen Einfluss auf die Themen der Predigten⁴ haben – abgesehen von einem restriktiven Umgang mit den alltagspolitischen Themen in den islamischen Herkunftsländern, was schon für die Predigten in Italien gezeigt werden konnte (Sbai 2019). Das Letzte ist der Fall bei den Gemeinden und den beiden Predigern, deren Predigten ich für einige Aspekte meiner Ausführungen hier heranziehe: Die beiden Prediger bestimmen selber, worüber sie predigen und wie sie das Thema in ihren Freitagspredigten angehen bzw. welche Lehre und welche Meinung sie vor der Gemeinde vortragen. Dabei darf nicht außer Acht gelassen werden, dass jeder Prediger eines Charismas, einer besonderen Ausstrahlungskraft, bedarf, um seiner Rolle des Stellvertreters des Kalifen (Pedersen 2012) gerecht zu werden und damit die charismatische Autorität des Propheten Mohammed zu repräsentieren (Jones 2012: 257). Und schließlich ist den obigen Ausführungen ein viertes Merkmal der islamischen Freitagspredigt zu entnehmen, das stärker funktional-thematisch definiert werden kann: 4) ein sowohl transzendenter als auch immanenter, ziviler bzw. säkularer Charakter der Freitagspredigt, auf den ich später noch zurückkommen werde. Wir können also weltweit von freien und unfreien, meist institutionell kontrollierten Predigern und Freitagspredigten sprechen, die in einer längst kodifizierten Form und Rhetorik gehalten werden. Außerdem sind auch weitere textexterne Merkmale der Freitagspredigt zu nennen: die Freitagspredigt findet immer nur freitags und zwar zur lokalen Mittagszeit statt, die sich von Ort zu Ort und von Jahreszeit zu Jahreszeit unterscheidet: So muss sie bspw. am 1. Januar in Aachen zwischen 12:44 und 14:29 Uhr und in Berlin zwischen 12:15 und 13:52 stattfinden, und am 1. Juli in Aachen zwischen 13:45 und 18:05, in Berlin aber zwischen 13:16 und 17:39 – Zeiten, die sich geographisch und jahreszeitlich unterscheiden und astronomisch genauestens berechnet werden müssen. Eine Freitagspredigt kann in der Regel zwischen 10 bis über 30 Minuten dauern, was bei den Predigten meines Korpus der Fall ist. Dieser Hinweis auf die zeitliche Länge der Ansprache hat vor allem mit den kognitiven Fähigkeiten der Gemeindemitglieder zu tun, einer Pflichtansprache mit teilweise neuen, unterweisenden, zu reflektierenden oder

3 Einen guten Überblick über die Geschichte der muslimischen Präsenz in Deutschland und ihrer heutigen Organisation finden wir in Lemmen (2017), siehe hierzu auch sehr informativ Schreiber (2017). 4 Es ist nicht auszuschließen, dass es Prediger gibt, die in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet werden und sich deshalb eine Selbstzensur auferlegen.

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auffordernden Inhalten zuzuhören, wobei in Deutschland all das am Freitag, einem Werktag, oft in der Mittagspause, zwischen zwei universitären Lehrveranstaltungen oder gleich nach dem Feierabend geschieht, manchmal in Stadtteilen ohne Parkplätze oder ohne Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr, und schon deshalb oft mit Stress für die Gemeindemitglieder verbunden ist.

4 Thematisch-strukturelle Aspekte der Khutba Die Freitagspredigt ist rhetorisch gesehen ein Vortrag, der in der Praxis vom Papier vorgelesen, ganz ohne Papier vorgetragen, aber meist auf einem Konzeptpapier vorbereitet wird. Medial ist die Freitagspredigt mündlich, konzeptuell allerdings schwankt sie zwischen schriftlich und mündlich, was mit rhetorischen Künsten des Predigers zusammenhängt. Sie kann zum Thema praktisch alles Jenseitige und Diesseitige haben, was aus der Sicht des Predigers von Interesse für seine Gemeinde ist und was man den Titeln der Freitagspredigten aus Tabelle 1 entnehmen kann. Genau diese thematischen Aspekte bei Freitagspredigten in deutschen Moscheen, aber nicht in deutscher Sprache, sind es, worauf Schreiber in seinem Buch Inside Islam (2017) eingeht. Sie sind aus gesellschaftspolitischen Gründen heute in Deutschland von großem Interesse und fördern primär eine religionssoziologische, und wohl auch eine politische Fragestellung. Mich interessieren hier allerdings abstrakte thematische Einheiten, die für die Freitagspredigt als kommunikative Gattung konstitutiv sind und auch eine eigene rhetorische Kraft besitzen. Diese abstrakten sprachlichen Konstrukte nenne ich aus heuristischen Gründen semantisch-funktionale kommunikative Makroeinheiten (KME), die sich durch ihre Semantik identifizieren lassen und dabei eine auffällige Frequenz in den Freitagspredigten aufzeigen, aber in der Predigt selber funktional unterschiedlich eingesetzt werden können. Es sind also Textsequenzen oder Redebeiträge der Freitagspredigt⁵, die in der Regel mehrere Sätze umfassen können, inhaltlich zusammengehören und gemeinsam eine komplexe funktionale Einheit in Bezug auf andere KME im Text repräsentieren. Alle KME zusammen entsprechen einem Komplex von Einzel-Sprechakten (vgl. Luther 1983: 228; Kucharska-Dreiß 2017: 402), werden aber im Unterschied zu Einzel-Sprechakten, wie Luther es definiert, primär semantisch und nicht funktionalistisch aufgefasst. Zur Identifikation von KME in deutschsprachigen Freitagspredigten ziehe ich die 20 Khutben meines Korpus heran, die sich thematisch von den zentralen Glau-

5 Natürlich sollte man davon ausgehen, dass auch andere Textgattungen bzw. -sorten ebenso aus für sie typischen semantisch-funktionalen kommunikativen Makroeinheiten bestehen.

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bensfragen über die Fragen von religiösen Praktiken bis hin zu den aktuellen gesellschaftlichen Themen in Deutschland wie der Corona-Pandemie oder den Morden an Musliminnen und Muslimen beim Anschlag von Hanau am 19.2.2020 erstrecken. Trotz dieses breiten Themenspektrums werden islamische Freitagspredigten immer durch eine begrenzte Anzahl – vielleicht ein Dutzend – semantischfunktionaler kommunikativer Makroeinheiten konstituiert. Folgende KME konnten grob herausgearbeitet werden: – Kor’an zitieren, Kor’anübersetzung, – Hadithe Zitieren und ihre Übersetzung, – Erzählungen von historischen oder aktuellen Ereignissen und Personen – Nennung von islamischen Gelehrten, – Erzählungen von vorislamischen Propheten, – Nennung von islamwissenschaftlichen Befunden und islamischen Gelehrten, – Deutungen von gesellschaftlichen oder Naturphänomenen, – Deutung / Übersetzung von islamischen Ausdrücken, – Aufforderung an die Gemeinde, etwas zu tun oder zu lassen, eine Meinung anzunehmen, an etwas zu glauben, – Vergleichende Beispielnennung, – Nennung von eigenen Erlebnissen. Die oben genannten KME können sich abhängig vom Ansatz und der Forschungsfrage auch weiter in kleinere Einheiten unterteilen, die teilweise unterschiedliche funktionale Aspekte aufweisen z. B. könnte man Erzählungen von historischen Ereignissen einerseits und Erzählung von aktuellen Ereignissen andererseits als selbstständige KME auffassen, mit jeweils unterschiedlichen Funktionen. Die allermeisten hier kurz skizzierten KME kommen jedoch in jeder Khutba vor, ihre textinterne Anordnung folgt allerdings keinen textkonstituierenden Makroregeln, sondern Mikroregeln, die auf gegenseitiger Bedingtheit basieren: z. B. können Kor’an- und Hadith-Zitate entweder für die semantisch-funktionale Festlegung der Khutba oder als argumentative Stütze mit absolutem (Kor’an) und etwas relativem Wahrheitsanspruch (Hadithe) als Mahnung oder als Verheißung eingesetzt werden und in dieser Hinsicht der Funktion von Zitaten in wissenschaftlichen Abhandlungen entsprechen. Im nicht arabischen Ausland folgt auf ein Kor’anzitat die Kor’anübersetzung, aber welchen kommunikativen Zweck ein Kor’anzitat hat, hängt von inhaltlichen Aspekten der Predigt und kommunikativen Absichten des Predigers ab. Genauso kann die Nennung eines eigenen Erlebnisses ganz am Anfang als Stichwort für die Predigt des Tages gelten, aber auch ganz am Ende der Predigt z. B. als ein Beweis für göttliche Allmacht und Güte, so dass man von freier Gliederung notwendiger kommunikativer Makroeinheiten sprechen sollte. Diese kommunikativen Makroeinheiten werden sprachlich durch

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unterschiedliche Formulierungen und rhetorische Mittel realisiert und können dabei untereinander so eng verwoben werden, dass der Versuch ihrer chronologischen Gliederung für die Predigt als Textsorte keinen Sinn macht, weil das in der Regel von unterschiedlichen kommunikativen Faktoren und allen voran Redekünsten des Predigers abhängt. Erst wenn alle KME in der Freitagspredigt zusammen artikuliert werden, wird die kommunikative Gattung der Freitagspredigt mit allen notwendigen strukturalen, thematischen und funktionalen Aspekten konstituiert und ihr Sinn erzeugt.

5 Funktionale Aspekte der Freitagspredigt Die funktionalen Aspekte der islamischen Freitagspredigt können unter drei sich teilweise überlappenden Forschungsinteressen betrachtet werden: 1) kommunikative Funktion im Sinne ihrer rhetorischen Kraft zwecks persuasiver Einwirkung auf die Gemeinde, der Ansatz, den Jones (2012) in ihrem Buch zu historischen Reden und Predigten im maurischen Spanien verfolgt, 2) textuelle Funktion im Sinne der Textfunktion als eines Textualitätsmerkmals, der übliche textfunktionale Ansatz im Sinne von Brinker (2008) und 3) sakrale Funktion im Sinne von Lasch (2011). In der deutschsprachigen Literatur hat man sich ziemlich intensiv mit den deutschsprachigen christlichen Predigten auseinandergesetzt und dabei an die theologischen Untersuchungen der Predigt geknüpft, um sie weiter linguistisch als kommunikative Gattung des religiösen Rituals zu erforschen. So hat sich Paul (2009) mit ritueller christlicher Kommunikation linguistisch befasst, und beschreibt die kommunikative Funktion der christlichen Predigt als öffentliche Rede, die in ihrer rhetorischen Gestaltung den Reden von Lehrern, Strafverteidigern oder Politikern ähnelt, um möglichst effektiv und eindrücklich auf ihre Hörer zu wirken (Paul 2009: 2258). Darin unterscheidet sich auch die islamische Freitagspredigt nicht, deren kommunikative Funktionen sich weitgehend mit der Beschreibung des Stichwortes predigen im Großen Wörterbuch der deutschen Sprache von Duden deckt. Die Freitagspredigt ist dementsprechend eine monologische an die Gemeinde in einer Moschee gerichtete Rede des Predigers, in der der Gemeinde gute menschliche Eigenschaften eindringlich ans Herz gelegt oder anempfohlen werden, und sie [die Gemeinde] zu guten menschlichen Eigenschaften ermahnt und aufgefordert wird und in der nachdrücklich und in belehrendem Ton Gutes gesagt wird – predigen 2. a und b (Duden 2000). Daraus lässt sich auch die textuelle Grundfunktion der Predigt im Sinne von Brinker (2008) als appellative ableiten. So sieht es auch Greule, wenn er Balthasar Fischer zitiert (Gestalt 1990: 77–96 zitiert nach Greule 2009: 173 und Greule 2009: 176) und auch Kuße, der die

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Predigt als einen persuasiven, informativen, mahnenden, verheißenden Text beschreibt (Kuße 2012: 165), was auch für die islamische Freitagspredigt gilt. Wenn sich aber bei den Predigten als Texten religiöser Kommunikation die Frage nach ihrer sakralen Funktion bzw. die Frage ihrer Gesamtillokution im religiösen Kontext stellt, wird in der germanistischen sprachwissenschaftlichen Literatur, die sich bisher ausschließlich mit christlichen Predigten befasst hat, ein anderer funktionaler Aspekt der Predigt formuliert: die Verkündigung, die im Kontext einer sprachwissenschaftlichen Analyse der christlichen Predigt weit verbreitet ist (Paul 2009: 2263; Arens 2009: 45; Lasch 2011; Kuße 2012: 165; KucharskaDreiß 2017; Lasch & Liebert 2015), denn, „er [der Pastor] betet mit ihr [der Gemeinde] zu Gott und er verkündet Gottes Wort“ (Paul 2009: 2263). Die oben genannten funktionalen Gemeinsamkeiten zwischen der christlichen Sonntags- und islamischen Freitagspredigt legen womöglich nahe, dass man auch ihre sakralen Funktionen als ähnlich charakterisieren kann, was Lasch auch tut (Lasch 2011: 545ff). Ich möchte aber bei der Beschreibung der sakralen Funktion der Freitagspredigt insbesondere in ihrem Kontrast zur Sonntagspredigt etwas differenzierter vorgehen, und sie unter Berücksichtigung der konzeptuellen Ebene analysieren.

5.1 Sonntagspredigt vs. Freitagspredigt In seinem Aufsatz aus dem Jahr 2011 entwickelt Alexander Lasch eine Terminologie zur wissenschaftlichen Beschreibung der Kommunikation mit religiösen Texten und unterscheidet dabei zwischen Verkündigung, Verehrung und Vergegenwärtigung als funktionalen Aspekten solcher Texte, die sie von allen anderen Texten maßgeblich unterscheiden. Dabei scheint Verkündigung als zentraler analytischer Begriff für die Predigt als kommunikative Gattung zu sein, den Lasch folgenderweise definiert: Die „Verkündigung“ ist als Transferleistung auf einer vertikalen kommunikativen Achse zu bezeichnen, sie ist einseitig und nicht dialogisch organisiert. Das Wissen, welches in besonderer Weise symbolisiert wird, ist prinzipiell nicht durch den Menschen, sondern nur durch Gott verfügbar, der sich einem auserwählten Menschen offenbarte. Diesem auserwählten Propheten folgen die Priester einer Religionsgemeinschaft als Verkünder und Stellvertreter nach. Kommunikative Akte (wie Interpretationen von Gottes Wort) lassen sich nur auf einer horizontalen kommunikativen Achse anschließen. (Lasch 2011: 544)

In dieser Definition von Lasch kommen drei bedeutende sprachliche Aspekte zum Ausdruck, die jede religiöse Kommunikation notwendigerweise definieren: die Predigt ist monologisch, sie ist vertikal nach unten ausgerichtet und die Inhalte sind transzendent, also nicht jedem verfügbar. Die Verkündigung als kommu-

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nikativer Akt ist also eine Transferleistung auf einer vertikalen kommunikativen Achse vor allem zwischen Gott und Menschen, wobei stellvertretend für Gott Propheten stehen, denen Priester folgen bzw. im Islam Imame oder Khatibe. Wenn wir aber bedenken, dass alle Religionen notwendigerweise und aus unterschiedlichen kulturhistorischen Gründen oft von sehr unterschiedlichen religionsspezifischen Konzepten geprägt sind, die aus jeder Religion ein eigenes Symbolsystem machen, müssen wir davon ausgehen, dass trotz ihrer prinzipiell monotheistischen Prägung das Judentum, das Christentum und der Islam zunächst drei unterschiedliche kulturelle Symbolsysteme sind. Alle zentralen Elemente der jeweiligen Religion werden mit stark kodifizierter Lexik benannt, die im Sinne der Frame-Semantik bestimmte Wissensrahmen voraussetzen, die selber immer stark kulturgeprägt und kulturspezifisch sind. Daher sollte bei einem universalreligiösen Ansatz zunächst einmal geprüft werden, ob und inwiefern die für eine – hier die deutsche – Sprache entwickelte religiöse Begriffsbildung auf die religiöse Kommunikation anderer nicht deutscher und nicht christlicher Religionen übertragen werden kann – in diesem Fall auf den Islam – und zwar sowohl alltagsals auch wissenschaftssprachlich. Es gilt also zu klären, ob und inwiefern Verkündigung zur Bezeichnung der religiösen Funktion der Freitagspredigt wie von Lasch behauptet, überhaupt islamtauglich ist. Dafür möchte ich zunächst zusammen mit Selmani an die wichtigsten Unterschiede zwischen dem Christentum und dem Islam erinnern: Der Islam kennt keine kirchenähnlichen, weltumspannenden Strukturen. Die Institution Moschee ist keine Organisation, die das Leben der Muslime zentralistisch regelt, sondern Ort der Verehrung, des kollektiven Gebets. Auch gibt es kein Priesteramt (wie etwa im Christentum), es gibt also keinen Akt der Vermittlung im Islam. Der Muslim „tritt im Gebet [...] in eine direkte Beziehung zu Gott“. Der Imam (gemeint ist der Vorbeter), fungiert nicht als Vermittler zwischen Gott und Mensch. Er hebt sich vom Rest der Gläubigen lediglich dadurch ab, dass er in der Gebetsnische (mihrab) weilt, was die Einheit der Betenden symbolisieren soll. Im Islam gibt es also keine institutionalisierte Mittlerrolle zwischen transzendenter und menschlicher Welt (jeder Gläubige kann das Gebet leiten). Der Imam besitzt keine transzendente Autorität. (Selmani 2017: 115)

Darin lesen wir, der Imam stehe nicht näher an Gott als die anderen im Sinne von Lasch (Lasch 2011: 541) und der Islam kenne auch keine inspirierten Propheten im Sinne von Ebert (2017: 315), also keine Propheten nach Mohammed, und seine Autorität ist keine von transzendenter Natur. Aufgrund dieses konzeptuellen Unterschieds zwischen dem Priester und dem Khatib können wir die Freitagspredigt als religiöse kommunikative Konstellation nicht als vertikale Kommunikationsrichtung im Sinne von Paul (2009: 2263) oder Lasch (2011: 545) betrachten. Die Freitagspredigt ist zwar verpflichtend, aber sie ist kein „Gotteswort im Men-

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schenwort“ (vgl. Kucharska-Dreiß 2017: 386) und den Gläubigen ist nicht untersagt, die Rede des Imams im Sinne von Ebert (2017: 316) abzulehnen, weil die Freitagspredigt keinen dogmatischen Charakter hat und durchaus anzweifelbare Mitteilungen von Sachverhalten und Urteilen über Sachverhalte zulässt (vgl. Lasch & Liebert 2015: 480), sofern es sich nicht um eine Ablehnung koranischer Verse handelt. Sie ist nämlich für Musliminnen und Muslime genau das, was Thiele übrigens auch von der christlichen Predigt behauptet: „Predigt ist nicht Gottes Wort, sie ist das Wort eines von uns. Sie ist menschliche Rede, kein Sakrament, keine Sakramentalie“ (Thiele 2008: 14). Dass sich islamische und christliche Predigten voneinander wesentlich unterscheiden, bestätigt auch Jones für die Zeit der Vormoderne: Notably, the obligatory character of the khutba in Islamic ritual and worship, the prominent role it played in civic and political culture, and the juridical discussions about the khutba and the legal status of other homiletic genres have no direct parallel in medieval Christian preaching. (Jones 2012: 9–10)

Offensichtlich ist es ein sehr dominanter säkularer Charakter der Freitagspredigt, der den Unterschied macht, und der bereits in der Einleitung bei der Besprechung von einschlägigen Publikationen sehr deutlich zum Vorschein kam. Die Ursachen für einen doppelten transzendenten und immanenten Charakter der Freitagspredigt lassen sich mit historischen Gründen gut erklären. Qutbuddin, die in ihrem Text die Entwicklung der Khutba von der vorislamischen Zeit bis in die Zeit des frühen Islams beschreibt, hält die islamische Khutba für eine sakrale und ritualisierte Weiterentwicklung der präislamischen oralen Poetik (Qutbuddin 2008: 177), die keinerlei Einflüssen fremder Kulturen ausgesetzt worden sei (Qutbuddin 2008: 189). Etymologisch sei die Freitagspredigt, wenn auch ohne religiösen Kontext, mit den Äußerungen des Khatib verwandt, einem prominenten Stammessprecher des vorislamischen Arabiens. Der Khatib drückte sich in schöner Prosa aus, die den Adel und die Leistungen seiner Stammesangehörigen pries und die Schwäche der Feinde des Stammes verunglimpfte. Da die frühe islamische Gemeinde spätestens seit der Staatsgründung 622 in Medina auch eine politische Bewegung ist, ist auch die Freitagspredigt schon von Anfang an eine Kombination aus Transzendentem bzw. dem Religiösen und Immanenten bzw. dem Politischgesellschaftlichen: Most importantly in early Islam, the political speech and the sermon of pious counsel came together in Medina to form the major new Islamic type of religio-political khuṭba that accompanied the ritual prayer. The first Friday khuṭba was delivered by Muhammad in Medina in the year 1/623. It displayed many of the features that were to become standard in the later Islamic Friday/Eid sermon, viz., taḥmīd, numerous Qur’ān citations, counsel to be God-fearing, and other moral advice. (2008: 198)

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Nicht nur bei Mohammed, sondern auch bei den ersten vier Kalifen, den Umayyaden-Kalifen und umayyadischen Provinzgouverneuren, die alle in ihren jeweiligen Gebieten Khutben hielten, war der Inhalt der Predigten nicht nur streng ermahnend, sondern umfasste auch praktische Fragen der Regierung, politische Probleme und enthielt gelegentlich sogar direkte Befehle. Unter den ʿAbbāsiden predigten die Kalifen selbst nicht mehr, sondern übertrugen die Funktion des Khatib an die religiösen Richter (qadis). Das pointierte Beharren der ʿAbbāsiden darauf, den Islam vom Säkularismus der Umayyaden zu säubern, trug wahrscheinlich dazu bei, den religiösen Aspekt der Khutben zu stärken (Jones 2020). Schon dieser kurze Überblick zur historischen Entwicklung der islamischen Freitagspredigt in einem alltäglichen und politischen Kontext erklärt die enge Verwobenheit zwischen transzendenten und immanenten Inhalten in islamischen Freitagspredigten und einen historisch bedingten starken immanenten Charakter von Freitagspredigten, aber auch eine starke alltagspolitische Orientierung des Islam als Religion.⁶ Es ist jetzt (hoffentlich) eindeutig, dass die funktionalen Unterschiede zwischen christlicher Predigt und islamischer Khutba als kommunikative Konstellationen religiöser Kommunikation auf einer kulturhistorisch bedingten konzeptuellen Ebene anzusiedeln sind und dass die Verkündigung konzeptuell nicht der kommunikativen Konstellation der Freitagspredigt entspricht, worauf ich gleich im Anschluss ausführlich eingehe.

5.2 Freitagspredigt und Verkündigung Die Unvereinbarkeit der Verkündigung mit dem konzeptuellen System des Islam soll im Folgenden durch eine Gebrauchsanalyse dreier Wörter illustriert werden, von denen jedes auf seine Art und mit seiner Semantik den Prozess der 23 Jahre langen Kor’an-Übermittlung von Gott über den Erzengel Gabriel durch den Propheten Mohammed an die Menschheit beschreiben bzw. benennen könnten. Es sind: Offenbarung, Verkündigung und Verkündung. Trotz semantischer Unterschiede zwischen offenbaren, verkünden und verkündigen, könnte m. E. die Übermittlung der Botschaft im Islam theoretisch mit allen drei Begriffen bezeichnet werden. Das Islam-Lexikon kennt nur den Artikel zu Offenbarung, aber keinen zu Verkündigung oder Verkündung. Es bezeichnet jedoch im Offenbarung-Artikel die kundtuende Tätigkeit der Propheten im Laufe der Geschichte als Verkündigung. (Khoury, Hagemann & Heine 2006: 474–479). Khorchide stellt in seinem Buch die

6 Diese Tatsache stößt übrigens im Westen oft auf Unverständnis.

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Frage: „Warum verkündet dieser Gott den Kor’an?“ und bezeichnet einige Zeilen weiter den Kor’an als „Verkündung der Liebe“ (Khorchide 2012: 168), also nicht als Verkündigung. Die einzelnen Beschreibungen von verkündigen und verkünden im Großen Duden-Wörterbuch (Duden 2000) verraten uns trotz ihrer semantischen Nähe, dass es sich bei verkünden um öffentliche Bekanntmachung handelt, während bei verkündigen das Feierliche und Sakrale in den Vordergrund rückt, was auch im Duden zum Substantiv Verkündigung steht, und dem sakralen Ritual des Messebzw. Gottesdienst-Feierns entspricht, einem Konzept, das bei der Freitagspredigt völlig fehlt. Außerdem ist verkündigen stärker als sakrale, rituelle, sprachliche Handlung konnotiert als verkünden, das sich auf die üblichen profanen und zivilen Handlungen bezieht z. B. in der Sprache des Rechts, weshalb Verkündung und verkünden zum islamischen Verständnis des Kor’ans als gesetzgebenden Text für religiöse, ethische, soziale und politische Fragen (Khoury, Hagemann & Heine 2006: 476) besser passt als verkündigen. Die Unvereinbarkeit des Verkündigung-Konzepts mit dem konzeptuellen System, das der islamischen religiösen Kommunikation zu Grunde liegt, kann uns vielleicht ein kleiner Vergleich im DWDS bestätigen: Zum Stichwort Offenbarung erscheinen nämlich auch islamische Begriffe wie Kor’an und koranisch als typische Verbindungen, aber zu Verkündigung oder Verkündung nicht. Bei ersteren finden sich Lexeme aus dem christlichen Diskurs, bei letzterem aus dem juristischen.

Abb. 1: Typische Verbindungen zu Offenbarung.

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Abb. 2: Typische Verbindungen zu Verkündigung.

Offensichtlich ist im Moment allein das Offenbarungs-Konzept islamtauglich, mit dem der zentrale Glaubenssatz des Islam evoziert wird, dass nämlich der Kor’an von Gott stammt und an die Menschheit durch Muhammed herabgesandt worden ist, während verkünden als Konzept nur teilweise und vermutlich im nicht internen islamischen Kontext erscheint. Wenn bei der christlichen Predigt Verkündigung als sakrale vertikale sprachliche Handlung des Priesters konzeptualisiert wird, dann hat es im Islam keine konzeptuelle Entsprechung, weil sich die als Verkündigung zu bezeichnende Handlung von Gottesgesandten und Propheten höchstens auf Mohammeds Akt des Kundtuns von Gottes Worten beziehen kann, aber nicht auf andere Menschen und ihre Taten. Das Gleiche gilt im Prinzip auch für Verkündung und verkünden, wobei verkünden mit seiner juristischen Konnotation jedoch insofern dem konzeptuellen System des Islam entspricht, als der Kor’an von Musliminnen und Muslimen auch als sakrale gesetzgebende Instanz für das Diesseits verstanden wird und daher in solchen Kontexten stellenweise vorkommt. Deswegen sollte man die Verwendung von deutsch-christlichen Begriffen für das konzeptuelle System des Islam mit Vorsicht genießen. Wenn sich schon alle anderen Konzepte des Islam und des islamischen Gottesdienstes von den entsprechenden christlichen unterscheiden, müsste das folglich auch für die Predigt als religiöse kommunikative Konstellation in ihrer sakralen Funktion gelten. Aufgrund der genannten Unterschiede in den Konzeptualisierungen zwischen christlichen und islamischen rituellen Predigten ist die Beschreibung der christlichen Predigt als Verkündigung wohl eher auf die kulturspezifischen Konzeptualisierungen der ganzen Predigt-Szene zusammen mit den Konzepten des

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Abb. 3: Typische Verbindungen zu Verkündung.

Predigers, des Textes, des Publikums, des Ortes, der Zeit und ihren Rollen innerhalb der deutschsprachigen Gesellschaft zurückzuführen, und ist folglich eher ungeeignet für eine Beschreibung der Predigt als gesamtreligiöser kommunikativer Konstellation. Solche religiösen Konzepte sind stets als kulturhistorisch bedingte Errungenschaften einzelner Religionsgemeinschaften zu interpretieren, die schließlich für die jeweiligen Religionen immanent sind und dadurch nicht nur zu den konstitutiven Konzepten gehören, sondern auch zu Konzepten, durch die sich einzelne Glaubensgemeinschaften voneinander unterscheiden. Deshalb sollte die Beschreibung von Predigten jeweiliger Religionsgemeinschaften unbedingt unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen konzeptuellen und epistemischen Grundlagen erfolgen. Wenn im Deutschen Predigt deshalb als Verkündigung bezeichnet wird, weil darin biblische Worte feierlich kundgetan werden (vgl. Duden 2000 zu verkündigen), dann ist dieses feierlich Kundtun wohl das entscheidende Merkmal der christlichen Predigt, das die christliche Praktik wohl von denen anderer Religionen absetzt. Dies unterschiedet sie grundlegend von der Freitagspredigt, die zwar unbedingt Kor’an-Zitate⁷ enthält, aber in der die Botschaft des

7 Muslime haben für Kor’an-Rezitationen eine selbstständige kommunikative Gattung entwickelten, nämlich das Qira’at (Kira’at), die ausschließlich in arabischer Sprache stattfindet, ihren eigenen rituellen, spirituellen Gott verehrenden Charakter hat und worin auch Wettbewerbe in den muslimischen Ländern organisiert werden.

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Tages im Fokus steht, die der Prediger an die Gemeinde richtet. Lasch schreibt zwar: „Neben Lesungen/Rezitationen und Predigten sind auch alle Formen ritueller Kommunikation als verkündigend einzustufen, die das Wort und den Namen Jesu Christi oder Allāhs im Ritual vergegenwärtigen“ (Lasch 2011: 546), aber bei der Khutba geht es nicht primär darum, Allah zu vergegenwärtigen, sondern höchstens durch seine Vergegenwärtigung gesellschaftliche Probleme aus der islamischen Perspektive zu beleuchten und diesen Blick auf die Probleme religiös zu untermauern. Die Themen der Ansprache sind, wie oben bereits ausgeführt, nicht als transzendente zu verkündende Inhalte, sondern als zu lösende Alltagsprobleme zu verstehen – selbst dann, wenn es um die reinen Glaubensfragen geht, was vielleicht vergleichbar mit den protestantischen Predigten ist (Lasch 2011: 546). Deshalb ist es durchaus möglich, dass man in einer Freitagspredigt in Frankfurt z. B. die Arbeit des deutschen Sicherheitsapparats kritisiert, und gerade deshalb, weil sich Imame in manchen islamischen Ländern auch gerne mal gesellschaftspolitisch äußern, werden quer durch die islamische Welt die Predigten staatlich oder anderweitig kontrolliert.

5.3 Die Freitagspredigt als kommunikative Konstellation Die Unvereinbarkeit der Freitagspredigt mit dem Verkündigungs-Begriff beruht vor allem auf unterschiedlichen Konzeptualisierungen des Predigers und der Natur des transferierten Wissens. Diese beiden Elemente der Freitagspredigt als einer religiösen kommunikativen Konstellation möchte ich im Folgenden als Ausgangspunkte zur Beantwortung der Fragen nach Sakralität und kommunikativer Achse der Freitagspredigt nehmen. Eine Khutba ist in der Regel ein originaler Text des jeweiligen Predigers, eines gebildeten Mannes, ausgebildet für den Beruf des Imams, des Kor’anlehrers und des Predigers, den Jones für die Zeit der Vormoderne im islamischen Spanien als „teacher and mentor“ (Jones 2012: 201) beschreibt, was übrigens auch Paul zum christlichen Prediger schreibt (Paul 2009: 2258). Ein Imam ist also ein Lehrer, was dem türkischen Wort Hodscha entspricht und nicht etwa jemand, der „auf der Grenze zwischen Immanenz und Transzendenz“ steht (Lasch 2011: 552), sondern jemand, der mit beiden Beinen auf der Immanenz-Seite und kraft seines Amtes und als Fachmann für religiöse Belange gleichberechtigt über Jenseits und Diesseits vor der Gemeinde am Freitag eine Rede halten darf. Aufgrund der Position des Predigers sowie des im Prinzip säkularen Charakters der Freitagspredigt trotz sakraler Inhalte und weil sie in ihrer wichtigsten Funktion nicht mehr als eine persönliche islamische Interpretation eines gesellschaftlichen Problems und seiner Lösung mithilfe von Kor’an- und Hadith-Interpretationen ist, ist die Frei-

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tagspredigt als kommunikativer Akt auf einer horizontalen Achse zu verstehen. Allein den Propheten, den Gottesgesandten, bleibt die grenzüberschreitende also vertikale kommunikative Tätigkeit vorbehalten, was im Deutschen trefflich mit dem Verb herabsenden in seiner metaphorischen Verwendung beschrieben wird. Wenn wir jetzt zusammen mit Geertz (2015: 48) Religion als ein System von Symbolen definieren, die Gegenstände, Handlungen, Ereignisse, Eigenschaften oder Beziehungen umfassen, die in fassbare Formen von Vorstellungen, in aus der Erfahrung abgeleiteten, in wahrnehmbare Formen geronnenen Abstraktionen, in konkreten Verkörperungen von Ideen, in Verhaltensweisen, Meinungen, Sehnsüchten und Glaubensanschauungen ihren Ausdruck finden, dann ist ein Imam jemand, der aufgrund seines Fachwissens über dieses Symbolsystem, aufgrund seiner Erfahrung, seiner rhetorischen Kompetenzen in der Lage und kraft seines Amtes berufen ist, die Welt um die Gemeinde herum vor dem Hintergrund dieses Symbolsystems für die Gemeinde zu interpretieren und sie zum Tun von guten und Lassen von schlechten Taten zu bewegen. Eine Freitagspredigt ist also ein Komplex aus unterschiedlichen semantisch-funktionalen religions- bzw. sozialpädagogischen, unterweisenden und glaubensfestigenden kommunikativen Makroeinheiten und Einzel-Sprechakten, die zusammen eine Gesamtillokution bilden. Diese Gesamtillokution möchte ich als einen kommunikativen Akt der persuasiven Unterweisung definieren, der aus seinem sakralen und institutionalisierten Charakter seine moralisch-unterweisende Kraft schöpft und dessen Aufgabe es ist, die Gemeinde in zu erfüllenden Handlungen und zu vertretenden Meinungen zu unterweisen. Wenn wir uns aber der Freitagspredigt von der epistemologischen Seite nähern, dann eröffnet sich ein anderer Blick auf die Frage ihrer kommunikativen Orientierung. Dies scheint insbesondere im nicht islamischen Ausland wie bspw. in Deutschland von großer Bedeutung. In der islamischen Freitagspredigt, einer kommunikativen Konstellation der persuasiven Unterweisung mit sakraler Autorität, werden alle menschlichen Belange des Jenseits und des Diesseits thematisiert. Das Wissen, das dabei herangezogen wird, kann durch oben genannte kommunikative Makroeinheiten informativ, argumentativ oder illustrativ zwecks genannter persuasiver Belehrung eingesetzt werden. Dabei können und müssen wir zwischen unterschiedlichen Wissensinhalten unterscheiden: 1) aus dem Kor’an, 2) aus den Hadithen d. h. aus der Biographie des Propheten Mohammeds, 3) aus der Zeitgeschichte vor der koranischen Offenbarung, 4) aus der frühesten oder späteren Islamgeschichte, 5) aus der sonstigen Weltgeschichte und letztendlich 6) aus der aktuellen Zeit. Die einzelnen Wissensinhalte erstrecken sich also vom sakralen Wissen aus dem Kor’an auf der einen Seite bis hin zum profanen Wissen aus der aktuellen Geschichte auf der anderen Seite. Diese unterschiedlichen Wissensinhalte unterscheiden sich nicht nur nach dem Grad ihres sakralen und

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profanen Inhalts, sondern auch danach, wie (un)umstritten sie für Gläubige sind. So ist der Kor’an unumstritten, was schon für die Hadithe und die Geschichte, je weiter sie in der Ferne liegt, nicht mehr gilt. Unumstritten ist auch die aktuelle Zeit, zu der man selber aufgrund eigener Erfahrung direkten Zugang hat – jedenfalls, wenn wir von fakenews und Propaganda absehen. Es stellt sich daher die Frage des direkten oder indirekten Zugangs zu unterschiedlichen Wissensinhalten, die den Mitgliedern einer Glaubensgemeinschaft zur Verfügung stehen. Zum Kor’an hat man einen direkten Zugang, eben, weil es der zentrale, allen zugängliche und inhaltlich unumstrittene Text der Musliminnen und Muslime ist, und als genauso direkt ist der Zugang zu aktuellen und historisch nahen Ereignissen anzusehen. Dies gilt aber nicht mehr für die vor- und frühe islamische Geschichte, die ursprünglich und lange Zeit vor allem mündlich tradiert worden ist. Diese letzten historischen Wissensinhalte, die für Musliminnen und Muslime heute trotz ihres genuin profanen Charakters eine besondere, oft als sakral zu verstehende Bedeutung haben, nennt Nerkez Smailagić in seiner Einführung in den Kor’an Para-Geschichte⁸ (Smailagić 1975: LXIV). Diese Para-Geschichte gehört heute zusammen mit dem Kor’an und den Hadithen zum kodifizierten und kanonisierten Deutungsinstrument islamischer Gelehrter und ist ebenfalls fester Bestandteil der religiösen Kommunikation im Islam, des Religionsunterrichts und auch der Freitagspredigt. Gemeint ist hier insbesondere die früheste islamische Geschichte, als die junge islamische Gesellschaft dabei war, ein neues Symbolsystem zu etablieren und zu festigen. Seitdem nehmen diese historischen Ereignisse und viele historische Persönlichkeiten neben dem Propheten sowohl für das muslimische religiöse als auch zivile Leben weltweit eine Orientierungsfunktion ein. Solche Geschichten über historische Ereignisse sind auch Constantin Schreiber während seiner Moscheebesuche aufgefallen, der sie für Geschichten aus einer anderen Welt hielt, die nicht Deutschland, wo alle Anwesenden lebten und wohl ihre Zukunft sähen, sondern „ein idealisierter Naher Osten“ sei. Gleich im Anschluss zitiert Schreiber den Kommentar von Professorin Susanne Schröter, der Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam, in dem von Schröter die Funktion solcher Geschichten folgenderweise formuliert wird: Der Bezug auf Datteln und Kamele ist Programm, man lebt geistig in dieser märchenhaften Welt, die ja sehr bildhaft ausgemalt wird. Das Bestreben ist, dass die Gemeindemitglieder in dieser Welt gehalten werden und nicht in Deutschland ankommen, weil man glaubt, dass von der deutschen Gesellschaft ein schädlicher Einfluss ausgeht, dass das Virus der Freiheit ansteckend ist. (Schreiber 2017: 57)

8 Im Original parahistorija.

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Zur Nennung von historischen Sachverhalten in den islamischen Predigten des maurischen Spaniens schreibt auch Jones und hält es eher für ein rhetorisches Mittel, mit dem die Identifikation einer Gemeinschaft mit ihrer mythischen Vergangenheit evoziert und die Dualität zwischen Vergangenheit und Gegenwart überwunden werden sollte (Jones 2012: 89). Solche Geschichten haben unabhängig von dem Grad ihrer Faktizität in vielerlei Hinsicht einen starken normativen Charakter und werden auch bei Freitagspredigten heute erzählend tradiert und sind somit für die Schaffung eines gemeinsamen kulturellen (religiösen) Gedächtnisses und einer gemeinsamen muslimischen Wissensbasis unentbehrlich (vgl. Hashem 2010). Assmann spricht diesbezüglich von einer normativen Erinnerung, die er in seinem Buch als „rettende Kraft“ bezeichnet (Assmann 2018: 114) und davor im Buch dazu schreibt: Erinnerte Vergangenheit hat einen Appellcharakter, eine ‚mytho-motorische’ Qualität. Sie ist eine Quelle von Anspruch und Orientierung, ein Fundament, aber auch eine Herausforderung für die Gegenwart und eine Schubkraft in die Zukunft. (Assmann 2018: 212)

Diese erinnerte Vergangenheit ist das kulturelle Gedächtnis einer Gemeinschaft, das tradiert wird (vgl. Assmann 2018: 30). Und eben diesen kommunikativen Prozess des Tradierens beschreibt Aleida Assmann als „vertikale Kommunikation“ (Assmann 1999: 64). Solchen zu tradierenden Geschichten spricht Assmann den Charakter heiliger Texte zu, sofern sie kanonisiert sind (Assmann 2018: 145), was auch für diese historischen Texte innerhalb der islamischen kommunikativen Praxis behauptet werden kann. Nur zur Illustration, wie solche Geschichten als Vorlage zur Interpretation aktueller Zeit rhetorisch eingesetzt werden, zitiere ich hier einige einschlägige Beispiele aus den Khutben meines Korpus. Das erste Beispiel stammt aus einer Khutba, die Schreiber in seinem Buch wiedergibt und abschließend kommentiert. Bei dem Zitat geht es um die Methode der Zeitrechnung, die in den islamischen Ländern einst über die Sichtung der Mondsichel lief und teilweise heute immer noch läuft. Die Mondsichtung war und ist von entscheidender Bedeutung für den muslimischen Kulturkreis, weil der Islam im Unterschied zum Westen einen Lunarkalender und keinen Solarkalender hat – ein Fakt, der möglicherweise auch für ein kulturelles Merkmal der Musliminnen und Muslime gehalten werden könnte: Früher, zu Zeiten von Muawiya ibn Abi Sufyan, wurde die Mondsichel in Damaskus gesichtet, und die Nachricht davon kam in derselbern Nacht in Marokko an. Die Marokkaner mussten also nicht auf die Berechnung zurückgreifen, denn es gab ein einziges Kalifat und die Übermittlung erfolgte über Leuchtfeuer, über die Entzündung von Feuern auf den Berggipfeln, so dass die Nachricht sich schnell bis nach Marrakesch verbreitete, das damals noch gar nicht erobert war. In Ländern wie dem der Bulgaren hingegen, wo der Himmel bewölkt

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ist und niemand aus anderen Ländern ihnen den Monat mitteilte, mussten sie jeweils Monatsbeginn und Monatsende per Berechnung ermitteln⁹. (zitiert nach Schreiber 2017: 88)

Das zweite Beispiel stammt aus einer Freitagspredigt des Imams aus Frankfurt zum Thema Prüfungsmanagement Coronavirus vom 8.3.2020. Manche Menschen brauchen Zeit, um zu verstehen. Wer immer dabei hilft: Radi Allahu ‘anhu Abu Sufyan. Jemand, der den Propheten kannte, salla llahu ʿalayhi wa-sallam, seit seiner Kindheit und der dennoch 21 Jahre gebraucht hat. Rechne mal das in Tagen um! Über siebentausend Tage hat er gebraucht um Lā ilāha illā ʾllāh zu sagen. Und in dieser Zeit bekriegt er, federführend, kontrollierend, ja, in Uhud und in der Grabenschlacht sogar als Anführer den Islam. Und dann nach 21 Jahren war es Abu Sufyan, der sagen konnte: Lā ilāha illā ʾllāh, Muḥammadun rasūlu ʾllāh. (Johari #216: 29:23–30:03)

Dieser Predigt-Ausschnitt sollte als kommunikative Mikroeinheit das Konzept der Geduld im Islam beispielhaft illustrieren, vielleicht auch normieren und als Aufforderung an die Gemeinde gelten: Alle sollen lernen, sich in Geduld zu üben, wo der Prophet selber mit Abu Sufyan so viel Geduld hatte und erst nach 21 Jahren erleben durfte, dass Abu Sufyan zum Moslem wurde. Im dritten Beispiel aus einer Predigt des Imams aus Hannover, das hier nicht zitiert, sondern nacherzählend zusammengefasst wird, geht es um eine Frau, deren mürrischer Mann sie in einem Moment des Streits von sich abgestoßen hat, und es gleich an dem Tag bereute und sie wieder bei sich haben wollte. Doch da es in den ersten Jahren des Islam galt, die damaligen arabischen Sitten auf ihre Vereinbarkeit mit der aufkommenden Religion des Islam immer wieder zu prüfen, stellt sich für diese Frau die Frage, ob sie mit ihrem Mann jetzt noch zusammen sei. Und sie wollte nicht zu ihm zurückkehren, bevor sie diese Frage mit dem Propheten Mohammed persönlich geklärte hatte. Daher ging sie zu dem Propheten und verlangte von ihm eine Antwort, eine Beratung, die er ihr persönlich nicht geben konnte, obwohl sie darauf beharrte. Schließlich bat die Frau Gott um eine Botschaft an den Propheten und es wurden folgende Kor’anverse offenbart: Gehört hat Gott die Aussage jener, die mit dir über ihren Gatten streitet und bei Gott Klage erhebt. Gott hört euren Wortwechsel. Gott hört und sieht alles. Für diejenigen von euch, die sich von ihren Frauen durch den Rückenspruch scheiden – Sie sind doch nicht ihre Mütter. Ihre Mütter sind die, die sie geboren haben. Sie sagen da ein verwerfliches Wort und etwas Falsches. Und Gott ist voller Verzeihung und Vergebung.

9 Das Beispiel stammt aus einer Freitagspredigt einer arabischsprachigen arabisch-sunnitischen Berliner Moschee, die dem Thema Wissenschaft gewidmet war.

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Diejenigen, die sich von ihren Frauen durch den Rückenspruch scheiden und dann doch zu dem zurückkehren, wovon sie reden, haben einen Sklaven freizulassen, bevor sie beide einander berühren. Damit werdet ihr ermahnt. Und Gott hat Kenntnis von dem, was ihr tut. Wer es nicht vermag, der hat zwei Monate hintereinander zu fasten, bevor sie beide einander berühren. Wer es nicht vermag, der hat sechzig Bedürftige zu beköstigen. Dies, damit ihr an Gott und seinen Gesandten glaubt. Das sind die Rechtsbestimmungen Gottes. Für die Ungläubigen ist eine schmerzhafte Pein bestimmt. (58: 2–4)¹⁰

Die oben kurz zusammengefasste Geschichte ist unentbehrlich für die Kontextualisierung der zitierten koranischen Botschaft, kann aber auch als Beispiel für die Emanzipation von Frauen sowie für eine offene Streitkultur im frühen Islam gelten, einer Zeit, die von Musliminnen und Muslimen immer als Vorbild für ihre Denk- und Verhaltensweisen gehalten wird. Allen drei Belegen ist gemeinsam, dass ihnen ein Wissen über historische Persönlichkeiten und Ereignisse zu Grunde liegt, das im Laufe der Zeit sakralisiert wurde und als Interpretationsstütze in Glaubensfragen dient. Kehren wir abschließend zu der islamischen religiösen Kommunikation im Westen und damit auch in Deutschland zurück. Für Musliminnen und Muslime im Westen ist die Frage nach dem Zugang zum islamischen Wissen, das natürlich deutlich breiter als der koranische Text selber ist, besonders wichtig, weil sie im nicht islamischen Ausland von einer ganz anderen, religiösen epistemischen Grundlage umgeben sind. Da die Freitagspredigt als Pflichtteil des Freitagsgottesdienstes eine obligatorische wiederkehrende Zusammenkunft von Gläubigen ist und zu den obligatorischen religiösen Riten gehört, die für die „Vermittlung und Weitergabe des identitätssichernden Wissens und damit für die Reproduktion der kulturellen Identität“ (Assmann 2018: 55) sorgt, fällt diese wissensvermittelnde Funktion insbesondere der Freitagspredigt im nicht islamischen Ausland zusätzlich zu, weil sie oft die einzige Gelegenheit für gläubige Musliminnen und Muslime bietet, die notwendige epistemische Grundlage im nicht islamischen Ausland für den Umgang mit ihrer Religion zu erwerben, ohne die das Symbolsystem des Islam für sie unverständlich und unzugänglich bliebe. Insbesondere bei den religiösen kommunikativen Praktiken unter Musliminnen und Muslimen im nicht islamischen Ausland, wo der Zugang zu diesem historischen Wissen und dem islamischen kulturellen Gedächtnis nur mittelbar durch Bücher oder Predigten und nicht durch unmittelbare Erfahrung mit der Umwelt erfolgt, sollte von vertikaler Kommunikation im Sinne von Assmann (Assmann 1999: 64; Assmann 2018: 19)

10 Als Anlass für die Offenbarung vieler Kor’anstellen dienten unmittelbare Ereignisse aus der damals aktuellen Zeitgeschichte. Solche Kor’anstellen sind einerseits als tatsächliche Reaktionen Gottes auf damals aktuelle Fragen der islamischen Gemeinde zu verstehen und andererseits in ihrer sakralen Abstraktion als Richtlinien in religiösen Belangen generell.

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gesprochen werden. Damit können wir die Freitagspredigt als persuasiv unterweisende Kommunikation zwecks Vermittlung der islamischen Tradition auch als vertikal bezeichnen, weil sie die wichtige Funktion zur Etablierung und Festigung der epistemischen Grundlage für eine islamische Identität und eine islamische Verständigung in der Kommunikation erfüllt, ohne die die eigentliche koranische Botschaft unverständlich bliebe.

6 Fazit Zusammenfassend kann gesagt werden, dass die deutschsprachige islamische Freitagspredigt eine kommunikative Gattung und Textsorte des Deutschen ist und damit zum Forschungsfeld der deutschen Sprachwissenschaft gehört. Die islamische Freitagspredigt zählt zu den Textsorten, die sehr stark textextern durch Zeit, Raum und den möglichen Sender (den Prediger) definiert werden, was ihrem stark rituellen Charakter entspricht. Textintern wird sie durch eine begrenzte Anzahl von semantisch definierten kommunikativen Makroeinheiten charakterisiert, deren Reihenfolge im Prinzip nicht bestimmt ist und die sich von obligatorischen KME wie Kor’an-Zitaten bis hin zu fakultativen KME wie z. B. Schilderungen von eigenen Erfahrungen des Predigers erstrecken. Allerdings wurde das Thema der KME in diesem Beitrag nur ansatzweise skizziert. Es ist aber eins der Desiderata, sie an einem größeren Korpus deutschsprachiger Freitagspredigten mit unterschiedlichen Predigern zusammen mit ihrer Gliederung und ihrer gegenseitigen Bedingtheit zu erforschen. Das würde die erzählenden, mahnenden, unterweisenden und argumentativen Passagen weiter beleuchten und im germanistischen Kontext könnte das die Frage des Verhältnisses zwischen ihrer semantischen Abstraktheit und sprachlicher Formalisierung beantworten. Anders als die christliche Predigt ist die Freitagspredigt eher nicht als Verkündigung zu interpretieren, sondern tatsächlich vor allem als persuasive Unterweisung, was eigentlich nicht in das von Lasch (2011) entwickelte Modell zur Beschreibung von religiösen kommunikativen Konstellationen passt, aber den pädagogischen Charakter der religiösen Kommunikation unterstreicht und das Modell vielleicht um diese wichtige Funktion ergänzen könnte. Denn schließlich dient die Freitagspredigt zusammen mit gattungsübergreifenden Funktionen der Verehrung und Vergegenwärtigung auch zur Interpretation des Glaubens und Lebens, was durch Heranziehung von expliziten islamischen Glaubenssätzen und illustrierenden historischen oder auch aktuellen Erzählungen in der Freitagspredigt erfolgt, aber eigentlich die Meinung des Predigers sein sollte – eine Erwartung, die in der Praxis, sowohl in den islamischen als auch nicht islamischen

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westlichen Ländern durch die Zensur oder Autozensur oft nicht erfüllt werden kann. In diesem Zusammenhang war auch die Frage der Vertikalität bzw. Horizontalität der Freitagspredigt zu klären. Diese Frage sollte m. E. einerseits aus der Perspektive des Predigers als eines Fachmanns aus der Religionsgemeinschaft und andererseits aus der Perspektive der epistemologischen Basis bzw. des Wissens, das herangezogen und vermittelt wird, geklärt werden. Es ist also eine akteurmäßig horizontale und wissensmäßig vertikale Kommunikation, bei der im nicht islamischen Ausland der Gemeinde ein Wissen, eine Para-Geschichte, unterweisend und erklärend zur Verfügung gestellt wird, zu dem [Wissen] hat die Gemeinde keinen direkten Zugang und kann auch keine eigene Erfahrung machen. Es ist also ein Wissen, eine epistemologische Basis, ohne das ein Islamverständnis praktisch unmöglich wäre. Eine sprachwissenschaftliche Beschäftigung mit den kommunikativen Gattungen oder Konstellationen unterschiedlicher Religionsgemeinschaften öffnet neue Möglichkeiten zum Verständnis religiöser Praktiken und damit auch einzelner Religionen. Das Problem, auf das man bei einem religionsvergleichenden bzw. -übergreifenden sprachwissenschaftlichen Ansatz stößt, ist in erster Linie konzeptueller Natur und folglich auch sprachlicher, wenn man mit Ausdrücken einer Sprache des christlichen religiösen Rituals, die religiösen Rituale anderer Religionen benennen möchte. Die deutsche Sprache war noch im Unterschied zu anderen orientalischen Sprachen wie Persisch oder den Turksprachen, sowie manchen slawischen Sprachen wie Bosnisch bis vor wenigen Jahren oder Jahrzehnten weit davon entfernt, ein Kommunikationsmedium für die Religion des Islam zu sein, was sich erst in den letzten Jahrzehnten auffällig änderte, wovon auch die deutschsprachigen Predigten meines Korpus zeugen. Erst langsam öffnet sich die deutsche Sprache mit ihrem Vokabular dem konzeptuellen System des Islam und ist im Begriff für die islamisch-religiöse Kommunikation ein Vokabular zu entwickeln, das den Bedürfnissen der deutschsprachigen islamischen Kommunikation entspricht. In Ermangelung von sprachlichen Ausdrücken und Formulierungen, die primär für islamische Konzepte stehen, müssen sich deutschsprachige Musliminnen und Muslime sowie andere, die über den Islam in deutscher Sprache kommunizieren, vorhandener deutscher Wörter bedienen, die konzeptuell in der Regel nicht den originären islamischen Konzepten entsprechen sowie mehr oder weniger stark christlich konnotiert sind und nicht ausreichend das konzeptuelle System des Islam repräsentieren können. Das sorgt in der Kommunikation nicht selten für kommunikative Unstimmigkeiten oder gar Missverständnisse. Deswegen sollten die längst entwickelten und etablierten Bezeichnungen einer Religionsgemeinschaft in einer Sprache nicht automatisch auf das konzeptuelle System einer anderen Religionsgemeinschaft übertragen werden, der kulturhistorisch eine andere Sprache und eine andere epistemische Basis zu Grunde

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liegt. Unter Berücksichtigung dieses Prinzips, was nicht immer einfach ist, können für die islamische deutschsprachige Kommunikation einige Forschungsdesiderata der deutschen Sprachwissenschaft formuliert werden – und zwar nicht aus gesellschaftspolitischen Gründen, wie es Constantin Schreiber gemacht hat, sondern aus puren sprach-, kultur- aber auch kognitionswissenschaftlichen Gründen. Im Kontext der deutschsprachigen Freitagspredigt stellen sich für die deutsche Sprachwissenschaft einige Fragen, auf die ich hier im Beitrag aus Platzgründen nicht eingegangen bin z. B. die Verwendung deutscher und nicht deutscher, insbesondere arabischer Lexik in einer genuin islamischen sakralen Kommunikation. Es geht bspw. um die Lexik zur Bezeichnung von zentralen islamischen Begriffen wie Gott, Gebet, Fasten, Pilgerfahrt, Halal, Haram u. Ä. und um ihre Übertragung auf das alltägliche Leben deutschsprachiger Muslime, das in den Freitagspredigten thematisiert und interpretiert wird. Außerdem stellt sich die Frage von metaphorischen und illustrativen Vergleichen in der Freitagspredigt: inwiefern werden die Szenen aus dem deutschen Alltag in den Freitagspredigten rhetorisch eingesetzt: negativ, positiv, als Mahnung oder Verheißung und welche Szenen werden überhaupt als Interpretationsstütze von islamischen Glaubensfragen und auf welche Weise herangezogen: die deutsche Ordnung, das familiäre Leben, der Umgang mit der Religion, Reiselust, Offenheit u. Ä. und zwar insbesondere als Gegensatz oder parallel zu den genannten historischen Erzählungen aus der vor- und frühen islamischen Geschichte. Interessant in diesem Kontext scheinen mir weiter auch die Fragen nach dem semiotischen Einsatz nicht deutscher Metaphern und Bilder in deutschsprachigen Freitagspredigten, sowie der islamischen Zeitgeschichte und der Gegenwart in den islamischen Ländern; und letztendlich auch die Fragen nach den Konzepten und dem Wissen, die damit evoziert werden.

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Grenzüberschreitung als Zeichen des Transzendenten: wiederkehrendes Motiv im interkulturellen Predigtdialog 1 Einleitung: Zentralität und Qualität(en) der Predigt Dieser Beitrag untersucht die Thematisierung von Transzendenz in einem interkulturellen Gottesdienst innerhalb des liturgischen Elements der Predigt. Transzendenz wird in diesem Gottesdienst vielfach im Kontext des Motivs der (metaphorischen oder tatsächlichen) Überschreitung von Grenzen thematisiert und an Beispielen aus der Bibel sowie Erfahrungen der predigenden Pastor:innen und der Gemeinde veranschaulicht. Obgleich Gottesdienste insgesamt in ihrer strukturellen und inhaltlichen Gestaltung durch das Selbstverständnis der jeweiligen Gemeinde bzw. Verantwortlichen geprägt sind, bietet insbesondere die Predigt als sowohl inhaltlich als auch sprachlich am wenigsten vorgegebenes Element Möglichkeiten der Vermittlung gemeindespezifischer Normen, Werte und Ideen.¹ Stützt man die Untersuchung auf Videoaufnahmen, wie in diesem Beitrag, wird die Analyse der Predigten in ihrem „Sitz im Leben“ möglich, sodass beispielsweise auch Reaktionen der Gemeinde bzw. die Interaktion zwischen Prediger:in, Gemeinde und Raum analysierbar werden. Die Predigt als Analysefokus in Bezug auf die Thematisierung von Transzendenz bietet sich zudem aus den im Folgenden weiter ausgeführten Gründen an: Zentralität innerhalb des Gottesdienstes, Nutzung vertikaler und horizontaler Kommunikationsrichtung sowie diskursiver und verhaltensregulierender Qualität. In den beiden konfessionellen Haupteinflüssen des untersuchten Gottesdienstes, dem deutschen Protestantismus und westafrikanischen charismatischen Traditionen, ist die Predigt ein wichtiges Element, da sie sowohl den „inhaltliche[n] Höhepunkt“ (Kirchenamt der EKD 2009: 58) des evangelischen Gottesdienstes darstellt als auch in pfingstlich-charismatischen Traditionen auf-

1 Für eine Darstellung der Aspekte, die in einem Gottesdienst durch Regelungen festgelegt werden, siehe Gülich (1981: 422). https://doi.org/10.1515/9783110604696-005

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grund der Zentralität der Bibel und der Inspiration der Prediger:innen² durch den Heiligen Geist ihre Relevanz erhält (Plüss 2018: 170; Lasch 2011: 546; Simmler 2000: 684; Kucharska-Dreiß 2017: 392; Simon 2003: 84, 263–264). Der Stellenwert der Predigt ist im christlichen Glauben grundsätzlich hoch, da dieser durch sie hervorgebracht wird: „So kommt der Glaube aus der Predigt […]“ (Röm 10,17; Rieder 2018: 164). Gleichzeitig vollzieht das Sprechen von Gott mit Menschenwort eigentlich Unmögliches (Rieder 2018: 163–164; Plüss 2018: 174, 176; Simmler 2000: 684). Dies verweist bereits darauf, dass besonders innerhalb der Predigt deutlich wird, dass sich „[…] die Kommunikation in Domänen des ‚Religiösen‘ […] immer auf diese ‚eine Wirklichkeit‘ bezieht, […] in der das Leben in der Immanenz als durch und von einer transzendenten Macht Bewirktes erfahren wird“ (Lasch 2011: 543). Das zeigt sich vor allem daran, dass die beiden im Gottesdienst genutzten Kommunikationsrichtungen in der Predigt vorhanden und nicht immer eindeutig voneinander abzugrenzen sind: Im Anschluss an die Lesung(en) als weiterem zentralem Element der Verkündigung und damit der vertikalen Kommunikationsrichtung wird auch in der Predigt Gottes Wort verkündigt. Damit verschränkt ist zugleich die Interpretation desselben, welche in horizontaler Richtung, d. h. als Kommunikation zwischen Prediger:in und Gemeinde, stattfindet (Paul 1990: 34; Paul 2009: 2262; Lasch 2011: 544, 546). Der:Die Prediger:in verkündigt also Gottes Wort und interpretiert es „[…] in Bezug zur gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Gegenwart […]“ (Lasch 2011: 546; vgl. auch Kucharska-Dreiß 2017: 391). Die Verkündigung und Erläuterung von Gottes Wort sowie der Bezug auf die aktuelle Lebensrealität der Gemeindemitglieder soll ihnen Orientierung, Trost und Vergewisserung geben, sodass sie dadurch ermutigt die neue Woche beginnen (Kirchenamt der EKD 2009: 52, 58; Lasch 2011: 543, 546; Ebert 2017: 317–318; Simon 2005: 294). Es können im liturgischen Element ‚Predigt‘ mit Riesebrodt (2007: 114, 128) aufgrund ihrer genannten Funktionen also sowohl eine diskursive als auch eine verhaltensregulierende Qualität vermutet werden.³ Diskursive religiöse Praktiken vermitteln den Gläubigen Wissen über übermenschliche Mächte sowie über die interventionistischen Praktiken und berichtigen dieses (Riesebrodt 2007: 114,

2 In vielen pfingstlich-charismatischen Gemeinden haben die Prediger:innen keine theologische Ausbildung wie in Deutschland durchlaufen, sondern sind durch göttliche Berufung ins Amt gelangt (Kahl 2009: 402; Humboldt 2006: 163, 170). Daher wird in der Einleitung und bei Bezug auf nicht bekannte predigende Personen der Begriff Prediger:in verwendet, bei Referenz auf am deutsch-afrikanischen Gottesdienst beteiligte Pastor:innen der Begriff Pastor:in. 3 Riesebrodt (2007: 113–115, 127–128) unterscheidet diese beiden Arten religiöser Praktiken von interventionistischen Praktiken, die er als zentral ansieht und die auf den Zugang zu bzw. Kontakt mit übermenschlichen Mächten ausgerichtet sind.

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128). Demnach sind sie auf der horizontalen Kommunikationsrichtung zu verorten, da sie sich an andere Menschen und nicht an die Transzendenz richten. Die konkrete Ausgestaltung eines Gottesdienstes offenbart bereits Eigenschaften des zugrundeliegenden Transzendenzbildes der Verantwortlichen. Aber besonders in der Predigt, mit ihrer erläuternden Funktion, kann das Wissen⁴ über die Transzendenz erneuert und verändert werden. Damit im Zusammenhang stehen die verhaltensregulierenden Praktiken, welche das Alltagsverhalten der Menschen aus Rücksicht auf die übermenschlichen Mächte, d. h. zur Vermeidung von Sanktionen oder zur Anhäufung von Verdiensten, beeinflussen (Riesebrodt 2007: 114, 128). Diese werden zum einen während der religiösen Sozialisation durch Nachahmen erlernt, zum anderen durch diskursive Praktiken vermittelt. Dies kann explizit innerhalb eines Gottesdienstes mithilfe des pastoralen Diskurses (Paul 1990) geschehen, indem die Gemeinde beispielsweise aufgefordert wird, sich zu erheben oder indem um das Unterlassen des Fotografierens gebeten wird. Im Folgenden werden nach einer Zuspitzung des Analyseinteresses Kontext und Datengrundlage dieses Beitrags in Form einer Vorstellung des deutschafrikanischen Gottesdienstes und seiner Gemeindezusammensetzung sowie speziell der Predigtpraxis näher beleuchtet. Anschließend folgt die Analyse der Thematisierung verschiedener Dimensionen von Grenzüberschreitung innerhalb der Predigt anhand von Transkriptausschnitten sowie ergänzenden Daten aus Interviews und teilnehmender Beobachtung. Der Beitrag schließt mit einem Fazit, das die Ergebnisse zusammenfasst und die Bedeutung von Grenzüberschreitung(en) für Predigt, Gottesdienst und Gemeinde herausarbeitet.

2 Predigtpraxis im deutsch-afrikanischen Gottesdienst Innerhalb der Predigt werden anhand des Bibeltextes und alltagsweltlicher Bezüge Eigenschaften der Transzendenz und davon abgeleitete Verhaltensweisen mit unterschiedlichem Explizitheitsgrad vermittelt. Die heterogene Zusammensetzung des deutsch-afrikanischen Gottesdienstes sowie das über die Gemeinde hinausgehende Engagement der deutschen und der afrikanischen Kirche bedingen die Beschäftigung mit Grenzüberschreitungen in den Dimensionen der Kultur bzw. Ethnie, Religion, Konfession sowie Raum. In diesem Beitrag wird

4 Dies umfasst u. a. Möglichkeiten und Arten des Zugangs und der Manipulation sowie Kenntnisse zu Status, Natur und Willen der übermenschlichen Macht (Riesebrodt 2007: 114).

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anhand von Predigtausschnitten gezeigt, dass Transzendenz vielfach mit Grenzüberschreitung assoziiert und an Beispielen aus der Bibel sowie Erfahrungen der Pastor:innen und der Gemeinde veranschaulicht wird. Dabei wird entsprechend nicht nur danach gefragt, wie Transzendenz im interkulturellen Predigtdialog thematisiert wird, sondern auch inwiefern sich dabei die diskursive und verhaltensregulierende Qualität der Predigt zeigt. Diesem Beitrag liegen Audio- und Videoaufnahmen von Predigten eines deutsch-afrikanischen Gottesdienstes zugrunde. Anhand dieser werden die verschiedenen Ausprägungen des Motivs Grenzüberschreitung in den genannten Dimensionen sowie ihre Verschränkung miteinander herausgearbeitet. Dabei wird gezeigt, inwiefern das Überschreiten von Grenzen nicht nur Grundbedingung für die Existenz dieses Gottesdienstes und gleichzeitig wiederkehrendes Motiv in den Predigten ist, sondern auch inwieweit sie das Selbstverständnis der Gemeinde und die Wahrnehmung des Transzendenten und seines Wirkens prägt. Der beschriebene Gottesdienst ist ein seit 2006 monatlich stattfindender gemeinsamer Gottesdienst einer deutschen und einer afrikanischen Gemeinde. Die Gottesdienstgemeinde setzt sich aus Mitgliedern der afrikanischen Kirche, einigen Mitgliedern der deutschen Kirche sowie vielen anderen Besucher:innen, die einer anderen oder keiner Gemeinde angehören und oft aus anderen Stadtteilen anreisen, zusammen. Die religiösen Hintergründe der Besucher:innen sind entsprechend vielfältig, wobei vor allem die Mitglieder der afrikanischen Gemeinde Erfahrungen sowohl mit historischen⁵ Missionskirchen, z. B. der Katholischen oder der Methodistischen Kirche, als auch mit neueren pfingstlichcharismatischen Gemeinden haben. Aber auch unter anderen Besucher:innen sind (zusätzliche) evangelikale und freikirchliche Hintergründe keine Seltenheit. Die Predigt wird von einem:einer deutschen Pastor:in und dem Pastor der afrikanischen Kirche ‚im Dialog‘ auf Deutsch und Englisch gehalten. Sie findet nicht direkt im Anschluss an die Lesung, in der ein Bibeltext in Deutsch und in Englisch verlesen wird, sondern nach dem Bibelgespräch statt. In diesem Gespräch tauschen sich die Gottesdienstbesucher:innen in Kleingruppen über den Bibeltext anhand einer Leitfrage aus und können im Anschluss Fragen stellen oder Kommentare an die ganze Gemeinde geben.

5 Hiermit sind ursprünglich von europäischen Missionen auf dem afrikanischen Kontinent gegründete Kirchen gemeint. Die Bezeichnung als „historisch“ ist notwendig, „[d]a sich christliche Kirchen per se missionarisch verstehen“ und dies ebenfalls auf viele – unabhängig von historischen Missionen entstandene – afrikanische Kirchen in Afrika, aber auch in der Diaspora, zutrifft (Simon 2003: 15).

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Die Vorbereitung der Pastor:innen, in der sie zunächst Gottesdienstthema und Bibeltext⁶ festlegen, findet gemeinsam statt. Die konkrete Predigtvorbereitung besteht aus einem Gedanken- und Ideenaustausch, sodass die Pastor:innen mit einem groben Grundgerüst ausgestattet sind, welches sie im Anschluss alleine oder im Austausch zu zweit ergänzen. Im Gottesdienst selbst gehen sie maximal mit Stichpunkten in den Predigtdialog, sodass sich die Predigt flexibler und interaktiver gestaltet und beispielsweise auch auf Beiträge der Gemeinde im Rahmen des vorherigen Bibelgesprächs eingegangen wird. Darin zeigt sich der pfingstlichcharismatische Einfluss: In so geprägten afrikanischen Migrationsgemeinden wird die Predigt – inspiriert durch den Heiligen Geist – meist frei sprechend, d. h. ohne vorher schriftlich ausformulierten Text, gehalten. Dabei erwarten und provozieren die Prediger:innen Reaktionen der Gemeinde, beispielsweise in Form von „liturgischen Interjektionen“ wie „Amen!“ und „Hallelujah!“, oder in Form von Applaus und Jubel (Simon 2003: 85, 263). Diese aktiven Beteiligungsformen der Gemeinde sind auch im hier untersuchten deutsch-afrikanischen Gottesdienst zu beobachten. Die gemeinsame Predigt eines:einer deutschen Pastors:Pastorin mit dem Pastor der afrikanischen Gemeinde findet demnach im Spannungsfeld verschiedener konfessioneller und kultureller Hintergründe statt. Die Verkündigung von Gottes Wort sowie seine Interpretation und sein Bezug auf die (unterschiedlichen) Alltagsrealitäten der Gemeindemitglieder – d. h. die vertikale sowie die horizontale Kommunikation und ihre Nutzung in diskursiver sowie verhaltensregulierender Art – sind von den Pastor:innen in den ihnen i. d. R. zur Verfügung stehenden 10–20 Minuten im Hinblick auf diese Heterogenität der Gemeinde zu gestalten. Im Folgenden wird anhand von Predigtausschnitten dargestellt, dass das Aufzeigen von Zusammenhängen zwischen Gottes Wort und Alltag u. a. durch die Thematisierung des Überschreitens unterschiedlicher Grenzen teilweise explizit – beispielsweise durch Rollenspiele, die das Geschehen des Bibeltextes nachempfinden –, im Falle der häufiger auftretenden alltäglichen Erfahrungs- und Ereignisberichte jedoch impliziter geschieht.

6 Dieser orientiert sich nicht zwingend an der evangelischen Perikopenordnung, sondern oft an Themen, die in der Gemeinde, dem Stadtteil oder der Gesellschaft allgemein aktuell sind.

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3 Transzendenz und Grenzüberschreitung(en) Die in diesem Abschnitt vorgestellten unterschiedlichen Dimensionen von Grenzüberschreitung basieren auf von den Akteur:innen selbst wahrgenommenen und / oder postulierten Grenzen, deren Überschreitung sie in Bezug zur Transzendenz setzen. Dabei orientieren sie sich an sozialen Makrokategorien wie Religion und Konfession, Ethnie und Nationalität, die innerhalb der Gottesdienstbesucher:innen verschiedene Gruppen voneinander ‚abgrenzen‘ und vielfach den separaten Gemeinden der deutschen und der afrikanischen Kirche entsprechen. Das Überschreiten von Grenzen meint demzufolge das Zugehen auf und die Interaktion sowie Kooperation mit Menschen, die in einer oder mehreren dieser generalisierenden Dimensionen als anders wahrgenommen werden. In den Predigten wird die Verschränkung von horizontaler und vertikaler Kommunikationsrichtung deutlich, wenn die Pastor:innen Zitate aus dem gelesenen Bibeltext in weiterführende Erläuterungen einflechten bzw. als Ausgangspunkt für Erzählungen eigener Erfahrungen oder Ereignisse in der Gemeinde nutzen. Dies ist in erster Linie diskursive Praktik im Sinne Riesebrodts (2007: 114, 128), da das Wissen über Gott erneuert und vertieft wird, entsprechend der Position der Pastor:innen in Nachfolge der Prophet:innen, die über Amtscharisma verfügen und „aktiv an der Ausgestaltung der Glaubensinhalte“ beteiligt sind (Lasch & Liebert 2015: 482). Zugleich zeigt sich hier auch die potenziell verhaltensregulierende Praktik der Predigt (Riesebrodt 2007: 114), wenn bestimmtes Verhalten als von der Transzendenz erwünscht und / oder ihr zugeschrieben wird und z. B. anhand der Handlungen von Jesus Christus veranschaulicht wird. Auch explizitere Formen, d. h. konkrete, sich mindestens an die anwesende Gemeinde richtende, Handlungsaufforderungen, sind hier zu finden. Der Bezug zur Transzendenz kann also direkt über Verweise auf Bibelstellen geschehen, in denen die Menschen zu einem bestimmten Verhalten aufgefordert werden oder anhand Jesus‘ Vorbild handeln sollen (s. z. B. 3.2). Auch der indirektere Bezug über die gemeinsame Zugehörigkeit zum Christentum und den unterstellten damit geteilten Werten (z. B. Nächstenliebe) ist möglich (s. z. B. 3.1). Um Grenzüberschreitung(en) einfordern zu können, müssen die unterstellten Grenzen benannt werden, was entsprechend der oben genannten Orientierung an Makrokategorien überwiegend mit expliziten Kategorienlabels geschieht, die Personen bestimmte Gruppenidentitäten zuweisen (Bucholtz & Hall 2005: 592, 594). Gleichzeitig positionieren die Pastor:innen sich selbst mindestens zweifach: (i) grundsätzlich als Pastor:innen, die über spezifisches Wissen sowie Erfahrungen verfügen, die sie in der Predigt vermitteln und bewerten; (ii) themenabhängig als Angehörige einer oder mehrerer Gruppen, die auch anhand sozialer Makrokategorien benannt werden,

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beispielsweise als Christ:innen, als Deutsche:r oder Afrikaner:in, als Menschen mit oder ohne Migrationshintergrund, etc. Mit dieser sozialen Positionierung geht der Ausdruck von Werten und Einstellungen bezüglich eines bestimmten „Objekts“ – z. B. eines Sprachgebrauchs, einer Personengruppe, eines Themas – und damit von Ideologien⁷ einher sowie die Ausrichtung an den an der Interaktion beteiligten Personen. Dieser Prozess wird mit dem Konzept des Stancetakings erfasst (Spitzmüller 2013: 269–270; Spitzmüller, Flubacher & Bendl 2017: 8, 10). In der Betrachtung verschiedener Dimensionen von Grenzüberschreitung im folgenden Abschnitt werden die Positionierungen der Pastor:innen miteinbezogen, da sie bei der Vermittlung von Glaubensinhalten (diskursiv) und Handlungsempfehlungen (verhaltensregulierend) in Bezug auf bestimmte Gruppen innerhalb der Gemeinde oder der Gemeinde als Gesamtgruppe relevant werden.

3.1 Grenzüberschreitung interreligiös und interkonfessionell Das Motiv der Grenzüberschreitung, das sowohl Ziel als auch Mittel sein kann, spielte bereits zu Beginn der Kooperation zwischen deutscher und afrikanischer Gemeinde eine zentrale Rolle. Die deutsche Gemeinde zeichnet sich generell durch eine „integrationspolitische“ und „interkulturelle Ausrichtung“ aus, die sich in verschiedenen Tätigkeitsbereichen niederschlägt, welche „[…] der Funktion dienen, im Grunde, Vitalisierung durch Grenzüberschreitung“ zu erreichen (Interview Pastor). Ein Beispiel für diese Ausrichtung der deutschen Gemeinde – und in Ableitung davon auch der gemeinsamen Aktivitäten mit der afrikanischen Gemeinde –, ist die interreligiöse Dimension. Hierbei wird sich sowohl in Predigten als auch im Rahmen anderer Veranstaltungen besonders auf die muslimischen Gemeinden in der Nachbarschaft bezogen. Anhand des Bibelzitats „Gott ist die Liebe“ (1 Joh 4,8) wurde in einer Predigt verdeutlicht, dass dort, wo sich Liebe ereignet, sich auch Gott ereignet, d. h. nicht weit entfernt im Himmel, sondern „hier“ zwischen Menschen. Daraus abgeleitet ergibt sich die Forderung nach Nähe und Liebe auch zu Andersgläubigen:⁸

7 Ideologie wird hier gefasst als „(Sämtliche) kollektiv geteilte(n) Werte und Einstellungen einer sozialen Gruppe“ (Spitzmüller 2012: 2). 8 Die verwendete Transkriptionskonvention ist HIAT (Rehbein et al. 2004). Pausen werden bei Längen unter 0,1s, 0,5s bzw. 1s mit ⋅ markiert, ab 1s in Klammern angegeben. Zudem werden Reparaturen „/“, unsichere „(Amen)“ sowie unverständliche „((unv.))“ Stellen markiert.

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If we say we love God ⋅⋅⋅ and hate our brother ⋅⋅ and our sister, then we are lying. ⋅⋅ Because ⋅⋅ it must be ⋅ vertical and horizontal. ⋅⋅ We must love God, ⋅⋅⋅ but not ((1,6s)) staying the whole time in church ⋅⋅ and praying and praying and praying, ⋅⋅⋅ but we have to do ⋅⋅⋅ love, to show love to our brothers and sisters in need. […] ⋅⋅ Love is not ⋅⋅ to/ just to be shared ⋅⋅ ⋅ among ourselves because we are Christians, because we believe in the same ⋅⋅ creed and so forth. ⋅⋅ It must go beyond.

In diesem Zitat ist zum einen die konkrete, sich an die Gemeinde bzw. Christ:innen allgemein richtende, Handlungsaufforderung zu finden, die die religiöse Praktik des Betens als nicht ausreichend bewertet, sondern aktive Handlungen der Nächstenliebe außerhalb der Kirche einfordert. Dabei positioniert sich der afrikanische Pastor durch die ausschließliche Verwendung der ersten Person Plural als Teil der Gemeinde sowie aller Christ:innen, verbalisiert eine gemeinsame Position und bezieht damit die Handlungsaufforderung auch auf sich selbst. Zum anderen werden an dieser Stelle Andersgläubige nicht mit bestimmten religionsbasierten Kategorienlabels bezeichnet, sondern als „brothers and sisters“, was die verbindende Eigenschaft des Menschseins in den Vordergrund stellt, wodurch den Pastor:innen, der Gemeinde und den gemeinten Personen Gleichheit zugesprochen wird. Im weiteren Verlauf wird dies mit Bezug zum christlichen Glauben nochmals explizit gemacht, was eine zustimmende Reaktion eines Gemeindemitglieds hervorruft:⁹ (1) PAA [v] ⋅⋅ He’s a Muslim, ⋅⋅⋅ he’s a Jew, ⋅⋅⋅ he is a Buddhist, ⋅⋅ he is a non-believer, ⋅ but he (2) PAA [v] nn [v]

is a child of God. ((1s)) (Amen)˙

Diese Predigt, die an einem 11. September stattfand, thematisierte einerseits die Terroranschläge von 2001 und andererseits die Notwendigkeit der Begegnung mit nicht-christlichen Religionen. Hierbei stand vor allem der Islam im Vordergrund, was nicht nur durch den Jahrestag der Anschläge und die daraus folgende Diskriminierung und Vorverurteilung von Muslim:innen begründet war: Es ging vor allem um die seit längerem bestehende Zusammenarbeit der Gemeinde mit muslimischen Gemeinden der Umgebung. Die beiden in diesem Gottesdienst predigen-

9 Abkürzungen in der Partiturschreibweise: PAA = afrikanischer Pastor; PAD2 = deutscher Pastor und Theologe; Gem = Gemeinde; nn = unbekannte:r, einzelne:r Sprecher:in; v = verbale Spur; k = Kommentarspur.

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den Pastoren berichteten auch über eine interreligiöse Jugendreise nach Ghana, die das Zusammenleben von Christ:innen und Muslim:innen zum Thema hatte: Wir können ⋅⋅ Liebe nur ⋅⋅ üben. ((0,9s)) Üben […], indem wir ⋅⋅⋅ also wirklich bewusst aufeinander zugehen, indem wir ⋅⋅⋅ die anderen Menschen wahrnehmen ((1,5s)) und dann auch ein bisschen Grenzen überschreiten. ⋅⋅⋅ Grenzen so ⋅⋅ äh der eigenen ⋅⋅ vertrauten Gemeinschaft. ⋅⋅ Das klassische Beispiel für uns hier in dieser Gemeinde […] ist, ⋅⋅ dass wir die Grenzen ⋅⋅ zu überschreiten begonnen haben zu den muslimischen Gemeinschaften. ⋅ ⋅⋅ Wo man ja sagen könnte, ”(Na) die glauben ja gaanz was anderes!”. ⋅⋅ Aber nein […]

Da sich nach dem Bibeltext und bisherigen Predigtverlauf Gott dort ereignet, wo sich Liebe ereignet, wird auch hier nochmals die Verbindung zwischen „Liebe üben“ im Sinne eines aufeinander Zugehens über Grenzen hinweg und der Transzendenz verdeutlicht. Dabei positioniert sich der deutsche Pastor zuerst allgemein als Teil der Menschheit und bewertet die Kontaktaufnahme außerhalb „der eigenen vertrauten Gemeinschaft“ als positiv und als (notwendige) Übung in Liebe. Anschließend nimmt er die Position eines Angehörigen der Gemeinde ein, welche als religiöse Institution bereits Grenzüberschreitung im interreligiösen Sinn praktiziert. Er verbalisiert eine Annahme über Muslim:innen, die Christ:innen haben könnten und positioniert sich damit einerseits als Christ, der diese Annahme nachvollziehen kann, andererseits aber wieder als Person mit bestimmtem Wissen und Erfahrungen, die diese Ideologie infrage stellen. Der Schlussteil der Predigt bezog sich noch einmal auf den Bibeltext und betonte die Wichtigkeit von Taten statt Worten: „wer die Liebe nicht tut, ⋅⋅⋅ wer davon nur redet, ⋅⋅⋅ der hats nich verstanden.“ Die in diesen kurzen Ausschnitten enthaltenen expliziten Aufforderungen zur Grenzüberschreitung sind kein leerer Appell, da die Pastor:innen dies selbst durch die vielfältigen Begegnungen und Aktivitäten mit den muslimischen Gemeinden vorleben. Der folgende Transkriptausschnitt einer anderen Predigt mit einem anderen deutschen Pastor befasst sich hingegen mit der interkonfessionellen Dimension und zeigt deutlicher die Beteiligung der Gemeinde, die sich durch verbale und non-verbale Handlungen zu dem Gesagten positionieren kann. Der deutsche Pastor berichtet hier von seinen Erlebnissen bei einer Konferenz der Entwicklungshilfeorganisation Brot für die Welt mit Pfingstkirchen in Ghana. In diesem Zusammenhang verbalisiert er Vorurteile, die andere Konfessionen über die Praktiken und (fehlende) soziale Verantwortung von Pfingstkirchen haben.

94 | Cornelia F. Bock (1) PAD2 [v] ⋅⋅ Das war die ⋅ allererste Konferenz überhaupt von „Brot für die Welt” ⋅⋅⋅ (2) PAD2 [v] Gem [v] nn [v] Gem [k]

zusammen ⋅⋅⋅ mit ((1s)) Pfingstkirchen ⋅ in Westafrika. (( 5,2s

)) Mit Pfingst/ ((klatscht 4,1s))˙

Hallelujah! erst vereinzelt,

(3) PAD2 [v] Gem [k]

mit Pfingstkirchen. ⋅⋅ Also die Frage war nämlich: ⋅⋅⋅ Können wir dann mehrere

(4) PAD2 [v]

als ⋅ ((1,3s)) Entwicklungshilfeorganisation eigentlich zusammenarbeiten auch mit

(5) PAD2 [v]

den Pfingstkirchen in Westafrika? Ja? ((1,2s)) Sind die Pfingstkirchen ⋅⋅⋅ bereit

(6) PAD2 [v]

((1,5s)) Entwicklungs- ⋅⋅ -arbeit ⋅ auch zu leisten oder geht es in den Pfingstkirchen ⋅

(7) PAD2 [v] ⋅ wie früher nur darum „Hallelujah!“ zu rufen ⋅⋅ und vielleicht Geld einzusammeln? Gem [v] ((lacht (8) PAD2 [v] Gem [v]

((1s )) Nich für, ⋅⋅ nich für irgendwelche diakonischen Zwecke, sondern für den 2,4s))˙

(9) PAD2 [v] Gem [v] Gem [k]

Pastor. ((

6,8s)) Wir ((1s)) haben wirklich einige ⋅⋅ sehr positive ((lacht 1,1s))˙ leise, vereinzelt

(10) PAD2 [v]

Überraschungen erlebt.

Der Pastor spricht aus Sicht eines Vertreters einer (westlichen) Entwicklungshilfeorganisation sowie aus Sicht nicht-pfingstlicher Kirchen. Dabei werden durch die

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Verwendung der ersten Person Plural sowie des Labels „Pfingstkirchen (in Westafrika)“ die referenzierten Gruppen konstituiert. Zunächst betont er die Besonderheit dieser Veranstaltung durch die Wiederholung „Mit Pfingstkirchen“ (Partiturfläche 2–3). Anschließend führt er eine sprachliche Bewertungshandlung aus, die Pfingstkirchen negativ darstellt, indem er ihnen Oberflächlichkeit und eine Fokussierung auf finanzielle Bereicherung unterstellt. Daraus abgeleitet ist die Möglichkeit bzw. Sinnhaftigkeit der Zusammenarbeit aus Sicht der Entwicklungshilfeorganisation fraglich (Partiturfläche 3–9). Die Gemeinde zeigt ihre Zustimmung bzw. Begeisterung für die gemeinsame Konferenz durch die liturgische Interjektion „Hallelujah!“ sowie Klatschen (Partiturfläche 2–3). Es fällt auf, dass das „Hallelujah!“-Rufen eines Gemeindemitglieds als affirmative Praktik im gemeinsamen Gottesdienst vorkommt, während der Pastor denselben Ausruf explizit metapragmatisch als Ausdruck der Oberflächlichkeit westafrikanischer Pfingstkirchen anführt. Er kritisiert hier die Inszenierung vieler Pfingstkirchen, deren Gottesdienste häufig starken Eventcharakter haben und z. T. in Stadien mit vielen Tausend Besucher:innen stattfinden („Megachurches“, Kalu 2009: 131). Er unterstellt damit, dass diese der Erlangung von Bekanntheit und Bereicherung der Prediger:innen dienen und weniger der tatsächlichen und vertiefenden Vermittlung des Glaubens. Die Reaktion der Gemeinde auf die provokante Äußerung über die Oberflächlichkeit der Pfingstkirchen ist Lachen (Partiturfläche 7–8). Dies kann ebenfalls als Zustimmung bzw. Ausdruck eines Verständnisses und einer damit einhergehenden Ausrichtung am Pastor verstanden werden. Denn die afrikanische Gemeinde verfügt selbst über pfingstlich-charismatische Einflüsse und viele Besucher:innen des gemeinsamen Gottesdienstes haben Erfahrungen mit Pfingstkirchen gemacht. Vor allem bei den Afrikaner:innen ist entsprechend Wissen über die dort praktizierte Art der Gottesverehrung sowie das bis in die 1990er Jahre oft vorherrschende Wohlstandsevangelium vorhanden: „The underlying theory of the ‘gospel of prosperity’ is that God rewards faithful Christians with good health, financial success and material wealth […]“ (Asamoah-Gyadu 2005: 202). Dabei lebten einige Prediger:innen dies vor, indem sie selbst durch Gemeindespenden wohlhabend wurden, wie der afrikanische Pastor anschließend ebenfalls mit Bezug auf die 90er Jahre berichtet: „and you would see the man of God, the woman of God riding big cars, ⋅⋅ enjoying fabulous ⋅⋅ banquets ⋅⋅ and having ⋅ lots and lots of ⋅ mansions all over the place.“ Er bestätigt somit das zuvor geäußerte Vorurteil, fährt aber dann – wie sein deutscher Kollege (Partiturfläche 9–10) – fort, die seitdem eingetretenen Entwicklungen zu beschreiben und positiv zu bewerten. Beide Pastoren bewerten das Thema Pfingstkirchen und soziale Verantwortung also gleich und nehmen damit ähnliche Positionen ein, die sich aber durch ihre jeweiligen konkreten Erfahrungen unterscheiden. Die Gemeinde zeigt durch ihre verschiedenen Reaktionen, dass sie die Ansichten teilt bzw. nachvoll-

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ziehen kann, wodurch auch das Gemeinschaftsgefühl innerhalb der anwesenden Gemeinde gestärkt wird. In dieser Predigt werden konfessionelle Unterschiede dargelegt und am Beispiel der Pfingstkirchen und von ihnen eingerichteten sozialen Diensten (z. B. in Gefängnissen) das Thema soziale und gesellschaftliche Verantwortung von Kirche und damit von Gläubigen besprochen. Damit sind auch hier diskursive und verhaltensregulierende Praktiken vorhanden, die der Gemeinde ggf. neues Wissen vermitteln, Vorurteile bearbeiten und sie an das Gebot der Fürsorge an der ganzen Gesellschaft erinnern sowie sie indirekt zur Umsetzung auffordern.

3.2 Grenzüberschreitung interkulturell Die offensichtlichste Dimension von Grenzüberschreitung im deutsch-afrikanischen Gottesdienst ist die interkulturelle, die durch die Beteiligung einer deutschen und einer afrikanischen Kirchengemeinde gegeben ist und durch die Besucher:innen und die beteiligten Pastor:innen sichtbar wird. Aber auch innerhalb der Predigten werden Interkulturalität und das Miteinander von Schwarzen und weißen Menschen¹⁰ sowohl im alltäglichen als auch im religiösen Bereich oft thematisiert. Das folgende Zitat stammt aus der Predigt eines Gottesdienstes mit dem Thema „Back to the roots / Wie es war im Anfang jetzt und immerdar“, in der es um den Irrglauben einer monokulturellen Urchristenheit ging: Also das bedeutet uns viel, diese ⋅⋅⋅ ähm ⋅⋅⋅ Vision ⋅⋅ der Zukunft, ⋅⋅⋅ die sich aus der Vergangenheit speist, was wir grade ⋅⋅ aus dem Bibeltext noch einmal uns wirklich vor Augen geführt haben. ⋅⋅⋅ Dass ⋅⋅ schwarze Hände ((1s)) den Segen auf die ⋅⋅⋅ Apostel gelegt haben, die dann ausgesandt worden sind. ⋅⋅ Auch schwarze. Schwarze, ⋅ weiße ((1,2s)) ähm ⋅⋅⋅ junge, ⋅⋅ alte Hände, ⋅⋅⋅ Männerhände, Frauenhände, ((1s)) hoch gepflegte ⋅⋅ Hände eines Höflings ⋅⋅⋅ und ⋅⋅ abgearbeitete Hände ⋅⋅⋅ von Leuten, die ⋅⋅⋅ schwere Arbeit getan haben. […] Diese ⋅⋅ […] sind eigentlich ein typisches Beispiel für die Vvielfalt ⋅⋅ und Unterschiedlichkeit, ⋅⋅ die Kirche von Anfang an kennzeichnet. ⋅⋅⋅ Denn das ist ⋅⋅ der große Irrtum, ⋅⋅⋅ dass die Urchristenheit ⋅⋅ ganz einheitlich gewesen sei. Das war sie nie. ⋅⋅ Sie war immer ⋅⋅ vielfältig.

In dem zugehörigen Bibeltext (Apg 13,1–3) geht es darum, dass Menschen verschiedenster ethnischer Herkunft den Aposteln Barnabas und Paulus die Hände aufgelegt haben, bevor diese ausgesandt wurden. Dazu fand zwischen Bibellesung und Predigt ein kleines Rollenspiel statt, bei dem Gemeindemitglieder nach

10 Die Schreibung orientiert sich an Empfehlungen der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland (Schearer & Haruna 2013).

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vorne gebeten wurden, um die Apostel und Mitglieder der damaligen Gemeinde darzustellen. Dies diente einerseits der Visualisierung und damit Vergegenwärtigung des gelesenen Textes und der in ihm beschriebenen Situation und andererseits veranschaulichte es gleichzeitig die Vielfalt der eigenen Gemeinde. Diese stellt mit ihrem gemeinsamen Gottesdienst demnach eine Verbindung zur Urchristenheit her und will als Vorbild für das zukünftige Miteinander von Christ:innen unterschiedlicher Herkunft dienen. Während im Rollenspiel einzelne Besucher:innen stellvertretend für die ganze Gemeinde als Charaktere des Bibeltextes sowie im Raum positioniert wurden, positionieren sich die Pastoren sprachlich zum Rollenspiel, dem ihm zugrundeliegenden Bibeltext sowie der eigenen Gottesdienstpraxis. Letztere wird aus Sicht der eigenen Gruppe der am gemeinsamen Gottesdienst beteiligten Pastor:innen („uns“) als positiv bewertet und als durch die Vielfalt der Urchristenheit inspiriert beschrieben. Dies wiederholt sich im Laufe der Predigt mehrfach und die Pastoren drücken ihre gegenseitige Zustimmung aus. Gleichzeitig zeigt sich durch die Formulierung „Vision der Zukunft“ zum einen die Wichtigkeit der kontinuierlichen Überprüfung und Weiterentwicklung des Gottesdienstes und der Kooperation allgemein. Zum anderen wird der Wunsch deutlich, dass sich die Idee des interkulturellen Gottesdienstes verbreitet. Im vorliegenden Zitat des deutschen Pastors wird des Weiteren vor allem die Positionierung anhand ethnischer Kategorien deutlich, wenngleich er auch andere Kategorien benennt (Alter, Gender, Klasse) und scheinbare Dichotomien aufruft. Die Betonung der schwarzen Hände durch Erstnennung sowie Wiederholung und Hervorhebung mit „auch“ verweisen auf die Seltenheit der gemeinsamen Gottesdienstfeier Schwarzer und weißer Gemeinden in Deutschland. Zudem nimmt der Pastor die Position der Gruppe weißer Deutscher ein, deren religiöse Erfahrungen überwiegend in weißen Gemeinden gemacht wurden. Damit positioniert er sich als diesem Teil der Gemeinde zugehörig. Er verbalisiert damit aber nicht nur die religiösen Erfahrungen und das unterstellte religiöse Wissen dieses Gemeindeteils, sondern erweitert sie. Die Aufzählung verschiedener Personengruppen wird mit dem Wissen der Pastoren (Vielfalt der Urchristenheit) verknüpft, die explizit den Fehlglauben der Einheitlichkeit korrigieren wollen. Dieser speist sich wiederum u. a. aus den eigenen religiösen Erfahrungen, die vor allem bei weißen Deutschen monokulturell geprägt sind. Vor diesem Transkriptausschnitt wurde bereits von beiden Pastoren die Besonderheit des deutsch-afrikanischen Gottesdienstes hervorgehoben, da weltweit nur selten Schwarze und weiße Christ:innen gemeinsam Gottesdienst feiern. Auch in Deutschland sind regelmäßige gemeinsame Gottesdienste von deutschen

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und Migrationsgemeinden eine Ausnahme (Kahl 2009: 402).¹¹ Dies widerspricht der Vielfalt der Urchristenheit und steht entsprechend im Kontrast zum gelesenen Bibeltext und dem Rollenspiel – aber auch zum eigenen Gottesdienst. Die Betonung der Vielfalt der Urchristenheit und ihre positive Bewertung können zur Legitimation der eigenen Vision genutzt werden: Das Ziel einer gemeinsamen Gemeinde von Deutschen und Afrikaner:innen entspringt der Bibel und dem Ursprung des Christentums. Die Pastoren bezeichnen es entsprechend als Segen, dass die Besucher:innen gemeinsam Kirche sein wollen. Um diese Botschaft der Einheit in Vielfalt zu untermauern, wurde anschließend zum gemeinsamen Abendmahl eingeladen: We need ⋅⋅ — as people from diverse ⋅ backgrounds — ⋅⋅⋅ t/ to be on the way of learning ⋅ together towards, ⋅⋅⋅ towards that wish Jesus is pointing us to, to unity. […] ⋅⋅⋅ Even in our own ⋅⋅ differences, ⋅ even in our own ⋅⋅ ehm eh diversities, ⋅ we can become ⋅⋅ unified, ⋅⋅ but through ⋅⋅ the body of Christ.

Durch das bewusst gemeinsam gefeierte Abendmahl wird der Bezug zur Transzendenz, in Form der Einheit durch Jesus Christus, verdeutlicht. Im gesamten Predigtdialog und speziell in der Einladung zum Abendmahl sind die diskursive und verhaltensregulierende Qualität der Predigt erkennbar: Es werden Eigenschaften der ursprünglichen Religion beschrieben und als erstrebenswert dargestellt, untermauert durch Jesus Christus‘ Aufruf zur Einheit, womit eine Handlungsanweisung einhergeht. Zugleich wird der gelebte Glaube im eigenen Gottesdienst als Weg zu dieser Einheit benannt und damit das Ziel erreichbar.

3.3 Grenzüberschreitung räumlich Der Bezug zur Urchristenheit und ihrer Vielfalt im vorherigen Abschnitt deutet auch auf einen weiteren, in den aufgezeichneten Predigten selbst nicht explizit angesprochenen, aber in ihnen und im Gottesdienst präsenten Fakt: Die Rolle von Migration bei der Verbreitung von Religion(en). Vor allem in der missionarisch ausgerichteten christlichen Religion spielten Migration und interkultureller Kontakt von Beginn an eine wichtige Rolle, wie Kahl (2014: 74) beschreibt: [C]ross-cultural processes represent a central feature of the spread of early Christianity; as such, they correspond to an understanding of the meaning of the gospel among Hellenized Jews as essentially involving the transgression of boundaries.

11 Für eine Beschreibung struktureller sowie theologischer Unterschiede, die zu Konflikten führen (können), siehe u. a. Jach (2005: 248, 282) und Ter Haar (2011: 243–244).

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An Prozessen der Religionsverbreitung durch Migration sind sowohl Migrant:innen, die ihre religiöse Identität mit ins Zielland bringen und dadurch dessen religiöse Landschaft verändern und diversifizieren, beteiligt als auch offizielle Missionar:innen, die gezielt in andere Länder reisen, um dort das Christentum zu verbreiten. Für letztere sind die europäischen Missionen ab dem 15. Jahrhundert auf dem afrikanischen Kontinent zu nennen, aber auch die seit Mitte des 20. Jahrhunderts ansteigende Zahl afrikanischer Missionar:innen, die nicht nur innerhalb Afrikas aktiv sind (Jach 2005: 103–104, 149; Langewiesche 2012: 105; Center for the Study of Global Christianity 2013: 76). Im Kontext heutiger afrikanischer Migrationsgemeinden in Westeuropa spielen Mission und Migration vielfach eng zusammen, da ein Großteil dieser Gemeinden dem pfingstlich-charismatischen Spektrum zuzurechnen ist und sich aktiv missionarisch betätigt (Währisch-Oblau 2006: 34; Adogame 2002: 41). Die physische Bewegung von Menschen im Raum im Sinne des Überschreitens von Staatsgrenzen ist eine Grundbedingung der Existenz des gemeinsamen Gottesdienstes, der ohne die vorangegangene Migration afrikanischer Christ:innen nicht ins Leben gerufen worden wäre. Entsprechend kann das in 3.2 beschriebene Rollenspiel der Aussendung der Apostel auch im Hinblick auf die Migration der Afrikaner:innen erster Generation und die nach der Etablierung ihrer Kirchengemeinde entstandene deutsch-afrikanische Kooperation interpretiert werden. Zudem kann es auf alle Besucher:innen des gemeinsamen Gottesdienstes angewandt werden, indem diese zum einen als Gläubige die christliche Botschaft weiterverbreiten und zum anderen speziell diesen Gottesdienst ‚bewerben‘ sollen bzw. können. Innerhalb des Gottesdienstes und der Predigt werden weitere räumliche ‚Grenzen‘ überschritten bzw. die gewohnten Positionierungen verändert: Es gibt einige Elemente, bei denen die Besucher:innen angehalten sind, sich (temporär) neu zu positionieren und dabei in Kontakt zu anderen zu treten. Dazu zählen z. B. die Begrüßungen, in denen sich alle im Mittelgang begegnen, und das Bibelgespräch, bei dem sich Kleingruppen anhand einer Leitfrage über den Bibeltext austauschen und sich näher kennenlernen können. Zudem stehen die Pastor:innen nicht auf der Kanzel oder am Lesepult, sondern vor der ersten Bankreihe. Sie befinden sich also sowohl horizontal in der Nähe als auch vertikal auf der gleichen Ebene wie die Gemeinde. Auf diese Weise präsentieren sie sich nicht nur als untereinander gleichberechtigt, sondern auch als Teil der Gemeinde. Der einzige Unterschied ist, dass sie stehen und ein Mikrofon haben. Diese Position können aber auch Gemeindemitglieder einnehmen, wenn sie im Rahmen des Bibelgesprächs etwas der gesamten Gemeinde mitteilen wollen. Die genannten räumlichen Positionierungen bzw. deren Veränderung erhöhen die Interaktion der Gemeindemitglieder untereinander während des Gottesdienstes und stär-

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ken das Gemeinschaftsgefühl. Sie reihen sich zudem neben anderen Arten der „Horizontalisierung“ von Gottesdiensten ein, die auch in nicht-interkulturellen Gottesdiensten beobachtbar sind (Zoller & Hausendorf 2020).

4 Fazit In den im Predigtdialog des deutsch-afrikanischen Gottesdienstes vorhandenen Beschreibungen des Wirkens des Transzendenten lässt sich Grenzüberschreitung als facettenreiches und wiederkehrendes Motiv identifizieren. So wird das Transzendente vielfach mit Grenzüberschreitung in Verbindung gebracht bzw. es wird betont, dass dort, wo Grenzüberschreitungen sich ereignen, sich Gott ereignet. Beispielsweise wird das gemeinsame Feiern als „blessing“ bezeichnet und beim 10-jährigen Jubiläum Gott für diesen gemeinsamen Gottesdienst gedankt. Innerhalb der Predigt werden unterschiedliche Dimensionen von Grenzüberschreitung angesprochen und anhand des Bibeltextes, aber vor allem durch Erfahrungen der Pastor:innen sowie Ereignisse in der Gemeinde veranschaulicht. Dabei positionieren sich die Pastor:innen zum jeweiligen Thema bzw. der jeweiligen Grenze einerseits in ihrer institutionellen Rolle und andererseits als Angehörige einer bestimmten Gruppe und verbalisieren dabei die jeweils eigene Perspektive. Dies geschieht mehrheitlich durch die Verwendung von Kategorienlabels auf makrodemographischer Ebene, die zur sprachlichen Gruppenkonstitution dienen. Damit einher gehen Bewertungshandlungen, die z. B. Vorurteile oder Annahmen enthalten können und innerhalb des Predigtdialogs behandelt werden, wobei sich die Pastor:innen durch Zustimmung oder Ablehnung des zuvor Gesagten zueinander, zur Gemeinde und zum Thema positionieren. Die Gemeinde wiederum kann durch verbale und non-verbale Handlungen, wie liturgische Interjektionen oder Applaus, ebenfalls Stellung beziehen. Sie wird zudem in die Positionierungshandlungen der Pastor:innen miteinbezogen, wenn diese sich als Christ:innen und speziell als Angehörige dieser Gemeinde bezeichnen. Die Gemeinschaft innerhalb der Gemeinde wird dabei betont, da vielfach die erste Person Plural verwendet wird. Die Identifizierung, Beschreibung und Betonung von Grenzüberschreitung als wichtigen Aspekt der Selbstpositionierung als Christ:in zeigt die von Riesebrodt (2007: 114, 128) beschriebene diskursive Qualität der religiösen Praktik Predigt. Die Pastor:innen vermitteln den Gemeindemitgliedern Wissen über das Christentum und Religiosität im Allgemeinen und Gottes Eigenschaften und Wille im Speziellen sowie zusätzlich über das jeweils ‚Fremde‘, das sich auf der anderen Seite der Grenze befindet. Dabei wird Grenzüberschreitung als Zeichen bzw. Ei-

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genschaft des Transzendenten gedeutet. Diese diskursive Qualität ist verschränkt mit der verhaltensregulierenden, da Grenzüberschreitung als Handlungsmaxime für die Gemeinde ausgegeben wird. Es wird betont, dass Worte – und auch Gebete – nicht ausreichen, sondern Taten folgen müssen, für die verschiedene Beispiele sowohl aus der Bibel, vielfach mit Bezug auf Jesus Christus als Vorbild, als auch aus dem Leben der Pastor:innen und Gemeindemitglieder angeführt werden. Ereignisse innerhalb und im Umfeld der Gemeinde werden thematisiert und Verbindungen zu Gottesdienstthema und Bibeltext aufgezeigt. Die Verknüpfung der Verkündigung von Gottes Wort (vertikale Ebene) und seiner Auslegung (horizontale Ebene) mit alltagsnahen Erfahrungen und Personen erleichtert den Gläubigen die Übernahme in eigenes Handeln. Die meist in den Erzählungen enthaltene aktive Beteiligung der Pastor:innen erhöht deren Amtscharisma, macht die expliziten und impliziten Aufforderungen zu Grenzüberschreitung authentischer und das transzendente Wirken greifbarer. Der wichtigste Aspekt für die Vermittlung von Grenzüberschreitung als Zeichen des Transzendenten sind jedoch die im Gottesdienst beobachtbaren interkonfessionellen, interkulturellen, interreligiösen sowie räumlichen Grenzüberschreitungen in allen liturgischen Elementen, die für ihn selbst konstitutiv sind. Insbesondere die räumliche und interkulturelle, aber auch die interkonfessionelle Dimension stellen eine Grundbedingung für die Existenz des deutschafrikanischen Gottesdienstes dar. Neben expliziten und impliziten Bezügen auf dieses Motiv in den Predigten und den gewählten Bibeltexten sind Grenzüberschreitungen der verschiedenen Dimensionen auch in anderen Elementen des Gottesdienstes mehr oder weniger deutlich zu beobachten und es können auch mehrere Dimensionen gleichzeitig und in Kombination miteinander auftreten. Dabei ist die – nicht auf der inhaltlichen Ebene thematisierte – räumliche Dimension leicht mit anderen zu verschränken. In den regelmäßigen Gottesdiensten sind aufgrund der religiös und kulturell diversen Hintergründe der Besucher:innen grundsätzlich Möglichkeiten zur gleichzeitigen Grenzüberschreitung in interkonfessioneller und interkultureller Dimension gegeben. Jedoch wird diese Kombination selten explizit gemacht. Für die Verschränkung von interreligiöser und interkultureller Grenzüberschreitung ist die Zusammenarbeit mit muslimischen Gemeinden ein Beispiel. Grenzüberschreitung ist auch Teil des Selbstverständnisses der Gottesdienstgemeinde, was sich in den Positionierungshandlungen der Pastor:innen niederschlägt, die auch bei zunächst negativer Bewertung des ‚Fremden‘ Vorurteile und fehlerhafte Annahmen entkräften und mit Bezug auf das Transzendente und das Wesen des Christentums Grenzüberschreitung als positive und notwendige Handlung darstellen. Es wird vor allem die interkulturelle Dimension oft explizit the-

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matisiert, wobei dies als Zwischenstufe auf dem Weg zu einer neuen, gemeinsamen temporären Identität als eine Gottesdienstgemeinde gesehen werden kann.

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Grenzüberschreitung als Zeichen des Transzendenten |

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Anna-Maria Balbach & Jan Oliver Rüdiger

Religion „on air“ – Konfessioneller Sprachgebrauch in Radiopredigten Eine korpuslinguistische Untersuchung

1 Einführung und Fragestellung „Gott ist wie mein Dönermann. Mein Dönermann hat immer offen. … Mein Dönermann kennt mich. Er weiß, was ich brauche, noch bevor ich es bestellt habe.“ (18.01.2021) So beginnt eine Radiopredigt im Jugendsender 1live des Westdeutschen Rundfunks (WDR). Eine andere beginnt mit den Worten: „Kai labert nicht rum. Kai meint es ernst. Er sagt: ‚Die Solidarität darf nicht an den Außengrenzen Europas enden.‘ Und deswegen packt Kai an.“ (21.01.2021) Die beiden Textanfänge verraten bereits Einiges über Inhalt und Gestaltung der kurzen Verkündigungssendungen mit dem Titel Kirche in 1live. Zum einen versuchen sie sich sprachlich an der Zielgruppe des Jugendsenders zu orientieren, der mit täglich 2,7 Millionen ZuhörerInnen zwischen 14 und 29 Jahren der reichweitenstärkste Jugendsender Europas ist (WDR 2021). Zum anderen greifen sie inhaltlich Themen wie z. B. das persönliche Gottesbild oder praktizierte Nächstenliebe auf. Themen, die auch in Sonntagspredigten im Fokus stehen könnten. Anders als bei Sonntagspredigten haben die katholischen und evangelischen AutorInnen von Kirche in 1live aber nur 90 Sekunden zur Verfügung, um ihre christliche Botschaft zu vermitteln. Vorliegender Beitrag untersucht, wie die katholischen und evangelischen AutorInnen dies tun. Welche Inhalte erachten sie für relevant? Welche sprachliche Gestaltung wählen sie? Greifen katholische und evangelische AutorInnen zu den gleichen Inhalten und sprachlichen Mitteln oder zeigen sich konfessionelle Präferenzen und Differenzen? Diesen Fragen soll an einem Korpus aus Kirche in 1live-Radiopredigten aus den Jahren 2012 bis 2021 (= 2.755 Texte mit insgesamt 726.570 Token) mit einem quantitativen und qualitativen Methoden-Mix nachgegangen werden. Die Studie wird im Rahmen des DFG-Projekts „Sprache und Konfession 500 Jahre nach der Reformation“ am Germanistischen Institut der Westfälischen Wilhelms-

https://doi.org/10.1515/9783110604696-006

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Universität Münster durchgeführt.¹ Ausgangspunkt des Projekts ist die Beobachtung zahlreicher sprachlicher Differenzen zwischen Katholiken und Protestanten in der Frühen Neuzeit bis ins späte 18. Jahrhundert (Balbach 2014, Macha 2014). Ausgelöst durch die Reformation und die Herausbildung verschiedener Konfessionen entstanden konfessionspolitische Gegensätze, die die soziokulturelle Entwicklung Deutschlands und Europas stark beeinflussten und als „gesellschaftlicher Fundamentalprozeß“ (Schilling 1998: 219) bis in die alltäglichen Lebensbereiche hineinreichten. Der Wunsch nach Abgrenzung von der jeweils anderen Konfession war so ausgeprägt, dass er sich in Architektur, Kunst und sogar in der Mode zeigte. Es bildeten sich eigene Konfessionskulturen. (Maurer 2019: 111–112, 121–123) Auch die Sprache der Menschen blieb von den religiösen Umbrüchen nicht unberührt. Sprachregionale Unterschiede wurden dabei „zu konfessionellen stilisiert. Dabei kongruierte – zumindest in der Tendenz – das Ostoberdeutsch-Bairische mit dem ‚katholischen‘ Schreibgebrauch, das Ostmitteldeutsch-Meißnische mit dem ‚protestantischen‘ “ (Schmid 2009: 110). Luthers Verbundenheit mit der ostmitteldeutschen Sprachvarietät etablierte sie somit als ‚protestantische‘ Leitvarietät. Dadurch wurde sie für die Katholiken zur „Sprache der Ketzer“ (Wiesinger 2000: 159) und vehement abgelehnt. Sie bevorzugten das Oberdeutsche, das im überwiegend von Katholiken bewohnten Süden Deutschlands vorherrschte. In der Folge entstanden Unterschiede im Wortschatz der Konfessionen, in der Vornamenwahl, in der Datierung, sogar in der Rechtschreibung. Macha (2014) und Balbach (2014) konnten solche konfessionskulturell bedingten Sprachgebrauchsdifferenzen bis ins späte 18. Jahrhundert nachweisen. Heute, 500 Jahre nach der Reformation, verfolgen die Konfessionen in Deutschland mehrheitlich ein ökumenisches Miteinander und eine sprachliche Abgrenzung wie in der Frühen Neuzeit ist spätestens mit dem hochdeutschen Sprachstandard und einer verbindlichen Rechtschreibung aufgelöst. Doch auch in unserer Gegenwartssprache gibt es noch zahlreiche Möglichkeiten, sich auf verschiedenen sprachlichen Ebenen durch differierenden Sprachgebrauch voneinander zu unterscheiden (vgl. z. B. Fix 2007, Sandig 2009, Henn-Memmesheimer 2012, Schroeter et al. 2019, Bubenhofer et al. 2021). Ob die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Konfession auch heute noch zu einem konfessionsspezifischen Sprachgebrauch führen kann und wie sich dieser Sprachgebrauch ausprägt, ist Gegenstand des genannten DFG-Projekts. Als Untersuchungskorpus dienen Radiopredigten aus verschiedenen Sendern in ganz Deutschland. Sie wurden aus-

1 Vgl. Projektbeschreibung Balbach (2019) und weitere Informationen im DFG-Portal (GEPRIS & Balbach 2022).

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gewählt, da Radiopredigten einerseits einen aktuellen Ausschnitt der deutschen Gegenwartssprache darstellen, andererseits durch ihre Nähe zum religiösen Bereich eine Textform repräsentieren, in der Konfession eine Rolle spielt. Die im folgenden präsentierten Erkenntnisse basieren auf den Ergebnissen einer ersten Teilstudie des DFG-Projekts zu den Radiopredigten Kirche in 1live. Diese Radiopredigten werden abwechselnd von katholischen und evangelischen AutorInnen produziert. Aufgrund ihrer Kürze von nur 90 Sekunden sind die AutorInnen gezwungen, die jeweilige Verkündigungsbotschaft auf den Punkt zu bringen. Um konfessionellen Sprachgebrauch aufzudecken, wurde ein korpuslinguistischer Ansatz gewählt, der sich an der Idee einer Korpuspragmatik (Felder, Müller & Vogel 2012) orientiert und sowohl quantitative als auch qualitative Analysen einschließt. Da konfessioneller Sprachgebrauch in modernen Radiopredigten bislang kaum empirisch untersucht wurde, sollen verschiedene Analysemethoden erprobt werden. Die Analysen folgen einem abwechselnden, sich ergänzenden Prozess aus qualitativen und quantitativen Methoden im Sinne der erwähnten Korpuspragmatik (Felder, Müller & Vogel 2012). Dabei bewegen sich die Analysen aus zwei diametralen Richtungen aufeinander zu: Zum einen erfolgt ein quantitatives Vorgehen, in dem primär Einzeltoken-Analysen (z. B. Frequenzanalysen) sowie Zwei-Token-Analysen (z. B. Kookkurrenzen) durchgeführt werden. Es folgen Analysen von größeren Mustern wie Drei-und-Mehr-Token (z. B. N-Gramme) bis hin zu vollständigen Belegstellen, die den Übergang zur qualitativen Analyse kennzeichnen. Zum anderen wird eine Analyse vorgenommen, die auf einem qualitativen Vorgehen beruht und dazu theoretische Überlegungen, manuelle Annotationen und eigene Auswertungen erfordert, die dann mittels empirischer Verfahren überprüft werden. Während die quantitativen Verfahren einen schnellen Überblick über das umfangreiche Korpus geben, musterhaften Sprachgebrauch aufdecken und sprachliche Phänomene an der Textoberfläche aufzeigen können, erlauben die qualitativen Zugriffe einen tieferen Einblick in die Inhalte und die textuellen Strukturen und sind zudem in der Lage, sprachliche und mögliche außersprachliche Zusammenhänge und Hintergründe aufzudecken (vgl. z. B. Moschner & Anschütz 2010). Das Korpus und die verwendeten Methoden werden nachfolgend näher erläutert.

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2 Das Korpus und seine Texte Das Untersuchungskorpus besteht aus 2.755 Radiopredigten, die zwischen Januar 2012 und April 2021 unter dem Programmformat Kirche in 1live gesendet wurden. Kirche in 1live ist seit April 1995, damals noch unter dem Namen Von nix kommt nix – Kirche in EinsLive, an jedem Werktag zu hören (Nolte & Verst 1999: 5). Zunächst hatten die Beiträge einen festen Timeslot und wurden morgens um 6.55 Uhr gesendet. Im Laufe der Zeit ging der Sender dazu über, die Uhrzeit zu variieren. Die wechselnde Sendezeit wurde Teil des Konzepts: kein Hörer und keine Hörerin sollte Kirche in 1live geplant ein- oder ausschalten können, die christliche Botschaft sollte „unverhofft ins Ohr“ kommen. Das Positioning der Sendung lautet: Erfolgreich, jung, cool. Religion und Leben auf den Punkt gebracht. Mit Denkanstößen zur Alltagslust und zum Alltagsfrust. Und weil sie im Programm an jedem Tag zu einer anderen Zeit laufen, kommen sie oft unverhofft ins Ohr. (Kirche in 1live 2021)

Für die HörerInnen sind die kurzen Radiopredigten damit überraschend morgens, mittags oder abends zwischen 6 und 18 Uhr als eine Unterbrechung des üblichen Musikprogramms zu hören. Eingeleitet durch einen Jingle, der die Sendung als Kirche in 1live kenntlich macht, spricht ein Autor oder eine Autorin bzw. für die evangelischen Kirchen ein professioneller Sprecher oder eine Sprecherin² 90 Sekunden eine Radiopredigt. Anschließend ertönt wieder der Jingle und nimmt die konfessionelle Zuordnung des Beitrags vor. (Nelißen 2013: 186) Die Beiträge werden täglich außer sonn- und feiertags gesendet. Im wöchentlichen Wechsel sind sie von der katholischen Kirche und den evangelischen Kirchen gestaltet. Dadurch ist die Anzahl der Radiopredigten pro Jahr und pro Konfession nicht immer exakt gleich verteilt. Im vorliegenden Untersuchungskorpus aus zehn Jahren zwischen 2012 und 2021 variiert die Anzahl der Radiopredigten pro Jahr zwischen 280 und 307 Texten und pro Konfession zwischen 132 und 155 Texten (vgl. zur Übersicht Tab. 1). Die vorgegebene Sendezeit von maximal 90 Sekunden als Produktionsbedingung für eine Predigt führt zu einem weitestgehend einheitlichen Textumfang. Durchschnittlich umfassen die katholischen Texte 261

2 Das katholische und evangelische Rundfunkreferat haben sich für unterschiedliche Wege der Vertonung entschieden. Die evangelischen Radiopredigten werden von professionellen Sprechern vorgetragen, während das katholische Rundfunkreferat sich um der größeren Authentizität willen dazu entschieden hat, die Texte von den jeweiligen AutorInnen selbst einsprechen zu lassen (vgl. Nelißen 2013: 188).

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Token³, die evangelischen Texte 265 Token. Diese Einheitlichkeit führt auch trotz der leicht unterschiedlichen Anzahl der Radiopredigten pro Jahr und Konfession dazu, dass insgesamt relativ gleich große Korpora für die Untersuchungen vorliegen (vgl. Tab. 1). Das Jahr 2021 konnte für diese Untersuchung nur bis einschließlich April erhoben werden und weist daher weniger Texte und Token auf. Tab. 1: Anzahl der Radiopredigten und ihrer Token im Untersuchungskorpus nach Jahren und Konfessionen (e steht für evangelisch, k für katholisch).

Jahr 2012 2013 2014 2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021 Summe:

Erhobene Monate 12 12 12 12 12 12 12 12 12 4

Anzahl der Radiopredigten e k gesamt

Token der Radiopredigten e k

gesamt

132 143 147 150 139 146 153 137 155 48

280 297 300 300 288 297 302 284 307 100

36.368 38.889 39.666 40.530 36.601 37.212 40.418 35.577 41.039 12.517

38.700 43.241 38.882 38.936 37.644 39.437 37.525 38.996 39.833 14.559

75.068 82.130 78.548 79.466 74.245 76.649 77.943 74.573 80.872 27.076

2.755

358.817

367.753

726.570

148 154 153 150 149 151 149 147 152 52

Während der Tokenumfang der Korpora für die Jahre 2012–2020 ein einheitliches Bild zeigt und auch die Token pro einzelner Radiopredigt nah aneinander liegen, unterscheiden sich die Token pro Satz und die Anzahl der Sätze innerhalb der katholischen und evangelischen Radiobeiträge deutlich. Im gesamten zehnjährigen Untersuchungszeitraum weisen die katholischen Radiopredigten deutlich weniger Sätze, aber dafür mehr Token pro Satz auf. Hieraus folgt, dass die katholischen Beiträge weniger, aber dafür längere Sätze als die evangelischen Radiopredigten formulieren (vgl. Abb. 1). An dieser Stelle sei ein kurzer Blick auf die AutorInnen der Texte geworfen. Das vorliegende Korpus zeigt für den gesamten Zeitraum von zehn Jahren, dass das evangelische Rundfunkreferat mit einem doppelt so großen Autorenkreis arbeitet wie das katholische. Die katholischen Radiopredigten werden zwischen 2012 und 2021 von durchschnittlich elf verschiedenen AutorInnen pro Jahr verfasst, die evangelischen von durchschnittlich 22. Die katholischen AutorInnen

3 Token: Sind im CorpusExplorer (Rüdiger 2018) als laufende Wortformen und Satzzeichen definiert.

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Abb. 1: Links: Anzahl der Sätze innerhalb der katholischen und evangelischen Radiopredigten. Rechts: Anzahl der Token pro Satz in den katholischen und evangelischen Radiopredigten.

sind im Schnitt 35 Jahre alt (von 23 bis 50 Jahren) und die meisten von ihnen sind (Theologie-)StudentInnen oder als PastoralreferentInnen in einer Gemeinde tätig. Nur wenige sind Priester. Bei den evangelischen AutorInnen liegt der Altersdurchschnitt mit 38 Jahren (von 15 bis 57 Jahren) etwas höher. Hierbei ist auffällig, dass sich das AutorInnenalter erst in der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraums erhöht. Von 2012 bis 2016 weisen die evangelischen AutorInnen noch das gleiche Durchschnittsalter von 35 Jahren wie die katholischen AutorInnen auf. Ab dem Jahr 2017 steigt es aber dann auf 41 Jahre an. Grund dafür ist das Ausscheiden mehrerer evangelischer AutorInnen aus der Altersgruppe der Unter-Dreißigjährigen und das Hinzukommen neuer AutorInnen aus älteren Altersgruppen. Beruflich sind die evangelischen AutorInnen überwiegend in der evangelischen Kirche tätig und haben dort Ämter als PastorInnen inne. Die Verteilung der Geschlechter unter den AutorInnen ist in beiden Konfessionen sehr ausgewogen. Es scheint darauf geachtet zu werden, dass die Radiopredigten zu gleichen Teilen von Frauen und Männern geschrieben werden.

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Das Korpus setzt sich aus den schriftlich vorliegenden AutorInnenmanuskripten der Radiopredigten zusammen, da die lautliche und stimmliche Performance nicht Teil unserer Analysen ist.⁴ Die aktuellen Texte der gesendeten Radiopredigten stehen zum Download (PDF-Dokumente) auf der Webseite von Kirche in 1live bereit und sind dort heruntergeladen worden. Die nicht mehr im Netz verfügbaren Radiopredigten hat der WDR aus seinem Archiv digital zur Verfügung gestellt.⁵

3 Aufbereitung des Korpus und Untersuchungsmethoden Für die korpuslinguistischen Analysen wurden die PDF-Dokumente zunächst mittels des CorpusExplorers (Rüdiger 2018) konvertiert (Extraktion des Plaintextes und der Metadaten). Die Metadaten wurden in einem zweiten Schritt mittels OpenRefine (Huynh et al. 2012) bereinigt und wo nötig manuell ergänzt.⁶ Für alle Radiopredigten im Korpus wurden folgende Metadaten aufgenommen: die Konfession, der AutorInnenname, ggf. der SprecherInnenname, der Sender und das Sendedatum sowie der Titel der Radiopredigt. Die Daten wurden abschließend mittels des CorpusExplorers zusammengeführt, automatisiert lemmatisiert und POS-annotiert⁷. Anschließend wurden für die verschiedenen Analysen mittels der Metadaten im CorpusExplorer mehrere Subkorpora aus dem Gesamtkorpus der 2.755 Radiopredigten gebildet, z. B. wurden Korpora zu jedem einzelnen Untersuchungsjahr erstellt und nach Konfession getrennt. Der genaue Umfang der einzelnen Korpora (Anzahl der Radiopredigten und Token) geht aus Tab. 1 (vgl. oben) hervor.

4 Eine solche Untersuchung würde auch durch den unterschiedlichen Einsatz von professionellen Sprechern erschwert, vgl. dazu Fußnote 2. 5 Hierfür danken wir dem WDR und besonders Klaus Nelißen. 6 Für ihre unermüdliche Unterstützung bei der Korpuserstellung danken wir den Hilfskräften Nadine Schlump, Vera Talpos und Franziska Nebeling. 7 Die Lemmatisierung und POS-Annotation erfolgt dabei mittels des TreeTaggers (Schmidt 1995). POS ist die engl. Kurzform für Part-of-Speech und meint die Zuordnung einer Wortart für einzelne Wortformen im Korpus. Der TreeTagger nutzt dafür das etablierte „STTS – Stuttgart-Tübingen Tagset“ (Universität Stuttgart 2021), das aus 54 Tags besteht und alle Wortarten sowie Satzzeichen umfasst. Das STTS teilt dabei elf Hauptwortarten ein, die weiter untergliedert sein können (Bsp.: Nomina teilen sich in NN= normale Nomina und NE= Eigennamen).

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4 Analysen 4.1 Frequenzanalysen Ein erster Zugriff auf das vorliegende 726.570 Token⁸ umfassende Korpus (katholische und evangelische Radiopredigten von Januar 2012 bis April 2021) erfolgte mittels verschiedener Frequenzanalysen. Dazu wurde das Gesamtkorpus zunächst in zwei konfessionelle Subkorpora unterteilt. Für jedes Korpus wurden sodann mittels der Funktion Frequenzanalyse im CorpusExplorer die Anzahl der einzelnen Wörter, Lemmata und POS (Wortarten⁹) ermittelt. In nach Häufigkeiten sortierten Tabellen können dann die Vorkommen der einzelnen Wörter, Lemmata und Wortarten betrachtet werden. Die Ergebnisse zeigen auf den ersten Blick zahlreiche Ähnlichkeiten der beiden Korpora. Die Gebrauchshäufigkeiten der verschiedenen Wortarten beispielsweise sind in beiden Konfessionen ähnlich verteilt (vgl. Abb. 2). Der Anteil der Nomen, Adpositionen, Eigennamen, Interjektionen, Pronomina, Artikel, Verben und Partikeln ist nahezu gleich bzw. ähnlich (Differenzen unter 2,5 %). Unterschiede zwischen 4 %–8 % zeigen sich in der Verwendung der Adverbien, Adjektive und Konjunktionen. Sie treten häufiger in den katholischen Radiopredigten auf. Der höhere Anteil der Konjunktionen passt zum obigen Befund, dass die katholischen Radiopredigten längere Sätze als die evangelischen Beiträge aufweisen. Eine auffallende Abweichung in der Verwendung der Wortarten zeigt sich im Gebrauch von fremdsprachlichem Material. Dieses ist in den evangelischen Radiobeiträgen um 14 % höher als in den katholischen. Innerhalb der Wortarten sind zunächst auch kaum Unterschiede zu finden. In beiden Korpora stimmen viele der häufigsten Lexeme überein. Abb. 3 zeigt zum Beispiel die häufigsten drei Adjektive und Verben, die in den katholischen und evangelischen Korpora vorkommen. Bei den Adjektiven sind in beiden Konfessionen gut und einfach fast im gesamten Zeitraum die meistgebrauchten Adjektive. Auch die nachfolgenden Adjektive lassen sich zu großen Teilen in beiden Konfessionen ähnlich belegen. Unter den Verben sehen wir ebenfalls mit machen und gehen zwei gleiche Verben, die in beiden Konfessionen auf Spitzenplätzen liegen. Allerdings fällt auch auf, dass sagen im evangelischen Korpus eine besondere Rolle einnimmt. Hier ist es in vielen Jahren konstant das häufigste Verb, im katholi-

8 Dies entspricht ca. 1.816 vollständig mit Text gefüllten Seiten (bei 400 Token pro Seite). 9 POS (Part-of-Speech) und Wortart werden hier synonym verwendet, auch wenn POS ein vereinfachtes Tagset zur automatischen Annotation von Wortarten bezeichnet und nicht immer deckungsgleich ist (vgl. Schmid 1995 und Schiller et al. 1999).

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Abb. 2: Die Verteilung der Wortartenhäufigkeiten im katholischen und evangelischen Korpus (2012–2021). Zur besseren Lesbarkeit ist die x-Achse auf den Bereich 40 %–60 % reduziert. Die mittlere Linie markiert den 50 %-Wert.

schen Korpus hingegen gelangt es nur in vier von zehn Untersuchungsjahren auf den dritten Platz. Neben Gemeinsamkeiten deuten sich somit auch Unterschiede an. Für alle Wortarten wurden zur besseren Vergleichbarkeit die relativen Wortfrequenzen in Form von einzelnen Lemmata-Rängen ermittelt – wie auch schon oben für die Adjektive und Verben in Abb. 3. Je mehr Wortränge innerhalb einer Wortart miteinander verglichen werden, um so größer scheinen die konfessionellen Unterschiede in der Wortwahl zu werden. Anhand der Nomen (NN [Normale Nomen] im STTS, die NE [Eigennamen] sind davon separiert) und ihrer zehn frequentesten Lemmata wird im Folgenden eine exemplarische Detailanalyse der Gemeinsamkeiten und Differenzen durchgeführt. Die Frequenzanalysen der zehn häufigsten Nomina in den katholischen und evangelischen Korpora, erstellt für jedes einzelne Untersuchungsjahr, zeigen, dass zwischen 2012 und 2021 zwischen 50 % und 70 % der Top 10-Nomen übereinstimmen. In sechs der zehn Jahre liegt die Übereinstimmung bei 70 %. Das

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Abb. 3: Die häufigsten drei Lemmata (pro Jahr) der Adjektive und Verben in den katholischen und evangelischen Korpora für die Jahre 2012–2021.

zeigt, dass die Radiopredigten auf der sprachlichen Oberfläche sehr ähnlich gestaltet werden. Zu den in beiden Konfessionen frequentesten Nomen gehören Gott, Mensch, Leben, Tag, Jahr und Zeit (vgl. Abb. 4). Wörter, die schon erahnen lassen, um welche Inhalte es in den Radiopredigten vornehmlich geht. Mittels der KWIC¹⁰-Ansicht im CorpusExplorer, mit der zu jedem Lemma alle Belege im Korpus aufgerufen und als Synopse in ihrem unmittelbaren Kontext betrachtet werden können, kann diese Ahnung verifiziert werden: Die Belege zu den ge-

10 KWIC = Keyword in Context. Der einzelne Beleg wird hier in seinem kontextuellen Zusammenhang im jeweiligen Satz der Radiopredigt angezeigt.

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nannten hochfrequenten Wörtern bestätigen in der Kontextanalyse, dass es um die Beziehung zwischen Gott und den Menschen geht, wie diese im Leben der Menschen situiert ist und um die Beziehungen der Menschen im Alltag untereinander. Gott kommt dabei eine besondere Rolle zu, da das Lemma Gott in den zehn Jahren fast immer das meistgenutzte Nomen in beiden Konfessionen ist. Durch die Darstellung von Rängen statt Frequenzen wird in Abb. 4 nicht mehr deutlich, wie besonders die Rolle des Lemmas Gott für die Radiopredigten beider Konfessionen ist: Gott zeigt eine deutliche Dominanz gegenüber allen anderen Nomina, da es eine rund dreimal höhere Frequenz als das Nomen des nachfolgenden Ranges aufweist (vgl. hierzu auch Abb. 6).

Abb. 4: Die fünf frequentesten Nomina (NN) im Untersuchungszeitraum von 2012–2021, links im evangelischen Korpus, rechts im katholischen Korpus. Aufgrund der eingeschränkten Visualisierungsmöglichkeiten in Graustufen können nur die Ränge 1–5 abgebildet werden.

Interessant sind aber auch die Nomina der Top 10, die sich in den Ranglisten der beiden Konfessionen unterscheiden.¹¹ Dies sind in fünf der zehn Jahre Nomen aus

11 Diese sind aus den dargebotenen Abbildungen nicht abzulesen, sondern nur aus den Top 10Listen, die für jedes Jahr und jede Konfession einzeln erstellt wurden. Die dargebotenen Abbildungen (Abb. 4) listen der Übersichtlichkeit halber nur die frequentesten fünf Nomina der jeweiligen Konfession und Jahre auf.

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dem religiösen Kontext. In vier Jahren gehört das Wort Bibel im evangelischen Subkorpus zu den Top 10-Nomen, in einem Jahr das Wort Kirche. Beide Wörter erreichen einen der hinteren Rangplätze zwischen 8 und 10. Im katholischen Subkorpus ist Bibel in den ganzen zehn Jahren nicht einmal unter den Top 10 der Nomina. Allerdings ist das Wort Kirche im katholischen Korpus in fünf Jahren vertreten und erreicht nicht nur die hinteren Ränge, sondern im Jahr 2013 auch Platz6 und im Jahr 2014 sogar Platz 4 der Top 10-Nomen. Im Jahr 2016 ist zudem das Wort Glaube unter den katholischen Top 10 zu finden. Mit dem mehrmaligen Vorkommen des religiösen Wortes Bibel allein unter den evangelischen Top 10 und des Wortes Kirche häufiger unter den katholischen Top 10 deutet sich eine seit der Reformation bestehende differierende theologische Ausrichtung an, die scheinbar bis in die Radiopredigten des 21. Jahrhunderts reicht: die theologische Akzentuierung der Bibel aufgrund Luthers Maxime sola scriptura und die katholische, traditionelle Fokussierung auf die Lehre der Kirche. Der Blick in die Belege mittels der KWIC-Ansicht bestätigt diesen Eindruck. So wird Bibel im evangelischen Korpus häufig gebraucht, um auf Bibelstellen zu referieren: „In der Bibel steht: […]“ (z. B. 25.01.2021) oder „So steht es in der Bibel und für mich heißt das: […]“ (z. B. 12.10.2017). Im katholischen Korpus finden sich hingegen zahlreiche Belege für Kirche, die sich nicht auf Kirche in seiner Bedeutung eines geweihten Gebäudes beziehen, sondern auf die Organisationsform katholische Kirche und die durch den Klerus repräsentierte Institution Kirche: „Benedikt XVI. hat die Gewohnheiten seiner Kirche auf den Kopf gestellt.“ (12.02.2013), „[…] dass Frauen in meiner Kirche keine PriesterINNEN werden können.“ (18.02.2019), „Und Leute, was darf denn alles im Namen der Kirche gesegnet werden?“ (19.03.2021) Weitere Nomen unter den Top 10, die deutlich häufiger in einer der beiden Konfessionen gebraucht werden als in der anderen, sind im katholischen Korpus Leute und Kind. Während Leute in jedem der 10 Jahre unter den katholischen Top 10-Nomen ist, aber nur ein Mal unter den evangelischen Top 10, ist Kind im katholischen Korpus in fünf Jahren vertreten, im evangelischen Korpus ist es einmal im Jahr 2014 auf Platz 10 vertreten. Unter den evangelischen Top 10 zeigt sich das Wort Freund mit Belegen in sieben Jahren häufiger als im katholischen Korpus. Dort ist es in nur zwei Jahren belegt. Zudem finden sich die Nomen Mann und Frau häufiger unter den evangelischen Top 10 als unter den katholischen. Mittels einer Kontextanalyse der einzelnen Belege konnte ermittelt werden, dass die häufig verwendeten Nomen Freund, Mann und Frau der evangelischen Radiopredigten und Leute sowie Kind der katholischen Radiopredigten zu unterschiedlichen Einstiegen in die Radiopredigten führen.

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So stehen im katholischen Korpus die Belege Leute und Kind oft in sprachlichen Verbindungen, die zur Einführung in eine Erzählung oder Alltagsbegebenheit dienen. Dort heißt es z. B. „Klassentreffen sind ja für viele Leute der totale Horror […]“ (21.11.2014) oder „Es soll ja Leute geben, die […]“ (31.05.2017). Hier zeigt sich Leute als alltagssprachliches Synonym für das in beiden Konfessionen sehr häufig gebrauchte Lexem Menschen. Allerdings bringt es durch seine Bedeutung von „mit anderen zusammen auftretende, als Menge o. Ä. gesehene Menschen“ (Duden Universalwörterbuch 2019) einen allgemeineren Blickwinkel mit sich: es kommt nicht auf die individuelle Person an, vielmehr ist eine unbestimmte Menge gemeint. Die Verwendung des Nomens Kind findet sich oft in dem sprachlichen Muster ich als Kind und wird für einen sehr persönlichen Einstieg in die jeweilige Radiopredigt genutzt. „Als Kind wollte ich voll oft wie Pippi Langstrumpf sein […]“ (11.08.2015) oder „Schon als Kind war ich […].“ (31.08.2012) Zudem findet es sich aber auch in Genitivverbindungen, wie ein Kind Gottes sein („Als Kind Gottes hat Gott jedem seiner Kinder mindestens eine […]“ (05.07.2012)) oder Kind meines Vaters oder anderen festen Phrasen, wie ein Kind zur Welt bringen („Dort bringen sie ihr Kind zur Welt.“ (04.01.2016)) oder wie ein kleines Kind („Ich freue mich dann wie ein kleines Kind.“ (21.03.2014)). In den evangelischen Radiopredigten gibt es auch eine allgemeine und eine stärker persönlich ausgerichtete Einstiegsmöglichkeit in die Beiträge. Soll oder kann die als Aufhänger genutzte Alltagsgeschichte nicht mit einer bestimmten Person veranschaulicht werden, so werden die Nomen Mann und Frau eingesetzt: „Ein Mann sucht das klingelnde Ding in seiner Tasche […]“ (20.08.2012) oder „Ein alter/älterer/junger Mann […]“. Exemplarische Belege für die Verwendung von Frau folgen dem gleichen Muster: „Das hat mal eine Frau gesagt, die wirklich in der Scheiße steckte.“ (27.09.2018) oder „Die alte/ältere/junge Frau […]“. Zusätzlich tauchen die Nomen Mann und Frau aber auch oft in Bibelzitaten oder Bibelparaphrasen auf, die in den evangelischen Radiopredigten thematisiert werden: „Da gibt es zum Beispiel eine Geschichte mit einem Mann […], er solle seinen kompletten Besitz verkaufen.“ (20.03.2012) oder „Ein Mann nahm es und pflanzte es auf seinem Acker ein.“ (01.12.2012) Das Nomen Freund steht oft in Verbindung mit einem Personalpronomen sowie einem Personennamen und dient als Einführungssatz in eine Geschichte aus dem persönlichen Umfeld: „Mein Freund Kai ist jetzt Veganer […]“ (25.01.2014) oder „Mein Freund André macht selbst Musik.“ (20.08.2013). Hiermit korrespondiert die Beobachtung, dass innerhalb der Wortart Eigennamen die evangelischen Top 10 in jedem Jahr des Untersuchungszeitraums von Anthroponymen dominiert werden, während die katholischen Eigennamen mehr Toponyme und Objektnamen aufweisen. Im Jahr 2014 beispielsweise befindet sich

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u. a. der Ortsname Cleveland unter den katholischen Top 10-Namen und 2015 bilden Köln, Europa und Uganda die Namen mit der höchsten Gebrauchsfrequenz. Der Blick in die Einzelbelege bestätigt die Vermutung, dass die Toponyme Hinweise auf eine Thematisierung des aktuellen Zeitgeschehens geben. Die katholischen Radiopredigten greifen 2014 den Tod eines afroamerikanischen Jungen und die anschließenden Proteste in Cleveland auf bzw. die Flüchtlingskrise und damit verbundene Ereignisse im Jahr 2015. Übereinstimmungen unter den Top 10-Namen der beiden Konfessionen gibt es im gesamten Untersuchungszeitraum nur wenige: in fünf Jahren stimmen zwei Namen der Top 10 überein, in den anderen fünf Jahren sind es drei Übereinstimmungen. Der Name Jesus ist dabei in jedem der zehn Jahre vertreten. Fast immer ist er auch in beiden Konfessionen auf Rang 1 und somit der meistgebrauchte Name. Handy, ein Lexem, das von dem verwendeten STTS als Name getaggt wird,¹² ist in acht Jahren in beiden Konfessionen unter den Top 10. Die Kontexte der einzelnen Belege verdeutlichen, dass das Handy nicht immer im Fokus der Radiopredigten steht, sondern vielmehr als Gegenstand des Alltags und der Kommunikation nebenher erwähnt wird („Jetzt klingelt mein Handy in der Bahn.“ (03.08.2017), „Das Handy ist wie ein Körperteil von mir geworden.“ (27.09.2012)). Damit spielt es die Rolle, die es auch in der Zielgruppe des Senders einnimmt: als ständiger Alltagsbegleiter. In fünf Jahren kommt auch Deutschland in beiden Top 10-Listen vor. Der Blick in die KWIC-Ansicht legt den kontextuellen Gebrauch offen und zeigt, dass oft Aspekte aufgegriffen werden, die Verbesserungen in Deutschland anregen oder aufzeigen, wofür wir in Deutschland dankbar sein können. In den Jahren 2020 und 2021 zeigt sich das aktuelle Zeitgeschehen in beiden Konfessionen: Corona rückt in beiden Jahren auf den ersten Platz der katholischen Top 10 der Namen und verdrängt damit Jesus im Jahr 2020 auf den zweiten Platz, 2021 auf den vierten Platz. In den evangelischen Radiopredigten bleibt Jesus in beiden Jahren der meistverwendete Name und Corona erreicht 2020 den zweiten Rang, im Jahr 2021 wird es bereits wieder deutlich seltener verwendet und erscheint nur auf Platz 5. Die Ergebnisse der verschiedenen Frequenzanalysen verweisen auf mehrere interessante Aspekte, zwei sind allerdings besonders augenfällig. Zum einen liegt ein sehr hohes Vorkommen des Lemmas Gott vor sowie das Vorhandensein weiterer religiöser Begriffe unter den Top 10 der Nomina, zum anderen deuten die veränderten Frequenzen des Namens Jesus und der hohe Gebrauch von Co-

12 Da es nur schwer möglich ist, die Einteilungen des Tagsets zu ändern, muss die Einordnung von Handy als Name (NE) für die Untersuchung akzeptiert werden.

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rona darauf hin, dass sich mit dem Aufkommen der Pandemie im Jahr 2020 ein Wandel in den Radiopredigten vollzieht. Diese beiden Aspekte sollen durch eine Untersuchung des religiösen Wortschatzes und des Vokabulars rund um die Corona-Pandemie näher untersucht werden.

4.2 Wortschatzanalysen 4.2.1 Zum religiösen Wortschatz Eine Mischform aus qualitativer und quantitativer Analyse soll den religiösen Wortschatz der Radiopredigten genauer zum Vorschein bringen. Dazu wurde in einem mehrschrittigen Prozess eine Liste von 614 verschiedenen religiösen Einwort- und Mehrworteinheiten zusammengestellt. Zuerst wurden vorhandene Wortlisten religiöser Begriffe (EGG Bayern 2021, LIWC 2021, Funk 1991: 230–235) zusammengeführt und Dopplungen getilgt. Nach dem Lexemgruppenmodell von Funk (1991: 57–62) wurden die einzelnen religiösen Wörter der so erhaltenen Liste anschließend in die Lexemgruppen 1, 2 und 3 geteilt. In Lexemgruppe 1 gehören nach Funk (1991: 58) alle Begriffe, die kontextunabhängig als religiös zu erkennen sind, wie z. B. die Nomina Sacra und Wörter wie Eucharistie aus dem Kernbestand des christlichen Glaubens. Als Lexemgruppe 2 definiert Funk (1991: 58) diejenigen Wörter, die gleichermaßen eine religiöse als auch eine nicht-religiöse Bedeutung aufweisen und somit je nach Kontext verschieden gebraucht werden können. Das Wort Schuld kann z. B. eine juristische Schuld meinen, aber im religiösen Kontext auch eine Schuld vor Gott. In Lexemgruppe 3 fallen alle anderen Wörter, die zunächst keine religiöse Bedeutung aufweisen, aber durch ihren Gebrauch in einem religiösen Kontext religiös aufgeladen werden können. Das Wort Weg beispielsweise, das keine religiöse Bedeutung laut Duden (2019) aufweist, kann in einer Adventspredigt in Formulierungen wie sich auf den Weg machen religiös verwendet werden. Zahlreiche Wörter können durch entsprechende Verwendung auf diese Weise zu Wörtern der Lexemgruppe 3 werden. Daher ist diese Gruppe laut Funk (1991: 58) die größte und auch die am schwersten einzugrenzende. Aus diesem Grund haben wir uns dafür entschieden, nur Begriffe aus den Lexemgruppen 1 und 2 in unsere Wortliste aufzunehmen. Alle Wörter aus Lexemgruppe 3 wurden somit aus der bisherigen Liste gelöscht. In einem letzten Schritt wurde die Liste einem Anwendungstest unterzogen. Es wurden alle Radiopredigten des Jahres 2019–2020 vollständig und mehrfach gelesen, die religiösen Wörter identifiziert, mit der erstellten Liste abgeglichen und diese um fehlende Wörter ergänzt.

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Die so erstelle Liste religiöser Wörter wurde dann mittels des CorpusExplorers in den katholischen und evangelischen Korpora aus den Jahren 2012–2021 gesucht und die Frequenzen der einzelnen Wörter bzw. Mehrwörtereinheiten summiert.¹³

Abb. 5: Gebrauchshäufigkeiten religiöser Wörter in den katholischen und evangelischen Radiopredigten.

Die Ergebnisse der Frequenzanalysen zeigen einen differierenden Gebrauch religiöser Wörter im zehnjährigen Untersuchungszeitraum. In der ersten Hälfte des Untersuchungszeitraums (2012–2016) weisen die katholischen Radiopredigten in vier von fünf Jahren einen deutlich höheren Gebrauch von religiösen Wörtern auf als die evangelischen Beiträge. Im Jahr 2014 ist der größte Unterschied festzustellen: Hier beinhalten die katholischen Texte 20,78 % mehr religiöses Vokabular als die evangelischen. Mit Beginn der zweiten Hälfte des Untersuchungszeitraums im Jahr 2017 gleicht sich der religiöse Sprachgebrauch der Konfessionen allerdings auffällig aneinander an. Die Unterschiede in den Gebrauchsfrequenzen werden immer geringer und stabilisieren sich auch insgesamt auf einem Niveau zwischen 2,4 und 3,1 pro Millionen Token. Der Blick in die Verteilung der religiösen Wörter über die einzelnen Monate eines jeden Jahres deckt auf, dass sich der Gebrauch der religiösen Wörter nicht regelmäßig über den Jahresverlauf verteilt. Für beide Konfessionen kann hier festgestellt werden, dass sich um die beiden größten christlichen Feste, Ostern und Weihnachten, und somit in den Monaten März/April und Dezember besonders viele religiöse Wortbelege finden.

13 Die Einheit M in der Abbildung bezieht sich hier auf die Summe der relativen Frequenzen (pro Millionen Token).

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Doch auch wenn sich die Gebrauchshäufigkeiten der religiösen Wörter in den katholischen und evangelischen Radiopredigten im Verlauf des zehnjährigen Untersuchungszeitraums annähern, bleiben bzw. entstehen auch Unterschiede im religiösen Wortschatz. So finden sich beispielsweise schon Unterschiede unter den fünf meistgebrauchten religiösen Wörtern des katholischen und evangelischen Korpus (vgl. Abb. 6). Während Gott, glauben, Kirche und Jesus in beiden Konfessionen vertreten sind und Gott sogar nahezu gleich häufig in beiden Korpora zu belegen ist, erscheint das Wort Bibel nur im evangelischen Korpus so häufig, dass es unter die Top 5 zu zählen ist. Insgesamt wird es im evangelischen Korpus sogar mehr als doppelt so häufig benutzt wie im katholischen. Im katholischen Korpus hingegen sind Glaube und Kirche deutlich frequenter als im evangelischen Korpus. Beide Wörter können in den katholischen Beiträgen doppelt so häufig belegt werden wie in den evangelischen.

Abb. 6: Die Top 5 der religiösen Wörter im katholischen und evangelischen Korpus, 2012–2021.

Die Sortierung basiert auf der Frequenz der Wörter im katholischen Korpus. Da in den beiden Konfessionen nicht die gleichen Wörter auch die fünf häufigsten sind, umfasst die Grafik insgesamt sechs Lexeme. In beiden Konfessionen ist allerdings zu sehen, dass Gott mit Abstand das frequenteste religiöse Wort ist. Es ist etwa drei Mal so häufig belegt wie glauben auf Rang 2. Doch der Blick auf die Gebrauchshäufigkeit von Gott im katholischen

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und evangelischen Korpus über die einzelnen Jahre des Untersuchungszeitraums offenbart auch wieder Differenzen (vgl. Abb. 7).

Abb. 7: Gebrauchshäufigkeit von Gott und zum Vergleich von Jesus in den katholischen und evangelischen Radiopredigten.

Deutlich ist zu sehen, dass die katholischen Radiopredigten zu Beginn des Untersuchungszeitraums im Jahr 2012 eine sehr hohe Gebrauchsfrequenz von Gott aufweisen, die im Verlauf der Jahre – zwar mit zwei Erhöhungen in den Jahren 2015 und 2017 – stetig absinkt. 2020 beinhalten die katholischen Beiträge nur noch fast halb so viele Erwähnungen von Gott wie 2012. Für 2021 scheint sich der absinkende Trend fortzusetzen, da aber nur die ersten vier Monate dieses Jahres erhoben sind, steht diese Beobachtung unter Vorbehalt. Im evangelischen Korpus hingegen ist keine so starke Veränderung zu beobachten. Betrachtet man den Untersuchungszeitraum ohne das Jahr 2021, so zeigen sich 2020 fast genauso viele Gott-Belege wie 2012. In den Jahren dazwischen gibt es Varianz, aber diese bewegt sich kontinuierlich zwischen 320.000 und 520.000 Belegen (pro Millionen Token). In den Jahren 2015 und 2017 gibt es wie im katholischen Korpus auch einen Anstieg der Belege. Im Vergleich zum katholischen

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Korpus zeigt sich die Gebrauchsfrequenz von Gott insgesamt dennoch stabiler. Sieht man die ersten vier Monate des Jahres 2021 als vorsichtige Prognose für die evangelische Verwendung von Gott im gesamten Jahr, so könnten die im Vergleich zum katholischen Korpus höheren Belegwerte auf einen Anstieg hinweisen. Beiden Korpora ist allerdings gemeinsam, dass sie im Jahr 2015 eine deutlich höhere Gebrauchsfrequenz von Gott im Vergleich zum Vorjahr 2014 sowie zum Folgejahr 2016 aufweisen. Im katholischen Korpus ist diese Abweichung noch deutlicher zu sehen. Im evangelischen Korpus passt dieser Anstieg zu dem oben festgestellten Anstieg des allgemeinen religiösen Wortschatzes im Jahr 2015 (vgl. das Jahr 2015 im ev. Korpus in Abb. 5). Die hohe Gott-Frequenz im katholischen Korpus überrascht allerdings, da oben in Abb. 5 gezeigt werden konnte, dass der allgemeine religiöse Wortschatz der katholischen Radiopredigten im Jahr 2015 niedriger als in den umliegenden Jahren liegt. Vor diesem Hintergrund erhält der Anstieg der Gott-Belege eine zusätzliche Gewichtung: Heißt es doch, dass alle anderen religiösen Begriffe besonders stark gesunken sein müssen, um trotz der hohen Gott-Frequenz insgesamt einen niedrigen Wert an religiösen Wörtern aufzuweisen. Die Daten weisen hier auf eine Besonderheit im Korpus von 2015 hin. Da das Jahr auch politisch und gesellschaftlich aufgrund der sogenannten „Flüchtlingskrise“ ein Jahr der besonderen Herausforderungen für Deutschland war, wäre eine tiefergehende Studie zum Jahr 2015 sinnvoll. Auch das Jahr 2017 sticht durch seine höhere Belegfrequenz zu Gott im Vergleich zu den Nachbarjahren in beiden Konfessionen hervor, ganz besonders jedoch im evangelischen Korpus. Da 2017 ein Jubiläumsjahr für die evangelischen Kirchen war und sie das 500. Jahr nach der Einführung der Reformation durch Martin Luther feierten, könnte dieses religiöse Jubiläum mit dem Anstieg der Gott-Belege zusammenhängen. Auch hier kann eine detaillierte Studie zu den Gott-Belegen Aufschluss geben. Beide tiefergehenden Studien werden Gegenstand eines anderen Artikels sein.

4.2.2 Zum Corona-Wortschatz In ähnlicher Weise wie für die religiösen Wörter wurde auch zum Corona-Wortschatz¹⁴ eine Liste erstellt. Aus den vorhandenen Coronawortlisten des OnlineWortschatz-Informationssystem Deutsch des IDS Mannheim (OWID 2021) sowie des DWDS-Themenglossars zur COVID-19-Pandemie (DWDS 2021) wurde durch 14 Zum Corona-Wortschatz und seinen Eigenheiten durch zahlreiche Neologismen, Entlehnungen und Fachwortschatz vgl. die umfangreichen Erklärungen und Artikel des IDS unter: Neuer Wortschatz rund um die Coronapandemie. https://www.ids-mannheim.de/index.php?id=4575 (letzter Zugriff: 25.10.2021).

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Zusammenführung und Tilgung der Dopplungen eine gemeinsame Wortliste erstellt. Diese wurde mit den Radiopredigten aus den Coronajahren 2020 und 2021 abgeglichen und um weitere Ausdrücke ergänzt. Anschließend wurde das gesamte Untersuchungskorpus von 2012–2021 mit der so erstellten Liste mit einem Umfang von 1712 Corona-Wörtern im CorpusExplorer analysiert und die Frequenzen des Corona-Wortschatzes ermittelt.

Abb. 8: Gebrauchsfrequenz der Corona-Wörter in den katholischen und evangelischen Radiopredigten.

Die Frequenzanalysen zeigen deutlich, dass die katholischen Radiopredigten einen sehr viel höheren Anteil an Token aus der zusammengestellten CoronaWortschatzliste nutzen. Im ersten Pandemiejahr 2020 werden mehr als doppelt so viele Corona-Wörter gebraucht und auch im zweiten Pandemiejahr 2021, das nur die Monate Januar bis April umfasst, ist bereits in den vier Monaten ein rund drei Mal so hoher Corona-Wortschatz wie in den evangelischen Predigttexten festzustellen.¹⁵ Die katholischen Radiopredigten verwenden zudem einen vielfältigeren Corona-Wortschatz: Im katholischen Korpus 2020 und 2021 werden 146 Types aus der erstellten Corona-Wortliste verwendet. Im evangelischen Korpus des gleichen Zeitraums sind es nur 48 Types.

15 Die Werte in den vorherigen Jahren 2012 bis 2019 sind nicht bei Null, da nicht alle Wörter der Coronaliste völlig neu sind. Wörter wie z. B. Online-Unterricht, Home-Schooling, Konzert oder klatschen, die im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie eine besondere Bedeutung erhalten haben, gab es auch vorher schon.

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Abb. 9: Beispiele für Corona-Wörter in den Radiopredigten von 2020/21. Links: evangelisch, rechts: katholisch (Visualisiert mit Wortwolken.com und manueller Nachbearbeitung. Die Größe der Wörter ist abhängig von der Vorkommensfrequenz.).

4.3 Kookkurrenzanalysen Durch die Identifizierung von Kookkurrenzen¹⁶ kann die typische Verwendung bestimmter Wörter und ihrer Wortverbindungen im Korpus festgestellt werden.¹⁷ Typische Sprachverwendungen können damit „als statistisch messbare Kookkurrenz operationalisiert“ (Feilke 2012: 24) und somit sichtbar gemacht werden. Der CorpusExplorer berechnet die Signifikanzen der Wortpartner zu bestimmten Suchwörtern satzweit und nutzt als Signifikanz-Metrik die Poisson-Verteilung (Heyer et al. 2006). Die Entscheidung über die Verwendung nicht-lemmatisierter oder lemmatisierter Kookkurrenzen wurde für diese Untersuchung zugunsten der nicht-lemmatisierten Kookkurrenzen entschieden. Da das vorliegende Korpus nicht so groß ist, dass zu viele Kookkurrenzen zu erwarten sind, können durch die Errechnung nicht-lemmatisierter Wortpartner genauere Einblicke in die verwendeten Wortverbindungen erlangt werden.

16 Auch Kollokationen genannt. Vgl. zur Vielfalt der Terminologie z. B. Bubenhofer 2017: 69–72 und Brommer 2018: Kap. 3, bes. 65–67. 17 Kookkurrenzen sind Partnerwörter, „die innerhalb einer bestimmten Distanz zueinander kookkurrieren und eine statistisch feststellbare Bindung zueinander aufweisen“ (Bubenhofer 2017: 69). Diese Bindung wird durch einen statistischen Signifikanztest errechnet. Eine signifikante Bindung liegt dann vor, wenn „die beiden Einheiten in einem Korpus häufiger miteinander vorkommen, als es bei einer zufälligen Verteilung im Korpus erwartbar wäre“ (Bubenhofer 2017: 69).

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Kookkurrenzen lassen sich besonders gut zu hochfrequenten Suchwörtern berechnen, da so genügend Sprachmaterial zur Berechnung signifikanter Wortverbindungen vorhanden ist. Passend zu unserer Fragestellung zum möglichen konfessionellen Sprachgebrauch in den Radiopredigten Kirche in 1live wurden die Kookkurrenzen zu den häufig belegten religiösen Wörtern Gott, Jesus, Bibel, Kirche und außerdem zu Corona im katholischen und evangelischen Korpus berechnet und verglichen. Dabei werden alle Lemmata als Kookkurrenzen zum Suchwort berücksichtigt, die den höchsten Signifikanzwert aufweisen. Zu Gott, dem hochfrequentesten Nomen in beiden Korpora, ergeben sich erwartungsgemäß zahlreiche Kookkurrenzen. Im konfessionellen Vergleich zeigt sich aber, dass die Kookkurrenzen sich in den katholischen und evangelischen Radiopredigten deutlich unterscheiden. Für das katholische Korpus zeigt sich eine Kookkurrenz, die in sechs Jahren dominiert und in drei Jahren sogar sehr viel höhere Signifikanzen als alle anderen Wortpartner erreicht. Es ist die Kookkurrenz Mein, die die Wortverbindung Mein und Gott als typisch für das katholische Korpus identifiziert. Die Beleganalyse zeigt, dass sie fast ausschließlich am Satzanfang realisiert wird und Formulierungen wie „Mein Gott [ist/kann/sieht] [xy]“ hervorbringt¹⁸: „Mein Gott ist verlässlich.“ (17.11.2018), „Mein Gott feiert gerne mit Kölsch, Pils oder Alt und mit lauter Musik“ (20.02.2020) und „Mein Gott organisiert die Dinge im Hintergrund.“ (15.12.2016). In wenigen Fällen ist Mein nicht unmittelbarer Wortpartner zu Gott, sondern kann auch an anderer Stelle im Satz stehen und als Pronomen zu einem anderen Nomen gehören: „Mein Glaube an Gott lässt mich selbstbewusst sein.“ (04.09.2019). Als zweite häufige Kookkurrenz zu Gott im katholischen Korpus wird das Verb glaube in der 1. Person Singular Präsens Indikativ Aktiv berechnet. Exemplarische Belege für diese Kookkurrenzen sind: „[…] ich glaube, dass Gott seinen Teil dazu gibt.“ (12.10.2013) „Ich glaube, dass Gott mich […] genauso gewollt hat“ (04.09.2019) „Und ich glaube genauso ist das auch mit meinem Gott.“ (18.01.2021) Die weiteren Kookkurrenzpartner zu Gott im katholischen Korpus wechseln von Jahr zu Jahr, gelegentlich zeigen sie sich in zwei Jahren. Im evangelischen Korpus zeigen sich insgesamt deutlich mehr Kookkurrenzen zu Gott als im katholischen Korpus. Einige von ihnen kommen nur in einzelnen Jahren vor, andere sind über mehrere Jahre hinweg feste Wortpartner zu Gott. Die Kookkurrenzen Donnerstags, fährt, nämlich und Stadt offenbaren dabei eine autorenspezifische Art der Textgestaltung: ein evangelischer Autor schreibt regelmäßig Radiopredigten, die den Satz „Donnerstags fährt Gott nämlich immer

18 Eigene Hervorhebungen verdeutlichen im Folgenden das Sprachmuster.

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geschaffen schmunzelt ähnlich Menschen liebt schickt Engel Glaube sei schuf ruhte Lieber Bibel lieben Gebete

Dank

Einkaufen

fährtGottStadt vertrauen

Donnerstags Song kennt

Ängste

geschenkt

glaube

danken schenkt Champion Vertrauen wahrscheinlich

geborgen

siebten glauben geholt

nämlich

Abb. 10: Kookkurrenzen zum Wort Gott als Wortwolken: links katholisch, rechts evangelisch. Je größer das Wort abgebildet ist, umso häufiger und signifikanter ist es Wortpartner zu Gott. (Visualisiert mit TagPies von Jänicke et al. 2015).

in die Stadt zum Einkaufen“ beinhalten, und ihn als Aufhänger nutzt, um auf dieser Plot-Vorlage verschiedene Geschichten zu entwickeln. Abgesehen von diesen Kookkurrenzen aus einer bestimmten Autorenhand sind im gesamten Korpus glaube und Dank starke Kookkurrenzpartner zu Gott. Die Kookkurrenz glaube zu Gott wird in ähnlicher Weise benutzt wie auch im katholischen Korpus. Sie steht an Satzanfängen und bildet Aussagen aus der IchPerspektive über Gott: „Ich glaube, Gott kann das vertragen.“ (11.10.2019), „Ich glaube, Gott ist da.“ (12.03.2019) und „Ich glaube, Gott hat jeden Menschen als Original gemacht.“ (22.03.2014) Die Kookkurrenzprofile zu Gott zeigen darüber hinaus aber für beide Konfessionen kaum gemeinsame Wortpartner und offenbaren damit einen differierenden Sprachgebrauch rund um Gott. Die Darstellung der Kookkurrenzen als Wortwolken (vgl. Abb. 10) veranschaulicht diesen Befund noch einmal grafisch. Während die katholischen Radiopredigten eher durch persönliche Erfahrungen und Ansichten über Gott geprägt sind, wie die beiden starken Kookkurrenzen, das Possessivpronomen Mein und die Ich-Form glaube, nahelegen, treten in den evangelischen Radiopredigten deutlich mehr verschiedene Kookkurrenzen auf, die von einem abwechslungsreichen Sprechen über Gott zeugen. Die starke Verbindung von Gott und dem Pronomen Mein zum sprachlichen Ausdruck Mein Gott in den katholischen Radiobeiträgen zeigt sich auch in der Gegenprobe: So wird Gott im katholischen Korpus als stärkster Kookkurrent errech-

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net, wenn das Suchwort Mein ist.¹⁹ Im evangelischen Korpus hingegen ist Freund der stärkste Kookkurrenzpartner zu Mein – ein Befund, der dazu passt, dass oben Satzanfänge mit „Mein Freund [xy]“ als sehr beliebt in evangelischen Radiopredigten identifiziert werden konnten.

Abb. 11: Kookkurrenzen zum Wort Mein als Wortwolken: links katholisch, rechts evangelisch. Je größer das Wort abgebildet ist, um so häufiger und signifikanter ist es Wortpartner zu Mein. (Visualisiert mit TagPies von Jänicke et al. 2015).

Die Kookkurrenzen zu Jesus zeigen zunächst eine Gemeinsamkeit im Sprachgebrauch beider Konfessionen: durch den Wortpartner Bibel, der in beiden Korpora als eine starke Verbindung zum Suchwort Jesus berechnet ist, wird deutlich, dass Jesus in engem Bezug zur Heiligen Schrift thematisiert wird. Gestützt wird dies zusätzlich durch die ebenfalls für beide Korpora errechneten Kookkurrenzen sagt und gesagt, die – wie die KWIC-Ansicht der Belege darlegt – für Bibelverweise und -paraphrasen gebraucht werden: Jesus hat mal gesagt: ‚Liebe deinen Nächsten wie dich selbst.‘(28.02.2014, kath.) ‚Selig sind die Frieden stiften, denn sie werden Kinder Gottes genannt werden.‘ sagt Jesus. (23.05.2012, kath.) Jesus sagt, dass wir alle seine Freunde sind. (29.04.2020, kath.)

19 Durch die Beleganalyse in der KWIC-Ansicht konnte ausgeschlossen werden, dass es sich um den Ausruf „Mein Gott!“ handelt. Dieser Ausruf kommt nur äußerst selten im Korpus vor.

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Jesus sagt: ‚Das Himmelreich gleicht einem Senfkorn: Ein Mann nahm es und pflanzte es auf seinem Acker ein. Das Senfkorn ist das kleinste von allen Samenkörnern. Aber wenn eine Pflanze daraus gewachsen ist, ist sie größer als die anderen Sträucher. Sie wird ein richtiger Baum. Die Vögel kommen und bauen ihr Nest in seinen Zweigen.‘ (01.12.2012, ev.) Am Ende geht es nicht darum, Reichtümer anzuhäufen, sondern, wie Jesus es sagt: ‚Schätze im Himmel zu sammeln‘. (27.07.2020, ev.) Ich mag diesen Vers in der Bibel wo Jesus sagt: ‚An alle, die total unter Druck stehen, weil so viel von ihnen verlangt wird: Kommt zu mir! Ich werde dafür sorgen, dass ihr euch so richtig entspannen könnt.‘ (Übersetzung Volxbibel) (20.08.2016, ev.)

Die Kookkurrenzen Christus, auferstanden und Tod im katholischen Korpus sowie Geschenke, Maria und geboren ermöglichen allerdings auch eine Differenzierung der biblischen Verweise. Sie geben zu erkennen, dass im katholischen Korpus mehr Wortpartner zu Jesus und dem Ostergeschehen gebraucht werden, während im evangelischen Korpus Kookkurrenzen zu Jesus und der Weihnachtsgeschichte dominieren. Die Kookkurrenzen zum Suchwort Bibel bestätigen die enge Verbindung zu Jesus, er wird in beiden Konfessionen als Kookkurrenz ermittelt. Auch einige andere Kookkurrenzen kommen in beiden Korpora vor und verdeutlichen, dass der Bezug zur Bibel sowohl in katholischen als auch in evangelischen Radiopredigten ein wichtiges Element ist. Allerdings auf unterschiedliche Weise. Zum einen bilden im evangelischen Korpus die signifikantesten Kookkurrenzpartner In, der und steht das sprachliche Muster In der Bibel steht. Im katholischen Korpus ergeben die stärksten Kookkurrenzen In der Bibel heißt und In der Bibel sagt. Zum anderen finden sich in den evangelischen Radiopredigten mehr Kookkurrenzen zu Bibel, viele davon stammen aus dem direkten semantischen Umfeld der Bibel (z. B. Schöpfungsbericht, Spruch, Vers, Buch) und verweisen auf direkte Bibelzitate und ihre Referenz in der Heiligen Schrift nach dem Muster In der Bibel steht im Buch/Schöpfungsbericht/Vers/Spruch. Im katholischen Korpus hingegen treten diese Wörter zur Angabe von genauen Bibelstellen nicht als Kookkurrenzen auf, dafür aber Jesus, Noah, Geschichte. Hierdurch ergeben sich sprachliche Konstruktionen wie In der Bibel sagt Jesus/Noah oder In der Bibel heißt es in der Geschichte, die statt Zitaten eher Bibelparaphrasen andeuten. Dass es im katholischen Korpus auch Bibelzitate gibt, haben wir bereits oben in den Beispielen der Kookkurrenzen zum Suchwort Jesus gesehen. Aber der Blick in die Textbelege mittels der KWICAnsicht bestätigt, dass in evangelischen Radiopredigten häufiger und auch länger aus der Bibel zitiert wird, in katholischen Radiopredigten finden sich hingegen mehr Bibelparaphrasen:

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In der Bibel heißt es zum Beispiel, dass die Menschen ein ganzes Dach abgedeckt haben, damit ein gelähmter Mann […]. (12.02.2014, kath.) In der Bibel gibt es diese tolle Geschichte, wo sich der Prophet Elia total erschöpft in eine Höhle zurückzieht. (15.06.2015, kath.) […] ein Spruch aus der Bibel, wo Jesus sagt, dass wir ja alle seine Freunde sind. (29.04.2020, kath.) […] in der Bibel z. B., da lese ich, dass Gott immer und überall ist. (03.05.2018, kath.) In der Bibel steht: ‚Nun aber bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe – diese drei! Aber die Liebe ist die Größte unter ihnen.‘ (09.02.2021, ev.) Am Tag, als Gott die Menschen schuf, machte Gott sie als Abbild Gottes. Männlich und weiblich wurden sie geschaffen. Gott segnete sie und gab ihnen beiden den Namen Adam, das heißt Mensch.“ So steht es in der Bibel […]. (12.10.2017, ev.) ‚Der Mensch sieht was vor Augen ist, Gott sieht mein Herz.‘ Das steht in der Bibel […]. (27.11.2013, ev.) In der Bibel ist es treffend formuliert: ‚Die Zunge ist ein kleines Organ und richtet große Dinge an. Denkt daran, wie klein die Flamme sein kann, die einen großen Wald in Brand setzt.‘ (Jakobus 3,5) (14.09.2015, ev.)

Die Kookkurrenzen zum Suchwort Kirche sind ebenfalls sehr aufschlussreich. In erster Linie offenbaren sie, dass es in jeder Konfession vor allem um die eigene Kirche geht: Im evangelischen Korpus zeigen sich vier grammatische Varianten von evangelisch als Kookkurrenzpartner zu Kirche, im katholischen Korpus sind es zwei Formen von katholisch. Doch sind die konfessionszugehörigen Adjektive nicht die häufigsten Kookkurrenzen: Im katholischen Korpus ist es das Pronomen meiner, im evangelischen der Artikel der. Die Einzelbelege zeigen, dass es im katholischen Korpus zahlreiche Formulierungen wie die folgenden gibt: In meiner Kirche ist man nie alleine […]. (08.09.2016, kath.) In meiner Kirche gehts auch ums Brot. (08.06.2013, kath.) In meiner Kirche gibt’s nämlich auch so Gruppenregeln. (19.10.2019, kath.)

Im evangelischen Korpus wird das Possessivpronomen oftmals gegen den bestimmten Artikel getauscht. Wie die folgenden Belege zeigen, wird dadurch eher eine distanzierte Haltung eingenommen statt wie mit meiner eine persönliche: […] sagt ein Vertreter der Kirche. (01.08.2017, ev.)

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Viele Stationen in meinem Leben werden von der Kirche begleitet. (18.08.2015, ev.) Darüber haben sich viele in der Kirche aufgeregt. (06.09.2014, ev.)

Des Weiteren fällt auf, dass im katholischen Korpus mehr als doppelt so viele Wortpartner zu Kirche berechnet werden konnten wie im evangelischen Korpus. Dieser Befund passt dazu, dass sich oben bereits unter den Analysen der Top 10Nomen herausstellte, dass Kirche zu den hochfrequenten Nomina in katholischen Radiopredigten gehört und zum Thema vieler Beiträge gemacht wird. Eine letzte Kookkurrenzanalyse stellt die Wortpartner keines weiteren religiösen Begriffs heraus, sondern eines Wortes, das erst seit 2020 im Korpus belegt ist: Corona. Im evangelischen Korpus zeigt sich nur ein Wort, das als Kookkurrenzpartner zu Corona auftritt: krass. Der Blick in die Einzelbelege zeigt, dass es sich nur um zwei Textstellen handelt: Ok, das Leben vor Corona war viel zu krass getaktet. (04.06.2020, ev.) Als es mit Corona im März so richtig krass wird, bin ich in Neuseeland. (09.04.2020, ev.)

Im katholischen Korpus lassen sich vier Kookkurrenzpartner errechnen, die in 19 Textbelegen die Situation vor Corona, abgesagte Konzerte und andere Auflagen, Einschränkungen, besonderen Lebensumstände wegen Corona behandeln. Dieser Befund korrespondiert mit den Ergebnissen oben aus der Wortschatzanalyse, die für das katholische Korpus einen mehr als doppelt so großen CoronaWortschatz nachgewiesen hat wie für das evangelische Korpus.

4.4 N-Gramm-Analysen Die bisherigen Analysen haben Einblicke in die Gebrauchshäufigkeiten von Einzelwörtern, in Einzel- und Mehrwortfrequenzen aus dem religiösen sowie dem Corona-Wortschatz und in das Vorkommen von bestimmten Wörtern und ihren Kookkurrenzpartnern gegeben. Im Folgenden sollen N-gramme identifiziert werden.²⁰ So können Mehrwort-Einheiten ermittelt werden, die Einblicke in Sprachgebrauchsmuster, Phrasen oder sogar Themen geben, die in den Radiopredigten genutzt werden.

20 Bei dieser Analyse wird ein festes Erfassungsfenster der Länge N (beliebige ganze Zahl größer 1) gewählt, daher auch der Name N-Gramm. Wird z. B. N=3 bestimmt, werden drei Token als ein Fenster, d. h. als eine Einheit, betrachtet. Dieses Erfassungsfenster wird dann Token um Token über das gesamte Korpus verschoben und ausgezählt. Vgl. dazu auch Bubenhofer 2017: 73.

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Die für das katholische und evangelische Korpus berechneten Trigramme (N=3) bestätigen Ergebnisse, die in den vorherigen Analysen ebenfalls schon herausgestellt werden konnten. So sind signifikante Drei-Wort-Verbindungen²¹ im katholischen Korpus z. B. in meiner Kirche, Ich glaube, Leute, die und in meinem Leben. Hier zeigen sich die starke Verwendung des Possessivpronomens mein und des Nomens Kirche, der Ich-Perspektive, wenn über den Glauben gesprochen wird und die häufige Verwendung von Leute, um einen allgemeinen Blickwinkel einzunehmen. Im evangelischen Korpus sind signifikante Trigramme Donnerstags fährt Gott, in die Stadt, Gott sei Dank und in der Bibel. Durch die ersten beiden Trigramme wird das schon erwähnte Erzählmuster eines bestimmten Autoren verifiziert, in dessen Radiopredigten Gott immer donnerstags in die Stadt fährt. Gott sei Dank spiegelt die häufige Verwendung dieses Ausrufs wider und die Dreier-Verbindung in der Bibel verweist auf die enge Anbindung der evangelischen Radiopredigten an die Texte der Heiligen Schrift. Genau diese Sprachmuster können durch N-gramme von fünf und mehr Wortverbindungen präzisiert werden: Hier zeigen sich für das evangelische Korpus Donnerstags fährt Gott nämlich immer in die Stadt als signifikante Wortverbindungen sowie In der Bibel steht: und Varianten wie z. B. In der Bibel steht, dass, In der Bibel sagt Jesus: und steht in der Bibel. Für das katholische Korpus werden In der Bibel heißt es, So stelle ich mir Gott vor und (Mein) Gott ist wie ein als signifikante N-Gramme berechnet.²² Diese bestätigen ebenfalls die oben schon erwähnte Erkenntnis, dass in katholischen Radiopredigten Bibelparaphrasen oder Hinweise auf bestimmte Geschichten gegenüber konkreten Bibelzitaten bevorzugt werden sowie die Einnahme einer persönlichen Perspektive, um über Gottesvorstellungen zu sprechen. Durch das N-Gramm (Mein) Gott ist wie ein wird zudem – ähnlich wie im evangelischen Korpus – ein autorenspezifischer Sprachgebrauch herausgestellt, denn die KWIC-Ansicht der Einzelbelege zeigt, dass es ein katholischer Autor ist, der dieses Sprachmuster im gesamten Untersuchungszeitraum immer wieder verwendet. „Gott ist wie ein guter DJ.“ (11.04.2012), „Gott ist wie ein guter Wirt.“ (09.10.2015), „Gott ist wie ein Bahnhofsprecher.“ (07.06.2013) und „Mein Gott ist wie ein Pacer.“ (02.07.2012) oder „Mein Gott ist wie ein Kumpel im Bergbau.“ (17.11.2018) seien exemplarisch aus den 28 Belegen genannt.

21 Wie in Fußnote 3 ausgeführt, werden im CorpusExplorer auch Satzzeichen als Token behandelt und daher können sie auch Teil von N-Grammen sein, wie z. B. in den Trigrammen Ich glaube, und Leute, die. 22 Bei dieser Berechnung werden zwei bereits eingeführte Verfahren überlagert. Zunächst werden die N-Gramme berechnet. Dann werden die Signifikanzwerte aus der Kookkurrenz-Analyse für jedes Token im N-Gramm summiert. Je höher die Summe der Signifikanzwerte eines NGramms, desto höher ist der Rang innerhalb der Auswertung.

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In Ergänzung zu diesen verschiedenen quantitativen Analysen mit Hilfe des CorpusExplorers soll im Folgenden die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) angeschlossen werden. Sodann werden die Ergebnisse aller Analysen zusammengeführt und diskutiert.

4.5 Qualitative Inhaltsanalyse Mit der qualitativen Inhaltsanalyse (nach Mayring 2015) der vorliegenden Radiopredigten soll festgestellt werden, welche Themen in den einzelnen Radiopredigten zur Sprache kommen und ob bestimmte Themen von einer der beiden Konfessionen bevorzugt aufgegriffen werden. Die ausgewählte Methode zur Themenbestimmung basiert auf einem Kategoriensystem, das die Vergleichbarkeit der Ergebnisse sicherstellt (Mayring 2015: 52). Es ist dabei geprägt von einem regelgeleiteten Vorgehen, das als Ablaufmodell der Inhaltsanalyse zu Beginn an das zu untersuchende Textmaterial angepasst wird. Für die vorliegende Themenermittlung wurde daher das grundlegende Mayring’sche Ablaufmodell der Inhaltsanalyse (Mayring 2015: 62) an die Charakteristika des Untersuchungsmaterials „Radiopredigten Kirche in 1live “ angepasst: 1. Dazu wurde zunächst eine Auswahl aus dem Untersuchungskorpus getroffen. Obwohl die qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring grundsätzlich für größere Textmengen geeignet ist, erfordert sie doch einen erheblichen Arbeitsaufwand. Um diesen im Rahmen dieser Studie in einem angemessenen Verhältnis zu den erwarteten Ergebnissen zu halten, sind aus dem Gesamtkorpus die Jahre 2018, 2019, 2020 und 2021 ausgewählt worden. Die Auswahl fiel auf diese Jahre, um einen möglichst aktuellen Einblick in die thematische Gestaltung der Radiopredigten zu erhalten. Da in die beiden jüngsten Untersuchungsjahre 2020 und 2021 die Ausbreitung des Coronavirus fällt, das als pandemisches Ereignis zu einer gesellschaftlichen, sozialen und medizinischen Ausnahmesituation geführt hat, erschien es sinnvoll, mindestens zwei präpandemische Jahre mit in das Korpus aufzunehmen. So können mögliche thematische Veränderungen aufgrund der Coronakrise im Vergleich zu den Jahren 2018 und 2019 festgestellt werden. Aufgrund dieser Überlegungen entstand ein Untersuchungskorpus von insgesamt 1008 Texten (vgl. für Details oben Tab. 1). 2. Als Analysetechnik wurde die Zusammenfassung gewählt. Die in schriftlicher Form vorliegenden Radiopredigten wurden dazu auf ihre wesentlichen Inhalte reduziert. 3. In Orientierung an diesen „systematischen Reduktionsprozessen“ (Mayring 2000: o. S.) wurde anschließend ein Kategoriensystem entwickelt, das es ermöglicht, jeder einzelnen Radiopredigt eine thematische Kategorie zuzuordnen. Diese

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induktive Kategorienentwicklung ist die logische Konsequenz aus der zusammenfassenden Inhaltsanalyse und daher ein mehrschrittiger Prozess. Der Inhalt einer jeden Radiopredigt wird dabei immer weiter reduziert, so dass er letztlich in einer Kategorie zusammengefasst werden kann. 4. In einem abschließenden Schritt wurden die zugeordneten Kategorien noch einmal überprüft und miteinander verglichen. Um angesichts der 1008 Radiopredigten zum Abschluss der Analyse eine handhabbare und vergleichbare Kategorienanzahl zu haben, wurden thematisch ähnliche Kategorien und Kategorien, die verschiedene Aspekte eines Themas darstellten, zu übergeordneten Kategorien zusammengefasst. Zum Beispiel wurden Radiopredigten, die sich inhaltlich mit der Liebe Gottes zu den Menschen beschäftigten, und Radiopredigten, die die Menschen ermutigen sollten, in ihrem Leben auf Gott zu vertrauen, zunächst in die Kategorien Liebe Gottes und Vertrauen auf Gott eingeordnet. In einem späteren Abstraktionsschritt wurden diese beiden Kategorien sowie weitere Kategorien wie z. B. Gottes Nähe und Gottesvorstellungen zu einer übergeordneten Kategorie Glaube an Gott zusammengefasst. Ebenso wurden die Kategorien Meinungsfreiheit, Recht auf Bildung und Recht auf Leben zur Kategorie Menschenrechte vereinigt. Nicht immer sind die Inhalte der Radiopredigten eindeutig einer Kategorie zuzuordnen, da entweder mehrere Themen angesprochen werden oder ein Thema inhaltlich so breit oder unspezifisch ausgeführt wird, das es zu mehreren Kategorien passt. Hier musste eine Entscheidung für eine „Hauptkategorie“ getroffen werden. Auch sind nicht alle Kategorien trennscharf voneinander abzugrenzen. Die Kategorien Nächstenliebe und Gutes tun sind beispielsweise inhaltlich sehr ähnlich. In beiden geht es darum, eine helfende Handlung zu vollziehen. Allerdings thematisieren die Radiopredigten der Kategorie Nächstenliebe eine religiöse Motivation des Handels und unterscheiden sich dadurch von der Kategorie Gutes tun. Jedoch kann die religiöse Motivation auch so „vorsichtig“ formuliert sein, dass die Entscheidung hier für die Kategorie Nächstenliebe oder die eher säkular motivierte Kategorie Gutes tun schwerfällt. Umgekehrt kann der religiöse Antrieb seinem Nächsten zu helfen so stark thematisiert sein, dass es zu einer Entscheidung zwischen der Kategorie Nächstenliebe und Glaube an Gott kommen kann. Insgesamt wurden auf diese Weise 19 Kategorien (vgl. Abb. 12) aus dem Material entwickelt: 18 einzelne Kategorien und eine Kategorie Sonstiges, in ihr sind Themen zusammengefasst, die nur vereinzelt vorkommen. Die Auswertung der so entwickelten Kategorien zeigt, dass die Inhalte der Radiopredigten bevorzugt aus zwei Themenkreisen bezogen werden: zu 28,1 % stammen sie aus der Kategorie Glaube an Gott, zu 16,8 % behandeln sie eine sinnvolle Lebensgestaltung (vgl. Abb. 12). Alle weiteren Kategorien enthalten deutlich weniger Radiopredigten, wobei eine Abstufung zwischen den Kategorien Gutes tun,

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Nächstenliebe, Trost und Mut, Achtsamkeit sowie Toleranz und den verbleibenden Kategorien sichtbar wird. Die fünf genannten Kategorien dienen mit Themen für jeweils 4–10 % der Radiopredigten, aus den verbleibenden zwölf Kategorien werden nur jeweils 1–3 % der Radiopredigten thematisch inspiriert. Die 1008 Radiopredigten aus dem Zeitraum von 2018 bis 2021 zeigen damit eine deutliche thematische Konzentration auf einige wenige Kategorien. Ein Blick in die konfessionelle Verteilung der Kategorien bestätigt diese Konzentration, doch zeigen sich auch konfessionelle Differenzen (vgl. Abb. 13). Zwar beziehen sowohl Protestanten als auch Katholiken die meisten Radiopredigten aus der Kategorie Glaube an Gott, gefolgt von der Kategorie sinnvolle Lebensgestaltung. Die prozentuale Verteilung im konfessionellen und auch im innerkonfessionellen Vergleich jedoch offenbart unterschiedliche Präferenzen der Kategorien. Mit 31,9 % der evangelischen und 24,1 % der katholischen Radiopredigten stammen mehr evangelische Radiopredigten aus der Kategorie Glaube an Gott. Katholiken hingegen stellen mit 18,5 % im Vergleich zu 15,1 % mehr Radiopredigten in der zweit beliebtesten Kategorie sinnvolle Lebensgestaltung. Diese Verteilung offenbart auch, dass im evangelischen Subkorpus der Abstand zwischen den ersten beiden Kategorien deutlich größer ist als bei den Katholiken. Mehr als doppelt so viele evangelische Radiopredigten behandeln ein Thema rund um Glaube an Gott als ein Thema aus der Kategorie sinnvolle Lebensgestaltung. Damit setzen die evangelischen Radiopredigten einen deutlichen inhaltlichen Akzent auf Themen aus dem Bereich Glaube an Gott. Katholische Radiopredigten hingegen weisen keine so starke inhaltliche Konzentration auf eine Kategorie auf, sondern verteilen sich breiter auf verschiedene Kategorien. Die Werte in den Kategorien sinnvolle Lebensgestaltung, Nächstenliebe, Gutes tun und Trost und Mut liegen für die katholischen Radiopredigten durchweg höher als für die evangelischen Radiopredigten und zeigen damit, dass sich katholische Radiopredigten vor allem diesen Themen widmen. Auch der Blick in die Kategorienverteilung für jedes einzelne Untersuchungsjahr lässt erkennen, dass die evangelischen Radiopredigten sehr viel häufiger als die katholischen aus der Kategorie Glaube an Gott stammen, die katholischen Radiopredigten hingegen eine breitere Themenverteilung aufweisen. Eine deutliche Verschiebung der Verteilung in beiden Konfessionen ist aber im Vergleich der Jahre 2020 und 2021 zu den beiden präpandemischen Jahren 2018 und 2019 zu beobachten. Da das Korpus für das Jahr 2021 nur von Januar bis April reicht und somit nicht vollständig vergleichbar ist, soll vorrangig das Pandemiejahr 2020 betrachtet werden. In diesem Jahr sinken die Werte in einigen Kategorien stark, in anderen steigen sie dafür an. Die Kategorie Glaube an Gott erhält 2020 die höchsten Werte aller vier Jahre: Im evangelischen Subkorpus steigt sie von 31,0 % im Jahr 2018 und 30,3 % im Jahr

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Abb. 12: Die aus den 1008 Radiopredigten durch die qualitative Inhaltsanalyse entwickelten Kategorien und ihre Verteilung.

2019 auf 34,8 % in 2020; Im katholischen Subkorpus steigt die Kategorie von 27,2 % in 2018 und nur 19,3 % in 2019 auf 27,6 % in 2020. Durch den niedrigen Anteil im Jahr 2019 ist der katholische Anstieg in dieser Kategorie im Coronajahr 2020 besonders augenfällig. Ein weiterer deutlicher Anstieg auf katholischer Seite kann in der Kategorie Trost und Mut festgestellt werden. Stammten 2018 und 2019 nur 3,4 % bzw. 2,1 % der Radiopredigten aus diesem Themenkreis, wächst ihr Anteil 2020 auf 13,2 % an. Im Gegenzug sinken die Kategorien Bewahrung der Schöpfung, Selbstbewusstsein und Gleichberechtigung stark, so dass nur noch 1 % der katholischen Predigten aus einer dieser Kategorien stammt bzw. dem Thema Bewahrung der Schöpfung wird in 2020 keine einzige Radiopredigt gewidmet. Das evangelische Subkorpus zeigt hier eine höhere Stabilität. Die Kategorienverteilung sinkt oder steigt nicht so stark wie bei den katholischen Radiopredigten. Ein Rückgang im Vergleich zu den Vorpandemiejahren ist in den Kategorien sinnvolle Lebensgestaltung und Toleranz festzustellen. Die Radiopredigten werden jetzt zu Themen aus den Kategorien Glaube an Gott, Gutes tun, Selbstbewusstsein, Freiheit und Trost und Mut gestaltet. Im Vergleich zu den katholischen Veränderungen handelt es sich allerdings um nur kleinere Schwankungen zwischen 1 % und 4 %.

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35,0% 30,0% 25,0% 20,0% 15,0% 10,0% 5,0% 0,0%

e

k

Abb. 13: Konfessionelle Verteilung der Kategorien und ihre Durchschnittswerte aus den Jahren 2018–2021.

Die unterschiedlichen Kategorienverteilungen im Vergleich des Coronajahres 2020 zu den beiden Vorjahren verweist auf eine unterschiedliche konfessionelle Reaktion auf die Pandemie hinsichtlich der thematischen Gestaltung der Radiopredigten. Das differierende Anwachsen bzw. Absinken einzelner Kategorien deutet dies an. Ganz offensichtlich wird die unterschiedliche thematische Gestaltung der Radiopredigten in Pandemiezeiten allerdings, wenn aufgezeigt wird, welche Kategorien von beiden Konfessionen gemeinsam genutzt werden und welche Kategorien vorrangig nur in einer Konfession vorkommen. Von einer gemeinsam genutzten Kategorie kann dann gesprochen werden, wenn ähnlich viele katholische und evangelische Radiopredigten ihr Thema aus dieser Kategorie schöpfen. Nutzt eine der beiden Konfessionen eine Kategorie allerdings mindestens doppelt so häufig wie die andere Konfession, so kann von einer konfessionell präferierten Kategorie gesprochen werden (vgl. Abb. 14). Nimmt man eine solche Einteilung der Kategorien vor, zeigt sich, dass beide Konfessionen in den Jahren 2018 und 2019 große thematische Überschneidungen haben. Die Radiopredigten behandeln zu 81,3 % (2018) und 73,7 % (2019) Themen aus einem gemeinsamen Kategorienpool. Dies ändert sich aber mit Einsetzen der Pandemie: 2020 behandeln die Radiopredigten nur noch zu 58,8 % Themen aus

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Ev. präferierte Kategorien

Toleranz Dankbarkeit

Gemeinsame Kategorien Glaube an Go sinnvolle Lebensgestaltung Trost und Mut Nächstenliebe Gutes tun Bewahrung der Schöpfung Freundscha Frieden Selbstbewusstsein Tod Gesell./Kirchenkri k Menschenrechte

Kath. präferierte Kategorien

Achtsamkeit

2018

Sons ges

Ev. präferierte Kategorien

Gesell./ Kirchenkri k

Gemeinsame Kategorien Glaube an Go sinnvolle Lebensgestaltung Trost und Mut Achtsamkeit Nächstenliebe Dankbarkeit Toleranz Bewahrung der Schöpfung Gutes tun Tod Freundscha Versöhnung Frieden Sons ges

Kath. präferierte Kategorien Gleichberechgung Selbstbewusstsein

2019

Menschenrechte Freiheit

Abb. 14: Gemeinsame und von einer der beiden Konfessionen präferierte Themenkategorien in den Radiopredigten von 2018 und 2019. (Konfessionell präferiert: im Vergleich zur anderen Konfession widmet eine Konfession dieser bestimmten Kategorie mindestens doppelt so viele Radiopredigten).

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den gleichen Kategorien, im Jahr 2021 sind es sogar nur noch 25,0 %²³. In der Folge steigt der Anteil an Kategorien, aus denen überwiegend nur katholische oder nur evangelische Radiobeiträge gestaltet werden (vgl. Abb. 15). Ursächlich für diese Differenzierung ist, dass die katholischen Radiopredigten mit Einsetzen der Pandemie vermehrt Radiobeiträge aus bestimmten Kategorien produzieren und sich damit thematisch konzentrierter aufstellen. Ein besonderer Fokus wird dabei auf die Kategorien Trost und Mut, sinnvolle Lebensgestaltung und Achtsamkeit gelegt. Es sind genau diese Kategorien, die thematisch eng an den neuen Alltag unter Lockdown-Bedingungen, in Isolation und Quarantäne gebunden sind, die in den Jahren 2020 und 2021 eine erhöhte Anzahl an Radiopredigten aufweisen. Im evangelischen Korpus ist ein solch starker Anstieg bestimmter Kategorien nicht zu belegen. Die thematische Ausrichtung der Radiobeiträge bleibt im Vergleich zu den Präpandemiejahren stabil und verzeichnet nur eine weitere Fokussierung auf die ohnehin schon beliebte Kategorie Glaube an Gott. Die qualitative Inhaltsanalyse ermöglicht damit eine Reihe von Erkenntnissen zur thematischen Gestaltung der Radiopredigten, die in vier Punkten zusammengefasst werden können: 1. Themen aus den Kategorien Glaube an Gott und sinnvolle Lebensgestaltung sind für beide Konfessionen von großer Relevanz. 2. Evangelische Radiopredigten konzentrieren sich dabei noch mehr als katholische auf Themen aus der religiösen Kategorie Glaube an Gott. Katholische Radiopredigten sind thematisch eher breiter aufgestellt. 3. Mit Einsetzen der Pandemie im Jahr 2020 sind starke inhaltliche Veränderungen zu beobachten: die thematische Breite der katholischen Predigten geht zurück; bestimmte Kategorien, v. a. Trost und Mut, die zuvor nur wenig gewählt wurden, steigen jetzt an. Evangelische Radiopredigten zeigen hingegen thematische Stabilität. 4. Dadurch löst sich die vorherige große thematische Überschneidung der Radiopredigten mit Pandemiebeginn auf. Es setzt eine konfessionsspezifische Themenwahl ein.

23 Diese Zahl muss allerdings vor dem Hintergrund gesehen werden, dass 2021 auch erst vier Monate ausgewertet werden konnten. In diesen vier Monaten überschneiden sich nur 25,0 % der Kategorien. Vor allem auf katholischer Seite zeigen sich mit 50,0 % der Radiopredigten von Januar bis April 2021 zahlreiche Radiopredigten zu Themen, die im evangelischen Korpus bislang nicht behandelt wurden.

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Ev. präferierte Kategorien

Gemeinsame Kategorien Bewahrung der Schöpfung

Selbstbewusstsein Tod Freiheit Sons ges

Ev. präferierte Kategorien Dankbarkeit sinnvolle Lebensgestaltung Bewahrung der Schöpfung Sons ges

Glaube an Go sinnvolle Lebensgestaltung Achtsamkeit Nächstenliebe Dankbarkeit Toleranz Gleichberech�gung Gutes tun Freundscha Menschenrechte

Kath. präferierte Kategorien Trost und Mut Gesell./ Kirchenkri�k

Gemeinsame Kategorien

Kath. präferierte Kategorien

Glaube an Go Trost und Mut Achtsamkeit Gleichberech�gung

Menschenrechte

2020

2021

Toleranz Nächstenliebe Gesell./Kirchenkri�k Selbstbewusstsein Gutes tun Freiheit Tod

Abb. 15: Gemeinsame und konfessionell präferierte Themenkategorien der Radiopredigten in den Jahren 2020 und 2021.

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5 Ergebnisse und Fazit Die starke Konzentration beider Konfessionen auf die ermittelten Kategorien Glaube an Gott und sinnvolle Lebensgestaltung spiegeln sich in einem großen gemeinsamen Wortschatz wider, der durch die Wortarten- und Frequenzanalysen herausgestellt werden konnte und der in beiden Korpora z. B. die gleichen hochfrequenten Nomina wie Gott, Mensch, Leben, Tag, Jahr und Zeit beinhaltet, mit denen die genannten Themen formuliert werden können. Aber auch die unterschiedliche Gewichtung der beiden Themen innerhalb der katholischen und evangelischen Radiopredigten, die sich in der Inhaltsanalyse zeigen, werden von den quantitativen Untersuchungen gestützt. Die stärkere Fokussierung der evangelischen Beiträge auf die Thematik Glaube an Gott zeigt sich auch in den Kookkurrenzanalysen, die für das evangelische Korpus mehr und abwechslungsreichere Wortpartner zum Lemma Gott ergeben. Deutliche Unterschied in den Pandemiejahren 2020 und 2021 lassen sich sowohl qualitativ als auch quantitativ nachweisen: Dass die Kategorie Glaube an Gott in den evangelischen Radiopredigten weitestgehend konstant ist, sie aber in den katholischen Radiopredigten zu Gunsten anderer Kategorien, z. B. Trost und Mut, absinkt – wie durch die qualitative Inhaltsanalyse herausgestellt werden konnte –, deckt sich unserer Auffassung nach mit den Analysen zur Corona-Wortschatz-Liste, für deren Vorkommen eine doppelt so große Summe in den katholischen Predigten nachgewiesen werden konnte. Zusätzlich zeigt die Top 10-Analyse der Eigennamen, dass in den Jahren 2020 und 2021 der Name Jesus von Platz 1 verdrängt wird und der Name des Virus Corona zum meistgebrauchten Nomen proprium wird. Während also die evangelischen Beiträge hauptsächlich bei ihren bewährten Themen bleiben, reagieren die katholischen Beiträge wesentlich stärker auf das aktuelle Pandemiegeschehen, indem sie weniger zu den bisherigen Themen sprechen und eher die aktuelle Lage in den Fokus nehmen. Diese Ergebnisse geben damit Antworten auf die eingangs formulierten Fragen, welche Inhalte die katholische und die evangelischen Kirchen für die Radiopredigten als relevant erachten, wie sie diese sprachlich gestalten und ob sich hierbei konfessionelle Präferenzen und Differenzen zeigen. Ganz deutlich konnte gezeigt werden, dass während der Coronakrise thematische Differenzen und unterschiedliche Wege der sprachlichen Gestaltung bestehen. Allerdings zeigen die Analysen auch, dass schon vor den Pandemiejahren 2020 und 2021 konfessionelle Präferenzen existieren, sowohl bei der Gewichtung der Themen, als auch in deren sprachlicher Gestaltung. Neben zahlreichen Gemeinsamkeiten deckt jede Analyse auch konfessionelle Unterschiede auf. Schon bei den Untersuchungen zu den Einzelwörtern zeigt sich bei den Verben eine höhere Gebrauchsfrequenz von sa-

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gen im evangelischen Korpus. Unter den Nomina ist ein häufigerer Gebrauch von Bibel, Freund sowie von Mann und Frau in den evangelischen Beiträgen zu konstatieren. Während die Kookkurrenzen zu Freund die häufige Verwendung der Wortverbindung Mein Freund, oft gefolgt von einem konkreten Namen, offenbart, zeigt die Analyse der Wortarten einen höheren Gebrauch von Personennamen im evangelischen Korpus. Dieser hohe Gebrauch erklärt sich durch das ermittelte Sprachmuster „Mein Freund xy“. Die höhere Gebrauchsfrequenz von Bibel bestätigt sich auch in der Kookkurrenzanalyse zu diesem Lemma: in den evangelischen Beiträgen erscheinen deutlich mehr Wortpartner zu Bibel als in den katholischen. Zudem zeigen die Berechnungen der N-Gramme für das evangelische Korpus die Wortverbindungen „In der Bibel steht,“ oder „In der Bibel sagt Jesus“, die zum einen den starken Gebrauch von „Bibel“ reflektieren als auch im zweiten N-Gramm das hohe Vorkommen des Verbs sagen erklären. Im Zusammenspiel von Wortfrequenz-, Kookkurrenz- und N-Gramm-Analysen sowie den KWIC-Ansichten der Einzelbelege werden nicht nur ein häufigerer Bibelbezug, sondern auch eine andere Art des Bibelbezugs aufgedeckt: während im katholischen Korpus eher Bibelparaphrasen eingesetzt werden, sind es im evangelischen Korpus konkrete Bibelzitate. Für das katholische Korpus können die schon in der Einzelwortanalyse ermittelten hohen Frequenzen von Kirche und Leute durch die Kookkurrenz- und NGramm-Analysen bestätigt werden. Dabei fällt auf, dass in den katholischen Beiträgen nicht nur häufiger von Kirche gesprochen wird. Es wird auch anders von ihr gesprochen. Ihre Kookkurrenzen sind vielfältiger und die N-Gramm-Analyse zeigt die Wortverbindung in meiner Kirche als signifikant für das katholische Korpus. Das Thematisieren von Kirche geschieht folglich häufig aus einer sehr persönlichen Perspektive heraus und spricht viele Aspekte von Kirche an. Damit wird eine andere Herangehensweise als in den evangelischen Radiopredigten gewählt. Diese zeigen statt des Possessivpronomens meiner den bestimmten Artikel der als signifikanten Wortpartner zu Kirche an. Im Vergleich zu in meiner Kirche wirkt in der Kirche weniger persönlich. Auch zeigen sich insgesamt weniger Kookkurrenzen zum Lemma Kirche. Die hohe Gebrauchsfrequenz von Leute zeigt sich in dem ermittelten NGramm Leute, die und kann in den Einzelbelegen als häufiger Einstieg in eine Erzählung zu Beginn der Radiopredigten identifiziert werden. Weitere N-Gramme im katholischen Korpus sind Ich glaube, und in meinem Leben sowie (Mein) Gott ist wie. Zusammen mit den Kookkurrenzanalysen zu Gott zeigt sich hier erneut ein sehr persönlicher Zugang zu religiösen Themen wie dem Gottesbild, konkreten Gottesvorstellungen, dem eigenen Glauben und dem Leben als Mensch mit seiner Beziehung zu Gott.

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Die Radiopredigten beider Konfessionen nutzen damit die 90-sekündige Sendezeit, um eine eindeutig christlich ausgerichtete Botschaft an die jungen HörerInnen von 1live zu senden. Auch wenn laut MedienforscherInnen die Zielgruppe von 1live vor allem die „‘Jungen Wilden‘ (vergleichbar mit den Expeditiven und Hedonisten der bekannten ‚Sinus-Milieus‘) und die ‚Zielstrebigen Trendsetter‘ (vgl. Performer)“ (Nelißen 2013: 187) sind, für die Religion keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielt, gestalten beide großen Kirchen Deutschlands Beiträge, in deren Mittelpunkt die christliche Verkündigung steht. Die vorgenommenen Analysen haben zum einen die großen Gemeinsamkeiten dieser Verkündigungssendungen herausgestellt und dabei gemeinsame Themen, gleiche Wortschätze und ähnliche sprachliche Gestaltungen identifiziert. Zum anderen waren sie aber auch in der Lage, neben den zahlreichen Gemeinsamkeiten oder gar trotz dieser zahlreichen Gemeinsamkeiten thematische und sprachliche Präferenzen und Differenzen in den katholischen und evangelischen Radiobeiträgen zu entdecken. Einige dieser Präferenzen und Differenzen konnten als autorenspezifisch identifiziert werden. Der Großteil aber konnte durch die verschiedenen quantitativen Analysen – von zunächst Einzelwörtern und Mehrworteinheiten über Wortpartner (Kookkurrenzen) und umfangreichere Wortverbindungen (N-Grammen) – und den ergänzenden qualitativen Blick in die Einzelbelege im Vergleich der katholischen und evangelischen Korpora als konfessionsspezifischer Sprachgebrauch herausgestellt werden. Die Ermittlung thematischer Kategorien unter Anwendung der qualitativen Inhaltsanalyse zeigte ebenfalls konfessionell gemeinsame, aber auch konfessionell präferierte Themengebiete. Die mehrperspektivische Herangehensweise durch die Kombination der beiden Methodenapparate (qualitativ und quantitativ) hat sich in vorliegender Studie als fruchtbar erwiesen und gezeigt, wie sich die verschiedenen Analysen ergänzen und zur wechselseitigen Überprüfung eignen. Für weitere Studien soll der Methoden-Mix noch erweitert werden, z. B. sollen die detaillierten Frequenzanalysen auch andere Wortarten in den Blick nehmen und es sollen mittels der POSAnnotation und der N-Gramm-Analysen grammatische Muster identifiziert, verglichen und syntaktische Besonderheiten herausgearbeitet werden. Ebenso könnten die N-Gramm-Analysen verfeinert werden, so dass umfassender nach musterhaftem Sprachgebrauch in den konfessionellen Korpora gesucht werden kann. Auch die Berücksichtigung weiterer Meta-Daten ist geplant, z. B. die Autorenzuordnung und die Geschlechtsverteilung, da die Analysen auch auf autorenspezifischen Sprachgebrauch hinweisen. Ebenso soll das Korpus deutlich erweitert werden: Radiopredigten anderer deutscher Sender mit unterschiedlichen Zielgruppen (z. B. Generation 50+) sollen hinzugenommen werden, um auch regionale und altersspezifische Vergleiche konfessionellen Sprachgebrauchs ermitteln zu können. So wird sich zeigen, auf welche Art und zu welchem Grad auch heute

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noch, 500 Jahre nach der Reformation, konfessioneller Sprachgebrauch vorhanden ist.

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Karina Frick

Religiöse Sprachgebrauchsmuster: Das Beispiel Online-Trauer 1 Hinführung zum Thema Die Nachricht vom Tod des argentinischen Fußballspielers Diego Maradona im November 2020 löste sowohl in der massenmedialen Berichterstattung als auch in den sozialen Medien eine enorme Resonanz aus: Nachrufe wurden veröffentlicht, Videos seiner besten Tore gepostet, seine Karriere und seine letzten Lebensjahre analysiert sowie Mutmaßungen zur Todesursache angestellt; abgesehen von diesen journalistisch aufbereiteten Inhalten gab es aber vor allem eine bedeutende Anzahl an Personen, die ihre Bestürzung über bzw. ihre Anteilnahme am Tod der Fußballlegende kundtaten. Das ist zwar nichts für diesen Todesfall Spezifisches, eignen sich die partizipativen Strukturen des Web 2.0 doch besonders gut für den kollektiven Vollzug von Anteilnahme-Praktiken im Kontext von (Fan-)Trauer (vgl. ausführlich dazu Frick 2019; 2022a); die konkreten sprachlichen Umsetzungsformen im Zuge von Maradonas Tod bieten sich hier jedoch besonders gut zur Hinführung zum Thema dieses Beitrags an:

Abb. 1: Gott hat seine Hand zurück – Tweet zu Diego Maradonas Tod.

Der Tweet stammt von einem Account, der unter dem Namen God (bzw. unter dem Handle @theTweetOfGod) operiert und über 6,2 Millionen Follower*innen verfügt (Stand Juli 2022). Der im Nachgang zum Tod des Fußballers verfasste Tweet verweist auf eine zu zweifelhaftem Ruhm gelangte Situation während der Fußballweltmeisterschaft 1986, bei der Diego Maradona ein irreguläres Tor mit der Hand erzielte und dieses im Nachhinein damit zu erklären suchte, dass „la mano de Dios“ bei der Entstehung des Tors behilflich gewesen sei. Diesem Erklärungsversuch verdankt der argentinische Fußballspieler seinen Beinamen „Mano de Dios“ bzw. in der deutschen Variante: „Hand Gottes“. Das Wissen über diese Situation und https://doi.org/10.1515/9783110604696-007

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den daraus resultierenden Beinamen wird nun – als Voraussetzung zum Verstehen des Tweets – humoristisch mit dem Namen des Accounts verknüpft, indem durch das Possessivpronomen „My“¹ eine metonymische Verbindung zwischen der „Hand Gottes“ und dem Tod des Fußballers hergestellt wird. Der an die Aussage anschließende Hashtag „#RIPMaradona“ ordnet den Tweet zusätzlich in den Anteilnahme-Diskurs zum Tod des argentinischen Fußballers ein. Eine ähnliche Referenz, allerdings ohne die durch den Accountnamen spielerisch hergestellte possessive Perspektive, findet sich im folgenden Beispiel:

Abb. 2: Gott holt sich seine Hand zurück – Tweet zu Diego Maradonas Tod.

Auch in diesem Beispiel werden Beiname und Tod in Verbindung gebracht, hier sogar in eine kausale. Interessant ist nun bei beiden Beispielen, dass der Tod des Fußballspielers durch die Bezugnahme auf dessen Beinamen religiös kontextualisiert wird, indem die transzendente Größe Gott nicht nur als Zielpunkt des Sterbeprozesses (vgl. Abb. 1: „I just got my hand back“), sondern auch überhaupt als Ursache für dieses Sterben (vgl. Abb. 2: „Gott hat sich seine Hand zurückgeholt“) genannt wird. Diese beiden Beispiele verdeutlichen – wenn auch hier in humoristischer, impliziter und zitathafter Weise – dass religiöse Referenzen unterschiedlichster Art bei (kollektiven digitalen) Praktiken im Kontext von durch einen Verlust initiierter Trauer erwartbar und, wie im Folgenden zu zeigen sein wird, häufig sind. Ziel des vorliegenden Beitrags wird es an diese Beobachtung anknüpfend sein, solche Referenzen in digitalen Trauerpraktiken zu ermitteln und sie nach der Art des darin hergestellten Bezugs zu kategorisieren. Dabei stehen insbesondere Referenzen verbaler (vgl. Kap. 4.2) sowie Referenzen multimodaler (vgl. Kap. 4.3) Art im Fokus meiner Beispielstudie. Zunächst wird nun aber das theoretische Fundament gelegt, indem ich erstens mein Verständnis von digitalen Trauerpraktiken erläu-

1 Das Possessivpronomen ist hier großgeschrieben, womit an die Tradition der Großschreibung als Mittel der Hervorhebung sakraler Eigennamen angeknüpft wird (vgl. Polenz 2020: 111).

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tere (vgl. Kap. 2.1) und anschließend Trauer als Affekt beschreibe (vgl. Kap. 2.2) und indem ich zweitens den Bezug zur (digitalen) Religion herstelle (vgl. Kap. 3).

2 Digitale Trauerpraktiken 2.1 Praktiken – digital Wie wichtig der Praktikenbegriff in jüngerer Zeit auch für die Linguistik geworden ist, zeigt sich nicht nur in dessen häufigem und im Übrigen äußerst variablen sowie unterschiedlich stark reflektierten Gebrauch, sondern auch in der eingehenden theoretischen Auseinandersetzung damit (vgl. dazu bspw. den Sammelband von Deppermann, Feilke & Linke 2016 oder von Busch, Droste & Wessels 2022). Ohne im Einzelnen auf die damit verbundenen Diskussionen eingehen zu können, soll hier ein Praktikenbegriff zugrundegelegt werden, der den Aspekt der Digitalität mitberücksichtigt, da die im vorliegenden Beitrag zu untersuchenden Praktiken allesamt der digitalen Online-Kommunikation zuzurechnen sind. Dazu eignet sich m. E. die Definition von Jones, Chik & Hafner (2015: 3), die digitale Praktiken verstehen als ‚assemblages‘ of actions involving tools associated with digital technologies, which have come to be recognised by specific groups of people as ways of attaining particular social goals, enacting particular social identities, and reproducing particular sets of social relationships. The assumption is that digital technologies, […], both make possible new kinds of social practices and alter the way people engage in old ones.

Die mehr oder weniger enge Angebundenheit digitaler Praktiken an „alte“ und somit prä- oder nicht-digitale Vorgängerpraktiken und deren notwendiger Einbezug betont indes auch Androutsopoulos (2016: 337),² der die Typizität digitaler Praktiken mit Bezug zum Mediatisierungsbegriff nach Hepp & Krotz (2012) zu erfassen versucht – im Sinne eines „langfristigen Transformationsprozesses“ hin zu medienvermittelter Kommunikation, im Zuge dessen sich „Prozesse der kommunikativen Konstruktion von Wirklichkeit“ (Hepp & Krotz 2012: 10) verändern. Digitale – oder mit Androutsopoulos (2016) gesprochen mediatisierte – Praktiken jedenfalls müssen in diesem Sinne immer auch vor dem Hintergrund ihrer

2 Entsprechend definiert Androutsopoulos (2016: 337) „mediatisierte Praktiken [als] Gefüge kommunikativer Handlungen, die im Zuge der gesellschaftlichen Mediatisierung aufkommen, Technologien digitaler Kommunikation einbeziehen und an prä-digitale Vorgänger enger oder loser angebunden sind.“

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medientechnologischen Rahmenbedingungen verstanden werden, durch die sie einerseits zwar geprägt sind, die sie aber andererseits auch mitprägen, ausloten und mitunter re-definieren (vgl. dazu auch Hauser, Luginbühl & Tienken 2019).

2.2 Trauer als Affekt Nun soll es aber im Folgenden nicht um beliebige, sondern um thematisch spezifische digitale Praktiken gehen: Um im Zusammenhang mit einem Todesfall vollzogene Trauerpraktiken. Trauer ist dabei als analytische (Ethno-)Kategorie zu verstehen im Sinne einer erwarteten und erwartbar gemachten „Reaktion auf einen Verlust“ (Schwarz-Friesel 2013: 278), der seinerseits an eine Todeserfahrung geknüpft ist.³ Die (sprachliche oder multimodale) Auseinandersetzung mit der an einen solchen Verlust geknüpften Trauer wird dabei in der Regel als Trauerarbeit bezeichnet (Schwarz-Friesel 2013: 278), wobei die konkrete Umsetzung dieser Trauerarbeit ihrerseits stark von gesellschaftlich-kulturellen und historischen Normen geleitet ist (vgl. dazu Linke 2001 sowie Jakoby, Haslinger & Gross 2013).⁴ Hochschild (1979) prägte in diesem Zusammenhang den Begriff feeling rules, worunter sie situativ, historisch und gesellschaftlich-kulturell geprägte Normen versteht, die anleiten, wie ein Individuum sich in einer bestimmten Situation zu fühlen hat und welche (sprachlichen und multimodalen) Ausdrucksformen (Hochschild spricht von display rules) in einer Gemeinschaft situativ jeweils hervorgebracht werden und als angemessen gelten. Mit dieser Herangehensweise lässt sich indes Reckwitz’ Verständnis von Affekten als sinnhaft gerichtete, soziale Aktivitäten besonders gut kombinieren. Er definiert sie wie folgt: „Affekte sind nicht subjektiv, sondern sozial. Sie sind keine Eigenschaft, sondern eine Aktivität. Sie bezeichnen körperliche LustUnlust-Erregungen, die auf Bestimmtes (Subjekte, Objekte, Vorstellungen) gerichtet sind.“ (Reckwitz 2016: 170). Entsprechend werde ich im Rahmen dieses Beitrags nicht von Emotionen, sondern von Affekten sprechen. Während der Be-

3 Verlust ist dabei nicht zwangsläufig an einen Todesfall gekoppelt, sondern kann sich auch auf andere Ereignisse wie bspw. Scheidung, Ende einer Freundschaft, Flucht etc. beziehen (SchwarzFriesel 2013; Jakoby & Reiser 2014: 73). Für die vorliegende Untersuchung sind aber ausschliesslich todesbezogene Verlusterfahrungen relevant. 4 Jakoby, Haslinger & Gross (2013) zeichnen den historischen Wandel von Trauernormen in der westlichen Gesellschaft nach, wobei insbesondere die Verlagerung der Trauer von der (Gemeinde-)Öffentlichkeit im Mittelalter hin zur nicht-öffentlichen, als privat und individuell reklamierten Trauer im 20. Jahrhundert prägend ist (vgl. dazu auch Sunderbrink 2020 oder Sörries 2012). Im 21. Jahrhundert scheint jedoch vermehrt das Bedürfnis zu bestehen, Trauer im (teil)öffentlichen Raum des Internets zu teilen (vgl. dazu u. a. Marx 2019; Frick 2019; Stein 2021).

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griff gemäss Ortner (2014: 18) im Englischen synonym zu Emotion „als Oberbegriff für alle emotionalen Phänomene“ verwendet werde, spiele er im Deutschen nur eine untergeordnete Rolle, wie Albert (2019: 22) betont. Auch wenn Reckwitz selbst in einer früheren Arbeit von einer „strengen definitorischen Abschottung zwischen den Begriffen ‚Emotion‘ und ‚Affekt‘ “ abrät,⁵ lassen sich durch die dem Affektbegriff inhärente praxeologische Lesart als zu biologisch anmutende Konnotationen des Emotionsbegriffs vermeiden. Durch den Fokus auf Affekte als soziale Aktivitäten wird nämlich gerade nicht davon ausgegangen, das Individuum habe oder besitze eine Emotion als eine irgendwie geartete innere Eigenschaft, die nur introspektiv zugänglich ist (Reckwitz 2016: 170).⁶ In diesem Sinne weist Reckwitz‘ Verständnis von Affekten Parallelen zu Fiehlers konversationsanalytisch geprägter Definition von Emotionen auf, der sie als sozial geformte Entitäten beschreibt, die sich an Emotionsregeln orientieren und kommunikativ interpretiert und prozessiert werden müssen – und entsprechend auch nur auf diese Weise analytisch zugänglich sind (vgl. Fiehler 2002: 79).⁷ Affekte werden, Reckwitz weiter folgend, entsprechend nicht dem Individuum als Eigenschaften zugeschrieben, sondern sie sind in den Praktiken selbst verankert und dergestalt „zu großen Teilen Bestandteile von routinisierten, kulturell standardisierten Praktikenkomplexen“ (Reckwitz 2016: 173).⁸ Reckwitz erläutert das exemplarisch anhand des Beispiels Liebe als „Set von Verhaltensroutinen“, das von „hochspezifischen kulturellen Schemata […] abhängt“ und sich in nachahmbaren Codes präsentiere (Reckwitz 2016: 170). Diese – auch für andere Affekte

5 Er schreibt dazu: „Ich bevorzuge stattdessen den Begriff Affekt als ein allgemeines und umfassenderes Konzept und daher ausschliesslich aus heuristischen Gründen. Der Begriff des Affekts transportiert dabei die transitiven Bedeutungsdimensionen von affizieren und affiziert werden und ist somit durch eine dynamische und interaktive Dimension gekennzeichnet, die der Kategorie Emotion fehlt, die eher das statische Verständnis eines tief empfundenen Gefühls impliziert.“ (Reckwitz 2012: 36). 6 Zwar ist auch Affektbegriff nicht völlig unbedenklich, wenn man etwa an eine mögliche Nebenbedeutung als ‚spontane Kraft‘ o.Ä denkt (vgl. Reckwitz 2016: 173); dennoch bin ich der Ansicht, dass die Vorteile des Begriffes überwiegen, auch weil die damit implizierte dynamische Aktivität und soziale Prozessualität durch das Verb affizieren bzw. das Partizip affiziert (werden) erfassbar wird. 7 In Fiehlers (2002: 79) Worten klingt das wie folgt: „emotions are not regarded primarily as internal-psychological phenomena, but as socially proscribed and formed entities, which are constituted in accordance with social rules of emotionality and which are manifested, interpreted and processed together communicatively“. 8 Damit seien den Individuen jedoch keineswegs ihre individuellen Empfindungen abgesprochen (zumal gerade Individualität ein zentraler Bestandteil affektiver Praktiken ist); vielmehr weisen Affekte innerhalb der Praktiken eine Materialität in Form einer „Realität als Erregungszustand in den Körpern“ (Reckwitz 2016: 171) auf.

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in je spezifischen Ausprägungen relevanten Codes – manifestieren bzw. materialisieren sich, wie Schröter (2021) es exemplarisch für Angst in der Ratgeberliteratur aufzeigt, in sprachlich-kommunikativen Mustern bzw. in Sprachgebrauchsmustern (vgl. Bubenhofer 2009), die kulturell signifikant (vgl. Linke 2018) und als solche gleichsam reproduzierbar sind. Der letzte Aspekt ist im Hinblick auf meine Beispielstudien deshalb besonders relevant, weil die untersuchten Praktiken in einer (mehr oder weniger) öffentlichen Online-Umgebung vollzogen werden, in der Reproduzierbarkeit in unterschiedlichen Formen – etwa als teilen, weiterleiten, liken, kommentieren – eine ganz wesentliche Rolle spielt. Dass nun, um auf die zu Kapitelbeginn skizzierten Trauerpraktiken zurückzukommen, auch im Kontext von Trauer solche Codes – bzw. wie Brennan (2008: 327) es nennt: Strategien und Skripte – existieren und dass diese oftmals religiös geprägt sind bzw. religiöse Bezüge aufweisen, soll nun im Folgenden noch genauer theoretisch ergründet werden, bevor ich mich den Beispielstudien zuwende.

3 Religion als Sinnangebot bei todesbezogener Verlusterfahrung Die Praktikenkomplexe, die mit dem Affekt Trauer verknüpft bzw. in denen der Affekt Trauer verankert ist, weisen häufig religiöse Anteile auf – insbesondere durch den hier vorgenommenen Fokus auf einen todesbezogenen Verlust. Der Tod von „signifikanten Anderen“⁹ (Jakoby 2014: 272) stellt eine besonders erschütternde Belastungssituation, eine „Grenzsituation par excellence“ (Berger & Luckmann 2021: 108) dar, die Coping-Strategien und -ressourcen erforderlich macht (vgl. Jakoby 2014: 274). Diese sind nun – unter anderem – in der Religion zu finden, wie etwa Brennan (2008: 336) in seiner Untersuchung von Kondolenzbüchern zur Hillsborough-Katastrophe und zum Tod von Lady Di aufzeigt: „One such way, especially prominent in the face of disorientation and apparent meaningless generated by death, is through the meaning-making provided by religion.“ Religion bietet Menschen im Angesicht des Todes – und der damit oftmals einhergehen-

9 Häufig wird in diesem Zusammenhang auch von Nahestehenden gesprochen; beide Begriffe haben ihre Schwächen, der Ausdruck „signifikante Andere“ ist aber m. E. deshalb besser geeignet, weil die Signifikanzzuweisung dort stärker vom trauernden Subjekt ausgeht und damit dann eben auch Personen (bzw. auch nichtmenschliche Lebewesen) erfasst werden können, die dem trauernden Subjekt nicht im engeren Sinne nahe stehen (z. B. Fanobjekte, vgl. dazu Frick 2022a).

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den Sprachlosigkeit (vgl. Frick 2021) – „ready-made ‚scripts‘ upon which they can readily draw”, wie Brennan (2008: 337) weiter ausführt.¹⁰ Diese Scripts, die ich wie oben dargelegt als Sprachgebrauchsmuster begreifen und beschreiben werde, sind Teil einer religiösen Sprachverwendung, verstanden mit Lasch & Liebert (2015: 477) bzw. Liebert (2018: 405) als funktionale Varietät, die „eine Vielzahl von Funktionen für die Sprachteilhaber/innen zu erfüllen“ vermag – darunter etwa den Umgang mit todesbezogenen Verlusterfahrungen in Form von Trauerarbeit. Ich möchte mich in diesem Sinne auch der weiteren Argumentation Lieberts (2018: 405) anschliessen, der schreibt, dass „[mit] der Annahme der genannten Funktionalität religiöser Sprache […] auch keine detaillierte, theoretische Bestimmung des Religionsbegriffs erfolgen“ muss. Wie Neubert (2016: 16) nämlich seinerseits zurecht betont, ist „die Zuordnung eigener oder anderer Positionen zu ‚Religion‘ oder ihrer Beschreibung als ‚religiös‘ nicht nur eine Frage neutraler, erkenntnistheoretischer Klassifikation“, sondern immer mit Bewertungen und Wertigkeiten verbunden.¹¹ Solche Bewertungsund Positionierungsfragen sind für den vorliegenden Beitrag nur am Rande von Interesse; der Fokus liegt auf digital artikulierten religiösen Sprachgebrauchsmustern und ihren Funktionen. Daraus folgt zusammenfassend: Auch wenn die Verwendung religiöser Terminologie bzw. Sprachgebrauchsmuster kein zuverlässiger Indikator für religiöse Praktiken oder Glauben ist, vermag sie doch die bei der Konfrontation mit todesbezogenen Verlusten möglicherweise erschütterten Deutungsangebote über den Sinn des Lebens und das, was darauf folgt, bereitzustellen (vgl. Brennan 2008: 338). Diese religiösen Sprachgebrauchsmuster schlagen sich nun einerseits in formel- und musterhaften Sprachgebräuchen nieder, wie etwa Bachmann-Stein (2021) es jüngst für konventionelle Kondolenzschreiben aufgezeigt hat und es sich im Rahmen digitaler Trauerpraktiken unter anderem in neuartigen Hashtagformeln (z. B. #RIP, #prayforX, siehe unten) manifestiert (vgl. Frick 2022b; vgl. Giaxoglou 2018). Andererseits gehen diese Scripts auch über Sprachliches hinaus, wie an den Online-Gedenkseiten deutlich wird, die der Analyse als empirische Grundlage dienen. Deren Gestaltung orientiert sich häufig an religiös geprägten Stätten und Orten aus Offline-Umgebungen (vgl. dazu auch Spieker & Schwibbe 2005: 230): For many, offline spaces and architecture serve as a template informing the design and functions of online ritual structures, as many virtual temples and churches emulate the archi-

10 Religion ist dabei nur eine Script-Quelle, Brennan (2008: 338) nennt bspw. auch die Poesie. 11 Einer ähnlichen Argumentation entstammt die von Liebert (2017) bzw. Liebert (2018b) aus der philosophischen Anthropologie Plessners entwickelte Transzendenz-Positionierung.

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tecture of specific offline religious sites. In many respects offline religion serves as a source book for religious practice online. (Campbell 2012: 684)

Entsprechend gibt es beispielsweise auf der Seite www.strassederbesten.de neben anderen auch konfessionell kategorisierte Friedhofsseiten (vgl. Abb. 3), die mit je unterschiedlichen landschaftlichen und/oder architektonischen Gestaltungselementen aufwarten, wobei der christliche Friedhof im Vergleich zu den beiden anderen auf der Seite vertretenen Konfessionen (muslimisch und jüdisch) durch die mittig positionierte, das Layout dominierende Kirche¹² sicherlich am auffälligsten und mitunter am stärksten an offline-religiösen Gegebenheiten orientiert ist. Die konfessionelle Kategorisierung, bei der sich – sichtbar in der Anzahl virtueller Grabsteine – wenig überraschend¹³ eine deutliche christliche Mehrheit abzeichnet, scheint also auch bei digitalen Trauerpraktiken, die ansonsten in vielerlei Hinsicht entgrenzt bzw. entgrenzend sind,¹⁴ eine nicht zu vernachlässigende Rolle zu spielen. Allen Friedhofsseiten ist indes gemeinsam, dass die Anordnung und Ausrichtung der Grabsteine in der digitalen 2D-Umgebung an nicht-digitale 3D-Friedhöfe angelehnt ist: Die Grabsteine sind in mehr oder weniger symmetrischen Reihen angeordnet und die Besuchenden blicken auf die auf dem Grabstein eingravierten persönlichen Daten sowie das davor – bzw. darunter – sich befindliche, nach den persönlichen Vorlieben der grabpflegenden Person gestaltete Beet. Abgesehen von solch spezialisierten digitalen Trauerräumen, in denen vorwiegend individuell-beziehungsbasierte Trauerpraktiken (vgl. Frick 2021: 254) vollzogen werden, finden sich im partizipativen WWW auch kollektive Trauerpraktiken in nicht eigens dafür konzipierten digitalen Kommunikationsräumen, etwa Social-Web-Communities wie Twitter (vgl. Marx 2019a; vgl. Frick 2019). Ent-

12 Gemäss der Quellenangabe unter dem Bild handelt es sich hierbei um die St.-Jakobs-Kirche in Südtirol, Italien. 13 Es handelt sich um eine in Deutschland ansässige deutschsprachigen Seite. 14 Das betrifft bspw. zeitliche oder räumliche Einschränkungen, vor allem aber auch die als Individualisierungsbestrebungen zu verstehende Loslösung bzw. Vermeidung von gesellschaftlichen Konventionen und kulturellen Ritualen. Stridde (2017: 374) hält diesbezüglich etwa fest: „Sogenannte virtual memorials beispielsweise begründen ihr Authentizitätsversprechen mit der Entkopplung von in [sic] Jahrhunderte altem zwanghaftem Kulturverhalten in realen (zumeist kirchlichen) Trauer- und Beerdigungsritualen und ermöglichen eine quasi unbegrenzte Fortsetzung von individueller Trauerarbeit. [...] Während der reale Friedhof und das Grab des Toten als einmaliger Ort des Abschieds, der Erinnerung und des Vergessens gilt, in dessen physische Struktur sich die Zeit einschreibt und in Spuren von vergangener Geschichte materialisiert, sind virtual memorials global und jederzeit zugänglich.“ (vgl. dazu ausserdem Frick 2019; Tienken 2015; Jakoby & Reiser 2014).

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muslimischer Friedhof

christlicher Friedhof

Beispiel für einen Grabstein Abb. 3: Einblick in die virtuellen Friedhöfe auf www.strassederbesten.de.

gegen dem im 20. Jahrhunderten vorherrschenden Trend zur privat-individuellen Trauer (vgl. Jakoby, Haslinger & Gross 2013 und Fußnote 4) wird dabei im Rahmen von „großen virtuellen Trauergemeinschaften“ (Stein 2021: 52) bei Todesfällen kondoliert und Anteilnahme ausgedrückt, bei denen keine persönliche Beziehung zu Grunde liegt:¹⁵ [D]as Kondolieren als kommunikative Praktik [wird] nicht nur auf den öffentlichen Kommunikationsraum ausgeweitet, sondern auch – und das ist bemerkenswerter – entprivati-

15 Stein (2021: 64) spricht hier in Anlehnung an einen Online-Artikel auch von „RIP-Storms“ (siehe unten). Der besagte Artikel ist unter folgendem Link zu finden: https://www.jetzt.de/hashtag /die-halbmast-beflaggung-des-internets-582192 Im Gedenkkerzenkorpus (siehe unten) finden sich ebenfalls häufig Einträge von Personen, die den/die Verstorbene:n nicht kannten, wie z. B. das folgende Beispiel belegt: „Ein stiller Gruß, unbekannterweise...die Liebe bleibt! Für immer!“ (TIC: 14386). Solche „Grüsse unbekannterweise“ finden sich insgesamt 2393-mal im Korpus. Neben unbekannten Grüssen gibt es auch einzelne Fälle, in denen die Gedenkseite von jemandem erstellt wurde, die oder der keine persönliche Beziehung zur verstorbenen Person hatte. Hier ein Auszug aus dem Nachruf: „Ich bin fassungslos und traurig und bin nur am weinen wenn ich an dich denke obwohl ich dich nicht gekannt habe.“ Diese Beispiele jedenfalls sprechen eindeutig für Steins Kondolenzwandel-These.

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siert […], wenn Internetnutzer ohne persönliche Bekanntschaft mit dem/der Verstorbenen und/oder den Hinterbliebenen kondolieren, wie es in besonderer Weise bei prominenten Todesfällen zu beobachten ist. (Stein 2021: 63)

Darin zeigt sich einerseits ein kultureller Wandel in der Kommunikationspraxis des Kondolierens (vgl. Stein 2021: 64) und damit einhergehend im gesellschaftlichen Trauerdiskurs insgesamt. Andererseits finden sich demgegenüber auch in diesen kollektiven Praktiken häufig religiöse Sprachgebrauchsmuster, wie der bereits erwähnte Hashtag „#prayfor“ deutlich macht; das wiederum spricht für eine gewisse Kontinuität durch die Anbindung an prä- und nicht-digitale (Vorgänger-) Praktiken. Im Folgenden soll deshalb der Frage nachgegangen werden, welche sprachlichen und multimodalen Formen religiöser Sprachverwendung sich im Rahmen individueller Trauerpraktiken in dafür spezialisierten thematischen Kontexten einerseits und solidarisch-kollektiven Trauerpraktiken in thematisch unspezifischen Kontexten andererseits finden lassen. Zur Beantwortung dieser Frage werden quantitativ-datengeleitete und qualitativ-hermeneutische Verfahren kombiniert, wobei ein Korpus mit Online-Gedenkseitentexten sowie Beispiele aus sozialen Medien die empirische Datengrundlage bilden. Diese wird in einem nächsten Schritt beschrieben.

4 Analyse: Religiöse Sprachgebrauchsmuster in digitalen Trauerpraktiken 4.1 Datenquellen und Herangehensweisen Um die oben formulierte Frage nach den sprachlichen und multimodalen religiösen Sprachgebrauchsmustern sowohl in a) kollektiven, thematisch unspezifischen Kontexten als auch in b) individuellen, thematisch spezifischen Kontexten angemessen untersuchen zu können, sind verschiedene Datenquellen erforderlich. Die Beispiele für a) wurden entsprechend im Rahmen einer explorativqualitativen Herangehensweise¹⁶ durch die „inzwischen etablierte Methode“ (Marx 2017: 133) der Online-Beobachtung gesammelt (vgl. ausführlicher dazu

16 Allerdings entsteht im Rahmen des Projektes Trauerpraktiken im Internet, das an den Forschungsschwerpunkt Digital Religion(s) an der Universität Zürich angegliedert ist, gerade ein Korpus, in dem ereignisgeleitet Tweets zu todesbezogenen Verlusterfahrungen gesammelt werden. Die hier verwendeten Daten bilden quasi eine Vorstudie zu diesem Korpus.

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Abb. 4: Gedenkkerzenkorpus: Eingabeoberfläche und Beispiel für Kerzentext.

Androutopoulos 2013: 241–242; bei Varis 2016: 55–56 unter dem Begriff digital ethnography gefasst). Damit einher geht ein Verständnis von digitaler Kommunikation als (beobachtbarer) sozialer Prozess in diskursiv hergestellten Räumen (vgl. Androutopoulos 2013: 239). Die auf diese Weise erhobenen Daten jedenfalls umfassen Tweets im Nachgang zu verschiedenen „disruptive news events“ (Giaxoglou & Johansson 2020: 170) wie etwa dem Terroranschlag auf dem Berliner Weihnachtsmarkt 2016 oder dem Attentat auf den Nachtclub in Orlando, ebenfalls 2016. Für die Beispiele zu b) hingegen ist eine quantitative Herangehensweise gewählt worden; sie entstammen einem Korpus, das Texte der Online-Gedenkseite www.gedenkseiten.de enthält – und zwar jeweils den Text, der zu einer sogenannten Gedenkkerze verfasst werden kann. Dabei handelt es sich um virtuelle Kerzen, die zunächst gestaltet und dann per Mausklick angezündet werden können. Das Anzünden der Kerze wird sprachlich gerahmt, indem Nutzer:innen explizit dazu aufgefordert werden, einige persönliche Worte dazu zu verfassen (vgl. Abb. 4). Ebendiese Worte konstituieren das Korpus, das 2‘071‘909 Texte enthält, die wiederum über 184‘500‘435 Millionen token und etwas weniger als halb so viele, nämlich 741‘245 types umfassen. Das Korpus liegt auf der browserbasierten Infrastruktur CPQweb.¹⁷ Im Folgenden werden nun auf Basis dieser beiden Daten-

17 Weil es sich dabei noch um einen Prototypen handelt, der laufend durch weitere Daten ergänzt werden soll, aber auch weil die darin enthaltenen Daten besonders schützenswert und derzeit noch nicht vollständig anonymisiert sind, ist das Korpus bis dato ausschließlich für Projektmitarbeitende zugänglich (Stand November 2021). Alle in diesem Beitrag abgebildeten Beispiele,

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quellen religiöse Sprachgebrauchsmuster in den Blick genommen. Dabei werden zunächst verbale (siehe Kap. 4.2) und anschließend multimodale (siehe Kap. 4.3) Muster einer Analyse unterzogen.

4.2 Religiöse Sprachgebrauchsmuster – verbal Auf der verbalen Ebene zunächst zu nennen ist das weiter oben bereits kurz erwähnte Akronym „RIP“, das nicht nur – wie ich an anderer Stelle bereits gezeigt habe (vgl. Frick 2019) –, im Rahmen kollektiver Fan-Trauerpraktiken in Social Web-Communities häufig auftritt (daher auch der Begriff „RIP-Storms“, vgl. Fussnote 15), sondern auch im Gedenkkerzen-Korpus eine hohe Gebrauchsfrequenz aufweist: 14’685-mal wird es in 14’449 verschiedenen Kerzentexten als Akronym verwendet, deutlich häufiger aber kommt es in der ins Deutsche übertragenen und ausgeschriebenen Form „Ruhe in Frieden“ vor, die 85’360-mal zu finden ist (die englische Variante „rest in peace“ hingegen ist mit 2626 Vorkommen in ausgeschriebener Form relativ selten). In beiden Fällen handelt es sich in der Regel um einen an die Verstorbenen gerichteten guten Wunsch, der häufig in Kombination mit einem Kosenamen oder anderweitigen Adressierungsstrategien auftritt (siehe unten). Die folgenden Beispiele illustrieren dies: (1) (2) (3) (4) (5) (6)

RIP kleiner Engel ♥ (TIC: 2058153) Ich hoffe dir geht es dort oben gut. Rip (TIC: 671575) Rip kleines Kerlchen (TIC: 5695) RIP lieber [NAME] (TIC: 184012) Unfassbar!!!Ruhe in Frieden ,schönes Mädchen! (TIC: 270823) Ruhe in Frieden kleiner starker Kämpfer (TIC: 270865)

Die aus dem Lateinischen stammenden und in ihrer abgekürzten Form oft als Grabinschrift verwendete Phrase ist zwar religiösen Ursprungs¹⁸, dieser dürfte aber in den digitalen Trauerpraktiken eine marginale Rolle spielen – die religiöse Bedeutung (z. B. das durch den Wunsch zu vermeidende Fegefeuer) hat in diesen Kontexten ihre Relevanz verloren, wie bereits Brennan (2008: 337) es

auch aus der explorativen Datensammlung, werden anonymisiert wiedergegeben und mit dem im Korpus zugewiesenen Text Identification Code (im Folgenden: TIC) nummeriert. 18 Dazu schreibt wiederum Brennan (2008: 338): „The provenance of the appellations ‚R.I.P.‘ and ‚God bless‘ can be traced to the pre-Reformation period, where they were deployed as popular benedictions aimed at lessening the soul’s suffering in purgatory.“

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für die Kondolenzbücher festgestellt hat. Die expressive Komponente in Form des guten Wunsches an die verstorbene Person (vgl. Sörries 2020: 347) hingegen wird aus den ursprünglich religiösen Kontexten weitergetragen¹⁹ und dadurch an die nicht-digitale Vorgängerpraktik angeknüpft. Die Ruhe-Wünsche bilden eine Praktik im Rahmen eines größeren Praktikenkomplexes, der als Kommunikation mit den Verstorbenen bezeichnet werden könnte und sich auf den untersuchten Gedenkseiten als sehr relevant erweist (vgl. auch Stein 2021). Das zeigt sich etwa im häufigen Vorkommen der sozialdeiktischen Adressierung²⁰ mit dem Pronomen „du“, das fast zwei Millionen Mal in über 800‘000 Texten auftritt. Die an die Verstorbenen gerichteten Worte gehen dabei häufig über gute Ruhe-Wünsche hinaus, berichten von der Erinnerung an gemeinsame Erlebnisse, setzen den Verstorbenen in Bezug zur schreibenden Person, bestätigen die (charakterlichen) Besonderheiten der Verstorbenen oder versichern das kontinuierliche Gedenken derselben. Im Folgenden sind einige Beispiele aufgeführt: (7) Es vergeht kein Tag, an dem Du nicht bei uns bist....Wir vermissen dich,Prinzessin ♥♥♥ (TIC: 73463) (8) Es gibt sehr viele Menschen, die an Dich denken; nicht nur jetzt in der Weihnachtszeit..., sondern immer und soo oft.... Du wirst nicht vergessen, Kleiner.... Du bist etwas ganz Besonderes !!! Ich schicke Dir Liebe und Wärme... (TIC: 9034) (9) Für viele ist es ein Tag wie jeder andere. Für uns ein weiterer Tag, eine weitere Woche..... ohne dich... ohne deine Nähe ohne deine Stimme ohne dein Lächeln ohne deine Liebe.....

19 Das geschieht auch mithilfe ähnlich formelhafter Wünsche wie bspw. „Ruhe sanft“, was sich 13’325-mal im Korpus finden lässt. Zur Formelhaftigkeit von Grabinschriften – darunter RIP und Ruhe sanft – vgl. Sörries (2020). 20 Mit Adressierungsstrukturen in elektronischen Kondolenzbüchern setzt sich auch Stein (2021: 49–50) auseinander; er stellt dabei ebenfalls eine häufige Adressierung der Verstorbenen fest, aber auch Formen der Mehrfachadressierung und des Adressat:innenwechsels. Diese Phänomene finden sich auch in den hier untersuchten Daten, ich werde an dieser Stelle aber nicht weiter darauf eingehen.

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Es ist so leise und leer ohne dich. Wir alle denken an dich. Deine Mutti hat dich sehr lieb. (TIC: 26) Die Beispiele verdeutlichen, dass die Gedenkseiten „ein Forum für die Kommunikation mit den Toten“ (Jakoby & Reiser 2014: 83) darstellen und in dieser Funktion dazu dienen, die soziale Beziehung zu diesen im Sinne des continuing bondsModells (vgl. ebd.) potentiell unbegrenzt weiterzupflegen.²¹ In diesem Sinne ist es nur konsequent, dass die kommunikativ aufrecht erhaltene Beziehung auch räumlich verortet wird. Das zeigt sich einerseits in der häufigen Verwendung des Lexems „Himmel“ – 358‘045-mal in 277‘437 Texten – sowie in der lokaldeiktischen Positionierung, die die Verstorbenen in einem „da/dort oben“ und die Schreibenden in einem „hier unten“ lokalisiert (vgl. dazu auch Frick im Druck).²² Darin widerspiegelt sich eine – zwangsläufig monologische – „vertikale kommunikative Achse“ (Lasch & Liebert 2015: 483), die nicht von ungefähr an Verehrungsakte erinnert (vgl. Lasch & Liebert 2015: 483) und die durch den vernetzen Computer vermittelt wird. Darauf soll nun aber nicht weiter eingegangen werden, sondern stattdessen der Blick auf ein weiteres Sprachgebrauchsmuster gelenkt werden, das religiöse Praktiken impliziert: Der Hashtag „#prayfor“, der im Rahmen kollektiver (nicht aber in den individuell-thematischen) Trauerpraktiken in Social WebCommunities eine bedeutsame Rolle spielt – und zwar nicht nur im Sinne einer als Solidarisierung verstandenen Aufforderung zu einer religiösen Praktik in Reaktion auf „disruptive news events“, sondern auch im Rahmen metapragmatischer Überlegungen. Ich werde hier nur auf Letzteres eingehen, um die Analyse verbaler religiöser Sprachgebrauchsmuster in diesem Kapitel abzurunden. So scheint es gerade die im Hashtag enthaltene Aufforderung zur religiösen Praktik des Betens zu sein, die auf Widerstand stößt. In einem Kommentar, der als Reaktion auf einen Artikel im Schweizerischen Tages-Anzeiger zum Thema Trauerpraktiken im Netz verfasst wurde, heißt es beispielsweise: (10) So ganz nebenbei ist #Prayfor... der wohl stupidste Hashtag den man nach

21 Dazu heisst es bei Spieker & Schwibbe (2005: 241): „Die im Memorial verewigten Toten sind in diesem Sinne nicht tot, sondern – in einer Form der Zwischenexistenz – zu virtuell Lebenden mutiert.“ 22 Zwar muss es sich dabei nicht zwangsläufig um einen religiös konzeptionalisierten „Himmel“ bzw. ein religiöses „dort oben“ handeln, dass das aber dennoch häufig der Fall sein dürfte, zeigt sich u. a. darin, dass die Lexeme „Gott“ mit 107’043 und „Engel“ mit 408’144 Vorkommen hochfrequent sind.

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einem religiös motivierten Terrorakt bringen kann, denn diese Welt wäre einiges freier und friedlicher wenn endlich weniger gebetet und mehr gedacht würde.²³ Hierin manifestiert sich eine eindeutige non-transzendente Positionierung (vgl. Liebert 2017: 21), die einen als dichotom zu verstehenden Gegensatz zwischen „beten“ und „denken“ aufspannt. Dabei wird „denken“ mit Rationalität gleichgesetzt, während in der Konsequenz „transzendente Positionierungen als Aberglaube oder Humbug, bestenfalls als narkotisierendes Herrschaftsinstrument“ (Liebert 2017: 21) dargestellt werden. Letzteres zeigt sich in diesem Beispiel auch darin, dass dem disruptive news event, das dem Hashtag ursächlich zugrunde lag, ebenfalls eine religiöse Dimension zugeschrieben wird. Somit fungiert die Positionierung gegenüber Religion und Religiosität in diesem Kommentar als Bewertungssystem (siehe oben, Kap. 3), das letztlich eine dem kollektiv verwendeten Hashtag als Sprachgebrauchsmuster zugeschriebene Bedeutungsdimension betrifft.

4.3 Religiöse Sprachgebrauchsmuster – multimodal Der Hashtag #prayfor tritt nun aber nicht nur in rein verbaler Form auf, sondern findet sich auch als Bestandteil multimodaler Kommunikate, wie die folgende Abbildung belegt (vgl. Abb. 5). Dass der Hashtag hier als integraler Bestandteil der beiden Bilder seine verlinkende Funktion verliert, belegt die musterhafte Verfestigung dieser Zeichenkette (vgl. auch Frick 2022b sowie allgemeiner zur analogen Verwendung von Hashtags Marx 2019b). Im Folgenden komme ich nun noch einmal auf die Gedenkseiten zurück und widme mich einem als multimodal einzustufenden Phänomen, das sich dort als sehr präsent erweist: Es geht um den regen Einsatz von in anderen Kontexten kaum noch zu beobachtender und entsprechend unzeitgemäß anmutender ASCII-Art. Diese ist an der Schnittstelle zwischen Bild und Schrift angesiedelt, indem durch spezifische Anordnungen eigentlich symbolischer Schrift- bzw. Sonderzeichen ikonische Bildlichkeit auf einer visuellen „Sehfläche“ (Schmitz 2011: 34) hergestellt wird. Die korpuslinguistisch schwierig zu verarbeitenden Bildzei-

23 Der besagte Artikel findet sich unter https://www.tagesanzeiger.ch/ausland/europa/trauerim-netz-ich-bin-ein-berliner/story/22721930 . Die Kommentare zum Artikel sind aufgrund einer Webseitenmigration leider nicht mehr online einsehbar.

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Abb. 5: Multimodale Kommunikate in Reaktion auf „disruptive news events“.

chengestalten²⁴ nehmen auf den Gedenkseiten sehr unterschiedliche Formen an und reichen von weltlichen Motiven (z. B. Comicfiguren, Pflanzen, Teddybären) über magisch-mystische Kreaturen (z. B. geflügelte Pferde) bis hin zu einem bedeutenden Anteil religiöser (bzw. religiös assoziierter) Symbolik (z. B. betende Hände, Tauben, Kreuze, Kerzen); einige Beispiele sind in Abb. 6 ersichtlich. Die religiösen Symbole sind häufig durch textuelle Elemente gerahmt, die einzelne Elemente der Bildzeichengestalten aufgreifen oder kontextualisieren und ihrerseits häufig religiöser Prägung sind; in einem der abgebildeten Beispiele wird etwa aus einem Psalm zitiert. Auch hier wird somit an nicht-digitale Praktiken angeknüpft, indem religiöse Praktiken aus Offline-Kontexten (z. B. kirchliche Gedenktage, siehe das Beispiel zum Totensonntag in Abb. 6) rekontextualisiert und an die Bedarfe affektiver Online-Praktiken adaptiert werden.

24 Über deren Herstellungsprozess kann nur gemutmaßt werden, es dürfte sich aber mehrheitlich um copy&paste-Verfahren handeln; dafür spricht insbesondere auch die Tatsache, dass viele Motive in ähnlicher oder gar identischer Form auf verschiedenen Gedenkprofilen vorkommen. Insofern weisen auch diese Bildzeichengestalten eine Formel- und Zitathaftigkeit auf, wie es oben schon für den Hashtag festgehalten wurde, auch wenn auf den Gedenkseiten ein stärkerer Individualitätsanspruch bestehen dürfte.

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Abb. 6: Religiös inspirierte ASCII-Art-Abbildungen auf den Gedenkseiten (Teil 1).

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Abb. 7: Religiös inspirierte ASCII-Art-Abbildungen auf den Gedenkseiten (Teil 2).

5 Braucht es eine digitale Religionslinguistik? Die Analyse im vorangehenden Kapitel hat deutlich gemacht, dass digitale Trauerpraktiken auf Online-Gedenkseiten, aber auch in Social Web-Communities häufig an religiös geprägte und prägende, sprachliche und multimodale Praktiken(komplexe) anknüpfen; sich beispielsweise in der vertikalen Kommunikationsachse zwischen Verstorbenen und Gedenkenden, in formelhaften, religiöse Praktiken einfordernden oder diese digital imitierenden Sprachgebrauchsmustern oder in der (schrift-)bildlichen Darstellung religiöser Symbolik manifestieren. Braucht es also eine digitale Religionslinguistik bzw. einen mit digitalen religiösen Praktiken befassten subdisziplinären Zweig? Der pandemiebedingte Mediatisierungsschub hat auch die Religion erfasst, wie Online-Gottesdienste, per Zoom übertragene Beerdigungen oder interaktive Gedenkseiten für Corona-Opfer²⁵ exemplarisch zeigen. Allerdings gab es schon lange vor der Pandemie nicht nur digitale Religion(en) bzw. digitale religiöse Praktiken, sondern auch umfangreiche Forschung dazu (vgl. etwa die zahlrei-

25 Vgl. z. B. die Seite des Schweizer Tages Anzeigers: https://interaktiv.tagesanzeiger.ch/2020/allecorona-todesfaelle-in-der-schweiz/ .

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chen Arbeiten von Heidi Campbell).²⁶ Die meisten dieser Arbeiten sind allerdings religionswissenschaftlichen oder soziologischen Ursprungs, die linguistische Beschäftigung mit religiösen Online-Praktiken ist bislang eher vernachlässigt worden. Diese Lücke ausgehend von den in den letzten Jahren vorangetriebenen religionslinguistischen Forschungen (vgl. Lasch & Liebert 2017) zu schließen, scheint daher nicht nur sinnvoll, sondern geradezu geboten.

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26 An der Universität Zürich hat zudem Anfang 2021 ein interdisziplinärer universitärer Forschungsschwerpunkt „Digital Religion(s)“ seine Arbeit aufgenommen, im Rahmen desselben das hier zur Untersuchung verwendete Korpus erstellt und diese Arbeit ermöglicht worden ist.

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Das Beispiel veranschaulicht die Komplexität und das Ineinandergreifen einzelner Sprachbilder aus unterschiedlichen Wissensbereichen, die es in der Analyse zu extrahieren gilt. Erprobt wird eine Metaphernanalyse auf der Basis von Lakoff & Johnson (1980) mit Erweiterungsbereichen nach Fauconnier & Turner (2002 und 2003). Da sich komplexe Metaphern aus mehreren Inputbereichen speisen, werden alle Elemente ermittelt und deren Bezüge über ein Mapping erfasst. Zugrunde liegt die Vorstellung von einer Strukturierung der Metaphern in Netzwerken, die wiederum auf unterschiedliche Wissensbereiche referieren. Die systematische Metaphernanalyse über das Mapping soll einerseits einzelne Elemente herausfiltern und dahinter liegende Inputbereiche genauer benennen, andererseits deren Kombination im Integrationsbereich beschreiben. Gegenwärtig sind die Schriftstücke aus bzw. in den norddeutschen Frauenklöstern weder komplett erfasst, noch unter systematisierenden sprachlichen Aspekten ausgewertet. Die Überlieferung der Lüneburger Frauenklöster stellt insofern eine attraktive und lohnenswerte Untersuchungsbasis dar, da die Nonnen autark ihre Schriften verfassten, insgesamt aber in schriftliche Netzwerke eingebunden waren. Ein Ziel des Beitrags ist es, im Anschluss an die Metaphernforschung ein Modell für die systematisierende Analyse von religiös kontextualisierten Metaphern zu erproben, das sowohl die inhaltliche als auch die sprachliche Ebene erfasst. Darüber hinaus soll mit einer detaillierten Analyse der metaphorischen Verfahrensweisen der Grad der sprachlichen Kompetenz der Sanktimonialen in der niederdeutschen Varietät näher bestimmt werden. Auf der Grundlage der Metaphernanalyse nach Fauconnier & Turner soll ein Verfahren entwickelt und erprobt werden, mit dem die Vielschichtigkeit vormoderner Metaphern erfasst werden kann. Der Beitrag beginnt mit einer theoretischen Positionierung innerhalb der Metapherntheorie und der Entwicklung eines Analysemodells für komplexe Sprachbilder. Es folgen die Vorstellung der Textgrundlage und des Profils der Sprachbilder in den Grußformeln der Lüner Briefe. Das Analysemodell wird exemplarisch an Grußformeln erprobt, die auf die Bereiche Heilkunde und Heilen sowie Weinbau zurückgreifen. Abschließende Überlegungen zur Funktion der religiösen Sinnstiftung von Metaphern möchten die Ergebnisse im Bereich von Sprache und Religion situieren.

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2 Metapherntheoretischer Anschluss Metaphern sind innerhalb der Germanistik kontinuierlich Gegenstand der Forschung. Die Teildisziplinen setzen dabei eigene Schwerpunkte: In der Linguistik stehen theoretische und methodische Zuwege im Zentrum, deutlich ist der Anschluss an die Forschungen aus dem anglo-amerikanischen Raum. In der Literaturwissenschaft steht zumeist eine Metapher im Gebrauch eines Werks oder Autors im Zentrum, perspektiviert werden poetologische bzw. narrative Aspekte oder konkrete Motive.¹ Eine theoretische Anknüpfung erfolgt – zumeist Ricœr (1991) folgend – an Aristoteles und Saussure. Definitionen zu Metapher werden kaum oder nur im gängigen Ausmaß geliefert, d. h. die meisten Untersuchungen kommen ohne die Explikation der theoretischen Grundlage aus und bieten auch keine Aufschlüsselung des methodischen Zugangs (vgl. hierzu offensiv FuchsJolie 2015: 417). Es wird offensichtlich davon ausgegangen, dass jede:r weiß, was eine Metapher ist, wie diese aufgebaut ist und wie sie funktioniert. Eine Ausnahme bildet die Untersuchung der Metaphern des Lichts und des Glanzes in der Minnelyrik Heinrichs von Morungen von Sebastian Cöllen (2012), der beispielhaft zeigt, dass ein Einbezug neuester Analysemethoden äußerst gewinnbringend für das Verständnis historischer Texte sein kann. Cöllen (2012) setzt zwar bei dem linearen Ansatz nach Lakoff & Johnson an, indem Eigenschaften aus einem Quellbereich auf einen Zielbereich übertragen werden, weist aber auf das Problem der Unidirektionalität hin (Cöllen 2012: 201–203). Da sich im sog. Zielbereich Mischungen oder Integrationen aus mehreren konzeptuellen Bereichen befinden (Cöllen 2012: 203), bedarf es eines differenzierteren

1 Im Fokus der literaturwissenschaftlich ausgerichteten germanistischen Mediävistik stehen Metaphern in einzelnen Werken oder im Gebrauch einzelner Autoren, so z. B. die taubenetzte Rose bei Wolfram von Eschenbach (in der Lyrik und Epik; vgl. Fuchs-Jolie 2004) bzw. weiterführend das Metaphernkonzept als Autornachweis für Wolfram (Fuchs-Jolie 2015). In der Untersuchung zu Metaphern und Metaphorik im Jüngeren Titurel (Illibauer-Aichinger 2010) wird nachgewiesen, dass die Metaphern „nicht nur dem Schmuck dienen, sondern auch bedeutungsstiftend sind“ (Illibauer-Aichinger: 92). Konkret wird herausgearbeitet, wie mittels Metaphern über das gesamte Werk bestimmte Bildbereiche miteinander verknüpft werden und so die Aufmerksamkeit des Rezipienten lenken. Gut im Blick sind auch bestimmte Metaphern, wie z. B. die Lichtmetaphorik (Cöllen 2012), die Metapher vom Wohnen im Herzen sowohl in der höfischen Epik als auch in religiösen Texten (Palmer 2005), die Metaphorik im Dreieck von Minne, Jagd und Tod in Wolframs von Eschenbach Titurel (Kiening & Köbele 1998). Den Zusammenhang von Mythos und Metapher in Gottfrieds Tristan bearbeitet Köbele (2004), die Metaphorik des Weges beleuchtet Friedrich (2014). Die Metapher als Analysegröße begegnet auch im Zusammenhang mit Autor und Werk, untersucht werden metaphorische Verwendungen für Autorschaft in der vormodernen Literaturwissenschaft (z. B. Bleumer 2015).

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theoretischen Ansatzes. Durch die Zusammenfügung können metaphorische Bilder entstehen, die zwar aus einzelnen Quellbereichen schöpfen, aber schließlich als neues Ganzes erst Sinn stiften. Hier greift die Blending-Theorie (Fauconnier & Turner 2002, Fauconnier & Lakoff 2009), in der mit der Vorstellung von Netzwerken gearbeitet wird. Cöllen überträgt die einzelnen Netzwerkstrukturen (Spiegelnetzwerk, einzelperspektivisches und doppelperspektivisches Netzwerk) auf die Lyrikanalyse und wendet das mapping nachvollziehbar an. Der Vorteil dieser Methode liegt nach Cöllen darin, dass „uns aber die Blending-Theorie um einen Schritt weiter an den Text herangehen“ (Cöllen 2012: 204) lässt, zudem scheint dieses Verfahren geeignet, um die metaphorischen Bilderwelten und das Weltwissen sichtbar zu machen (Cöllen 2012: 205). Grundlegend ist die Annahme, dass Metaphern in erster Linie ihren Ausgangspunkt in Gedanken und Handlungen nehmen – und damit der Kognition entspringen – und erst sekundär Ausdruck in der Sprache finden (Lakoff & Johnson 1980: 153). Entgegen der lang geltenden Annahme, Metaphern seien rhetorische Konstrukte und drückten in literarischen Texten Besonderheiten aus, werden sie als Alltagsphänomene angesehen, die entsprechendes alltägliches Wissen, sicherlich aber auch Weltwissen widerspiegeln.² Verstehbar werden Metaphern durch konkrete Erfahrung (Lakoff & Johnson 1980: 154–155). Dies ist vor allem deswegen unabdingbar, da Metaphern keine einheitliche, konsistente Füllung mit allen Inhalten eines Konzepts sind, sondern dieses partiell abbilden (zur partial nature vgl. Lakoff & Johnson 1980: 33, 54–55). Es gibt also used und unused parts von Konzepten (Lakoff & Johnson 1980: 52). Metaphern ist also ein partieller Charakter inhärent, d. h. sie können ein Konzept nicht in seiner Gesamtheit abbilden, sondern müssen sich zwangsläufig auf Teile davon beschränken. Dies bedeutet, dass sie – möglicherweise ganz gezielt – einen oder mehrere Aspekte hervorheben und andere (zwangsläufig) verbergen (zu highlighting und hiding vgl. Lakoff & Johnson 1980: 10). Metaphern sind bei ihrer Auswahl der verwendeten konzeptuellen Elemente individuell, in ihrer Gestalt erscheinen sie daher inkohärent (Lakoff & Johnson 1980: 41). Allerdings haben verschiedene metaphorische Ausprägungen durchaus dieselbe konzeptuelle Basis, sodass sie letztlich auf (fast) dasselbe Ergebnis bzw. dieselbe Bedeutung hinauslaufen (Lakoff & Johnson 1980: 94). Da es das grundlegende Ziel von Metaphern ist, unklare Sachverhalte durch nachvollziehbare, physische Beziehungen wiederzugeben (Lakoff & Johnson 2 Die Engführung mit der kognitiven Linguistik liegt auf der Hand, vgl. hierzu grundlegend Schwarz 2008, Rickheit, Weiss & Eikmeyer 2010; expliziter erscheint der Ansatz in der GroundedCognition und Embodied-Cognition-Theory (vgl. z. B. Barsalou 2008, Lakoff 2012), die aber immer wieder auf Lakoff & Johnson 1980 zurückverweisen.

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1980: 59), ist davon auszugehen, dass ihr Aufbau klar, ihr Inhalt verstehbar und ihre Struktur systematisch ist. Beispielsweise arbeiten Metaphern über Oppositionen und ordnen Aspekte zu, sie arbeiten räumlich und machen über Äquivalenzen Bezüge deutlich (vgl. exemplarisch orientational metaphors, Lakoff & Johnson 1980: 14). Metaphernteile (i. d. R. zwei, einmal die mit Referenz auf den Quellbereich und die mit Referenzierung des Zielbereichs) sind über eine experimental basis miteinander verbunden (Lakoff & Johnson 1980: 20). Lakoff & Johnson führen diesen Bereich der Vermischung nur in Ansätzen aus (komplexe Metaphern, Lakoff & Johnson 1980: 97–105), es bleiben gewisse Leerstellen, die mit dem Ansatz des conceptual blending, wie ihn Fauconnier & Turner (2002 und 2003) entfalten, gefüllt werden können. Die Linearität zwischen Quell- und Zielbereich wird aufgelöst, indem input spaces (Inputbereiche) angesetzt werden (Fauconnier & Turner 2002: 40–41), deren Verhältnis nicht von vornherein linear ist und damit eine feste Abbildungsrichtung vorgibt, sondern die in Wechselwirkung miteinander stehen. Die input spaces lassen sich über einen generic space (generischen Bereich), der beide Bereiche umfasst, konzeptuell erfassen.³ Aus den input spaces werden Einzelelemente in einem weiteren Bereich, dem blended space (Integrationsbereich), zusammengefügt.⁴ In diesem Bereich wird eine Struktur generiert, die keiner der Inputbereiche bereits aufweist: „Blending can compose elements from the input spaces to provide relations that do not exist in the separate inputs“ (Fauconnier & Turner 2002: 48). Die Spezifik einer Metapher entsteht jedoch erst durch das matching bzw. cross-space mapping von Elementen unterschiedlicher Inputbereiche: Kreuzweise Zuweisungen ergeben sich durch die Engführung bzw. Vermischung im blended space und kreieren das spezifische metaphorische Profil.⁵ Damit ist der blended space derjenige Ort, in dem die Metapher zu einer solchen wird. Greifbar wird die Metapher schließlich, wenn dieser mental space⁶ sprachlich abgebildet wird.

3 „The two […] share a more schematic frame […]; this is a ‚generic‘ space, which connects them“, Fauconnier & Turner 2003: 58; „A generic mental space maps onto each of the inputs and contains what the inputs have in common“, Fauconnier & Turner 2002: 41. Bei diesen Bereichen handelt es sich um ein minimales Netzwerk, es können mehrere input spaces und blended spaces enthalten sein (vgl. Fauconnier & Turner 2002: 47). 4 „Blending consists in partially matching the two inputs and projecting selectively from these two input spaces“, Fauconnier & Turner 2003: 58; vgl. Prinzip der selective projection: „Not all elements and relations from the inputs are projected to the blend“, Fauconnier & Turner 2002: 47. 5 „Crucially, the blended space remains connected to the inputs by the mappings, so that real inferences can be computed in the inputs from the imaginary situation in the blended space“, Fauconnier & Turner 2003: 59; vgl. auch Fauconnier & Turner 2002: 47. 6 Nach Fauconnier & Turner gehören input space, generic space und blended space zu den mental spaces, vgl. Fauconnier & Turner 2002: 40–42.

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3 Analysemodell für komplexe Sprachbilder Die einzelnen Bereiche in der Blending-Theorie und ihr Zusammenspiel sollen noch einmal an dem eingangs zitierten Beispiel verdeutlicht werden: Den vader der ewicheyt, de de is eyn ackerman der hilgen cristenheyt unde gheseyet heft dat sote wetenkorneken Jesum Christum, synen eyngheboren sone, in den kuschen acker des hilgen junchurowelken lichammes der zarten clenliken junchurowen Marien, den de hilge geyst beghoten heft myd deme soten slachreghene syner sovenvoldighen gnade vor enen fruntliken grot tovoren! (KlA Lüne, Hs 15, Brief 270)

Als überordnender generic frame kann das Konzept (ER)-ZEUGEN angesetzt werden – auf der einen Seite wird eine Pflanze, aus der ein Lebensmittel gewonnen wird, erzeugt, auf der anderen Seite wird ein Mensch er- bzw. gezeugt. Bei den Inputbereichen handelt es sich beim Ackerbau um einen physisch greifbaren und handwerklich-konkreten und bei den göttlichen Entitäten und ihrem Zusammenspiel um einen metaphysischen, der zudem das Wissen um die Heilsgeschichte voraussetzt (vgl. Tab. 1).⁷ Tab. 1: Generischer Bereich des Konzepts (ER-)ZEUGEN: Inputbereiche und Einzelelemente. generischer Bereich/generic frame = (ER)-ZEUGEN Inputbereich/input space I Ackerbau > Aussaat ackerman wetenkorneken acker [Wetter] slachreghen

Inputbereich/input space II Göttliche Entitäten im Christentum

selective projection/Einzelelemente vader der ewicheyt Jesus Christus > eyngheboren sone hilger junchurowelker licham der zarten clenliken junchurowen Marien hilge geyst sovenvoldighe gnade

Der handwerklich-konkrete Bereich ist der nachvollziehbare, bekannte Ausgangspunkt, über den die komplexen Sachverhalte im spirituellen Bereich des Glaubens verstehbar werden sollen, indem ihnen die konkreten Elemente zugeordnet werden. Für den blended space ist es daher sinnvoll, von den spirituellen

7 Die Übersicht basiert auf dem four-space model, vgl. Fauconnier & Turner 2003: 59.

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Sachverhalten ausgehend zu denken (denn nicht jeder Landwirt ist (wie) Gott, aber Gott ist wie ein Landwirt; vgl. Tab. 2). Tab. 2: Generischer Bereich des Konzepts (ER-)ZEUGEN: Integrationsbereich. Integrationsbereich/blended space Koppelung einzelner Elemente Gott SCHÖPFER Jesus Christus PERSON, DIE GEZEUGT WIRD

Landwirt ERZEUGER =

Weizenkorn GEGENSTAND DER AUSSAAT

Körper Marias ORT DER EMPFÄNGNIS

Acker ORT DER AUSSAAT

Hl. Geist mit siebenfacher Gnade VORAUSSETZUNG FÜR WACHSTUM

Platzregen VORAUSSETZUNG FÜR WACHSTUM

Im Integrationsbereich finden sich Analogien (z. B. durch relativische Verbindungen), Zuschreibungen (z. B. durch Genitivattribute oder Attribuierung allgemein) und Aktivität oder auch Passivität (ausgedrückt durch spezifische Verbsemantik bzw. Passivkonstruktionen): Analogien – Gott ist ein Ackermann – Jesus ist ein Weizenkorn Zuschreibungen – Ewigkeit hat einen Vater⁸ – die hl. Christenheit hat einen Ackermann – Marias Körper hat einen keuschen Acker – Das Weizenkorn ist süß – Die siebenfache Gnade ist wie ein Platzregen – Der Platzregen ist süß – Gnade wird gegossen (d. h. Gnade ist flüssig) Aktivität – Gott sät ein Weizenkorn – Heiliger Geist gießt den Acker

8 Möglicherweise ist hier ein weiterer Inputbereich anzusetzen, der die Eigenschaften Gottes fokussiert und Gott als Erzeuger der Ewigkeit bzw. Herrscher der Ewigkeit ansetzt.

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Aus jedem Inputbereich werden nur bestimmte Aspekte bzw. Sachverhalte ausgewählt, auf die im blended space zurückgegriffen wird. Diese konkreten Wissensbestände lassen sich in Wissensrahmen zusammenfassen, die konkrete Fakten enthalten und dementsprechend Sachverhalte abbilden: Faktischer Wissensrahmen 1: Ein Landwirt sät Getreide aus; dieses kann nur bei entsprechender Feuchtigkeit keimen. Faktischer Wissensrahmen 2: Gott hat die Jungfrau Maria auserwählt, Jungfrau zu bleiben und seinen Sohn zur Welt zu bringen; dies ist ein Akt der Gnade, der durch den Heiligen Geist ermöglicht wird.

Die Kombination von Einzelelementen aus den faktischen Wissensrahmen im Integrationsbereich entspricht dem double-scope network-Gedanken bei Fauconnier & Turner (2002: 131–135, 2003: 60–61): In diesen doppelperspektivischen Netzwerken enthält der Integrationsbereich Elemente aus mehreren Rahmen und produziert so eine eigene Struktur. Das vorliegende Beispiel kann auf dieser Basis konkretisiert werden; die Explikationen bieten das relevante Wissen, das notwendig ist, um die Metapher zu dekodieren, in Form von z. B. kurzen Erklärungen, Grundsätzen, Präzisionen. Die erste Explikation setzt landwirtschaftliche Tätigkeiten mit dem Schöpfungsakt gleich und impliziert damit das Wissen über das Konzept GOTT ALS SCHÖPFER: Explikation 1: Landwirtschaftliche Tätigkeiten sind wie ein Schöpfungsakt Gott > Landwirt > Schöpfer

Eine weitere Explikation zielt auf die Zeugung Jesu und impliziert das Wissen darum, dass Maria Jungfrau ist, d. h. sie ist und bleibt sexuell nicht aktiv: Explikation 2: Maria ist Immer-Jungfrau Maria > keuscher Acker > sexuell inaktiv/immaculata

Eng daran gekoppelt ist eine dritte Explikation, die auf die konkrete Zeugung bzw. Empfängnis Jesu referiert und das Wissen voraussetzt, dass diese nicht-körperlich erfolgt, sondern über den Heiligen Geist und damit eine Vermittlung der Gnade Gottes impliziert: Explikation 3: Siebenfache Gnade ist Ausgangspunkt für Heranwachsen Jesu in Maria Heiliger Geist > Gnade > Maria

Eine vierte Explikation kann als Grundsatz formuliert werden: Es handelt es sich um die Vorstellung vom Wachstum. Hier wird das Wissen darüber vorausgesetzt,

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dass zur Entwicklung eines Samenkorns bestimmte Wetterbedingungen (hier: Feuchtigkeit) erforderlich sind: Explikation 4: Wachstum benötigt Feuchtigkeit Samen > Acker > Platzregen

Die erste und vierte Explikation basieren auf der konkreten Ebene der Landwirtschaft in Verbindung mit den Naturgewalten bzw. dem Wetter, die zweite und dritte gehören der religiösen Ebene an und setzen transzendentes Denken voraus. Im Integrationsbereich zeigt sich die Überblendung einzelner Elemente, die real nicht zusammenwirken, wenn z. B. der Heilige Geist als Gärtner erscheint, der den Acker mit einem süßen Platzregen begießt: Ein Platzregen wird nicht gegossen, ein Platzregen ist nicht süß, ein Landwirt begießt seinen Acker i. d. R. nicht, gießen ist die Handlung eines Gärtners usw. Hier liegt eine Mischung aus konkreten und abstrakten Inputbereichen vor. Deren gemeinsames Element, das zugleich den Schlüssel für das Verständnis bereithält, ist die Kenntnis darüber, dass Saat zum Wachstum Feuchtigkeit benötigt: Das Weizenkorn im Boden benötigt Wasser zum Wachstum, Jesus benötigt in Maria die Gnade Gottes, vermittelt über den Heiligen Geist, um heranwachsen und sich entwickeln zu können. Obwohl faktisch einiges unstimmig ist, kann die komplexe Sprachbildlichkeit dekodiert und mit Sinn aufgeladen werden. Das Beispiel zeigt, dass die Netzwerkstruktur komplexer Metaphern über verschiedene analytische Zugriffe entschlüsselt und das Funktionieren sichtbar gemacht werden kann. Metaphern wollen erklären und verklaren⁹ – dies greift nur dann, wenn der Rezipient über ausreichend Wissen verfügt, um die einzelnen Elemente auf den größeren konzeptuellen Zusammenhang hin einzuordnen. Referiert eine Metapher auf den Bereich Landbau oder Heilkunde und spezifiziert z. B. den Aspekt der Aussaat oder Wundbehandlung, ist hier entsprechendes Wissen auf die Domäne bezogen erforderlich. Um eine Metapher zu dekodieren, muss zumindest der Quellbereich verstanden werden (optimal ist das Verständnis beider Bereiche, vgl. Lakoff & Johnson 1980: 117). Neben der kulturellen ist auch die situative Verankerung entscheidend (Lakoff & Johnson 1980: 87). Insbesondere hier zeigt sich eine Besonderheit im Umgang mit historischen Texten: Sie entstammen zwar demselben Kulturraum und zeigen bestimmte Kontinuitäten, aber auch sehr deutliche Abweichungen – mit

9 „We do not establish mental spaces, connections between them, and blended spaces for no reason. We do this because it gives us global insight, human-scale understanding, and new meaning. It makes us both efficient and creative“ (Fauconnier & Turner 2003: 63).

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der zeitlichen Differenz geht auch eine partielle kulturelle Differenz einher (zum Phänomen der kulturellen Kohärenz vgl. Lakoff & Johnson 1980: 22–24). In dieser Hinsicht stellt die Analyse historischer Metaphern eine besondere Herausforderung dar, denn es sind nicht unsere gegenwärtigen metaphors we live by, sie sind nicht für heutige Rezipienten gemacht und daher auch nicht allgemeinverständlich (Lakoff & Johnson 1980: 89). Davon ausgehend, dass Metaphern das Denken und Handeln im Alltag strukturieren und Metaphernstrukturen mit kulturellen Strukturen korrelieren (Lakoff & Johnson 1980: 55), offenbart die gezielte Analyse von historischen Metaphern in genau definierbaren Kontexten Teile der historischen Alltagswelt. Die folgende Analyse geht davon aus, dass sprachliche Umsetzung, metaphorisches Konzept und kognitive Grundstruktur gleichermaßen systematisch sind und sich dementsprechend über die Analyse der sprachlichen (und inhaltlichen) Struktur von komplexer Sprachbildlichkeit Aussagen über das zugrunde liegende kulturelle Konzept machen lassen. Schließlich kann bei umfassender Erschließung der Metapher ihre mögliche didaktische Funktion und Relevanz herausgearbeitet werden. Dies ist bei den hier zugrunde liegenden Metaphern in religiösem Kontext insofern aufschlussreich, da diese in der Briefkommunikation situiert sind. Da sich komplexe Metaphern aus mehreren Inputbereichen speisen und auf spezifische Wissensrahmen referieren, verfolgen wir das Ziel, alle Elemente zu ermitteln und die Netzwerkstrukturen aufzuschlüsseln. Der Weg führt hier von der konkreten schriftsprachlichen Realisation auf das metaphorische Konzept zu.¹⁰ Der Vorstellung von einer Strukturierung von Metaphern in Netzwerken liegt die Annahme zugrunde, das einzelne Elemente wiederum auf unterschiedliche Inputbereiche zurückgreifen (input spaces in der Blending-Theorie von Fauconnier & Turner, s. o.). In der systematischen Metaphernanalyse sollen zunächst die einzelnen Elemente herausgefiltert, die dahinter liegenden Inputbereiche genauer benannt und der überordnende generic frame formuliert werden. Zentral stellt sich die Frage nach der Art und Weise der Kombination von Elementen aus unterschiedlichen Inputbereichen im Integrationsbereich (blended space), die dazu führt, dass wir überhaupt von einer Metapher sprechen (können). Wir setzen folgende Arbeitsschritte für die Analyse der Sprachbildlichkeit in den Grußformeln an: – Definition der Inputbereiche, Erfassung relevanter Lexeme; – Formulieren eines übergreifenden thematischen Rahmens bzw. generic frames;

10 Vgl. hierzu die grundlegende Frage: „How do we go from the linguistic units to the conceptual elements or from the conceptual elements to the linguistic units?” (Fauconnier & Turner 2002: 356).

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– – – –

Bildung thematischer Cluster, die wiederum unterordnende Bereiche definieren (metaphorische Clusterbildung); Integrationsbereich: Mapping der Elemente aus dem Inputbereich; Formulieren faktischer Wissensrahmen, deren Verständnis Voraussetzung für das Verstehen der komplexen Sprachbildlichkeit ist; Erfassen von Explikationen innerhalb des Integrationsbereichs.

Eine solch detaillierte Erfassung ermöglicht eine differenzierte Binnenklassifizierung von Metaphern, die auch Abstufungen und Grade von Metaphorisierung erfassen soll. Inwiefern damit auch die Grundlage für die Vergleichbarkeit von Metaphern und Metaphernbereichen geschaffen wird, bleibt zu prüfen.

4 Die Lüner Briefbücher und die Grußformeln als Briefkomponente Gegenstand der folgenden Analyse sind sprachbildlich komplexe salutationes ausgewählter mittelniederdeutscher Briefe, die Teil des im Kloster Lüne erhaltenen Konvoluts aus ca. 1.800 Abschriften von sowohl eingehenden als auch ausgehenden Briefen und Briefentwürfen sind. Die Briefe lassen sich in die Zeit zwischen ca. 1460–1555 datieren und sind in insgesamt drei umfangreichen Briefbüchern (KlA Lüne, Hs 15, Hs 30, Hs 31) überliefert.¹¹ Der Wert dieser Briefbücher kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, da sie die vielschichtigen Netzwerke offenlegen, in die die Sanktimonialen der Lüneburger Frauenklöster am Übergang vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit eingebunden waren und in denen sie aktiv partizipierten. Die erhaltenen Briefe belegen, dass in den Frauenklöstern die klassischen artes dictaminis „nicht nur bekannt waren, sondern bis zu einem bestimmten Ni-

11 Die Briefbücher des Klosters Lüne sind aktuell Gegenstand des Projektes „Netzwerke der Nonnen. Edition und Erschließung der Briefsammlung aus Kloster Lüne (ca. 1460–1555)“ unter der Leitung von Prof. Dr. Henrike Lähnemann (Oxford) und Prof. Dr. Eva Schlotheuber (Düsseldorf). Ziel des Projektes sind eine digitale Edition und Print-Edition der überlieferten Briefbücher. Das erste Briefbuch (Hs 15) ist bereits online zugänglich, eine ausführliche Einleitung bietet eine kulturhistorische sowie sprachhistorische Kontextualisierung (http://diglib.hab.de/edoc/ed000248/start.htm; letzter Zugriff: 07.03.2023). Die Print-Edition befindet sich im Druck und soll 2023 erscheinen (vgl. Schlotheuber & Lähnemann 2023 [im Druck]). Zu den Briefbüchern und der Briefkultur in den norddeutschen Frauenklöstern auch Vosding 2015, 2022a, 2022b.

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veau auch beherrscht und […] befolgt wurden“ (Vosding 2022a).¹² So orientierten sich die Sanktimonialen beim Briefschreiben etwa am Dispositionsschema der mittelalterlichen ars dictaminis, das insgesamt fünf partes epistolae vorsieht: salutatio (Gruß), captatio benevolentiae (Einstimmung auf den Gegenstand), narratio (Mitteilung), petitio (Bitte), conclusio (Zusammenfassung und guter Wunsch; vgl. dazu auch Wand-Wittkowski 2000: 32).¹³ Die salutatio bzw. Grußformel ist „seit jeher der wichtigste und am häufigsten theoretisierte Teil eines Brieftextes“ (Vosding 2022a): In der salutatio wird vielfach ein Gruß oder ein Freundschaftsangebot formuliert, dabei können die Namen des Absenders/der Absenderin und des Adressaten/der Adressatin genannt werden. Daneben wird in der salutatio i. d. R. die „soziale Stellung der Briefpartner und das Verhältnis von Absender und Empfänger zueinander zum Ausdruck“ (WandWittkowski 2000: 33) gebracht. Die salutationes in den Lüner Briefen zeigen ganz unterschiedliche Ausprägung und reichen von einem kurzen Gruß (z. B. in administrativen Schreiben) bis hin zu solchen umfangreichen salutationes, die mehrere Zeilen umfassen und sich nicht selten durch eine äußerst komplexe Sprachbildlichkeit auszeichnen. Insgesamt entspricht das „Bild- und Figurenmaterial, aus dem hier geschöpft wird, […] dem spirituellen und liturgischen Referenzrahmen der norddeutschen Frauenklöster“ (Vosding 2022a). Die sprachbildlich virtuos gestalteten salutationes unterstreichen einerseits das hohe Bildungsniveau und die kreative sowie rhetorische Briefkunst der Schreiberinnen, andererseits betonen sie die hohe sprachliche Kunstfertigkeit der Sanktimonialen.

5 Die Bildbereiche in den salutationes der Lüner Briefe In den Grußformeln wird dem Menschen seine Rolle innerhalb der christlichen Glaubenswelt und sein Bezug zu den christlichen Entitäten verdeutlicht. Die Aussage der einleitenden Zeilen bleibt allgemein und ist auf alle Gläubigen ausgerich-

12 Im benachbarten Kloster Wienhausen haben sich mehrere Handschriften (KlA Wienhausen Hs 4, Hs 7, Hs 14, Hs 15 und Hs 121) erhalten, die belegen, dass die Zisterzienserinnen des Klosters „sich theoretisch und praktisch die Regeln der Kunst des Briefschreibens nach verschiedenen artes dictandi aneigneten“ (Schlotheuber 2022). 13 Diese partes epistolae sind dabei kein starres Gebilde, sondern sie sollen „nach Absicht der Ars dictaminis variabel gehandhabt werden: Teile können umgestellt werden oder entfallen“ (Wand-Wittkowski 2000: 32). Bei aller briefrhetorischer Regelhaftigkeit ist also eine flexible Ausgestaltung möglich.

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tet, erst im Verlauf des Briefes konkretisiert sich das Geschriebene auf die Adressatin/den Adressaten hin. Oft deutet sich schon mit dem Thema bzw. der Perspektivierung innerhalb eines Themenbereichs der Grußformel an, worauf der gesamte Brief abzielt. Es sind immer Jesus Christus, Maria oder (seltener) Gott, mit denen die Grußformel eröffnet wird und die, häufig auch in ihrem Zusammenspiel und mit dem Heiligen Geist, in ihrem Handeln und Wirken perspektiviert werden. Die Konstruktionen der göttlichen Entitäten sind dabei unangefochten und ideal (Gott ist Schöpfer, Jesus ist Erlöser, Maria ist Immer-Jungfrau usw.), dem gegenüber steht immer die defizitäre Ich-Konstruktion des Menschen (Erbsünde). Es gibt also ein festes Personal, ein festes Repertoire an Glaubenssätzen und Aspekten, die wiederkehrend thematisiert werden, wie z. B. Opferungswille, ewiges Leben, Keuschheit. Im Bildbereich entsprechen diese Aspekte bestimmten Figurationen, konkreten Dingen oder Lebewesen und werden über bekannte, weltliche Phänomene erfahrbar gemacht. Die Grußformeln greifen auf die folgenden Bildbereiche zurück: – Acker-, Wein- und Gartenbau: Formung der Natur und Kultivierung von Pflanzen (z. B. Wein-, Rosen- oder Kräutergarten), vielfach zur Herstellung von Nahrungsmitteln (z. B. Weizen, Wein); – Flora: Schönheit bestimmter Pflanzen (z. B. rote/goldene/wohlriechende Rose, (schnee-)weiße Lilie, blühender Olivenzweig); – Fauna: Verhalten wildlebender, domestizierter oder phantastischer Tiere (z. B. Löwe, (Oster‑)Lamm, Taube; Einhorn); – Naturgewalten, Naturphänomene und Kosmos: Wahrnehmung von Gestirnen, Wetter, Flüssen und Quellen u. a. m., Schönheit bestimmter Naturphänomene (z. B. Morgenröte) bzw. anderen Kostbarkeiten der Natur (z. B. Perlen, Edelsteine, Kristalle); – Gefäße/Räume: Gefäße/Räume zur Aufbewahrung von wertvollen Gegenständen (z. B. Schrein, Kristallfass; Schatzkammer); – Bodenschätze, Kunstgegenstände und Kostbarkeiten: Formung von Gegenständen zum alltäglichen Nutzen (z. B. Fass, Spiegel) oder mit symbolischem Wert (z. B. Krone); – Heilkunde und Heilung: Wiederherstellung des Gesundheitszustandes, Maßnahmen zur Linderung und Heilung von Erkrankungen; – Nahrung und Lebensmittel: Wohlgeschmack bestimmter Lebensmittel (z. B. Honig) und den Organismus stärkende Kraft von Speisen; – Musik: Wohlklang von Musik (z. B. Orgelspiel); – (himmlisches) Paradies: Betonung der Wonne, Freude und Fröhlichkeit des (himmlischen) Paradieses.

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Gegenüber den Bereichen, die natürliche Elemente oder den Umgang mit der Natur zum Ausgangspunkt haben, stellt der Bereich der Heilkunde und des Heilens eine Besonderheit dar und wird im Folgenden auch ausführlicher behandelt. Ein zweiter analytischer Ansatz befasst sich mit den Grußformeln, die den Weinbau thematisieren.

6 Metaphern/Komplexe Sprachbilder mit heilkundlicher Grundlage: Jesus als medicus, medicamentum und apothecarius 6.1 Jesus als medicus und medicamentum Schon in frühchristlicher Zeit werden die Heilkunde und die Tätigkeiten eines Arztes trotz ihrer heidnischen Wurzeln zu einer positiven Vergleichsfolie herangezogen und im christlichen Kontext frequent metaphorisch funktionalisiert (vgl. Schulze 2005: 156). Bereits in den Apostelakten des 2. Jahrhunderts sowie im Alten und Neuen Testament begegnet Jesus immer wieder als Arzt, der jedoch weniger prognostizierend oder diagnostizierend als vielmehr therapierend tätig ist (vgl. von Bendemann 2014: 282): Jesus heilt etwa einen Aussätzigen durch Handauflegen (Lk 5,12f.), einen Taubstummen, indem er seine Finger in die Ohren legt und die Zunge des Taubstummen mit seinem Speichel benetzt (Mk 7,31–37). Ein Blinder wird durch Benetzung der Augen mit Jesu Speichel und durch Handauflegen geheilt (Mk 8,22–25); das Austreiben von Geistern gelingt wiederum durch Besprechung und Handauflegen (Lk 13,11–13). Bei all diesen Behandlungen agiert Jesus nicht wie ein gewöhnlicher Arzt, der sich hippokratischer Heilmethoden bedient. Vielmehr tritt er als „ein charismatischer Heiler und Wundertäter [auf], den man in die Tradition der magischen Volksmedizin“ (Schulze 2005: 158) einordnen kann. Jesus ist dabei uneigennützig karitativ tätig, d. h. er verlangt für seine heilenden Tätigkeiten keinen Lohn, und er allein vermag es, die „Schranke des individuellen Lebensendes in Ausnahmefällen zu transzendieren“ (von Bendemann 2014: 288). Es sind vor allem die Kirchenväter, die das Bild von Jesus als Arzt festigen. Das Motiv des Christus medicus und die darin manifeste Verbindung von (körperlicher) Heilung und (seelischem) Heil wird insgesamt zum „häufigsten und wichtigsten Christustitel in patristischer Zeit“ (Schulze 2005: 159; vgl. dazu ausführlich Gollwitzer-Voll 2007). Während sich ein gewöhnlicher Arzt primär um die körperliche Heilung bemüht, konzentrieren die Kirchenväter sich auf das heilende Wir-

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ken Jesu die seelische Gesundheit bzw. das Seelenheil betreffend: Jesu Wirken umfasst zwar den Menschen als Ganzes, er heilt als Körperarzt also auch konkret körperliche Krankheiten und Wunden, aber zuvorderst besteht das „soteriologische Handeln Christi [...] in der Heilung der Seele und in ihrer Hinführung zur wahren Bestimmung, zur Vollkommenheit“ (Knote 2015: 85). Jesus ist somit primär seelenärztlicher Erlöser, der den sündigen Menschen von seinen seelischen Krankheiten, den Sünden, befreit (Schulze 2005: 159): „Die Starken bedürfen keines Arztes, sondern die Kranken. Ich bin gekommen, die Sünder zu rufen und nicht die Gerechten“ (Mk, 2,17). Jesus selbst ist es, der hier sein Wirken unter den Sündern mit dem Wirken eines Arztes unter den Kranken vergleicht (vgl. von Bendemann 2010a, 2010b). Kirchenväter wie z. B. Clemens von Alexandria, Origenes, Eusebius von Cäsarea und Basilius der Große sehen in Jesus denjenigen Seelenarzt, der es vermag, die größte Krankheit des Menschen „die Unwissenheit der menschlichen Seele nach dem Sündenfall“ (Knote 2015: 86) zu heilen. Augustinus entwirft sogar eine „regelrechte theologia medicinalis“ (Schulze 2005: 160): Laut Augustinus ist die Hilfe des göttlichen Seelenarztes Jesus für den Menschen unverzichtbar, weil er „elend und verzweifelt, krank, sei und vor dem gänzlichen Zusammenbruch stehe“ (Schulze 2005: 160). Sowohl in der Bibel als auch in den patristischen Schriften wird immer dann auf das Motiv des Christus medicus zurückgegriffen, wenn das Erlösungsgeschehen bildlich ausgedrückt werden soll. Die Metapher des ärztlich agierenden Jesus steht symbolisch für das Heilswirken (vgl. Knote 2015: 84). Diese auf frühchristliche und biblische Quellen zurückgehende Metaphorik bleibt bis ins Mittelalter bestehen, verflacht jedoch sukzessive und verändert sich in der Volksfrömmigkeit zu Jesus als Seelenfreund und Herzenströster (Schulze 2005: 161), während v. a. im 17. Jahrhundert vorrangig das Bild von Jesus als Apotheker (Christus apothecarius) weite Verbreitung findet (vgl. Krafft 1999, Gollwitzer-Voll 2007: 221–244). Neben der ärztlich-heilenden Tätigkeit des Christus medicus wird bereits in frühchristlicher Zeit auch den Kreuzeswunden Jesu bzw. insbesondere dem daraus fließenden Blut eine im metaphorischen Sinn heilende (= erlösende) Wirkung zugesprochen: „[...] durch seine Wunden sind wir geheilt“ (Jes 53,5). Jesus kann somit, so formuliert es auch Augustinus, zugleich medicus und medicamentum sein. Die „Medizin ist somit keine vom Arzt zu lösende, selbstwirkende Heilkraft, sondern im Medikament kommt der Arzt selber zum Vorschein“ (vgl. GollwitzerVoll 2007: 33). Jesu Kreuzeswunden gelten als „höchste Arznei zur Heilung der Sündenwunden des Menschen“ (Lentes 2014: 43). Eine Zentralstellung nimmt dabei die Seitenwunde Jesu ein, aus der sich mit dem Blut der Erlösung „die Fülle der Heilsgaben (der Heilige Geist, die Kirche, die Sakramente) ergoß mit dem Ziel der eschatolog[ischen] Heimholung der gefallenen Welt in den Bereich der

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göttl[ichen] Liebe“ (Scheffczyk 1996: 53). Die Seitenwunde wird gleichsam als eine Tür zum Heil für die (sündigen) Menschen metaphorisiert: Zunächst werde Christi Herz durch den Lanzenstich perforiert, damit aus ihm das Blut der Erlösung ausfließen kann. Christi Herz wie sein gesamter Körper gelten dabei als Thesaurus, der mit den Schlüsseln der Instrumente der Passion – Kreuz, Nägel oder Lanze – aufgeschlossen wird. Als Medium des Heils ist die Seite schließlich Ostium sacramentorum, Tür zum Heil. […] Aufgrund der Seitenwunde können die Menschen in Christi Herz eintreten und so das wahre Leben (Vera vita) erlangen. (Lentes 2014: 51–52)

Seitenwunde, verwundetes Herz und Jesu Blut bilden im soteriologischen Sinn eine feste Einheit: Die Seitenwunde ermöglicht den Zugang zum verwundeten Herzen, in dessen Blut gleichsam diejenigen Heilsgaben inhärent sind, die für den sündigen Menschen bzw. die sündige Menschheit Erlösung und Heil bedeuten. Die Vorstellung von der Heilkraft der Kreuzeswunden und insbesondere der Seitenwunde bleibt bis ins Mittelalter erhalten und erreicht in der mittelalterlichen Passionsfrömmigkeit, die auf den konsequenten Einbezug des religiösen Subjekts in das Passionsgeschehen beruht (vgl. Köpf 1993: 41), seinen Höhepunkt. Die Wunden Christi werden innerhalb der mittelalterlichen memoria passionis zentralgestellt und in Text und Bild vielfältig ausgestaltet: Sie werden „[w]eit über den biblischen Text hinaus […] vermehrt, ausgeschmückt und in brutalstmöglicher Form geschildert, [...] gezählt, ihre Anzahl berechnet und ihre Größe vermessen“, um so das „Passionsgeschehen möglichst lebendig vor den Augen des Herzens in der Imagination des Betrachters erscheinen zu lassen“ (Lentes 2014: 49). Die Zentralstellung der Seitenwunde bzw. der damit verbundene Zugang zum verwundeten Herzen Jesu zeigt sich v. a. in der Herz-Jesu-Verehrung ab dem 15. Jahrhundert.

6.2 Jesus zwischen medicus, apothecarius und medicamentum in ausgewählten Grußformeln Lüner Briefe Im Folgenden sollen zwei Grußformeln auf ihren metaphorischen Gehalt hin befragt werden. In einer ersten salutatio (1) wird neben dem medicus- auch das medicamentum-Motiv aufgenommen. Die zweite salutatio (2) bedient sich zusätzlich zum medicus- und medicamentum-Motiv auch des apothecarius-Motivs. Die erste sprachbildlich komplexe salutatio entstammt dem Brief einer unbekannten Lüner Nonne, die sich voller Sorge an ihren schwerkranken Bruder richtet. In der Grußformel heißt es:

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(1) Jesum Christum, den oversten arsten, de us so leff heft ghehat, dat he us allen ghewascken heft in synem egene duren blode van unsen sunden unde heft us so geloset van der crancheit des ewigen dodes, den scrive ik dy! (KlA Lüne, Hs 15, Brief 195) Jesus Christus, den höchsten/mächtigsten Arzt, der uns so liebgehabt hat, dass er uns alle in seinem eigenen kostbaren Blut von unseren Sünden [rein] gewaschen und uns somit von der Krankheit des ewigen Todes erlöst hat, den schreibe ich dir! Die salutatio greift auf Elemente aus insgesamt zwei Inputbereichen zurück: Der erste Inputbereich hebt ausgewählte Informationen aus der Domäne der Heilkunde bzw. spezifischer aus dem Bereich der Therapie und Heilung von Krankheiten hervor. Der zweite Inputbereich umfasst Aspekte aus der Domäne der christlichen Soteriologie, d. h. der Lehre von der Erlösung der Sünden. Für das genannte Beispiel kann das Konzept BEHANDELN & HEILEN als eine Art überordnender generic frame angesetzt werden: Auf der einen Seite wird ein Mensch durch die Behandlung eines Arztes von einer Krankheit geheilt, d. h. es wird heilkundliches Wissen zu Krankheitstherapie und Heilung vorausgesetzt (input space I). Auf der anderen Seite werden Sünden behandelt bzw. im metaphorischen Sinn geheilt, d. h. es wird Wissen zur christlichen Soteriologie impliziert (input space II; vgl. Tab. 3). Tab. 3: Generischer Bereich des Konzepts BEHANDELN & HEILEN: Inputbereiche und Einzelelemente. generischer Bereich/generic frame = BEHANDELN & HEILEN Inputbereich/input space I Heilkunde > Therapie und Heilung von Krankheiten

Inputbereich/input space II christl. Soteriologie > Erlösung von Sünden

selective projection/Einzelelemente (oversten) arsten Jesus Christum [ärztl. Behandlungsgebot] so leff heft ghehat [Applikation eines Heilmittels] ghewascken (in […] blode) [Heilmittel] synem egene duren blode [Krankheitssymptom] sunden [erkrankte Menschen] us (= Sünder) [heilen] geloset crancheit ewigen dodes

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Im Integrationsbereich werden die folgenden einzelnen Elemente beider Inputbereiche überblendet (vgl. Tab. 4). Tab. 4: Generischer Bereich des Konzepts BEHANDELN & HEILEN: Integrationsbereich. Integrationsbereich/blended space höchster/mächtigster Arzt HEILKUNDIGER

Jesus Christus ERLÖSER

ärztl. Behandlungsgebot MOTIVATION FÜR THERAPIE

Jesu Liebe MOTIVATION FÜR ERLÖSUNG

Applikation eines Heilmittels METHODE DER THERAPIE/HEILUNG

Waschung in Jesu kostbarem Blut METHODE DER ERLÖSUNG

Heilmittel MITTEL DER THERAPIE

Jesu kostbares Blut MITTEL DER ERLÖSUNG

erkrankte Menschen OBJEKT DER THERAPIE

=

Sünder OBJEKT DER ERLÖSUNG

Krankheitssymptom ANSATZPUNKT DER THERAPIE

Sünde ANSATZPUNKT DER ERLÖSUNG

Krankheit ANSATZPUNKT DER THERAPIE

Ewiger Tod ANSATZPUNKT DER ERLÖSUNG

Heilung (des Menschen) ZIEL DER THERAPIE

Erlösung (des Menschen) ZIEL DES ERLÖSER- UND HEILSWIRKENS

Die ungewöhnlichen Analogien im Integrationsbereich werden auf der syntaktischen Ebene durch relativische Satzverbindungen ausgedrückt, daneben erzeugen Attribuierungen (eigenes, kostbares Blut) und Genitivkonstruktionen (Krankheit des ewigen Todes) direkte Zuschreibungen, die Wahl der Verben erzeugt eine spezifische Aktivität (hier z. B. waschen): Analogien – Jesus = höchster/mächtigster Arzt – Liebe Jesu = ärztl. Behandlungsgebot – Waschung in Jesu kostbarem Blut = Applikation eines Heilmittels (Therapie) – Jesu kostbares Blut = Heilmittel – Sünder = erkrankte Menschen – Sünde = Krankheitssymptom – ewiger Tod = Krankheit – Erlösung (von Sünden) = Heilung (von einer Krankheit)

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Aktivitäten – Jesus wäscht mit seinem kostbaren Blut – Jesus erlöst von der Krankheit des ewigen Todes

Die beiden Inputbereiche greifen jeweils auf Frames mit genuin eigenen Organisationsstrukturen zurück und referieren dabei auf unterschiedliche faktische Wissensrahmen. Der erste Wissensrahmen setzt im Bereich des HandwerklichKonkreten (ärztliches Handwerk) an, während der zweite im Bereich des Metaphysischen und Spirituellen (christliche Soteriologie) zu verorten ist: Faktischer Wissensrahmen 1: Ein Arzt behandelt gemäß des ärztlich-ethischen Behandlungsgebots die Symptome bestimmter Krankheiten eines erkrankten Menschen mithilfe eines spezifischen Heilmittels, das auf bestimmte Weise appliziert wird, um eine Erkrankung zu heilen. Faktischer Wissensrahmen 2: Jesus erlöst entsprechend des Gebots der Nächstenliebe die Sünder mithilfe einer Waschung in seinem eigenen kostbaren Blut von ihren Sünden, um sie so vor dem ewigen Tod zu bewahren (bzw. ihnen Seelenheil zu gewähren).

Im Integrationsbereich kommt es zu folgenden Überblendungen: In einer ersten Explikation werden Jesus die heilkundlichen Fähigkeiten des höchsten/mächtigsten Arztes (oversten arsten) zugeschrieben. Dieses heilkundliche Wirken wird implizit auf das erlösende und heilsbringende Wirken Jesu übertragen (Konzept JESUS ALS ERLÖSER), wodurch der Akt der Sündenerlösung als ärztlichheilkundliches Tun bzw. der Erlöser Jesus als Arzt elaboriert wird: Explikation 1: Ärztliches Tun als Akt der Sündenerlösung Jesus > höchster/mächtigster Arzt > Erlöser

In einer zweiten Explikation wird einerseits Wissen über die Liebe Jesu zu den Menschen (de us so leff heft), andererseits das Wissen über das ethische Behandlungsgebot eines Arztes vorausgesetzt. Die grenzenlose Liebe Jesu wird durch die Überblendung mit dem ärztlich-ethischen Behandlungsgebot, das erst die Motivation eines Arztes für die Behandlung eines erkrankten Menschen ist, metaphorisch als Motivation für die Sündenerlösung kodiert: Explikation 2: Liebe Jesu ist Motivation für Erlösung Jesu Liebe > ärztlich-ethisches Behandlungsgebot > Motivation für Erlösung

In einer dritten Explikation werden die Wirkkräfte eines heilkundlichen Therapeutikums auf Jesu Blut übertragen (synem egene duren blode; vgl. 1.Petr 1,19). Implizit wird dadurch Wissen über die Passion bzw. über das Vergießen von Christi Blut am Kreuz zur Erneuerung des Bundes mit Gott, zur Vergebung der Sünden und schließlich zur Rettung der Menschheit vorausgesetzt: Die „Vorstellung v[on]

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der Sühnekraft des Blutes in seiner Heilsbedeutung für die Menschen“ (Theobald 1994: 535) wird hier impliziert und mit der Wirkkraft eines heilkundlichen Therapeutikums gekoppelt. Dadurch werden Elemente kombiniert, die real i. d. R. nicht zusammenkommen: In der Heilkunde ist Blut i. d. R. kein Therapeutikum. Jesus wird somit nicht nur als medicus (s. Explikation 1), sondern durch sein am Kreuz vergossenes Blut auch als medicamentum elaboriert: Explikation 3: Jesu kostbares Blut ist Mittel zur Erlösung Jesu kostbares Blut > Heilmittel > Mittel zur Erlösung

Eng mit dem Wissen über das am Kreuz vergossene Blut verbunden ist eine vierte Explikation, in der die Applikationsfähigkeit und -weise eines heilkundlichen Therapeutikums auf Jesu Blut transferiert wird: Konkret wird eine Waschung (ghewascken) in Jesu kostbarem Blut als spezifische Applikationsweise formuliert. Im Integrationsbereich werden somit wiederum Elemente vermischt, die real i. d. R. nicht zusammenwirken: In der Heilkunde wird therapeutisch keine Waschung mit Blut angewendet. Die Waschung in Jesu erlösendem Blut ist dementsprechend die spezifische Methode der Sündenerlösung und Heilsbringung: Explikation 4: Waschung in Jesu Blut als Methode der Erlösung Waschung in Jesu Blut > heilkundliche Applikation > Methode der Erlösung

Eine weitere Explikation umfasst die Sündhaftigkeit des Menschen (us > unsen sunden) und impliziert zunächst das Wissen über den Sündenfall, d. h. den Verzehr der verbotenen Frucht des Baums der Erkenntnis durch Adam und Eva, sowie die damit verbundene Erbsünde; dann aber auch das Wissen über eigene Verfehlungen des Menschen, das in christlicher Hinsicht eigene defizitäre Sein sowie die Möglichkeit der Sühne. Die Sünden werden metaphorisch als Symptome der crancheit des ewigen dodes formuliert. D. h. Sünden lassen sich wie die spezifischen Symptome einer Krankheit behandeln, Sünden sind also heilbar. Gemäß christlicher Soteriologie wird also einerseits das Wissen über die Erbsünde bzw. die Sündhaftigkeit des Menschen, andererseits aber auch das Wissen über die Behandel- und Heilbarkeit (= Erlösbarkeit) der Sünden elaboriert. Die Sünde ist, vergleichbar mit dem Symptom einer Krankheit, Ansatzpunkt der Erlösung: Explikation 5: Erbsünde/Sündhaftigkeit des Menschen ist Ansatzpunkt der Erlösung Erbsünde/Sündhaftigkeit > (behandelbares) Krankheitssymptom > Ansatzpunkt der Erlösung

Die letzte Explikation referiert auf die Gnade Gottes, den christlich gläubigen Menschen durch die Erlösung ein ewiges Leben nach dem Tod zu gewähren. Der ewige Tod, d. h. die ewige Verdammnis, wird explizit als Krankheit (crancheit des ewigen

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dodes) verbalisiert, als deren Symptome die Sünden eingeordnet werden (s. Explikation 5). Da die Krankheitssymptome (= Sünden) behandelt werden können, ist auch die Krankheit des ewigen Todes selbst behandel- bzw. gemäß soteriologischer Vorstellung heilbar. Ebenso wie die Heilung Ziel einer heilkundlichen Therapie ist, ist das Heil des Menschen, d. h. seine Erlösung und sein ewiges Leben, Ziel des Erlöser- und Heilswirkens Jesu: Explikation 6: Heil ist Ziel der Erlösung Heil (Erlösung und ewiges Leben) > Heilung > Ziel des Erlöser- und Heilswirken

Mithilfe der komplexen Metaphorik in der salutatio gelingt es der Briefschreiberin, die metaphysisch-spirituell zu denkende Erlösung des Menschen bzw. das Erlöser- und Heilswirken Jesu mit der Heilung einer Erkrankung durch einen Arzt zu kombinieren und dadurch zu verklaren und greifbar zu machen: Ebenso wie ein Arzt eine Krankheit zu heilen vermag, erlöst Jesus Christus die Menschen von ihrer Sündhaftigkeit und gewährt ihnen so schließlich (Seelen-)Heil. In metaphorischer Hinsicht komplex ist auch die folgende salutatio, die sich ebenfalls des Christus medicus- und medicamentum-Motivs, gleichzeitig aber auch der apothecarius-Motivik bedient. Die salutatio entstammt dem Brief einer namentlich nicht bekannten Lüner Nonne an ihre erkrankte Mutter: (2) Jesum Christum, den hemelschen arsten, de uth der aptheken synes vaderken gotliken herten vormyddest der durbaren salven synes hilgen rosenvaren blodes sunt unde salich maken kan alle krancheit des lyves unde der sele, den scrive ik juw! (KlA Lüne, Hs 15, Brief 282) Jesus Christus, den himmlischen Arzt, der aus der Apotheke seines väterlichen göttlichen Herzens mithilfe der kostbaren Salbe seines heiligen rosenfarbenen Blutes jede Krankheit des Körpers und der Seele gesund und selig machen kann, den schreibe ich euch! In dieser salutatio wird auf Elemente aus insgesamt drei Inputbereichen zurückgegriffen: Der erste Inputbereich enthält erneut Aspekte aus der Domäne der Heilkunde bzw. spezifischer aus dem Bereich der Krankheitstherapie. Der dritte Inputbereich highlightet Informationen zum Apothekenwesen bzw. genauer zur Abgabe von Heilmitteln zur Krankheitsbehandlung. Der zweite Inputbereich beinhaltet Aspekte der christlichen Soteriologie. Erneut kann das Konzept BEHANDELN & HEILEN als generic frame angesetzt werden: Auf der einen Seite wird ein Mensch durch das Zusammenspiel der Fähigkeiten von Arzt (input space I) und Apotheke(r) (input space III) von einer Krankheit geheilt. Auf der anderen Seite wird ein

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sündiger Mensch gemäß christlicher Soteriologie (input space II) behandelt und schließlich von seinen Sünden befreit (vgl. Tab. 5). Tab. 5: Gen. Bereich des Konzepts BEHANDELN & HEILEN: Inputbereiche und Einzelelemente. generischer Bereich/generic frame = BEHANDELN & HEILEN Inputbereich/input space I Heilkunde > Therapie und Heilung von Krankheiten (hemelschen) arsten

Inputbereich/input space II christl. Soteriologie > Erlösung von Sünden

Inputbereich/input space II Apothekenwesen > Abgabe von Heilmitteln

selective projection/Einzelelemente Jesum Christum

eigener Blend

krancheit sunt lyves

vaderken, gotliken herten hilgen rosenvaren blodes [Sünde] salich sele

aptheken durbaren salven

Aus den drei verschiedenen Inputbereichen werden schließlich folgende einzelne Elemente im Integrationsbereich miteinander kombiniert (vgl. Tab. 6). Tab. 6: Generischer Bereich des Konzepts BEHANDELN & HEILEN: Integrationsbereich. Integrationsbereich/blended space Jesus Christus ERLÖSER

Arzt HEILKUNDIGER

väterliches, göttliches Herz Jesu ORT FÜR MITTEL DER ERLÖSUNG heiliges, rosenfarbenes Blut MITTEL DER ERLÖSUNG

Apotheke ORT FÜR MITTEL DER HEILUNG =

=

kostbare Salbe MITTEL DER THERAPIE

Sünde ANSATZPUNKT DER ERLÖSUNG

Krankheit ANSATZPUNKT DER THERAPIE

Seele ORT DER ERLÖSUNG

Körper ORT DER THERAPIE

(Seelen-)Heil ZIEL DER ERLÖSUNG

Gesundheit ZIEL DER THERAPIE

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Auch hier wird unter Rückgriff auf sprachliche Verfahrensweisen der bildliche Bereich aus den drei Inputbereichen konstruiert. Relativische Satzverbindung, Genitivkonstruktion, Attribuierung und Verbsemantik produzieren metaphernspezifische Analogien: Analogien/Zuschreibungen – Jesus = Arzt – väterliches, göttliches Herz Jesu = Apotheke – heiliges, rosenfarbenes Blut = kostbare Salbe – Sünde = Krankheit – Seele = Körper – (Seelen-)Heil = Gesundheit Aktivitäten – Jesus macht selig (Heil) und gesund (Heilung)

Auch in diesem Beispiel referieren alle drei Inputbereiche auf eigene Frames mit genuin eigenen Organisationsstrukturen, d. h. die Inputbereiche beziehen sich jeweils auf unterschiedliche faktische Wissensrahmen. Die beiden ersten Wissensrahmen sind im Bereich des Handwerklich-Konkreten zu verorten (Arzt- und Apothekerhandwerk). Der dritte Wissensrahmen setzt im Bereich des MetaphysischSpirituellen an, vorausgesetzt wird hier christlich-soteriologisches Wissen: Faktischer Wissensrahmen 1: Ein Arzt heilt mithilfe eines entsprechenden Heilmittels alle Krankheiten zur gänzlichen Wiederherstellung der körperlichen Gesundheit. Faktischer Wissensrahmen 2: Eine Apotheke hält diejenigen von einem Arzt empfohlenen Mittel bereit, die einem erkrankten Patienten zur Wiederherstellung seiner Gesundheit dienen sollen. Faktischer Wissensrahmen 3: Jesus erlöst mit dem heiligen, rosenfarbenen Blut seines väterlichen, göttlichen Herzens alle Sünden und gewährt so körperliches und seelisches Heil.

Im Integrationsbereich kommt es zu folgenden Überblendungen: Zunächst wird das Konzept des Herzens Jesu als dem Widerschein des väterlichen, göttlichen Herzens aufgenommen.¹⁴ Jesu Herz wird als vaderken gotliken herten verbalisiert, das all diejenigen Heilsgaben enthält, die die Erlösung der Mensch- bzw. Christenheit ermöglichen. Im blended space erfolgt die Überlagerung des Herzens Jesu mit einer Apotheke, die diejenigen Mittel enthält, die genutzt werden können,

14 „Er ist der Abglanz seiner Herrlichkeit und das Ebenbild seines Wesens und trägt alle Dinge mit seinem kräftigen Wort und hat vollbracht die Reinigung von den Sünden und hat sich gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe“ (Heb 1,3).

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um Krankheiten zu therapieren. D. h. ebenso wie eine Apotheke therapeutisch zu nutzende Mittel bereithält, enthält das Herz Jesu die Mittel der Erlösung und des Heils. Das heilige rosenfarbene (Herz-)Blut Jesu, das in der Passion zur Vergebung der Sünden und zur Erlösung der Menschen vergossen wurde, wird mit dem Aspekt einer kostbaren, heilkundlichen Salbe überlagert: Ähnlich wie eine zur medikamentösen Therapie genutzte Salbe lässt sich das Blut Jesu als eine Art salbenartiges Therapeutikum zur Sündenerlösung nutzen, d. h. Jesu (Herz-)Blut ist das Mittel der Erlösung. Jesus wird in dieser salutatio also einerseits durch sein (Herz-)Blut als medicamentum verbalisiert. Markant ist jedoch andererseits, dass es gleichzeitig auch zu einer Überblendung der Fähigkeiten eines Arztes und den Mitteln einer Apotheke (bzw. eines Apothekers auf Jesus) kommt: Jesus ist nicht nur medicamentum (Jesu Blut = Salbe), sondern zugleich auch medicus (Jesus = Arzt) und apothecarius (Jesu Herz = Apotheke). Auffällig ist, dass Jesus in seiner Rolle als Arzt nicht mehr zugeschrieben wird, der höchste/mächtigste (oversten) Arzt zu sein. Vielmehr wird er explizit als himmlischer (hemelschen) Arzt elaboriert und somit der Sphäre des Weltlichen enthoben: Jesus ist kein gewöhnlich-weltlicher, sondern eben ein göttlicher Arzt. Durch die Kombination des Adjektivattributs hemelschen mit dem Substantiv arsten wird ein weiterer kognitiver Blendingprozess ausgelöst, da es in dieser Konstruktion aus Adjektivattribut und Substantiv zu einer Überblendung von input space I und input space II kommt: Ein Arzt ist nicht himmlisch. Daneben wird auch in dieser salutatio Wissen über den Sündenfall und das sündhafte Sein des Menschen vorausgesetzt: Die Sünden werden als behandelbare Krankheiten (alle krancheit) elaboriert, dadurch wird impliziert, dass die Sündhaftigkeit des Menschen wie eine Krankheit therapiert und bestenfalls geheilt werden kann. Jesus ist dabei derjenige Arzt, der allein diese Sündhaftigkeit zu heilen und den Menschen von seiner Sündhaftigkeit zu erlösen vermag. In diesem Zusammenhang wird zudem Wissen über das holistische Konzept der Einheit von Körper und Seele bzw. das Wissen über die enge Verzahnung von seelischem Heil und körperlicher Heilung impliziert: Jesus erscheint hier als Körper- und Seelenarzt, der sowohl den Körper heilen als auch die Seele erlösen kann. Im Sinn der Heilkunde ist das Ziel die Wiederherstellung der körperlichen Gesundheit, im Sinn der Soteriologie ist das Ziel die Erlösung der Sünden ((Seelen-)Heil): Jesus kann sunt unde salich maken […] alle krancheit des lyves unde der sele. Im Fokus dieser salutatio steht ebenfalls das Ereignis der Erlösung Christi bzw. das Erlöser- und Heilswirken Jesu, dem hier gleich drei Rollen zugeschrieben werden: Jesus ist nicht nur medicus und medicamentum, sondern gleichzeitig auch apothecarius. Diese Motivik wird in der salutatio aufgenommen, um die

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metaphysisch-spirituell gedachte Erlösung des Menschen durch Jesus Christus zu verklaren und greifbar zu machen. Insgesamt handelt es sich um zwei in metaphorischer Hinsicht äußerst komplexe salutationes, die auf Inputbereiche der Heilkunde und des Apothekenwesens, das Konzept BEHANDELN & HEILEN sowie auf die bereits in der Patristik wurzelnde Christus medicus-, medicamentum- und apothecarius-Motivik zurückgreifen, um das auf einer metaphysisch-spirituellen Ebene ansetzende Erlöserund Heilswirken Jesu konkret-anschaulich greifbar werden zu lassen. Markant ist, dass diese salutationes solchen Briefen vorangestellt sind, in denen sich Lüner Nonnen tröstend und sorgend an erkrankte Familienmitglieder richten, die außerhalb der Klostermauern leben. Adressiert werden somit Personen, die nicht in das religiöse Klosterleben und die Liturgie eingebunden sind. Einerseits ist also die metaphorisch verarbeitete Christus medicus‑, medicamentumund apothecarius-Motivik eng mit den spezifischen Briefinhalten verzahnt. Andererseits scheint das spezifische Bild- und Figurenmaterial, auf das hier in der komplexen Sprachbildlichkeit der salutationes zurückgegriffen wird, auch außerhalb des tiefreligiösen Klosterlebens verstanden worden zu sein. Mithilfe der komplexen Metaphorik drücken die Briefschreiberinnen schon zu Beginn ihres Briefes entsprechend des betrübenden Anlasses (Krankheit eines Familienmitgliedes) Trost aus: Das gelingt ihnen, indem sie metaphorisch einmal auf den handwerklich-konkreten Bereich der Heilkunde zurückgreifen und diesen mit dem metaphysisch-spirituellen Bereich der Sündenerlösung überblenden, um so das Erlöser- und Heilswirken Jesu zu veranschaulichen. Diese gezielte Überblendung schafft insofern Trost, da den erkrankten Verwandten vor Augen geführt wird, dass sie während ihrer Krankheit auf Jesus Christus vertrauen und hoffen sollen, der mit seinem am Kreuz vergossenen Blut die Sünden der Menschen hinweggenommen hat, um die Menschen zu erlösen und ihnen das ewige Leben bzw. (Seelen-)Heil zu gewähren. Das Vertrauen auf Christus medicus wird mit dem Glauben an Christus salvator kombiniert, wodurch das Erlöserwirken von Christus salvator mit dem Wirken des Christus medicus verklart wird.

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7 Metaphern/Komplexe Sprachbilder mit weinbaulicher Grundlage: Jesus als Weinstock, Weintraube und in der mystischen Kelter Der Weinbau hat in Palästina eine lange Tradition – die ältesten Kelteranlagen stammen aus der zweiten Hälfte des 4. Jahrtausends v. Chr.¹⁵ – und dementsprechend ist der Weinstock die am häufigsten erwähnte Pflanze in der Bibel. Zahlreiche Aspekte aus dem Weinbau werden verarbeitet, wie z. B. der Weinberg, der Weinstock, die Weinreben, der Winzer, die Traube und schließlich auch der Wein. Im Alten Testament finden sich zahlreiche Sachinformationen, wie z. B. die Anlage eines Weinbergs mit Kelter (Jes 5,1–7), Noah wird als erster Winzer inszeniert, der einen Weinberg anlegt (Gen 9,20), markant bildlich ist das Tragen einer Riesenrebe durch zwei Männer (Num 13,23). Das Gleichnis, in dem das Volk Israel als Weinberg des Herrn bezeichnet wird (Jes 5,7), wird zum Ausgangspunkt einer ausgedehnten Bildlichkeit, die im Neuen Testament eine Zuspitzung auf Jesus erfährt. Jesus ist zunächst im Weinberg des Herrn (= Reich Gottes) tätig (Mt 20,1–16 und 21,28–32), in seiner Bildrede im Johannesevangelium, die die sieben Ich-binWorte Jesu enthält,¹⁶ bezeichnet Jesus sich selbst als Weinstock: Ich bin der wahre Weinstock und mein Vater der Weingärtner. Eine jede Rebe an mir, die keine Frucht bringt, wird er wegnehmen; und eine jede, die Frucht bringt, wird er reinigen, dass sie mehr Frucht bringe. Ihr seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe. Bleibt in mir und ich in euch. Wie die Rebe keine Frucht bringen kann aus sich selbst, wenn sie nicht am Weinstock bleibt, so auch ihr nicht, wenn ihr nicht in mir bleibt. Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt viel Frucht; denn ohne mich könnt ihr nichts tun. Wer nicht in mir bleibt, der wird weggeworfen wie eine Rebe und verdorrt, und man sammelt sie und wirft sie ins Feuer und sie müssen brennen (Joh 15,1–6).

15 Wein gehörte bei den Israeliten zu jeder Mahlzeit und zu jeder Feier dazu, auch Frauen durften Wein trinken (anders als in der griechisch-römischen Welt) und Kinder daran teilhaben, vgl. Wöhrle 2008. 16 Diese Selbstaussagen Jesu offenbaren sein messianisches Selbstbewusstsein: Ich bin das Brot des Lebens (Joh 6,35), Ich bin das Licht der Welt (Joh 8,12), Ich bin die Tür (Joh 10,9), Ich bin der gute Hirt (Joh 10,11), Ich bin die Auferstehung und das Leben (Joh 11,25-26), Ich bin der Weg und die Wahrheit und das Leben (Joh 14,6) – am Ende dieser Reihe steht das achte Bildwort: Ich bin der Weinstock (Joh 15,5), bei dem Jesus passiv ist, aktiv ist Gott als Weingärtner.

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Jesus markiert sich damit als von Gott auserwählt¹⁷, der wiederum als (oberster) Weingärtner inszeniert wird. Die Menschen (als Reben) werden in Gläubige (= gute Reben) und Sünder (= schlechte Reben) unterteilt, letztere müssen – im Bild der Reben – entfernt und verbrannt werden. Als Weinstock ist Jesus vergleichsweise passiv, denn Gott ist der aktive Weingärtner, er ist aber das Verbindungsstück zwischen Gott und den Menschen, die als Reben an Jesus, dem Weinstock, hängen. In dieser Abhängigkeit wird den Menschen nur über Jesus Christus die von Gott offenbarte und mitgeteilte Heilsfülle zugänglich. Es etabliert sich das Motiv von der Kreuzigung Jesu am Weinstock.¹⁸ Hier greift die Nähe von Blut und Wein, die Jesus beim Abendmahl stiftet: Das am Kreuz vergossene Blut ist der Wein, den die Gläubigen zum Gedenken an Jesu Opfer trinken. Da der Weinstock Zeichen des Lebens ist, erwächst aus dem Kreuz Jesu als rankender Wein neue Hoffnung und Erlösung für die Menschen. In der Engführung von Jesu Blut und rotem Wein¹⁹ wird das Kreuz zu einem Instrument, das Jesus das Blut resp. den Wein aus dem Körper presst, er wird sogar mit der ausgepressten Traube identifiziert (Nitz 1996: 1392, Thomas 1970: 498).²⁰ Während Jesus zunächst passiv ist und ausgepresst wird, verselbständigt sich das Bild dahingehend, dass Jesus zum Keltertreter wird. Da alle Kirchenväter und mittelalterlichen Theologen diese Vorstellungen teilten, verbreiteten sich beide Annahmen – Jesus als Kelterer und als gekelterte Traube – auf allen medialen Wegen und sind sowohl ikonographisch als auch textuell präsent (Predigten, Gebete, Hymnen, u. a. m., vgl. Thomas 1970: 498). Der aus dem gekelterten Christus herauswachsende Rebstock versinnbildlicht schließlich die aus dem Opfertod erwachsende Hoffnung und Erlösung (Thomas 1970: 500). Die zunehmende Anwesenheit Marias unterstreicht ihren Anteil am Erlösungsopfer (compassio; Nitz 1996: 1392). In der Ikonographie zeigt sich die Weiterentwicklung zu einem aktiven Jesus besonders deutlich z. B. im Motiv Christus in der Kelter bzw. Christus der Keltertreter, aber auch als Winzer z. B. bei der Weinlese. Zunehmend werden einzelne Versatzstücke frei kombiniert und damit eigene Bildkreationen geschaffen, wie das eingeklebte Bild mit Jesus als Kind mit einem Rückenkorb in der Bebilderung

17 In der Prophetie wird mit dem Weinstock der von Gott Erwählte gekennzeichnet: Jes 5,1–2; Jer 2,21; Ez 15,1–8, 17,5–, 19,10–14; Hos 10,1; Ps 80,9–12; vgl. Haag 2001: 1028. 18 Nicht nur das Kreuz als Baum des Lebens, sondern auch der Baum der Erkenntnis im Paradies sollen Weinstöcke gewesen sein, dargestellt wird auch die Wurzel Jesse als Weinstock, Maria als Weinrebe, der Schmerzensmann mit aus den Wunden wachsenden Reben und Ähren, vgl. Stork 2001: 1029–1030 zur Ikonographie. 19 In biblischer Zeit wurde in Israel ausschließlich Rotwein angebaut, sodass allein über die Farbe Blut und Wein beieinanderstehen (vgl. Wöhrle 2008: 6). 20 Zum Bezug von Traube und Opfer Christi (vgl. Nitz 1996: 1392).

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zu Stephan Fridolins Der geistliche Mai in einer Handschrift aus dem Münchener Pütrich-Regelhaus zeigt (Stephan Fridolin, Der geistliche Mai, BSB München, cgm 4437).²¹ Der Text unmittelbar über dem Bild betont, dass Jesus den Menschen vil gutter Iar bringe, in dem Korb ist eine Pflanze mit roten Blüten (Rose?) zu sehen, auf die Jesus zeigt. Ein unmittelbarer Zusammenhang zu den Reben, die ihn umgeben, besteht nicht, indem diese etwa geerntet werden und sich in dem Korb befänden. Dennoch wird über die entsprechenden Attribute auf die schwere Arbeit im Weinberg referiert und die Rolle Jesu als Heilsbringer. Die Abbildung als Jesuskind passt zwar zum Bildprogramm in der Handschrift²² und entspricht der spätmittelalterlichen Ikonographie (vgl. Thomas 1972: 494) in diesem Kontext passt sie nicht zu dem unmittelbar vorausgehenden Text in der Handschrift. Demgegenüber ist im Text der Handschrift von Jesus als der oberest weinschancker die Rede, der mit dem suesen wein die Welt labt vnd regirt (cgm 4473, fol. 261r). Text und Bild passen genau genommen nicht zusammen, gehören aber zu einem Komplex, der offensichtlich als zusammengehörend empfunden wird. Markant ist in allen Beispielen, dass sich die Rolle Jesu vom passiven Weinstock zu einer aktiven Figur wandelt, die im weiteren Kontext von Weinbau und Wein konkrete Aktivitäten ausübt, wie z. B. Weinbauer, Kelterer, Weinschenk.

7.1 Jesus zwischen Weinstock, Weintraube und Ausschank/Schankwirt süßen Weins in den salutationes der Lüner Briefe Anders als bei der Arzt-Apotheker-Motivik, bei der Jesus als Arzt inszeniert wird und damit die Äquivalente aus beiden Inputbereichen agierende Personen sind, gestalten sich Grußformeln, die die Weinbaumotivik enthalten: Jesus wird als (auch passiver) Weinstock und als passive Weintraube inszeniert, daneben aber auch aktiv als jemand, der Wein eingießt bzw. ausschenkt. Während das Analyseschema bei den Arzt-Jesus-Metaphern vergleichsweise leicht anwendbar ist, da es sich um agierende Personen handelt, stellen diejenigen komplexen Sprachbilder, bei denen zusätzlich Personifikation stattfindet (Jesus als Weinstock, Jesus als Traube), eine Herausforderung dar. Im Folgenden wird an drei Grußformeln

21 Die Handschrift wurde wohl von Eufrosina Gartnerin zum Eigengebrauch geschrieben (Besitzeintrag auf fol. 339v), ein weiterer Eintrag von Eufrosinas Schwester Susanna im Rückendeckel bezeugt diese im Pütrich-Regelhaus, in dem sich auch die Handschrift befand; vgl. Schneider 1996: 130–131. Ob es dort zur Ausstattung mit den eingeklebten Zeichnungen kam, ist unklar. 22 Die anderen Abbildungen zeigen ebenfalls das Jesuskind und wie hier für ein Kind ungewöhnliche Aktivitäten ausführend, es gehört aber wohl zum Darstellungskonzept der Bildreihe.

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exemplarisch das Analyseschema erprobt: Die erste salutatio (3) enthält Jesus als Weinstock und Wein ausschenkend, die zweite (4) inszeniert Jesus als reife Traube, die am Kreuz ausgepresst wird (Motiv der mystischen Kelter im engeren Passionskontext). Eine dritte (5) salutatio, die die Motive Jesus als Traube und Kreuz als Weinstock kombiniert, wird abschließend hinzugezogen. In allen Fällen wird Jesus zwar zuletzt aktiv und schenkt den aus ihm selbst gewonnen Wein den Gläubigen aus, um diese zu erlösen (soteriologischer Ansatz), es bedarf jedoch mit Gott als oberstem Winzer einer Figur, die sämtliche Aktivität erst ermöglicht (s. salutationes (3) und (5)). Markant ist zudem, dass mit jeweils anderer Schwerpunktsetzung die Bildlichkeit produziert wird. In einem undatierten Brief einer Nonne an eine weltliche Person berichtet die Absenderin über ihre kommende Einkleidung, nach der sie sich so sehr sehnt. Es handelt sich also um eine erfreuliche Nachricht, die mit dem Empfänger/der Empfängerin geteilt werden soll; diese beginnt mit folgender Grußformel: (3) Jesum Christum, den vruchtbarighen gronen wynraven aller wollusticheyt, den de overste wyngardener, de hemmelsche vader, heft gheplantet in dem wunnighen liliengarden des junchurowelken lichammes Marien, up dat he us allen schenken mochte den soten wyn synes gotliken trostes, vor enen fruntliken grot tovoren! (KlA Lüne, Hs 15, Brief 274) Jesus Christus, den fruchtbaren grünen Weinstock aller Wollust, den der höchste Weingärtner, der himmlische Vater, gepflanzt hat im freudvollen Liliengarten des jungfräulichen Leibes Marias, damit er uns allen den süßen Wein seines göttlichen Trostes schenken möge, als einen freundlichen Gruß zuvor! Zurückgegriffen wird auf Elemente aus drei Inputbereichen: Der erste Inputbereich umfasst den Weinbau mit den Aspekten Anbau der Reben und Veredeln der Frucht zu Wein, der zweite umfasst den Gartenbau (Zierpflanze) und der dritte den Bereich der Soteriologie mit dem Schwerpunkt Trost und Erlösung für die Gläubigen. Der überordnende generic frame bewegt sich im konzeptuellen Bereich von GEDEIHEN & ERFREUEN: Im Bereich des Weinbaus verheißt der gedeihende Rebstock eine Ernte, in deren Folge es zur Veredelung zu Wein kommt, der sich durch Süße auszeichnet – hier ist das Wissen um Anbau, Pflege, Ernte, Keltern und die Fassreife vorausgesetzt, denn sonst kann kein süßer Wein produziert werden. Im Bereich der christlichen Soteriologie sorgt Jesus Christus für Freude und göttlichen Trost, den die Gläubigen zu sich nehmen wie süßen Wein. Wie der Winzer im Bereich des Weinbaus agiert, so agiert Gott, der mit dem Anpflanzen bzw. Einpflanzen des Rebstocks resp. Jesu Wachstum und alles daraus Folgende erst er-

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möglicht. Maria erscheint hier notwendigerweise als weitere (passive) Person, in die als Liliengarten der Weinstock Jesus gepflanzt wird, sodass mit dem Gartenbau ein dritter Inputbereich fassbar wird (vgl. Tab. 7). Tab. 7: Gen. Bereich des Konzepts GEDEIHEN & ERFREUEN: Inputbereiche und Einzelelemente. generischer Bereich/generic frame = GEDEIHEN & ERFREUEN Inputbereich/input space I Weinbau > Anpflanzen, Veredeln der Frucht zu Wein

vruchtbaringhe grone wynraven wyngardener plantet soter wyn soter wyn schenken

Inputbereich/input space II Gartenbau > Ziergarten

Inputbereich/input space III christl. Soteriologie > Trost und Erlösung

selective projection/Einzelelemente Jesus Christus > wollusticheit liliengarden hemmelsche(r) vader junchurowelker licham Marien us allen gotliker trost

Im Integrationsbereich werden die Einzelelemente kombiniert, sodass Zuweisungen entstehen, die zwei Komponenten über ihre Wirkweise miteinander koppeln – die Leserichtung erfolgt von den metaphysischen Elementen aus (vgl. Tab. 8). Tab. 8: Generischer Bereich des Konzepts GEDEIHEN & ERFREUEN: Integrationsbereich. Integrationsbereich/blended space Jesus Christus ERFREUT JMDN. (passiv)

Weinstock ERFREUT JMDN. (passiv)

Himmlischer Vater/Gott SCHÖPFER

Winzer REBERZIEHER

Jesus Christus ERLÖSER (aktiv)

=

Süßer Wein ZIEL/ZWECK DES ANBAUS

Gläubige

[–]

Göttlicher Trost ZWECK DER ERLÖSUNG

Süßer Wein ZIEL/ZWECK DES ANBAUS

Jungfräulicher Körper Marias IMMER-JUNGFRAU

=

Liliengarten GESCHÜTZTER, GEPFLEGTER RAUM

Metaphern aus Nonnenhand |

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Als sprachliche Verfahren werden auch hier relativische Satzverbindungen, Genitivkonstruktionen und Verben mit einer spezifischen Semantik angewandt, um im Integrationsbereich die Metapher zu konstruieren: Analogien/Zuschreibungen – Jesus ist ein Weinstock (passiv) – Gott ist ein Winzer (aktiv) – Jungfräulicher Körper Marias ist ein Liliengarten – Göttlicher Trost ist süßer Wein Aktivität – Gott pflanzt einen Weinstock – Jesus Christus schenkt göttlichen Trost (= süßen Wein) aus Passivität – In den jungfräulichen Körper Marias wird ein Weinstock gepflanzt

Bei den faktischen Wissensrahmen setzt der erste ebenfalls im Bereich des Handwerklich-Konkreten an (Weinbau/Kultivierung von Pflanzen), der zweite im Bereich des Metaphysischen und Spirituellen (Wissen über die christliche Soteriologie): Faktischer Wissensrahmen 1: Der Winzer muss die Rebstöcke in seinem Weinberg anbauen und so pflegen, dass sie entsprechend wenige Früchte tragen; er muss Kenntnis über die Reife und den passenden Zeitpunkt für die Lese haben, um süßen Wein herzustellen. Faktischer Wissensrahmen 2: Gott lässt Maria seinen Sohn gebären und Mensch werden, damit dieser den Gläubigen göttlichen Trost spenden kann (implizit: Erlösungswissen).

Im Integrationsbereich kommt es zu folgenden Übertragungen: Das Wissen des Winzers vom Anlegen des Weinbergs wird mit dem Akt der Empfängnis Marias gleichgesetzt, das Wissen um die Herstellung süßen Weins korreliert mit der Wandlung von Jesu Blut, das dieser am Kreuz vergießt um die Menschheit zu erlösen, zum Wein des Trostes und der Erlösung. Explikation 1: Jesus ist Freudenbringer Jesus > fruchtbarer Weinstock > Freude Explikation 2: Marias passive Empfängnis ist wie das Pflanzen eines Weinstocks Empfängnis > Pflanzen des Weinstocks > Kultivieren einer Pflanze Explikation 3: Jesu bereitwilliges Opfer ist Voraussetzung für Erlösung Kreuzestod und Opfer Jesu > Ausschenken süßen Weins > Erlösung

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Explikation 4: Jesu Blut trinken ist göttlicher Trost Jesus schenkt Wein aus > Gläubige trinken Wein > Aufnahme göttlichen Trostes/Erlösung

So, wie Wachstum für Freude sorgt und der Wein für gelöste Stimmung, sind auch Jesu Lebensstationen von der Empfängnis bis hin zu seinem Opfertod begleitet von Freude und Trost. Im süßen Wein treffen sich allerdings die Gegensätze: Er ist einerseits Abbild höchster Kunst des Weinbaus, andererseits ist die Wandlung von Jesu Blut zu Wein mit seinem Opfertod gleichzusetzen. Insgesamt perspektiviert die Bildlichkeit der Grußformel Wachstum, Freude und Zuversicht und passt daher zum Inhalt des Briefes, in dem die Nonne ihre Freude über die bevorstehende Profess äußert. Anders ist dies in dem Trostbrief einer Nonne an ihre Mutter, der den Dank der Absenderin dafür enthält, dass die Mutter den kranken Vater pflegt, der bereits im Sterben liegt. Die Grußformel referiert auf Jesus, der sich am Kreuz geopfert hat und dessen Blut als Wein betrübten Menschen Hoffnung bringen soll: (4) Jesum Christum, den vorwundeden, blodighen, ghecrusgheden salichmaker der werlde, de de ghelikenet wart enem brunen wyndrafelen an der tyd syner bitteren martere, do de eddele clare wyn synes hilgen, durbaren blodes wart gheperset uth alle synen ledmaten, an der wynpersen des werden hilgen cruces, allen bedroveden herten to ener lavinghe unde verqwickinghe; den sende ik juk vor enen trostliken grod tovoren! (KlA Lüne, Hs 15, Brief 165) Jesus Christus, den verwundeten, blutigen, gekreuzigten Erlöser der Welt, der zur Zeit seiner furchtbaren Marter einer braunen Weintraube glich, als der edle klare Wein seines heiligen, kostbaren Blutes aus allen seinen Gliedmaßen an der Weinpresse des würdigen heiligen Kreuzes ausgepresst wurde allen betrübten Herzen als eine Speisung und Erquickung, den sende ich Euch als einen tröstlichen Gruß zuvor! Mit der Zuspitzung auf das Passionsgeschehen engt sich in dieser Grußformel der Fokus auf den Kreuzestod und die Erlösungstat ein. Zurückgegriffen wird auf die oben bereits angesetzten Inputbereiche Weinbau und christliche Soteriologie, im Schwerpunkt geht es um das Keltern (Auspressen) der Trauben und das Veredeln zu Wein einerseits und Marter, Opfertod und Erlösung andererseits. Als generic frame kann das Konzept ERNTEN & VEREDELN angesetzt werden: Im Bereich des Weinbaus ermöglicht erst die Zerstörung der Frucht eine Weiterverarbeitung und damit Veredelung bzw. Herstellung eines Nahrungsmittels. Äquivalent dazu sind Marter und Tod Jesu die Voraussetzung für die Erlösung der Menschen (vgl. Tab. 9).

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Tab. 9: Generischer Bereich des Konzepts ERNTEN & VEREDELN: Inputbereiche und Einzelelemente. generischer Bereich/generic frame = ERNTEN & VEREDELN Inputbereich/input space I Weinbau > Keltern, Veredeln der Frucht zu Wein

Inputbereich/input space II christl. Soteriologie > Passion und Erlösung

selective projection/Einzelelemente Jesus Christus > salichmaker der werlde brune wyndrafele werdes, hilges cruce wynperse ledmaten | vorwundet, blodigh, uth persen ghecrusgehd | bittere martere eddeler clarer wyn hilges, durbares blod lavinghe unde verqwickunge bedroveden herten

Im blended space werden wiederum die einzelnen Elemente gekoppelt, sodass sich eindeutige Zuweisungen ergeben (vgl. Tab. 10). Tab. 10: Generischer Bereich des Konzepts ERNTEN & VEREDELN: Integrationsbereich. Integrationsbereich/blended space Jesus Christus GEMARTERT (passiv) kostbares, heiliges Kreuz MITTEL DER ZERSTÖRUNG

braune Weintraube AUSGEPRESST =

Weinpresse/Kelter MITTEL DER ZERSTÖRUNG

bittere Marter METHODE DES ZERSTÖRENS

Keltern METHODE DES ZERSTÖRENS

heiliges, kostbares Blut ZWECK DER MARTER

edler, klarer Wein ZWECK DES KELTERNS

Jesus Christus ERLÖSER

[–]

Gläubige (= betrübte Herzen) ZU ERLÖSENDE

benötigen

Nahrung und Belebung ZIEL DER WEINHERSTELLUNG

Neben relativischen Satzverbindungen als konstituierendes sprachliches Merkmal der salutationes, wird hier insbesondere auf Attribuierung in Kombination mit Genitivkonstruktionen zurückgegriffen, um im Integrationsbereich die ein-

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zelnen Elemente zu verbinden. Neben den deutlichen Analogien findet sich hier zudem ein Vergleich: Analogien – Jesus ist wie eine braune Weintraube (ghelikent wart) – das heilige Kreuz ist eine Weinpresse – Jesu Blut ist klarer Wein – die bittere Marter ist (wie) Keltern

Markant ist, dass Jesus hier durchgängig passiv erscheint. Auch die Labung der Gläubigen mit Jesu Blut erfolgt ohne Agens lediglich über die Gleichsetzung, dass das ausgepresste Blut resp. der klare Wein allen bedroveden herten to ener lavinghe unde verqwickinghe gereichen solle. In dieser Grußformel werden überwiegend Genitivkonstruktionen verwendet, um die Elemente aus den beiden Inputbereichen zueinander in Bezug zu setzen; die Gleichsetzung erfolgt hier nicht über Relativsätze, sondern über die Explikation der Ähnlichkeit: de ghelikenet wart enem brunen wyndrafelen. D. h. hier wird erwogen, dass Jesus keine Weintraube ist, sondern nur wie eine behandelt wird. Die faktischen Wissensrahmen sind wiederum im Bereich des HandwerklichKonkreten (Weinbau) und im Bereich des Metaphysischen und Spirituellen (Wissen über Passion Jesu und Erlösung) anzusetzen: Faktischer Wissensrahmen 1: Zur Herstellung edlen, hier wohl edelsüßen, klaren (Weiß-)Weins ist ein gewisses Maß an braunen Trauben, d. h. Trauben mit Edelfäule²³ erforderlich; der Winzer muss den Zeitpunkt für die Lese edelfauler brauner Trauben abpassen und Erfahrung im Fassausbau zu edelsüßem Wein haben. Faktischer Wissensrahmen 2: Das gesamte Passionsgeschehen mit Marter und Opfertod Jesu gilt als Erlösungstat für die Gläubigen.

Im Integrationsbereich kommt es zu folgenden Übertragungen: Die Zerstörung der Traube durch den Schimmelpilz kann mit der Marter Jesu, das Keltern wiederum mit dem Kreuzestod gleichgesetzt werden. Der ausgepresste Saft ist die Grundlage für den Wein, das vergossene Blut Jesu bildet die Grundlage für die Erlösung.

23 Die Grauschimmelfäule wird durch den Schimmelpilz Botrytis cinerea verursacht und sorgt dafür, dass die Haut der Traube durchlässig wird; bei frühem Befall der Traube, wenn diese noch unreif ist, können die Trauben nicht mehr weiterreifen, bei spätem Befall der reifen Traube verdunstet über die poröse Haut Wasser und der Zuckergehalt der Traube steigt, sodass nur diese zur Herstellung edelsüßer Weine verwendet werden.

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Explikation 1: Der Befall der reifen Traube mit Grauschimmelfäule ist Grundlage für edelsüßen Wein Braune Trauben > edler, klarer Wein > Laben und Erfreuen Explikation 2: Jesus ist Erlöser durch Marter und Tod Erlöser > bittere Marter > Auspressen der Gliedmaßen am Kreuz

Der Opfertod Jesu mündet erst dann in der Erlösung der Menschen, wenn diese das zu Wein gewordene Blut trinken: Explikation 3: Aufnahme des Blutes Jesu durch die Gläubigen führt zu Erlösung Heiliges, kostbares Blut > betrübte Herzen > Ernähren und Beleben

Auch in dieser Grußformel bestimmt das Gegensatzpaar von edelsüßem Wein als Ausweis des Könnens eines Winzers und Kellermeisters und Jesu Marter inkl. Kreuzestod das Bild. Der Leidensweg Jesu als Erlösungstat bedrückt die Gläubigen, das vergossene Blut als edelsüßer Wein vermag jedoch schließlich die bedroveden herten zu trösten und gewährleistet das Weiterbestehen der Menschheit. Analog hierzu soll die Adressatin des Briefes im bevorstehenden Tod und Verlust des Ehemannes auch das Hoffnungsvolle sehen. Während die erste Grußformel Jesus als fruchttragenden grünen Weinstock inszeniert, der in Maria gepflanzt wird und zunächst reine Freude hervorbringt, setzt die zweite Grußformel mit der Darstellung des Kreuzes als Kelter am Tiefpunkt des Lebensweges Jesu an, aus dem lediglich Jesu Blut zu edelsüßem Wein verwandelt herausführen kann. Dennoch ist an die Erlösungstat die Hoffnung für die Menschheit gekoppelt, wie eine weitere Grußformel zeigt, in der das Kreuz nicht als Kelter, sondern (wiederum) als grünender Weinstock verbildlicht wird. In einem undatierten Brief einer Nonne an ihre leibliche Schwester antwortet die Nonne auf die Nachricht, dass der gemeinsame Vater verstorben ist. Sie empfiehlt, dass beide nun Trost in Jesus Christus suchen, der sich opferte und der sich während seiner Marter ebenfalls verlassen gefühlt haben müsse. Der Brief eröffnet mit einer Grußformel, die sowohl das Erlösungsopfer als auch die Zuversicht beinhaltet, referiert wird nicht nur auf den Weinbau, sondern auch auf den Rechtsbereich: (5) Jesum Christum, mynen crusgheden brudegam, de dar is de eddele, schone, lustlike wyndrufele, de vor us ghehanget heft an dem gronen wynraven des werdighen hilgen cruces in der tyd syner bitteren martere, do he vor us armen creaturen vuldede unde betalde dem oversten wynghardener, synen hemmelschen vadere, de schult user ersten olderen myd dem soten wyne synes eddelen durbaren blodes, dat he umme user salicheyt unde leve willen so

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overvlodighen uthghud, dat darvan begoten unde bedouwet wart de lustighe, bloyghende wyngharde der ghansen menen hilgen cristenheyt, vor enen lefliken unde trostliken grod tovoren! (KlA Lüne, Hs 15, Brief 176) Jesus Christus, meinen gekreuzigten Bräutigam, der die edle, schöne und freudebringende Weintraube ist [und] der für uns in der Zeit seiner furchtbaren Marter an dem grünen Weinstock des würdigen heiligen Kreuzes gehangen hat, als er für uns arme Kreaturen übernahm und bei dem höchsten Weingärtner, seinem himmlischen Vater, bezahlte die Schuld unserer Stammeltern [Adam und Eva] mit dem süßen Wein seines edlen kostbaren Blutes, das er um unser Seelenheil und unsere Liebe willen so im Übermaß vergoss, dass davon der hübsche, blühende Weingarten der ganzen gemeinen heiligen Christenheit begossen und beträufelt wurde, als einen liebevollen und tröstlichen Gruß zuvor! Gleich an drei Stellen werden die Gläubigen einbezogen: Als arme Geschöpfe, für die sich Jesus geopfert hat, als Erbschuldtragende, die Jesus bei Gott ausgelöst hat, und als blühender Weingarten der gesamten Christenheit, der mit dem Wein begossen und beträufelt wird. Auf das Engste werden hier Passionsgeschehen und Heilsgeschichte mit der Situation der Gläubigen verwoben. Diese salutatio, die auf mehreren Ebenen eine äußerst kreative Kombination von spirituellen und faktischen Elementen zeigt, dokumentiert die schriftsprachliche Versiertheit der Lüner Briefschreiberin und steht hier am Ende eines Beitrags, markiert jedoch für die Beschäftigung mit der komplexen Sprachbildlichkeit weiblicher Religiosen in norddeutschen Frauenklöstern einen Anfang.

8 Fazit und Perspektive: Metaphern aus Nonnenhand als Akte religiöser Sinnstiftung Mit der salutatio als Brieferöffnung liegt eine direkte Kommunikationssituation zwischen der Absenderin und dem Empfänger/der Empfängerin eines Briefs vor, die häufig von einer entsprechenden Formel begleitet wird, die diesen Briefteil beschließt (den scrive ik dy, den sende ik juk). Die in der salutatio dargebotene Metapher leitet gewissermaßen als religiös aufgeladenes Konzentrat den Brief ein und steht zu dessen Inhalt in einem mehr oder weniger eindeutigem Zusammenhang. Aufgrund seiner Kompaktheit referiert das komplexe Sprachbild einerseits auf religiöse Sachverhalte und Glaubensinhalte, indem es sie anzitiert, andererseits schafft es entsprechend seiner Intention als Metapher neue Zusammenhän-

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ge. Dies ist in den niederdeutschen Briefabschriften des Briefbuchs weitaus häufiger und die sprachbildliche Ausgestaltung ist deutlich vielfältiger als die der lateinischen Briefe: Jesum, qui per assumptam humanitatem factus est caro et frater noster pro humili salutamine! (KlA Lüne, Hs 15, Brief 60) Jesus, der durch die angenommene Menschlichkeit unser Fleisch und Bruder wurde, als einen demütigen Gruß!

Während die lateinischen salutationes also zumeist auf einen einzigen Bildbereich referieren, kombinieren die niederdeutschen mehrere miteinander. Die Lüner Nonnen folgen in ihrer sprachlichen Kreativität einem bekannten Vorbild, denn „[d]as Reden von und über Gott ist in der biblischen Sprache durchgängig metaphorisch, wenn sie Gott und die menschliche Gottesbeziehung thematisiert“ (Grözinger 2017: 92). Auch haben bestimmte biblische Bücher eine extrem hohe Metapherndichte wie z. B. der Psalter (Grözinger 2017: 92). Die Metaphern zeichnen sich dadurch aus, dass sie „den unmittelbaren Zusammenhang von Verkündigung, Verehrung und Vergegenwärtigung“ (Grözinger 2017: 95) vor Augen führen. Die schriftsprachliche und poetische Versiertheit der Nonnen ist also auf eine Kenntnis der Bibel vorauszusetzen, die nicht nur auf die Rezeption zielt, sondern die Frauen auch zu einer sprachbildlichen Produktion befähigt, wie sie mit den komplexen Metaphern in den salutationes vorliegt. Dabei zeigen sich die Nonnen sowohl inhaltlich wie sprachlich versiert. Der vorliegende Beitrag hat ein Modell vorgelegt, um diese komplexe Sprachbildlichkeit in den Grußformeln der Briefkorrespondenz der Nonnen aus dem Kloster Lüne im Anschluss an die Metapherntheorie systematisch zu erfassen, aufzuschlüsseln und nicht zuletzt den Zusammenhang von Sprache und Religion mithilfe festgelegter Parameter zu analysieren (vgl. hierzu Gloning 2017: 46). Dass die einzelnen Analyseschritte auf unterschiedlichen sprachlichen und inhaltlichen Ebenen ansetzen, hat sich bei der systematischen Erfassung als zielführend erwiesen: – Ebene der Lexeme und Phrasen, – Ebene der Syntax, – Ebene der kognitiven Wissensrahmen, – Ebene des verarbeiteten, faktischen Wissens, – Ebene des religiösen Wissens/Grundannahmen/Glaubenssätze. Sprachlich wird für die Konstruktion der komplexen Bildlichkeit insbesondere auf relativische Satzverbindungen, Attribuierung mit mehreren Elementen und Genitivkonstruktionen zurückgegriffen, durchgängig ist zudem die Wahl von Ver-

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ben mit einer Semantik, die die Handlungsmacht der göttlichen Instanz in einem handwerklichen Bereich ausdrückt. Erst die gezielte Analyse des Zusammenspiels von Elementen aus mehreren Ebenen offenbart die Funktionsweise komplexer Sprachbilder. Als Grundlage hat sich das four-space-model mit dem generic space (bzw. generic frame), den Inputbereichen und dem Integrationsbereich als hilfreich erwiesen, weil hier konsequent die einzelnen sprachlichen Elemente aus dem Text extrahiert, zugeordnet und zueinander in Bezug gesetzt wurden. Die starke Zergliederung der Grußformeln ermöglicht eine detaillierte Analyse, die die sprachlichen Verfahrensweisen und die Wissensebenen für sich und in ihrem Zusammenwirken beschreiben und die Konstruktion der komplexen Sprachbildlichkeit zurückverfolgen lässt. Die Anwendung des Analysemodells auf die Grußformeln aus den Lüner Briefen mit der thematischen Ausrichtung auf Heilkunde und Weinbau zeigt, dass sich trotz konzeptueller Unterschiedlichkeit Merkmale herausarbeiten lassen, die im ersten Schritt Vergleiche ermöglichen und schließlich auch den Prozess der Metaphorisierung erhellen können. Diese Komplexität betonen auch Fauconnier & Turner: In crucial respects, the construction of meaning is like the evolution of species. It has coherent principles that operate all the time in an extremely rich mental and cultural world. Partial cross-space mappings, selective projection to the blend, development of emergent structure in the blend are the constitutive principles of conceptual integration. (Fauconnier & Turner 2003: 6)

Die extrem dichte Metaphorik der Grußformeln führt vor Augen, dass die Metapher „nicht nur sprachschöpferisch [ist], sie ist auch sinnschöpferisch, sie vermag es, nicht nur Wissen in Sprache neu fassen, sondern auch Wissen durch Sprache zu konstituieren“ (Grözinger 2017: 101). Die erklärt, dass im blending space Bilder und Handlungen entstehen, die zwar die grundlegenden religiösen Inhalte beinhalten, in ihrer Ausgestaltung jedoch neue Wege gehen (wie z. B. Jesus in der Kelter), sich zunehmend verselbständigen, eigene Sinnangebote machen²⁴ und bisweilen sogar ikonographische Traditionen begründen.

24 Grözinger resümiert im Anschluss an Ricoeur: „Metaphorische Rede konstituiert verschiedene Sinnzusammenhänge, so auch einen religiösen Sinnzusammenhang“ (Grözinger 2017: 101).

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Rüdiger Harnisch

Indizes zur Erschließung pejorativer Wortbildungsmuster im Schmähwortschatz des Reformationszeitalters 1 Grundlagen und Anliegen Lepp hatte 1908 ein Werk über Schlagwörter des Reformationszeitalters vorgelegt, in dem zum größten Teil Schmähbezeichnungen für konfessionelle Parteien, deren Vertreter und die Streitthemen unter ihnen behandelt werden. Er folgte dabei Aspekten einer lexikalisch-semantischen und pragmatischen Gruppierung und teilte den von ihm erfassten Spezialwortschatz etwa in sog. „Parteiwörter“ (Kap. II)¹ oder Wörter der „Spaltung“ (Kap. III) ein, klassifizierte ihn aber auch nach „Formgruppen“ aus Lexemen wie Prediger, Mörder oder nach Ableitungen wie solchen auf -ler oder -los (Kap. VI). Erschlossen hat er seine Untersuchung mit einem alphabetisch angelegten Register der von ihm behandelten Schlagwörter. Diese kommen nur ganz vereinzelt als Simplizia (eigentlich nur Og, Gog und Magog), sonst aber durchgehend als Ableitungen (Gog-it, Bauch-ling, Faul-in-er), Komposita (Brot-dieb, Maul-christ, wort-süss) oder als Mischformen von beiden (Solen-gläub-ler, Werk-heilig-keit, seel-mörd-er-isch) vor.² Lepps Arbeit ist nicht zuletzt durch die akribischen Quellennachweise und die kundige Darstellung der wort-, text- und diskursgeschichtlichen Zusammenhänge philologisch höchst anspruchsvoll und nach wie vor unübertroffen.³ Gepaart mit dieser philologischen Akribie ist seine profunde Kenntnis von den geschichtlichen Hintergründen in den Zeitaltern der Reformation und Konfessionalisierung sowie von den Konstellationen, in denen die Konfliktparteien und -persönlichkeiten zu- und mehr noch gegeneinander stehen. Was in Bezug auf den von ihm dargestellten Schmähwortschatz jedoch noch geleistet werden kann – und hier geleistet werden soll – , ist die Bereitstellung von

1 Hierfür kennt und verwendet er übrigens schon den Terminus Fahnenwort: „Ein Fahnenwort, das ihr Ideal ausdrückt, hält sie [die Parteien, R.H.] zusammen“ (Lepp 1908: 1). 2 Auf eine Stemmatisierung, die bei der abgestuften Zerlegung in unmittelbare Konstituenten Hierarchien sichtbar machen würde, kommt es hier nicht an, weshalb darauf verzichtet wurde. 3 Eine neuere Untersuchung über Eigen- und Fremdbezeichnungen der konfessionellen Parteien im 16. Jahrhundert, aber unter rein terminologischem Aspekt, hat Jörgensen (2014) vorgelegt. https://doi.org/10.1515/9783110604696-009

214 | Rüdiger Harnisch

Werkzeugen für eine weitergehende lexikologische und, darüber hinaus, morphologische Erschließung dieses Wortbestands und seiner Wortfamilienstrukturen, insbesondere um Folgeforschungen dazu zu erleichtern, wie dieser Schmähwortschatz in den diskursiven Dienst seiner Zeit gestellt wird.⁴ Damit soll ein Beitrag zur sprachwissenschaftlichen Erforschung von Schmähung und Pejorisierung und der ihr dienenden Wortbildungs- und Wort-Umbildungs-Mittel geleistet werden, wie sie in letzter Zeit von Dammel (2011), Dammel & Quindt (2016) und Harnisch (2018a) betrieben worden ist oder – bereits auf den sprachspielerisch erzeugten Schmähwortschatz des Reformationszeitalters bezogen – von Harnisch (demn.) vorgenommen wird.⁵ Der erste diesem Zweck dienende Index (s. u. 2.1.) ist im Wortbestand und in der initial-alphabetischen Anlage mit dem von Lepp (1908: 140–144) identisch und ermöglicht deshalb wie dieser zunächst das bequeme Nachschlagen einer holistischen lexikalischen Einheit.⁶ Anders als bei Lepp wird hier jedoch in Wortblöcke gruppiert. Damit wird ein wortbildungsmorphologischer und Wortfamilien sichtbar machender Zugang zu den verzeichneten Wörtern möglich, und es

4 Vgl. die diskurssemantisch angelegte historische „Wortverbund- und Wortfeldanalyse“ von Attig (2020) und die Untersuchung von „Diskurse[n] im Spiegel der Wortbildung“ von Ganslmayer & Müller (2020). 5 Vgl. Seifert (2018: 142–143) zum Schema rhetoricum der adnominatio (Paronomasie), deren Definition von Kaspar Goldtwurm 1545 er nach Knape & Thumm (2014: 25–26) wiedergibt: „EST cum uox repetitur non prorsus eadem, sed aliqua ex parte immutata (‚liegt vor, wenn ein Wort nicht in exakt derselben Form, sondern unter Abänderung eines Teils wiederholt wird‘).“ 6 Allein die beiden (ohnehin nicht im Verdacht des Schmähens stehenden) Verben reformieren und – als Übersetzungsäquivalent dazu – gebessern wurden in vorliegendem Beitrag weggelassen, so dass nur die nominalen Wortarten Adjektiv und Substantiv verzeichnet sind. Präsenspartizipien wie werkhassend, -meidend wurden als Adjektive behandelt, also aufgenommen. Von den Personennamen zeitgenössischer Akteure und den namenspielerischen Weiterbildungen dazu hat Lepp einige in sein Register aufgenommen: die um (Thomas von) Aquin, Dr. (Johannes) Eck, (Hieronymus) Emser, (Matthias) Flacius (Illyricus), Martin Luther und (Ulrich) Zwingli (siehe die Indizes in vorliegendem Beitrag). Andere, die Lepp zwar erwähnt, aber nicht in sein Register aufgenommen hat, seien wenigstens hier genannt: Aurifaber > Aurifabel, Hesshus > Hetzhund, (Petrus Lombardus) Magister de Alta Siena > Meister von hohen Sinnen, Melanchthon > Melkton, Spangenberg > Spandenlügenberg, Predigten von Wolf > Wolfsgeheul (nach Lepp 1908: 6). Zu Murner > Murnarr bemerkt Lepp (1908: 5): „Der ‚Murnarr‘ wird mit einem Katzenkopf abgebildet.“ Vgl. dazu Deutsches Wörterbuch (1885: VI, 2723): „Murner, m. name der katze und des katers, mit beziehung auf den murrenden ton dieser thiere […]. in der reformationszeit ward der name von Thomas Murner hiermit in zusammenhang gebracht, er selbst als schreiender und krallender Kater dargestellt und verspottet, sein name auch zu Murnar, Murrnarr umgedeutet und entstellt.“ Von den Spielen mit Ortsnamen hat Lepp ins Register schmalzkälberisch < schmalkaldisch („Schmalkaldischer Artikel“) aufgenommen, nicht aber Ausspürtzisch ‚ausspuckend‘ < Augsburgisch („Augsburgische Confession“).

Indizes zur Erschließung pejorativer Wortbildungsmuster | 215

können Reihen von Präfixbildungen, z. B. A-papist/-pist oder un-apostolisch/ -kirchlich, Halbpräfixbildungen, z. B. Ab-angelion/-angelist oder Erz-apostata/ -mameluk sowie – vor allem – Kompositions-Determinantia („Bestimmungswörter“), z. B. Seel-henker/-mord oder Wort-fälscher/-schleifer, und Ableitungsbasen, z. B. Luther-ei/-ist oder Päpst-ler/-ling auf einen Blick erfasst werden.⁷ Durch die rein initial-alphabetische Anordnung werden allerdings kompositionelle und suffixische Einheiten und Einheitengruppen am Ausgang komplexer Lexeme nicht sichtbar. Deshalb soll der initial-alphabetische Index hier um einen zweiten, final-alphabetischen ergänzt werden (s. u. 2.2.). Diese Ordnung der Schmäh- und Schimpfwörter nicht nur von ihrem Wortanfang, sondern auch von ihrem Wortende her soll es ermöglichen, auch alle ihnen gemeinsamen Letztglieder von Komposita (Determinata, „Grundwörter“), z. B. Bibel-/Götzen-/Brotfresser, und alle ihre Suffix(oid)muster, z. B. Solengläub-/Päpst-/Schriftfrev-ler, zu erfassen. Da die Wortartenzugehörigkeit im Deutschen zu einem großen Teil über spezifische Suffixe hergestellt wird, z. B. substantivische über -(l)er oder -ist und adjektivische über -ig oder -isch, wird der rückläufige Index in einen substantivischen (s. u. 2.2.1.) und einen adjektivischen (s. u. 2.2.2.) aufgeteilt. Da ferner das Determinatum im Deutschen Kopf der kompositionellen Struktur ist und sein Suffix die semantische Klasse wesentlich bestimmt, z. B. das Suffix -er die nomina agentis des Typs -fälsch-er, -schleif -er als Grundwörter von Komposita oder das Suffix -ei abwertende Abstrakta wie Pickard-ei oder Ketzer-ei, wird der rückläufige Index 2.2.1. zu den Substantiven nochmals unterteilt in einen von Personenbezeichnungen (s. u. 2.2.1.1.) und einen von Abstrakta (s. u. 2.2.1.2.). Neben der initialen und der finalen Wortbestandteilposition gibt es in polykomplexen Bildungen jedoch auch eine zentrale Position, die ebenfalls wortfamilienrelevant ist, an die man aber über die betreffenden ‚vor‘- und rückläufigen Indizes nicht herankommt.⁸ Zum Beispiel stehen zwar christlos/Christmord/… als Angehörige der Wortfamilie Christ im initial-alphabetischen und Halbchrist/Aberchrist/… im final-alphabetischen Index beieinander, doch gehört etwa auch Antichristie zur Wortfamilie, das weder im initial-, noch im final-alphabetischen Index bei den andern genannten Komposita steht. Demzufolge wird eine dritte Art von Zusammenstellung nötig, die sich am Wortfamilien-Konzept orientiert. Dabei genügt es, reihenbildende Kompositionsglieder, wie im obigen Beispiel Christ… und

7 Bei komplexen Suffixbildungen ist oft mit gleicher Berechtigung beides ansetzbar: Determinantium (seel-mörderisch) und Ableitungsbasis (Seelmörder-isch). 8 Zu einer Typologie der Zugänge zu Positionen von Segmenten im Wort siehe Harnisch (2018b: 168–171). Dort werden zentripetale (initial- oder final-alphabetische), zentrifokale und zentrifugale Anordnungsprinzipien unterschieden.

216 | Rüdiger Harnisch

…christ, nur einmal und als solche aufzuführen, da die Vertreter dieses Musters in den betreffenden andern Indizes aufgefunden werden können. Ein erstes solches Verzeichnis von Wortfamilien erfasst alle jeweiligen Mitglieder, die im Kern-Lexem nicht oder allenfalls durch regelmäßige Vokalwechsel (v. a. Um- und Ablaut) abgewandelt sind (s. u. 2.3.1.). Ein zweites solches Verzeichnis enthält Fälle, bei denen – meist wortspielerisch motiviert – größere Eingriffe in die Lautsubstanz erfolgt sind, die lautliche Ähnlichkeit aber – gerade wegen des Sprachspielerischen – noch gegeben ist. Auch diese Fälle sollen auf ihr jeweiliges basales Lexem bezogen werden, etwa Esauiter, Jesubitter und Sauiter auf das ihnen zugrunde liegende Jesuiter ‚Jesuit(en)‘ (s. u. 2.3.2.). Eine weitere Art lexematischer Beziehungen wäre Synonymie oder, abgeschwächt, partielle Referenzidentität. Diese will aber vorliegender Beitrag nicht aufzeigen, weil das Stoff für eine eigene und tiefergehende Untersuchung wäre. Nur ein paar Fälle einer Sonderform von Synonymie, der Übersetzung, seien – gleich hier – genannt: Tab. 1: Fälle von Übersetzung. fremdsprachliches Lexem

deutsche Übersetzung

asinus papa Schismaticus Secter Ubiquitist

Papstesel Zwiespälter, Kirchenspälter; Zertrenner Abgeschnitter Allenthalber

Was in vorliegendem Beitrag auf keinen Fall geleistet werden kann und soll, ist, „schwere Wörter“ (vgl. Henne 1982) aus diesem Lexembestand etymologisch und in ihrem theologischen oder religionsgeschichtlichen Kontext zu erklären, wie es etwa bei der Gruppe um adiaphor- (< griech. adiaphōr ‚gleichgültig, indifferent‘), bei Sopist (< lat. sopire ‚einschläfern‘) oder pickardisch (< begardisch ‚die Böhmischen Brüder betreffend‘) für nötig erachtet werden könnte. Solche Informationen wären über entsprechende fachterminologische, Fremd- oder etymologische Wörterbücher einzuholen oder natürlich auch über Lepp (1908) selbst zu eruieren.

Indizes zur Erschließung pejorativer Wortbildungsmuster | 217

2 Die Indizes 2.1 Initial-alphabetische Anordnung

Aberchrist

Apostatischer Aposteisler apostolisch Apostützler

Abgeschnitter

asinus papa

Abtrünner abtrünnig Abtrünniger abtrünnisch Abtrünnling

Asophist

Abangelion Abangelist

Bilderstürmer Bißschaf/BissBlippenplapper Blutsäufer

adiaphorisch Adiaphorist adiaphoristisch Affen Affenprediger Affenzahl Alfanzer Allenthalber Altarstürmer Altkirchischer Antichrist Antichristentum Antichristie Antichristlichkeit Apapist Apist

Böbstler Baal Bösgeistlicher Babilon babilonische Hure babylonische Höllischkeit

Brotdieb Brotfresser

Balaamsknecht

Buchgenos

Bauch, Diener des ~s Bauchchrist Bauchdiener Bauchdienst Bauchgott Bauchheiliger Bauchknecht Bauchlehre Bauchlehrer Bauchling Bauchpfaff Bauchprediger Bauchprophet Bauchsöldner Bäuchväter Bauchwerk

Busenväter Bussehasser Bussesmörder busslos beicht- und ~

beicht- und busslos Besserung

Apostasie Apostat Apostata apostatisch

Bibelfresser Bibelstörer

Cacogelist/Kakocainisch Choresel Christen christenlich christisch Christizerstörer Christkreuziger christlich christlos Christloser Christmord Christmörder Christolog Christologia

218 | Rüdiger Harnisch

Coccysmos Conciliabulum concordensis concordisch Concordist

Evangelium evangellos Evangelloser ewigelos ewighöllisch

geschriftlos Gesetzprediger Glaubensrühmer Gläubler

Fabelprediger Gleissner

Confessant Confessionist Confusionist

falschapostolisch Falschgläubler falsche Propheten

Gog und Magog Gogit

Coquist

Fastenfeind Fastenstürmer

Gottesmörder gottsschändig

Deformation Deformatist

Fauliner

Diener des Bauchs

Fegfeuerstürmer

Discordie

flaccisch

Götzendiener Götzenfresser Götzenknecht Götzenpfaff Götzenstürmer

eckisch

Fleischbösewicht Fleischbruder Fleischfresser Fleischpredicant Fleischprediger

eigenwillich Eigenwillion eigenwillos emserisch Endechrist Entenchrist

Freiheit Freisteller

Haeretiken Haeretist

Gaukelprediger

Heiligenfresser Heiligenmörder Heiligenschänder Heiligenschmäher heiliglos Heiligtumsesel heillos Heilloser

Geckist

Herrherrnrühmer

Geistheiliger geistlos Geistloser

Heuchelprediger

Geizigkeit

Höllischkeit Höllstürmer

Galiläer galiläisch

Epistelesel Gänseprediger Erzapostata Erzketzer Erzkirchendieb Erzmameluk Erzpharisäer Erzpickardt Erzseelenmörder

Halbchrist Halbgläubler Halbhösler

Hofchrist

Esauiter Euanhöllium Evangelirühmer Evangelist

Geldprediger Geldsorger

Hundsprediger

Indizes zur Erschließung pejorativer Wortbildungsmuster | 219

Interimist

Laffenprediger

Nachprediger

Jebusiter Jesubitter Jesuwider

Lärmprediger

Narrenprediger

lautherisch luderisch

neckisch

Ka(c)kangelion Kakogelist/CacoKäsjäger Kätzer katzwollisch Kelchdieb Kelcher Kelchtrinker Ketzer Ketzerei Ketzerprediger Kindsprediger Kirchendieb Kirchenschänder Kirchenschinder Kirchenspälter Kirchenstürmer kirchisch kirchlos Kirchloser Kirchtum

Neuchrist Lügende Lügendichter Lügenprediger Lügenschmied Lumpelprediger Lumpenprediger Lutheranen Lutheranus Lutheranismus Lutherei lütherisch lutherisch Lutherischer Lutherist Lutherprediger Lutertum Magog, Gog und ~ magogisch Magogit Mameluck Mameluckisch Marienfeind

Klosteresel Klosterfresser Klosterhengst

nimrodisch Og Ölgötz Palpist papa, asinus ~ Papenz papisch Papist Papisterei Papistigkeit papistisch Papstesel Papsteselchen Papstfeind Papstgötzen Papstheiliger Päpstler Päpstling Papstschänder Papststürmer Pauliner paulinisch

Martinianus martinisch Martinist

Petristuhlstürmer

Kreuzschänder Kreuzstürmer

Maulchrist Mauldiener Maulheilige

Pharisäer pharisäisch

Kuchenbub Kuchenknab

Messesel Messstürmer

Küchenprediger

Mönchesel

Pfründenfresser

Kötzer

philippisch Pickardei pickardisch

220 | Rüdiger Harnisch

Plattenträger

Sauiter

Seelwürger

Pomeranzenprediger

Schandprediger

Solengläubler

Prächtigkautzen Predigkautzen

Schismatiken Schismatiker

Somnist

Propheist Propheten, falsche ~ Prophetist

schmalzkälberisch

Recht, Göttliches ~ Reformation Reformatz Reformierung Rohrlehre Rohrpredig Rohrprediger

Schriftdieb Schriftfälscher Schriftfrevler Schriftlästerer schriftlos Schriftmörder Schriftschänder Schriftstöker Schriftstümmler Schriftverfälscher Schriftverkehrer

Sophist Sophista Sophisterei sophistisch Sopist spältig Stiftesel Stifträuber Suiter Summist

Romaner Romanier römanisch Romanischen Romanischt Romanist romanistisch Römer römisch, der ~e Türk Römischer Romista Römling Rottengeist Rottenprediger sächsisch Sacramentierer Sacramentschänder Sacramentschwärmer Sacramentsdieb Sacramentsräuber Sacramentsrotter Sacramentstürmer

Schwärmer Schwarmgeist Schwirmer

Tellerlecker Tempelknecht

Seckelsorger teuflisch Secter seelenlos Seelenlosigkeit Seelhenker seellos Seelmord Seelmorden Seelmörder Seelmörderei seelmörderisch seelmördisch Seelschleicher Seelschürger Seelstürmer Seeltyrann Seelverderber Seelverführer Seelverletzer Seelversorger

Theologant theologantisch Theologist Theologista Theologistria Theolüger Theosophist Thollog Thomist thomistisch Traumprediger Türk, Der römische ~ Ubiquist ubiquitetisch

Indizes zur Erschließung pejorativer Wortbildungsmuster | 221

werkmeidend Werkmörder Werkprediger Werkschänder Werkstürmer Werkteufel

unapostolisch unevangelisch ungeistlich unkirchisch Verlasser Vigilistürmer

Wortknabe Wortprediger Wortschleifer Wortschmücker Wortschwätzer Wortsdiener Wortsglaub Wortsknecht Wortskrämer Wortstürmen [das ~] wortsüss

Widerchrist widerkirchisch

Weinbischof Weinsäufer

Wiederersäufer

Weltprediger Werkchrist Werkfeind werkhassend Werkhasser werkheilig Werkheiliger Werkheiligkeit Werklehrer werklos Werkloser

Winkelmesser Winkelpfaff Winkelprediger Winkelpriester Winkelweiher

Zertrenner

wittenbergisch

Zwinglianismus zwinglisch Zwinglischer

Zuckerprediger Zwiespälter

Wortbube Wortchrist Wortfälscher Wortheiliger

2.2 Final-alphabetische Anordnung 2.2.1 Substantive 2.2.1.1. Personenbezeichnungen asinus papa Apostata Erzapostata Theologista Sophista Romista Kuchenknab Wortknab Kelchdieb Kirchendieb

Erzkirchendieb Sacramentsdieb Schriftdieb Brotdieb

Kuchenknabe Wortknabe Kuchenbube Wortbube

Kuchenbub Wortbub

babilonische Hure

Lügenschmied

Biss-/Bißschaf

Werkfeind Fastenfeind Marienfeind Papstfeind

Bauchpfaff Winkelpfaff Götzenpfaff

222 | Rüdiger Harnisch

Weinbischof Bauchling Römling Abtrünnling Päpstling Og ~ und Magog, Gog Gog und Magog Christolog Thollog Mameluck Erzmameluk Der römische Türk Baal Werkteufel Mönchesel Epistelesel Klosteresel Choresel Heiligtumsesel Messesel Stiftesel Papstesel

PL. Prächtigkautzen PL. Predigkautzen Seeltyrann Galiläer Pharisäer Erzpharisäer Allenthalber Seelverderber Sacramentsräuber Stifträuber Jesuwider Werkschänder Heiligenschänder Kirchenschänder Schriftschänder Sacramentschänder Papstschänder Kreuzschänder Kirchenschinder

SUBST. INF. Seelmorden

Werkmörder Seelmörder Erzseelenmörder Heiligenmörder Bussesmörder Gottesmörder Schriftmörder Christmörder

PL. Affen

Fleischbruder

Papsteselchen

Wortschleifer

[die] Romanisc(h)en PL. Schismatiken PL. Haeretiken [das] Wortstürmen PL. Lutheranen falsche Propheten PL. Christen PL. Papstgötzen

Weinsäufer Wiederersäufer Blutsäufer

Affenzahl

Käsjäger Plattenträger Geldprediger Schandprediger

Gänseprediger Nachprediger Fleischprediger Bauchprediger Werkprediger Fabelprediger Heuchelprediger Winkelprediger Gaukelprediger Lumpelprediger Lärmprediger Traumprediger Affenprediger Laffenprediger Lügenprediger Küchenprediger Lumpenprediger Narrenprediger Rottenprediger Pomeranzenprediger Lutherprediger Zuckerprediger Ketzerprediger Rohrprediger Kindsprediger Hundsprediger Weltprediger Wortprediger Gesetzprediger Bauchheiliger Werkheiliger Maulheilige[r] Wortheiliger Geistheiliger Abtrünniger Christkreuziger Geldsorger Seckelsorger Seelversorger Seelschürger Seelwürger Theolüger Heiligenschmäher Seelschleicher

Indizes zur Erschließung pejorativer Wortbildungsmuster | 223

Bösgeistlicher

Sacramentschwärmer

Kelcher

Schwirmer

Altkirchischer Zwinglischer Römischer Lutherischer Apostatischer

Tellerlecker Wortschmücker

Vigilistürmer Werkstürmer Seelstürmer Petristuhlstürmer Höllstürmer Kirchenstürmer Fastenstürmer Götzenstürmer Altarstürmer Bilderstürmer Fegfeuerstürmer Messstürmer Sacramentstürmer Papststürmer Kreuzstürmer

Schismatiker

Romaner

Seelhenker Kelchtrinker Schriftstöker

Bauchsöldner

Schriftverfälscher Wortfälscher Schriftfälscher Winkelweiher Romanier

Gläubler Halbgläubler Falschgläubler Solengläubler Freisteller Schriftstümmler Halbhösler Aposteisler Böbstler Päpstler Schriftfrevler Apostützler Wortskrämer Evangelirühmer Herrherrnrühmer Glaubensrühmer Römer Schwärmer

~ des Bauchs, Diener Bauchdiener Mauldiener Götzendiener Wortsdiener Fauliner Pauliner Zertrenner Abtrünner Gleissner Blippenplapper Sacramentierer Schriftlästerer Schriftverkehrer Bauchlehrer Werklehrer

Kirchloser Werkloser Evangelloser Heilloser Geistloser Christloser Bussehasser Werkhasser Verlasser Winkelmesser Fleischfresser Bibelfresser Pfründenfresser Heiligenfresser Götzenfresser Klosterfresser Brotfresser PL. Bäuchväter PL. Busenväter Secter Lügendichter Jebusiter Sauiter Esauiter Suiter Zwiespälter Kirchenspälter Winkelpriester Jesubitter Abgeschnitter Sacramentsrotter Alfanzer Kätzer Ketzer Kötzer

Seelverführer

Wortschwätzer Seelverletzer

Bibelstörer Christizerstörer

Buchgenos

224 | Rüdiger Harnisch

Martinianus Lutheranus

Schwarmgeist Rottengeist

Sopist Lutherist

~ papa, asinus

Propheist Theologist

Halbchrist Endechrist Hofchrist Bauchchrist Antichrist Werkchrist Maulchrist Entenchrist Aberchrist Widerchrist Wortchrist Neuchrist

Apostat Erzpickardt Bauchprophet Bauchknecht Tempelknecht Götzenknecht Balaamsknecht Wortsknecht Fleischbösewicht Romanischt Gogit Magogit Theologant Fleischpredicant Confessant Klosterhengst Concordist

Sophist Asophist Theosophist Geckist Abangelist Evangelist Kakogelist Interimist Summist Thomist Romanist Martinist Somnist

Adiaphorist Deformatist Prophetist Haeretist Ubiquist Coquist

Confessionist Confusionist

Bauchgott

Apist

Papenz

Papist Apapist

Reformatz Ölgötz

Palpist

2.2.1.2. Abstrakta Christologia Theologistria Wortsglaub Seelmord Christmord Lügende Discordie Apostasie Antichristie Bauchlehre

Rohrlehre

Bauchwerk

Rohrpredig

Kirchtum Antichristentum Lutertum

Besserung Reformierung Pickardei Seelmörderei Lutherei Sophisterei Papisterei Ketzerei

Evangelium Euanhöllium Conciliabulum Abangelion Kakangelion Eigenwillion

Indizes zur Erschließung pejorativer Wortbildungsmuster | 225

Babilon

Zwinglianismus

Deformation Reformation

Göttliches Recht

Coccysmos Lutheranismus

Papistigkeit Geizigkeit

Freiheit

Antichristlichkeit Höllischkeit

Werkheiligkeit Seelenlosigkeit

Bauchdienst

zwinglisch ewighöllisch katzwollisch

sächsisch

2.2.2 Adjektive, Partizipien werkmeidend werkhassend gottsschändig werkheilig abtrünnig spältig eigenwillich christenlich ungeistlich christlich ~es Recht, Göttlich galiläisch pharisäisch flaccisch nimrodisch pickardisch concordisch seelmördisch wittenbergisch magogisch kirchisch unkirchisch widerkirchisch eckisch neckisch mameluckisch evangelisch unevangelisch teuflisch

apostolisch falschapostolisch unapostolisch der ~e Türk, römisch römanisch cainisch

apostatisch ubiquitetisch theologantisch sophistisch thomistisch romanistisch papistisch christisch

paulinisch martinisch

adiaphoristisch

abtrünnisch

concordensis

~e Hure/Höllischkeit, babilonisch

ewigelos heiliglos kirchlos werklos seellos evangellos heillos eigenwillos seelenlos beicht- und busslos schriftlos geschriftlos geistlos christlos

papisch philippisch schmalzkälberisch seelmörderisch luderisch lautherisch lutherisch lütherisch emserisch adiaphorisch

wortsüss

226 | Rüdiger Harnisch

2.3 Wortfamilien mit versteckten Mitgliedern 2.3.1 Formal nicht abgewandelte Mitglieder Apost… …apostata …apostolisch Bös… Fleischbösewicht …bub …bube …esel Papsteselchen

heil… …heiliger Maulheilige werkheilig… Herr… Herrherrnrühmer Höll… ewighöllisch Euanhöllium

Pickard… Erzpickardt …predig… …prediger Predigkautzen Rohrpredig Fleischpredicant …rott… Rotten… …rotter

Kirch… Altkirchischer Erzkirchendieb unkirchisch

Schand… …schänder gottsschändig

…cord… concord… Discordie

…knab …knabe

Schrift… geschriftlos

…diener …dienst

Kreuz… Christkreuziger

Schwarm… …schwärmer Schwirmer

evangel… unevangelisch

…lehre …lehrer

falsch… …fälscher

Lüg… Theolüger Thollog

Christ… / …christ Antichrist…

Geist… / …geist Bösgeistlicher ungeistlich Glaub… …gläubler Götz… Papstgötzen …hass… …hassend …hasser

Mess… Winkelmesser [?]

Seel… Erzseelenmörder Soph… …sophist *spalt …spälter spältig

…mord …mörder Seelmörd… Seelmorden

…stürm… …stürmen …stürmer

Pap… Apapist

Weih… …weiher

Pharisä… Erzpharisäer

Indizes zur Erschließung pejorativer Wortbildungsmuster | 227

2.3.2 Formal abgewandelte Mitglieder (Wortspiel) Antichrist Endechrist Entenchrist Apostat Apostützler *Aquist (: Thomas von Aquin) Coquist (: Coquin ‚Schuft‘ ) *Beichtväter Bäuchväter …bischof Bißschaf Buße… Busen… *Catacysmos Coccysmos Confessionist Confusionist *Eck, Dr. ~ Dreck [Geck] [Gick] eckisch neckisch Eckist Geckist evangelisch(er) eigenwillich eigenwillos evangellos Evangelloser ewigelos ewighöllisch Evangelist

Abangelist Cacogelist Kakogelist Evangelium Abangelion Eigenwillion Euanhöllium Ka(c)kangelion *Geistlichkeit Geizigkeit *Heiligkeit päpstliche ~ Höllischkeit babilonische ~ Jesuiter Esauiter Jebusiter Jesubitter Jesuwider Sauiter Suiter *katholisch katzwollisch Ketzer Kätzer (: Katze) Kötzer (: Kotzen ‚Wollüberwurf‘) *Legende Lügende *Luther Loder(…) Luder Lutra, Bestia Martis ~ lutherisch lautherisch luderisch lütherisch

Nachprediger Narrenprediger? *Offizial Affenzahl Papist Palpist ‚Schmeichler‘ Päpstler Böpstler Pauliner Fauliner … pfaff[en] Affen Laffenprediger *Predicanten Prächtigkautzen Predigkautzen *Professor/-er Brotfresser Reformation Reformatz Deformation Deformatist *schmalkaldisch schmalzkälberisch *Seelsorger Seelversorger Seckelsorger *sola fide-Anhänger Solengläubler Sophist Sopist

228 | Rüdiger Harnisch

Summist Somnist *täuferisch teuflisch

*Theolog Theolüger Thollog

*Wiedertäufer Wiederersäufer

*Weihbischof Weinbischof

3 Nutzungsmöglichkeiten der Indizes – aufgezeigt an exemplarischen Kurzanalysen In Kapitel 1. war schon darauf hingewiesen worden, dass die Indizes die Möglichkeit bieten, den Wortbestand sowohl lexikalisch als auch wortbildungsmorphologisch und in seiner Wortfamiliengruppierung zu erfassen und ihn auf dieser Basis zu analysieren. Im Folgenden sollen unter Nutzung dieser Indizes dort verzeichnete Wörter, kompositionelle Wortbestandteile und Affixe nach dem semantisch (und pragmatisch) leitenden Motiv der ‚Schmäh-Fähigkeit‘ exemplarisch betrachtet und geordnet werden. Dabei werden lediglich Lexeme bzw. Morpheme berücksichtigt, die auch alltagssprachlich vorkommen. Einheiten dagegen, die nur den theologischen Streitparteien jener Zeit verständlich waren und von ihnen jeweils negativ konnotiert wurden, werden hier nicht einbezogen. Natürlich bieten diese Indizes aber auch Möglichkeiten der Nutzung durch andere als linguistische Fachdisziplinen: Theologie, Geschichtswissenschaft (in Kombination: Kirchengeschichte), Philosophie (v. a. Ideengeschichte) und weitere. Aus Index 2.1. kann unter anderem der Bestand der verwendeten pejorativen Präfixe gewonnen werden (im Folgenden kleingeschrieben und mit jeweils einem Lexem exemplifiziert). Es sind für diesen Sonderwortschatz Präfixe wie a- (Apapist), ab- (Abangelist), aber- (Aberchrist), anti- (Antichrist), apo- (Apostat), de- (Deformation), dis- (Discordie), erz- (Erzketzer), un- (unkirchisch), wider- (widerkirchisch) oder zer- (Zertrenner). Semantisch subdifferenziert drücken die meisten von ihnen ‚Gegensätzlichkeit‘ aus (A-, aber-, anti-, wider-), andere ‚negative Abweichung‘ (ab-, apo-, zer-) oder beides (dis-, un-); erz- verstärkt negative Seme der Ableitungsbasen. Entweder kommen die pejorativen Präfixe, wie im letzten Beispiel, mit schon negativen Ableitungsbasen vor (Erz-Ketzer, Zer-Trenner) oder sie machen positive erst negativ (Aber-Christ). Interessant an Fällen wie A-Papist ‚Papstgegner‘ ist, dass das Präfix nicht Papist verneint und dessen negative Bedeutung ins Positive kehrt, sondern mit semantisch gleichermaßen negativen Affixen, dem Präfix a- und dem Suffix -ist, einen ‚Gegner des Papstes‘ kritisch bezeichnet.

Indizes zur Erschließung pejorativer Wortbildungsmuster | 229

Aus den Indizes unter 2.2. können die pejorativen Suffixe gewonnen werden. Bei den Personenbezeichnungen sind das nach Index 2.2.1.1. solche wie -ant (Theologant), -ist (Theosophist), -ler (Solengläubler) oder -ling (Päpstling). Auch Suffixlosigkeit, also -Ø, wird schmähend eingesetzt: Reformatz-Ø als Rückbildung mit Umakzentuierung aus Reformation, wodurch sich das Lexem Matz (u. a. ‚kleinwüchsiger‘ oder ‚einfältiger Mann‘, auch ‚unreinlicher Mensch‘) spielerisch erzeugen lässt. Die Apokopierung der Grundwörter …bub-Ø und …knab-Ø, …pfaff -Ø und Türk-Ø könnte ebenfalls verächtlichmachend eingesetzt sein. Ableitungsbasen wie faul von Fauliner (Pauliner) stecken möglicherweise die Suffixkette -in-er pejorativ an, wie sie später z. B. in Schlawiner genutzt wird. Ähnliches wäre für -it-er, negativ angesteckt etwa von Sau in Sauiter ‚Jesuit‘, zu prüfen. Für jemanden, bei dem Jesuit eine negative Konnotiation hat, wirken im Kontext des Konfessionsstreits dann auch andere Ableitungen auf -it pejorativ, erst recht, wenn zusätzlich die Ableitungsbasis negativ ist (vgl. (Ma)gog-it). In Papenz mit -enz klingt Popanz an. Unter den in Index 2.2.1.2. verzeichneten Abstrakta ist vornehmlich das (Doppel-)Suffix -(er)ei pejorisierend (Pickardei, Lutherei). Ismen wie in Lutheranismus stehen von Haus aus unter ‚Ideologieverdacht‘ (vgl. Ganslmayer & Müller 2020), die davon abgeleiteten Personenbezeichnungen auf -ist (Prophetist) dann ebenfalls. Dezidiert negatives Suffix bei den Adjektiven ist in diesem Sonderwortschatz ausweislich Index 2.2.2. -los (beicht- und busslos), negativen Anklang hat -er-isch (seelmörderisch), das sich suffixstrukturell gut auf den Gegner Luther, dessen Name das -er schon enthält, wenden ließ: lutherisch. Das propriale Grundmorphem war dann durch Manipulation und sozusagen im Gleichschritt mit dem negativen Wortausgang -er-isch weiter pejorisierbar (lautherisch, luderisch). Pejoratives Potential hat auch -isch allein.⁹ Unter anderm hat „offensichtlich […] der den Adjektiven auf -isch schon anhaftende böse Sinn dem Vorschlag Luthers geschadet“, mit christisch einen positiven Begriff (‚an Christus orientiert‘) zu setzen und ihn dem negativen Begriff päpstisch (‚am Papst orientiert‘) entgegenzusetzen (Lepp 1908: 37). Um die – meist in Form von kompositionellen Determinantia und Determinata und als Ableitungsbasen vorkommenden – Lexeme pejorativen Inhalts auffinden zu können, sind beide Indextypen, der initial- und der final-alphabetische, von Nutzen. Längere Reihen – nur solche sollen hier herausgegriffen werden – entsprechender Determinantia oder Ableitungsbasen bilden ausweislich Index 2.1. etwa die Komposita mit Affen-, Bauch-, Götzen- oder Lügen-.¹⁰ Diese Lexeme

9 Vgl. gegenwartssprachliche Wortpaare wie kind-isch vs. kind-lich. 10 Einzeln vorkommende wären etwa Heuchel-, Narren- oder Hunds-.

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sind entweder schon denotativ mit negativer Bedeutung behaftet (am stärksten Lügen-) oder spätestens konnotativ und in ihrer Anwendung auf die Bezeichnung von Personen oder Personengruppen (Affen-). Bei den Determinata sind es nach den Indizes unter 2.2. viel mehr types, mit denen ganze Pejorativreihen gebildet werden: -dieb, -feind, -pfaff, -esel, -räuber, -schänder, -mörder, -fälscher, -stürmer, -hasser, -fresser, -spälter oder -knecht. Meist haben sie negative Bedeutung schon denotativ (-dieb usw.), in einigen Fällen ergibt sie sich erst konnotativ bzw. pragmatisch (z. B. -stürmer). Auf den ersten Blick pejorisieren negative kompositionelle Erstglieder meist positive oder neutrale Zweitglieder (Maul-christ) und umgekehrt negative Zweitglieder positive oder neutrale Erstglieder (Schrift-lästerer), doch auch negative Doppelungen kommen vor (Götzen-fresser). Auf den zweiten Blick sind aber viele vermeintlich positive oder neutrale Kompositionsglieder doch negativ behaftet, zum Beispiel zum Grundwort -esel die aus konfessionsparteilicher (hier evangelischer) Sicht negativen Bestimmungswörter Mönch-, Kloster-, Stift- oder Chor- aus dem Wortfeld des ‚Monastischen‘. Über diese schematisch alphabetischen Suchen im Text hinaus sind weitere nötig, um alle einer Wortfamilie zugehörigen Lexeme auffinden zu können. So kann man sich zwar die Mitglieder der Wortfamilie Christ aus den Indizes 2.1. mit dem Bestimmungswort Christ- und aus 2.2.1.1. mit dem Grundwort -christ zusammenstellen, doch braucht man zusätzlich eine Absuche des Wortbestands nach Vorkommen von -christ-, die in initial- und finalalphabetischen Anordnungen nicht sichtbar werden, weil sie zentral stehen und deshalb versteckt sind, z. B. in Antichristie.¹¹ Die Ergebnisse dieser Art von Suche sind in Index 2.3.1. zusammengestellt. Schwieriger noch sind die Wortzusammenhänge zu erfassen, die in den schmähenden lexikalischen Sprachspielen stecken und die, wie etwa die Umformung Bäuchväter aus Beichtväter zeigt, nur auf Lautähnlichkeit beruhen.¹² Solche Fälle sind in Index 2.3.2. aufgeführt.

11 Vgl. den Hinweis auf Typen von Positionen im Wort und die Möglichkeiten eines Zugangs zu ihnen in Anm. 8. 12 Sie sind Gegenstand der Untersuchung und Typisierung von Harnisch (demn.). Vgl. auch Anm. 5 zu partiellen lautlichen Abänderungen.

Indizes zur Erschließung pejorativer Wortbildungsmuster | 231

4 Zusammenfassung und Ausblick Im vorliegenden Beitrag konnte gezeigt werden, wie der Schmähwortschatz im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung lexikalisch und wortbildungsmorphologisch tiefergehend untersucht werden kann, wenn er konsequent über Indizes unterschiedlicher alphabetischer Anordnungsrichtung erschlossen wird (2.1. und 2.2.). Doch ist auch sichtbar geworden, dass über diese schematisch alphabetischen Suchen im Text hinaus weitere nötig sind, um alle einer Wortfamilie zugehörigen Lexeme auffinden zu können: diejenigen, die in den initial- und finalalphabetischen Anordnungen nicht sichtbar werden, weil sie im Wortinneren versteckt sind. Um die Suche nach solchen Fällen zu erleichtern, empfiehlt sich natürlich ein digitales Format solcher Wortbestandslisten. Mit Volltextsuche anhand des Wortfamilienkerns in diesen Listen war hier Index 2.3.1. relativ schnell und systematisch erstellbar. Die Wortzusammenhänge in den schmähenden Wortspielen, wie sie in Index 2.3.2. aufgeführt sind, wären mit einer auf formale Unschärfe programmierten digitalen Suchfunktion auffindbar. Sonst bleibt nur die Erkennung des Zusammenhangs durch den forschenden Menschen. Übersetzungen dagegen, wie sie in Tabelle 1 aufgelistet sind, wären leicht über digitale lexikographische Werkzeuge auffindbar. Was in vorliegendem Beitrag nicht ausgeführt wurde, aber natürlich sinnvoll – und möglich – wäre, sind Zusammenstellungen von Wortfeldern, also von semantisch (nicht wie die Wortfamilien nur über formale Gleichheit) definierten Klassen. Solche Gruppierungsaufgaben erfordern jedoch zum Teil weitergehendes außerlinguistisches, hier vor allem theologisches, Wissen, zum Beispiel darüber, dass Werklosigkeit und viele weitere Vertreter der lexikalischen Reihe mit Werk- als Bestimmungswort (Werkfeind usw.) mit dem Wort Solengläubler (< sola fide ‚allein durch den Glauben‘¹³) im Wortfeldzusammenhang der sog. „Rechtfertigungslehre“ stehen. Hier wäre bei automatischer Suche über sprachlexikographisches Werkzeug hinaus auch sachlexikographisches oder enzyklopädisches einzusetzen. Die hier entwickelten Werkzeuge zur Erschließung des Schmähwortschatzes der Reformations- und Konfessionalisierungszeit und seine exemplarische Analyse unter Anwendung dieser Hilfsmittel können über das hier traktierte spezielle textliche Feld (Schmähschriften, mündliche Disputationen/Predigten usw.) und diesen speziellen diskursiven Verwendungsbereich (Konfessionsstreit) hinaus als Muster auch für die Untersuchung anderer – historischer oder zeitgeschichtlicher

13 Ergänzt: ‚… und nicht durch fromme Werke die Gnade Gottes und das ewige Leben erlangen‘.

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– Teilwortschätze und Diskurse dienen, um damit die von den Akteuren angewandten Wortwahl- und Wortbildungs-Techniken der semantischen Prägung und pragmatischen Rahmung offenzulegen.

Literatur Attig, Matthias (2020): Wortverbund- und Wortfeldanalyse. Diskurssemantisches Interpretieren als diskursphilologische Praxis. In Jochen A. Bär (Hrsg.), Historische Text- und Diskurssemantik (Jahrbuch für Germanistische Sprachgeschichte 11), 61–75. Berlin, Boston: De Gruyter. Dammel, Antje (2011): Wie kommt es zu rumstudierenden Hinterbänklern und anderen Sonderlingen? Pfade zu pejorativen Wortbildungsbedeutungen im Deutschen. In Jörg Riecke (Hrsg.), Historische Semantik (Jahrbuch für germanistische Sprachgeschichte 2), 326– 343. Berlin, Boston: De Gruyter. Dammel, Antje & Olga Quindt (2016): How do evaluative derivational meanings arise? A bit of Geforsche and Forscherei. In Rita Finkbeiner, Jörg Meibauer & Heike Wiese (Hrsg.), Pejoration (Linguistik aktuell 228), 41–73. Amsterdam, Philadelphia: Benjamins. Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm (1885). Sechster Band. Bearb. von Moriz Heyne. Leipzig: Hirzel. Ganslmayer, Christine & Peter O. Müller (2020): Diskurse im Spiegel der Wortbildung. -ismus und Ismen. In Jochen A. Bär (Hrsg.), Historische Text- und Diskurssemantik (Jahrbuch für Germanistische Sprachgeschichte 11), 90–118. Berlin, Boston: De Gruyter. Harnisch, Rüdiger (2018a): Partizipien als meliorisierende Ersatzkonstruktionen für pejorisierte personenbezeichnende Derivata. Zu Prozessen semantischer und pragmatischer Remotivierung im Zeichen der Flüchtlings- (oder Geflüchteten-?) Krise um das Jahr 2015. In Annamária Fabián & Igor Trost (Hrsg.), Sprachgebrauch in der Politik. Grammatische, lexikalische, pragmatische, kulturelle und dialektologische Perspektiven (Reihe Germanistische Linguistik 319), 217–237. Berlin, Boston: De Gruyter. Harnisch, Rüdiger (2018b): Prolegomena zu einem Zentrifugalen Wörterbuch des Deutschen – zugleich ein Beitrag zur Struktur des deutschen Einsilblers und zur phonotaktischen Schrotschuss-Sequenzierung. In Kerstin Kazzazi, Karin Luttermann, Sabine Wahl & Thomas A. Fritz (Hrsg.), Worte über Wörter. Festschrift zu Ehren von Elke Ronneberger-Sibold, 165–190. Tübingen: Stauffenburg. Harnisch, Rüdiger (demn.): Schmähende konfessionelle Fremdbezeichnungen. Remotivation und Bedeutungsgenerierung. In Günter Koch (Hrsg.), Der Raum Passau zur Reformationszeit. Ein regional-konfessioneller Kontrapunkt zur „Luthermania“ 2017 (Literatur – Sprache – Region. Beiträge zur Kulturgeographie). Frankfurt a. M.: Lang. Henne, Helmut (Hrsg.) (1982): Wortschatz und Verständigungsprobleme: Was sind „schwere Wörter“ im Deutschen? (Jahrbuch des Instituts für deutsche Sprache 1982. Sprache der Gegenwart 57). Düsseldorf: Schwann. Jörgensen, Bent (2014): Konfessionelle Selbst- und Fremdbezeichnungen. Zur Terminologie der Religionsparteien im 16. Jahrhundert. Berlin: De Gruyter.

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Knape, Joachim & Christine Thumm (2014): Kaspar Goldtwurms Schemata rhetorica 1545. Ein Figurentraktat für Prediger aus der Reformationszeit. Text und Kommentar, 135–149. Wiesbaden: Harrassowitz. Lepp, Friedrich (1908): Schlagwörter des Reformationszeitalters (Quellen und Darstellungen aus der Geschichte des Reformationsjahrhunderts 8). Leipzig: Heinsius Nachfolger. Seifert, Jan (2018): ‚Subversive‘ Sprachbildung? Rhetorisch-persuasive Strategien für das Deutsche in frühneuzeitlichen Lehrbüchern. In Mechthild Habermann (Hrsg.), Sprache, Reformation, Konfessionalisierung (Jahrbuch für Germanistische Sprachgeschichte 9), 135–149. Berlin, Boston: De Gruyter.

Kerstin Roth

Diachroner Wandel und Konstanz – Das Lexem Opfer als Zeichen des gesellschaftlichen Wandels Ein Blick in ausgewählte historische Wörterbücher des Deutschen

1 Einleitung Wörter können Zeichen der Veränderung¹ sein: „Viel stärker noch als bei der Bedeutung der Gegenwartssprache stoßen wir beim Lesen älterer Texte auf Zeichen der Veränderung“ (Riecke 2014: 31). Neben der Sprache selbst wandeln sich auch die Vorstellungen von Sprache und damit auch von Wörtern im Zusammenspiel „mit den Lebens- und Sinnwelten“ (Bopp et al. 2020: 31) ihrer Sprecherinnen und Sprecher. Während die gesprochene Sprache stetem Wandel unterzogen ist, bieten schriftliche Dokumente die Möglichkeit, Sprache zu einem bestimmten Zeitpunkt zu bewahren. Eine insbesondere für die Sprachgeschichte hilfreiche sowie unabdingbare Form von Konservierung bieten Wörterbücher. Zahlreiche Wörterbücher zu den historischen Sprachstadien des Deutschen sind über Jahre oder Jahrzehnte hinweg entstanden, werden aber sukzessive aktualisiert. Historische Wörterbücher, die in einer bestimmten Epoche verfasst wurden, übernehmen – neben der bereits genannten konservierenden Funktion – auch die Aufgabe, einen angenommenen Status quo einer idealisierten Varietät abzubilden. Dies gilt es, stets im Blick zu behalten. Hier soll durch die historischen Wörterbücher eine streng synchrone Perspektive gewährleistet werden, die selbstverständlich maßgeblich durch die jeweiligen Verfasser geprägt ist. Grundsätzlich gilt: Wörterbücher sind geistes- und kulturgeschichtliche Dokumente. Sie reflektieren ihre Zeit ebenso wie Haltungen und Einstellungen ihrer Verfasser. In Formulierungen der Paraphrasen und vor allem in den zitierten Beispielen und Belegen sind Bewertungen enthalten, die Richtungen weisen. (Kämper 2001: 42)

1 Siehe hierzu auch den Sammelband: Wörter – Zeichen der Veränderung (2020) herausgegeben von Dominika Bopp, Stefaniya Ptashnyk, Kerstin Roth und Tina Theobald. https://doi.org/10.1515/9783110604696-010

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In dem vorliegenden Aufsatz soll das für den Kontext Sprache und Religion zentrale Wort Opfer sowie Kompositionsbildungen mit Opfer in verschiedenen Wörterbüchern beleuchtet werden. Ziel ist es, sprachhistorisch an das Konzept Opfer in exemplarischer Form heranzuführen. Um dem im Titel angekündigten diachronen Wandel Rechnung zu tragen, werden im Verlauf dieses Aufsatzes Bedeutungsbeschreibungen und Lemmalisten aus den folgenden Wörterbüchern systematisch ausgewertet: – Althochdeutsches Wörterbuch (AWB) (1952–2015) – Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch (1872–1878) – Frühneuhochdeutsches Wörterbuch (FWB) (1985–heute) – Kaspar Stieler: Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs oder Teutscher Sprachschatz (1691/1968) – Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen (1793–1801) – Joachim Heinrich Campe: Wörterbuch der deutschen Sprache (1807–1812) – Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch (1854–1961) – Trübners Deutsches Wörterbuch (1939–1954) – Hermann Paul: Deutsches Wörterbuch (1897/2002) – Duden – Das große Wörterbuch der deutschen Sprache (1979/1999) Eine Mischung von Sprachstadien-Wörterbüchern und historischen Wörterbüchern bleibt auf Grund des Ziels einer diachronen Perspektive unumgänglich. Es wurden Werke ausgewählt, die möglichst adäquat die verschiedenen Jahrhunderte der Entwicklung der deutschen Sprache repräsentieren. Vollständigkeit in einem gänzlich umfänglichen Sinne wird nicht angestrebt, sondern vielmehr soll der Blick geschärft und Perspektiven dafür eröffnet werden, inwieweit wortgeschichtliche Analysen gerade im Kontext von Sprache und Religion von Interesse sein können und Diskussionspotential bieten. Denn auch wenn Religion von Ritualen und Traditionen geprägt ist, so ist es doch in vielen Fällen gerade der Sprachgebrauch oder eben die Wortwahl, die selbige prägt und einen Wiedererkennungswert mit sich bringt. Wortgeschichten und die exemplarische Analyse von Wörterbuchartikeln können dementsprechend auch zeigen, wie sich Religion zu verschiedenen Zeiten sprachlich manifestiert und festgehalten bzw. verschriftlicht wird. Dies soll hier beispielhaft an dem einzelnen Lexem Opfer vorgeführt werden. Neben den jeweiligen Definitionen und Erläuterungen zum Wort Opfer werden weiterhin die Wortbildungen mit Opfer zentral sein. Die Produktivität im Bereich der Komposition mit dem Lexem Opfer erscheint mir besonders interessant zu sein, vor allem hinsichtlich der Verbindung zur Gesellschaft, denn was und

Das Lexem Opfer als Zeichen des gesellschaftlichen Wandels |

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wofür eine Gesellschaft opfert, sagt viel über sie aus. Es kristallisiert sich darüber hinaus die Frage heraus, ob es über die Jahrhunderte hinweg zu einer Säkularisierung des Opferbegriffs kommt. Ein chronologischer Gang durch die Jahrhunderte dient im Folgenden als eine Art Gliederung, beginnend mit dem Althochdeutschen Wörterbuch und schließend mit dem Duden. Vorangestellt sei ein Blick auf die Etymologie des Wortes Opfer.

2 Etymologie Im Herkunftsduden wird das Lexem Opfer unter dem Lemma opfern genauer erläutert: Das aus der Kirchensprache stammende Verb mhd. opfern, ahd. opharōn (ursprünglich »etwas Gott als Opfergabe darbringen«) ist wohl entlehnt aus lat.-kirchenlat. operari »werktätig sein, arbeiten; einer religiösen Handlung obliegen, der Gottheit durch Opfer dienen; Almosen geben«. Über weitere etymologische Zusammenhänge vgl. operieren. – Eine alte Rückbildung aus dem Verb opfern ist das Substantiv Opfer (mhd. opfer, ahd. opfar). (Riecke 2014: s. v. opfern)

Das etymologische Wörterbuch von Kluge wird noch etwas ausführlicher: opfern Vsw std. (8. Jh.), mhd. opfern, ahd. opfarōn, offarōn, mndd. opperen, offeren, älter oppron. Die Bedeutung ‚opfern‘ wird in christlicher Zeit vorwiegend durch eine Entlehnung aus l. offerre ‚darbieten‘ erfasst, das gleichbedeutendes ahd. offrōn, afr. off(e)ria, ae. offrian, anord. offra ergeben hat. Im hochdeutschen Bereich steht dafür aber eine zwar ähnliche, aber lautlich nicht übereinstimmende Form mit Affrikata (die Vorform von nhd. opfern). Die traditionelle Auffassung führt diese Formen mit Affrikata auf l. operārī ‚arbeiten‘ u. ä., auch ‚Almosen geben‘ (operieren) zurück, was aber semantisch unbefriedigend ist. Eine schon alte konkurrierende Auffassung zieht deshalb die Annahme einer unregelmäßigen Entwicklung bei der Verbreitung von Entlehnungen vor und findet in der gegenwärtigen Forschung stärkere Befürworter. Die Deutung dieser Unregelmäßigkeit (für die es Parallelen gibt) ist allerdings ohne Zusatzannahmen nicht möglich. Abstraktum Opfer n. in mhd. opfer, opher, ahd. opfar, offar, mndd. opper, offer (eigentlich Rückbildung aus dem Verb). Ebenso nndl. offeren, ne. offer, nfrz. offrir, nschw. offra, nnorw. ofre. (Kluge 2012: s. v. opfern, Hervorh. im Original)

Beide Herkunftswörterbücher gehen vom Verb opfern aus. Das Substantiv oder, wie Kluge es bezeichnet, Abstraktum Opfer wird daraus abgeleitet. Als Ursprünge werden das lateinische operārī ‚werktätig sein‘ genannt, aber auch das lateinische offerre ‚darbieten‘. Kluge verweist darauf, dass die Etymologie des Wortes in verschiedener Hinsicht unbefriedigend sei. Festzuhalten bleibt, dass das Wort Opfer

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von Anfang an auch dem christlich-religiösen Kontext zuzuordnen ist und bereits seit dem Althochdeutschen verwendet wird.

3 Althochdeutsches Wörterbuch Diese Analyse mit dem Althochdeutschen Wörterbuch (kurz AWB) (1952–2015) zu beginnen, rechtfertigt der vorherige, kurze Blick auf die Etymologie des Wortes Opfer, da dieses bereits im 8. Jahrhundert als belegt gilt. Zunächst ist festzuhalten, dass im AWB das Wort Opfer in dieser Schreibung so nicht als Lemma geführt wird. Belegt sind wahlweise die Schreibungen: opher, ophar, offer, offar. Diese Schreibungsvielfalt gilt als für das Althochdeutsche typisch (Riecke 2016: 30). Die voneinander abweichenden Graphien sind durch die unterschiedlichen Schreiblandschaften in der Zeit, die allgemein als althochdeutsche (750–1050) bezeichnet wird, zu erklären. Tatsächlich lassen sich für andere Lexeme der gleichen Zeit weitaus mehr differierende Schreibungen finden.² Dies ist möglicherweise darauf zurückzuführen, dass der christlich-religiöse Gebrauch des Wortes im Rahmen der Institution Kirche einer größeren Normierung (wenn denn zu diesem Zeitpunkt innerhalb der Sprachgeschichte davon gesprochen werden kann) unterliegt als eine Bezeichnung aus dem Alltag. Alltagsvokabular ist vermutlich einer sehr viel deutlicheren diatopischen Varianz unterworfen. Hinsichtlich der Bedeutungserklärungen wird im Althochdeutschen Wörterbuch der Artikel zu Opfer in vier Lesarten mit dazugehörigen Unterbedeutungen eingeteilt: 1. Dienst, Dienstleistung im weltlichen Bereich 2. Opferhandlung, Opferritual (a) im heidnischen (griechischen, römischen, germanischen) Bereich (b) im alttestamentlichen (jüdischen) Bereich (c) im neutestamentlichen (christlichen) Bereich 3. Opfergabe (a) materielle Gaben (Gegenstände, Tiere, Menschen) i. im heidnischen: Speise- und Trankopfer ii. im alttestamentlichen Bereich: Schlacht- und Brandopfer (meist Opfertiere), Trankopfer

2 Beispielsweise führt Riecke (2016: 30) deutlich vor Augen, was Schreibungsvielfalt im Althochdeutschen bedeuten kann. Hier sei sein Beispiel der Schreibung von Fuß kurz aufgeführt: fuoz, fuozs, fooz, foos, fuaz, fuez, fuōz, fouz, fůz, fuz, vuoz, vûoz, uvôz, uuoz, uůz, uoaz, phuoz.

Das Lexem Opfer als Zeichen des gesellschaftlichen Wandels |

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iii. im neutestamentlichen Bereich: Sühneopfer am Kreuz, Christus als menschliche Opfergabe iv. Glossenwort (b) ideelle Opfergaben i. im heidnischen: Gelübde ii. im alttestamentlichen: geistige Opfergaben 4. heidnische Opferstätte, Altar, Tempel (?) (AWB: s. v. opfern) Es handelt sich also um vier Bedeutungen von Opfer: ‚Dienst‘ bzw. ‚Dienstleistung‘, ‚Opferhandlung‘ bzw. ‚Opferritual‘, ‚Opfergabe‘ und ‚Opferstätte‘. Diese Lesarten werden dann nochmals nach heidnisch und alttestamentlich sowie neutestamentlich aufgeteilt. ‚Dienst‘ und ‚Dienstleistung‘, die der weltlichen Lesart zugeordnet werden, fallen deutlich aus dem sonst religiös geprägten Bedeutungsspektrum heraus. Um eine mögliche Dominanz des Religiösen auszumachen, gilt es auch die Wortbildungen mit Opfer- zu berücksichtigen: opherâri – ‚Vollzieher der Opferhandlung‘, opherbluot – ‚Blut des Opfertieres‘, opherfaz/opharfaz/offerfaz – ‚Opfergefäß‘, bes. für das Trankopfer; ‚Opferschale‘, opherfrisking – ‚junges Opfertier‘ (Jesus als Opferlamm), opherhûs – ‚heidnische Opferstätte‘, ‚Tempel‘, opherlîh – ‚für das Opfer(tier) bestimmt‘, oph(e)rôd – ‚Dienst‘, ‚Opferhandlung/-ritual‘, ‚Opfergabe‘, opherôn – ‚ein Amt ausüben‘, ‚eine Arbeit ausführen‘, ‚einen Dienst leisten‘; ‚eine Opferhandlung, einen Opferritus vollziehen‘ (‚jmdm. Opfergaben darbringen‘); ‚etw. (als Lockmittel) anbieten‘, ‚in Aussicht stellen‘, ophertisc – ‚Opfertisch‘, auch: ‚Polsterliege für eine Götterstatue‘, opheruuîdhida – ‚Opferweihe‘; ‚Geheimnis des Opferritus‘, ‚Sakrament des Abendmahls‘, opheruuîn/offeruuîn – ‚Opferwein‘, ‚als Opfergabe dienender Wein‘, opheruuîzagunga – ‚Weissagung aus den Eingeweiden von Opfertieren‘, ‚Eingeweideschau‘, gôz-ophar – ‚Guß-, Gießopfer‘, miss-ophar/er – ‚Meßopfer‘³

Alle Komposita hängen mit dem religiösen Opfer zusammen, so wird beschrieben, was geopfert wird (z. B. opherbluot), oder auch mit welchen Gegenständen (z. B. opherfaz) das Opfer durchgeführt wird. Lediglich oph(e)rôd und opherôn beziehen sich auch auf ein nicht-religiöses Dienstleisten. Es dominieren die Wortbildungen, bei denen Opfer, als linkes Wortglied, das jeweils zweite Wortglied spezifiziert. Nur in zwei Fällen gôz-ophar und miss-ophar/er bildet Opfer die Basis. Grundsätzlich kann festgehalten werden, dass Opfer auf Grundlage der Belege des Althochdeutschen Wörterbuchs als fest im religiösen Kontext verankert ausgemacht werden kann. Erste Andeutungen, dass das Wort und seine Wortbildungen

3 Bei dieser Liste handelt es sich um alle im AWB aufgeführten Wortbildungen mit Opfer in der dort angegebenen Schreibweise.

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auch im weltlichen Kontext gebraucht werden könnte, können aus der Bedeutung ‚Dienst‘ oder ‚Amt‘ herausgezogen werden. Dies gilt es für die folgenden Jahrhunderte und deren Belegsammlungen im Blick zu behalten.

4 Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Wörterbuch Im Mittelhochdeutschen Wörterbuch von Matthias Lexer (1872–1878) wird dem Wort Opfer ein eigenes Lemma gewidmet: opfer, opher. Hier wird als Bedeutung angegeben: „opfer, die einer kirche od. der gottheit dargebrachte gabe“ (Lexer 1872–1878: s. v. opfer, opher). Diese Bedeutungsangabe schränkt den Kontext des Lexems deutlich auf den religiösen ein. Ein Opfer ist damit eine Gabe. Wie genau diese aussehen kann, zeigt sich beispielhaft in den Belegen zu den Komposita mit Opfer. opferambet – ‚seelmesse‘, opferbaere – ‚zum Opfern geeignet‘, ‚alt genug um an dem opfer teil zu nehmen (vom 14. Jahre an)‘,⁴ opferbrot – ‚hostie‘, opferganc, opfergelt, opfergolt – ‚als Opfer dargebrachtes Gold, Geld‘, opferguot – ‚Ertrag des Opfers‘, opferlieht – ‚Kerze, die bei der Beerdigung getragen und dann geopfert wurde‘, opferman – ‚der an die Kirche ein Opfer zu entrichten hat‘, opferpfenninc – ‚für das Opfer bestimmter, geopferter Pfennig‘, opfersac, opfersanc – ‚Gesang beim Offertorium der Messe‘, opferschüzzel – ‚Opferschüssel‘, opferstoc – ‚Opferstock‘, opferteil, opfertier, opferunge – ‚Opferung‘, ‚Opfer‘, opfervaz – ‚Opfergefäß‘, opfervrischinc – ‚Opferlamm‘, opferwin – ‚Opferwein‘, viheopfer – ‚Viehopfer‘ (Tieropfer), vrônopfer – ‚Opfer im Rahmen des Frondienstes‘

Im Mittelhochdeutschen Wörterbuch hängen fast alle Wortbildungen mit Opfer mit dem Bereich der Opfergabe zusammen, ganz gemäß der oben zitierten Definition: „opfer, die einer kirche od. der gottheit dargebrachte gabe“. Die Opferhandlung bzw. das -ritual und der Dienstcharakter treten in den Hintergrund. Die Opferstätte wird gar nicht mehr explizit genannt. Die Opfergabe kann ganz unterschiedliche Formen annehmen, so kann das Opfer tierisch sein, opfertier, opfervrischinc oder viheopfer, materiell in Form von Naturalien, wie Wein (opferwin), oder es werden Geld oder Gold geopfert (opfergelt, opfergolt). 4 Diese Wortbildung fällt auf, zunächst weil es kulturhistorisch interessant ist, zu sehen, ab wann jemand das passende Alter erreicht hat, um an einem Opfer teilnehmen zu können, was vielleicht auch als Schritt in Richtung des Erwachsenwerdens gelten könnte. Darüber hinaus ist das Wort lediglich im Mittelhochdeutschen gebräuchlich. Neben dem Mittelhochdeutschen Wörterbuch von Lexer wird es auch im BMZ (s. v. opferbaere) aufgeführt. Opferbaere gehört wohl damit zu den Wörtern, die aus dem Sprachgebrauch wieder verschwinden.

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5 Frühneuhochdeutsches Wörterbuch Im Frühneuhochdeutschen Wörterbuch (kurz FWB) (1985–heute) wird Opfer⁵ wie folgt definiert: 1. Opfer, Gabe, die ein Mensch unterschiedlicher hierarchischer Stellung einem als überirdisch angenommenen Wesen, einer antiken Gottheit, dem Gott des Alten Israel, einem Götzen […] dem Teufel, auch dem Jesuskind sowie Jesus Christus […] darbringt und die der Empfangende mit Wohlwollen annehmen oder als nicht genehm ablehnen kann. […] 2. heilswirksame geistliche Zuwendung des Menschen zu Gott, die von opfer her tropisiert und von Gott als Opfer anerkannt wird […] 3. Christus als von Gott eingesetztes sowie von ihm selbst (als Sohn, in Wesenseinheit mit dem Vater) übernommenes Sühneopfer für die Sünden der Menschen, damit für deren Erlösung […] 4. als opfer 1; 2 tropisierte, damit ins Religiöse überhöhte Abgabe, Spende, Stiftung des Menschen an die Kirche und deren Vertreter […] das opfer in diesem Sinne unterliegt der weiten Spanne zwischen Freiwilligkeit aus individueller Gesinnung gegenüber der Kirche als Vermittlerin des göttlichen Heilswirkens in die soziale Wirklichkeit und äußerer, sozial zwanghafter bis hin zu rechtlicher Verpflichtung; […] 5. Kirchlich-religiöses Ritual, wie es vor allem im Rahmen einer Seelenmesse, Leichenfeier, eines Totenbegängnisses gehalten und mit einem Opfer verbunden wird […] (FWB: s. v. opfer) Das Wort Opfer trägt also ausgehend von den hier zitierten Einträgen die Bedeutung der ‚Gabe‘ eines Menschen an ein höheres Wesen. Dieses ist wahlweise eine antike Gottheit, ein Götze, gar der Teufel oder eben das Jesuskind (vgl. FWB Opfer 1.). Allen diesen ‚Gottheiten‘ kann ein Opfer gebracht werden. Abseits von der ‚Gabe‘ kann auch allein die ‚Hinwendung zu Gott‘ als Opfer verstanden werden. Christus selbst kann das (Sühne)Opfer für die Sünden der Menschheit sein. Unter 4. wird deutlich, dass das Opfer sowohl freiwillig als auch fast rechtlich verpflichtend dargebracht werden kann, in Form einer Spende oder Abgabe. Ein Opfer wird nicht immer freiwillig entrichtet, sondern kann auch aus sozialem Druck erfolgen, wenn es beispielsweise von der Gemeinschaft eingefordert wird. Zuletzt sei auf die Bedeutung als Ritual verwiesen. Opfer kann im Frühneuhochdeutschen etwas Materielles, etwas Spirituelles, Jesus Christus oder das ei-

5 Ich danke den Verantwortlichen des FWB für die vorzeitige Bereitstellung des Artikels für diesen Aufsatz.

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gentliche Ritual meinen. Im Eintrag des FWB werden auch wieder die üblichen Formen von Gaben für die Gottheit genannt, so werden Vieh, Brot, Wein, Blut oder Geschenke dargebracht. Die Sinnwelt der Religion wird deutlich betont, wobei vom Groben ins Detaillierte zunächst ein weiter Begriff von Opfer vorgestellt wird. Darauf folgt ein sehr freier Opferbegriff im Rahmen der Mystik und dann zunehmend expliziter die Darlegung einer institutionellen Einbindung des Opfers im kirchlichen Kontext (Taufe, Hochzeit, Tod, Beichte usw.) (Vgl. FWB s. v. opfer). Der Vollständigkeit halber werden hier auch die (bisher⁶) im FWB belegten Komposita mit Opfer aufgeführt: abendopfer, altaropfer, brandopfer, brandopfersaltar, dankopfer, denkopfer, gesezopfer, gnadenopfer, gottesopfer, götzenopfer, guldenopferpfennig, heiligungeopfer, jaropfer, leibopfer, morgenopfer, nasopfer, opfergeld/t, opfergesang, opferkanne, opferman, opferspeher, selopfer, sterenopfer, totenopfer, totenselenopfer, trankopfer, weinopfer⁷

Die meisten Komposita im FWB umfassen das Lexem Opfer als Basis, aber es finden sich auch Beispiele, bei denen eine andere lexikalische Basis durch das Lexem Opfer genauer spezifiziert wird.

6 Kaspar Stieler: Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs oder Teutscher Sprachschatz Kaspar Stielers Wörterbuch aus dem Jahr 1691 ist sowohl auf Latein als auch auf Deutsch verfasst. Die lateinische Sprache dient zur Erläuterung und Präzisierung der deutschen Wörter. Im Althochdeutschen und Mittelhochdeutschen Wörterbuch dominieren die Wortbildungen mit Opfer, in denen das Wort Opfer in der Belegsammlung immer als erstes und damit als Bestimmungwort aufgeführt wird. Dieses betont bei einer Verbindung zweier Substantive bestimmte Eigenschaften des zweiten Wortglieds. Beispielsweise wird bei Opfergeld oder Opferwein hervorgehoben, wofür das jeweilige Geld oder der Wein genutzt werden soll. Die Kompositionen implizieren fast schon eine Verwendungsaufforderung. Im Althochdeutschen

6 Da sich das Wörterbuch im Entstehungsprozess befindet, kann es stets sein, dass zukünftig viele weitere Wortbildungen mit Opfer in dem Wörterbuch zu finden sein werden. 7 Es werden ab diesem Sprachstadium die Bedeutungsangaben der einzelnen Belege weggelassen, da diese für zeitgenössische Leser und Leserinnen nicht mehr unabdingbar sind.

Das Lexem Opfer als Zeichen des gesellschaftlichen Wandels | 243

Wörterbuch finden sich nur zwei gegenteilige Belege: gôz-ophar – ‚Guß‘-, ‚Gießopfer‘, miss-ophar/er – ‚Meßopfer‘ und im Mittelhochdeutschen Wörterbuch auch nur zwei: viheopfer – ‚Viehopfer‘ (Tieropfer), vrônopfer – ‚Opfer im Rahmen des Frondienstes‘. Stieler führt nur Beispiele auf, bei denen Opfer den zweiten Teil des Kompositums (das Grundwort) darstellt, also den Kopf mit den grammatischen Eigenschaften und der Bestimmung der grundsätzlichen Beschaffenheit des jeweiligen Objekts oder Konzepts. Weiterhin weist Stieler auf diverse typische Konstruktionen mit Opfer hin. Beym Opfer seyn, GOtt ein Opfer tuhn, Ein Opfer zu opfern geben, Zum Opfer gehen, Eine Meße ohne Opfer, Unblutiges Opfer, Brandopfer, Dankopfer, Lobopfer, Fegopfer, Fluchopfer, Hebopfer, Jahropfer, Menschenopfer, Meßopfer, Mordopfer, Rauchopfer, Reinigungsopfer, Schuldopfer, Seelenopfer, Speiseopfer, Stammopfer, Todtenopfer, Versönopfer, Der Armen Opfer, Schlachtopfer

Es finden sich zahlreiche Komposita mit Opfer, vom Brandopfer über das Reinigungsopfer bis hin zum Schlachtopfer. Hier wird bereits deutlich, wie unterschiedlich die jeweiligen Opfer durch den differierenden ersten Wortbestandteil charakterisiert werden können. Sowohl Stieler als auch Steinbach⁸ belassen es dabei, den Leserinnen und Lesern eine kurze lateinische Übersetzung des Wortes Opfer zu geben. „Opfer/ das/ hostia, victima, sacrificium, sacra, it. Munus, donum.“ Es wird indirekt deutlich, von welcher Rezipierendengruppe Stieler ausgeht. So dürfte es sich um Personen handeln, die des Lateinischen mächtig sind. Die deutsche Sprache und ihre Ausdrücke werden durch bzw. mithilfe des Lateinischen erläutert. Es scheint also um das Jahr 1700 immer noch leichter zu sein, sich des Lateinischen zu bedienen, um etwas zu erklären, als Paraphrasierungen auf Deutsch zu verwenden.⁹ Wir lernen an dieser Stelle implizit etwas über die Gesellschaft, die eine deutsche Sprache im 18. Jahrhundert nutzt, und über den Status der deutschen Sprache im Allgemeinen. Wenn allerdings die Frage im Zentrum steht, was eigentlich unter Opfer in der jeweiligen Zeit verstanden wird und wie dies auf Deutsch ausgedrückt wird, hilft es weiter, dass schließlich Adelung eine recht umfängliche Definition von Opfer aufführt.

8 Steinbachs Werk kann in diesem Rahmen ausgelassen werden, da es sich in vielen Belangen mit Stieler überschneidet. 9 Es könnte aber auch sein, dass es als eleganter oder konformer für ein Wörterbuch galt, Erläuterungen auf Latein zu verfassen.

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7 Johann Christoph Adelung: Grammatisch-kritisches Wörterbuch Johann Christoph Adelung schreibt in seinem Grammatisch-kritischen Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der Oberdeutschen (1793–1801) unter dem Lemma zum Wort Opfer Folgendes: Das Opfer, des -s, plur. ut nom. sing. ein jedes sichtbares Ding, welches der Gottheit zur Abbildung seiner eigenen Übergabe an dieselbe, dargebracht wird. […] In weiterer Bedeutung wird oft, besonders in der Römischen Kirche, alles ein Opfer genannt, was zum Behuf des Gottesdienstes und der gottesdienstlichen Personen geschenkt und dargebracht wird. Im weitesten Verstande ist, besonders in der höhern Schreibart, ein jedes Ding, eine jede Sache, welche man einem andern zum Zeichen seiner Unterwürfigkeit, seiner Ergebenheit darbringet, ein Opfer. Ein Opfer bringen. Einem etwas zum Opfer bringen. In engerer und figürlicher Bedeutung, ist das Opfer so wohl eine Sache, deren Eigenthumes man sich um eines andern willen begibt, als auch ein Gegenstand, auf welchen die Schuld eines andern übertragen wird, und in weiterer Bedeutung, ein jedes Ding, welches der Gegenstand eines von einem andern ihm zugefügten Übels ist, wo die Figur von einem Schlachtopfer oder blutigen Opfer entlehnet worden. Die Gerechtigkeit verlanget ein Opfer. Oft wird die Unschuld ein Opfer der Tyranney und überlegenen Macht. Ein Opfer der Leidenschaft eines andern werden […]. (Adelung 1793–1801): s. v. Opfer. Hervorh. K. R.)

Zusammengefasst bedeutet dies, dass ein Opfer – ein Zeichen der Unterwürfigkeit, der Ergebenheit ist, – eine Sache ist, deren Eigentumes man sich um eines andern willen begibt,¹⁰ – ein Gegenstand ist, auf welchen die Schuld eines andern übertragen wird, – ein jedes Ding ist, welches der Gegenstand eines von einem andern ihm zugefügten Übels ist.¹¹ Es wird klar vor Augen geführt, dass es sich nicht mehr alleine um einen religiösen Kontext handelt, in dem geopfert bzw. ein Opfer dargebracht wird. Adelung nennt auch folgende Wortbildungen mit Opfer. Opferaltar, Opferfleisch, Opfergeld, Opferhaus, Opferkasten, Opferkuchen, Opfermann, Opfermesser, Opferpfennig, Opferpriester, Opferschale, Opferschmaus, Opferstock, Opferthier, Opfertisch, Opfervieh, Opferwein

10 Paraphrasiert bedeutet dies: eine Sache, die jemand abgibt zu Gunsten einer anderen Person (Anmerk. K. R.). 11 Diese Aussage wird vermutlich verständlicher durch das von Adelung genannte Beispiel: „Ein Opfer der Leidenschaft eines andern werden.“

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Während bei den Wortbildungen immer noch der religiöse Bereich dominiert, betont Adelung in seiner Beschreibung und Definition des Wortes, dass die Bezeichnung Opfer auch außerhalb der religiösen Sphäre genutzt werde. Er nennt auch Verwendungen metaphorischer Art, die im weltlichen Bereich verortet werden können. Ein Beispiel ist Opfer als „ein Zeichen seiner Unterwürfigkeit, seiner Ergebenheit“. Dies passt einerseits zum religiösen Kontext, andererseits aber auch zu einer hierarchischen Ordnung, die im weltlichen Kontext üblich sein kann. Adelung zitiert auch einige Phrasen wie: „Oft wird die Unschuld ein Opfer der Tyranney und überlegenen Macht“ oder „Ein Opfer der Leidenschaft eines andern werden.“ Wenn ein Mensch zum Opfer wird, ist er passiv, mit ihm wird etwas gemacht. Es kann, wie viele der Wortbildungen zeigen, ein Gegenstand sein, bei Adelung ist es aber auch gut möglich, dass es sich bei dem Opfer um einen Menschen handelt. Denn sowohl die Tyrannei als auch die Leidenschaft sind Eigenschaften, die menschliche Auseinandersetzungen voraussetzen. Johann Christoph Adelung repräsentiert in gewisser Weise die rationalistische Dimension der Aufklärung, wohingegen Joachim Heinrich Campe die pädagogische Dimension verkörpert.

8 Joachim Heinrich Campe: Wörterbuch der deutschen Sprache Auch in Joachim Heinrich Campes Wörterbuch der deutschen Sprache (1807–1812) wird das Lexem Opfer zunächst umfänglich erläutert: Das Opfer, -s, Mz. gl. ein jedes Ding, welches einer Gottheit als Zeichen der Unterwürfigkeit, oder des Dankes, oder um sie zu versöhnen dargebracht wird, und welches entweder auf einen Altar oder einen andern dazu geweiheten Ort hingelegt oder verbrannt wurdt. Ein blutiges Opfer, ein Schlachtopfer, ein lebendes Jeschöpf [sic!], welches um der Gottheit dargebracht zu werden geschlachtet wurde, und welches in engerer Bedeutung vorzugsweise Opfer genannt wird; zum Unterschiede von einem unblutigen Opfer, worunter man jedes andere Opfer verstehet. Ein Brandopfer, Dankopfer, Sühnopfer. In weiterer Bedeutung nennt man jetzt, da man der Gottheit keine eigentlichen Opfer mehr bringt, die Verehrung, die man ihr erweiset, seine Gebete, die man ihr darbringt u. seine Opfer, in welchem Sinne Dankopfer, Morgenopfer, Abendopfer u. für Dankgebet, Morgengebet, Abendgebet u. zu verstehen sind. Im kirchlichen Sinne wird in weiterer Bedeutung auch noch Alles Opfer genannt, was für die Kirche und die bei derselben angestellten Personen geschenkt oder dargebracht wird. So heißt das Geld, welches bei Hochzeiten, Taufen und andern Gelegenheiten für den Prediger u. von den hochzeitlichen Personen, von den Pathen u. auf den Altar gelegt wird, ein Opfer oder Opfergeld ; und auch das Beichtgeld, welches für ihn hingelegt wird, heißt Beichtopfer. Ein Opfer bringen. Etwas zum Opfer bringen. Uneigentlich versteht

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man unter Opfer Alles, dessen Besiz und Genuß man sich um eines Andern willen begiebt, und bezeichnet damit auch einen Gegenstand, auf welchen die Schuld eines Andern übergetragen wird, und von welchem die Folgen derselben getragen werden müssen; wie auch überhaupt ein Ding, welches für oder um eine Sache ein Übel leiden muß, für die es sich selbst gleichsam darbringt oder für die es dargebracht wird. Einem sein Liebstes zum Opfer bringen, für ihn dem Besiz, dem Genusse dessen, was ihm das Liebste ist, entsagen. Die Gerechtigkeit fordert ein Opfer, der Schuldige oder einer der Schuldigen muss bestraft werden. Ein Opfer der Bosheit werden, der Bosheit Anderer unterliegen müssen, durch dieselbe ins Verderben gebracht werden. Ein Opfer der guten Sache oder für die gute Sache werden, in seinen Bemühungen für die gute Sache zu Grunde gehen, auch, sich für dieselbe opfern oder aufopfern. (Campe 1807–1812: s. v. Opfer. Hervorh. K. R.)

Campe definiert Opfer also folgendermaßen: – Als Zeichen der Unterwürfigkeit oder des Dankes gegenüber einer Gottheit, in blutiger oder unblutiger Form (Gebet). – Es wird alles Opfer genannt, was für die Kirche ist (z. B. Geld). – Als alles, um dessen Besitz und Genuss man sich um eines Andern willen begiebt.¹² – Als Gegenstand, auf welchen die Schuld eines Andern übergetragen wird. – Es bedeutet, der Bosheit Anderer zu unterliegen. – Es bedeutet, in seinen Bemühungen für die gute Sache zu Grunde zu gehen. Wie Haß-Zumkehr (2001: 114–115) meint, zeigt sich hier die bürgerliche Perspektive des Wörterbuchs von Campe. Die Opfer für die Kirche werden konkret benannt, z. B. Opfergeld, Opferpfennig, Opferkasten. Die Frage der Schuld und das Erleiden eines Übels wurde so auch bei Adelung aufgeführt, aber mit dem Aspekt des ‚zu Grunde Gehens‘ für eine gute Sache, erweitert Campe den Verwendungsbereich des Wortes Opfer. Dieser Vorgang bezieht sich nicht mehr explizit auf Jesus Christus, sondern kann theoretisch bei jedem Individuum vorkommen. Opferaltar, Opferbar, Opferbeil, Opferbetrug, Opferbrand, Opfer(ge)brauch, Opferer, Opferfest, Opferfeuer, Opferflamme, Opferfleisch, Opfergabe, Opfergang (1 ‚Zug zum Opfer‘, 2 ‚Gang um zu opfern‘, Opfergefäß, Opfergeld, Opfergeschirr, Opferglut, Opferguß, Opferhaus, Opferhell, Opferherd, Opferhorn (1 ‚Ein Horn, aus welchem man Öl, Wein u. bei einem Opfer ausgoß.‘ 2 ‚In der Naturbeschreibung, eine Art Rollen- oder Walzenschnecke in Ostindien‘), Opferhundert, Opferkasten, Opferkelch, Opferkuchen, Opferlamm, Opfermädchen, Opfermahl, Opfermann , Opfermesser, Opferpfennig, Opferpriester, Opferrauch, Opfersang, Opferschale, Opferschlächter, Opferschmaus, Opfersprache – ‚Eine Sprache, Schreibart, in welcher viele bildliche Ausdrücke von Opfern und Opferung vorkommen, wie z. B. in der Bibel.‘, Opferstahl, Opferstätte, Opfersteuer, Opferstock, Opferthier – ‚ein Thier, welches geopfert ist oder geopfert zu werden bestimmt ist. Auch uneigentlich, ein Mensch der als

12 Das Verb begeben wird hier im Sinne von ‚verzichten‘ gebraucht.

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Opfer für etwas fällt […], Opfertisch, Opfertod, Opfertrank, Opfervieh, Opferwein, Opferwolke, Opferzug (Hervorh. K. R.)

Campe ist von den hier betrachteten Wörterbuchverfassern derjenige, der die meisten Wortbildungen mit Opfer aufführt. Unter den vielen Nennungen fällt eine besonders auf: Opfersprache. Campe ist der Erste, der sich explizit dazu äußert und definiert: „Opfersprache – Eine Sprache, Schreibart, in welcher viele bildliche Ausdrücke von Opfern und Opferung vorkommen, wie z. B. in der Bibel.“ Bei Campe dient die Opfersprache also dazu, die Vorgänge des Opferns zu erläutern. Dieses Bewusstsein kann auch ein Grund sein, warum es bei ihm eine so umfängliche Beleglage in Bezug auf die Wortbildungen mit Opfer gibt. Die Nennung des Wortes Opfersprache zeugt darüber hinaus von sprachreflexiven Ansätzen. Interessant erscheint auch die Bezeichnung: „Opferthier – ein Thier, welches geopfert ist […]. Auch uneigentlich ein Mensch der als Opfer für etwas fällt“, hier wird der metaphorische Sprachgebrauch explizit betont. Wenn der Mensch zum Opfertier wird, dann könnte von einer umgedrehten Personifizierung die Rede sein. Nicht dem Tier werden menschliche, aber dem Menschen (opfer-)tierische Eigenschaften zugesprochen.

9 Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch Im Deutschen Wörterbuch (1854–1961) der Brüder Grimm wird das Lexem Opfer in seinem Lemma in drei Lesarten aufgeführt, die wiederum weiter spezifiziert werden: 1. in religiöser beziehung (a) heidnisches opfer (b) jüdisches opfer (c) christliches opfer i. vom tode Christi als versöhnungsopfer für die sünden der menschheit ii. vom heiligen messopfer als der nach katholischem lehrbegriff erneuten unblutigen opferung Christi von seite des priesters iii. vom heiligen abendmahl iv. von allerhand frommen gaben für die kirche und den religiösen dienst v. von guten werken der barmherzigkeit 2. der sinnliche begriff tritt zurück vor dem innerlichen und geistigen

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3.

mannigfaltig in übertragener bedeutung mit gänzlichem zurücktreten des religiösen begriffes (a) von personen, die (einem thier- oder menschenopfer ähnlich) wofür büszend und sühnend untergehn oder wenigstens ein übel erdulden, die gewaltsam oder freiwillig wofür preisgegeben, aufgeopfert werden (b) von sachen und abstractionen i. die einem opfer gleich dargebracht oder angenommen werden ii. besonders etwas mit entbehrung oder entsagung dargebrachtes oder erlittenes (DWB 1854–1961: s. v. opfer)

Im Deutschen Wörterbuch ist die religiöse Beziehung die erste, die genannt wird, wenn es um das Lexem Opfer geht. Gemäß der Historie wird zunächst auf das heidnische, dann das jüdische und schließlich das christliche Opfer verwiesen. Passend zum christlichen Kulturkreis, in dem das Wörterbuch entstanden ist, wird das christliche Opfer genauer erläutert. Es folgen unter 2. und 3. Beispiele und Erklärungen, inwieweit das Wort Opfer zunehmend aus dem religiösen Kontext verschwindet beziehungsweise das Lexem eine Verschiebung in andere, weltlichere Sphären erfährt. Auch bei den Brüdern Grimm werden zahlreiche Wortbildungen mit Opfer aufgeführt. In den meisten Fällen bildet das Lexem Opfer hier die Basis des Kompositums und wird durch das vorangestellte Lexem genauer charakterisiert. bittopfer, dankopfer, freudenopfer, lobopfer, sühnopfer, abendopfer, morgenopfer, festopfer, brandopfer, rauchopfer, fruchtopfer, speiseopfer, trankopfer, thieropfer, menschenopfer, geldopfer, opferwillig – adj. ‚zu opfern willig, bereit‘: für die schicksale seiner vaterstadt bewahrte er eine allzeit opferwillige theilnahme[…], opferwilligkeit – Planta lachte ... über diese der bündnerischen opferwilligkeit gemachte zumuthung […] (Hervorh. K. R.)

Zwei Wortbildungen, die an dieser Stelle besonders hervorgehoben seien, sind das Adjektiv opferwillig und das dazugehörige Substantiv Opferwilligkeit. Diese Wortverbindungen von Opfer und Wille treten zum ersten Mal in einem der hier zu Rate gezogenen Wörterbücher auf. Die Belege stammen aus den Jahren um etwa 1850 bzw. 1880. Es handelt sich um die einzigen beiden Belege, in denen Opfer als Erstglied ein anderes Grundwort genauer spezifiziert.

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10 Trübners Deutsches Wörterbuch Auch in Trübners Deutschem Wörterbuch (1939–1954) wird dem Lexem Opfer ausreichend Platz eingeräumt, um dessen Wortherkunft und -gebrauch zu erläutern:¹³ […] Das Opfer ist anfänglich ein mit Gaben dargebrachtes Gebet, das der Gottheit durch die Tat beweisen soll, daß man sich den Erwerb des göttlichen Wohlgefallens etwas kosten läßt. Die Nachwirkungen dieses urtümlichen Opfertriebs sind auch in der späteren Vergeistigung noch zu spüren. Es wird vorausgesetzt, daß die Gottheit auf den Nachweis der Opferwilligkeit Wert legt und ohne ihn ihre Untertanen nicht als solche ansieht und nicht schützt. Der Opfernde tritt freiwillig einen Teil seines Eigentums, der für ihn Wert hat, an die Gottheit ab: mit Tat und Selbstverleugnung wird die Huldigung wirksam und sichert die göttliche Gegengabe. Mit der Huldigung verbindet sich der Gedanke, die Gottheit genieße die Opfergabe, zunächst grob materiell, später in Verfeinerung zum bloßen Sinnbild, aber auch da noch so, daß Gottes Herzen ein Bedürfnis und Sehnen nach Menschenweise zugeschrieben wird. Alle diese Grundzüge sind für die Opfer der Germanen zweifelsfrei erwiesen. An vorchristlichen Namen des Opfers steht auf dt. Boden die undurchsichtige Bildung pluostar voran. Daneben zielt ahd. antheiz, auf das Verheißen der Opfergabe, gelt auf die Einlösung des Opfergelübdes, zebar (s. Ungeziefer) auf das Opfertier. alle diese Ausdrücke haben die christlichen Glaubensboten geflissentlich verdrängt; der altheimische Gehalt ist mit Gedankengut fremder Herkunft überdeckt worden. Die Wörter Opfer und opfern aber sind in vielhundertjährigem Einwohnen deutsch geworden. In unsern Tagen verbinden sie sich mit Opfermut und -sinn, Opferfreudigkeit und -willigkeit zu einer Besinnung, die das neue Deutschland von seinen Bürgern vor allem fordert und erhält. (Trübner 1939– 1954: s. v. Opfer. Hervorh. K. R.)

Zunächst verweist der Eintrag im Trübner auf die typischen Definitionen von Opfer, als einer Gabe, etwas Kostbares, das einem Gott dargebracht wird. Anders als bei den vorherigen Wörterbüchern wird sehr viel häufiger als Kontext ein germanischer genannt. Dies erleichtert dem Autor die Überleitung zu seiner These, dass die Wörter Opfer und opfern ganz typisch deutsch seien. Er schreibt dazu: „Die Wörter Opfer und opfern aber sind in vielhundertjährigem Einwohnen deutsch geworden.“ Hier wird im Wörterbuch Ideologie mit Hilfe von Etymologie vermittelt. Wortbildungen wie Opfermut, Opfersinn, Opferfreudigkeit und -willigkeit transportierten erstrebenswerte Ideale im Sinne des Autors (der Autoren) dieses Wörterbuchs. Die zu Beginn genannten etymologischen Erläuterungen scheinen nun doch nicht mehr die entscheidende Rolle zu spielen, wenn es darum geht, zur „Besinnung“ aufzurufen, „die das neue Deutschland von seinen Bürgern vor al-

13 Aus Gründen der angenehmeren Lesbarkeit wird hier nur ein Teil des Lemmas abgedruckt.

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lem fordert und erhält.“ Das „neue Deutschland“ soll hier erneuert werden im Sinne der NS-Zeit. Opfergabe, Offerbüggel, Offermann, Opferbüchse, Offerstock, Opferwilligkeit, Opfergabe, Opfergelübde, Opfertier, Opfermut, Opfersinn, Opferfreudigkeit (Hervorh. K. R.)

Im Trübner finden sich insgesamt nicht so viele Wortbildungen mit Opfer-, wie bei anderen hier betrachteten Wörterbuchverfassern. Nochmals hervorgehoben wurden die besonders auffälligen und neueren Wortbildungen, die vor allem emotionale Prozesse seitens der opferdarbringenden Person bezeichnen.

11 Hermann Paul: Deutsches Wörterbuch Das Deutsche Wörterbuch (1897/2002) von Hermann Paul entsteht zwar vor Trübners Wörterbuch, wird jedoch in dem hier vorliegenden Aufsatz nach diesem genannt, da als Grundlage für diese kleine Analyse die zehnte überarbeitete und erweiterte Auflage zu Rate gezogen wurde. Gerade bei dem Artikel zu Opfer fällt auf, dass hier bereits Aussagen getätigt werden, die Hermann Paul zu seinen Lebzeiten so nie hätte machen können. Bei Hermann Paul finden wir das Lemma opfern und darin enthalten Opfer. Opfergang und Opferlamm werden in eigenen Lemmata kurz erläutert. Diese wenigen Belege entsprechen dem Wunsch dieses Wörterbuchs, auf einzelne besondere Wörter hinzuweisen, aber keine Vollständigkeit anzustreben (vgl. Haß-Zumkehr 2001: 188).¹⁴ Aus o. abgel. Opfer, ahd. ophar, mhd. o. 1.1 >eine der Gottheit dargebrachte GabeHandlung des Opfernsjmd., der durch etw. umkommt, etw. erleidetHingabe, möglich durch Verzicht, von etwas zugunsten eines anderenGang zur Opferstätte> (Kl.; DWb) wurde es zu >Hingabe des Lebens für andere< (Mack. 1952), vielleicht durch die nat.soz. Opferideologie verbreitet (vgl. Trü.: Opfermut, -sinn usw.) Opferlamm urspr. das zum Opfer bestimmte Lamm, dann zunächst auf Christus, später auch auf andere Personen übertr. (Wi.; DWb)

Bei Paul entsteht, wie auch schon im Deutschen Wörterbuch der Brüder Grimm, eine Dreiteilung der Definition von Opfer: 1. (a) eine der Gottheit dargebrachte Gabe (b) Handlung des Opferns 2. abgelöst vom sinnlichen Begriff 3. (a) jmd., der durch etwas umkommt, etw. erleidet (b) Hingabe, möglich durch Verzicht Der religiöse Kontext bleibt konstant mit Gabe und Handlung des Opferns als Primärbedeutung, aber im weltlichen Bereich wird neben dem Leiden, das mit dem Sterben verbunden sein kann, die Hingabe als ein neuer Aspekt genannt. Im Wörterbuch von Paul wird explizit auf die Opfer des Faschismus eingegangen. Die faschistisch-nationalsozialistische Gewaltherrschaft führte mit dazu, dass Opfer und Täter als Bezeichnungen zusätzlich in besonderem Maße semantisch aufgeladen wurden.¹⁵ Opfer wird in diesem Eintrag zum ersten Mal explizit als juristische Größe genannt.

15 Kämper (2007: XII): „Opfer sind diejenigen, die vom Nationalsozialismus diskriminiert, verfolgt, eingesperrt wurden, die mit diesem Selbstverständnis nach 1945 schreiben und die in ihren Texten auf diese persönlichen Erfahrungen, die sie zu Opfern machten, referieren. Es sind diejenigen, die der Nationalsozialismus sich zu Feinden erklärt hat: Juden, Widerständler jeglicher Provenienz (vom Kommunisten bis zum Militär), Kirchenmänner, intellektuelle Kritiker.“ „Täter sind die Funktionsträger der NSDAP und die Handlungsbeteiligten der nationalsozialistischen Herrschaft“ (Kämper 2007: XIII).

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12 Duden: Das große Wörterbuch der deutschen Sprache Als letztes Werk, das in diesem Kontext in die Gegenwartssprache führt, sei hier der Duden – Das große Wörterbuch der deutschen Sprache (1979/1999) in den Blick genommen. Opfer, das; -s, -[mhd. opfer, ahd. opfar, rückgeb. aus opfern]: 1. a) in einer kultischen Handlung vollzogene Hingabe von jmdm. etw. an eine Gottheit: ein O. [am Altar] darbringen; den Göttern O. bringen, opfern: die Götter durch O. versöhnen ; die Priester, welche ursprünglich mit dem Gesicht zur Gemeinde das O. vollziehen (den Kreuzestod Christi in der Eucharistie vergegenwärtigen; Bild. Kunst III, 17); Ü die bestie Publikum. . . will ihr O. haben (Thies, Legende 196); *jmdm. etw. zum O. bringen (jmdm. etw. opfern 2): sie brachte der Partei ihre Überzeugung zum O.; b) Opfergabe: ein Tier als O. auswählen; auf den Altären brannten noch die O. 2. durch persönlichen Verzicht mögliche Hingabe von etw. zugunsten eines andern: alle O. waren vergeblich; für etw. O. an Geld und Zeit bringen, auf sich nehmen, jmdm., sich große O. auferlegen; diese Arbeit verlangt persönliche O.; er hätte ihnen nicht das kleinste O. gebracht; der kleine Sohn, fast drei Jahre alt, war gut genährt und wohlauf, dafür hatten die Frauen jedes O. gebracht (Danella, Hotel 21); die Eltern scheuen keine Opfer für ihre Kinder; unter persönlichen -n; für sie war diese kleine Spende bereits ein O. (ihnen fiel sie angesichts ihrer finanziellen Lage bereits sehr schwer). 3. jmd., der durch jmdn., etw. umkommt, Schaden erleidet: die O. eines Verkehrsunfalls, einer Lawine, eines Regimes, des Faschismus; so begreiflich der Wunsch des Vaters, den Sohn als O. der Zeit auszugeben, auch sein mag, so kann man doch diese Behauptung schwerlich aufrechterhalten (Reich-Ranicki, Th. Mann 201); das Erdbeben, die Überschwemmung forderte viele O.; die Angehörigen der O.; In einem Brief, der ... kurz nach der Entführung im Wagen des -s gefunden wurde (Saarbr. Zeitung 7.7.80, 21); Aber die Spinne stürzt sich nicht gleich auf das O. (Radecki, Tag 35); Sie sind also das arme O. (ugs. scherzh.; Sie hat man sich also für diese unangenehme Sache ausgesucht) Ü der Bauernhof wurde ein O. der Flammen (brannte nieder); sie wurde das O. der Verhältnisse, einer Täuschung; er ist ein O. seines Berufes; *jmdm., einer Sache zum O. fallen (durch jmdn., etw. umkommen, vernichtet werden; das Opfer einer Person od. Sache werden): einem Verbrechen, einer Kugel, einer Säuberung zum O. fallen; Eine Selbstmordwelle, der die hervorragendsten Geister zum O. fielen, würde die Völker aufschrecken (Reich-Ranicki, Th. Mann 200): Ich weiß nicht, was schlimmer für die Tiere ist, dem Spieltrieb der Menschen oder seiner Wissenschaft zum O. zu fallen (Frischmuth, Herrin 37); einer Einbildung, einem Irrtum, einer Täuschung, der Vergessenheit zum O. fallen; das alte Häuserviertel ist der Spitzhacke zum O. gefallen. (Duden 1979/1999): s. v. Opfer. Hervorh. K. R.).

Der Duden teilt die Bezeichnung Opfer in drei Kategorien ein: 1. in einer kultischen Handlung vollzogene Hingabe von jmdm. etw. an eine Gottheit,

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2. 3.

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durch persönlichen Verzicht mögliche Hingabe von etw. zugunsten eines andern, jmd., der durch jmdn., etw. umkommt, Schaden erleidet

In einer Reihe zeigt sich hier zunächst der religiös-kultische Kontext, dann der Verzicht zu Gunsten eines anderen und zuletzt das Schaden erleiden. Die letzte Kategorie entspricht dem Wörterbuch von Paul und zeugt von einer Bedeutungsverschiebung hin zum Dualismus Opfer – Täter. opferbereit, Opferbereitschaft, Opferbereitung, Opferbüchse, opferfreudig, Opferfreudigkeit, Opfergabe, Opfergang, Opfergeist, Opfergeld, Opferkult, Opferlamm (1. ‚Opfergabe‘, ‚Christus‘ 2 ‚(ugs.) jmd., der schuldlos durch jmdn. etw. leiden muss‘), Opfermesser, Opfermut, opfern 1. ‚kultische Handlung‘, 2. ‚zugunsten eines andern, einer Sache etw. Wertvolles hingeben, wenn es auch nicht leicht fällt‘, 3. (o. + sich) a) ‚sein Leben für jmdn., etw. hingeben, ganz einsetzen‘, 3. b ‚(ugs. scherzh.) anstelle eines anderen etw. Unangenehmes auf sich nehmen‘, Opferpfennig, Opferrauch, Opferschale, Opfersinn, Opferstätte, Opferstock, Opferteller, Opfertier, Opfertod – ‚freiwilliger Tod, mit dem sich jmd. für andere, für etw. opfert‘, Opferwille, opferwillig – ‚willig, Opfer auf sich zu nehmen‘, Opferwilligkeit – ‚das Opferwilligsein‘ (Hervorh. K. R.)¹⁶

Auch im Duden finden sich zahlreiche Komposita mit Opfer als spezifizierendes Erstglied. Opferwille, Opferwilligkeit scheinen nun fester Bestandteil des Wortschatzes geworden zu sein.

13 Diskussion Im Anschluss an diese große Zahl von Beispielen der Komposita mit Opfer und diversen Definitionen von selbigem seien in diesem letzten Kapitel die wichtigsten Punkte zusammengefasst dargestellt. Es kann von drei Großkategorien in Bezug auf die Bedeutung des Lexems Opfer ausgegangen werden, so gibt es: 1. das konkrete Opfer/Opferung (physisch) im religiösen Sinn 2. das immaterielle Opfer im religiösen Sinn, z. B. Gebet 3. das säkularisierte Opfer – metaphorischer Gebrauch¹⁷

16 Auf Anfrage ist es möglich eine vollständige Sammlung aller Belege aus den genannten Wörterbüchern zu erhalten. Auf die Darstellung aller Belege in einem eigens dafür angelegten Anhang wurde im Rahmen dieses Beitrags verzichtet. 17 Die juristische Bezeichnung als Opfer soll Teil dieser dritten Kategorie sein. Es gibt allerdings sicherlich auch Argumente für eine eigene vierte Kategorie juristische Opfer.

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Alle drei Großkategorien bleiben über die Jahrhunderte hinweg erhalten und zeugen von einer gewissen Konstanz innerhalb der Wortbedeutung. Auch einige W-Fragen lassen sich über die Jahrhunderte und die Sprachstadien hinweg immer wieder stellen und zugleich beantworten: – Wer opfert? (Agens) Opfermann/Oppermann, Opferpriester, Opfermädchen¹⁸ (wohnt dem Opfer bei). – Was wird geopfert? (Patiens) Tier/Vieh (oft: Lamm¹⁹), Mensch, Wein, Blut, Brot, Geld, Gold, Licht, Pfennig. – Wo wird geopfert? (lokal) Opfertisch, Opferaltar – Womit wird geopfert? (instrumental) Opfergefäß, Opfermesser, Opferkelch. – Wie wird geopfert? (Ritual) Opferweihe, Opfer(ge)brauch, Opfergang, Opferzug, Opferkult. Schließlich folgt also nochmals die Frage: Was bleibt über die Jahrhunderte hinweg gleich? Beziehungsweise wo zeigt sich Konstanz im Laufe der Zeit? Zu opfern bedeutet immer, etwas zu geben, das kann materiell oder ideell sein. Der heidnische und auch jüdisch-christliche Opferbegriff umfasst das Verhältnis zu einer Gottheit. Das Opfern dient als eine Art der Kommunikation zwischen dem Individuum und dem Göttlichen. In der Trias von Verkündigung, Verehrung, Vergegenwärtigung (Lasch 2011: 536–555) ist das Opfer Teil des Komplexes der Verehrung. Im Rahmen der Analyse konnten typische Wortfelder für den Kontext des Lexems Opfer ausgemacht werden: – Feuer/Brand: Brandopfer, Fegopfer, Rauchopfer, Opferfeuer, Opferflamme, Opferrauch, Opferwolke, opferhell (Adj.), Opferglut, Opferbrand, Opferrauch – Geld: Geldopfer, Opfergeld, Opferhundert, Opferstock, Opferbüchse, Opferkasten, Opferpfennig – Fest: Opferfest, Opfermahl, Opfersang, Opferschmaus, Festopfer – Zubehör zum Opfer: Opferaltar, Opfergefäß, Opfergeschirr, Opferherd, Opferbeil, Opferschale, Opferstahl, Opferstätte Als grundsätzliche These sei hier festgehalten: Es wird geopfert, was den Menschen viel bedeutet! Das spiegelt sich auch in der Sprache: Am Anfang ist es ein großes Opfer, Tiere und Fleisch zu geben, dann wird es Gold, später Geld. Die Beleglage führt dies deutlich vor Augen. In die Reihe: Tiere (Fleisch), Gold, Geld, könnte heutzutage auch der Faktor Zeit eingereiht werden, denn oftmals ist das Opfern von Zeit ein großes Gut im schnelllebigen 21. Jahrhundert. Ein Wan-

18 Es bleibt unklar, ob das Opfermädchen auch geopfert wird. 19 Das Lamm kann wiederum häufig metaphorisch für Jesus Christus stehen.

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del könnte auch hinsichtlich einer Entwicklung vom Heidentum mit Menschenund Tieropfern zum Christentum mit Opfern in Form von Gebeten angenommen werden. So eine weitere mögliche These. Handelt es sich nun um eine Säkularisierung bzw. Verweltlichung des Konzepts hinter dem Lexem Opfer, oder aber nimmt der ursprünglich religiöse/sakrale Fokus mehr Raum ein und wird zu einem Teil der Gesellschaft? Hierfür sind insbesondere die Belege ab der Zeit des Deutschen Wörterbuchs der Brüder Grimm von Interesse: 1. DWB: opferwillig, Opferwilligkeit (bspw.: opferwillig für die Vaterstadt) 2. Trübner: Opferwilligkeit, Opfermut, Opferfreudigkeit 3. Duden: opferbereit, Opferbereitschaft, opferfreudig, Opferfreudigkeit, Opfergeist, Opfermut, Opferwille, opferwillig, Opferwilligkeit Es scheint mit dem 19. Jahrhundert eine Bedeutungserweiterung des Opferbegriffs einherzugehen. Dies ist vermutlich mit den sozio-kulturellen Entwicklungen zu erklären und vielleicht auch mit dem Erstarken nationalstaatlicher Vorstellungen. Das Vaterland verlangt nach Opferbereitschaft. Dieser Entwicklung wird sicherlich heute wieder deutlich entgegengesteuert, aber sie ist eingegangen in die Lexik und die Wortbildung. Lexeme wie Opferwilligkeit und Opfermut spiegeln die historische Situation der Menschen in ihrer jeweiligen Zeit und ihre Auffassungen. Es ist nicht das Wörterbuch, das sich die Wörter ausdenkt, sondern die Menschen, die sprechen, sorgen dafür, dass Lexikographen und Lexikographinnen die jeweiligen Wörter in ihre Wörterbücher mitaufnehmen. Und heute? Im Duden fand sich bereits ein erster Hinweis auf den scherzhaften Gebrauch des Wortes Opfer: „Sie hat man sich also für diese unangenehme Sache ausgesucht“. Die scherzhafte Verwendung des Lexems Opfer ist heutzutage durchaus nicht ungewöhnlich, viel auffälliger ist allerdings die Phrase: „Du Opfer!“ Dieser jugendsprachliche Gebrauch ist vor allem im mündlichen Sprachgebrauch verankert. Die Ausdrucksweise kann freundschaftlich verwendet werden – hier macht der Ton die Musik – aber eben auch deutlich das Gegenüber beleidigen. So findet sich im zugegebenermaßen sehr dünnen Wörterbuch der Jugendsprache von PONS (2010: s. v. Opfer) folgende Definition von Opfer: „hässlicher, ekliger Mensch; Verlierer“. Das Wörterbuch der Szenesprachen (2000: s. v. Patient) widmet dem Ausdruck Opfer kein eigenes Lemma, allerdings wird der genannte Ausruf: „Du Opfer!“ im Lemma Patient konkret ausgeführt und erläutert: Wer Patient genannt wird, muss nicht in ärztlicher Behandlung sein. Die Geringschätzung „Du Patient!“ kommt immer dann zum Ausdruck, wenn ein Typ seltsam drauf ist, etwas abgedreht wirkt oder einfach eine kranke Meinung hat. Wem das nicht weit genug geht, der drängt den anderen in die Opferrolle. Hinter dem Idiom „Du OPFER!“ steckt eine Beleidi-

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gung, denn Opfer sind Außenseiter oder Schwächere, die ihre Rolle manchmal durch eigenes Verhalten heraufbeschwören. Als Opfer werden auch soziale Randgruppen wie Alkoholiker oder Drogenabhängige bezeichnet. (Wörterbuch der Szenesprachen 2000: s. v. Patient). (Hervorh. K. R.)

Der scherzhafte, aber auch der jugendsprachliche, teils diskriminierende, Gebrauch des Wortes Opfer scheint weniger auf den religiösen Bereich zurückzuführen zu sein, sondern vielmehr auf eine Erweiterung oder Übertragung aus dem juristischen Kontext mit dem dualistischen Bild von Täter und Opfer. Im Verlauf der Analyse konnte neben einer steten Konstanz eine gewisse Entwicklung im Gebrauch des Lexems Opfer ausgemacht werden. So wandelt sich das Opfer von etwas Materiellem und Religiösen zum immateriell Religiösen. Das Opfer ist immateriell staatsideologisch, wird materiell wirtschaftlich und schließlich immateriell pejorisierend. Es bleibt abzuwarten, wie sich dieser Gebrauch weiter wandelt. Eine diachrone Sprachbetrachtung vom Althochdeutschen bis in die Gegenwartssprache, wenn auch nur anhand eines Lexems, kann nie vollständig sein und dies ist auch nicht das Ziel dieser Betrachtung. Vielmehr sei darauf aufmerksam gemacht, wie viel Geschichte in einem einzelnen Lexem stecken kann. Als Motivation für weitere derartige Arbeiten soll diese Arbeit ein Zitat von Jörg Riecke beschließen: Die Zahl der verschiedenen Wörter einer Sprache scheint […] stetig anzuwachsen. Es ist die Aufgabe der Sprachgeschichtsschreibung, diesen Wandel, aber auch die Konstanten in den Strukturen und den Wortschätzen der Sprachen zu beschreiben und so weit wie möglich zu erklären. (Riecke 2014: 32)

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Literatur Adelung, Johann Christoph (1793–1801): Grammatisch-kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart mit beständiger Vergleichung der übrigen Mundarten, besonders aber der oberdeutschen. Zweyte, vermehrte und verbesserte Ausgabe. Leipzig: Breitkopf. AWB = Althochdeutsches Wörterbuch (1952–2015/heute). Auf Grund der von Elias v. Steinmeyer hinterlassenen Sammlungen im Auftrag der Sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig. Bearbeitet und herausgegeben von Elisabeth Karg-Gasterstädt und Theodor Frings. Berlin: Akademie. BMZ = Bernecke, Georg Friedrich, Wilhelm Müller & Friedrich Zarncke (Hrsg.): Mittelhochdeutsches Wörterbuch, digitalisierte Fassung im Wörterbuchnetz des Trier Center for Digital Humanities, Version 01/21, https://woerterbuchnetz.de/BMZ (letzter Zugriff: 20.01.2022). Bopp, Dominika, Stefaniya Ptashnyk, Kerstin Roth & Tina Theobald (2020): Wörter – Zeichen der Veränderung. Berlin u. a.: De Gruyter. Campe, Joachim Heinrich (1809): Wörterbuch der deutschen Sprache. 5 Bde. Braunschweig: Schulbuchhandlung. Duden – Das große Wörterbuch der deutschen Sprache (1979/1999). 10 Bde. Mannheim u. a. : Bibliographisches Institut. DWB = Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (1854–1961). 16 Bde. in 32 Teilbänden. Leipzig: Hirzel (Quellenverzeichnis Leipzig 1971). Haß-Zumkehr, Ulrike (2001): Deutsche Wörterbücher – Brennpunkt von Sprach- und Kulturgeschichte. Berlin, New York: De Gruyter. Kämper, Heidrun (2001): Einführung und Bibliographie zu Georg Henisch, Teütsche Sprach vnd Weißheit. Thesavrvs lingvae et sapientiae Germanicae (1616). In Helmut Henne (Hrsg.), Deutsche Wörterbücher des 17. und 18. Jahrhunderts. Einführung und Bibliographie, 39– 73. Hildesheim, Zürich, New York: Olms. Kämper, Heidrun (2007): Opfer – Täter – Nichttäter. Ein Wörterbuch zum Schulddiskurs 1945– 1955. Berlin u. a.: De Gruyter. Kluge – Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache (2011). Berlin u. a.: De Gruyter. Lasch, Alexander (2011): Texte im Handlungsbereich der Religion. In Stephan Habscheid (Hrsg.), Textsorten, Handlungsmuster, Oberflächen, 536–555. Berlin u. a.: De Gruyter. Lexer, Matthias (1872–1878): Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bde. Leipzig. Paul, Hermann (1897/2002): Deutsches Wörterbuch. Tübingen: Niemeyer. Riecke, Jörg (2014): Duden – Das Herkunftswörterbuch. Etymologie der deutschen Sprache. Berlin, Mannheim, Zürich: Duden. Riecke, Jörg (2016): Geschichte der deutschen Sprache. Eine Einführung. Stuttgart: Reclam. Steinbach, Christoph Ernst (1973): Vollständiges Deutsches Wörter-Buch. 2 Bde. Hildesheim, New York: Olms. Stieler, Kaspar (1691/1968): Der Teutschen Sprache Stammbaum und Fortwachs oder Teutscher Sprachschatz. 2 Bde. Hildesheim: Olms. Trübners Deutsches Wörterbuch (1939–1954). 8 Bde. Berlin: De Gruyter. Wörterbuch der Jugendsprache. Das Original (2010): Stuttgart: PONS. Wörterbuch der Szenesprachen (2000). Mannheim: Duden.

Holger Kuße

Von Schmeichlern und Verführern Transaktionale und nicht transaktionale Perlokutionen in der ostslavischen und russischen Religions- und Kommunikationsgeschichte

1 Ein neues Mittelalter Im 20. Jahrhundert ist gelegentlich der Anbruch eines neuen Mittelalters prognostiziert worden. Was darunter zu verstehen sei, fiel je nach Autor und kulturellem Kontext jedoch recht unterschiedlich aus. In den 1920er Jahren erwartete der russische Philosoph Nikolaj Berdjaev, der 1922 in die Emigration gezwungen worden war, darin die Rückbesinnung auf eine ganzheitliche Kultur und Lebensweise, die den „Atomismus der Neuzeit“ überwinden werde (Berdjaev 1994: 430). Unter Atomismus verstand Berdjaev den Zerfall von Gemeinschaften in institutionelle und individuelle Einzelinteressen und separate Lebensformen, die die modernen liberalen und kapitalistischen Gesellschaften hervorgebracht hätten. Das mit der Epochenbezeichnung Mittelalter verbundene kommunitaristische Ideal erfüllt für ihn jedoch nicht jede Form der Vergemeinschaftung, vielmehr wird, so Berdajev, der Atomismus „entweder lügenhaft – durch den Kommunismus – oder wahrhaftig – durch die Kirche, die Gemeinschaftlichkeit (russ. Sobornost’) – überwunden“ (Berdjaev 1994: 430).¹ Berdjaev sah also im Mittelalter eine sozial und religiös integrale Welt, die mit dem in der russischen Religions- und Sozialphilosophie zentralen Begriff Sobornost’ charakterisiert wird, der sich ursprünglich auf die konziliare Verfassung der (orthodoxen) Kirche bezog, bereits im 19. Jahrhundert aber auf Sozialstrukturen und schließlich auch anthropologisch erweitert wurde (Plank 1960; van der Zweerde 2001; Sapov 2002; Kuße 2004: 173–188; Kuße 2009; Smirnov 2010; Wasmuth 2012). Ein anderes, nicht religiös, sondern eher profan gedachtes Mittelalter sahen dagegen ein halbes Jahrhundert später Hedley Bull und Umberto Eco anbrechen. Der New medialivism erscheint nicht als integrale Gemeinschaft, sondern als Anarchical Society (Bull 1977). Politisch ist mit der Rückkehr ins Mittelalter in dieser Perspektive „die Auflösung des modernen Staatensystems mit seinen nach innen

1 Übersetzungen, wenn nicht anders angegeben: Holger Kuße. https://doi.org/10.1515/9783110604696-011

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und nach außen souveränen Territorialstaaten gemeint“ (Schimmelfennig 1995: 359). Und auch auf der mikrosozialen Ebene verstärkt der Weg zu einem neuen Mittelalter (Eco 1989) den von Berdjaev beklagten Atomismus eher, als dass er ihn überwindet, insofern für Eco anders als für Berdjaev Mittelalter nicht für die integrale Gemeinschaft, sondern für deren Auflösung steht, die bereits in der Spätantike begonnen habe, in der die Denk-, Lebens- und Werteeinheit des Römischen Reiches in einer Pluralisierung aufging, die zunächst durchaus positive Züge wie die allseitige Toleranz hatte (Eco 1989: 72–73), im Mittelalter jedoch zu Verfall, Fragmentierung (Kleinstaaterei, Vietnamisierung des Territoriums), Unsicherheit (Insecuritas) führte (Eco 1989: 77–88). Die positive Seite des Mittelalters ist für Eco jedoch das Modell der „permanente[n] Transition“ (Eco 1989: 104), nach dessen Vorbild das Neue Mittelalter eine im positiven Sinne „Kultur der laufenden Neuanpassung“ (Eco 1989: 104) werden solle. Berdjaevs, Bulls und Ecos Perspektiven sind so widersprüchlich allerdings nicht, wie sie auf den ersten Blick aussehen, denn die politische und gesellschaftliche Fragmentierung, die Bull und Eco als Merkmale des Mittelalters beobachten, schließt die von Berdjaev als Ideal betrachtete starke geistige Klammer des religiösen Glaubens mit gemeinsam geteilten Referenztexten nicht aus. Gemeinsam ist den politologischen und soziologischen neo-mittelalterlichen Prognosen und Berdjaevs Hoffnung auf die Überwindung des neuzeitlichen Atomismus in der Wiederkehr des Mittelalters zudem, dass Formen der Desintegration (politisch, sozial, intellektuell) tendenziell negativ bewertet werden und im Anschluss an beide Ansätze die Frage nach den Verursachern der Desintegration gestellt werden kann. In dieser weitergehenden Fragestellung werden Mittelalter, Neuzeit und Moderne nicht nur nach religiösen, sozialen und politischen Merkmalen unterschieden, sondern als jeweils spezifisches Kommunikationsgeschehen betrachtet, das von unterschiedlichen Akteuren beherrscht wird. Gefragt werden kann also: Welche integrierenden und welche desintegrierenden Kräfte werden von den Beteiligten erlebt? Wer (zer)stört aus ihrer Sicht Gemeinschaften und wer führt sie zusammen? Wer sind die Handelnden im Kommunikationsgeschehen? Diese Fragen im Blick werden in den nächsten Abschnitten entlang kulturgeschichtlich maßgeblicher Texte die Funktionsweisen einiger metasprachlicher Verben im Kirchenslavischen, Ostslavischen und Russischen vom 12. Jahrhundert bis zur Gegenwart dargestellt. Es handelt sich um Verben, mit denen perlokutives Handeln im Kommunikationsgeschehen negativ, also als destruktives und desintegrierendes Handeln bewertet und seine Akteure als Verführer, Schmeichler, Betrüger usw. charakterisiert werden. Auf dem Weg vom ostslavischen Mittelalter des Kiewer Reiches (ca. 860 bis 1240) über das Moskauer Zarenreich im 17. Jahrhundert, die höfische Kommunikation am Petersburger Hof im 18. und die radikale Kommunikationskritik im 19. Jahrhundert bis hin zur

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Medienkritik der Gegenwart wird gezeigt, welche Auswirkungen der Prozess der Säkularisierung auf die Konzeptualisierung von Kommunikation und ihre Bewertung hat und wie sich darin die Neuzeit vom Mittelalter deutlich unterscheidet, um sich schließlich in der Moderne unter bleibendem säkularen Vorzeichen der mittelalterlichen Konzeptualisierung von Kommunikation wieder anzunähern. Am Ende lässt sich fragen, ob nicht tatsächlich von einem neuen Mittelalter geredet werden kann, wenn auf bestimmte Vorstellungen vom gesellschaftlichen Kommunikationsgeschehen geschaut wird, in denen Menschen als Ausgelieferte in einer medialen Manipulationsmaschinerie erscheinen.

2 Transaktionale und nicht transaktionale Perlokutionen Leitend ist im Folgenden der sprechakttheoretische Begriff der Perlokution, da die in den Blick genommenen Verben verführen (kirchenslavisch l’stiti), verdunkeln (obmračit’), betrügen (obmanyvat’) und der Neologismus zombieren oder zombifizieren (zombirovat’) Wirkungen von Sprechhandlungen bezeichnen, die in der klassischen Sprechakttheorie (Austin, Searle) als Perlokutionen von den unmittelbar an die Äußerung gebundenen Sagenhandlungen, den Illokutionen, unterschieden werden. Schmeicheln (l’stit’) wiederum ist ein illokutives Verb mit intrinsischer Ausrichtung auf die Wirkung der Handlung auf ihre Adressaten und Adressatinnen. Da die Wirkungen kommunikativer Handlungen, also zum Beispiel verführt sein, betrogen worden sein, beleidigt sein usw., nicht in allen Fällen auch von den kommunikativ Handelnden intendiert sind (Beleidigungen können unabsichtlich geschehen), werden hier Perlokutionen im Sinne von kommunikativen Handlungen, die mit tatsächlich intendierten Wirkungen bezeichnet werden, von perlokutionären Effekten unterschieden, die nicht intendiert sein können (Kuße 2016: 168; 2019: 173; 2021: 21; vgl. auch Staffeldt 2007: 77). Die Perlokutionen können darüber hinaus – im Unterschied zu Illokutionen – nach der Art der Beteiligung der Rezipienten am Zustandekommen der intendierten Wirkung unterschieden werden, wofür der Pragmalinguist Yuego Gu in den 1990er Jahren den Begriff der Transaktion eingeführt hat (Gu 1994: 189; s. auch Kuße 2016: 177–178; 2021: 24–25). Es gibt Perlokutionen, an denen die Rezipienten prinzipiell beteiligt sind wie zum Beispiel überzeugen (es ist schwer vorstellbar, jemanden ohne oder sogar gegen seinen Willen von etwas zu überzeugen), und solche, die ohne oder gegen den Willen eines kommunikativen Gegenübers zustande kommen: manipulieren, verhexen … Im ersten Fall handelt es sich also um transaktionale, im zweiten um nicht

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transaktionale Perlokutionen. Eine Reihe von perlokutionsbezeichnenden Verben (Perlokutiva) wie zum Beispiel überreden, verführen lässt die Intensität der beiderseitigen Beteiligung am Zustandekommen einer Perlokutionen offen und kann deshalb auch als potentiell transaktional klassifiziert werden. Ob es sich bei einer Perlokution um eine transaktionale oder nicht transaktionale handelt, kann in diesen Fällen nur kontextuell entschieden werden. Wenn in der Chronik des Kiewer Reiches, der nach einem ihrer Schreiber benannten Nestorchronik, beispielsweise von einem Magier gesagt wird, er sei von Dämonen verführt worden (Lavrentiїvs’kyj Litopys: 6579/1071), so lässt sich, da schon die Rolle eines Magiers als zwielichtig galt, sowohl eine aktive, als auch passive Haltung gegenüber den Einwirkungen der Dämonen unterstellen. Das an dieser Stelle gebrauchte Verb l’stiti in der resultativen Partizipialform mit Präfix pre- (preleščen) lässt beides zu, was sich in unterschiedlichen Übersetzungen niederschlägt. Der bekannte Slavist und Literaturwissenschaftler Ludolf Müller übersetzte mit verführen, während das Übersetzerteam Graßhoff, Freydank und Sturm den Ausdruck besessen sein wählte, womit die Wirkung der Dämonen auf den Magier als eindeutig nicht transaktional dargestellt wird. (1)

Zu denselben Zeiten kam ein Magier, verführt von einem Dämon (preleščenъ běsomъ). (Müller 2001: 212) (2) Zu ebendieser Zeit tauchte ein Zauberer auf, der von einem Dämon besessen war (preleščenъ běsomъ). (Graßhoff, Freydank & Sturm 1986: 175) Es soll an dieser Stelle nicht diskutiert werden, welche Übersetzung adäquater ist. Entscheidend ist hier, dass bereits in diesem kurzen Satz zum Ausdruck kommt, in welchem Kommunikationsraum sich die Akteure in der Nestorchronik bewegten, die im 12. Jahrhundert im Kiewer Höhlenkloster entstand und (mit einem Vorlauf der Zeit seit der Sintflut) den Zeitraum von der Mitte des 9. bis zum ersten Jahrzehnt des 12. Jahrhunderts in Jahresabschnitten festhält. Menschliche Akteure stehen immer wieder unter dem Einfluss nichtmenschlicher Mächte (nicht unbedingt transzendenter, da Dämonen auch als irdische Mitbewohner gesehen werden konnten), die sie in ihrem Handeln und ihrer eigenen Kommunikation entweder nicht transaktional oder höchstens potentiell transaktional beeinflussen.

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3 Verführen und Schmeicheln. Die perlokutiv-illokutive Funktionsverschiebung Ein einschneidendes Ereignis in der Geschichte des Kiewer Reichs war die Annahme des byzantinischen Christentums durch den Großfürsten Vladimir I. und die sogenannte Taufe der Rus’ im Jahr 988. Der Entscheidungsprozess wird in der Nestorchronik ausführlich geschildert. So wird unter anderem die lange Erzählung eines „griechischen Philosophen“ von der Erschaffung der Welt bis zur Auferstehung Jesu wiedergegeben, in der auch die biblische Sündenfallgeschichte nicht fehlen konnte. Dort heißt es, dass der Teufel den Adam durch die Eva verführt habe: „D’javolъ prel’sti Evgoju Adama“ (Lavrentiїvs’kyj Litopys: 6494/986). In den Übersetzungen ist bei Müller zu lesen „Der Teufel verführte durch Eva den Adam“ (Müller 2001: 128), bei Graßhoff, Freydank und Sturm hingegen, dass der Teufel den „Adam durch Eva überlistete“ (Graßhoff, Freydank & Sturm 1986: 109). Auch hier ist die zweite Übersetzung eindeutiger nicht transaktional, aber wichtig ist in diesem Fall auch der in beiden Übersetzungen präpositional (durch Eva) wiedergegebene Kasus Instrumental Evgoju, mit dem Eva als Mittel des Teufels konzeptualisiert wird. Ihre kommunikative Handlung gegenüber Adam ist also auch kein im vollen Sinne eigener Akt, sondern wiederum eine Perlokution des Teufels und damit einer Macht, die dem ersten Menschenpaar nicht verfügbar ist. Wenn Menschen andere Menschen verführen, so steckt in der Nestorchronik in der Regel der Teufel oder ein Dämon dahinter. Im Jahr 1097 (6605) zerbricht ein kaum geschlossenes Bündnis der Fürsten der Rus’, da es, wie der Chronist schreibt, dem Teufel nicht gefiel, der deshalb einigen Männern ins Herz gefahren sei (Lavrentiїvs’kyj Litopys: 6605/1097). In der Folge verführt, wie Müller übersetzt, oder täuscht, wie es bei Graßhoff, Freydank und Sturm heißt, ein Fürst einen anderen, um sich mit ihm gegen einen dritten zu verbünden. Das in der Chronik verwendete Verb ist erneut prel’stiti. (3) Davyd verführte (prelsti) den Svjatopólk. (Müller 2001: 281) (4) David täuschte (prelsti) also Swajatopolk. (Graßhoff, Freydank & Sturm 1986: 230–231) In der Darstellung von Verführungshandlungen, die mit dem Verb l’stiti bzw. der resultativen (perfektiven) Form prel’stiti bezeichnet werden, sind in der Nestorchronik nicht die menschlichen Akteure, sondern direkt oder vermittelt durch Menschen als ihren Werkzeugen die Dämonen oder der Teufel die eigentlich kommunikativ Handelnden und Herrscher über das Kommunikationsgeschehen.

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Diese Vorstellung von der Passivität des Menschen in seinem eigenen kommunikativen Handeln findet sich ausgeprägt auch in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in den Schriften des kirchlichen Dissidenten Avvakum, der gegen die damaligen Liturgie- und Orthographiereformen in der Russisch Orthodoxen Kirche opponierte und zum Anführer der Altgläubigen (Starovery) oder auch Altritualisten (Staroobrjadcy) wurde, die bis heute eine besondere Konfession innerhalb der russischen Orthodoxie bilden (Hauptmann 2005). Avvakum wurde für seine Haltung verfolgt, verbannt und schließlich verbrannt. In seiner Selbstlebenbeschreibung (Žit’e oder auch Žizneopisanie) betont Avvakum immer wieder, dass seine Gegner gar nicht selbst handelten, sondern der Teufel sie benutze. Was sie täten, sei nicht ihr eigenes Werk, sondern „das Werk des tückischen Satans (delo satany lukavogo)“ (Avvakum 1963: 147; Hildebrandt 1965: 24–25). Ein Schlüsselwort ist für Avvakum in diesem und in anderen Texten omračit’ (verdunkeln, verblenden), das schon in der Nestorchronik das Wirken von Dämonen charakterisieren konnte. In der deutschen Übersetzung von Gerhard Hildebrandt taucht als Äquivalent auch verwirren auf (Hildebrandt 1965: 63), womit jedoch die visuelle Metaphorik, die auch den Aspekt des Sündhaften konnotiert, verloren geht. (5) Sie sehen selbst, dass sie Dummheiten begehen, aber sie wollen mit diesen Dummheiten nicht aufhören: der Teufel hat sie verblendet (omračil d’javol)! (Avvakum 1963: 165) (6) Auch den Zaren hat dieser Feind Gottes verblendet (vrag Božij omračil). (https://wysotsky.com/0009/133.htm#09 [Zugriff: 11.2.2021]) (7) Der Geist verdunkelt sich bei ihm von diesem neuen Dreck (omračitsja ot pogani toj novoj). (https://wysotsky.com/0009/133.htm#09 [Zugriff: 11.2.2021]) Der Teufel ist in Avvakums Selbstlebensbeschreibung fortlaufend der Akteur, der das Denken und Handeln der Menschen bestimmt. Er „flüstert etwas ein (naučit)“ und manipuliert sogar die Popen (naučil popov) und hat einen Freund Avvakums fest im Griff (djavol evo poglotil) (Avvakum 1963: 144–148). Dass Avvakum im Unterschied zur Nestorchronik das Verb (pre)l’stit’ zur Bezeichnung von Perlokutionen dämonischer Mächte durch andere Ausdrücke wie vor allem die Metaphorik des Verdunkelns ersetzt, ist indirekt ein Zeichen für den pragmasemantischen Wandel, den das Verb l’stit’ in dieser Zeit in der ostslavischen bzw. russischen Sprachgeschichte durchlief. Die Wurzel l’st und ihre Derivationen kann nicht nur Perlokutionen, sondern auch Illokutionen bezeichnen, also Illokutive bilden. Max Vasmer nennt in seinem Russischen etymologischen Wörterbuch als Bedeutungen des femininen Substantivs lest’, das er als Entlehnung aus dem Altgermanischen (list im Gotischen, Althochdeutschen usw.) an-

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sieht: „Schmeichelei, List, Trug, Täuschung“ (Vasmer 1955: 35). In dieser Reihe bezeichnet nur Täuschung eindeutig einen Effekt, während Schmeichelei und List die kommunikativen Handlungen selbst bewerten und Trug in beiden Richtungen interpretiert werden kann. Bis zum Beginn des 17. Jahrhundert herrscht der perlokutive Gebrauch vor. Wörterbücher des Ostslavischen und Kirchenslavischen führen als wichtigste Bedeutungen des Verbs vor allem betrügen (obmanyvat’), verwirren (soblaznjat’), jemanden durch List zu etwas überreden (pobuždat’ k čemul. xitrost’ju) und für das Substantiv lest’ die Bedeutung Betrug (obman) auf (vgl. Slovnik 1977: 561; Slovar’ 1981: 323; Slovar’ 1991: 449–451; Sereznevskij 1895: 67– 68; Gil’tebrandt 1883: 993; D’jačenko 1900: 281). Der l’stecъ gilt als Betrüger, der l’stitel’ als einer, der in Verwirrung führt und betrügt (Slovar’ 1981: 322–323, Slovar’ 1991: 451). L’stecъ ist eine der Bezeichnungen für den Teufel oder auch den Antichristen (Sereznevskij 1895: 69). Heute tritt das Verb l’stit’ dagegen vor allem in der nicht präfigierten Form in der Bedeutung von schmeicheln, also als Illokutiv auf. Es bezeichnet kommunikative Handlungen, deren mögliche und in der Regel wohl auch intendierte Effekte wie VERFÜHREN oder ÜBERLISTEN weder eine notwendige Intention noch ein notwendiger Effekt sind. Im Standardwörterbuch des Russischen von Sergej Ožegov und Natal’ja Švedova wird die Bedeutung von l’stit’ deshalb umschrieben als 1. loben aus dem eigennützigen Wunsch, sich oder einer starken Persönlichkeit zu gefallen, und 2. jemandem das Gefühl einer Befriedigung zu geben (http://ozhegov.info/slovar/?q=льстить [Zugriff: 19.06.2021]). In ähnlicher Weise hatte bereits Vladimir Dal’ im 19. Jahrhundert in seinem Erklärungswörterbuch des Großrussischen (Tolkovyj slovar’ velikogo russkogo jazyka) lest’ unter anderem als unaufrichtiges Lob, vorgetäuschte Zustimmung, eigennütziges Lob (proisklivaja xvala; pritvornoe odobrenie; poxvala s korystnoju cel’ju) definiert. Die Funktionsverschiebung vom Perlokutiv zum Illokutiv vollzog sich im 17. Jahrhundert. Als erster Beleg für den illokutiven Gebrauch von l’stit’ mit der Bedeutung schmeicheln wird im Slovar’ (1981), das die Lexik vom 11. bis zum 17. Jahrhundert erfasst, eine Stelle aus den Pskover Chroniken (Pskovskie Letopisi) des 14. bis 17. Jahrhunderts zitiert, die auf das Jahr 1607 datiert ist. (8) Und Petr Šeremetev verließ sich in allem auf die großen Männer, und die schmeichelten ihm in allem und verwöhnten ihn, und den kleinen Leuten drückten sie alles auf und riefen ihren Groll hervor. (Slovar’ 1981: 323) Das umfangreiche Wörterbuch des Russischen des 18. Jahrhunderts (Slovar’ 2001) dokumentiert die in dieser Zeit bereits vollständig vollzogene Funktionsverschiebung. An erster Stelle der Bedeutungsbeschreibung steht nun (schein-

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heiliges) loben (vosxvaljat’), also die illokutive Funktion, und erst an zweiter das perlokutive betrügen (obmanyvat’) (Slovar’ 2001: 5–6). In der Literatur des 18. Jahrhunderts finden sich zahlreiche Belege für l’stit’ zur Bezeichnung falscher Schmeichelei in betrügerischer Absicht. Die Unterstellung der allseitigen Schmeichelei wurde zum Topos der Kritik insbesondere der höfischen Kommunikation. Der Komödienschreiber und Satiriker Denis Fonvizin leitete seine spöttische Hofgrammatik (Pridvornaja Grammatika) mit einer Definition ein, in der das Schmeicheln zunächst als Definiens erscheint und dann selbst als dem Schmeichler nützliche Lüge definiert wird. (9) Frage. Was ist die Hofgrammatik? Antwort. Die Hofgrammatik ist die Wissenschaft, geschickt im Sprechen und mit der Feder zu schmeicheln (xitro l’stit jazykom i perom). Frage. Was heißt geschickt zu schmeicheln? Antwort. Es bedeutet, eine solche Lüge (lož’) zu sagen und zu schreiben, die dem Höhergestellten angenehm und dem Schmeichler nützlich ist. (Fonvizin 1959/2: 48) Fonvizins Zeitgenosse, der Publizist Nikolaj Novikov, beschrieb den Hof als ein System des Betrugs aller gegen alle, in dem die Schmeichelei zur allgemeinen Charaktereigenschaft geworden sei: (10) Der höfische Mensch schmeichelt allen (vsem l’stit), sagt nicht, was er denkt, erscheint allen freundlich und zu diensten, obwohl er sich in höchstem Maße in seinem Stolz aufbläht. Er macht allen die schönsten Hoffnungen und hat sie alsbald vergessen; er verspricht allen alles und hält doch nie sein Wort; er hat keine wirklichen Freunde, sondern umgibt sich nur mit Schmeichlern (imeet l’stecov), und schmeichelt auch selbst (sam takže l’stit) und macht sich bei beliebigen Leuten liebkind [...] (Novikov 1961: 16) Das Schmeicheln erscheint als zwar verachtete, aber notwendige Erfolgsstrategie im Kommunikationsraum des Hofes, zum Beispiel in Fonvizins Anweisungen des Onkels an seinen Neffen (Nastavlenie djadi svoemu plemjanik): (11) Mein schmeichelhaftes Lob (l’stivye poxvaly moi), mit dem ich meine Vorgesetzten schamlos bedachte, verschaffte mir bald ihr Vertrauen. (Fonvizin 1959/2: 76) Das Ziel ist, die Kommunikation und die an ihr Beteiligten im hierarchischen System des Hofes zu beherrschen. Die Schmeichler nehmen damit in gewisser Weise

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die Rolle der Dämonen in den mittelalterlichen Texten ein. In Fonvizins Komödie Der Landjunker (Nedorosl’) wird der Schmeichler als „Dieb in der Nacht“ charakterisiert, der den Verstand der Menschen verblendet. (12) Der Schmeichler ist ein Geschöpf, das nicht nur keine gute Meinung von anderen hat, sondern auch von sich selbst. Sein ganzer Wunsch ist es, zuerst den Verstand eines Menschen zu verblenden, um dann aus ihm zu machen, was er braucht. Er ist ein Dieb der Nacht, der erst eine Kerze auslöscht und dann zu stehlen beginnt. (Fonvizin 1959/1: 168) Es gibt eine Analogie zwischen der Darstellung kommunikativen Handelns in Texten wie der Nestorchronik oder Avvakums und der Kritik der höfischen Kommunikation in der Gegenüberstellung von kommunikativ beherrschenden und kommunikativ beherrschten Subjekten, an denen nicht transaktional perlokutiv gehandelt wird. In der Darstellung der höfischen Kommunikation im 18. Jahrhundert sind jedoch die Schmeichler und Verblender, die die Kommunikation dominieren, hierarchisch subordiniert und somit weniger mächtig als die von ihnen kommunikativ Beherrschten – im Unterschied zum Teufel in der mittelalterlichen Perlokutionsdramatik. Es gibt keine religiöse Dimension in der Hofkritik. Sie bleibt ausschließlich immanent. Das kommunikative Handeln ist eine allein menschliche Angelegenheit. Damit rückt das kommunikative Handeln als solches in den Fokus, während in den mittelalterlichen Texten die Wirkung des Handelns im Zentrum steht. Dieser Perspektivwechsel von der Wirkung zur Handlung erklärt die pragmasemantische Funktionsverschiebung des Verbs l’stit’ vom Perlokutiv (verführen) zum Illokutiv (schmeicheln).

4 Schmeicheln und Betrügen. Kommunikationsbewertungen als Säkularisierungseffekte Die Verschiebung der pragmasemantischen Funktion und der narrative Perspektivwechsel von der Fokussierung auf kommunikative Wirkungen zu kommunikativen Handlungen hat verschiedene Gründe. Beides kann auf unterschiedliche literarische Genres – Chronik und Vita einerseits, narrative Prosa, Satire und Komödie andererseits – ebenso zurückgeführt werden wie auf gesellschaftlichen Wandel, denn falsche Schmeichelei ist ein Topos der Hofkritik, der im 18. Jahrhundert an Bedeutung gewann, seitdem die Reformen Peters I. dem Einzelnen

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erhebliche Aufstiegsmöglichkeiten innerhalb der Adelshierarchie ermöglichten – Aufstiegsmöglichkeiten, die die Protektion durch hierarchisch übergeordnete Gönner voraussetzten. Eine wesentliche Ursache der pragmasemantischen Funktionsverschiebung des Lexems l’stit’ ist aber auch der Säkularisierungsschub, der sich in der Frühen Neuzeit in Russland ebenso vollzog wie in Westeuropa. Die pragmatische Verschiebung stellt sich von daher vor allem als Säkularisierungseffekt dar, d. h. in diesem Fall als eine Folge der Säkularisierung im kommunikativen Handeln, die sich auch in der Semantik perlokutiver und illokutiver Verben niederschlägt. Die Säkularisierung zeigt sich nicht nur darin, dass aus den Texten das Wirken transzendenter Mächte verschwindet und die Lebenswelt gleichsam desakralisiert wird (Marramao 1999: 118–119), sondern auch darin, dass das Religiöse in den karrieristischen, politischen und persönlichen Belangen im Kontext von Hof und staatlicher Verwaltung keine sichtbare Rolle mehr spielte, was vor allem auf die von Peter Berger u. a. festgestellte Pluralisierung der Lebenswelten (Berger, Berger & Kellner 1973; Pannenberg 1988: 41) bzw. die von Niklas Luhmann diagnostizierte fortschreitende funktionale Differenzierung gesellschaftlicher Bereiche seit der Frühen Neuzeit (Luhmann 1982: 231–239) zurückzuführen sein dürfte (vgl. auch Kuße 2011, 2012, 2014). Religion als Option und nicht mehr gesellschaftliche Notwenigkeit (Taylor 2009: 14) kann zwar für den Einzelnen handlungsleitend sein – als „Privatsache“ –, wird aber zum Kuriosum als offene Handlungsmaxime in der öffentlichen Kommunikation. Fedor Dostoevskij hat das Mitte des 19. Jahrhunderts in seinem Roman Der Idiot (Idiot) an der Person des glücklosen Fürsten Myškin narrativ vorgeführt. Im desakralisierten Kontext des Hofes und schließlich der öffentlichen Kommunikation in ihrer Gesamtheit wird der Einzelne zum Handelnden, der im „Vorschreiten des Säkularisierungsvorgangs“ immer mehr Verantwortung übernehmen (Werhahn 2012: 62) und sein kommunikatives Handeln an die Erwartungen seiner Umgebung anpassen muss. Die kommunikativ Handelnden sehen sich also gesellschaftlich-systemischen Zwängen ausgesetzt, sind aber in ihrer Kommunikation nicht determiniert, sondern können strategisch im Hinblick auf ihren kommunikativen Erfolg vorgehen. Es liegt daher nahe, dass für den auf das Gesamtgeschehen der Kommunikation gerichteten Blick der Literatur vor allem das kommunikative Handeln der Akteure von Interesse war und in diesem Rahmen ein Verb wie l’stit’ eher als Bezeichnung eines Handlungsvollzugs, denn als Bezeichnung einer Wirkung verwendet wurde. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts erfasste die literarische Kommunikationskritik immer weitere gesellschaftliche Kreise und richtete sich in der russischen Literatur besonders auf das Beamtentum, den Landadel und die Anfänge des städtischen Bürgertums. Die radikale Kommunikationskritik, wie sie bei Gogol’, Dostoevskij oder Tolstoj zu finden ist (Kuße 2010: 16–25; 2015; 2021: 47–56), ist

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nicht auf die russische Literatur beschränkt. Zu denken ist etwa an August Strindberg und Henrik Ibsen oder auch an Søren Kierkegaard und Friedrich Nietzsche. Vor dem Hintergrund der Säkularisierung ist aber bemerkenswert, dass die Kommunikationskritik zumindest bei Dostoevskij und Tolstoj auch wieder eine religiöse Dimension aufweist und aus einer jeweils spezifischen christlichen Position heraus formuliert wird. Es kommt also zu einer Resakralisierung des Blicks, ohne dass freilich transzendente Mächte in den Diskurs als Handelnde zurückkehren. Die Legende vom Großinquisitor in Dostoevskijs Die Brüder Karamazov (Brat’ja Karamazovy), in der Christus leibhaftig auftritt, bleibt dezidiert eine – in der Vergangenheit und in der Ferne (in Spanien) angesiedelte – Legende. Das Gleiche lässt sich bei Lev Tolstoj beobachten, der seine radikale Kultur- und Kommunikationskritik explizit in seinem essayistischen und aphoristischen Spätwerk formulierte, in dem er mit den Schlüsselwörtern betrügen (obmanyvat’) und Betrug (obman) wieder mehr die Wirkung als den äußeren Akt kommunikativen Handelns in Blick nahm. Die Kritik blieb dennoch immanent. Das menschliche Handeln wird in Tolstojs Schriften wie etwa Das Reich Gottes ist in euch (Carstvo Bož’e vnutri vas), Der Weg des Lebens (Put’ žizni) oder Na každyj den’ (Für jeden Tag) an religiös-moralischen Maßstäben, unter anderem an der Bergpredigt Jesu, gemessen, aber es bleibt als Betrug aller gegen alle ausschließlich menschliches Handeln. Menschen betrügen sich selbst und ihre Mitmenschen und versuchen sogar Gott zu betrügen. (13) Wenn ein Mensch mit Gebeten und Ritualen Gott gefallen will, bedeutet das, dass er Gott betrügen will (xočet obmanut’ Boga). Aber man kann Gott nicht betrügen (Boga nel’zja obmanut’), du betrügst nur dich selbst (obmanyvaeš’ tol’ko sebja). (Tolstoj 1956: 26) (14) Wer sagt, dass er Gott liebt, aber seinen Nächsten nicht liebt, betrügt die Menschen (obmanyvet ljudej). Wer sagt, dass er seinen Nächsten liebt, aber Gott nicht liebt, betrügt sich selbst (obmanyvaet samogo sebja). (Tolstoj 1956: 75) (15) Die Menschen führen Streit miteinander und wissen, dass das nicht gut ist, und um sich selbst zu betrügen (čtoby obmanut’ sebja), um ihr Gewissen zum Schweigen zu bringen, denken sie sich Rechtfertigungen für ihre Feindseligkeit aus. (Tolstoj 1956: 180) In Tolstojs Religion, in der von Transzendenz am ehesten im Sinne von „außerweltliche[r] Innerweltlichkeit“ (Lasch 2017: 242) gesprochen werden kann, erscheint Gott als Gegenüber, das vom Menschen betrogen wird, und als Gegenstand von Aussagen (als Objekt der Liebe), aber nicht als kommunikativ Handelnder. Die negative Bewertung menschlicher Kommunikation erstreckt sich

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allein auf ihre mangelnde Aufrichtigkeit, die zwar auch eine religiös-moralische Forderung darstellt, als Wert jedoch nicht dezidiert religiös ist. Insofern geschieht auch die religiös eingebettete radikale Kommunikationskritik Tolstojs unter dem Vorzeichen der Säkularisierung.

5 Propaganda und Zombierung. Das neue Mittelalter in der Kommunikationsbewertung Betrügen ist ein nicht transaktionales Perlokutiv, da sich kaum jemand willentlich betrügen lässt. In Tolstojs Kommunikationskritik lautet der Vorwurf jedoch, dass alle willentlich alle und sogar sich selbst betrügen, um gegen ihre eigenen moralischen Maßstäbe handeln zu können. Diese radikale Kritik erstreckt sich über den zwischenmenschlichen Umgang hinaus auch auf alle Institutionen: die Kirche, die Schule und ganz besonders das Recht, das Tolstoj als grobe Rechtfertigung von Gewalt verurteilte (Tolstoj 1936; Kuße 2018; 2021: 49). Tolstojs Institutionenkritik wies auf eine Dimension perlokutionären Handelns voraus, die nach dem Ersten Weltkrieg zur Methode wurde. Zeitgleich in den USA und in der Sowjetunion erschienen 1928 Edward Bernays wirkungsmächtige Handreichung Propaganda und Afanasij Seliščevs Beschreibung der kommunistischen Propaganda und Agitation, Die Sprache der revolutionären Epoche (Jazyk revoljucionnoj ėpoxi). War für Seliščev Propaganda ein vor allem deskriptiver und für Bernay ein axiologisch positiver Begriff, da die “manipulation” der Stärkung der “democratic society” dienen sollte (Bernays 1928: 9), so ist heute Propaganda überwiegend negativ besetzt. Dass sich große Menschenmassen in ihrem Verhalten durch gezielte Eingriffe in die öffentliche Kommunikation, von der Wortschöpfung bis hin zur Etablierung bestimmter Textformate (Werbung, politische Agitation), steuern lassen können, erscheint nicht mehr als gesellschaftliche Chance, sondern als Bedrohung, was nicht nur mit der Erfahrung der Schreckensregime des 20. Jahrhunderts, sondern auch mit der Expansion und, damit verbunden, zunehmenden Anonymisierung der massenmedialen Möglichkeiten vom Rotationsdruck über Radio und Fernsehen bis hin zu den sozialen Medien der Gegenwart zu tun hat. In der Erwartung, dass Medien manipulieren bis hin zu den Verschwörungserzählungen der Gegenwart kehrt die Vorstellung, dass dem Einzelnen nicht verfügbare Mächte das Denken und Handeln nicht transaktional beeinflussen oder sogar determinieren, wieder. Im Russischen hat sich dafür ein Neologismus aus dem Horrorgenre etabliert: zombieren (zombirovat’) und Zombierung oder Zombifizierung (zombirovanie, zombificirovanie), womit gemeint ist, dass Menschen durch den Medienkonsum einer Gehirnwäsche unterliegen und

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sie zum Zombie gemacht werden. Das Fernsehen hat den ironischen Spitznamen Zombiekasten (zombijaščik). Das Verb wird im Online-Wörterbuch Vikislovar’ als Verlust des eigenen Willens durch die mediale Propaganda definiert und wird auch in diesem Sinne verwendet. (16) Zom-bier-en (zom-bi-ro-vat’): durch Überredung oder eine andere Einwirkung jemanden zwingen, blind oder ohne Überlegung jemandes Willen zu erfüllen. (https://ru.wiktionary.org/wiki/викисловарь [Zugriff: 19.06.2021]) (17) Das Fernsehen zombiert die Menschen … (https://investobox.ru/televidenie-zombiruet-lyudej/ [Zugriff: 19.06.2021]) (18) Der Mensch unterwirft sich ja, ohne das selbst zu bemerken, einer massiven hypnotischen Zombierung ... (https://rgdn.info/televidenie_-_sredstvo_poraboscheniya_mass [Zugriff: 19.06.2021]) Der Neologismus zombirovat’ bringt als axiologisch negatives nicht transaktionales Perlokutiv die anonyme Macht zum Ausdruck, die in der gegenwärtigen Medienkritik nicht nur in Russland zum Teil der gesamten öffentlichen Kommunikation unterstellt wird. Der Blick in die Perlokutionsgeschichte im Kontext von Sozialund Religionsgeschichte lässt somit den Wandel von der Nicht-Transaktionalität im Kontext religiöser Bewertungen der Kommunikation im Mittelalter und der Frühen Neuzeit zur (zumindest potentiellen) Transaktionalität in der metakommunikativen Axiologie der höfischen Kommunikation im 18. Jahrhundert und der radikalen Kommunikationskritik im 19. und frühen 20. Jahrhundert und danach zu einer neuen Nicht-Transaktionalität in der Medien- und Propagandakritik der Gegenwart erkennen. Die mediale Kommunikation selbst tritt in der radikalen Medienkritik an die Stelle des Teufels der mittelalterlichen Textwelt. In diesem Sinne lässt sich von einem neuen Mittelalter in der Konzeptualisierung von Kommunikation sprechen, in der sich der Einzelne unverfügbaren Mächten schutzlos ausgeliefert sieht – mit dem Unterschied, dass diese Mächte heute nicht mehr transzendent, sondern weltimmanent gedacht sind.

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| Teil IV: Perspektiven und Ausblicke

Franc Wagner

Metaphernszenarien der Transzendenz Die Metaphorisierung des Jüngsten Gerichts in klassischen Mythen

1 Einleitung Das Thema dieses Beitrags sind Metaphernszenarien der Transzendenz. Transzendenz wird dabei stark vereinfacht als Übergang von der Welt der Lebenden in diejenige der Toten und vice versa verstanden.¹ In den abrahamitischen Religionen wird dieser Übergang als der Jüngste Tag oder als das Jüngste Gericht bezeichnet. In den entsprechenden Szenarien entscheidet, stark vereinfacht, Gott als Richter, wer in den Himmel und wer in die Hölle kommt. Narrationen des Jüngsten Gerichts sind aber außer in Texten der abrahamitischen Religionen auch in zahlreichen weiteren Religionen zu finden. Daher eignen sie sich besonders für einen Vergleich und sollen hier paradigmatisch für religiöse Narrationen der Transzendenz untersucht werden. Der Gegenstand dieses Beitrags sind Metaphernszenarien in mythischen Narrationen des Jüngsten Gerichts. Unter Metaphernszenarien verstehen wir eine spezielle Form von metaphorischen kognitiven Schemata, mit welchen auf der Basis von semantischen Strukturen Wissen gespeichert und überliefert werden kann. Der hier verwendete Metaphernbegriff basiert auf den Grundlagen der von Lakoff und Johnson begründeten kognitiven Metapherntheorie (Vgl. Lakoff & Johnson 1980, 1982, 1999; Lakoff 1987), unterscheidet sich davon allerdings in einigen Aspekten. So verwenden wir als kognitiven Hintergrund keine Metaphernmodelle (ICMs), sondern kognitive Schemata, die wir als Szenarien bezeichnen. Ähnlich wie in Frames kann darin flexibel Wissen gespeichert werden, da Szenarien Leerstellen für die semantische Integration der an einer Handlung beteiligten Personen und Objekte enthalten. Im Unterschied zu Frames können mit Szenarien auch dynamische Objekte repräsentiert werden wie z. B. Handlungen und Ereignisse aller Art.²

1 Für einen differenzierteren Begriff vgl. Faulconer (2003). 2 Für eine ausführlichere Darstellung des Begriffs Metaphernszenario vgl. Wagner (2019: 234– 237). https://doi.org/10.1515/9783110604696-012

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Unter Narration soll die konkret ausgeformte Strukturierung eines Textes³ durch Bezüge zwischen Personen und deren Handlungen verstanden werden. Die Interpretation einer Narration ist immer an die jeweilige Kultur und Einzelsprache gebunden. Eine Narration ist meist aus mehreren Metaphernszenarien aufgebaut und verbindet diese zu einer einheitlichen Geschichte. Dazu braucht es dramaturgische Gestaltungselemente wie z. B. Einleitung, Schluss und einen narrativen Spannungsbogen. Die Metaphernszenarien repräsentieren die einzelnen Handlungen und die daran beteiligten Personen auf einer abstrakteren kognitiven Ebene. Sie sind weitgehend unabhängig von der Einzelsprache, in welcher die Narration realisiert ist. Damit eine Narration zum Mythos wird, bedarf sie der Autorisierung als Deutungsschema durch eine relevante Person oder Institution. Erst dadurch erlangt eine Narration die überindividuelle Geltung eines Mythos und wird dann in der Regel auch weitertradiert. Die leitende Fragestellung unseres Beitrags lautet, woher unsere heutigen Vorstellungen des Jüngsten Gerichts stammen und mit Hilfe welcher Metaphernszenarien diese in der Vergangenheit in der einen oder anderen Weise bereits sprachlich realisiert und tradiert worden sind. Die angewandte Methodik ist eine historische Metaphernanalyse, welche zum Ziel hat, die kognitiven Metaphernszenarien zu identifizieren, die den zentralen Narrationen der relevanten Mythen zugrunde liegen. Den Analysegegenstand bilden also mündlich und schriftlich überlieferte Texte und deren Übersetzungen in verschiedene Sprachen, aus unterschiedlichen Epochen und aus mehreren Kulturen. Der empirische Zugang ist ein vermittelter und dadurch einigen Unwägbarkeiten ausgesetzt, da sowohl historische als auch sprachliche Überlieferungen sowohl fehleranfällig als auch interpretationsbedürftig⁴ sind. Dabei gilt: Umso weiter wir in der Geschichte zurückgehen, desto unsicherer wird die Quellenlage. So existieren etwa längst nicht zu allen Texten des Altertums zeitgenössische schriftliche Fassungen, da viele damals mündlich tradiert und erst später schriftlich fixiert wurden.⁵ Das wohl bekannteste Beispiel eines mündlich tradierten und mehrfach übersetzten Textes, der erst spät verschriftlicht wurde, ist die Bibel. Das Alte Testament wurde ursprünglich auf Hebräisch und auf Aramäisch verfasst. Es basiert auf den Heiligen Schriften des Judentums, die seit ca. 100 v. Chr. als jüdischer Tanach bezeichnet wurden, und in Teilen auch auf der ca. 250 v. Chr. entstandenen Septuag-

3 Als Text bezeichnen wir sowohl schriftliche als auch mündliche Werke. Vgl. auch Wagner (2016a). 4 Zur Problematik der Interpretation und des Kontextbezugs vgl. auch Wagner (2010). 5 Auch die Charakteristika mündlicher und schriftlicher Texte spielen hierbei eine Rolle, auf die in diesem Beitrag allerdings nicht eingegangen werden kann.

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inta, der ältesten Übersetzung des Tanach ins Altgriechische. Die endgültige Kanonisierung der Bibel⁶ erfolgte erst um 350 n. Chr. Der Tanach hingegen entstand als eine Sammlung profaner und religiöser jüdischer Schriften über einen Zeitraum von ca. 1200 Jahren. Seine ältesten Bestandteile sind mündlich überlieferte Sagen verschiedener Stämme Israels und wurden später in eine Heilsgeschichte integriert und verschriftlicht. Die bislang ältesten bekannten vollständigen Bibeltexte sind die ca. 250 v. Chr. bis 100 n. Chr. entstandenen Schriftrollen vom Toten Meer.⁷

2 Früheste bekannte Metaphorisierungen des Jüngsten Gerichts Zum Erfassen der potenziellen Einflüsse auf die Vorstellungen vom Jüngsten Gericht in der Bibel ist es notwendig, sich mit der Frühgeschichte jener kulturellen Region zu befassen, in welcher der jüdische Tanach entstanden ist. Dabei kann sich die Erkundung nicht auf den Siedlungsraum der Hebräer⁸ beschränken, denn dieser lag in unmittelbarer Nachbarschaft der damaligen Großmächte Ägypten, Assur und Babylon, mit welchen ein Austausch bestand. Das Buch Exodus⁹ schildert beispielsweise die Entstehung des Judentums, mit dem von Moses angeführten Auszug der Hebräer aus Ägypten. Der Exodus ist zwar historisch nicht nachweisbar, aber es existierte vermutlich tatsächlich eine Phase des ägyptischen Exils,¹⁰ während der die Hebräer mit der altägyptischen Sagen- und Götterwelt in Kontakt kamen. Die altägyptische Kultur¹¹ wurde ihrerseits von den Hochkulturen der Sumerer und Assyrer beeinflusst und sie übernahm von ihnen wichtige kulturelle Techniken.¹² Zu Beginn dieses Beitrags werden daher Mythen aus alten orientalischen Kulturen analysiert.

6 Vgl. hierzu auch Dohmen (2011). 7 Die in Höhlen des Westjordanlands entdeckten nach dem Fundort benannten Qumran-Rollen. 8 Der Name des Volks Israel in der Bibel. 9 Der Exodus ist das zweite Buch des Tanach. Vgl. zur Entstehung auch Fischer & Markl (2009). 10 Hoffmeier (2005: 235) geht davon aus, dass ein Teil der Hebräer zeitweise in Ägypten lebte. 11 Als mythologischer Gründer Ägyptens gilt König Menes, der um 3000 v. Chr. Ober- und Unterägypten zu einem Großreich vereint haben soll. 12 Z. B. die Einteilung der Stunde in 60 Minuten und der Woche in 7 Tage. Vgl. u. a. Demandt (2015).

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2.1 Sumerischer Mythos: Inannas Gang in die Unterwelt Eines der ältesten uns bekannten Schriftsysteme ist die sumerische Keilschrift und entsprechend sind die ältesten schriftlich überlieferten religiösen Mythen sumerische. Aus der altakkadischen Zeit ist einer der frühesten Mythen mit Elementen des Jüngsten Gerichts überliefert: der sumerische Hymnus von Inannas Gang in die Unterwelt (Vgl. Wolkenstein & Kramer 1983: 51–89). Dieser wurde in Form eines Lobgesangs auf Ereškigal, die Herrin der Unterwelt, überliefert und um etwa 2350–2154 v. Chr. auf Tontafeln in Keilschrift notiert. Der Mythos erzählt, wie die Göttin Inanna¹³ vom Himmel über die Erde in die Unterwelt reist, um dort ihrer Schwester Ereškigal die Herrschaft über die Unterwelt streitig zu machen. Eine wichtige Rolle spielt im Mythos u. a. die Zahl Sieben, die auch in der Genesis¹⁴ bei der Schilderung der Erschaffung der Welt eine zentrale Rolle spielt. So wappnet sich Inanna für Ihre Reise mit sieben göttlichen Kräften in Form von Kleidern und Schmuck. Als sie an das vom Wächter Neti bewachte Tor zum Palast der Unterwelt kommt, erklärt sie diesem, sie wolle an der Totenfeier für Gugalanna, den verstorbenen Gatten ihrer Schwester, teilnehmen. Als Ereškigal diese Lüge ihrer Schwester erfährt, beschließt sie, sich an ihr zu rächen. Inanna wird in die Unterwelt eingelassen, muss aber durch sieben Tore gehen und bei jedem Tor verliert sie eine ihrer göttlichen Kräfte (ein Kleidungs- oder Schmuckstück), sodass sie am Ende völlig wehrlos, d. h. ohne Kleider dasteht. Den geforderten Thron der Unterwelt verwehren ihr die sieben Unterweltrichter (Anunnaki). Diese verurteilen sie zum Tod und vollstrecken das Urteil sogleich. Die leblose Inanna wird dann dank der Intervention eines Boten des Gottes Enki¹⁵ von Ereškigal selbst wiederbelebt und aus der Unterwelt zurückgeholt. Inanna darf nach einem Urteil der Totenrichter die Unterwelt aber nur im Austausch gegen ein Ersatzopfer verlassen und ihre Wahl fällt auf ihren Geliebten Dumuzi¹⁶. Ihre Wahl stellt ihrerseits eine Rache dar, denn Dumuzi hat offenbar nicht genügend um Inanna getrauert. Gegen diese Wahl wehrt sich aber Belili, die Schwester von Dumuzi erfolgreich. Inanna hat zudem nicht bedacht, dass während Dumuzi in der Unterwelt ist, auf der Erde kein Getreide wachsen kann. Als Kompromiss müssen fortan Inanna und Dumuzi abwechselnd jeweils ein halbes Jahr in die

13 Inanna ist u. a. die sumerische Göttin des Himmels und der Erde. 14 Die Genesis ist das erste Buch des jüdischen Tanach, des samaritanischen Pentateuch wie auch des christlichen Alten Testaments. 15 Gott der Weisheit und mythischer Schöpfer der Menschen. 16 Gott der Vegetation und der Hirten.

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Unterwelt hinabsteigen. So erklärt der Mythos auch die stete Abfolge von Sommer und Winter auf der Erde.¹⁷ Im Mythos der Inanna sind bereits wichtige Elemente des in den abrahamitischen Religionen zentralen Metaphernszenarios des Jüngsten Gerichts vorhanden. So etwa die Dichotomie von Himmel und Unterwelt, wobei die Unterwelt damals als das unter der Erde liegende Reich der Toten verstanden wurde. In der Unterwelt werden die Verstorbenen von Torwächtern empfangen und von Totenrichtern gerichtet. Danach verbleiben sie dort und können nicht mehr auf die Erde zurückkehren. Inanna erleidet zunächst dasselbe Schicksal – sie wird getötet – kann aber dank des Boten ihren Körper zurückerhalten und wieder auf die Erde zurückkehren. Somit ist auch die Idee der Wiederauferstehung bereits angelegt, und die Symbolik der Zahl Sieben spielt hier auch bereits eine wichtige Rolle.

2.2 Assyrischer Mythos: Ištars Höllenfahrt Aus der neuassyrischen Zeit (8.–7. Jh. v. Chr.) ist aus Babylon ein sehr ähnlicher Mythos von der Göttin Ištar¹⁸ überliefert (Vgl. Kaiser 1997). Darin steigt Ištar in die Unterwelt hinab, welche auch hier von ihrer Schwester Ereškigal beherrscht wird. Als Göttin des Krieges droht sie, die Tore zur Unterwelt einzureißen. Sie wird eingelassen, muss aber an jedem der sieben Tore eines ihrer sieben königlichen Insignien¹⁹ zurücklassen, sodass sie am Schluss nackt und wehrlos dasteht. Auf Befehl Ereškigals wird sie mit 60 Krankheiten infiziert, an denen sie stirbt. Danach wird ihr Körper in einen Wasserschlauch verwandelt. Da Ištar auch die Göttin der Liebe ist, können sich daraufhin weder Mensch noch Tier fortpflanzen. Der Gott Ea²⁰ erschafft deshalb den Lustknaben Aṣu-šu-namir, der Ereškigal beeinflussen, Ištars Leiche stehlen und diese dann aus der Unterwelt zurückbringen soll. Aṣušu-namir gelingt zwar der Diebstahl, aber er wird von Ereškigal dafür verflucht. Unter der Bedingung, dass Ištar nie mehr in die Unterwelt zurückkehrt, belebt Ereškigal Ištar mit den Wassern des Lebens wieder. Ištar muss ihre Niederlage eingestehen und kann daraufhin in den Himmel zurückkehren. So wird auch in dieser Version Inanna/Ištar gerettet, im Unterschied zur sumerischen Version wird aber mit einer List erreicht, dass Ereškigal Ištar in ihre Menschengestalt zurückverwandelt. Zur Rolle von Dumuzi/Tamuz existieren widersprüchliche Angaben. In einer Variante fehlt dessen Tauschhandel mit der Un-

17 Vgl. hierzu den Demeter-Mythos. 18 Ištar ist der akkadische Name für Inanna. 19 Halskette, Ohrringe, Diadem, Gürtel, Fibel, Armreifen, Fußreifen und Kleider. 20 Ea ist der akkadische Name für Enki.

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terwelt. In einer anderen Variante verlangen aber die Ahnen in der Unterwelt ein Ersatzopfer, und zwar ebenfalls Dumuzi/Tamuz. Dieser ist auch in dieser Variante der Geliebte Inannas/Ištars, und er wird wiederum von seiner Schwester Belili/Geštinanna verteidigt. In der akkadischen Version des Mythos überwiegen dieselben Bestandteile des Metaphernszenarios wie in der sumerischen: Die Abfolgen der Handlungen sind beinahe identisch, lediglich deren Ausgestaltung variiert. Auch die ProtagonistInnen sind größtenteils dieselben, mit einigen Abweichungen bei den Nebenfiguren. Somit folgen beide Varianten mit leichten Variationen einem gemeinsamen Schema, obwohl beinahe 1500 Jahre zwischen der Entstehung der beiden Mythen vergangen sind. Die Frage, wie es möglich ist, dass Mythen über eine so lange Zeit überleben können, lässt sich nur mittels Annäherungen beantworten. Einerseits trägt wohl die schriftliche Fixierung einen großen Teil dazu bei, wobei natürlich die Sprache in dieser Zeitspanne auch einem Wandel unterlag. Zudem konnten damals nur wenige überhaupt lesen oder hatten Zugang zu den religiösen Schriften. Ein großer Teil der Tradierung wird daher mündlich erfolgt sein. Wolkenstein & Kramer (1983: 156) weisen darauf hin, dass das Narrativ eines Gangs in die Welt unter der Erde in vielen traditionellen Gesellschaften als Initiationsritus bekannt war, und jeweils einem ähnlichen Schema folgte. Wer aus der Unterwelt wiederkehrte, trug das Wissen der Wiedergeburt in sich und hatte während seiner Reise oft eine neue Weltsicht entwickelt. Das Vorhandensein eines allgemein bekannten Schemas für den Übergang in die Unterwelt würde die überaus lange Tradierung des Mythos der Inanna erklären. Denn ein Schema sorgt für Konsistenz und ist somit leichter memorierbar als eine Erzählung aus unterschiedlichen Bestandteilen. Wichtig für unsere Fragestellung ist dabei, dass nicht nur die Narrationen sehr ähnlich sind, sondern auch die zugrunde liegenden Metaphorisierungen. So sind etwa nicht nur die zentralen ProtagonistInnen beinahe identisch, sondern auch deren Attribute wie beispielsweise Inannas/Ištars Insignien der Macht, welche aus kostbarem Schmuck und Kleidern bestehen.

2.3 Totenbücher im Frühen Ägyptischen Reich Die altägyptischen Transzendenzvorstellungen sind zeitlich nach dem sumerischen und akkadischen Mythos entstanden. Davon Kenntnis haben wir aus den Wandinschriften in alten Pharaonengräbern und aus den sogenannten Totenbüchern, welche die Reise der Toten durch die Unterwelt darstellen.²¹ Der Übergang 21 Erste eigenständige Totenbücher entstehen zu Beginn der zweiten Zwischenherrschaft, ca. 1700 v. Chr.

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ins Totenreich wird darin als Abhalten eines Gerichts²² mit den altägyptischen Göttern als Richter und Beisitzende und als eine anschließende Reise durch die Unterwelt metaphorisiert.²³ Das Gericht leitet Osiris²⁴ und das Gerichtsverfahren wird von Anubis durchgeführt, indem er die Ba-Seele²⁵ des Verstorbenen gegen eine Feder der Ma’at²⁶ wiegt. Überwacht wird die normierte Prozedur von Horus²⁷ und das Resultat der Wägung wird von Thot²⁸ notiert. Wenn die Ba-Seele schwerer wiegt als die Feder von Ma’at, dann war sie mehr verdorben als gut und darf nicht weiterreisen, sondern wird sogleich von Ammut²⁹ verschlungen und bleibt in der ewigen Finsternis.³⁰ Wenn die Ba-Seele und die Feder aber dasselbe Gewicht aufweisen, dann stehen die Taten des Verstorbenen im Einklang mit Ma’at, und die Seele wird von Horus zum Thron des Osiris geleitet, der das Urteil verkündet. Danach darf die als gut beurteilte Ba-Seele weiterreisen durch den sogenannten lichterfüllten Bereich³¹ zum Paradies von Aaru,³² wo die Ba-Seele wieder mit dem Körper vereint wird.³³ Die altägyptischen Vorstellungen vom Übergang vom Leben in den Tod sind bestimmt von einem Totengericht, das über den weiteren Verbleib der Verstorbenen entscheidet. Die Szenarien sind denjenigen im Inanna/Ištar-Mythos somit nicht unähnlich. Im Unterschied dazu enthalten die altägyptischen Vorstellungen allerdings ein sehr detailliertes Metaphernszenario des Tribunals unter Beteiligung der wichtigsten Götter. Das zentrale Element des altägyptischen Szenarios ist das Wägen der Ba-Seele, die dadurch für gut oder schlecht befunden wird. Die Vorstellung der Waage als Instrument der Gerechtigkeit³⁴ findet sich auch in der Bibel. So etwa bei Hiob (31,6): „dann wäge Gott mich auf gerechter Waage, so wird er meine Unschuld anerkennen“, oder bei Daniels (5,27) Deutung des Menetekels: „Gewogen wurdest du auf der Waage und zu leicht befunden“. Eine

22 Zur Konzeption des Totengerichts vgl. u. a. Spiegel (1935). 23 Vgl. zum Folgenden auch Assmann (2001). 24 Der Gott des Todes und der Wiedergeburt. 25 Die Ba-Seele wird als Trägerin der Persönlichkeit eines Menschen betrachtet. 26 Ma’at ist die Göttin der Ordnung, Gerechtigkeit und Wahrheit. 27 Der Gott der Sonne. 28 Der Gott des Wissens. 29 Dämonin mit Krokodilkopf, halb Leopard, halb Nilpferd. 30 Dunkler Bereich des Totenbereichs Duat. 31 Sechet-iaru: Lichterfüllter Bereich des Duat. 32 Die ewigen Binsen-Gefilde: Eine Art Himmel im fernen Osten, wo die Sonne aufgeht. 33 Für eine ausführlichere Darstellung des altägyptischen Totengerichts vgl. Wagner (2016b). 34 Zur Bedeutung der Ma’at für das altägyptische Prinzip der Gerechtigkeit vgl. Assmann (2006: 15–35).

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weitere Ähnlichkeit³⁵ gibt es in der Form der Wiedergeburt. Auch in den altägyptischen Vorstellungen erhalten die als gut befundenen Seelen den Körper zurück. Allerdings erfolgt das Weiterleben nicht im Himmel, sondern im Paradies von Aaru, den ewigen Binsen-Gefilden.

3 Antike griechische Mythen Etwas später als die genannten Kulturen haben die Griechen ebenfalls eine eigene Schrift entwickelt. Zu den ältesten erhaltenen Texten gehören die beiden Epen Ilias und Odyssee, die zum Sagenkreis um den Trojanischen Krieg³⁶ zählen und Homer zugeschrieben werden. Beide Epen existierten wohl schon länger, wurden lange Zeit nur mündlich von Sängern³⁷ aus dem Gedächtnis vorgetragen³⁸ und erst zwischen dem 8. und 7. Jh. v. Chr. schriftlich fixiert. Auch in den antiken griechischen Texten finden sich Unterweltsmythen. So berichtet der letzte Gesang der Odyssee von einem Dialog zwischen Achilles und Agamemnon in der Unterwelt.

3.1 Orpheus und Eurydike im Hades Die Gestalt des Orpheus ist Protagonist mehrerer altgriechischer Mythen, u. a. auch der Argonautensage. Auch der Mythos des Orpheus beinhaltet seinen Gang in die Unterwelt und seine Wiederkehr auf die Erde, ähnlich wie in den sumerischen und akkadischen Mythen. Orpheus steigt darin in die Unterwelt hinab mit dem Ziel, seine Ehefrau Eurydike zu retten. Dank seiner Kunstfertigkeit im Spielen der Lyra kann er den Höllenhund Kerberos besänftigen und sogar Hades dazu bewegen, ihm seine Frau zurückzugeben. Die Bedingung allerdings ist, dass er sich auf dem Weg nach oben zur Erde nicht nach ihr umsieht. Da er sich trotzdem nach ihr umsieht, misslingt der Rettungsversuch.³⁹ Orpheus selbst kann aber unbeschadet zur Erde zurückkehren.

35 Zu Ähnlichkeiten mit dem Alten Testament vgl. Currid (1997). 36 Wird von der Forschung auf Ende 13. / Anfang 12. Jh. v. Chr. datiert. Vgl. dazu auch Strauss (2008). 37 Erst von den Aöden und später dann von den Rhapsoden. 38 Im Text fallen viele Wiederholungen auf, die als epische Formeln das Memorieren des Textes erleichtern. 39 Vgl. die Bestrafung des Ungehorsams von Lots Frau im Tanach / Alten Testament (Gen 19,1– 21).

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Im Orpheus-Mythos findet ebenfalls ein Übergang von der Erde in die Unterwelt und wieder zurück statt. Die Wiederauferstehung funktioniert allerdings nur bei Orpheus, nicht aber bei Eurydike. Im Mythos fehlt zwar das Element des Totengerichts, für den Wiederaufstieg wird aber von Hades und Persephone⁴⁰ eine Bedingung gestellt, an der letztlich Eurydikes Wiederkehr aus der Unterwelt scheitert. Staubli (2021: 289–293) stellt den Mythos von Orpheus in direkten Zusammenhang mit den Mythen von Inannas bzw. Ištars Gang in die Unterwelt und vergleicht deren Gemeinsamkeiten. Eine altgriechische schriftliche Textfassung des Orpheus-Mythos wurde bislang nicht gefunden. Dieser wurde zur Zeit seiner Entstehung wohl nur mündlich überliefert und erst später verschriftlicht. Dennoch zählt der Orpheus-Mythos zu den bekanntesten Mythen überhaupt. Der Mythos ist bis in unsere Zeit sehr beliebt und medial präsent. Er wurde in berühmten literarischen Texten als Motiv aufgegriffen⁴¹ und es existieren dazu zahlreiche Vertonungen⁴² und Verfilmungen.⁴³

3.2 Der Mythos des ER bei Platon In der griechischen Antike existierten noch weitere Mythen, die ein Totengericht beinhalteten. Eines der bekanntesten ist sicherlich der zeitnah verschriftlichte Mythos des ER in Platons Buch Der Staat (Platon 1974: IV). Es handelt sich dabei nicht um einen religiösen Mythos, sondern um einen philosophischen. Dieser soll die lebensweltlichen Konsequenzen einer Orientierung des Individuums an der Idee des Guten – der zentralen Idee in Platons Tugendlehre – versinnbildlichen. Der Mythos handelt von ER, dem Sohn des Armenios. ER stirbt in einer Schlacht, erwacht dann aber wieder zum Leben, und kann danach schildern, was er im Jenseits erlebt hat: Nachdem seine Seele aus ihm herausgetreten sei, sagte er, habe sie sich mit vielen anderen auf den Weg gemacht, und sie seien zu einem wunderbaren Orte gelangt, wo sich unmittelbar nebeneinander zwei Öffnungen in der Erde befanden, und gegenüber, am Himmel

40 Hades ist in der griechischen Mythologie Herrscher über die Unterwelt, Persephone die Totengöttin. 41 U. a. von Vergil, Ovid, Dante, Goethe, Trakl, Kokoschka, Rilke, Cocteau, Benn, Bachmann, Williams usw. 42 U. a. von Monteverdi, Schütz, Lully, Telemann, Rameau, Gluck, Haydn, Offenbach, Debussy, Henze und Glass. 43 U. a. 1949 und 1960 von Jean Cocteau und 1959 von Marcel Camus (unter dem Titel Orfeu Negro).

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oben, zwei andere. Zwischen ihnen aber seien Richter gesessen. Wenn diese ihr Urteil gefällt hatten, so ließen sie die Gerechten den Weg einschlagen, der rechts hinauf durch den Himmel führt, nachdem sie ihnen Zeichen des Urteilsspruches an die Brust geheftet hatten. Die Ungerechten aber wiesen sie nach links und nach unten; auch diese trugen die Zeichen für alle ihre Taten, aber auf dem Rücken. (Platon 1974: IV, 10. Buch, 510 [614 a–d])

Der Mythos des ER weist als zentrales Element ein Gericht auf, bei dem aufgrund der guten und schlechten Taten der Verstorbenen entschieden wird, wer in den Himmel und wer unter die Erde kommt. Diese Metaphorisierung erinnert an die Prophezeiungen des Jüngsten Gerichts im Neuen Testament. Dabei treten zudem ähnliche Elemente wie in den altägyptischen Totenbüchern auf, wie z. B., dass das Gericht über den weiteren Weg der Seelen der Verstorbenen entscheidet, der je nach Urteil diese in verschiedene Bereiche (Himmel vs. unter die Erde) führt. Im Unterschied zu den altägyptischen Transzendenzvorstellungen findet hier allerdings eine Wiedergeburt statt. In der Art der Wiedergeburt unterscheidet sich der Mythos des ER dabei von der christlichen Metaphorisierung des Jüngsten Gerichts. Nachdem die Seelen der Verstorbenen das Urteil empfangen und den zugewiesenen Weg durchlaufen haben, kommen sie durch die zweite Öffnung zurück, vergessen alles Durchlebte und werden nicht als dieselben Personen, die sie waren, sondern als neue Menschen wiedergeboren. Diese Metaphorisierung ist den Vorstellungen der Wiedergeburt in manchen asiatischen Religionen ähnlicher als denjenigen des Christentums.

4 Unterschiedliche Metaphorisierungen in den abrahamitischen Religionen Zum Abschluss soll noch kurz auf den in westlichen Kulturen allgemein verfügbaren Wissenshintergrund um die Transzendenzvorstellungen und deren Metaphorisierungen in den abrahamitischen Religionen eingegangen werden.⁴⁴ Diese sind zwar eng miteinander verwandt⁴⁵ und gründen auf einer gemeinsamen Basis.⁴⁶ Deren Transzendenzvorstellungen sind aber keineswegs einheitlich, sondern unterscheiden sich in einigen wesentlichen Punkten.

44 Die genannten Unterschiede können hier nur kursorisch und sehr verkürzt wiedergegeben werden. 45 Es handelt sich bei allen um monotheistische Religionen und entsprechend gibt es beim Jüngsten Gericht nur einen einzigen Richter. 46 Vgl. hierzu auch Fischer (2005).

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4.1 Judentum Die jüdische ist die älteste der abrahamitischen Religionen, auf die sich die anderen teilweise explizit beziehen. Im Judentum wird der Jüngste Tag am Rosh ha-Shanah, dem jüdischen Neujahrstag, gefeiert, der die Thronbesteigung Gottes als König der Welt symbolisiert und an die Übergabe der Tora⁴⁷ auf dem Berg Sinai erinnert. In der theologischen Literatur wird dieser Tag auch als Tag des Gerichts bezeichnet. Die Datierungen des Eintreffens des Jüngsten Tags für die gesamte Menschheit divergieren allerdings zwischen dem Todestag des Einzelnen und dem Tag der Auferstehung. Die Schilderung der Ereignisse zum Ende der Tage finden sich im Tanach. Die Metaphorisierungen umfassen u. a. Beschreibungen von JHWH, auf einem Thron sitzend, der die Bücher in der Hand hält, in welchen die Taten aller Menschen verzeichnet sind. Ein für unser Anliegen interessantes Detail ist dabei, dass im Tanach anfänglich kein Ort der Bestrafung namens Hölle erwähnt wurde. Genannt wurde lediglich ein Totenreich namens Sheol, das wohl so etwas wie eine Abteilung der Unterwelt darstellte, in die jeder Mensch nach seinem Tod kommt und zwar Gerechte wie Ungerechte. JHWH ist der Herrscher über das Totenreich und kann Tote von dort auch wieder zurückbringen. Das bedeutet, dass es die für die christliche Metaphorisierung so zentrale Zweiteilung in Himmel und Hölle ursprünglich im Judentum nicht gab. Vielmehr gelangten alle Verstorbenen in dieselbe Unterwelt, ähnlich wie in den oben geschilderten altorientalischen Mythen. Ein Ort der Bestrafung für die Ungerechten namens Gehenna⁴⁸ und damit eine moralisch wertende Dimension ähnlich der christlichen Konzeption der Hölle kam erst später hinzu. Damals wurde der Name der Schlucht Gehenna in prophetischen Texten auf ein Totenreich übertragen, das die Funktion eines Strafortes hatte. Dabei ist für unser Anliegen der Zeitpunkt dieser Umdeutung interessant: Das Konzept Gehenna fand erst Eingang in die jüdische Religion, als die Griechen den Orient eroberten, nämlich in der Hellenistischen Periode.⁴⁹ Diese grundlegende Veränderung zu diesem Zeitpunkt könnte einen Hinweis auf einen möglichen

47 Die Tora umfasst die ersten fünf Bücher des Tanach und wird von den Griechen Pentateuch genannt. 48 Gehenna bezeichnete ursprünglich ein Tal an den Mauern Jerusalems namens Schlucht des Sohnes Hinnoms, in der zur Zeit der Könige Israels dem Moloch Kinder geopfert worden sein sollen. Jeremia (19,6) verurteilte diesen Kult und bemerkte, dass das Tal deshalb auch Mordtal genannt würde. 49 Die hellenistische Periode beginnt mit der Regierungszeit und den Feldzügen Alexanders des Großen und markiert einen wachsenden Einfluss der griechischen Kultur auf die des Orients.

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Einfluss griechischer Mythologie auf den Tanach und somit auch auf die Bibel und den Koran darstellen.

4.2 Islam Auch der Islam kennt, ähnlich wie das Christentum⁵⁰, das Konzept des Jüngsten Gerichts. Im Koran wird der Jüngste Tag an vielen Stellen thematisiert. Dabei steht das Konzept Yawm al-Qiyāmah (Tag der Auferstehung) resp. Yawm ad-Din (Tag des Gerichts) für das endgültige Richten der Menschen durch Gott. Dieses Szenario beinhaltet die Aufhebung des Lebens, die Auferstehung und das Richten aller bewussten Kreaturen. Der Tag der Auferstehung dient einerseits dazu, Gerechtigkeit herzustellen, andererseits aber auch zur Erinnerung an die Vergänglichkeit des irdischen Daseins, welches im Koran als Nutznießung metaphorisiert wird: Ein jeder wird (einmal) den Tod erleiden. Und erst am Tag der Auferstehung werdet ihr (für eure Taten) euren vollen Lohn bekommen. Wer dann vom Höllenfeuer ferngehalten wird und ins Paradies eingehen darf, dem ist (großes) Glück zuteil geworden. Das diesseitige Leben ist nichts als eine Nutznießung, durch die man sich (allzu leicht) betören läßt. (Paret 1979/1996: Sure 29 Vers 36)

Am Jüngsten Tag wird über das Verhalten der Verstorbenen gerichtet: Gute Taten werden mit dem Übergang ins Paradies belohnt, schlechte mit dem Einzug in der Hölle. Der Vorgang des Richtens wird dabei ebenfalls als ein Wägen metaphorisiert: Gott ist es, der die Schrift mit der Wahrheit herabgesandt hat, und (der auch) die Waage (herabgesandt hat, damit für Recht und Gerechtigkeit gesorgt werde). (Paret 1979/1996: Sure 43 Vers 17)

Zu den Heiligen Schriften des Islam zählen neben dem Koran auch die Hadithen. In der wichtigen Hadith-Sammlung Sahīh Muslim von Muslim ibn alHaddschādsch (um 820–875) wird der Übergang ins Paradies als besondere Wegstrecke über eine Brücke, die über die Hölle führt, metaphorisiert. Diejenigen mit guten Taten können diese unbehelligt überqueren, die anderen werden hingegen von einem Dornenstrauch mit Haken durchbohrt, welche die Taten der Menschen kennen und diese gemäß dem Willen Allahs bestrafen: Anschließend wird die Brücke über beide Abgründe der Hölle gelegt. […] In der Hölle sind spitze Haken, die den Stacheln des Sa’dan (eines Wüstenstrauchs) ähneln! […] Wirklich,

50 Vgl. hierzu auch Gnilka (2004).

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die Haken in der Hölle sind den Stacheln des Sa’dan vergleichbar! Allerdings – allein Allah kennt ihre Ausmaße! Diese spitzen Haken durchbohren die Menschen entsprechend ihrer Taten. Der Gläubige wird diesen wegen seiner guten Taten entgehen. Andere werden bestraft, bis sie von Allah aus der Hölle erlöst werden. (Muslim ibn al-Haddschādsch: 2/207)

4.3 Christliche Religionen Im christlichen Glauben wird das Jüngste Gericht im Alten Testament in den Kanonischen Evangelien⁵¹ beschrieben, wo es auch als Tag des Herrn bezeichnet wird, und im Griechischen Neuen Testament in der Parousia, welche die Rückkehr von Christus als Richter über die Welt beschreibt.⁵² Alle Verstorbenen werden in dieser Darstellung von Gott unmittelbar in einem ersten Gericht geprüft und je nach Ergebnis ins Purgatorium oder direkt in den Himmel oder in die Hölle geschickt. Das Endgültige Gericht soll dann nach der Wiederauferstehung der Toten stattfinden, das über den definitiven Aufenthalt der Seelen bestimmt: Die Seelen im Purgatorium werden in den Himmel geschickt, diejenigen im Himmel und in der Hölle werden dort verbleiben. Die Gläubigen wie die Nichtgläubigen, die Christus akzeptieren, können in dieser Sicht durch Gottes Gnade die ewige Glückseligkeit erlangen; diejenigen, die Christus ablehnen, enden hingegen in der ewigen Verdammung. Das orthodoxe Christentum lehnt im Unterschied zum römisch-katholischen die Existenz eines Purgatoriums ab. Im orthodoxen Narrativ entscheidet Gott zum Zeitpunkt des Todes für alle, ob deren Seelen die Wiederkehr Christi und damit das sogenannte Endgültige Urteil in der Hölle oder im Himmel abwarten müssen. Die Metaphernszenarien des evangelischen Christentums basieren ebenfalls auf der Bibel, unterscheiden sich aber von den katholischen und orthodoxen. Die evangelische Lehre kann grob über die vier Soli-Prinzipien charakterisiert werden: Es gelten die Prinzipien solus Christus (allein Christus), sola scriptura (allein durch die Schrift), sola gratia (allein durch Gnade) und sola fide (allein durch den Glauben). Das Prinzip sola gratia besagt, dass der Mensch allein aus Gnade und nicht wegen seiner Taten gerettet werden und damit das ewige Leben erlangen kann. Die Ursache hierfür ist nur die Verbindung von Glauben und Gnade und nicht der geleistete Ablass. Im evangelischen Christentum existiert kein Purgatorium und kein Jüngstes Gericht, denn Gott alleine entscheidet über die Errettung des Einzelnen, unabhängig von dessen Taten. Luther glaubte zwar an die Hölle,

51 Vgl. Joel 2,31, Ezechiel (auch Hesekiel) 13,5 und Jesaja 2,12. 52 Vgl. Matthäus 24,27; 25,31 und die Schriften der Apostel.

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in die alle Nicht-Erretteten kommen, äußerte sich aber nicht zu den Modi der Errettung, da er dafür in der Bibel keine Anhaltspunkte fand. Bei den christlichen Varianten der Metaphorisierung des Jüngsten Gerichts gibt es innerhalb des Christentums somit kleinere Abweichungen, die allerdings größere theologische Konsequenzen zur Folge haben. So beinhaltet der katholische Glaube die Existenz eines Purgatoriums; die Konzeption eines Fegefeuers fehlt hingegen sowohl in der christlich orthodoxen als auch in der evangelischen Religion.

4.4 Kurzes Fazit zu den Unterschieden in den abrahamitischen Religionen In allen erwähnten abrahamitischen Religionen finden sich ähnliche Szenarien zum Jüngsten Tag. Diese metaphorisieren die Transzendenz im Sinne eines Übergangs nach dem Tod in den Himmel oder – seit dem Hellenismus – in die Hölle. Gott kommt dabei die Rolle als finaler Richter über die Taten der Verstorbenen zu. Zwischen den Metaphorisierungen existieren auch Unterschiede, der Grad an Übereinstimmung ist insgesamt aber erstaunlich hoch. Dies lässt sich teilweise dadurch erklären, dass alle abrahamitischen Religionen auf einer ähnlichen textuellen Basis beruhen. So basieren der Tanach, das Alte Testament und der Koran letztlich auf der Tora. Dazu gilt es zu bedenken, dass neben der schriftlichen Tora auch eine sogenannte mündliche Tora, d. h. eine Sammlung der aus der Tora abgeleiteten Regeln und Gebote, existierte, die für die religiöse Auffassung von großer Bedeutung war. Diese wurde erst im 2. Jh. verbindlich in der Mischna verschriftlicht und im 6. Jh. durch die Sammlung der Anmerkungen dazu in der Gemara zum Talmud ergänzt (vgl. Stemberger 2011). In der Zeit bis zur schriftlichen Fixierung haben diese Texte vermutlich einige Veränderungen durchlaufen, aber zeitgleich wohl auch schon die anderen Religionen beeinflusst. So ist es erstaunlich, dass sich in der Geschichte der abrahamitischen Religionen von bis zu 3 Jahrtausenden nicht größere Unterschiede herausgebildet haben. Dies ist vermutlich der Normierung der schriftlichen Fixierung der Texte geschuldet, deren Kanonisierung in den Heiligen Schriften sowie deren Autorisierung durch die jeweiligen religiösen Autoritäten.⁵³

53 Zum Thema Autorität in der christlichen Theologie vgl. Arens (2012).

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5 Potenzielle Traditionslinien und die Funktion der Metaphernszenarien Die kurze Reise durch die Zeiten und Kulturen konnte belegen, dass metaphorische Konzepte, die demjenigen des Jüngsten Gerichts ähnlich sind, seit über 4000 Jahren existieren. Wenn man die Narrationen auf deren metaphorischen Gehalt reduziert, weisen diese erstaunliche Ähnlichkeiten auf. Beim Übergang vom Diesseits ins Jenseits finden sich viele gemeinsame metaphorische Elemente. Der Eingang in das Totenreich erfolgt durch ein oder mehrere Tore mit Torwächtern. Ein Totengericht bestimmt über den weiteren Weg der Verstorbenen. Das Erfüllen bestimmter Bedingungen (z. B. gute Taten) entscheidet dabei über deren Verbleib im Totenreich, den Aufstieg in den Himmel oder auch den Abstieg in eine Art Hölle. Den zentralen ProtagonistInnen gelingt unter bestimmten Bedingungen die Rückkehr auf die Erde resp. in den Himmel, die Auferstehung. Während die ProtagonistInnen immer wieder andere sind, bleiben die Handlungsfolgen ziemlich ähnlich. Das legt die Vermutung nahe, dass den betrachteten mythischen Narrationen ein ähnliches Schema zugrunde liegt, das im Laufe der Zeit mit den jeweils relevanten ProtagonistInnen aktualisiert wurde. An dieser Stelle stellt sich die Frage, wie es möglich sein kann, dass derart ähnliche Schemata in so unterschiedlichen Kulturen und Zeiten verfügbar sein können. Wie wir gezeigt haben, sind die Ähnlichkeiten zwischen den Metaphernszenarien so zahlreich, dass bloßer Zufall keine hinreichende Erklärung sein kann. Infolgedessen müssen durch Kontakte zwischen den Kulturen Formen der Überlieferung stattgefunden haben. Als Medium der Überlieferung muss dabei die Sprache fungiert haben, entweder in mündlicher oder in schriftlicher Form, verbunden mit den inhärenten Problemen der Übersetzung bzw. Übertragung zwischen den regionalen Einzelsprachen und Schriftsystemen. Den betrachteten Mythen ist allen gemeinsam, dass sie erst mündlich tradiert und später schriftlich fixiert wurden. Dies könnte die Tatsache, erklären, dass sie innerhalb ihrer Kultur verfügbar waren, lange überdauert haben, und dass selbst wir in unserer Zeit Kenntnis davon erlangen konnten. Die Tatsache der schriftlichen Fixierung allein erklärt allerdings noch nicht die große Verbreitung der Mythen, denn nur die wenigsten ZeitgenossInnen konnten damals lesen. Im Alten Ägypten waren etwa Lese- und Schreibkompetenz den Eliten vorbehalten, zu denen auch die Zunft der Schreiber⁵⁴ gehörte.

54 Zur Stellung der Schreiber im altägyptischen Arbeiterdorf Deir el-Medina vgl. Dorn & Hofmann (2006).

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Die Frage bleibt bestehen, wie es möglich war, dass diese Mythen der Transzendenz so weit verbreitet waren, dass diese alle kulturellen und zeitlichen Grenzen überwinden konnten. Eine mögliche Erklärung ist wohl die hohe Relevanz der Mythen für das soziale und religiöse Leben in der jeweiligen Kultur. Eine weitere potentielle Erklärung könnte die Existenz oraler Traditionen sein, durch welche die Metaphernszenarien vom Jüngsten Gericht verbreitet und tradiert wurden. So zeigen viele Narrationen Merkmale mündlicher Überlieferung wie z. B. eine überschaubare Länge und häufige Wiederholungen, welche die Memorierung erleichterten. Die Epen Ilias und Odyssee waren beispielsweise in je 24 Gesänge unterteilt, damit die Aöden bzw. die Rhapsoden diese besser vortragen konnten. Denn wichtig für den auswendigen Vortrag von Narrationen sind leicht memorierbare Schemata, welche die Erzählung strukturieren und die beim mündlichen Vortrag einfach aktualisiert und variiert werden können, ohne dass die Erzählung ihre Konsistenz verliert. In diesem Sinne könnten die metaphorischen Szenarien der mythischen Narrationen zu deren kulturellen Verbreitung und zur zeitlichen Persistenz beigetragen haben.

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Metaphernszenarien der Transzendenz | 293

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Ulrich Welbers

Transformationen religiöser Semantik im öffentlichen Sprachgebrauch Heuristik, Begriffsarbeit und Beispielerkundung zu einem diskurssemantischen Forschungsprogramm

1 Einleitung Will man den aktuellen Wandel öffentlicher Semantik in den spätmodern-westlichen Gesellschaften auf eine verdichtende, dabei noch undifferenzierte Formel bringen, ließe sich dies in weiterführend sprachbezogener Anlehnung an den evangelischen Theologen Friedrich Wilhelm Graf tun, nach dem wir weniger einen Verlust, als vielmehr einen „Gestaltwandel von Religion“ (Graf 2018: NZZStandpunkte) erleben. Im öffentlichen Sprachgebrauch ist dieser Gestaltwandel in der Bundesrepublik explizit nicht nur auf ‚die‘ Religion bzw. ‚Kirchlichkeit‘ im engeren Sinne bezogen, er zeigt auch die Ausbreitung religiöser Semantik in Politik und Gesellschaft hinein als Wirklichkeitsgestaltung und Deutungsverfahren. Als illustratives Beispiel mag hierfür das Plakat einer Demonstration zum Klimaschutz¹ vom September 2019 angeführt sein, das die als unanfechtbar normierte Verhaltensadressierung in der Form einer Gebotsdiktion ausformuliert. Dort war auf blauem Grund zu lesen: Du sollst nicht fliegen – daneben eine durchgestrichene Flugzeugskizze. Klarer mag man die Botschaft kaum formulieren, wenngleich dies sicher ein ausgesprochen apodiktisches Beispiel für Friedrich Schleiermachers Beobachtung von 1799 ist, „die ganze Welt [sei, U. W.] eine Gallerie religiöser Ansichten“ (Schleiermacher 2001: 119). Es soll so die These gewagt und bis zu einem gewissen Punkt gezeigt werden, dass hierin ein zentrales Grundmuster öffentlicher Semantik vorliegt, das sich auf unterschiedlichen semantischen Ebenen aufweisen lässt. Der Beitrag möchte diese Hypothese in drei Auskunftsräumen skizzieren, wobei hier kommentierend theoretische Aspekte und solche der Sprachbeobachtung stets ineinandergreifen. Insofern muss man sich auf ein suchendes Wechselspiel mindestens von Sprach- und auch Religionsphiloso-

1 Alle Belegwörter bzw. -sätze des öffentlichen Sprachgebrauchs sind in diesem Beitrag durch kursiven Satz markiert. Ist ein Begriff in thematisierter Bedeutung statt seiner Wortgestalt gemeint, steht dieser in einfachen Anführungszeichen. https://doi.org/10.1515/9783110604696-013

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phie, Religionssoziologie und Diskurslinguistik einlassen, das das „Verfahren der Sprache“ (Humboldt 1903–36/1968: 53), um einem Wort Wilhelm von Humboldts zu folgen, „in seiner weitesten Ausdehnung“ (Humboldt 1903–36/1968: 53) versteht. Zunächst seien unter der eher anspruchserhöhenden Überschrift einer Forschungsprogrammatik Thesen zum Begriff von ‚Religion‘ und ‚Gesellschaft‘ formuliert, denen es zu trauen gilt, um die vorliegende Suchbewegung religiöser Semantik im öffentlichen Sprachgebrauch mitvollziehen und bestenfalls akzeptieren zu können. Dazu gehört, gewollt-verschiedene Absichtsperspektiven der Wissenschaften anzuerkennen. Auch lassen sich Kennzeichen religiöser Semantik festmachen, die Kriterien für eine passende Suchbewegung bilden. Nun zeigen sich vier unterschiedliche Diskursebenen mit Sprachbeispielen, von einer direkten Thematisierung religiöser Semantik über deren strategische Nutzung und tiefensemantische Bild- und Spracherscheinung bis hin zu der Frage, inwiefern ‚Religion‘ heute auch als Diskreditierungstopos in politischer Sprache verwendet wird. Alsdann soll die ‚politisierte Zivilreligion‘ der Spätmoderne als Raum des erklärten Gestaltwandels nach ihren Kennzeichen für kulturelle Identitätsbildung befragt und ihrem Charakter als ‚Inversionsreligion‘ nachgegangen werden. Dies alles erscheint als ebenso dichte wie vielgestaltige Anlageform einer Forschungsheuristik, die viele ihrer Verfahrensziele und Methodenzugänge gleichwohl erst noch wird finden müssen. Hier geht es sodann darum, zu allererst den Raum aufzuspannen, um diesen über eine weite Fläche hinweg sprachwissenschaftlich begehbar zu machen. Unbedacht bleibt hier eine diskurslinguistische Theoriemodellierung, die gleichwohl dem Programm einer „narrative[n] Sprachgeschichtsdarstellung (in Sprachgeschichten)“ (Stötzel 1995: 3) zu folgen hätte und dieses auch kontrastiv zu anderen weiterdenkt.² Dies grenzt das weite und so disparate Feld der Diskurslinguistik schon einmal deutlich ein und will den Ansatz der Diskurssemantik hermeneutisch weiterdenken (vgl. Hermanns 2012: 103–126). Ziel des Beitrages ist die Themen- und Begriffsarbeit am Sprachereignis ‚Religion‘. Er zeigt gleichwohl, dass eine themenübergreifende Wirklichkeitssicht evident wird, die ‚Religion‘ nicht allein als sprachlichen Gegenstand im Diskurs antrifft, sondern die geweitete Frageperspektive gesellschaftlich und zudem sprachwissenschaftlich als ein spätmodernes Erkenntnismodell ausweist.

2 Vgl. hierzu die ideenhistorische Positionsbestimmung und Methodenreflexion in Welbers (2022).

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2 Thesen und Hinsichten eines Begriffs ‚religiöser Semantik‘ im öffentlichen Sprachgebrauch 2.1 Thesen zum Zusammenhang von ‚Religion‘ und ‚Gesellschaft‘ Zunächst seien einige Thesen zum Zusammenhang von ‚Religion‘ und ‚Gesellschaft‘ formuliert. Die zuerst von Ulrich Beck im Rahmen seines fortan theorieprägenden Begriffs der ‚reflexiven Moderne‘ formulierte Beobachtung einer zunehmenden Individualisierung des Menschen hat bis heute nicht nur nicht an Aktualität verloren, sie hat an Dynamik eher gewonnen (vgl. Beck 1986). So kann neuerdings mit Andreas Reckwitz eine zunehmende Entfernung dieses Individuums vom Allgemeinen hin zum Besonderen, d. h. eben auch zu seinem Selbst, beobachtet werden, was nicht zwingend, aber auch in semantische ‚Selbst‘-Isolation münden kann (vgl. Reckwitz 2018). Hartmut Rosa sieht in dieser Folge spätmoderne Gesellschaften als ‚Resonanzgesellschaften‘ (vgl. Rosa 2016), in denen solche, vom Subjekt als unbedingt gedachte, Resonanz nicht an verallgemeinerungsfähige Deutungsmuster, sondern an partielle Bestätigungsresonanzen delegiert wird, wie dies bspw. soziale Netzwerke ermöglichen. Damit geraten die Institutionen der Gesellschaft in ein Wahrnehmungs- und sodann auch Akzeptanzdefizit, dem u. a. die Kirchen mit ihrer tradierten Auffassung von ‚Tradierung‘ ihren Bedeutungsverlust schulden. Eine ‚Entkirchlichung‘ von Religion wäre damit selbstverständliche Folge dieser sozialen Entwicklung, auch ohne eine Distanzierung der Kirchen von lebensweltlichen Orientierungen. Folgt man programmatisch Schleiermachers Begriff von ‚Religion‘ als anthropologischer Grundkonstante, verschwindet Religion aber nicht, sie verändert lediglich ihre Gestaltform. Somit gewinnt ‚Religion‘ neue semantische ‚Welt‘-Formen, wechselt dazu aber subkutan den Raum, vor allem in mediale und politische Kontexte hinein. Oft spricht die säkulare Gesellschaft auch positiv über ihren Religionsverlust als Rationalitätsgewinn und den Ertrag an Wissenschaftlichkeit der Weltauffassung (Stichworte: Fridays for Future, Pandemie-Diskurs). Dies verkennt, dass Säkularisierungserzählungen selbst im Kern religiöse Semantik darstellen und sich nun ebenfalls ihre neuen Gestaltformen von ‚Religion‘ semantisch zu organisieren suchen (vgl. Bertelsmann Stiftung 2007). Auffällig ist dabei in den letzten Jahrzehnten die explosionsartige Entwicklung ‚politisierter Zivilreligionen‘³ in

3 Zur Begriffsgeschichte von ‚Zivilreligion‘, gerade im Hinblick auf deren moralischpädagogische Obliegenheit im Staat u. a. bei J.-J. Rousseau vgl. Kleger (2004). Im Kontext hier

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den westlichen, spätmodernen Gesellschaften, die sich als Transformatoren religiöser Semantiken i. e. S. verstehen. Diesem Säkularumbruch korrespondiert die ‚Relativismus‘-Optik des theologischen Philosophen Robert Spaemann, die klar die sprachbezogen-politisierte Perspektive profiliert und dazu wertend ins Spiel bringt und die dafür die Verlustthese des Wahrheitstheorems kritisch ins Feld führt: Der Relativismus, der heute die Voraussetzung des politisch Korrekten ist, signalisiert den Verzicht auf Wahrheit. Der Anspruch auf Wahrheit ist selbst schon politisch unkorrekt, weil man ihm unterstellt, die Gleichberechtigung des anderen nicht anzuerkennen. Damit wird aber auch die Toleranz bedeutungslos, denn sie muss einen Grund haben, der nur in der Achtung der Würde des anderen bestehen kann. Dazu gehört, ihm die Wahrheitsfähigkeit zuzusprechen. Nichteinmischung im Meinungsstreit ist keine Toleranz – Gleichgültigkeit vor der Meinung des anderen bedeutet, ihn nicht ernst zu nehmen. Dann erlischt der Diskurs. Michel Foucault, auch jemand, der an Wahrheit überhaupt nicht glaubte, sah im Diskurs nur einen Machtkampf mit anderen Mitteln: Es ginge nicht mehr darum, Wahrheit zu suchen, weil es sie gar nicht gibt, sondern darum, sich zu behaupten und durchzusetzen. Das Denken kann aber, ohne sich selbst zu zerstören, nicht auf Wahrheit verzichten. (Spaemann 2014: 67)

Der sich hier zeigende Relativismus-Topos ist weder unumstritten noch wird er nur singulär und quasi ‚unprominent‘ vertreten, vielmehr sprach J. Ratzinger kurz vor seiner Wahl zu Papst Benedikt XVI. gar von einer Diktatur des Relativismus (vgl. Gänswein 2023: 70). Dass Spaemann die Kausalverbindung zu dem zieht, was oft als political correctness bezeichnet wird, ist dabei weder ungenau, noch umgeht es mit der Nennung Michel Foucaults den Nestor dieser neuen dogmatischen Normativitätsunternehmung. Hier zeigt sich, dass der Gestaltwandel von ‚Religion‘, will man Politische Korrektheit als eben eine Ausbuchtung spätmoderner Religionssemantik verstehen, keineswegs unumstritten ist, vielmehr handelt es sich um einen klassischen Religionskonflikt. Dies ist für die historischhermeneutische Diskurslinguistik ein ihr zukommendes Thema, sucht diese doch gerade in kontroversen Begriffen und Diskursen gezielt die konfliktiven Unterschiede, die sie zunächst beschreiben will, gleichwohl prinzipiell akzeptiert als gesellschaftliche Sprachphänomene, die sie aber auch interpretieren und erläuternd verstehen möchte.

meint ‚Zivilreligion‘ die semantisch brisante, auf Sprachöffentlichkeit gerichtete, unbedingte Säkulargestalt von Religion.

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2.2 Kennzeichen für eine Suchbewegung ‚religiöser Semantik‘ im öffentlichen Sprachgebrauch In einer hermeneutischen, das Gegenstandsfeld erkundenden Sicht der Diskurssemantik ist zunächst eine breite Suchbewegung zu etablieren, die religiöse Semantik auch in einem umfassenden Sinn von ihren sprachlichen Erscheinungen her in Wortgestalt und Argumentationstopoi verstehend aufsucht. Sprachbezogene Kennzeichen ‚religiöser Semantik‘ im öffentlichen Sprachgebrauch, mit denen sich sodann auch eine entsprechende diskurslinguistische Suchbewegung aufbauen lässt, können in einer entsprechenden Typologie organisiert werden und sehen dann zunächst einmal folgendermaßen aus: Die Verwendungspraxis offensichtlich religionssprachlicher Termini, die als solche von einer Sprechergemeinschaft noch unmittelbar zugeordnet werden können (Gottesdienst, Taufe, Priester) oder deren religiöse Wortgeschichte noch weitgehend erkennbar geblieben ist, auch wenn sie in säkularen, auch alltagsbezogenen Kontexten zunehmend an Bedeutung gewonnen hat (Erlösung, Schuld, Vergebung). Bewusste oder unbewusste Verwendungen kulturgeschichtlich-religiöser Bilder und Motive und deren situationsbezogene Umdeutung ((Ver-)Wandlung, Exodus, umstritten bei Quarantäne etc.). Erkennbare Instrumentalisierung religiöser Semantik in säkularen bzw. politischen Kontexten, z. B. der Licht-Metaphorik zur Signalisierung von Hoffnungsmöglichkeit bzw. als Erwartungs-management (Wir sehen Licht am Ende des Tunnels). Verwendung eschatologischer Weltdeutungen (Wann, wenn nicht jetzt…, d. h. als ostentative Abwendungsaufforderung eines/des drohenden Untergangs), ggfs. kombiniert mit der Montage von Jetzt-Zeit-Utopien (Die Welt erwacht… oder Endlich sind wir an dem Punkt…). Auserwähltenbewusstsein der Akteure in Sprache, Gestik, Anspruch (Wer, wenn nicht wir…). Gnostische Differenzbehauptungen in Wertungsabsicht und als Erzeugung von Bekenntnisdruck auf unterstellt unaufschiebbare Gesinnungsentscheidungen (Es gibt da nur schwarz oder weiß). Formulierte Universalisierung moralischer Einzelaussagen als unbedingte soziale Norm-Ethiken (Argumentationsmuster: ‚Was ich für richtig halte, müssen auch alle anderen tun, weil ich ja Recht habe…‘), Kollektivierung subjektiver Haltungen in einem autoritären Forderungs-Ich. Dogmatische Vergegenständlichung sprachlicher Aussagen und Umwertung von kontroversen Standpunkten in apodiktischen Formen (Es muss verstanden werden, dass…).

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Sprachfundamentalismus als Aussetzung von Diskursen durch restriktive ‚Öffentlichkeit‘-s-Bestimmung (Direkte oder auch aktuelle, vor allem auch indirekte ‚Häresie‘-Markierung der Ansicht der Anderen bspw. durch Einhaltungsaufforderung von Politischer Korrektheit). (Aus-)Nutzung der individuellen ‚Religiositäts‘-Fähigkeit und des Religionsbedürfnisses des Menschen für politische Zustimmungsakquise bzw. Vereinnahmung, Gemeinschaftsstiftung durch kollektives Bewusstsein mit kollektivem Transzendenzbezug (Gemeinsam schaffen wir das – was in der Konsequenz nicht gänzlich klar sein muss, aber seine Dignität dadurch gewinnt, dass es eben im Gemeinsamkeitsbezug quasi zwangsläufig richtig ist). Solche Kennzeichen bzw. Kennzeichnungen können eher als Marker dafür gesehen werden, genauer hinzuschauen und den sprachlichen Kontext auszudeuten. In jedem Fall sind hier auch begriffs- und ideengeschichtliche Perspektiven dazu sprachhistorisch miteinzubeziehen. Viele der Begriffe können unter dem Aspekt ihres semantischen Wandels aufgerufen werden. Dabei können sie die Wortgestalt durchaus mehrfach ändern. Vielmehr wandern hier die Begriffe ihrer Semantik nach durch immer wieder neue Wortgestalten, die darin politisch verwendbar werden. In dieser Phase der Analyse sollte ein weiter Blick Aufgabenmaxime sein und das Verfahren prägen, damit eine gliedernde Organisation der Phänomene in Korpora und Teilkorpora möglich wird, die die Fragehaltungen berücksichtigt, auf die hin die Verwendung der entsprechenden religiösen Semantik als Antwortmöglichkeit gedacht ist.

3 Sprachbeispiele für eine gliedernde Korpusbildung mit Fragehaltungen Anhand der Ergebnisse einer in solcher Weise offenen diskurslinguistischen Suchbewegung fallen bei den sprachlichen Beobachtungen unterschiedliche semantische Ebenen als Sortierungsraster ins Auge.⁴ Zunächst lässt sich eine

4 Viele der hier kursiv gesetzten Belegstellen brisanter Wörter bzw. Wortverbindungen sind – wenn nicht anders vermerkt – dokumentarischen Sendeformaten und solchen der aktuellen Berichterstattung des öffentlich-rechtlichen Fernsehens entnommen. Sie sind hier dann nicht im Einzelnen nachgewiesen, wenn sie aktuell im politischen Sprachraum geläufig sind und so der Mehrfachverwendung, der vielfältigen Kontextualisierung und der kommentierenden Weiterverwendung in hoher Dynamik unterliegen.– Alle näher gekennzeichneten Online-Quellen wurden zuletzt aufgerufen am 28.6.2021 und finden sich im Anhang bzw. den Quellennachweisen zu diesem Beitrag.

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direkte Thematisierung von Religion/-en und deren expliziter Erscheinungsformen und Institutionen, aktuell meist als Krisenbeobachtung, erkennen. Dies zeigt sich beispielsweise in der Berichterstattung von Missbrauchsskandalen und deren Vertuschung, erweitert um die kritische Infragestellung kirchlicher Gestaltungsformen (z. B. Pflichtzölibat, Kontroverse zur Gestaltung eines synodalen Weges etc.). In einer Satiresendung wird in einer Wort- und einer musikalischen Darbietung das Frauenpriestertum gefordert. Ausdrücklich kirchenkritisch verfährt die Diskussion um das deutsche Kirchensteuersystem und damit um das Verhältnis von Staat und Kirche. Jüngst beriet der Deutsche Bundestag zur Ablösung von Staatsleistungen, die auf die Mediatisierung Anfang des 19. Jahrhunderts zurückgehen. Auf anderem Schauplatz bemühen sich politische Entscheidungsträger um eine klare Differenzierung zwischen einerseits einem religiös i. e. S., dabei zivilgesellschaftlich als akzeptabel gedachten, Islam und andererseits einem Islamismus mit extremer Gewaltausübung. Ist in einem gesellschaftspolitisch verantworteten und zivilreligiös angelegten, inklusivem Religionsverständnis die Vollverschleierung adäquat und wer darf über die Einsetzung und Ausbildung von Imamen bestimmen? Eine der Sache nach auch in AktivistInnensicht stimmige Begriffskontroverse zeigt sich in der Frage, wie viel statistisch nachprüfbare Nachhaltigkeit die Bewahrung der Schöpfung verfassungsrechtlich fordere. Ist dies seit langem überstrapaziert längst im Gleichgewicht, damit gezielt mehr berechnete Gerechtigkeit für zukünftige Generationen entsteht? Die starke kulturelle Verankerung religiöser Semantik im kulturellen Gedächtnis erlaubt alsdann die strategische Nutzung dieser religiösen Semantik zur interessegeleiteten Erklärung und Beeinflussung gesellschaftlicher und politischer Problemstellungen. Ist die Sankt Martin-Feier bald schon deshalb besser ein Sonne, Mond und Sterne-Fest, damit atheistische Kinder und ihre Eltern nicht diskriminiert werden? Hier zeigt sich, dass der omnipräsente Begriff der strukturellen Diskriminierung politisierter Zivilreligion entstammt und nicht der christlichen Tradition. Gerade er ist ein Marker des aktuellen semantischen Religionswechsels. Werden Schulkreuze abgehängt, um die Neutralität des Staates in der Bildung zu wahren? Dürfen Kruzifixe (was ja etwas anderes meint als ‚Kreuze‘) in öffentlichen Gebäuden hängen, weil sie Teil abendländischen Kultur sind? Ist die Berliner Republik im großen Blick östlicher, protestantischer und weiblicher geworden, was kritisch eine Geschichtsdeutung der Bonner Republik als westlich, katholisch und männlich evoziert? Wird die Verzögerung politischer Entscheidungen glaubhafter im Bibelwort: Ein jegliches hat seine Zeit (Pred. 3,1)? Nicht verwendet wird hier die (nunmehr ‚kath.‘) Einheitsübersetzung: „Alles hat seine Stunde“ (Koh. 3,1), was doch konkreter klingt. Wirkt die politische Forderung drängender in der Sprachform des Gebots: Du sollst nicht fliegen!? Sehr kontrovers wurde diskutiert, wer über Legitimität und Dignität von Lebensformen entscheiden darf (z. B. Ehe für

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alle). Kann es gar ein Pakt für das Zusammenleben sein? ‚Religions‘-verstörend erscheint es, treten Bibeltreue Christen als Impulsgeber für und in Verschwörungstheorien (z. B. bei Querdenkern) auf. Wie viel Fundamentalismus ist in einem aufgeklärten Kulturchristentum noch erträglich? Spricht eine CO₂-neutrale Lebensbilanz frei als spätmoderner Moralreflex auf ganze sieben Todsünden oder wäre die misslichste doch die, sich in digitaler Performance-Sucht zu messen? Eher multimodal erkennbar wirkt eine (Omni-)Präsenz religiöser Tiefensemantik und Begrifflichkeit in den öffentlichen Sprachgebrauch hinein, häufig unterlegt von Bildinszenierungen, ohne dass die Sprachakteure dies immer explizit gewollt, diskursiv bemerkt oder auch theoretisch reflektiert hätten. In einem Kommentar in ‚Bericht aus Berlin‘ zum Parteitagsfoto Bündnis 90/Die Grünen 2017 heißt es: Wie ein Gospelchor hinter dem Prediger sammeln sich die Bundestagskandidaten hinter ihrem Spitzenkandidaten. Zum Wahlkampf 2021 verwendet die Spitzenkandidatin mehrfach und erkennbar in ihrer Vorstellung den zuvor von der Partei als obsolet unterlassenen Begriff der Emanzipation, und vermeidet dafür den des Feminismus, um glaubhaft als Alles ist drin-Volkspartei antreten zu können. Wie viel normative Sprachgestaltung müssen / dürfen politisierte Zivilreligionen an Alle für Alle einfordern, damit ihre Anhänger*innen/Innen/:innen sich von Allen anerkannt fühlen? Wie inklusiv ist eine Modernisierung von Sprachregelung, die exklusiv verfährt in Auserwähltengruppierungen? Die Unterhaltungsmedien zeigen die Präsenz religiöser Semantik im Bild: Eine Show zur Ermittlung zukünftiger Models mit zuerkanntem Topstatus zeigte in einer ihrer Formatvarianten sowohl eine Trinitätsmodellierung in ihrer Juryaufstellung, eine kirchenbauliche Kommunionganginszenierung mit Erwartungsszenerie, sodann dramaturgisch eine inszenierte ‚Gottes‘-Gerichtsbarkeit über ‚Leben und Tod‘ als medialem Weiterleben. Dazu wird die Zugehörigkeitszu- oder absprechung zur sozialen Auserwähltengruppe zu einem Urteil der Abwesenheit in der Bildpräsenz, nach der es heute leider kein Foto für irgendwen geben könne. Hier ist Sichtbarkeit ganz sichtbar als Problem der Inklusions- und ExklusionsMechanismen. Angela Merkel antwortet auf eine entsprechende Nach-Nachfrage zu ihrer erneuten Kandidatur als Bundeskanzlerin in einer Pressekonferenz zu einer Sequenzialität von intellectus und voluntas: Bereitschaft ohne Wille ist mir nicht bekannt. Hier offenbart sich gradlinige protestantische (Tiefen)-Semantik als Brückenkonstruktion einer ‚Wort-‘ und ‚Tat‘-Sprachlichkeit, die in genuin katholischer Semantik gerade nicht selbstverständlich wäre und die die Intuition auch des Nachfragenden erklärt. Subkutan kann nahezu jede mediale Sichtbarkeits-Doktrin von Personen und Gruppen (Identitäten) als spätmoderne Transformation des Epiphanie-Geschehens und auch der Darstellungs-Szenerie im Neuen Testament gesehen werden. Eine weitere Brücke in die politisierte Zivilreligion zeigt sich in dem u. a. auf Instagram propagierten Phänomen, eine Entscheidung

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über die eigene Geschlechter-Zuordnung werde erst später von der / dem dann Erwachsenen erwartet, eine Verlängerung eigenen Zuordnungswillens in der Zeit, die etwa mit dem Motiv der Erwachsenentaufe vergleichbar scheint. Zuletzt war eine Form prophetischer Rede von Fridays for Future vor dem Brandenburger Tor, gehalten u. a. gegen einen ‚Zukunftsdiebstahl‘, zu beobachten. Hier zeigen sich Kontroversen zwischen christlicher Tradition und politisierter Zivilreligion, wenn letztere die These von der universellen Disponibilität der Geschichtsidee als subjektkollektive Handhabeverfügung propagiert, ein ‚Geschichte‘-greifendes Motiv, das im Christentum entfiele, ist die Heilsgeschichte zwar gestalt-, aber nicht beherrschbar. Ostentativ ist das neue Präsenzwort: Wir sind sowas von da! Hinzu tritt mittlerweile ein berechneter ‚Religions‘-Vorwurf als Diskreditierungstopos in der Politik, um die eigene Positionierung als ‚vernünftig‘ zu deklarieren. Die Beispiele entstammen einem breiten Feld: Rudolf Scharping meint zur SPD (2018): Sorgt dafür, dass wir die Fragen der Zukunft im Interesse der Menschen beantworten, anstatt auf Parteitagen ein Hochamt der Demokratie aufzuführen, und verwendet damit sakral-gottesdienstliche Termini in pejorativer Weise. Hendrik M. Broder persifliert zu Fridays for Future (2019): So viel Glauben bei so wenig Wissen, das ist schon eindrucksvoll, und bedient damit unthematisiert eine doppelte Verwendungsmöglichkeit des Lexems ‚glauben / Glauben‘. Winfried Kretschmann ermahnt seine eigene Partei (2019) wenig zurückhaltend so: Rumzumoralisieren ist Aufgabe von Eltern, von Erziehern, von Kirchen, von Philosophen, von der Gesellschaft überhaupt – aber nicht von Politik und rekurriert so auf eine Kantische Tradition der Ablösung von ‚Religion‘ als ‚Moral‘. Marc Jongen skandiert (2019) scharf: Der Fall Greta ist von höchster Symbolkraft für die wahnhafte Klimarettungspolitik im Ganzen, die immer mehr einer Zivilreligion gleicht mit Greta Thunberg als kindlicher Prophetin an der Spitze. […] [Das ist, U. W.] die Wahrheit über die Schuld- und Angstreligion, die die Grünen etablieren wollen, um ihre irrationale, für Deutschland zutiefst schädliche Klimapolitik durchzusetzen. Ein ‚atheistisches‘ Profil zeigt sich hier, wird ‚Religion‘ unmittelbar mit ‚Wahn‘ in Verbindung gebracht. Unhistorisch scheint indes die Prophetie-Unterstellung. Suchte man für das Greta-Phänomen ein motivgeschichtliches Medialitätsvorbild, ließe sich wohl eher an ‚Jeanne d’Arc‘ erinnern. Manfred Grund stellt (2020) fest: Fridays for Future ist eine Glaubensgemeinschaft*, und daher wäre sie aus solcher Sicht nicht argumentations- und auch nicht politikfähig, was dem Begriff der ‚Religion‘ innere Rationalität wie auch Argumentationsbereitschaft und -fähigkeit abspricht. Fridays for Future antwortet auf Twitter: Wir haben den Papst in unserer Glaubensgemeinschaft** – und säkularisiert in seiner listigen Replik damit den nun kontroversen Begriff der Glaubensgemeinschaft für sich. Joschka Fischer sieht den Religionsvorwurf gegen Fridays for Future als sachwidrigen Krampf. Zuletzt bezeichnet Thea Dorn (2020) die öffentlichen Corona-Forschenden als Wissenschaftskle-

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rus und bekommt daraufhin eine Beanstandung zu spüren, die auch aus den Reihen hochrangiger politischer Vertreter kommen will. Breite gesellschaftliche Akzeptanz erfährt die omnipräsente Verwendung religiöser Semantik in der SportBerichterstattung, denn Fußball ist Kult. Fans pilgern zu den Spielen, tragen die Vereinskutte und beten für den Sieg der Mannschaft. Für einen politischen Vermittlungszusammenhang ebenso beherzt wie überraschend anspruchsvoll sagt der US-amerikanische Präsident bei seiner Vereidigung: Vor vielen Jahrhunderten schrieb der heilige Augustinus von Hippo, ein Volk werde bestimmt durch die Dinge, die alle seine Mitglieder lieben. Was lieben wir als Amerikaner, was macht uns aus? Ich glaube, wir wissen es alle. Chancen, Sicherheit, Freiheit, Würde, Respekt, Ehre, und, ja, die Wahrheit – die so doch für die Suche nach Identität(-spolitik) letzte Bindung bieten soll, für zumindest die eigene Vorstellung der letztlich religiösen Frage: Wer darf ich mit Anderen sein, in welchen Worten!? Ist zuletzt die Moses-Darstellung einer grünen Kanzlerkandidatin in der Anzeige des Lobbyverbandes INSM, bei der diese ins Groß-Bild montiert einen ‚Verbots-Dekalog‘ in ihren Händen hält, statthafte, kulturhistorisch-versierte Ingebrauchnahme religiöser Motivik zur Interesse-Gestaltung politischer Bedeutungskontroversen oder ist dies grob unangemessen, blasphemisch, gar antisemitisch? Welchen Gebrauchswert für politische Semantik hat auch die Überschrift: Wir brauchen keine Staatsreligion? So lässt sich eine vielförmige Omnipräsenz religiöser Semantik im öffentlichen Sprachraum sehen.⁵ Die Ebenen des Korpus zeigen: Gerade in sich als säkular interpretierenden, dabei sprachlich explizit zur Säkularität bekennenden

5 An dieser Stelle ist eine für eine diskurssemantische Untersuchung doch eher selbstverständliche Positionsbestimmung angezeigt, deren Explikation aus der Präsenz einer der Erscheinungsformen des sprachlichen Gegenstandes erwächst, den sie untersucht. Der ‚Religions‘-Vorwurf wird aktuell u. a. von einer politischen Seite nicht nur erhoben, sondern für eigene Zwecke instrumentalisiert, die nicht nur den Kern des Problems der Sprachsache nicht (an-)erkennt, sondern die auch den analytischen Charakter des Problems umgeht. Hierzu ist anzumerken: Eine liberale Gesellschaft hat nicht nur das legitime Recht, sondern muss auch stets die semantische Möglichkeit haben, ihre ‚Welt‘, auch des ‚Religiösen‘, im Rahmen eines kontroversen Entwicklungsgesprächs demokratisch zu ändern. So kann der ‚Religions‘-Vorwurf eben gar nicht als ein ‚Vorwurf‘ erhoben werden, gerade wenn diejenigen, die ihn beanspruchen, selbst keine reflektierte religiöse Semantik in einer humanen Form begrifflich besetzen wollen. Eine diskurssemantische Untersuchung muss sich stets in und als objektivierende wissenschaftliche Verfahrensoptik verstehen und versuchen, brisante Sprachzeugnisse zu beschreiben und zu deuten. In diesem Sinne ist ihr einseitige Wertungsabsicht fremd. Semantischer Gestaltwandel des Religiösen ist für sie Teil komplexer, westlich-spätmoderner Gesellschaften und hat dort einen im Diskurs akzeptierten Ort. Gleichwohl kann die Diskurssemantik auch nicht auf ihre kritische Analysearbeit verzichten, nur weil sie scheinbar in eine prekäre Parallelstellung äußerer Argumentformen gerät, die sie ihrer wissenschaftlichen Demokratieidee nach nicht goutiert.

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Gesellschaften ist von einer im semantischen Sinn religiösen Prägung auszugehen, die ihre religiöse Überlieferungsgeschichte als kultur-, sozial- und politikgeschichtlich überwunden umdeutet, interessegeleitet ausdeutet, ja programmatisch wegdeutend negiert und die die traditionellen religiösen Deutungsmuster im Feld politischer Semantik situationsaffin neu arrangiert.

4 Kulturelle Identitätsbildung in politisierten Zivilreligionen Dies alles sind sprachliche Erscheinungsformen, die einen semantischen Religionswechsel anzeigen weg von tradierten Kirchenreligionen hin zu politisierten Zivilreligionen. In einem gesellschaftlichen Gesamtkontext lassen sich solche Kennzeichen des in spätmodernen Gesellschaften aktuell brisanten semantischen Religionswechsels allerdings erst dann benennen und interpretieren, bezieht man die Merkmale politisierter Zivilreligionen auf deren Funktion zur kulturellen Identitätsbildung in ihren jeweiligen Sprechergemeinschaften. Ein solch spätmodern angelegter Begriff von ‚Identität‘ ist selbst ein Begriff „in der Krise“ (Eickelpasch & Rademacher 2013: 5) und scheint gerade darum für westliche Gesellschaften und deren „Alltag und Wissenschaft zum Dauerthema“ (Eickelpasch & Rademacher 2013: 5) geworden. In allmählicher „Auflösung kulturell vordefinierter Identitätsmuster“ (Eickelpasch & Rademacher 2013: 7), auch des religiösen, werde der Einzelne zu einer Art „Baumeister seines eigenen Selbst“ (Eickelpasch & Rademacher 2013: 7), wie Eickelpasch und Rademacher in Anlehnung an Ulrich Beck feststellen. Sie sehen darin „einen höchst zwiespältigen Prozess mit einer Gewinn- und einer Verlustseite“ (Eickelpasch & Rademacher 2013: 7), werde hier doch für den Einzelnen „ein anstrengendes, störungsanfälliges, riskantes Unterfangen“ (Eickelpasch & Rademacher 2013: 7) aufgerufen, was nun bereits die Vielschichtigkeit der Erscheinungsformen neuer ‚Religions‘-Phänomene kommentiert (vgl. Taylor 2019: 57–96). Wenn „[b]iografische Unsicherheit […] zum charakteristischen Merkmal der globalen Moderne, ja zur gesellschaftlichen Basiserfahrung“ (Eickelpasch & Rademacher 2013: 9) wird, korrespondiert dem, dass auch die religiöse Ebene des Einzelnen und dann auch die diese semantisierenden ‚Kollektive‘ grundlegend betroffen sind. Es ist zwar einerseits (auch ‚religiöse‘) „Sinngebung und Identitätsbildung in der zersplitterten Sozialwelt zu einer privaten Angelegenheit“ (Eickelpasch & Rademacher 2013: 11) geworden, gerade diese Wahlmöglichkeit bietet aber andererseits an, sich auch an kollektiv organisierte Semantiken in Politik und Gesellschaft anzubinden und hier Deutungsentwürfe für die eigene Sinnsuche mit Anderen auszuhandeln.

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Nimmt man alsdann die „Unterminierung und Zersplitterung der großen kollektiven Zugehörigkeiten – Nation, Kultur, Ethnie, Geschlecht“ (Eickelpasch & Rademacher 2013: 12) und eben auch von Religion wahr, zeigt sich, dass die entsprechende Sinnsuche „immer in umkämpften Räumen“ (Eickelpasch & Rademacher 2013: 12), sprachwissenschaftlich gedacht: in kontroversen Diskursen, wird stattfinden müssen und auch können. Im Begriff der Identitätspolitik wird dann unter dem kollektiven Interpretationsdruck einer Machtperspektive aus Identität als „Zustandsbegriff […] ein strategisches Konzept“ (Eickelpasch & Rademacher 2013: 56), das die Kontroversität vervielfältigt, politisch dramatisiert, kulturell existentialisiert und taktisch auf die Handlungsermächtigung von Kollektivsubjekten bezieht. Es lässt sich hier schon eine Vorprägung eines semantischen Religionswechsels in konzeptualisierter Form ansehen, die auf die Verbindung und Integration bei gleichzeitiger Überwindung oder auch Stabilität von ‚Macht‘ zielt: „Einiges spricht dafür, dass sich hinter der Begeisterung für Differenz und kulturelle Vielfalt in den Zentren des Westens nicht zuletzt das Bemühen verbirgt, das Eigene durch Einverleibung des Fremden vor der Auflösung und Auszehrung zu bewahren.“ (Eickelpasch & Rademacher 2013: 114) Es handelt sich in diesen reziproken Kulturationsbewegungen, zu denen der semantische Wandel von ‚Religion‘ zählt, um dialektische Erscheinungen, deren Vielstimmigkeit oft nicht transparent sichtbar wird. Wie in den postmodernen Identitätstheorien abgebildet, entsteht ‚Religion‘ hier eher in Bastelarbeit, im Patchwork-Verfahren, als Auswahlarbeit aus offenen Bruchstückpalletten zerbröckelter Homogenitätsgesellschaften, die es so gleichwohl niemals gab. ‚Homogenität‘ wird aber zu einem als veraltet angesehenen, religiösen Un-Wert, der einer drastischen Gegenpositionierung bedürfe. Tradierten Kirchenreligionen droht in diesem Prozess einer eschatologisch aufgeladenen Modernitätsmodernisierung die Verkleinerung zu Sekten-Semantiken, weil als historische Errungenschaft nicht mehr das Universelle als Geordnetes und historisch Verbürgtes figuriert ist, sondern das vielgestaltig Ungeordnete in einem funktionalen Akzeptanzszenario als letzte Geschichtsmatrix im Augenblick erscheint. Gleichwohl ist semantischer Wandel von Religion stets auch Suche nach einer Identität, die die Lebensdeutung der Einzelnen auf die Dogmatik der Vielen bezieht, nur erfolgt in politisierter Zivilreligion eine auch sprachtheoretisch erkennbare Umwertung der Repräsentation von Transzendenz. Während die Repräsentationsleistung tradierter Kirchenreligion gerade in der historischen Genese objektivierender Transzendenzdeutung besteht, lebt politisierte Zivilreligiosität von dem auch semantischen Paradox, dass die ‚Wahrheits‘-Sicherheit der Glaubensaussage nicht in der Geschichtlichkeit der Erinnerung, sondern in den eigenen Geschichten derart zu finden ist, dass diese das Selbst normativ als dogmatisch anerkennungswürdig abbilden. Francis Fukuyama hat solchen Innen-

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Außen-Mechanismus zielgenau in seiner historischen Entwicklungsperspektive beschrieben, wenn er feststellt, dass für die Vielen „erst in der Neuzeit […] sich die Ansicht durchgesetzt [habe, U. W.], dass das authentische innere Selbst essenziell wertvoll sei und dass die äußere Gesellschaft es systematisch falsch und unfair bewerte. Nicht das innere Selbst habe sich den sozialen Regeln anzupassen, sondern die Gesellschaft müsse sich ändern.“ (Fukuyama 2020: 26) Dieser Sichtbarkeitsmechanismus ist das prägende soziotheologische Credo politisierter Zivilreligiosität. In sprachtheoretischem Blick sind tradierte Kirchenreligionen ihrer ontologischen Idee der Gottesperson nach Konstitutionsreligionen, während politisierte Zivilreligionen repräsentationistisch gegenüber dem Wahrheitstheorem verfahren, indem sie ihre Symbole als wahrheitslegitimierend dogmatisieren und dafür ihre Projektionsflächen stets neu anpassen, damit dieser Ausdrucksmechanismus funktional bleibt (vgl. Welbers 2014: 29–66). Tradierte Kirchenreligionen mit ihrem an einem objektivierenden Wahrheitsbegriff in einer (Heils-)Geschichte eingebundenen semantischem Vertrauensmodus sehen der epochalen Umwertung des Transzendenzbewusstseins hilflos zu und werden mit ihrem Konzept als ‚autoritär‘ konfrontiert, wenngleich politisierte Zivilreligionen es mindestens ebenso sind, dies aber in der Umkehrung von Repräsentationslegitimität semantisch verschleiern. Gerade darin aber sind Konflikte programmiert, wie Delitz feststellt: „Pluralistische Kollektive […] geben sich »rätselhafte« letzte Bedeutungen, die zu ständigen Diskursen um die eigene Identität gerade auffordern.“ (Delitz 2018: 11–12) Damit sind sie äußerst agile Sozial- und Diskursformationen, während Kirchenreligionen auf die semantische Beruhigung durch letztgültig Erreichtes setzen. So sind die tradierten Religionen solche semantischer Sicherheit, zivile Kooperativreligionen solche sozialer Bindungsflexibilität und dynamischer Zustimmungsdiversität. In letzteren entsteht ein synkretistisches Transzendenzmodell als prozessuale Inversionsreligion, in der die überlieferten religiösen Motive semantisch umgebaut, auf der Ebene von Kollektivsubjektiven ein-gedeutet, strategisch umgewertet, oft mehr unbewusst auf- und abgewertet werden, als dass hier ‚Religion‘ institutionell wird. Sie sind damit in gewisser Weise auch auf einen Bildungsverlust im Hinblick auf religiöse Semantik angewiesen. Solcher Geschichtsverlust am Gemeinschaftlichen in Sprechergemeinschaften ist obligate Voraussetzung dafür, Traditionsstücke von Kirchenreligionen auch wirklich kreativ nutzen zu können.

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5 Zur Semantik von ‚Inversionsreligionen‘ Was möglicherweise wie ein wertender Einwand erscheinen und wie eine Neuauflage einer Kulturverfallsthese klingen mag, ist dabei eher generelles Phänomen postmoderner Weltwahrnehmung und auch deren Produktionsprinzip, das z. B. ebenso kulturelle, literarische u. a. Wissensbestände betrifft. Insofern ist bei diesen Phänomenen die ‚Spätmoderne‘ in der Tat nicht nur eine Post-Moderne, sondern sie ist selbst postmodern in dem Sinne, dass auf den Verlust des gemeinschaftlichen Horizonts die säkulare Konstruktionsarbeit an den Überresten dieser im weiteren Sinne rituellen Bestände einer Kulturgemeinschaft folgt. Inhärent ist dieser kollektiven Arbeitsmatrix, dass sie sich in mehr oder minder selbstsichtbarer, reflexiver Besinnungslosigkeit als eine Art säkularisierter und säkularisierender Aufklärungsbewegung versteht, die nun nicht reflektiert Überwindungsarbeit am Obsoleten leistet, sondern im übersetzenden Wortsinn sich an einer eigenen ‚Bildsprachlichkeit‘ versucht, die das Verlorene für sich einsammelt. Um dies mit einem Diktum des Sprachphilosophen und Kulturkritikers Walter Benjamin zu sagen: „Allegorien sind im Reiche der Gedanken was Ruinen im Reiche der Dinge.“ (Benjamin 1974: 354) Man hat es also mit so etwas wie einer Kollektivarbeit in semantischen Ruinen zu tun, die zu einem Säkularsubjekt ‚Religion‘ um- und eingedreht, dabei ‚invers‘, werden. Zwölf Verschiebungen zeigen den semantischen Wandel zu ‚Inversionsreligionen‘: Die erste Verschiebung bzw. Transformation wäre die, die die Personalisierung der Gottesfigur aus den Kirchenreligionen zunächst abblendet und dafür in eine Art Kollektivsubjekt hineindeutet, das mit eigener Handlungsmacht aufgeladen wird. Dieser Form einer Transzendenzentpersonalisierung korrespondiert gleichlaufend ein Applikationsüberschuss, d. h. Inversionsreligionen sind zuallererst Aktivitätsformationen, die hierin ihre Transzendenzaufladung einlösen. So lässt sich für diese neue Religionsidee von einem Horizontalitätsdrift sprechen, der die Vertikalität von Transzendenz ablöst. Die zweite Verschiebung betrifft die Verwissenschaftlichung der Letztbegründung. Eine notwendige Voraussetzung einer Teilhabe am neuen Kollektivsubjektiv ist die kompromisslose ‚Wissenschafts‘-Anerkennung als Repräsentant einer unbedingten ‚Wahrheits‘-Ebene. In den modernen Ökologie-Bewegungen ist dies anschaulich zu beobachten und wird auch demonstrativ nicht bestritten. Der Rationalitätsgewinn wird dabei in Unbedingtheitssemantik umgerechnet und gleichwohl ästhetisiert. Drittens korrespondiert der unbedingten Rationalitätsdogmatisierung eine unmittelbare ‚Lebensstil‘-Bezogenheit in einer das eigene Selbst ganz vervollkommnenden ‚Ich‘-Konstruktion. Es muss gelebt werden, was verstanden wurde,

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womit ein hoher Grad an Verantwortungsimmedialität des Subjekts erwartet wird. Die Chance, Fehler zu machen, die in der Abstandswahrung zu einer Gottesperson in Kirchenreligionen semantisch arrangiert ist, entfällt zugunsten restriktiver Voll-Macht zu sich selbst. Was viertens an Güte gegenüber eigener Fehlerhaftigkeit am Dogmatismus des Kollektivsubjektivs systemisch nicht möglich scheint, wird in Deutungsarbeit einer vielgestaltigen Selbstspiritualisierung auf Sicht ersetzt, was eine hohe Anpassungskreativität eigener ‚Religiosität‘ erfordert. Die gefühlte anthropologische Selbst-Aufgabe, Wirklichkeit als eine auch spirituelle zu verstehen, damit das durch kollektive ‚Rationalität‘ erzeugte Defizit an Ganzheitlichkeit aufgefangen wird, wird re-personalisiert und dann mit Anderen gelebt, aber doch als Einräumung differenter Emotionalitätsrechte behauptet. Dem ererbten Charakter von Kirchenreligionen entspricht fünftens ein starkes Sendungsbewusstsein und darin eine Forderungsfestigkeit diesmal sowohl im ‚Welt‘-Verständnis, als auch in ausgewählten Sachfragen, die wiederum als unbedingt realitätsaffin behauptet werden. Den alten Glaubensfragen entsprechen hier demnach neuere Sachantworten, die aber wie Glaubensdogmen sakralisiert werden. Das Sendungsbewusstsein erfährt sechstens seine stärkste semantische Form in programmatischer Provokation. Eine Wahrheit der ‚Religion‘, die nicht provokativ wäre oder hierzu geeignet, kann gar keine ‚Wahrheit‘ sein, weil damit die Realwelt als richtig und angemessen unterstellt würde, was nie sein kann. Hier ist demnach eine gnostische Wirklichkeitssicht unterlegt, die diese Tradition erneuert. Das eigene Selbst als Teil eines stets ‚schwarmintelligenten‘ Kollektivsubjekts benötigt siebtens eine ‚Bewusstseins‘-Ähnlichkeit zur Begründung flexibler Gemeinschaftsstiftung und -erfahrung. Dies ist ausdrücklich mehr, als dies der Begriff der ‚Gesinnungsgemeinschaft‘ impliziert. Vielmehr rekurriert der Begriff des ‚Bewusstseins‘ auf eine strukturalistische Interpretation des ‚Struktur‘-Begriffs, die diesen als ontologische Realitätsform und nicht als lediglich analytischen Verständnisbegriff denkt. Achtens sind spätmoderne Inversionsreligionen nahezu systemisch in ihrem Transzendenzverschub hin zum eigenen Selbst quasi notwendig mit einem hohen Eigen- und Fremdwahrnehmungswunsch verbunden, was wiederum mit einer konstitutiven Selbstdarstellungsmühe und vor allem auch deren Professionalisierung einhergeht. Wer nicht professionell ist, kann auch nicht Wahrheitskünder sein, weil diese ‚Wahrheit‘ auch dadurch definiert ist, dass sie die modernere, die unbefragtere, die als Gewissheit eindeutige ist. Wahrheitskünder sind stets Wahrheitsmanager, die die Differenz zwischen Gestaltungsprofessionalität und inhaltlichem Begründungswert im Medialen transzendent aufheben.

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Vitale Religionen in Umbruchszeiten sind neuntens gerade in ihrem Anfangsstadium stets mit hoher Ausbreitungsprosperität verbunden. Ein Blick in die im Rückblick äußerst dynamische Entwicklung des Urchristentums hin zur Staatsreligion im vierten Jahrhundert verdeutlicht dies. Bezeichnend war für die rasante Ausbreitungsdynamik auch damals eine offensive Beteiligungssemantik bislang wenig berücksichtigter Gruppen. Im Falle der spätmodernen, westlichen Inversionsreligion(en) ist dies ihr identitätspolitischer und genauer ‚Geschlechter‘-bezogener sozialer Selbstmobilisierungsuntergrund. Der ‚Auserwählten‘-Schematismus ist hier einerseits an die bekennende Zustimmungsbereitschaft zu zentralen Aussagekomplexen gebunden, andererseits auch daran, wer die einzelnen Aussagen vertritt. Religionsgeschichtlich ist es nicht unwahrscheinlich, dass nun mittelfristig Konkurrenzaufstellungen entstehen, die in komplizierten Prozessen inhaltlich und strukturell geklärt werden müssen. Hier ist mit einem stärker formalen Organisationsgrad zu rechnen, der ein Mehr an ‚Kirchlichkeit‘ ausbildet. Entscheidend für die spätmodernen Inversionsreligionen ist zehntens die Transformation dessen, was als inhaltliche Übereinkunftsunterstellung eines dafür gemeinsamen Glaubensbewusstseins bezeichnet werden kann und das jede Glaubensgemeinschaft konstitutiv auszeichnet. In der Spätmoderne erhält dieses Bewusstsein einen Transzendenzraum in digitalen Vernetzungs- und Bindungsstrukturen als ‚meta-physisches‘ Modernisierungsemblem, das ein Generationenbezogenes Auserwähltengefühl unterstützt. Dem entspricht die Möglichkeit einer kollektiv-verordneten Selbstorganisationsmühe in dafür ‚nicht staatlich‘ organisierten Gefügen, die gleichwohl auf öffentlich organisierte Zustimmung hoffen. Insofern besteht hier ein Transzendenzabstand auch zum analogen Medialitätsraum der ‚Alten‘. Elftens evozieren die mediale Transzendenz wie die angeführten Deutungskorridore eine fundamental und fundamentierend normsprachliche Ausrichtung mit starker In- und Exklusionsapparatur. Insofern mag man hier auch von einer Inversion der sozialen Gruppen und deren -zuordnungen sprechen, die eine Inversion der sozialen Gestaltungsräume ergänzt (‚Straße‘, ‚Social-Media‘). Das hohe Tempo der Inversionen erklärt die Wirkungsmächtigkeit ihrer ‚Religionen‘, auf die traditionelle Deutungen von ‚Gesellschaft‘ kaum vorbereitet sind. Gleichwohl besteht so auch eine Gefahr für die Akteurinnen und Akteure, die darauf angewiesen sind, diese Schnelligkeit als Sichtbarkeitsgarantie zu verstetigen. Ein Phänomen spätmoderner Medienwelten ist zwölftens die Entwicklung von ‚Filterblasen‘. Diese Phänomene unterstützen die Zunahme gefühlter ‚NachReligionen‘, weil sie deren Deutungsrahmen stimmig abstecken, was jeder ‚Religion‘ inhärent ist. In diesem Fall wäre dieser die uneingeschränkte Universalisierung sozial- und moralstandardisierender Elemente eben im Konstrukt der

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politischen Inversionsreligion, die ihre Eigenwelt als Konsenssemantik performiert. Es erstaunt nicht, dass hierin eine gewisse Opportunismuseile prosperiert, während es den Kirchenreligionen an Opportunitätsfähigkeit mangelt.

6 Zur Neuorientierung von ‚Demokratie‘ und ‚Religion‘ in Inversionsreligionen Inversionsreligionen verdiesseitigen also in korrigierender Absicht eine Normkatechetik zu einer Art eigenem ‚Kirchenrecht‘, d. h. sie schreiben eine Rechtsordnung neben dem staatlichen Recht, die aber nicht geprüfter Rechtseinhegung unterliegt, gleichwohl sanktionierende Zugriffsrechte behauptet und keiner institutionellen Absicherung, sondern ausschließlich einer entgrenzten Rede- und Gegenrede-Agonistik unterliegt. Gerade dies findet jedoch häufig wiederum Kritik im öffentlichen Sprachraum. Im zwanghaften Zwang zu einem unbedingten ‚Wahrheits-Design‘ der Selbstberechtigung wäre eben solch eine autoritäre Gestaltung dogmatischer ‚Ideale‘-Vergegenständlichung keinesfalls die „ideale Sprechsituation“ (Habermas 2009: 149) für ein demokratisches und liberales Diskursverständnis. Schon Humboldt hatte den Begriff der „Eigenthümlichkeit“ (Humboldt 1903–36/1968: 52) in die Sprachbetrachtung integriert und darin hermeneutische Risikovertrautheit präferiert und toleriert. Es sähe der ‚Demokratie‘Sprachlichkeitserkunder Jürgen Habermas nun den „eigentümlich zwanglose[n] Zwang des besseren Arguments“ (Habermas 2009: 148) gestellt in eine zur Vernunft begabten Sprechergemeinschaft, die jede „systematische [Herv., U. W.] Verzerrung der Kommunikation“ (Habermas 2009: 148) ausschlösse – auch, um darin herrschaftsfern mit den Mitteln liberaler Demokratie darauf zu achten, dass eine zentrale Maxime des modernen Staates unbedingt gelte: die Trennung von Staat und (alsdann auch einer jeden neuen) ‚Kirche‘. Dagegen bilden Inversionsreligionen unter einer umstülpenden Transformationsapparatur demokratischer Repräsentationsmodalität das aus, was man in sprachbezogener Sicht als ‚themenautorisierende Demokratienutzung‘ bezeichnen könnte. Hierin wird dann nicht mehr nur der Begriff der ‚Religion‘, sondern auch der der ‚Demokratie‘ zugunsten eigenen Interessenmanagements invertiert bzw. verschoben, nach dem der alsdann nur noch in und mit sich selbst ‚demokratische Staat‘ und seine Gesellschaft sich zu verhalten hätten, wie dies ohne Kompromissgebot gedacht ist. Es kann human aber nur dann „Jeder […] mitten unter sie gestellt“ (Schleiermacher 2001: 119) sein – eben unter die ‚Religion‘ und nun die ‚Demokratie‘ –, wird jeder Bürger für sich an Aufklärung mündig gedacht und agiert er hierin selbstständig, austauschwillig und -begabt (vgl. Habermas 2005: 9). Gerade

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nur in dieser Aufklärungsperspektive bleiben ‚Religion‘ und ‚Gesellschaft‘ aufeinander bezogen allein deswegen, weil „[d]er liberale Staat […] langfristig auf Mentalitäten angewiesen [ist, U. W.], die er nicht aus eigenen Ressourcen erzeugen kann“ (Habermas 2005: 9). Ganz spätmodern Aus-„Gebildete[.] unter ihren Verächtern“ (Schleiermacher 2001: 55) meinen zwar, damit könnte auch die liberalste Religionsidee semantisch überfordert sein. Auf jeden Fall fordert jede Religionsperspektive – in welcher ihrer Gestaltformen auch immer – stets drängend und selbst dazu heraus, sich zu ihr vernünftig klärend und demokratisch prüfend, auch perspektivisch integrierend zu verhalten. Religionen indes müssen die Reduktion ihrer semantischen Einflusssphäre als förderlich für ihren Begriff akzeptieren, um ‚Religion‘ bleiben zu können. An diesen verkrümmte ‚Demokratie‘-Vereinnahmungen jedweder Provenienz aus ihren sprachlichen Thematisierungen nun kritisch begründend erkennbar zu machen und dabei doch ihre Erträge anzusehen, wäre Aufgabe einer religionslinguistisch versierten Sprachwissenschaft in historisch-hermeneutischer Aufklärungsmühe.

Quellennachweise Alle näher gekennzeichneten Online-Quellen wurden zuletzt aufgerufen am 28.6.2021: Der Satz Du sollst nicht fliegen ist u. a. zu lesen im Tages-Anzeiger.ch vom 13.4.2016, online verfügbar unter: www.tagesanzeiger.ch/leben/gesellschaft/dusollst-nicht-fliegen/story/27034522. – Die Satzzitate in Punkt 2.2 (6./8.) einer fff -Vertreterin entstammen der Sendung hart aber fair vom 16.9.2019, online verfügbar unter: www.youtube.com/watch?v=M1xeCHMMZXs. – Der Pakt für das Zusammenleben findet sich auf SZ.de vom 9.7.2017, online verfügbar unter: www.sueddeutsche.de/leben/pakt-fuer-das-zusammenleben-willst-du-mich-pazen-1.3578199. – Zur ‚Genderneutralen Erziehung‘ vgl. den Beitrag vom 7.11.2020 auf vip.de online verfügbar unter: www.vip.de/cms/genderneutrale-erziehungcollien-ulmen-fernandes-schenkt-ihrer-tochter-roboter-4641120.html. – Das Satzzitat zur fff -Rede vor dem Brandenburger Tor entstammt der Berichterstattung vom 25.9.2020, z. B. online verfügbar unter: www.tagesschau.de/inland/klimademos-start-103.html. – Die modernen sieben Todsünden waren Thema der ZDFSendung Die sieben Bösen vom 24.5.2021, online verfügbar unter: www.zdf.de/dokumentation/dokumentation-sonstige/eckart-von-hirschhausen-der-suende-aufder-spur-100.html. – Das Satzzitat Rudolf Scharpings entstammt der Live-Berichterstattung vom Bundesparteitag der SPD vom 21.1.2018, auf S. 75 online verfügbar unter: www.spd.de/fileadmin/Dokumente/Beschluesse/Bundesparteitag/Protokoll_aoParteitag_Bonn_21012018.pdf. – Der Kommentar zum Parteitag von Bündnis90/Die Grünen entstammt der Sendung Bericht aus Berlin vom 18.6.2017, online

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verfügbar: www.tagesschau.de/multimedia/sendung/bab/sendung-375~bab.html. – Das Zitat zur Bereitschaft zur Kanzlerkandidatur Angela Merkels findet sich auf SZ.de vom 5.11.2018, online verfügbar unter: www.sueddeutsche.de/politik/bundeskanzlerin-neues-futter-fuer-die-exegeten-1.4197540. – Das Zitat von Henryk M. Broder steht auf welt.de vom 13.9.2019, online verfügbar unter: www. welt.de/vermischtes/plus200223636/So-viel-Glauben-bei-so-wenig-Wissen-dasist-schon-eindrucksvoll.html. – Das Satzzitat Winfried Kretschmanns stammt vom 7.8.2019 und ist nachweisbar auf welt.de, online verfügbar unter: www.welt. de/politik/deutschland/article198124363/Klimaschutz-Winfried-Kretschmannhaelt-wenig-von-Moralisiererei.html. – Die Einlassung von Joschka Fischer ist der Westdeutschen Zeitung vom 22.10.2020 entnommen. – Das Zitat von Manfred Grund ist nachgewiesen auf der Nachrichtenseite von ZDF.de vom 12.10.2020, online verfügbar unter: www.zdf.de/nachrichten/politik/Fridays-for-future-kritikmanfred-grund-100.html. – Das Antwortzitat von fff findet sich auf der Seite von domradio.de vom 14.10.2020, online verfügbar unter: www.domradio.de/themen/schöpfung/2020-10-14/wir-haben-den-papst-Fridays-future-verweist-aufunterstuetzung-des-papstes. – Das Zitat von Marc Jongen entstammt dem Protokoll der Sitzung des Deutschen Bundestages, 19. Wahlperiode, 87. Sitzung, 15. März 2019, S. 10172, online verfügbar unter: www.bundestag.de/dokumente/protokolle/amtlicheprotokolle/ap19087-629708. – Das Wort Thea Dorns vom Wissenschaftsklerus und die Replik lässt sich im Beitrag von Hannah Bethke auf faz.net vom 24.11.2020, online verfügbar unter: www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/forum-bellevue-ueber-die-zukunft-der-demokratie-17068739.html, lesen. – Das Zitat zur religiösen Semantik im Fußball entstammt dem Beitrag von Erik Zyber in ZEIT Online vom 16.2.2007, online verfügbar unter: www.zeit.de/online/ 2007/08/fussball-und-religion. – Das Zitat von Präsident Joseph R. Biden ist nachgewiesen in der Wiedergabe seiner Antrittsrede bei RPonline vom 20.1.2021, online verfügbar unter: rp-online.de/nrw/landespolitik/joe-biden-antrittsrede-die-rededes-neuen-praesidenten-in-deutsche-uebersetzung_aid-55796593. – Die Anzeige Wir brauchen keine Staatsreligion der arbeitgebernahen Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) fand sich am 11.6.2021 u. a. in der FAZ, in der SZ, im Tagesspiegel, im Handelsblatt und in Zeit Online, online verfügbar unter: www.zeit.de/kultur/2021-06/initiative-neu-soziale-markwirtschaft-kampagneannalena-baerbock-wahlkampf?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google. com.

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Transformationen religiöser Semantik | 315

Welbers, Ulrich (2022): Sprachgeschichte als Verstehensgegenwart sozialer Erfahrungserzählungen. Sprachphilosophische Anmerkungen zu Chancen und Problemen linguistischer Selbstpopularisierung und zu erneuerten Möglichkeiten einer narrativen Sprachgeschichtsschreibung. In Kersten Sven Roth & Martin Wengeler (Hrsg.), Diesseits und jenseits von Framing. Politiksprachenforschung im medialen Diskurs, 77–107. Hamburg: Buske. Welbers, Ulrich (2024): Weltansichtenwelt. Grundzüge einer semantischen Weltbeschreibung. 2 Bde. Paderborn: Brill Fink.

Stichwortverzeichnis abrahamitisch 5, 277, 281, 286, 287, 290 Adressat:in 159, 182, 183, 205, 261 adressieren 25, 47, 48, 158, 159, 195, 295 Affekt 149–152 affektiv 151, 162 Afrika 2, 43, 45, 88, 94, 95, 99 afrikanisch 2, 85–92, 95–97, 99–101 Akteur:in 15, 20, 25, 37, 38, 60, 90, 214, 232, 260, 262–264, 268, 299, 302, 310 Allah 58, 73, 288, 289 alttestamentlich 39, 50, 238, 239 analog 161, 310 Analogie 177, 188, 193, 201, 204, 267 Aspekt 1, 2, 4, 10, 15, 21, 25, 31, 39, 40, 49, 57–66, 69, 85, 100, 101, 118, 119, 134, 142, 149, 152, 172–175, 178, 179, 183, 187, 191, 194, 196, 199, 213, 246, 251, 264, 277, 295, 300 Auftrag 2, 31, 37, 39, 43, 50 Bibel 85–90, 93, 96–101, 116, 121, 126, 128–130, 132, 142, 185, 196, 207, 215, 246, 247, 278, 279, 283, 288–290 blended space 175, 176, 178–180, 203 Blending 3, 174–176, 180, 194, 208 Brief 3, 10, 16, 17, 20–22, 34, 35, 46, 48, 171, 172, 180–183, 186, 191, 195, 198, 199, 202, 205–208, 252 Charisma 62, 90, 101 charismatisch 2, 34, 61, 62, 85, 86, 88, 89, 95, 99, 184 Christentum 67, 90, 98–101, 176, 217, 224, 250, 255, 263, 286, 288–290, 302, 303, 310 christlich 2, 31–35, 39, 44, 49, 65–73, 79, 80, 86, 88, 92, 98, 99, 105, 108, 119, 120, 143, 154, 155, 182, 184, 185, 187, 189–193, 199, 201, 202, 217, 225, 237, 238, 247–249, 254, 269, 280, 286, 287, 289, 290, 301, 303 Christus 33–35, 37–39, 43, 44, 73, 90, 98, 101, 129, 171, 172, 176, 177, 183–189, 191, 192, 194, 195, 197, 199, 200, 202, https://doi.org/10.1515/9783110604696-014

203, 205, 215, 230, 239, 241, 246, 247, 250–252, 254, 269, 289 Corona 58, 64, 77, 118, 119, 123–126, 131, 133, 136, 137, 141, 164, 303 diachron 4, 236, 256 Diachronie 10 digital 3, 111, 148–150, 153, 154, 156–158, 164, 165, 181, 231, 302, 310 Diskurs 1, 4, 5, 14, 16, 20, 26, 32, 40, 48, 70, 87, 148, 156, 214, 232, 269, 296–298, 300, 304, 306, 307, 311 Diskurslinguistik 32, 37, 40, 296, 298 Diskurssemantik 5, 296, 299, 304 Emotion 150, 151 Erkenntnis 17, 107, 132, 139, 190, 197, 296 Ermächtigung 2, 31, 39, 50, 306 Etymologie 237, 238, 249 etymologisch 68, 216, 237, 249, 264 evangelisch 3, 43, 44, 85, 89, 105, 107–110, 112–118, 120–132, 135–137, 139, 141–143, 225, 227, 230, 289, 290, 295 Expansion 2, 31, 39, 41, 42, 44, 45, 49, 50, 270 Expansionismus 2, 31, 32, 36, 39, 42, 45, 47 Exzentrik 12, 13, 25, 26 Fragment 9–16, 19, 21, 22 Freitagspredigt 2, 57–70, 73–81 Frequenz 63, 113, 115, 118, 120–125, 131, 141, 142, 158 Frequenzanalyse 107, 112, 113, 118, 120, 124, 141, 143 Friedhof 154, 155 Gegenwartssprache 106, 107, 235, 256 gegenwartssprachlich 4, 229 Gemeinde 2, 3, 44, 57–60, 62–66, 68, 73, 74, 77, 78, 80, 85–93, 95–102, 110, 150, 252 Glaube 3, 15, 16, 18, 19, 34–36, 42, 79, 86, 92, 95, 98, 116, 119, 121, 126, 130, 132, 134–136, 139, 141, 142, 153, 176, 195, 231, 260, 289, 290, 303

318 | Stichwortverzeichnis

Gott 3, 15, 18–20, 22, 25, 33, 34, 36, 37, 39, 40, 44, 45, 47–49, 66–72, 77, 78, 81, 86, 89–91, 93, 100, 101, 105, 114, 115, 117–119, 121–123, 126–128, 130, 132, 134–136, 139, 141, 142, 147, 148, 160, 172, 177–179, 183, 189, 190, 196, 197, 199–201, 206, 207, 231, 237, 241, 243, 249, 264, 269, 277, 280, 281, 283, 287–290 Gottesdienst 2, 3, 57, 70, 71, 78, 85–89, 92, 95–101, 164, 244, 299 Grenzüberschreitung 2, 87, 88, 90, 91, 93, 96, 98, 100, 101 Grußformel 3, 171, 172, 180–184, 186, 198, 199, 202, 204, 205, 207, 208 Götter 252, 283 göttlich 18, 19, 23, 36, 64, 86, 171, 176, 183, 191–194, 199–202, 208, 220, 225, 241, 249, 254, 280 Hadith 64, 73–75, 288 Heilige Schrift 43, 128, 129, 132 Herrnhuter 40–43, 45, 46, 48, 49 herrnhutisch 31, 40–45, 49, 50 Himmel 13, 14, 33, 76, 91, 129, 160, 277, 280, 281, 283–287, 289–291 himmlisch 12, 183, 191, 194, 199, 200, 206 horizontal 66, 74, 80, 85–87, 89, 90, 92, 99–101, 308 Hölle 277, 287–291 Idealismus 1, 9, 11, 14 Idealtyp 1, 9–11, 14, 20–22, 24, 25 Identität 3, 78, 79, 90, 99, 102, 216, 296, 302, 304–307 Illokution 66, 74, 261, 264 illokutiv 261, 264–268 immanent 20, 25, 62, 68, 69, 72, 267, 269, 271 Immanenz 24, 73, 86 Inhalt 3, 34, 58, 59, 63, 66, 69, 73–75, 90, 91, 105, 107, 114, 133, 134, 141, 147, 174, 175, 202, 206, 208, 229 interkulturell 2, 85, 88, 91, 96–98, 100, 101 Interpretation 4, 13, 18, 20, 21, 25, 34–37, 50, 59, 66, 73, 76, 78, 79, 81, 86, 89, 278, 306, 309

Inversion 20, 296, 307–311 Islam 2, 58, 59, 63, 67–69, 71, 74–78, 80, 92, 288 islamisch 2, 57–62, 64–66, 68–71, 73–76, 78–81 Judentum 67, 278, 279, 287 jüdisch 2, 34, 154, 238, 247, 248, 254, 278–280, 287 Jüngstes Gericht 5, 277–281, 286, 288–292 katholisch 3, 88, 105–110, 112–118, 120–132, 135–137, 139, 141–143, 227, 247, 289, 290, 301, 302 Khatib 57, 67–69 Khutba 57, 59, 60, 63, 64, 68, 69, 73, 76 Kirche 34, 38, 39, 44, 87, 88, 90, 92–96, 98, 105, 107, 108, 110, 111, 116, 121, 123, 126, 130–133, 141–143, 154, 185, 238, 240, 241, 244–247, 259, 264, 270, 297, 301, 303, 311 kirchlich 19, 88, 154, 162, 241, 242, 245, 264, 301 Kommunikation 25, 34, 37, 65–67, 69, 70, 73, 75, 76, 78–81, 86, 89, 118, 149, 157, 159, 160, 254, 260–262, 266–271, 311 kompositionell 215, 228–230 Kompositum 16, 243, 248 Konfession 3, 87, 90, 93, 105–112, 114–118, 120, 121, 123, 127–130, 133, 135, 137–139, 141, 143, 154, 264 konfessionell 3, 85, 89, 91, 93, 96, 101, 105–108, 112, 113, 126, 135, 137, 138, 140, 141, 143, 144, 154, 213 Kontext 2, 5, 9, 10, 13, 14, 16, 17, 22, 31, 32, 34, 36, 37, 39, 40, 45, 57, 60, 66, 68, 69, 71, 79, 81, 85, 87, 99, 114, 116, 118, 119, 147, 148, 152, 156, 158, 159, 161, 162, 180, 184, 198, 199, 216, 229, 236, 238–240, 242, 244, 245, 248, 249, 251–254, 256, 259, 268, 271, 278, 297, 299, 300, 305 Konzept 2, 9, 10, 12, 14, 25, 31, 33, 36, 39, 40, 48, 67, 70–72, 77, 80, 81, 91, 108, 151, 173, 174, 176, 178, 180, 187, 189, 191–195, 198, 200, 203, 215, 236, 243, 255, 287, 288, 291, 306, 307

Stichwortverzeichnis |

Konzeptualisierung 3, 5, 71, 73, 261, 271 Koran 64, 69–75, 79, 288, 290 koranisch 68, 70, 74, 78, 79 Korpus 2, 33, 57, 58, 60, 62, 76, 79, 80, 105–109, 111–117, 121–133, 135, 136, 139, 141–143, 155–159, 165, 304 Kultur 42, 46, 68, 259, 260, 278, 279, 284, 286, 287, 291, 292, 306 kulturell 2, 3, 32, 36, 43, 67, 76, 78, 86, 89, 150, 151, 154, 156, 179, 180, 259, 279, 292, 296, 301, 305, 306, 308 Leben 12, 22–24, 42, 47, 59, 60, 67, 75, 79, 81, 85, 86, 99, 101, 108, 115, 131, 132, 134, 141, 142, 153, 186, 190, 191, 195–197, 231, 251, 253, 269, 281, 283, 285, 288, 289, 292, 302 lebendig 1, 11, 12, 16, 17, 19, 20, 22–24 Lexem 4, 70, 112, 117, 118, 121, 160, 180, 207, 213, 215, 216, 228–231, 236–238, 240, 242, 245, 247–249, 253–256, 268, 303 lexikalisch 213, 214, 228, 230, 231, 242 Licht 5, 173, 196, 254, 299 Macht 34, 37, 38, 86, 87, 244, 245, 262, 264, 268–271, 282, 306 Mensch 3, 4, 12, 13, 18–20, 22–24, 47, 48, 60, 66, 67, 71, 77, 87, 90, 91, 93, 96, 99, 106, 114, 115, 117, 127, 130, 134, 141, 142, 152, 159, 176, 182, 183, 185–192, 194, 195, 197, 198, 201, 202, 205, 229, 231, 238, 241, 245–247, 252, 254, 255, 261, 263, 264, 266, 267, 269–271, 280, 281, 283, 286–289, 297, 300, 303 menschlich 17, 19, 49, 65, 67, 68, 74, 185, 207, 239, 245, 247, 262, 263, 267, 269 Metapher 3, 81, 171–175, 178–181, 184, 185, 196, 201, 206–208 Metaphernszenario 5, 277, 278, 281–283, 289, 291, 292 Mission 2, 31, 39–46, 49, 50, 88, 99 Mittelalter 32, 150, 185, 186, 259–261, 270, 271 mittelalterlich 182, 186, 197, 267, 271 Mohammed 57, 62, 67, 69, 71, 74, 77 multimodal 148, 150, 156, 158, 161, 162, 164, 302

319

Mythologie 12–14, 16, 285, 288 Mythos 5, 173, 278, 280–286 Narration 5, 39, 45, 50, 277, 278, 282, 291, 292 narrativ 173, 267, 268, 278, 296 neutestamentlich 35, 36, 39, 50, 238, 239 offenbaren 42, 69, 126, 127, 130, 196 Offenbarung 17–19, 21, 69, 70, 74, 78 Opfer 4, 164, 197, 201, 236–256, 280, 282 opfern 237, 246, 249, 250, 252–254 Pandemie 3, 64, 119, 123, 124, 135, 137, 139, 141, 164, 297 Pastor:in 66, 85, 86, 88–101, 110 Philosophie 9, 17, 19, 21, 22, 228, 259, 296 Politik 2, 4, 32, 37, 38, 41, 60, 295, 303, 305 politisch 1, 5, 31–33, 36–38, 40–42, 50, 59, 60, 62, 63, 68–70, 86, 123, 259, 260, 268, 270, 296–301, 304–306, 311 Positionierung 1, 2, 9–15, 20, 24–26, 42, 91, 97, 99–101, 153, 160, 161, 172, 303, 306 Praktiken 12, 14, 32, 64, 78, 80, 86, 87, 93, 96, 147–154, 156, 158–160, 162, 164 Praxis 2, 40, 48, 63, 72, 76, 79, 87, 90, 92, 95, 97, 100, 155, 156, 159, 160, 299 predigen 44, 48, 62, 65 Prediger:in 34, 57–65, 72, 73, 79, 80, 85, 86, 89, 95, 213, 245, 302 Propaganda 75, 270, 271 Prophet 14, 34, 58, 62, 64, 66, 67, 69, 71, 74, 75, 77, 90, 130, 218, 220, 222, 303 protestantisch 73, 106, 301, 302 Protestantismus 2, 85 Präfix 215, 228, 262 Radiopredigt 3, 105–112, 114–129, 131–143 Rationalität 161, 297, 303, 308, 309 Reformation 4, 105, 106, 116, 123, 144, 158, 213, 214, 220, 225, 227, 229, 231 Religionslinguistik 1, 5, 9–12, 20, 25, 40, 164 Ritual 3, 12, 14, 39, 65, 70, 80, 154, 236, 238–242, 254, 269 rituell 34, 36, 39, 50, 61, 65, 70–73, 79, 308 Romantik 14, 26

320 | Stichwortverzeichnis

Schema 151, 182, 198, 199, 214, 277, 278, 282, 291, 292, 310 Schmeichelei 265–267 schmeicheln 4, 261, 263, 265–267 Schmähwortschatz 4, 213, 214, 231 Semantik 5, 63, 69, 201, 208, 268, 295–302, 304, 305, 307, 308, 313 Sendung 2, 31–33, 36–40, 49, 50, 108 Sendungsbewusstsein 31, 32, 44, 309 Sonntagspredigt 66, 105 Sprachbild 172, 176, 184, 196, 198, 206, 208 Sprachgebrauch 3, 5, 10, 25, 48, 91, 106, 107, 120, 126–128, 132, 143, 144, 236, 240, 247, 255, 295–297, 299, 302 Sprachwissenschaft 10, 79, 81, 312 sprachwissenschaftlich 2, 39, 57, 58, 66, 80, 214, 296, 306 Sprechakt 34, 36, 39, 63, 74 sprechakttheoretisch 2, 34, 261 Suffix 4, 215, 228, 229 säkular 4, 5, 60, 62, 68, 73, 134, 253, 261, 297, 299, 303, 304, 308 Säkularisierung 237, 255, 261, 267–270, 297 Sünde 44, 183, 185, 187–195, 241, 247, 250 Sündenfall 185, 190, 194, 263

Tanach 278–280, 284, 287, 288, 290 Testament 33, 34, 184, 196, 278, 280, 284, 286, 289, 290, 302 Tod 12, 118, 129, 147, 148, 152, 173, 187–191, 197, 201, 202, 204, 205, 242, 247, 250, 252, 253, 280, 283, 287–290, 302 Topos 49, 266, 267, 296, 298, 303 Tora 287, 290

Tradition 2, 5, 32–35, 59, 79, 85, 148, 184, 196, 208, 236, 291, 292, 301, 303, 307, 309 traditionell 42, 61, 116, 237, 282, 305, 310 transaktional 4, 261, 262, 267 Transformation 5, 13, 15, 149, 302, 308, 310, 311 Transzendenz 1, 5, 10, 13, 14, 19–21, 23–26, 39, 73, 85, 87, 88, 90, 93, 98, 153, 269, 277, 282, 286, 290, 292, 300, 306–310 Trauer 3, 147–150, 152–156, 158, 160, 164 Trost 86, 135, 136, 139, 141, 195, 199–202, 205 verehren 34, 72 Verehrung 14, 18, 34, 66, 67, 79, 95, 160, 186, 207, 245, 254 vergegenwärtigen 34, 73, 252 Vergegenwärtigung 14, 34, 66, 73, 79, 97, 207, 254 verheißen 25, 33, 36–39, 66, 249 Verheißung 2, 31, 33–40, 49, 50, 64, 81 verkünden 69–71, 73 verkündigen 69, 70, 72, 73 Verkündigung 14, 34, 36, 37, 40, 44, 66, 67, 69–73, 79, 86, 89, 101, 105, 107, 143, 207, 254 Verkündung 69–72 Vernunft 12, 14–18, 21, 311 Wahrheit 21, 46, 64, 196, 283, 288, 298, 303, 304, 306–309, 311 Wortschatz 3, 106, 119, 121, 123, 124, 131, 141, 213, 229, 253 Zeitalter 4, 38, 213, 214, 231