Sportgeographie: Ökologische, ökonomische und soziale Perspektiven 3662666332, 9783662666333, 9783662666340

Vom Lauf im Park bis zu Olympischen Spielen - Sport hat viele Facetten und die Wirkungen auf Umwelt, Wirtschaft und Gese

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Sportgeographie: Ökologische, ökonomische und soziale Perspektiven
 3662666332, 9783662666333, 9783662666340

Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Verzeichnis der Autorinnen und Autoren
1: Sportgeographie aus Perspektiven der Nachhaltigkeit – eine Einführung
1.1 Was versteht man unter Sport?
1.2 Sportgeographie
1.3 Sport aus den Perspektiven Raum, Nachhaltigkeit und Planung
Raum und Sport
Ökologie und Sport
Ökonomie und Sport
Gesellschaft und Sport
Planung und Sport
1.4 Fazit
Literatur
I: Raum und Sport
2: Raum und Räumlichkeit des Sports als gesellschaftliche Praxis
2.1 Sport aus der Perspektive der Raumkonzeption der Deutschen Gesellschaft für Geographie (DGfG)
2.2 Die Geographie des Sports und der Raum als Container
Box 2.1 Sportscape
2.3 Sport im Raum als System von Lagebeziehungen
2.4 Sport im wahrgenommenen Raum
2.5 Sport und Raum als soziale Konstruktion
2.6 Fazit
Box 2.2 Fragen der Sportgeographie vor dem Hintergrund verschiedener räumlicher Konzepte
Literatur
3: Natursportarten – räumliche Wirkungen und Konflikte
3.1 Natursportarten im Trend
3.2 Geographische Raumkonstruktionen und Natursport
3.3 Raumwirkungen und Raumkonflikte
Beispiel Kanusport – zunehmend unübersichtliche Regulierungsdichte
Beispiel Klettersport – vom Konflikt zur Zusammenarbeit
Beispiel Mountainbiking – starke Individualisierung, komplexe Konfliktlinien
Kumulationseffekte
3.4 Fazit
Literatur
4: Trendsportarten und Stadt – neue Formen der Raumaneignung
4.1 Trendsport – eine von vielen Definitionen
Box 4.1 Raumaneignung durch Trendsport auf unterschiedlichen Ebenen (nach Wopp, 2006, S. 388 ff.)
Box 4.2 Auswahl aktueller Trends, die sich zu möglichen neuen Trendsportarten entwickeln könnten (Stand: 2022; eigene Zusammenstellung)
4.2 Die Trendsportlerinnen und Trendsportler im Profil
4.3 Die Räume trendsportlicher Aktivitäten
4.4 Raumaneignung im Profil
4.5 Formen der Aneignung im Trendsport
Nomadentum: Uminterpretation öffentlich zugänglicher Räume und Kreation von neuen temporären Situationen
Box 4.3 Nomadentum
Nomadentum: Auswirkung und Herausforderung
Box 4.4 Sportification – deutscher Beitrag Architektur-Biennale Venedig 2004
Zwischenmiete: Umgestaltung vorhandener ungenutzter Grundstücksflächen und zeitlich befristete Bespielung
Box 4.5 Zwischenmiete
Zwischenmiete: Auswirkung und Herausforderung
Entrepreneurship: Groß angelegte Trendsportprojekte mit Perspektive, Zukunft und festem Standort
Box 4.6 Entrepreneurship
Entrepreneurship: Auswirkung und Herausforderung
4.6 Fazit
Literatur
5: Sport als politisches und gesellschaftliches Instrument in Grenzräumen
5.1 Sport und grenzüberschreitende regionale Integration
5.2 Die Wirkmacht von Sport im Rahmen grenzüberschreitender Kooperation und Integration
5.3 Wandern im Nachbarland mit Nachbarinnen und Nachbarn
5.4 Selbstverständliche Integration auch durch grenzüberschreitenden Sport
Literatur
II: Ökologie und Sport
6: Sport und seine ökologischen Auswirkungen – ein Überblick
6.1 Das Konfliktfeld Sport und Ökologie
6.2 Ökologische Auswirkungen individuell ausgeübter Natursportarten
6.3 Landschaftsverbrauch im Breitensport durch die Bereitstellung von Sportstätten
6.4 Der ökologische Fußabdruck von Sportgroßveranstaltungen im Profisport
6.5 Die bidirektionale Beziehung von Sport und Umwelt
6.6 Fazit: Sportökologie als junge Teildisziplin der Humanökologie
Literatur
7: Umweltauswirkungen von Skigebieten und Olympischen Winterspielen
7.1 Kunstschnee und Klimawandel
7.2 Umweltauswirkungen von Skigebieten
Wasserbedarf und Speicherbecken
Wasserqualität und Wasserverbrauch
Nachhaltigkeit und Naturrisiken
Böden und Vegetation
Lichtverschmutzung
7.3 Olympische Winterspiele und das Dilemma des Naturschutzes
7.4 Umweltrecht und Umweltschutz versus Ausnahmeregelungen
Literatur
8: Schneller, höher, ökologischer? Die Auswirkungen von Sportgroßveranstaltungen wie den Olympischen Spielen auf Natur und Umwelt
8.1 Ökologische Auswirkungen von Sportgroßveranstaltungen
8.2 Drei Beispiele Olympischer Sommerspiele von 2000 bis 2032
Die Green Games von Sydney 2000
Die Legacy Games von London 2012
Die Embedded Games von Brisbane 2032
8.3 Entwicklungslinien: Ökologie und Nachhaltigkeit von Olympischen Spielen
Von ökologischer zu umfassender Nachhaltigkeit
Vom kompakten Olympiagelände zur dezentralen Olympiaregion
Olympische Dörfer: von ökologischen und sozialen Vorzeigeprojekten zu gentrifizierten Siedlungen
Vom Umweltschutz zur Nachhaltigkeit zur Legacy
8.4 Fazit
Literatur
9: Nachhaltigkeitsziele von Sportgroßveranstaltungen auf der Arabischen Halbinsel: Die Fußball-Weltmeisterschaft der Männer 2022 in Katar
9.1 (Mega-)Sportevents – Strategie für Wachstum und Entwicklung
Fußball – weltweites Phänomen mit hoher Aufmerksamkeit
Sport, Macht und Politik
Sportifizierung der Arabischen Halbinsel
Neue Sportmärkte
Klimatische Barrieren
9.2 Katar und die FIFA Fußball-Weltmeisterschaft der Männer 2022
Kleines Land, großer Auftritt
Stadt- und Wirtschaftsentwicklung
Vorbereitung auf das Event
CO2-neutrales Turnier der kurzen Wege
9.3 Widerstand gegen die Fußball-Weltmeisterschaft
Bekleidung
Bier und Bratwurst
Klimatische Herausforderungen
Ökologische Herausforderungen
9.4 Zwischen Boykott, Begeisterung und Bestürzung
#BoycottQatar2022 – die Spiele boykottieren?
Beyond Qatar 2022
Neue geopolitische Macht- und Kräfteverhältnisse
Fair Play!
Literatur
III: Ökonomie und Sport
10: Regionalökonomische Wirkungen von Sportgroßveranstaltungen – ein Fallbeispiel aus dem Motorsport
10.1 Regionalökonomische Wirkungen von Sportgroßveranstaltungen
10.2 Die Wirkungsanalyse
Die Wertschöpfungsanalyse
Die Multiplikatoranalyse
10.3 Die regionalökonomische Bedeutung der Veranstaltungen auf dem Hockenheimring
10.4 Fazit
Literatur
11: Sportbezogene Arbeitsmärkte
11.1 Zusammenhänge zwischen Sport und Arbeitsmarkt
11.2 Abgrenzung von Sport in der Arbeitsmarktstatistik
Box 11.1 Statistiken zu Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und gemeldeten Stellen
Box 11.2 Klassifikation der Berufe
11.3 Struktur und Entwicklung des Arbeitsmarkts Sportberufe
Entwicklung von Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und gemeldeten Stellen
Struktur der Beschäftigung in Sportberufen
11.4 Regionale Bedeutung sportbezogener Beschäftigung
Räumliche Perspektiven der Analyse sportbezogener Beschäftigung
Box 11.3 Abgrenzung von Regionen in der Arbeitsmarktstatistik
Regionale Unterschiede sportbezogener Beschäftigung
Typisierung regionaler Arbeitsmärkte für Sportberufe
11.5 Fazit
Literatur
12: Ökonomische Effekte einer vitalen Sportstadt – das Beispiel Hamburg
12.1 Sport und Stadt im Wandel
Interaktionsbeziehungen zwischen Sport und Stadt
Wertschöpfung in der Querschnittsbranche Sport
Stadtbezogene Sporttrends
Das urbane Sport-Ökosystem in Hamburg: Infrastrukturen und Netzwerke
12.2 Ökonomische Effekte des Sports in Hamburg
Sportbezogene Wertschöpfung
Erweitertes Wertschöpfungskonzept durch Ausdauersportevents
Methode
Ergebnisse
12.3 Interpretation der Ergebnisse und Ausblick
Literatur
13: Beziehungen zwischen Vereins- und Stadtimage – eine empirische Analyse am Beispiel von Borussia Mönchengladbach
13.1 Image und seine regionalökonomische Bedeutung
13.2 Effekte eines professionellen Sportvereins auf seinen Standort
13.3 Eine empirische Analyse am Beispiel von Borussia Mönchengladbach
Daten und Methodik
Ergebnisse der Multi-Item-Befragungen
Ergebnisse der assoziativen Markennetzwerke
13.4 Fazit und Ausblick
Literatur
IV: Gesellschaft und Sport
14: Soziokulturelle Veränderungsprozesse des Empowerments durch Frauenfußball
14.1 Soziokulturelle Veränderungsprozesse des Empowerments
Box 14.1 Sportraum
Box 14.2 Ebenen des Empowerments im Frauenfußball (nach Maier, 2020)
14.2 Soziokulturelle Veränderungsprozesse des Empowerments durch und im Frauenfußball
Box 14.3 Title IX Federal Education Amendment (1972)
Individuelle Ebene
Gesellschaftlich-kulturelle Ebene
Organisational-strukturelle Ebene
14.3 Entwicklungskick? – Potenziale und Grenzen von Empowerment im Frauenfußball
Literatur
15: Sport verbindet – Migration im Profisport
15.1 Geographie und sportbedingte Migration
Box 15.1 Sportbedingte Migration
15.2 Entwicklung der sportbedingten Migration
Box 15.2 Bosman-Urteil
15.3 Netzwerke als Erklärungsansatz sportbedingter Migration
Box 15.3 Push- und Pull-Mechanismen sportbedingter Migration
Box 15.4 Soziale Netzwerke und Migrationssysteme
15.4 Kritik am System der internationalen sportbedingten Migration
15.5 Fazit und Ausblick
Literatur
16: Soziale Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im organisierten Sport – zwei Beispiele in der Schweiz
16.1 Migration, organisierter Sport und soziale Integration
Box 16.1 Bevölkerung mit Migrationshintergrund (nach BFS, 2021)
Box 16.2 Die vier Dimensionen sozialer Integration durch organisierten Sport (nach Esser, 2009)
16.2 Sportbeteiligung und Ausmaß der sozialen Integration im organisierten Sport
Sport- und Bewegungsverhalten der jungen Bevölkerung mit Migrationshintergrund
Ausmaß der sozialen Integration im organisierten Sport
16.3 Bedingungsfaktoren der sozialen Integration im organisierten Sport
Individuelle Bedingungsfaktoren der sozialen Integration bei Kindern und Jugendlichen
Organisationale Bedingungsfaktoren der sozialen Integration
16.4 Netzwerk Miteinander Turnen
Organisation von MiTu
Vorgehensweise von MiTu zur Förderung der Integration durch Sport
16.5 MidnightSports
Organisation von MidnightSports
Vorgehensweise von MidnightSports zur Förderung der Integration durch Sport
16.6 Zur Integrationsleistung der Good-Practice-Beispiele
16.7 Zusammenfassung und Ausblick
Literatur
17: Sozialräumliche Analyse von Sporträumen in Stadtquartieren
17.1 Raum, Sportraum und Sozialraum
Raum
Sportraum
Sozialraum und Segregation
17.2 Theoretischer Rahmen
Mensch-Raum-Beziehung
Zusammenhang von körperlicher Aktivität und Gesundheit
Soziale Segregation und Raum
17.3 Methode
Mängelanalyse bei Sportstätten
Sozialmonitoring zur Feststellung der Sozialstruktur
17.4 Anwendungsbeispiel
17.5 Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse aus der Perspektive der Sportentwicklungsplanung
Literatur
18: Die identitätsstiftende Wirkung von Sportstätten und Sportvereinen – der Hockenheimring und der 1. Fußballclub Kaiserslautern
18.1 Regionale Identität
18.2 Hockenheimring und 1. FC Kaiserslautern als regionale Identifikationsobjekte – ein Vergleich
Die Stadt Hockenheim und der Hockenheimring
Großstadt Kaiserslautern und der 1. FC Kaiserslautern
18.3 Fazit
Literatur
19: Sporttourismus – Reisemotivation von deutschen Fußballfans bei der WM 2014 in Brasilien
19.1 Sporttourismus
19.2 Reisemotivation
Reisemotivforschung
Box 19.1 Urlaubsreisemotivation
Reiseentscheidungen
19.3 Fußballfans und Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien
Fans
Box 19.2 Megaevent
Fan Club Nationalmannschaft
Fußball-Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien
Fancamp
19.4 Fußball-Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien: Reisemotive deutscher Fans
Untersuchungsmethode
Reisevorbereitung und Berichterstattung
Reisemotive: Wieso nach Brasilien zur Fußball-Weltmeisterschaft?
Reisemotive: Wieso ins Fancamp des Fan Club Nationalmannschaft?
19.5 Fazit
Literatur
V: Sport, Planung und Politik
20: Sportstättenentwicklungs
20.1 Sport und Sportstätte
20.2 Prozesse einer kommunalen Sportstättenentwicklungs
20.3 Hindernisse auf dem Weg zur endgültigen Sportstätte
Politiksystem – formalpolitische Beteiligungsverfahren
Rechtssystem – das Baugesetzbuch
Politik- und Verwaltungssystem – Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb für Architekten
Rechtssystem – die HOAI
Politiksystem – Förderprogramme für Sportstätten
20.4 Demographischer Wandel und gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland
20.5 Auswirkungen demographischer Veränderungen auf das Sportverhalten der Menschen und die Sportstätten
20.6 Zur derzeitigen Sportsituation in Deutschland
20.7 Die Stadt als einladender Bewegungsraum
Literatur
21: Sport und urbanes Grün – Bewegungsraum- Management in der kommunalen Freiraumplanung
21.1 Planung und urbanes Grün
Box 21.1 Konflikte bei der Nutzung urbanen Grüns
21.2 Sport und urbanes Grün – Veränderung der Nachfrage
21.3 Sport und kommunale Planung
21.4 Sportentwicklungsplanung als integriertes Bewegungsraum-Management
21.5 Sportentwicklungsplanung als Teil der integrierten Stadtentwicklung
Literatur
22: Olympische Spiele als Impulsgeber für eine nachhaltige Stadterneuerung? Das Beispiel Tokio
22.1 Stadtentwicklung mit Großprojekten
22.2 Die unternehmerische Stadt und der Preis für Olympia
22.3 Olympisches Dorf, Sportstätten- und Infrastrukturprojekte
22.4 Stadtumbau und Bevölkerungsverlagerungen
22.5 Fazit und Ausblick
Literatur
23: Stadtentwicklung und Stadionarchitektur
23.1 Status quo der Stadionarchitektur
23.2 Ikonische Architektur
23.3 Stadionarchitektur im Wandel
23.4 Ausstrahlungseffekte gebauter Umwelt – empirische Messungen
Box 23.1 Multivariate Verfahren – hedonische Modelle
Box 23.2 Multivariate Verfahren (diff-in-diff, OLS, SAR, binäre Wahl)
23.5 Fazit
Literatur
24: Nachhaltigkeit, Innovation und Vermächtnis: FIS Alpine Ski-Weltmeisterschaften St. Moritz 2017
24.1 Nachhaltigkeit, Innovation und Vermächtnis (NIV)
Nachhaltigkeit
Innovation
Vermächtnis
24.2 Das NIV-Konzept
Ursprung des Konzepts
Das NIV-Konzept der Alpinen Ski-Weltmeisterschaften St. Moritz 2017
24.3 Analysen und Berichterstattung
Ökonomischer und touristischer Nutzen
Projektziele
NIV-Charta
Erkenntnisse aus der Anwendung des NIV-Konzepts
24.4 Anwendbarkeit des NIV-Konzepts für Sportgroßveranstaltungen
24.5 Ausblick
Literatur
Stichwortverzeichnis

Citation preview

Paul Gans · Michael Horn Christian Zemann  Hrsg.

Sportgeographie Ökologische, ökonomische und soziale Perspektiven

Sportgeographie

Paul Gans • Michael Horn • Christian Zemann Hrsg.

Sportgeographie Ökologische, ökonomische und soziale Perspektiven

Hrsg.

Paul Gans Lehrstuhl für Wirtschaftsgeographie Universität Mannheim Mannheim, Deutschland Christian Zemann Nürnberg, Deutschland

Michael Horn Geographie Rheinland-Pfälzische Technische Universität Kaiserslautern Landau Landau in der Pfalz, Deutschland

ISBN 978-3-662-66633-3    ISBN 978-3-662-66634-0 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-662-66634-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.­dnb.­de abrufbar. © Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung des Verlags. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Der Verlag, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder der Verlag noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Der Verlag bleibt im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandabbildung: © Sergey Nivens / stock.adobe.com Planung/Lektorat: Simon Shah-Rohlfs Springer Spektrum ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature. Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany

V

Vorwort Sport hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einem Massenphänomen in unserer Gesellschaft entwickelt. Zeitgleich vollzog sich ein Wandel im Sport. Es entstanden und entstehen neue Formen sportlicher Aktivitäten, bestehende differenzieren sich aus: Stadtmarathon, Triathlon, Jogging im Wald, Nordic Walking oder ­Slacklinen in städtischen Parks, Skateboarden auf selbst gebauten Anlagen, Freerunning, Buildering, Bike-Polo, Rafting oder Mountainbiking. Die Beispiele veranschaulichen: Sport bedingt körperliche Bewegung, und Sport braucht Raum. Sie machen zudem deutlich, dass sich im Sport ein Wandel von den traditionell eher leistungsorientierten und von Vereinen organisierten Sportarten hin zu individuell inszenierten, trendigen Sportformen vollzieht. Zugleich verliert für Sporttreibende die Wettkampforientierung an Bedeutung, während – eingebettet in den von Individualisierung und Lifestyle geprägten gesellschaftlichen Wandel – Selbstinszenierung und Selbstdarstellung, aber auch körperliche Fitness oder Gesundheitsprävention an Relevanz gewinnen. Regeln spielen bei Sportformen eine untergeordnete Rolle, und die Mitgliedschaft in einem Verein ist für die Sportausübung nicht erforderlich. Daher findet sie üblicherweise nicht in normierten Sportstätten, wie Sporthallen, Stadien oder Sportanlagen, statt, sondern an den unterschiedlichsten Orten, wie in Städten, im Gebirge, auf Meeren und Seen oder entlang von Flüssen. Der Wandel im Sport führt zu neuen Raumansprüchen, denn neue Bedürfnisse zur Sportausübung verändern nicht nur die Nachfrage nach sportlichen Aktivitäten, sondern auch das Angebot, um der gewünschten Sportform nachzugehen – ein Angebot, das in den vorhandenen Sportstätten nur bedingt bereitgestellt werden kann. Der Wandel spiegelt sich deshalb auch in der Erschließung neuer Räume für den Sport mit neuen Formen der Raumaneignung und unterschiedlicher Raumwirksamkeit auf bisher vom Sport wenig genutzten Flächen. Neben dem aktiven Sporttreiben ist der passive Konsum von Sport, das Verfolgen von sportlichem Geschehen unmittelbar im Stadion oder mittelbar über die Medien, ein bedeutsames Phänomen mit vielfältigen Wirkungen. Das Interesse von Städten und Regionen an der Ausrichtung sportlicher Großereignisse beruht auf positiven regionalwirksamen Effekten. Attraktive Veranstaltungen im Sportbereich und damit einhergehende Steigerungen des Freizeitwerts können „weiche“ Standortfaktoren erheblich verbessern. Sportliche Aktivitäten sind mit Eingriffen in die Umwelt verbunden. Ökologische Folgen zeigen sich, wenn für Großveranstaltungen, die Zehntausende Menschen anziehen, neue Infrastrukturen geschaffen werden. Welche Konsequenzen hat der alpine Skibetrieb wegen der künstlichen Beschneiung für den Flächen- und Wasserverbrauch? Welche Konflikte bestehen zwischen Natursport und Naturschutz? Aus ökonomischer Perspektive sind u.  a. die Wirkungen von Sport auf Einkommen und Arbeitsmarkt relevant. Durch Sportgroßveranstaltungen beispielsweise entstehen neue Arbeitsplätze in unterschiedlichen Branchen, Investitionsentscheidungen werden getroffen, Steuern gezahlt und öffentliche Förderung für städtebauliche Erneuerung oder zum Erreichen von Klimazielen gewährt. Die soziale Relevanz des Sports liegt u. a. in seinem positiven Einfluss auf die Gesundheit der Sporttreibenden. Auch sein Beitrag zur Integration von Menschen mit Migrationshintergrund oder

VI

Vorwort

Beeinträchtigung ist nicht zu unterschätzen, denn die Kommunikation bei Sport in der Gemeinschaft wird von akzeptierten Regeln bestimmt, während z.  B. unterschiedliche Sprachkenntnisse eine geringe Relevanz innehaben. Inwiefern trägt Sport zum Empowerment, zur Verbesserung der sozialen Position von Frauen in der Gesellschaft, bei? Finden Menschen, die in benachteiligten städtischen Quartieren wohnen, angemessene Möglichkeiten für Spiel, Sport und Bewegung als Beitrag zur Gesundheitsvorsorge? Sportveranstaltungen und Sportvereine können zudem sozial wirken, indem sie das Zusammengehörigkeitsgefühl der Bewohnerinnen und Bewohner des Austragungsorts stärken. Der Wandel im Sport führt zu neuen raumbezogenen Ansprüchen durch sportliche Aktivitäten mit vielfältigen Wirkungen auf Ökologie, Ökonomie und Gesellschaft eines Raums, mit denen sich die integrierte Sportentwicklung im Rahmen der Stadt- und Regionalplanung nicht zuletzt wegen der gewachsenen gesellschaftlichen Bedeutung des Sports befassen muss. Für die Sportgeographie kristallisieren sich fünf thematische Schwerpunkte heraus, an denen sich die inhaltliche Struktur des vorliegenden Bands orientiert: Raum, die drei Komponenten der Nachhaltigkeit, Ökologie, Ökonomie, Soziales bzw. Gesellschaft, und Planung. Alleinstellungsmerkmal dieses Buchs ist, dass erstmals ein umfassender Überblick über die zahlreichen Formen des Sports mit seinen Wirkungen auf Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft gegeben wird. Die inhaltliche Breite wird von einer Vielfalt empirischer Forschungsmethoden in den Beiträgen ergänzt. Sie reichen von explorativ qualitativen Studien, mündlichen wie schriftlichen Befragungen, Online-­ Erhebungen, Auswertungen amtlicher Statistiken bis zur Anwendung von Input-­ Output-, Wirkungs- oder Sozialraumanalysen sowie mathematisch-statistischen Modellen. Basierend auf teils langjährigen, teils aktuellen Forschungen prägen die Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Disziplinen die inhaltliche wie methodische Vielfalt. Als Lehrbuch bietet der Band einen linearen Einstieg und Überblick. Im Sinne eines Sammelbands kann jedes Kapitel für sich gelesen werden. Die Erkenntnisse sind von Interesse für Forschende und Studierende der Fächer Geographie, Sportwissenschaft, Sozialwissenschaft und Wirtschaftswissenschaften sowie der Raum-, Regional- und Stadtplanung. Dass das Buch in dieser Form erscheinen konnte, ist vor allem den Kolleginnen und Kollegen zu verdanken, die sich mit ihren Beiträgen beteiligten. Dank gebührt auch den Kartografinnen und Kartografen verschiedener Geographischer Institute, besonders Frau Isolde Bauer (Rheinland-Pfälzische Universität in Landau, AG Geographiedidaktik), die alle Abbildungen einheitlich gestaltete. Unser Dank gilt auch dem Springer-Verlag, insbesondere Frau Carola Lerch und Herrn Simon Shah-­ Rohlfs, für die sehr gute Kooperation bei der Bandvorbereitung. Paul Gans

Mannheim, Deutschland Michael Horn

Landau in der Pfalz, Deutschland Christian Zemann

Nürnberg, Deutschland

VII

Inhaltsverzeichnis 1

 portgeographie aus Perspektiven der Nachhaltigkeit – S eine Einführung.............................................................................................................................. 1 Paul Gans, Michael Horn und Christian Zemann

1.1 1.2 1.3 1.4

 Was versteht man unter Sport?....................................................................................................... 3 Sportgeographie.................................................................................................................................. 4 Sport aus den Perspektiven Raum, Nachhaltigkeit und Planung....................................... 6 Fazit........................................................................................................................................................... 16 Literatur...........................................................................................................................................................16

I

Raum und Sport

2

Raum und Räumlichkeit des Sports als gesellschaftliche Praxis................... 21 Jochen Laub

2.1 2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 3

 Sport aus der Perspektive der Raumkonzeption der Deutschen Gesellschaft für Geographie (DGfG).............................................................................................. 24 Die Geographie des Sports und der Raum als Container....................................................... 25 Sport im Raum als System von Lagebeziehungen................................................................... 28 Sport im wahrgenommenen Raum............................................................................................... 30 Sport und Raum als soziale Konstruktion.................................................................................... 31 Fazit........................................................................................................................................................... 33 Literatur...........................................................................................................................................................34

Natursportarten – räumliche Wirkungen und Konflikte...................................... 37 Boris Braun

3.1 3.2 3.3 3.4

Natursportarten im Trend................................................................................................................. 39 Geographische Raumkonstruktionen und Natursport........................................................... 41 Raumwirkungen und Raumkonflikte............................................................................................ 42 Fazit........................................................................................................................................................... 47 Literatur...........................................................................................................................................................48

4

Trendsportarten und Stadt – neue Formen der Raumaneignung................. 49 Stephanie Haury

4.1 4.2 4.3 4.4 4.5 4.6

 Trendsport – eine von vielen Definitionen.................................................................................. 51 Die Trendsportlerinnen und Trendsportler im Profil................................................................ 54 Die Räume trendsportlicher Aktivitäten...................................................................................... 55 Raumaneignung im Profil................................................................................................................. 56 Formen der Aneignung im Trendsport......................................................................................... 57 Fazit........................................................................................................................................................... 64 Literatur...........................................................................................................................................................65

VIII

Inhaltsverzeichnis

5

 port als politisches und gesellschaftliches Instrument S in Grenzräumen.............................................................................................................................. 67 Bernhard Köppen und Muriel Backmeyer

5.3 5.4

 Sport und grenzüberschreitende regionale Integration........................................................ 69 Die Wirkmacht von Sport im Rahmen grenzüberschreitender Kooperation und Integration........................................................................................................... 72 Wandern im Nachbarland mit Nachbarinnen und Nachbarn............................................... 73 Selbstverständliche Integration auch durch grenzüberschreitenden Sport................... 78 Literatur...........................................................................................................................................................79

II

Ökologie und Sport

5.1 5.2

6

Sport und seine ökologischen Auswirkungen – ein Überblick........................ 83 Thomas Fickert

6.1 6.2 6.3 6.4 6.5 6.6 7

 Das Konfliktfeld Sport und Ökologie............................................................................................. 85 Ökologische Auswirkungen individuell ausgeübter Natursportarten.............................. 87 Landschaftsverbrauch im Breitensport durch die Bereitstellung von Sportstätten...................................................................................................... 91 Der ökologische Fußabdruck von Sportgroßveranstaltungen im Profisport................. 92 Die bidirektionale Beziehung von Sport und Umwelt............................................................ 94 Fazit: Sportökologie als junge Teildisziplin der Humanökologie........................................ 96 Literatur...........................................................................................................................................................97

 mweltauswirkungen von Skigebieten und Olympischen U Winterspielen................................................................................................................................... 101 Carmen de Jong

7.1 7.2 7.3 7.4

Kunstschnee und Klimawandel....................................................................................................... 103 Umweltauswirkungen von Skigebieten....................................................................................... 104 Olympische Winterspiele und das Dilemma des Naturschutzes.......................................... 108 Umweltrecht und Umweltschutz versus Ausnahmeregelungen......................................... 113 Literatur...........................................................................................................................................................115

8

 chneller, höher, ökologischer? Die Auswirkungen von S Sportgroßveranstaltungen wie den Olympischen Spielen auf Natur und Umwelt................................................................................................................ 119 Boris Braun und Frauke Haensch

8.1 8.2 8.3 8.4

 Ökologische Auswirkungen von Sportgroßveranstaltungen............................................... 122 Drei Beispiele Olympischer Sommerspiele von 2000 bis 2032............................................  124 Entwicklungslinien: Ökologie und Nachhaltigkeit von Olympischen Spielen................ 131 Fazit........................................................................................................................................................... 133 Literatur...........................................................................................................................................................134

IX Inhaltsverzeichnis

9

 achhaltigkeitsziele von Sportgroßveranstaltungen auf N der Arabischen Halbinsel: Die Fußball-­Weltmeisterschaft der Männer 2022 in Katar......................................................................................................... 137 Nadine Scharfenort

9.1 9.2 9.3 9.4

 (Mega-)Sportevents – Strategie für Wachstum und Entwicklung....................................... 139 Katar und die FIFA Fußball-Weltmeisterschaft der Männer 2022........................................  143 Widerstand gegen die Fußball-Weltmeisterschaft................................................................... 148 Zwischen Boykott, Begeisterung und Bestürzung................................................................... 150 Literatur...........................................................................................................................................................152

III

Ökonomie und Sport

10

 egionalökonomische Wirkungen von Sportgroßveranstaltungen – R ein Fallbeispiel aus dem Motorsport................................................................................ 157 Paul Gans und Michael Horn

10.4

Regionalökonomische Wirkungen von Sportgroßveranstaltungen.................................. 159 Die Wirkungsanalyse........................................................................................................................... 161 Die regionalökonomische Bedeutung der Veranstaltungen auf dem Hockenheimring.................................................................................................................. 164 Fazit........................................................................................................................................................... 172 Literatur...........................................................................................................................................................173

11

Sportbezogene Arbeitsmärkte............................................................................................. 175

10.1 10.2 10.3

Pierre-André Gericke und Christian Zemann 11.1 11.2 11.3 11.4 11.5

 Zusammenhänge zwischen Sport und Arbeitsmarkt.............................................................. 177 Abgrenzung von Sport in der Arbeitsmarktstatistik................................................................ 178 Struktur und Entwicklung des Arbeitsmarkts Sportberufe................................................... 181 Regionale Bedeutung sportbezogener Beschäftigung.......................................................... 185 Fazit........................................................................................................................................................... 193 Literatur...........................................................................................................................................................194

12

 konomische Effekte einer vitalen Sportstadt – Ö das Beispiel Hamburg................................................................................................................. 197 Maike Cotterell und Henning Vöpel

12.1 12.2 12.3

 Sport und Stadt im Wandel............................................................................................................... 199 Ökonomische Effekte des Sports in Hamburg........................................................................... 206 Interpretation der Ergebnisse und Ausblick............................................................................... 214 Literatur...........................................................................................................................................................215

13

 eziehungen zwischen Vereins- und Stadtimage – eine empirische B Analyse am Beispiel von Borussia Mönchengladbach.......................................... 217 Christina Masch

13.1 13.2

 Image und seine regionalökonomische Bedeutung................................................................ 219 Effekte eines professionellen Sportvereins auf seinen Standort......................................... 220

X

Inhaltsverzeichnis

13.3 13.4

 Eine empirische Analyse am Beispiel von Borussia Mönchengladbach............................ 222 Fazit und Ausblick................................................................................................................................ 232 Literatur...........................................................................................................................................................233

IV

Gesellschaft und Sport

14

Soziokulturelle Veränderungsprozesse des Empowerments durch Frauenfußball.............................................................................. 237 Janine Maier

14.1 14.2 14.3 15

Soziokulturelle Veränderungsprozesse des Empowerments................................................ 239 Soziokulturelle Veränderungsprozesse des Empowerments durch und im Frauenfußball......................................................................................................................... 243 Entwicklungskick? – Potenziale und Grenzen von Empowerment im Frauenfußball.................................................................................................... 250 Literatur...........................................................................................................................................................251

Sport verbindet – Migration im Profisport................................................................... 253 Sebastian Rauch

15.1 15.2 15.3 15.4 15.5

 Geographie und sportbedingte Migration................................................................................. 255 Entwicklung der sportbedingten Migration............................................................................... 257 Netzwerke als Erklärungsansatz sportbedingter Migration................................................. 262 Kritik am System der internationalen sportbedingten Migration...................................... 266 Fazit und Ausblick................................................................................................................................ 267 Literatur...........................................................................................................................................................269

16

 oziale Integration von Kindern und Jugendlichen mit S Migrationshintergrund im organisierten Sport – zwei Beispiele in der Schweiz............................................................................................................ 271 Jenny Adler Zwahlen

16.1 16.2 16.3 16.4 16.5 16.6 16.7 17

 Migration, organisierter Sport und soziale Integration.......................................................... 273 Sportbeteiligung und Ausmaß der sozialen Integration im organisierten Sport.......... 275 Bedingungsfaktoren der sozialen Integration im organisierten Sport............................. 276 Netzwerk Miteinander Turnen......................................................................................................... 279 MidnightSports..................................................................................................................................... 281 Zur Integrationsleistung der Good-Practice-Beispiele........................................................... 283 Zusammenfassung und Ausblick.................................................................................................... 284 Literatur...........................................................................................................................................................285

Sozialräumliche Analyse von Sporträumen in Stadtquartieren..................... 287 Robin Kähler und Finja Rohkohl

17.1 17.2 17.3 17.4 17.5

 Raum, Sportraum und Sozialraum................................................................................................. 289 Theoretischer Rahmen....................................................................................................................... 291 Methode.................................................................................................................................................. 294 Anwendungsbeispiel.......................................................................................................................... 298 Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse aus der Perspektive der Sportentwicklungsplanung.............................................................................. 300 Literatur...........................................................................................................................................................301

XI Inhaltsverzeichnis

18

 ie identitätsstiftende Wirkung von Sportstätten und D Sportvereinen – der Hockenheimring und der 1. Fußballclub Kaiserslautern.................................................................................................................................. 305 Paul Gans und Michael Horn

18.1 18.2 18.3 19

Regionale Identität.............................................................................................................................. 307 Hockenheimring und 1. FC Kaiserslautern als regionale Identifikationsobjekte – ein Vergleich.......................................................................................... 308 Fazit........................................................................................................................................................... 318 Literatur...........................................................................................................................................................319

 porttourismus – Reisemotivation von deutschen S Fußballfans bei der WM 2014 in Brasilien..................................................................... 321 Fabio P. Wagner und Julian M. L. Wilsch

19.1 19.2 19.3 19.4 19.5

Sporttourismus..................................................................................................................................... 323 Reisemotivation.................................................................................................................................... 324 Fußballfans und Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien............................................................. 326 Fußball-Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien: Reisemotive deutscher Fans..................... 330 Fazit........................................................................................................................................................... 334 Literatur...........................................................................................................................................................335

V

Sport, Planung und Politik

20

Sportstättenentwicklungs­planung: Künftiger Sportstättenbedarf unter Berücksichtigung demographischer Veränderungen..................................................................................... 339 Robin Kähler

20.1 20.2 20.3 20.4 20.5 20.6 20.7 21

Sport und Sportstätte......................................................................................................................... 341 Prozesse einer kommunalen Sportstättenentwicklungs­planung....................................... 342 Hindernisse auf dem Weg zur endgültigen Sportstätte......................................................... 344 Demographischer Wandel und gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland....................................................................................................... 345 Auswirkungen demographischer Veränderungen auf das Sportverhalten der Menschen und die Sportstätten....................................................... 346 Zur derzeitigen Sportsituation in Deutschland......................................................................... 350 Die Stadt als einladender Bewegungsraum................................................................................ 351 Literatur...........................................................................................................................................................352

 port und urbanes Grün – Bewegungsraum-Management S in der kommunalen Freiraumplanung............................................................................. 355 Holger Kretschmer

21.1 21.2 21.3 21.4 21.5

 Planung und urbanes Grün.............................................................................................................. 358 Sport und urbanes Grün – Veränderung der Nachfrage......................................................... 360 Sport und kommunale Planung...................................................................................................... 362 Sportentwicklungsplanung als integriertes Bewegungsraum-Management................ 364 Sportentwicklungsplanung als Teil der integrierten Stadtentwicklung........................... 366 Literatur...........................................................................................................................................................367

XII

Inhaltsverzeichnis

22

 lympische Spiele als Impulsgeber für eine O nachhaltige Stadterneuerung? Das Beispiel Tokio................................................. 369 Thomas Feldhoff

22.1 22.2 22.3 22.4 22.5 23

Stadtentwicklung mit Großprojekten........................................................................................... 372 Die unternehmerische Stadt und der Preis für Olympia......................................................... 374 Olympisches Dorf, Sportstätten- und Infrastrukturprojekte................................................ 377 Stadtumbau und Bevölkerungsverlagerungen......................................................................... 380 Fazit und Ausblick................................................................................................................................ 382 Literatur...........................................................................................................................................................384

Stadtentwicklung und Stadionarchitektur.................................................................. 387 Gabriel M. Ahlfeldt und Wolfgang Maennig

23.1 23.2 23.3 23.4 23.5

 Status quo der Stadionarchitektur................................................................................................. 389 Ikonische Architektur.......................................................................................................................... 391 Stadionarchitektur im Wandel......................................................................................................... 392 Ausstrahlungseffekte gebauter Umwelt – empirische Messungen.................................... 394 Fazit........................................................................................................................................................... 401 Literatur...........................................................................................................................................................402

24

 achhaltigkeit, Innovation und Vermächtnis: FIS Alpine N Ski-­Weltmeisterschaften St. Moritz 2017...................................................................... 405 Jürg Stettler, Anna Wallebohr und Sabine Müller

24.1 24.2 24.3 24.4 24.5

 Nachhaltigkeit, Innovation und Vermächtnis (NIV).................................................................. 407 Das NIV-Konzept................................................................................................................................... 410 Analysen und Berichterstattung..................................................................................................... 412 Anwendbarkeit des NIV-Konzepts für Sportgroßveranstaltungen..................................... 415 Ausblick................................................................................................................................................... 417 Literatur...........................................................................................................................................................418

Serviceteil Stichwortverzeichnis...................................................................................................................................423

XIII

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren Jenny Adler Zwahlen  Dr. phil., ist wissenschaftliche Mitarbeiterin der Fachstelle Integration und Prävention am Bundesamt für Sport in Magglingen (Schweiz). Sie studierte Sportwissenschaft, Sozialanthropologie sowie Allgemeine Ökologie an der Universität Bern und promovierte zum Thema „Soziale Integration von Menschen mit Migrationshintergrund im organisierten Vereinssport“. In Thüringen geboren, war sie aktive Biathletin bis 2008. Gabriel Ahlfeldt  Professor für Urban Economics and Land Development an der London School of Economics, ist zudem Dozent an der TU Berlin und unterrichtet dort das Fach Stadtökonomie im Masterstudiengang Real Estate Management. Gabriel Ahlfeldt ist Herausgeber der Fachzeitschrift Regional Science and Urban Economics. Er wird im aktuellen Handelsblatt-Ranking im Bereich Regionalökonomie als einer der forschungsstärksten Ökonomen im/aus dem deutschsprachigen Raum geführt. Muriel  Backmeyer  studierte Bio-Geo-Wissenschaften an der Universität Koblenz (B.  Sc. 2021). Derzeit ist sie Studentin der Psychologie an der Georg-August-Universität Göttingen. Ihre Interessensschwerpunkte liegen in den Bereichen raumkompetentes Umweltverhalten, interregionale Kooperation und Integration sowie nachhaltige Entwicklung. Boris Braun  ist Professor für Anthropogeographie mit Schwerpunkt Wirtschaftsgeographie an der Universität zu Köln. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen Aspekte der regionalen und globalen Wirtschaftsentwicklung sowie die Anpassung an den Klima- und Umweltwandel, insbesondere im Globalen Süden. Immer wieder hat er aber auch zu Themen des Sports gearbeitet. Seit 2022 ist er der Vorsitzende des Verbands für Geographie an deutschsprachigen Hochschulen und Forschungseinrichtungen (VGDH). Maike  Cotterell  Diplom-Volkswirtin und -Sportökonomin, begann ihre berufliche Laufbahn als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Außenhandel und Wirtschaftsintegration der Universität Hamburg. Es folgte eine Zeit in der Geschäftsführung eines mittelständischen Familienbetriebs in Hamburg. Später war sie als Autorin, u. a. für das Hamburger WeltWirtschaftsInstitut (HWWI), und als Personal Trainerin tätig. Parallel dazu war sie im Amateur-Leistungssport aktiv. Heute arbeitet Maike Cotterell mit Jugendlichen an einer Berufsschule in der Ausbildungsvorbereitung. Thomas  Feldhoff  Dipl.-Regionalwissenschaftler mit Schwerpunkt Ostasien/Japan, promovierte und habilitierte sich in Humangeographie an der Universität Duisburg-Essen. Seit 1996 ist er wissenschaftlich an Universitäten in Deutschland, Großbritannien und Japan tätig, seit 2016 als Professor für Humangeographie am Geographischen Institut der Ruhr-Universität Bochum mit Schwerpunkten in der Geographischen Energie-, Ressourcen- und Ostasienforschung. Thomas Fickert  Dr. rer. nat., studierte Geographie mit den Nebenfächern Geologie und Biologie an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Nach seiner Promotion an derselben Universität zu einem vegetationskundlichen Thema war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Physische Geographie der Universität Passau, wo er 2014 habilitierte. Seit 2021 ist er Referent in der Abteilung Naturschutz beim Landesverband Baden-Württemberg des Deutschen Alpenvereins e. V.

XIV

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Paul Gans  hatte bis Anfang 2017 den Lehrstuhl für Wirtschaftsgeographie in der Abteilung Volkswirtschaftslehre der Universität Mannheim inne. Seine Forschungen befassen sich mit Themen zu Bevölkerung und Stadt; sie erstrecken sich zudem auf die Wirkungen von Sport und Sportgroßveranstaltungen. Er war Mitglied zahlreicher außeruniversitärer Gremien, darunter im Senat und Evaluationsausschuss der Leibniz-Gemeinschaft, in Wissenschaftlichen Beiräten sowie Kuratorien von Forschungsinstituten und internationalen Zeitschriften. Mit den Herausgebern verbindet ihn eine lange Zusammenarbeit im Bereich der Sportgeographie. Pierre-André  Gericke  Prof. Dr., lehrt seit 2017 Wirtschaftswissenschaften an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung. Seine Interessengebiete sind die Arbeitsmarktanalyse sowie die Wirtschafts- und Sozialstatistik. Vor seiner Tätigkeit als Hochschullehrer war er bei der Bundesagentur für Arbeit im Bereich Statistik/Arbeitsmarktberichterstattung tätig und nahm Lehraufgaben an verschiedenen Universitäten und Hochschulen wahr. Frauke Haensch  studierte an der Universität zu Köln die Fächer Geographie und Englisch für das Gymnasial- und Gesamtschullehramt und schloss das Studium 2022 mit dem Master of Education ab. Ihre Studienschwerpunkte lagen in der Stadt- und Wirtschaftsgeographie. Von 2017 bis 2022 war sie als wissenschaftliche Hilfskraft am Lehrstuhl für Wirtschaftsgeographie tätig. Sie absolviert derzeit ihr Referendariat an einem Gymnasium in Stolberg. Stephanie  Haury  arbeitet seit 2009 als Stadtforscherin für das Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) in Bonn. Nachhaltige und informelle Ansätze in der Stadtentwicklung sowie Grün- und Freiräume stellen Schwerpunkte ihrer Forschung dar. Zum Thema „Jugendliche im Stadtquartier“ forschte sie zu verschiedenen Fragestellungen im Rahmen von Projekten zum informellen Sport. Stephanie Haury studierte Architektur und Stadtplanung in Karlsruhe und Barcelona. Michael  Horn  ist Geograph und Akademischer Direktor an der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau am Campus Landau. Er studierte an der Universität Mannheim und promovierte dort am Lehrstuhl für Wirtschaftsgeographie. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in den Bereichen Geographiedidaktik, Bevölkerungs-, Stadt- und Wirtschaftsgeographie. Mit den Herausgebern verbindet ihn eine lange Zusammenarbeit im Bereich der Sportgeographie. Carmen de Jong  ist seit 2015 Professorin für Hydrologie am LIVE, Fakultät für Geographie und Raumplanung der Universität Straßburg, Frankreich. Seit 2006 untersucht sie sowohl die Umweltauswirkungen von Kunstschnee und Skigebieten als auch die Wasserknappheit in den Alpen, den europäischen Mittelgebirgen und Gebirgen in China, Türkei und Sibirien. Weitere Forschungsschwerpunkte sind Dürren und Umweltprobleme im Rheingraben. Robin Kähler  Prof. Dr., ist Direktor a. D. des Sportzentrums der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Er ist Sportwissenschaftler mit den Schwerpunkten Sportsoziologie, -ökonomie sowie -pädagogik. Er fungiert mit seiner Expertise für Sportstätten-, Sportraum- und Sportentwicklungsplanung in Städten und Gemeinden als Gutachter und Berater der Bundesregierung. Er ist Vorsitzender der Internationalen Vereinigung für Sportstätten und Freizeitanlagen, IAKS Deutschland.

XV Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Bernhard Köppen  Prof. Dr., studierte Geographie an den Universitäten in Erlangen, Bamberg und Grenoble. Nach dem Studium war er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der TU Chemnitz, Juniorprofessor an der Universität Koblenz-Landau, Senior Researcher in Luxemburg/Eschsur-Alzette und am Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung in Wiesbaden. Seit 2017 hat er eine Professur für Humangeographie an der Universität Koblenz inne und beschäftigt sich mit Fragen zu Bevölkerungsgeographie, Regionalentwicklung sowie zu Grenzen und Grenzräumen. Holger  Kretschmer  ist Akademischer Rat am Geographischen Institut der Universität zu Köln. Nach einem Studium der Geographie an der Universität zu Köln und einer Promotion an der Deutschen Sporthochschule Köln forscht und lehrt er heute zu Themen der Stadtentwicklung, Digitalisierung und Sportentwicklung. Dabei stehen vor allem die Wechselwirkungen zwischen Digitalisierung und integrierter Stadtentwicklung im Fokus der Betrachtungen. Jochen  Laub  Dr., ist promovierter wissenschaftlicher Mitarbeiter der AG Geographiedidaktik der Rheinland-Pfälzischen Technischen Universität Kaiserslautern-Landau am Campus Landau. Seine Lehr- und Forschungsschwerpunkte umfassen Aspekte der Neuen Kulturgeographie und Geographiedidaktik. Dabei sind seine Schwerpunkte bildungstheoretische Grundfragen der Geographiedidaktik, ethisches Urteilen im Geographieunterricht und in der Bildung für nachhaltige Entwicklung. Als (Trail-)Marathonläufer nahm er an zahlreichen internationalen Läufen teil. Wolfgang  Maennig  ist Professor für Volkswirtschaftslehre am Fachbereich Volkswirtschaftslehre der Universität Hamburg. Er war u. a. Gastprofessor an der University of California Berkeley, am MIT und an der Universität Stellenbosch (Südafrika). Seine Forschungsarbeiten zur Stadt- und Sportökonomik wurden in den führenden internationalen wissenschaftlichen Zeitschriften veröffentlicht. Wolfgang Maennig ist Mitherausgeber u.  a. des International Handbook on the Economics of Mega Sporting Events sowie des Buchs Under­ standing German Real Estate Markets. Er ist Olympiasieger im Achter (1988) und Träger des Olympischen Ordens und hat bei den deutschen Olympiabewerbungen Berlin 2000, Leipzig 2012 und München 2018 gutachterlich mitgearbeitet. Er ist Ehrenvorsitzender des Deutschen Ruderverbands. Janine Maier  Dr., studierte B. A. Staatswissenschaften, M. A. Geographie mit den Fächern Kultur, Umwelt, Tourismus und promovierte in Geographie. Sie war als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Anthropogeographie (2011–2013) und an der Professur für Regionale Geographie (2013–2021) tätig. Seit 2020 ist sie Projektleiterin bei CENTOURIS (Projekte in den Bereichen Tourismus, Regional- und Stadtentwicklung) und Lehrbeauftragte in Geographie an der Universität Passau. Ihr Interesse für den Frauenfußball beruht auf ihrer Erfahrung als Spielerin (2. Frauen-Bundesliga) und Trainerin (A-Lizenz). Christina  Masch  ist seit 2014 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Niederrhein Institut für Regional- und Strukturforschung (NIERS) an der Hochschule Niederrhein in Mönchengladbach. Zuvor schloss sie ihr Masterstudium in Business Management an der Hochschule Niederrhein ab. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen in den regionalwirtschaftlichen Effekten von Sportvereinen, der Bedeutung von Standortfaktoren für Unternehmensentscheidungen sowie der Wahrnehmung von Hochschulen und Hochschulstandorten.

XVI

Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Sabine Müller  Dr., ist seit 2018 als Dozentin und Projektleiterin am Institut für Tourismus und Mobilität der Hochschule Luzern in der Schweiz tätig. Zu ihren Themengebieten gehören nachhaltige Tourismusentwicklung, Sporttourismus, Outdoorsport und Events. Sie leitet Beratungsprojekte zu verschiedenen touristischen Themen und ist in Aus- und Weiterbildung tätig. Zuvor hat sie als Beraterin für private Unternehmen, Nichtregierungsorganisationen bis hin zu nationalen Regierungen in verschiedenen Ländern gearbeitet. Sebastian Rauch  ist seit 2015 wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Professur für Sozialgeographie der Universität Würzburg tätig. In seiner Promotion beschäftigte er sich mit dem Zusammenhang von Migration und sozialen Netzwerken im professionellen Sport. Seine weiteren Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der medizinischen Geographie, der Mobilitäts- und Verkehrsforschung sowie Methoden der quantitativen Sozialforschung. Finja Rohkohl  Dr., ist seit 2010 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Arbeitsbereich „Sportökonomie und Sportsoziologie“ am Institut für Sportwissenschaft der Christian-Albrechts-­ Universität zu Kiel. Sie ist promovierte Sportwissenschaftlerin und studierte zudem Volkswirtschaftslehre und Pädagogik. Schwerpunkt ihrer Arbeit ist die Sportentwicklungs- und Sportraumplanung. Hier verfügt sie über langjährige Erfahrungen. Ihre zentralen Forschungsfelder sind die Themenbereiche der Sportentwicklung. Nadine Scharfenort  PD Dr., ist beim Bundesverband der Deutschen Tourismuswirtschaft e. V., Projektleitung Deutscher Klimafonds Tourismus (DKT), tätig. Sie promovierte in Geographie an der Universität Wien und habilitierte in Geographie an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. In ihren Forschungen befasst sie sich mit der urbanen, wirtschaftlichen, sozialen und politischen Transformation sowie der touristischen Entwicklung in Ländern der Arabischen Halbinsel (v. a. VAE, Katar, Oman), mit Halal-Tourismus und interkulturellem Dialog im touristischen Alltag. Jürg Stettler  promovierte an der Universität Bern zum Thema „Sport und Verkehr“. Er ist Vizedirektor und Forschungsleiter der Hochschule Luzern – Wirtschaft sowie Leiter des Instituts für Tourismus und Mobilität (ITM). Das Institut forscht, berät und lehrt in den Bereichen Tourismus, Mobilität und Nachhaltigkeit. Die Kernkompetenzen von Jürg Stettler liegen in den Themenbereichen Destinationsmanagement, Nachhaltigkeit sowie Sportökonomie mit Schwerpunkt auf den volkswirtschaftlichen Wirkungen von Sportgroßveranstaltungen. Henning Vöpel  ist Vorstand der Stiftung Ordnungspolitik und Direktor des Centrums für Europäische Politik mit Sitz in Berlin, Freiburg im Breisgau, Paris und Rom. Außerdem ist er Professor an der BSP Business and Law School. Zuvor war er von 2014 bis 2021 Direktor und Geschäftsführer des Hamburger WeltWirtschaftsInstituts (HWWI). 2003 promovierte er mit einer Arbeit zu den „Stabilisierungswirkungen der Geldpolitik“. Seine Forschungsschwerpunkte sind Globalisierung und Digitalisierung sowie Regional- und Sportökonomik. Fabio  P.  Wagner  Dr. phil., Programmleiter am Internationalen Fußball Institut (IFI) in München, Ismaning. Er lehrte und forschte im Bereich Sportmanagement von 2016 bis 2021 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Nach seiner Promotion wurde er Programmleiter für das Institutszertifikat „Management im leistungsorientierten Fußball“ am IFI sowie Dozent für Organisation, Marketing, Social Media und Stakeholder im Fußballmanagement an der Hochschule für angewandtes Management.

XVII Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Anna Wallebohr  ist seit 2013 am Institut für Tourismus und Mobilität der Hochschule Luzern  – Wirtschaft tätig. Sie erlangte ihr Diplom in Sportwissenschaften an der FriedrichSchiller-­Universität Jena und schloss dort 2019 ihre Promotion zum Dr. phil. ab. Zu Ihren Tätigkeiten gehört neben der Lehre die Bearbeitung von Forschungs- und Beratungsprojekten in den Themenfeldern Sporttourismus, Events und Gesundheitstourismus. Julian M. L. Wilsch  Dipl.-Päd., ist als Businesstrainer im Unternehmenskontext in München tätig. Während seines Studiums an der Universität Koblenz-Landau unterstützte er die wissenschaftlichen Erhebungen zur Reisemotivation der deutschen Fußballfans bei der Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien. Christian  Zemann  studierte Geographie an der Universität Mannheim und promovierte 2005 am dortigen Lehrstuhl für Wirtschaftsgeographie zum Thema „Sportgroßveranstaltungen“. In seinen Projekten im Kontext Sport und Geographie entwickelte er Verfahren zur Bewertung sportlicher Ereignisse nach den Dimensionen der Nachhaltigkeit. Er leitet den Fachbereich fachliche Entwicklung und Analytik der Statistik der Bundesagentur für Arbeit. Mit den Herausgebern verbindet ihn eine lange Zusammenarbeit im Bereich der Sportgeographie.

1

Sportgeographie aus Perspektiven der Nachhaltigkeit – eine Einführung Paul Gans, Michael Horn und Christian Zemann

Stadtmarathon kurz vor dem Start. (© bint87/stock.adobe.com)

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Gans et al. (Hrsg.), Sportgeographie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66634-0_1

1

Inhaltsverzeichnis 1.1

Was versteht man unter Sport? – 3

1.2

Sportgeographie – 4

1.3

 port aus den Perspektiven Raum, Nachhaltigkeit S und Planung – 6  aum und Sport – 6 R Ökologie und Sport – 8 Ökonomie und Sport – 10 Gesellschaft und Sport – 12 Planung und Sport – 14

1.4

Fazit – 16 Literatur – 16

1

3 Sportgeographie aus Perspektiven der Nachhaltigkeit – eine Einführung

Einleitung Sport ist ein Phänomen, das seit den 1990er-­ Jahren unsere Gesellschaft auf neue Weise durchdringt. Es entstehen neue Formen sportlicher Aktivitäten, bestehende differenzieren sich aus. Ihre Ausübung ist zumeist nicht an Sportstätten gebunden, sondern sie eignen sich die unterschiedlichsten Orte an, z.  B.  Jogging im Wald, Nordic Walking oder Slacklinen in städtischen Grünanlagen, Schwimmen in Seen, Skateboarden mithilfe selbst gebauter Anlagen auf ungenutzten Flächen, Stadtmarathon (Kapiteleröffnun­ gsbild), Triathlon oder Freerunning  – eine Disziplin, die im Vergleich zum klassischen 100-Meter-Lauf athletische, akrobatische und ästhetische Elemente verbindet – in Stadt- oder Naturlandschaften. Die Beispiele verdeutlichen zum einen, dass „Sport per se an Raum gebunden ist“ (Peters & Roth, 2006, S. 7), zum anderen, dass sich im Zuge des gesellschaftlichen Wandels hin zu Individualisierung und Lifestyle Raumansprüche sportlicher Aktivitäten ausdifferenzieren. Zugleich ändert sich die Raumwirksamkeit des Sports, dessen Ausübung sich zudem von einem hohen Organisationsgrad mit weitgehender Beschränkung auf Sportanlagen unterschiedlichster Art hin zu zunehmend von institutionalisierter Begrenzung und Normierung emanzipierten sportlichen Aktivitäten mit ubiquitären Raumnutzungen entwickelte.

1.1 

 as versteht man unter W Sport?

Sport ist an Bewegung geknüpft  – wenn auch nicht jede unmittelbar dem Sport zuzuordnen ist (Tibbe et  al., 2011). Sporttreibende können individuell oder im Team ganz unterschiedliche Ziele mehr oder minder bewusst verfolgen, wie sich körperlich zu ertüchtigen, insbesondere fit zu sein und gesund zu bleiben, in Gemeinschaft zu sein,

Abstand oder Ausgleich zum Alltag zu gewinnen, Selbstbewusstsein und Selbstwirksamkeit zu verbessern, Bestleistungen aufzustellen, Herausragendes oder Einzigartiges zu leisten. Die vielfältigen Formen von und Motive für Sport erschweren eine Begriffsbestimmung (Peters & Roth, 2006, S.  18). Zudem weicht die Auffassung zwischen Personen, was unter Sport zu verstehen ist, durchaus voneinander ab. Treibt man z. B. mit Schachspielen, Angeln in der Freizeit oder Radfahren zum Einkaufen Sport? Zur Umgehung dieser Schwierigkeiten legt Robin Kähler eine inhaltlich allgemein gehaltene Definition vor (7 Kap. 20): „Unter Sport wird alles verstanden, was der Mensch unter seinem Sport selbst sieht“ oder „Sport ist das, was die Menschen selbst darunter verstehen“. Diese breite Auffassung von Sport strukturieren Tibbe et al. (2011, S. 10) nach den vier Dimensionen persönliche Merkmale der Sporttreibenden, Ort, Organisationsform und Motivation ihrer sportlichen Handlungen: „Der Begriff des Sports umfasst vielfältige Bewegungs-, Spiel- und Sportformen, an denen sich alle Menschen unabhängig von Geschlecht, Alter, sozialer und kultureller Herkunft an unterschiedlichsten Orten allein oder in Gemeinschaft mit anderen zur Verbesserung des physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens sowie zur körperlichen und mentalen Leistungssteigerung beteiligen können.“ Tibbe et al. (2011) leiten aus den unterschiedlichen Zielen, Sport zu treiben, zwei Kategorien zur Beschreibung sportlicher Aktivitäten ab. Unter Sportarten subsumieren sie den traditionellen, Profi- wie Amateursport einschließenden Leistungssport, der „eindeutig definierte, messbare Ziele“ aufweist, „einem internationalen Regelwerk“ unterliegt und in Form von „Wettkämpfen organisierbar“ ist (Tibbe et  al., 2011, S.  10). Diese Auffassung von Sport bildete die Grundlage für den Goldenen Plan zur Sportstättenentwicklung in  

4

1

P. Gans et al.

Deutschland Anfang der 1960er-Jahre sowie den Goldenen Plan Ost 1992 (7 Kap.  20 und 21). In den gebauten, normierten Sportanlagen, Sporthallen oder Stadien findet Leistungssport statt, weil die Wettkämpfe entsprechend den vorgegebenen Regeln durchgeführt werden können. Der Zugang zu diesen Sportstätten ist gewöhnlich an die Mitgliedschaft in Sportvereinen gebunden, die den Leistungssport weitgehend organisieren. Veranstaltungen im Leistungssport unterscheiden sich in der Reichweite ihrer Ausstrahlung. Man denke nur an Fußballspiele in der Kreisliga mit lokaler oder Spiele eines Vereins der Fußball-Bundesliga mit nationaler und durchaus internationaler Orientierung (7 Kap.  13). Klassische Beispiele, für die Medien, Wirtschaft, Politik, Zuschauerinnen und Zuschauer weltweit ein hohes Interesse zeigen, sind die Olympischen Sommer- wie Winterspiele (7 Kap. 7, 8 und 22), Fußball-Weltmeisterschaften der Frauen wie Männer (7 Kap. 9, 14 und 19), Formel-1-Grand-Prix (7 Kap.  10 und  18) oder die Tour de France (7 Kap. 2). Sportarten spiegeln ein enges Verständnis von Sport wider, weil ihnen u.  a. die messbaren Ziele des klassischen Leistungssports zugrunde liegen. Sportformen fehlen dagegen Merkmale des traditionellen Sports; sie stehen für sportliche Aktivitäten, die in Gruppen oder individuell eigenständig organisiert sind, für die Regeln zur Ausübung eine untergeordnete Rolle spielen, eine Vereinsmitgliedschaft nicht erforderlich ist und die üblicherweise nicht in normierten Sportstätten, sondern in frei zugänglichen Sporträumen wie Grünanlagen, öffentlichen Freiräumen oder brachliegenden Gewerbeflächen ausgeübt werden (7 Kap.  4,  20 und  21). Sporträume schließen alle organisierten und informellen sportlichen Aktivitäten unabhängig davon, wo sie stattfinden, ein: Reiten oder Marathon auf der Erdoberfläche, Rafting auf dem oder Tauchen im Wasser, Gleitschirmfliegen oder Bungee­ springen in der Luft (Peters & Roth, 2006,  













S. 27). Bewegungen von Personen als Voraussetzung einer Sportart oder -form müssen keine sportlichen Ziele haben und schließen auch Orte außerhalb von Sporträumen ein. Bewegungsräume umfassen Sporträume. Sportformen repräsentieren die seit den 1990er-Jahren an Bedeutung gewinnende erweiterte Auffassung von Sport, die in einen breiten gesellschaftlichen Wandel eingebettet und gekennzeichnet ist von einer Hinwen­ dung zu postmaterialistischen Einstell­ungen, die Selbstverwirklichung und Individualisierung, Emanzipation und Autonomie einen hohen Stellenwert beimessen. Infolge dieser gesellschaftlichen Veränderungen gewinnen im Sport ichbezogene Verhaltensweisen und Selbstinszenierungen an Bedeutung, die u. a. darin zum Ausdruck kommen, dass die überwiegende Mehrheit aller Sport- und Bewegungsaktivitäten selbst oder informell organisiert ist. Dies wiederum führt zu einer steten Transformation in der Ausübung des Sports aufgrund von Innovationen, z.  B. durch die Kombination verschiedener Bewegungsformen oder die Einführung neuer Regeln, und setzt Maßstäbe für neue Trends im Sport (7 Kap. 4). Die Lösung des Sports von seinem traditionellen leistungsorientie­ rten Verständnis durchdringt seit den 1990er-Jahren die Gesellschaft und zeigt eine Entwicklung auf, die auch als „Versportlichung“ der Gesellschaft, „Sportisierung“ oder als „sportives Zeitalter“ bezeichnet wird (Peters & Roth, 2006, S. 19; 7 Kap. 6).  



1.2 

Sportgeographie

Von einigen früheren Arbeiten abgesehen, kann der Beginn einer eigenständigen Sportgeographie auf die 1970er- und 1980er-Jahre in der englischsprachigen Geographie festgelegt werden. Vor allem die Arbeiten von Rooney (1974), A Geography of American Sport: From Cabin Creek to Anaheim, und Bale (1982), Sport and Place: A Geography of Sport in England, Scotland and Wales,

5 Sportgeographie aus Perspektiven der Nachhaltigkeit – eine Einführung

sind herauszuheben. Die Forschungen in dieser Zeit entsprachen dem raumwissen­ schaftlichen Ansatz der Humangeographie. Sie basierten auf einer quantitativen, deskriptiv-statistischen Methodik, deren Sch­ werpunkt auf der kartographischen Erfas­ sung von Vereinen, einzelnen Sportarten oder der Herkunft von Sportlerinnen und Sportlern lag. Bale (1993a) selbst kritisierte dieses Vorgehen später und bezeichnete es als „kartographischen Fetischismus“. Seine Kritik ist als Reaktion auf die qualitative Revolution  – cultural turn  – in der Humangeographie der 1990er-Jahre zu verstehen und bedeutete eine Öffnung der Sportgeographie für sozial- und kulturwissenschaftliche Methoden und Themen. Die bloße kartographische Beschreibung von Sport wurde durch eine interpretativ geprägte Forschung ergänzt bzw. ersetzt. Sporttreibende und deren individuelles Handeln im Raum rückten in den Vordergrund der Betrachtung (Maier, 2020, S.  23). Es entstanden Forschungsarbeiten zur Mobilität und zu Wanderungsmotiven von Sportlerinnen und Sportlern (Bale, 1991), zu Sportlandschaften (Bale, 1994; Raitz, 1995) und zum Verhältnis von Sport und Stadt (Bale, 1993b). In der jüngsten Phase, ab ca. den 2000er-­ Jahren, war und ist die postmoderne Sport­ geographie gekennzeichnet durch den Wegfall von disziplinären Grenzen und die weitere Öffnung für eine Vielzahl von Methoden. Diese Entwicklung bildet der vorliegende Band ab. Es erfolgte eine Ausdifferenzierung, bei der das sportliche Handeln im Raum noch stärker in den Fokus der Betrachtung rückte (Peters & Roth, 2006). Es wurden Untersuchungen zu ökologis­ chen, ökonomischen und sozialen Themenfeldern durchgeführt. Beispielsweise untersuchten Egner (2001) die Auswirkungen von Trend- und Natursportarten auf die Umwelt, Gericke et  al. (2012) die sportbezo­ genen Arbeitsmärkte und Maier (2020) die soziokulturellen Veränderungsprozesse des Empowerments durch Frauenfußball. Ein

1

anderer sportgeographischer Schwerpunkt dieser Phase war die Untersuchung der Effekte von Sportgroßveranstaltungen. So entwickelten Gans et  al. (2003) ein Bewertungsverfahren für die ökonomischen, ökologischen und sozialen Wirkungen von Sportgroßveranstaltungen im Sinne der Nachhaltigkeit. Die aufgezählten Studien behandelten jeweils Teilbereiche der Sportgeographie. Mit der Schrift Sportgeographie – Versuch einer Systematik von Sport und Raum legten Peters und Roth (2006) aus der Perspektive der Sportwissenschaft eine ausführliche Darstellung der zeitlichen Entwicklung der Forschungsdisziplin vor. Maier (2020, S.  21) kritisierte diese Arbeit und merkte an, dass „[…] die Geographie im (postmodernen) kulturwissenschaftlich-kons­ truktivistischen Verständnis bereits seit Anfang der 2000er-Jahre […]“ über das von den Autoren „[…] primär essentialistische Raumdenken (‚Containerraum‘) hinweggekommen ist […]“. Grundsätzlich können zur Analyse sportlicher Aktivitäten vier miteinander kombinierbare Raumkonzeptionen, in die Jochen Laub (7 Kap. 2) einführt, differenziert werden1 (Wardenga, 2002): Raum als Container, Raum als System von Lagebeziehungen, wahrgenommener Raum und Raum als soziales Konstrukt. In den einzelnen Beiträgen finden unterschiedliche Methoden und Herangehensweisen Anwendung, beziehen die Autorinnen und Autoren aus unterschiedlichen Fachdisziplinen Raum in ihrer Betrachtungsweise ein und folgen dabei dem Interesse, aus geographischer Perspektive sportbezogene Handlungen zu erfassen, zu beschreiben, zu systematisieren und vor allem kritisch zu hinterfragen. Die Beziehung zwischen Sport und Raum ist Erkenntnisobjekt sportgeo­ graphischer Forschung, welche unter Beachtung ökologischer, ökonomischer und/  

1 Weitere Typologien unterscheiden zwischen absoluten, relativen, relationalen und topischen Räumen (7 Kap. 3; Suwala, 2021).  

6

1

P. Gans et al.

oder sozialer Fragestellungen sportliche Aktivitäten untersucht, Wirkungen prognostiziert und im Planungsprozess zur Gestaltung sportbezogener Handlungen im Raum beiträgt.

1.3 

 port aus den Perspektiven S Raum, Nachhaltigkeit und Planung

Mit dem Wandel der Gesellschaft geht ein Wandel im Sport einher. Dessen Transformation äußert sich in neuen Bedürfnissen zur Sportausübung und verändert nicht nur die Nachfrage nach sportlichen Aktivitäten, sondern auch das Angebot, um der gewünschten Sportform nachzugehen. Die Entwicklung spiegelt sich in sozialen und kulturellen Fragestellungen zum Sport, betrifft ökonomische Aspekte, wird in ihrer Bedeutung für die Gesellschaft von der Politik aufgegriffen, führt zu ökologischen Herausforderungen, erschließt neue Räume für den Sport mit neuen Formen der Raumaneignung und unterschiedlicher Intensität der Raumwirksamkeit auf bisher vom Sport wenig genutzte Räume. Es entstehen neue raumbezogene Ansprüche durch sportliche Aktivitäten, mit denen sich die integrierte Sport- und Stadtentwicklungsplanung nicht zuletzt wegen der gewachsenen gesellschaftlichen Bedeutung des Sports befassen müssen. Für die Sportgeographie kristallisieren sich fünf thematische Schwerpunkte heraus, an denen sich die inhaltliche Struktur des vorliegenden Bands orientiert: Raum, die drei Komponenten der Nachhaltigkeit (Ökologie, Ökonomie, Soziales bzw. Gesellschaft) und Planung.

Raum und Sport Sporttreiben bedingt, sich im Raum zu bewegen. Sportliche Aktivitäten sind immer mit Raumaneignung verknüpft, wie Gleit-

fliegen, Nordic Walking, Bergsteigen oder Schwimmen verdeutlichen. Raumeigenschaften beeinflussen, wo die jeweilige Sportform ausgeübt wird, und der Sport  – organisiert wie informell – wirkt auf räumliche Strukturen. Den Zusammenhang zwischen Sport und Raum bzw. Sport und Geographie erörtert Jochen Laub in seinem Beitrag „Raum und Räumlichkeit des Sports als gesellschaftliche Praxis“ (7 Kap.  2) am Beispiel des Mont Ventoux, wiederholt Etappenziel der Tour de France, aus der Perspektive der vier Raumkonzepte der Deutschen Gesellschaft für Geographie (DGfG, 2002). Die Betrachtungsweise Raum als Container erfasst einen konkreten Raumausschnitt auf ganzheitliche Weise nach physisch- sowie humangeographischen und topographischen Merkmalen. Auf dem Weg zum 1905  m hohen Mont Ventoux stellen die sommerlichen Temperaturen des mediterranen Klimas, verstärkt noch durch die starke Sonneneinstrahlung im Gebiet des weitgehend vegetationsfreien Kalkgipfels, und der Mistral, der Orkanstärke erreichen kann, besondere Herausforderungen an die Radrennfahrerinnen und Radrennfahrer. Jeder Raumausschnitt ist Teil eines Systems von Räumen, die sich mit ihrer unterschiedlichen Charakteristik in Lagebeziehungen zueinander befinden. Der Mont Ventoux, Gigant der Provence, ist am Rand des Rhône-Tals gelegen der weithin höchste Berg und ein Magnet für Radfahrerinnen und Radfahrer, die mit dem 21  km langen Anstieg zum Gipfel ihre Leistungsfähigkeit testen. Das Konzept der Wahrnehmung des Raums basiert auf dem individuellen Erfassen von und subjektiven Erfahrungen mit dem Raum. Beim Anstieg zum Mont Ventoux spüren die Sporttreibenden die Grenzen ihres Leistungsvermögens, die Hitze, die Rückstrahlung des Kalksteins, den Mistral  – und genießen umso mehr die großartige Aussicht vom Gipfel, die an klaren Tagen bis zum Mittelmeer reicht. Raum als soziales Konstrukt entwickelt sich aus Zu 

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schreibungen medialer Repräsentation von in Ausmaß und Intensität zu unterschiedRaum. Jochen Laub greift die gesellschaft- lichen Konflikten mit dem Naturschutz liche Wahrnehmung von Sport und seine (7 Kap. 6). Instrumentalisierung am Beispiel der BeAus geographischer Perspektive sind leuchtung der Allianz Arena in den Regen- Trendsportarten und -formen wie Bike-Polo, bogenfarben anlässlich des Fußballspiels Crossminton oder Buildering, auf die Stezwischen den Nationalmannschaften Deut­ phanie Haury am Beispiel städtischer schlands und Ungarns auf. Die Beispiele zei- Räume eingeht (7 Kap. 4), besonders intergen, dass die vier Raumkonzepte helfen, die essant. Trendsportlerinnen und Trendsportvielfältigen Beziehungen zwischen Sport ler beeinflussen zum einen mit ihrer Kreativiund Raum aus den verschiedensten Perspek- tät und ihrer Nichtbeachtung von Regeln tiven zu analysieren. und Standards den Wandel im Sport und reDer Beitrag von Boris Braun zu Natur- flektieren zeitnah gesellschaftliche Veränd­ sportarten (7 Kap.  3) spiegelt die Aus- erungen. Zum anderen haben sie je nach wirkungen des gesellschaftlichen Wandels Sportart eine spezifische Wahrnehmung des auf die Art und Weise wider, warum und wo Raums, die sich z. B. an dessen Nutzbarkeit Sport ausgeübt wird. Natursportarten sind und Zugänglichkeit orientiert. Sie heben Ausdruck des Wunschs einer in Städten le- sich von der konventionellen Art des tradibenden Gesellschaft nach Selbstverwirk­ tionellen Sports ab (7 Kap. 20), sind selbstlichung, Entspannung und Erholung vom organisiert, entwickeln neue BewegungsAlltag in Verbindung mit dem Erleben der kulturen und lifestylegerechte Innovationen. Natur. Es sind spezifische Herausford­ Trendsportlerinnen und Trendsportler ererungen der jeweiligen Natursportart, die schließen neue, selbst gesuchte Räume, Orte dazu motivieren, sind sie doch Ausdruck an- zur Selbstdarstellung, an denen sie ihre spruchsvoller, individueller Fähigkeiten, die körperliche Exzellenz und Einzigartigkeit den Unterschied ausmachen, wie dies beim präsentieren können. Es handelt sich um Klettern der Fall ist: Körperliche Fitness, alle für Trendsportarten geeigneten Orte im Fachkenntnisse und finanzieller Aufwand Stadtraum: Areale des öffentlichen Raums, für die Ausrüstung schließen bestimmte Be- undefinierte Resträume, die in der Stadtvölkerungsgruppen aus. Der Trend zu den planung wenig  – wenn überhaupt  – BeNatursportarten, die mit der Corona-­ achtung finden (7 Kap. 21), z. B. unter BrüPandemie einen zusätzlichen Impuls er- cken oder entlang von Gleisanlagen, zudem fuhren (7 Kap.  6), entfaltet eine beträcht- brachliegende Gewerbe- und Industrieliche Raumwirksamkeit, deren Ausmaß z. B. flächen oder Baulücken. Es sind sogenannte von den körperlichen und finanziellen An- praktizierte Freiräume, von den Nutzerinforderungen der Sportart, den jeweiligen nen und Nutzern selbst geformte Räume, Eigenschaften des Raums und dessen Wahr- die sich von den gestalteten Räumen, deren nehmung durch die Sporttreibenden beein- Funktionen von der Stadtplanung festgelegt flusst wird. So wirkt sich alpiner Skisport sind, unterscheiden. Im Zuge verschiedener flächen- und wasserverbrauchend aus Formen der Raumaneignung, die am Beispiel (7 Kap. 7), während Sportarten, die – auch Nomadentum, Zwischenmiete und Entreinfolge geringer Zahlen von Sport- preneurship vorgestellt werden, interpreti­ treibenden  – weniger Infrastrukturen be- eren Trendsportlerinnen und Trendsportler nötigen, wie Klettern oder Kanufahren, mit die Nutzung der Areale neu. ihrer räumlich konzentrierten Nutzung Bernhard Köppen und Muriel BackRäume formen können. Sie sind je nach meyer beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit Natursportart von spezifischen öko- den Potenzialen des Sports für das politische logischen Belastungen geprägt und führen Ziel der EU, die regionale grenzüber­  













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schreitende Integration zu stärken (7 Kap. 5). So ist seit 2014 Sport dem Programm Erasmus+ zugeordnet, das auf die Begegnung, den Austausch zwischen den Bevölkerungen der Mitgliedstaaten fokussiert. Die Sinnhaftigkeit dieser politischen Instrumentalisierung des Sports zeigt sich in seinen Eigenschaften, insbesondere Respektieren vereinbarter Regeln und Einhalten von Fairness, die sprachlichen und kulturellen Barrieren für die Kommunikation zwischen Bevölkerungsgruppen eine untergeordnete Rolle beimessen (7 Kap.  16). Sport schafft gute Voraussetzungen für den Austausch zwischen Menschen in benachbarten Grenzräumen, fördert die wechselseitige Vertrauensbildung und trägt dadurch zur grenzüberschreitenden Kooperation und zum europäischen Gemeinschaftsgefühl bei. In diesem Sinne stellt „Sport auf symbolische Weise einen transnationalen Begegnungsort“ dar. Eine explorative, qualitative Befragung von Mitgliedern einer Wandergruppe aus Frankreich und Deutschland zur Wahrnehmung des Grenzraums Schwarzwald und Vogesen gibt Hinweise, dass Gren­ züberschreitung heute etwas Selbstverständliches ist und Grenze nicht mehr automatisch zwei Container definiert, dass die dadurch mögliche grenzüberschreitende integrierte Raumaneignung nicht zwingend auf die EU-Politik bezogen wird und dass Personen unabhängig von ihrer Staatsangehörigkeit positiv wahrgenommen werden.  



sende Interesse an Mountainbiking, Bergsteigen, Golfen, Kanufahren oder Skilaufen belegt (7 Kap.  3,  7 und  21). Zugleich verdrängt der um sich greifende Wettkampfgedanke das Motiv, durch den Sport Natur zu erleben, und verleiht Rekorden einen hohen Stellenwert. In extremer Weise zeigt sich dies im Alpinismus, wenn es darum geht, wer am schnellsten die 14 Achttausender der Welt besteigt (Schüller, 2022). Der Bau von Sportanlagen beeinflusst die Qualität des Landschafts- und Stadtbilds (7 Kap.  23) oder beeinträchtigt Landschaftsschutzge­ biete. Sportgroßveranstaltungen haben einen besonders großen ökologischen Fußabdruck infolge des Energieverbrauchs während des Events und des auf ihn zurückzuführenden Reiseverkehrs. Lärmbelastungen, Luftschadstoffimmissionen oder große Abfallmengen sind weitere Begleiterscheinungen (Gans et  al., 2003; 7 Kap.  8 und  22). Sport wirkt sich auf die Umwelt aus, diese beeinflusst aber auch den Sport und seine Ausübung. Diese Wechselwirkung zeigt sich am Beispiel des Klimawandels, der in den Alpen die schneesichere Zeit verkürzt (7 Kap.  7). Als Antwort der Forschung auf die bestehenden Herausforderungen plädiert Thomas Fickert für eine integrative Sportökologie, die sich mit den facettenreichen Interaktionen zwischen Sport und Umwelt befasst. Mit diesen wechselseitigen Beziehungen und ihren ökologischen Folgen befasst sich der Beitrag „Umweltauswirkungen von Skigebieten und Olympischen Winterspielen“ von Carmen de Jong (7 Kap. 7). Ausgangspunkt ist der Klimawandel, der in Wintersportgebieten eine Verkürzung der Skisaison verursacht. Zur Kompensation wurde in den 1980er-Jahren erstmals die künstliche Beschneiung räumlich begrenzt eingesetzt. Heute ist die Beschneiung ein flächendeckendes Instrument, den Winter entgegen der fortschreitenden Erwärmung zu verlängern, und sie betrifft mit den erforderlichen Infrastrukturen auch zu den Skipisten benachbarte Gebiete: Erhöhter  









Ökologie und Sport Sport ist in vielfacher Weise umweltrelevant. Seine ökologischen Auswirkungen stellt Thomas Fickert in einem detailreichen Überblick gegliedert nach drei Aspekten vor (7 Kap. 6). Sporttreiben selbst ist mit unterschiedlichen Eingriffen in die Umwelt verbunden und dokumentiert sich z. B. in den Natursportarten, die mit dem Wandel im Sport weiterhin an Bedeutung gewinnen werden, wie das wach 

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Wasserbedarf, Wasserkonflikte, Bau von Speicherbecken in Senken in Höhenlagen und damit zusammenhängend die Vernich­ tung von Feuchtgebieten, erosionsanfä­llige Böden, verminderte Biodiversität oder zunehmende Naturrisiken, wie Muren und Hangrutschungen, sind Schlagworte zur Beschreibung der vielfältigen Folgen. Sie werden am Beispiel der Olympischen Winterspiele von 2010 bis 2022, die in Nachbarschaft zu oder gar in Naturschutzgebieten stattfanden, aufgezeigt und es werden die Verstöße gegen den Umweltschutz, insbesondere auch gegen die eigene Nachhalt­ igkeitsstrategie des Internationalen Olympischen Komitees (IOK), verdeutlicht. Auch in den alpinen Skigebieten wird Umwelt­ schutz trotz gesetzlicher Vorgaben unter häufiger Anwendung von Ausnahmeregel­ ungen missachtet. Ob schärfere Kon­trollen und ein umfassendes Monitoring helfen, die Herausforderungen zu lösen, bleibt abzuwarten, denn die politisch und wirtschaftlich Verantwortlichen sowie die internatio­ nalen Sportorganisationen haben offenbar noch nicht erkannt, dass die Durchsetzung von Maßnahmen zu Naturschutz und Klimawandel mehr und mehr gefragt sind. Die wachsende Relevanz von Umweltund Nachhaltigkeitskonzepten bei der Umsetzung von Sportgroßveranstaltungen dokumentieren Boris Braun und Frauke Haensch in einer vergleichenden Be­ trachtung der Olympischen Sommerspiele von Sydney (2000), London (2012) und Brisbane (2030; 7 Kap.  8). Der fortschreitend höhere Stellenwert des Umwelt- und Naturschutzes spiegelt sich in den spezifischen Nachhaltigkeitsstrategien wider: Sydney führte Umweltschutzrichtlinien ein, London verfolgte einen ganzheitlichen Ansatz von Nachhaltigkeit (Legacy; 7 Kap. 24) als integrierten Bestandteil der Spiele, und Brisbane setzt auf eine Einbindung der Vorhaben in eine Zusammenführung von Re­ gional- und Stadtentwicklungsplanung. Die einzelnen Projekte zur Umsetzung, die die  



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Bereiche Energie, Biodiversität/Umweltschutz, Abfall, Transport sowie Sportstätten betreffen, reduzieren zwar die ökologischen Belastungen, vermeiden sie aber nicht. Trotzdem könnten Vorzeigeprojekte, wie der Ausbau des ÖPNV oder ökologisch nachhaltiges Bauen der Olympischen Dörfer und Sportstätten (7 Kap.  22), langfristig eine positive Bilanz erzielen. Boris Braun und Frauke Haensch empfehlen bei der Planung von Sportgroßveranstaltungen ein konsequentes Monitoring (7 Kap. 24), einschließlich der Berechnung des ökologischen Fuß­ abdrucks (7 Kap.  6), die Einbindung von Nichtregierungsorganisation (NGOs) oder keine Ausweitung der Großereignisse durch weitere Sportarten oder Mannschaften. Der Beitrag von Nadine Scharfenort zur FIFA Fußball-Weltmeisterschaft 2022 in Katar macht die vielfältige Raumwirksam­ keit und facettenreiche Instrumentalisierung des Sports in Ökologie, Ökonomie und Gesellschaft im Rahmen einer Großveranstaltung sichtbar (7 Kap. 9). Mit der Zusage, erstmals eine CO2-neutrale Fußball-WM zu organisieren, erhielt Katar trotz des extrem ariden und heißen Klimas den Zuschlag. Die ökologische Instrumentalisierung des Sports beschränkt sich im Wesentlichen auf die Reduzierung des Energie- sowie Wasserverbrauchs und der Müllmenge. Maßnahmen sind kurze Transportwege, die Wiederverwendung bzw. der Rückbau der WM-Stadien, die Verlegung der WM vom Sommer in den Herbst, der Bau einer U-Bahn oder der Ausgleich unvermeidbarer Emissionen durch die Anpflanzung von Bäumen. Ob die CO2-Neutralität erreicht werden kann, ist jedoch bei den vorliegenden klimatischen Bedingungen anzuzweifeln. Die ökonomische Instrumentalisierung des Sports zeigt sich darin, dass er seit Jahren Treiber einer Soft-Power-Strategie der Regierung mit Investitionen in Medien, Kultur, Tourismus und Sport ist, um das Land auf der „Weltbühne“ zu etablieren (Sons, 2022, S.  1) und zugleich die katarische Wirtschaft zu diversi 







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fizieren (Sons, 2022; Steinberg, 2022). Nach ersten Sportveranstaltungen Mitte der 1990er-Jahre mit regionaler Ausstrahlung gelang mit den Asian Games 2006 der internationale Durchbruch, und 2010 war die Vergabe der Fußball-WM 2022 aus politischer und ökonomischer Sicht ein epochaler Erfolg für Katar. Das kleine Land wurde über Nacht weltweit bekannt (Steinberg, 2022, S. 21) und ­attraktiv für Weltmeisterschaften verschiedener Sportarten, z.  B. der Leichtathletik 2019. Die politische Instrumentalisierung des Sports wurde durch den Ausbau der Sportinfrastruktur und Investitionen in den internationalen Spitzensport noch forciert und dient dem Emirat als wichtiger Baustein, Nation Building zu betreiben. Ziel ist, nach außen das Land als positive Marke zu positionieren, nach innen politische Machtstrukturen sowie die Loyalität zum Herrscherhaus zu sichern und identitätsstiftend zu wirken (Sons, 2022; 7 Kap. 18). Katar kann die Soft-Power-Strategie ohne ausländische Arbeitskräfte nicht umsetzen. Ihre Arbeitsverhältnisse, an denen sich massive Kritik entzündete und die die Bezeichnung „Katar: WM der Schande“ begründeten (Reimann Graf, 2016), basieren auf dem Kafala-­System, bei dem Arbeitnehmende vollständig von Arbeitgebenden abhängen. Diese „Bürgen“ besitzen gegenüber den Arbeitsmigrantinnen und -migranten eine enorme Verfügungsgewalt. Sie können den Arbeitskräften „u. a. den Reisepass abnehmen, deren Bewegungsfreiheit kon­trollieren und vertragliche Absprachen modifizieren“ (Sons, 2022, S.  18). Zwar wurden 2017 Arbeitsrechtsreformen eingeführt, 2020 das Kafala-­ System offiziell abgeschafft und ein Mindestlohn bezahlt, aber Menschenrechtsverletzungen aufgrund der weiterhin miserablen Arbeitsverhältnisse, der kata­ strophalen Wohnbedingungen, der mangelnden Frauen- und LGBTIQ+-Rechte bleiben ein Thema der Schlagzeilen. Erstmals wird eine Fußball-WM in einem arabischen Land aus 

getragen. Die Bevölkerung folgt dem Wahabismus und damit dessen Verhaltensnormen im Alltag und öffentlichen Raum. Bestehenden Vorschriften zu Bekleidung, Essund Trinkgewohnheiten sollten die Fußballfans mit Respekt begegnen, sich z.  B. dezent bekleiden, auf Schweinefleisch und Alkohol verzichten.

Ökonomie und Sport Am Beispiel des Hockenheimrings schätzen Paul Gans und Michael Horn die regional­ wirtschaftlichen Impulse, die von Veranstaltungen auf die Region ausgehen (7 Kap. 10). Grundlage sind die Ergebnisse umfassender empirischer Erhebungen zum Ausgabeverhalten der Besucherinnen und Besucher anlässlich der 320 Veranstaltungen auf dem Ring im Jahr 2014. Die Vorgehensweise basiert auf der Wirkungsanalyse, bei der angenommen wird, dass sich jede ökonomische Aktivität in einer Nachfrage niederschlägt. Diese Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen in einer Region bedeutet einen Wertzuwachs für Unternehmen und Kommunen. Zugleich löst sie einen wirtschaftlichen Folgeeffekt aus, weil zur Bereitstellung der nachgefragten Waren und Dienstleistungen Vorleistungen anderer Betriebe benötigt und wiederum Ausgaben getätigt werden. Die Konsumausgaben der Besucherinnen und Besucher entsprechen den Bruttoumsätzen, die nach Abzug der Mehrwert- bzw. Umsatzsteuer die Nettoumsätze der Unternehmen ergeben. Aus der Anwendung branchenspezifischer Nettowertschöpfungsquoten berechnet sich ein zusätzliches Einkommen von 9,3  Mio. Euro auf der ersten und 6,6 Mio. Euro auf der zweiten Umsatzstufe, insgesamt ein Einkommen von 15,9 Mio. Euro für die Region Hockenheim infolge der 320 Veranstaltungen auf dem Hockenheimring. Ob aktiv ausgeübt oder passiv konsumiert, Sport erhöht die Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen, die – noch ver 

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stärkt durch seine fortschreitende kommerzielle Durchdringung  – zu Effekten auf Arbeitsmärkten führt. Pierre-André Gericke und Christian Zemann zeigen in ihrem Beitrag „Sportbezogene Arbeitsmärkte“ (7 Kap. 11) Struktur und Entwicklung von Arbeitskräfteangebot und -nachfrage in der Querschnittsbranche Sport in Deutschland auf. Dafür grenzen sie Arbeitsmärkte berufsbezogen sowie regional ab und greifen auf fachlich und regional tief differenzierbare Daten der amtlichen Arbeitsmarktstatistik zurück. Ihr Fokus liegt auf der Beschäftigung in fünf Berufsaggregaten, darunter Management, Unterricht und Berufssport, denen in Deutschland regional unterschiedliche Bedeutung zukommt. Im Beitrag „Ökonomische Effekte einer vitalen Sportstadt – das Beispiel Hamburg“ (7 Kap.  12) schätzen Maike Cotterell und Henning Vöpel die volkswirtschaftliche Bedeutung des Sports für die Hansestadt mit einer Kosten-Nutzen-Analyse und InputOutput-Rechnung (7 Kap.  10). Die Ergebnisse zu den Einkommens- und Beschäfti­ gungseffekten machen die ökonomische Relevanz des Sports für die Finanzen und den Arbeitsmarkt (7 Kap. 11) Hamburgs sichtbar. Für die Wertschöpfung des Sport-Ökosystems spielen schon aufgrund der Zuschauerzahlen die Ausdauerevents, wie der IRONMAN, eine zentrale Rolle. Eine Vertiefung und Verlängerung der Wertschö­ pfungskette, z. B. durch ein erweitertes Rah­ menprogramm (Sportmesse, Etablierung neuer Events und Formate), würden nicht nur die mehrdimensionalen ökonomischen Effekte auf Einkommen und Beschäftigung erhöhen, sondern auch die Bekanntheit Hamburgs stärken, das Alleinstellungsmerkmal sowie die Markenbildung schärfen und dadurch die Wirksamkeit des Image der Hansestadt verbessern (7 Kap. 13). Zur Aktivierung weiterer Potenziale der Querschnittsbranche Sport zielt Hamburg mit seiner Active-­ City-­ Strategie auf eine Aufwertung und einen Ausbau des SportÖkosystems mit seinen vielfältigen Wechsel 









wirkungen zwischen den Bereichen des Sports (7 Kap.  11 und  17) und den Zugängen zum Sport (7 Kap. 16 und 17). Aus einer ganzheitlichen Perspektive von Sport wurde in der Hansestadt eine Strategie entwickelt, die auf die Sportbedürfnisse der Bevölkerung ausgerichtet ist und Umfang wie Art der Sportangebote in die Stadtentwicklungsplanung integriert (7 Kap.  20). Sport soll im Alltag der Menschen mehr Raum erhalten und dadurch zur Verbesserung der Lebensqualität in der Stadt beitragen. Die vitale Sportstadt Hamburg kann als soziales Konstrukt der Stadtentwicklung betrachtet werden. Als Alleinstellungsmerkmal werden sowohl der Wirtschaftsstandort Hamburg als auch das Eigenimage der Bevölkerung gestärkt (7 Kap. 13). Das Image eines Standorts stellt für eine Region oder Stadt im nationalen oder internationalen Wettbewerb eine relevante Größe für ihre zukünftige Entwicklung dar. Image ist ein komplexes Konstrukt, das aus dem Zusammenwirken verschiedener Faktoren resultiert und einen Gesamteindruck des Standorts vermittelt. Dieser beeinflusst je nach individueller Bewertung Entschei­ dungen zu Wohn- oder Unternehmensstandorten. Welche Rolle kann ein professioneller Sportverein für die Bekanntheit und das Image eines Standorts spielen? Dieser Frage geht Christina Masch in ihrem Beitrag „Beziehungen zwischen Vereinsund Stadtimage  – eine empirische Analyse am Beispiel von Borussia Mönchengladbach“ (7 Kap.  13) nach. Als Grundlage dienen drei empirische Erhebungen: eine Befragung von Heim- und Auswärtsfans der Borussia bei drei Heimspielen, Interviews mit Passanten in der Mönchengladbacher Innenstadt und in den Zentren der umliegenden Städte sowie eine Online-­ Erhebung, die auch Personen von außerhalb der Region Mönchengladbach einbezieht. Die Analyse der Ergebnisse mithilfe statistischer Methoden ergibt, dass professionelle Sportvereine einen Einfluss auf den Bekanntheitsgrad und das Image seines  









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Standorts ausüben können. Wie stark dieser Einfluss ist, hängt zum einen von der Sportart und damit vom medialen Interesse oder den Erfolgen des Vereins ab (7 Kap.  18), zum anderen von Gegebenheiten des Standorts. So fehlen Mönchengladbach überregional bekannte Wahrzeichen oder Sehen­ swürdigkeiten, sodass die Borussia wichtigster Imageträger der Stadt ist.  

Gesellschaft und Sport Janine Maier geht in ihrem Beitrag ­„Soziokulturelle Veränderungsprozesse des Empowerments durch Frauenfußball“ (7 Kap. 14) den Auswirkungen des Sports auf gesellschaftliche Strukturen nach. Sie unterscheidet zwischen dem Wandel des Sports in weniger und weiter entwickelten Ländern. Die zunehmende Akzeptanz des Frauenfußballs stärkt die Autonomie von Frauen, erweitert ihren Handlungsspielraum und festigt ihre Teilhabe an Entscheidungsprozessen im sportlichen Bereich wie im Alltag. Empowerment verdrängt traditionelle Rollenverteilungen und bricht eingeschränkte Freiräume von Frauen auf. Der Diskurs ist geprägt von ihrer Chancengleichheit auf individueller Ebene, von ihrer sozialen Position in der jeweiligen Gesellschaft und deren Kultur sowie von rechtlichen wie institutionellen Reformen. Am Beispiel Jordaniens zeigt Janine Maier, wie Frauen in einer patriarchalisch geprägten Gesellschaft ihre soziale Position infolge der Entwicklung durch Fußball verbessern und stärken. Eine Entwicklung des Fußballs ist in westlich orientierten Ländern charakteristisch und geprägt vom Fortschritt, „überhaupt spielen zu dürfen“, hin zu neuen administrativen Organisationen und Sportinfrastrukturen für den Frauenfußball. Sebastian Rauch befasst sich in seinem Beitrag „Sport verbindet  – Migration im Profisport“ (7 Kap.  15) mit sportbedingter Migration – einem Phänomen, das seit Mitte des 20. Jahrhunderts zahlenmäßig deutlich  



zulegte. Fortschreitende Globalisierung und die Rücknahme nationalstaatlicher Regelungen in der EU nach dem Bosman-Urteil 1994/95 verstärkten diesen Trend noch. Aus gesellschaftlicher Perspektive ist insbeson­ dere internationale sportbedingte Migration ein hochselektiver Prozess. Personen, die migrieren, haben entweder ihre sportlichen Qualitäten nachgewiesen, oder es sind junge Talente, die sich von einer Migration die Weiterentwicklung ihrer sportlichen Fähigkeiten, eine internationale Karriere und einen sozialen Aufstieg erhoffen. Die Vereine versprechen sich sportliche Erfolge infolge eines Gewinns an Wettbewerbsfähigkeit, eine Steigerung ihres Bekanntheitsgrads und ihrer Anziehungskraft auf neue Talente, Zugang zu neuen Märkten und Investoren. Diese Attraktivität löst ökonomisch positive Effekte auf die Zielregion aus, trägt zu ihrem Image bei (7 Kap.  13) und wirkt identitätsstiftend (7 Kap.  18). Die Entscheidung, wohin eine Sportlerin oder ein Sportler migriert, ist das Ergebnis eines Aushandlungsprozesses innerhalb eines sozialen Netzwerks, bestehend aus den Spor­ tlerinnen und Sportlern selbst, Trainerinnen und Trainern, Scouts, Verantwortlichen im Management des Vereins und Agenturen. Erfolgreiche Netzwerke basieren auf einem wechselseitigen Vertrauen zwischen diesen Akteuren und sind in soziale Kontexte eingebunden. Räumliche, sprachliche oder kulturelle Nähe und historische Beziehungen beeinflussen die Ausweitung der Netzwerke und damit die Migrationsrouten der Sportlerinnen und Sportler. Bewegungsräume sind auch Begegnungs­ räume. Organisierter Sport verfügt über ein hohes sozial-integratives Potenzial, denn er stärkt das gesellschaftliche Miteinander, führt zu Kontakten zwischen Personen mit ganz verschiedenen sozialen und kulturellen Herkünften, legt die Basis zu wechselseitiger Toleranz. Jenny Adler Zwahlen stellt in ihrem Beitrag zur sozialen Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im organisierten Sport zwei  



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Praxisbeispiele in der Schweiz vor (7 Kap.  16). Das Netzwerk Miteinander Turnen – finanziell ausreichend gefördert – befindet sich an 22 Standorten in drei Sprachregionen der Schweiz. Ziel ist, Familien mit Migrationshintergrund, mit sozioökonomischen Herausforderungen und mit beeinträchtigten Kindern in die Gemein­ schaft zu integrieren. Die niederschwelligen Sportangebote setzen keine sportmotor­ ischen oder sprachlichen Kompetenzen voraus, und Eltern können ihren Kindern bei den zielgruppenspezifischen Aktivitäten helfen. Bei MidnightSports treffen sich 13- bis 17-jährige Jugendliche samstags zwischen 20 und 23 Uhr in leer stehenden Sporthallen ihrer Gemeinden unter Aufsicht von Coaches zum freien Spiel. Bewegungsangebote passend zu den Wünschen der Jugendlichen sind kostenlos, erfordern keine spezifische Kleidung oder kein bestimmtes sportliches Leistungsniveau. Beide Beispiele belegen, dass öffentliche wie private Einrichtungen, Kindertagesstätten, Jugendorganisationen oder von Stiftungen geförderte Vereine, die soziale Integration proaktiv fördern und eine Alternative zum organisierten Sport sein können. Der Zugang zu Bewegungs- und Sporträumen ist nicht in allen städtischen Gebieten in gleichem Maße gegeben. Robin Kähler und Finja Rohkohl heben in ihrem Beitrag „Sozialräumliche Analyse von Sporträumen in Stadtquartieren“ (7 Kap. 17) hervor, dass in benachteiligten Wohnvierteln mit beengten Wohnverhältnissen, fehlenden Freiflächen und öffentlichen Räumen Quantität und Qualität der Sportstätten wie -räume unzureichend und mangelhaft im Vergleich zu den Optionen der Bevölkerung in der Gesamtstadt sind. Eine Folge dieser ungleichen Verteilung ist, dass Kinder und Jugendliche in benachteiligten Quartieren geringere Zugangschancen zu Sportan­ geboten haben und dadurch seltener Sport treiben als Gleichaltrige in Vierteln mit einer sozial besser gestellten Bevölkerung. Dieser  



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Bewegungsmangel ist häufig eine Ursache für Übergewicht bis hin zu Adipositas. Sportentwicklungsplanung verstanden als Teil der Stadtentwicklungsplanung sollte dieser räumlichen Ungleichwertigkeit, die auch Ausdruck schlechterer Lebensverhältnisse ist, gegensteuern (7 Kap. 12 und 20). Zur Umsetzung dieses Ziels ist es erforderlich, zunächst die benachteiligten Wohnquartiere zu ermitteln. Hierzu dient die Sozialraumanalyse, aus der der Zusammenhang zwischen der Situation der Sportstätten, der Bewegungsräume und der Sozi­ alstruktur der Bevölkerung zu erkennen ist. Eine anschließende Mängelanalyse stellt die materiell-objektive Struktur der Ausstattung mit Sportgelegenheiten auf Grundlage der Ergebnisse der Sozialraumanalyse dar. Am Beispiel Bonns skizzieren Robin Kähler und Finja Rohkohl die Vorgehensweise. Hochwertige Sportstätten oder erfolgreiche Vereine können soziale Wirkungen auf die Bevölkerung der jeweiligen Orte wie die Stärkung des Zusammengehörigkeits­ gefühls oder der regionalen Identität entfalten. Im Beitrag von Paul Gans und Michael Horn wird mithilfe zweier empirischer Studien der identitätsstiftenden Wirkung am Beispiel des Hockenheimrings und des Fußballclubs 1. FC Kaiserslautern (FCK) im Sinne von Raum als soziales Konstrukt nachgegangen (7 Kap.  18). Die Bevölk­ erung Hockenheims beeindruckt durch eine hohe Identifikation mit der Rennstrecke. Sie ist das weltweit bekannte Alleinstellungsmerkmal der Stadt. Trotz kritischer Äußerungen zu den Einschränkungen im Alltag während der Veranstaltungen auf dem Ring vermitteln die Aussagen der Befragten ein Wir- und Zusammengehörigkeitsgefühl und eine enge emotionale Bindung an die Rennstrecke. Im Vergleich dazu ist die Einschätzung des FCK nicht so einhellig. Zwar ist er von großer Bedeutung für die Außenwahrnehmung der Stadt, unter den Befragten vor Ort kristallisieren sich jedoch zwei Positionen heraus. Die einen charakte 



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risieren den Verein als eine finanzielle Last, die anderen als eine Stärke der Stadt. Im Vergleich zu Hockenheim ist das Wir- und Zusammengehörigkeitsgefühl in Kaiserslautern deutlich schwächer ausgeprägt, die emotionale Bindung der Bevölkerung an den Verein weniger stark und die identitätsstiftende Wirkung geringer als die des Hockenheimrings. Die Ursachen könnten in der Größe, im Prestige und in der Ausstrahlung der jeweiligen Veranstaltungen liegen. Sportveranstaltungen entwickeln vielfältige soziale Wirkungen sowohl auf die jeweiligen Zuschauerinnen und Zuschauer als auch auf die Bevölkerung des Veranstaltun­ gsorts. Am Beispiel der Fußball-WM der Männer 2014 in Brasilien untersuchen Fabio Wagner und Julian Wilsch die Reisemotive deutscher Fußballfans (7 Kap.  19). Als Hauptanlass nannten diese das Sportevent Fußball-WM, Stadionbesuche und die Unterstützung der Nationalmannschaft. Im Vergleich dazu spielten die Erholung vom Alltag, der Besuch von Sehenswürdigkeiten, das Kennenlernen der Kultur oder des Naturraums in Brasilien eine untergeordnete Rolle. Auch die Art und Weise, wie die Reise organisiert war, verweist auf einen sportorientierten Veranstaltungsurlaub, bei dem es nicht um einen aktiven, sondern vielmehr um einen passiv erlebten Sport mit sozialen Wirkungen wie Unterhaltung, Vermittlung eines Gemeinschaftsgefühls oder Anregung zu eigener sportlicher Betätigung ging.  

Planung und Sport „Sport braucht Räume, ohne Räume kein Sport.“ Genügen die heutigen Sportstätten nach ihrer Struktur, Qualität und Nutzung den zukünftigen Bedürfnissen von Sporttreibenden? Mit dieser zentralen Frage befasst sich Robin Kähler in seinem Beitrag „Sportstättenentwicklungsplanung: Künftiger Sportstättenbedarf unter Berücksichti­ gung demographischer Veränderungen“ (7 Kap. 20). Der gesellschaftliche, insbeson­  

dere der demographische Wandel ändert das Sportverhalten der Bevölkerung. An Bedeutung gewinnt der informelle Sport, selbstbestimmt, wenig organisiert, der im Gegensatz zum konventionellen Schul- und Leistungssport weniger auf eine Sportanlage angewiesen ist. Ähnliches trifft auch für den fitness- sowie gesundheitsorientierten Sport älterer Menschen zu. Zeitgleich breiten sich digitale Angebote für sportliche Aktivitäten aus, die auch im privaten Bereich wahrgenommen werden können. Der Bau der heutigen Sportanlagen orientierte sich am Schul- und Leistungssport. Die normierten Sportstätten, Ergebnis einer infrastrukturbezogenen Objektplanung, können die nach Sportform und Raumbedarf vielfältigen Bedürfnisse nicht erfüllen. Die integrierte Sportstättenentwicklungsplanung kann hierzu Lösungen entwerfen, die gesellschaftliche Veränderungen sowie die Eigenarten der Kommunen berücksichtigen und das Sportverhalten der Bevölkerung einbeziehen. Ziel ist die Schaffung bewegungsfreundlicher Lebensräume für alle Menschen in der Stadt. Mit diesem Thema setzt sich auch Holger Kretschmer in seinem Beitrag „Sport und urbanes Grün  – Bewegungsraum-­ Management in der kommunalen Freiraumplanung“ auseinander (7 Kap.  21). Urbanes Grün (Parks, Grünflächen oder Hausgärten) dient vielfältigen Funktionen und wirkt sich auf allen Ebenen der Nachhaltigkeit positiv aus, z. B. Verbesserung der Luftqualität, Stärkung der Wohnattraktivität, Förderung von Erholung und Gesundheit der Bevölkerung. Freiräume werden aber auch von Neubautätigkeit oder Ausbau von Infrastrukturen beansprucht. Sport steht in vielfacher Konkurrenz um Flächen mit verschiedenen Funktionen, und Konflikte sind aufgrund ihrer unterschiedlichen Nutzungsansprüche abzusehen. Urbanes Grün eröffnet den an gesellschaftlicher Bedeutung gewinnenden Sportformen Flächen für sportliche Aktivitäten: Ballspiele, Frisbee, Yoga oder Slacklinen werden auf Grünflächen individuell, in Gruppen und nicht  

15 Sportgeographie aus Perspektiven der Nachhaltigkeit – eine Einführung

organisiert ausgeübt. Informeller Sport schafft sich neue Sporträume (7 Kap.  3 und 4), dringt auf Freiflächen wie nicht genutzte Grundstücke oder Baulücken vor. Zur Lösung plädiert Holger Kretschmer für einen kooperativen Ansatz der Stadtent­ wicklung, der aufgrund der vielfältigen Anknüpfungspunkte des Sports die verschi­ edenen Bereiche der Stadtplanung in Form einer intersektoralen Zusammenarbeit integriert. Diese ganzheitliche Betrachtung muss flexibel z. B. auf sich ändernde Raumansprüche des Sports reagieren können. Hierzu bildet das Bewegungsraum-Manag­ ement einen politischen Handlungsrahmen, der die Bedeutung von Sport in der Gesellschaft anerkennt. Sind Sportgroßveranstaltungen Impulsgeber für die Stadterneuerung der Veranstaltungsorte? Dieser Frage geht Thomas Feldhoff am Beispiel von Tokio nach (7 Kap.  22). Die Olympischen Sommerspiele in Tokio 2020/21 wirkten wie die Spiele 1992 in Barcelona oder 2012 in London als Katalysator für eine städtebauliche und infrastrukturelle Erneuerung der japanischen Hauptstadt, deren Entwicklung mit den zur Verfügung gestellten Finanzmitteln und der politischen Unterstützung einen zusätzlichen Anstoß und eine neue Dynamik erfuhr. Ziele waren die Stärkung Tokios im globalen Metropolenwettbewerb und die Verbesserung der Lebensqualität in der Stadt. Die Maßnahmen konzentrierten sich auf Waterfront Development mit Flaggschiff-Hochhäusern, die Schließung innerstädtischer Baulücken durch die Vertikale, die weitere Verbesserung des ÖPNV, Klimaschutz- und Klimaanpassungsmaßnahmen wie das Athletendorf als erste „Wasserstoffstadt“ der Welt oder die Begrünung von Gebäudefassaden, Barrierefreiheit im öffentlichen Raum oder die Entwicklung von Nachnutzungskonzepten für neu errichtete Sportstätten. Die Olympischen Spiele bewirkten einen Bedeutungsverlust der Stadterhaltung bei gleichzeitiger Beschleunigung der Transformationsproze­sse und den damit  



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verbundenen Exklusionstendenzen im Rahmen einer profitorient­ierten Stadtentwick­ lung. Gabriel Ahlfeldt und Wolfgang Maennig beschäftigen sich in ihrem Beitrag mit den Ausstrahlungseffekten ikonischer Archi­ tektur am Beispiel von Stadionneubauten (7 Kap.  23). Ikonische Gebäude zeichnen sich mit ihrer innovativen und einzigartigen Formgebung durch eine starke symbolische Aufladung aus, steigern die Sicht- und Wahrnehmbarkeit der Stadt, schaffen im Rahmen strategischer Ziele der Stadtentwicklung eine durchaus globale Referenz für Investoren, Touristinnen und Touristen (7 Kap.  22). Am Beispiel der Berliner „Olympiahallen“, Velodrom und MaxSchmeling-­ Halle, analysieren die Autoren die Ausstrahlungseffekte auf die städtische Umgebung der Standorte. Ausgangpunkt ist die These „Erhöht sich die Lageattraktivität infolge einer städtebaulichen Maßnahme, so erhöhen sich monetär messbare Werte“. Die Grundstückspreise verzeichnen in unmittelbarer Nähe zum Velodrom die höchsten Preisaufschläge, die sich mit zunehmender Distanz verringern. Bei der Max-Schmeling-­ Halle steigen sie in Form einer Parabel von „unverändert“ in unmittelbarer Nachbarschaft bis zu einem Maximum in mittlerer Entfernung. Diesen abweichenden Einfluss auf die Immobilienpreise in der Umgebung der beiden Hallen führen die beiden Autoren auf die unterschiedliche Nutzung der Hallen zurück. Städte sollten bei der Planung eines neuen Stadions Standort und zukünftige Nutzung in ihre strategischen Ziele einbinden. Sportgroßveranstaltungen lösen kurz- wie langfristige, positive wie negative Wirkungen auf Städte, Regionen und Länder aus. Diese Effekte sollten nachhaltig sein, Innovationen wie die Nutzung digitaler Technologien einführen und ein positives Vermächtnis (Legacy) anstreben (7 Kap.  8). Strukturen, die für oder während des Events geschaffen werden, sollten nach dem Ereignis noch Bestand haben und insgesamt positive Effekte auf die  





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1

P. Gans et al.

Region auslösen. Um dieses langfristige Ziel ? Übungs- und Reflexionsaufgaben zu erreichen, wurde das NIV-Konzept (NIV = 1. Mit welchen Inhalten befasst sich Nachhaltigkeit, Innovation, Vermächtnis) Sportgeographie? entwickelt, das im Beitrag von Jürg Stettler, 2. Erläutern Sie die Beziehungen zwiAnna Wallebohr und Sabine Müller am Beischen Sport und Raum. spiel der FIS Alpinen Ski-Weltmeisterschaften in St. Moritz 2017 mit den vier zentralen Elementen Vision, NIV-Charta, NIVZum Weiterlesen empfohlene Literatur Projekte und Anspruchsgruppen detailliert Bale, J. (2003). Sports Geography. Routledge. vorgestellt wird (7 Kap.  24). Die Evaluierung der Veranstaltung lieferte wertvolle Erkenntnisse für die erfolgreiche Umsetzung, Literatur insbesondere die erforderliche Kooperation der drei wichtigsten Anspruchsgruppen Ver- Bale, J. (1982). Sport and place: A geography of sport in anstalter, Vertreterinnen und Vertreter des England, Scotland and Wales. Hurst. Austragungsorts und des Verbands, zeigte Bale, J. (1991). The Brawn Drain. Foreign student-­ athletes in American universities. University of Ilaber auch Chancen und Grenzen des NIV-­ linois Press. Konzepts auf.  

1.4 

Fazit

Der vorliegende Band gibt einen umfassenden Überblick über die vielfältigen Formen des Sports mit seinen Wirkungen auf Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft. Im Sport vollzieht sich ein Wandel von den traditionell eher leistungsorientierten und von Vereinen organisierten Sportarten hin zu individuell inszenierten, trendigen Sport­ formen. Diese Entwicklung führte im Rahmen gesellschaftlicher Änderungen zu neuen Raumansprüchen, die die vorhandenen Sportstätten nicht erfüllen konnten und auf die die Sportentwicklung von Städten und Regionen mit Monitoring und integrativen Planungskonzepten reagieren sollte. Die inhaltliche Breite wird von einer Vielfalt empirischer Forschungsmethoden in den Beiträgen ergänzt. Sie reichen von explorativ qualitativen Studien, mündlichen wie schriftlichen Befragungen, Online-­ Erhebungen, Auswertungen amtlicher Statistiken bis zur Anwendung von Input-­Output-, Wirkungsoder Sozialraumanalysen sowie mathematisch-statistischen Modellen.

Bale, J. (1993a). Cartographic fetishism to geographical humanism: Some central features of a geography of sports. Innovation, 5(4), 71–88. Bale, J. (1993b). Sport, space and the city. Routledge. Bale, J. (1994). Landscapes of modern sport. Leicester University Press. DGfG – Deutsche Gesellschaft für Geographie. (2002). Grundsätze und Empfehlungen für die Lehrplanarbeit im Schulfach Geographie. Arbeitsgruppe Curriculum 2000+ der Deutschen Gesellschaft für Geographie (DGfG). DGfG. https://www.geographie. uni-jena.de/geogrmedia/curriculum2000.pdf. Zugegriffen am 15.11.2022. Egner, H. (Hrsg.). (2001). Natursport – Schaden oder Nutzen für die Natur? Czwalina. Gans, P., Horn, M., & Zemann, C. (2003). Sportgroßveranstaltungen – ökonomische, ökologische und soziale Wirkungen. Ein Bewertungsverfahren zur Entscheidungsvorbereitung und Erfolgskontrolle. (Schri­ ftenreihe des Bundesinstituts für Sportwissenschaft, 112). Hofmann. Gericke, P., Werth, S., & Zemann, C. (2012). Sportbezogene Arbeitsmärkte in Deutschland. Geographische Rundschau, 64(5), 28–34. Maier, J. (2020). „Entwicklungskick“ – Sporttraum und Sportraum im Wandel. Sozial-kulturelle Veränderungsprozesse des Empowerments durch Fra­ uenfußball an Beispielen aus dem Globalen Norden und Süden. (Passauer Schriften der Geographie, 31). Selbstverlag Fach Geographie der Universität Passau. Peters, C., & Roth, R. (2006). Sportgeographie – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum. (Schriftenreihe „Natursport und Ökologie“, 20).

17 Sportgeographie aus Perspektiven der Nachhaltigkeit – eine Einführung

Institut für Natursport und Ökologie der Deutschen Sporthochschule. Raitz, K. (Hrsg.). (1995). The theater of sport. John Hopkins University Press. Reimann Graf, M. (Juni 2016). Katar: WM der Schande. Magazin Amnesty. https://www.­ amnesty.­c h/de/ueber-­a mnesty/publikationen/ magazin-­amnesty/2016-­2/katar-­wm-­der-­schande. Zugegriffen am 09.11.2011. Rooney, J. (1974). A geography of American sport: From Cabin Creek to Anaheim. Addison-Wesley. Schüller, T. (September 2022). Mit allen Mitteln. Rheinpfalz am Sonntag, 10./11, S. 9. Sons, S. (2022). Katar. bpb: infoaktuell 39.

1

Steinberg, G. (2022). Katars Außenpolitik. Entscheidungsprozesse, Grundlinien und Strategien. SWP-­Studien 12, Berlin. Suwala, L. (2021). Concepts of space, re-figuration of spaces and comparative research – Perspectives from economic geography and regional economics. Forum Qualitative Sozialforschung (FQS), 22(3), 1–48. Tibbe, H., Wopp, C., Hendricks, A., Klaus, S., Kocks, M., & Zarth, M. (2011). Sportstätten und Stadtentwicklung. (Werkstatt: Praxis, 73). Bundesamt für Bauwesen und Raumordnung. Wardenga, U. (2002). Alte und neue Raumkonzepte für den Geographieunterricht. Geographie heute, 23(200), 8–11.

19

Raum und Sport Inhaltsverzeichnis Kapitel 2 Raum und Räumlichkeit des Sports als gesellschaftliche Praxis – 21 Jochen Laub Kapitel 3 Natursportarten – räumliche Wirkungen und Konflikte – 37 Boris Braun Kapitel 4 Trendsportarten und Stadt – neue Formen der Raumaneignung – 49 Stephanie Haury Kapitel 5 Sport als politisches und gesellschaftliches Instrument in Grenzräumen – 67 Bernhard Köppen und Muriel Backmeyer

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Raum und Räumlichkeit des Sports als gesellschaftliche Praxis Jochen Laub

Mont Ventoux während der Tour de France 2013. (© Razvan/Getty Images/iStock)

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Gans et al. (Hrsg.), Sportgeographie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66634-0_2

2

Inhaltsverzeichnis 2.1

 port aus der Perspektive der Raumkonzeption der S Deutschen Gesellschaft für Geographie (DGfG) – 24

2.2

 ie Geographie des Sports und der Raum D als Container – 25

2.3

 port im Raum als System von S Lagebeziehungen – 28

2.4

Sport im wahrgenommenen Raum – 30

2.5

Sport und Raum als soziale Konstruktion – 31

2.6

Fazit – 33 Literatur – 34

23 Raum und Räumlichkeit des Sports als gesellschaftliche Praxis

Einleitung In der Provence, im Departement Vaucluse, etwa 50  km nordöstlich von Avignon liegt der 1910 m hohe Mont Ventoux. Die weiße Spitze des Berges ist weithin sichtbar und überragt die Umgebung deutlich. Die Erscheinung des Berges wird vom sehr hellen, weißgrauen Kalkgestein geprägt, der das Geröllfeld oberhalb der Vegetationsgrenze dominiert. Diese „Mondlandschaft“ gibt dem Berg einen nahezu ikonischen Charakter. Bereits im April 1383 berichtet Francesco Petrarca in einem Brief von der Besteigung des Mont Ventoux. Auch wenn der Berg im Vergleich zu den Gipfeln der Alpen und anderer Gebirge nicht durch seine absolute Höhe beeindruckt, gelten seine Besteigung und der Bericht Petrarcas darüber als eine der Geburtsstunden des Alpinismus (Steinmann, 2004). Heute ist der Mont Ventoux weltweit bekannt. Dies verdankt er vor allem seiner Rolle bei der Tour de France (Reyna, 2007). Er war Etappenziel, sein Anstieg von Süden Strecke des Einzelzeitfahrens (2013) oder musste von den Fahrern gar mehrfach an einem Tag bewältigt werden (2021). Im Laufe der Jahre bekam er einen fast mythischen Charakter und wird oft als der „mythische Berg“ oder der „Gigant der Provence“ (Reyna, 2007, S.  400) bezeichnet. Hierbei spielt auch der tragische Tod des Radfahrers Tom Simpson im Jahr 1967 eine Rolle (Burkert, 2013), zu dessen Ehren sich ein Denkmal am Weg an der Südflanke befindet. Sport ist für den Tourismus der Region sehr wichtig. Jährlich kommen etwa 550.000 Besucher auf den Gipfel des Ventoux. Allein mehr als 500 Radfahrer überqueren den Pass täglich (Reyna, 2007, S. 399). Ob Radfahren, Laufen, Bergsteigen, Klettern, Rudern, Surfen, Triathlon, Fußball, Ringen, Golf oder Schach  – der Zusammenhang von Sport und Geographie leuchtet bereits intuitiv ein. Sport als „körperliche Praxis“ ist eingebettet in Raum (Peters, 2010, S.  200). Zumeist geht es bei

sportlichen Aktivitäten um eine Art Raumaneignung, beispielsweise die Überwindung von Distanzen in gewissen Zeiten, das Überwinden räumlicher Hindernisse oder strategische Raumnahmen wie beim Schach. Die Bedeutung von Raum in Form eines „Spielfelds“ und die Regelung des Umgangs mit ihm im Regelwerk (z.  B.  Abseitsregeln im Fußball oder Eishockey) sind grundlegend für alle Sportarten. Sportliche Praxis ist eigentlich immer auch räumliche Praxis (Peters & Roth, 2006, S.  7). Im Vollzug sind Sport und Raum miteinander verbunden. Dies gilt für stark individuelle Aktivitäten (Laufen, Skateboarding etc.), stärker organisierte Aktivitäten (Mannschaftssportarten, Meisterschaften in verschiedenen Sportarten etc.) oder Sportgroßveranstal­ tungen (Fußball-WM, Olympische Spiele, Marathon-­ Großveranstaltungen etc.). Sportgeographie steht als interdisziplinäre Perspektive am Schnittpunkt verschiedener Disziplinen, die diese Zusammenhänge untersuchen, vor allem von Geographie und Sportwissenschaft (Peters & Roth, 2006). Nach einer Zeit der Raumvergessenheit erlebt Raum in den Kultur- und Sozialwissenschaften seit etwa 15 Jahren ein Comeback (Schroer, 2005, S. 161). Dieser als spatial turn bezeichnete paradigmatische Wandel ist hinsichtlich der Analyse sportlicher Aktivitäten von Bedeutung. Bei der Betrachtung von Sport in den Kultur- und Sozialwissenschaften wird Räumlichkeit als ein Aspekt gesellschaftlicher und kultureller Praxis verstanden. Einerseits hat Raum eine Bedeutung für Sport, andererseits hat Sport auch eine Bedeutung für räumliche Strukturen der Gesellschaft und deren (historische) Entwicklung. Sport kann als Teil unserer Kultur betrachtet werden, der vielseitige Funktionen und Aufgaben hat (Alkemeyer, 2014). Der Beitrag möchte herausstellen, welche Dimensionen von Sport mit dem Blick durch die Brille verschiedener Raumkonzepte Bedeutung erlangen. Warum sind eigentlich

2

24

2

J. Laub

Kenntnisse über verschiedene Raumkonzepte wichtig, um über Sport nachzudenken? Erstens ermöglichen differenzierte Raumbegriffe einen reflektierten Zugang zur Räumlichkeit von Phänomenen. Zweitens kann eine analytische Differenzierung Klarheit darüber erzeugen, wovon in konkreten Diskursen überhaupt die Rede ist. Drittens eröffnen sich bedeutsame Perspektiven für die Betrachtung von Sportarten und -ereignissen.

2.1 

 port aus der Perspektive der S Raumkonzeption der Deutschen Gesellschaft für Geographie (DGfG)

In der Problemgeschichte der philosophischen und insbesondere der geographischen Reflexion sind verschiedene Begriffe und Vorstellungen dessen diskutiert worden, was unter Raum verstanden werden kann (Dünne & Günzel, 2006). Für die wissenschaftliche Betrachtung des Zusammenhangs von Sport und Raum bzw. Sport und Geographie können je nach Per­ spektive und Forschungsfrage sehr verschiedene Raumkonzepte relevant sein. Grundlegend für jede Unterscheidung ist die Differenzierung der Drei-Welten-Theorie nach Popper (1987). Er unterscheidet drei ontologische Ebenen: die physisch-materielle Welt (Welt 1), die mentale Ebene subjektiver Wahrnehmungen und Bewusstseinszustände (Welt 2) und die symbolisch-geistige Welt der Begriffe und Theorien (Welt 3). Damit erweitert er die dualistische Vorstellung von physischer Welt (1) und Bewusstseinswelt (2) um die Ebene der Inhalte des Denkens und der Kultur (Welt 3) (Popper, 1987; Weichhart, 2008). Als körperliche Betätigung, mentale Herausforderung, aber auch als soziale Praxis haben sportliche

Aktivitäten einen gesellschaftlichen Hintergrund und sind nur als soziale Praktiken zu verstehen (Bourdieu, 1987, S.  44), die Beziehungen zwischen den Welten herstellen. Der Beitrag bezieht sich auf die Differenzierung von Raumbegriffen der Deutschen Gesellschaft für Geographie, die auch in der Geographiedidaktik unter der Bezeichnung Curriculum 2000+ relative Prominenz erhielt (DGfG, 2002). Dabei werden vier unterschiedliche Perspektiven auf Raum eröffnet. Die Raumkonzepte sind mit verschiedenen möglichen Betrachtungsweisen verbunden und auch untereinander kombinierbar (Wardenga, 2002). In ihnen sind die von Popper (1987) differenzierten Welten erkennbar. Andere Systematisierungen zeigen die sozialgeographischen Lehrbücher von Fliedner (1992) und Weichhart (2008) oder die Einführung in die Kulturgeographie von Lossau (2014). Zudem entwickeln sich systematische Auseinandersetzungen mit Raumbegriffen hinsichtlich deren Bedeutung für bestimmte Sportarten, z.  B.  Wilhelm (2018) für Fußball, Kilberth (2021) für Skateboarding (7 Kap. 4), Egner et al. (1998) für Natursportarten (7 Kap. 3). Einen sehr umfassenden systematischen Überblick über Raumbegriffe der Sportgeographie geben Peters und Roth (2006). Die vier Raumkonzepte der DGfG sind nicht nur analytisch zu trennen, sondern auch als historische Abfolge zu begreifen. Das sich verändernde Verständnis von Raum ist eng mit dem Paradigmenwandel geographischen Denkens verbunden (Eisel, 1980; Werlen, 1995; Wardenga, 2002; Weichhart, 2008). Die fachhistorische Entwicklung der Geographie zeigt zunächst eine Dominanz länderkundlicher Ansätze. Das Aufkommen systemfunktionalistisch-­ relationaler Raumkonzepte ist mit der zunehmenden Bedeutung des raumwissenschaftlichen Paradigmas nach dem Kieler  



25 Raum und Räumlichkeit des Sports als gesellschaftliche Praxis

Geographentag im Jahr 1969 verbunden. Die inhaltlich und methodisch stark quantitative Ausrichtung zielt darauf ab, Raumgesetze zu erkennen (Fliedner, 1992; Werlen, 2000). Mit der zunehmend sozial- und kulturwissenschaftlichen Betrachtung seit den 1980er-Jahren wendete man sich vom raumwissenschaftlichen Zugang ab (Eisel, 1980). Die Perspektive ging hin zum Menschen und nahm zunächst das Individuum und dessen Wahrnehmung (Perzeption) in den Blick. Man orientierte sich dabei an psychologischen Ansätzen (Werlen, 2000). In der weiteren Entwicklung erlangten sozial- und kulturwissenschaftliche Konzepte zunehmend an Einfluss. Der wachsenden Bedeutung sprachlicher und medialer Repräsentationen von Raum für die räumliche Praxis der Gesellschaft tragen aktuell Ansätze der Neuen Kulturgeographie Rechnung (Werlen, 2000; Freytag, 2014). Diese betrachten die Repräsentationen von Räumen in sprachlichen und bildlichen Aushandlungsprozessen, deren Bedeutung für die gesellschaftliche Produktion von Raum und die dabei relevanten Machtverhältnisse (Freytag, 2014). Auch für sportgeographische Fragestellungen sind die Images von Räumen relevant (7 Kap.  13), wie Hürthen (2007) an der Bedeutung des Images von Mallorca für den Radtourismus ausführt. Die Konzentration auf bestimmte Raumkonzepte stellt eine Komplexitätsreduktion dar (Wardenga, 2002; Hoffmann, 2011), die mit Vor- und Nachteilen verbunden sein kann. Im Sinne einer Einführung in eine Thematik kann die Reduktion der vereinfachenden Strukturierung dienen und eine systematische Einnahme veränderter Perspektiven ermöglichen (Hoffmann, 2011). Die vier Raumkonzepte der DGfG stellen aber, dies sei hier betont, keinesfalls das ein 

2

zige Schema zur Ordnung von Raumbegriffen dar. Gerade im Hinblick auf die jüngere Diskussion in der new cultural geography muss etwa auf die Unterscheidung von space und place hingewiesen werden (Vertinsky & Bale, 2004). Space bezieht sich auf einen geometrisch-­ abstrakten Raum, place als ganzheitliches phänomenologisches Verständnis von Raum auch auf die Sinnstrukturen, die mit Raum verbunden werden (Freytag, 2014, S.  16). Auf space beziehen sich somit stärker die ersten beiden, auf place eher die beiden letzteren Raumkonzepte der DGfG.

2.2 

 ie Geographie des Sports D und der Raum als Container

Häufig stellen sich Menschen unter Raum einen dreidimensionalen Ausschnitt der Erdoberfläche vor. Räume sind dabei sehr eng mit physisch-materiellen Gegebenheiten verbunden (Wardenga, 2002). Diese Vorstellung wird als Containerraum bezeichnet und zeigt sich uns auch in Alltagserfahrungen. Auf (Welt-)Karten beispielsweise finden sich mehrere solcher Containerräume als Staaten nebeneinander. Diese sind durch Grenzen gekennzeichnet, die zwischen innen und außen unterscheiden (Freytag, 2014, S. 14; 7 Kap. 5). Solche Grenzen können physisch-­materielle Entsprechungen haben, müssen es allerdings nicht und müssen auch nicht mit staatlichen Grenzen zusammenfallen. Weichhart (2008) differenziert zwischen dem konkreten Erdraumausschnitt, der im Container enthalten ist, und der Struktur des Containers selbst. Diese betrachtet Weichhart (2008, S. 78) als eigenständige ontologische Struktur („Haferl“), die auch ohne Inhalt besteht.  

26

2

J. Laub

Die Raumausschnitte (Container) sportgeographischer Untersuchungen sind meist nicht abstrakt, sondern beziehen sich auf konkret bestehende Räume und auf die Beschreibung von Gegebenheiten innerhalb dieser Räume (7 Kap. 20 und 21). Die Konzeption des Containerraums zeigt sich in der Geschichte der Geographie lange Zeit als das dominierende Raumkonzept (Wardenga, 2002). Für die zugehörigen Ansätze ist der deskriptive Zugang zu Raum charakteristisch. Beobachtungen der verschiedenen geographischen Ebenen (Klima, Geomorphologie, Bodenkunde, Vegetations-, Bevölkerungs-, Siedlungs-, Verkehrsgeographie etc.) werden beschreibend zusammengestellt, um einen konkreten Erdraumausschnitt zu erfassen. Klimatische, biogeographische (z.  B.  Vegetation), demographische, wirtschaftliche und nicht zuletzt topographische Eigenschaften eines Raums haben starken Einfluss auf Sportarten, die ausgeübt bzw. in einigen Fällen nicht ausgeübt werden können. Windsegeln kann man typischerweise dort, wo auch Wind herrscht, Gleitschirmfliegen nur dort, wo Thermik, Topographie und Bebauung es erlauben (7 Kap.  11 und  22). In klassischen (kultur-)geographischen Betrachtungen werden die Entwicklungen bestimmter Sportarten historisch mit den Eigenschaften bestimmter Landschaften verbunden. Als Beispiele können etwa die Skilanglaufdisziplinen in Skandinavien gelten. Umgekehrt wird die Fußball-WM in Katar häufig vor dem Hintergrund der klimatischen Situation kritisiert, weil man die Stadien kühlen muss und dies einen enormen energetischen Aufwand bedeutet (7 Kap. 9). Auf den Raum des Mont Ventoux bezogen, zeigen sich exemplarisch die klimatische, die vegetationsgeographische, die geologische und die siedlungsbezogene Struktur  





.       Abb. 2.1  Der Mont Ventoux. (© ChristiLaLiberte/Getty Images/iStock)

als relevant. Das sommertrockene mediterrane Klima mit dem Einfluss des Mistrals, der für enormen Wind sorgen kann, die an diese Bedingungen angepasste Vegetation (Macchien, Lavendel), die typischen Kalkgesteine, die oberhalb der Vegetationsgrenze zu erkennen sind (Rettstatt, 2010), bilden die Kulisse für die Entwicklung der sportlichen Betätigung in der Region (Kapiteleröffnungsbild; . Abb.  2.1). Das Raumkonzept des Containers erlaubt es, einen ganzheitlich-beschreibenden Blick auf den konkreten Raumausschnitt „Mont Ventoux“ zu werfen. Im Sinne des idiographischen Verfahrens wird dabei mehr auf die Besonderheit der Region abgehoben als allgemein gültige Gesetzmäßigkeiten abzuleiten. Eng mit dem Containerraum ist das Konzept der Landschaft verbunden. Die Verbindung geht bis auf Petrarcas Bericht der Besteigung des Mont Ventoux zurück. Im Moment seines Blicks vom Gipfel beschreibt Petrarca (2004) seinen ganzheitlichen Eindruck seiner Umgebung und liefert damit eine erste Beschreibung der Landschaft im modernen Sinn (Küster, 2012, S.  25). Die Entstehung des Landschaftsbegriffs selbst ist damit zentral mit der Verbindung körper 

27 Raum und Räumlichkeit des Sports als gesellschaftliche Praxis

licher und sinnlich-ästhetischer Wahrnehmung verbunden, wie sie für sportliche Betätigung typisch wird. Dies verdeutlicht, wie eng die Entwicklung von Sport mit unserer kulturellen Räumlichkeit verbunden ist. Auch im Denkschema der Landschaftsgeographie werden Räume als Behälter (Container) betrachtet, in denen alles enthalten ist: das Gestein, das Klima, die Oberflächenformen, die Böden, die Gewässer, die Pflanzen, die Tiere und die Menschen sowie deren Siedlungen, Verkehrswege und andere Strukturen (Wardenga, 2002). Jeder einzelne dieser Räume bildet für die Landschaftsgeographie eine real existierende Ganzheit, wobei ihm die Aufgabe zufällt, diese Ganz-

heit in ihrer unverwechselbaren Einmaligkeit zu beschreiben und zu erklären. Als Landschaft wird ein Raum einzigartiger Kombination geofaktorialer Merkmalsausprägungen in einem abgrenzbaren Erdraumausschnitt verstanden (Werlen, 2000). Der „individuelle Totaleindruck“ der Landschaft ist für die ästhetische Bedeutung der Umgebung bei sportlichen Aktivitäten ein wichtiger Aspekt. Dies gilt insbesondere für Natursportarten (Egner, 2001) und Sportarten mit green tendencies (Bale, 2003) wie  Radfahren. In der Sportgeographie hat  sich insbesondere der Begriff der ­sportscape (Sportlandschaft) herausgebildet (7 Box 2.1, 7 Kap. 3).  



Box 2.1 Sportscape

Unter sportscape versteht Bale (2000) eine Landschaft, die von ihrer Nutzung als Raum für Sport geprägt ist. Sportscape kann heute als Sammelbegriff verschiedener Konzepte gelten. Ursprünglich waren zwei grundlegende Eigenschaften für Sportlandschaften charakteristisch: einerseits die kulturelle Überprägung von Räumen für sportliche Praxen, andererseits die klare Abgrenzung der Räume (etwa Stadien). Hinsichtlich der Permanenz der Prägung des Raums durch Sport zeigt sich der Begriff als sehr variabel. Sportscapes können sowohl völlig überformte Räume, wie Golfplätze oder Fußballstadien, als auch nur kurzzeitig durch Veranstaltungen, wie große

2

Stadtmarathons, beeinflusste Räume sein (Hürthen, 2007, S. 23). Bale (2003) beschreibt die zunehmende Standardisierung von Sport als einen Ausgangspunkt der Abgrenzung und Überprägung von Sportlandschaften. Es zeigen sich allerdings auch Gegenbewegungen, wie Natursportarten (7 Kap. 3), Wandern oder Radfahren, die sich eher durch Entgrenzung auszeichnen (Bale, 2003; Hürthen, 2007). So können auch relativ unberührte Landschaften als sportscapes etwa von Natursportarten betrachtet werden, auch wenn hier weder eine starke Überprägung noch eine klare Abgrenzung der Sportstätten besteht (Hürthen, 2007).  

28

2

J. Laub

Wettkämpfe, die auf der Ebene von Nationalmannschaften ausgetragen werden, offenbaren das Konzept des Containerraums in Bezug auf Nationalstaaten (7 Kap.  9 und  22). Auch im Hinblick auf nationale Ligen, wie etwa die Bundesliga, ist der Containerraum ausschlaggebend. Anhand seiner Grenzen wird deutlich (7 Kap.  5), welcher Verein etwa in der Bundesliga, welcher in der französischen Ligue 1 spielt. Kompliziert wird es, wenn Spielerinnen oder Spieler mehrere Staatsangehörigkeiten besitzen. Dann kann die Zuordnung zu einem Nationalteam nicht eindeutig sein und hängt auch von der Entscheidung der Sportlerin oder des Sportlers ab. Eine weitere Problematik des Konzepts des Containerraums ist die Vorstellung von interner Homogenität im betreffenden Raum. Da vor allem typische Eigenschaften betrachtet werden, werden diese auf den gesamten Raum übertragen. Dies zeigt sich auch im Landschaftsbegriff. Die Heterogenität innerhalb der gezogenen Grenzen gerät dabei aus dem Blick (Freytag, 2014, S. 15).  



2.3 

 port im Raum als System S von Lagebeziehungen

Mit der Entwicklung komplexer funktionsbezogener Betrachtungsweisen innerhalb der Geographie, wie vor allem in der Raumwissenschaft seit den 1970er-Jahren vorangetrieben, wurde das Konzept des Containerraums zunehmend abgelöst. Ins Zentrum der raumwissenschaftlichen Erklärungsversuche rückten die Strukturen von Räumen. Verflechtungen und Relationen von Orten und materiellen Objekten wurden immer stärker zum Gegenstand geographischer Forschung, die nun auf Modellierung und kausale Erklärungen räumlicher Strukturen abzielte (Werlen, 2000; Weichhart, 2008). Die raumwissenschaftliche Geographie entwickelte Raumkonzepte, die der funktionalen bzw. systemtheoretischen

Betrachtung physischer und sozialer Strukturen und Vorgänge Rechnung tragen konnten. Dabei wird Raum als System von Lagebeziehungen verstanden. Die raum­ wissenschaftlichen Ansätze versuchen Ge­ setzmäßigkeiten im Raum zu bestimmen und greifen auf ein relationales Konzept zurück (Weichhart, 2008, S. 80). Den Elementen des Raums kommt dabei die zentrale Bedeutung zu „Raumbildner“ zu sein, „sie schaffen die Ordnung“ (Fliedner, 1992, S.  139). Absolute Distanzangaben als Erklärung wurden in der Entwicklungsgeschichte zunehmend von Relationen zwischen Orten oder Elementen ersetzt, denn, so die Erkenntnis, die Beschreibung und Erklärung von räumlichen Verteilungsmustern und ihren zeitlichen Veränderungen betreffen nicht allein die Entfernung zweier Orte, charakterisiert durch die räumliche Nähe, sondern auch die Intensität von Beziehungen zwischen diesen beiden Orten, wie Verkehrsströme oder Wanderungsverflechtungen (Werlen, 2000, S. 202 ff.). In der Sportgeographie zeigen viele gängige Untersuchungen zur Herkunft von Touristen und Touristinnen (7 Kap.  19), ökonomischen Verflechtungen oder einfach räumlichen Infrastrukturen, die mit Sport verbunden sind, das Konzept des Raums als System von Lagebeziehungen (7 Kap.  15). Von einer bestehenden gesellschaftlichen Wirklichkeit ausgehend werden mithilfe von Distanzen, Relationen und Lagebeziehungen zwischen Orten und Objekten beobachtete räumliche Zusammenhänge aufgezeigt und erklärt (Wardenga, 2002). Dies kann sich in vielfältiger Art auf Sportstätten beziehen. So können etwa Distanzen von Fußballstadien zu Städten, deren Anbindung an Verkehrsinfrastrukturen oder die Einzugsgebiete von Fanclubs oder Veranstaltungen betrachtet werden. Dieses Raumkonzept kann auf unterschiedliche Ebenen bezogen auf einzelne Räume angewendet werden. Der Mont Ventoux beispielsweise ist ein Magnet für Sport 



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29 Raum und Räumlichkeit des Sports als gesellschaftliche Praxis

touristen. Die Bedeutung, die der Berg aufweist, zeigt sich auch aufgrund seiner exponierten Lage. Die knapp über 1900  m Höhe stellten in den Alpen wohl keine Besonderheit dar. In der Provence allerdings ist der Mont Ventoux aufgrund seiner Höhe weithin die höchste Erhebung. Diese Lagebeziehung kann als ein Ausgangspunkt der Bedeutung betrachtet werden, die dem Berg heute auch auf medialer Ebene (7 Abschn.  2.5) zukommt. Auch zeigt sich das Profil des Mont Ventoux als besonders interessant für den Radsport. Der 21  km lange Anstieg von Bedoin weist einen Höhenunterschied von ca. 1550 Höhenmetern auf. Das Profil mit einer durchschnittlichen Steigung von 7,3 % zeigt sehr steile Abschnitte bis zu 10,2 % (. Abb. 2.2). Aufgrund seiner Lage weist der Mont Ventoux eine weitere besondere Situation auf. Er erhebt sich über die lokale

Vegetationsgrenze und zeigt daher das typische Bild der Spitze aus weißgrauem Kalkstein. Neben der Erhebung spielt auch die Lage innerhalb der Siedlungs- und Verkehrsstrukturen eine bedeutende Rolle für sportgeographische Betrachtungen. So stellt die Erreichbarkeit der Bergspitze für Touristinnen und Touristen wie Radfahrerinnen und Radfahrer ein zentrales Interesse der Sportgeographie dar. Solche touristischen Strukturen können über Raum als System von Relationen verstanden werden. Das Netzwerk aus Reisenden zeigt sich gerade am Mont Ventoux als sehr stark durch den Berg und seine sporttouristische Anziehungskraft beeinflusst. Im Vergleich zu benachbarten Regionen zeichnet sich das Gebiet um den Mont Ventoux gerade nicht durch Museen und Kulturveranstaltungen aus (Reyna, 2007). Touristinnen und Touristen geben in der Umgebung des Bergs täg-





hm 2.000

1.905 m

Steigung in %

1.900

bis 3,0 3,1 bis 5,0 5,1 bis 7,0 7,1 bis 9,0 9,1 und mehr

1.800 1.700 1.600 1.500 1.400

2,5

1.300 1.200

mittlere Steigung in diesem Abschnitt des Anstiegs

1.100 1.000 900 800 700 600 500 400 300

5,5 2,5 2,7 4,0 4,7 5,7 1

2

3

4

3,0 9,8 9,0 5

6

7

9,9 8,8 8

9

9,6

9,0

6,6

7,5

7,2

10,2 8,1 10,0

10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21

km

.       Abb. 2.2  Das Profil der Radstrecke hoch zum Mont Ventoux, Südseite ab Bedoin. (Nach CC BY-SA 3.0; 7 https://commons.­wikimedia.­org/w/index.­php?curid=6927870)  

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lich etwa 30 € aus, was deutlich weniger ist als in den benachbarten Regionen (etwa 50 € täglich in Avignon oder etwa 40 € täglich in Luberon; Reyna, 2007, S.  397). Tourismus stellt den zweitwichtigsten Wirtschaftsfaktor der Region dar. Bezeichnend ist etwa die Tatsache, dass auch an einem gewöhnlichen Tag Sportfotografen am Pass sind, um Radfahrer, Läufer und Wanderer zu fotographieren (Pyrolirium, 2015). Dabei führen nur drei Straßen auf den Mont Ventoux. Die Routen von Süden und Nordwesten sind die auch von der Tour de France bekannten Radstrecken auf den Berg (Kapiteleröffnungsbild). Trotz der schwierigen Erreichbarkeit des Mont Ventoux kommen jährlich 642.000 Besucherinnen und Besucher in das Gebiet um den Berg und verbringen hier 3,1  Mio. Übernachtungen (Reyna, 2007, S.  397). Sie stammen mehrheitlich aus Frankreich (53,5 %), gefolgt von Großbritannien, Belgien, Deutschland, Italien, der Schweiz und den Niederlanden (Reyna, 2007, S. 398). Als System von Beziehungen spielt Raum auch hinsichtlich konkreter Strukturen (Netzwerke, Infrastruktur etc.) eine bedeutende Rolle. Gerade Sportgroßveranstaltungen wie die Tour de France zeigen die Notwendigkeit, auf ein funktionierendes Netz an Infrastruktur zugreifen zu können. Der Tourtross umfasst etwa 6000 Menschen (Gohr, 2004, S. 5; 7 Kap. 8, 9 und 22). Der Berlin-Marathon stellt die Verkehrsinfrastruktur vor die Herausforderung, gleichzeitig 50.000 Teilnehmende, Helfende und bis zu 1 Mio. Zuschauerinnen und Zuschauer in der Stadt zu bewegen und zu versorgen, während der Lauf auf 42 km in der Innenstadt für Sperrungen sorgt.  

2.4 

Sport im wahrgenommenen Raum

Wenn wir Sport treiben, spielt unsere körperliche und geistige Erfahrung der Umgebung eine wichtige Rolle. Die Kategorie „Wahrnehmung“ des Raumkonzepts fokussiert auf den Menschen und dessen Wahrnehmung des Raums. Damit rücken nun weniger Strukturen oder der Raum selbst als Gegebenheit, sondern die subjektiven Erfahrungen in einem Raum in den Blickpunkt. Die Perspektive bezieht sich auf die Mikroebene und die individuelle Wahrnehmung, wie sie in psychologischen Betrachtungen etwa in der behavioral geography Grundlage ist. Popper (1987) bezeichnet diese Bewusstseinsebene als Welt 2 (Weichhart, 2008, S. 91). Dieses Raumkonzept gewinnt vor dem Hintergrund sozialpsychologischer Ansätze der 1970er- und 1980erJahre an Bedeutung. Grundsätzlich sind diese mit einem konstruktivistischen Grundgedanken verbunden. Es werden vor allem wahrgenommene Empfindungen von Räumen wie Gerüche, Geräusche und andere sinnliche Wahrnehmungen betrachtet. Auch Gefühle und Erinnerungen spielen hierbei eine Rolle. In der Sportgeographie können diese etwa Perzeptionen von Besucherinnen und Besuchern von Veranstaltungen auf der Rennstrecke des Nürburgrings (7 Kap. 18) oder des Marathons in Berlin sein. Man sieht allerdings durchaus, dass viele Menschen ähnliche Wahrnehmungen aufweisen oder diese teilen, dass also vergleichbare Muster räumlicher Wahrnehmungen vorliegen. Die eigenen Eindrücke, das eigene ästhetische Gefühl und der eigene Geruchssinn sind grundlegend für Entscheidungen über  

31 Raum und Räumlichkeit des Sports als gesellschaftliche Praxis

Räume, in denen man Sport treiben möchte. Auch die Wahrnehmung während der sportlichen Betätigung ist wichtig. So zeigen sich individualisierte Sportarten wie Laufen, Triathlon, aber auch Wandern sehr stark von den sinnlichen Empfindungen der Umgebung geprägt. Gerade Natursportarten sind an eine bestimmte Wahrnehmung der Natur gebunden (Egner, 2001). Die Orte, an denen diese Sportarten durchgeführt werden, dienen als Kulisse für sportliche Praxis (7 Kap.  3 und  4). Sportveranstaltungen profitieren gerade davon, spektakuläre Kulissen zu bieten (7 Kap.  18), wenn sie bei Teilnehmerinnen und Teilnehmern das Gefühl unterstützen können, besonders schöne oder außergewöhnliche Momente zu erleben. Dies trifft auch auf den Mont Ventoux zu. Wie dieser von Sportlerinnen und Sportlern wahrgenommen wird, bezieht sich zunächst auf unterschiedliche sinnliche Wahrnehmungen, wie Gerüche, Hitze oder den Wind. Insbesondere der Geruch des Lavendels (. Abb.  2.1), die Rückstrahlung von den vegetationsfreien Geröllfeldern und Straßen sind im Sommer Ausgangspunkt für typische Beschreibungen individueller Eindrücke während der Auffahrt (. Abb. 2.3). Das Gefühl des Erhabenen, das sich beim Aufstieg einstellt, wenn der weite Blick bis zu den östlichen Alpengipfeln und dem südlich gelegenen Mittelmeer reicht, findet  







.       Abb. 2.3  Der Aufstieg zum Mont Ventoux aus der Perspektive von Radfahrerinnen und Radfahrern. (© Razvan/Getty Images/iStock)

2

sich auch in Petrarcas (2004, S. 17) Bericht. Grundsätzlich kann die subjektive Wahrnehmung eines Raums durchaus durch mediale Repräsentationen beeinflusst sein (7 Abschn. 2.5). Große Laufveranstaltungen sowie Triathlons werden hinsichtlich der Wahrnehmung der Teilnehmerinnen und Teilnehmer evaluiert und verändert (7 Kap. 12). Die subjektiven Wahrnehmungen während des Köln Marathons sind ein Beispiel hierfür (Wiktorin, 2004, S.  18  f.). Die Ergebnisse der Erhebungen können zentrale Ansatzpunkte der Planung zukünftiger Veranstaltungen ergeben (7 Kap. 24).  





2.5 

 port und Raum als soziale S Konstruktion

Der Mont Ventoux wird häufig als „mythischer Berg“ (Reyna, 2007) bezeichnet. Insgesamt werden dem Berg sehr verschiedene Attribute zugeschrieben. Teilweise hängen diese stark mit seinen physischen Eigenschaften zusammen („der windige Berg“, „Gigant der Provence“, „Mondlandschaft“). Die Zuschreibungen finden sich auf der sprachlichen oder auf der bildlichen Ebene und werden in Medien etabliert und weitergeführt. Als sprachliche Mittel verstanden zeigen sie stark überzeichnende und gar überhöhende Eigenschaften („Höllenberg“, Burkert, 2013). Insbesondere die Perspektive der neuen Kulturgeographie betrachtet, wie räumliche Phänomene dargestellt werden (sprachlich, visuell, medial etc.) und wer dabei in welcher Weise Einfluss auf diese Repräsentation nimmt. In der Tradition von Gregorys „imaginierte[n] Geographien“ (Bale, 2003, S. 160) bezieht sich diese Perspektive vor allem auf die Konstruiertheit der geographischen Zuschreibungen (Peters & Roth, 2006, S. 84). Dies unterscheidet sie grundsätzlich von „kognitiven Landkarten“ des wahrgenommenen Raums. Raum als soziale Konstruktion meint nicht selbst er-

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J. Laub

fahrenen Raum, sondern mediale Repräsentationen von Raum. Gerade mit Blick auf die wachsende Bedeutung des Tourismus in den Sommermonaten in den Alpen zeigt sich die Tour de France als sehr wichtiger Bestandteil des Markenimages von Alpenorten und Regionen, wie etwa Alpe d’Huez (Gohr, 2004). Sport ist Teil unserer gesellschaftlichen und kulturellen Praxis und reicht über den eigenen Bedeutungsrahmen als Spiel und Wettkampf auch hinsichtlich seiner Räumlichkeit weit hinaus. Sport ist immer auch politisch (Heckemeyer & Schmidt, 2019, S. 4). Dass die sprachlich symbolische Ebene auch mit Blick auf gesellschaftliche Wahrnehmung von Sport eine erhebliche Rolle spielt, zeigt beispielsweise die Diskussion um die Farbgebung der Allianz Arena zum EM-Qualifikationsspiel der Deutschen Fußball-Nationalmannschaft 2020 gegen ­ Ungarn (. Abb. 2.4). Betrachten wir die gesellschaftlichen Debatten über die Austragung der Olympischen Winterspiele in China (7 Kap. 7), der Fußball-Weltmeisterschaft 2022  in Katar (7 Kap. 9) oder die Beleuchtung der Allianz Arena in Regenbogenfarben als symbolische Solidaritätserklärung mit der LGBTIQ-­ Bewegung, so wird deutlich, dass auch die Räumlichkeit des Sports eine gesellschaftliche Dimension hat. Sport war immer schon ein Mittel kultureller Repräsentation (7 Kap. 23). Große internationale Sportveranstalt­  







.       Abb. 2.4  Allianz Arena in Regenbogenfarben. (© anahtiris/Getty Images/iStock)

ungen haben eine Bedeutung bei der kulturellen Selbstvergewisserung von Gesellschaften. Bourdieu (1998, S. 125) hebt diese Dimension in seiner Betrachtung der Olympischen Spiele hervor. Ihm zufolge muss es darum gehen, nicht nur die Ergebnisse sportlicher Wettkämpfe, sondern Sport als Ganzes, als gesellschaftliche Praxis, genauer als „Kommunikationsinstrument“, zu betrachten. Gerade hinsichtlich der Olympischen Spiele verweist er auf den engen Bezug zu Nationalstaatlichkeit und den nationalen Wettkampf, der ihm für die soziale Reproduktion nationalstaatlicher Identifikation zentral erscheint. Aber auch die räumlichen Manifestationen und Artefakte der sportlichen Praxis einer Gesellschaft haben geographische Relevanz. Insbesondere während des Kalten Kriegs wird die politische Bedeutung von Sport und dessen Räumlichkeit erkennbar (Peters & Roth, 2006). Expeditionen in den Himalaya und historische Erstbesteigungen spiegeln dies wider, so etwa die deutsche Himalaya-­ Expedition und die Erstbesteigung der Eiger-Nordwand (Peters & Roth, 2006, S.  54). Das Raumkonzept „Raum als soziale Konstruktion“, wie es die DGfG ausweist, bezieht sich auf die Repräsentation von Räumen in Medien gesellschaftlicher Kommunikation. Bezogen auf die Räumlichkeit des Sports kann dabei auch als relevant gelten, wie in einer Gesellschaft über regionale Vereine (7 Kap.  13 und  18) oder Sportstätten (7 Kap.  23) gesprochen wird oder wie räumliche Aspekte bei der Besprechung von Sportarten thematisiert werden. Gerade am Beispiel des Mont Ventoux zeigen sich Zusammenhänge und Reichweite dieser sozialen Konstruktion. Allerdings ist gerade am Beispiel des Mont Ventoux zu erkennen, dass die soziale Konstruktion des Raums nicht eindimensional betrachtet oder stark vereinfacht werden darf. Das Image eines Raums ist hochkomplex und multidimensional (7 Kap. 13). Ein Image spiegelt nicht lediglich objektive  





33 Raum und Räumlichkeit des Sports als gesellschaftliche Praxis

Sachverhalte wider. Besondere Akzentuierungen und Betonungen, aber auch Ausklammerungen sind dabei zentral. Images bestehen in verschiedenen Gruppen in verschiedenem Maße und mit unterschiedlichen Akzenten (Hürthen, 2007, S. 39). Dieser Sachverhalt lässt sich auch mit Realitätsdistanz des Images erläutern (Eck, 1986). Aus der Per­spektive von Radfahrern hat die Insel Mallorca beispielsweise eine andere Bedeutung als für andere Besucherinnen und Besucher (Hürthen, 2007).

2.6 

Fazit

Als soziale Praxis ist Sport bzw. sind sportliche Ereignisse sowohl Ergebnis als auch Ausgangspunkt räumlicher Strukturen der Gesellschaft (7 Box 2.2). Sportliche Praxen können in verschiedener Hinsicht als raumwirksam bezeichnet werden: von der Nutzung von Naturräumen für Individualsportarten (7 Kap.  3) über die Konstruktion sozialer Räumlichkeit des Sports (7 Kap. 4) bis hin zum Bau von Sportstätten (7 Kap. 23),  







2

die als räumliche Artefakte der gesellschaftlichen Praxis alltäglichen Geographie-­ Machens (Werlen, 2000) verstanden werden können. Verschiedene Raumbegriffe, wie sie von der DGfG formuliert wurden, helfen, die Beziehung von Sport und Raum differenziert zu betrachten und ganz verschiedene räumliche Aspekte von Sport analytisch zu greifen. Die Trennung der Raumbegriffe hilft zu erkennen, welches Verständnis bzw. welche Verständnisse von Raum und welche Per­ spektiven auf Raum in der jeweiligen Betrachtung der sportlichen Praxis eine Rolle spielen, auch wenn dabei Aspekte verschiedener Raumbegriffe miteinander verbunden sind. Die didaktische Bedeutung ­resultiert nicht zuletzt aus der Tatsache, dass Lernenden erkennbar gemacht werden kann, „dass ein Weltbild nicht einfach ein Spiegel der äußeren Welt ist, sondern objektiv und subjektiv gebrochene Wahrnehmung“ (Rhode-Jüchtern, 1996, S.  56). Im Unterricht müssen die „Dinge“ nach allen Seiten gedreht, Informationen aus verschiedenen „Fenstern“ entnommen werden.

Box 2.2  Fragen der Sportgeographie vor dem Hintergrund verschiedener räumlicher Konzepte Raum als Container

Raum als System von Lagebeziehungen

Bezug: Für Sport(-stätten) relevante Merkmale des Raums auf verschiedenen Ebenen des Containerraums

Bezug: Für Sport(-stätten) relevante Relationen auf verschiedenen Maßstabs- und Systemebenen

Beispiele: Klimatische Bedingungen bei Wettkämpfen (Ironman Hawaii), Bedeutung der Landschaft (Trailrunning, Wandern, Bergsteigen, Segeln)

Beispiele: Verkehrsanbindung von Stadien, regionales Fanpotenzial für Vereine, Herkunft der Teilnehmerinnen und Teilnehmer, Höhenmeter auf Wettkampfstrecken

Fragen: Welche Eigenschaften eines Raums können auf verschiedenen Ebenen (Geologie, Geomorphologie, Vegetation, Klima, Siedlungsstruktur etc.) beschrieben werden? Welche Eigenschaften spielen für Sport eine Rolle (Temperatur, Einstrahlung oder Höhe)?

Fragen: Wie ist die Anbindung/Erreichbarkeit von Sportstätten? Welche wirtschaftliche Bedeutung hat der Sporttourismus für die Region? Wie sind Einzugsbereiche von Sportstätten? Wie ist die Lage in einem übergeordneten Bezugssystem/-raum (z. B. Höhenunterschiede)?

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Wahrgenommener Raum

Raum als soziale Konstruktion

Bezug: Wahrnehmung des Raumes durch verschiedene Akteure und Akteursgruppen

Bezug: Kritische Analyse der medialen Repräsentation des Raums/von Räumen sportlicher Praxis

Beispiele: Wahrnehmung von Räumen bei individuellem Sporttreiben oder bei organisierten Sportveranstaltungen (Tour de France, Köln-Marathon), Wahrnehmung von Räumen aufgrund historischer Sportveranstaltungen (Olympiapark München, Wembley Stadium, Matterhorn)

Beispiele: Bedeutungszuschreibung zu Räumen (Mont Ventoux), große Gipfel und Wände der Alpen (Eiger-Nordwand, Matterhorn), besondere Sportstätten (Wimbledon, Wembley-Stadion), Zuschreibungen von Fankulturen, Bedeutung der Ausrichtung von Wettkämpfen auf der symbolischen Ebene (Olympische Spiele)

Fragen: Wie nehmen Sporttreibende selbst/ Zuschauende einen Raum wahr? (z. B. Stadion, Marathonstrecke, Mont Ventoux)? Welche Wahrnehmungen sind für die Verortung von Sport bedeutend (z. B. Naturnähe)?

Fragen: Wie werden Räume sportlicher Praxis sozial/medial konstruiert/repräsentiert? Welche Zuschreibungen zu Räumen bestehen im Zusammenhang mit Sport? Wie werden Räume bewertet? Wie werden Räume für symbolische Kommunikationen gestaltet (Olympiastadion Berlin)? Wie lassen sich Spannungsfelder räumlicher Konstruktion in die Planung räumlicher Anlagen konzeptuell einbeziehen (Kilberth, 2021)?

? Übungs- und Reflexionsaufgaben 1. Erläutern Sie die Bedeutung der Raumkonzepte am Beispiel einer selbst gewählten Sportart und deren Sportstätten. 2. „Unter den Bedingungen der digitalisierten Informationsgesellschaft kommt der sozialen Konstruiertheit des Raums zunehmend Bedeutung bei.“ Erläu­ tern Sie die Aussage in Bezug auf Sporträume und nehmen Sie Stellung.

Zum Weiterlesen empfohlene Literatur Kilberth, V. (2021). Räume für Skateboarding zwischen Subkultur und Versportlichung. Transcript. Peters, C., & Roth, R. (2006). Sportgeographie  – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum. (Schriftenreihe „Natursport und Ökologie“, 20). Institut für Natursport und Ökologie der Deutschen Sporthochschule.

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35 Raum und Räumlichkeit des Sports als gesellschaftliche Praxis

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2

Institut für Natursport und Ökologie der Deutschen Sporthochschule. Petrarca, F. (2004). Die Besteigung des Mont Ventoux. Reclam. Popper, K. R. (1987). Auf der Suche nach einer besseren Welt. Vorträge und Aufsätze aus dreißig Jahren. Piper. Pyrolirium. (2015). Fotojob auf 1900 Metern. Die Rennradler-Fotographen vom Mont Ventoux. https://­ pyrolim.de/pyropro/fotojob-­auf-­1911-­metern-­hoehe-­ die-rennradler-­fotografen-­vom-­mont-­ventoux/. Zugegriffen am 30.03.2022. Rettstatt, T. (2010). Provence between Ardèche and Verdon gorge. Bergverlag Rother. Reyna, K. (2007). Tourisme et accueil du public au mont Ventoux. Forêt Méditerranéenne XXVIII(4), 397–400. Rhode-Jüchtern, T. (1996). Den Raum lesen lernen. Perspektivenwechsel als geographisches Konzept. Oldenbourg. Schroer, M. (2005). Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raumes. Suhrkamp. Steinmann, K. (2004). Nachwort und Anmerkungen zu Francesco Petrarcas „Die Besteigung des Mont Ventoux“. In F. Petrarca (Hrsg.), Die Besteigung des Mont Ventoux. Reclam. Vertinsky, P., & Bale, J. (2004). Sites of sport. Space, place, experience. Routledge. Wardenga, U. (2002). Räume der Geographie. Zu dem Raumbegriffen im Erdkundeunterricht. Geographie heute, 23(200), 8–11. https://homepage.­univie.­ac.­at/ christian.­sitte/FD/artikel/ute_wardenga_raeume.­ htm. Zugegriffen am 30.03.2022. Weichhart, P. (2008). Entwicklungslinien der Sozialgeographie. Von Hans Bobek bis Benno Werlen. Steiner. Werlen, B. (1995). Sozialgeographie alltäglicher Regionalisierungen. Band 1: Zur Ontologie von Gesellschaft und Raum. Steiner. Werlen, B. (2000). Sozialgeographie. Eine Einführung. UTB. Wiktorin, D. (2004). Der Köln Marathon. 42,195 km durch die Stadt. Geographie heute, 25(219), 15–19. Wilhelm, J.  L. (Hrsg.). (2018). Geographien des Fußballs. Themen rund ums runde Leder im räumlichen Blick (Potsdamer Geographische Praxis, 14). Universitätsverlag.

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Natursportarten – räumliche Wirkungen und Konflikte Boris Braun

Weitgehend unverbaute, naturnahe Flüsse wie die Obere Isar sind bei Kanusportlerinnen und -sportlern sehr beliebt. (© Boris Braun)

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Gans et al. (Hrsg.), Sportgeographie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66634-0_3

3

Inhaltsverzeichnis 3.1

Natursportarten im Trend – 39

3.2

Geographische Raumkonstruktionen und Natursport – 41

3.3

Raumwirkungen und Raumkonflikte – 42  eispiel Kanusport – zunehmend unübersichtliche B Regulierungsdichte – 44 Beispiel Klettersport – vom Konflikt zur Zusammenarbeit – 45 Beispiel Mountainbiking – starke Individualisierung, komplexe Konfliktlinien – 46 Kumulationseffekte – 47

3.4

Fazit – 47 Literatur – 48

Einleitung Natursportarten versprechen in einer urbanisierten und in ihrer Arbeitswelt immer stärker durchgetakteten Gesellschaft Spaß, Selbstverwirklichung, Individualität und Spontaneität sowie das Wiedererleben und -erfahren von Natur (Türk et al., 2004, S. 171; 7 Kap. 4). Sie halten für die sie Ausführenden besondere Herausforderungen bereit und verstehen sich (zumindest in Teilen) als Alternativen zum klassischen Vereinssport und seinen Werten. Sie sind weniger als traditionelle Sportarten von der Interaktion und dem spielerischen Wettbewerb mit anderen Menschen als von der Begegnung und der Auseinandersetzung mit den natürlichen Elementen und der eigenen technischen Ausrüstung geprägt (Krein, 2018). Aufgrund dieser gemeinsamen Charakteristika schlagen Melo et  al. (2020) nature sports bzw. „Natursportarten“ als Dachkonzept für die verschiedenen naturbezogenen Individualsportarten vor, die ausschließlich oder überwiegend außerhalb von städtisch geprägten Räumen betrieben werden (Egner et  al., 1998). Auch der vorliegende Beitrag folgt diesem Begriffsverständnis. Aufgrund seiner Bedeutungszunahme wird der Natursport immer mehr zum Gegenstand wissenschaftlicher Auseinandersetzungen (Durán-­ Sánc­ hez et al., 2020).  

3.1 

Natursportarten im Trend

Natursportarten liegen im Trend. Diese steigende Bedeutung schlägt sich nicht zuletzt auch in einer zunehmenden Vielfalt von zum Teil synonymen, zum Teil auch konkurrierenden Begriffen nieder: Abenteuersport, Outdoor-Sport, Extremsport, Risikosport, Action-Sport oder sogar Alternative Sports, Lifestyle Sports oder Trendsport beschreiben alle mit etwas unterschiedlichen Konnotationen physische Aktivitäten, die nicht in eigens hierfür erstellten baulichen Anlagen ausgeübt werden. Natursportarten können

3

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Natursportarten – räumliche Wirkungen und Konflikte

zum einen als eine Abkehr vom traditionellen Leistungs- und Breitensport verstanden werden, zum anderen reproduzieren sie Mechanismen der Kommerzialisierung, Kommodifizierung und kapitalistischen Vermarktung. Gerade „neue“ Sportarten wie das Wellenreiten/Surfen in den 1950er- und 1960er-­Jahren, Windsurfen, Mountainbiking oder Snowboarden in den 1970er- bis 1990erJahren oder Stand-up-Paddling (SUP) in den 2000er-Jahren sind ohne Kommerzialisierung bei Sportgeräten, Bekleidung und entspre­ chenden Reisezielen sowie die bewusste Produktion von vermeintlich anstrebenswerten und vermarktungsfähigen Lebensstilen kaum vorstellbar. Auch „ältere“ Natursportarten wie Bergwandern, Klettern, Skifahren oder Paddeln werden – in teilweise abgeschwächter Form  – hiervon erfasst und bilden neue Modalitäten mit neuen Vermarktungschan­ cen aus, die mit einer immer weiteren Ausdifferenzierung der Disziplinen einhergehen (z.  B.  Bouldern, Trailrunning, Heliskiing, Kanu-Freestyle, Kitesurfen; Fickert, 2020; Melo et al., 2020; 7 Kap. 4). Allein das aufgrund der Größe des Markts ökonomisch besonders relevante Mountainbiking hat inzwischen unzählige Varianten und Untervarianten ausgeprägt (Egner, 2000). Zudem lassen sich viele Natursportarten nicht klar von weiteren Freizeitaktivitäten abgrenzen und gehen eine enge Verbindung mit der Tourismuswirtschaft ein. So ist einerseits die Grenzziehung zwischen Natursport und anderen Freizeitaktivitäten im Freien (entspanntes Wandern, Spazierengehen, Fahrradfahren, Angeln, Schnorcheln usw.) nicht immer scharf, andererseits sind viele Natursportarten typische Urlaubsaktivitäten (z.  B.  Bergwandern, Surfen, Tauchen, Skifahren) und finden insbesondere im Rahmen des sogenannten Abenteuertourismus statt. Letzterer hat sich in den vergangenen Jahrzehnten zu einem ökonomisch höchst relevanten Segment der touristischen Angebote entwickelt (Groß & Sand, 2022; 7 Kap. 11). Mittlerweile setzen deshalb viele Destinatio 



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B. Braun

nen auch durch den gezielten Ausbau einer gtere Varianten existieren – sind in der Bespezifischen Infrastruktur auf bestimmte völkerung weit verbreitet. Natursportarten. Nicht selten erfolgt dies in Die Erklärungsansätze für das starke InForm einer Mehrfachnutzung, wie Skilifte teresse an sportlichen Aktivitäten in der und -pisten im Winter und Fahrrad-­ Natur sind vielfältig und reichen über das Downhill-­Anlagen im Sommer. Motiv der reinen Körperertüchtigung weit Während die Zahl der Extremsport­ hinaus. Nach einer qualitativen Studie aus lerinnen und -sportler in allen Natursport- dem Jahr 2019 lassen sich für Outdoor-­ arten relativ begrenzt ist, ist die Gesamt­ Aktivitäten vier Motivgruppen herauszahl der Natursporttreibenden inzwischen stellen (rheingold institut o. J.): durchaus beachtlich. Eine aktuelle Online-­ 1. Der gerahmte Eskapismus, bei dem es Befragung von 1500 Personen ab 18 Jahren vor allem um alltagsnahe, zeitlich beim deutschsprachigen Raum von Groß und grenzte und flexible Möglichkeiten des Sand (2022, S.  165  ff.) ergab, dass niederNaturerlebens geht schwellige Natursportarten wie Bergwan­ 2. Die klassische Naturliebe, die mit dem dern oder Joggen von einem größeren Anteil Wunsch verbunden ist, bei der Sportausder Befragten regelmäßig ausgeübt werden übung in der Natur in einen „persön(. Abb. 3.1). Sportarten mit höheren techlichen Flow“ zu kommen und abschalten nischen, körperlichen, zeitlichen und/oder zu können finanziellen Einstiegshürden werden zwar 3. Der Typ des Urban Warriors, dem es vor naturgemäß von weniger Menschen und allem um die Bewältigung von Herausauch nicht immerzu betrieben, aber auch forderungen geht und der sich selbst eher ausrüstungsintensive Sportarten wie gerne als Kämpfer inszeniert, ohne in das Mountainbiking oder der Kanusport – einem organisierten Rahmen wirkliche von denen jeweils extremere und gemäßi­ Risken einzugehen  

Bergwandern Joggen Mountainbiken Hochseilgarten Kanu-/Kajakfahren

täglich wöchentlich monatlich ein paar Mal im Jahr seltener als ein paar Mal im Jahr nie

Skitouren gehen SUP Segeln Klettern am Felsen Biwakieren/Microadventures Gleitschirmfliegen Fallschirmspringen 0

10

20

30

40

50

60

70

80

90

100 Prozent

..      Abb. 3.1  Regelmäßig ausgeübte Natursportarten von 1500 Befragten im deutschsprachigen Raum. (Nach Groß & Sand, 2022, S. 171; leicht verändert)

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Natursportarten – räumliche Wirkungen und Konflikte

4. Die Survival- und Adrenalinsuchenden, denen es vor allem um die unmittelbare Erfahrung mit der Natur und die direkte Auseinandersetzung mit den Elementen geht Im Gegensatz zur klassischen Naturliebe möchte die letzte Gruppe die möglichst beeindruckende Naturumgebung zähmen und ihre besonderen Fähigkeiten unter Beweis stellen. Selbstverständlich kommen auch Mischformen dieser Idealtypen vor. Bei den allermeisten Natursportarten geht es den Ausübenden nicht oder zumindest nicht nur um ein Zurück zur Natur, sondern um die Suche nach der individuellen Herausforderung und um die Ausdiffe­ renzierung von Lebensstilen in einer zunehmend individualisierten Konsumgesellschaft. Natursportarten dienen damit auch dem Streben nach sozialer Distinktion im Sinne Bourdieus (1987). Die auffällige Präsenz des Natursports in den sozialen Medien wie Instagram oder YouTube hat diese Trends weiter verstärkt. Die Instagrammabi­ lity spielt heute nicht nur für touristische Destinationen eine wichtige Rolle, sondern auch für die Diffusion von (neuen) Sportarten und den mit ihnen verbundenen Lebens- und Konsumstilen. Sogenannte lead users, die ihre besondere Prominenz nicht zuletzt ihrer Reichweite in den sozialen Medien zu verdanken haben, spielen für das Marketing der Sportartikelhersteller inzwischen eine gewichtige Rolle (Schreier et al., 2007). Natursportarten haben aber nicht nur im virtuellen Raum einen besonderen Platz, sondern sie sind auch eng verknüpft mit den Räumen, in denen sie ausgeübt werden, die von ihnen geprägt werden und an deren gesellschaftlicher Konstruktion sie beteiligt sind (7 Kap. 2). So wird die Wahrnehmung von einzelnen Landschaftselementen sowie ganzen Landschaften auch durch die Sportarten geprägt, die in ihnen ausgeführt werden (z.  B.  Surfstrände, Kletterfelsen, Skiarenen). Hierdurch ändert sich nicht nur die Art, wie Sport wahrgenommen, betrieben  

3

und verstanden wird, sondern es ändern sich auch dessen Raumwirkungen sowie die dahinterliegenden Raumverständnisse und konstruktionen.

3.2 

Geographische Raumkonstruktionen und Natursport

In der deutschsprachigen Geographie haben sich seit vielen Jahren vier Raumkon­ zeptionen bzw. Raumverständnisse etabliert (7 Kap.  2): Raum als Container, Raum als System von Lagebeziehungen, wahrgenom­ mener Raum und Raum als Konstrukt (Wardenga, 2002). Weitere Raumtypologien unterscheiden in einem ähnlichen Sinne beispielsweise absolute, relative, relationale und topische Räume (Suwala, 2021, aus Sicht der Wirtschaftsgeographie). Während die Begriffe des absoluten und des relativen Raums jeweils weitestgehend mit der Kategori­ sierung von Containerräumen und Räumen als System von Lagebeziehungen identisch sind, stellt der relationale Raum die sozialen Beziehungen (im Gegensatz zu den physischen Lageparametern) in den Vordergrund. Etwas andere Vorstellungen als der wahrgenommene und der konstruierte Raum verfolgt die Idee des topischen Raums. Dieser geht über die reine Wahrnehmung und sozialen Konstruktionen hinaus und schreibt dem Raum selbst eine strukturierende und steuernde Wirkung auf Wahrnehmung und Konstruktion zu. So werden Landschaften und damit auch Sportlandschaften oder sportscapes (z. B. Hürthen, 2007) aus dieser Perspektive als etwas gesehen, was einerseits durch soziale Handlungen konstruiert wird, andererseits aber auch bestimmte physische Merkmale aufweist, die Handlungen und Wahrnehmungen strukturieren und steuern (Suwala, 2021). So sind beispielsweise bestimmte Landmarken an bestimmte Orte und Räume gebunden und machen deren soziale (und ökonomische) Bedeutung aus.  

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Für Natursportarten spielen alle diese Raumkonzepte, die sich nicht zwangsläufig gegenseitig ausschließen, eine Rolle. Dies gilt sowohl für eher raumgreifende Sportarten wie Mountainbiking, Bergwandern, Segeln, Paragliding oder den Kanusport, bei denen in der Regel größere Strecken zurückgelegt werden, als auch für Sportarten, die eher kleinräumig ausgeführt werden (z.  B. Felsklettern, Bouldern, Angeln, Surfen). Fast alle diese Sportarten werden in bestimmten Regionen betrieben, die sich absolut verorten, abgrenzen und idiographisch beschreiben lassen (Raum als Container, absoluter Raum). Vielfach sind bestimmte physische Merkmale dieser Räume eine Voraussetzung für die Ausführung bestimm­ ter Natursportarten (Felswände, Wildflüsse, Schneesicherheit, Skilifte, Wanderwege usw.). Viele Natursportarten sind auf technisches Equipment angewiesen, das nicht an den Orten konsumiert wird, an denen es produziert wird, was Lieferbeziehungen bedingt, über die diese Orte miteinander verbunden werden. Zudem sind viele Natursportarten touristisch relevant (Groß & Sand, 2022), woraus sich ebenfalls komplexe Systeme von Lagebeziehungen ergeben (z. B. touristische Ströme oder Investitionen zwischen Herkunftsgebieten und Destinationen). Vielfach werden auch durch die sportliche Betätigung selbst Orte entlang der zurückgelegten Routen miteinander verbunden (z.  B. beim Wandern, Joggen, auf Radtouren oder beim Kanuwandern). Auch die anderen Ebenen der geographischen Raumkonzepte sind für Natursportarten relevant und damit in diesem Kontext wissenschaftlich analysierbar. Die Wahrnehmung von Räumen spielt für deren Attraktivität bei der Sportausübung eine ganz erhebliche Rolle. Besonders deutlich wird dies bei der wahrgenommenen Naturnähe, welche für viele Natursporttreibende besonders wichtig ist. Aber auch andere Faktoren, wie die wahrgenommenen Schwierigkeiten eines Skihangs, einer Felswand, eines

Wildwasserflusses oder der lokalen Thermik, sind für die tatsächliche Sportausführung und die Risikoabschätzung der Sporttrei­ benden relevant. Offensichtlich ist auch, dass Räume, in denen Natursport ausgeübt wird, davon in besonderer Weise geprägt sowie sozial konstruiert und rekonstruiert werden. Dies ist besonders dann der Fall, wenn eine Landschaft zur Sportlandschaft wird, sie als Gesamtheit oder bestimmte Elemente von ihr von zumindest einem Teil der Gesellschaft als „Sportstätte“ wahrgenommen, erlebt und kommuniziert wird (Egner, 2000, S. 17). Beispiele hierfür finden sich vor allem in Hochgebirgen mit ihren Skiarenen (z. B. Portes du Soleil in den schweizerisch-­ französischen Alpen), bekannten Kletterrouten (z.  B. an der Eiger-Nordwand) oder Wildbächen (z. B. die Soča in Slowenien). In diesen Räumen ist – in der Regel durch das Tourismusmarketing unterstützt  – ihr Sportstättencharakter inzwischen ein dominanter Teil ihrer Identität. Ganz im Sinne topischer Räume kommt es hier zu einer wechselseitigen Bedingtheit von physischer Raumausstattung und sozial konstruierten (Sport-) Landschaften. 3.3 

Raumwirkungen und Raumkonflikte

Aufgrund der großen Beliebtheit von Natursportarten haben diese vielerorts eine erhebliche Raumwirksamkeit erlangt. Sie verändern Räume nicht nur physisch (z.B. durch Liftanlagen, Downhill-Parcours oder weitere touristische Infrastruktur), sondern auch in ihrer gesellschaftlichen Wahrnehmung (7 Kap.  4). Allerdings ist die Raumwirksamkeit nicht bei allen Natursportarten gleich. . Abb. 3.2 stellt für ausgewählte Natursportarten den Zusammenhang zwischen deren Angewiesensein auf eine spezifische Infrastruktur sowie deren Wirkung auf den Ausbau der weiteren,  



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Natursportarten – räumliche Wirkungen und Konflikte

3

Einfluss auf weitere Infrastrukturentwicklung in der Region

Alpinski

Klettern Wandern Bergsteigen

Tauchen Surfen

Canyoning Kanufahren Naturlandschaft

Golf

Segeln

Mountainbiking Laufen Rennradfahren

Rudern Reiten

Paragliding Skilanglauf einfache Sportstätten und -infrastrukturen

große Sportarenen/-anlagen

INFRASTRUKTURAUSBAU ..      Abb. 3.2  Zusammenhang zwischen der spezifischen Infrastruktur für Natursportarten und deren Einfluss auf die allgemeine Infrastrukturentwicklung in der Region. (Nach Türk et al. 2004)

sportunspezifischen Infrastruktur dar (Türk et  al., 2004). So verlangt beispielsweise der moderne Alpinskisport den Ausbau aufwendiger Liftanlagen, die Bereitstellung von präparierten Pisten und immer mehr auch die Installation von Beschneiungsanlagen  – mit allen damit einhergehenden Eingriffen in das Landschaftsbild und teilweise massiven ökologischen Folgen (z.  B. de Jong, 2020; 7 Kap. 7). Darüber hinaus bedingt der Alpinskisport allein durch die große Zahl der Sporttreibenden und seine räumliche Konzentration auf entsprechende Bergregionen den regionalen Ausbau der weiteren Infrastruktur (Verkehrserschließung, Parkflächen, Beherbergungskapazitäten usw.). Dies ist in der Regel mit substanziellen regionalökonomischen Potenzialen verbunden, verschärft aber auch die räumliche Konkurrenz mit anderen Nutzungsansprüchen und ökologische Belastungen. Ähnlich trifft dies auch auf den Golfsport zu, der in einer stark modifizierten Natur stattfindet und seit jeher besonders flächenintensiv ist (Seewald et al.,  

1998, S.  207  ff.). Andere Sportarten wie Kanufahren, Sporttauchen oder Klettern sind weniger flächenverbrauchend und kommen mit deutlich weniger spezifischer Infrastruktur aus. Sie haben aufgrund der geringeren Zahl der Sporttreibenden in der Regel auch weniger umfassende räumliche Wirkungen. Allerdings können auch bei diesen Sportarten durch die hohe räumliche Konzentration der Sportausübung auf bestimmte Kletterfelsen, Tauchplätze oder Flussabschnitte erhebliche Konflikte entstehen. Vielfach finden solche „reinen“ Natursportarten in ökologisch besonders sensiblen Räumen statt. Dies bedingt Konflikte mit Naturschutzinteressen. Hinzu kommen ökologische Belastungen durch die An- und Abreise, die gerade bei diesen Sportarten bevorzugt mit privaten Autos erfolgt. Diese Belastungen reichen von Luftverschmutzung und Lärm über wildes Parken bis hin zu den in den letzten Jahren in den Mittelpunkt der Diskussion gerückten CO2-­Emissionen des Verkehrs.

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B. Braun

 eispiel Kanusport – zunehmend B unübersichtliche Regulierungsdichte

3

Ein klassisches Beispiel für das Konfliktfeld Natursport vs. Naturschutz ist der Kanusport (Kapiteleröffnungsbild). Dieser hat in Deutschland eine mehr als 100-jährige Tradition und zählt nach wie vor zu einer der beliebtesten Natursportarten, die sowohl im Verein als auch mit Leihbooten oder sehr individuell mit eigenem Sportgerät ausgeübt werden kann. Es handelt sich beim Paddeln zwar nicht um einen ausgesprochenen Massensport, aber Schätzungen gehen davon aus, dass in Deutschland etwa 1,4  Mio. Menschen zumindest gelegentlich mit Paddelbooten oder SUP-Boards aufs Wasser gehen (BMWi, 2016, S.  25; . Abb. 3.1). In Form des Stand-­up-­Paddling erlebte der Paddelsport in der letzten Dekade sogar einen regelrechten Boom. Naturgemäß dringen Paddlerinnen und Paddler fast zwangsläufig in besonders geschützte Auenbereiche der Flüsse sowie in Rückzugsräume seltener und gefährdeter Pflanzen vor, weitestgehend unabhängig davon, ob das Paddeln als Wildwassersport, als Kanuwandersport oder als in der Regel weniger ambitionierter SUP-Sport betrieben wird. Vielerorts sind ökologisch besonders wertvolle Gewässer, Gewässerrandstreifen und Auen durch den Kanutourismus bereits erheblich belastet. Um die Belange des Naturschutzes auf der einen sowie die Sport-, Freizeit- und Tourismusinteressen auf der anderen Seite auszugleichen, wurden an einigen besonders beliebten Flüssen wie der Lahn („LiLa Living Lahn  – ein Fluss, viele Ansprüche“) oder dem Obermain („Flussparadies Franken“) integrierte Konzepte entwickelt, die die unterschiedlichen Interessen miteinander in Einklang bringen sollen. An vielen anderen Gewässern besteht mittlerweile eine erhebliche Regelungsdichte, die vor allem ganzjährige oder saisonale Befahrungs- oder Uferbetretungsverbote um 

fasst. Daneben gelten an vielen Flüssen definierte Mindestpegelstände, unterhalb derer eine Befahrung mit Booten oder SUPBoards verboten ist. So existiert heute auf deutschen Flüssen ein komplexes System von weit über 1000 einzelnen Befahrungsund Uferbetretungsverboten, die zwischen den zuständigen Behörden und den betreffenden Sportverbänden, insbesondere dem Deutschen Kanu-Verband (DKV) und seinen Landesverbänden, ausgehandelt werden (Braun, 2020). Für einige Flüsse bzw. Flussabschnitte werden von Paddlerinnen und Paddlern sogar spezielle naturschutzrechtliche Kenntnisnachweise verlangt. In den letzten Jahren sorgten die 2019 vom Landratsamt Bad Tölz-Wolfratshausen erlassenen, sehr weitgehenden und ausgesprochen kleinteilig formulierten Befahrungsregelungen (bestehend aus 13 Einzelregelungen) für die Obere Isar für erhebliche Medienwirksamkeit. Die kleinteiligen Regelungen sind schwer zu definieren, (stör-)ökologisch schwierig zu begründen und auch durch die vom Landkreis angestellten „Isar-Ranger“ kaum lückenlos zu kontrollieren. Eine vom Bayerischen Kanuverband gegen die Verordnung angestrengte Petition an den Bayerischen Landtag blieb erfolglos. Ein beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingereichter Antrag auf Normenkontrolle gegen die Verordnung blieb letztlich ebenfalls ohne Erfolg (Ahn-Tauchnitz, 2022). Auch anderenorts wird die hohe Reguli­ erungsdichte zunehmend unübersichtlich, und die komplexen Regeln sind schwer zu kontrollieren, zumal sich diese nicht selten beim Übertritt über kommunale Grenzen ändern. In der Regel werden Befahrungsregelungen von den Kommunen in Form von Rechtsverordnungen (sogenannten Schutzgebietsverordnungen) erlassen, die sich auf den Rechtsrahmen des Bundesnaturschutzgesetzes und die entsprechenden Naturschutzgesetze der Länder beziehen. Teilweise bildet auch das Wasserrecht den juris-

Natursportarten – räumliche Wirkungen und Konflikte

tischen Bezugsrahmen (Dilling, 2019). Ein Lösungsansatz für die zunehmend unübersichtliche Situation sind die an einigen Flüssen in Deutschland, aber auch in anderen Ländern eingeführten Online-Buchungssysteme für Bootskapazitäten, die für mehr Transparenz und klarere Regelungen sorgen sollen (z. B. an der deutschen und der niederländischen Rur/Roer oder an der Lippe). Während sich organisierte Vereinssportlerin­ nen und -sportler mit solchen Systemen gut erreichen lassen, bleibt der Zugang zu den unorganisierten Freizeitpaddlerinnen und paddlern sowie insbesondere zu SUP-Nutzerinnen und -Nutzern schwierig.

 eispiel Klettersport – vom B Konflikt zur Zusammenarbeit Als positives Beispiel für raumbezogenen Ausgleich von Naturschutz und Sportinteressen gilt heute der Klettersport. Anders als Paddeln, Mountainbiking oder viele andere Natursportarten wird das Klettern heute häufig in Kletterhallen an künstlichen Wänden ausgeübt, ist also nur noch teilweise ein reiner Natursport. Die Ausübung des Klettersports an Kunstwänden ist aus Umweltsicht in der Regel unproblematisch, weil sich die Anlagen meist nicht in ökologisch besonders sensiblen Räumen, häufig sogar in städtischen Gewerbegebieten, befinden. Findet das Klettern aber in einer seiner vielen Varianten am Naturfels statt, ergeben sich schnell Konflikte mit dem Naturund Landschaftsschutz. Ähnlich wie beim Paddelsport existieren auch beim Klettersport große räumliche Schnittmengen zwischen Klettergebieten auf der einen sowie Flora-­Fauna-­Habitat-(FFH)-, Naturschutzund Landschaftsschutzgebieten auf der anderen Seite. Die in Mitteleuropa seltenen, auf einige Mittelgebirge sowie die Alpen konzentrierten Felsbiotope sind bevorzugte Lebensräume vieler seltener Pflanzenarten

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und bedrohter Tierarten (z. B. Dahlbeck & Breuer, 2001; Fickert, 2013). Neben der störökologischen Dimension ergeben sich durch die kleinräumige Konzentration von Kletterrouten weitere Probleme (Abnutzungsspuren am Fels, eingeschlagene Sicherungshaken usw.). Nach einigen Jahrzehnten einer ausgesprochen konfliktreichen Beziehung zwischen Klettersport und Naturschutz, die in den 1980er-Jahren ihren Höhepunkt erreichte, haben sich in jüngerer Zeit zunehmend kooperative Formate entwickelt (z.  B.  Löser, 2013). Die großräumige Sperrung der Klettergebiete zwang die Kletterszene, sich zu organisieren, um ihre Interessen gemeinsam besser durchsetzen zu können. Vor allem der Deutsche Alpenverein (DAV) sowie der als Reaktion auf die Probleme der 1980er-Jahre im Jahr 1991 gegründete Bundesverband IG Klettern und deren Regionalorganisationen haben seither dazu beigetragen, die Philosophie des naturverträglichen Kletterns in der deutschen Kletterszene nachhaltig zu etablieren (DAV, 2015). Die erfolgreiche Durchsetzung von Schutzregelungen beruht zu einem Großteil auf der Selbstkontrolle der Kletterszene und dem ehrenamtlichen Engagement der Mitglieder des DAV und der IG Klettern. Sogenannte Gebietsbetreuerinnen und -betreuer der Verbände engagieren sich vor Ort für ein naturverträgliches Klettern und vermitteln zwischen den Sportausübenden und den Behörden. Zudem erstellen sie umfassende Informationsmaterialien zu Klettergebieten und -routen und ermöglichen damit eine sorgfältige Planung und Durchführung des Klettertrainings. Über verschiedene Bildungsangebote von DAV und IG Klettern wird die Sensibilität von Kletterinnen und Kletterern für Naturschutzthemen erhöht. Die relativ hohen Einstiegshürden in den Sport hinsichtlich körperlicher Fähigkeiten, Sachkenntnis und Ausrüstung unterstützen die Durchsetzung und Akzeptanz

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3

B. Braun

der kooperativen Strategien. Zudem werden das Klettern von Laien sowie das touristische Klettern erschwert, indem Hakenmaterial sparsam eingesetzt wird und Informationen zu anfängerfreundlichen Toprope-Felsen nicht allgemein publiziert werden. Der Klettersport nimmt somit inzwischen eine Vorbildfunktion im Konfliktfeld Natursport und Naturschutz ein, von dem auch die Debatten in anderen Natursportarten profitieren können.

 eispiel Mountainbiking – starke B Individualisierung, komplexe Konfliktlinien Mountainbiking ist eine weitere Natursportart, zu der es immer wieder kritische Stimmen gab und gibt. Diese kamen zumindest zu Beginn weniger aus einer ökologischen Richtung, sondern vor allem von anderen Nutzerinnen und Nutzern von Wanderwegen, Forstwegen, Wäldern oder naturnahen Flächen (Seewald et  al., 1998, S. 192). Wanderinnen und Wanderer fühlen sich von den schnelleren Fahrrädern vor allem auf schmalen Wegen gestört und teilweise sogar gefährdet. Jägerinnen und Jäger sowie Försterinnen und Förster sorgen sich um das Wild, das durch das Fahrradfahren gestört wird, und Grundeigentümerinnen und -eigentümer beklagen die unrechtmäßige Nutzung ihrer Wege und Flächen (7 Kap. 21). Auch illegal angelegte Downhill-­ Kurse und Schanzenanlagen im Wald sorgen immer wieder für eine negative Berichterstattung. In touristisch geprägten Regionen wie dem Sauerland konnten durch die Einrichtung von Bike-Parks Konflikte um illegale Downhill-Strecken jedoch reduziert werden (Löser, 2013, S. 19). Selbst wenn sich einige Konflikte durch das Abklingen des Mountainbike-Hypes inzwischen etwas beruhigt haben, bleiben ökologische Bedenken. Neben negativen Effek 

ten auf den Pflanzenwuchs durch die Ausweitung des Wegenetzes (Verbreiterung bestehender Wege, neue Abkürzungen usw.  – besonders problematisch in Höhenlagen über der Waldgrenze) sowie auf Wildtiere, bei denen die relativ leisen, aber schnellen Fahrräder starke Fluchtreflexe auslösen können, betrifft die Kritik vor allem die von den schmalen Reifen ausgelöste Bodenverdichtung, welche die Ausbildung von Erosionsrinnen begünstigt (Seewald et  al., 1998, S. 193 ff.). Je nach individueller Rücksichtnahme der einzelnen Radsportlerinnen und -sportler fallen diese negativen Effekte unterschiedlich stark aus, besonders deutlich treten sie in der Regel aber beim Downhill-Mountainbiking hervor. Da das Mount­ ainbiking in der Regel sehr individuell ausgeführt wird und es kaum ausgeprägte Verbands- und Vereinsstrukturen gibt, sind die räumlichen Konflikte schwerer in den Griff zu bekommen als beim Kanu- und Klettersport. Eine derzeit intensiv diskutierte Problematik stellen die E-Mountainbikes dar, deren Zahl in den letzten Jahren stark zunimmt. Diese sind nicht nur schwerer als ihre unmotorisierten Pendants, sondern sie erlauben es ihren Fahrerinnen und Fahrern auch, in Gebiete und Höhenlagen vorzudringen, die sie aus eigener Kraft nicht erreichen könnten. Durch die E-Bikes, die trotz erheblicher Motorleistungen, welche ein Vielfaches der Eigenleistung der Radlerinnen und Radler ausmachen können, rechtlich als Fahrräder gelten, dringt der motorisierte Verkehr kaum kontrollierbar in die Höhenlagen beispielsweise der Alpen vor. Vor dem E-Bike-Boom waren die Höh­ enlagen der Hochgebirge vor motorisiertem Individualverkehr jahrhundertelang effektiv geschützt. Deshalb fordern Fachleute ein Verbot von E-Bikes in den Alpen oder zumindest eine Beschränkung der Nutzung auf speziell ausgewiesenen Wegen (Göttler, 2021).

Natursportarten – räumliche Wirkungen und Konflikte

Kumulationseffekte Es sind aber nicht nur die räumlichen Nutzungskonflikte und ökologischen Folgen von einzelnen Sportarten, die zu beachten sind. Aufgrund der Tatsache, dass immer mehr Menschen immer weiter ausdifferenzierte Natursportarten betreiben, kommt es auch zu Kumulationseffekten, weil sich in für viele Sportarten attraktiven Gebieten wie den Alpen und vielen Mittelgebirgen sowie auf größeren Gewässern mehrere Sportnutzungen und die von ihnen ausgehenden Nutzungskonflikte und ökologischen Belastungen überlagern (Seewald et al., 1998, S. 197 ff.). Letztlich bevorzugen Natursporttreibende weitgehend unabhängig von der einzelnen Sportart vor allem Landschaftstypen, die in Mitteleuropa relativ selten sind (Berge, Seen, Flüsse, Küsten usw.). Ein Ausweichen auf andere Weltregionen löst die Probleme nicht, sondern verschiebt sie oft nur, weil auch dort schnell Nutzungskonflikte und Überlastungen auftreten können. 3.4 

Fazit

Natursportarten haben in den letzten Jahrzehnten nicht nur eine erhebliche Ausdifferenzierung der Einzeldisziplinen, sondern auch eine deutliche zahlenmäßige Zunahme der sie Betreibenden erfahren. Da sie vor allem in naturnahen Landschaften bzw. in der Fläche ausgeübt werden, besitzen sie vielfältige Raumwirksamkeiten, die sowohl Konkurrenzen mit anderen Flächennutz­ ungen und ökologische Belastungen auslösen als auch touristische und regionalökonomische Potenziale umfassen. Die geographische Forschung auf diesem Gebiet ist nicht neu, aber weiter ausbaufähig, wobei interdisziplinäre Ansätze, beispielsweise gemeinsam mit den Sportwissenschaften, erhebliche Potenziale bieten dürften. Die Bezüge zu klassischen geographischen Perspektiven sind dabei vielfältig, insbesondere

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3

im Hinblick auf die Mensch-Umwelt-­ Forschung, die Landschaftsforschung, die Kultur- und Sozialgeographie sowie die Wirtschafts- und die Tourismusgeographie. Die vergleichsweise gut erforschten Konflikte und Konfliktlösungsmöglichkeiten mit dem Naturschutz zeigen, dass es vor allem auf die spezifischen Charakteristika der Natursportarten und ihrer vielfältigen Ausdifferenzierungen ankommt (Organisationsgrad der Sportlerinnen und Sportler, technische und finanzielle Einstiegshürden, räumliche Dimension der Sportausübung usw.), wenn es darum geht, wirksame Konfliktlösungsmöglichkeiten zu entwickeln. ? Übungs- und Reflexionsaufgaben 1. Erläutern Sie, wie Natursport definiert werden kann und warum es viele Überschneidungsbereiche mit anderen Begrifflichkeiten wie Abenteuersport, Outdoor-Sport, Extremsport, Risikosport oder Trendsport gibt. 2. Diskutieren Sie anhand konkreter Beispiele, von welchen Bedingungen es abhängt, ob effektive und handhabbare Lösungsmöglichkeiten für Konflikte zwischen einzelnen Natursportarten und anderen Flächennutzerinnen und -nutzern sowie dem Naturschutz gefunden werden können.

Zum Weiterlesen empfohlene Literatur Eine grundlegende Einführung in den Bereich der Sportökologie bietet: Seewald, F., Kronbichler, E., & Größing, S. (1998). Sportökologie. Eine Einfüh­ rung in die Sport-Natur-Beziehung. Limpert. Einen aktuellen Überblick über die konzeptionellen Debatten zum Thema Natursport liefert: Melo, R., van Rheenen, D., & Gammon S. J. (2020). Part I: Nature sports: a unifying concept. Annals of Leisure Re­ search, 23(1), 1–18.

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B. Braun

Literatur

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Trendsportarten und Stadt – neue Formen der Raumaneignung Stephanie Haury

Öffentlicher Fitnessplatz am Monbijoupark, Berlin. (© Stephanie Haury)

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Gans et al. (Hrsg.), Sportgeographie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66634-0_4

4

Inhaltsverzeichnis 4.1

Trendsport – eine von vielen Definitionen – 51

4.2

 ie Trendsportlerinnen und Trendsportler D im Profil – 54

4.3

Die Räume trendsportlicher Aktivitäten – 55

4.4

Raumaneignung im Profil – 56

4.5

Formen der Aneignung im Trendsport – 57  omadentum: Uminterpretation öffentlich zugänglicher N Räume und Kreation von neuen temporären Situationen – 57 Nomadentum: Auswirkung und Herausforderung – 58 Zwischenmiete: Umgestaltung vorhandener ungenutzter Grundstücksflächen und zeitlich befristete Bespielung – 60 Zwischenmiete: Auswirkung und Herausforderung – 61 Entrepreneurship: Groß angelegte Trendsportprojekte mit Perspektive, Zukunft und festem Standort – 61 Entrepreneurship: Auswirkung und Herausforderung – 63

4.6

Fazit – 64 Literatur – 65

51 Trendsportarten und Stadt – neue Formen der Raumaneignung

Einleitung Der demographische Wandel und die Pluralisierung der Lebensstile führen zu immer differenzierteren Ansprüchen an die Gestaltung der Städte mit Auswirkungen auf deren Planung und Konstitution (7 Kap. 20). Das übergeordnete Ziel besteht darin, Städte lebenswert, nutzerfreundlich und wandelbar zu gestalten. Leisten können dies flexible Raumkonstellationen, die sich wechselnden Ansprüchen anpassen. Im Fokus der Planung steht der öffentliche Raum, der durch die Interaktion der Bewohnerinnen und Bewohner und deren unterschiedliche Interessen und Rollen geprägt ist. Zu den großen Nutzungen im öffentlichen Raum zählen die verschiedenen Erscheinungsformen von Bewegung und Sport. So fordert beispielsweise der Architekt Gehl (2018, S.  185), dass öffentliche Räume eine „bauliche Einladung an die Menschen“ darstellen und sie als Orte „für Selbstdarstellung, Spiel und Sport eine wichtige Rolle zur Herstellung lebendiger und gesunder Städte spielen“ (Kapiteleröffnungsbild). Damit Städte adäquat auf die verschiedenen existierenden Ansprüche an Bewegung und Sport reagieren und handeln können, müssen große Anstrengungen unternommen werden, weil die Ortung und Identifizierung nicht einfach sind (Haury, 2020, S. 34). Rund zwei Drittel aller Sportund Bewegungsaktivitäten finden selbstorganisiert statt (Roth et al., 2008, S. 10) und nehmen daher einen großen Stellenwert in der Gesellschaft ein. Informeller Sport entwickelt neue Bewegungsmuster und erschließt neue Räume in der Stadt auch außerhalb konventioneller Sportanlagen (7 Box 4.1).  



4

Den größten Wandel innerhalb des informellen Sports erleben Trendsportarten. Was versteht man unter Trendsportarten? Wer sind die Akteure? Welche neuen Formen der Raumaneignung bringen sie hervor? Welche Auswirkungen haben diese neuen Formen der Nutzung von Flächen, z. B. des öffentlichen Raums oder der Inanspruchnahme von Grünflächen?

4.1 

 rendsport – eine von vielen T Definitionen

Sport ist gekennzeichnet durch eine große Zahl an Ausdrucksformen, verwendeten Materialien und Orten, an denen er stattfindet. Dies bestätigen auch Breuer und Michels (2003, S. 11), wenn sie von einer großen „Vielfalt und Unübersichtlichkeit (als) typische Merkmale des modernen Sports“ sprechen. Trendsport bildet auf Grundlage einer Anpassung an aktuelle Bedürfnisse und der hieraus resultierenden Nachfrage der Sporttreibenden neue Formen, Varianten und Verbindungen des bestehenden Sports aus. Er kann zu bewegungskulturellen Erneuerungen und lifestylegerechten Innovationen führen (Schwier, 2003, S.  18  ff.) und geht auf diese Weise immer wieder neue Verbindungen ein. Durch seine konstante Transformation stellt er etablierte Vorstellungen zur Ausübung von Sport infrage. Es kommt zu einer Überschreitung bekannter und eingeübter Grenzen des menschlichen Sichbewegens. Orientierung finden Trendsportarten nicht an übergestülpten Formaten oder Marketingprozessen, sondern an den vorhandenen Interessen, Bedürfnissen und Leidenschaften

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S. Haury

von Menschen, was ihn zu einer auf die jeweilige Person bezogenen Handlungsweise macht. Trendsport kann als Teilgebiet des informellen Sports bezeichnet werden. Bindel (2017, S. 418) unterscheidet zwei Definitionen: Informeller Sport hebt sich einerseits „vom Traditionellen und Konventionellen“ ab, „bei dem andere Sinnrichtungen, andere Praktiken und andere Haltungen bei den Akteuren zu beobachten sind“. Beispiele sind Inlineskaten, Parkour, Cross-Boccia oder Downhill-Radfahren. Andererseits können unter informellem Sport auch ­solche Praktiken gemeint sein, „die zwar traditionellen Sportarten entsprechen […], die aber die Aktiven in Eigenorganisation betreiben. Sie benötigen dafür weder eine Schule noch einen Verein“ (Bindel, 2017,

S.  418). Zu diesen meist gesundheitsbezogenen Trendsportarten sind Fitness im Park, Fußball, Radfahren oder Joggen zu zählen. Wopp (2006, S. 15) identifiziert vier verschiedene Arten von Trends, nämlich „die Mode, den Hype, den Nischentrend und Megatrend“ und gruppiert diese nach Wirkungsdauer und Wirkungsbreite ein. Je nach Ausprägung des jeweiligen Trends hat er einen kleinen oder großen Einfluss auf die Gesellschaft, ist nur eine temporäre Erscheinung, verfestigt sich oder stirbt aus. Von der Genese her treten meist erst nur partielle Bewegungsformen auf, die sich erst nach geraumer Zeit zu Trendsport entwickeln, und zwar dann, wenn sie eine gewisse Verbreitung und Kontinuität aufweisen (Breuer & Sander, 2003, S. 47).

 ox 4.1 Raumaneignung durch Trendsport auf unterschiedlichen Ebenen (nach Wopp, 2006, B S. 388 ff.)

55 Mikroebene: Bedeutungsgewinn der unmittelbaren Wohnumgebung für den Sport; Rückgewinnung urbaner Räume für Bewegung, Spiel und Sport; Bedarf an Sportgelegenheiten; nachlassende Attraktivität wettkampforientierter Sporträume; wachsender Bedarf an kleinen, ästhetisch anspruchsvoll gestalteten Multifunktionsrä­

umen für den Sport, ­Bedeutungszunahme von Spots 55 Mesoebene: Verwendung stillgelegter Bäder für Poolsoccer; Ropecourses; Gestaltung von Erlebnisräumen für Jugendliche 55 Makroebene: Festivalisierung als Gegensatz zur Enträumlichung; Routen zum ­Inlineskaten

53 Trendsportarten und Stadt – neue Formen der Raumaneignung

Eine weitere Einteilung hat Schwier (2003) mit sechs trendsporttypischen Strukturmerkmalen entwickelt: 55 Stilisierung: Sportart als Element des eigenen Lebensstils 55 Beschleunigung: Erhöhte Aktionsdichte und extreme Rasanz der Bewegung 55 Extremisierung: Stark übertriebene konventionelle Bewegungspraktiken, Suche nach neuen Herausforderungen 55 Virtuosität: Untergeordneter sportlicher Erfolg; Betonung der künstlerischen Komponente 55 Sampling: Erweiterung oder Vermis­ chung bereits existierender Bewegungspraktiken oder Sportarten 55 Eventorientierung: Fokus auf den künstlerischen und ästhetischen Aspekt der Sportart Viele Trendsportarten entstehen infolge einer Reduktion der Zahl der Mitspielerinnen und Mitspieler in Mannschaftssportarten wie Fußball oder Basketball, die im Zuge der Verkleinerung der Mannschaftsgröße gemäß dem Sampling zu einem neuen Trendsport werden. Kennzeichen die-

ser neuen kleinen Gruppensportarten ist eine spontane und ungeplante Teilnahme, die den Sportlerinnen und Sportlern entsprechend ihrem eigenen Lebensstil eine hohe Flexibilität und Unverbindlichkeit garantiert (Telschow, 2000). Der Wunsch nach Flexibilität und freier Entscheidung im Trendsport zeigt sich in der Technik, die möglichst ohne Regeln oder Standards des Breitensports angewendet wird. Im Vordergrund steht die Erprobung des eigenen Könnens. Wichtig ist daher die Befreiung von vorhandenen Zwängen in der Anwendung, die z.  B. durch bestimmte In­ stitutionen wie Vereine auferlegt werden könnten. Dies macht die verschiedenen Trendsportarten zu kreativen Bewegungsformen (7 Box 4.2), die sich stetig verändern und durch neue Erkenntnisse des jeweiligen Anwenders und zufälligem Erproben materiell und technisch erweitern. Breuer und Sander (2003, S. 49) beschreiben diesen Effekt in ihrem Modell zur Genese von Trendsporten als die Entdeckung von „Neuem“, das durch das Verlangen nach Abgrenzung entsteht.  

 ox 4.2 Auswahl aktueller Trends, die sich zu möglichen neuen Trendsportarten entwickeln B könnten (Stand: 2022; eigene Zusammenstellung)

55 Bike-Polo: Aus Seattle stammender Trendsport, bei dem auf Fahrrädern Polo gespielt wird 55 Bossaball: Mischung aus Volleyball, Turnen, Akrobatik und Trampolinspringen 55 Buildering: Besteigen von Hausfassaden und Industriebauten als eine neue Sparte von Parkours 55 Crossminton: Aus Berlin stammend, eine Mischung aus Tennis, Squash und Badminton in Parks 55 Crunning: Aus Australien stammend, vereint „Crawling“ und „Running“, bei den­ en man auf allen Vieren krabbelt, kriecht und rennt

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55 Inline-Downhill: Mit Inlineskates Bergstraßen oder Bobbahnen herunterrasen 55 Plogging: Für umweltbewusste Jogger, bestehend aus Joggen und Müllaufsam­ meln 55 Skiken: Mischung aus Skilanglauf, Fahrradfahren und Inlineskaten; die Füße werden auf zwei Leichtmetallschienen mit zwei sehr kleinen, luftgefüllten Reifen festgeschnallt 55 Spikeball: Am ähnlichsten dem Beachvolleyball; auf eine Art Trampolin wird eine Kugel geschlagen 55 Ultimate Frisbee: Mischung aus Frisbee und American Football mit Auszonen

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4.2 

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S. Haury

Die Trendsportlerinnen und Trendsportler im Profil

Trendsportlerinnen und Trendsportler sind meist aktive, dynamische und selbstbewusste Personen. Vorwiegend junge Menschen fühlen sich mit dem Trendsport verbunden. Die ungezwungene Ausübung, die Vielfalt an Möglichkeiten und das Ausloten von Grenzen überschneiden sich mit der lebensweltlichen Einstellung. Junge Menschen sind sehr experimentierfreudig und nutzen den Raum anders als Erwachsene. Städtische Räume werden dadurch stetig verändert, und daher bevorzugen sie eher dynamische Räume als Räumlichkeiten mit einer festgeschriebenen Funktion (Haury, 2012). Die SINUS-Jugendstudie enthält genauere Aussagen, wie Jugendliche im Alter von 14 bis 17 Jahren Sport orientiert an ihren Lebenswelten ausüben (Calmbach et  al. 2020). Es zeigt sich, dass sich eher bildungsnahe postmaterielle bzw. postmoderne Jugendliche für diverse Sportarten interessieren, darunter auch Randsportarten wie Rugby, Lifestylesportarten wie etwa Bouldern oder exotische Sportarten. Hierzu zählt auch die Erprobung außergewöhnlicher Sportarten oder neuer Trends. Vor allem die Experimentalisten1 und Expeditiven2 aus der Gruppe junger bildungsnaher Menschen üben Trendsportarten wie Skateboarding oder Parkour aus und identifizieren sich mit der entsprechenden Szene. Diese Tendenz bestätigt sich auch beim Thema Bewegungsorte. Die Konsum-Materialisten nutzen den öffentlichen Raum als

1 Spaß- und szeneorientierte Nonkonformisten mit Fokus auf dem Leben im Hier und Jetzt. 2 Erfolgs- und lifestyleorientierte Networker auf der Suche nach neuen Grenzen und unkonventionellen Erfahrungen.

„Bühne der Selbstinszenierung des Körpers“ und stellen dort ihre durchtrainierten Körper zur Schau. Ihre lebenswelttypische Sportmotivation besteht darin, ihren Körper durch Sport zu kräftigen. Typische Sportart dieser Gruppe ist z. B. Parkour. Die Grundhaltung der Konsum-Materialisten ist gekennzeichnet durch hohe Konsumfreude, ausgeprägtes Markenbewusstsein, Genussorientierung und einer starken Affinität zu Mode. Bei den Experimentalisten steht hingegen die kreative Selbstinszenierung in sozialen Medien im Vordergrund. Zu dieser Inszenierung eignen sie sich einen Bewegungsort an, der eine wichtige Rolle in ihrer Szenerie spielt. Dies kann ein Skatepark oder eine Tanzhalle sein. In der Gruppe der Expeditiven sind die persönliche Herausforderung zur Höchstleistung, die eigene Beherrschung und Kontrolle der Umwelt zentral. Entsprechend ihrer stark ichbezogenen und risikoaffinen Basisorientierung sind sie an sportlichen Höchstleistungen interessiert. Studien, die sich auf die Sportausübung junger Menschen beziehen, gehen davon aus, dass mehr Jungen als Mädchen Trendsportarten ausüben. Die Jugendstudie 2020 aus Baden-Württemberg zeigt, dass Mädchen insgesamt weniger körperlich aktiv sind als Jungen (Antes et  al.,  2020, S.  24). 89  % der befragten Jungen und 84  % der Mädchen gaben an, auch informellen Sport außerhalb von Vereinen auszuüben (Antes et al., 2020, S. 23). Auch Alkemeyer (2002) stellt fest, dass es sich beim Trendsport mehrheitlich um Vertreter des männlichen Geschlechts handelt, und beschreibt diese als „Großstadtcowboys“, die das kontrollierende Heim des Vereins verlassen und im öffentlichen Raum „in selbst gesuchten Herausforderungen körperliche Exzellenz und Einzigartigkeit beweisen“ (Alkemeyer, 2002, S. 106).

55 Trendsportarten und Stadt – neue Formen der Raumaneignung

4.3 

 ie Räume trendsportlicher D Aktivitäten

So vielfältig die Definition von Trendsport und seinen verschiedenen Formen ist, so groß ist auch das Repertoire an Orten, an denen er stattfindet. Sie sind auch deshalb schwer zu benennen, weil fortlaufend neue Sportarten aus dem Boden sprießen. Über die Hälfte der Bürgerinnen und Bürger nutzt den öffentlichen Raum für ihre sportlichen Aktivitäten (7 Kap.  21), und immer mehr Sportvereine verlassen ihre ihnen fest zugeschrieben Flächen. Sport findet mehr und mehr in öffentlichen (Frei-)Räumen, Parkund Grünanlagen, auf Wegen und Plätzen statt (Kähler, 2016). Eine groß angelegte Studie der Senatsverwaltung in Berlin zum Sportverhalten (SenInn, 2018, S.  24) stellt fest, dass 31 % aller sportlichen Aktivitäten auf Grün- oder Erholungsflächen betrieben werden und 23 % auf den Berliner Straßen. Trendsport findet im Prinzip an allen dafür geeigneten Orten im Stadtraum statt. Er hat sich somit von den für Sport „ursprünglich“ zugeschriebenen festen Orten und Räumen emanzipiert. Damit verlagert sich in der Kommunalverwaltung auch die Zuständigkeit. „Ein großer Teil des Sporttreibens spielt sich in Räumen ab, die nicht von den kommunalen Sportverwaltungen, sondern von Grünflächenamt, Stadtplan­ ung, Schulamt, Sozial- und Jugendamt u. a. betreut werden, die eher weniger ausgew­ iesene Sportfachkenntnisse besitzen“ (Kähler, 2016, S. 289). Die verteilte Zuständigkeit in den verschiedenen Fachämtern kann zu unterschiedlichen und unabgestimmten Handhabungen und Sichtweisen führen. Noch schwieriger ist der Umgang mit Trendsport in sogenannten Resträumen in der Stadt. Er befindet sich überhaupt nicht auf dem Radar von Stadtpolitik und wird eher als Verschnitt betrachtet. Rummel (2017,  

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S.  109) bezeichnet diese Räume trotz ihrer hohen Nutzungsintensität und weit verzweigten Inanspruchnahme als unbestimmte Stadträume, als in der Stadt verstreute undefinierte Areale, z.  B. unter Brücken, entlang von Gleisanlagen oder Zwischenzonen neben Bauten. In der Stadtverwaltung muss es daher zu einem Blickwechsel kommen, und es müssen alle potenziellen Sport- und Bewegungsräume sowie der öffentliche Raum als wichtige Orte des Sports anerkannt werden (7 Kap. 21). Doch was zeichnet Orte des Trendsports konkret aus? Trendsportlerinnen und Trendsportler bespielen „Orte, die sie mit Deutungshoheit einnehmen und an denen sie Sport selbst gestalten können“ (Bindel, 2017, S. 418). Klein (2020, S. 392) beschreibt Bewegungsmuster in Städten als eine „Choreografie“ in der Stadt, in der Menschen mit unregelmäßigem Rhythmus eine „situationale und performative“ Ordnung herstellen, die es unmöglich macht, die Stadt als ein System mit einer klaren Raumstruktur und einer vorgegebenen Bewegungsordnung anzusehen. Trendsportlerinnen und Trendsportler erproben nicht nur neue Bewegungsmuster, sondern können als städtische Pioniere auch „verloren geglaubte Sporträume“ (Breuer & Michels, 2003, S. 11) wieder zum Leben erwecken. Eine Typologie von Räumen, die von Trendsporttreibenden genutzt werden, ha­ ben Eichler und Peters (2015, S.  22) vorgenommen. Sie teilen diese Areale in zwei Kategorien ein: Freiräume, die durch Planerinnen und Planer im Rahmen der Sportentwicklungsplanung und Stadtplanung förmlich festgelegt werden (7 Kap.  20 und  21), bezeichnen sie als „gestaltete Freiräume“ im städtischen Gefüge. Gestaltete Freiräume sind z.  B.  Sportplätze, aber auch Sportanlagen in Parks wie Multisportfelder. Die Schwierigkeit mit dieser starren Festlegung besteht in den spezifischen Nutzungs 



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4

S. Haury

erwartungen und -vorschlägen, die Alternativen ausschließen. Interpretation und Aneignung sind nur bedingt realisierbar. Die zweite Kategorie bezeichnen sie als „praktizierte Freiräume“, die durch Nutzerinnen und Nutzer eigenständig und in Koproduktion in der ganzen Stadt angeeignet werden. Sie garantieren mehr Freiheit und bergen Potenziale für unterschiedliche Ausdrucksformen und Funktionen von Sport. Diese Form der Freiräume entspricht dem Bild der gesamten Stadt als Bewegungsraum. Eichler und Peters (2015, S. 23) sprechen hierbei von einer Entgrenzung der Raumnutzung und einer Überschreitung konventioneller Raumdifferenzierung.

4.4 

Raumaneignung im Profil

Trendsport im öffentlichen Raum ist oft durch eine Uminterpretation, einer alternativen Gebrauchsweise von Räumen und einem neuen Raumverständnis gekennzeichnet (7 Kap. 2). Bestehende Grenzen eines Raums samt seinem Mobiliar werden ausgelotet, und Raum wird ständig aufs Neue verhandelt. Die monofunktionale Sichtweise auf Raum wird außer Kraft gesetzt, und die vorhandenen Räume werden multicodiert; es entstehen neue Raumnutzungen. Doch welche Prozesse laufen bei der individuellen Aneignung von Raum ab? Die Veränderung von Raumfunktionen setzt voraus, dass die Räume nicht statisch sind und Spielräume bestehen. Schon Lefebvre (1974/2006) beschreibt Räume als Produkt sozialer Akteure und als erlebte Räume (espace vécu). Für ihn gibt es keine Wissenschaft des Raums und damit auch keine Planbarkeit. Diese würde nach seiner Ansicht die Perspektive auf konkrete Phänomene und soziale Produktionen hemmen und ausschließen. Bezogen auf Trendsport  

lässt sich dieser Gedanke im Ansatz übertragen, denn auch diese Räume sind nicht planbar und entstehen durch das Verhalten und die Bewegungsmuster von Menschen. Lefebvre (1974/2006) propagiert daher eine connaissance bzw. Erkenntnis des Raums, die eine Beobachtung und Erfassung vorhandener Nutzungen impliziert. Die Transformation eines Raums steht so in engem Verhältnis zum veränderten Verständnis des Raums. Dieses Verständnis, das Lefebvre (1974/2006) als kritische Gesellschaftsbeschreibung verfasst hat, bereitete den spatial turn in der Soziologie vor. Nach Sichtweise von Löw (2019, S.  155  ff.) hängt die Entstehung von Raum von der aktiven Verknüpfung durch Menschen sowie der Platzierung von Subjekten und Objekten durch Menschen zusammen. Menschen „konstituieren“ damit nach ihrer Sichtweise Raum und werden selbst mit ihrem Körper zu einem Bestandteil der relationalen (An-) Ordnung und dem Prozess des spacing. Die Inbesitznahme spezifischer Orte, sei es temporär, kurz- oder langfristig, hat auch mit einer neuen Lebenskultur und Einstellung zu tun. Kaschuba (2017, S. 21) bezeichnet diese „urbane Kulturrevolution“ ganz passend mit der „Stadt als Lebenswelt statt Arbeitswelt, als Sozialraum statt Massensilo, als Kulturlandschaft statt Verkehrsfläche, als Heimat statt Fremde“. In dieser neuen Kultur spielen Vorstellungen von Individualität und Autonomie, von öffentlichen und gemeinsamen Stadträumen, von Draußensein und Naturnähe eine ganz zentrale Rolle, und in diesem Bild finden auch entsprechende sportliche Aktionen und Projekte ihren entsprechenden Platz, weil sie ein wichtiger Teil dieser Kulturlandschaft sind. Der städtische Raum mit seinen funktionalen, physischen und symbolischen Eigenschaften, seiner spezifischen Materialität und Atmosphäre beeinflusst die jeweili-

4

57 Trendsportarten und Stadt – neue Formen der Raumaneignung

gen Möglichkeiten des Handelns und die jeweilige Formation des Trendsports (Alkemeyer, 2002). Durch ihre Interaktion mit Raum nutzen Trendsportlerinnen und Trendsportler die Stadt als Trainingsraum und als große Bühne, die ihnen nicht nur den passenden Raum für ihre spezifische Sportart zur Verfügung stellt, sondern ihnen gleichzeitig auch einen gewissen Grad an Identität verleiht. Darum finden Trendsportarten größ­ tenteils auch im Außenraum statt. Die Bühne ist nicht auf die horizontale Achse begrenzt, sondern erweitert sich in ihrer Vertikalen mit Flächen wie Fassaden, Mauern oder Treppenhäusern.

4.5 

 ormen der Aneignung im F Trendsport

Zur Darstellung der vielfältigen Ansätze der Raumaneignung werden im Folgenden drei verschiedene Gruppen von Trendsport­ lerinnen und Trendsportlern und ihre entsprechenden Räume vorgestellt (Haury, 2014). Der Auswahl liegen die vier Bereiche von Interventionen im öffentlichen Raum zugrunde (El Khafif, 2011, S.  29), die eine Einteilung in Hardware (Gebautes), Software (Programmatik), Orgware (Regulierung und Netzwerke) und Brandware (Repräsentation und Zeichensysteme) beinhalten (7 Box 4.3, 4.5 und 4.6). Die drei Typen von Raumaneignungen werden Nomadentum, Zwischenmiete und Entrepreneurship benannt und anhand von Beispielen der Skaterszene erläutert.  

Nomadentum: Uminterpretation öffentlich zugänglicher Räume und Kreation von neuen temporären Situationen Viele Trendsportarten finden im öffentlichen Raum statt. So werden Fußwege zu Laufbahnen von Joggern, Vorbereiche von Gebäuden zu temporären Übungsgeländen für Traceure und Bäume in Parkanlagen zu den Säulen von Slacklinern. Nomadinnen und Nomaden befinden sich ständig in Bewegung. Ihre „Zelte“ im öffentlichen Raum bauen sie auf und ab. Das Nomadentum greift auf Lösungen zurück (7 Box 4.3), die nicht von Dauer sind. Es kommt zu einer intensiven Uminterpretation des Raums und zu einer spielerischen und temporären Aneignung nutzbarer Räume. Im Trend stehen Parks und Grünzüge; dort dominieren vor allem das selbstbestimmte, ungeregelte, sportliche Spielen und neue raumgreifende Sportformen wie Slackline (Kähler, 2014). Parkour-, Lauf- und Fitnesssportlerinnen und -sportler bewegen sich linear im Raum. Fußwege, Straßen und Plätze in der Stadt stehen in ihrem Fokus, wie für Traceure, die sich als „Flâneure der Postmoderne“ verstehen (Gebauer et al., 2004, S. 25) und ihren Sport als persönliche ­Herausforderung, aber auch als Kunst betrachten, die die scheinbar festgelegten Bedeutungszuweisungen und bestehenden Funktionen von Material und Orten hinterfragen und interpretieren. Nomadinnen und Nomaden sind ständig damit beschäftigt, die Nutzungsoptionen von Raum zu überprüfen und ihre Möglichkeiten auszuloten.  

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S. Haury

Box 4.3 Nomadentum

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55 Hardware: Verkehrsraum, öffentliche Plätze, zugängliche oder zugänglich gemachte private Bereiche, wechselnde Orte, lineare Bewegung im Raum 55 Software: Laufsport, Radsport/Biken, Parkour, Skaten 55 Orgware: Nutzung öffentlich zugänglicher Bereiche erlaubt, Einschränkung

Nomadentum: Auswirkung und Herausforderung Für Kommunen ist diese Form des Sports schwer greifbar, vor allem dann, wenn den Räumen neue Funktionen zugewiesen werden, die sich mit dem gewöhnlich angewandten System der „Planung“ nicht decken (7 Box 4.4; 7 Kap. 20). Neue, nicht geplante Aktionen, temporäres Inventar im öffentlichen Raum oder eine nicht genehmigte Nutzung werden zumeist in erster Linie als „Problem“ oder sogar „Bedrohung“ der klassischen Stadtplanung angesehen. Daher ist der erste Kontakt der Nomadinnen und Nomaden zur Stadtverwaltung durch die Prüfung des ordnungsrechtlichen Rahmens (Gefährdung, Belästigung, Vermüllung, Lärm, Betreten fremden Eigentums etc.) gekennzeichnet. Diese Beurteilung kann mangels eines Orientierungs- und Bewertungsrahmens nicht kategorisch stattfinden. Die Nomadinnen und Nomaden werden daher als städtische Akteurinnen und Akteure im Konstrukt der städtischen Gesellschaft geduldet, ihre Gratwanderung zwischen nichtlegaler Inanspruchnahme öffentlicher und privater Flächen (wie beim Buildern) ist heikel. Sie kann immer wieder aufs Neue auf Konfrontation mit Eigentümerinnen und Eigentümern oder der städtischen Verwaltung hinauslaufen. Es kommt oft zu räumlichen Verlagerungen der Szene.  



durch Ordnungsrecht (Lärm, Vermüll­ ung, Gefährdung anderer Passanten etc.), Aushandeln der Räume mit anderen Nutzerinnen und Nutzern des öffentlichen Raums, konfliktreich, meist Einzelsport oder in kleineren Gruppen 55 Brandware: Großes Präsentationsbedürfnis, öffentlicher Raum als Bühne

Ein prominentes Beispiel hierfür ist der „Umzug“ der Kölner Skaterszene auf der Domplatte aufgrund lärmtechnischer Störungen der darunterliegenden Philharm­ onie (Eichler & Peters, 2015, S.  24). Die Stadtverwaltung siedelte die Skaterszene an einen dezentral gelegenen Ort um (. Abb.  4.1). Die Ersatzfläche ist für das Skaten geeignet, hat jedoch keinen repräsentativen Charakter mehr. Das räumliche Verlagern von Skatern stieß auf Kritik (Klose, 2012, S.  7). Es sei wichtig, die Skaterkunst im öffentlichen Raum zu präsentieren, weil der öffentliche Platz als Schaubühne fungiere. Half-Pipes an den Stadtrand zu bauen, hätte nur das Ziel der Gesellschaft, einen Ort zu finden, an dem die Szene niemanden störe. Städte können  

..      Abb. 4.1  Beachvolleyball und Skate Plaza am Rheinauhafen, Köln. (© olle kima/stock.adobe.com)

59 Trendsportarten und Stadt – neue Formen der Raumaneignung

sich auf „nomadische“ Trendsportarten gezielt und langfristig einlassen und geeignete zentrale Räume zur Verfügung stellen. Ein Beispiel, der Landhausplatz in Innsbruck,3 zeigt die Komplexität „nomadischer“ Nutzungen im öffentlichen Raum. Was mit einer umfangreichen skaterfreundlichen Umgestaltung des Platzes durch Architekten des Institute for Advanced Architecture of Catalonia begann, ist seither gekennzeichnet durch Konflikte mit der Nachbarschaft. Diese fühlt sich aufgrund

der ausgedehnten Nutzung des Platzes und der Entwicklung zu einem touristischen, auch nächtlichen Hotspot gestört. Das Revier der Nomadinnen und Nomaden ist der öffentliche Raum, und dieser unterliegt immer gegensätzlichen Interessen und Aushandlungen mit und in der Gesellschaft. Vermeiden lassen sich Konfrontationen daher prinzipiell nicht, eindämmen lassen sie sich durch ein Aufeinanderzugehen der Parteien und durch einen offenen Umgang miteinander.

Box 4.4 Sportification – deutscher Beitrag Architektur-Biennale Venedig 2004

Das Planungsbüro „complizen“ aus Halle (Saale) und Berlin untersucht seit vielen Jahren kreative Möglichkeiten neuer Sportarten im öffentlichen Raum. Der Prozess sportification macht Brachen (. Abb. 4.1), Grünräume und leer stehende Häuser zu Spielwiesen des urbanen Sports. Es entstehen experimentelle Ansätze wie Downstairs-Competition (mit dem Fahrrad abwärts durch Treppenhäuser fahren), Frisbeerace (Frisbee-Spiel über die Dächer mehrerer Hochhäuser) und Foampit-Contests (spektakuläre Sprünge im Wettbewerb von Skatern und Bikern in Schaumstoffgruben) sowie neue Arten von Parkourund BMX-Strecken. Mithilfe kreativer und innovativer Ansätze des Trendsports wird Sport gezielt als ein Mittel zur Stadtteilentwicklung eingesetzt und vergessene Stadträume werden aufgewertet (Peters & Roth,  

3

7 https://www.skateboard-club-innsbruck.at/lhp/  

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2006, S. 15). Sportification war 2004 auf der Architektur-­ Biennale in Venedig einer der deutschen Beiträge und thematisierte die Symbiose von radikalem Sport und Architektur (Wopp, 2006, S.  401). Das Planungsbüro „complizen“ verbindet seine Ansätze auch mit dem Begriff des urban hacking, womit die Eroberung und kreative Uminterpretation von Räumen gemeint ist. Der Sport „hackt“ und verändert Städte, wenn Sportlerinnen und Sportler ihre Aktivitäten nicht an den vorgegebenen räumlichen oder rechtlichen Rahmen anpassen, sondern der Sport den Raum neu definiert und damit dominiert. „Das Besondere ist, dass dabei die eigene sportliche Weiterentwicklung, also die individuellen Interessen, die Leistungsbereitschaft, in Bezug zur urbanen Entwicklung tritt“ (Dobberstein, 2015, S. 193).

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S. Haury

Zwischenmiete: Umgestaltung vorhandener ungenutzter Grundstücksflächen und zeitlich befristete Bespielung

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Zwischenmieterinnen und Zwischenmieter nutzen Flächen für ihr persönliches städtisches Experiment als ein zeitlich befristetes Laboratorium. Die Unsicherheit der Orte steht hier im Zentrum, denn oft sind es brachliegende städtische Leerräume des Übergangs mit unklarer Definition (Rick, 2011, S.  36). Durch ihre Aneignung zeigen Zwischenmieterinnen und Zwischenmieter auf ihrer Suche nach Heimat und Identität die Vielschichtigkeit und Mehrdeutigkeit dieser Flächen auf und werden dadurch auch zu Entdeckerinnen und Entdeckern in Vergessenheit geratener Orte (7 Box 4.5).  

Sie setzen sich mit den vorgefundenen Verhältnissen auseinander und verändern alltägliche Sichtweisen auf Raum, fabrizieren Irritationen und Interpretationen. Die Zwischennutzung bietet nur eine ungewisse Perspektive, die einer mittel- oder langfristigen Aufgabe der urbanen Interventionen entgegensteht. Diese Unsicherheit wird aufgrund der hohen Flächenknappheit in der Stadt hingenommen und mit dem Prinzip maximaler Anpassung an den jeweiligen Ort ausgeglichen, sogar unter Hinnahme rechtswidriger Zustände (Oswalt et  al., 2013, S.  56). Neue Spots, Strecken oder alternative Spielfelder entstehen unter großem persönlichem Einsatz, unkonventionellen baulichen Lösungen (Eigenbau) und einem hohen zeitlichen Investment.

Box 4.5 Zwischenmiete

55 Hardware: Ungenutzte, unattraktive bzw. aktuell nicht im Visier des Immobilienmarkts stehende Grundstücke in Kern-, Misch-, Gewerbe- oder Industriegebieten, Resträume, Brach- und Grünflächen, temporäre Nutzung leer stehender Gebäude 55 Software: Skaten, Radsport/Biken, Ballsport mit Kleinspielfeldern, nutzungsoffene Multisportfelder 55 Orgware: Anpassung des Vorgefundenen und der bestehenden Räume an die eigenen Bedürfnisse, Nutzung möglich durch

Zwischennutzungsverträge oder -vereinbarungen, oft ohne offizielle Genehm­ igung, sondern aktiv oder passiv ged­ uldet, unsichere Zukunft, mögliche Konflikte bei empfindsamer Nachbarschaft, Nutzung ausgehend von einem Initiatoren- und Gründungsteam, wachsendes Netzwerk 55 Brandware: Repräsentation in der jeweiligen Szene, Veranstaltung von Events, Bekanntheitsgrad abhängig vom Erfolg des „Branding“ und der Eignung des Orts

61 Trendsportarten und Stadt – neue Formen der Raumaneignung

Das Projekt des „2er-­Skateboardvereins“ in Hannover Linden beinhaltet die Umwandlung einer Brachfläche in einen informellen Skatepark. Eingebettet zwischen verwahrlosten Gewerbegrundstücken mit viel Wildwuchs haben die Mitglieder im Eigenbau verschiedene Skatespots ausgebildet. Interessant ist die Herangehensweise, ohne Rücksicht auf vorhandene Regeln und Standards. Vieles, was auf den ersten Blick zum Scheitern verurteilt ist, wird trotz vorhandener „Unlogiken“ ausprobiert. Der Erfolg der sportlichen Zwischennutzung hängt vor allem von der Qualität und Erreichbarkeit der Infrastruktur des Orts sowie der Größe und Qualität des Akteursnetzwerks ab (Oswalt et al., 2013, S. 55). Erfolge des Projekts können zu größerer Bekanntheit, Ausweitung oder fortschreitender Professionalisierung führen. Dadurch verbessern sich die Chancen auf Fördermittel oder Sponsoring, denn die Finanzen der Gruppen sind knapp oder erst gar nicht vorhanden. Zurückgegriffen wird daher auf recycelte oder upgecycelte Baumaterialen (z. B. Waschmaschinen als Skaterspot).

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rechtlichen Erfordernissen auseinanderzusetzen. „Im Gegensatz zu Erwachsenen erkundigen sie sich nicht zuerst nach den rechtlichen Rahmenbedingungen, sondern legen direkt mit ihren Projekten los. Auftretende Probleme werden im Projektverlauf sukzessiv gelöst“ (Haury & Willinger, 2020, S. 10). Das Image und der Bekanntheitsgrad der Zwischenmieterinnen und Zwischenmieter unterliegen einem ständigen Wandel, der von verschiedenen Faktoren abhängt, nicht zuletzt auch, ob sich die jeweilige Sportart noch im Trend befindet. Neben der Codierung der Zwischennutzungsfläche mit Trendsport treten häufig Ansätze einer Mehrfachnutzung in Erscheinung. Die damit in Zusammenhang stehende Multicodierung beinhaltet eine Überlagerung vorhandener Interessen und Funktionen. Es entstehen vielfältige Nutzungsmuster. Ein Trendsportfeld kann sich z.  B. mit Urban Gardening oder Flächen für Kunst überlagern und wird so zu einem bunten Mosaik suburbaner Kultur in der Stadt. Die Projekte können sehr integrativ sein und haben einen hohen soziokulturellen Stellenwert.

Zwischenmiete: Auswirkung und Herausforderung

Entrepreneurship: Groß angelegte Trendsportprojekte mit Die Suche nach geeigneten Flächen ist eine Perspektive, Zukunft und festem Suche nach der „Nadel im Heuhaufen“. Die Standort hohe Flächenkonkurrenz und der Nutzungsdruck, der Mangel an Gewerbe- und Wohnimmobilien führen dazu, dass immer weniger urbane Flächen zugänglich sind. Intermediäre wie private Unterstützerinnen oder Unterstützer, städtische Koordinatoren wie in Stuttgart oder organisierte Zwischennutzungsagenturen wie ZZZ Bremen helfen bei der Flächenvermittlung. Um die geplante Nutzung abzusichern, bieten sich Zwischennutzungsverträge oder Zwischennutzungsvereinbarungen an (BBSR, 2020). Eine weitere große Herausforderung besteht darin, sich mit den planungs- und ordnungs-

Entrepreneurinnen und Entrepreneure entwickeln Projekte mit Zukunftsperspektive. Sie initiieren langfristig angelegte Prozesse und symbolisieren eine ganz besondere Form zivilgesellschaftlicher Teilhabe. Ihr Engagement ist durch die Übernahme von hoher Verantwortung, von Risiko und Investitionen geprägt und verknüpft Interessen von Zivilgesellschaft, Projekt- und Stadtentwicklung. Die Projekte beziehen sich z. B. auf Skaterparks in leer stehenden Gebäuden, Dirtbikeflächen in Gewerbegebieten oder neue Kleinsportfelder auf

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S. Haury

drängungen an anderen Orten erfahren oder sind schon mit anderen Projekten gescheitert. Oft entstehen ihre Projekte daher auf Basis einer Protest- oder Alternativbewegung. Prominentes Beispiel hierfür ist der Mellowpark in Berlin-Köpenick (. Abb. 4.2). Gestartet als Zwischennutzung auf einer gewerblichen Brachfläche hat sich der Park sehr schnell zu einem bedeutenden Magneten entwickelt. Als sich das Projekt aufgrund des Verkaufs der zuerst genutzten Brachfläche an einen Investor auf die Suche nach einem neuen Gelände machen musste, wurde klar, welche Bedeutung der Park für das Quartier bereits erlangt hatte. Der Bezirk bot infolge Druckausübung des Vereins eine Ersatzfläche an, und es kam zu einer Verlagerung mit Perspektive. Entrepreneurship steht in engem Zusammenhang mit dem von den Montag Stiftungen4 geprägten Begriff der Raumunternehmen, deren Ziel darin besteht, als „lokal-räumliche Initiativen selbstbestimmte Räume zu entwerfen und mit Leben zu füllen“ (Buttenberg et  al., 2017). Raumunternehmen des Trendsports bilden Orte mit dem Fokus auf eine oder mehrere Sportarten aus, meist ergänzt mit Gemeinschaftsstrukturen und gemeinwohlorientierten Angeboten aus dem ­soziokulturellen Bereich.  

4 ..      Abb. 4.2  Selbst fabrizierte Halfpipe, Mellowpark Berlin-Köpenick. (© Stephanie Haury)

Brachflächen (7 Box 4.6; . Abb. 4.2). Die Raumsuche konzentriert sich nicht auf zentral gelegene Flächen, die sich im Visier des Immobilienmarkts befinden, sondern auf Grundstücke in Randlage, die vom Strukturwandel und den damit in Verbindung stehenden Veränderungsprozessen nicht betroffen sind. Aus Sicht der Immobilienwirtschaft wirken die Projekte wie Konkurrenten und „stören“ den Markt. Doch im Gegensatz zu Investorenansätzen passen sie die jeweiligen Räume nur minimal und auf das Nötigste begrenzt ihren jeweiligen Ansprüchen an. Dabei gehen sie sukzessiv und unter Verwendung kostengünstiger Materialien bei hohem ehrenamtlichem Einsatz vor und entscheiden wichtige Dinge meist gemeinschaftlich. Viele Entrepreneurinnen und Entrepreneure haben bereits selbst Ver 



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7 https://www.montag-stiftungen.de/  

63 Trendsportarten und Stadt – neue Formen der Raumaneignung

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Box 4.6 Entrepreneurship

55 Hardware: Ungenutzte und aktuell seitens des Immobilienmarkts nicht im Visier stehende Grundstücke in Gebieten, die für sportliche Nutzungen planungsrechtlich geeignet sind oder angepasst werden, Nutzung und Umbau leer stehender Gebäude 55 Software: Skaten, Radsport/Biken, Ballsport auf Kleinspielfeldern, nutzungsoffene Multisportfelder, auch große auf eine Trendsportart bezogene Nutzungen möglich, geeignet für Großevents, im Innen- und Außenraum 55 Orgware: Anpassung der vorgefundenen Räume an die eigenen Bedürfnisse, Nut-

Entrepreneurship: Auswirkung und Herausforderung Entrepreneurinnen und Entrepreneure bilden aus ursprünglich informell zusam­men­ gesetzten Gruppen verbindliche Orga­ nisationsformen wie Vereine oder GmbHs. Durch diese können sie nach außen unternehmerisch und rechtswirksam agieren. Sie sind Netzwerkprofis und nutzen diese auch, um verschiedene Kompetenzen zu bündeln und sinnvoll einzusetzen. Für ihre langfristige Perspektive müssen sie Genehmi­ gungen einholen, Miet- und Pachtverträge schließen und ertragreiche Finanzierungsmodelle entwickeln, Sponsorenmodelle inbegriffen. Dies kann so weit führen, dass sie sich als Vorhabenträger zur Entwicklung neuer Bebauungspläne anbieten wie beim Mellowpark in Berlin-­Köpenick. Im Trendsport entwickeln sich viele Sportparks durch Bottom-­up-Ansätze. Diese haben sich mit der Zeit stark professionalisiert, feste Strukturen und Öffnungszeiten ausgebildet, neue Partnerschaften geformt und neue Schnittstellen aufgebaut. Sie stellen neue Kris­ tallisationspunkte im Quartier und wichtige Treffpunkte der soziokulturellen Szene dar. Sie stehen oft in Konkurrenz zu den altein-

zung möglich durch Miete, Erbpacht oder Erwerb, offizielle Genehmigung nötig/vorhanden, Projektentwicklung mit Perspektive, Projektträgerschaft durch Vereinsbildung, erfahrenes Team vorhan­ den, großes Netzwerk und Kundenst­ amm, mögliche Konflikte werden im Genehmigungsverfahren abgeprüft 55 Brandware: Hohe Außenwirkung, über den Ort hinausgehende Sichtbarkeit, Veranstaltung von kleinen und großen Events, hoher Bekanntheitsgrad, zieht Sponsoren an

gesessenen Sportvereinen, für die sie oft als Bedrohung und nicht als eine Angebotsergänzung oder Bereicherung angesehen werden. In Kassel hat der Skaterverein Mr. Wilson e. V. zusammen mit dem Cluster e. V. eine alte denkmalgeschützte Industriehalle zu einer Indoor-Skaterhalle samt angeschlossenem Kulturzentrum entwickelt (. Abb.  4.3). Das Projekt wurde aufgrund seines integrierten Ansatzes in großen Teilen auch inhaltlich vom Jugendamt unterstützt. Ziel war es nicht nur, die Interessen junger Sportlerinnen und Sportler mit dem Bau zufriedenzustellen, sondern das Projekt bietet durch die Zusammenarbeit mit dem soziokulturellen Verein Cluster e. V. auch ein großes Angebot an Kulturveranstaltungen an. Dieses Beispiel verdeutlicht die Verknüpfung sportlicher Aktivitäten mit sozialen Nutzungen. Dem Sport können somit neue Aufgabenbereiche und Zuständigkeiten zugeschrieben werden. Zu dieser Erkenntnis führt auch das Resümee auf die vielen vom Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR) untersuchten Stadtmacherprojekte. „Nie kam es darauf an, sich abzugrenzen, immer ging ihr Engagement um die lebenswerte Stadt mit offenen Angeboten für möglichst viele“ (Haury & Willinger, 2020, S. 10).  

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S. Haury

4

..      Abb. 4.3  Skaterhalle in der Kesselschmiede Kassel. (© Stephanie Haury)

4.6 

Fazit

Was zeigen uns die vorgestellten Ansätze aus dem Trendsport? Offensichtlich wird, dass die Umsetzung neuer innovativer Formate in städtischem Raum komplex ist und viele Hürden übersprungen werden müssen. Künftige Aufgabe von Stadtverwaltungen muss es daher sein, in den Quartieren Kreativnutzungen zuzulassen und die Rah­ menbedingungen einer temporären Bespielung zu erleichtern. Um die Rahmenbedingungen solcher kreativer Nutzungen im öffentlichen Raum wenigstens etwas zu erleichtern, hat das BBSR (2020) die Freiraumfibel Wissenswertes über die selbstgemachte Stadt herausgegeben. Die Fibel enthält Regeln und Ansätze, wie man sich Räume in einer Stadt aneignen kann, und zeigt auch vorhandene rechtliche Schlupf-

löcher sowie Hinweise zu Ermessungsspielräumen der Kommunen. Junge Akteurinnen und Akteure aus dem Trendsport sind mit den vorhandenen rechtlichen Instrumentarien und Regeln oft überfordert. Warum kann es keine einfacheren Zugänge und Wege für zivilgesellschaftliche Akteurinnen und Akteure geben, die unsere Städte mit Trendsport bereichern? Kann es keine offenen Räume in der Stadt geben, die man sich spielerisch und auf legale Weise aneignen kann? Wie kann es gesellschaftlich zu einem Umdenken kommen? Die Forderung nach offenen Räumen hat sich auch im ExWoSt-Forschungsfeld „Jugend.Stadt.Labor“ herauskristallisiert, in dem 40 Jugendliche ein „Manifest für offene Räume“ erstellten. Diese Räume sollen ergebnisoffen, für alle nutzbar, selbst gemacht, am Gemeinwohl orientiert und experimentell sein. Auf den öffentlichen Raum bezogen verbindet sich diese Forderung mit der Diskussion um die „Rückgewinnung“ des öffentlichen Raums und der Bekämpfung der Eintönigkeit, Monofunktionalität und Kommodifizierung von Räumen. Städte sollten von spezialisierten und festgefahrenen Nutzungen wegkommen und Neues zulassen, das durch Spontaneität, Zufall und Chaos geprägt ist und sich an lokalen Bedürfnissen ausrichtet. Die Nutzung und Veränderung von Räumen durch sportliche Aktivitäten im öffentlichen Raum spiegeln das neue Bild von Stadtentwicklung wider: Eine Stadt funktioniert bei ihrer Gestaltung nur durch die Mitsprache der Bürgerinnen und Bürger. Lebendigkeit und Vitalität kann nur durch das Zulassen von Veränderung entstehen. Dies kann nur mit einem Rückzug bzw. der Zurückhaltung staatlichen Eingreifens einhergehen. Die zukünftige Freiflächen- und Sportentwicklungsplanung muss offene Räu­ me und nutzungsneutrale Angebote für den Trendsport schaffen (7 Kap. 21). Diese Forderung korrespondiert mit dem aktuellen Sportverhalten, das sich gravierend geändert hat.  

65 Trendsportarten und Stadt – neue Formen der Raumaneignung

? Übungs- und Reflexionsaufgaben 1. Wie definiert sich Trendsport, an welchen Orten findet er statt? Was passiert bei der Aneignung städtischer Räume? 2. Welche Stufen von Raumaneig­nungen durch den Trendsport bestehen? Mit welchen Aspekten der Stadtplanung müssen sich Initiatorinnen und Initiatoren auseinandersetzen, wenn sie ein Projekt starten und umsetzen wollen?

Zum Weiterlesen empfohlene Literatur BBSR  – Bundesinstitut für Bau-, Stadt und Raumforschung (Hrsg.) (2020). Freiraumfibel – Wissenswertes über die selbstgemachte Stadt. Breuer, C., & Michels, H. (2003). Trendsport: Modelle, Orientierungen und Konsequenzen. Meyer & Meyer. Löw, M. (2015): Space Oddity. Raumtheorie nach dem Spatial Turn. sozialraum.de. Ausgabe 1/2015. 7 https://www.­ sozialraum.­d e/space-­o ddity-­r aumtheo rie-­nach-­dem-­spatial-­turn.­php. Zugegrif­ fen: 14. März 2022.  

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Sport als politisches und gesellschaftliches Instrument in Grenzräumen Bernhard Köppen und Muriel Backmeyer

Verpflegungspunkt beim jährlichen Wandermarathon des Biosphärenreservats Pfälzer Wald/ Vosges du Nord. (© Bernhard Köppen und Muriel Backmeyer)

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Gans et al. (Hrsg.), Sportgeographie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66634-0_5

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Inhaltsverzeichnis 5.1

 port und grenzüberschreitende regionale S Integration – 69

5.2

 ie Wirkmacht von Sport im Rahmen D grenzüberschreitender Kooperation und Integration – 72

5.3

 andern im Nachbarland mit Nachbarinnen W und Nachbarn – 73

5.4

 elbstverständliche Integration auch S durch grenzüberschreitenden Sport – 78 Literatur – 79

69 Sport als politisches und gesellschaftliches Instrument in Grenzräumen

Einleitung Sport ist „mehr als ein Spiel“ und besitzt über die eigentliche körperliche Aktivität hi­ naus zahlreiche direkt damit verbundene sowie mittelbar nachgeordnete Facetten. Als ausgesprochen wirkmächtig ist hierbei die politische Dimension des Sports anzusehen (Vinokur, 1988; Bale, 2003; Koch, 2016). Aktiver Sport wie auch Sport durch Zu­ schauen gilt insbesondere als identitäts­ stiftend (7 Kap.  18 und  24) und ist in die­ sem Zusammenhang gezielt geopolitisch im positiven wie auch negativen Sinne instru­ mentalisierbar (7 Kap. 9), so etwa im Zuge von Nation Building (Koch, 2013), der For­ cierung von Nationalismus oder Über­ höhung von Patriotismus (Arnold, 2021), der Nutzung von Sportgroßveranstaltungen im Sinne politischer Soft-Power-Strategien (Grix & Houlihan, 2014; Grix & Brannagan, 2016) oder zum Sportswashing autoritärer Regime (Kobierecki & Strožek, 2021; 7 Kap. 9). Auf lokaler Ebene sind beispiels­ weise ethnisch-kulturelle Konflikte in Fuß­ ballligen keine Ausnahme (Metzger, 2015). Diesen kritischen Aspekten stehen jedoch (geo-)politisch positive Eigenschaften gegen­ über. Dem gemeinsam betriebenen Sport wird neben gesundheitsfördernden Aspekten und individuellem Wohlbefinden (7 Kap.  12) auch stets eine integrative Komponente zu­ geschrieben (7 Kap.  16). Dies gründet vor allem auf der Gemeinwohlorientierung des organisierten Sports und der somit implizi­ ten sozialen Dimension und findet beispiels­ weise seinen Ausdruck in der strategischen Bedeutung des Sports bei der Integration von Migrantinnen und Migranten (Flensner et al., 2021; 7 Kap. 16), aber auch bezüglich der Bildung von Sozialkapital in einem er­ weiterten Kontext (Nicholson und Hoye, 2008) bis hin zu Diplomatie über Sport (Pamment, 2016; Postlethwaite & Grix, 2016). Diese integrative Wirkung vorausgesetzt, erscheint es nur folgerichtig, sportlichen Akti­  











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vitäten und Veranstaltungen großes Potenzial in Hinblick auf die Förderung nachbarschaft­ licher, zwischenstaatlicher Kontakte und hier­ bei insbesondere auch grenzüberschreitender Integration auf lokaler Ebene beizumessen (Kapiteleröffnungsbild). Am Beispiel der Europäischen Union lohnt sich ein genauerer Blick, welche Rolle der grenzüberschreitenden Kooperation durch und mit Sport tatsächlich zukommt bzw. zu­ kommen kann. Exemplarisch wird am Beispiel des durch die EU gesetzten Rahmens zu grenz­ überschreitender Integration reflektiert, wel­ che Rolle gemeinsamer Sport hat, und die Er­ gebnisse einer explorativen, qualitativen Unt­ ersuchung zum Wandersport im deutschfranzösischen Grenzraum werden kurz vor­ gestellt.

5.1 

Sport und grenzüberschreitende regionale Integration

Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Grenzen und Grenzräumen ist ein vorran­ ging in den Gesellschaftswissenschaften ver­ ortetes, interdisziplinäres Unterfangen, wobei in der Geographie Grenzen gemeinhin als Trennlinien zwischen räumlich fassbaren Systemen (z. B. politisch, ökonomisch, kul­ turell) verstanden werden. Diese Trennung wiederum ist nicht „gegeben“, sondern das Ergebnis von gesellschaftlicher Aushand­ lung und Konstruktion (z.  B.  Paasi, 1996; Newman, 2006). Im Zentrum aktueller Grenzraumforschung stehen insbesondere Fragen der „everyday construction of borders among communities and groups, through ideology, discourses, political insti­ tutions, attitudes and agency“ (Scott, 2015, S. 27 f.). Grenzen, die ursächlich dem Schutz vor äußeren und inneren Bedrohungen die­ nen (sollen) sowie territoriale Manifestation politischer, kultureller und sozialer Grup­ pen darstellen, sind demnach grundsätzlich verhandelbar. Sie können in ihrer trennen­

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B. Köppen und M. Backmeyer

den Wirkung unterschiedlich stark sein und unterliegen zudem Wandlungsprozessen bis hin zur Auflösung. Die durch Grenzen ge­ trennte Koexistenz verschiedener Systeme kann sowohl konfliktbehaftet sein als auch – entsprechende Durchlässigkeit vorausges­ etzt  – für die im unmittelbaren Grenzraum lebenden Menschen, angesiedelten Unter­ nehmen und Institutionen Vorteile ver­ schaffen. Die Grenze mit ihrem Neben­ einander unterschiedlicher Systeme stellt also auch eine potenzielle Ressource dar (Sohn, 2014, 2016). Letztere Sichtweise macht sich die EU zu eigen und fördert gezielt grenzüberschreitende Integration, wobei (und dies darf bei allen Überlegungen nicht außer Acht gelassen werden) ins­ besondere ökonomische Integration im Sinne eines gemeinsamen, effizienten Markts sowie politische Beziehungen im Vorder­ grund stehen. Die sogenannte People to People-­Perspektive wird als eine Basis hier­ für anerkannt und ebenfalls gefördert, ist je­ doch nicht das leitende Paradigma. In diesem Zusammenhang sind sowohl grenzüberschreitende Kooperation mit dem Ziel der regionalen Integration von Grenz­ räumen als auch die gezielte Nutzung von Sport als Instrument zur „Europäisierung“ der Bürgerinnen und Bürger (Gasparini, 2011) klar formulierte Elemente der Politi­ ken von Europäischem Parlament und Euro­ päischer Kommission. Im Vertrag von Lissa­ bon findet Sport explizite Erwähnung: „Die [Europäische] Union trägt zur Förderung der europäischen Dimension des Sports bei und berücksichtigt dabei dessen besondere Merkmale, dessen auf freiwilligem Engage­ ment basierende Strukturen sowie dessen so­ ziale und pädagogische Funktion“ (Euro­ päische Union, 2007, S. 82). Die zugrunde liegende Logik, dass ge­ meinsame sportliche Aktivitäten ein grund­ sätzlich hervorragend geeignetes Instrument für Kennenlernen und Vertrauensbildung als Basis für grenzüberschreitende alltäg­ liche Kooperation und Identitätsbildung

sind, ist leicht nachvollziehbar sowie sehr bestechend. Sport folgt vorher vereinbarten Regeln, Fairness ist ein zentraler Wert, sprachliche und kulturelle Barrieren spielen während der an klare Vereinbarungen ge­ bundenen sportlichen Betätigung eine unter­ geordnete oder gar keine Rolle. Somit eignet sich gemeinsame sport­ liche Aktivität auf den ersten Blick grund­ sätzlich ideal für ein persönliches Kennen­ lernen auf persönlicher Ebene über Gren­ zen hinweg und auch in einem weiteren internationalen Kontext, der sich nicht nur auf aneinandergrenzende Regionen be­ schränkt. Dementsprechend geben gemäß Euro-­Barometer 2018 befragte EU-Bürge­ rinnen und EU-­ Bürger den Sport nicht ganz überraschend als ihrer Meinung nach drittwichtigstes Element eines europäi­ schen Gemeinschaftsgefühls an (EU-Kom­ mission, 2018, S. 34). Das persönliche Kennenlernen wiede­ rum ist Voraussetzung für die Heraus­ bildung von Vertrauen, welches unabding­ bare Grundlage erfolgreicher Kooperation nicht nur im politischen, sondern auch im ökonomischen Kontext darstellt. Die Hera­ usbildung erfolgreicher ökonomischer Clus­ ter beispielsweise wird als grundsätzlich an Vertrauen und embeddedness („Einbettung“ in regionale soziale Kontexte) geknüpft ge­ sehen, und diese Erkenntnis kann auch auf erfolgreiche grenzüberschreitende Ko­ operation übertragen werden (Kortelainen & Köppen, 2009). Im Europa der EU und in mit der EU as­ soziierten Staaten, welche sich mit sehr we­ nigen Ausnahmen dem Schengener Ab­ kommen angeschlossen haben, wurden Hindernisse zur Überschreitung von Staats­ grenzen für Bürgerinnen und Bürger be­ seitigt. Grenzüberschreitendes, alltägliches Handeln bzw. individuelle Raumaneignung (Löw, 2001) ist somit unproblematisch, was letztlich auch ein zentrales Anliegen des Schengener Abkommens darstellt (Sonder­ situationen, denen mit Grenzschließung und

71 Sport als politisches und gesellschaftliches Instrument in Grenzräumen

re-bordering begegnet wird, etwa im Zuge der Corona-­Pandemie ausgenommen). Somit bestehen grundsätzlich gute Voraus­ setzungen für Sport und sportliche Aktivi­ täten im grenzüberschreitenden Kontext. Der politische Wille bzw. die politische Akzeptanz ist gegeben, und freie Mobilität über Grenzen hinweg wird ebenfalls gewährleistet. Bezüg­ lich des praktischen Einsatzes von Sport als Instrument der grenzüberschreitenden Integ­ ration sowie zur Bildung einer grenzüber­ schreitenden regionalen Identitätsstiftung zei­ gen sich in der „praktischen“ Umsetzung al­ lerdings auch strukturelle Hemmnisse, welche nicht etwaige physisch-infrastrukturelle De­ fizite umfassen und im lokalen Einzelfall durchaus wirksam sein können. Wie bereits erwähnt, kann Sport auf­ grund der bekannten und akzeptierten Re­ geln gemeinsam ausgeübt werden, ohne dass kulturelle und soziale Hintergründe oder in­ dividuelle Sprachkenntnisse so hemmend wirken wie bei anderen Aktivitäten inter­ nationaler Begegnung, weil nonverbale und konkret fassbare Interaktionen dominieren. Bei aller Euphorie über diesen günstigen Umstand darf aber nicht vergessen oder gar negiert werden, dass Sport eben doch in genau diese Bezüge eingebettet ist, welche zudem durchaus Einfluss auf das Gelingen von Begegnungen haben. Inwiefern sport­ liche Begegnungen integrative Aspekte mit sich bringen, ist also keinesfalls unabhängig von kultureller und sprachlicher Kompetenz (Bröskamp, 2011). Die Herauslösung des Sports aus seinen sozialen und kulturellen Kontexten mag schöne Hypothesen ermög­ lichen, es ist aber naiv, die integrative Wir­ kung auf Basis solcher Grundannahmen zu beurteilen. Europhiler Bekenntnisse und Diskurse zum Trotz sind Vereinssport sowie ein erheb­ licher Teil von Wettbewerben beispielsweise regional und nationalstaatlich organisiert und nicht einer grenzüberschreitenden Logik entsprechend anpassbar. So sind etwa Freundschaftsspiele zwischen Vereinen beid­ erseits der Grenze unproblematisch. Die In­

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tegration im Ausland lebender Sportlerin­ nen und Sportler im Ligabetrieb oder für re­ gionale bzw. nationale Wettbewerbe kann im Einzelfall wiederum sehr schwierig sein. Na­ tionale Regelungen können vorsehen, dass zur Ausübung eines Sports spezielle medizi­ nische Testate gefordert werden oder der Nachweis von Schulungen, welche im End­ effekt grundsätzlich motivierte Personen dann doch abhalten, die Grenze als Chance und Ressource für grenzüberschreitenden Vereins- und Wettbewerbssport zu erfahren. Während etwa der Kfz-Führerschein von EU-Staaten gegenseitig anerkannt ist, so gilt dies für sportbezogene medizinische Nach­ weise oder Lizenzen nicht in jedem Fall. Diese grundsätzliche Problematik illust­ riert der Fall des italienischen Leichtathleten Daniele Biffi. Biffi lebt in Berlin und ist seit 2012 als Athlet in Deutschland registriert. Zwischen 2012 und 2016 hat er mehrere Wett­ bewerbe in Deutschland gewonnen, ein­ schließlich Meisterschaften. Eine Regeländ­ erung des Deutschen Leichtathletik-Ver­ bandes (DLV) im Jahre 2016 knüpfte die Teilnahme an nationalen Wettbewerben nun an die deutsche Staatsbürgerschaft, womit der in Deutschland lebende und auch im Ver­ ein aktive Biffi vom hochrangigen Wett­ kampfgeschehen ausgeschlossen wurde. Eine Klage von Biffi vor dem Europäischen Ge­ richtshof (EuGH) erwies sich insofern als erfolgreich, als die Regelung des DLV als dis­ kriminierend und unverhältnismäßig erachtet wurde. Der Ausschluss von ausländischen Sportlerinnen und Sportlern von nationalen Wettbewerben bleibt grundsätzlich möglich, muss jedoch gut begründet sein. Die Staats­ bürgerschaft an sich kann ein solcher Grund nicht sein (Urteil des EuGH, 2019, EC­ LI:EU:C:2019:497). Anders stellt sich die Situation im nicht an Ligen oder Verbände gebundenen Sport und bei sportlichen Freizeitaktivitäten im weite­ ren Sinne sowie für speziell im grenzüber­ schreitenden Kontext organisierte Einzelver­ anstaltungen (z. B. durch nationale Verbände oder Institutionen) dar. Diese sind nicht nur

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B. Köppen und M. Backmeyer

problemlos möglich, sondern werden im europapolitischen Sinne explizit begrüßt. So ist beispielsweise seit 2014 die Förderung von Sport durch die EU gezielt dem Programm Erasmus+, also einer Maßnahme, die auf Austausch in (Aus-)Bildung und Wissen­ schaft fokussiert, zugeordnet. Wenngleich die hier dezidiert für internationalen sportlichen Austausch bereit gestellten Fördersummen eindeutig zu den geringeren Ausgaben im Vergleich zu anderen Sektoren (mit inter­ nationalem und dadurch auch Grenzraum­ bezug) zählen, so ist die Bedeutung dieser Maßnahme in ihrer Symbolkraft nicht zu unterschätzen. Vor dem Hintergrund des in der EU geltenden Subsidiaritätsprinzips zählt Sport vorrangig zu den Kompetenzbereichen auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene. Dass Sport in der politischen Sphäre als taugliches Instrument der grenzüberschre­ itenden Integration gewertet wird, kann auch daraus abgeleitet werden, dass die deutschen Länder mit einer internationalen Grenze dies auch, etwa auf den Webseiten ihrer mit Sport oder Europa befassten Mi­ nisterien, entsprechend erwähnen. Nur ist dieser politische Common Sense in der Regel nicht mit konkreten Förderprogrammen bzw. formal und dauerhaft bereitgestellten finanziellen Mitteln untersetzt, wie dies durch Erasmus+ der Fall ist. Für die Europäische Kommission schei­ nen die Dinge bezüglich des Sports als wirk­ mächtigem Integrator klar auf der Hand zu liegen: „Il promeut la participation active des citoyens de l’Union européenne à la so­ ciété et contribue de la sorte à favoriser une citoyenneté active“ (EU-Kommission, 2007, S. 2). Der Sport fördere demnach aktiv den gesellschaftlichen Zusammenhalt Europas durch aktive Bürgerinnen und Bürger. Gasparini (2011) argumentiert, dass Sport auf symbolische Weise einen trans­ nationalen Begegnungsort darstellt, welcher

die Schaffung einer „communauté de pensée européenne à propos du sport“ begünstigt (Gasparini, 2011, S.  53). So hätte sich ge­ zeigt, dass sich für junge Menschen in Frankreich über den Sport Berührungs­ punkte mit Deutschland, Belgien, Polen oder Spanien ergeben, etwa im Zusammen­ hang mit schulischem Austausch und Wett­ bewerben (also selbst aktiv), aber auch durch im Fernsehen übertragene Turniere usw. Dies wiederum führe zu Vertrautheit von Sportlerinnen und Sportlern mit Ver­ einen und Lebensstilen im jeweiligen Land. Diese Europäisierung durch Sport sei aller­ dings bisher wenig fundiert erforscht, sodass diese idée séduisante („bestechende Idee“) aus wissenschaftlicher Sicht doch noch eher als Hypothese zu behandeln sei (Gasparini, 2011, S. 54).

5.2 

Die Wirkmacht von Sport im Rahmen grenzüberschreitender Kooperation und Integration

Vor dem Hintergrund, dass Sport als ein quasi perfektes Instrument zur Förderung internationaler, interkultureller und auch kleinräumig grenzüberschreitender Begeg­ nung und Integration (im politischen wie auch „landläufigen“ Sinne) erachtet wird, mag es erstaunen, dass es nur wenige wissen­ schaftliche Studien oder auch Auftrags­ studien zur tatsächlichen Bedeutung sowie Wirkkraft des Sports im speziellen Kontext von (Staats-)Grenze(n) und Sport gibt. Und dies gilt nicht nur für das Beispiel der Euro­ päischen Union, sondern weltweit. Ins­ besondere individuelle, persönliche Be­ gegnung im Sport und daraus resultierende, empirisch nachweisbare Effekte erweisen sich als wenig intensiv erforscht.

73 Sport als politisches und gesellschaftliches Instrument in Grenzräumen

Empirische Forschung zu Grenze bzw. Grenzraum und Sport fokussiert bislang vorrangig auf Themen mit Schwerpunkt grenzüberschreitender Tourismus oder Frei­ zeitgestaltung in Grenzräumen bzw. über Staatsgrenzen (hierzu die systematische Literaturanalyse von Hernández, 2020). Ex­ emplarisch etwa seien die Arbeit von Zait­ seva et  al. (2016) genannt, welche sich mit grenzüberschreitender Regionalentwicklung durch Tourismus und Freizeitangebote be­ fasst, oder die Dissertation von Erkina (2018) zur Entwicklung von grenzüberschreitendem Sporttourismus. Auch Gesundheit, Fußball und die Repräsentation von Sport des Nach­ barlands in den Medien beiderseits von Grenzen wurden untersucht. Es ist festzustellen, dass die räumliche Identifikation über Sport oder Teams sowie auch Ausgrenzung in der Sportgeographie und Soziologie zwar ein wiederkehrender Forschungsgegenstand ist (z.  B.  Shobe, 2008; Spaaij et  al., 2014; Wise & Harris, 2014; Hylton & Lawrence, 2015), die direkte Verknüpfung von grenzüberschreitender re­ gionaler Identität(sbildung) im engeren Sinne bisher jedoch empirisch weitgehend unerforscht bleibt. Hier schließen aktuell neuere Initiativen wie etwa das Projekt TranSPORT(S)1 (. Abb.  5.1) der Uni­ versitäten Bordeaux, Grenoble und Stras­ bourg mit Partnerinstitutionen in Frank­ reich, Deutschland, Spanien und Italien sukzessive die Lücke(n). Auffällig ist immer­ hin, dass sich das wissenschaftliche Interesse an Sport und Grenze seit 1986 bis 2018 stei­ gert, wenngleich die gesamte Zahl an Pro­ jekten bzw. Publikationen bislang über­ schaubar bleibt (Hernández, 2020).  

1 TranSPORT(S) ist ein vom Réseau national de Maison des Sciences de l’Homme (RnMSH) fi­ nanziertes, internationales Projekt des MSHA Aquitaine, MISH Alsace und MSH Alpes unter Beteiligung französischer, spanischer, deutscher und italienischer Universitäten sowie Forschungs­ einrichtungen.

5

..      Abb. 5.1 Logo des transnationalen Projekts TranSPORT(S). (© Yannick Hernández)

5.3 

 andern im Nachbarland mit W Nachbarinnen und Nachbarn

In Zusammenhang mit dem internationalen Projekt TranSPORT(S) wurden im Sommer/ Herbst 2021 unter anderem eine explorative, qualitative Studie zur Wahrnehmung des Grenzraums Schwarzwald und Vogesen durch im organisierten Wandersport aktive Personen sowie eine teilnehmende Be­ obachtung bei einer organisierten deutsch-­ französischen Wanderung im Schwarzwald durchgeführt (elf Interviews, davon zehn deutsche in Wandervereinen organsierte Per­ sonen und eine im Club Vosgien ein­ geschriebene Person). Zu berücksichtigen ist hierbei, dass im Verein organisiertes Wan­ dern eine tendenziell von älteren Menschen ausgeübte sportliche Betätigung ist und die qualitative Studie nur einen Einblick in die vielfältigen Facetten der Thematik erlauben kann, jedoch nicht repräsentativ für alle in Grenzräumen ausgeübten sportlichen Aktivi­ täten sowie sportlichen Kooperationen ist. Wandern als sowohl frei organisierte, aber auch in Verbänden ausgeübte Aktivität bietet sich für eine explorative Studie inso­ fern an, als diese Form des Sports aus­

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B. Köppen und M. Backmeyer

gesprochen häufig ausgeübt wird. So wird für Deutschland festgestellt, dass „fast jeder dritte Deutsche an[gibt], dass er mindestens fünf bis sechsmal im Halbjahr oder sogar mehrmals im Monat wandert und noch ein­ mal gut 20 % geben an, mindestens ein- bis zweimal pro Jahr zu wandern“ (BMWi, 2010, S. 24). Bezüglich der Relevanz des Wanderns im Grenzraum bzw. dem respektiven Nachbar­ land zeigt sich, dass einerseits das Über­ schreiten einer Staatsgrenze bewusst wahr­ genommen wird, andererseits aber der Ge­ danke, hierbei einen womöglich (politisch) wünschenswerten Beitrag zur grenzregionalen Integration oder Herausbildung eines euro­ päischen Bewusstseins zu leisten, weniger prä­ sent ist. Von allen Befragten wurde die Grenze mehrmals im Jahr überschritten, wobei das Wandern in den Vogesen ein zentrales Motiv ist. Dennoch war nur für zwei der elf Be­ fragten Wandern an sich alleiniges Motiv, sich in das Nachbarland (Frankreich) zu be­ geben. Neben der Ausübung des Sports spie­ len daran gekoppelte andere Aktivitäten, wie etwa Shopping-Tourismus oder die In­ anspruchnahme von Dienstleistungen, wie auch das „Erlebnis“ der internationalen Reise an sich (wenn auch „nur“ ins nahe ge­ legene Ausland) eine Rolle. Die Grenzüberschreitung „an sich“ wird dabei unterschiedlich bewertet. Die „Grenze im Kopf“ im Sinne einer kollektiven Er­ innerung ist ebenso präsent wie die positive Bewertung, dass die Staatsgrenze heute keine greifbare Rolle mehr spielt.

»» „Der

Rhein ist für den Schwarzwälder eher mal eine echte Grenze gewesen und das steckt noch tief in den Köpfen. Über­ haupt über die Grenze zu gehen, ist erst­ mal eine Überwindung.“ (Befragung 1)

Die Mehrheit der befragten Personen gibt tatsächlich positive Assoziationen wieder. Die Grenze sei „gar nicht mehr erfühlbar“ (Befragung 3), unter anderem auch, weil sie nicht dicht und geschlossen sei, sondern flie­

ßend, „wie ein Übergang“ (Befragung 10). Die Grenzüberschreitung kann als positives Erlebnis wahrgenommen werden, das mit Urlaub, Erholung, Genuss und Vertrautheit in Verbindung gebracht wird.

»» „Es ist immer ein schönes Gefühl, jetzt bin ich im Elsass. […] Ich passiere die Grenze und bin schon ein anderer Mensch, das ist verrückt. Ich fühle mich einfach besser. […] Wenn ich auf dem höchsten Punkt [der Passerelle] stehe, wo die Grenze an­ gezeigt wird, einfach nur schön.“ (Be­ fragung 8)

Sohn (2016) weist in diesem Zusammen­ hang darauf hin, wie prägend die individu­ elle Perspektive auf das jeweilige Verständ­ nis von der Grenze ist.

»» „Für mich war es aber eigentlich nie eine Grenze. Wenn ich jetzt über die Grenze ginge und es würde jeder nur Französisch sprechen, dann wäre es vielleicht eine Hemmschwelle. Aber du bist rüber­ gekommen und warst bei Freunden. Glei­ che Sprache, gleiche Kultur. Wir sind alle alemannischer Abstammung. Für mich war der Rhein nie eine Grenze.“ (Be­ fragung 11)

Dem entgegen stehen allerdings auch andere Einschätzungen, ungeachtet dass die Staats­ grenze für die Ausübung sportlicher Aktivi­ täten regelmäßig und vor allem bereits seit langer Zeit selbstverständlich überschritten wird.

»» „Der Rhein ist die Grenze. Es ist anders, es

ist einfach ein anderes Leben auf der einen und der anderen Seite.“ (Befragung 5)

»» „Ich glaube, wenn du jetzt in Bayern bist oder drüben in Österreich. Da würde das nicht auffallen, wenn nicht gerade andere Kennzeichen rumfahren, sonst würdest du es nicht merken. […] aber in Frankreich merkst du es sofort. Du kommst rüber an die Grenze und du bist in einer anderen Welt.“ (Befragung 6)

75 Sport als politisches und gesellschaftliches Instrument in Grenzräumen

Diese Feststellung oder Festlegung von Unterschieden zwischen der Bevölkerung beiderseits der Grenze sind wiederum nicht zwangsläufig negativ konnotiert, sondern im Kontext der bewusst im Nachbarland und mit Nachbarn wandernden Personen eine positive, interessante Erfahrung. Unter­ schiede und Gemeinsamkeiten können re­ flektiert und in der Summe als reizvoll wie auch den eigenen Vorlieben als nicht ent­ sprechend erfahren werden.

»» „Beim

Wandern kriegste die Menschen mit. Beim Fahrradfahren nicht. […] Du kannst Gespräche festlegen. […] Ja, und du hast das Herz dabei, du siehst die Leute, du hast den direkten Kontakt. Das ist das Wichtigste am Wandern für mich.“ (Befragung 5)

»» „Vor allem mittags. 12:00 Uhr, die [Fran­

zosen] gehen Mittagessen. Da sind die Gaststätten auch voll. Da machen wir erst recht einen großen Bogen drum. Und sind froh, die sind versorgt und wir haben zwei Stunden unsere Ruhe.“ (Befragung 7)

»» „Also von den Menschen her ist das so,

wir [die Deutschen] haben einen ganz an­ deren Biorhythmus. Die Deutschen möch­ ten um 12 Uhr Mittagessen so ungefähr, um vier Kaffeetrinken und um 18 Uhr ein­ kehren. Und die Franzosen möchten ja vor 20 Uhr nix essen. Und das führt manchmal so zu Differenzen, weil die möchten immer picknicken und die Deut­ schen ins Lokal. Im strömenden Regen stehen die dann da und packen ihr Pick­ nick aus. Da kriegen unsere deutschen Kollegen ab und zu einen Vogel. […] Und dann passiert es schonmal, dass wir irgendwo einen Kaffee trinken gehen und die Franzosen stehen draußen im Regen […]“ (Befragung 5)

»» „Die haben grundsätzlich den Bordeaux

dabei und die Schokolade. Das, was das

5

Herz begehrt. […] Wie das dort auch als Lebensprinzip so gilt, man bietet dem an­ deren etwas an. Es war einfach faszinie­ rend, mit einer Selbstverständlichkeit.“ (Befragung 8)

»» „Die Herzlichkeit hat mich einfach immer

wieder fasziniert. Da sind wir Alemannen hier etwas anders gestrickt. […] Ja, zurückhaltend auf eine Art. […] Das habe ich drüben anders erlebt, wie die so offen aufeinander zugegangen sind.“ (Befra­ gung 8)

Neben praktischen Beschreibungen des ge­ meinsamen Wanderns wird eine positive Wertung der französischen Personen vor­ genommen, die in sich aber pauschalisierend ist. Der Assimilationseffekt, bei dem allen Individuen einer Nation dieselben Eigen­ schaften zugeschrieben werden, kommt hier zum Vorschein (Lipiansky, 2002). Dennoch scheint es die Wahrnehmung positiv zu be­ einflussen. Es wird auch angeführt, dass gerne mit Freunden gewandert wird, die die französische Sprache beherrschen, weil die Mehrheit der Studienteilnehmerinnen und -teilnehmer gar kein Französisch spricht oder nur rudimentäre Kenntnisse besitzt. Die Motivation deutscher Wander­ sportlerinnen und Wandersportler, in die Vogesen zu fahren, wiederum ergibt sich aus spezifischen Unterschieden der Regionen Schwarzwald und Vogesen und nicht etwa dem Bewusstsein, eine Europäisierung bzw. Forcierung der grenzüberschreitenden Inte­ gration und des europäischen Gedankens zu bewirken.

»» „Also, wenn ich ehrlich bin, laufe ich lie­

ber in den Vogesen. Die Vogesen haben noch sehr viele natürliche und kleine Wanderwege. Bei uns im Schwarzwald läuft man meistens Fahrwege. […] Aus dem Grund laufe ich wirklich lieber in den Vogesen, egal wo. Das ist dort drüben sagenhaft, das vermisse ich im Schwarz­ wald.“ (Befragung 11)

76

B. Köppen und M. Backmeyer

»» „Es ist viel entspannter, jaja. In den Voge­

sen ist es längst nicht so gut ausgeschildert wie hier. Das ist der Unterschied, das sagen die Franzosen aber auch. In den Vo­ gesen kann es sein, du stehst plötzlich vor einer Wand oder einem Abhang und weißt gar nicht, wo du bist. Das ist gar nicht so ungefährlich drüben.“ (Befragung 5)

5

Dass die eigene sportliche Aktivität in einem politisch-formal ausgestalteten grenzüber­ schreitenden, regionalen Konstrukt  – dem Eurodistrikt Strasbourg-Ortenau  – aus­ geübt wird, ist prinzipiell bekannt, wird aber als letztlich wenig relevant erachtet.

»» „Also ich finde – wie soll ich dir das sagen?

Man lebt halt drin, da macht man sich gar keine Gedanken mehr.“ (Befragung 5)

»» „Weißt du, ich wohne hier, ich nehme es vielleicht gar nicht mal so sehr wahr.“ (­Befragung 8)

Die bereits erwähnte Problematik, dass die praktische grenzüberschreitende Verbands­ arbeit im Einzelfall mit administrativen Hür­ den konfrontiert wird, etwa weil Sport in na­ tional organisierte Strukturen eingebettet ist, findet in einem Interview Erwähnung. So seien die Europaidee und der Eurodistrikt gut. Gleichzeitig gäbe es „grenzübersch­ reitend schon Probleme“ (Befragung 11), wenn man die bürokratische Ebene be­ trachte. Ein Verband, welcher seinen Sitz außerhalb des Eurodistrikts habe, dürfe keine Anträge auf Finanzierung von grenz­ überschreitenden Aktivitäten mit Unter­ stützung des Eurodistrikts stellen. Grundsätzlich aber herrscht nur wenig Kenntnis über die tatsächlichen Kompeten­ zen sowie fassbaren Handlungsspielräume des Eurodistrikts und eventuellen Möglich­ keiten, die sich daraus ergeben.

»» „Da kann ich nichts zu sagen, vielleicht

gibt es etwas, und ich weiß nicht, dass es eurodistriktveranlasst ist.“ (Befragung 8)

Lediglich in dem Aspekt, dass über den Eurodistrikt keine Wanderungen veranst­ altet werden, sind sich alle Befragten sicher. Dies bedeutet aber keinesfalls, dass die Rele­ vanz dieses Instruments der grenzregionalen Kooperation zwangsläufig infrage gestellt würde. Die Gebietskörperschaft ist eben kein direkt erfahrener Teil des Alltags bzw. des Sports.

»» „Also man bekommt immer die Negativ­

erscheinungen mit. Und was funktioniert, erscheint immer selbstverständlich.“ (Be­ fragung 5)

Das Funktionierende im grenzüberschr­ eitenden Alltag der Bürgerinnen und Bürger scheint zugunsten eines stärkeren Fokus auf Probleme in den Hintergrund zu rücken. Dass dadurch bereits erreichte Erfolge von Integration nicht wahrgenommen werden und der Istzustand ohne weiteres Tun nicht gehalten werden kann, sollte bei der Be­ wertung berücksichtigt werden. Dass euro­ päische, dezidiert auf Grenzräume bezogene Politik einen unmittelbaren Zusammenhang mit individueller, grenzüberschreitend integ­ rativer (Raum-)Aneignung haben könnte, wird nicht zwingend reflektiert.

»» „Wann tut es sich vermischen [Deutsche

und Franzosen]? Eigentlich doch nur, wenn du Arbeitskollegen hast, die drüben sind. Dass du dann nochmal privat zu­ sammenkommst oder durch Vereine.“ (Befragung 7)

»» „Aber das [gemeinsame Wandern beider­ seits der Grenze] könntest du auch so ma­ chen, dafür brauchst du keinen Euro­ distrikt. Zum Beispiel unser Schwarzwald­ verein selber sucht sich drüben einen Verein.“ (Befragung 6)

»» „Weißt du, du lernst ja viele Leute kennen

und man begegnet sich. Und trotzdem geht’s wieder verloren. Man kann nicht

77 Sport als politisches und gesellschaftliches Instrument in Grenzräumen

alles mitnehmen auf dem Weg, weißt du? Aber du erinnerst dich an die Momente und weißt, dass es schön und gut war. Und du teilst. Und das ist wichtig, in dem Mo­ ment bist du auch der beste Botschafter für dein Land. Man kämpft gegen Vor­ urteile, durch dein eigenes Verhalten kannst du die am besten abbauen.“ (Be­ fragung 5)

Die formalisierte Kooperation und Förde­ rung von Zusammenarbeit über das Instru­ ment des Eurodistrikts werden eher ver­ halten bis skeptisch bewertet. So wird trotz zahlreicher vorhandener Kooperationspro­ jekte, etwa im Bereich Integration des Arb­ eitsmarkts, die Förderung des Sports als wenig ausgeprägt wahrgenommen.

»» „Da

ging es zur Sache, auch mit Ko­ operationen ohne Ende […]. Aber sport­ lich nicht. Da sagt man, okay, die Deut­ schen können ja rübergehen. Die Franzo­ sen kommen ja auch ins Schwimmbad rüber. Nicht pejorativ, aber wir können es ja genauso machen. […] Der Eurodistrikt besteht zwar. Aber er ist ein bisschen tot, sage ich einfach mal.“ (Befragung 8)

Es wird aber auch formuliert, dass ein stär­ keres Engagement von als übergeordnete In­ stitutionen wahrgenommenen Körperscha­ ften sogar kritisch zu sehen sei.

»» „Das würde ich den einzelnen Vereinen

überlassen. Die suchen das dann doch schon irgendwo. […] Wenn das von oben runter diktiert wird, wäre das für’s Wan­ dern zu – nee, die sollen sich um ihre poli­ tischen Probleme kümmern. Ganz ehr­ lich.“ (Befragung 5)

»» „Also ich glaube nicht, dass wir uns da zu

sehr auf Politiker oder auf Einrichtungen verlassen sollten. Wenn wir das selber nicht leben, klappt’s nie. […] Dass man mit den entsprechenden Partnergemeinden und den Menschen, die man kennen­ gelernt hat, dann diese Verbindungen

5

pflegt. Das ist viel besser, als wenn von oben irgendwas runtergeordnet wird.“ (Befragung 3)

Großen Wert besitzt das gemeinsame Er­ leben und Miteinander, welches als positiv empfunden wird.

»» „Wenn ich mit einer normalen deutschen Wandergruppe gegangen wäre, wäre das wahrscheinlich gar kein Vergleich ge­ wesen. Man hat also gleich zwei Kulturen zusammen in einem Bus und das war – die Bewegungen, der Geruch der unterschied­ lichen Kulturen.“ (Befragung 8)

»» „[…] und nachher aus dem Bus, sind wir

uns alle um den Hals gefallen. Und das war die absolute Verbrüderung, und es war total egal, wer gewinnt am Ende. Wir haben wirklich zusammen dann gefeiert.“ (Befragung 5)

»» „Ich denke, da kannst du mit dem Ereignis

schon verbinden. […] Dann verbindest du schon Menschen. Die können sich über das Ereignis ja auch schon irgendwo austau­ schen und identifizieren.“ (Befragung 7)

»» „Da ist es wurscht, wo man herkommt, da

ist das Schöne, ins Gespräch zu kommen. Da guckt man, oh wie redet der, kann ich mit ihm reden? Ich bin ja auch gar nicht schüchtern, ich kann das dann auch. Manch andere Leute würden das vielleicht nicht machen. […] Ich meine, das kommt natürlich auch alles immer darauf an, wie man auf die Leute zugeht.“ (Befragung 10)

Zuletzt geht es auch ein Stück weit um Sym­ pathie zwischen den Menschen und beider­ seitige Offenheit. Die Befragten beziehen sich neben größeren sportlichen Ver­ anstaltungen hier auf deutsch-­französische Wanderungen, die ebenso diese Bedingung erfüllen müssen, um am Ende integratives Potenzial zu haben. Gerade in der Be­ schreibung der Offenheit als im Alltag nicht

78

B. Köppen und M. Backmeyer

immer gegebene Voraussetzung wird deut­ lich, dass die gegenseitige positive Neugier in europapolitischen Diskursen zu selbstver­ ständlich angesehen werde. Wassenberg (2013) spricht in diesem Zusammenhang von einem in der politischen Sphäre stellen­ weise imaginierten idealisierten Integrations­ zustand.

»» „Aber ich denke, dass bei diesem Gefühl 5

der Eurodistrikt nichts machen kann.“ (Befragung 11)

Aufgrund der Vielzahl an Voraussetzungen für einen integrativen Prozess im sportlichen Sinne nehmen einige Befragten ihren Enthusiasmus, den sie gegen Anfang in puncto „europäisch sein“ versprühten, bei der Frage nach einer Gemeinschaft im bzw. über den Eurodistrikt zurück.

»» „[…] aber die sind eine Gemeinschaft, und

wir sind eine Gemeinschaft. Das wird in dem Sinne nicht gelebt.“ (Befragung 7)

Zwar sei ein „Ineinanderwachsen links und rechts des Rheins“ (Befragung 10) bemerk­ bar, vielleicht langfristig auch die Zukunft, dennoch seien aktuell viele Unterschiede ge­ geben.

»» „Die Unterschiede sind da. Aber du hast auch Unterschiede zwischen Bayern und Hamburg, weißte? Ich denke mal, wenn To­ leranz da ist und Respekt vor allem, dann sind die Unterschiede eigentlich sekundär. Die sind da, das kann man nicht weg­ leugnen, das ist ganz klar.“ (Befragung 5)

»» „[…] und das [Grenzgefühl] wird immer

mehr verblassen und verblassen. Irgend­ wann sind die Grenzen dann weg. Die Sprachbarrieren verschwinden dann auch immer mehr.“ (Befragung 10)

Die Tendenz der Befragten, sich europäisch zu fühlen, ist zweifelsfrei mit deren Lebens­ welt in einem Grenzraum verbunden und wird durch grenzüberschreitenden Sport ge­ stärkt. Dennoch sehen sie dadurch keine

zwingende deutsch-­ französische Gemein­ schaft, auch, wenn diese als nicht unmöglich erachtet wird. Die regional relevanten poli­ tisch verfassten Institutionen sowie europa­ politische Diskurse wiederum werden grun­ dsätzlich als vorhanden wahrgenommen und reflektiert, aber nicht zwingend in dire­ kten Bezug zur eigenen grenzübersch­ reitenden Raumaneignung gesetzt.

5.4 

Selbstverständliche Integration auch durch grenzüberschreitenden Sport

Grenzüberschreitende sportliche Aktivität leistet einen Beitrag zur gesellschaftlichen regionalen Integration. Allerdings ist die Motivation zur Teilnahme an inter­ nationalen Wettbewerben oder die Aus­ übung organisierten wie auch individuellen Sports über Grenzen und in Grenzräumen eher selten ein dezidiert (europa-)politisches Statement. Zwar mag die Tatsache der grenzüberschreitenden sportlichen Raum­ aneignung durch Grenzraum integrierende Politiken als eine Basis bedingt sein, dies wird allerdings nicht tiefgründig reflektiert, sondern mit zunehmender Dauer und Wirk­ samkeit dieser Politik als selbstverständlich erachtet. Diese Selbstverständlichkeit der Grenz­ überschreitung zur Sportausübung  – sei es nun mit Menschen des benachbarten Staats oder nicht  – allerdings ist ein starker In­ dikator für de facto bestehende regionale Integration, welche ihren sichtbaren Aus­ druck auch durch die Ausübung von Sport im jeweiligen Nachbarland findet. ? Übungs- und Reflexionsaufgaben 1. Gemeinsamer Sport gilt als das Kennenlernen und die Integration fördernde Aktivität, welche zudem leicht sprachliche und kulturelle Bar­ rieren überwindet. Inwiefern ist es

79 Sport als politisches und gesellschaftliches Instrument in Grenzräumen

aber auch vorstellbar, dass genau das Gegenteil bewirkt werden könnte? 2. Ist es angemessen und überhaupt sinnvoll, dass die individuelle Aus­ übung von Sport politisch auf­ geladen und zu einem der grenzüber­ schreitenden Integration dienlichen Instrument erklärt wird?

Zum Weiterlesen empfohlene Literatur Bale, J. (2003). Sports Geography. 2. Aufl. Taylor & Francis Hernández, Y. (2020). Pratiques spor­ tives, espaces transfrontaliers et Union européenne: une revue de littérature. In A.  Suchet & A.  El Akari (Hrsg.), Développement du sport et dynamique des territoires. Expériences internationales comparées (S. 167–180). AFRAPS. Koch, N. (Hrsg.) (2016). Critical Geographies of Sport. Taylor & Francis. Wise, N., & Kohe, G. Z. (2020). Sports geography: new approaches, perspectives and directions, Sport in Society, 23(1), 1–10. doi.10.1080/17430437.2018.1555209.

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5

a preliminary ruling from the Amtsgericht Darm­ stadt. Reference for a preliminary ruling  – Citi­ zenship of the Union  – Articles 18, 21 and 165 TFEU – Rules of a sports association – Participa­ tion in the national championship of a Member State by an amateur athlete holding the nationality of another Member State – Different treatment on the basis of nationality – Restriction on free move­ ment. Case C-22/18. Document 62018CJ0022. ECLI identifier: ECLI:EU:C:2019:497. EU-Kommission. (2007). Livre blanc sur le sport. https://eur-­lex.­europa.­eu/legal-­content/FR/TXT/ PDF/?uri=CELEX:52007DC0391&from=GA. Zugegriffen am 31.08.2022. EU-Kommission. (2018). Special Eurobarometer 472. Sport and physical activity. http://eose.­org/res­ source/special-­eurobarometer-­472-­on-­sport-­and-­ physical-­activity. Zugegriffen am 31.08.2022. Europäische Union. (2007). Vertrag von Lissabon zur Änderung des Vertrags über die Europäische Union und des Vertrags zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft, unterzeichnet in Lissabon am 13. Dezember 2007. Document C2007/306/01. Flensner, K.  K., Korp, P., & Lindgren, E.-C. (2021). Integration into and through sports? Sport-­ activities for migrant children and youths. European Journal for Sport and Society, 18(1), 64–81. https://doi.org/10.1080/16138171.2020.1823689 Gasparini, W. (2011). Un sport européen? Genèse et enjeux d’une catégorie européenne. Savoir/Agir, 15(1), 49–57. Grix, J., & Brannagan, P. M. (2016). Of mechanisms and myths: Conceptualising states’ “Soft Power” strategies through sports mega-events. Diplomacy & Statecraft, 27(2), 251–272. https://doi.org/10.10 80/09592296.2016.1169791 Grix, J., & Houlihan, B. (2014). Sports mega-events as part of a nation’s soft power strategy: The cases of Germany (2006) and the UK (2012). The British Journal of Politics and International Relations, 16(4), 572–596. https://doi.org/10.1111/1467-856X.12017 Hernández, Y. (2020). Pratiques sportives, espaces transfrontaliers et Union européenne : une revue de littérature. In A. Suchet & A. El Akari (Hrsg.), Développement du sport et dynamique des territoires. Expériences internationales comparées (S. 167–180). AFRAPS. Hylton, K., & Lawrence, S. (2015). Reading Ronaldo: Contingent Whiteness in the Football Media. Soccer & Society, 16(5/6), 765–782. https://doi.org /10.1080/14660970.2014.963310 Kobierecki, M. M., & Strožek, P. (2021). Sports mega-­ events and shaping the international image of states: How hosting the Olympic Games and FIFA World Cups affects interest in host nations. International Politics, 58(1), 49–70. https://doi. org/10.1057/s41311-­020-­00216-­w

80

5

B. Köppen und M. Backmeyer

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81

Ökologie und Sport Inhaltsverzeichnis Kapitel 6 Sport und seine ökologischen Auswirkungen – ein Überblick – 83 Thomas Fickert Kapitel 7 Umweltauswirkungen von Skigebieten und Olympischen Winterspielen – 101 Carmen de Jong Kapitel 8 Schneller, höher, ökologischer? Die Auswirkungen von Sportgroßveranstaltungen wie den Olympischen Spielen auf Natur und Umwelt – 119 Boris Braun und Frauke Haensch Kapitel 9 Nachhaltigkeitsziele von Sportgroßveranstaltungen auf der Arabischen Halbinsel: Die Fußball-Weltmeisterschaft der Männer 2022 in Katar – 137 Nadine Scharfenort

II

83

Sport und seine ökologischen Auswirkungen – ein Überblick Thomas Fickert

Mountainbiker an der Fuorcla Surlej (2755 m ü. d. M.) im schweizerischen Engadin. (© Thomas Fickert)

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Gans et al. (Hrsg.), Sportgeographie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66634-0_6

6

Inhaltsverzeichnis 6.1

Das Konfliktfeld Sport und Ökologie – 85

6.2

 kologische Auswirkungen individuell Ö ausgeübter Natursportarten – 87

6.3

L andschaftsverbrauch im Breitensport durch die Bereitstellung von Sportstätten – 91

6.4

 er ökologische Fußabdruck von D Sportgroßveranstaltungen im Profisport – 92

6.5

 ie bidirektionale Beziehung von Sport D und Umwelt – 94

6.6

 azit: Sportökologie als junge Teildisziplin F der Humanökologie – 96 Literatur – 97

85 Sport und seine ökologischen Auswirkungen – ein Überblick

Einleitung Sport ist, wie alle menschlichen Aktivitäten, mit Eingriffen in die Umwelt verbunden. Sie können dabei an die Sportausübung selbst geknüpft sein  – dies ist insbesondere bei Natursportarten der Fall 7 Kap. 3 und 20) –, aber auch der Landschaftsverbrauch bei der Errichtung von Sportstätten oder Sportgroßveranstaltungen mit einem großen ökologischen Fußabdruck stellen umweltrelevante Aspekte dar (Fickert, 2020; 7 Kap.  8, 9, und  22). Auswirkungen des Sports auf die Umwelt werden in jüngerer Zeit unter dem Begriff Sportökologie subsumiert (Seewald et  al., 1998; McCullough et  al., 2020), die als Wissenschaftsdisziplin im Überschneidungsbereich von Sportwissenschaft und Ökologie angesiedelt ist (. Abb. 6.1). Der Begriff wurde im deutschsprachigen Raum Ende der 1990er-­ Jahre von Sportwissenschaftlern der Universität Salzburg in den wissenschaftlichen Diskurs eingeführt (Seewald et  al., 1998). Auslöser war eine seinerzeit zunehmende gesellschaftliche Relevanz des Konfliktfelds Sport und Umwelt. Der deutsche Politikwissenschaftler Graf von Krockow (1984, S. 24) betonte bereits einige Jahr zuvor: „Der Sport stellt in unserer Gesellschaft einen Bereich dar, von dem zunächst einmal feststeht, daß [sic!] er wächst und wächst. Sein Siegeszug scheint unaufhaltsam.“ Peters und Roth (2006) sprechen von einer Versportlichung der Ge­ sellschaft, einer Sportisierung, ja gar von einem sportiven Zeitalter im ausgehenden 20. Jahrhundert. Begründet wird der starke Bedeutungszuwachs des Sports u.  a. mit einem Mehr an zur Verfügung stehender Freizeit sowie einem grundlegenden Wandel im Freizeitverhalten des Menschen: Wurde früher die wenige Freizeit für die Erholung von einer körperlich schweren Arbeit genutzt, steht heute der Wunsch nach sportlicher Aktivität und Erlebnis im Vordergrund. Der Aufschwung, den der Sport im ausgehenden 20. Jahrhundert erfährt, fällt in  



6

eine Zeit zunehmender ökologischer Sensibilisierung der Gesellschaft, weshalb vermehrte Interessenskonflikte zwischen Sport und Umwelt wenig überraschen. Die Sportwissenschaftlerin Hartmann-Tews (1997, S.  5) erkennt Anzeichen dafür, „dass eine bisher unproblematische Beziehung problematisch geworden ist“. Je nach Sportart und Form der Sportausübung (u.  a. organisiert vs. individuell, Amateursport vs. Profisport, Natursport vs. anlagegebundener Sport) zeigt sich hierbei ein breites Spektrum unterschiedlicher Konfliktfelder, die im Folgenden schlaglichtartig beleuchtet werden ­sollen.

6.1 



 as Konfliktfeld Sport D und Ökologie

Die Definition von Ökologie als Wissenschaftsdisziplin geht auf Haeckel (1866, S. 286) zurück: „Unter Oecologie verstehen wir die gesamte Wissenschaft von den Beziehungen des Organismus zur umgebenden Aussenwelt, wohin wir im weiteren Sinne alle ‚Existenz-Bedingungen‘ rechnen können. Diese sind theils organischer, theils anorganischer Natur; sowohl diese als jene sind […] von der grössten Bedeutung für die Form der Organismen, weil sie dieselbe zwingen, sich ihnen anzupassen.“ Im Kern hat sich an dieser Definition bis heute nichts geändert. Es sind die Wechselwirkungen zwischen Organismen und ihrer Umwelt, die im Zentrum der Ökologie stehen, wobei sich je nach Fokussierung Teildisziplinen wie Pflanzenökologie, Tierökologie, Klimaökologie, Stadtökologie, Humanökologie oder eben Sportökologie abgrenzen lassen (. Abb. 6.1). Komplizierter wird es beim Begriff Sport, für den es keine eindeutige, allgemein akzeptierte Definition gibt. Vielmehr wird unter dem Begriff je nach Sichtweise Unterschiedliches verstanden, wie folgender Eintrag im Sportwissenschaft 

T. Fickert

...

Politische Ökologie

Humanökologie

Klimaökologie

Geoökologie

Sportökologie

Ökologie

Sportsoziologie

Sportpädagogik

Sportmedizin

Sportgeschichte

Sportphilosophie

6

...

Sportwissenschaft

Stadtökologie

86

..      Abb. 6.1  Sportökologie als Wissenschaftsdisziplin im Überschneidungsbereich von Sportwissenschaft und Ökologie. Nach Peters und Roth (2006)

lichen Lexikon (Röthig & Prohl, 2003, S. 493 f.) verdeutlicht: „Seit Beginn des 20. Jahrhunderts hat sich Sport zu einem umgangssprachlichen, weltweit gebrauchten Begriff entwickelt. Eine präzise oder gar eindeutige begriffliche Abgrenzung lässt sich deshalb nicht vornehmen. Was im Allgemeinen unter Sport verstanden wird, ist weniger eine Frage wissenschaftlicher Dimensionsanalysen, sondern wird weit mehr vom alltagstheoretischen Gebrauch sowie von den historisch gewachsenen und tradierten Einbindungen in soziale, ökonomische, politische und rechtliche Gegebenheiten bestimmt.“ Nach Röthig und Prohl (2003) ist Sport 55 vorwiegend körperliche Bewegung (motorische Aktivität), 55 das Streben nach körperlicher Leistung, 55 die Optimierung der leiblichen Motorik, 55 sinnhaft auch ohne Fertigung eines Produkts im Rahmen von Gewerbe oder Kunst, 55 von sportartspezifischen, sozial definierten Mustern geprägt. Sport ist demnach ein Überbegriff für das breit gefächerte Repertoire der Bewegungs-, Spiel- und Körperkultur, das in unserer heu-

tigen Gesellschaft existiert (Digel & Burk, 2001). Bei einer Betrachtung der ökologischen Auswirkungen des Sports dürfen daher nicht nur die traditionellen, von einem Regelwerk geleiteten und meist in Mannschaften, Vereinen und Verbänden organisierten (Wettkampf-)Sportarten betrachtet werden, sondern auch bewegungs-, spielund körperkulturelle Aktivitäten, denen solche traditionellen Sportmerkmale fehlen (Peters & Roth, 2006; 7 Kap. 4). Ein so erweiterter Sportbegriff beinhaltet eine Vielzahl von Aktivitäten mit unterschiedlichen Merkmalskombinationen bezogen auf die Zahl der Sporttreibenden, die genutzten Sporträume, die notwendige Sportinfrastruktur, die Wettkampforganisation und/ oder das mediale Interesse, woraus sich unterschiedliche umweltrelevante Effekte ergeben (Fickert, 2020). Ein aus sportökologischer Perspektive wichtiger Punkt ist, dass Sport heute nicht mehr auf Sportanlagen und Sporthallen beschränkt ist, sondern quasi überall betrieben wird: in Parkanlagen, Stadtwäldern und auf Brachflächen im urbanen Raum (Kretschmer & Türk, 2020; 7 Kap. 4 und 21) ebenso wie in Naturräumen, die zuvor nicht oder zumindest nicht so intensiv wie heute sport 



6

87 Sport und seine ökologischen Auswirkungen – ein Überblick

lich genutzt wurden (Digel & Burk, 2001; Peters & Roth, 2006; 7 Kap. 3). Abgesehen von einigen wenigen sportlichen Aktivitäten wie Jogging, Nordic Walking oder Schach, deren ökologische Auswirkungen vernach­ lässigbar sind, hat eine multivariate Analyse basierend auf den angesprochenen unterschiedlichen Merkmalskombinationen aller 71 vom Bundesministerium für Wirtschaft und Technologie (BMWi, 2012) anerkannten Sportarten drei Themenkomplexe mit jeweils eigenen sportökologischen Problemfeldern identifiziert, die  – zugegebenermaßen etwas pointiert  – auf einer Klassifikation sportlicher Aktivitäten in Individual-, Breiten- und Profisport beruhen (Fickert, 2020): 55 Beim Individualsport, unter dem hier Sportarten verstanden werden sollen, die informell und individuell in Raum und Zeit und häufig ohne straffe Organisation in Vereinen betrieben werden  – hierzu zählen vor allem die Natur- oder Outdoor-Sportarten –, resultieren die ökologischen Auswirkungen aus der Sportausübung selbst, weil sie nicht selten in sensiblen Naturräumen ausgeübt werden (7 Abschn. 6.2; 7 Kap. 3). Hier kann es zu unmittelbaren Auswirkungen des Sporttreibens auf Natur und Umwelt kommen, u.  a. durch Störung von Flora und Fauna, durch verstärkte Erosion oder Umweltverschmutzung (Monz et al., 2009). 55 Beim Breitensport, der in der Regel in Vereinen organisiert ist und eine große Anzahl aktiver Sportlerinnen und Sportler aufweist, ist Flächenversiegelung und ein generell hoher Landschaftsverbrauch für die Errichtung von Sportstätten inklusive der angegliederten Infrastruktur oder die Verwendung umweltbelastender Stoffe beim Bau aus ökologischer Sicht kritisch zu betrachten (7 Abschn. 6.3). 55 Beim Profisport, bei dem der Wettkampfgedanke im Vordergrund steht und der sich mittlerweile zu einem globalen, umsatzstarken Geschäft entwickelt hat, rufen  







Sportgroßveranstaltungen mit hohen Zuschauerzahlen einen großen ökologischen Fußabdruck hervor (7 Abschn.  6.4; 7 Kap. 8 und 9).  



Zweifellos bestehen fließende Übergänge, etwa wenn auch im leistungsorientierten Amateursport Wettkämpfe ausgetragen werden, Sportgroßveranstaltungen nicht selten mit Landschaftsverbrauch in Verbindung stehen oder wenn sich eine Individualsportart im Laufe der Zeit zu einem Breiten- und/ oder Profisport entwickelt, beispielsweise Sportklettern, das 2021  in Tokio erstmals olympische Disziplin war (Beste et al., 2020). Für einen Überblick der vielfältigen Zusammenhänge zwischen Sport und Umwelt mag eine derartige Vereinfachung aber nützlich sein. Motorsport wird hier bewusst ausgeklammert, weil er „in jedem Fall als ökologische bedenklich einzustufen [ist] (es gibt keinen umweltfreundlichen Motorsport)“ (Seewald et al., 1998, S. 162), und sportökologische Ansätze für eine umweltverträgliche Sportausübung hier nicht greifen.

6.2 

Ökologische Auswirkungen individuell ausgeübter Natursportarten

Unter Natursportarten sollen hier sportliche Aktivitäten verstanden werden, die im Wald, auf Flüssen und Seen, an Felsen, in der Luft oder am Meer ausgeübt werden (7 Kap. 3). Sie setzen keine sportspezifische bauliche Infrastruktur voraus (Schemel & Erbguth, 2000; BMWi, 2012), womit sie sich von anderen im Freien betriebenen Sportarten wie Tennis, Fußball oder Golf unterscheiden. Das sportliche Ziel liegt i. d. R. nicht im Besiegen eines Gegners, vielmehr stellt die Natur die sportliche Herausforderung (Wellen, Stromschnellen, Topographie, Felsstruktur etc.). Wenn auch in vielen Natursportarten heute der Wettkampfgedanke Einzug gehalten hat, bleibt doch für einen  

88

1.800.000 1.600.000 1.400.000 1.200.000 1.000.000 800.000 600.000 400.000 200.000 0

19 6

8 19 71 19 74 19 77 19 80 19 83 19 86 19 89 19 92 19 95 19 98 20 01 20 04 20 07 20 10 20 13 20 16 20 20

9.000 8.000 7.000 6.000 5.000 4.000 3.000 2.000 1.000 0

Anzahl DAV-Mitglieder

Anzahl Naturschutzgebiete

T. Fickert

Jahr

6

..      Abb. 6.2 Anzahl ausgewiesener Naturschutzgebiete in Deutschland (rote Balken) und Entwicklung der Mitgliederzahlen des Deutschen Alpenvereins (DAV) (schwarze Linie, Proxy für die Zahl Natursporttreibender). Der DAV ist einer der größten Natur-

sportverbände Deutschlands, dessen Kernsportarten Wandern, Bergsteigen, Klettern, Skibergsteigen und Mountainbiken, inklusive ihrer Ausdifferenzierungen, in den letzten Jahrzehnten einen starken Zulauf erfahren haben. (Nach Statista, 2022; DAV, o. J.)

Großteil der Aktiven das Naturerlebnis die zentrale Motivation für die Sportausübung (Schemel & Erbguth, 2000; Liedtke, 2005). Natursportarten haben in den letzten Jahrzehnten einen enormen Boom erlebt, wofür u. a. die gestiegene Mobilität, die Individualisierung von Lebensstilen und die bewusste Suche nach Gegenräumen zu den meist urbanen Alltagsräumen der Sporttreibenden eine Rolle spielt. Parallel zum Boom der Natursportarten erfolgt seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts mit wachsendem Umweltbewusstsein in Gesellschaft und Politik eine verstärkte Ausweisung von Naturschutzgebieten in Deutschland (. Abb. 6.2), wodurch einem immer größer werdenden Personenkreis, der Freizeitaktivitäten in der Natur nachgeht, immer weniger Raum zur Verfügung steht (Hammerich, 1994). Die heute existierenden Natursportarten lassen sich auf einige wenige traditionelle Sportarten zurückführen (u.  a. Skilaufen, Bergsteigen, Radfahren; Fickert, 2020). Die starke Ausdifferenzierung der Natursportarten sowie die starke Zunahme aktiver Sportlerinnen und Sportler haben die Nutzungsintensität – räumlich wie zeitlich – verändert. Zum einen werden immer neue

Sporträume erschlossen, zum anderen werden auch neue Zeiträume, die zuvor anderen Gruppen (Jagd, Waldbau, Forst) vorbehalten oder völlig ungenutzt waren, für die Sportausübung herangezogen (tageszeitlich: abends, zur Dämmerungsphase; saisonal: Ausweitung der Sportausübung in Jahreszeiten mit vorher geringer Frequentierung). Je nach Sportart zeigen sich hierbei unterschiedliche ökologische Problemfelder, z.  B. beim Kanusport Störungen der Fisch- und ufernahen Vogelpopulationen sowie Verschleppung invasiver Arten, beim Schn­ eeschuhwandern und Skibergsteigen Störungen von Tieren in einer für sie ohnehin schwierigen Jahreszeit, beim Klettersport am Naturfels Beeinträchtigungen von Felsbrütern oder der speziell angepassten Felsvegetation oder beim Downhill-Biken (Kapi­ teleröffnungsbild) verstärkte Bodenerosion. Eine problematische aktuelle Entwicklung stellt die zunehmende Nutzung von E-Mou­ ntainbikes dar, zum Beispiel in den Alpen oder in den höheren Mittelgebirgen Deutschlands. Sie gelten als normale Fahrräder, ermöglichen aber mit Motorkraft, die je nach Wahl das Drei- bis Fünffache der Eigen-



89 Sport und seine ökologischen Auswirkungen – ein Überblick

6

Natursport als ökologischer Faktor Nutzungsintensität

räumliche und zeitliche Verteilung der Nutzung

Art der Aktivität

Stressfaktoren Umwelteingriffe

biotische Störungen

Einschleppung invasiver Arten

Bodenerosion, Wasser-, Luftund Bodenverschmutzung, Lärm, Licht, Feuer

Vegetation, Tierwelt

ökosystemare Reaktionen Veränderung der biotischen Umwelt

Veränderung der physischen Umwelt

Artenzusammensetzung in Tier- und Pflanzengesellschaften, Populationsgröße und -verbreitung, Art-Interaktionen

Bodenabtrag, Boden-, Luft- und Wasserqualität, Geräuschkulisse

..      Abb. 6.3  Natursport als ökologischer Faktor. (Nach Monz et al. 2009; Fickert 2020)

leistung ausmacht, Zugang in bisher dem Wanderer und Bergsteiger vorbehaltene Regionen, wo es zu umweltrelevanten Beeinträchtigungen kommen kann (Beste et  al., 2020). Die genannten Aspekte decken keineswegs das gesamte Spektrum möglicher sportinduzierter Störungen in der Natur ab, sie zeigen aber e­xemplarisch, dass der Natur­ sport zu einem ökologischen Faktor geworden ist (. Abb. 6.3; Monz et  al., 2009; Fickert, 2020; 7 Kap. 3). Störungen und Stresseinflüsse haben Veränderungen der biotischen und abiotischen Umwelt zur Folge, wobei die Reaktionen je nach Art und/oder Ökosystem unterschiedlich ausfallen. Den in . Abb. 6.4 dargestellten Unterschieden ökosystemarer Reaktionsweisen auf natursportinduzierten  





Stress sollte bei der Entwicklung von Lösungsansätzen für eine umweltverträgliche Ausübung von Natursportarten Rechnung getragen werden, denn ein generelles Ausschließen des Menschen aus der Natur darf nicht das Ziel des Naturschutzes sein. Während in Naturschutzgebieten im buchstäblichen Sinn der Schutz der Natur Vorrang vor allen anderen Formen der Nutzung hat, sollte in Bereichen mit einem weniger strengen oder gar fehlendem Schutzstatus eine (gelenkte) Ausübung von Natursport möglich sein. Ein Naturschutz, der den Menschen als „etwas grundsätzlich Unnatürliches, Naturfremdes oder gar als eine Fehlentwicklung der Natur“ (Reichholf, 2011, S. 35) aus der Natur aussperren will, geht an der Realität vorbei und ist unter Umständen

90

T. Fickert

Negativ exponentielle Reaktion auf steigende Nutzungsintensität, z. B. Vegetationsveränderungen, die sich bereits bei geringer Nutzungsintensität rasch verstärken.

zunehmende Nutzungsintensität Sigmoidale (S-förmige) Reaktion auf steigende Nutzungsintensität, z. B. trittresistente Vegetation, die ein gewisses Maß an Störungstoleranz anzeigt.

zunehmende Nutzungsintensität Abrupte Reaktion auf steigende Nutzungsintensität, z. B. Fluchtreflex bei Tieren. Die gestrichelte Linie deutet Rückkehr der Tiere nach Wegfall der Störung an.

zunehmende Nutzungsintensität Fehlende Reaktion auf steigende Nutzungsintensität, z. B. störungsresistente unbewachsene Felsflächen, auf denen selbst intensive Nutzung kaum negative Effekte hat.

zunehmende Auswirkungen

6

Positiv exponentielle Reaktion auf steigende Nutzungsintensität, z. B. Bodenerosion. Die gestrichelte Linie zeigt eine neue Ausgangslage bei starkem Bodenverlust an.

zunehmende Auswirkungen

Lineare Reaktion auf steigende Nutzungsintensität, z. B. anthropogen bedingte Kolibakterien-Konzentration in aquatischen Ökosystemen.

zunehmende Nutzungsintensität

zunehmende Nutzungsintensität

zunehmende Nutzungsintensität

..      Abb. 6.4  Hypothetische ökologische Reaktionsweisen auf natursportinduzierte Störungen. Nach Monz et al. (2009)

sogar kontraproduktiv, weil sich der Mensch immer weiter von der Natur entfremdet, anstatt für Naturschutzbelange sensibilisiert zu werden. Der Mensch ist Teil der Natur, und der „Naturschutz hat als Treuhänder zu wirken. Im besten Sinne für die Menschen und für die Natur, nicht gegen beide“ (Reichholf, 2011, S. 230). Ziel muss es daher sein, differenzierte zeitliche und räumliche Lenkungs-

konzepte zu entwickeln, um eine möglichst umweltverträgliche Sportausübung in der Natur zu gewährleisten. Die Akzeptanz solcher manchmal mühsam zwischen Interes­ senvertreterinnen und Interessenvertretern von Natursport und Naturschutz ausgehan­ delten Kompromisse steigt, wenn die Zusammenarbeit der beiden Seiten respektund vertrauensvoll abläuft.

91 Sport und seine ökologischen Auswirkungen – ein Überblick

6.3 

Landschaftsverbrauch im Breitensport durch die Bereitstellung von Sportstätten

anlagen eingenommenen wird, liegen nicht vor. Zieht man aber die hohe Zahl an Sportstätten (. Abb.  6.5) und deren durchschnittliche Größe in Betracht, ist von einem erheblichen Flächenbedarf auszugehen, der grob überschlagen mindestens 3.000 km2 erreicht. Einen besonders hohen Flächenbedarf unter den anlagegebundenen Sportarten hat der Golfsport. Ein 18-Loch-Golfplatz mittlerer Größe nimmt inklusive Infrastruktur (Gebäude, Parkplatz) 60–80 ha ein, es existieren aber auch Golfplätze mit über 100  ha Fläche. Bei über 700 Golfplätzen in Deutschland errechnet sich allein für den Golfsport ein Flächenverbrauch von über 500 km2, eine Fläche doppelt so groß wie die Stadt Frankfurt am Main. Golfplätze brauchen aber nicht nur Platz, sie tragen auch zur Fragmentierung der gewachsenen Kulturlandschaft bei und erfordern häufig das Einbringen fremder, trittresistenter Grasarten sowie einen hohen Pestizideinsatz. Nicht zuletzt führt die intensive Bewässerung der Rasenflächen zu einem hohen Wasserverbrauch, was im Zuge häufigerer und länger an 

Neben dem Schulsport ist insbesondere der vereinsgebundene Breitensport auf Sportanlagen angewiesen. Eine Bestandsaufnahme des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technologie für das Jahr 2012 belegt 136.754 Sporteinrichtungen in Deu­ tschland (BMWi, 2012; . Abb.  6.5). Auf 500 Einwohner kommt damit ungefähr eine Sportstätte. Diese hohe Dichte in Deutschland geht auf den Goldenen Plan zurück, mit dem die Deutsche Olympische Gesellschaft (DOG) zu Beginn der 1960er-Jahre eine flächendeckende Versorgung der Bevölkerung mit Sporteinrichtungen gewährleisten wollte (7 Kap.  21). Mit der Bereitstellung finanzieller Mittel von Bund und Ländern wurde damals der Ausbau der Sportinfrastruktur in Deutschland enorm vorangebracht. Exakte Angaben zur Gesa­ mtfläche, die in Deutschland von Sport 



Sportanlagen in Deutschland Schießsportanlagen Eishallen 120

ungedeckte Anlagen

15.000

Tennisanlagen 13.040 Bäder

6

7.499

66.462

Großsporthallen 78 35.438 Sporthallen

..      Abb. 6.5  Anzahl von Sportanlagen in Deutschland. (Nach BMWi 2012)

92

6

T. Fickert

haltender Dürrephasen im Zuge des Klimawandels hydrologische Probleme hervorrufen kann. Golfplätze sollten aber nicht grundsätzlich verurteilt werden. Wenn ökologische Aspekte bei der Planung berücksichtigt werden und Areale naturbelassen bleiben, können Golfplätze in intensiv genutzten, stru­ kturarmen Agrarlandschaften sogar eine Verbesserung für Arten- und Lebensgemeinschaften und eine ökologische Aufwertung herbeiführen (Seewald et al., 1998). Eine weitere flächenintensive Breitensportart mit einem großen ökologischen Fußabdruck ist der alpine Skisport (7 Kap. 7). Der Wintersporttourismus ist einer der bedeutendsten Wirtschaftszweige im Alpenraum, zugleich trägt er aber durch Rodung, Verschmutzung und Kunstschneeprodu­ ktion maßgeblich zur Naturbeeinträcht­ igung dort bei. Bereits heute existieren in den Alpen 30.000 Pistenkilometer, die von 11.000 Seilbahnen und Liften bedient werden; ein Ende der Erschließung ist dennoch nicht in Sicht. Aus ökologischer Sicht besonders problematisch sind hoch gelegene Mega-Skiresorts, die in den sensiblen Hochregionen zu Zerschneidung von Ökosystemen, Habitatverlusten von Flora und Fauna sowie Vertreibung von Wildtieren führen. Kleinere Skigebiete in tieferen Lagen, die weitaus nachhaltiger betrieben werden könnten, fallen der nachlassenden Schneesicherheit und dem Konkurrenzdruck der expandierenden Mega-Skigebiete zum Opfer. Die Erschließung der Hochlagen für den Skisport ist mit gravierenden Eingriffen in den Naturraum verbunden. Durch Reliefkorrekturen für die Anlage von Pisten, die Installation von Rohrleitungen und Speicherseen für die künstliche Beschneiung sowie den Bau von Straßen, um die Erschließung überhaupt ­durchführen zu können, wird die Hochgebirgslandschaft völlig umgebaut (de Jong, 2020; 7 Kap. 7). Ein Ausbau der Infrastruktur für die künstliche Beschneiung findet heute selbst dort noch statt, wo aufgrund des Klimawandels in absehbarer Zeit die klimatischen Be 



dingungen für eine Kunstschneeproduktion nicht mehr gegeben sein werden. Diese zunächst irrational erscheinende Tatsache beruht darauf, dass die kalkulierten Amorti­ sationszeiten der Betreiber bei zehn bis 20 Jahren liegen. Investoren interessiert nur der prognostizierte Temperaturanstieg innerhalb solch kurzer Zeiträume. Die weitere Erschließung wird daher noch eine ganze Weile anhalten. Dabei existieren durchaus alternative Modelle, wie es im Salzburger Skigebiet Gaißau-­Hintersee vorgemacht wird. Nach Konkurs des kleinen, talnah gelegenen Skigebiets entstand hier ein Skitourenpark mit Parkraumbewirtschaftung, Besucherlenkung und Erhalt der lokalen Gastronomie, sodass eine lokale Wertschöpfung gegeben ist, obwohl die Lifte stillstehen.

6.4 

Der ökologische Fußabdruck von Sportgroßveranstaltungen im Profisport

Sportgroßveranstaltungen sind für austragende Städte und Regionen sowie die verantwortlichen Sportverbände ökonomisch und gesellschaftlich bedeutsame Spektakel (Gans et  al., 2003; Streppelhoff & Pohlmann, 2020; 7 Kap. 8, 9 und 22). Als Großereignisse gelten dabei solche mit über 10.000 Zuschauerinnen und Zuschauern, mit über 5.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmern sowie solche mit einer besonderen sportbezogenen Bedeutung (Welt- und Europameisterschaften, Copa América, Olympische Spiele, Weltcups etc.). Umweltrelevant ist bei Sportgroßveranstaltungen vor allem der hohe Energieverbrauch und damit der große CO2-Fußabdruck. Die Olympischen Sommerspiele in Rio de Janeiro 2016, die als die am wenigsten nachhaltigen Sommerspiele aller Zeiten gelten (Müller et al., 2021), hatten beispielsweise einen Ausstoß von 4,5 Mio. Tonnen CO2 (Rio 2016 Carbon Footprint Report,  

93 Sport und seine ökologischen Auswirkungen – ein Überblick

Durchführung • An- und Abreise • Energie • Versorgung • Unterkunft • Sicherheit • Müll

470

veranstaltungsbezogene Baumaßnahmen • Sportstätten • Trainingsstätten • sonstige

Baumaßnahmen für bleibende Infrastruktur • ÖPNV • Stadterneuerung

720

6

Zuschauerinnen und Zuschauer • Transport • Übernachtung • Merchandising • Versorgung

2.490

870

..      Abb. 6.6 CO2-Fußabdruck der Olympischen und Paralympischen Spiele in Rio de Janeiro 2016  in Kilotonnen CO2-Äquivalenten. (Nach Rio 2016 Carbon Footprint Report 2016)

2016). Der CO2-Fußabdruck setzt sich dabei aus der Errichtung der notwendigen Sportund sonstigen Infrastruktur, der Durchführung der Veranstaltung und den durch das Publikum verursachten direkten und indirekten Emissionen zusammen, wobei letztere mehr als die Hälfte der gesamten CO2-Bilanz ausmachen (. Abb. 6.6). Neben der An- und Abreisemobilität der Zuschauermassen und des Teilnehmerfelds (inklusive der begleitenden Entourage aus Trainerinnen und Trainern, Medizinerinnen und Medizinern etc.) tragen Baumaßnahmen zu einem hohen CO2-Fußabdruck bei Sportgroßveranstaltungen bei, insbesondere wenn alle Wettkampfstätten neu errichtet werden müssen (7 Kap. 8 und 22). Bewerber, die auf eine bestehende Sport­ infrastruktur zurückgreifen könnten, zwingt nicht selten massiver Widerstand aus der Bevölkerung, von einer Bewerbung Abstand zu nehmen  – siehe Münchens Interesse für die Olympischen Winterspiele 2022 –, während aufgrund fragwürdiger Vergabeverfahren der verantwortlichen Organisationen (FIFA, IOC etc.) immer häufiger autokratisch geführte Länder den Zuschlag erhalten, selbst bei wenig geeigneten Rahmen 



bedingungen und fehlenden Sportstätten (7 Kap.  9). Wintersportgroßereignisse sind hier besonders kritisch zu sehen, weil deren Wettkämpfe zum Großteil in der Natur stattfinden. Die Winter-Olympiade 2014 im russischen Schwarzmeerküstenresort Sotschi (Scharr et al., 2020) steht mit den hier erfolgten großflächigen Landschaftsumge­ staltungen exemplarisch für diese ungute Entwicklung. Wintersport war hier zuvor weitgehend unbekannt. Es mussten alle Pisten, Stadien etc. sowie z.  T. auch die begleitende Infrastruktur (Autobahn, Bahnstrecke, Energieversorgung, Hotels, olympisches Dorf etc.) mit hohem Ressourcen- und Landschaftsverbrauch neu errichtet werden – selbst vor Schutzgebieten machte die Erschließung nicht halt. Nach Müller et al. (2021) stellen die Olympischen Winterspiele in Sotschi das Pendant zu Rio als die am wenigsten nachhaltige Winterolympiade aller Zeiten dar. Die Vorstellung, Sportgroßveranstal­ tungen ohne ökologische Auswirkungen abzuhalten, ist utopisch. „Keine Umweltauswirkungen haben nur Veranstaltungen, die nicht stattfinden. Für den Sport darf und kann dies aber nicht die Konsequenz sein“,  

94

6

T. Fickert

wie Schmied (2011, S.  9) treffend anmerkt. Dennoch gibt es Strategien, die für mehr Nachhaltigkeit bei Sportgroßereignissen sorgen können, und auch das International Olympic Committee (IOC) hat 1994 „Umwelt“ neben „Sport“ und „Kultur“ als dritte Dimension in der Olympischen Charta verankert. Folgende Aspekte sollten im Vergabeverfahren und bei der Planung von Sportgroßveranstaltungen eine Rolle spielen: 55 Berücksichtigung der Umweltverträglichkeit bei der Standortwahl 55 Hohe sportfachliche und bewerbungsbezogene Grundeignung des Standorts 55 Vermeidung bzw. Minimierung von Eingriffen in Schutzgebiete/Biotopflächen 55 Reduzierung von Flächenverbrauch in Natur und Landschaft, u.  a. durch die Nutzung vorhandener Sportstätten 55 Konzepte zu einer Folgenutzung Zudem sollten praktische Maßnahmen ergriffen werden, um negative ökologische Auswirkungen von Sportgroßveranstaltungen zu minimieren. Durch die Verwendung von Regen- und Oberflächenwasser konnte beispielsweise bei der FIFA WM 2006  in Deutschland der Verbrauch von Trinkwasser um 20 % reduziert werden. Das hohe Abfallaufkommen lässt sich durch unverpackte Speisen oder die Verwendung recyclingfähiger Materialien und entsprechender Abfalltrennsysteme reduzieren. Und durch Förderung des ÖPNV und damit der Reduzierung des Individualverkehrs sowie durch energiesparende Maßnahmen beim Betrieb der Veranstaltungsstätten selbst (z.  B.  Flutlicht) lässt sich der CO2-Fußabdruck signifikant verkleinern.

6.5 

 ie bidirektionale Beziehung D von Sport und Umwelt

Bisher wurden primär Auswirkungen des Sports auf die Umwelt thematisiert. Zu Recht wurde jedoch jüngst darauf hingewiesen, dass auch die Umweltbedingungen Einfluss auf die Sportausübung haben, das Beziehungsgeflecht von Sport und Umwelt folglich ein bidirektionales Phänomen ist (McCullough et al., 2020; Orr et al., 2022). Eines der zentralen Themen unserer Zeit ist der anthropogene Klimawandel, und der Sport ist Leidtragender und (Mit-)Verursacher zugleich. Obwohl der Sport auf vielfältige Weise Teil des CO2-Problems ist (Paquito et  al., 2021), hat eine ernsthafte Auseinandersetzung mit den Effekten des Sports auf Klima und Klimaschutzziele in den Sportwissenschaften bislang kaum stattgefunden (Abu-Omar & Gelius, 2020; Schneider & Mücke, 2021). Dabei wird es höchste Zeit, auch im Sport eine Klimaagenda zu etablieren, um eine Reduktion des sportinduzierten CO2-Ausstoßes zu erreichen (Abu-Omar & Gelius, 2020; Paquito et al., 2021). Hier ist ein großes Potenzial für Einsparungen gegeben, allerdings steckt die Entwicklung von Klimaschutzstrategien im Sportbereich noch in den Kinderschuhen. Ein signifikanter Beitrag zur Verkleinerung des CO2-­Fußabdrucks würde z. B. geleistet, wenn Sportgroßveranstaltungen nur noch an Austragungsorte vergeben würden, die von den klimatischen Rahmenbedingungen her auch geeignet sind. Bewerber, die Austragungsstätten mit hohem Energie- und Ressourcenaufwand kühlen müssen (Leichtathletik WM in Doha 2019, Fußball WM in Katar 2022; 7 Kap. 9) oder, wie im Falle der Olympischen Winterspiele in Peking 2022, zur Durchführung der Wettkämpfe im gro 

95 Sport und seine ökologischen Auswirkungen – ein Überblick

ßen Stil Kunstschnee produzieren müssen (7 Kap.  7), würden in Zukunft leer ausgehen, zum Nutzen des globalen Klimas. CO2-Einsparungspotenziale im Sport bleiben aber nicht auf Sportgroßereignisse beschränkt, denn auch im Breiten- und Individualsport lassen sich Klimaschutzmaßnahmen etablieren, etwa durch die energetische Sanierung von Sportstätten oder durch die Nutzung klimafreundlicher Anund Abfahrtsmöglichkeiten. Dass der Sport zugleich Leidtragender des Klimawandels ist (Paquito et  al., 2021; Schneider & Mücke, 2021), wird wohl am offensichtlichsten am Beispiel des Wintersports, wo die nachlassende Schneesicherheit den alpinen und den nordischen Skilauf vielerorts beeinträchtigt, die Saison verkürzt und ökonomische Einbußen im Wintersporttourismus mit sich bringt (Knowles et al., 2020). Weniger offensichtlich sind die Auswirkungen des Klimawandels auf den Sommersport, wo in erster Linie gesundheitliche Beeinträchtigungen der Sporttreibenden aufgrund steigender Temperaturen zu nennen sind (Jurbala & Mallen, 2020). Schäden an Sportstätten durch klimatische Extremereignisse oder die Absage von Sportereignissen wegen ungeeigneter Witterungsbedingungen (Hitze, Starkregen, Sturm; Orr et al. 2022) sind weitere kostenintensive Folgen des Klimawandels für den Sport. Nicht zuletzt wird sich der Klimawandel auch auf Sportgroßereignisse im Spitzensport auswirken. Einer Analyse von Scott et al. (2019) zufolge werden von den 21 Austragungsorten der vergangenen Olympischen Winterspiele im Jahr 2080 nur noch zwölf klimatisch geeignet sein, selbst unter günstigen Emissionsszenarien. Einen ähnlichen Trend belegen Smith et al. (2016) für die Olympischen Sommerspiele. Ihre Modellierung hat gezeigt, dass ein Großteil der infrage kommenden Metropolen im Jahr 2080 für eine Durchführung schlicht zu heiß  

6

sein wird, darunter die drei Bewerber für die Olympischen Sommerspiele 2020, Tokio, Istanbul und Madrid. Ein anderes aktuelles Thema mit sportökologischen Auswirkungen  – positiven wie negativen  – war die weltweite Corona-­ Pandemie. Aufgrund von Kontakt- und Reisebeschränkungen blieben zu Beginn der Pandemie Fußballstadien über längere Zeiträume leer, und auch die Olympischen Spiele von Tokio im Sommer 2021 und Peking im Winter 2022 fanden vor leeren Rängen statt. Ruft man sich den CO2-­Fußabdruck in Erinnerung, der durch die An- und Abreisemobilität sowie Konsum des Publikums bei Sportgroßereignissen generiert wird, lässt sich die Menge des eingesparten Kohlenstoffdioxids erahnen (Mastromartino et al., 2020). Und auch im Breitensport konnten aufgrund geschlossener Sportstätten die sportbedi­ ngten Treibhausgasemissionen deutlich reduziert werden, u.  a. durch nicht erforderliche Klimatisierung sowie verringerte Mobil­ ität der Sporttreibenden. Die Phase geschlossener Sportstätten, Fitnessclubs und Sportplätze ging allerdings auch mit einem signifikanten Rückgang von Freizeitsport in der deutschen Bevölkerung einher (Mutz & Gerke, 2020), was aus sportsoziologischer und gesundheitlicher Perspektive sicher nicht positiv zu bewerten ist. Wenn überhaupt, wurde Sport entweder zu Hause oder aus Infektionsschutzgründen in der Natur betrieben (Mutz & Gerke, 2020; 7 Kap. 21). Dieser pandemiebedingte Ansturm auf die heimische Natur – generell, aber auch aus einer sportlichen Motivation heraus (Weinbrenner et al., 2021) –, führte zu Problemen sowohl aus ökologischer (Zunahme ökosystemarer Störungen) als auch aus gesellschaftlicher Perspektive (Müll, Lärm, Parkraumüberlastung). Ferner verstärkten sich durch den Besucherandrang bereits zuvor bestehende Konflikte zwischen unterschiedlichen Nutzergruppen, z.  B. zwischen Wanderern und Mountainbikern.  

96

6.6 

6

T. Fickert

 azit: Sportökologie als junge F Teildisziplin der Humanökologie

Eine integrative Sportökologie, die sich mit den facettenreichen Zusammenhängen und Interaktionen von Sport und Umwelt beschäftigt, stellt eine junge, aber zunehmend wichtiger werdende Sparte der Humanökologie dar. Dieser Bedeutungszuwachs drückt sich auch in einer wachsenden Anzahl an Publikationen aus. Als hochaktuelle, sportökologisch relevante Handlungsfelder können folgende identifiziert werden: 55 Energiewende und Klimaschutz: Der Sport als Betroffener und Verursacher des Klimawandels wird nicht umhinkommen, seinen Beitrag zum Klimaschutz zu leisten, u. a. durch die Reduzierung der durch Sport verursachten CO2-­Emissionen im Individualsport z. B. bei der An- und Abreisemobilität, im Breitensport z. B. durch die energetische Sanierung von Sportstätten und im Spitzensport z.  B. durch nachhaltigere Sportgroßveranstaltungen und begrenzte Rotation der Olympischen Winter- und Sommerspiele zwischen einigen wenigen, auch in Zukunft noch geeigneten Austragungsorten (Müller et al., 2021). 55 Naturschutz und Biodiversität: Sportliche Aktivitäten in der Natur und Naturschutz sind zwei Seiten der gleichen Medaille. Für Vertreter der jeweiligen Seite ist Achtung der Natur gemeinsames Zeichen ihrer Wertorientierung, nur: „Für die einen soll Natur dem Menschen Freude bereiten und zu Aktivität anreizen, für die anderen ist die Natur vor dem Menschen zu schützen“ (Hammerich, 1994, S.  21). Dieser Interessenskonflikt kann bei entsprechender Komp­ romissbereitschaft entschärft werden, denn bei Natursportlern ist grundsätzlich ein Verständnis für Naturschutzbelange zu erwarten. Der Erlebniswert

des Natursports wird maßgeblich von einer intakten Natur bestimmt; sie gilt es zu erhalten. Eine respekt- und vertrau­ ensvolle Zusammenarbeit von Sportverbänden und Naturschutzbehörden kann dazu beitra­gen, negative Auswirkungen des Sporttreibens in der Natur zu reduzieren und die Akzeptanz getroffener Kompromisse zu erhöhen. 55 Sport in der Stadt: In Zukunft wird Sport nicht mehr nur an traditionellen Sportstätten stattfinden, sondern immer stärker von Sportgelegenheiten, also informellen Sportflächen wie Parks, Plätzen und Wegen Gebrauch machen (Kretschmer & Türk, 2020; 7 Kap. 21). Diese informelle Raumaneignung hat wichtige Implikationen für die Stadtplanung zur Folge, ist aus Klimaschutzgründen aber durchaus positiv zu werten, weil mit Emissionen verbundene Anfahrten zum Sporttreiben reduziert werden.  

Eine inter- bis transdisziplinär ausgerichtete Sportökologie kann wichtige Beiträge zu den angesprochenen Themenfeldern im Kontext von Sport, Umwelt und Ökologie liefern und zu einer Versachlichung der oft von Missverständnissen und Vorurteilen überschatteten Diskussion der Sport-­Umwelt-­Beziehungen beitragen. Und sie kann Ansätze liefern, um bestehende Konfliktfelder zu minimieren und den Weg für einen umweltverträglichen Sport zu ebnen. ? Übungs- und Reflexionsaufgaben 1. Sport und Umwelt stehen in einer bidirektionalen Beziehung zueinander. Beschreiben Sie dieses Phänomen am Beispiel des Klimawandels und entwickeln Sie Strategien, die eine klimafreundliche ­Sportausübung auf Ebene des Individual-, des Breitenund des Profisports in Zukunft fördern könnten.

97 Sport und seine ökologischen Auswirkungen – ein Überblick

2. Die Corona-Pandemie hat massive Auswirkungen auf das gesellschaftliche Leben in Deutschland, auch auf den Individual-, den Breitenund den Profisport. Sportökologisch lassen sich dabei negative und positive Effekte feststellen. Diskutieren Sie diese kritisch.

Zum Weiterlesen empfohlene Literatur Aktuelle englischsprachige Bestandsaufnahme zum Thema Sport, Umwelt und Nachhaltigkeit, wobei nicht nur Auswirkungen des Sports auf die Umwelt, sondern auch umgekehrt Auswirkungen von Umweltveränderungen auf den Sport behandelt werden: Dingle, G., & Mallen, Ch. (2020). Sport and environmental sustainability: Research and strategic management. Routledge. Sportgeographische Auseinandersetzung mit Raumwirksamkeit von und Raumaneignung durch Sport: Peters, C., & Roth, R. (2006). Sportgeographie  – Entwurf einer Systematik von Sport und Raum (Schriftenreihe Natursport und Ökologie, 20). Institut für Naturschutz und Ökologie, Deutsche Sporthochschule Köln. Grundlagenwerk zu Zusammenhä­ ngen von Sport und Ökologie, wobei eher eine geisteswissenschaftliche als eine naturwissenschaftliche Perspektive im Vordergrund steht: Seewald, F., Kronbichler, E., & Größing, S. (1998). Sportökologie. Eine Einführung in die Sport-Natur-Beziehung. UTB.

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99 Sport und seine ökologischen Auswirkungen – ein Überblick

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101

Umweltauswirkungen von Skigebieten und Olympischen Winterspielen Carmen de Jong

Beschneite Pisten für die alpinen Abfahrten in Yanqing, Olympische Winterspiele von Peking 2022. (braune Flächen im Hintergrund: Erosion; grüne Flächen und graue Mauern: Hangstabilisierung), Februar 2021. (© REUTERS/Tingshu Wang)

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Gans et al. (Hrsg.), Sportgeographie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66634-0_7

7

Inhaltsverzeichnis 7.1

Kunstschnee und Klimawandel – 103

7.2

Umweltauswirkungen von Skigebieten – 104  asserbedarf und Speicherbecken – 104 W Wasserqualität und Wasserverbrauch – 105 Nachhaltigkeit und Naturrisiken – 106 Böden und Vegetation – 107 Lichtverschmutzung – 108

7.3

 lympische Winterspiele und das Dilemma O des Naturschutzes – 108

7.4

 mweltrecht und Umweltschutz versus U Ausnahmeregelungen – 113 Literatur – 115

7

103 Umweltauswirkungen von Skigebieten und Olympischen Winterspielen

Einleitung Die Frage der Nachhaltigkeit von Wintersportgebieten und Standorten der Olympischen Winterspiele hat durch den Klimawandel in den Bereichen Wasser, Energie, Landschaft und Licht neue Dimensionen erreicht (7 Kap.  8). Viele Umweltprobleme bedrohen, zum Teil irreversibel, durch Übernutzung und Verschmutzung von natürlichen Ressourcen die Nachhaltigkeit von Wintersportgebieten (de Jong, 2020). Insbesondere werden die fehlenden Schneefälle und geringeren Schneehöhen immer systematischer durch Kunstschnee kompensiert. Die Situation wird infolge von Dürren und unzureichenden winterlichen Wasserressourcen zunehmend kritischer. Lokale Wasserressourcen und -qualität werden zunehmend belastet und Böden erosionsanfällig, und die Biodiversität wird vermindert. Wasser- und Energieverbrauch haben zum Teil die Grenzen der Nachhaltigkeit überschritten. Viele Skigebiete werden mit zahlreichen neuen Problemen konfrontiert, z.  B. mit Lichtverschmutzung durch Nachtskifahren. Umweltmonitoring und Kontrollen sind oft intransparent oder selbstreguliert. Rechte und Regulierungen zum Management von Wasser und Umweltschutz sollten verstärkt angewandt und vollzogen werden. In Zukunft sind weitere Umweltmanagementpläne und Dürreverordnungen, angepasst an den Klimawandel und die zunehmenden industriellen (z. B. Kunstschneefabriken) und infrastrukturellen Nutzungen (z.  B.  Speicherbecken, Wasserleitungen, Zufahrtsstraßen; . Abb. 7.2) der Gebirgslandschaften, erforderlich. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sollten sachkundigen Betroffenen helfen, alternative Nischenprodukte zu entwickeln, die gleichermaßen auf die lokale Natur, Kultur und Kulinarik ausgerichtet sind.  



7.1 

Kunstschnee und Klimawandel

Die ersten Skigebiete entstanden in den Alpen vor etwa 100 Jahren, die ersten Olympischen Winterspiele fanden 1924 statt, und 1936 gab es erstmals alpine Skiwettbewerbe in Garmisch-Partenkirchen. Vor 60 Jahren kam es zur größten alpenweiten Neubauphase (Bätzing, 2015). Doch es gab keine Entwicklungsphase, die so tiefgreifende ökologische, technische und gesellschaftliche Veränderungen mit sich brachte wie die vor 40 Jahren gestartete Phase der künstlichen Beschneiung und Pistenplanierung, die nach drei schneearmen Wintern in den 1980er-Jahren – zeitgleich mit einem deutlichen Anstieg der winterlichen Temperaturen in den Alpen – eingeführt wurden (. Abb. 7.1). Bereits 1 °C Erwärmung führte zu einem neuen, alpenweiten Trend der Beschneiung. Insbesondere in den letzten 20 Jahren gab es immense infrastrukturelle und landschaftliche Veränderungen durch den Ausbau von hoch gelegenen Wasserspeicherbecken, Pistenbegradigungen und -vergrößerungen (de Jong, 2012). Heute gibt es in den Alpen fast kein Skigebiet mehr, das nicht über eine weitflächige und ressourcenintensive Beschneiungsinfrastruktur verfügt (7 Kap. 6). Die Beschneiung wird als Anpassungsstrategie an den Klimawandel angesehen, obwohl sich die Winter deutlich verkürzt haben. Heute bleibt die natürliche Schneedecke in den Schweizer Alpen bereits sechs Wochen kürzer liegen als in den 1970er-Jahren (Klein et al., 2016). Bis zum Jahr 2100 ist mit einem prognostizierten Verlust von bis zu 70 % der Schneedecke zu rechnen, verbunden mit einer deutlich verkürzten Skisaison (Marty et al., 2017). Trotzdem wird der Klimawandel nicht als Warnsignal gesehen, um nachhaltigen Tourismus zu fördern  



104

C. de Jong

Temperatur in °C (Winter)

1 0 -1

1 1 2 3 4

2

3

4

Bau der ersten Skigebiete alpenweite Neubauphase Skigebiete Beginn der künstlichen Beschneiung Beginn Speicherbeckenausbau

-2 -3 -4 -5

7

2020

2010

2000

1990

1980

1970

1960

1950

1940

1930

1920

1910

1900

1890

1880

1870

1860

-6

..      Abb. 7.1  Skigebietsausbau und Anstieg der mittleren Wintertemperatur (zwischen Anfang November und Ende April) in Davos, Schweiz (1594 m), inklusive Winter 2021/22. (Nach Daten von MeteoSwiss)

oder die Berge anders zu nutzen, sondern der Winter wird, entgegen des Erwärmungstrends, künstlich verlängert (. Abb. 7.1). Was früher als örtlich begrenzte Lösung diente, um besonders exponierte Teile der Pisten während der Skisaison mit Kunstschnee zu sichern, hat sich heute zur flächenhaften Anwendung ausgebreitet (Hamberger & Doering, 2015), wenn es die jeweiligen hydrologischen, klimatologischen und ökologischen Bedingungen erlauben (Art.  14, Abs.  2 im Tourismusprotokoll zur Alpenkonvention, 2002). Entgegen der Alpenkonvention ist heutzutage das Ziel, noch vor Beginn der Wintersaison und vor den natürlichen Schneefällen die gesamten beschneibaren Pisten mit einer 30  cm mächtigen Kunstschneeschicht zu bedecken. Falls notwendig, folgen während der laufenden Skisaison Nachbeschneiungen. Dies betrifft selbst Gletscher und Gipfelbereiche.  

..      Abb. 7.2 Bau des Leiterli-Speicherbeckens (88.500 m3) im Skigebiet Lenk, Schweiz, auf 1897 m oberhalb des Quellhorizonts. Das Wasser muss vom Talboden mehr als 700  m hochgepumpt werden. (© Carmen de Jong, September 2020)

Es werden meist alle umliegenden Quellen, Bäche und Seen angezapft. Reicht dies nicht aus, werden Speicherbecken angelegt (. Abb. 7.2). Bei steigendem Wasserbedarf wachsen das Volumen, die Anzahl und die Höhenlage der Speicherbecken (. Tab. 7.1). Große Skigebiete haben mehr als zwölf Speicherbecken (Saalbach-­Hinterglemm, Österreich) und mehr als 1100 Schneekanonen und Lanzen (Ischgl, Österreich). Mehrmals während der Saison muss genügend Wasser zur Grund- und Nachbeschneiung der gesamten Pisten zur Verfügung stehen. Die als „Speicherteiche“ ver 

7.2 

Umweltauswirkungen von Skigebieten

Wasserbedarf und Speicherbecken Die Wasserverfügbarkeit ist für die Beschneiung oftmals ein limitierender Faktor.



105 Umweltauswirkungen von Skigebieten und Olympischen Winterspielen

..      Tab. 7.1  Geschätzte Anzahl der Speicherbecken für die künstliche Beschneiung in den Alpen. Geschätzte Summe 2022 ca. 1.300 Land

Speicherbecken

Jahr

Österreich1

450

2019

Italien2

373

2016

Frankreich2

157

2016

Schweiz2, 3

80

2015

Deutschland2

26

2016

Slowenien2

17

2016

Liechtenstein2

0

2016

Gesamt

1103



Nach 1Nach Lindinger et al. (2021) 2Nach Ringler (2016) 3Nach Iseli (2015)

niedlichten Speicherbecken sind bis zu 20 m tief, undurchlässig und verstärken die Verdunstung (. Abb.  7.2). Das alpenweit höchste und größte Speicherbecken „Panoramasee“ in 2900 m Höhe hat ein Volumen von 405.000  m3 (Sölden, Österreich). Es wurde 2010 gebaut, um die Beschneiung für den jährlich im Oktober stattfindenden Alpine Ski World Cup der Fédération Internationale de Ski (FIS) weiterhin zu ermöglichen. Speicherbecken erhöhen oft den Wasserbedarf vor allem für die Nachfüllung während der abflussarmen Wintermonate. Größere Speicherbecken können im Winterhalbjahr zwei- bis dreimal gefüllt werden (Evette et  al., 2011), kleinere bis zu 20-mal (DDT, 2020). Die Wasserentnahmen sind ein immenser Eingriff in den Wasserhaushalt und verschärfen oft die Wasserknappheit. Da die meisten Speicherbecken oberhalb von 2000 m Höhe und somit oberhalb des Quellhorizonts liegen (. Abb. 7.2 und 7.3), reicht das lokal verfügbare Wasser fast nie für das Füllen aus. Es werden zunehmend Trinkwasserleitungen, Seen, Fernleitungen aus  



7

Stauräumen, Bäche aus anderen Einzugsgebieten, Flüsse und sogar das Grundwasser im Tal (aus 50 m bzw. 200 m Tiefe, z. B. Lenggries, Bayern, bzw. Feclaz, Savoyen) angezapft und Hunderte von Höhenmetern hochgepumpt. Im Notfall wird Wasser selbst per Lkw hertransportiert. Im Falle des Leiterli-Speicherbeckens muss das Wasser vom Talboden mehr als 700 m hochgepumpt werden (. Abb.  7.2). Das Hochpumpen des Wassers ist sehr energieaufwendig und teuer. Zum Beispiel benötigt das Hochpumpen von 100.000  m3 Wasser über 1000  m Höhe 0,56 GWh Strom und verursacht damit einen Ausstoß von ca.  300  t CO2. Manche Skigebiete, z.  B.  Goldried, Osttirol, erhielten sogar widerrechtlich kostenloses Wasser für die Beschneiung (Dolomitenstadt, 2019). Der Klimawandel – in den Alpen beinahe doppelt so stark wie im globalen Durchschnitt – führt zu Dürre- und Hitzeperioden, die immer länger dauern und intensiver werden (Gobiet et al., 2014). In den letzten Jahren verstärkten sich die Wasserkonflikte. In manchen Tälern werden jetzt schon die Grenzen der Wasserverfügbarkeit erreicht (Lanz, 2016). Während der Winterdürre 2017/18 durfte im La Berra, Freiburg (Schweiz), kein Wasser mehr vom Schwarzsee für die Beschneiung entnommen werden. Der Skibetrieb wurde während mehrerer Wochen im Januar eingestellt. Wenn die bewilligte Menge nicht ausreicht, werden aber oft die Genehmigungen für Wasserentnahmen aus Bächen entsprechend erhöht. Trotzdem werden Wasserverfügbarkeit und Wasserentnahmen häufig gar nicht erst gemessen.  

Wasserqualität und Wasserverbrauch Die Undurchlässigkeit der Pisten beeinträchtigt die Filterfunktion des Bodens und damit die Wasserqualität. Außerdem hat Kunstschnee eine deutlich höhere Konzentration an Mineralien und Salzen als Natur-

106

7

C. de Jong

schnee (Rixen et al., 2003) und kann zudem Kohlenwasserstoffe aus Schneekanonen und Dieselreste von Pistenfahrzeugen enthalten (Evette et al., 2011). Die Wasserqualität kann auch durch Schneezusatzstoffe wie Snomax (Pseudomonas syringea, Bakterium) oder Drift (ein Trisiloxane-­Tensid) beeinträchtigt werden. Bei Snomax gibt es potenziell negative Auswirkungen auf Pflanzengewebe und selbst auf die menschliche Gesundheit, ausgelöst z. B. durch überlebende Bakterien oder durch Giftstoffe von Bakterien, die sich von Snomax ernähren (Lagriffoul et al., 2010). Die Auswirkungen von Drift sind noch gravierender, weil es nicht nur das Wasser kontaminiert, sondern auch die Eigenschaften der Böden verändert, mit direkten Auswirkungen auf die menschliche Gesundheit und den landwirtschaftlichen Ertrag. Das aus dem Tal hochgepumpte Wasser ist generell von sehr viel schlechterer Qualität als das lokale Quellwasser. Es stagniert über Monate hinweg in den Schneeleitungen zur künstlichen Beschneiung und Speicherbecken, wo es sich außerdem erwärmt und sich oft Algen und Biofilme bilden. Kunstschnee verbraucht somit reines Wasser. Wenn das mit Keimen kontaminierte Wasser über die Beschneiung in das Trinkwasser gelangt, kann es Magen-Darm-Krankheiten auslösen wie 2003  in Peisey-Nancroix, Frankreich, oder 2012 im Skigebiet Fiss, Österreich. Eigene Untersuchungen zur Wasserqualität in Les Menuires, Frankreich, ergaben, dass die Kolibakterienkonzentration in der Hochsaison 1000-fach über den EU-Grenzwerten lag. Trinkwasserquellen wurden auch durch Dieselreste im Karst oder durch von Starkregen ausgelöste Pistenerosion im Sommer (z. B. Villard-la-­Lans und Chamrousse, Isère, Frankreich) kontaminiert.

Nachhaltigkeit und Naturrisiken Die Wahl der Standorte zum Bau von Speicherbecken beinträchtigt die Nachhaltig-

keit grundlegend. Wegen der wenigen verfügbaren natürlichen Mulden auf den steilen Gebirgshängen werden fast immer bestehende Feuchtgebiete mit Seen oder Quellen ausgebaut und damit vernichtet (Evette et al., 2011). Die Auswirkungen auf die Gewässer sind vielfältig. Die angezapften Quellen, Bäche und Feuchtgebiete trocknen aus, und das ursprüngliche aquatische Ökosystem wird vernichtet. Darüber hinaus kommt es auch zur regelrechten „Enthauptung“ von Bergspitzen und dem „Stutzen“ von jahrtausendealten Moränen. Selbst traditionelle Almen werden für den Einbau eines Speicherbeckens zerstört. Diese Eingriffe sind irreversibel. Manche Speicherbecken werden sogar in gefährdeten Gebieten gebaut, z.  B. in Lawinensturzbahnen oder extrem verwittertem Gestein wie Schiefer. Hinzu kommt der großmaßstäbige Straßenbau und -ausbau für das Befahren mit schweren Fahrzeugen zur Konstruktion und zum Unterhalt der Speicherbecken, der zugehörigen Wasserkühltürme und der Kunstschneefabrik mit den Wasserpumpen (. Abb. 7.2). Im Gegensatz zu den kleinen, flachen, natürlichen Seen benötigt man für die Speicherbecken einen großen Aushub und den Bau eines Damms. Manche Dämme sind über 40  m hoch und vernichten selbst den Sichthorizont. Das Material beim Aushub des Speicherbeckens wird einerseits in den Damm eingebaut, andererseits auf den Skipisten ausgebreitet, ist langfristig allerdings sehr erosionsgefährdet. Für den Bau des Damms werden oft auch benachbarte Schutthalden oder Moränen abgebaut. Eine andere, rezente irreversible Auswirkung ist der intensive Abbau der örtlichen Gletscherlandschaft, inklusive der Moränen und jahrtausendealter Blockgletscher (. Abb.  7.3) als Auffüllmaterial gegen die unaufhaltsam zunehmende sommerliche Erosion der ­Pisten. Naturrisiken, speziell Rutschungen, Muren und Erosion, können durch Ablagerungen von Baumaterial für Speicherbecken, Pistenkorrekturen und durch de 



107 Umweltauswirkungen von Skigebieten und Olympischen Winterspielen

7

a 3 4

2

3

3

5 8

4

8

6 1

6 3

7 5 b

1 2 3 4 5 6 7 8

Speicherbecken Viderjoch Blockgletscher, Abbau Skipiste, stark verdichtet Bikertrail, stark erodiert Drainagerinne, sehr tief erodiert Zufahrtsstraße, erodiert Kiesfang mit Sperren Flächen- und Rillenerosion

c

..      Abb. 7.3  a Quasiflächendeckende Zerstörung der Gebirgslandschaft an der Österreichisch-Schweizer Grenze von Ischgl-Samnaun, Sommer 2019. (©swisstopo). b Tieferodierte Piste (2600–2751 m) unterhalb

der Bergstation Idjoch, Ischgl. c Abbau von Blockgletschern (2730  m) unterhalb der Flimspitz, Juli 2018. (© Carmen de Jong)

fekte unterirdische Wasserleitungen für den Kunstschnee hervorgerufen werden. Am Kronplatz in Südtirol kam es zwei Tage nach Saisonende zu einer gefährlichen Hangrutschung, nachdem eine gebrochene Wasserleitung den Hang über Monate hinweg durchnässt hatte (de Jong, 2012). Die Rutschmasse kam nur wenige Hundert Meter vor einer Siedlung zum Stillstand.

von Salzpflanzen (persönliche Mitteilung Schratt-Ehrendorfer, Universität Wien). Aus Kostengründen wird versucht, das Kunstschneevolumen möglichst zu reduzieren. Mit der sogenannten Pistenkorrektur werden alle für die Berghänge typischen Unregelmäßigkeiten wie Mulden, Hügel, Steine und stabilisierende Vegetation entfernt (. Abb.  7.4). Dies ergibt erosionsanfällige Flächen, auch dort, wo als Ersatz schnell wachsende Grasarten gepflanzt werden. Die Erosion und Bodenverdichtung durch die starke Hangbearbeitung für die Pistenkorrektur und die sehr mächtige Kunstschneedecke ist deutlich ersichtlich. Die schwere, nahezu undurchlässige Kunstschneedecke und die intensive, überwiegend nächtliche Pistenbearbeitung durch bis zu

Böden und Vegetation Die Anreicherung von Mineralien und Salzen im Kunstschnee führt nicht nur zur Verminderung der Biodiversität auf den Pisten (Rixen et al., 2003), sondern auch zur Verbreitung von invasiven Arten, im Extremfall



108

C. de Jong

..      Abb. 7.4  Intensiv künstlich beschneite Pisten bei der Bergstation Le Doron (2050  m), Skistation Les Menuires, Frankreich, am 20. April 2011. (© Kees Wolthoorn)

7

14,5 t schwere Pistenraupen führen zu starker Bodenverdichtung. Untersuchungen in den französischen und italienischen Alpen haben gezeigt, dass eine Skipiste durchschnittlich etwa 20-mal undurchlässiger ist als der natürliche Boden (De Jong et  al., 2014) und ab einer Tiefe von etwa 20 cm im Mittel sogar völlig undurchlässig ist. Das Hangwasser kann somit nicht in den Boden eindringen, fließt an der Oberfläche ab und verursacht oft tiefe Rinnenerosion und Hangbewegungen.

Lichtverschmutzung Lichtverschmutzung ist die unangemessene oder exzessive Nutzung von künstlichem Licht während der Nacht, was ernsthafte Auswirkungen auf Menschen, Tiere und auf das Klima haben kann (International Dark-­Sky Association, 2022). Seit den 1960er-­Jahren werden im Zusammenhang mit alpinen Skiwettkämpfen Pisten nachts beleuchtet, heutzutage ist jedoch das Nachtskifahren generell zum Trend geworden. In den Alpen und Pyrenäen bieten ca. 30 % der Skigebiete Nachtskifahren an. Deutschland führt mit 46  %, gefolgt von Slowenien mit 40  % und Österreich mit 33 %. Das Nachtskifahren auf beleuchteten Pisten ist eine Folge des wachsenden Be-

dürfnisses für das Skifahren nach der Arbeit. Die Lichtverschmutzung dauert meistens bis 22.30 Uhr und ist in den dunklen Winternächten besonders stark. Zusätzliche Lichtverschmutzung entsteht einerseits durch die Scheinwerfer der Pistenraupen, die fast während der ganzen Nacht in Betrieb sind, und andererseits durch die Beleuchtung der Schneekanonen, solange sie nächtlich Kunstschnee produzieren. Lichtverschmutzung wird maßgeblich gesteigert durch die hohe Reflexionswirkung von Schnee, durch Refraktion des Lichts und seine starke Projektion auf die umgebenden Hänge. Obwohl die europäische DIN EN 12193 eine Beleuchtungsstärke von 100 Lux für Veranstaltungen der Olympischen Winterspiele, aber nur 20 Lux für Freizeitsport empfiehlt, installieren viele Skigebiete 150 Lux.

7.3 

Olympische Winterspiele und das Dilemma des Naturschutzes

Aktuelle Studien zeigen, dass sich im Laufe der Zeit die Nachhaltigkeit der Olympischen Winterspiele immer mehr verschlechterte (Müller et  al., 2021). Während Wissenschaftler sogar von vorsätzlichen und irreversiblen Umweltschäden ausgehen (Geeraert & Gauthier, 2018), behauptet unterdessen das Internationale Olympische Komitee (International Olympic Committee, IOC), dass die heutigen Spiele positive Auswirkungen auf die Umwelt haben. Bemerkenswerterweise unterstützen alle ebenfalls am Genfersee ansässigen Umweltorganisationen International Union for Conservation of Nature (IUCN), United Nations Environment Programme (UNEP) und World Wide Fund for Nature (WWF) diese Behauptung. Auch das im Voraus vergebene ISO-Nachhaltigkeitszertifikat, das ausdrücklich die Durchführung der Spiele miteinbeziehen sollte, verstärkt nur diesen

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Widerspruch und den Missbrauch des Begriffs der Nachhaltigkeit. Die Olympischen Winterspiele sind jedoch nicht nur wasserund energieintensiver als der Betrieb einer normalen Skisaison in einem vergleichbaren Zeitraum, sondern sie benötigen auch einen viel größeren infrastrukturellen Ausbau. Ihr großes Prestige führt dazu, dass das Umweltrecht eigentlich weder im Zusammenhang mit dem Ausbau noch während der Spiele respektiert wird. Kompromisse, wie die Übernahme von existierenden Standorten oder Verlegung in weniger spektakuläre Räume außerhalb von Naturschutzgebieten oder eine Absage laufender Spiele wegen inakzeptabler Maßnahmen zur Sicherung des Pistenschnees bei Tauwetter, werden erst gar nicht in Erwägung gezogen. Dabei verstößt das IOC gegen seine eigenen Nachhaltigkeitsstrategien, z.  B. „Respekt vor Naturschutzgebieten“ und „Nutzung von existierenden Infrastrukturen“ (IOC, 2017). Zudem schließt das IOC nicht nur vor Rechtsverstößen die Augen, sondern trägt in seinen Evaluierungsberichten aktiv zum Greenwashing bei. Sachkundige werden ausgeklammert, z.  B. gibt es keinen einzigen Umweltexperten im Umweltbeirat des IOC. Beunruhigend ist, dass seit Sotschi 2014 vom IOC zunehmend exotischere Ziele in niederen Breiten von 27 bis 43° N zugelassen werden. Bis 2010 fanden die 21 Spiele mit fünf Ausnahmen (wovon Nagano 1998 auf der damals niedrigsten Breite von 36° N inzwischen wegen des Klimawandels aufgegeben wurde) viel weiter nördlich zwischen 44 und 61° N statt. Seither werden bei jedem neuen Austragungsland neue Skianlagen mit neuen Rekorddimensionen für Skipisten, Beschneiungsanlagen, Sprungschanzen, Bobbahnen usw. gebaut. Infolgedessen wurden bei den letzten drei Winterspielen große Teile  – bis hin zu gesamten Kernzonen  – von extrem geschützten, oft weltweit einzigartigen Gebirgsökosystemen für den Neubau zerstört. Betroffen sind vor allem Rote-Liste-Spezies. Obwohl es nur noch ca. 20 Individuen des Persischen Leo-

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parden in ganz Russland und 20 Individuen des Goldenen Leoparden in ganz China gibt, wurden genau die wenigen, zu deren Schutz dienenden Naturschutzgebiete für die alpinen Skiabfahrten von Sotschi 2014 und Peking 2022 geopfert. Unter dem Deckmantel des internationalen Sports werden zunehmend Eingriffe in die international bedeutungsvollsten Naturschutzgebiete der Welt gerechtfertigt, anstatt den Sport zu nutzen, um Bewusstseinsbildung und Unterstützung für die Umwelt zu generieren (WWF, 2015). Bei der Anlage neuer Skipisten werden vielmehr die von FIS/IOC definierten Kriterien für standardisierte Skipisten und künstliche Beschneiung „mit ausreichender Kapazität“ (meistens 100  %) umgesetzt. Dies bedeutet nicht nur, dass ein Höhenunterschied von mindestens 800 m mit steilem Gefälle eingehalten werden soll, sondern auch, dass Speicherbecken und Kunstschneeleitungen ausgebaut werden sollen. Bei der Suche nach geeigneten Standorten wird das Gebirge zur Kulisse, ganz unabhängig von Naturschutzwürdigkeit und Wasserverfügbarkeit für die Beschneiung. Paradoxerweise erhielten sowohl Pyeongchang 2018 wie Peking 2022 bereits zwei bzw. drei Jahre im Voraus die Umweltzertifizierung nach ISO 20121 (IOC, 2019). Dabei wurden Umweltaspekte entweder überhaupt nicht oder nur unzureichend berücksichtigt. Schlimmer noch: Nach den Spielen werden Verpflichtungen gegenüber dem IOC zur Einhaltung von Umweltschutz oder Umweltkompensation fast immer aufgrund von fadenscheinigen Argumenten gestrichen. Der touristische Aus- und Neubau von Skigebieten geschieht selbst dort, wo der Rückbau Bedingung war (Lee, 2019). In manchen Fällen ist der postolympische Ausbau von Skigebieten noch invasiver als der olympische Ausbau. Bereits ein Jahr nach Sotschi wurde anstelle der versprochenen Einrichtung von zwei neuen Naturschutzgebieten am Rande des westkaukasischen

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Weltnaturerbes eine massive Erweiterung Sotschi stand nicht nur 2014 vor noch von Skigebieten auf Kosten der Reduzie- größeren Herausforderungen. Es ist bis heute rung des zweitgrößten Naturschutzgebiets mit katastrophalen Langzeitfolgen konfronEuropas durchgeführt (WWF, 2015). Die tiert. Bereits 2007 appellierten 47 russische Wiedereinführung des Persischen Leopar- Umweltorganisationen ohne Erfolg an das den in die Region im Jahr 2016 hatte wegen IOC gegen den Ausbau in den Naturschutzder Fragmentierung der Hauptwander- gebieten. Das Gebirge rund um die Skiorte routen durch die Skigebiete bisher nur wenig Krasnaya Polyana und Rosa Khutor war vor Erfolg. den Winterspielen nicht nur unverbaut, sonSeit 2010 übertrifft sich jeder Standort dern auch Teil der Kernzone des Sotchi Namit dem Anspruch, die „grünsten und nach- tional Park und Caucasian State Biosphere haltigsten Spiele je“ zu sein. Doch Vancou- Reserve (Shevchenko, 2018). Grünes Licht ver 2010 wurde extrem energie- und wasser- zur Aufhebung der Naturschutzgebiete intensiv. Am subalpinen Cypress-­Mountain-­ wurde vom Umweltminister persönlich geStandort wurde Wasser zur Beschneiung geben (Shevchenko, 2018). Der widerrechthochgepumpt und im Vorfeld gespeichert. liche Ausbau der Skiinfrastrukturen und Dennoch kam es kurz vor Start zu Schnee- Olympischen Dörfer auf unbebaubarem mangel wegen Tauwetters bei Temperaturen Land zerstörte ca. 60 km2 des kaukasischen von +12 °C und Regen. Der drei Monate im Reservats durch Fragmentierung (O’Hara, Voraus produzierte und vor Ort gelagerte 2015) und verursachte 2013 im Sotchi Natiosowie bereits auf den Pisten verteilte Kunst- nal Park beinahe das Aussterben des Braunschnee schmolz in den niedrigen Lagen weg. bären (Ursus arctos meridionalis; Gazaryan Zur Rettung der Spiele wurden ca.  1000 & Shevchenko, 2014). Ferner wurde verStrohballen (57  t) im 5-min-Takt per Hub- sehentlich der Buchsbaumzünsler bei der Beschrauber herantransportiert, um aus Stroh grünung der Wettkampfstätten 2012 miteineine 3 m hohe Grundlage für die Pisten zu geführt, was beinahe das Aussterben der loerzeugen. Es folgte Schnee, der aus höheren kalen Buchsbäume am Nordhang des Lagen in dreistündiger Entfernung mit Kaukasus verursachte (NABU, 2016). ca. 350 Lkw-Ladungen hertransportiert und Auch Menschen waren vom Ausbau bedann mit ca.  300 Hubschrauberladungen troffen. 2009 wurden beim Bau von Autoauf dem Stroh verteilt wurde. Alle Schnee- und Eisenbahn alle Brunnen des Dorfs depots wurden zur Rettung per Hub- Akhshtyr oberhalb des Flusses Mzymta verschrauber in die höheren Lagen trans- schüttet. Es gab daraufhin kein fließendes portiert. Pistenschnee wurde mit Trockeneis Wasser mehr. Gegen diese humanitäre Kagekühlt. Insgesamt benötigten die Spiele tastrophe wurde nichts unternommen, obca. 850.000 m3 Wasser zur Beschneiung. Er- wohl Human Rights Watch sechs Jahre vor staunlicherweise spiegeln sich die außer- Sotschi den IOC-Präsidenten dazu aufordentlichen CO2-Emissionen für den Stroh- forderte (O’Hara, 2015). Ferner führten die und Schneetransport sowie der hohe Wasser- Entwaldung und Bauarbeiten im Gebirge zu verbrauch für die Beschneiung in keinerlei Verschmutzungen und Niedrigwasser der Energiebilanz oder wissenschaftlicher Stu- Flüsse Achipse, Laura sowie Mzymta und die wider (Müller et al., 2021). Trotz der be- reduzierten ihre Fischbestände fast auf null reits 2010 auftretenden Probleme und neuer (O’Hara, 2015). Wasserengpässe am höheren Whistler-­ Die Entwaldung für den Pistenbau auf Standort gilt Vancouver als Standort der den steilen Hängen vermehrte NaturOlympischen Winterspiele in Szenarien gefahren durch Muren, Rutschungen und sogar bis 2080 als äußerst schneesicher Lawinen. Meterhohe Muren unterbrachen (Scott et al., 2022). die einzige Straße zum Olympischen Dorf

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von Krasnaya Polyana bereits wenige Monate nach den Spielen (persönliche Mitteilung Nikolay Kazakov, ehemaliger Leiter des Institute of Avalanche and Debris Flows, Russian Federation). Inzwischen haben die Muren derart zugenommen, dass sie Menschenleben gefährden (Shvarev et  al., 2021). Lawinen beschädigten oder zerstörten ebenfalls mehrmals jährlich fast alle im Bau befindlichen sportlichen Einrichtungen und Zufahrtsstraßen (Kazakov et  al., 2012). Wegen massiver Entwaldung, künstlicher Versteilung der Skipisten und Bearbeitung der Schneedecke nahm die Lawinengefahr stark zu, und infolge mangelnder Lawinenprävention (d.  h. künstlicher Auslösung) gab es bereits einen Monat nach den Spielen zwei Lawinenopfer. Zugleich litt Sotschi trotz 80  % künstlicher Beschneiung unter Schneemangel. Ein Teil der 450.000  m3 Kunstschnee, der über den Winter gespeichert wurde, schmolz gegen Ende der Spiele ebenfalls bei Temperaturen von +12  °C weg. Der Pistenschnee wurde mit 24  t grobkörnigem Salz „gerettet“, das mit einem gecharterten Flugzeug aus Zürich eingeflogen wurde. Die Auswirkungen des Salzes auf das Ökosystem und die Infrastrukturen waren immens. Auch hier fehlt eine wissenschaftliche Energie- oder Umweltbilanz. Pyeongchang 2018 war zu 90  % beschneit und setzte sich ebenfalls auf gravierende Weise über Naturschutzgesetze hinweg. Der alpine Skistandort von Jeongseon unterhalb des Bergs Gariwang zerstörte Teile eines der bedeutendsten Naturschutzgebiete mit Urwald weltweit (Lee, 2020). Der einzigartige Gebirgswald enthält 500 bis 1000 Jahre alte Bäume. 2008 stellte der südkoreanische Forstdienst den Wald als genetisches Ressourcenschutzgebiet unter Schutz. Doch strich der Forstdienst 2013 eigenhändig den Namen des Naturschutzgebiets aus seiner Liste der genetischen Schutzgebiete für den alpinen Skiausbau. Das Organisationskomitee setzte sich über die verbleibenden Einschränkungen für das

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Naturschutzgebiet hinweg, indem es erfolgreich ein speziell für die Olympischen Spiele erstelltes Gesetz einforderte. Die Entscheidung wurde mit den FIS-Auflagen zur Anlage von Pisten gerechtfertigt. Das IOC berücksichtigte nicht die Aufforderung von Umweltgruppen, bestehende Skigebiete mit kürzeren, in Ausnahmefällen zulässigen Hängen auszuwählen (Lee, 2019). Koreanische Umweltaktivistinnen und -aktivisten schickten vergebens eine Petition an das IOC, um die Pläne für die Entwaldung zu verwerfen. In der Folge wurden ca.  58.000 Bäume, darunter seltene Arten wie die nur in Korea vorkommende riesige Wangsasure-Hybrid-Espe sowie Eiben und Koreas älteste Eichen auf 78 ha des insgesamt 2175 ha großen Schutzgebiets gefällt. Die lokale, selbstsuffiziente Bergbevölkerung verlor durch den Verlust des Berghabitats sowohl ihre Ernährungsgrundlage als auch ihr Einkommen (Yoon, 2020). Das unrealistische Versprechen, die uralten Bäume umzupflanzen und nach den Spielen jüngere Bäume auf die Piste zu setzen, wurde nicht eingehalten. Man erweiterte das Skigebiet mit dem absurden Argument, Ökotourismus betreiben zu wollen (Lee, 2019). Peking 2022 wurde vom IOC erstmals als „grün“ und „CO2-neutral“ angekündigt. Die Spiele wurden aber wegen des Mangels an natürlichem Schnee, ariden Klimas und extremer Wasserknappheit eher die „unnachhaltigsten Winterspiele aller Zeiten“.1 Es wurden nicht nur 100  % der Skipisten, sondern auch alle Zufahrtsstraßen für die Pistenfahrzeuge beschneit. Hohe Windgeschwindigkeiten verursachten hohe Schneeund Verdunstungsverluste. Die Böden mussten im Vorfeld für die Haftung des Kunstschnees benässt werden. Für die Beschneiung wurde drei- bis viermal so viel Wasser pro Hektar wie in den Alpen benötigt; insgesamt

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7 https://www.theguardian.com/world/2021/ nov/06/mounting-concern-over-environmentalcost-of-fake-snow-for-olympics  

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Kernzone Pufferzone Entwicklungszone Skipisten Olympisches Dorf

7 ..      Abb. 7.5  Skiabfahrten der Olympischen Winterspiele in Yanqing, Peking 2022, quer durch die Kernzone (rot) des Naturschutzgebiets Songshan (gesamte

farbige Flächen), Stand 2015. (Nach eigener Kartierung; © CNN; Google Earth)

waren es mindestens 2,5 Mio. m3. Das Wasser wurde überwiegend aus Reservoiren für Trink- und Bewässerungswasser aus 30  km hertransportiert und anschließend in den beiden Standorten auf 1000  m Höhe in Zhangiakou und auf 1700 m Höhe in Yanqing hochgepumpt. Um genügend Wasser für die Beschneiung bereitzustellen, musste sogar die Bewässerung über große Flächen im Vorfeld eingestellt werden. Die alpinen Skiabfahrten von Yanqing legte man quer durch die ehemalige Kernzone des Naturschutzgebiets Songshan, ausgewiesen zum Schutz von Rote-Liste-Arten wie dem Goldenen Leoparden, Goldenen Adler oder seltenen Orchideen (. Abb. 7.5). Anstatt den olympischen Standort zu verlegen, hob man die Kernzone auf und verlegte die Grenzen des Naturschutzgebiets. Die Existenz des Naturschutzgebiets wurde im Sustainability Report (Beijing Organising Committee, 2022) nicht erwähnt. Für die Skipisten, Zufahrtsstraßen, Straßen, Parkund Hubschrauberlandeplätze wurden ca. 20.000 Bäume in der Kernzone entfernt.

Mehrere Dörfer wurden abgebaut und durch Bobbahn, Sprungschanze, Autobahnen, Parkplätze oder Teile der Olympischen Dörfer ersetzt. Die traditionellen landwirtschaftlichen Terrassen in Zhangiakou mussten dem Bau von Skipisten und Unterkünften oder Plantagen mit europäischen Fichten weichen, um als alpine Hintergrundkulisse zu dienen. Inwiefern die Olympischen Winterspiele in Cortina d’Ampezzo 2026 nachhaltiger sein werden, wenn Standorte 400  km entfernt voneinander liegen und warum die Infrastruktur der Spiele von Turin 2006 nicht wiedergenutzt wurde, bleibt offen. Seit den letzten Winterspielen in Cortina d’Ampezzo 1956 ist die mittlere Wintertemperatur von −1,45 °C um beinahe 4 °C auf +2,4 °C2 gestiegen und wird sicherlich die Schneesicherheit infrage stellen.



2 Eigene Berechnungen mit Daten von ARPAV; 7 http://www.arpa.veneto.it/temi-ambientali/ meteo  

113 Umweltauswirkungen von Skigebieten und Olympischen Winterspielen

7.4 

Umweltrecht und Umweltschutz versus Ausnahmeregelungen

Einerseits wird der Umweltschutz durch immer strengere gesetzliche Vorschriften der Europäischen Union gestärkt (EU, 2014). Andererseits kann die betroffene Öffentlichkeit oft die Verletzung von Umweltrechten nicht geltend machen, weil es bei der Beteiligung im Bewilligungsverfahren oder in der Folge an einem wirksamen Zugang zu Rechtsschutz fehlt. Zudem sind aufgrund der Komplexität der Umweltprobleme und wirtschaftlicher Interessen immer mehr Akteure an der Debatte für oder gegen den Ausbau von Skigebieten beteiligt. Der Einfluss der verschiedenen Interessengruppen ist jedoch ungleich verteilt, Umweltprobleme werden kaum vermieden oder ­gelöst. Weltweit ähnelt sich der Konflikt um den Ausbau und die Modernisierung von Skigebieten in empfindlichen Gebirgsregionen. Oft sind es einzelne, zugezogene, meist pensionierte Akademikerinnen und Akademiker, die eine Initiative zur Lösung von Umweltproblemen ergreifen. Dieser Gruppe stehen Personen mit starken, vorwiegend profitorientierten Interessen in der Skilobby gegenüber, z.  B. aus der Politik (meistens Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, Landrätinnen und Landräte), Seilbahnbetreibende, Vertreter und Vertreterinnen aus der Tourismus- oder Forstwirtschaft, des IOC oder der lokalen Organisationskomitees der Winterspiele und manchmal sogar beteiligte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Die Bewilligungen für den Ausbau und die Modernisierung von Skigebieten erfolgt im behördlichen Bewilligungsverfahren durch Landratsämter und kommunale Behörden. Sie spielen auch bei der Erteilung von Ausnahmebewilligungen eine zentrale Rolle. Fast immer wird der Ausbau von Skigebieten und deren Beschneiung befürwortet, ohne

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die negativen Auswirkungen auf den Klimawandel und die Umwelt oder die Rechte der betroffenen Zivilgesellschaft zu berücksichtigen. In vielen Fällen werden die Argumente dieser Gruppe bei der Entscheidung nicht einbezogen, und meistens erfolgt auch keine Beteiligung am Verfahren. Somit ist anzuzweifeln, ob z.  B alle wasserrechtlichen Genehmigungen für die flächenhafte künstliche Beschneiung von Pisten rechtskonform sind und nicht eindeutig im Widerspruch zum Tourismusprotokoll der Alpenkonvention (2002) und zum europäischen Recht stehen. Darüber hinaus bestehen auch Zweifel, ob die Auflagen in den Bewilligungen, also z. B. die erlaubten Entnahmemengen trotz steigenden Wasserbedarfs und festgelegten Restwasserabflusses eingehalten, darüber hinaus die vorgeschriebenen Aufzeichnungen über die Wasserentnahmen pflichtgemäß durch die Behörden kontrolliert und bei Verstößen Maßnahmen ergriffen werden. Die juristischen Vorgaben der Europäischen Union sehen zwar eine Pflicht für Umweltverträglichkeitsprüfungen (UVP) von Beschneiungsanlagen vor (EuGH, 2015). Doch muss diese Regelung in den Mitgliedstaaten in nationales Gesetz umgesetzt werden. Somit werden UVP oder Baugenehmigungen für Kunstschneeinfrastruktur von den Seilbahnbetreibern oft umgangen oder durch Ausnahmeregelungen im Nachhinein ermöglicht (Vorarlberg Online, 2018b). Bei Gerichtsfällen wird den Seilbahnbetreibern meistens eine vorübergehende Genehmigung erteilt und dadurch der volle Ausbau ermöglicht. Gutachten zu UVP beziehen selten Kernaspekte wie Klimawandel, Dürren und Wasserverfügbarkeit ein, oder es wird ohne Messgrundlage geschlussfolgert, dass es „immer reichlich Wasser gibt“. In Bayern besteht nach nationalem Recht für Beschneiungsanlagen nur dann eine UVP-Pflicht, wenn die künstlich beschneite Fläche größer als 15  ha ist oder über 1800 m Höhe liegt. Trotzdem fiel zwi-

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schen 2010 und 2020 nur eine einzige UVP negativ aus (Bayerischer Landtag, 2020). In Österreich besteht nur für Speicherbecken eine UVP-Pflicht, doch erst ab 10 Mio. m3 Fassungsvermögen (Bußjäger & Ennöckl, 2019), d.  h. das 25-Fache des größten Speicherbeckens. Deshalb behauptete das Seilbahnunternehmen im Bewilligungsverfahren eines in den Alpen größten Speicherbeckens in einem Naturschutzgebiet mit Hochmooren am Schwarzköpfle, Montafon, dass der Bau nicht „umweltverträglichkeitsprüfungsrelevant“ sei (Vorarlberg Online, 2018a). Die Bewilligung wurde ungeachtet der Umweltfolgen erteilt, jedoch einer gerichtlichen Prüfung unterzogen. Die beauftragten Verfassungs- und Verwaltungsjuristen schlussfolgerten, dass die UVP-­ Regelungen in Österreich hinsichtlich Beschneiungsanlagen EU-konform auszulegen seien (Bußjäger & Ennöckl, 2019). Das Seilbahnunternehmen zog in dem bereits vier Jahre laufenden Rechtsstreit den Bauantrag zurück, weil offenbar im Falle einer gerichtlichen Entscheidung eine eventuelle UVP mit Präjudiz für alle Beschneiungsanlagen in Österreich befürchtet wurde (Vorarlberg Online, 2020). Zur Frage der UVP-Pflicht von Beschneiungsanlagen läuft zurzeit ein Vertragsverletzungsverfahren der EU gegen Österreich (Umweltbundesamt, 2021). Viele Betroffene beklagen fehlende Transparenz und Einflussmöglichkeiten. Ausbaupläne werden zu kurzfristig an die Öffentlichkeit vermittelt, z. B. nur drei Wochen Zeit für die Sichtung eines 1400-­seitigen Gutachtens für den Speicherbeckenbau in La Clusaz, Frankreich. Dort drohen die Austrocknung eines Feuchtgebiets und die Gefahr einer 6  m hohen Flutwelle infolge eines plötzlichen Wasserausbruchs. Trotz einer Petition mit 53.000 Unterschriften gegen das Projekt und kontinuierlicher Proteste (. Abb. 7.6) wurde der Ausbau befürwortetet. In vielen Fällen erfolgt jedoch im Widerspruch zum europäischen Recht und insbesondere zur Aarhus-Konvention keine  

..      Abb. 7.6  Großaufgebot von Polizei (150 Personen) entlang des leeren Speicherbeckens Etales bei einer Demonstration (500 Personen) gegen den Ausbau des Speicherbeckens La Clusaz, 25. Juni 2022. (© Moran Kerinec/Reporterre)

Beteiligung der Öffentlichkeit (EuGH, 2015). Auch wird betroffenen Einzelpersonen und Umweltorganisationen der Zugang zu Rechtsschutz entweder erschwert oder überhaupt nicht gewährt. Umweltverletzungen können dadurch nur schwer bekämpft werden. Gegen Österreich und Deutschland läuft in diesem Zusammenhang ein Vertragsverletzungsverfahren (Europäische Kommission, 2021). In dieser Hinsicht gab der EuGH der Umweltorganisation „Protect Natur-, Arten- und Landschaftsschutz“ Recht, als sie klagte, dass sie keinen Zugang zu Rechtsschutz bekam und die Verletzung des Umweltrechts im Zusammenhang mit der Verschlechterung der Wasserkörper durch eine Beschneiungsanlage im Skigebiet Aichelberglift Karlstein, Österreich, nicht geltend machen konnte (EuGH, 2017). Zudem werden Umweltkritikerinnen und -kritiker von Skigebieten nicht nur in den Alpen mit juristischen Maßnahmen wie Schweigeverpflichtungen und zivilrechtlichen Klagen bedroht. Die Rolle der Umweltvereine ist ambivalent. In manchen Fällen werden sie geschwächt, weil sie von staatlicher Finanzierung abhängen und Vereinbarungen mit der Skiindustrie eingehen, um eigene Vorteile in anderen Bereichen zu erzielen. Zudem fehlt

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es oft an Mitteln für Gerichtsverfahren mit geringen Erfolgsaussichten. Auch werden mittlerweile Umweltorganisationen erst ab einer Mitgliederzahl von mindestens 100 rechtlich anerkannt, um Rechte geltend machen können. Touristinnen und Touristen haben wegen genereller Intransparenz und Desinformationen im Kontext der Verfahren oft zu wenig Einblick in die Umweltprobleme. Einerseits wird der Wintersport als grün und umweltschonend dargestellt, andererseits wird die Kunstschneeproduktion nicht als eine Reaktion auf den mangelnden Schnee und den Klimawandel gedeutet, sondern vielmehr als ein vermarktbares Produkt, das den Anforderungen der „Schneequalität“ der Nutzer entspricht. ? Übungs- oder Reflexionsaufgaben 1. Vergleichen Sie die Umweltauswirkungen von Olympischen Winterspielen in Asien und in den Alpen unter besonderer Berücksichtigung des geographischen Breitengrads. 2. Beschreiben Sie, auf welche Umweltauswirkungen von Skigebieten der Klimawandel den größten Einfluss haben könnte.

Zum Weiterlesen empfohlene Literatur Boykoff, J. (2021). Olympic sustainability or Olympian smokescreen. Nature Sustainability, 4(4), 294–295. Dunstan, A. (2019). Victims of “adaptation”: Climate change, sacred mountains, and perverse resilience. Journal of Political Ecology, 26(1), 704–719.

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117 Umweltauswirkungen von Skigebieten und Olympischen Winterspielen

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7

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119

Schneller, höher, ökologischer? Die Auswirkungen von Sportgroßveranstaltungen wie den Olympischen Spielen auf Natur und Umwelt Boris Braun und Frauke Haensch

Blick vom Olympiapark der Sommerspiele von Sydney 2000 auf die 14 km entfernt liegende Innenstadt. (© Boris Braun)

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Gans et al. (Hrsg.), Sportgeographie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66634-0_8

8

Inhaltsverzeichnis 8.1

Ökologische Auswirkungen von Sportgroßveranstaltungen – 122

8.2

 rei Beispiele Olympischer Sommerspiele D von 2000 bis 2032 – 124  ie Green Games von Sydney 2000 – 125 D Die Legacy Games von London 2012 – 127 Die Embedded Games von Brisbane 2032 – 129

8.3

 ntwicklungslinien: Ökologie und Nachhaltigkeit E von Olympischen Spielen – 131  on ökologischer zu umfassender Nachhaltigkeit – 131 V Vom kompakten Olympiagelände zur dezentralen Olympiaregion – 132 Olympische Dörfer: von ökologischen und sozialen Vorzeigeprojekten zu gentrifizierten Siedlungen – 132 Vom Umweltschutz zur Nachhaltigkeit zur Legacy – 133

8.4

Fazit – 133 Literatur – 134

121 Schneller, höher, ökologischer? Die Auswirkungen von…

Einleitung Sportgroßereignisse wie Olympische Spiele, Fußball-Weltmeisterschaften, Formel-1-­ Grand-Prix oder die Tour de France sind ohne Belastung der natürlichen Umwelt nicht vorstellbar. Für Sportstätten und den oft notwendigen Ausbau der Infrastruktur werden Flächen in Anspruch genommen und natürliche Ressourcen verbraucht. Sportlerinnen und Sportler, Offizielle sowie Zuschauerinnen und Zuschauer müssen anund abreisen, was kaum völlig CO2-neutral erfolgen kann, und es entsteht zusätzlicher Abfall (Gans et  al., 2003, S.  95  ff.; Roth et  al., 2007). Für das Maß der Umweltbelastung ist die Art des Sportereignisses und dessen Dimension von entscheidender Bedeutung. Während beispielsweise ein Radrennen oder ein Marathonwettbewerb auf bereits vorhandenen Straßen und Wegen durchgeführt werden kann, müssen für Olympische Spiele in der Regel eine Vielzahl neuer Sportanlagen errichtet und die Infrastruktur der jeweiligen Gastgeberstädte ausgebaut werden (7 Kap.  9 und  22). Für die entstehenden Abfallmengen, den zusätzlichen Energie- und Flächenverbrauch sowie die mit dem Ereignis verbundenen Treibhausgasemissionen ist die jeweilige Zahl der Einzelwettbewerbe, der teilnehmenden Athletinnen und Athleten sowie der Besucherinnen und Besucher von hoher Relevanz. Spätestens seit den frühen 1990er-Jahren versuchen die Verantwortlichen, die ökologischen Belastungen von Großereignissen signifikant zu reduzieren, etwa indem bevorzugt schon vorhandene Sportstätten für die Wettbewerbe genutzt werden, neue Sportstätten nicht mehr auf der Grünen Wiese, sondern innerhalb des bereits bebauten Bereichs von Städten oder sogar auf Industrieund Gewerbebrachen errichtet werden (7 Kap.  23), umweltfreundliche Transport 



systeme zur Anwendung kommen sowie auf erneuerbare Energien, Abfallreduktion und umweltfreundliche Baumaterialien gesetzt wird (Karamichas, 2013). Außerdem werden große Sportereignisse heute auch als Chance wahrgenommen, die Umweltbedingungen in den sie austragenden Städten und Regionen langfristig zu verbessern (7 Kap. 9 und 22). So können beispielsweise im Zuge eines Großereignisses der öffentliche Verkehr in der betreffenden Region ausgebaut, Athletinnen- und Athletenunterkünfte als ökologische Mustersiedlungen konzipiert sowie Altlastensanierungen auf Industriebrachen realisiert werden. Letztlich bedeutet dies, dass sich zwar während des Sportereignisses selbst zusätzliche ökologische Belastungen nur reduzieren, aber nicht vollständig vermeiden lassen, sich langfristig aber Chancen eröffnen, die Umweltqualität in einer Region nachhaltig zu verbessern. Je größer die Dimension des Sportereignisses ist, desto größer ist  – zumindest theoretisch  – auch das Potenzial, langfristig positive Umweltwirkungen zu erzielen, weil auch die Menge der für Verbesserungen zur Verfügung stehenden Finanzmittel sowie die politische Unterstützung hierfür umfangreicher sind. Der vorliegende Beitrag schaut deshalb vor allem auf Olympische Sommerspiele. Diese sind die größten räumlich und zeitlich konzentrierten Sportereignisse  – mit der Folge besonders hoher ökologischer Belastungen, aber auch eines besonders ausgeprägten Potenzials, langfristige Verbesserungen beim Umwelt- und Naturschutz anstoßen zu können. Da Umweltschutzkonzepte von Sportgroßveranstaltungen immer stärker als ein integraler Teil von umfassenderen Nachhaltigkeitsstrategien verstanden werden, spielt auch die Einbettung des Umwelt- und Naturschutzes in den Dreiklang von ökologischen, sozialen und ökonomischen Zielen für die Analyse eine wichtige Rolle.  

8

122

8.1 

B. Braun und F. Haensch

Ökologische Auswirkungen von Sportgroßveranstaltungen

Sportgroßveranstaltungen beeinträchtigen Natur und Umwelt in vielfacher Hinsicht (. Abb.  8.1). Während einige Belastungen wie zusätzliche Lärmemissionen, zusätzlich erzeugte Abfallmengen oder der zusätzlich generierte Energieverbrauch nach dem eigentlichen Ereignis schnell wieder zurückgehen, wirken andere Umweltauswirkungen erheblich langfristiger. So werden einmal überbaute Flächen  – abgesehen von rein temporären Anlagen  – in der Regel nicht wieder in ihren Ursprungszustand zurückgeführt. In vielen Fällen werden auch eventuelle ästhetische Beeinträchtigungen des Stadt- oder Landschaftsbilds nicht so schnell wieder verschwinden. In extremen Fällen können auch irreversible Schäden an Ökosystemen entstehen und Ökosystemdienstleistungen langfristig beeinträchtigt werden. Besonders herausfordernd stellt sich die Situation dar, wenn in Regionen mit wenigen bestehenden Sportstätten und wenig unterstützender Infrastruktur (Flughäfen, leistungsfähige Straßen und Schienenverbindungen, Hotels etc.) vieles erst neu  

8

aufgebaut werden muss (Steinbrink et  al., 2015 zu Südafrika und Brasilien; Scharfenort, 2020 zu Katar; 7 Kap.  9) und/oder wenn für die neu gebauten Sportarenen keine sinnvollen Nachnutzungen gefunden werden können (Searle, 2012 zu Sydney; 7 Kap. 24). Eine jüngst publizierte Studie von Müller et  al. (2021) hat die Nachhaltigkeit von 16 Olympischen Sommer- und Winterspielen untersucht, die seit 1992 stattfanden. Neben je drei ökonomischen (Überschreitung des Kostenrahmens, öffentlicher Finanzierungsanteil, Nachnutzung der Sportanlagen) und sozialen Indikatoren (Unterstützung der Spiele durch die Bevölkerung, Umsiedlungsmaßnahmen, beschlossene bzw. erlassene Sondergesetze und -regeln) berücksichtigt die Studie auch drei ökologische Indikatoren: den Anteil von neu gebauten Sportstätten als Maß für den zusätzlichen Ressourcen- und Flächenverbrauch, die Zahl der verkauften Tickets als Maß für den sogenannten visitor footprint sowie die Anzahl der Akkreditierungen als Maß für die Größe des Sportereignisses. Die Studie berücksichtigt also keine Indikatoren für die unmittelbaren Umweltwirkungen, sondern solche, die zumindest mit hoher Wahrscheinlichkeit zu Umweltbeeinträchtigun­  



Verkehrsaufkommen und Modal Split Biodiversität

Verbrauch von Baustoffen

Energiebedarf

Ausrichtung von Sportgroßveranstaltungen

lokale Luftqualität

Wasserverbrauch und Abwasser

Abfallaufkommen

Treibhausgasemissionen

Boden (z. B. Versiegelung)

.       Abb. 8.1  Bedeutende Umweltbelastungen durch Sportgroßereignisse. (Nach eigenem Entwurf)

123 Schneller, höher, ökologischer? Die Auswirkungen von…

gen führen. Trotz dieser Einschränkungen liefert die Studie wichtige und zum Teil überraschende Befunde. So kommen die Autorinnen und Autoren zu dem Schluss, dass die Gesamtnachhaltigkeit der Olympischen Spiele in den letzten Jahrzehnten eher abals zugenommen hat. Nach ihren Berechnungen waren die Winterspiele von Salt Lake City 2002 die nachhaltigsten der letzten 30 Jahre, während die Winterspiele von Sotschi 2014 und die Sommerspiele von Rio de Janeiro 2016 zu den am wenigsten nachhaltigen zählen (Müller et al., 2021, S. 342). Olympische Spiele, die in besonderem Maße als grün oder nachhaltig beworben wurden, wie diejenigen von Sydney 2000, Vancouver 2010 oder London 2012, erreichen bei der Bewertung nur Mittelplätze. Insgesamt schneiden Winterspiele ähnlich ab wie Sommerspiele. Während aber die Winterspiele in der Regel deutlich kleiner bleiben, also prinzipiell einen kleineren ökologischen Fußabdruck haben, müssen für sie höhere Anteile an Sportstätten neu gebaut bzw. angelegt werden (7 Kap. 6). Die Winterspiele in Peking im Frühjahr 2022 gerieten beispielsweise trotz der von der chinesischen Regierung angestrebten CO2-Neutralität auch deshalb in die Kritik, weil Skipisten in einem Naturschutzgebiet, dem Naturreservat Songshan, angelegt bzw. dessen Grenzen hierfür verändert wurden. Außerdem musste in dem zwar kalten, aber sehr trockenen Winterklima für die extensive künstliche Beschneiung der Pisten in erheblichem Umfang Wasser aus anderen Regionen abgepumpt werden (Deutsche Welle, 2022; Mallapaty, 2022; 7 Kap. 7). Betrachtet man in der Studie von Müller et al. (2021) ausschließlich die ökologischen Indikatoren, ist über die Zeit ebenfalls ein negativer Trend zu erkennen – allerdings mit großen Unterschieden zwischen den einzelnen Olympischen Spielen. Während die Spiele von Sotschi 2014, Nagano 1998, Peking 2008 und Tokio 2020/21 im Hinblick auf die ökologischen Indikatoren schlecht abschnitten, erreichten diejenigen von Bar 



8

celona und Albertville (beide 1992), Lillehammer 1994, Salt Lake City 2002, Athen 2004 sowie Turin 2006 überdurchschnittlich positive Bewertungen. Ein wesentlicher Grund für das relativ schlechte Abschneiden vieler der jüngeren Olympischen Spiele liegt nicht zuletzt an den immer weiter zunehmenden Dimensionen der Spiele. Mehr Wettbewerbe, mehr Sportlerinnen und Sportler, mehr Zuschauerinnen und Zuschauer vergrößern systematisch den ökologischen Fußabdruck des Sportereignisses (7 Kap. 6). Das Internationale Olympische Komitee (International Olympic Committee, IOC) versucht, den zunehmenden gesellschaftlichen Forderungen nach mehr Umweltschutz und Nachhaltigkeit vor allem dadurch nachzukommen, dass es seine Leitlinien schrittweise weiterentwickelt und sich grundsätzlich dem Nachhaltigkeitsgedanken verpflichtet hat (. Abb.  8.2). Die Schritte hin zur einer Ökologisierung der Olympischen Spiele waren aber nur teilweise intrinsisch motiviert, sie sind vor allem als eine Reaktion auf die weltweite Kritik an Überkommerzialisierung und Gigantismus sowie die Furcht vor einem dauerhaften Imageschaden zu verstehen (Cantelon & Letters, 2000). Auf die relativ dynamische Entwicklung in den 1990er-Jahren mit vielen Maßnahmen folgten erst wieder Mitte der 2010er-Jahre mehrere Veröffentlichungen, mit denen das IOC versuchte, Umwelt- und Nachhaltigkeitsfragen proaktiver anzugehen. Der vorläufige Höhepunkt dieser Entwicklung ist die Olympic Agenda 2020+5 (IOC, 2021), mit der die Agenda 2020 fortgeschrieben wurde und im Rahmen derer die Ziele der Nachhaltigkeit und der Legacy einen noch höheren Stellenwert erhielten (7 Kap. 24). Unter Legacy, im Deutschen in der Regel mit Vermächtnis übersetzt, werden nach Preuss (2007) alle geplanten und ungeplanten, positiven und negativen, materiellen und immateriellen Strukturen verstanden, die für und durch ein Ereignis ge 





124

B. Braun und F. Haensch

Erweiterung der Olympischen Charta: Artikel zu Sustainable Development and Environment

Gründung IOC-Kommission für Sport und Umwelt Umwelt als 3. Säule der Olympischen Bewegung 1994

8

1995

Veröffentlichung der IOCNachhaltigkeitsstrategie

Bekenntnis des IOC zur Olympic Agenda 2020

Einführung der Global Games Impact Study

Veröffentlichung des IOCNachhaltigkeitsberichts

Bekenntnis des IOC zur AGENDA 21 1996

1999

Veröffentlichung der Olympic Agenda 2020+5

2000

2014

2017

2018

2021 Jahr

.       Abb. 8.2  Chronologie der Implementierung von Umweltschutz und Nachhaltigkeit in der Olympischen Bewegung. (Nach Gold und Gold, 2013; Karamichas, 2013; Ross & Leopkey, 2017; Müller et al., 2021)

schaffen werden und länger als das Ereignis selbst bestehen bleiben (Preuss, 2015; 7 Kap.  24). Dabei setzte sich vor allem in der Vorbereitung der Spiele von London die Auffassung durch, dass positive Legacies nicht einfach entstehen, sondern bewusst und strategisch entwickelt werden müssen (Agha et  al., 2012, S.  132). Außerdem formulierte das IOC, dass bis 2030 klimapositive Spiele erreicht werden und keine permanenten olympischen Bauten in Naturund Kulturschutzgebieten mehr entstehen sollen (IOC, 2021, S. 6). Die Kritik am IOC und seinem großzügigen Umgang mit Umweltproblemen in den Austragungsstädten und -regionen ist durch diese Initiativen aber nie wirklich abgerissen und erhielt insbesondere während der Olympischen Winterspiele in Peking 2022 wieder neue Nahrung (7 Kap. 7). Zudem gefährdet der Klimawandel zunehmend die Austragung vor allem der Winterspiele – eine Problematik, die bei den Aktiven und ihren Trainerin 



nen und Trainern mittlerweile erhebliche Besorgnis auslöst (Scott et al., 2022). Aus zwei Gründen lohnt sich ein genauerer Blick auf konkrete Beispiele Olympischer Spiele, um deren ökologische Nachhaltigkeit besser beurteilen können. Zum einen können wenige quantifizierbare Indikatoren komplexe Umweltstrategien und -wirkungen nicht umfassend abdecken, und zum anderen spielen insbesondere bei Großereignissen wie Olympischen Spielen auch längerfristige Effekte eine wichtige Rolle.

8.2 

 rei Beispiele Olympischer D Sommerspiele von 2000 bis 2032

Im Folgenden sollen die Umwelt- und Nachhaltigkeitskonzepte von drei Olympischen Sommerspielen genauer betrachtet werden: Sydney 2000, London 2012 und die geplanten Spiele in Brisbane 2032. Sydney

125 Schneller, höher, ökologischer? Die Auswirkungen von…

ging in die Geschichte der Olympischen Spiele als Austragungsort der Green Games ein, bei den Spielen in London wurde das Konzept der Legacy erstmals umfassend umgesetzt, und das Beispiel Brisbane steht für die Zukunft der Olympiaplanungen. Zudem sind der politische, soziale und kulturelle Kontext der drei Fallbeispiele sehr ähnlich, was direkte Vergleiche einfacher macht.

 ie Green Games von D Sydney 2000 Anfang der 1990er-Jahre wurde der Umweltschutz für die Ausrichter von Sportgroßereignissen und das IOC zu einem zunehmend wichtigen Thema. Dies führte dazu, dass seit den Winterspielen von Lillehammer 1994 der Umwelt- und Naturschutz neben den traditionellen Bestrebungen nach der Förderung des Sports und der Kultur die dritte Säule der Olympischen Bewegung darstellt (. Abb.  8.2). Bereits vor der Erteilung des Zuschlags für die Ausrichtung der 27. Olympischen Sommerspiele durch das IOC im Jahr 1993 hatten die Verantwortlichen in Australien die Zeichen der Zeit erkannt und für die Spiele in Sydney auf ein explizit umweltschonendes Konzept gesetzt. So war beispielsweise die weltweit agierende Umweltschutzorganisation Greenpeace schon früh an Konzeption und Planung sowie insbesondere auch an den vom Bundesstaat New South Wales erlassenen Umweltrichtlinien beratend beteiligt. Diese Umweltrichtlinien sahen detaillierte und überprüfbare Selbstverpflichtungen in den Bereichen Energieeinsparung und erneuerbare Energien, Gewässerschutz und Wassereinsparung, Müllvermeidung und Recycling, Gesundheits- und Arbeitsschutz sowie Schutz natürlicher Ökosysteme und des kulturellen Erbes vor (Braun, 2000, S.  197). Konkret sollten beispielsweise alle Sportstätten während der Spiele mit öffentlichen  

8

Verkehrsmitteln erreichbar sein, außerdem bestanden detaillierte Anforderungen u.  a. an die Nutzung von Solarstrom und den Verzicht auf umweltschädliche Baumaterialen (. Tab.  8.1). Durch eine starke Einbindung des Privatsektors in die Bauvorhaben sollten nicht nur die öffentlichen Kassen entlastet werden, sondern auch Impulse für die Diffusion neuer Umwelttechnologien in der australischen Wirtschaft gesetzt werden. Kernelemente der Planung der Spiele waren der Olympiapark in Homebush Bay, der ca.  14  km vom Stadtzentrum entfernt auf einer Industrie- und Gewerbebrache angelegte wurde, sowie das nahe gelegene Olympische Dorf, das als ökologische Mustersiedlung den Kern eines neuen Stadtteils (Newington) bilden sollte. In beiden Bereichen mussten aufwändige Altlastensanierungen durchgeführt werden, die neben Fragen des Artenschutzes immer wieder Anlass zu Diskussionen boten (Braun, 2000, S. 199 f.). Für die Durchführung der Olympischen Sommerspiele erhielten Australien, New South Wales und die Stadt Sydney viel Lob. Dieses galt nicht nur der Ausrichtung der sportlichen Wettbewerbe selbst, vielmehr gelang es in Sydney auch, den Umwelt- und Naturschutz ins Zentrum der Durchführung der Spiele zu rücken. Insbesondere haben die Verkehrs- sowie die Artenschutz-, Landschaftsschutz- und Renaturierungskonzepte gut funktioniert. Fragen werfen allerdings die längerfristigen Effekte der Spiele auf. Da rund zwei Drittel aller Sportstätten neu gebaut werden mussten, bedeutete dies einen enormen Energie- und Ressourcenverbrauch. Aus dieser Sicht erscheint es problematisch, dass viele der neu erstellten Sportstätten sowie das zentrale Olympiagelände nach den Spielen nur noch selten mit voller Kapazität genutzt werden (Searle, 2012). Hiervon ist vor allem auch das Stadium Australia, das ehemalige Olympiastadion, betroffen. Dieses wurde zwar nach den Spielen von 110.000 Plätzen auf 80.000 Plätze  

126

B. Braun und F. Haensch

.       Tab. 8.1  Ökologische Aspekte der Nachhaltigkeitskonzeption der Olympischen Spiele von Sydney 2000. (Nach Sydney Olympics 2000 Bid Limited, 1993a, b; Sydney Organizing Committee for the Olympic Games 2000) Sydney 2000 Nachhaltigkeitsstrategie

Maßnahmen für ökologisch nachhaltige Olympische Spiele

8

Umweltschutzrichtlinien Dominanz der ökologischen Nachhaltigkeit bzw. des Natur- und Umweltschutzes Energie

Fotovoltaikanlagen auf den Dächern des Olympischen Dorfs sowie auf Sport- (z. B. Sydney Super Dome) und Beleuchtungsanlagen Steigerung der Energieeffizienz durch optimierte Luftzirkulation (z. B. International Aquatic Center, Olympisches Dorf, Olympiastadion) Energieversorgung aller Sportstätten zu 100 % aus erneuerbar hergestelltem Strom während der Spiele

Biodiversität/ Umweltschutz

Artenerhaltung von einheimischen Pflanzen auf dem Olympiagelände Schutz und Erhalt der Cumberland Plain Woodlands auf dem Olympiagelände Schutz der umliegenden Feuchtgebiete und ihrer Arten (Mangroven, Green and Golden Bell Frog usw.), Schutz von Reptilienarten, Fledermäusen, Opossums etc. Schutz von Buschland, Wäldern, Fauna, bedrohten Ökosystemen

Abfall

Recycling von 80 % des anfallenden Abfalls während der Spiele Entwicklung eines integrierten Abfallmanagementsystems (Vermeidung von Abfalldeponien)

Transport

Neubau einer S-Bahn-Verbindung zum Olympiagelände Keine Zufahrtsmöglichkeit zu Sportstätten mit privaten Pkw Verknüpfung aller Sportstätten und Gebäude mit ­Shuttle-Bussen

Sportstätten

zurückgebaut, jedoch finden in Sydney nur wenige Sportveranstaltungen statt, für die sich ein Stadion dieser Größe mit Leichtathletiklaufbahn eignet. Auch der neue Stadtteil Newington, der selbst nicht direkt an die neue S-Bahn-Line angeschlossen wurde, hat sich seither zu einer relativ norma-

Neun von 28 Sportwettbewerben fanden in bestehenden Sportstätten statt. Umweltanforderungen waren rahmengebend für die Planung aller neuen Sportstätten.

len australischen Vorortsiedlung mit hoher Automobilabhängigkeit entwickelt. Auch die für das Olympische Dorf prägende Ausstattung der Dächer mit Fotovoltaikanlagen wurde bei den Siedlungserweiterungen aus Profitabilitätsgründen aufgegeben.

127 Schneller, höher, ökologischer? Die Auswirkungen von…

 ie Legacy Games von D London 2012 Die Legacy-Spiele von London 2012 zeichneten sich durch eine betont ökologische Zielsetzung aus, die in der Nachhaltigkeitsstrategie „Towards a One Planet Olympics“ durch das Londoner Organisationskomitee in Zusammenarbeit mit den Nichtregie­ rungsorganisationen World Wild Fund for Nature (WWF) und BioRegional ausgearbeitet wurde. Diese enthält fünf Kernthemen: Drei davon können der ökologischen (Klimawandel, Abfall, Biodiversität) und zwei der sozialen Nachhaltigkeit zugeordnet werden (Inklusion, Gesundheit und Wohlbefinden). Kennzeichnend für die Nachhaltigkeitsstrategie, aber auch die gesamte Konzeption der Olympischen Spiele ist der systematisch berücksichtigte Legacy-Gedanke (Kretschmer & Braun, 2016). Die ­ Ausrichtung der Olympischen Spiele sollte neben dem Umwelt- und Naturschutz auch vielfältige Impulse u.  a. für den Wohnungsbau, die regionalwirtschaftliche Entwicklung, die Beschäftigung sowie den Ausbau von Sportanlagen für den Breitensport setzen (Dietsche & Braun, 2010). Das zentrale Olympiagelände wurde im Londoner Osten auf einer großen industriellen Brachfläche im Lower Lea Valley errichtet (Braun & Viehoff, 2012). Dieses war im 19. Jahrhundert Standort für das produzierende Gewerbe in den Branchen Porzellan, Farben, Chemie und Textilien. Die damals übliche Abfallentsorgung in umliegende Gewässer oder über Deponierung in den Boden führte dazu, dass die Bodenund Gewässerqualität stark beeinträchtigt wurde (Gold & Gold, 2017). Die aufwendige und kostspielige Sanierung des Lower Lea Valleys stellt einen der größten ökologischen Erfolge der Olympischen Spiele von London dar. Gleichzeitig wurde die Gestaltung des Olympiageländes sowie der Bau des Olympischen Dorfs von Beginn an als Initiative zur Stärkung des sozial schwächeren Lon-

8

doner Ostens geplant. Im sogenannten North Park ist eine naturnahe Parklandschaft entstanden, in der Ökosysteme und Habitate für zahlreiche Tier- und Pflanzenarten geschaffen wurden. 4000 neu gepflanzte Jungbäume, über 1 Mio. weitere Pflanzen und die Installation von 675 Vogelund Fledermausunterschlupfen tragen bis heute zur Stärkung der Biodiversität im Park bei (LOCOG, 2012; Gold & Gold, 2015). Das Vorhaben für den South Park unterscheidet sich von dem zuvor genannten insofern, als dieser sich eher zu einem urbanen Lebensort mit vielfältigen Begegnungsräumen für Londonerinnen und Londoner sowie als Veranstaltungsort mit touristischen Potenzialen entwickelte (Gold & Gold, 2015). Im South Park befinden sich die wichtigsten Sportstätten sowie das ehemalige Athletinnen- und Athletendorf, das zu einem Wohnviertel umfunktioniert und um fünf zusätzliche Wohnviertel erweitert wurde (LOCOG, 2012). . Tab. 8.2 zeigt einen Auszug der Nachhaltigkeitskonzeption für die Londoner Spiele, der die ökologische Dimension der Nachhaltigkeit betrifft. Es wird deutlich, dass viele der getroffenen Maßnahmen langfristige Wirkungen haben (z. B. Ausbau erneuerbarer Energien, Dekontamination der Böden, Revitalisierung des Lower Lea Valleys) und Vorbildcharakter entwickeln können (z. B. Abfallmanagement). Gleichzeitig zeigt die Auflistung aber auch, dass nicht alle Ziele und geplanten Maßnahmen umgesetzt werden konnten. Ein Novum der Londoner Olympischen Spiele im Hinblick auf ihre ökologische Nachhaltigkeit war die Berechnung des CO2-Fußabdrucks der Sportveranstaltung (7 Kap.  6). Gold und Gold (2013) argumentieren, dass erstmalig über den Zeitraum ab der Vergabe bis hin zur Durchführung der Spiele die CO2-Emissionen für alle Bereiche der Olympischen Spiele antizipiert und berechnet wurden. Hierfür wurde ein Referenzfußabdruck für ein Business as usual-­ Szenario bestimmt, der sich  



128

B. Braun und F. Haensch

.       Tab. 8.2  Ökologische Aspekte1 der Nachhaltigkeitskonzeption der Olympischen Spiele von London 2012. (Nach LOCOG, 2004, 2012) London 2012 Nachhaltigkeitsstrategie

Maßnahmen für ökologisch nachhaltige Olympische Spiele

8

Sportstätten

1

Towards a One Planet Olympics Ökologische Schwerpunktthemen: Klimawandel, Abfall, Biodiversität Nachhaltige Entwicklung als integraler Bestandteil der Spiele (Bewerbung, Vorbereitung, Durchführung, positives Vermächtnis) Energie

20 % des Energiebedarfs im Olympischen Park durch neue, lokale Energiegewinnungsanlagen gedeckt Konstruktion einer 120 m hohen Windkraftanlage im Olympischen Park Nachhaltige, ökologische Architektur

Biodiversität/ Umweltschutz

Revitalisierung des Lower Lea Valleys Gestaltung des Olympischen Parks als heterogenen Lebensraum Berechnung des CO2-Fußabdrucks der Olympischen Spiele Revitalisierung des Flussökosystems, Kontrolle invasiver Wasserpflanzen Klimakompensationsprogramm

Abfall

Ziel: zero waste (to landfill), d. h. keine Nutzung von Abfalldeponien Mülltrennung, nationale Aufräum- und Aufklärungskampagne Olympische Spiele als Katalysator für neues Abfallmanagement

Transport

Kostenloser ÖPNV für Beschäftigte, Zuschauerinnen und Zuschauer Keine private Pkw-Zufahrtsmöglichkeit zu Sportstätten Emissionsfreie Shuttle-Busse für Transport auf olympischem Gelände Ausbau des Radwegenetzes Rückbau des Olympiastadions von 80.000 auf 25.000 Sitzplätze Neubau von Velodrom und Schwimmhalle aufgrund langfristiger lokaler Bedarfe Prüfung hinsichtlich temporärer Sportstätten (z. B. für Basketball, Hockey)

Nicht realisierte Maßnahmen und Zielsetzungen im Kursivdruck

129 Schneller, höher, ökologischer? Die Auswirkungen von…

auf 3,4 Mio. t CO2 belief (Hayes & Horne, 2011, S. 755). Das Organisationskomitee ergriff unterschiedliche Maßnahmen (60  % aller für die Spiele genutzten Sportstätten bestanden schon, Einsatz erneuerbarer Energien, Entwicklung CO2-armer Technologien), um den Fußabdruck auf 1,9 Mio. t CO2 zu senken. Hieraus leitet sich eine wichtige Empfehlung für zukünftige Großveranstaltungen ab, diese Berechnungen systematisch zu implementieren, um das Bewusstsein für Nachhaltigkeit zu stärken und tatsächliche Veränderungen zu erwirken.

 ie Embedded Games von D Brisbane 2032 2032 werden die Olympischen Spiele im australischen Brisbane stattfinden. Die Vision, die das Bewerbungskomitee erarbeitet hat, orientiert sich stark am Konzept der Spiele von Sydney, stellt sich aber auch den gewachsenen Anforderungen an eine Großveranstaltung 30 Jahre später. An dieser Stelle sei angemerkt, dass die folgenden Ausführungen auf den ersten Planungsentwürfen basieren und die Konzeption und die Ausgestaltung der Spiele von Brisbane bis 2032 noch eine Vielzahl von Konkretisierungen (und ggf. Veränderungen) erfahren ­dürften. Ein wesentliches Merkmal der Konzeption für die Olympischen Spiele im Raum Brisbane ist die Forcierung katalytischer Effekte für die Regionalentwicklung. Die gesamte Region South East Queensland soll durch die Ausrichtung der Olympischen Spiele nachhaltig gestärkt werden  – auch indem die Wettbewerbe nicht nur in Brisbane selbst, sondern ebenfalls in den Städten Gold Coast (65 km entfernt) und Sunshine Coast (85 km entfernt) stattfinden sollen (. Abb.  8.3). Brisbane hat bei der Bewerbung um die Ausrichtung der Spiele deutlich gemacht, dass viele der notwendigen Maßnahmen, wie der Ausbau von  

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Sportstätten und der Verkehrsinfrastruktur, im Einklang mit bereits existierenden Stadtentwicklungsvorhaben und -plänen stehen. Somit würde die Sportgroßveranstaltung keine ungenutzten Stadien hinterlassen, sondern sich nahtlos in die längerfristige Regionalplanung von South East Queensland einfügen. Die weite räumliche Verteilung der Sport- und Veranstaltungsstätten erfordert ein komplexes und leistungsfähiges Transportsystem. Das Bewerbungsdokument identifiziert daher die Förderung von integrierten und nachhaltigen Verkehrslösungen als ein Kernziel der Olympiaplanungen (Brisbane 2032 Consortium, 2021, S. 7). Bislang sind alle bestehenden und neu geplanten Sportstätten über das Straßennetz mit dem Pkw erreichbar, der Großteil soll bis 2032 jedoch auch an den öffentlichen Verkehr angebunden werden. Hierfür sind umfassende Investitionen und Kapazitätserweiterungen im Bus- und Bahnverkehr von Brisbane vorzunehmen. Nicht nur die Ausrichtung der Olympischen Spiele, sondern auch das starke Bevölkerungswachstum in der Metropolitan Area erfordern den Ausbau des öffentlichen Verkehrs, denn bereits heute hat die bestehende Verkehrsinfrastruktur ihre Belastungsgrenze erreicht. Insbesondere der exzessive motorisierte Individualverkehr verursacht nicht nur hohe CO2-Emissionen und den Ausstoß von Luftschadstoffen, sondern führt auch zu einer Überlastung der Hauptverkehrsachsen. . Abb.  8.3 veranschaulicht, dass die Unterbringung der Sportlerinnen und Sportler dezentral in den Städten Brisbane, Gold Coast und Sunshine Coast organisiert werden soll. Dabei stehen die Unterkünfte in Brisbane als Hauptstandort der Olympischen Spiele im Vordergrund. Das zentrale Dorf für die Athletinnen und Athleten wird als Teil eines großen Stadterneuerungsvorhabens gebaut, mit dem das alte Hafengelände Hamilton Northshore grundlegend transformiert werden soll. Bereits seit 2008  

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8

.       Abb. 8.3  Geplante Austragungsorte und Infrastrukturmaßnahmen der Olympischen Spiele in Brisbane und Umgebung 2032. (Nach Brisbane 2032 Consortium, 2021, S. 15)

wird an der Entwicklung dieses 300 ha großen Geländes gearbeitet. Nach den Olympischen Spielen soll das Olympische Dorf zu frei verkäuflichen Wohneinheiten für verschiedene Bevölkerungsgruppen (auch

altersgerechtes Wohnen, Sozialwohnungen usw.) umgewandelt werden. Der derzeitige Planungsstand der Olympischen Spiele sieht allerdings erst relativ wenige konkrete ökologische Maßnahmen vor (. Tab. 8.3).  

131 Schneller, höher, ökologischer? Die Auswirkungen von…

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.       Tab. 8.3  Ökologische Aspekte der Nachhaltigkeitskonzeption der Olympischen Spiele von Brisbane 2032. (Nach Brisbane 2032 Consortium, 2021) Brisbane 2032 Nachhaltigkeitsstrategie

Maßnahmen für ­ökologisch nachhaltige Olympische Spiele

Klimapositive Olympische Spiele Einbettung der Spiele in existierende Regionalentwicklungspläne Energie

Einsatz von erneuerbaren Energien für das „Queensland Renewable Energy“-Ziel (Energieversorgung mit 50 % erneuerbaren Energien bis 2030)

Biodiversität/ Umweltschutz

Kein Bau von Sportstätten in Naturschutzgebieten oder auf kulturell bedeutsamen Stätten der Aborigines

Abfall

Förderung von Abfallreduzierung und Kreislaufwirtschaft

Transport

Elektrisch betriebener Fuhrpark für die Olympischen Spiele Keine Pkw-Zufahrtsmöglichkeiten zu den Sportstätten Ausbau von Fahrrad- und Fußwegen Förderung von integrierten Transportlösungen

Sportstätten

8.3 

Entwicklungslinien: Ökologie und Nachhaltigkeit von Olympischen Spielen

Aus der Betrachtung der Fallbeispiele Sydney, London und Brisbane lassen sich vier zentrale Entwicklungslinien bei der Gestaltung der Nachhaltigkeits- und Umweltschutzkonzepte von Olympischen Sommerspielen ableiten.

 on ökologischer zu umfassender V Nachhaltigkeit Die Nachhaltigkeitskonzepte einschließlich ihrer ökologischen Ausrichtung wurden mit der Zeit komplexer und gehen von einem zunehmend ganzheitlichen Nachhaltigkeits-

Nutzung von 31 bereits bestehenden Sportstätten sowie temporären Sportanlagen (insges. 84 % aller Sportstätten) Neubau von sechs Sportstätten, deren Bau bereits in der Regionalplanung vorgesehen ist

verständnis aus. Mit dem klaren Fokus der Spiele von Sydney auf den Umwelt- und Naturschutz erhielt der ökologische Nachhaltigkeitsgedanke erstmals einen zentralen Platz in der Konzeption von Olympischen Sommerspielen. Mit der Erarbeitung der Environmental Guidelines entstand ein Dokument, das zum Maßstab bei der Konzeption späterer Olympischer Spiele wurde (Chalkley & Essex, 1999). Dies kommt auch in der Nachhaltigkeitsstrategie der Londoner Spiele explizit zum Ausdruck. Darüber hinaus waren die Londoner Spiele geprägt durch die systematische Berücksichtigung der Legacy der Spiele in jeder Phase (Bewerbung, Konzeption, Planung, Durchführung, Evaluation; . Tab. 8.2). Durch die Formalisierung und systematische Berücksichtigung des Legacy-Gedankens hat London einen ganzheitlichen Ansatz von Nach 

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haltigkeit eingebracht, so Girginov (2012), der auch in der Konzeption der Spiele von Brisbane zum Ausdruck kommt. Dieser verfolgt zwei zentrale Anliegen: Zum einen werden alle drei Nachhaltigkeitsdimensionen angesprochen, und zum anderen sollen langfristige Effekte für die gesamte Region eine positive Legacy ermöglichen. Insgesamt zeigt sich, dass sich der Nachhaltigkeitsgedanke von seiner noch stark ökologisch dominierten Interpretation im Jahr 2000 bis heute zu einem breiteren Verständnis gewandelt hat, in dem vor allem die langfristigen sozialen und regionalwirtschaftlichen Komponenten mehr Beachtung finden.

8

 om kompakten Olympiagelände V zur dezentralen Olympiaregion Eine weitere erkennbare Entwicklungslinie betrifft die räumliche Struktur der Olympischen Spiele. Während bei den Olympischen Spielen von Sydney nur ein Drittel der benötigten Sportstätten bereits existierte, werden es 2032 bei den Spielen in Brisbane über zwei Drittel sein. Nur 16  % aller Sportstätten sollen in Brisbane neu errichtet werden (Brisbane 2032 Consortium, 2021). Der kompakt gestaltete Olympic Park an der Homebush Bay in Sydney entsprach den damaligen Wünschen des IOC nach einer räumlichen Konzentration der Sportstätten und des Olympischen Dorfes. Gleichzeitig war die Realisierung eines solchen Projekts aber nur weit außerhalb des Stadtzentrums möglich (Kapiteleröffnungsbild), sodass das Olympiagelände von Beginn an räumlich relativ isoliert war und mit den angrenzenden, neu entstandenen Stadtteilen bis heute nicht optimal an das öffentliche Verkehrsnetz angebunden ist. Das Beispiel London ähnelt in einigen Punkten den Gegebenheiten von Sydney. Das Londoner Olympiagelände entstand ebenfalls auf einer Industriebrache und zeichnete sich durch kurze Wege zwi-

schen den Sportstätten aus. Die derzeitigen Planungen für die Olympischen Spiele in Brisbane zeichnen ein deutlich anderes Bild. Ein kompaktes Olympiagelände ist hier nicht mehr vorgesehen, das Konzept baut vielmehr auf die weitgehende Nutzung bereits vorhandener Sportstätten. Während es in Sydney und London noch relativ kompakte, zentrale Standorte für die Wettbewerbe gab, wird in Brisbane die gesamte Großregion South East Queensland in die Planungen ­eingebunden.

 lympische Dörfer: von O ökologischen und sozialen Vorzeigeprojekten zu gentrifizierten Siedlungen Das Olympische Dorf von Sydney war zu seiner Zeit ein ökologisches Vorzeigeprojekt: Auf allen Dächern der Unterkünfte wurden Fotovoltaikanlagen installiert und eine für australische Verhältnisse relativ verdichtete Siedlungsstruktur umgesetzt. Im Anschluss an die Spiele wurde das Dorf durch private Investitionen umgebaut und zu einem neuen Suburb Sydneys erweitert. Die stringenten Vorgaben für eine energieeffiziente Bauweise wurden dabei ebenso gelockert wie die Verpflichtung zum Einsatz von Fotovoltaikanlagen (Cashman, 2017). Aus dem einstigen Vorzeigeprojekt wurde somit ein Wohnort für eine eher wohlhabende Bevölkerung, der sich von anderen australischen Suburbs heute nur noch wenig unterscheidet. Das Organisationsteam der Londoner Spiele hat sich Sydney im Hinblick auf das Athletinnen- und Athletendorf und dessen Weiterentwicklung zu städtischem Wohnraum zumindest teilweise als Vorbild genommen. Während die Planungsphase jedoch noch explizit das Ziel der Schaffung von Sozialwohnungen im sozioökonomisch schwächeren Londoner Osten verfolgte, wurde die Sozialwohnungsquote später deutlich redu-

133 Schneller, höher, ökologischer? Die Auswirkungen von…

ziert (Viehoff & Kretschmer, 2013; Watt & Bernstock, 2017). Dieses Risiko besteht auch mit Blick auf das geplante zentrale Athletinnen- und Athletendorf in Brisbane. Als Teil eines großen Stadterneuerungsvorhabens auf dem alten Hafengelände Northshore Hamilton wird in den Bewerbungsunterlagen zwar eine diverse zukünftige Bevölkerungsstruktur skizziert, im direkten Umfeld des geplanten Olympischen Dorfs sind zuletzt jedoch fast ausschließlich exklusive und hochpreisige Wohnungen entstanden, sodass eine ausgeglichene Mischung aus günstigen Sozialwohnungen, bezahlbarem Seniorenwohnen und gehobenen Wohneinheiten an diesem Standort nur schwer vorstellbar ist. So erscheint es nicht unwahrscheinlich, dass sich auch in Brisbane, wie zuvor in Sydney und London, die weitreichenden Vorstellungen von den Olympischen Dörfern als ökologische und soziale Vorzeigeprojekte dauerhaft nicht durchhalten lassen.

 om Umweltschutz zur V Nachhaltigkeit zur Legacy Die Analyse der drei Fallbeispiele zeigt, dass Nachhaltigkeit bei der Konzeption der Olympischen Spiele eine sukzessiv stärkere Berücksichtigung gefunden hat. Angefangen mit einem noch stark ökologisch geprägten Nachhaltigkeitsverständnis bei den Spielen von Sydney hat das Nachhaltigkeitskonzept in London nicht nur eine deutlich stärkere soziale Dimension erhalten, sondern wurde insbesondere auch um den Legacy-Gedanken erweitert. Seit London 2012 berücksichtigen die Konzepte für die Ausrichtung der Olympischen Spiele das Ziel eines möglichst positiven Vermächtnisses. Zahlreiche Studien konstatieren jedoch, dass Mega­ events wie Olympische Spiele aufgrund ihrer Größe und ihrer vielfältigen Anforderungen an die Ausrichtungsstädte überhaupt nicht

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nachhaltig sein können (z. B. Gaffney, 2013; Müller et  al., 2021). Gerade auch deshalb kommt der Frage der dauerhaften positiven Effekte für die Ausrichtungsstädte und die sie umgebenden Regionen eine besondere Bedeutung zu. Bei der Konzeption der Spiele von Brisbane spielt dieser Aspekt dann auch eine zentrale Rolle, bei einer allerdings im Vergleich zu Sydney auffällig geringeren Betonung ökologischer Verbesserungen.

8.4 

Fazit

Maßnahmen zur Erhöhung der Umweltverträglichkeit von Sportgroßveranstaltungen können im Einzelnen viele verschiedene Formen annehmen. Es lassen sich aber auch einige grundsätzliche Empfehlungen für zukünftige Planungen ableiten. Durch eine möglichst weitgehende Nutzung bereits bestehender Sportstätten und Infrastruktur lassen sich in erheblichem Umfang Ressourcen, Energie und Treibhausgasemissionen einsparen. Die Flächenneuinanspruchnahme ist deutlich reduziert und die Problematik der Nachfolgenutzung der Sportstätten erheblich vermindert. Eine solche Strategie ist für Sportgroßveranstaltungen wie Fußball-­Weltmeisterschaften, Tour de France oder Vierschanzentournee allerdings einfacher umzusetzen als für Olympische Spiele. Ob es realistisch ist, wie etwa Müller et al. (2021) vorschlagen, Olympische Spiele nur noch innerhalb einer kleinen Gruppe von festgelegten Austragungsstädten rotieren zu lassen, in denen die gesamte Infrastruktur dann jeweils schon bestünde, ist fraglich. Eine solche Lösung wäre zwar zweifellos ökologisch sinnvoll, würde den Vorstellungen des IOC, die Olympische Idee weltweit zu verbreiten und auf allen Kontinenten erlebbar zu machen, aber doch erheblich widersprechen. Außerdem wäre damit vielen anderen Städten und Regionen die Möglichkeit genommen, die Aus-

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tragung Olympischer Spiele als Motoren für ihre (nachhaltige) Stadt- und Regionalentwicklung zu nutzen (7 Kap. 22). Schneller und einfacher umsetzbar wären andere Vorschläge. So erscheint es ratsam, bei der Ausrichtung von Sportgroßereignissen konsequent maßgebliche Nachhaltigkeitsindikatoren zu erfassen und die entstehenden ökologischen Fußabdrücke konsequent zu berechnen, zu kontrollieren und für jeweils alternative Lösungen zu bewerten. Es wäre wichtig, dass dies von einer unabhängigen Organisation erfolgt, die überörtlich die Einhaltung von vergleichbaren Mindeststandards sicherstellen kann. Bereits in der Vergangenheit hat sich die Kooperation mit Nichtregierungsorganisa­tionen bewährt. Durch diese lässt sich eine externe Überprüfung von Umweltauswirkungen sicherstellen, die das IOC wie auch andere große Sportverbände (FIFA, UEFA usw.) durch ihre starke Einbindung in die jeweiligen Organisationsprozesse und ihre wirtschaftlichen Interessen nicht leisten können. Letztlich muss aber auch die Frage gestellt werden, ob Sportgroßereignisse wirklich weiterhin so groß sein oder sogar noch wachsen müssen. Ein Downsizing der Veranstaltungen würde sich auf nahezu alle Umwelt- und Nachhaltigkeitsindikatoren positiv auswirken sowie den Energie- und Ressourcenverbrauch unmittelbar deutlich vermindern. Höher, schneller, weiter und größer ist eben in aller Regel nicht nachhaltiger und schon gar nicht ökologischer.  

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? Übungs- und Reflexionsaufgaben 1. Erläutern Sie, welche Umweltauswirkungen Sportgroßereignisse haben können  – differenziert nach kurzfristigen Auswirkungen während der Veranstaltung selbst und langfristigen Auswirkungen in der Zeit danach. 2. Entwickeln Sie Vorschläge, wie die negativen Umweltauswirkungen von Olympischen Spielen signifikant vermindert werden können.

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Nachhaltigkeitsziele von Sportgroßveranstaltungen auf der Arabischen Halbinsel: Die Fußball-­Weltmeisterschaft der Männer 2022 in Katar Nadine Scharfenort

Blick auf West Bay, Doha. (© Nadine Scharfenort)

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Gans et al. (Hrsg.), Sportgeographie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66634-0_9

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Inhaltsverzeichnis 9.1

( Mega-)Sportevents – Strategie für Wachstum und Entwicklung – 139 F ußball – weltweites Phänomen mit hoher Aufmerksamkeit – 140 Sport, Macht und Politik – 141 Sportifizierung der Arabischen Halbinsel – 142 Neue Sportmärkte – 142 Klimatische Barrieren – 143

9.2

 atar und die FIFA Fußball-Weltmeisterschaft K der Männer 2022 – 143  leines Land, großer Auftritt – 144 K Stadt- und Wirtschaftsentwicklung – 144 Vorbereitung auf das Event – 147 CO2-neutrales Turnier der kurzen Wege – 147

9.3

Widerstand gegen die Fußball-Weltmeisterschaft – 148  ekleidung – 148 B Bier und Bratwurst – 149 Klimatische Herausforderungen – 150 Ökologische Herausforderungen – 150

9.4

 wischen Boykott, Begeisterung Z und Bestürzung – 150 # BoycottQatar2022 – die Spiele boykottieren? – 151 Beyond Qatar 2022 – 151 Neue geopolitische Macht- und Kräfteverhältnisse – 151 Fair Play! – 152

Literatur – 152

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139 Nachhaltigkeitsziele von Sportgroßveranstaltungen auf der Arabischen…

Einleitung Die FIFA Fußball-Weltmeisterschaft 2022TM, die mit großem medialen Interesse weltweit verfolgt wurde, war seit ihrer Vergabe im Dezember 2010 mit mehreren Überraschungen und kleinen „Sensationen“ verbunden: So handelte es sich um die erste Fußball-Weltmeisterschaft (WM), die in einem muslimisch-arabischen Land ausgetragen und aufgrund der extremen klimatischen Verhältnisse aus dem bisher üblichen Zeitfenster der Nebensaison der europäischen Fußball-Ligen (Juni/Juli) in den europäischen Winter (20.11.–18.12.2022) verlegt wurde. Weiterhin setzte sich das Land, das keine nennenswerte Fußballtradition aufweist, gegen Konkurrenten wie Australien, Japan, Südkorea und die USA durch. Die Vergabe des Megaevents an Katar polarisierte die Weltöffentlichkeit und wurde ambivalent diskutiert. Die zeitliche Verlegung des Events hatte einerseits Auswirkungen auf den etablierten medialen Sportübertragungskalender und auf herkömmliche Gewohnheiten der (westlichen) Fankultur (z. B. Public Viewing, Fanmeilen, Outdoor Viewing), die nach Lösungsansätzen verlangten. Andererseits wurden die einflussreiche Rolle der FIFA sowie Bestechungsversuche, die Vergabe von Übertragungsrechten, aber insbesondere die Situation von Arbeitsmigrantinnen und -migranten in Katar über Jahre hinweg diskutiert. Menschenrechtsorganisationen, Repräsentantinnen und Repräsentanten aus Wissenschaft, Politik und Wirtschaft, Athletinnen und Athleten aus unterschiedlichen sportlichen Disziplinen, organisierte Fußballfans und andere Akteurinnen und Akteure riefen im Vorfeld des Sportgroßereignisses zum Boykott auf. Im Vergleich zur WM in Russland (2018), Brasilien (2014) oder Südafrika (2010) erreichte die Verurteilung der Austragung der WM in Katar im öffentlichen Diskurs eine neue Qualität und ein bislang unbekanntes emotionales Ausmaß. Die in vielen europäischen Ländern geübte Kritik wurde insbesondere in

den Diskussionen über Benachteiligung von Frauen, Verletzung von Menschenrechten, Diskriminierung der sexuellen Identität, menschenunwürdige Arbeitsbedingungen oder der gelebten Wertkonservativität in Katar sichtbar. Der Beitrag diskutiert Aspekte der politischen, wirtschaftlichen, ökologischen und soziokulturellen Nachhaltigkeit, die im engen Kontext mit der umstrittenen Austragung dieses prestigeträchtigen Sportturniers stehen.

9.1 

(Mega-)Sportevents – Strategie für Wachstum und Entwicklung

Megaevents in öffentlichkeitswirksamen Sportarten, wie Olympische Spiele (7 Kap.  8 und  22), Formel-1-Grand-Prix (7 Kap.  10 und  18), Tour de France (7 Kap.  2), insbesondere aber die FIFA Fußball-­ Weltmeisterschaften der Männer (. Abb.  9.1), erhalten eine hohe mediale Aufmerksamkeit mit globaler Reichweite und bieten somit den austragenden Standorten und allen beteiligten Akteurinnen und Akteuren eine Plattform zur Realisierung ihrer spezifischen Interessen (Mittag & Nieland, 2011, S. 623). Aufgrund der unmittelbaren ökonomischen Implikationen sowie indirekten Wirkungen (z.  B.  Beeinflussung von Images, Wahrnehmungen; 7 Kap.  13), folgen die Vergaben wirtschaftspolitischen Strategieentscheidungen, die sich vermehrt über Konventionen, Normen und Werte sowie Grenzen von Transparenz, Akzeptanz, Gewohnheit und Toleranz hinwegsetzen (7 Kap. 22). Parallel dazu hat die zunehmende Internationalisierung von Sportevents den Sporttourismus gefördert, und Menschen ­ treffen eine Reiseentscheidung auch im Zusammenhang mit der Teilnahme an Sportveranstaltungen (7 Kap. 18). Aus Zuschau­ ersicht wird das Interesse, in eine bestimmte  













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N. Scharfenort

80.000 70.000 60.000 50.000 40.000 30.000 20.000 10.000 0

4.000.000 3.500.000 3.000.000 2.500.000 2.000.000 1.500.000 1.000.000 500.000 0

ay n ch en iz en ile d ko d en en ko en A ch an d ka en d gu Italie krei asili chwe wed 2 Ch nglan exi chlan tini pani exi Itali 94 US krei /Jap chlan dafri asili sslan u r U 4 an B r S c h 6 E 0 M t s e n S 6 M 0 9 a n e a t s ü B r R u 30 93 Fr 0 54 S 19 1966 197 Deu 8 Arg 1982 198 199 1 98 Fr Kor Deu 010 S 014 018 19 1 1938 195 19 1958 2 2 74 7 19 2002 2006 2 19 19 Gesamtzahl der Zuschauerinnen und Zuschauer durchschnittliche Anzahl der Zuschauerinnen und Zuschauer pro Spiel

..      Abb. 9.1  Anzahl der Zuschauerinnen und Zuschauer bei Fußball-Weltmeisterschaften, 1930–2018. (Nach Statista, 2022a, S. 31)

9

Stadt oder ein Land zu reisen, von der Attraktivität und individuellen Wahrnehmung der Destination beeinflusst (Madichie, 2013, S. 1852 f.). Folglich kann sich ein negatives Image einerseits auf die Reiseentscheidung auswirken und andererseits dem Ruf der Destination und somit dem Aufbau der Tourismuswirtschaft schaden.

 ußball – weltweites Phänomen F mit hoher Aufmerksamkeit Zweifelsohne ist Fußball eine der beliebtesten Sportarten der Welt und mit seinen vielfältigen Facetten ein gesellschaftliches, wirtschaftliches, mediales, kulturelles und nicht zuletzt ein politisches Phänomen. Bei der Vergabe von Sportgroßereignissen wurden in den vergangenen Jahren vorzugsweise Staaten berücksichtigt, deren Märkte noch sportökonomisches Wachstumspotenzial versprachen. Dabei diffundierte der Fußballsport aus den gesättigten Sportmärkten zunehmend in Schwellenländer (emerging markets). Neben der Konstruktion z. B. neuer Fußballnationen erfolgte die

Integration mehr oder weniger einflussreicher Player in das globale Netzwerk. Die austragenden Standorte erhofften sich dadurch eine erhöhte Sichtbarkeit sowie langfristig positive ökonomische Effekte (Maier, 2020, S.  15  f.; 7 Kap.  10, 12 und  13). Tatsächlich generieren sportliche Großereignisse, insbesondere die FIFA-WM, regelmäßig ein erhebliches  – und damit auch soziale, räumliche und ethnische Grenzen überschreitendes – Zuschauerinteresse (Mittag & Nieland, 2011, S.  624; 7 Kap.  19), wodurch die Destinationen von Vor-Ort-­ ­ Besucherinnen und -Besuchern sowie externe Leistungsträger (z. B. nationale Fernsehanstalten, Streaming-Dienste, sonstige Dienstleister, Lizenznehmerinnen und -nehmer) von der Vielzahl an „stationären“ Konsumentinnen und Konsumenten profitieren. Auch die FIFA verfolgt mit ihrem Motto „Making Football Truly Global“ ein ehrgeiziges Ziel und strebt seit ihrem Strategiewechsel 2016 die Wahrnehmung als global aktive, offene und inklusive Institution an, um den Fußballsport auf allen Kontinenten in gleicher Weise auf ein wettbewerbsfähiges  



141 Nachhaltigkeitsziele von Sportgroßveranstaltungen auf der Arabischen…

Spitzenniveau zu entwickeln. Die 1904 von den nationalen Fußballverbänden Belgiens, Dänemarks, Frankreichs, Schwedens, der Niederlande und der Schweiz gegründete FIFA war einer der ersten professionellen, international operierenden Sportverbände. Die Anzahl der Mitglieder hat sich bis heute auf 211 erhöht und liegt damit deutlich über der Mitgliederzahl von internationalen Organisationen wie beispielsweise der Vereinten Nationen (193). Die FIFA fördert und pflegt ihre Präsenz durch wechselnde Sponsorenpartnerschaften mit global agierenden Unternehmen wie Adidas, CocaCola, Hyundai, Qatar Airways, Visa und Wanda (FIFA, 2022).

Sport, Macht und Politik Seit den 1990er-Jahren haben sich ausweitende und intensivierende Globalisie­ rungsprozesse auch den Bereich des (Profi-) Sports erfasst. Neben hoch dotierten Spielertransfers, Franchisepartnerschaften oder dem weltweiten Vertrieb von Fanartikeln erschließen auch Sportevents neue Standorte und drängen in neue konsumentenstarke Absatzmärkte aus den gesättigten traditionellen „Sportländern“ in Nord- wie Südamerika und Westeuropa (Nys, 1999, zit. nach Ratten & Ratten, 2011, S. 617 f.). Beispiele aus dem Fußball sind die FIFA-­WM in Korea und Japan (2002), Südafrika (2010), Russland (2018) oder die FIFA Klub-Weltmeisterschaft in Marokko (2013, 2014), Katar (2019, 2020) und den Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE; 2009, 2010, 2017, 2018, 2021). Die Austragung von Sportmegaevents stellt einen milliardenschweren Wirtschaftsfaktor dar und bedeutet für den Gastgebenden zusätzlich ein hohes Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit auf der „globalen Bühne“ (Mittag & Nieland, 2011, S. 623) – und damit eine einmalige Chance, sich der Weltöffentlichkeit zu präsentieren. Fortschreitende Verflechtungen des Sports

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mit anderen gesellschaftlichen Bereichen haben allerdings dazu geführt, dass es zu einer immer stärkeren Instrumentalisierung des Sports für Interessen und Ziele jenseits des Sports gekommen ist (7 Kap. 5). Immer mehr Länder entwickeln Nation-Branding-­ Strategien, um sich mit der Austragung von Megaevents konkurrenzfähig im globalen Netzwerk zu positionieren – ungeachtet der (sport-)politischen, ökonomischen, ökologis­ chen und soziokulturellen Herausforderungen und Implikationen, die mit der Ausrichtung verbunden sind (7 Abschn.  9.3). Begleitet werden diese Strategien häufig durch ­staatliche Initiativen zur Förderung des Spitzen- und Breitensports (7 Kap.  14) sowie ­öffentliche Unterstützung im Bewerbungsverfahren. Bei den für die Weltöffentlichkeit häufig intransparenten Vergabeentscheidungen üben international agierende Sportverbände (z. B. FIFA, IOC) einen essenziellen Einfluss auf die Organisation vor und die Durchführung während des Events aus. Zunehmend in der Kritik stehen neben den aufwendigen Verfahren mit erheblichem Einsatz von finanziellen, personellen und materiellen Ressourcen auch ungelöste und z. T. negierte Interessenskonflikte (z. B. Vertreibung von Bevölkerungsgruppen, prekäre Arbeitsbedingungen), mitunter begleitet durch Proteste und Boykottaufrufe. Auch der Nexus von Sport und der Orientierung und Durchsetzung von westlichen Interessen, Normen, Werten und Konzepten wie Nachhaltigkeit (7 Kap.  7) und Menschen­ rechte, stehen im medialen und wissenschaftlichen Diskurs (Mittag & Nieland, 2011, S. 626 f.). Die Vergabe von Sportgroßereignissen an wachstumsstarke, aber häufig instabile Demokratien oder autoritär geführte Staaten wie Saudi-Arabien, Katar, die VAE oder China lässt den Vorwurf des Sportswashings aufkeimen, nämlich mithilfe des (Spitzen-) Sports ein freundliches, inklusives und weltoffenes Image zu vermitteln. Dieses Ziel offenbart das Verhältnis von wirtschaft 







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N. Scharfenort

lichem Renditedenken und politischem Desinteresse an humanitären oder demo­ kratiebezogenen Aspekten. Menschenrechts­ problematiken, Korruption oder Amtsmissbräuche, die im Zusammenhang mit sportlichen Megaevents bekannt wurden (z.  B. EURO 2012 Polen/Ukraine, FIFA-WM 2018 in Russland, Olympische Winterspiele 2022  in China), führten zwar zu vorübergehenden Forderungen nach Kartenrückgaben bis hin zu Boykottdrohungen durch politische Amtsinhaberinnen und -inhaber, Sportinteressierte, Athletinnen und Athleten sowie andere Personen des öffentlichen Lebens, wurden letztendlich jedoch nicht konsequent durchgesetzt (Mittag & Nieland, 2011, S. 626 ff.).

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 portifizierung der Arabischen S Halbinsel Bis Mitte des 20. Jahrhunderts war die Ara­ bische Halbinsel, insbesondere die heutigen Länder Bahrain, Katar und die VAE, infrastrukturell kaum entwickelt sowie geopolitisch und ökonomisch unbedeutend. Ihr Erdöl- und Erdgasreichtum führten zu einer hochgradigen Integration in die globale Wirtschaft, und der Export der fossilen Ressourcen erlaubte den monarchischen Regimen eine rasante Modernisierung durch massive Investitionen in den Aufbau der Infrastruktur. Die Region erlebte ein beispielloses wirtschaftliches, städtebau­ liches und demographisches Wachstum. Der Mangel an Arbeitskräften und Know-how führte zum Zuzug überwiegend männlicher Migranten aus arabischen Ländern, Asien und Europa, sodass sich von 1970 bis 2018 die Bevölkerungszahl von 8 auf 85 Mio. vervielfachte (Scharfenort, 2020, S. 4). Zur Sicherung ihres Wohlstands leiteten alle Staaten eine Diversifizierung der Wirtschaft ein, bei der Tourismus und die Austragung von Sportevents eine bedeutende Rolle spielen. Diese Entwicklung war eng verknüpft mit

einer zunehmenden Mobilität von Kapital, Gütern und Menschen, was sich wiederum auf die Veränderung der Stadtlandschaften, Lebensstile, Konsummuster und auf die Bevölkerungszusammensetzung auswirkte. Diese Dynamik stellte und stellt eine ständige Herausforderung für die Staaten und ihre Bevölkerung dar.

Neue Sportmärkte Sportgroßereignisse werden von Staatsoberhäuptern im Allgemeinen als willkommene Geldbringer (cash cows) sowie als einmalige Gelegenheit, die Gastfreundschaft eines Standorts zu demonstrieren und Stereotypen wie Vorurteile zu überwinden, gesehen. Regierungen investieren daher in großem Umfang in den Sport mit der Erwartung, dass er die wirtschaftliche und soziale Entwicklung vorantreibt (Hoye et al., 2006, zit. nach Madichie, 2013, S.  1843). Auch wenn in den Staaten am Persischen Golf die Wahrnehmung und Konnotation von Sport, körperlicher Betätigung sowie Bewegungs- und Fankultur im Vergleich zum europäischen Raum einen anderen gesellschaftlichen Stellenwert aufweisen, ist es übergeordnetes Ziel, als Sportdestination auf globaler Ebene wahrgenommen zu werden. Daher wird das Engagement im Profisport Teil der Marketingstrategie und als politisches und ökonomisches Investment betrachtet (Bromber & Krawietz, 2013). Besonders die Austragung hoch dotierter Sportevents in den VAE, Katar und Bahrain hat in den letzten Jahren internationale Aufmerksamkeit erregt. Wenn auch vielfach umstritten, hat die Formel-1 vier Standorte auf der Arabischen Halbinsel in ihren Rennkalender aufgenommen. Weitere internationale Turniere, z. B. Tennis, Golf, Radsowie Kamel- und Pferderennen, finden im regelmäßigen Turnus statt. Seit Jahren bekannt  – und nicht weniger umstritten  – ist das Engagement von Flagschiffunterneh-

143 Nachhaltigkeitsziele von Sportgroßveranstaltungen auf der Arabischen…

men, Investmentorganisationen oder Privatpersonen aus den arabischen Golfstaaten speziell im europäischen Fußball in Form von Eigentümerschaften (wie im Falle Manchester City oder Paris St. Germain), Namensrechten (z. B. das Emirates Stadium in London), Trikotsponsoring (z.  B.  FC Bayern München und FC Barcelona) oder sonstigen Partnerschaften im Zusammenhang mit Sport und Events (z. B. die UEFA Europameisterschaft 2020).

Klimatische Barrieren Das heiße Wüstenklima auf der Arabischen Halbinsel ist mit Tageshöchsttemperaturen von z. T. weit über 40 °C zwischen Mai und Oktober eine nicht zu unterschätzende Herausforderung. Ein längerer Aufenthalt oder gar sportliche Betätigung im Freien sind für über die Hälfte des Jahres aus gesundheitlichen Gründen ausgeschlossen. Umso bedeutender ist unter diesen Umständen ein ausgewogenes Angebot an klimatisierten Einrichtungen zur Ausübung von Sport- und Freizeitaktivitäten, die aber im Grundsatz eine zusätzliche ökologische Belastung bedeuten. In den vergangenen Jahren wurden im Zuge des Ausbaus der Freizeitinfrastruktur zumindest in den größeren Städten der GKR-Staaten1 zahlreiche Institutionen (z. B. Clubs, Trainingszentren, Fitnessstudios) für die lokale Bevölkerung geschaffen, die klimatisierte Innenräume, aber auch Outdoorbereiche anbieten. Die Nutzung der Angebote ist in der Regel an hohe Mitgliedschaftsgebühren gebunden, was für einen erheblichen Teil der Bevölkerung aus finanziellen Gründen nicht leistbar ist. Die Nutzung erhält somit einen elitären Charakter (Scharfenort, 2016, S. 54). Weiterhin wurden an einigen Stand1 Mitglieder des Golf-Kooperationsrats (GKR) sind die Staaten Bahrain, Katar, Kuwait, Oman, Saudi-Arabien und die VAE.

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orten Sportakademien zur Förderung des nationalen Breiten- und Einzelsports (z. B. Katar: Aspire Academy for Sports Excellence 2004) eingerichtet. Sie werden von internationalen Athletinnen und Athleten sowie Teams wie dem FC Bayern München oder Borussia Dortmund als Wintertrainingslager und für Testspiele genutzt.

9.2 

 atar und die FIFA FußballK Weltmeisterschaft der Männer 2022

Seit der offiziellen Verkündigung am 10. Dezember 2010 polarisiert die Vergabe der WM an Katar die Weltöffentlichkeit, und es wird in den Medien, im öffentlichen sowie im privaten Raum über Katars Legitimation, dieses prestigeträchtige Turnier auszutragen, spekuliert und ambivalent diskutiert. Während eine fehlende Fußballtradition sowie die Qualität des künstlichen Rasens vergleichsweise triviale Argumente darstellen, geben Anschuldigungen infolge von  Menschenrechtsverletzungen, Diskrimi­ nierungen und Ausnutzung von Arbeits­ kräften sowie Vorwürfe wegen Korruption, Intransparenz und Bestechlichkeit von Funktionärinnen und Funktionären eindringlich Anlass zu einer ernsthaften und sachlichen Auseinandersetzung, besonders aber zu einer Beseitigung der angesprochenen Missstände. Diese Aspekte können jedoch nicht ausschließlich auf Katar projiziert werden, sondern sind Teil  – und damit Schwäche  – der Gesamtstruktur des globalen Fußballs, verkörpert durch die Institution FIFA sowie deren Delegierte, und müssen zweifelsohne hinterfragt werden. Katar war bereits als erstes Land im Nahen Osten Gastgeber der 2006 Asian Games, des zum damaligen Zeitpunkt größten Events in der Geschichte der Asian Games mit 45 teilnehmenden Ländern in 40 Sportarten. Das Land hat seither aufgrund seiner

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N. Scharfenort

wirtschaftlichen und politischen Wirksamkeiten internationale Sichtbarkeit erlangt, ist jedoch mit seinen politischen Positionierungen und Aktivitäten, wie der Unterstützung terroristischer Organisationen, der Führung von diplomatischen Beziehungen mit dem Iran und Israel oder dem Vorwurf, eine Politik der Destabilisierung gegenüber anderer Länder zu führen, nicht unumstritten, was auch zu politischen Spannungen innerhalb der Region geführt hat. Die Katar-Krise mit einer Teilblockade und temporärem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Bahrain, Saudi-­Arabien, Ägypten und den VAE zwischen 2017 und 2021 hat diese angespannte und vulnerable Situation zutage gebracht. Um dies einzuordnen, mangelt es jedoch im mitteleuropäischen Kontext aufgrund geographischer und historischer Distanz an Informationen über Land, Region und Menschen, während das Wissen häufig – auch unterstützt durch einseitige Medienberichterstattung – auf einfältigen Stereotypen und Vorurteilen basiert, was zu schnellen, aber vermeidbaren Pauschalverurteilungen führt.

Mit einer Fläche von 11.586  km2 ist Katar nach Bahrain der kleinste Staat der Arabischen Halbinsel. In der Municipality Doha leben gut 40 %, in der Doha Metropolitan Region konzentrieren sich etwa 70 % der insgesamt 2,51 Mio. Einwohnerinnen und Einwohner Katars (. Tab.  9.1). Aufgrund eines jahrelangen dynamischen Bevölkerungswachstums durch Migrationsgewinne ist die Bevölkerung gekennzeichnet durch ein Ungleichverhältnis zwischen Qatari und der ausländischen Bevölkerung von etwa 1:10 (!) sowie einem Geschlechterverhältnis zwischen Männern und Frauen von 2,5:1. Mit einem Durchschnittsalter von 31,9 Jahren ist die Bevölkerung relativ jung (Deutschland: 44, Jahre, Statista, 2022c; PSA, 2021, S. 18 f.).  

Stadt- und Wirtschaftsentwicklung

Seit dem Auffinden von Erdöl in Dukhan (1937) hat Katar eine bemerkenswert rasche wirtschaftliche, urbane und sozioökonomische Transformation durchlaufen. Diese steht sinnbildlich für die Entwicklung Kleines Land, großer Auftritt aller GKR-Staaten seit deren Unabhängigkeit (. Tab.  9.1). Mit Beginn des 21. JahrKatar liegt auf einer Halbinsel an der Ost- hunderts hat sich diese Dynamik durch den seite der Arabischen Halbinsel am Persi- Einfluss von Globalisierungsprozessen noch schen Golf und grenzt im Westen an verstärkt. Besonders der Aufstieg Dubais zu Saudi-Arabien sowie im Süden an die VAE einem global sichtbaren Wirtschaftszentrum (. Abb.  9.2). Mit einem Bruttoinlands- hat den regionalen Standortwettbewerb iniprodukt pro Kopf in Höhe von 68.581 US-­ tiiert und befeuert. Der dadurch entstandene Dollar (Deutschland 42.918 USD, 2021; Sta- Konkurrenzdruck erfordert, die Sichtbartista, 2022b) zählt Katar, dessen Reichtum keit und Wettbewerbsfähigkeit Katars nicht primär auf den Erlös des Exports ­fossiler nur in der arabischen Golfregion, sondern Ressourcen zurückgeht, zu den wohl- auch auf internationaler Ebene durch zielhabendsten Ländern weltweit. Auf globaler gerichtete und projektorientierte MaßEbene ist Katar der größte Produzent von nahmen zur Stadt- und Wirtschaftsverflüssigtem Erdgas und der drittgrößte entwicklung zu steigern (Scharfenort, 2019, Lieferant von Rohöl (BP, 2019, S. 14, 30). S. 263 f.).  



145 Nachhaltigkeitsziele von Sportgroßveranstaltungen auf der Arabischen…

..      Abb. 9.2  Lage der Austragungsorte und Kapazitäten der Stadien

9

146

N. Scharfenort

..      Tab. 9.1  Geographische Eckdaten der Staaten der Arabischen Halbinsel. (Nach CIA World Factbook, 2022)

9

Staat

Unabhängig­ keit

Haupt­ stadt

Fläche (km2)

Bevölkerung (2021)

Anteil Nationals in %

Bahrain

1971

Manama

760

1,54 Mio.

47

Katar

1971

Doha

11.586

2,51 Mio.

12

Kuwait

1961

Kuwait

17.818

3,07 Mio.

31

Oman

1971

Muscat

309.500

3,76 Mio.

61

Saudi-­ Arabien

1932

Riad

2.149.690

35,35 Mio.

61

VAE

1971

Abu Dhabi

83.600

9,92 Mio.

13

Die Ausrichtung Katars auf Bildung, Sport und Kunst unterstützt die Konkretisierung eines Images für Doha. Die Hauptstadt ist neben der staatlichen Qatar University (1973) Standort von 24 internationalen Universitäten und Colleges (PSA, 2021, S. 31). Qatar Foundation gründete 1997 den Bildungscluster Education City mit neun internationalen Universitäten und weiteren Bildungseinrichtungen und ist Schirmherrin weiterer Forschungsinstitute, die Katar auf internationaler Ebene zu wissenschaftlichem Renommee u. a. im Bereich von nachhaltiger Entwicklung und erneuerbarer Energien verhelfen sollen. Im Bereich der Kunst legte Katar mit der Eröffnung des Museum of Islamic Art (2009) einen ersten bedeutenden Meilenstein. Bereits 1993 war Katar erstmals Gastgeber der Tennis Qatar Open, die – wie andere Turniere z.  B. in Handball, Leichtathletik, Fahrrad- und Motorsport – seither regelmäßig in Doha stattfinden. Auch war Katar Ausrichter einiger großer Events, wie der FIFA U20-WM (1995) oder des 2011 AFC2 Asian Cup. Die Austragung der 2006 Asian Games, erstmals im Nahen Osten, gab weitere Impulse zum infrastrukturellen Aus-

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Asian Football Confederation.

bau der Stadt, der Schaffung von Hotels, Grün- und Erholungsflächen, zur Erweiterung von Tourismus- und Freizeitangeboten sowie zur Revitalisierung älterer Stadtviertel und prestigeträchtiger Standorte (z. B. Suq Waqif; Meza Talavera et al., 2019, S. 10; Scharfenort, 2019, S. 263 f.). Beim Ausbau seiner internationalen Position und Sichtbarkeit fokussiert Katar vor allem auf ökonomische und soziokulturelle Attraktivitäten sowie auf Kooperationen mit internationalen Akteurinnen, Akteuren und Organisationen, um sogenannte Soft Power zu erlangen (Nye, 1990). Katars außenpolitische Interessen zielen auf die Vermittlung eines Images, das die Wahrnehmung des Landes als Mediator in regionalen Konflikten bzw. als großzügigen Gastgeber und Spender unterstreicht (Holthaus, 2016, S.  65). Die Ausrichtung eines Megaevents wie der FIFA-WM ist daher ein entscheidendes Moment für Katar als Land im Umbruch und zugleich eine einzigartige Gelegenheit ein nachhaltiges positives Erbe zu hinterlassen (Meza Talavera et  al., 2019, S.  10). Die anhaltende Debatte über die Verletzung von Menschenrechten und Ausbeutung von Arbeitskräften im Sinne einer „modernen Sklaverei“ sowie die zweifelhafte Vergabe der WM an Katar führten bislang jedoch

147 Nachhaltigkeitsziele von Sportgroßveranstaltungen auf der Arabischen…

eher zu einem internationalen Prestigeverlust anstelle eines -gewinns.

Vorbereitung auf das Event Nach der Fläche ist Katar der bislang kleinste Ausrichter einer FIFA Fußball-­ Weltmeisterschaft. Die WM wurde zwar in vergleichbar kleinen Ländern wie Uruguay 1930 und der Schweiz 1954 ausgetragen, jedoch mit deutlich weniger Athleten (13 gegenüber 32 Teams), kürzeren Veranstaltungszeiten (zwei gegenüber vier Wochen) und deutlich geringeren Besucherund Zuschauerzahlen. Vorbereitung und Durchführung von Sportgroßveranstaltungen stellen für ein kleines Land große Herausforderungen mit erheblichen langfristigen Auswirkungen auf Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt im Gastgeberland sowie in angrenzenden Regionen dar. Die katarische Bewerbung schlug ein neues, räumlich kompaktes Modell für die WM vor, das sich überwiegend auf den Raum Doha konzentriert und das Ziel verfolgte, das erste kohlenstoffneutrale Turnier auszurichten (Meza Talavera et al., 2019, S. 1). In seiner Bewerbung hatte Katar daher konzeptionell ein nachhaltiges und klimaneutrales Turnier mit kurzen Wegstrecken zwischen den rückbaufähigen Stadien, die nach Beendigung des Turniers in ausgewählte Standorte in afrikanischen und asiatischen Ländern verlegt werden sollen, versprochen (FIFA, 2010). Weiterhin verpflichtete sich die Regierung Katars zu einem umfassenden infrastrukturellen Aufund Ausbau des Lands zur Bereitstellung der von der FIFA geforderten Kapazitäten wie ein Minimum von 60.000 Hotelzimmern in unterschiedlichen Kategorien (FIFA, 2010, S. 16 ff.). Mit diesen umsichtigen baulichen Maßnahmen sollte der Gefahr eines „weißen Elefanten“ begegnet werden, nämlich der Vermeidung des Leerstands von

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Stadien oder der Unternutzung der Kapazitäten aufgrund fehlender Nachfrage im Nachgang des Spektakels, die konträr zu den hohen Investitionen stehen würden. Zugleich profitiert die Bevölkerung von einer Verbesserung der Lebensqualität durch ein neu gestaltetes Alltagsumfeld.

 O2-neutrales Turnier der C kurzen Wege Katars Bewerbung mit innovativen konzeptuellen Zugängen versprach ein nachhaltiges und klimaneutrales Turnier mit kurzen Wegstrecken. Durch die Entwicklung neuer Technologien im Bereich der Kühlsysteme, die Nutzung erneuerbarer Energien sowie die modulare Gestaltung und Wiederverwendbarkeit von Teilen der Stadien für Sportprojekte in weniger entwickelten Ländern sollte Emissionsneutralität erreicht werden (FIFA, 2010, S. 4, 8, 10 f.). Alle Austragungsorte bis auf Al Khor liegen innerhalb eines Radius von nur 30 km von Doha entfernt, was den Besuch mehrerer Spiele am gleichen Tag ermöglichen und sich positiv in der Emissionsbilanz der Mobilität von Besucherinnen und Besuchern, Athletinnen und Athleten sowie Personal niederschlagen sollte. Das vorgelegte Konzept des Turniers der kurzen Wege spiegelt sich auch in der Organisation der Unterkünfte wider. Für die Teams und ihr begleitendes Personal waren die Koppelung von Teamhotel und nahe gelegenem Trainingsbereich oder sogenannte Villages, die Wohn- und Trainingsmöglichkeiten vereinen, vorgesehen. Um den Aufbau unnötiger Kapazitäten z. B. im Bereich des Gastgewerbes, die langfristig ungenutzt bleiben würden, zu vermeiden, wurden temporäre Lösungen, wie die Aufstockung durch Fan Villages, Apartments, Kreuzfahrtschiffe oder Privatangebote der Sharing Economy, angemietet (Al Jazeera, 2019).

148

N. Scharfenort

Die Vorbereitungen, die sich über einen ungewöhnlich langen Zeitraum von zwölf Jahren zwischen Vergabe und Austragung erstreckten, umfassten gemäß den FIFA-­ Vorgaben einen umfangreichen kapazitiven Ausbau von Sportstätten, Hotellerie und Gastronomie sowie der allgemeinen städtischen Infrastruktur und des Transportwesens, vor allem des öffentlichen Personennahverkehrs. Auf kleinräumiger Ebene erfolgten die Renovierung und Neugestaltung älterer Stadtteile, um das Image einer modernen Stadt (z.  B.  Msheireb; . Abb.  9.3) nach außen zu spiegeln (Scharfenort, 2019, S. 259 ff.). Viele der genannten baulichen Maßnahmen gehen Hand in Hand mit der langfristig angelegten landesweiten Entwicklungsstrategie Katars. Im Jahr 2006 wurde das General Secretariat for Development Planning (GSDP) mit dem Auftrag der Entwicklung eines holistischen Strategieplans gegründet. Die Umsetzung der sogenannten Qatar National Vision 2030 (GSDP, 2008) mit dem Ziel einer nachhaltigen internen Entwicklung und externen Erhöhung der Sichtbarkeit des Lands im regionalen wie internationalen Maßstab folgt einem Maßnahmenkatalog zur politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen  

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..      Abb. 9.3  Der Stadtteil Al Asmakh wurde ab 2011 abgerissen und neu gebaut, was zur Verdrängung ärmerer Bevölkerungsschichten geführt hat. (© Nadine Scharfenort)

Transformation sowie der (Neu-)Positionierung des Lands, in die auch Maßnahmen zur Stadtentwicklung (green technologies, green building) eingebettet sind (Meza Talavera et  al., 2019, S.  1; Scharfenort, 2012, S. 212 f.). Katar hat sich seither schrittweise dem neoliberalen Wandel geöffnet und zahlreiche Projekte zur Modernisierung hin zu einer wissensbasierten Gesellschaft fertiggestellt. Das Land setzt große Hoffnungen in das Turnier und sieht es als weiteren Katalysator für den wirtschaftlichen Wandel im Land und in der Region im Allgemeinen (Madichie, 2013, S. 1853).

9.3 

 iderstand gegen die W Fußball-Weltmeisterschaft

Die Vergabe der FIFA Fußball-Weltmeisterschaft an Katar galt als Sinnbild der Korruption im Fußball und ein dem Fußball unwürdiges Turnier. Die deutschen Medien deklarierten es wiederholt als „Sündenfall“ (Ahrens, 2021) oder „WM der Schande“ (Scheck, 02.09.2021). Konkret beziehen sich die Vorwürfe auf die Verletzung von Menschenrechten, auf unwürdige Arbeitsbedingungen, fehlende Fußballkultur, den Kommerz statt Fußball sowie den Verdacht auf Korruption (#BoycottQatar 2022; Beyer-Schwarzbach, 2021). Zugleich musste sich der Gastgeber soziokulturellen Herausforderungen stellen, wie freizügige Bekleidung, Toleranz gegenüber sexuellen Identitäten, keine Geschlechtertrennung im öffentlichen Raum oder Genuss von Alkohol, die eng im Zusammenhang mit Gewohnheiten der Fans aus Europa stehen und bereits im Vorfeld des Events harsch kritisiert und diskutiert wurden.

Bekleidung Im Islam gilt das Verhüllungsgebot der Aura unterschieden nach Geschlecht und sozia-

149 Nachhaltigkeitsziele von Sportgroßveranstaltungen auf der Arabischen…

lem Status gleichermaßen für Männer wie Frauen. Während der männliche Körper vom Nabel bis zum Knie verdeckt sein muss, wird von Frauen erwartet, den gesamten Körper mit Ausnahme von Füßen, Händen und Gesicht mit weiter Bekleidung zu verhüllen (7 Kap. 14). Artikel 57 der Verfassung des Lands besagt sinngemäß, dass die Einhaltung der öffentlichen Ordnung und der Moral, die Beachtung der nationalen Traditionen und der bestehenden Bräuche eine Pflicht für alle, die sich im Staat Katar aufhalten oder sein Hoheitsgebiet betreten, sei. Daher wird von allen Personen erwartet, dass sie sich in einem unauffälligen und dezenten Stil kleiden, der islamische Normen und Werte respektiert. Gleiches gilt für das Auftreten und Verhalten im öffentlichen Raum, das sich in der zwischenmenschlichen Interaktion deutlich konservativer gestaltet.  

Bier und Bratwurst Schweine gelten im Islam als unrein (haram), weshalb der Genuss von Schweinefleisch verpönt ist. Fans, die den Genuss von „Bier und Bratwurst“ beim Stadionbesuch gewohnt sind, müssen sich daher auf alternative Speiseangebote einstellen. Eine jedoch nicht zu unterschätzende Herausforderung war der Verkauf von Alkohol, der zum Synonym für Sport im Allgemeinen und Fußball im Besonderen geworden ist. Alkohol ist in muslimischen Ländern allgemein – und vor allem in den wertkonservativen GKR-Staaten – ein sensibles Thema, gilt nicht als Teil der Kultur und wird von einem Großteil der Bevölkerung abgelehnt. In den VAE, Bahrain und Katar ist Alkohol zwar nicht per se verboten, allerdings beschränkt sich der Konsum auf Luxushotels bzw. deren lizensierte Restaurants und Bars sowie auf Privatclubs. Alkoholgenuss sowie Trunkenheit in der Öffentlichkeit stellen eine Straftat dar. Privatpersonen können Alkohol streng reglemen-

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tiert in Abhängigkeit der Höhe des Einkommens nur mit einer Lizenz in wenigen sogenannten Liquor Stores erwerben (Scharfenort, 2012, S.  222  f.; Madichie, 2013, S. 1854). Das Organisationskomitee hatte  – auch aufgrund des von der FIFA und der Brauerei Anheuser-Busch ausgeübten Drucks  – zugesichert, dass die strengen Alkoholgesetze in speziell ausgewiesenen Fanzonen („wet“ fan zones) und in den Stadien für den Zeitraum des Turniers gelockert würden, um den Ausschank von ggf. alkoholreduziertem Bier zu ermöglichen, der auch Teil der Vertragsbedingungen ist. Die Organisatoren gerieten aufgrund dieses Kompromisses aus den eigenen Reihen und von konservativeren Gruppen scharf in die Kritik, weil sie sich einerseits den Forderungen der FIFA und den Erwartungen der westlichen Fans beugten und andererseits bewusst das Risiko des Alkoholmissbrauchs sowie der Förderung von Schmuggelaktivitäten in Kauf nahmen (Scharfenort, 2012, S. 222). Dubai und Bahrain konnten in mehrfacher Hinsicht ebenfalls von der Fußball-­WM profitieren. Beide Standorte gelten als wesentlich liberaler als Katar, was die Toleranz gegenüber Alkoholkonsum, Lebensstilen und Prostitution – wenn auch in beiden Ländern per Gesetz verboten  – anbelangt, und sind beliebte Ziele von (überwiegend männlichen) „Wochenendreisenden“ (Hopfinger & Scharfenort 2020, S. 138 ff.). Mit einer Flugzeit von nur 15 (!) min nach Bahrain und 65 min nach Dubai konnten Besucherinnen und Besucher der WM mit wenig Zeitaufwand, aber ökologisch bedenklich, zwischen Hotel- und Spielstandort pendeln (Rookwood, 2019, S. 38). Der Tourismussektor ist in Bahrain und Dubai exzellent ausgebaut, sodass fehlende Kapazitäten im Gastgewerbe durch das Angebot der Nachbarn abgefedert wurden – mit der Folge einer Verringerung der Wertschöpfung und eines niedrigeren Kaufkraftzuflusses für Katar.

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N. Scharfenort

Klimatische Herausforderungen

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Aus mehreren Gründen finden große Sportevents mit globaler Reichweite in den Sommermonaten statt. Einerseits existiert ein etablierter Übertragungskalender für Sportveranstaltungen, die im jährlichen Rhythmus regelmäßig ausgetragen werden. Zudem befinden sich die meisten Austragungsstandorte auf der Nordhalbkugel, aus der ebenso ein Großteil der Zuschauerinnen und Zuschauer stammt. Gerade Sportgroßveranstaltungen wie die Fußball-WM haben eine enorme Breitenwirkung, wodurch sich spezifische Verhaltensweisen entwickelt haben: Mit der Austragung im Juni und Juli fällt das Event in den europäischen Sommer, der bei angenehmen Temperaturen das Mitverfolgen des Turniers im Freien gestattet (Matzarakis & Fröhlich, 2015, S.  481). Aus dieser Gewohnheit heraus hat sich eine Fankultur etabliert, die sich auf den Aufenthalt im Freien im öffentlichen oder privaten Raum mit sommerlich leichter Bekleidung, Nahrungs- und Alkoholgenuss und z.  T. ausschweifenden Zusammenkünften konstituiert. Zudem sind die thermischen Bedingungen auch für Sportlerinnen und Sportler gesundheitlich überwiegend vertretbar. Temporäre Lösungen für den Zeitraum der Fußball-WM im November und Dezember 2022 wurden in vielfacher Hinsicht mit-, wenn auch nicht in allen Fällen zu Ende gedacht. Für den Besuch der Spiele wurden die Stadien mit einer automatisierten Kontrolle der Lufttemperatur ausgestattet, ihre Steuerung in anderen Räumen, wie Trainingsbereichen oder Fanzonen, war jedoch nur eingeschränkt möglich (Matzarakis & Fröhlich, 2015, S. 482).

Ökologische Herausforderungen Der Living Planet Report attestierte Katar nach Kuwait bereits 2016 den weltweit höchsten ökologischen Fußabdruck, was auf

den hohen CO2-Ausstoß, den Wasserverbrauch, die Klimatisierung sowie Wasserund Luftverschmutzung als Folgen von intensiver Nutzung eines ökologisch sensiblen und aufgrund seiner physisch-geographi­ schen Voraussetzungen quasi lebensfeindlichen Raums zurückzuführen ist (7 Kap. 6). Die Einschätzung der Gefahren aus dem Zusammenspiel von natürlichen Risiken, Auswirkungen des Klimawandels und Wasserknappheit sowie deren Implikationen auf die natürliche Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft erweist sich daher als eine der wichtigsten Herausforderungen der kommenden Jahre (Scharfenort, 2020, S. 29). Der umfassende infrastrukturelle Ausbau bei gleichzeitig anhaltender dynamischer Entwicklung der Bevölkerungszahlen, die eine zusätzliche Nachfrage nach Wohnund Lebensraum generiert, führen zu einer (weiteren) Verdichtung des Stadtraums, Versiegelung des Bodens sowie Verlust von Frei- und Grünflächen. In Kombination mit den natürlichen Bedingungen führen die anthropogenen Eingriffe zu temperaturbedingten Gesundheitsbeschwerden und negativen ökologischen Auswirkungen, die sich entsprechend auch auf die Umweltund Lebensqualität auswirken.  

9.4 

Zwischen Boykott, Begeisterung und Bestürzung

In einem muslimischen Land, dessen Bevölkerung dem wertkonservativen Wahhabismus folgt, der den Alltag und den öffentlichen Raum nach religiösen und kulturellen Normen und Werten strukturiert und organisiert sowie Geschlechtertrennung praktiziert, werden öffentlicher Alkoholgenuss, freizügige Bekleidung oder Zuneigungsbekundungen nicht toleriert und gesetzlich geahndet. Obwohl die Gastgeber versichern, eine temporäre Lösung für diesen „Ausnahmezustand“ anzubieten, sind soziokulturelle Konflikte vorprogrammiert (Scharfenort, 2020, S. 31).

151 Nachhaltigkeitsziele von Sportgroßveranstaltungen auf der Arabischen…

 BoycottQatar2022 – die Spiele # boykottieren? Während also Boykottaufrufe vor allem aus den „klassischen Fußballnationen“ Europas hinsichtlich Verletzung von Menschen­ rechten, der Ausbeutung von Arbeitskraft sowie der Einschränkung von Fangewohnheiten laut wurden, echauffierte sich ein Teil der Bevölkerung in der arabischen Welt gegenüber der möglichen Verletzung von Normen und Werten sowie Respektlosigkeit durch ignorante Besucherinnen und Besucher. Selten wurde in den Diskursen jedoch die Sorge um Nachhaltigkeit ­artikuliert. Der Ansatz der kurzen Wege aufgrund der geringen Distanzen zwischen den Spielorten ist immer noch innovativ, dennoch bleiben aufgrund mangelnder Transparenz die ökologischen Kosten und sowie die Art der Parameter zur Messung von Nachhaltig­ keit und Emissionsneutralität unklar. Immerhin schlug sich die Verlegung des Turniers in die Wintermonate positiv in der Bilanz nieder, weil der Kühlaufwand für Stadien und andere öffentliche und private Räume wie Metrostationen, Public Viewing oder Trainingsbereiche deutlich geringer ausfiel (Scharfenort, 2020, S. 30 f.).

Beyond Qatar 2022 Die Gestaltung und Ästhetisierung des öffentlichen Raums und der Infrastrukturausbau erfolgten innerhalb eines kurzen Zeitfensters, das keine Verzögerungen gestattete. Die Entwicklung des Lands und seiner Bevölkerung endet jedoch nicht mit der FIFA-WM 2022, sondern geht darüber hinaus in eine Post-Event-Zukunft. Die Maßnahmen im Zuge der Austragung der WM leisten einen wesentlichen Beitrag zur wirtschaftlichen Diversifizierung und Tourismusentwicklung sowie zur Verbesserung der Lebensqualität eines Teils der Bevölkerung durch Aufwertung von Stadtteilen, Aus-

9

weitung von Alltags- und Freizeitangeboten sowie der Mobilität im Bereich des ÖPNV. Diese Implikationen sind positiv zu bewerten, und es bleibt zu hoffen, dass von den Kapazitätserweiterungen keine „weißen Elefanten“ übrig bleiben. Trotz Unterzeichnung der Konvention Nr.  29 der International Labour Organization (ILO) und der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte besteht nach wie vor eine erhebliche Diskrepanz zwischen der formalen Anerkennung dieser Normen und strukturellen wie ungeahndeten Praktiken von Menschenhandel und Zwangsarbeit wie im Baugewerbe (Holthaus, 2016, S.  75  f.). Trotz angekündigter Abschaffung des praktizierten Sponsoren- oder Kafala-Systems, welches den rechtlichen Status von Arbeiternehmern sowie Ein- und Ausreiseerlaubnis von einem lokalen Bürgen wie dem jeweiligen Arbeitgeber abhängig macht, sowie Reformen im Aufenthalts- und Arbeitsrecht wurden zur Abwehr von transnationalem Protest Missstände nur punktuell beseitigt. Das katarische Regime hat bisher nur strategisch reagiert und wenig ernsthaftes Interesse gezeigt, die ­ Arbeitsbedingungen auf Baustellen effektiv zu verbessern, und es ist zu vermuten, dass die Regierung weiterhin strategisch agieren wird, solange es keine lokalen Akteure gibt, die nachhaltige Veränderungen einfordern. Als erstes Land der Region hat Katar jedoch 2020 signifikante Änderungen des Sponsorensystems eingeführt (z. B. Arbeitgeberwechsel, Mindestlohn; HRW, 24.09.2020).

 eue geopolitische Macht- und N Kräfteverhältnisse Der im Februar 2022 ausgebrochene Ukraine-Krieg hat nur wenige Monate vor Beginn des Turniers die Weichen für neue wirtschaftliche Beziehungen gelegt, die mittel- bis langfristig zu neuen geopolitischen Macht- und Kräfteverhältnissen insbesondere auf dem

152

N. Scharfenort

Energiemarkt führen werden. Auf der Suche z.  B. von Deutschland nach alternativen Quellen fossiler Ressourcen, wie Erdgas, die aufgrund unzureichender Kapazitäten nicht vollends durch europäische Partner gedeckt werden können, schweifte der Blick rasch in Richtung Golfregion. Auch wenn das international umworbene Öl- und Gasförderland Katar zunächst Erwartungen einer raschen Substitution gedämpft hat, stehen die Zeichen auf Kooperation.

Fair Play!

9

Die WM in Katar verkörpert eine nicht zu unterschätzende Symbolkraft und Signalwirkung, insbesondere für arabische Länder. Besucherinnen und Besucher der WM hatten die Möglichkeit, sich über soziale Medien mit einem globalen Publikum zu verbinden und ihre Erlebnisse und ihre Begeisterung zu teilen, während Zuschauerinnen und Zuschauer das Spektakel über TV-Bildschirme oder per Livestreaming verfolgten. Trotz der offensichtlichen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Missstände und Herausforderungen blieb somit das Potenzial bestehen, Katar als freundlichen und offenen Gastgeber zu erleben, der einerseits eine innovative, integrative und inklusive Version dieses ultimativen Sportereignisses präsentierte (Rookwood, 2019, S. 39 f.) und sich andererseits als fairer und zuverlässiger Partner bewies, der abgegebene Versprechen einhielt. ? Übungs- und Reflexionsaufgaben 1. Reflektieren Sie darüber, inwiefern medial übermittelte Informationen über Länder und Menschen Stereotype und Vorurteile schüren und welchen Beitrag Sportevents leisten können, diese abzubauen oder zumindest kritisch zu hinterfragen. 2. Erläutern Sie auf Basis eigener Recherchen zur WM in Katar, welche (sport-)politischen, ökonomischen,

ökologischen und soziokulturellen Herausforderungen und Implikationen vor und während des Events mit der Austragung verbunden sind.

Zum Weiterlesen empfohlene Literatur Bens, J., Kleinfeld, S., & Noack, K. (2014). Fußball. Macht. Politik: Interdisziplinäre Perspektiven auf Fußball und Gesellschaft. Transcript. Goldblatt, D. (2006). The ball is round: A global history of football. Penguin. Schulze-Marmeling, D. (2014). Die Geschichte der Fußball-Weltmeisterschaft (6. Aufl.). Verlag Die Werkstatt.

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153 Nachhaltigkeitsziele von Sportgroßveranstaltungen auf der Arabischen…

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155

Ökonomie und Sport Inhaltsverzeichnis Kapitel 10 Regionalökonomische Wirkungen von Sportgroßveranstaltungen – ein Fallbeispiel aus dem Motorsport – 157 Paul Gans und Michael Horn Kapitel 11 Sportbezogene Arbeitsmärkte – 175 Pierre-André Gericke und Christian Zemann Kapitel 12 Ökonomische Effekte einer vitalen Sportstadt – das Beispiel Hamburg – 197 Maike Cotterell und Henning Vöpel Kapitel 13 Beziehungen zwischen Vereinsund Stadtimage – eine empirische Analyse am Beispiel von Borussia Mönchengladbach – 217 Christina Masch

III

157

Regionalökonomische Wirkungen von Sportgroßveranstaltungen – ein Fallbeispiel aus dem Motorsport Paul Gans und Michael Horn

Die Rennstadt Hockenheim begrüßt ihre Gäste. (© Paul Gans und Michael Horn)

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Gans et al. (Hrsg.), Sportgeographie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66634-0_10

10

Inhaltsverzeichnis 10.1

Regionalökonomische Wirkungen von Sportgroßveranstaltungen – 159

10.2

Die Wirkungsanalyse – 161  ie Wertschöpfungsanalyse – 161 D Die Multiplikatoranalyse – 163

10.3

 ie regionalökonomische Bedeutung D der Veranstaltungen auf dem Hockenheimring – 164

10.4

Fazit – 172 Literatur – 173

159 Regionalökonomische Wirkungen von Sportgroßveranstaltungen – ein…

Einleitung Befürworterinnen und Befürworter der Aus­ richtung von Sportgroßereignissen erwarten positive regionalökonomische Effekte für Städte und Regionen. Events sollen ein über­ regionales Publikum anziehen und damit Umsätze, Wertschöpfung, Einkommen, Steu­ ereinnahmen sowie Beschäftigung generie­ ren (Feddersen, 2016). Darüber hinaus sol­ len sportliche Großveranstaltungen zu einem internationalen Bekanntheitsgrad verhelfen, von dem eine wirtschaftliche Positionierung erhofft wird. Im Rahmen eines inter­ nationalen Standortwettbewerbs zwischen Städten und Regionen um die Ansiedlung von Unternehmen und wissenschaftlichen Einrichtungen sowie um kaufkräftige Kon­ sumenten gewinnen „weiche“ Standort­ faktoren zunehmend an Bedeutung. Attrak­ tive Veranstaltungen im Kultur- und ­Sportbereich und die damit einhergehende Steigerung des Freizeitwerts können diese „weichen“ Standortfaktoren erheblich ver­ bessern (Horn & Gans, 2012). Mit der Durchführung einer Großveranstaltung ist aber auch oft der Einsatz von öffentlichen Mitteln verbunden. Damit werden zugleich Entscheidungen gegen andere mögliche Ver­ wendungen dieser Ressourcen getroffen. Gegnerinnen und Gegner der Durchführung von Sportgroßveranstaltungen lehnen diese Subventionierung von Sportveranstaltungen und Sportstätten ab, weil sie deren wirtschaft­ liche Bedeutung anzweifeln. Dies geschieht vor allem vor dem Hintergrund gestiegener Kosten für die Austragung von Events, be­ rechtigten Misstrauens gegenüber den inter­ national bedeutenden Sportverbänden wie FIFA oder IOC (7 Kap. 8, 9 und 22) und der strafrechtlichen Verfolgung einiger Sport­ funktionäre. So scheiterte beispielsweise auch die Bewerbung Hamburgs für die Olym­ pischen Sommerspiele 2024 an der NOlym­ pia-Bewegung (Kurscheidt, 2016). Die öffentliche Debatte zwischen den Befürwortenden und Ablehnenden von Sportgroßveranstaltungen erfordert eine  

10

fundierte Abschätzung der ökonomischen Wirkungen, die derartige Events hervor­ rufen. Die Wirkungsanalyse kann als eine geeignete Methode für eine bilanzierende Betrachtung angeführt werden, und diese wird in diesem Beitrag exemplarisch zur Ab­ schätzung der ökonomischen Bedeutung der Veranstaltungen, die während eines Jahres auf dem Hockenheimring stattfinden, ein­ gesetzt. In welchem Umfang entstehen Um­ sätze aufgrund der Aktivitäten auf dem Hockenheimring? Welche Wertschöpfungsund Einkommenseffekte lassen sich für die Region Hockenheim ableiten?

10.1 

Regionalökonomische Wirkungen von Sportgroßveranstaltungen

Die potenziellen regionalökonomisch posi­ tiven (Nutzen) und negativen (Kosten) Wir­ kungen, die von Sportgroßveranstaltungen ausgehen, lassen sich unterscheiden nach direkten (internen), d.  h. unmittelbar mit der Sportgroßveranstaltung verbundenen Nutzen und Kosten, und indirekten (ex­ ternen) Effekten. Nach ihrer Quantifizier­ barkeit werden diese nach tangiblen, d.  h. monetär quantifizierbaren, intangiblen, also nicht monetär quantifizierbaren, und nicht quantifizierbaren Nutzen und Kosten unterschieden (7 Kap. 12 und 22). Zu den direkten Wirkungen zählen alle Kosten und Nutzen, die beim Veranstalter (Investitionsträger) anfallen. Diese ent­ sprechen somit den Kosten- und Nutzen­ elementen, die auch in einen betriebs­ wirtschaftlichen Finanzierungssaldo mit eingehen. Beispiele für direkte Kosten sind die Personal- und Sachkosten für Planung und Durchführung der Sportgroßveran­ staltung (z. B. für Verwaltung, Logistik, Ver­ sicherungen und Abgaben an Sportver­ bände), die Kosten für die Leistungen Dritter (z.  B. für die Sicherheit und Abfallbe­ seitigung), die Kosten für den Auf- und Aus­  

160

P. Gans und M. Horn

bau und den Betrieb von Sportstätten und sonstiger veranstaltungsbezogener Infra­ struktur und die Finanzierungskosten. Auf der Nutzenseite sind u.  a. Einnahmen aus dem Eintrittskartenverkauf, aus der Vergabe von Übertragungsrechten, aus Werbe- und Sponsorenverträgen und aus eigener (Sta­ dion-)Gastronomie sowie Zuschüsse seitens der öffentlichen Hand zu nennen (Gans et  al., 2003; Horn & Zemann, 2006). Nach Maennig (1998) ist es genau dieser Finanzierungssaldo, auf den sich die öffent­ liche Aufmerksamkeit konzentrieren sollte, weil mit diesem die Frage, ob die Sportver­ anstaltung ohne öffentliche Zuschüsse finanzierbar ist, beantwortet werden kann. Die Gruppe der indirekten Wirkungen umfasst alle Kosten- und Nutzenelemente, die bei Dritten anfallen und somit in einem betriebswirtschaftlichen Finanzierungssaldo nicht ausgewiesen werden (7 Kap.  12). Diese können unterschiedlichen Akteuren zugeordnet werden. Dazu gehören das Be­ herbergungswesen, die Gastronomie, der Einzelhandel, sonstige Wirtschaftsbranchen, die Besucherinnen und Besucher der Ver­ anstaltung, die öffentliche Verwaltung und die Bevölkerung des Veranstaltungsortes bzw. der -region. Die indirekten Kosten und Nutzen sind somit die Wirkungen, die zur Beurteilung einer Maßnahme unter dem Ge­ sichtspunkt der gesellschaftlichen Wohl­ fahrtssteigerung berücksichtigt werden müs­ sen (Gans et al., 2003). Die ökonomischen Wirkungen auf Beherbergungswesen, Gastronomie und Einzelhandel beruhen vor allem auf den Ausgaben des Veranstalters, der Zuschauerinnen und Zuschauer und des Trosses (Sportlerinnen und Sportler, Betreuerinnen und Betreuer, Journalistinnen und Journalisten). Darüber hinaus kann die Tourismuswirtschaft auch langfristig von einer Imagesteigerung des Veranstaltungsorts profitieren, wozu die Übermittlung des Ereignisses über die Me­ dien wesentlich beiträgt. Diesen positiven Wirkungen können auch Kosten gegenüber­  

10

stehen. Während eines Sportereignisses kann es zur Verdrängung anderer Touristen kommen, wenn sich diese nicht für die Ver­ anstaltung interessieren und aufgrund nega­ tiver Erscheinungen wie Überfüllung und erhöhter Preise abgeschreckt werden (Rah­ mann et al., 1998; Gans et al., 2003; Horn & Zemann, 2006). Nicht nur die Tourismuswirtschaft und der Einzelhandel, sondern auch sonstige privatwirtschaftliche Unternehmen können von der Durchführung von Sportgroßveran­ staltungen profitieren. So kann die Bauwirt­ schaft durch Aufträge der öffentlichen Hand oder des Veranstalters für die Errichtung von Sportstätten, für die technischen Gebäude­ ausstattungen oder auch für die Verkehrs­ infrastruktur Aufträge erhalten. Branchen, die Vorleistungen für die Tourismuswirt­ schaft erbringen, können ebenfalls Ein­ kommenszuwächse verzeichnen (Gans et al., 2003; Horn & Zemann, 2006). Zu den ökonomischen Wirkungen auf die Bevölkerung können zusätzliche Ein­ kommensmöglichkeiten (z. B. aus der priva­ ten Vermietung von Zimmern und Park­ plätzen) und zusätzliche Arbeitsplätze gehören. In der Regel sind solche ver­ anstaltungsbedingten Beschäftigungseffekte aber zeitlich befristet und lediglich für Aus­ hilfskräfte wirksam (Klein, 1996). Öko­ nomische Effekte bei den Besucherinnen und Besuchern bestehen im Wesentlichen aus den Ausgaben für den Eintritt, für die Ver­ pflegung und Unterkunft sowie für die Anund Abreise (Gans et al., 2003; Horn & Ze­ mann, 2006). Die öffentliche Verwaltung des Aus­ tragungsorts erzielt z.  B.  Einnahmen aus Steuern, Gebühren und Pachten, trägt ggf. aber auch Kosten z. B. für den Ausbau von Infrastruktur oder in Form von Zuschüssen an Veranstalter (Gans et al., 2003; Horn & Zemann, 2006). Die ökonomischen Wirkungen einer Sportgroßveranstaltung, einer Sportstätte oder eines Profivereins beruhen vor allem

161 Regionalökonomische Wirkungen von Sportgroßveranstaltungen – ein…

auf den Konsumausgaben der Besucherinnen und Besucher sowie der Sportlerinnen und Sportler (bei Teilnehmerevents wie bei Volksläufen) von außerhalb der Ver­ anstaltungsregion. Durch ihre Ausgaben wird dem Veranstaltungsraum ein Kauf­ kraftzufluss von außen zugeführt. Nach der ökonomischen Kreislauf- oder Basistheorie stellen diese Gelder sogenannte autonome Mittel dar, die wiederum Multiplikator­ prozesse auslösen können (Kurscheidt, 2016). Es wird angenommen, dass die Aus­ gaben der einheimischen Besucherinnen und Besucher sowie Teilnehmerinnen und Teil­ nehmer für Sportveranstaltungen nicht zu­ sätzlich erfolgen, sondern lediglich Kauf­ kraftverschiebungen darstellen und damit gleichzeitig Einnahmeverluste an anderer Stelle (Kino, Restaurant etc.) bewirken (Schwark, 2020). Eine wesentliche Rolle bei der Ermittlung der Wirkungen von Sportgroßveran­ staltungen spielt die regionale Abgrenzung des Untersuchungsraums. Je größer der Be­ trachtungsraum gewählt wird, desto mehr wirtschaftliche Effekte fallen innerhalb des Raums an. Je kleiner die räumliche Ab­ grenzung gewählt wird, desto größer sind hingegen die zusätzlichen wirtschaftlichen Nachfrageimpulse, welche von außerhalb des Betrachtungsraums der regionalen Wirt­ schaft zugutekommen (Gans et  al., 2003). Nach Feddersen (2016) sind die öko­ nomischen Effekte von Sportgroßveran­ staltungen, Sportstadien und Profivereinen, verglichen mit der allgemeinen Volkswirt­ schaft eines Nationalstaats, unbedeutend. Beispielsweise wurde durch Befragungen nach den Konsumausgaben von Be­ sucherinnen und Besuchern der Fuß­ ball-Weltmeisterschaft in Deutschland ein Primärimpuls von rund 2,8  Mrd. Euro er­ mittelt, der sich durch Multiplikatoreffekte auf 3,2  Mrd. Euro erhöht. Dies entsprach im Jahr 2006 lediglich 0,1 % des deutschen Bruttoinlandsprodukts. Diese geringe wirtschaftliche Bedeutung ist aber nicht der Sportveranstaltung anzulasten, sondern der

10

zu großen räumlichen Betrachtung. Für die Bewertung ökonomischer Effekte von Sportgroßveranstaltungen empfiehlt es sich, deutlich kleinere administrative Einheiten als Staaten oder Bundesländer heranzu­ ziehen. 10.2 

Die Wirkungsanalyse

Der Ausgangsgedanke einer Wirkungsana­ lyse ist, dass sich jede ökonomische Aktivi­ tät in Veränderungen der regional- oder volkswirtschaftlichen Nachfrage nieder­ schlägt. Diese wird in den verschiedenen Modellen der Wirkungsanalyse als un­ abhängige Variable angesehen und beein­ flusst die abhängigen Variablen Produktion, Wertschöpfung, Beschäftigung, Einkommen und Steuereinnahmen. Das bedeutet, dass die mit einer bestimmten ökonomischen Aktivität verbundene Nachfrage, beispiels­ weise die Infrastrukturinvestitionen des Staats oder die Konsumgüterkäufe der Be­ sucherinnen und Besucher einer Großveran­ staltung, als Anstoßpotenzial für Folge­ effekte auf nachgelagerte Wirkungsstufen oder Inzidenzstufen verstanden werden kann (Schätzl, 1994). Bei der ökonomischen Bewertung von Sportgroßveranstaltungen finden die Wertschöpfungs- und Multi­ plikatoranalyse als Formen der Wirkungs­ analyse zahlreiche Anwendung. Diese kön­ nen vor und nach der Durchführung einer Sportgroßveranstaltung als Ex-ante- und Ex-post-Analyse eingesetzt werden (Horn, 2005).

Die Wertschöpfungsanalyse Der Begriff Wertschöpfung beschreibt den Wertzuwachs, den ein Unternehmen, eine Institution oder eine Organisation in einer bestimmten Zeitspanne erzielt. Es wird zwi­ schen Brutto- und Nettowertschöpfung unterschieden (. Abb.  10.1). Die Brutto­ wertschöpfung stellt den Unternehmens­  

162

P. Gans und M. Horn

Abschreibungen Personal (Löhne und Gehälter) Bruttowertschöpfung

Gesamtunternehmensleistung (Umsatz)

Vorleistungen (Käufe von Waren und Dienstleistungen)

öffentliche Hand (Steuern und Abgaben) Nettowertschöpfung

Fremdkapitalgeber (Zinsen) Eigenkapitalgeber (Dividenden) Unternehmen (Gewinn)

Entstehungsseite

Verwendungsseite

.       Abb. 10.1  Vereinfachtes Wertschöpfungsmodell. (Nach Rütter et al., 2002)

10

umsatz abzüglich der sogenannten Vor­ leistungen (von Dritten bezogene Güter und  Dienstleistungen) dar. Aus volkswirts­ chaftlicher Perspektive (volkswirtschaftliche Gesamtrechnung) entspricht die Brutto­ wertschöpfung dem Bruttoinlandsprodukt. Die Nettowertschöpfung, welche der Brutto­ wertschöpfung abzüglich der Abschrei­ bungen entspricht, wird auf die Mitarbeiter in Form von Löhnen und Gehältern, auf den Staat in Form von Steuern, auf die Kapitalgeber in Form von Zinsen und Divi­ denden und auf das Unternehmen in Form von Gewinn verteilt. Bedingt durch die Vor­ leistungen, die Nachfrage nach Gütern und Dienstleistungen von Dritten, entstehen in der Folge bei einer Reihe von Unternehmen bzw. Branchen Umsätze. Durch diesen Ver­ kauf und Kauf von Waren und Diensten

entstehen Wertschöpfungsnetzwerke, in denen die verschiedenen Akteure miteinander ver­ bunden sind. Mit der Wertschöpfungsanalyse kann die Leistung eines Unternehmens oder einer Branche im volkswirtschaftlichen Sinn ausgewiesen werden (Rütter et  al., 2002; Horn, 2005). Bei der Bewertung von Großveran­ staltungen wird die Wertschöpfungsanalyse häufig für die Untersuchung einzelner Bran­ chen angewendet. Sie ist gut geeignet, um makroökonomische Auswirkungen quanti­ tativ zu erfassen. Ihre Vorteile liegen in der einfachen Berechnung und in ihrer relativen Klarheit und Vergleichbarkeit der Ergeb­ nisse. Ihre Nachteile liegen in der Be­ schränktheit auf ökonomische Effekte von Sportgroßveranstaltungen (Stettler, 2000; Horn, 2005).

163 Regionalökonomische Wirkungen von Sportgroßveranstaltungen – ein…

Die Multiplikatoranalyse Die Grundannahme der Multiplikatoren­ analyse ist, dass einer Region aufgrund der Austragung einer Großveranstaltung Fi­ nanzmittel zufließen, die zum Teil investiv und zum Teil konsumtiv verausgabt werden. Dadurch erfolgen in der Veranstaltungs­ region eine Nachfragesteigerung und ein Produktionsanstieg bei den Unternehmen sowie eine Erhöhung der Beschäftigung (Primäreffekt). Die einmalige Erhöhung der Nachfrage löst Folgeeffekte aus (Sekun­ däreffekte), deren Wirkungen über einen regionalspezifischen Multiplikator bestimmt werden können. Zum einen erhöht sich durch den Primäreffekt die Nachfrage der Unter­ nehmen nach Vorleistungen, zum anderen entstehen zusätzliche Einkommen, die wiede­ rum verausgabt werden. Dieser Prozess wiederholt sich fortlaufend, wobei sich mit jeder Runde die zusätzlich entstandene Nach­ frage durch Abflüsse aus der Veranstaltungs­ region in andere Regionen, z.  B. durch Im­ porte, Steuern, abfließende Kaufkraft und nicht für den Konsum verwendete Mittel (Sparen) reduziert. Der so entstehende Gesamteffekt überschreitet in der Regel die Höhe des auslösenden Nachfragevolumens, sodass eine multiplikative Wirkung entsteht (Schätzl, 1994; Horn, 2005). Der Anstoß zu einer Kettenreaktion von Nachfrageimpulsen und Einkommens­ steigerungen kann durch die Ausrichtung einer Sportgroßveranstaltung gegeben wer­ den (. Abb. 10.2). Die Sach- und Personal­  

10

ausgaben des Veranstalters sowie die Aus­ gaben der Veranstaltungsbesucherinnen und -besucher sorgen für einen regionalen Einkommenszuwachs. Allerdings ver­ bleiben diese Mittel nicht vollständig in der Veranstaltungsregion. Ein Teil der Personal­ ausgaben geht an Beschäftigte, die nicht in der Veranstaltungsregion wohnen, und ein Teil der Sachausgaben geht an auswärtige Zulieferer. Aus den entstandenen regiona­ len ­Einkommen ergibt sich  – nach Abzug von Steuern, Sozialversicherungsbeiträgen und Spareinlagen – ein erneuter Nachfrage­ impuls, von dem wiederum ein bestimmter Anteil regionsbezogen verausgabt wird. Nach diesem Schema ergeben sich weitere aufeinanderfolgende Runden regionaler Einkommensentstehungen, deren Ausmaß, aufgrund der Abflüsse, mit jeder Runde kontinuierlich geringer wird (Fanelsa, 2002; Horn, 2005). Ein methodisches Problem bei der Be­ wertung von regionalen Auswirkungen einer Sportgroßveranstaltung mittels der Multi­ plikatoranalyse ist, dass Verdrängungseffekte nicht berücksichtigt werden. Tritt beispiels­ weise aufgrund einer Nachfrageerhöhung eine Preissteigerung ein, so überschätzt diese Methode die potenziellen Effekte. Nach Preuß (1999) ist es daher nicht verwunderlich, dass volkswirtschaftliche Untersuchungen von Sportgroßveranstaltungen, die sich allein auf Multiplikatoranalysen stützen, über­ wiegend von Befürworterinnen und Be­ fürwortern einer Veranstaltung durchgeführt werden.

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P. Gans und M. Horn

Nachfrageimpuls durch Ausgaben der Besucherinnen und Besucher der Sportgroßveranstaltung und des Veranstalters Abflüsse in andere Regionen

Steuern

Personalausgaben

Sachausgaben

innerhalb der Veranstaltungsregion

innerhalb der Veranstaltungsregion

Sparen

Abflüsse in andere Regionen

10

Steuern Abflüsse in andere Regionen

2. Wirkungsrunde

Konsum

Ausgaben an die Wirtschaft der Veranstaltungsregion

1. Wirkungsrunde

Abflüsse in andere Regionen

Abflüsse in andere Regionen

Personalausgaben

Sachausgaben

innerhalb der Veranstaltungsregion

innerhalb der Veranstaltungsregion

Sparen

Abflüsse in andere Regionen

Konsum

Ausgaben an die Wirtschaft der Veranstaltungsregion

.       Abb. 10.2  Schematische Darstellung der Multiplikatoranalyse für Sportgroßveranstaltungen. (Nach Fanelsa, 2002)

10.3 

Die regionalökonomische Bedeutung der Veranstaltungen auf dem Hockenheimring

mit einem geringeren Gästeaufkommen der Stadt und der Region zur internationalen Bekanntheit verholfen. Die Rennstrecke mit ihren jährlich rund 300 Veranstaltungen wirkt in der Bevölkerung identitätsstiftend (7 Kap.  18) und führt durch die Konsum­ ausgaben der Eventbesucherinnen und -be­ sucher zu erheblichen regionalwirtschaft­ lichen Impulsen. Diese sind aber aufgrund  

Der Hockenheimring hat nicht nur mit sei­ nen Motorsport- und Musikgroßveran­ staltungen, sondern auch mit seinen Events

10

165 Regionalökonomische Wirkungen von Sportgroßveranstaltungen – ein…

fehlender empirischer Daten schwer zu quantifizieren. Zwar wurden zu einzelnen Veranstaltungen, wie für den Formel-1Grand-Prix 2000 (Zemann et al., 2001), um­ fangreiche empirische Primärerhebungen durchgeführt, doch fehlt eine bilanzierende Gesamtbetrachtung aller Aktivitäten auf dem Hockenheimring innerhalb eines Jah­ res. Auch lassen sich die gewonnenen Daten auf Basis des Formel-1-­ Grand-Prix nicht auf andere Veranstaltungen übertragen, weil sich diese hinsichtlich der Gästestruktur (z. B. Alter, Geschlecht und räumliche Her­ kunft) und somit auch im Ausgabeverhalten der Besucherinnen und Besucher deutlich unterscheiden.

Mit dem Ziel, die jährlichen ökonomischen Wirkungen der Rennstrecke zu quantifizieren, wurden die 320 verschiedenen Veranstaltungen des Jahres 2014 nach inhaltlichen Kriterien und Gästeaufkommen zu fünf Klassen zu­ sammengefasst (Horn & Gans, 2018). Unter­ schieden wird zwischen Motorsportgroß­ veranstaltungen, Motorsportveranstaltungen, Musikgroßveranstaltungen, Touristenfahrten und sonstigen Tagesbesuchen (. Tab. 10.1). Um für diese Veranstaltungstypen die ökonomischen Wirkungen quantifizieren zu können, wurde eine Onlinebefragung durch­ geführt. Es wurden die Abonnentinnen und Abonnenten des Newsletters der Hocken­ heimring GmbH per E-Mail und die Be­  

.       Tab. 10.1  Klassifizierung der Veranstaltungen auf dem Hockenheimring 2014. (Nach Angaben der Hockenheimring GmbH, 2014) Motorsportgroßveranstaltungen (> 20.000 Besucherinnen und Besucher pro Tag) DTM – Saisonauftakt

Formel-1-Grand-Prix

DTM – Finale Motorsportveranstaltungen (≤ 20.000 Besucherinnen und Besucher pro Tag) 1000 km Hockenheim

Porsche Sports Cup

ADAC GT Masters

Public Race Day/Supermoto

Bosch Hockenheim Historic

Sport Auto High Performance Days

Formula Student Germany

Tuner Grand Prix & DriftChallenge

Hockenheim Classics

Superbike*IDM

NitrOlympX-­Drag Racing Musikgroßveranstaltungen (> 20.000 Besucherinnen und Besucher pro Tag) Böhse Onkelz

Rock’n’Heim

Touristenfahrten/Fahrprogramme Touristenfahrten

Fahrsicherheitstraining

Fahrprogramme Sonstige Tagesbesuche/Führungen BASF Firmencup

Motorsportmuseum

Insider Führung

Veterama

166

P. Gans und M. Horn

sucherinnen und Besucher der Homepage der Hockenheimring GmbH (7 www.­ hockenheimring.­de) per Pop-up-Fenster an­ gesprochen und über einen Link zur jeweili­ gen Befragung weitergeleitet. Insgesamt haben 842 Personen an der Befragung teil­ genommen. Ergänzt wurde diese Erhebung durch umfangreiche standardisierte mündliche Befragungen der Besucherinnen und Besucher des Formel-1-Grand-Prix (n  =  617), des Formula Student Germany (n  =  566) und des Rock’n’Heim (n  =  593; Horn & Gans, 2018). Der Formel-1-Grand-Prix 2014 fand als Teil der von der FIA (Fédération Inter­ nationale de l’Automobile) veranstalteten Rennserie „FIA Formula One World Championship“ im Juni 2014 an drei Tagen statt und wurde von rund 95.000 Gästen be­ sucht. Die Formula Student Germany ist ein internationaler Konstruktionswettbewerb für Studierende, der unter der Schirmherr­ schaft des Vereins Deutscher Ingenieure e. V. ausgerichtet wird. Studierende aus aller Welt treffen sich für mehrere Tage am Hocken­ heimring, um ihre selbst konstruierten Renn­ wagen miteinander zu messen und dabei Fachleuten aus Industrie und Wirtschaft deren Leistungsfähigkeit zu zeigen. Bei der Formula Student gewinnt das Team mit dem besten Gesamtpaket aus Konstruktion, Rennperformance, Finanzplanung und Ver­ kaufsargumenten. Besucht wurde die Ver­ anstaltung im August 2014 an sechs Tagen von rund 27.000 Gästen. Bei Rock’n’Heim 2014 handelt es sich um ein Musikfestival, bei dem mehr als 40 internationale Rockund Pop-Bands an drei Tagen aufgetreten sind. Besucht wurde das Festival im August 2014 von rund 105.000 Gästen (Hocken­ heimring GmbH, 2014). Mit der Auswahl dieser Fallstudien wurde versucht, die ­Veranstaltungstypen Motorsportgroßveran­ staltungen, Motorsportveranstaltungen und Musikgroßveranstaltungen beispielhaft zu erfassen. Die Erhebungen erfolgten vor Ort, weil zu erwarten war, dass sich die Gäste zu diesem Zeitpunkt besser an ihr Ausgabever­  

10

halten erinnern als bei einer späteren posta­ lischen Befragung. Die Kernfragen der On­ linebefragung und der standardisierten mündlichen Befragungen bezogen sich auf die demographische Struktur sowie Her­ kunft der Gäste und auf das Ausgabever­ halten der Veranstaltungsbesucherinnen und -besucher, differenziert nach den ver­ schiedenen Orten und Branchen. Die Gästestruktur aller über die standar­ disierten mündlichen Befragungen unter­ suchten Veranstaltungen auf dem Hocken­ heimring 2014 ist stark von männlichen Besuchern geprägt. So sind 81 % der Gäste des Formel-1-Grand-Prix, 74  % der Gäste des Formula Student und 56  % der Gäste von Rock’n’Heim männlich. Die Alters­ struktur der einzelnen Veranstaltungen ist recht unterschiedlich. Die Besucherinnen und Besucher des Formel-1-Grand-Prix sind durchschnittlich 39 Jahre, die des For­ mula Student 28 Jahre und die von Rock’n’Heim 24 Jahre alt. Alle untersuchten Veranstaltungen ver­ ursachen ein zusätzliches Aufkommen an Touristen in der Region, für die zwar das Event der Anlass ihres Aufenthalts ist (zwi­ schen 90  % und 96  %), die aber auch (zu einem geringen Teil) Stadt und Region er­ kunden. Als Ziele werden hier auch Heidel­ berg, Speyer und Mannheim genannt. Die Besucherinnen und Besucher kommen in der Regel aus ganz Deutschland (mit einem hohen Anteil aus Südwestdeutschland), aber auch aus dem Ausland (28 % der Gäste des Formel-1-Grand-Prix, 18  % der Gäste des Formula Student und 5  % der Gäste von Rock’n’Heim). Der Anteil der Besucherinnen und Be­ sucher, die übernachten, beträgt zwischen 72 % beim Formel-1-Grand-Prix (mit durch­ schnittlich ca. drei Übernachtungen), 75 % beim Formula Student (mit durchschnittlich ca. fünf Übernachtungen) und etwa 89  % bei Rock’n’Heim (mit ca. drei Über­ nachtungen). Bei der Frage nach der Art der Übernachtung spielt die Altersstruktur und damit das Einkommen eine große Rolle. Mit

10

167 Regionalökonomische Wirkungen von Sportgroßveranstaltungen – ein…

95 % der Gäste von Rock’n’Heim und 78 % von Formula Student übernachten deutlich höhere Anteile auf einem Campingplatz als beim Formel-1-Grand-Prix (33  %). Dem­ gegenüber nutzen 49  % der Formel-1Grand-­ Prix-Besucherinnen und -Besucher Hotels in der Region (nur etwa 20 % der Be­ sucherinnen und Besucher des Formula Stu­ dent). Die Berechnung der ökonomischen Wirkungen der Rennstrecke für die Region Hockenheim (Umkreis von 50  km um den Hockenheimring) basiert auf der Erfassung der Bruttoumsätze, die durch die Konsumausgaben der Gäste der Veranstaltungen ge­ neriert werden. Die Ausgaben wurden pro Tag und Kopf in den einzelnen Bereichen Verpflegung auf der Rennstrecke, Einkauf von Fanartikeln, lokaler Transport, Unter­ kunft, Gastronomiebesuche, Lebensmittel­ einkäufe, sonstige Einkäufe, Freizeit und sonstige Ausgaben erhoben bzw. berechnet. Es wurden nur die Ausgaben der Be­ sucherinnen und Besucher berücksichtigt, für die das Event das Hauptmotiv für ihren Aufenthalt in der Region Hockenheim dar­ stellte, weil nur deren Kosten als durch die Veranstaltung verursacht bezeichnet werden können. Auch wurden nur die Ausgaben von Gästen berücksichtigt, die nicht in der Re­ gion Hockenheim wohnen, weil allein diese einen zusätzlichen Kaufkraftimpuls für die Region darstellen. Es wurde zwischen Tages­ gästen und Übernachtungsgästen differen­ ziert, weil die beiden Gruppen deutliche Unterschiede in der Höhe und Struktur ihrer Ausgaben aufweisen (. Tab. 10.2). Die Gesamtausgaben der Übernachtungsgäste während der einzelnen Ver­ anstaltungen variieren sehr stark von 18,61 € für Formula Student bis zu 122,13 € für den Formel-1-Grand-Prix (. Tab.  10.2). An Veranstaltungen, bei denen ein jüngeres Pu­ blikum die Besucherstruktur dominiert und der Campingplatz Hauptunterkunftsart ist, profitieren regionale Beherbergungsbetriebe deutlich weniger. Die Ausgaben variieren  



von 1,57  € für Rock’n’Heim bis zu 37,24  € für den Formel-1-Grand-Prix. Die sehr niedrigen Ausgaben für den Bereich Über­ nachtung bei Rock’n’Heim lässt sich darauf zurückführen, dass die Kosten für den Campingplatz bereits mit dem Ticketkauf abgedeckt wurden. Hotelgäste nutzen er­ wartungsgemäß zur Verpflegung hauptsäch­ lich die regionale Gastronomie. So kann das regionale Gastgewerbe aufgrund des For­ mel-1-Grand-Prix erhebliche Einkünfte ver­ zeichnen. Eine wichtige Rolle bei den Kos­ ten der Besucherinnen und Besucher spielt auch die Versorgung mit Essen und Ge­ tränken. Die Nutzung der vorhandenen Ver­ pflegungseinrichtungen im Motodrom ist dabei, je nach Veranstaltungsart, unter­ schiedlich und beträgt zwischen 2,69  € bei Formula Student bis zu 38,43  € beim For­ mel-1-Grand-Prix. Auch der ortsansässige Lebensmitteleinzelhandel profitiert von Ver­ anstaltungen am Hockenheimring. Die höchsten Ausgaben in diesem Bereich täti­ gen die Besucherinnen und Besucher des Formula Student. Die Gesamtausgaben der Tagesgäste (. Tab.  10.2) fallen deutlich niedriger aus als die der Übernachtungsgäste und variie­ ren ebenfalls, wenn auch nicht so stark, zwi­ schen den einzelnen Veranstaltungen (von 15,72 € bei Formula Student bis zu 39,08 € beim Formel-1-Grand-Prix). Die größten Beträge entfallen bei den Tagesgästen auf den Bereich Verpflegung auf der Renn­ strecke. Auch hier geben die Gäste des Formel-1-­Grand-Prix mit 25,91 € am meis­ ten aus. Die Ergebnisse der Fallstudien bestätigen die zuvor aufgestellte Vermutung, dass sich die Ausgabengrößen für die unterschied­ lichen Events stark unterscheiden und nicht einfach von einer auf die andere Ver­ anstaltung übertragen werden können. In der durchgeführten Onlinebefragung wur­ den deshalb die Ausgaben der Besucherinnen und Besucher für die einzelnen Veranstaltungstypen ermittelt (. Tab. 10.3). Es  



10

1,15 5,24 14,04 37,24 5,47 3,57 0,24 1,45

Sonstige Ausgaben im Bereich der Renn­ strecke

Lokaler Transport

Verpflegung in regionaler Gastronomie

Unterkunft

Pauschalarrangements

Lebensmittel im regionalen Einzelhandel

Freizeitaktivitäten

Sonstige Ausgaben 122,13

15,30

Einkauf von Fanartikeln

Summe

38,43

39,08

0,00

0,00

0,23

0,00

0,00

0,72

0,39

0,35

11,48

25,91

18,61

0,21

0,02

4,52

0,00

9,34

0,82

0,84

0,01

0,16

2,69

Übernachtungsgäste

Übernachtungsgäste

Tagesgäste

Formula Student

Formel-1-Grand Prix

Verpflegung auf dem Hockenheimring

Ausgaben in den einzelnen Bereichen

15,72

0,00

0,00

0,27

0,00

0,00

2,21

0,00

0,04

0,45

12,75

Tagesgäste

30,93

0,02

0,05

2,60

0,00

1,57

0,96

0,29

0,16

4,75

20,53

Übernachtungsgäste

Rock’n’Heim

22,49

0,00

0,00

0,10

0,00

0,00

0,43

0,00

0,20

3,92

17,84

Tagesgäste

.       Tab. 10.2  Ausgaben in Euro der Übernachtungs- und Tagesgäste der ausgewählten Veranstaltungen 2014 in den einzelnen Bereichen pro Tag und Person in der Region Hockenheim. (Nach eigener Auswertung der Befragungen 2014)

168 P. Gans und M. Horn

9,70

3,58

2,44

6,24

5,75

0,06

1,72

0,57

0,29

Einkauf von Fanartikeln

Sonstige Ausgaben im Bereich der Rennstrecke

Lokaler Transport

Verpflegung in regionaler Gastronomie

Unterkunft

Pauschalarrangements

Lebensmittel im regionalen Einzelhandel

Freizeitaktivitäten

Sonstige Ausgaben

45,67

15,31

Verpflegung auf dem Hocken­ heimring

Summe

Motorsport-­ veranstaltungen

Ausgaben in den einzelnen Bereichen

65,81

0,38

0,19

3,09

1,63

11,35

5,75

0,67

6,56

9,81

26,38

Motorsportgroß-­ veranstaltungen

69,60

2,86

0,00

1,43

0,00

3,57

7,74

2,52

9,99

14,40

27,08

Musikgroß-­ veranstaltungen

59,67

6,52

0,00

1,23

0,00

2,90

6,91

0,00

27,91

3,39

10,81

Touristenfahrten/Fahrprogramme

31,94

4,36

0,00

0,92

0,00

0,97

8,42

0,00

3,97

1,92

11,36

Sonstige Tagesbesucher/ Führungen

.       Tab. 10.3  Ausgaben in Euro der Besucherinnen und Besucher des Hockenheimrings 2014 in den einzelnen Bereichen pro Tag und Person in der Region Hockenheim nach Veranstaltungstypen. (Nach eigener Auswertung der Befragungen 2014)

Regionalökonomische Wirkungen von Sportgroßveranstaltungen – ein… 169

10

170

P. Gans und M. Horn

ist auffällig, dass die Ausgaben der Gäste der Großveranstaltungen (>20.000 Be­ sucher) vor allem im Bereich Verpflegung auf dem Hockenheimring (26  € bis 27  €) deutlich höher sind als die der übrigen Gäste (etwa 11 € bis 15 €). Dagegen tätigen die Be­ sucherinnen und Besucher der kleineren Veranstaltungen höhere Ausgaben in der re­ gionalen Gastronomie. Beim Einkauf von Fanartikeln liegen die Besucherinnen und Besucher von Musikgroßveranstaltungen mit durchschnittlich 14  € vorn. Insgesamt wenden die Teilnehmerinnen und Teil­ nehmer der Onlinebefragung zwischen 32 € und 70 € pro Tag und pro Kopf in der Re­ gion Hockenheim auf, was noch einmal die große Spannbreite der Ausgaben zwischen den Veranstaltungsarten verdeutlicht. Sowohl mit den Fallstudien als auch mit der Onlinebefragung wurden die Konsum­

10

ausgaben der Besucherinnen und Besucher ermittelt; diese Ausgaben stellen die Grund­ lage für die Berechnung der Bruttoumsätze dar. Diese errechnen sich durch die Multi­ plikation der Ausgaben in den einzelnen Be­ reichen pro Tag und Person mit der durch­ schnittlichen Besucherzahl pro Tag. Die Umsätze aus dem Eintrittskartenverkauf blieben unberücksichtigt, weil der weitaus größte Teil der Vorleistungen aus diesem Be­ reich räumlich nicht der Region zuzu­ rechnen ist. Der Gesamtbruttoumsatz für die Region liegt für 2014 bei rund 37  Mio. Euro. Zu diesem Ergebnis tragen vor allem die Großveranstaltungen (rund 21  Mio. Euro Motorsport und rund 11  Mio. Euro Musikveranstaltungen) bei. Aber auch klei­ nere Veranstaltungen wie Formula Student 2014 generieren mit 0,5  Mio. Euro erheb­ liche Bruttoumsätze (. Tab. 10.4).  

.       Tab. 10.4  Bruttoumsätze (in Euro) in der Region Hockenheim durch die Besucherinnen und Besucher des Hockenheimrings 2014 nach Veranstaltungstypen. (Nach eigener Auswertung der Befragungen 2014) Veranstaltungstyp

Bruttoumsatz

Motorsportveranstaltungen

3.465.099



darunter Formula Student Germany

Motorsportgroßveranstaltungen  

darunter Formel-1-Grand-Prix

Musikgroßveranstaltungen  

darunter Rock’n’Heim 2014

539.226 21.032.497 8.550.123 10.807.730 2.335.275

Touristenfahrten/Fahrprogramme

653.525

Sonstige Tagesbesucher/Führungen

813.024

Summe

36.771.875

171 Regionalökonomische Wirkungen von Sportgroßveranstaltungen – ein…

Für die Ermittlung der Nettoumsätze wird der Betrag der Mehrwert- bzw. Umsatz­ steuer von den Bruttoumsätzen abgezogen. Mit dieser Steuer wird der A ­ ustausch von Leistungen, der vom Unternehmen erwirt­ schaftete Mehrwert, belastet, wobei der End­ verbraucher die Mehrwertsteuer im vollen Umfang zu tragen hat. Je nach Branche bzw. Ausgabenart liegen in Deutschland unter­ schiedliche Mehrwertsteuersätze vor. Die meisten Produkte und Dienstleistungen wer­ den mit 19  % besteuert. Der ermäßigte Mehrwertsteuersatz gilt für den Einkauf von Lebensmitteln, Büchern, Zeitungen, Brief­ marken, Kunst- und Sammlergegenständen, Fahrten mit dem öffentlichen Personennah­ verkehr und Taxen, Eintritte in Schwimm­ bäder, Theater, Konzerte oder Museen. Dar­ über hinaus existieren Bereiche, die komplett von der Mehrwertsteuer befreit sind. Dazu gehören beispielsweise Jugendherbergen, Privatquartiere sowie Einrichtungen des Bunds, der Länder und der Gemeinden. Da die Ausgaben der Veranstaltungsbe­ sucherinnen und -besucher nicht so detail­ liert vorliegen, dass diese genau einem Mehr­ wertsteuersatz zugeordnet werden können, wird der durchschnittliche Mehrwertsteuer­ satz für Baden-Württemberg in Höhe von 14,8  % von den Bruttoumsätzen abgezogen (Harrer & Scherr, 2013). Es ergibt sich ein Nettoumsatz von 31,3 Mio. Euro. Zur Berechnung der Nettowertschöpfung, der Einkommenswirkungen der ersten Umsatzstufe, werden die Netto­ umsätze mit branchenspezifischen Netto­ wertschöpfungsquoten multipliziert. Diese Quoten geben an, wie viele Prozent des Nettoumsatzes nach Abzug von Vor­ leistungen, Abschreibungen und indirekten

10

Steuern unmittelbar zu Löhnen, Gehältern und Gewinnen, also zu Einkommen wird. Die an dieser Stelle verwendeten Wert­ schöpfungsquoten beruhen auf Werten, die durch das Deutsche Wirtschaftswissen­ schaftliche Institut für Fremdenverkehr an der Universität München (Harrer & Scherr, 2013) ermittelt wurden. Sie liegen für die Tourismusbranche in Baden-Württemberg bei 29,74  % für die erste Umsatzstufe. Für die Region Hockenheim ergibt sich ein zu­ sätzliches Einkommen von rund 9,3  Mio. Euro auf der ersten Umsatzstufe. Die durch Veranstaltungen auf dem Hockenheimring generierten Einkommen verursachen weitere Einkommen in vor- und nachgelagerten Bereichen. Unter diesen Multiplikatoreffekt fallen Vorleistungen, etwa die Lieferung eines Bäckers an ein Hotel mit Veranstaltungsgästen, sowie die zusätzlichen Umsätze und Einkommen durch die veranstaltungsbedingte Kaufkraft­ steigerung. Die Einkommensanteile der Vor­ leistungen aus der ersten Umsatzstufe sind im Rahmen der zweiten Umsatzstufe zu be­ rücksichtigen. Dazu wird die Differenz zwi­ schen Nettoumsatz und Nettowertschöpfung der ersten Umsatzstufe mit einer durch­ schnittlichen Nettowertschöpfungsquote über alle Wirtschaftsbereiche von 30  % multipliziert (Harrer & Scherr, 2013). Für die Region Hockenheim ergibt sich ein zu­ sätzliches Einkommen von rund 6,6  Mio. Euro auf der zweiten Umsatzstufe. Durch einfache Addition der Einkommen der ers­ ten und zweiten Umsatzstufe erhält man das Gesamteinkommen, das durch die Aktivi­ täten auf dem Hockenheimring erzeugt wird. Für die Region Hockenheim liegt dies bei rund 15,9 Mio. Euro (. Abb. 10.3).  

172

P. Gans und M. Horn

Bruttoumsatz 36,8 Mio. €

Mehrwertsteuer (14,81 %) 5,4 Mio. €

Nettoumsatz 31,3 Mio. €

Einkommen der 1. Umsatzstufe 9,3 Mio. €

Vorleistungen 22,0 Mio. €

Einkommen der 2. Umsatzstufe 6,6 Mio. €

durch Konsumausgaben der Veranstaltungsbesucherinnen und -besucher auf dem Hockenheimring erzeugtes zusätzliches Einkommen 15,9 Mio. €

10

.       Abb. 10.3  Durch Konsumausgaben der Ver­ anstaltungsbesucherinnen und -besucher auf dem Hockenheimring erzeugtes zusätzliches Einkommen

10.4 

Fazit

Die Konsumausgaben der Besucherinnen und Besucher der über 300 verschiedenen Veranstaltungen auf dem Hockenheimring haben im Jahr 2014 zu erheblichen regional­ wirtschaftlichen Impulsen geführt. Insgesamt werden Bruttoumsätze in Höhe von 36,7 Mio. Euro für die Region Hockenheim gemessen. Erwartungsgemäß sind die Umsätze durch die Musik- und Motorsportgroßveran­ staltungen, wie auch die Fallstudien Formel1-Grand-Prix 2014 und Rock’n’Heim 2014 zeigen, am höchsten. Aber auch von Ver­ anstaltungen mit wesentlich geringeren Zu­ schauerzahlen werden wichtige ökonomische Impulse gesetzt. Die Ausgaben der Tages-

für die Region Hockenheim 2014. (Nach eigener Aus­ wertung der Befragungen 2014)

und Übernachtungsgäste beeinflussen Pro­ duktion, Beschäftigung, Einkommen und Steuereinnahmen. Mit der Multiplikatorana­ lyse konnte ein zusätzliches Einkommen von 15,9 Mio. Euro für die Region Hockenheim errechnet werden. Die verschiedenen Formen der Wirkungs­ analyse erfassen ausschließlich ökonomische Effekte einer Großveranstaltung. Soziale Wirkungen, beispielsweise die Stiftung einer regionalen Identität (7 Kap. 18), werden mit dieser Methode nicht erfasst. Insbesondere bei großen Investitionsvorhaben ist es aber notwendig, auch die sozialen und öko­ logischen Wirkungen (7 Kap.  24) zur er­ fassen, zu ordnen und zu bewerten (Gans et al., 2003).  



173 Regionalökonomische Wirkungen von Sportgroßveranstaltungen – ein…

? Übungs- und Reflexionsaufgaben

10

kontrolle von sportlichen Großereignissen. (Mann­ heimer Geographische Arbeiten, 57). Geo­ graphisches Institut der Universität Mannheim. Horn, M., & Gans, P. (2012). Sport als Wirtschaftsund Standortfaktor. Geographische Rundschau, 64(5), 4–10. Horn, M., & Gans, P. (2018). Die ökonomische Be­ deutung des Hockenheimrings für die Stadt und die Region Hockenheim. In G.  Nowak (Hrsg.), (Regional-)Entwicklung des Sports. (Reihe Sport­ ökonomie, 20, S. 17–36). Hofmann. Horn, M., & Zemann, C. (2006). Ökonomische, öko­ logische und soziale Wirkungen der Fußball-­ Weltmeisterschaft 2006 für die Austragungsstädte. Zum Weiterlesen empfohlene Literatur Geographische Rundschau, 58(6), 4–12. Gans, P., Horn, M., & Zemann, C. (2003). Klein, M.-L. (1996). Der Einfluß von Sportgroßveran­ Sportgroßveranstaltungen  – ökonomische, staltungen auf die Entwicklung des Freizeit- und ökologische und soziale Wirkungen. Ein Konsumverhaltens sowie das Wirtschaftsleben einer Kommune oder Region. In G.  Anders & Bewertungsverfahren zur EntscheidungsW.  Hartmann (Hrsg.), Wirtschaftsfaktor Sport: vorbereitung und Erfolgskontrolle. Attraktivität von Sportarten für Sponsoren, (Schriftenreihe des Bundesinstituts für wirtschaftliche Wirkungen von SportgroßveranSportwissenschaft, 112). Hofmann. staltungen. Dokumentation des Workshops vom 2. Juli 1996. (Bundesinstitut für Sportwissenschaft, Berichte und Materialien, 15, S. 55–60). Sport und Buch Strauß. Literatur Kurscheidt, M. (2016). Die wirtschaftliche Bedeutung von Sportgroßevents: Konsumausgaben und ExFanelsa, D. (2002). Regionalwirtschaftliche Effekte ante-Analysen. In C.  Deutscher, G.  Hovemann, sportlicher Großveranstaltungen. Die InterT.  Pawlowski & L.  Thieme (Hrsg.), Handbuch nationalen Galopprennen Baden-Baden. (Karls­ Sportökonomik. (Beiträge zur Lehre und For­ ruher Beiträge zur wirtschaftspolitischen For­ schung im Sport, 190, S. 365–381). Hofmann. schung, 14). Nomos. Maennig, W. (1998). Möglichkeiten und Grenzen von Feddersen, A. (2016). Die wirtschaftliche Bedeutung Kosten-Nutzen-Analysen im Sport. Sportwissenvon Sportgroßevents: Ökonometrische Ex-post-­ schaft, 28(3/4), 311–327. Analysen. In C. Deutscher, G. Hovemann, T. Paw­ Preuß, H. (1999). Ökonomische Implikationen der Auslowsk & L. Thieme (Hrsg.), Handbuch Sportökorichtung Olympischer Spiele von München 1972 bis nomik. (Beiträge zur Lehre und Forschung im Atlanta 1996. (Olympische Studien, 3). Agon. Sport, 190, S. 349–364). Hofmann. Rahmann, B., Weber, W., Groening, Y., Kurscheidt, M., Gans, P., Horn, M., & Zemann, C. (2003). SportgroßNapp, H.-G., & Pauli, M. (1998). Sozio-ökonomi­ veranstaltungen – ökonomische, ökologische und sosche Analyse der Fußball-­Weltmeisterschaft 2006 in ziale Wirkungen. Ein Bewertungsverfahren zur EntDeutschland. Gesellschaftliche Wirkungen, Kostenscheidungsvorbereitung und Erfolgskontrolle. Nutzen-­ Analyse und Finanzierungsmodelle einer (Schriftenreihe des Bundesinstituts für Sport­ Sportgroßveranstaltung. (Bundesinstitut für Sport­ wissenschaft, 112). Hofmann. wissenschaft, Wissenschaftliche Berichte und Mate­ Harrer, B., & Scherr, S. (2013). Tagesreisen der Deutrialien, 4). Strauß. schen. (dwif Schriftenreihe, 33). Deutsches Wirt­ Rütter, H., Stettler J., Amstutz, M., Birrer, D. & et al. schaftswissenschaftliches Institut für Fremdenver­ (2002). Volkswirtschaftliche Bedeutung von kehr e. V. Sportgroßanlässen in der Schweiz. Schlussbericht, Hockenheimring GmbH. (2014). Daten und Fakten KTI Projekt „Volkswirtschaftliche Bedeutung zum Hockenheimring Baden-Württemberg. von Sportgrossanlässen in der Schweiz“. Institut http://www.­h ockenheimring.­d e/unternehmen-­ für Tourismuswirtschaft ITW, Hochschule für daten-­und-­fakten. Zugegriffen am 07.12.2014. Wirtschaft HSW. Horn, M. (2005). Steigerung des Gemeinwohls durch Schätzl, L. (1994). Wirtschaftsgeographie 2. Empirie die Ausrichtung einer Sportgroßveranstaltung. Ent(2. Aufl.). Schöningh. wicklung eines Bewertungsverfahrens zur Erfolgs-

1. Wie können Umsätze, Wertschöp­ fungs- und Einkommenseffekte einer Sportgroßveranstaltung bestimmt werden? 2. Erläutern Sie die verschiedenen regionalökonomischen Effekte am Beispiel einer Sportgroßveran­ staltung Ihrer Wahl!

174

P. Gans und M. Horn

Schwark, J. (2020). Sportgroßveranstaltungen. Kritik der neoliberal geprägten Stadt. Springer VS. Stettler, J. (2000). Ökonomische Auswirkungen von Sportgrossanlässen. Literaturstudie. Institut für Tourismuswirtschaft ITW, Hochschule für Wirt­ schaft HSW.

10

Zemann, C., Lentz, S., & Schmidt, B. (2001). Regionalwirtschaftliche Effekte von Sportgroßveranstaltungen – untersucht am Beispiel des Formel-1Grand-Prix auf dem Hockenheimring (Arbeits­ berichte aus dem Geographischen Institut der Universität Mannheim, 18). Geographisches Ins­ titut der Universität Mannheim.

175

Sportbezogene Arbeitsmärkte Pierre-André Gericke und Christian Zemann

Sportunterricht. (© Drazen/stock.adobe.com)

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Gans et al. (Hrsg.), Sportgeographie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66634-0_11

11

Inhaltsverzeichnis 11.1

 usammenhänge zwischen Sport Z und Arbeitsmarkt – 177

11.2

 bgrenzung von Sport A in der Arbeitsmarktstatistik – 178

11.3

 truktur und Entwicklung des Arbeitsmarkts S Sportberufe – 181 E ntwicklung von Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und gemeldeten Stellen – 181 Struktur der Beschäftigung in Sportberufen – 184

11.4

 egionale Bedeutung sportbezogener R Beschäftigung – 185  äumliche Perspektiven der Analyse sportbezogener R Beschäftigung – 185 Regionale Unterschiede sportbezogener Beschäftigung – 187 Typisierung regionaler Arbeitsmärkte für Sportberufe – 191

11.5

Fazit – 193 Literatur – 194

177 Sportbezogene Arbeitsmärkte

Einleitung Sport in seinen vielfältigen Erscheinungsformen geht mit Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen einher und beeinflusst damit Angebot und Nachfrage auf Arbeits­ märkten. Wo Arbeitskräfteangebot und -nachfrage zueinander finden, entsteht sportbedingte Ehrenamts- oder Erwerbstätigkeit. Letztere ist unter anderem in Vereinen und Verbänden, der öffentlichen Verwaltung sowie in privaten Unternehmen zu finden. Diese Institutionen beschäftigen Athletinnen und Athleten sowie Fachleute beispielsweise für Training, Betreuung und Unterricht, Forschung und Lehre, Management, Verwaltung, Sportartikelherstellung und -verkauf, Marketing, Berichterstattung. Daneben hat der Sport Beschäftigungswirkungen in nicht auf den Sport spezialisierten Branchen und Berufsfeldern, etwa wenn regelmäßiger Sportbetrieb oder Sportveranstaltungen zu zusätzlicher Nachfrage im Gastgewerbe, Einzelhandel oder Baugewerbe führen. Sportbedingte Erwerbstätigkeit zu erfassen, erweist sich als schwierig, weil zahlreiche Institutionen nicht ausschließlich sportbezogene Waren produzieren oder entsprechende Dienstleistungen erbringen; die Sportbranche ist wirtschaftsfachlich nicht eindeutig abgrenzbar (7 Kap. 12). Ansätze, Wirkungen des Sports auf Arbeitsmärkte indirekt oder durch Primärerhebungen zu ermitteln, sind aufwendig und stoßen bei der regionalen Betrachtung sportbezogener Arbeitsmärkte an ihre Grenzen. Die amtliche Arbeitsmarktstatistik kann in solchen Untersuchungen zu Erkenntnissen beitragen. Den Abgrenzungsschwierigkeiten steht der Vorteil von Vollerhebungen zentraler Bereiche des Arbeitsmarkts gegenüber, die fachlich und regional tief differenzierte Auswertungen ermöglichen. Möglichkeiten und Grenzen der Arbeitsmarktstatistik zur Analyse sportbezogener Berufsfelder wurden bereits von Lück-­ Schneider (2007) und Gericke et  al. (2012)  

11

untersucht. Die folgende Betrachtung stellt anhand aktueller Daten und einer seit damals neu entwickelten Klassifikation die Entwicklung und Struktur sportbezogener Arbeitsmärkte in Deutschland dar. Dabei wird auf Ansätze der Regionalisierung eingegangen, um Möglichkeiten aufzuzeigen, wie Arbeitsmarkteffekte auch im Rahmen spezifischer, auf einzelne Regionen fokussierter Analysen und Planungen untersucht werden können.

11.1 

Zusammenhänge zwischen Sport und Arbeitsmarkt

Die vielfältigen Formen aktiven Sportausübens und passiven Sportkonsums setzen fast allesamt bestimmte Kenntnisse, passende Infrastruktur, Ausrüstung oder Medien voraus und erzeugen deshalb Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen. Die Bedarfe sind mannigfaltig und umfassen ein breites Spektrum von geeigneter Kleidung über Unterricht und Training bis zum komplexen Leistungsgefüge im Rahmen einer internationalen Sportgroßveranstaltung. Um nachfragegerechte sportbezogene Güter zu erzeugen, entsteht ein spezifischer Bedarf an Arbeitskräften. Dieser Bedarf kann von Individuen unmittelbar gedeckt werden (z.  B. als selbstständige Personal Trainer), häufig wird er aber von Institutionen befriedigt, die z. B. als Verein, als Teil der öffentlichen Verwaltung oder als privates Unternehmen sportbezogene Leistungen (z. B. Sportstätten und Training, Unterricht, Beratung) anbieten und als Arbeitgeber auftreten. Letzteres macht sich auf Arbeitsmärkten entweder in Form einer befriedigten Arbeitskräftenachfrage (Beschäftigung) oder einem Nachfrageüberhang (offene Stellen) bemerkbar. Der Nachfrage steht ein sportbezogenes Arbeitskräfteangebot gegenüber. Dieses wird von Menschen gebildet, die ihre Arbeitskraft sportbezogen einsetzen möch-

178

P.-A. Gericke und C. Zemann

ten, und die dafür in vielen Fällen eine passende formelle oder informelle Qualifikation erwerben (etwa durch Training, eine Ausoder Weiterbildung oder ein Studium). Soweit Arbeitskräfteangebot und -nachfrage zueinander finden, entsteht Beschäftigung; ein Angebotsüberhang kann sich in Arbeitslosigkeit manifestieren. Einkommen und Erwerbstätigkeit gehören zu den ökonomischen Effekten, die im Kontext von Sport im Allgemeinen und bei der Ex-ante- oder Ex-post-Bewertung konkreter sportbezogener Maßnahmen häufig untersucht werden (Horn, 2005; Zemann, 2005). Arbeitsmarktstrukturen und -entwicklungen werden dabei meist indirekt quantifiziert (7 Kap.  12). So berechnen Ahlert et  al. (2021) die sportbezogene Erwerbstätigkeit im Rahmen eines Sport­ satellitenkontos der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung auf Bundesebene und kommen dabei für 2018 auf rund 1,19 Mio. Personen, was einem Anteil von 2,6  % an den Erwerbstätigen entspricht. Die größten Anteile entfallen danach auf die Wirtschaftsbereiche öffentliche und personenbezogene Dienstleister, Handel sowie Verkehr und Gastgewerbe. Berechnungen wie diese stoßen bei regionalspezifischem und fachlich tiefer differenziertem Interesse schnell an Grenzen. Eine Regionalisierung etwa des Sportsatellitenkontos ist wenig

aussichtsreich (Ahlert, 2018). Regionale sportbezogene Beschäftigungswirkungen werden daher meist anhand von Umsatz und Wertschöpfung ermittelt, indem sportbedingte Einkommenssteigerungen in Beschäftigungsäquivalente umgerechnet werden (etwa mittels Multiplikatoranalysen; 7 Kap.  10 und  12). Die dafür erforderlichen Größen sind jedoch nicht immer verfügbar, und auch mit diesen Verfahren lässt sich der Wunsch nach tieferer fachlicher Differenzierung häufig nicht erfüllen. Einen direkten analytischen Zugang zu sportbezogenen Strukturen und Entwicklungen auf Arbeitsmärkten eröffnen Daten der Arbeitsmarkstatistik.  



11

11.2 

 bgrenzung von Sport in der A Arbeitsmarktstatistik

Um sportbezogene Arbeitsmärkte in Deutschland anhand amtlicher Statistiken zu untersuchen, sind Daten zur sozialversicherungspflichtigen und geringfügigen Beschäftigung, zur Arbeitslosigkeit und zu gemeldeten Stellen von besonderer Relevanz. Sie geben Einblick in Angebot und Nachfrage auf Arbeitsmärkten mit umfangreichen Möglichkeiten zur Differenzierung (7 Box 11.1).  

Box 11.1 Statistiken zu Beschäftigung, Arbeitslosigkeit und gemeldeten Stellen

Die amtlichen Statistiken über den Arbeits­ markt und die Grundsicherung für Arbeit­ suchende in Deutschland werden von der ­Statistik der Bundesagentur für Arbeit (BA) erstellt und veröffentlicht (statistik.arbeitsagentur.de). Dabei handelt es sich um Sekundärstatistiken, d. h. die Ergebnisse basieren auf Daten aus den Geschäftsprozessen der BA und der Jobcenter, aus dem Meldeverfahren zur Sozialversicherung sowie weiteren externen Quellen. Um Angebot und

Nachfrage auf Arbeitsmärkten zu beleuchten, sind die Statistiken zu Arbeitslosen, gemeldeten Stellen und zur Beschäftigung von besonderer Relevanz (Statistik der BA, 2018, 2022f, 2022g). Als arbeitslos gelten Personen, welche die gesetzlichen Kriterien des Sozialgesetzbuchs (SGB III oder II) erfüllen, d.  h. unter anderem bei der BA oder einem Träger der Grundsicherung für Arbeitsuchende gemeldet und für den Arbeitsmarkt verfügbar sind. Unter gemeldeten Stellen

179 Sportbezogene Arbeitsmärkte

werden sozialversicherungspflichtige, geringfügige und sonstige (z. B. Praktika) Arbeitsstellen mit einer vorgesehenen Beschäfti­ gungsdauer von mehr als sieben Kalendertagen verstanden, die den Arbeitsagenturen sowie den Jobcentern in gemeinsamer Einrichtung von BA und Kommunen von Arbeitgebern zur Vermittlung gemeldet wurden. Die Beschäftigung umfasst sozialversiche­ rungspflichtig und geringfügig Beschäftigte (SvB und GB). Der größte Teil der GB entfällt auf geringfügig entlohnt Beschäftigte

Sportbezogene Arbeitsmärkte lassen sich wegen des oben beschriebenen Abgrenzungsproblems nur teilweise anhand von Wirtschaftszweigen identifizieren. In diesem Beitrag werden Arbeitsmärkte für Sport stattdessen berufs- bzw. tätigkeitsbezogen auf Basis der Klassifikation der Be­ rufe (7 Box 11.2) abgegrenzt. Bei den Arbeitslosen wird dabei auf den Zielberuf Bezug genommen, bei den Stellen auf die gewünschte Tätigkeit und bei den Beschäftigten auf die ausgeübte Tätigkeit (Statistik der BA, 2018, 2022f, 2022g). Bei der Auswahl sportbezogener Berufe und der Bildung von Aggregaten wird den Überlegungen von Gericke et al. (2012) und Lück-Schneider (2007) gefolgt, allerdings  

(GeB), d. h. Beschäftigte mit einem Minijob, bei dem das Arbeitsentgelt regelmäßig 520 € im Monat nicht überschreitet. SvB und GB decken den weitaus größten Teil der Erwerbstätigkeit in Deutschland ab (Anteil der SvB an den Erwerbstätigen 2021: 75  %, Anteil der ausschließlich GB an den Erwerbstätigen: 9 %; nicht enthalten sind vor allem Beamtinnen und Beamte sowie Selbstständige; Statistik der BA, 2022c). Die Statistiken liegen in tiefer fachlicher und regionaler Differenzierung vor.

unter Verwendung der seitdem grundlegend neu aufgebauten Klassifikation der Berufe 2010. Dazu wurden zunächst Berufsuntergruppen ausgewählt, die ganz oder mit hohen Anteilen als sportbezogen gelten können. Daraus wurden anhand der berufsfachlichen Ähnlichkeit fünf Aggregate gebildet: „Pferde“, „Konstruktion“, „Management“, „Unterricht“ und „Berufssport“ (. Tab. 11.1). Sportbezogene Berufe in Be­ rufsuntergruppen, die nicht größtenteils dem Sport zuzurechnen sind, entziehen sich damit der Analyse (so ist z.  B. der Beruf „Sportjournalist/in“ nicht eigens ausweisbar, sondern in der Berufsuntergruppe „Redakteure/Redakteurinnen und Journalisten/ Journalistinnen“ enthalten).  

Box 11.2 Klassifikation der Berufe

Um die Vielfalt der Berufe in Deutschland abbilden zu können, werden sie mittels der Klassifikation der Berufe (KldB) systematisch gruppiert. Die aktuelle Systematik „KldB 2010  – überarbeitete Fassung 2020“ (Statistik der BA, 2022d) ist hierarchisch und umfasst fünf Gliederungsebenen. Die strukturgebende Dimension ist die Berufs­ fachlichkeit. Das heißt, die Berufe sind auf den obersten vier Ebenen anhand der Ähnlichkeit der sie auszeichnenden Tätigkeiten, Kenntnisse und Fertigkeiten gruppiert. Auf

11

der fünften Ebene wird nach dem An­ forderungsniveau gegliedert, das sich auf die Komplexität der Tätigkeit bezieht. Bei der Kategorisierung werden formelle Qualifikationen, die für die Ausübung eines Berufs erforderlich sind, herangezogen, aber auch informelle Bildung oder Berufserfahrung. Das Anforderungsniveau wird in vier Ausprägungen ausgewiesen: von Helfer- und Anlerntätigkeiten über fachlich ausgerichtete Tätigkeiten und komplexe Spezialistentätigkeiten bis zu hochkomplexen Tätigkeiten.

180

P.-A. Gericke und C. Zemann

.       Tab. 11.1  Sportbezogene Berufsaggregate auf Basis der Klassifikation der Berufe (KldB) 2010 Aggregat

Berufsuntergruppen

Berufe (Beispiele)

Pferde

1132 – Berufe in der Pferdewirtschaft – Reiten

Pferdewirt/in – Reiten

1139 – Aufsichts- und Führungskräfte – Pferdewirtschaft

Pferdewirtschaftsmeister/in – Reitausbildung Gestütsverwalter/in

Konstruktion

2728 – Technisches Zeichnen, Konstruktion und Modellbau (sonstige spezifische Tätigkeitsangabe)

Sportgerätebauer/in Skimonteur/in Normungsexperte/-expertin Ingenieur/in – Sport Normeningenieur/in

Management

6312 – Sport- und Fitnesskaufleute, Sportmanager/ innen

Sport- und Fitnesskaufmann/­-frau Fachkraft – Sportmanagement Fachwirt/in – Sport Sportbetriebswirt/in Sportmanager/in, -ökonom/in Manager/in für Fitness- und Freizeitunternehmen

Unterricht

8450 – Sportlehrer/innen (ohne Spezialisierung)

Sportlehrer/in Berufstrainer/in – Sport Lizenztrainer/in Trainer/in – Leistungssport Sportwissenschaftler/in

8453 – Tanzlehrer/innen

Tanzsporttrainer/in Tanz- und Gymnastiklehrer/in

8454 – Trainer/innen – Ballsportarten

Tennislehrer/in Fußballtrainer/in

8455 – Trainer/innen – Fitness und Gymnastik

Gymnastiklehrer/in Yogalehrer/in

8458 – Sportlehrer/innen (sonstige spezifische Tätigkeitsangabe)

Segellehrer/in Karatelehrer/in Sporttauchlehrer/in

9424 – Athleten/Athletinnen und Berufssportler/innen

Fußballspieler/in Berufssportler/in Eislaufkünstler/in

11

Berufssport

11

181 Sportbezogene Arbeitsmärkte

11.3 

 truktur und Entwicklung S des Arbeitsmarkts Sportberufe

bei der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung dagegen stärker (. Abb.  11.1, 11.2 und  11.3).1 Die Entwicklung ist vor allem durch die beiden wichtigsten sportbezogenen Teilarbeitsmärkte „Unterricht“ und „Management“ geprägt (. Tab.  11.1 und 11.2). Die Kräftenachfrage auf dem Arbeitsmarkt für Sportberufe scheint weniger stark auf konjunkturelle Entwicklungen zu reagieren als die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt insgesamt (. Abb.  11.1). Vor der Krise infolge der Corona-Pandemie lagen die Rückgänge der Arbeitslosigkeit bei Sportberufen mit 7,1  % seit 2013 deutlich unter dem Niveau des Gesamtmarktes mit 23,2  %. Dies könnte auf die in Dienstleistungssektoren üblicherweise geringere Konjunkturreagibilität der Arbeitskräftenachfrage zurückzuführen sein. Der sportbezogene Arbeitsmarkt scheint allerdings von der Pandemie stärker betroffen gewesen zu sein als der Gesamtmarkt. In . Abb. 11.1 ist der Anstieg der Arbeitslosigkeit mit Einsetzen der Corona-­Krise im Jahr 2019 deutlich zu erkennen und in Sportberufen mit 29,9 (von 92,9 auf 122,8) gegenüber 14,6  

 ntwicklung von Beschäftigung, E Arbeitslosigkeit und gemeldeten Stellen Im Folgenden werden Angebot und Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt für Sportberufe anhand der in . Tab.  11.1 dargestellten Berufsaggregate untersucht. . Tab.  11.2 zeigt die Bedeutung der einzelnen Teilsegmente jeweils im Vergleich zur Gesamtzahl der Arbeitslosen, gemeldeten Stellen und Beschäftigten. Die Anteile der sportbezogenen Arbeitsmarktsegmente sind überwiegend gering (gemeldete Stellen 0,1  %, Arbeitslose und SvB jeweils 0,2  %). Ein bedeutenderer Anteil kommt den GeB in Sportberufen zu (1,0 %). Der Arbeitsmarkt für Sportberufe in Deutschland entwickelt sich hinsichtlich der Arbeitslosigkeit und der gemeldeten Stellen schwächer als der Arbeitsmarkt insgesamt,  









.       Tab. 11.2  Arbeitslosigkeit, gemeldete Stellen (Jahresdurchschnitte 2021) und Beschäftigte am Arbeitsort (30. Juni 2021) in sportbezogenen Berufssegmenten. (Nach Statistik der BA, 2022a, b) Segment

Arbeitslose

Gemeldete Stellen

SvB

GeB

Alle Berufe

2.613.489

705.605

33.802.173

7.156.563

6.354

690

67.669

74.217



Sportberufe

   

Pferde

187

*

2.200

753

   

Konstruktion

34

*

2.923

279

   

Management

1.338

136

12.762

2.702

   

Unterricht

4.356

524

43.383

57.211

   

Berufssport

438

*

6.401

13.272

*Werte werden aus Gründen der statistischen Geheimhaltung nicht ausgewiesen.

1 Daten nach der KldB 2010 sind ab 2013 verfügbar.

182

P.-A. Gericke und C. Zemann

200 180 160 140 120 100 80 60 40

2013

2014 insgesamt

2015

2016

Sportberufe

2017

2019 Unterricht

Management

.       Abb. 11.1  Arbeitslose insgesamt und in Sportberufen (Jahresdurchschnitte; Index, 2013 = 100  %). (Wegen zu geringer Fallzahlen werden die Aggregate

11

2018

2020

2021

Berufssport

„Pferde“ und „Konstruktion“ nicht einzeln ­ausgewiesen, sind aber in „Sportberufe“ enthalten.) (Nach Statistik der BA, 2022b; eigene Berechnungen)

240 220 200 180 160 140 120 100 80 60

2013

2014 insgesamt

2015

2016

Sportberufe

2017 Management

.       Abb. 11.2  Gemeldete Stellen insgesamt und in Sportberufen (Jahresdurchschnitte; Index, 2013 = 100 %). (Wegen zu geringer Fallzahlen werden die Aggregate „Pferde“, „Konstruktion“ und „Berufssport“

2018

2019

2020

2021

Unterricht

nicht einzeln ausgewiesen, sind aber in „Sportberufe“ enthalten.) (Nach Statistik der BA, 2022b; eigene Berechnungen)

11

183 Sportbezogene Arbeitsmärkte

150 140 130 120 110 100 90 80

2013 insgesamt

2014

2015

2016

Sportberufe

Pferde

2017 Konstruktion

2018

2019

Management

2020 Unterricht

2021 Berufssport

.       Abb. 11.3  SvB am Arbeitsort insgesamt und in Sportberufen (jeweils 30. Juni; Index, 2013 = 100 %). (Nach Statistik der BA, 2022a; eigene Berechnungen)

Prozentpunkten (von 76,8 auf 91,4) insgesamt deutlich stärker ausgeprägt. Ähnliche Muster zeigen sich auch bei den gemeldeten Stellen, deren Entwicklung ein Indikator für die Entwicklung der Arbeitskräftenachfrage ist (. Abb.  11.2). Die Stellenmeldungen in Sportberufen sind von 2013 bis zur Pandemie 2019 weniger stark angestiegen als die Stellenmeldungen auf dem Gesamtmarkt und danach stärker zurückgegangen. Zudem zeigen sich bei den sportbezogenen Stellenmeldungen entgegen der Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt insgesamt bis Anfang 2021 kaum Konsolidierungstendenzen. Die sozialversicherungspflichtige Be­ schäftigung in Sportberufen hat sich vor der Pandemie positiver entwickelt als der Gesamtmarkt mit Beschäftigungszuwächsen von 32,9  % gegenüber 12,8  % insgesamt (. Abb. 11.3). Allerdings liegt die Zahl der SvB mit sportbezogenen Tätigkeiten aktuell noch unter dem Niveau zu Beginn der Pandemie. Die SvB insgesamt haben dieses  



Niveau bereits wieder überschritten. Ähnliches gilt für das Segment der geringfügig entlohnten Beschäftigung (Statistik der BA, 2022a). Eine Erklärung für die überdurchschnittliche Zunahme der sportbezogenen Beschäftigung zwischen 2013 und 2019 bei unterdurchschnittlichem Rückgang der Arbeitslosigkeit könnte sein, dass die unterdurchschnittlichen Zuwächse bei der Arbeitskräftenachfrage (gemeldete Stellen) in ­Sportberufen von einer Zunahme des Kräf­ teangebots begleitet wurden. Gemäß dem einfachen neoklassischen Arbeitsmarkt­ modell (z.  B.  Borjas, 2020; Mankiw, 2001) folgen einer Nachfragezunahme an Arbeitskräften bei gleichzeitiger Ausdehnung des Angebots neben nachfrageinduzierten auch angebotsinduzierte Beschäftigungszuwächse. Gleichzeitig wird der Rückgang der Arbeitslosigkeit gebremst, weil der durch die zusätzliche Kräftenachfrage herbeigeführte Abbau der Arbeitslosigkeit durch das zusätzliche Kräfteangebot konterkariert wird.

184

P.-A. Gericke und C. Zemann

 truktur der Beschäftigung S in Sportberufen

11



Die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten in Sportberufen lag im Juni 2021 bei knapp 68.000 (0,2 % aller SvB). Die meisten davon sind als Lehrerinnen und Lehrer, Trainerinnen und Trainer sowie in der Sportwissenschaft tätig (Aggregat „Unterricht“, rund 64  %), gefolgt vom Sportmanagement (ca. 20 %). Knapp 10 % der SvB mit sportbezogenen Tätigkeiten sind Athletinnen und Athleten (. Tab. 11.2). Die SvB in Sportberufen sind im Durchschnitt jünger als in anderen Berufen, üben Tätigkeiten mit einem höheren Anforde­ rungsniveau aus (überwiegend Spezialisten) und sind häufiger in Teilzeit beschäftigt. Personen mit mittlerem Qualifikationsniveau sind bei den SvB in Sportberufen unterrepräsentiert, Akademikerinnen und Akademiker sowie Personen ohne abgeschlossene Ausbildung überrepräsentiert. In Sportberufen ist geringfügig entlohnte Beschäftigung besonders häufig. Die Zahl der GeB mit sportbezogenen Tätigkeiten lag im Juni 2021 bei über 74.000 und damit höher als die Zahl der SvB; dies entspricht ungefähr 1  % aller GeB.  In dieser Gruppe entfällt ein noch größerer Anteil auf das Aggregat „Unterricht“ (rund 77  %), gefolgt von Athletinnen und Athleten (knapp 18 %) und im Sportmanagement Tätigen (ca. 4 %). Von den insgesamt knapp 20.000 beschäftigten Berufssportlerinnen und -sport 

lern sind somit über zwei Drittel geringfügig entlohnt beschäftigt (. Tab. 11.2). Das Ver­ hältnis von GeB zu SvB ist in Sportberufen insgesamt mehr als fünfmal so hoch wie bei allen Beschäftigten (1,1 zu 0,2). Im Teilsegment „Berufssport“ beträgt es sogar 2,1. Überdurchschnittliche GeB-SvB-Verhältnisse kommen in den Sportberufen – anders als bei den Beschäftigten insgesamt  – eher bei Personen vor, die über eine abgeschlossene Berufsausbildung verfügen, Tätigkeiten mit gehobenem Anforderungsniveau ausüben (Spezialisten; 7 Box 11.2) oder männlich sind. Im Berufsfeld Sport hat geringfügig entlohnte Beschäftigung damit eine außergewöhnlich hohe Relevanz, und die Gruppen der SvB und GeB unterscheiden sich strukturell nur wenig. Die mittleren Bruttoentgelte der sozial­ versicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigten in Sportberufen liegen insgesamt unter dem Durchschnitt (. Tab.  11.3), im Segment „Berufssport“ aber deutlich darüber. Anders als die Entgelte insgesamt sind die Entgelte in Sportberufen von 2019 bis 2020 zurückgegangen. Dies könnte das Ergebnis des vermuteten, besonders ausgeprägten Rückgangs der sportbezogenen Arbeitskräftenachfrage im Zuge der Corona-­ Pandemie sein. Von 2013 bis 2019 betrug der Anstieg des mittleren Einkommens in Sportberufen 13  % (von 2.420 € auf 2.743 €; . Tab. 11.3). Er lag damit unter dem durchschnittlichen Einkommensanstieg von 15 % über alle Berufe (von 2.954 € auf 3.401 €;  





.       Tab. 11.3  Mediane der Bruttoentgelte sozialversicherungspflichtig Vollzeitbeschäftigter (jeweils 31. Dezember). (Nach Statistik der BA, 2022a) Stichtag

Median in € insgesamt darunter Sportberufe insgesamt Pferde

Konstruktion

Management

Unterricht

Berufssport

2013

2.954

2.420

1.722

3.537

1.905

2.316

4.318

2019

3.401

2.743

2.135

3.881

2.362

2.612

5.536

2020

3.427

2.699

2.157

3.890

2.294

2.557

5.317

11

185 Sportbezogene Arbeitsmärkte

. Tab. 11.3). Dies stützt ebenfalls die oben angeführte Hypothese, dass im Berufssegment „Sport“ zwischen 2013 und 2019 sowohl die Nachfrage als auch das Angebot an Arbeitskräften zugenommen haben. Eine lohnerhöhend wirkende Nachfragezunahme würde dann mit einer lohndämpfenden Angebotszunahme einhergehen. Das Lohnwachstum in Sportberufen kann daher schwächer ausfallen als auf dem Gesamtmarkt, obwohl die Beschäftigung in Sportberufen stärker gestiegen ist.  

11.4 

Regionale Bedeutung sportbezogener Beschäftigung

 äumliche Perspektiven der R Analyse sportbezogener Beschäftigung In 7 Abschn. 11.3 wurde der Arbeitsmarkt für Sportberufe bezogen auf Deutschland beschrieben. Für spezifische Arbeitsmarktanalysen im Kontext Sport sollte dies nur der Ausgangs- oder Referenzpunkt regional tiefer gehender Untersuchungen sein, weil fachlich und räumlich der sportbezogene Arbeitsmarkt nicht existiert. Vielmehr sollte von einer Vielzahl sehr unterschiedlicher regionaler Arbeitsmärkte ausgegangen werden, die, der Forschungsfrage angemessen, inhaltlich oder räumlich zu definieren sind. So ist es z. B. für Wirkungsanalysen oder für Planungszwecke (7 Kap. 10 und 21) essenziell, den Untersuchungsraum klar abzugrenzen. Bei regionalen Analysen sportbezogener Beschäftigung liegt es zunächst nahe, Räume als Container aufzufassen (DGfG, 2002; 7 Kap. 2) und die darin enthaltenen sportrelevanten Strukturen zu beschreiben. Tatsächlich kann diese Perspektive Erkenntnisse eröffnen, etwa wenn man bedenkt, dass Eigenschaften eines  





Raums bezüglich Topographie, Klima, Vegetation, Demographie und Wirtschaft Einfluss darauf haben, ob Sportarten ausgeübt werden ­können – und sportbezogene Beschäfti­gung diesen Möglichkeiten häufig folgt (7 Kap.  3). So können höhere Durchschnittstemperaturen zum Rückgang sportbezogener Beschäftigung in Skiregionen führen (7 Kap.  7); Trainerinnen und Trainer in seltenen Sportarten finden leichter in verdichteten Räumen mit höherem Nachfragepotenzial Beschäftigung, und mobile Athletinnen und Athleten ziehen nicht selten an Standorte mit hohem sportlichem und wirtschaftlichem Potenzial großer Vereine (7 Kap. 15). Der Schritt von diesem Untersuchungsansatz zu solchen, die den Raum als System von Lagebeziehungen auffassen (DGfG, 2002; 7 Kap.  2) liegt nahe. So sind bei der Analyse von Arbeitsmärkten funktionale Verflechtungen und Relationen zwischen Orten und Elementen sowie Netzwerke sinnvolle Untersuchungsgegenstände und können z. B. bei der Modellierung herangezogen werden. Im Segment „Sportmanagement“ beispielsweise ist von (Agglomerations-)Effekten in Form von Austauschbeziehungen zwischen Hochschulen, Forschungseinrichtungen, Sportleistungszentren sowie ­öffentlichen wie privaten Arbeitgebern auszugehen, die sportbezogene Arbeits­ marktstrukturen ausbilden oder verstärken. Die Analyse sportbezogener Arbeitsmärkte im Kontext wahrgenommener und medial repräsentierter Räume (DGfG, 2002; 7 Kap. 2) schließlich kann unter anderem dazu beitragen, berufs- oder ausbil­ dungsbedingte Arbeitskräftemigration (7 Kap.  15) oder Standortentscheidungen von Unternehmen besser zu verstehen. In der Praxis fokussieren Wirkungsanalysen und Planungen im Kontext Sport oft auf konkrete und klar abgrenzbare Untersuchungs- bzw. Planungsräume, häufig mit Bezug zu bestimmten Primärim­ pulsen (Sportgroßveranstaltungen; Errichtung sportbezogener Infrastruktur; andere Maßnahmen  











186

P.-A. Gericke und C. Zemann

der Stadtentwicklung oder Sport­ stätten­ planung; 7 Kap. 8, 20, 21 und 22). Für entsprechende Fragestellungen können Daten der amtlichen Arbeitsmarktstatistik Beiträge leisten (7 Box 11.1 und 11.3). Die im Folgenden beschriebenen Auswertungen sollen zum einen im Sinne einer Annäherung anhand ausgewählter Kennzahlen die regionale Bedeutung sportbezogener Be­ schäftigung beschreiben. Zum anderen sol 



len sie beispielhaft Zugänge aufzeigen, die Arbeitsmarktstatistiken für tiefer gehende Analysen regionaler sportbezogener Arbeitsmarkt(-effekte) eröffnen. Als räumliche Bezüge werden dabei überwiegend Raumordnungsregionen, teilweise auch Arbeitsmarktregionen, gewählt, wodurch eine funktional-administrative Abgrenzung zugrunde gelegt wird (7 Box 11.3).  

Box 11.3 Abgrenzung von Regionen in der Arbeitsmarktstatistik

11

Daten der Arbeitsmarktstatistik können nach ziehungen in Form von Pendlerverflechtungen verschiedenen Systematiken regional differen- bestehen (Kropp & Schwengler, 2011). Auch ziert werden (Statistik der BA, 2021, 2022e). die Raumordnungsregionen (ROR) des Als administrative Abgrenzungen stehen die Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumpolitische Gebietsstruktur (Bund, Länder, forschung (BBSR, 2022) sind das Ergebnis Regierungsbezirke, Kreise, Gemeinden) sowie einer funktional-administrativen Abgrenzung. die Verwaltungsgliederungen der BA und der Ihnen liegen ebenfalls Pendlerverflechtungen Grundsicherungsträger (Jobcenter) zur Ver- zugrunde; zur administrativen Abgrenzung fügung. Bei funktionalen Gliederungen werden werden Kreise und die Planungsregionen der Regionen zusammengefasst, die hinsichtlich Länder berücksichtigt. Unter dem Gesichtsbestimmter Aspekte in enger Beziehung zu- punkt der Homogenität werden Regionen nach einander stehen. So stellen die Arbeitsmarkt- der Ähnlichkeit hinsichtlich ausgewählter regionen (AMR) des Instituts für Arbeits- Merkmale klassifiziert, etwa anhand ähnlicher markt- und Berufsforschung in sich weit- Ausprägungen bestimmter Arbeitsmarktgehend geschlossene regionale Arbeitsmärkte indikatoren. Schließlich besteht die Möglichdar. Die Abgrenzung ist funktional-­keit der Auswertung nach geographischen administrativ, denn es werden Kreise zu- Gitterzellen, welche die Fläche Deutschlands sammengefasst, zwischen denen intensive Be- in gleich große Quadrate einteilen.

187 Sportbezogene Arbeitsmärkte

Regionale Unterschiede sportbezogener Beschäftigung

11

beschäftigung und der sportbezogenen Beschäftigung für die beiden Regionstypen. Regionen mit hohem (niedrigem) Rang bei Der Umfang der sportbezogenen Be- der Gesamtbeschäftigung weisen üblicherbei schäftigung differiert regional erheblich. Die weise auch einen hohen (niedrigen) Rang 2 der sportbezogenen Beschäftigung auf. höchste Zahl an Beschäftigungsverhältnissen Auch die einzelnen Segmente der sport(BV; sozialversicherungspflichtig und bezogenen Beschäftigung lassen sich räumgeringfügig) in Sportberufen ist in den Relich differenziert betrachten. Dabei wird gionen zu verzeichnen, wo auch die Gesamtdeutlich, dass die Beschäftigung in den quanbeschäftigung am höchsten ist. So sind die titativ bedeutsamsten Segmenten „Unter­ zehn Raumordnungsregionen mit den meisricht“ und „Management“ im Wesentlichen ten BV insgesamt und in Sportberufen identisch; an der Spitze (in der Reihenfolge der der Gesamtbeschäftigung folgt und sich auf sportbezogenen Beschäftigung) München Agglomerationsräume konzentriert. Gleiches (7.484  in Sportberufen; 1,85  Mio. ins- gilt weitgehend für die Athletinnen und Athleten. Lediglich in den Segmenten „Pferde“ gesamt), Stuttgart (6.669; 1,58  Mio.) und und „Konstruktion“ weicht die Verteilung Düsseldorf (6.096; 1,63  Mio.). Die Raumder für die Beschäftigung bedeutsamen Reordnungsregionen mit der geringsten sportgionen von diesem Muster ab. So findet sich bezogenen Beschäftigung sind Anhalt-­ beispielsweise eine besonders hohe BeBitterfeld-­ Wittenberg (280; 150.000), schäftigung im Segment „Pferde“ in der ROR Nordthüringen (188; 138.000) und Altmark Münster (Statistik der BA, 2022a). (73; 72.000). Ähnliches gilt für die VerDie regionale Bedeutung der sportteilung nach Arbeitsmarktregionen; hier bezogenen Beschäftigung kann auch als resind die am stärksten besetzten Regionen lative Häufigkeit interpretiert werden. Einen Düsseldorf-­Ruhr (17.213; 4,64 Mio.), Münmöglichen Indikator bildet dann der Anteil chen (14.859; 3,91  Mio.) und Stuttgart der sportbezogenen Beschäftigung an der (12.198; 3,04 Mio.). Die BV in den drei am Gesamtbeschäftigung. . Tab. 11.4 zeigt die stärksten besetzten Sportberufssegmenten Regionen mit den höchsten Ausprägungen „Management“, „Unterricht“ und „Berufsdieses Indikators. sport“ zeigen einzeln jeweils Muster, die Die Bedeutung der Sportberufe für die dieser Struktur ähneln (Statistik der BA, Gesamtbeschäftigung ist regional unter2022a). schiedlich. Differenziert nach RaumordnungsUm den Zusammenhang zwischen den regionen liegt der Anteil der sportbezogenen Rängen von Regionen bei der sportbezogenen und der gesamten Beschäftigung mit Blick auf alle Regionen näher zu be- 2 Da es sich bei der Beschäftigung um ein metrileuchten, kann der Rangkorrelationsko­ sches Merkmal handelt, kann auch die Korrelation zwischen gesamter und sportbezogener Beeffizient nach Spearman (z.  B.  Bamberg schäftigung ohne Berücksichtigung der Ränge eret  al., 2009) herangezogen werden. Der mittelt werden. Die hierfür zu ermittelnden Rangkorrelationskoeffizient von GesamtBravais-Pearson-Korrelationskoeffizienten fallen beschäftigung und sportbezogener Bemit 0,99 bei den AMR und 0,91 für die ROR noch schäftigung (hier anhand der Zahl der höher aus und deuten auf einen starken gleichsinnigen Zusammenhang bei den Beschäftigungssozialversicherungspflichtig Beschäftigten niveaus hin. Eine überdurchschnittliche (unterberechnet) für die ROR (N  =  96) beträgt durchschnittliche) Gesamtbeschäftigung geht 0,91 und für die AMR (N = 50) 0,98. Es beüblicherweise auch mit einer überdurchschnittsteht also ein starker gleichsinniger Zulichen (unterdurchschnittlichen) sportbezogenen Beschäftigung einher. sammenhang der Ränge bei der Gesamt 

188

P.-A. Gericke und C. Zemann

.       Tab. 11.4  Regionen mit den höchsten Anteilen der sportbezogenen Beschäftigung an der Gesamtbeschäftigung (sozialversicherungspflichtige und geringfügige BV, 30. Juni 2021). (Nach Statistik der BA, 2022a; eigene Berechnungen)

11

Rang

Raumordnungsregion

Arbeitsmarktregion

1

Schleswig-Holstein Mitte

Konstanz

2

Ostwürttemberg

Freiburg i. Br.

3

Unterer Neckar

Saarbrücken

4

Emscher-Lippe

Mannheim

5

Hamburg-Umland-Süd

Braunschweig/Wolfsburg

6

Schleswig-Holstein Nord

Stuttgart

7

Oberland

Münster

8

Westpfalz

Hamburg

9

Südlicher Oberrhein

Osnabrück

10

Neckar-Alb

Hannover

Beschäftigung (sozialversicherungspflichtige und geringfügige Beschäftigungsverhältnisse) zwischen 0,10 und 0,47  %; der Median liegt bei 0,34 %. . Abb. 11.4 verdeutlicht regionale Unterschiede anhand der Quartilszugehörigkeit der ROR. Dabei wird deutlich, dass Regionen mit den höchsten Anteilen an Sportberufen ausschließlich in Westdeutschland und dort vor allem in Baden-­Württemberg (sechs Regionen) sowie Schleswig-Holstein und Bayern (jeweils vier Regionen) zu finden sind. Überdurchschnittliche Beschäftigtenanteile in Sportberufen sind unter anderem dort zu vermuten, wo sich sportbezogene Arbeitskräftenachfrage konzentriert, die wiederum zum Teil durch natürliche Voraussetzungen, öffentliche und private Infrastruktur sowie Institutionen geschaffen oder gesteigert werden kann. So können hohe Anteile sportbezogener Beschäftigung in ROR wie Allgäu (0,41  %) und Schleswig-Holstein Nord (0,44 %) auf einen Zusammenhang mit der dortigen vergleichsweise hohen Bedeutung von Natursportarten (z. B. Wandern, Winteroder Wassersport; 7 Kap. 3) sowie des Tourismus hindeuten. Solche verallgemeinernden Überlegungen sollten bei konkreten regiona 



len Analysen immer mit tiefer gehenden Strukturuntersuchungen einhergehen, um spezifische Wirkungszusammenhänge zu erkennen. Differenziert man nach sportbezogenen Teilsegmenten, fallen Regionen auf, in denen mehrere Segmente hohe relative Anteile an der jeweiligen Gesamt­ beschäftigung ausmachen und in denen die relativen Beschäftigungsanteile im Berufsfeld Sport insgesamt besonders hoch sind (z.  B.  Ostwürttemberg, Unterer Neckar, Emscher-­ Lippe  – Unterricht und Berufssport; Hamburg-Umland-Süd – Pferde und Unterricht; Oberland  – Management und Unterricht; Westpfalz  – Management und Berufssport). Davon lassen sich ROR unterscheiden, in denen nur einem sportbezogenen Berufssegment ein hoher relativer Anteil an der Gesamtbeschäftigung zukommt und die zu den Regionen mit den höchsten relativen Beschäftigungsanteilen im Berufsfeld Sport insgesamt zählen (z.  B.  Schleswig-Holstein Mitte, Schleswig-­ Holstein Nord, Neckar-Alb  – Unterricht; Südlicher Oberrhein – Berufssport; Statistik der BA, 2022a; eigene Berechnungen).

189 Sportbezogene Arbeitsmärkte

Anteil Sportberufe in % 0,102 bis 0,288 0,289 bis 0,343 0,344 bis 0,394 0,395 bis 0,472

11

Bundesländer Raumordnungsregionen

.       Abb. 11.4  Bedeutung der Beschäftigung in Sportberufen nach Raumordnungsregionen (sozialversicherungspflichtige und geringfügige BV, 30. Juni 2021). (Nach Statistik der BA, 2022a; eigene Berechnungen)

190

P.-A. Gericke und C. Zemann

.       Tab. 11.5  Beschäftigungsverhältnisse (sozialversicherungspflichtig und geringfügig) in ausgewählten Sportberufen nach ausgewählten Wirtschaftszweigen (30. Juni 2021). (Nach Statistik der BA, 2022a; eigene Berechnungen) Wirtschaftsabteilung (2-Steller)/Wirtschafts­ klasse (4-Steller)

insgesamt

darunter Sportberufe insgesamt Management

Unterricht

Berufssport

Insgesamt

41.951.866

148.102

15.920

105.345

20.556



 Erziehung und Unter85 richt

1.647.102

23.734

1.610

21.207

407



86 Gesundheitswesen

3.160.966

9.440

1.024

8.352

3



93 Erbringung von Dienstleistungen des Sports, der Unterhaltung und der Erholung

299.589

96.562

11.537

65.415

19.095

70.594

12.687

1.648

8.575

2.383

  9311

Betrieb von Sportanlagen

  9312

Sportvereine

94.727

40.895

2.267

23.237

15.271

  9313

Fitnesszentren

79.306

37.724

7.065

30.658

-

15.771

4.191

469

2.097

1.397

  9319

Erbringung von sonstigen Dienstleistungen des Sports

11 Bei tiefer gehenden Analysen sollte die berufsbezogene Betrachtung regionaler Arbeitsmärkte durch eine Differenzie­ rung nach Wirtschaftszweigen (Statistisches Bun­ desamt, 2022) erweitert werden. In Deutschland insgesamt entfallen hohe Anteile der Beschäftigung in Sportberufen auf die Wirtschaftsabteilungen „Dienstleistungen des Sports“, „Gesundheitswesen“ sowie „Erziehung und Unterricht“ (. Tab.  11.5). Sportbezogene Beschäftigung findet in vielen Wirtschaftszweigen statt, ohne dass die Tätigkeiten den hier betrachteten Sportberufen zuzuordnen sind (z.  B. in den hier  

aufgeführten Wirtschaftsklassen der Wirtschaftsabteilung 93; . Tab. 11.5).3 Ein weiteres mögliches Kriterium für die regionale Bedeutung von Sportberufen ist das regionale Wachstum der sportbezogenen Beschäftigung. Nach diesem Indikator ist die Beschäftigung in Sportberufen dort be 

3

Dabei ist jedoch zu beachten, dass Betriebe anhand der Mehrzahl ihrer Beschäftigten Wirtschaftszweigen zugeordnet werden, dass also unbekannte Anteile der Beschäftigten möglicherweise andere wirtschaftsfachliche Schwerpunkte haben (z. B. ein Sportgerätehersteller, der auch Möbel produziert).

191 Sportbezogene Arbeitsmärkte

11

.       Tab. 11.6  Regionen mit dem höchsten Wachstum der sportbezogenen Beschäftigung von 2013 bis 2021 (sozialversicherungspflichtige und geringfügige BV, jeweils 30. Juni). (Nach Statistik der BA, 2022a; eigene Berechnungen) Rang

Raumordnungsregion

Arbeitsmarktregion

ROR

Beschäftigungs­ wachstum in %

AMR

Beschäftigungs­ wachstum in %

1.

Schleswig-Holstein Ost

64,6

Konstanz

78,1

2.

Hochrhein-Bodensee

57,7

Freiburg i.Br.

45,6

3.

Altmark

55,3

Berlin

44,5

4.

München

52,5

München

44,1

5.

Hamburg

52,3

Osnabrück

43,2

6.

Berlin

51,6

Würzburg

43,1

7.

Emsland

51,5

Villingen-­ Schwenningen

42,9

8.

Schleswig-Holstein Mitte

48,3

Ulm

40,8

9.

Augsburg

46,2

Hamburg

39,8

10.

Oberland

45,7

Mannheim

38,0

sonders bedeutsam, wo sie in der jüngeren Vergangenheit besonders stark gestiegen ist. In . Tab.  11.6 sind die Regionen mit der höchsten Beschäftigungsdynamik im Berufsfeld Sport dargestellt.  

Typisierung regionaler Arbeitsmärkte für Sportberufe

von den Zielen der jeweiligen Analyse ab.4 Wir folgen bei der Typisierung dem von Gericke et al. (2012) vorgeschlagenen Vorgehen und verwenden als Indikatorvariablen für die Bedeutung des Segments „Sport“ die Veränderungsrate der Sportbeschäftigung sowie den Anteil der Sportbeschäftigung an der Gesamtbeschäftigung. 4

Die oben dargestellten Variablen zur Bedeutung des Berufsfelds Sport können genutzt werden, um regionale Arbeitsmärkte hinsichtlich der sportbezogenen Beschäftigung zu typisieren. Die Anzahl der Arbeitsmarkttypen kann dabei beliebig festgelegt werden. Für jeden Arbeitsmarkttyp ist ein Wertebereich für die der Typisierung zugrunde gelegten Variablen zu definieren. Die Zahl der verwendeten Variablen hängt

Wird beispielsweise eine Typisierung von Arbeitsagenturbezirken zum Zwecke des Benchmarkings vorgenommen, so sind alle Einflussgrößen auf die Zielgröße (z. B. die Integrationsquote) bei der Typisierung zu berücksichtigen. Blien und Hirschenauer (2017) beschreiben das Vorgehen bei der Vergleichstypisierung von Arbeitsagenturen und Jobcentern des IAB.  Die statistisch signifikanten Einflussvariablen auf die Zielgröße regionale SGB-III-Integrationsquote wurden dabei im Rahmen einer multivariaten Regressionsanalyse ermittelt. Die Wertebereiche der Einflussvariablen für die Typisierung wurden mittels einer Clusteranalyse festgelegt.

192

P.-A. Gericke und C. Zemann

-4

-3

-2

-1

Veränderung der Beschäftigung in Sportberufen 2013-2021

III

1

2

II

3

4

I

4

3

2

1

0

IV

IX

VIII

-1

-2

-3

V

11

0

VI

VII

-4

Anteil Sportberufe an der Gesamtbeschäftigung .       Abb. 11.5  Anteile und Veränderungsraten der sportbezogenen Beschäftigung nach Raumordnungsregionen. (Nach Statistik der BA, 2022a; eigene Berechnungen)

. Abb. 11.5 stellt die beiden Indikatorvariablen und die sich ergebenden Arbeitsmarkttypen nach Raumordnungsregionen dar. Auf den Achsen sind die Abweichungen der jeweiligen Indikatorvariable vom Mittelwert angegeben, ausgedrückt in Standardabweichungen.5 Die orangenen durchgezogenen Linien entsprechen damit den Mittelwerten der betrachteten Größen.  

5

Da es hier um einen Vergleich von Regionen geht, hat jede Region bei der Bestimmung des Mittelwerts das gleiche Gewicht, unabhängig von der jeweiligen Beschäftigtenzahl. Damit weicht der Mittelwert der Indikatorvariablen über die Regionen vom Mittelwert der Indikatorvariablen über alle Beschäftigten ab.

Punkte oberhalb (unterhalb) der waagerechten durchgezogenen Linie stellen Regionen dar, in denen die Veränderungsraten der Sportbeschäftigung zwischen 2013 und 2021 über (unter) dem Mittelwert liegen. Regionen rechts (links) der vertikalen durchgezogenen Linie stellen Regionen dar, in denen der Anteil der Sportbeschäftigung an der Gesamtbeschäftigung 2021 über (unter) dem Mittelwert liegt. Die Graphik ist anhand gestrichelter Linien in neun Bereiche eingeteilt, die unterschiedliche Ausprägungen der beiden Indikatoren repräsentieren. Der Bereich I enthält ROR, bei denen sowohl das Wachstum als auch die Bedeutung der sportbezogenen Beschäftigung überdurchschnitt-

193 Sportbezogene Arbeitsmärkte

lich hoch sind. Als überdurchschnittlich (unterdurchschnittlich) wird ein Indikatorwert bezeichnet, der um mehr als eine Standardabweichung über (unter) dem Mittelwert liegt. Weichen in einer Region beide Indikatoren um weniger als eine Standardabweichung vom Mittelwert ab, so liegt sie im Normalbereich (IX). Die Bereiche II bis VIII repräsentieren die verbleibenden möglichen Kombinationen von Ausprägungen der beiden Indikatoren. Die neun Bereiche spiegeln somit Unterschiede in der Bedeutung der sportbezogenen Beschäftigung wider und repräsentieren entsprechende unterschiedliche Arbeitsmarkttypen. Von besonderem Interesse sind die Regionen im Bereich I, die sowohl einen überdurchschnittlichen Beschäftigungsanteil als auch ein überdurchschnittliches Beschäftigungswachstum aufweisen. Es handelt sich dabei um die ROR Hochrhein-Bodensee, Oberland, Schleswig-Holstein Mitte und Schleswig-Holstein Ost (Statistik der BA, 2022a; eigene Berechnungen).

11.5 

Fazit

Sport in seinen vielfältigen Erscheinungsformen erzeugt Nachfrage nach Waren und Dienstleistungen und damit nach Arbeitskräften. Diese Leistungen werden in Deutschland teilweise ehrenamtlich in den zahlreichen Sportvereinen erbracht, doch darüber hinaus besteht eine erhebliche weitere sportbezogene Arbeitskräftenachfrage. Dem hohen gesellschaftlichen Stellenwert von Sport entsprechend bildet auch die sportbezogene Beschäftigung ein wichtiges Arbeitsmarktsegment. Bei Untersuchungen zu dessen Umfang und Struktur, insbesondere bei regionalspezifischem und fachlich differenziertem Interesse können Daten der amtlichen Arbeitsmarktstatistik Erkenntnisse liefern. So lassen sich die

11

s­portbezogene reale Beschäftigung ebenso wie Angebots- und Nachfrageüberhänge (Arbeitslosigkeit, offene Stellen) regional tief gegliedert untersuchen. Zugänge sind sowohl über sportbezogene Wirtschaftszweige als auch über berufliche Tätigkeiten möglich. Die Ergebnisse der vorgestellten tätigkeitsbezogenen Analyse zeigen, dass sich der Arbeitsmarkt für Sportberufe in Deutschland hinsichtlich der Arbeitslosigkeit und der gemeldeten Stellen schwächer als der Arbeitsmarkt insgesamt entwickelt, bei der  sozialversicherungspflichtigen Beschäfti­ gung dagegen stärker. Beschäftigte in Sportberufen sind tendenziell jünger und besser qualifiziert, üben höherwertige Tätigkeiten aus und sind häufiger teilzeitbeschäftigt als der Durchschnitt aller Beschäftigten. Die Beschäftigung im betrachteten Arbeitsmarktsegment wird im Vergleich zum Gesamtmarkt weit stärker von geringfügig entlohnt Beschäftigten geprägt. Diese üben zu hohen Anteilen Tätigkeiten mit gehobenem Anforderungsniveau aus und weichen unter anderem damit von der durchschnittlichen Struktur der geringfügig entlohnten Beschäftigung ab. Im regionalen Vergleich zeigt sich, dass die Umfänge der sportbezogenen und der gesamten Beschäftigung stark korrelieren und dass die relativen Anteile der Beschäftigung in ­Sportberufen an der Gesamtbeschäftigung deutlich variieren. Die hier identifizierten Regionen mit überdurchschnittlichen Beschäftigungsanteilen in Sportsegmenten bieten sich für tiefer gehende Analysen an. Struktur und Entwicklung regionaler Arbeitsmärkte können mit Daten der amtlichen Arbeitsmarkstatistik detailliert untersucht werden. Entsprechende Ansätze können sowohl hochaggregierte ökonomische Analysen des Sports auf Bundesebene als auch regionale Wirkungsanalysen und Planungen sinnvoll ergänzen.

194

P.-A. Gericke und C. Zemann

? Übungs- und Reflexionsaufgaben

Borjas, G.  J. (2020). Labor Economics (8. Aufl.). McGraw-Hill Education. DGfG  – Deutsche Gesellschaft für Geographie. (2002). Grundsätze und Empfehlungen für die Lehrplanarbeit im Schulfach Geographie. Arbeitsgruppe Curriculum 2000+ der Deutschen Gesellschaft für Geographie (DGfG). DGfG. https://www.­ geographie.­u ni-­j ena.­d e/geogrmedia/startseite/ lehrstuehle/didaktik/links/curriculum2000.­p df. Zugegriffen am 07.11.2022. Gericke, P., Werth, S., & Zemann, C. (2012). Sportbezogene Arbeitsmärkte in Deutschland. Geographische Rundschau, 64(5), 28–34. Horn, M. (2005). Steigerung des Gemeinwohls durch die Ausrichtung einer Sportgroßveranstaltung. Entwicklung eines Bewertungsverfahrens zur ErfolgsZum Weiterlesen empfohlene Literatur kontrolle von sportlichen Großereignissen. (MannGans, P., Horn, M. & Zemann, C. (2003). heimer Geographische Arbeiten, 57). Geographisches Institut der Universität Mannheim. Sportgroßveranstaltungen  – ökonomische, Kropp, P., & Schwengler, B. (2011). Abgrenzung von ökologische und soziale Wirkungen. Ein Arbeitsmarktregionen  – ein Methodenvorschlag. Bewertungsverfahren zur EntscheidungsRaumforschung und Raumordnung, 69(1), 45–62. vorbereitung und Erfolgskontrolle. Lück-Schneider, D. (2007). Sportberufe im Kontext (Schriftenreihe des Bundesinstituts für neuerer Sportentwicklungen. Analyse öffentlicher Arbeitsmarktdaten (1997–2006). Diss. Universität Sportwissenschaft, 112). Hofmann. Potsdam. https://publishup.­uni-­potsdam.­de/ Borjas, G. J. (2020). Labor Economics opus4-­u bp/frontdoor/deliver/index/docId/1675/ (8. Aufl.) McGraw-Hill Education. file/lueck_schneider_diss.­pdf. Zugegriffen am 07.11.2022. Mankiw, N.  G. (2001). Microeconomics (2. Aufl.). Harcourt. Literatur Statistik der BA. (2018). Statistik der gemeldeten Arbeitsstellen. Version 8.1. (Grundlagen: QualitätsAhlert, G. (2018). Möglichkeiten der Regionalisierung bericht). https://statistik.­arbeitsagentur.­de/DE/Stades Sportsatellitenkontos: Methodische Vortischer-Content/Grundlagen/Methodik-Qualitaet/ gehensweisen, Datenerfordernisse und Qualitaetsberichte/Generische-Publikationen/ Realisierungschancen. In: Nowak, G. (Hrsg.), Qualitaetsbericht-Statistik-gemeldete-Arbeitsstel(Regional-)Entwicklung des Sports. (Reihe Sportlen.pdf. Zugegriffen am 07.11.2022. ökonomie, 20, S. 37–51). Hofmann. Statistik der BA. (2021). Abgrenzung von Regionen in der Ahlert, G., Repenning, S., & An der Heiden, I. (2021). Arbeitsmarktstatistik. (Grundlagen: MethodenDie ökonomische Bedeutung des Sports in Deutschbericht). https://statistik.­arbeitsagentur.­de/DE/Staland  – Sportsatellitenkonto (SSK) 2018. (GWS-­ tischer-Content/Grundlagen/Methodik-Qualitaet/ Themenreport, 2021/1). Gesellschaft für WirtschaftMethodenberichte/Uebergreifend/Generische-Publiche Strukturforschung mbH. likationen/Methodenbericht-Regionsabgrenzung. Bamberg, G., Bauer, F., & Krapp, M. (2009). Statistik pdf. Zugegriffen am 07.11.2022. (15. Aufl.). Oldenbourg. Statistik der BA. (2022a). Beschäftigte und BeBBSR  – Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumschäftigungsverhältnisse am Arbeitsort. (Sonderforschung. (2022). Laufende Raumbeobachtung  – auswertung). Raumabgrenzungen. Raumordnungsregionen. https:// Statistik der BA. (2022b). Bestand an Arbeitslosen und www.­bbsr.­bund.­d e/BBSR/DE/forschung/raumgemeldeten Arbeitsstellen nach ausgewählten Bebeobachtung/Raumabgrenzungen/deutschland/rerufen der KldB 2010 (Sonderauswertung). gionen/Raumordnungsregionen/raumordnungsStatistik der BA. (2022c). Der Arbeitsmarkt in regionen.html. Zugegriffen am 07.11.2022. Deutschland 2021. (Amtliche Nachrichten der Blien, U., & Hirschenauer, F. (2017). Vergleichstypen Bundesagentur für Arbeit 69, Sondernummer 2. 2018. Aktualisierung der SGB-III-Typisierung. Berichte: Blickpunkt Arbeitsmarkt). https:// (IAB-Forschungsbericht 11/2017). Institut für statistik.­a rbeitsagentur.­d e/Statistikdaten/DeArbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundestail/202112/ama/heft-­arbeitsmarkt/arbeitsmarkt-­ agentur für Arbeit. d-­0-­202112-­pdf. Zugegriffen am 07.11.2022.

1. Erläutern Sie Herausforderungen und Möglichkeiten der Erfassung von Wirkungen des Sports auf Arbeitsmärkte auf regionaler Ebene. 2. Wählen Sie einen Untersuchungsraum und beschreiben Sie anhand statistischer Daten dessen Struktur, Entwicklung und mögliche Wirkungszusammenhänge im Kontext sportbezogener Erwerbstätigkeit.

11

195 Sportbezogene Arbeitsmärkte

Statistik der BA. (2022d). KldB 2010  – überarbeitete Fassung 2020. https://statistik.­arbeitsagentur.de/ DE/Navigation/Grundlagen/Klassifikationen/ Klassifikation-der-Berufe/KldB2010-Fassung2020/ KldB2010-Fassung2020-­Nav.­html. Zugegriffen am 07.11.2022. Statistik der BA. (2022e). Regionale Gliederungen. https://statistik.­arbeitsagentur.­de/DE/Navigation/ Grundlagen/Klassifikationen/Regionale-Gliederungen/Regionale-­Gliederungen-Nav.html. Zugegriffen am 07.11.2022. Statistik der BA. (2022f). Statistik der Arbeitslosen, Arbeitsuchenden und gemeldeten erwerbsfähigen Personen. Version 8.1. (Grundlagen: Qualitätsbericht). https:// statistik.arbeitsagentur.de/DE/Statischer-Content/ Grundlagen/Methodik-Qualitaet/Qualitaetsberichte/ Generische-Publikationen/QualitaetsberichtStatistik-Arbeitslose-Arbeitsuchende.­pdf. Zugegriffen am 07.11.2022.

11

Statistik der BA (2022g). Statistik der sozialversicherungspflichtigen und geringfügigen Beschäftigung. Version 7.12. (Grundlagen: Qualitätsbericht). https://statistik.­arbeitsagentur.­de/ DE/Statischer-­C ontent/Grundlagen/Methodik-­ Qualitaet/Qualitaetsberichte/Generische-­P ubli kationen/Qualitaetsbericht-­S tatistik-­B escha eftigung.­pdf. Zugegriffen am 07.11.2022. Statistisches Bundesamt. (2022). Klassifikation der Wirtschaftszweige, Ausgabe 2008 (WZ 2008). https://www.­d estatis.­d e/DE/Methoden/Klassifikationen/Gueter-­Wirtschaftsklassifikationen/ klassifikation-­wz-­2008.­html. Zugegriffen am 07.11.2022. Zemann, C. (2005). Erfolgsfaktoren von Sportgroßveranstaltungen. Entwicklung eines Verfahrens zur Ex-ante-Analyse sportlicher Großereignisse. (Mannheimer Geographische Arbeiten, 58). Geographisches Institut der Universität Mannheim.

197

Ökonomische Effekte einer vitalen Sportstadt – das Beispiel Hamburg Maike Cotterell und Henning Vöpel

Kajakfahrer auf der Binnenalster in Hamburg. (© powell83/stock.adobe.com)

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Gans et al. (Hrsg.), Sportgeographie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66634-0_12

12

Inhaltsverzeichnis 12.1

Sport und Stadt im Wandel – 199 I nteraktionsbeziehungen zwischen Sport und Stadt – 199 Wertschöpfung in der Querschnittsbranche Sport – 201 Stadtbezogene Sporttrends – 203 Das urbane Sport-Ökosystem in Hamburg: Infrastrukturen und Netzwerke – 205

12.2

Ökonomische Effekte des Sports in Hamburg – 206 Sportbezogene Wertschöpfung – 206 Erweitertes Wertschöpfungskonzept durch Ausdauersportevents – 207 Methode – 210 Ergebnisse – 211

12.3

Interpretation der Ergebnisse und Ausblick – 214 Literatur – 215

199 Ökonomische Effekte einer vitalen Sportstadt – das Beispiel Hamburg

Einleitung Sport ist heute ein bedeutender Teil des gesellschaftlichen Lebens. Er ist in vielfältigen Dimensionen wertschöpfend präsent und damit ein zunehmend wichtiger Wirtschaftsfaktor. Gerade in den letzten Jahren haben sich sowohl der Sport als auch die Städte stark gewandelt. Dadurch hat sich auch die Interaktion zwischen Sport und Stadt verändert; die Wechselbeziehungen und Wechselwirkungen sind stärker und vielfältiger geworden (7 Kap. 4 und 21). Parallel gedachte und integrierte Konzepte von Stadtentwicklung und Sport bergen Potenziale von Wohlstand, Gesundheit und Zufriedenheit. Unter dem Begriff der urban happiness hat sich sogar ein ganzer Forschungsbereich in der Stadtökonomik etabliert, der sich mit den Fragen beschäftigt, wie Menschen den städtischen Raum für ihre Lebenszufriedenheit besser und ganzheitlicher nutzen können (Bravo, 2018). Die ökonomischen Effekte einer vitalen Sportstadt zu untersuchen, erfordert daher zunächst, die potenziellen ökonomischen Effekte des Sports und seiner Funktionen im urbanen Umfeld zu identifizieren. Städte werden sich in Zukunft stark verändern  – hin zu intelligent vernetzten und nachhaltigen Lebensräumen. Gerade diese Transformation bietet für den Sport vielfältige Chancen. Es geht bei den ökonomischen Effekten des Sports daher nicht allein um deren Messung, sondern vor allem darum, Entwicklungs- und Wertschöpfungsmöglichkeiten des Sports in urbanen Räumen neu zu denken. In dem vorliegenden Beitrag werden die ökonomischen Effekte einer vitalen Sportstadt am Beispiel Hamburgs untersucht.1 Der  

1

Die Inhalte dieses Beitrags basieren auf der Studie von Cotterell und Vöpel (2020), „Ökonomische Effekte einer vitalen Sportstadt am Beispiel Hamburgs“, im Auftrag des Sportamts Hamburg.

12

erste Teil befasst sich umfassend mit dem Sport und der Stadt im Wandel. Dabei werden die Interaktionsbeziehungen zwischen Sport und Stadt im Allgemeinen analysiert, anschließend die ökonomischen Effekte und die Wertschöpfung der Querschnittsbranche Sport herausgearbeitet sowie stadtbezogene Sporttrends beschrieben. Eine kurze Skizzierung des urbanen Ökosystems Sport in Hamburg mit seiner Infrastruktur und seinen Netzwerken bildet dann die Überleitung zum zweiten Teil: der Darstellung der ökonomischen Effekte durch Sport in Hamburg. Der Schwerpunkt liegt in diesem Teil auf einem erweiterten Wertschöpfungskonzept für Sportevents sowie den Berechnungen der ökonomischen Effekte und deren Bewertung. Die zukünftige Entwicklung von Städten legt nahe, dass der urbane Sport insbesondere bei den Wohlfahrtseffekten wie Lebenszufriedenheit, Gesundheit etc. die größten Wertschöpfungspotenziale hat. Dies gilt es integriert zu denken und zu entwickeln.

12.1 

Sport und Stadt im Wandel

Interaktionsbeziehungen zwischen Sport und Stadt Die räumlichen, sozialen und ökonomischen Beziehungen zwischen Sport und Stadt sind vielfältig (7 Kap.  4, 17 und 22) und einem kontinuierlichen Wandel unterzogen, sodass sich die Interaktionen ebenfalls verändern. Die Motive der Sportausübung und die Funktionen des Sports lassen sich heute kaum mehr eindeutig bestimmen und abgrenzen. Das Sportangebot wird vielfältiger, die Sportnachfrage differenziert sich. Weil dies so ist, entstehen gerade in Städten neue Möglichkeiten der Sportentwicklung sowie Chancen der integrierten Stadtentwicklung, bei der der Sport als Teil der Lebensqualität immer wichtiger wird. Digitale Angebote  

200

M. Cotterell und H. Vöpel

machen eine Individualisierung und Personalisierung möglich. Sportnachfrage lässt sich stärker segmentieren, und Kundenzentrierung nimmt zu. Dadurch können individuelle, präferenzgerechte und niedrigschwellige Angebote gemacht werden, die neue Sportentwicklungsmöglichkeiten bieten. Sport- respektive Bewegungsangebote können unterschwellig in den Alltag „eingebaut“ werden und schaffen so Anreize (nudging) zu Aktivität, Bewegung und Sport (7 Kap. 21). Die zunehmende Urbanisierung, die fortschreitende Individualisierung und eine sich intensivierende Vernetzung bieten zahlreiche Ansatzpunkte, den Sport in Städten neu zu  

interpretieren und urbane touch points zu entwickeln. Vor diesem Hintergrund kann die Transformation von traditionellen Städten zu Smart Cities bewusst genutzt werden, um neue Sportkonzepte zu integrieren. Die sogenannte Active-City-Strategie Hamburgs der Zukunftskommission Sport (2011, 2021) ist ein Ansatz (7 Box 12.1), der bewusst die unterschiedlichen Sport- und Aktivitätspräferenzen einer diversen und modernen Stadtgesellschaft integriert, individuelle und situative Übergänge von Bewegung und Aktivität im Sport zulässt und dadurch eine breitere Basis für die langfristige strategische Entwicklung des Sports in Hamburg bereitstellt.2  

Box 12.1 Die Active-City-Strategie der Stadt Hamburg

12

Nach der gescheiterten Kampagne zur Bewerbung um die Olympischen Sommerspiele 2024 fürchteten die verantwortlichen Entscheidungsträgerinnen und -träger im Hamburger Sport einen massiven Rückschlag für die Sportentwicklung in der Hansestadt und suchten nach einer neuen Strategie. Diese wurden in der Active-City-Strategie gefunden, ein Konzept, das stärker auf die Sportbedürfnisse der Menschen ausgerichtet ist und dadurch einen breiteren und zugleich nachhaltigeren Ansatz der Sportentwicklung

verfolgt. Ein weiterer Aspekt ist die Integration des Sports in die Stadtentwicklung, um dem Sport im Lebensalltag der Menschen in einer Großstadt mehr Priorität und Raum zu geben. So wurde der neue Stadtteil Oberbillwerder so konzipiert, dass der Sport funktional von Anfang an mitgedacht worden ist. Der Co-Autor dieses Beitrags war außerdem bei der Konzeption einer Plattform beteiligt (MyMind&Body&Soul), die die Bedürfnisse des Geistes, des Körpers und der Seele in einer Stadt sichtbar und umsetzbar macht.

2 Hamburg ist im Jahr 2018 zu einer von weltweit sechs „Global Active Cities“ durch die TASIFA (The Association for International Sport for All) ernannt worden, was zeigt, dass die zugrunde liegenden Ideen der Hamburger Strategie international diskutiert werden und darüber hinaus der Fortschritt Hamburgs auf diesem Gebiet anerkannt wird.

12

201 Ökonomische Effekte einer vitalen Sportstadt – das Beispiel Hamburg

Insbesondere gilt es für Hamburg, die Transformation zu einer sogenannten Smart City mit dem Konzept der Active City funktional zu verbinden. Hierfür gibt es zahlreiche Ansatzpunkte, die Smart City für soziale Innovationen zu nutzen. Nicht zuletzt wird eine neue Qualität der Flexibilisierung des individuellen Lebens und der Synchronisierung von Aktivität innerhalb der Stadtgesellschaft möglich. Diese Verknüpfungen des urbanen Sport-Ökosystems mit den Gegebenheiten einer Smart City sind in . Abb.  12.1 illustriert (7 Box 12.2). Die veränderten individuellen Sportbedürfnisse der Bevölkerung Hamburgs können in einem smart wachsenden Hamburg durch erweiterte Community- und Infrastrukturangebote seitens der Stadt Nährboden finden.  



Box 12.2 Sport-Ökosystem

Dadurch existieren deutlich mehr Ansatzpunkte für die Stadt, präferenzgerechte Anreize zu schaffen und das Sportangebot zu erweitern. Ist die Sportnachfrage seitens der Konsumenten nicht mehr nur Sport im klassischen Sinne, sondern eben auch Bewegung und Aktivität, braucht diese Erweiterung der Sportnachfrage auch das entsprechende Angebot. Aktivität und Bewegung finden ihre Räume direkt in der Stadt, losgelöst von institutionellen Strukturen (7 Kap. 4). Sport- und Stadtentwicklung können und müssen deshalb integriert gedacht werden. Bei strategischen Überlegungen zur Entwicklung des Sports sollten parallel die Ziele der Stadtentwicklung definiert und berücksichtigt werden, denn es existieren durch den Sport viele positive Rückkopplungseffekte auf die Stadtentwicklung, die auf wichtige Ziele, wie den Freizeitwert der Stadt oder das Image des Standorts, positiv wirken (7 Kap. 13).  



Ein Ökosystem bezeichnet ganz allgemein die Beziehungen und Wechselwirkungen zwischen den Akteuren eines gemeinsamen Lebensraums. Dieser Begriff wird zunehmend auch auf spezifische Bereiche von Gesellschaft und Wirtschaft bezogen, so ist etwa von „Start-up-Ökosystem“ oder eben „Sport-Ökosystem“ die Rede. Das Ökosystem ist zumeist ein offenes, sich wandelndes System, das dadurch auch die Beschreibung angrenzender Bereiche, informeller Strukturen und evolutorischer Entwicklungen zulässt.

Wertschöpfung in der Querschnittsbranche Sport Die Sportwirtschaft ist keine klassische Branche, sondern eine sogenannte Querschnittsbranche3, ein System bzw. „Ökosystem“ von Akteuren und Märkten, die eng

3 Die statistische Erfassung dieser Querschnittsbranche erfolgt über das Sportsatellitenkonto. Die Methodik dahinter wird u. a. beschrieben in Ahlert et al. (2018).

202

M. Cotterell und H. Vöpel

Smart und Active City individuelle Sportbedürfnisse und Lebensqualität

Digitalisierung

Community- und Infrastruktur-Angebote

Ökosystem Sport

Individualisierung

wachsende Stadt

• zunehmende Differenzierung • wachsende Bedeutung

Urbanisierung

• steigende Nutzungskonkurrenz • zunehmende Möglichkeiten

.       Abb. 12.1  Verknüpfung von Smart City und Active City. (Nach Cotterell & Vöpel, 2020)

private Haushalte

12

• passiver Sportkonsum • aktiver Sportkonsum

Unternehmen

Querschnittsbranche Sport

Staat

Vereine und Verbände

• Produktion Sportartikel • Handel Sportartikel (Einzelhandel, Messen, Onlinehandel) • Sportdienstleistungen (Sportmarketing, - sponsoring, Training) • Sporttourismus • Sportevents • Sportmedizin • Sportinfrastruktur • Sportsubventionen

• Sport- und soziale Infrastruktur • ehrenamtliche Tätigkeiten

.       Abb. 12.2  Querschnittsbranche Sport. (Nach Cotterell & Vöpel, 2020)

über Motive und Funktionen des Sports miteinander verbunden sind (. Abb. 12.2). Der ökonomische Bereich des Sports tangiert also viele einzelne Bereiche und Märkte einer Volkswirtschaft, lässt diese miteinander interagieren und führt somit zu einer vernetzten Wertschöpfung weit über einzelne Branchen hinaus (7 Kap.  10). So  



hängt zum Beispiel aktiver Sportkonsum seitens der Haushalte direkt mit der Bereitstellung von Sportinfrastruktur durch den Staat zusammen. Zwischen den Unternehmen, den privaten Haushalten und dem Staat existiert zudem ein Arbeitsmarkt für die Querschnittsbranche Sport, ohne den sämtliche Bereiche nicht bedienbar wären

12

203 Ökonomische Effekte einer vitalen Sportstadt – das Beispiel Hamburg

(7 Kap.  11). Sportevents wären weiterhin ohne aktiven und passiven Sportkonsum im engeren Sinne und Sportmarketing bzw. Sportsponsoring etc. im weiteren Sinne nicht durchführbar. Die ökonomischen Effekte des Sports sind mannigfaltig. Wertschöpfung entsteht überall dort, wo Sporttreiben im doppelten Sinne „Werte“ schafft – im wirtschaftlichen wie im ideellen Sinne.4 Bei der Berechnung von Einkommens- und Beschäftigungseffekten wird in direkte, indirekte und induzierte Effekte unterschieden. Die direkten Effekte beziehen sich auf den initialen Impuls der Nachfrage nach Sport selbst. Dieser Impuls löst vorgelagerte Einkommens- und Beschäftigungseffekte aus, die man als indirekte Effekte bezeichnet. Die direkten und indirekten Einkommens- und Beschäftigungseffekte führen zu weiteren Ausgaben, die zwar sachlich nichts mehr mit dem initialen Impuls zu tun haben müssen, jedoch durch diesen ausgelöst worden sind und in diesem Sinn induzierte Effekte sind.5 Darüber hinaus existieren Wechselwirkungen oder Multiplikatoreffekte, die auf den ersten Blick gar nicht mit dem Sport in Verbindung gebracht werden. Hierzu gehören Bekanntheits-, Marken- oder Imageeffekte, wie ein Imagegewinn für die Stadt  

4

Die unterschiedlichen Quellen der Wertschöpfung im Sport werden ausführlich betrachtet in Breuer et al. (2014). 5 So steht beispielsweise am Anfang einer Wertschöpfungskette der eigentlich sportinduzierte Initialimpuls „Kauf einer Eintrittskarte“ für ein Bundesligaspiel. Daraus entstehen direkte Einkommenseffekte durch die Erstellung des Produkts „Bundesligaspiel“. Die daran hängenden Einkommen gehen an Spieler, Trainer und Ordner. Daneben konsumieren die Zuschauer neben dem eigentlichen Spiel weitere Dienstleistungen und Güter, zum Beispiel öffentlichen Transport sowie Nahrungsmittel und Getränke während des Spiels. Dadurch entstehen die sogenannten indirekten Effekte. Durch dieses indirekte Einkommen wird weiterer Konsum generiert. Dabei spricht man von induzierten Effekten.

Hamburg, der durch die Veranstaltung von Sportevents entsteht (7 Kap. 13). Einige positive Effekte des Sports lassen sich nicht direkt in Einkommens- und Beschäftigungseffekten wiedergeben, sie sind jedoch relevant für die allgemeine Lebensqualität und den individuellen Nutzen. In der Nutzentheorie lassen sich diese Effekte in Form von nutzenäquivalenten Einkommen messen, die nicht tatsächlich erzielt werden, aber einen entsprechenden Einkommensgegenwert generieren. Ein Beispiel ist die individuelle Gesundheit des Einzelnen, die allgemeine Wohlfahrtseffekte nach sich zieht. In . Abb.  12.3 sind diese unterschiedlichen Effekte und deren Zusammenhänge schematisch dargestellt. Räumlich besteht ein spezifischer Zusammenhang zwischen der Sportpräferenz der Bevölkerung, der Sporttradition der Region und der Sportförderung der Politik sowie den Wertschöpfungseffekten.  



Stadtbezogene Sporttrends Die vielfältigen Interaktionsbeziehungen zwischen Sport und Stadt werden von einigen wichtigen technologischen, sozialen und ökonomischen Trends beeinflusst und verändert. Gesellschaftlich lässt sich nach Nielsen Sports (2017) eine Tendenz zur Individualisierung des Sporttreibens beobachten. Die institutionellen Strukturen werden im Sinne eines urbanen Sport-Ökosystems zunehmend hybrider und informeller. War Sport früher über seine Akteure wie Vereine, Verbände, Fitnessstudios und Schulen stark institutionalisiert, sind heute die Barrieren gesunken. Spontane Sportmöglichkeiten und vielfältige Bewegungsmöglichkeiten werden für Menschen relevanter. Etablierte Modelle und Formen von Vereinen und Studios müssen weiterentwickelt werden und sich stärker auf individualisierte und somit flexibilisierte Lösungen einstellen (7 Kap. 6 und  21). Dieser Trend spiegelt sich im Er 

204

M. Cotterell und H. Vöpel

Sportpräferenz der Bevölkerung Sporttradition der Region

Nachfrage aus dem Inland (Hamburg) und dem Ausland nach Sport in Hamburg (=Primärimpuls): Konsum, Investiotion und Export

direkter Effekt

intangible und externe Effekte

Integration, Gesundheit, Wertevermittlung

lokale Produktion von Sport: Dienstleistungen, Events, Sportgüter und Handel (plus Import)

Bekanntheit, Image, Civic Pride

Wertschöpfung des Sports

indirekter Effekt

Vorleistungen aus anderen Branchen der Region

induzierter Effekt

Einkommen in der Region

.       Abb. 12.3  Dimensionen und Interdependenzen der Wertschöpfung im Sport. (Nach Cotterell & Vöpel, 2020)

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gebnis unter anderem darin wider, dass Sportstudios und Vereine in ihrem Portfolio auch weniger langfristige Verträge und städteübergreifende Mitgliedschaften anbieten. Hinzu kommt die Etablierung von Portalen, die diesen Trend zu kurzfristiger Vertragsbindung und diversifizierten Angeboten unterstreicht. Gegeben diese Präferenzänderungen, können und sollten die relevanten Anbieter des Sports, von den Vereinen über kommerzielle Studios bis hin zur Stadt, mit einer Anpassung ihrer Angebote und Entwicklungsstrategien reagieren. Darüber hinaus entstehen auch in öffentlichen Räumen immer mehr Möglichkeiten für gemeinsamen Outdoor-Sport (7 Kap.  4). Die Hürden für jeden Einzelnen, Sport zu treiben, respektive sich zu bewegen, sind dadurch gesunken. Das aggregierte Aktivitäts- und Sportniveau kann somit erhöht werden, zumal sich über die Zeit die Sportaffinität der Menschen steigern lässt. Die dynamischen Effekte sind gegenüber den statischen vermutlich die  

weitaus größeren, weil verhaltensinduzierte Gewohnheitsänderungen Zeit erfordern. Die weitestreichenden technologischen Entwicklungen bieten Angebote im Bereich Digitalisierung und Smartphone. Es drängen neue Akteure auf den Markt: freiberufliche Personal-Trainerinnen und -Trainer, Unternehmen mit Betriebs- und Gesundheitssportangeboten, sportaktive Gruppen, die sich über Social-Media-­ Kanäle, Apps oder auch Einzelhandelsgeschäfte respektive Gastronomie zusammenfinden. Mit diversen Apps lassen sich individuelle Aktivitäten dokumentieren und später in der Community vergleichen. Viele Nutzer sehen sich durch die Möglichkeiten dieser Apps bzw. Communitys motiviert, sportlich aktiv zu werden. Die Menschen nutzen Videos für individuelles Training, die Sportartikelindustrie hat diese Kanäle für Marketingzwecke entdeckt. Im Bereich des passiven Sports sind es vor allem Streamingdienste, die einen direkteren Kontakt der Fans zu ihrem Sport generieren. Die technologischen Möglichkeiten, insbesondere das Smart-

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205 Ökonomische Effekte einer vitalen Sportstadt – das Beispiel Hamburg

phone, lassen heute mehr als früher eine komplexe und diverse und somit stärker individualisierte Struktur an Sportmöglichkeiten zu. Die Corona-Pandemie hat zusätzlich dazu beigetragen, ein neues Bewusstsein für Bewegung (als Ausgleich zum Homeoffice) und einen neuen Blick auf das Leben in der Stadt (soziale Interaktion) hervorgerufen. Dadurch haben sich strukturelle Veränderungsprozesse beschleunigt, und es hat sich die Nutzung der Stadt und ihrer Infrastrukturen verändert.

 as urbane Sport-Ökosystem D in Hamburg: Infrastrukturen und Netzwerke Hamburg ist mit rund 1,8 Mio. Einwohnern die zweitgrößte Stadt Deutschlands und die größte Stadt in Europa, die keine Hauptstadt ist. Kennzeichnend für die Stadt sind ihre Internationalität, Liberalität und Vielfalt. Als solche weist Hamburg alle Merkmale einer modernen Stadtgesellschaft mit ihren Chancen und Herausforderungen auf. Es wird erwartet, dass Hamburg insbesondere durch den anhaltenden Zuzug weiterhin wächst, laut Projektion bis zu rund 2 Mio. Einwohnern (BBSR, 2021). Der Sport ist in einem solchen urbanen Umfeld auf vielfältigste Weise mit der Stadt und ihrer Infrastruktur und ihren Netzwerken verbunden und besser als ein offenes und dynamisches Ökosystem denn als abgeschlossene und statische Sportwirtschaft zu verstehen. Damit hat der Sport heute eine große und wachsende Bedeutung für das Leben und die Gesellschaft in Städten. Durch die Vertiefung und Verlängerung der Wertschöpfung im Sport existieren für Stadt und Unternehmen viele Möglichkeiten, um die ökonomischen Effekte durch den Sport in Hamburg positiv zu beeinflussen.

Eine Stadt kann vor diesem Hintergrund vieles tun, um das urbane Ökosystem Sport zu entwickeln. Es gibt hierfür diverse Ansatzpunkte und Instrumente. Selbst kleinere, aufeinander abgestimmte Maßnahmen können helfen, das urbaneSport-­Ökosystem positiv zu gestalten und zu entwickeln. Es müssen heute angesichts der technologischen Möglichkeiten und gesellschaftlichen Veränderungen nicht mehr nur allein große Förderprogramme sein. Für die Sportentwicklung steht der urbane Raum mit seinen vielfältigen Möglichkeiten zum Sporttreiben zur Verfügung. So ist nicht zwingend eine Subventionierung von Vereinsmitgliedschaften das effiziente Mittel, die sportlichen Aktivitätsniveaus zu erhöhen, sondern effektiver kann die Etablierung spontaner Bewegungsmöglichkeiten, beispielsweise in Form von Treppenparcours, Stadtwanderwegen oder temporären Basketballkörben, sein (7 Kap. 4). Diese Idee eines urbanen Sport-Ökosystems findet sich in der Active-­City-­ Strategie wieder (7 Box 12.1). Dabei wurden alle Senatsbehörden für die Querschnittsaufgabe Sport geöffnet, der Sport soll bei allen Stadtthemen nachhaltig Gehör finden. Stadtteile sollen durch und mit dem Sport entwickelt werden. Ferner ist es wichtig, die unterschiedlichen Bereiche des Sports und die Zugänge zum Sport in ihren Wechselwirkungen zu verstehen und entsprechend zu nutzen. Die enge funktionale Interdependenz zwischen privatem, institutionalisiertem bzw. organisiertem Breitensport, Leistungssport und kommerziellem Sport ist vielfältig und bildet sich in einer räumlichen (Sporthallen, Plätze etc.), sozialen (Integration, Geselligkeit etc.) und institutionellen Infrastruktur (Sportförderung, Sportausbildung, Lizenzierung etc.) ab. Eine ganzheitliche Entwicklung des urbanen Ökosystems Sport kann im Sinne einer Active City alle diese Aspekte und Hebel zu einer Gesamtstrategie verbinden.  



206

M. Cotterell und H. Vöpel

12.2 

 konomische Effekte des Ö Sports in Hamburg

Sportbezogene Wertschöpfung Hamburg stellt mit seinen Akteuren, Institutionen, Traditionen und Strukturen ein komplexes urbanes Sportsystem dar. Entsprechend existieren vielfältige sportbezogene und sportangrenzende Märkte, über die die ökonomischen Effekte mehr

oder weniger direkt gemessen werden können. Darüber hinaus entstehen jedoch weitere intangible Effekte, die zwar nicht direkt messbar, im Sport jedoch sehr bedeutsam sind, wie etwa positive Effekte auf Gesundheit oder Geselligkeit. Es sind private und soziale Nutzen bzw. kollektive Güter, die hier eine wesentliche Rolle spielen (7 Box 12.3). Zudem sind in einer Stadt wie Hamburg die Organisationsformen des Sports sehr vielfältig.  

Box 12.3 Tangible und intangible Effekte des Sports

12

Wertschöpfende Effekte des Sports sind direkt ökonomisch messbar, also in diesem Sinne tangibel, sofern sie auf Märkten entstehen. Andere Effekte sind monetär schwieriger zu beziffern und werden deshalb als intangibel bezeichnet. Grund dafür ist, dass für diese Effekte keine beobachtbaren Preise auf Märkten existieren, ihr Wert und Wertschöpfungsbeitrag also schwer zu ermitteln sind. Die tangiblen Effekte lassen sich unterteilen in Produktion von Sportartikeln, Handel mit Sportartikeln, Bau von Sportanlagen, Sportdienstleistungen (Organisation und Durchführung von Sportevents, Training, Personal Trainer), Sportwerbung, Sportsponsoring, Sporttourismus, Sportmedizin und Gesundheitssport, Arbeitsmarkt Sport

(Erwerbsarbeit und Arbeitsspenden), sportinduzierte Steuereinnahmen, sportbezogene direkte Steuerausgaben. Zu den intangiblen positiven Effekten des Sports zählen Lebensqualität, Wert von sportinduzierten Emotionen und Verhaltensweisen, Bildung in Schulen und Hochschulen, Sportvereine, Sportverbände, soziale Kompetenzen, Demokratiefunktion, Wohlbefinden und Gesundheit (physische und psychische), Integration und Inklusion, Sozialkapital (Flatau & Rohkohl, 2017, S.  11  ff.). Intangible negative Effekte sind Zeitverluste infolge der Überlastung des  Verkehrsnetzes, erhöhte Luftschadstoffimmissionen oder Entstehen eines sozialen Dissens über die Austragung der Sportveranstaltung.

207 Ökonomische Effekte einer vitalen Sportstadt – das Beispiel Hamburg

Vor dem Hintergrund, dass 69 % der Sportlerinnen und Sportler ohne Verein und Studio trainieren (Statista Research Department, 2016), wird deutlich, dass ein Angebot an frei zugänglichen Trainingsstätten ein großer Nutzengewinn und Anreiz zum Sporttreiben ist (7 Kap.  4). Diese Evidenz gibt Hinweis darauf, dass Sport- und Stadtentwicklung zum gegenseitigen Nutzen noch stärker integriert gedacht werden können und müssen, um die Stadt mit ihren Flächen in den Möglichkeiten ihrer Nutzung auszuschöpfen. Hamburg hat sich neben den Profisportvereinen auch auf die Ausrichtung von Events im Bereich Ausdauersport fokussiert, in denen Breiten-, Leistungs- und Profisportlerinnen wie -sportler gemeinsam an den Start gehen.6 Das Aktivitätsniveau der Hamburgerinnen und Hamburger ist nicht zuletzt altersstrukturell bedingt hoch. Für das Laufen und Radfahren als beliebte Outdoor-­Sportarten  – 42  % der Deutschen gaben an, regelmäßig Fahrrad zu fahren, an zweiter Stelle rangiert Joggen (Zeppenfeld, 2022) – nutzen die Bürgerinnen und Bürger die Flächen der Stadt als Trainingsstätte. Auch die vielen, für alle zugänglichen Sportveranstaltungen in Hamburg in den Bereichen Laufen, Radsport und Triathlon motivieren eine Vielzahl von Hamburgerinnen und Hamburgern zu regelmäßiger Bewegung. Für das vitale Sport-Ökosystem Hamburg und dessen Wertschöpfung spielen die zahlreichen in der Stadt durchgeführten Ausdauerevents eine zentrale Rolle. Daher wird im Folgenden die Vertiefung und Verlängerung der Wertschöpfungskette in diesem wichtigen Teilbereich der Querschnittsbranche Sport näher betrachtet.  

6 Vor der Pandemie fanden in Hamburg neben diversen kleineren Ausdauersportevents jährlich ein Stadtmarathon, das Radrennen Cyclassics, ein ITU-Triathlon sowie ein IRONMAN statt. Bei allen Rennen waren neben Profis auch Jedermann-Sportlerinnen und -Sportler zugelassen.

12

Erweitertes Wertschöpfungskonzept durch Ausdauersportevents Bei der Entwicklung eines Wertschöpfungskonzeptes für die Ausdauersportevents in Hamburg wird noch einmal sehr deutlich, dass der Sport eine Querschnittsbranche ist. Gerade diese Events tangieren eine Vielzahl ökonomischer Bereiche und Branchen. Dabei verknüpfen sich tangible und intangbile Effekte des Sports ebenso wie direkte, indirekte und induzierte Einkommenseffekte. Anders als beispielsweise im Bereich Profifußball hat die Stadt bei den Ausdauersportevents mit der Stadt als „Stadion“ wesentlich mehr Möglichkeiten, die ökonomischen Effekte positiv zu beeinflussen und für eine Etablierung der Marke Hamburg als Hochburg des Ausdauersports zu nutzen. Dies liegt vor allem daran, dass die Wertschöpfungskette dieser Events länger und tiefer als die eines Bundesligaspiels ist. Am Beispiel des Hamburg Triathlons7 wird im Folgenden die Wertschöpfungskette dieses Events dargestellt, das die Verlängerung und Vertiefung der Wertschöpfungskette sehr gut verdeutlicht (. Abb. 12.4). Dem Event an sich sind Aktivitäten vorgelagert, die eindeutige direkte, positive ökonomische Effekte haben. Seine Planung und Konzeption hat positive Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt, ebenso wie die Planung und Organisation von Sponsoring- und Marketingmaßnahmen (7 Kap. 11). Die zukünftigen Teilnehmenden am Triathlon, die in Hamburg wohnen, bereiten sich in Hamburg auf dieses Event vor (aktiver Sportkonsum und Wertschöpfungsprozess). Dafür nehmen sie Trainerinnen und Trainer, Vereine und die öffentliche Infrastruktur in Anspruch, konsumieren Sportartikel sowie Sportmedien  



7 Für weiterführende Informationen zu diesem Event siehe 7 https://hamburg.triathlon.org. Zugegriffen: 31. März 2022.  

208

M. Cotterell und H. Vöpel

Pre-Event

• Planung und Konzeption • Sponsoring und Marketing • Handel und Produktion • aktiver und passiver Konsum

Event

• Tourismus und Gastronomie • Handel (Einzelhandel und Messen) • aktiver und passiver Konsum • mediale Berichterstattung

Post-Event

• Anmeldung für Teilnahme im Folgejahr • Tourismus und Gastronomie • passiver Konsum

.       Abb. 12.4  Verlängerung der Wertschöpfungskette. (Nach Cotterell & Vöpel, 2020)

12

und gehen zu Sportärztinnen und -ärzten (passiver Wertschöpfungsprozess). Die positiven direkten Effekte an den Tagen des Events sind insbesondere in den Branchen Tourismus, Gastronomie und Einzelhandel zu finden. Ein Großteil der von außerhalb anreisenden Teilnehmenden, Zuschauerinnen und Zuschauer bleibt für mindestens eine Nacht in Hamburg, was sich positiv auf Tourismus und Gastronomie auswirkt. Aufgrund des längeren Aufenthalts und eines über mehrere Tage gestreckten Rahmenprogramms im Umfeld des Triathlons (Wettkampfbesprechung, Messe, Pasta-Party, Eventdauer über zwei Tage etc.) erhöht sich auch der passive Konsum von Sportartikeln und Sportdienstleistungen. Auch die mediale Berichterstattung bietet Hamburg ein großes Potenzial, um als Stadt auf sich aufmerksam zu machen. Die Einwände des Einzelhandels, zu viele Sportevents in der Innenstadt seien schlecht für das Geschäft, können empirisch nicht bestätigt werden. Zwar bestehen in einem gewissen Umfang Verdrängungseffekte. Im Saldo bleibt jedoch inklusive der Nachholeffekte eine positive Wirkung. Im Gegenteil: Die Innenstädte können durch spezielle Angebote, z. B. Gut-

scheine für Zuschauerinnen und Zuschauer, Nahverkehrstickets für Kundinnen und Kunden, die Erlöspotenziale selbst optimieren. Die nachgelagerten positiven Effekte in der Zeit nach dem Triathlon umfassen in erster Linie die Anmeldung der Teilnehmenden für das Folgejahr  – motiviert entweder durch aktive oder aber auch passive Teilnahme am eigentlichen Wettkampf. Zudem bestehen durch eine verlängerte Aufenthaltsdauer in Hamburg über das Event hinaus positive Effekte für Tourismus, Gastronomie und passiven Konsum. Parallel zu der Verlängerung der Wertschöpfung vertieft sich diese, was sich insbesondere in den indirekten und intangiblen Effekten des Events Hamburg Triathlon zeigt. Diese Vertiefung der Wertschöpfungskette ist in . Abb. 12.5 dargestellt: Das Training der Teilnehmenden wirkt sich in der Verlängerung der Wertschöpfung positiv auf Wohlbefinden und Gesundheit sowie Integration und Inklusion aus. Neben den dadurch entstehenden indirekten, intangiblen Effekten zieht dies positive Wohlfahrtseffekte nach sich. Auch im Bereich Bildung lassen sich positive Wirkungen feststellen. Beispielsweise hat die Sportart Tri 

209 Ökonomische Effekte einer vitalen Sportstadt – das Beispiel Hamburg

Pre-Event

Wohlbefinden und Gesundheit

Event gekoppelter Besuch von Nicht-Sportveranstaltungen Konsum von nicht-eventbezogenen Produkten

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Post-Event

Kreation und Etablierung neuer Events und Formate

Integration und Inklusion

eventinduzierte Emotionen

Bekanntheit Hamburg und Markenbildung

Bildung

mediale Berichterstattung über Hamburg

Motivation

.       Abb. 12.5  Vertiefung der Wertschöpfungskette. (Nach Cotterell & Vöpel, 2020)

athlon mittlerweile Einzug in den Hamburger Schulsport gefunden. Die direkte Verknüpfung mit dem Event in Hamburg durch eine mögliche aktive Teilnahme von Schülerinnen und Schülern an der Veranstaltung schafft Stellschrauben für die Stadt, über die Schulen einen positiven Einfluss auf das Sport- und Gesundheitsinteresse von Kindern und Jugendlichen zu nehmen. Diese Vorgehensweise ist insbesondere vor dem Hintergrund positiv zu bewerten, dass sich die Entwicklung von Übergewicht und Adipositas bei Kindern und Jugendlichen zwar stabilisiert, aber auf hohem Niveau eingependelt hat. Kinder über sämtliche Schulformen und Einzugsgebiete hinweg zu einer ohne große Hürden zu praktizierenden Sportart wie Triathlon zu motivieren, lässt als präventive Maßnahme zukünftig weitere positive Effekte in vielen Bereichen erwarten. Im direkten zeitlichen Umfeld der Triathlonveranstaltung entsteht eine Vertiefung der Wertschöpfung unter anderem

mit dem Besuch anderer (kultureller) Veranstaltungen durch die Eventtouristen sowie den Konsum von nicht eventbezogenen Produkten. Darüber hinaus bedingen die eventbezogenen Emotionen von Zuschauerinnen und Zuschauern sowie Teilnehmenden positive Effekte für die Stadt Hamburg. Schlussendlich befasst sich die mediale Berichterstattung nicht ausschließlich mit den sportlichen Aspekten der Veranstaltung, sondern auch mit Hamburg als Stadt an sich. Dies kann positive Imageeffekte für Hamburg bedeuten (7 Kap. 13). Im Nachklang des Triathlons sind es vor allem Faktoren wie eine Steigerung der Bekanntheit der Marke Hamburg als Sportstadt sowie eine erhöhte Motivation der Hamburger Bevölkerung, sportlich aktiv zu werden, die eine Vertiefung der Wertschöpfungskette bedeuten. Je mehr Sportevents in Hamburg stattfinden und je größer der mediale Fokus ist, desto größer ist auch die Plattform, Hamburg als Sportstadt positiv zu verkaufen und andere Sportver 

210

M. Cotterell und H. Vöpel

anstaltungen anzuziehen oder den Zuschlag für die Veranstaltung dieser Events zu bekommen. Dies geht Hand in Hand mit einer Kreation und Etablierung neuer Events. Ein gutes Beispiel ist der IRONMAN in Hamburg, der erstmals 2017 im Portfolio von Hamburgs Ausdauerevents zu finden war. Diese Veranstaltung wäre sicher ohne die gute Reputation des Hamburg Triathlons nicht nach Hamburg gekommen. Allein die Komplexität der räumlichen Wertschöpfung dieses einzelnen Events zeigt die Herausforderungen für die Berechnung aller ökonomischen Effekte der Querschnittsbranche Sport (7 Kap. 10).  

(2015), Digel (2018) und der Investitionsbank Berlin (2018) genannt werden. Viele methodische Probleme sind jedoch nach wie vor nicht befriedigend gelöst. Oft fehlt es auch an validen und systematisch verfügbaren Daten, was auch darauf zurückzuführen ist, dass Sport eine Querschnittsbranche ist und nicht direkt über die Wirtschaftszweigsystematik ausgewiesen werden kann (7 Kap.  11). Das Sportsatellitenkonto ist ein Versuch, den Sport als Querschnittsbranche sauber abzugrenzen. Eine Quantifizierung der ökonomischen Bedeutung des Sports beginnt daher zunächst mit einer systematischen Übersicht über mögliche Wirkungskanäle und Effekte (. Tab. 12.1). Neben den Primäreffekten des Sports in der amtlichen Statistik müssen zur vollständigen Erfassung der volkswirtschaftlichen Effekte des Sports, insbesondere bei den Sportevents und den Sportstätten, die zum Teil öffentliche Investitionen darstellen, eine Nutzen-­Kosten-­Analyse und eine Input-Output-Rechnung durchgeführt werden.  



Methode Die sportökonomische und empirische Literatur zur Quantifizierung der ökonomischen Bedeutung des Sports ist sehr umfangreich. Exemplarisch sollen hier nur die Ausführungen von Ahlert und An der Heiden

12

.       Tab. 12.1  Systematik der ökonomischen Effekte des Sports und von Sportevents. (Nach Cotterell & Vöpel, 2020)

Nutzen

Kosten

Kurzfristig

Langfristig

Tangibel

Direkter Konsumnutzen (aktiver Sport, passiver Sport) Sport als Gut Sport als Dienstleistung Sport als Investition Einkommens- und Beschäftigungseffekte Fiskalische Effekte

Tourismus Sportinfrastruktur

Intangibel

Externe Effekte: Stimmung Internationalität Begegnungen und Kontakte

Bekanntheit und Image (extern) Motivation und Identifikation (intern) Standortattraktivität Gesundheit Integration

Tangibel

Planung und Durchführung Infrastrukturmaßnahmen

Instandhaltungskosten Rückbaumaßnahmen

Tntangibel

Überfüllung Lärm

Opportunitätskosten Flächenkonkurrenz

12

211 Ökonomische Effekte einer vitalen Sportstadt – das Beispiel Hamburg

Eine Nutzen-­ Kosten-­ Analyse stellt sämtliche Nutzen und Kosten gegenüber und bewertet somit den ökonomischen Nettoeffekt oder die Vorteilhaftigkeit von bestimmten Maßnahmen oder Investitionen gegenüber alternativen Verwendungen. Eine Input-­ Output-­ Rechnung zeigt, welche Gesamtwertschöpfung aus einem anfänglichen Primärnachfrageimpuls resultiert, was die-

Beschäftigung sportnahe Dienstleistungen: 3.826 SvB

Beschäftigung

+ Sporthandel: 1.477 SvB

ser also indirekt über vor- und nachgelagerte Produktionsstufen insgesamt an Wertschöpfung auslöst.

Ergebnisse Die gesamten ökonomischen Effekte des Sports sind in . Abb. 12.6 zusammen 

Beschäftigung Sportaus-

+ rüstung inkl. Sportstätten: 672 SvB

Beschäftigung durch

+ Sport direkt: 5.975 SvB

+

darunter Vollzeit: 2.348

Beschäftigung durch Sport indirekt: 2.169 SvB

darunter mit Abschluss: 2.482

+ Beschäftigung durch Sport induziert: 3.829 SvB Gesamtbeschäftigung durch Sport: 11.972 SvB Gesamteinkommen durch Sport: 654.500.000 € fiskalischer Effekt: 65 Mio €

Netto-AusgabenZufluss ./. MwSt.: 213.000.000 €

indirekter Ein-

induzierter Ein-

indirekter Effekt,

Gesamteffekt

42.500.000 €

120.000.000 €

103.000.000 €

478.500.000 €

+ kommenseffekt: + kommenseffekt: + v.a. Medienwert = Profisport und Events: TourismusEffekt: 199 Mio €

Nutzen aus Sport und Bewegung: 470.400.000 €

vermiedene Kosten des

+ Bewegungsmangels 823.200.000 €

fiskalischer Effekt: 47.8 Mio €

Gesamteffekt von Aktivität

= auf Gesundheit und Wohlfahrt:

1.293.600.000 €

SvB: sozialversicherungspflichtig Beschäftigte

.       Abb. 12.6  Mehrdimensionale ökonomische Effekte des Sports in Hamburg. (Nach Cotterell & Vöpel, 2020)

212

12

M. Cotterell und H. Vöpel

gefasst und systematisch nach ihrer Entstehung dargestellt. An dieser Stelle ist es wichtig, darauf hinzuweisen, dass bei diesen Effekten Nichtadditivität gilt, d.  h., die unterschiedlichen Effekte summieren sich nicht einfach zu dem Gesamteffekt. Vielmehr überlagern sich Effekte, die sich methodisch nicht separieren lassen und oft als vernetzte Wertschöpfung entstehen. Dies liegt zum Beispiel daran, dass bei Sportevents sportnahe Dienstleistungen anfallen, die jedoch schon in vorgelagerten Effekten erfasst wurden. Ebenso stecken in dem Nutzen aus Bewegung sportnahe Dienstleistungen, wie die Tätigkeit von Trainern. Der wirtschaftliche Gesamteffekt des Sports lässt sich demnach auch nicht ohne Weiteres als Anteil zum Bruttoinlandsprodukt darstellen. Das Verhältnis der Wertschöpfung durch Sport zum Bruttoinlandsprodukt stellt also einen unechten Quotienten dar, weil die Wertschöpfung des Sports keine echte Teilmenge des Bruttoinlandsprodukts ist. Der Gesamtwert des Sports lässt sich somit nicht als Anteil am („echte Quote“), aber als Relation zum Bruttoinlandsprodukt angeben. Die Berechnungen sollen ein möglichst breites Bild möglicher sportbezogener räumlicher Wertschöpfung geben, ganz im Sinne des Konzepts einer vitalen Sportstadt Hamburg, dem eine breite Definition von Sport zugrunde liegt. Ein gravierendes Problem stellt jedoch – gerade für diesen breiten Ansatz – die Verfügbarkeit von validen Daten dar. Das Sportsatellitenkonto etwa wird nur auf Bundesebene erhoben, sodass auf regionaler oder Bundesländerebene kaum äquivalente Berechnungen angestellt werden

können. Daher ist zu empfehlen, ein datenbasiertes Monitoring des Sport- und Gesundheitsverhaltens auf regionaler Ebene in Form eines Panels aufzusetzen. Zur Berechnung mussten daher viele Annahmen getroffen werden, die über Plausibilitätsprüfungen, Proxy-Variablen und Schätzungen aus der empirischen Literatur validiert wurden (7 Box 12.4). Die Ergebnisse sind daher mit gebotener Vorsicht zu interpretieren, der Sache und der Dimension nach aber fügen sie sich in das Bild bisheriger Studien ein. So sind die ökonomischen Effekte des Sports in Hamburg beträchtlich. Es werden pro Jahr rund 1,13  Mrd. Euro an Wertschöpfung durch die direkten, indirekten und induzierten Effekte des Sports generiert (654,5  Mio. Euro plus 478,5  Mio. Euro). Das entspricht einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung (SvB) von rund 12.000  in Vollzeit beschäftigten Personen. Der gesamte fiskalische Effekt beträgt rund 110 Mio. Euro pro Jahr. Der Tourismus profitiert mit rund 200 Mio. Euro pro Jahr. Neben den tangiblen ökonomischen Effekten des Sports haben die intangiblen Wohlfahrtseffekte, insbesondere die Gesundheits- und Produktivitätseffekte des Sports, eine wesentliche volkswirtschaftliche Bedeutung. Mit rund 1,3  Mrd. Euro sind diese für Hamburg sogar höher als die tangiblen Wertschöpfungseffekte: Rund 470 Mio. Euro an äquivalentem Einkommenswert kommen aus dem Nutzen, der aus dem Spaß an Bewegung und den Emotionen im Sport resultiert, rund 823  Mio. Euro an äquivalentem Einkommenswert aus den vermiedenen Kosten durch Bewegung und  

213 Ökonomische Effekte einer vitalen Sportstadt – das Beispiel Hamburg

Sport. Auch hier kann die Active-City-Strategie durch weitere Maßnahmen einen wirksamen Hebel für die Wohlfahrtseffekte des Sports für die Stadt bereitstellen und diesen zu einem der wesentlichen Faktoren für Lebensqualität in einer modernen, vitalen Stadt entwickeln. Neben den hier erfassten und quantifizierten Effekten gilt es, auf weitere allgemeine Wohlfahrtseffekte des Sports hinzuweisen, die – wie oben beschrieben – mehrdimensional und zunehmend divers sind. So wird beispielsweise häufig argumentiert, dass Sport  – gerade im Verein  – bei

Jugendlichen die Wahrscheinlichkeit verringert, kriminell zu werden oder „abzurutschen“. Die Messung solcher Effekte ist schwierig und Gegenstand einer anderen Forschungsfrage, jedoch lassen sich solche Effekte nicht gänzlich von der Hand weisen. Aus verringerter Jugendkriminalität ergäben sich wiederum positive Produktivitätseffekte sowie vermiedene Kosten in der Kriminalitätsbekämpfung oder der Resozialisierung. Heutige Investitionen in den Sport erzeugen daher positive ökonomische Effekte, die häufig erst in der Zukunft anfallen.

Box 12.4 Methoden und Annahmen der Berechnung

Entscheidend für die Berechnung der ökonomischen Effekte ist einerseits, ihre Gesamtheit zu erfassen, und andererseits, sie von anderen Effekten abzugrenzen und zu isolieren, um die kausalen Ursache-Wirkung-Beziehungen zu identifizieren, denn die Berechnung bezieht sich auf jene Effekte, für die das Event oder die Branche ursächlich ist und ohne das es die Wirkungen nicht gäbe. Damit dies angesichts in der Realität komplexer und gegenseitiger Abhängigkeiten überhaupt näherungsweise möglich ist, müssen zur Identifikation kausaler Beziehungen bestimmte Annahmen über Wirkungszusam­ menhänge getroffen werden. Ein Beispiel

12

dafür ist die Annahme, dass die Teilnehmerin­ nen und Teilnehmer eines Sportevents, die von außerhalb der Stadt kommen, ohne dieses Event nicht in die Stadt gekommen wären. Ein weiterer erschwerender Aspekt ist die Verfügbarkeit von Daten. Diese ist auf lokaler Ebene oft dürftig, sodass für die Kalibrierung des „Modells“ aus der empirischen Literatur plausible Schätzungen für Parameter gefunden werden müssen. Ein Beispiel dafür ist die Schätzung des Anteils der aus Anlass eines Sportevents getätigten Konsumausgaben, der als Nettonachfrage, also nach Abzug der Vorleistungen, tatsächlich in der Stadt verbleibt.

12

214

M. Cotterell und H. Vöpel

12.3 

Interpretation der Ergebnisse und Ausblick

Die Querschnittsbranche Sport hat, wie dargestellt, enormes ökonomisches Potenzial. In Hamburg wird dieses Potenzial durch spezifische Gegebenheiten wie Wasser- und Grünflächen sowie die sowohl sozioökonomisch als auch demographisch begründete hohe Sportaffinität der Bevölkerung flankiert. Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie die ökonomischen Effekte des Sports durch effiziente und effektive Maßnahmen und Instrumente gezielt verstärkt werden können, um damit Wohlfahrtseffekte zu generieren. Um das Potenzial des Sports auszuschöpfen, können Maßnahmen ergriffen werden, die sich in zwei Kategorien einteilen lassen: in direkte Maßnahmen zur Förderung des Sports (wie die Sanierung von Sporthallen und -plätzen) und in komplementäre und katalytische Maßnahmen, die die positiven Effekte des Sports in anderen Bereichen hebeln (wie Austauschprogramme zwischen Universitäten im Umfeld internationaler Sportwettkämpfe). Gerade in Hamburg bieten sich durch die Verknüpfung von Maßnahmen hohe Synergiepotenziale; das gilt besonders für die Integration von Sport in die allgemeine Stadtentwicklung. Zur Förderung des Sports und seiner ökonomischen Bedeutung für die Stadt lassen sich im Wesentlichen zwei Kernstrategien identifizieren, die zum Teil schon erfolgreich umgesetzt werden: Als Basis dient die Active-City-Strategie, die durch ihre umfassende und holistische Interpretation des Sports auf dessen breite Entwicklung gerichtet und damit vor allem an seine intangiblen Effekte adressiert ist. Ergänzend dazu ist ein Profisport- und Eventkonzept sinnvoll, weil mit dieser Strategie noch deutliche vorhandene Potenziale in der Entwicklung des professionellen Sports sowie im Bereich der Sportevents auszuschöpfen sind. So hat Hamburg zwar eine Vielzahl von Bundesligateams in

den zuschauer- und reichweitenstarken Sportarten wie Fußball, Handball, Eishockey und Basketball, jedoch existieren nichtstrukturelle Schwächen, weil deren Ursachen nicht in einem schwachen regionalwirtschaftlichen und soziodemographischen Umfeld liegen. Begleitend zu diesen Kernstrategien bietet es sich an, Umsetzungskonzepte zu entwickeln, die darauf ausgerichtet sind, ­ ­Maßnahmen gezielt und nachhaltig zu implementieren. Selbst und gerade innerhalb einer Stadt, in der soziale Spannungen und Unterschiede durch die Urbanisierung und die Einkommensentwicklung zunehmen, ist es wichtig, die Umsetzung von Maßnahmen an sozialen Milieus und Stadtteilen auszurichten (7 Kap.  17), weil die Wirksamkeit und Effizienz hiervon wesentlich beeinflusst werden. Um diese zu stärken, ist eine Medien- und Kommunikationsstrategie ratsam, welche insbesondere zwei wesentliche ökonomische Effekte des Sports betrifft: die externe Markenbildung und Bekanntheit der Stadt durch den Sport sowie die interne Identifikation und Verbundenheit mit dem Sport. Die vorangehende Analyse hat gezeigt, dass verschiedene methodische Schwierigkeiten bei der Erfassung ökonomischer Effekte des Sports auftreten. Zwar gibt es die Systematik eines Sportsatellitenkontos, diese ist jedoch aufgrund der Datenverfügbarkeit und Datenvergleichbarkeit nur auf Bundesebene sinnvoll anwendbar. Das Sportsatellitenkonto kann kaum spezifische Aussagen zu lokalen und regionalen Entwicklungen geben. Gerade die Active-City-Strategie der Stadt Hamburg gibt jedoch Anlass und Möglichkeit, deren Erfolg systematisch durch ein Monitoring zu begleiten. Das beobachtete Sportverhalten der Bevölkerung ist immer das Resultat von Sportangebot und Sportnachfrage. Zur Analyse, durch welche Form von Sportinfrastruktur und Sportangeboten die lokale Sportnachfrage am besten bedient werden kann, soll 

215 Ökonomische Effekte einer vitalen Sportstadt – das Beispiel Hamburg

ten beide Bereiche evaluiert werden. Die Erfassung entsprechender Daten ermöglicht, einerseits zielgerichtet die Angebote zu optimieren und andererseits Maßnahmen und Instrumente für die zielgruppenspezifische Sportförderung zu entwickeln (Freie und Hansestadt Hamburg, 2016; Hamburger Sportbund, 2018). ? Übungs- und Reflexionsaufgaben 1. Welche Erscheinungsformen und Funktionen hat der Sport in einer Großstadt – welche Rolle spielen informelle Formen und innovative Konzepte? 2. Wie lässt sich die gegenwärtige Transformation von Städten mit urbanen Sportkonzepten für mehr Lebensqualität miteinander verbinden?

Zum Weiterlesen empfohlene Literatur Breuer, C., Wicker, P., & Orlowski, J. (2014). Zum Wert des Sports. Eine ökonomische Betrachtung. Springer Gabler.

Literatur Ahlert, G., & An der Heiden, I. (2015). Die ökonomische Bedeutung des Sports in Deutschland Ergebnisse des Satellitenkontos 2010 und erste Schätzungen für 2012. (GWS-Themenreport, 15/1). Gesellschaft für Wirtschaftliche Strukturforschung mbH. Ahlert, G., An der Heiden, I., & Repenning, S. (2018). Die ökonomische Bedeutung des Sports in Deutschland  – Sportsatellitenkonto (SSK) 2015. (GWS Themenreport, 2018/1). Gesellschaft für Wirtschaftliche Strukturforschung mbH. BBSR  – Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung. (2021). Raumordnungsprognose 2040. https://www.­bbsr.­bund.­de/BBSR/DE/forschung/ fachbeitraege/raumentwicklung/raumordnung

12

sprognose/2040/04-­downloads.­html. Zugegriffen am 31.03.2022. Bravo, L. (2018). Public urban happiness, that is the making of our own world. The Journal of Public Space, 3(2), 1–4. Breuer, C., Wicker, P., & Orlowski, J. (2014). Zum Wert des Sports. Eine ökonomische Betrachtung. Springer Gabler. Cotterell, M., & Vöpel, H. (2020). Ökonomische Effekte der vitalen Sportstadt Hamburg. Hamburg: HWWI. https://www.­hamburg.­de/contentblob/13487190/­ 5e478023639d47b214880ad6fd076a68/data/neuerinhalt.­pdf. Zugegriffen am 31.03.2022. Digel, H. (2018). Wirtschaftsfaktor Sport. SPORT NACHGEDACHT. https://sport-­nachgedacht.­de/ wiss_beitrag/wirtschaftsfaktor-­sport/. Zugegrif­ fen am 30.03.2022. Flatau, J., & Rohkohl, F. (2017). Der Wert des Sports in Schleswig-Holstein, Wirtschaftliche und gesellschaftliche Aspekte. Freie und Hansestadt Hamburg (2016). Masterplan Active City – Für mehr Bewegung in Hamburg. Hamburger Sportbund. (2018). Hamburg wächst  – Sportvereine tun es auch. https://www.­hamburger-­ sportbund.­d e/artikel/3942/hamburg-­w aechst-­ sportvereine-­­tun-­es-­auch. Zugegriffen am 02.01.2019. Investitionsbank Berlin (Hrsg.). (2018). Wirtschaftliche Effekte des Spitzen- und Breitensports in Berlin. Nielsen Sports. (2017). Commercial trends in sports 2017. https://www.­nielsen.­com/us/en/insights/report/2017/commercial-­t rends-­i n-­s ports-­2 017/#. Zugegriffen am 30.03.2022. Statista Research Department. (2016). Bevorzugte Orte sportlicher Aktivitäten in Deutschland 2016. https:// de.statista.­com/statistik/daten/studie/176990/umfrage/bevorzugte-­o rte-­s portlicher-aktivitaeten/. ­Zugegriffen am 31.03.2022. Zeppenfeld, B. (2022). Lieblingssportarten der Deutschen 2018. https://de.­statista.­com/statistik/daten/ studie/979334/umfrage/lieblingssportarten-­d er-­ deutschen/. Zugegriffen am 30.03.2022. Zukunftskommission Sport & Behörde für Inneres und Sport (Hrsg.). (2011). HAMBURGmachtSPORT.  Eine Dekadenstrategie für den Hamburger Sport. Zukunftskommission Sport & Behörde für Inneres und Sport (Hrsg.). (2021). Neunter Hamburger Sportbericht.

217

Beziehungen zwischen Vereins- und Stadtimage – eine empirische Analyse am Beispiel von Borussia Mönchengladbach Christina Masch

BORUSSIA-PARK – das vereinseigene Fußballstadion von Borussia Mönchengladbach. (© Christina Masch)

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Gans et al. (Hrsg.), Sportgeographie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66634-0_13

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Inhaltsverzeichnis 13.1

I mage und seine regionalökonomische Bedeutung – 219

13.2

 ffekte eines professionellen Sportvereins E auf seinen Standort – 220

13.3

 ine empirische Analyse am Beispiel E von Borussia Mönchengladbach – 222  aten und Methodik – 222 D Ergebnisse der Multi-Item-­Befragungen – 226 Ergebnisse der assoziativen Markennetzwerke – 230

13.4

Fazit und Ausblick – 232 Literatur – 233

219 Beziehungen zwischen Vereins- und Stadtimage – eine empirische Analyse…

Einleitung Die Bedeutung von professionellen Sportvereinen für ihren Standort wird bereits seit Jahrzehnten in der Fachliteratur diskutiert. Meist stehen die monetären Effekte der Vereine auf das Einkommen und die Beschäftigung in der Region im Fokus der Untersuchungen (z.  B.  Baade, 1994; Coates & Humphreys, 2003; 7 Kap. 10). In den letzten Jahren wird das Augenmerk zudem auf intangible Effekte von professionellen Sportvereinen gelegt, insbesondere sind im Zuge des sich ver­ schärfenden Standortwettbewerbs ihre Wirkungen auf Bekanntheitsgrad und Image der Standorte sowie auf das Ausmaß der Identifikation der Bevölkerung mit der jeweiligen Stadt oder Region von Interesse (Crompton, 2004; 7 Kap. 18). Städte und Regionen müssen sich aufgrund des demographischen Wandels und Fachkräftemangels vermehrt um wichtige Zielgruppen, wie Einwohnerinnen und Einwohner, Unternehmen und Fachkräfte sowie Touristinnen und Touristen, bemühen, um diese an den eigenen Standort ­binden bzw. sie für den eigenen Standort gewinnen zu können. Sollten professionelle Sportvereine einen positiven Einfluss auf den Bekanntheitsgrad und das Image ihres Standorts nehmen, kann sich dies vorteilhaft auf die regionalwirtschaftliche Entwicklung der Stadt bzw. Region auswirken und das Stadt- und Regionalmarketing in ihren Tätigkeiten und Aufgaben unterstützen. Der Beitrag geht daher der Frage auf den Grund, welche Rolle ein professioneller Sportverein für die Bekanntheit und das Image seines Standorts spielen kann. Als Fallbeispiel werden der Bundesligaverein Borussia Mönchengladbach und die Stadt Mönchengladbach genutzt.  



13.1 

13

I mage und seine regionalökonomische Bedeutung

Beim Standortimage handelt es sich um ein komplexes Konstrukt (7 Box 13.1), das durch viele verschiedene Faktoren beeinflusst wird. Diese reichen von der natürlichen und physischen Infrastruktur, wie der Lage, Topographie und markanten Bauwerken, über die historischen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten am Standort bis hin zum Lebensstil der Einwohnerinnen und Einwohner sowie dem vorhandenen Kultur- und Freizeitangebot (Beerli & Martín, 2004; Kirchgeorg, 2005). Dabei spielen die einzelnen Faktoren je nach Zielgruppe eine unterschiedlich wichtige Rolle in der Imagebildung und bei der daraus resultierenden Entscheidung hinsichtlich des Standorts. Regionen müssen mit ihren Angeboten den verschiedenen Bedürfnissen der Zielgruppen gerecht werden, um auf sie attraktiv zu wirken. Für Einwohnerinnen und Einwohner schaffen Städte und Regionen zur Verbesserung der Lebensqualität Wohnraum, Arbeitsplätze, Bildungseinrichtungen oder Grünflächen, für Unternehmen Investitions- und Standortmöglichkeiten und für Besucherinnen und Besucher touristische Angebote (Govers, 2013). Das Image, das ein Standort innerhalb, aber auch außerhalb der Region genießt, kann ein ausschlaggebender Faktor dafür sein, dass sich Mitglieder einer Zielgruppe für diesen oder für einen anderen Standort entschließen. Diese Entscheidungen wiederum nehmen direkten Einfluss auf die wirtschaftliche Entwicklung des Standorts.  

220

C. Masch

Box 13.1 Die Bedeutung von Image

Image kann allgemein definiert werden als „[…] die Gesamtheit von Gefühlen, Einstellungen, Erfahrungen und Meinungen bewusster und unbewusster Art, die sich eine Person bzw. eine Personengruppe von einem Meinungsgegenstand (z.  B. einem Produkt, einer Marke, einem Unternehmen) macht. Es wird geprägt von soziokulturellen und subjektiven Momenten (Erfahrungen, Vorurteilen) und stellt eine stereotypisierende

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Die Standortentscheidungen von Unternehmen werden von einer Vielzahl harter und weicher Standortfaktoren beeinflusst (Grabow, 1994). Erstere wie ­Arbeitskräfte, Gewerbeflächen und Steuern beeinflussen die unternehmerische Tätigkeit direkt und nehmen bei den Entscheidungen meist die wichtigste Rolle ein (Grabow, 1994; Love & Crompton, 1999). Weiche Standortfaktoren, wie das Stadtbild, die Lebensqualität und das Image des Standorts, können entweder direkte Auswirkungen auf die unternehmerische Tätigkeit haben oder indirekt die Arbeits- und Wohnortwahl der Arbeitnehmer und/oder Arbeitgeber mitbestimmen. Wachsender Wohlstand, höhere Qualifikation der Arbeitskräfte, veränderte Arbeitszeitstrukturen (z.  B. mehr Freizeit bei flexibleren Arbeitszeiten), steigende Frauenerwerbsquoten und die zunehmende Bedeutung des Familienlebens haben in den letzten Jahrzehnten zu einem Wertewandel mit der Folge geführt, dass weiche Standortfaktoren, wie die Wohnqualität und das Freizeit-, Kultur- und Bildungsangebot, für Beschäftigte, Arbeitgeberinnen und Arbeitgeber an Bedeutung gewonnen haben (Grabow et al., 1995; Masch, 2022). Der Standortfaktor Image ist einer dieser weichen Faktoren. Er kann als Gesamteindruck eines Standorts verstanden werden (Kotler et  al., 1993), der sich aus den verschiedenen lokalen Gegebenheiten zu-

Vereinfachung eines objektiven Sachverhalts dar“ (Essig et  al., 2003, S.  21). Das Image lässt sich in Eigen- und Fremdimage unterscheiden. Bezogen auf eine Stadt bzw. Region versteht man unter Eigenimage das Bild, das die Einwohnerinnen und Einwohner von ihrem Wohnort bzw. ihrer Wohnregion haben. Das Fremdimage beschreibt hingegen das Image seitens auswärtiger Personen.

sammensetzt. Ist dieses übergeordnete Bild einer Stadt oder Region bereits negativ, wird sie wahrscheinlich gar nicht erst in die Standortentscheidung des Unternehmens einbezogen (Meester, 2004). Ein gutes Image kann hingegen dazu beitragen, dass Unternehmen den Standort in Betracht ziehen und sich schlussendlich im Auswahlprozess auch für ihn entscheiden. Studien bestätigen, dass das Standortimage als ein bedeutender Faktor bei Unternehmensentscheidungen angesehen wird (z.  B.  Eickelpasch et  al., 2007; Hamm et al., 2013; Eickelpasch et al., 2016) und die Unternehmensansiedlungen beeinflusst (Delgado-­ García et  al., 2018). Ein positiver Effekt eines professionellen Sportvereins auf den Bekanntheitsgrad und das Image seines Standorts wäre somit von Vorteil für die wirtschaftliche Entwicklung der jeweiligen Stadt bzw. Region.

13.2 

 ffekte eines professionellen E Sportvereins auf seinen Standort

Die Effekte, die von einem professionellen Sportverein auf seinen Standort ausgehen, sind vielfältig und lassen sich in nachfrageund angebotsseitige Faktoren unterteilen (z.  B.  Hamm, 1998; Hamm et  al., 2014; . Abb. 13.1). Die nachfrageseitigen Effekte sind monetär und daher meist gut messbar.  

221 Beziehungen zwischen Vereins- und Stadtimage – eine empirische Analyse…

nachfrageseitige Effekte

angebotsseitige Effekte

regionsgebundene Ausgaben • Personal • Besucher • Betriebsausgaben • Investitionen

regionale Zielgruppen • Verbesserung der Identifikation mit der Stadt • Förderung regionaler (Unternehmens-)Netzwerke • Verbesserung der kommunalen Infrastruktur • Verbesserung des Eigenimages

Wohlfahrtseffekte

Sportverein

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Standort

externe Zielgruppen • Verbesserung des Fremdimages • Standortfaktor für Unternehmensentscheidungen • Steigerung des Bekanntheitsgrads der Stadt

..      Abb. 13.1  Regionalwirtschaftliche Effekte eines Sportvereins im Überblick. (Nach Hamm et al., 2014)

Sie umfassen die Betriebsausgaben und Investitionen des Vereins, sofern diese in der Region verausgabt werden. Hinzu kommen die Gehälter an das Personal sowie die Ausgaben, die Besucherinnen und Besucher der Heimspiele vor oder nach dem Spiel in der Region tätigen (7 Kap. 10 und 12). Neben diesen monetären Effekten gibt es weitere Faktoren von professionellen Sportvereinen, die sich positiv auf die regionalwirtschaftliche Entwicklung eines Standortes auswirken können (Baade & Dye, 1988; Crompton, 2004). Diese angebotsseitigen Effekte verbessern die Standortortvoraussetzungen und damit die Produktionsund Angebotsbedingungen (Hamm et  al., 2006; Hamm et al., 2014). Ihre Messung gestaltet sich jedoch aufgrund ihrer Intangibilität oftmals schwieriger. Zu diesen angebotsseitigen Effekten gehören die Stärkung der Identifikation mit dem Standort, die Förderung regionaler (Unternehmens-)Netzwerke sowie die Verbesserung der kommunalen Infrastruktur und des Eigenimages des Standorts. Hierbei nimmt der Sportverein einen Einfluss auf die  

regionalen Zielgruppen, wie die Einwohnerinnen und Einwohner oder die ansässigen Unternehmen. Hinzu kommen Effekte auf externe Zielgruppen, wie potenzielle Einwohnerinnen und Einwohner, Unternehmen, Touristinnen und Touristen, die für den Standort gewonnen werden sollen. Diesbezüglich kann der Sportverein das Fremdimage des Standorts verbessern und zur Steigerung des Bekanntheitsgrads der Stadt beitragen. Darüber hinaus kann er einen relevanten Standortfaktor bei Unternehmensentscheidungen darstellen. Im Folgenden liegt der Fokus auf den bekanntheitsgradsteigernden und imageverbessernden Effekten eines professionellen Sportvereins für seinen Standort. Inwieweit ein entsprechender Einfluss besteht, ist zum einen abhängig von der Sportart, ihrer Beliebtheit bei den Zuschauerinnen und Zuschauern und der Aufmerksamkeit, die diese Sportart durch die Medien erfährt. Ein Bundesligafußballverein beispielsweise genießt national wie international ein hohes mediales Interesse. Millionen von Fans verfolgen die Bundesliga. Zum anderen spielt

222

C. Masch

aber auch der Erfolg des Vereins eine nicht unbedeutende Rolle. Angesehene Vereine sind meist häufiger in der Berichterstattung vertreten, insbesondere wenn es um den Gewinn wichtiger Turniere und Wettbewerbe geht. Die Bekanntheit des Vereins und die damit verbundene mediale Aufmerksamkeit sind Voraussetzungen dafür, dass er einen Einfluss auf das Standortimage ausüben kann. Beim Standortimage handelt es sich um ein Konstrukt, welches von vielen Faktoren beeinflusst wird (7 Box 13.1). Professionelle Sportvereine können als ein Freizeitangebot der Stadt gesehen werden und als solches einen Einfluss auf das Stadtimage nehmen. Crompton (2004) führt dafür verschiedene Gründe an. Zum einen können Sportvereine aufgrund der zunehmenden Freizeitorientierung der Gesellschaft zu den Imageträgern der Zukunft werden, wie es früher beispielsweise die ansässigen Industrien und Fabriken waren. Zum anderen kann die Platzierung des Vereins auch symptomatisch für die Stellung der Stadt gesehen werden (Siegfried & Zimbalist, 2000). Spielt der Verein in der ersten Liga, so spielt auch die Stadt in der obersten Liga der Städte. Dies birgt jedoch auch die Gefahr eines Imageverlusts, sollte der Verein die Klasse nicht halten können. Einwohnerinnen und Einwohner könnten dann auch das Gefühl bekommen, dass ihre Stadt im Ranking der Städte abgestiegen ist (Frick & Wicker, 2018). Inwieweit ein einzelnes Sportangebot das Standortimage überhaupt beeinflussen kann, hängt aber auch maßgeblich vom Gesamtangebot der Stadt ab (Crompton, 2004). In einer Stadt mit einem umfangreichen Kultur- und Freizeitangebot, wie Köln, München oder Berlin, stellt der professionelle Sportverein nur eines von vielen Angeboten dar. Die Wirkung auf das ­Standortimage ist dementsprechend eher gering. Befinden sich in der Stadt jedoch, wie in Bielefeld oder Mönchengladbach, nur wenige Sehenswürdigkeiten und Wahrzeichen, kann ein professioneller Verein in einer be 

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liebten Sportart zu einem entscheidenden Faktor für das städtische Image werden. Bisherige Studien zu den regionalökonomischen Effekten von Sportvereinen zeigen, dass die monetären Effekte alleine beispielsweise keine hohen Subventionen für Stadionneubauten rechtfertigen (z. B. Baade, 1994; Conejo et al., 2007; Coates, 2015). Aus diesem Grund wird das Augenmerk in den letzten Jahren zunehmend auf die angebotsseitigen Effekte gelegt, ob also ein professioneller Sportverein einen Einfluss auf den Bekanntheitsgrad und das Image seines Standorts ausübt. Diese Annahme soll im weiteren Verlauf mithilfe des Beispiels von Borussia Mönchengladbach und der Stadt Mönchengladbach untersucht werden.

13.3 

 ine empirische Analyse E am Beispiel von Borussia Mönchengladbach

Daten und Methodik Die Stadt Mönchengladbach ist am Niederrhein gelegen und hat rund 270.000 Einwohner. Sie war einst einer der wichtigsten Standorte der Textil- und Bekleidungsindustrie in Deutschland. Der Strukturwandel und das Wegfallen dieser Branche haben die Stadt einem erheblichen ökonomischen und sozialen Anpassungsdruck ausgesetzt. Seit über 100 Jahren ist die Stadt Heimat des Fußballvereins Borussia Mönchengladbach. Der Verein wurde im Jahr 1900 gegründet und konnte insbesondere in den 1970er-Jahren große Erfolge feiern. Fünfmal gewann die Borussia in diesem Jahrzehnt die Deutsche Meisterschaft und zweimal den UEFA-Cup. Diese Erfolge machten den Fußballverein deutschlandweit und sogar über die Grenzen Deutschlands hinaus bei Fußballfans bekannt. Bis heute spielt der Verein mit wenigen kurzen Unterbrechungen in der ersten

223 Beziehungen zwischen Vereins- und Stadtimage – eine empirische Analyse…

Bundesliga und gehört mittlerweile zu den Traditionsvereinen der Liga. Für die Messung des Images eines Meinungsgegenstands gibt es verschiedene Methoden. Zum einen kann die Multi-Item-­ Methode angewandt werden. In dieser quantitativen Vorgehensweise werden den Personen in einem Fragebogen verschiedene Attribute und Aussagen vorgelegt, die sie bewerten sollen. Der Vorteil liegt darin, dass viele Personen zu ihrer Meinung und Einschätzung des Images befragt werden können. Nachteilig ist jedoch, dass die Forscherinnen und Forscher bei dieser Methode die Attribute auswählen und vorgeben. Sie entsprechen deshalb vielleicht nicht unbedingt den Attributen und Eigenschaften, die die befragten Personen eigentlich mit dem Meinungsgegenstand verbinden würden (Geise & Geise, 2015). Qualitative, offene Messverfahren, wie die Methode der assoziativen Markennetzwerke, können hingegen die unbeeinflusste Imageeinschätzung messen. Bei dieser Methode sollen die Befragten alle Assoziationen auflisten, die sie mit dem Meinungsgegenstand verbinden, und anschließend in eine Art Mindmap um den Markenknoten (= Meinungsgegenstand) anordnen. Die einzelnen Assoziationen werden anschließend auf einer Fünferskala von sehr positiv bis sehr negativ bewertet (Geise & Geise, 2015). Fügt man die assoziativen Markennetzwerke aller Probandinnen und Probanden dann in einem sogenannten Makro-Markennetzwerk zusammen, lässt sich daraus erkennen, welche Assoziationen besonders häufig mit dem Meinungsgegenstand verbunden werden und ob diese Assoziationen einen positiven oder negativen Einfluss auf das Image nehmen. Nachteilig an dieser Methode ist jedoch der hohe ­Aufwand, sodass nur eine geringe Anzahl an Personen befragt wird. Da beide Methoden über Vor- und Nachteile verfügen, wurden am Niederrhein Institut für Regional- und

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Strukturforschung im Rahmen umfangreicher Forschungsarbeiten zu diesem Thema beide Vorgehensweisen angewandt, um einen umfassenden Einblick in den Einfluss von Borussia Mönchengladbach auf das Image der Stadt Mönchengladbach zu gewinnen (Hamm et  al., 2016; Fischer & Hamm, 2017; Fischer, 2018; Fischer & Hamm, 2019). Im Herbst/Winter 2013 wurden verschiedene Befragungen organisiert. Bei drei Heimspielen der Borussia im BORUSSIA-­ PARK wurden vor Spielbeginn Stadionbesucherinnen und -besucher, 913 Heimund Auswärtsfans, interviewt. Zudem wurden insgesamt 579 Passanten in der Mönchengladbacher Innenstadt und in den Zentren der umliegenden Städte (z. B. Viersen, Krefeld, Heinsberg) befragt. Eine Online-Erhebung mit 265 Teilnehmenden bezog auch Personen von außerhalb der Region ein. Insgesamt umfassten die Stichproben 1757 Personen, um den Einfluss der Borussia auf das Image der Stadt Mönchengladbach abzuschätzen. Von diesen Befragten waren 33  % weiblich und 67  % männlich. 40 % gaben an, Fan von Borussia Mönchengladbach zu sein, 19 % beschrieben sich als Sympathisanten des Vereins, und die restlichen 41 % verspürten keine emotionale Verbundenheit zum Verein. Von den Befragten lebte knapp die Hälfte (47 %) in der Fanregion von Borussia Mönchengladbach,1 die Übrigen lebten im restlichen Deutschland und wenige im Ausland. Es ist davon auszugehen, dass insbesondere die Fanbeziehung der Befragten

1

Im Vorfeld der Befragung wurde die Fanregion anhand der räumlichen Verteilung der Dauerkarteninhaber ermittelt. Das Ergebnis zeigte auf, dass die meisten Dauerkartenbesitzer aus der kreisfreien Stadt Mönchengladbach, dem Kreis Viersen, Heinsberg und dem Rhein-Kreis Neuss kamen. Personen aus diesen vier Kreisen zählen im Folgenden zur Fanregion der Borussia.

224

13

C. Masch

und ihre Herkunft einen Einfluss auf das Image des Vereins und des Standorts sowie den möglichen Imagetransfer vom Verein auf den Standort haben. Es ist zu erwarten, dass Fans der Borussia ein positiveres Image von der Borussia haben als Personen ohne emotionale Verbundenheit zum Verein. Personen aus der Fanregion kennen den Standort besser, weil sie ihn regelmäßig oder zumindest hin und wieder besuchen. Sie haben eigene Erfahrungen zur Stadt gesammelt, während Personen von außerhalb vermutlich über weniger gute Kenntnisse hinsichtlich der Gegebenheiten in Mönchengladbach verfügen. Die beiden Variablen „Fanbeziehung“ und „Herkunft“ wurden dazu genutzt, die Befragten in vier Fangruppen zu unterteilen. Die Heim-Fans machen 23  % der Befragten aus. Sie sind Fans von Borussia Mönchengladbach und leben in der sogenannten Fanregion. Die regionalen NichtFans (12  %) kommen ebenfalls aus der Fanregion, haben aber keine emotionale Verbundenheit zur Borussia. Von außerhalb der Fanregion kommen die Satelliten-Fans (18  %), die Anhängerinnen und Anhänger von Borussia sind, und die Outsider (27 %), die keine emotionale Verbundenheit zu diesem Verein verspüren. Personen, die bei ihrer „Fanbeziehung“ angaben, Sympathisant der Borussia zu sein, wurden in diesen Überlegungen nicht betrachtet. Der Fragebogen umfasste mehrere Aspekte regionalwirtschaftlicher Effekte, die von Borussia Mönchengladbach ausgehen. Um das Image des Vereins und der Stadt zu bewerten, wurde u.  a. mit der Multi-Item-­ Methode gearbeitet. Vorgegeben wurden sieben Attribute („sympathisch“, „jung und dynamisch“, „begeisternd“, „familienfreu­ ndlich“, „modern und weltoffen“, „erfolgreich“ und „langweilig“),2 anhand derer die 2 Bei der Auswahl der Attribute wurde darauf geachtet, dass sie sowohl zu einer Stadt als auch zu einem Verein passen. Es ist davon auszugehen,

Befragten den Verein und die Stadt auf einer dreistufigen Likert-Skala (1 – trifft nicht zu; 2 – trifft teilweise zu; 3 – trifft zu) beurteilen sollten. Neben deskriptiven Analysen wurde auch eine einfaktorielle Varianzanalyse angewandt (7 Box 13.2), um zu testen, ob sich die Imagebewertungen der Attribute zwischen den vier Fangruppen signifikant voneinander unterscheiden. Zusätzlich wurden lineare Regressionsanalysen gerechnet, um den Imagetransfer vom ­Verein auf die Stadt zu untersuchen. Die sechs positiven Attribute wurden hinsichtlich der Stadt zu einem Stadtimage-Index,3 hinsichtlich des Vereins zu einem Vereinsimage-­ Index zusammengefasst. Neben diesen beiden Variablen wurden weitere Variablen in den Regressionsanalysen getestet, um zu prüfen, welche anderen Charakteristika einen Einfluss auf den Imagetransfer zwischen Verein und Stadt haben (. Tab. 13.1).  



dass das Image von Borussia Mönchengladbach insbesondere durch die Erfolge der „Fohlenelf“ in den 1970er-Jahren geprägt wurde. Daher wurden die Attribute „jung und dynamisch“, „begeisternd“ und „erfolgreich“ gewählt. Das Attribut „familienfreundlich“ wurde zusätzlich ergänzt, weil die Borussia 2014 als besonders familienfreundlicher Verein ausgezeichnet wurde. Attribute wie „jung und dynamisch“ und „modern und weltoffen“ dürften zudem auch auf einen Hochschulstandort wie Mönchengladbach zutreffen. Das Attribut „sympathisch“ diente dazu, die Grundeinstellung der befragten Personen zur Stadt und zum Verein zu ermitteln, während das negative Attribut „langweilig“ eher als Kontrollvariable verstanden werden kann. Es sollte die Aufmerksamkeit der Befragten beim Ausfüllen des Fragebogens prüfen. 3 Berechnung der Indizes nach Hallmann (2010): („sympathisch“ + „jung und dynamisch“ + „begeisternd“ + „familienfreundlich“ + „modern und weltoffen“ + „erfolgreich“)  – 6)/12*100. Die Variablen der positiven Attribute werden im ersten Schritt summiert. Um den Index am Nullpunkt zu verankern, wird die Variablenanzahl abgezogen. Das Ergebnis wird durch die höchstmögliche Zahl der Werte abzüglich der Anzahl der Variablen dividiert und abschließend mit 100 multipliziert.

225 Beziehungen zwischen Vereins- und Stadtimage – eine empirische Analyse…

Box 13.2 Regressions- und Varianzanalyse (ANOVA) sowie Post-hoc-Test

Die Regressionsanalyse untersucht Beziehungen zwischen einer abhängigen und einer oder mehrerer unabhängigen Variablen. Grundsätzlich geht es bei der Regressionsanalyse um die Ermittlung von Kausalbeziehungen (Ursache-­Wirkungs-­Bezie­ hungen). Sowohl die abhängige als auch die unabhängigen Variablen müssen dabei metrisch skaliert sein (Backhaus et al., 2016). Das Verfahren der Varianzanalyse (ANOVA) ermöglicht, den Einfluss einer oder mehrerer unabhängiger Variablen auf

eine abhängige Variable zu untersuchen. Die abhängigen Variablen müssen bei der Varianzanalyse eine metrische Skalierung aufweisen, während die unabhängigen Variablen auch nominal oder ordinal skaliert sein können. Im Anschluss an die Varianzanalyse können Post-hoc-Tests angewandt werden, um Auskunft darüber zu erhalten, welche Gruppen der unabhängigen Variablen einen Einfluss auf die abhängige bzw. die abhängigen Variablen ausüben (Backhaus et al., 2016).

.       Tab. 13.1  Beschreibung der Variablen in den Regressionsanalysen. (Nach Fischer & Hamm, 2019)

Variablen Abhängige Variable Unabhängige Variablen

Stadtimage Vereinsimage Fan Herkunft Heim-Fansa Satelliten-Fans a regionale NichtFansa Outsider a Geschlecht Alter Interesse

a

Beschreibung Stadtimage-Index Vereinsimage-Index Fanbeziehung zu Borussia Mönchengladbach (1 = Fan) Wohnort der Befragten (1 = Fanregion) Heim-Fans (1 = ja) Satelliten-Fans (1 = ja) regionale Nicht-Fans (1 = ja) Outsider (1 = ja) Geschlecht (1 = männlich) Alter (1 = 40 Jahre und älter – haben die erfolgreichen Zeiten des Vereins miterlebt) Fußballinteresse (1 = großes Fußballinteresse)

Die Referenzgruppe umfasst die Sympathisanten.

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226

C. Masch

Neben den auf der Multi-Item-Methode basierten Befragungen wurden auch 63 assoziative Markennetzwerke von Einwohnerinnen und Einwohnern der Stadt Mönchengladbach (33) und auswärtigen Personen (30) im Herbst/Winter 2015 erhoben. Der Meinungsgegenstand war hier die Stadt Mönchengladbach. Die Probandinnen und Probanden sollten alle Assoziationen, die ihnen zur Stadt einfallen, auflisten, anordnen und bewerten. Bei der Zusammenstellung der Makronetzwerke wurde zwischen Einwohnerinnen und Einwohnern und Auswärtigen unterschieden, um prüfen zu können, ob sich das Image aufgrund des unterschiedlichen Kenntnisstands über die Stadt unterscheidet. Es wurde demnach ein Makronetzwerk zum Image seitens der Bevölkerung Mönchengladbachs erstellt und eines zum Image seitens der auswärtigen Personen.

 rgebnisse der Multi-Item-­ E Befragungen

13

In einem ersten Schritt wurden die befragten Personen gebeten einzuschätzen, wie wichtig verschiedene Wahrzeichen und Institutionen

als Imageträger für die Stadt Mönchengladbach sind (. Tab. 13.2). Sechs von ihnen sollten anhand einer fünfstufigen Likert-Skala von „1 – stimme überhaupt nicht zu“ bis „5 – stimme voll zu“ bewertet werden. Nahezu 90 % der Befragten waren der Überzeugung, dass Borussia Mönchengladbach ein wichtiger Imageträger für die Stadt Mönchengladbach ist. Knapp 60  % sahen diesen Imageeffekt bei Schloss Rheydt und dem Hockeypark. Bei den anderen Wahrzeichen und Institutionen lag die Zustimmung bei weniger als 50  %. Dieses Ergebnis zeigt, dass Borussia mit Abstand als wichtigster Imageträger für die Stadt Mönchengladbach angesehen wird. Ein Blick auf die Mittelwerte macht dieses Ergebnis zusätzlich deutlich (. Tab. 13.2). Im Gegensatz zu den anderen Wahrzeichen und Institutionen ist die Borussia überregional bekannt und genießt als Verein, der in der ersten Bundesliga spielt, eine hohe mediale Aufmerksamkeit. Der Verein fungiert damit als Aushängeschild für die Stadt, das nicht nur den Bekanntheitsgrad der Stadt erhöht, sondern auch einen Einfluss auf das städtische Image nehmen kann. Ob sich dieser Effekt positiv oder negativ auf das Image der Stadt auswirkt (. Abb. 13.2), verdeutlichen die Bewertungen von  





..      Tab. 13.2  Wichtige Imageträger der Stadt Mönchengladbach (Angaben in % und in Mittelwerten). (Nach Fischer & Hamm, 2019) Wahrzeichen/Institutionen

stimme überhaupt nicht zu

stimme eher nicht zu

Borussia Mönchengladbach

1,7

2,5

Schloss Rheydt

3,9

Hockeypark

teilweise

stimme eher zu

stimme voll zu

Mittelwert der Likert-­ Ergebnisse

6,1

21,0

68,7

4,53

11,5

25,2

40,0

19,3

3,59

5,5

10,9

26,2

36,0

21,3

3,57

Hochschule Niederrhein

5,6

14,6

33,9

31,8

14,2

3,35

Kaiser-Friedrich-­ Halle

6,8

17,3

31,8

28,1

16,0

3,29

Museum Abteiberg

7,5

21,6

34,3

24,7

12,0

3,12

13

227 Beziehungen zwischen Vereins- und Stadtimage – eine empirische Analyse…

3

2

2,61

2,19

2,56

2,53 1,79

2,50 1,85

2,08

2,44 1,83

2,33

1,81 1,27

Borussia Mönchengladbach

erfolgreich

modern/weltoffen

familienfreundlich

jung/dynamisch

sympathisch

begeisternd

1

trifft nicht zu

1,79

langweilig

trifft zu

Stadt Mönchengladbach

..      Abb. 13.2  Bewertung von Verein und Stadt mithilfe der sieben Attribute (in Mittelwerten). (Nach Fischer & Hamm, 2019)

Stadt und Verein durch die Befragten (1  – trifft nicht zu; 2 – trifft teilweise zu; 3 – trifft zu). Bei allen Attributen fällt die durchschnittliche Bewertung der Stadt schlechter als beim Verein aus. Besonders deutlich sind die Unterschiede bei den Attributen „begeisternd“ und „jung und dynamisch“. Insgesamt hat der Verein ein deutlich besseres Image als sein Standort. Sollte ein Imagetransfer vom Verein auf die Stadt identifiziert werden, ist davon auszugehen, dass sich dieser positiv auf das Stadtimage auswirkt. Dieser Imagetransfer dürfte insbesondere von der Fanbeziehung zum Verein und der Herkunft der Befragten beeinflusst werden (7 Abschn.  13.1). In einem ersten Schritt wurden die durchschnittlichen Bewertungen von Verein und Stadt auf Grundlage der sieben Attribute entsprechend der vier Fangruppen (Heim-Fans, regionale Nicht-Fans, Satelliten-Fans und Outsider) mithilfe einer einfaktoriellen Varianzanalyse miteinander verglichen (7 Box 13.2). Es ergaben sich signifikante Unterschiede zwischen den vier Fangruppen. Um herauszufinden, zwischen welchen Gruppen es Unterschiede in den Bewertungen der einzelnen Attribute gibt,  



wurde in einem zweiten Schritt ein Post-hocTest angewandt. Es wird angenommen, dass Fans bei einem positiven Imagetransfer sowohl den Verein als auch die Stadt besser bewerten als Nicht-Fans. Die Fanbeziehung macht damit den Unterschied aus. Daher wurden die Bewertungen der Heim-Fans mit den regionalen Nicht-Fans und die Bewertungen der Satelliten-Fans mit denen der Outsider verglichen (. Tab.  13.3). Die Ergebnisse zeigen, dass es bei allen positiven Attributen signifikante Unterschiede in der Bewertung der betrachteten Fangruppen gibt. Das positive Vorzeichen der mittleren Differenz macht deutlich, dass die beiden Gruppen von Borussia-Fans alle positiven Attribute als signifikant zutreffender für die Stadt Mönchengladbach beurteilen als die beiden Gruppen von Nicht-Fans. Fans des Vereins Borussia Mönchengladbach bewerten somit das Image der Stadt Mönchengladbach deutlich besser als die befragten Personen ohne emotionale Verbundenheit mit dem Verein. Es konnte somit bestätigt werden, dass die Fanbeziehung einen positiven Effekt auf das Stadtimage ausübt. Um die Beziehung zwischen dem Stadtund dem Vereinsimage sowie die möglichen  

228

C. Masch

..      Tab. 13.3  Vergleich der Bewertungen von Verein und Stadt mittels der sieben Attribute zwischen Heim-Fans und regionalen Nicht-Fans sowie Satelliten-Fans und Outsidern (Post-hoc-Test). (Nach Fischer & Hamm, 2019) Fangruppen Sympathisch

Modern/weltoffen

Begeisternd

Familienfreundlich

Erfolgreich

Jung/dynamisch

13 Langweilig

Mittlere Differenz

95 %-Konfidenzintervall Untergrenze Ober-­grenze

Heim-Fans

Regionale ­Nicht-Fans

.41**

0.24

0.58

Satelliten-­ Fans

Outsider

.61**

0.45

0.77

Heim-Fans

Regionale Nicht-Fans

.29**

0.11

0.47

Satelliten-­ Fans

Outsider

.48**

0.30

0.65

Heim-Fans

Regionale Nicht-Fans

.45**

0.27

0.64

Satelliten-­ Fans

Outsider

.72**

0.54

0.90

Heim-Fans

Regionale Nicht-Fans

.28**

0.10

0.46

Satelliten-­ Fans

Outsider

.38**

0.20

0.56

Heim-Fans

Regionale Nicht-Fans

.26**

0.08

0.44

Satelliten-­ Fans

Outsider

.59**

0.41

0.77

Heim-Fans

Regionale Nicht-Fans

.20*

0.01

0.39

Satelliten-­ Fans

Outsider

.36**

0.17

0.55

Heim-Fans

Regionale Nicht-Fans

−0.18

−0.38

0.02

Satelliten-­ Fans

Outsider

−.49**

−0.70

−0.29

*p-Wert < 5 %; **p-Wert < 1 %

Einflüsse zu bestimmen, wurden zusätzlich lineare Regressionsanalysen durchgeführt (. Tab. 13.4). Im ersten Modell wurde der Stadtimage-Index als abhängige und der Vereinsimage-Index als unabhängige Variable eingesetzt. Der Regressionskoeffizient ist mit 0,500 positiv und hochsignifikant.  

Das bedeutet: Je besser das Vereinsimage bewertet wird, desto positiver wirkt es sich auf das Stadtimage aus. Es findet also ein positiver Imagetransfer vom Verein auf die Stadt statt. Im zweiten Modell wurden zusätzlich die Fanbeziehung und die Herkunft der Be-

2,842

−0,405 0,212

0,188

176,969

Interesse

R2

F

*p-Wert < 5 %; **p-Wert < 1 %; a = Referenzgruppe: Sympathisanten

22,500

2,210

−0,197

Alter

61,813

2,245

−1,710

Geschlecht

0,214

3,551

3,692 9,667**

1,593

3,324

2,916

0,052

4,828

Standardfehler

Outsidera

Regionale

17,669**

Nicht-Fansa

4,505

0,460**

4,599

Koeff.

Satelliten-Fansa

−5,511

3,147

9,356

3,904

T

Modell 3

Heim-Fansa

1,976

0,047

−10,888**

0,441**

3,503

Herkunft

13,303

13,674**

2,232

0,038

2,293

7,023**

0,500**

Vereinsimage

3,056

Standardfehler

Fan

7,008*

Konstante

Koeff.

T

Koeff.

Standardfehler

Modell 2

Modell 1

.       Tab. 13.4  Abhängigkeiten des Images der Stadt Mönchengladbach (Regressionsanalysen). (Nach Fischer & Hamm, 2019)

−0,142

−0,089

−0,762

2,723

0,431

5,316

1,545

8,870

0,953

T

Beziehungen zwischen Vereins- und Stadtimage – eine empirische Analyse… 229

13

230

C. Masch

fragten als Moderatorvariablen eingesetzt. Die Beziehung zwischen Stadt- und Vereinsimage bleibt dabei unverändert. Das Ergebnis zeigt darüber hinaus, dass sowohl die Fanbeziehung als auch die Herkunft einen Einfluss auf das Stadtimage nehmen. Der positive und signifikante Regressionskoeffizient der Variablen „Fan“ unterstützt die bisherigen Analyseerkenntnisse, dass Fans das Stadtimage besser beurteilen als Nicht-­Fans. Der Regressionskoeffizient der Variable „Herkunft“ ist hingegen signifikant negativ. Die befragten Personen aus der Fanregion bewerten das Stadtimage schlechter als die Personen von auswärts. Das Eigenimage der Stadt Mönchengladbach scheint somit schlechter zu sein als das Fremdimage (7 Box 13.1). Im dritten Modell wurden noch weitere Moderatorvariablen getestet. Neben den vier Fangruppen wurden auch persönliche Faktoren wie das Geschlecht, das Alter und das Fußballinteresse berücksichtigt. Auch hier bestätigt der stabile und signifikante Koeffizient die festgestellte Beziehung zwischen Stadt- und Vereinsimage, während das Geschlecht, das Alter und das Fußballinteresse einer Person keinen signifikanten Einfluss auf die Bewertung des Images der Stadt Mönchengladbach ausüben. Die Befragten von außerhalb der Fanregion bewerten das Image der Stadt Mönchengladbach signifikant besser als die Personen, die innerhalb der Fanregion wohnen. Die Kombination aus deskriptiven Auswertungen, Varianz- und Regressionsanalysen stützen die Hypothese, dass im Fall von Borussia Mönchengladbach ein Imagetransfer vom Verein auf die Stadt erfolgt. Der Verein hat einen positiven Einfluss auf das Image seines Standorts und stellt laut Einschätzung der Befragten den wichtigsten Imageträger für die Stadt Mönchengladbach dar.  

13

 rgebnisse der assoziativen E Markennetzwerke Die Resultate der Multi-Item-Methode aus den Befragungen werden abschließend mit den Ergebnissen aus den assoziativen Markennetzwerken verglichen. . Abb. 13.3 zeigt die erstellten Makronetzwerke für die befragten Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt Mönchengladbach sowie für die befragten auswärtigen Personen. Die beiden Makronetzwerke geben Auskunft über das Image der Stadt Mönchengladbach und darüber, welche Rolle der Verein Borussia Mönchengladbach darin einnimmt. Die schwarzen Zahlen in den Feldern der einzelnen Assoziationen geben dabei an, wie häufig Assoziationen zu diesem Themenbereich genannt wurden. Die orangenen Zahlen zeigen, wie die jeweilige Assoziation durchschnittlich bewertet wurde. Dafür stand den Probandinnen und Probanden eine Fünferskala von „1  – sehr negativ“ bis „5  – sehr positiv“ zur Verfügung. Bei den Makronetzwerken ist sofort ersichtlich, dass das Image der Stadt Mönchengladbach durch viele verschiedene Faktoren beeinflusst wird. Diese reichen von der Lage und Infrastruktur über Sehenswürdigkeiten und Institutionen bis hin zur Wirtschaft. Das Makronetzwerk der Einwohnerinnen und Einwohner ist umfangreicher und detaillierter als das der befragten auswärtigen Personen. Dieses Ergebnis war aufgrund des besseren Kenntnisstands über die Stadt zu erwarten. In beiden Makronetzwerken befinden sich zudem Assoziationen zu Borussia Mönchengladbach. Die Einwohnerinnen und Einwohner nannten insgesamt 22 Assoziationen, die direkt mit Borussia Mönchengladbach in Verbindung stehen. Bei den Auswärtigen waren es sogar 43 Assoziationen.  

13

231 Beziehungen zwischen Vereins- und Stadtimage – eine empirische Analyse…

7

7 Niederrhein 4,29

10 NRW 3,90

8 Düsseldorf 4,13

29 Lage 3,55

Ess- und 4,00 Trinkkultur

6

Nähe 4,67 Niederlande

6 Textilien 4,00 Wirt18 schaft 3,83 Hoch- 4,41 34 schule

50

4 Arbeit 2,75 5 Sport 4,00

33

6 Shopping 4,50

Fußball24 persönlich- 4,05 keiten

43 Borussia MG 4,02

21 Infrastruktur 2,71 Aktivitäten, Sehens- 3,65 72 würdigkeiten

33 Fußball 4,06

26

7

4

Gesellschaft 2,46

16 Schloss Rheydt 4,0

Textilindustrie 3,4 Arbeit/ 47 Unternehmen 3,5

9

Schloss Wickrath 3,5

6

Beziehung 4,00

9 Haus Zoar 4,6

13 Bunter Garten 4,2

6

45 Sport 4,0 22 Borussia MG 4,1

9 Alter Markt 3,0 Mönchengladbach aus 30 3,4 Sicht der Einwohner

31 Innenstadt 3,2

Museum Abteiberg 3,5

77 Freizeit 3,9

Sehens90 würdigkeiten 3,8

42 Lage 4,0

49 Night-life 3,5

35 Verkehr 2,91

Kaiser- 3,7 Friedrich-Halle

7 Hockeypark 4,6

6 Düsseldorf 4,2

6 Minto 4,33

Mönchengladbach aus 3,21 Sicht von Auswärtigen

8 BORUSSIAPARK 4,25

Stadtbild 2,60

49 Fußball 4,0

8 BORUSSIAPARK 4,1

6 Stadion 4,0 23 Minto 4,0

7 Shopping 3,7

Einkaufs58 möglich- 3,8 keiten

Aufbau der 56 Stadt/Stadtteile/ 9 Straßen 11 Rheydt 2,0

58 Stadtbild 2,3

53 Verkehr/ 2,6 Auto

40 Menschen 2,4 8

66 Hochschule 4,3 Arbeits- 1,0 6 losigkeit

asozial 1,0

..      Abb. 13.3  Makro-Markennetzwerke zur Stadt Mönchengladbach. (Nach Fischer, 2018)

232

13

C. Masch

Hinzu kommen viele Nennungen, die sich allgemein auf Fußball, Stadion oder Fußballpersönlichkeiten des Vereins beziehen. Diese Assoziationen sind durchweg positiv und werden durchschnittlich mit mindestens 4,0 bewertet. Das Ergebnis zeigt, dass der Imagetransfer, der von Borussia Mönchengladbach ausgeht, vorteilhaft für die Stadt ausfallen muss, weil der Verein und alles, was damit in Verbindung steht, positiv von den befragten Personen wahrgenommen wird. Um das zu bestätigen, wurde geprüft, wie sich die Imagebewertung der Stadt Mönchengladbach verändern würde, wenn man die Assoziation bezüglich der Borussia und Fußball im Allgemeinen aus den Makronetzwerken entfernen würde. Zunächst ergibt sich für alle Assoziationen der Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt eine mittlere Bewertung von 3,51. Ohne die Assoziationen, die in Verbindung mit Fußball und Borussia Mönchengladbach stehen, sinkt der Durchschnitt um 0,05 Punkte auf 3,46. Betrachtet man die ­Bewertungen der auswärtigen Personen, erhält man einen Mittelwert von 3,61. Ohne Fußball und Borussia Mönchengladbach verschlechtert sich die Imagebewertung bei den auswärtigen Personen um 0,16 Punkte auf 3,45. Dies bestätigt einen positiven Einfluss von Borussia Mönchengladbach auf das Image der Stadt Mönchengladbach. Insbesondere für die auswärtigen Befragten nimmt der Verein eine wichtige Rolle im Stadtimage ein. Rund ein Fünftel aller Assoziationen der Auswärtigen haben etwas mit Fußball oder Borussia Mönchengladbach zu tun. Die assoziativen Markennetzwerke bestätigen, dass der Verein einen wichtigen Imageträger für die Stadt Mönchengladbach darstellt. Dies gilt für die Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt, aber insbesondere auch für Personen von außerhalb. Der Imageeinfluss, der vom Verein ausgeht, ist dabei ein überwiegend positiver, wie die guten Bewertungen der Assoziationen im Zusammenhang mit Borussia Mönchengladbach zeigen.

13.4 

Fazit und Ausblick

Die Studie kommt mithilfe verschiedener Methoden zu dem Ergebnis, dass ein professioneller Sportverein einen Einfluss auf den Bekanntheitsgrad und das Image seines Standortes ausüben kann. Wie stark dieser Einfluss ausfällt, hängt jedoch von verschiedenen Faktoren ab. Zum einen spielt die Sportart eine entscheidende Rolle und damit die mediale Aufmerksamkeit, die der Verein und dadurch auch die Standortkommune erhält. Zum anderen bestimmen aber auch Gegebenheiten am Standort, inwieweit der professionelle Sportverein einen Einfluss ausüben kann. Im Falle von Borussia Mönchengladbach handelt es sich um einen Sportverein mit langer Tradition, der insbesondere durch seine Erfolge in den 1970er-Jahren nationale und internationale Aufmerksamkeit erhielt. Die Stadt Mönchengladbach verfügt über keine überregional bekannten Wahrzeichen und Sehenswürdigkeiten, wie Berlin, Köln oder München. Dadurch ist es nicht verwunderlich, dass Borussia Mönchengladbach als wichtigster Imageträger der Stadt Mönchengladbach angesehen wird und auch in den assoziativen Markennetzwerken eine zentrale Position einnimmt. Interessant wären in diesem Zusammenhang vergleichbare Studien für ähnliche Standorte, aber auch für Standorte mit einem überregional wahrgenommenen Angebot an weiteren Kultur- und Freizeitangeboten. Es ist zu vermuten, dass ein Sportverein in diesen Metropolen eine weniger wichtige Rolle für das Stadtimage innehat, als es bei Städten mit einem geringeren Freizeit- und Kulturangebot der Fall ist. Für die Städte und insbesondere das Stadtmarketing sind die vorliegenden Ergebnisse von Interesse, um sich im zunehmenden Standortwettbewerb besser zu positionieren. Professionelle Sportvereine können zu einer Bekanntheitsgradsteigerung und Imageverbesserung des Standorts beitragen und so die Stadtverwaltung bei ihren

233 Beziehungen zwischen Vereins- und Stadtimage – eine empirische Analyse…

Bemühungen im Marketing unterstützen. Eine enge Zusammenarbeit zwischen Verwaltung, Stadtmarketing und Sportverein ist daher hilfreich, um die bestmöglichen Ergebnisse in der Vermarktung des Standorts für relevante Zielgruppen zu erzielen. ? Übungs- und Reflexionsaufgaben 1. Beschreiben Sie die verschiedenen nachfrageseitigen und angebotsseitigen Effekte, die von einem Sportverein auf seinen Standort ausgehen können. 2. Diskutieren Sie, ob es einen Unterschied zwischen dem Imageeffekt von Borussia Mönchengladbach auf die Stadt Mönchengladbach und dem Imageeffekt des FC Bayern München auf die Stadt München geben könnte. Wie könnte der Unterschied aussehen?

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235

Gesellschaft und Sport Inhaltsverzeichnis Kapitel 14 Soziokulturelle Veränderungsprozesse des Empowerments durch Frauenfußball – 237 Janine Maier Kapitel 15 Sport verbindet – Migration im Profisport – 253 Sebastian Rauch Kapitel 16 Soziale Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshin­tergrund im organisierten Sport – zwei Beispiele in der Schweiz – 271 Jenny Adler Zwahlen Kapitel 17 Sozialräumliche Analyse von Sporträumen in Stadtquartieren – 287 Robin Kähler und Finja Rohkohl Kapitel 18 Die identitätsstiftende Wirkung von Sportstätten und Sportvereinen – der Hockenheimring und der 1. Fußballclub Kaiserslautern – 305 Paul Gans und Michael Horn Kapitel 19 Sporttourismus – Reisemotivation von deutschen Fußballfans bei der WM 2014 in Brasilien – 321 Fabio P. Wagner und Julian M. L. Wilsch

IV

237

Soziokulturelle Veränderungsprozesse des Empowerments durch Frauenfußball Janine Maier

Fußball spielende Mädchen im jordanischen Flüchtlingslager Zaatari. (© Janine Maier)

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Gans et al. (Hrsg.), Sportgeographie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66634-0_14

14

Inhaltsverzeichnis 14.1

Soziokulturelle Veränderungsprozesse des Empowerments – 239

14.2

Soziokulturelle Veränderungsprozesse des Empowerments durch und im Frauenfußball – 243 I ndividuelle Ebene – 243 Gesellschaftlich-kulturelle Ebene – 244 Organisational-strukturelle Ebene – 246

14.3

 ntwicklungskick? – Potenziale und Grenzen E von Empowerment im Frauenfußball – 250 Literatur – 251

239 Soziokulturelle Veränderungsprozesse des Empowerments durch...

Einleitung „Ging es anfangs darum, überhaupt spielen zu dürfen, streben die Frauen heute danach, als Profis anerkannt und als Spitzensportler angemessen bezahlt zu werden“ (Martínez Lagunas, 2019). Diese Professionalisierung und Entwicklung des Frauenfußballs zeigen sich insbesondere im Leistungssport. Auf dieser Ebene erreichen die Diskussionen um gleichberechtigte Bedingungen weltweit einen neuen Höhepunkt. Doch auch abseits des Leistungssports werden eine zuneh­ mende gesellschaftliche Akzeptanz und damit verbundene Entwicklungen durch den Frauenfußball deutlich, wie das gemeinsame Spiel eines deutschen und eines jordanischen Mädchens im Flüchtlingslager Zaatari zeigt (Kapiteleröffnungsbild). Sowohl in Jordanien als auch in Deutschland haben sich in den letzten Jahren die Einschränkungen für Fußballerinnen reduziert und sich persön­ liche, kulturelle und strukturelle Entwick­ lungen vollzogen. Die nach wie vor existie­ renden geschlechtsspezifischen Unterschiede im Fußballsport werden in Zeiten des ge­ sellschaftlichen Wandels auf allen Ebenen neu verhandelt. Frauenfußball kann hier helfen, althergebrachte Rollenvorstellungen und eingeschränkte Freiräume aufzubrechen und neu zu justieren (7 Kap.  9 und  16). Laut Scraton et  al. (1999, S.  99) ist die zu­ nehmende weibliche Beteiligung im Fußball  

ein Produkt des weiblichen Empowerments, das mit individuellen, gesellschaftlichen und institutionellen Entwicklungsmöglichkeiten gekoppelt ist: „Women’s access to football can be seen as a political outcome of a liberal-­ feminist discourse that centres on equal opportunities, socialization practices and legal/institutional reform.“ Vor diesem Hintergrund erweist sich das Empowerment-­ Konzept als passendes Grundgerüst für die Analyse der Geschlechterungleichheiten im gesellschaftlichen Subsystem „Fußball“ und der damit verbundenen Veränderungsprozesse (7 Kap. 15).  

14.1 

Soziokulturelle Veränderungsprozesse des Empowerments

Zur Analyse des Wandels stehen ins­ besondere drei Ebenen des Empowerments im Fokus: die individuelle, gesellschaftlich-­ kulturelle und organisational-strukturelle Ebene. Sie sind stets mit der Verbindung von Sport und Entwicklung zu denken. So ent­ steht ein Dreiklang aus dem Zusammenspiel von Frauenfußball, Entwicklung und Em­ powerment (. Abb. 14.1). Der Begriff Entwicklung bündelt in die­ sem Zusammenhang die Vorstellungen von einer gewünschten Veränderungsrichtung in  

regionaler soziokultureller Kontext Frauenfußball

Entwicklung

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Empowerment

Entwicklung des Frauenfußballs

individuelle Ebene

Entwicklung durch Frauenfußball

organisationalstrukturelle Ebene

gesellschaftlichkulturelle Ebene

..      Abb. 14.1  Dreiklang: Frauenfußball – Entwicklung – Empowerment. (Nach Maier, 2020, S. 35)

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diversen Bereichen (gesellschaftlich, wirts­ chaftlich, politisch, kulturell, ökologisch, in­ dividuell oder technologisch) und beinhaltet dabei Ziele wie die Respektierung der mens­ chlichen Würde, Befriedigung der Grund­ bedürfnisse, Gleichberechtigung der Ge­ schlechter oder wirtschaftliches Wachstum (Kevenhörster & van den Boom, 2009, S. 19). Kern des Empowerment-Konzepts ist es, dass Sportlerinnen und Sportler ein selbstbestimmtes Handeln sowie eine soziale und (sport-)politische Teilhabe erreichen und so die eigenen Interessen auf ver­ schiedenen gesellschaftlichen Ebenen durch­ setzen können. Dafür müssen grundlegende Entwicklungsvoraussetzungen wie Zugang zu Bildung und zu geschützten Räumen ge­ schaffen werden. An dieser Stelle kann der Sportraum eine positive Wirkung entfalten (7 Box 14.1).  

Box 14.1 Sportraum

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Dieser Beitrag versteht unter Sportraum ein sportartspezifisches Funktions-, Str­ uktur-, Sportstätten- und Wahrnehm­ ungsgefüge, welches durch die sozio­ kulturellen Praktiken der darin inter­ agierenden Akteurinnen und Akteure geprägt wird und ein sich veränderbares Konstrukt darstellt. Ein Sportraum kann sich auf verschiedene räumliche Dimen­ sionen, z.  B. lokal, regional, national, international, beziehen.

Diese Entwicklungen im Sport können sich auf zwei Arten vollziehen: Zum einen ist eine Entwicklung des Sports möglich, was die Weiterentwicklung des Sports, dessen ad­ ministrative Organisation und Sportinfra­ struktur meint. Zum anderen kann sich eine Entwicklung durch Sport vollziehen. Diese bezieht sich auf Sport als Instrument zur Er­ reichung sozialer, politischer und wirtschaft­ licher Entwicklungsziele (Levermore & Be­ acom, 2012, S.  8). Vor diesem Hintergrund wird in diesem Beitrag die Annahme formu­ liert, dass Fortschritte im Frauenfußball nicht nur Veränderungsprozesse in der Spor­ tart selbst auslösen, sondern ebenso bei den beteiligten Akteurinnen und in deren Um­ feld. Eine Entwicklung des Frauenfußballs bedeutet gleichzeitig eine Entwicklung durch den Frauenfußball. Diese beiden Ent­ wicklungsstränge manifestieren sich wiede­ rum im Empowerment auf individueller, gesellschaftlich-­kultureller und organisatio­ nal-struktureller Ebene. 7 Box 14.2 gibt einen Überblick, welche ausgewählten Ele­ mente auf diesen drei Ebenen im Bereich Empowerment im Frauenfußball themati­ siert werden können.  

241 Soziokulturelle Veränderungsprozesse des Empowerments durch...

14

Box 14.2 Ebenen des Empowerments im Frauenfußball (nach Maier, 2020)

Individuelle Ebene 55 Bedeutung von Körperlichkeit und per­ sönlicher Bewegungserfahrung 55 Persönliche Motivation und Leidenschaft für eine Sportart 55 Individuelle(r) Leistungsanspruch und -fä­ higkeit (Resources) 55 Bewusstsein für die gesellschaftliche Situ­ ation (Conscientization) und Handlungs­ fähigkeit (Agency) 55 Bedeutung/Rolle von eigenen Vorbildern Gesellschaftlich-kulturelle Ebene 55 Gesellschaftliche Sichtweise auf den Kör­ per und dessen mediale Darstellung sowie die Rolle der Kleidung 55 Gesellschaftliche Bedeutung von Leis­ tung und Rolle einer Sportart, geschlecht­ liche Zuschreibungen und Akzeptanz 55 Soziale Gruppe/Mitstreiter, um gesell­ schaftliche Probleme zu verändern 55 Sendezeiten/mediale Sichtbarkeit/Zusch­ auerresonanz und mediale Darstellung von Vorbildern

Auf der individuellen Ebene wird jedes Indi­ viduum als Teil einer Gesellschaft mit fest­ gelegten Normen verstanden. Diese „im Rahmen eines historisch gewachsenen, kul­ turell geprägten, interessensgeleiteten und machterfüllten räumlichen Kontexts“ (WastlWalter, 2010, S.  12) entstandenen Normen werden im Rahmen der Sozialisierung vom Individuum verinnerlicht und prägen das Handeln der Person. Diese Normen können jedoch auch durch das Handeln einer Per­ son geprägt werden. An diesem Punkt setzt das Empowerment-Konzept auf individuel­ ler Ebene an. Power kann hier als persön­ liche Stärke und Durchsetzungskraft im All­ tag gedeutet werden und durch einen individuellen Einsatz mitunter auch zu ge­ sellschaftlichen Veränderungen führen. Al­ lerdings benötigt es hierzu sogenannte Re-

Organisational-strukturelle Ebene 55 Vorhandensein von leistungsfördernden Strukturen: Schulsport (Möglichkeit, Be­ wegungserfahrung zu sammeln); Initiati­ ven zur Gewinnung von Spielerinnen; Ligasystem; Profi- und Amateurvereine; Talentförderung/Scouting 55 Bereitstellung von professionellen Rah­ menbedingungen für den Leistungssport: Zeit für Training/Profitum; qualifizierte Trainerinnen und Trainer; qualitativ hochwertige Sportstätten; Reisebedi­ ngungen; Bezahlung/Sponsoring; Bereit­ stellung von professioneller Kleidung (Männer- oder Frauenschnitt von Sport­ ausrüstung) 55 Männer- und Frauenanteil in bestimmten Positionen (Möglichkeit der Aus- und Weiterbildung): Trainerwesen; Funktionärs­ ebene; Führungspositionen in den Vereinen 55 Organisation von nationalen Sportgroß­ veranstaltungen 55 Mediale Berichterstattung/internationale Sichtbarkeit der Strukturen/Reichweite

sources, die materieller, sozialer oder menschlicher Natur sein können, wie Fähig­ keiten, Wissen, Erwartungen oder Wahl­ möglichkeiten (Herriger, 2006, S.  15). Ebenso ist die sogenannte Agency von Be­ deutung. Es ist entscheidend, wie die eige­ nen Ressourcen genutzt werden und ob ein Mensch als handlungsfähige, eigenwillige und gestaltende Person agieren kann und in der Lage ist, eigene Vorstellungen über die Lebensbedingungen, Bedürfnisse und Inter­ essen zu entwickeln und somit vom Objekt zum handelnden Subjekt wird (Herriger, 2006, S.  54). Dabei gilt es ein Bewusstsein für limitierende Faktoren zu erzielen, be­ stehende Muster zu durchbrechen und Neue zu implementieren. Hierfür sind grundsätz­ lich ein gewisses Maß an Selbstreflexion und eine Analyse der strukturellen Bedingungen

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des Umfelds notwendig (Herriger, 2006, S. 1). Dieser Prozess wird als Conscientization bezeichnet (Carr, 2003, S. 9). In diesem Kontext ist der Zugang zu Bildung und dem damit verbundenen Wissenstransfer un­ abdingbar. Für ein Empowerment auf indi­ vidueller Ebene sind somit vielfältige persön­ liche Kompetenzen auf intrapersonaler und interaktionaler Ebene notwendig. Auf der gesellschaftlich-kulturellen Ebe­ ­ne ist die Bedeutung einer Sportart, in der sich ein Empowerment vollzieht, von Rele­ vanz. Fußball ist zwar weltweit eine beliebte Sportart, aber dessen Stellenwert ist nicht in jedem Land gleich hoch. In jedem nationa­ len Sportraum sind bestimmte Sportarten bedeutender als andere. Markovits (2006, S. 255) spricht hierbei von einer hegemonia­ len Sportkultur, die sozial konstruiert ist, über die in den Medien berichtet und in der Gesellschaft diskutiert wird und deren In­ halte sich in ihr historisches Gedächtnis ein­ prägen. Das Ausmaß der ö ­ ffentlichen Auf­ merksamkeit ist für eine hegemoniale Stellung ausschlaggebend. Üblicherweise gibt es nur eine, maximal zwei hegemoniale Sportarten in einem Land. Weltweit be­ trachtet ist in den meisten Ländern Fußball die hegemoniale Sportart (Markovits, 2006, S.  255). Sich am Fußballsport aktiv oder passiv zu beteiligen, bedeutet somit in den meisten Fällen, in einem sozial bedeutenden Sportraum aktiv zu sein. Allerdings gilt dies nicht automatisch für alle Geschlechter zu gleichen Teilen. Je ­nachdem, ob eine Sport­ art als männlich oder weiblich konnotiert ist, sind hier Unterschiede möglich. In Gesell­

schaften, in denen Sportarten wie Fußball männlichen Konnotationen zugeschrieben werden und als „Arena der Männlichkeit“ (Spitaler, 2006, S. 45) sozial konstruiert und etabliert sind, ist die aktive oder passive Teil­ nahme von Frauen im Fußballsport zumeist mit Problemen verbunden. Kulturelle, histo­ rische und religiöse Faktoren prägen den Grad der Geschlechterungleichheit. Um die­ sen Problemen begegnen zu können und einen Einfluss auf die Community zu er­ langen, ist eine aktive Teilhabe, die Participatory Competence, notwendig (Schulz et  al., 1995, S. 311). Insbesondere die Einbindung in eine Gruppe mit Gleichgesinnten und glei­ chen Werten kann Veränderungsprozesse be­ schleunigen. Die vormals gefühlte Isolation bzw. Unterlegenheit wird so durch die Gruppe reduziert und resultiert in ge­ meinsamen Aktivitäten (Herriger, 2006, S. 55 ff.). Durch das kollektive Handeln der Gruppe kann eine gesamtgesellschaftliche Wirkung erzielt werden, in dem sich die Mit­ glieder der Community dafür einsetzen, die Werte der Gruppe nach außen hin zu reprä­ sentieren (Carr, 2003, S. 15). Diese gemeinsamen Aktionen können auch einen Einfluss auf die organisationale und institutionelle Ebene haben und dort strukturelle Veränderungen erwirken. Auf sportpolitischer Ebene geht es dabei konkret um die Anpassung von Regeln und Struktu­ ren in den jeweiligen Instanzen oder die Ein­ flussnahme von Frauen als Entsche­ iderinnen. Allerdings spielen hierbei neben formalen Gesetzen auch häufig informelle Normen eine zentrale Rolle.

243 Soziokulturelle Veränderungsprozesse des Empowerments durch...

14.2 

Soziokulturelle Veränderungsprozesse des Empowerments durch und im Frauenfußball

Die Entwicklungen auf den eben auf­ geführten Ebenen können anhand eines aus­ gewählten regionalen soziokulturellen Kon­ texts thematisiert werden. Hierbei sind primär drei Entwicklungsstränge hervorzu­ heben. Die Betrachtung des Frauenfußballs in Deutschland und England kann stellver­ tretend für Länder stehen, in denen eine Etablierung unter der Vormachtstellung des Männerfußballs erforderlich war und sich trotz zwischenzeitlicher Verbote und er­ schwerter Bedingungen mittlerweile ein Aufschwung vollzogen hat. In den USA gel­ ten seit Beginn an andere Bedingungen für den Frauenfußball. Hier nimmt der Männer­ fußball keine dominante Stellung ein, und der Frauenfußball konnte mit einem „ame­ rikanischen Sonderweg“ (Markovits, 2006, S.  271) erfolgreich eine vorhandene Nische besetzen. Neben diesem Umstand profitierte der Frauenfußball in den USA zudem von der Verabschiedung des Title IX Federal Education Amendment (7 Box 14.3).  

 ox 14.3 Title IX Federal Education AmendB ment (1972)

Dieses Gesetz verpflichtet alle vom Staat geförderten Bildungseinrichtungen in den USA, die Chancengleichheit beider Ge­ schlechter zu gewährleisten (Markovits, 2006, S.  264). Dies ermöglichte es Mäd­ chen, in wachsender Anzahl an den von Schulen und Colleges angebotenen Sport­ arten teilzunehmen. Title IX zeigt, dass Erfolge im Frauensport durch Reformen von oben möglich sind (Braun, 2016, S. 43).

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Neben diesen Entwicklungssträngen ist weltweit eine Öffnung des zuvor für Frauen verschlossenen Sportraums Fußball zu be­ obachten (7 Box 14.1). Stellvertretend dafür kann der Aufstieg des Frauenfußballs in ara­ bischen Ländern genannt werden. In Jorda­ nien beispielsweise haben die Aufhebung des Kopftuchverbots und die Unterstützung durch den dortigen Verbandspräsidenten, den ehemaligen FIFA-­Vizepräsidenten und Halbbruder des Königs, Prinz Ali bin al-Hussein, für einen Aufschwung gesorgt (Lettenbauer, 2014). Auch in Saudi-Arabien haben Frauen in den vergangenen Jahren neue Freiheiten im Sport erhalten. Stadion­ besuche und die aktive Sportausübung sind mittlerweile erlaubt. Durch Monika Staab, die seit 2021 als erste Trainerin der Frauen­ fußball-Nationalmannschaft von SaudiArabien fungiert, sollen neue Strukturen (z. B. Frauen- und U-­National­mannschaften, Ligasystem) etabliert, mehr Spielerinnen für den Frauenfußball begeistert und die ge­ sellschaftliche Akzeptanz erhöht werden (Strohschein, 2021). Vor dem Hintergrund der spezifischen Rahmenbedingungen im Nahen Osten, die Frauen bei der Sportaus­ übung nach wie vor begegnen, wird auf der individuellen und gesellschaftlichen Ebene primär das Beispiel Jordaniens aufgegriffen. Hier wird eine Entwicklung durch Frauenfußball deutlich. Auf der organisational-­ strukturellen Ebene wird auf den europäi­ schen Kontext näher eingegangen. Hier kann eine deutliche Entwicklung im Frauenfußball aufgezeigt werden.  

Individuelle Ebene Zunächst werden Prozesse des Empowerments im Frauenfußball thematisiert, die sich primär auf individueller Ebene voll­ ziehen. Durch körperliche Aktivität können neue Bewegungserfahrungen gesammelt

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werden, die emotional und biographisch im Körpergedächtnis bleiben und die eigene Körperwahrnehmung sowie das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten beeinflussen. Eigenschaften, die hinzugewonnen werden können, sind mitunter Kampfgeist, Durch­ setzungsvermögen, Selbstdisziplin und Wett­ bewerbsorientierung. Aber auch die Resilienz, d. h. die psychische Widerstandskraft, wird durch wiederholte Versuche, eine passende Strategie zu finden, verstärkt. Diese durch den Fußball hinzugewonnenen Erfahrungs­ werte und den Einfluss auf das weibliche Empowerment beschreibt auch Yanal Mal­ kosh, lokaler Medienbeauftragter der Asian Football Confederation (AFC) und Ab­ teilungsleiter Medien und Kommunikation im jordanischen Fuß­ ballverband während der U-17 Juniorinnen-Weltmeisterschaft 2016. „I think the girls develop their perso­ nality. Especially living in the Middle East most girls can’t afford traveling. They are tra­ veling with the team. They are meeting new cultures. That opens up their minds. They learn to take responsibility, to do their job and to plan their day. And they are learning to stand up for themselves, in trainings and competing against each other in the game. And competing in the sport, to be in the starting line-up. I think that is all empowe­ ring. So, football in Jordan is empowering girls“ (Maier 2020, Interview 2, S. 124–127). Diese gestärkten Identitäten sind nicht nur im Sport selbst, sondern auch im Umgang mit Alltagssituationen hilfreich. ­ Hierbei bietet der Fußball zudem das Poten­ zial, gesellschaftlich produzierte Körper­ ordnungen und Geschlechterzuordnungen zu verändern, was Brady (2005, S. 35 f.) be­ stätigt: „By seeing girls in this new action-­ oriented role, boys learn about the strengths, capabilities and contributions of girls and women, which in turn may begin to reshape male perception of appropriate roles for fe­ males.“ Neben dem Einfluss der sportlichen Betätigung auf die Beziehung zwischen den Geschlechtern vermittelt die Teamzuge­

hörigkeit den Spielerinnen ein stärkendes Gemeinschaftsgefühl und den Zugang zu neuen Netzwerken, was Brady (2007, S.  2) ebenso hervorhebt: „Affiliation with a re­ cognized team or group provides girls with a sense of belonging, and their role as a team member offers an identity beyond the do­ mestic realm. Participation in sports pro­ grams helps draw girls into a network of in­ stitutions, programs, and mentors to which they would otherwise not have access.“ Bei­ spielsweise wurden in Jordanien zuletzt ver­ stärkt ehemalige Spielerinnen in den Führungspositionen des Verbands und bei der Organisation der örtlichen Sport­ großveranstaltungen (z. B. FIFA U-17 Juniorinnen-Weltmeisterschaft 2016, Asian Cup 2018) eingebunden. Dies ist ein wichti­ ges Signal für Frauen in Führungspositionen in arabischen Ländern. Damit ist eine di­ rekte Verknüpfung mit der gesellschaftlich-­ kulturellen Ebene gegeben.

Gesellschaftlich-kulturelle Ebene Auch wenn Frauenfußball inzwischen ver­ stärkt in von Männern dominierten Fuß­ ballräumen an Ansehen gewinnt, sind Widerstände in den verschiedensten Be­ reichen sichtbar (Hartmann-Tews & Pfister, 2003, S.  280). Der Grad des Widerstands und der Geschlechterungleichheit ist durch kulturelle, religiöse, politische und ge­ sellschaftliche Gegebenheiten bedingt. Ver­ änderungspotenziale sind abhängig davon, inwieweit und wie schnell die über lange Zeit verfestigten Normen veränderbar sind (Wastl-Walter, 2010, S. 12). In Ländern mit patriarchalisch und traditionell geprägten Gesellschaftsstrukturen sind die Wider­ stände zumeist deutlich größer als in moder­ nen Gesellschaftsformen. In muslimisch ge­ prägten Ländern war lange Zeit nicht an eine fußballerische Betätigung von Frauen zu denken. Trotz deutlicher Hürden haben sich in den verschiedenen Ländern des

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Nahen Ostens (MENA)1 Sportlerinnen über lim female under FIFA’s law. This suggests Restriktionen hinwegsetzen können, sich that Muslim females are active agents in Strukturen für den Frauenfußball ent­ their own lives and on a global level.“ wickelt, und es zeigt sich eine fortschreitende Ohne diesen Gruppenprotest der Spiele­ gesellschaftliche Akzeptanz (Hartmann-­ rinnen und den Aufruf zu weltweiten Kam­ Tews & Pfister, 2003, S. 270–273). Diese ge­ pagnen wäre das FIFA-Verbot möglicher­ sellschaftlichen Entwicklungsschritte wer­ weise nicht aufgehoben worden, was nun ca. den im haschemitischen Königreich Jorda­ 600 Mio. muslimischen Frauen den Zugang nien maßgeblich durch Königin Rania und zu Fußball auf internationaler Ebene er­ Prinz Ali bin al-Hussein angestoßen. Mo­ möglicht (Hamzeh, 2015, S.  526). Dieses nika Staab betont, dass der Frauenfußball Beispiel zeigt, dass der Fußballplatz eine in Jordanien vorangeht, weil die Königin Arena sein kann, in der es möglich ist, zu­ diese Sportart unterstützt (Maier 2020, sammen mit einer Gruppe von Gleich­ Interview 10, S. 22 f.), und Culpepper (2016) gesinnten, traditionelle Geschlechterrollen bezeichnet Prinz Ali als „supporter of wo­ und soziokulturelle Bedingungen für Frauen men’s soccer“. Wichtig war Prinz Ali auch im Sport zu verändern. Durch das kollektive für die Spielerinnen im Kampf um das Handeln der Gruppe kann eine gesamt­ Kopftuchverbot der FIFA aus dem Jahr gesellschaftliche Wirkung erzielt werden 2007. Hamzeh (2015, S.  526) hebt hervor, (Carr, 2003, S.  15). Tiesler (2012, S.  110) dass er den Protest und die Argumente der spricht in diesem Zusammenhang vom Spielerinnen ernst genommen hat und als Frauenfußball als Feld für Gender Trouble wichtige Kontaktperson gegenüber der und von Frauen im Fußball, die als Gender FIFA fungierte. Im Jahr 2011 begannen die Trouble Maker hegemonial etablierte Struk­ jordanischen Nationalspielerinnen, das Hi- turen herausfordern. Der Kern des Wandels jab-Verbot der FIFA aktiv zu bekämpfen, hat sich laut Mervat Abdullah, Mutter einer und hatten 2012 mit Unterstützung der Ver­ jordanischen Fußballnationalspielerin, ins­ einten Nationen Erfolg. Seitdem können besondere in den letzten Jahren vollzogen: muslimische Frauen auf dem Fußballplatz „Since five years ago, we have witnessed a den Hijab, ein Kopftuch, das Gesicht und major change in society“ (Culpepper, 2016). Nackenbereich verdeckt (Kay, 2006, S. 359), Maher Abu Hantash, Co-Trainer der U-17-­ auf dem Fußballplatz tragen. Hamzeh Juniorinnen-­Nationalmannschaft während (2015, S. 517) beschäftigt sich in einer Studie der WM 2016, gibt einen Überblick zu die­ speziell mit diesem Kampf, und die Ergeb­ sen gesellschaftlichen Veränderungen: „It nisse zeigen, dass „the Muslim female foot­ was a tough start. The biggest challenge was ball players on the Jordanian national team getting society to accept the idea of girls exposed the FIFA’s Islamophobic hijabo­ playing football. When we talked to families, phobia in its interpretation of Law 4. They many did not agree with it. But over time, as acted with resilience and political savviness the game became popular in schools and to regain the right to play while being Mus­ universities and the national team began to do well, it started to become more normal“ (N. N., 2015). Jordanische Spielerinnen spielen nicht 1 MENA = Middle East and North Africa: Die von der UNWTO geführte Kategorie Middle East Re­ nur Fußball für sich selbst, sondern können gion umfasst die Länder Ägypten, Bahrain, Irak, durch ihr Handeln die Bedingungen für die Jemen, Jordanien, Katar, Kuwait, Libanon, Li­ aktuellen und zukünftigen Generationen byen, Oman, Palästina, Saudi-Arabien, Syrien nachhaltig beeinflussen. Dies ist ins­ und die Vereinigten Arabischen Emirate, die Kate­ gorie North Africa Region Algerien, Marokko, besondere der Fall, wenn sie als Vorbild und Sprachrohr für Gefühls- und Meinungs­ Sudan und Tunesien (UNWTO, 2019, S. 1, 4).

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äußerungen fungieren und dadurch struktu­ relle Veränderungen erwirken. Doch nicht nur auf Ebene der jordani­ schen Nationalmannschaften wird eine Ent­ wicklung durch Sport forciert, sondern auch im Breitensport. Auch hier werden neben dem Selbstzweck der eigenmotorischen Aktivität die entwicklungsfördernden Eigen­ schaften von Fußball in physischer, psychi­ scher und sozialer Hinsicht genutzt. So wird beispielsweise Sport in der Entwicklungs­ zusammenarbeit im jordanischen Flücht­ lingslager Zaatari eingesetzt. Von versch­ iedenen nationalen und internationalen Unterstützenden werden sowohl infra­ strukturelle Investitionen getätigt als auch Maßnahmen des inszenierten Fußballs initi­ iert und finanziert. Diese Maßnahmen um­ fassen primär die Durchführung von Turnie­ ren, angeleiteten Trainingseinheiten, die Bereitstellung und Schulung von Trainerin­ nen und Trainern, die effektive Koordination der örtlichen Sportplätze sowie die Planung von neuen Sportplätzen. Der bewusste Ein­ satz von Fußball macht die Fußballplätze in Zaatari so zu Lern- und Ablenkungsräumen. Der norwegische Fußballverband hat beispielsweise in Zaatari und in jordanischen Gemeinden mehrere Fußballplätze finan­ ziert. Eines davon ist das sogenannte Nor­ way Football Field for Girls, ein Fußball­ platz exklusiv für Mädchen mit Sichtschutz (. Abb.  14.2). Auf diesem steinigen und sandigen Sportplatz organisiert das Asian Football Development Project (AFDP) zu­ sammen mit den nationalen Fußballver­ bänden Treffen zwischen Flüchtlingen und jordanischen sowie ausländischen Gruppen (z.  B.  Verbänden, Vereinen, Schulklassen). Ziel ist es, einen Austausch zwischen den Kindern zu erreichen und diese gegenseitig zu sensibilisieren (Maier 2020, S. 129–130).  

..      Abb. 14.2  Mädchenfußball im Norway Football Field for Girls im jordanischen Flüchtlingslager Zaa­ tari. (© Janine Maier)

Organisational-strukturelle Ebene Neben den Entwicklungen durch Frauen­ fußball sind in der Folge auch die Entwicklungen im Frauenfußball zu betrachten, die sich insbesondere auf die organisational-­ strukturelle Ebene beziehen. Auf dieser sind beispielsweise sportinterne Faktoren wie die Anzahl an qualifizierten Trainerinnen und Trainern, Strukturen auf Funktionärsebene, das Talentfördersystem, die Verfügbarkeit von angemessenen Sportstätten sowie die Professionalität von nationalen Ligen und den jeweiligen Vereinsstrukturen von Inter­ esse (Digel, 1999, S.  86). Gerade in diesen Bereichen haben sich in den letzten Jahren Veränderungen im Frauenfußball vollzogen, die einen unmittelbaren Einfluss auf den Empowerment-Prozess haben, diesen be­ günstigen oder hemmen können. . Tab. 14.1 zeigt anhand von fünf Säulen sportinterne Faktoren auf, die für eine strukturelle Ent­ wicklung entscheidend sind und nach­ folgend im Kontext des europäischen Frau­ enfußballs aufgezeigt werden.  

247 Soziokulturelle Veränderungsprozesse des Empowerments durch...

..      Tab. 14.1  Zentrale Säulen der strukturel­ len Entwicklung des Frauenfußballs. (Nach Maier, 2020) Säule 1

Professionalisierte Bedingungen für das Spiel selbst: nationale Liga und Vereinsstruktur

Säule 2

Vermarktung und Sponsoring sowie Erhöhung der Zuschauerakzeptanz

Säule 3

Talentförderung und Gewinnung von Nachwuchskräften; Schaffung zent­ raler Entscheidungs- und Wissens­ zentren

Säule 4

Erhöhung der Anzahl an Ver­ treterinnen und Vertretern in Ent­ scheidungsgremien und zentralen Positionen des Sports

Säule 5

Events und Sportgroßveranstaltungen

Der Frauenfußball in Europa zeichnet sich durch eine ganz besondere Dynamik aus, in welcher sich die strukturellen Ge­ gebenheiten stark verändern. Schumacher (2018) bezeichnet diese Entwicklung als „Europas Wettrüsten im Frauenfußball“. Vormals führende europäische Frauenfuß­ ballnationen wie Deutschland oder Schwe­ den werden hierbei durch eine neue Konkur­ renz aus England, Frankreich und Spanien eingeholt und teils sogar überholt. Spielerin­ nen, die in diesen Ligen spielen, berichten häufig von Bedingungen in den dortigen Topclubs (z. B. Olympique Lyon, FC Chel­ sea, FC Barcelona), die denen des männ­ lichen Profifußballs entsprechen. Am deut­ lichsten und umfangreichsten hat sich die strukturelle Entwicklung in England voll­ zogen. Professionalisierte Bedingungen in einer Sportart werden mitunter durch die Rolle des nationalen Sportverbands geprägt. Am Beispiel des englischen Fußballverbands kann die Bedeutung eines zentralen Be­ kenntnisses für den Frauenfußball und eines konkreten nationalen Entwicklungsplans aufgezeigt werden. The Football Associa­

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tion (The FA) legte nach der Weltmeister­ schaft 2015  in Kanada mit dem Gameplan for Growth eine konkrete Wachstums­ strategie mit ambitionierten Zielen vor. Diese beinhaltet beispielsweise die Er­ höhung der Anzahl an Fußballerinnen im Nachwuchsbereich, Unterstützungen für eine Leistungssteigerung der nationalen Auswahlmannschaften und die Entwicklung der Vermarktungs- und Zuschauerzahlen der Women’s Super League (WSL), die als einzige Frauenfußball-Profiliga in Europa gilt (Labbert, 2019). Um die Professionali­ sierung der Liga voranzutreiben, wurde die Anzahl der Teams reduziert, und den Clubs wurden bestimmte Auflagen für eine Teil­ nahme gesetzt. Für einen Platz in der Liga müssen die Vereine über ein bestimmtes Budget verfügen, die Frauen als Vollprofis beschäftigen, Trainerinnen und Trainer mit entsprechenden Lizenzen vorweisen, eine bestimmte Infrastruktur und Standards für Spiele, Trainingseinheiten und medizinische Versorgung gewährleisten sowie Nachwuchs­ akademien zur gezielten Talentförderung be­ treiben. Dieser Vorgabenkatalog ist ein Novum und sorgt für deutlich verbesserte strukturelle Rahmenbedingungen. Die Vor­ gehensweise des englischen Verbands kann als eine Art „Entwicklungsvorgabe von oben“ gesehen werden und wird mittels einer An­ reizfinanzierung und der damit verbundenen Bottom-up-Bewegung der Profivereine des Männerfußballs unterstützt. Der FC Chel­ sea, Manchester United, Arsenal London oder Manchester City sind Teil der WSL (Labbert, 2019). Mit diesem Kommittent gehen in England nicht nur finanzielle In­ vestitionen in die Frauenmannschaft einher, sondern auch die Bereitstellung von profes­ sionellen Infrastrukturen. Die damit ver­ bundenen finanziellen Mittel bedeuten gleichzeitig eine erhöhte Professionalität in den Frauenabteilungen der jeweiligen Clubs und für die einzelnen Spielerinnen. Der Sta­ tus, als Profi den Sport auszuüben, fördert die individuelle Leistungsfähigkeit der Spie­

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lerinnen und führt zu einer deutlich aus­ geglicheneren und attraktiveren Liga. Durch eine erhöhte Anzahl an attrakti­ ven Ligen erhöht sich die Mobilität der Spie­ lerinnen. Für die internationale Rekrutie­ rung gab es im Frauenfußball lange Zeit nur wenige Talentscouts und Manager. Daher wurde die internationale Migration von Fußballspielerinnen zumeist als Labour Love bezeichnet, was für „moving for the love of the game“ steht (Tiesler, 2012, S. 118). Mittlerweile hat sich auch hier eine Professionalisierung vollzogen und ein glo­ baler Arbeitsmarkt für Fußballspielerinnen herausgebildet (Pfister & Sisjord, 2013, S. 155). Diese Professionalisierungstendenzen haben einen direkten Einfluss auf die zweite Säule, welche Bezug auf die Vermarktung, das Sponsoring und die Zuschauer­ akzeptanz nimmt (. Tab.  14.1). Hierbei kommt den Medien die Macht und ein Stück weit auch die soziale Verantwortung zu, als soziale Akteure bei der Transformation von sportlichen Bildern und weiblichen Sport­ erfahrungen zu agieren. In den meisten europäischen Ländern, so auch in Deutsch­ land, ist jedoch im Hinblick auf die Bericht­ erstattung eine Unterrepräsentation ersicht­ lich, weil primär die Großevents wie Welt- oder Europameisterschaften das Inte­ resse der Medien wecken und dadurch keine regelmäßige Berichterstattung über den Frauenfußball stattfindet. Eine Veränderung an dieser Stelle kann eine entscheidende Rolle in einem fortschreitenden Empower­ ment-Prozess einnehmen (Skogvang, 2013, S. 106). Dass es möglich ist, dem Frauenfuß­ ball mehr medialen Raum zu geben, zeigt wiederum das Beispiel England. Im März 2021 hat The FA umfangreiche TV-Rechte an der FA Women’s Super League an den Pay-TV-Sender Sky und die öffentlich-recht­ liche Rundfunkanstalt BBC vergeben. Die damit verbundene Reichweite und die finan­ ziellen Möglichkeiten sind ein Meilenstein, den es bislang so im europäischen Frauen­ fußball nicht gab. Die Rechteinhaber zahlen  

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hierfür insgesamt rund 10 Mio. Euro. BBC überträgt 22 Partien live in den Programmen BBC 1 und BBC 2, Sky 44 Partien zur besten Sendezeit. Damit wird der englische Frauen­ fußball nicht nur durch die Wahl der Sende­ zeit, sondern auch durch die Übertragungs­ programme einer breiten Öffentlichkeit präsentiert und die Sichtbarkeit revolutio­ niert. Neben einer gezielten Entwicklung in der Vermarktung und TV-Übertragung der Liga, hat die englische Frauenliga zudem auch ein Finanzunternehmen als Liga­ sponsor gewinnen können (Deutsche Welle, 2021). Um im zunehmenden internationalen und innereuropäischen Wettbewerb weiter­ hin bestehen zu können, bedarf es einer na­ tionalen Talentförderstrategie und ent­ sprechender Trainings- und Wissenszentren, die eine fortschreitende Entwicklung er­ möglichen (dritte Säule; . Tab. 14.1). Auch auf Verbandsebene ist die Schaffung von professionellen Trainingsstrukturen für die Weiterentwicklung der Nationalmannsch­ aften unerlässlich. Führende europäische Fußballnationen haben schon früh natio­ nale Fußball-Leistungszentren aufgebaut, welche heute auch von den National­ spielerinnen genutzt werden. In Italien ent­ stand 1958 das Coverciano in Florenz, in Frankreich 1988 das Leistungszentrum Clairefontaine, in Spanien 2003 die Ciudad del Fútbol oder in England 2012 der St. Georges Park (DFB, o. J. a). Ein Projekt, welches in Deutschland zukünftig auch pro­ fessionelle Trainingsbedingungen und die Integration aller Nationalmannschaften unter einem Dach vereinen wird, ist die DFB-Akademie in Frankfurt am Main. Damit könnten zukünftig der Frauen- und Männerfußball weiter enger miteinander verknüpft werden und diese voneinander strukturell profitieren (Gutsche, 2019). Neben der Bereitstellung der professionel­ len Leistungszentren sind eine strukturierte und professionell geführte Talentsuche, -auswahl und -förderung notwendig. Zahl­ reiche führende Frauenfußballländer haben  

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249 Soziokulturelle Veränderungsprozesse des Empowerments durch...

begonnen, mehr Geld in das Mädchen­ programm zu investieren und es mit dem Jungenprogramm zu synchronisieren. In Deutschland werden Mädchen und Jungen mittlerweile gleichermaßen im DFB-Talent­ fördersystem gefördert, was ein deutlich engmaschigeres Sichtungsnetz sowie die frühzeitige Unterstützung durch quali­ fizierte Trainerinnen und Trainer an 366 Stützpunkten ermöglicht (DFB, o. J. b). In der vierten Säule steht die Erhöhung der Anzahl an Vertreterinnen und Vertretern in Entscheidungsgremien und zentralen Positionen des Sports im Fokus (. Tab. 14.1). Hierbei fehlt es im Frauenfußball häufig noch an entsprechenden Entscheiderinnen. Helen Breit, ehemalige 1. Vorsitzende „Unsere Kurve“, kritisierte diese Schieflage in Deutschland: „Die Mehrzahl der De­ legierten im DFB-Bundestag sind Männer im fortgeschrittenen Alter. Ich will nieman­ den diffamieren, aber der Querschnitt der Bevölkerung bildet sich da nicht ab“ (Hell­ mann, 2021). Diese Aussage zeigt, dass ins­ besondere auf der Ebene der Sport­ funktionäre wichtige Strukturentscheidungen zumeist von Männern getroffen werden. Der Erhalt dieser Vormachtstellung ist durch die gezielte Wahl neuer Kollegen und Nach­ folger möglich. Umgekehrt bedeutet dies auch, dass männliche Funktionäre eine Schlüsselrolle für die Veränderung der Situa­ tion innehaben. Sie haben die Positionen, diese Veränderungen zuzulassen oder aktiv zu fördern. Im Sinne des Empowerments ist es ein zentraler Baustein, Frauen auf allen Ebenen zu integrieren und so eine Ver­ änderung zu fördern. Dies gilt nicht nur für weibliche Funktionäre, sondern auch für Trainerinnen. In den meisten Fällen haben diese im Leistungssport nur eine unter­ stützende und keine führende Position (Pfis­ ter & Sisjord, 2013, S. 73). Auch die deutsche Bundestrainerin merkt diesen Umstand an: „Im Männerfußball gibt’s einfach noch keine Frauen in den wichtigen Bereichen. Da soll­ ten wir sehen, dass wir nicht danach schauen, welches Geschlecht jemand hat, sondern  

welche Qualitäten“ (Strasdas et  al., 2021). Um das Empowerment in diesen Positionen zu fördern, wurden verstärkt nationale und internationale Führungsprogramme im Fra­ uenfußball initiiert, um weitere Kompeten­ zen zu entwickeln. Einen Entwicklungsschub können auch Sportgroßveranstaltungen auslösen (. Tab. 14.1). Sportstätten, in denen sie ausgetragen werden, können Erinnerungsorte sein, denen eine besondere symbolische Bedeu­ tung zukommt. Insbesondere Fußball-Welt­ meisterschaften, Europameistersc­haften oder Olympische Spiele sind prädestiniert, solche Erinnerungsorte zu werden. Gerade für Ausrichter und für siegreiche Nationen haben diese nicht selten eine katalysierende Wirkung auf die Entwicklung einer Sport­ art und hinterlassen kollektive Er­ innerungen. Eine solche Wirkung erzielte beispielsweise die 3. FIFA Frauen-Fußball­ weltmeisterschaft 1999 in den USA, welche ein Meilenstein für die Entwicklung des Frauenfußballs in der amerikanischen Sportlandschaft ist. Die Besonderheit liegt in der Reichweite dieses Events, in dem Um­ fang der Zuschauerkulisse, in dem bis dahin nicht gekannten finanziellen Ausmaß sowie in einem hierdurch entfachten landesweiten Optimismus. Die Sender ABC und ESPN übertrugen erstmalig alle Spiele, die ameri­ kanischen Großunternehmen Coca-Cola und McDonalds engagierten sich als Haupt­ sponsoren, das Budget und die Siegprämie erreichten neue Höchstwerte. Die hohen Ausgaben rechtfertigten sich mit Rekord­ zuschauerzahlen in den Stadien und vor den Fernsehgeräten. Das im Rose Bowl Stadium in Pasadena (Texas) stattfindende Finale verfolgten 90.185 Stadionbesucherinnen und -besucher (Sportschau, 2019). So plante auch England 2022 die Europameisterschaft im eigenen Land zu einem wichtigen Meilen­ stein werden zu lassen. (Wrack, 2022). Dies verdeutlicht, wie essenziell die Vergabe einer Sportgroßveranstaltung für die Entwicklung des Frauenfußballs sein kann und welche  

250

J. Maier

Macht gleichsam die Kontinentalverbände sowie die FIFA hierbei innehaben.

14.3 

14

Entwicklungskick? – Potenziale und Grenzen von Empowerment im Frauenfußball

Der Frauenfußball hat sich auf der individu­ ellen, gesellschaftlich-kulturellen und orga­ nisational-strukturellen Ebene weiterent­ wickelt und professionalisiert. Frauen fin­ den jetzt zumeist deutlich bessere Rahmen­ bedingungen vor als noch ihre Vor­ gängerinnen. In Frankreich, England oder Spanien beispielsweise haben die National­ verbände und Topclubs des männlichen Profifußballs stark in die nationalen Frauen­ fußballstrukturen investiert und gegenüber den bisherigen Frauenfußballzentren Deu­ tschland und Schweden aufgeholt bzw. diese mittlerweile sogar überholt. Deutschland steht nun am Scheideweg, um nicht den An­ schluss zu verlieren. Der Frauenfußball muss einen Weg finden, um die Strukturen im männlichen Profifußball für sich zu nut­ zen und die eigene Professionalität und Sichtbarkeit weiter zu erhöhen. Eine nächste Bühne bieten, nach der WM 2023 in Austra­ lien und Neuseeland, die EM 2025 in der Schweiz und die WM 2027. Hierfür sind Belgien, die Niederlande und Deutschland gemeinsame Kandidaten für die Aus­ richtung (Sturmberg, 2023). Nicht nur in den führenden Frauenfußballnationen, son­ dern auch, in Anlehnung an den eingangs aufgezeigten Begriff des Sportraums, in sich neu entwickelnden Frauenfußballräumen wie in Jordanien, zeigen sich nach wie vor eine starke Dynamik und bisher nicht voll­ ständig ausgeschöpfte Potenziale des Emp­ owerments. Gerade in Ländern mit patriar­ chalisch und traditionell geprägten Gesell­ schaftsstrukturen verstärken sich die Wider­ stände von Sportlerinnen, die sich durch ein zunehmendes individuelles Empowerment

im Frauenfußball entwickeln und über Res­ triktionen hinwegsetzen können. Im Rah­ men dieser Entwicklung durch Frauenfuß­ ball zeigt sich eine fortschreitende ge­ sellschaftliche Akzeptanz, und es entwickeln sich neue Strukturen für den Frauenfußball. Entsprechende Unterstützer im eigenen Land bzw. Verband sind Katalysatoren in diesem Prozess. Deshalb wird es weiterhin spannend sein, die Entwicklungen des Frauenfußballs und die Entwicklungen durch Frauenfußball aus wissenschaftlicher Perspektive zu betrachten und die drei Ebe­ nen des Empowerments in enger Verbindung zueinander zu sehen. Die damalige deutsche Spitzenschiedsrichterin Bibiana Steinhaus fasste das erklärte Kernziel eines weiblichen Empowerments im Fußball abschließend treffend zusammen: „Vor allem wünsche ich mir, dass sich jede Frau weltweit für einen Weg im Fußball frei entscheiden kann“ (DFB, 2020). ? Übungs- und Reflexionsaufgaben 1. Welche Unterschiede und Gemei­ nsamkeiten lassen sich über verschie­ dene Frauenfußballnationen hinweg finden und vor dem Hintergrund geschlechtsspezifischer Entwicklun­ gen aus sozialgeographischer Pers­ pektive erläutern? 2. Auf welchen Ebenen kann sich ein Empowerment-Prozess im Frauen­ fußball vollziehen? Welche Ent­ wicklungen auf diesen Ebenen haben sich bereits in führenden Frauenfuß­ ballnationen vollzogen oder sollten sich im Sinne des Empowerments noch vollziehen?

Zum Weiterlesen empfohlene Literatur Referenzwerk zur Sportgeographie: Bale, J. (2003). Sports Geography. Routledge. Dissertation zur ausgewählten Bei­ tragsthematik:

251 Soziokulturelle Veränderungsprozesse des Empowerments durch...

14

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253

Sport verbindet – Migration im Profisport Sebastian Rauch

Fußballspieler bei Vertragsverhandlungen. (© Kzenon/stock.adobe.com)

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Gans et al. (Hrsg.), Sportgeographie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66634-0_15

15

Inhaltsverzeichnis 15.1

Geographie und sportbedingte Migration – 255

15.2

Entwicklung der sportbedingten Migration – 257

15.3

 etzwerke als Erklärungsansatz sportbedingter N Migration – 262

15.4

 ritik am System der internationalen K sportbedingten Migration – 266

15.5

Fazit und Ausblick – 267 Literatur – 269

255 Sport verbindet – Migration im Profisport

Einleitung Migration prägt das Bild des Sports, wie wir ihn heute kennen. Seit Mitte des 20. Jahrhunderts ist eine zunehmende internationale Migration von Sportlerinnen und Sportlern zu beobachten. Zurückzuführen ist dies auf eine Vielzahl unterschiedlicher interner und externer Einflüsse. Hierzu zählen vor allem die Globalisierung, die zunehmende Vernetzung von Regionen und Akteuren, aber auch die Rücknahme nationalstaatlich orientierter Regulierungen. Auch steigende Erwartungen an Sporttreibende und Standorte, ein hoher sportlicher Wettbewerbsdruck und das Erschließen neuer Absatzmärkte für die häufig als Wirtschaftsunternehmen geführten Vereine sind wichtige Treiber. Die sportbedingte Migration von Athletinnen und Athleten ermöglicht zum einen Standorten oder Vereinen, sich diesen Herausforderungen zu stellen, und zum anderen Sportlerinnen und Sportlern, sich selbst zu verwirklichen. Ihre Migrationsbereitschaft  – innerhalb eines Staats oder international – ist infolge des nahezu freien Austauschs von Informationen und geringer formaler Einschränkungen bei grenzüberschreitenden Wanderungen in den vergangenen Jahrzehnten stark gestiegen. Die Motivation zur Migration wird von einer Reihe komplexer, interdependenter Prozesse beeinflusst: die Chancen eines sozialen Aufstiegs, Weiterentwicklung sportlicher Fähigkeiten, Gewinn an Ansehen. Die Globalisierung erweitert die Netzwerke der in der Sportbranche aktiven Institutionen, wie Vereine oder Agenturen, und ermöglicht z. B. den Zugang zu neuen Märkten. International bekannte Sportlerinnen und Sportler steigern den Bekanntheitsgrad, neue Investoren und weitere Talente werden angezogen. Die Attraktivität eines Vereins hat positive ökonomische Effekte auf die jeweilige Region (7 Kap. 10), stärkt ihr Image (7 Kap. 13) und kann identitätsstiftend wirken (7 Kap. 18).  





15

Daraus ergeben sich vier zentrale Faktoren sportbedingter Migration, die im Beitrag als Erklärungsansätze näher beleuchtet werden: die historischen Verbindungen zwischen Quell- und Zielländern, die ökonomischen Anreize und individuellen Entwicklungsmöglichkeiten, der Einfluss formeller und informeller Netzwerke.

15.1 

Geographie und sportbedingte Migration

Migration wird klassischerweise als räumliche Mobilität und Positionsänderung einer oder mehrerer Individuen verstanden und zeichnet sich durch eine Wohnortverlagerung aus. Räumliche Bewegungen von Menschen können in ihrer Ausprägung und Reichweite stark variieren und werden z.  B. in Binnenwanderungen, die innerhalb eines Natio­ nalstaats erfolgen, und internationale Migrationen, die nationale Grenzen queren, dif­ ferenziert. Bei der Binnenwanderung kann zwischen Nah- bzw. intraregionaler Wanderung, die sich innerhalb einer kleineren administrativen Einheit, z. B. eines Landkreises oder einer Metropolregion, ereignet und Fern- bzw. interregionaler, Regionsgrenzen überschreitender Wanderung unterschieden werden (Pott & Gans, 2020, S.  995  f.). Es existieren zahlreiche unterschiedliche Formen der Migration, die im Wesentlichen nach ihren Ursachen gegliedert werden können. Eine dieser Formen ist die sportbedingte Migration, die einen sehr spezifischen Teil des allgemeinen Migrationsgeschehens umfasst und auf die räumliche Bewegung von Athletinnen und Athleten sowie weiteren, im Sportgeschehen teilhabenden Akteurinnen und Akteuren fokussiert (7 Box 15.1). Das Interesse an nationalen und internationalen sportbedingten Migrationen hat in den letzten Jahrzehnten z. B. in der Geo-

256

S. Rauch

graphie, den Sportwissenschaften, der Soziologie und den Wirtschaftswissenschaften stark zugenommen. Die unterschiedlichen Perspektiven beschäftigten sich nicht nur mit dem „Von wo nach wo“, sondern auch warum und unter welchen Umständen eine Migration erfolgte. Ein zentraler Untersuchungsgegenstand der Sportmigrationsforschung ist, welchen Einfluss sportbedingte Migration auf eine Sportart ausübt. Die Analysen sind sehr vielschichtig und befassen sich mit Fragestellungen auf der Mikro- und Meso-, nicht selten auch auf der Makroebene. Warum entscheiden sich Sportler und Sportlerinnen für eine Migration, und welche Wirkungen ergeben sich auf Herkunfts- und Zielregionen? Erste Beiträge zur sportbedingten Migration reichen ins Jahr 1940 zurück, als Lehman (1940) die Herkunft von Baseballspielern der nordamerikanischen Ligen untersuchte. Die erste umfassende Arbeit im Feld der Sportmigration verfassten Maguire und Bale (1994), die zentrale Aspekte der Migration von Sportlerinnen und Sportlern formulier-

ten. Dazu zählen z.  B. der Zusammenhang zwischen Globalisierung und Migration, die Etablierung internationaler Sportorganis­ ationen, die Entwicklung standardisierter Abläufe und Regeln sowie der wachsende globale Wettbewerb zwischen Sportlerinnen und Sportlern wie Vereinen. Bale (2003) arbeitete ein erstes theoretisches Fundament mit zentralen Fragestellungen aus, Poli (2010) und Carter (2011) schufen die Grundlage für das heutige Profil der Teildisziplin der Sportwissenschaften. Zunächst dominierten primär quantitative Analysen auf der Makroeb­ ene. Dann rückten individuelle Entschei­ dungen und Betrachtungsweisen auf der Mikroebene, die z. B. individuelle Bewegungsmuster zum besseren Verständnis grenzüberschreitender Bewegungen nutzen, zunehmend ins Zentrum der Sportmigrationsforschung. Poli (2010) betont zudem den Einfluss von Globalisierungsprozessen, und neuerdings tragen sozialwissenschaftliche Ansätze, wie die Netzwerk- und Biographieforschung, zu einer qualitativen sportbezogenen Migrationsfor­ schung bei.

Box 15.1 Sportbedingte Migration

15

Sportbedingte Migration beschreibt und erklärt die räumliche Veränderung von Athletinnen und Athleten mit dem Ziel, die sportbezogenen Aktivitäten an einem anderen Ort auszuüben. Grundsätzlich ist eine kurzfristige, sportbedingte Mobilität von einer längerfristigen Migration zu unterscheiden. Kurzfristige sportbedingte Mobilität tritt dann auf, wenn zur Partizipation an einem Wettbewerb eine räumliche Veränderung durchgeführt werden muss. Dies trifft z. B. in Einzelsportarten

wie Tennis oder Golf, aber auch in wettkampfbedingten Mannschaftsspielen zu. Ein prominentes Beispiel sind die Olympischen Spiele, die eine räumliche Mobilität zahlreicher Athletinnen und Athleten voraussetzen. Neben dieser Art von Mobilität ist vor allem die längerfristige Migration von Sportlerinnen und Sportlern wichtiger Bestandteil des heutigen Sportgesch­ehens. Sie zeichnet sich durch einen zeitlich begrenzten oder dauerhaften Wohnortwechsel der Athletin oder des Athleten aus.

257 Sport verbindet – Migration im Profisport

15.2 

Entwicklung der sportbedingten Migration

Bereits in der Antike gab es sportbedingte Migration. Ereignisse wie Olympia oder andere Turnierformate prägten seit etwa 700 v. Chr. die frühen Phasen des Sports. Als wesentlicher historischer Treiber gilt die Professionalisierung einer Sportart. Vor allem die Entwicklung und Etablierung der ersten professionellen Sportligen ab Mitte des 19. Jahrhunderts beeinflussten die Reichweite räumlicher Migration von Athletinnen und Athleten am nachhaltigsten. Dieser Prozess war sehr stark mit dem regionalen Interesse an einer Disziplin gekoppelt, weshalb sich in unterschiedlichen Regionen der Welt einzelne Sportarten schneller professionalisierten als in anderen. Cricket wies bereits im 19. Jahrhundert zahlreiche professionelle Sportler auf, die aber vornehmlich in internationalen Vergleichen zwischen heutigen Ländern des Commonwealth antraten (Hill, 1994). 1871 entstand in den USA die erste professionelle Baseball-Liga, 1898 die erste Basketball-Liga. Die Entwicklungen waren so divers, dass jede einzelne Disziplin einen Beitrag verdient hätte. Als eine der ältesten Sportligen der Welt gilt die englische Fußball-Liga, in der bereits in den 1880er-Jahren erste sportbedingte Migration dokumentiert wurde. Um Zugang zum Wettbewerb zu erhalten, zogen Talente aus umliegenden Dörfern und kleinen Städten in die damals zwölf Profistandorte. Zu diesen ersten intraregionalen Wanderungen kamen rasch auch erste interregionale Migrationen aus Wales und Schottland hinzu (Lanfranchi & Taylor, 2001). Auch wenn durchaus Unterschiede zwischen den britischen Verbänden bestanden, begünstigten geringere sprachliche und kulturelle Hürden und quasi keinerlei administrative Begrenzungen diese ersten räumlichen Beziehungen.

15

Vor dem Zweiten Weltkrieg sind nur wenige professionelle internationale Spielerbewegungen belegt. Politische Regime bestimmten das Bild der Ligen vor 1945. Während in den USA und in Kanada keine Restriktionen für Spielerinnen und Spieler mit ausländischer Staatsangehörigkeit existierten, wurde vor allem in Europa bei nationalen Wettbewerben die Teilnahme dieser Aktiven reglementiert. Als 1933 die Nationalsozialisten in Deutschland an die Macht kamen, untersagten sie jegliche Teilnahme ausländischer Spielerinnen und Spieler an nationalen Sportveranstaltungen. Auch in Italien wurden diese harten Regelungen etabliert, wenn auch eine Teilnahme an Wettbewerben für Personen mit doppelter Staatsbürgerschaft möglich war. Andere Nationen wie Frankreich führten die ersten zahlenmäßigen Begrenzungen für ausländische Akteure ein. So wurde dort den Fußball-Profivereinen zu dieser Zeit eine maximale Zahl von fünf ausländischen Spielern pro Match gestattet (Lanfranchi & Taylor, 2001). Auch in den 1960er-Jahren beschlossen zahlreiche, vornehmlich europäische Sportverbände eine feste „Ausländerregelung“ zur Regulierung des Wettbewerbs. Derartige Restriktionen bestimmen bis in die heutige Zeit die Zusammensetzung professioneller Mannschaften und beeinflussen somit das Migrationsgeschehen in den unterschiedlichen Disziplinen maßgeblich. Ziel derartiger Regelungen war und ist die Gewährleistung der sportlichen Entwicklung der jeweiligen Disziplin und Aktiven eines Lands. Bis heute haben sich zahlreiche unterschiedliche Regelungen in den Sportarten etabliert. In den US-amerikanischen Major Leagues existieren weiterhin keinerlei Obergrenzen für ausländische Spielerinnen und Spieler. Dagegen galten im europäischen Sportgeschehen noch in den 1990er-Jahren begrenzende Regelungen. Jeder Sportverband bestimmte die Aus-

258

S. Rauch

legung und die Obergrenzen souverän. Einen wesentlichen Einschnitt in diese Praktiken stellte das Bosman-Urteil von 1995 dar (7 Box 15.2). Bis heute beeinflusst es Tra­ nsferentscheidungen und die daraus resul­ tierende Migrationsdynamik maßgeblich (. Abb. 15.1). Das Urteil sorgte nicht nur für eine Zunahme der Migration von Athletinnen und Athleten innerhalb Europas und daraus folgende höhere Anteile ausländischer Akti 



ver. Es war zudem zu beobachten, dass die interkontinentale Migration und insbesondere die Zahl der Spielerinnen und Spieler aus Südamerika und anderen Nicht-EU-Ländern zunahm. Diese Entwicklung resultierte in einer starken Heterogenität der Herkunftsregionen von Sportlerinnen und Sportlern, die in hochklassigen Profiligen, aber auch in weniger angesehenen Wettbewerben engagiert wurden (. Abb. 15.1, . Tab. 15.1).  



Box 15.2 Bosman-Urteil

15

Das im Jahr 1995 durch den Europäischen Gerichtshof getroffene Urteil hatte weitreichende Folgen, nicht nur für den Fußball, sondern für alle Profiligen innerhalb der Europäischen Union. Auslöser dieser weitreichenden Regelung war eine Klage des belgischen Fußballprofis Jean-­ Marc Bosman im Jahr 1990. Er sah seine Arbeitnehmerfreizügigkeit innerhalb Europas dadurch eingeschränkt, dass nach dem Ablauf seines Profivertrags beim RFC Lüttich eine zu hohe Ablöse veranschlagt wurde. Diese wollte sein neuer Verein nicht zahlen, was Bosman ohne Verein zurückließ. Er bekam von einem nationalen Gericht Recht zugesprochen. Daraufhin wurde das Urteil auf europäischer Ebene aufgenommen. Für den Sport wurden hier zwei wesentliche Aussagen getroffen: Erstens war es nicht mehr zulässig, nach Ablauf eines Arbeitsvertrags eine Transfersumme zu erheben. Zweitens durften fortan keine Restrik-

tionen für die Anstellung von EU-­Bürgerinnen und -Bürgern in den nationalen Ligen existieren. Die übergeordnete Errungenschaft des Urteils durch den Europäischen Gerichtshof ist die  Tatsache, dass Profisportlerinnen und  -sportler als „normale“ Arbeitnehmer und der Profimarkt als gängige ökonomische Aktivität innerhalb der Europäischen Union anzusehen sind und den Sportlerinnen wie Sportlern somit die festgeschriebene Freizügigkeit bei der Arbeitsplatzwahl zusteht. Neben einem fortan stetig wachsenden Anteil an professionellen Athletinnen und Athleten in den höchsten Spielklassen aus Ländern der EU stieg als Nebeneffekt auch der Anteil von nichteuropäischer Aktiven. Vor allem Talente aus Südamerika erwiesen sich als günstigere Alternativen mit hohem Entwicklungspotenzial und somit als sehr attraktiv für den Markt der nördlichen Hemisphäre (Lanfranchi & Taylor, 2001; . Tab. 15.1, . Abb. 15.2).  



15

259 Sport verbindet – Migration im Profisport

200 Vor der Saison 66/67 durften 180 lediglich 3 neue Spieler ver160 pflichtet werden. 140 120

generelle Aufhebung der Ausländerregelung

Ab der Saison 92/93 durften 3 statt zuvor 2 ausländische Spieler auf dem Feld eingesetzt werden.

1984 erste bundesweite Live-Übertragung

400 350 300 250

100

200

80 60 40

In der Saison 82/83 beschäftigten erstmals alle Mannschaften mindestens einen Spieler ausländischer Herkunft.

1965 erste TVRechtevergabe an ARD und ZDF

20

100 50

63/64 65/66 67/68 69/70 71/72 73/74 75/76 77/78 79/80 81/82 83/84 85/86 87/88 89/90 91/92 93/94 95/96 97/98 99/00 01/02 03/04 05/06 07/08 09/10 11/12 13/14 15/16 17/18 19/20 21/22

0

150

ausländische Spieler

Zu- und Abgänge

Bosman-Urteil

0

Saison Abgänge

Zugänge

..      Abb. 15.1  Entwicklung des Anteils ausländischer Profispieler in der Fußball-Bundesliga der Männer (Die Anzahl ausländischer Spieler bezieht sich auf alle Mitglieder des Kaders in der jeweiligen Saison, auch Nachverpflichtungen. Zu- und Abgänge be-

Anzahl ausländischer Spieler

ziehen Leihen und Karriereende nicht mit ein. Auch werden Aufstiege von der ersten in die zweite Mannschaft eines Vereins nicht berücksichtigt.) (Nach Transfermarkt.de, 2022)

..      Tab. 15.1  Herkunft ausländischer Spieler der fünf größten Fußballligen Europas* (Angaben in %). (Nach Transfermarkt.de; Stand: 01.07.2022) Liga

Afrika

Asien und Ozeanien

Osteuropa

Westeuropa

Lateinamerika

Nordamerika

Gesamtzahl

Deutschland

12

8

17

55

5

3

298

England

13

3

8

57

18

2

371

Frankreich

43

3

9

30

14

1

300

Italien

14

3

28

37

17

0

363

Spanien

15

4

14

25

40

2

210

*Ausschlaggebend

für die Zugehörigkeit eines Spielers ist die Nation, für deren Nationalverband er aktiv ist. Mehrfachstaatsangehörigkeiten werden folglich nicht berücksichtigt.

260

S. Rauch

15

..      Abb. 15.2  Ausgewählte globale Migrationsrouten im Profifußball im Mai 2021. (Verändert nach Poli et al., 2021a)

261 Sport verbindet – Migration im Profisport

15

Die Dynamik sportbedingter Migration länderregelung“ zog einen starken zahlenverlief weitgehend parallel zu bekannten Pro- mäßigen Zuwachs ausländischer Spieler zessen im Zusammenhang mit schrumpfen- nach sich. Vereine nutzen offensichtlich die den Räumen infolge von Innovationen in der neu gewonnenen Möglichkeiten, Talente aus Kommunikations- und Transporttechnologie dem Ausland für ihre sportlichen Ziele zu ge(Harvey, 1990). Die Idee des freien Aus- winnen. Parallel zur fortschreitenden Intertauschs von Waren und Humankapital, wel- nationalisierung in der Bundesliga stiegen che sich im Kontext der Globalisierung aus- auch die gesellschaftliche Aufmerksamkeit breitete, kann auch auf dem heutigen Sport- und folglich die mediale Präsenz des Sports, markt, vor allem im Profisportbereich be- insbesondere des Fußballs. Fernsehanstalten obachtet werden. Zurückzuführen ist dies investierten Jahr für Jahr mehr Geld, um sich unter anderem auf die zunehmende Auto- die Übertragungsrechte zu sichern, mit dem nomie der Individuen und das Verschwinden Ziel, im Zuge des wachsenden Interesses räumlicher, aber auch politischer Barrieren. auch höhere Werbeeinnahmen generieren zu Dabei spielt nicht nur das leichtere Über- können. 1965 erwarben ARD und ZDF die winden von weiten Distanzen eine ent- TV-Rechte ausgewählter Partien für 650.000 scheidende Rolle, sondern auch der intensi- Deutsche Mark, schon in den 1980er-Jahren vere Informationsaustausch sowie die stärke- lagen die Preise bei bis zu 10 Mio. Mark. Bei ren sozialen Vernetzungen, aber auch tradi- weiterhin zunehmendem Interesse und getionelle Verflechtungen zwischen Staaten steigertem Wettbewerb auf dem Über(7 Abschn. 15.3). tragungsmarkt, befeuert durch zahlreiche Vor allem im Fußball, der gemessen an private Anbieter, liegt der heutige Preis für aktiven Spielerinnen und Spielern sowie die Rechte ca.  600-mal höher als 1965 bei weltweiten Einschaltquoten eine der wich- über einer 1 Mrd. Euro (Ran, 2022). Die ertigsten Sportarten ist, zeichneten sich bereits höhte Medienpräsenz des Fußballs und seine früh die Mechanismen und Migrationsver- sich ausweitende Aufmerksamkeit lockten flechtungen von Aktiven deutlich ab. Die zusätzlich Kapitalanleger an, die einzelne Sportart ist wie kaum eine andere in globale Standorte unterstützten. Wesentlicher TreiProzesse integriert und nimmt daher im ber höherer Investitionen waren die Chanweltweiten Sportsystem die dominierende cen, neue Absatzmärkte für Fanartikel und Stellung ein. Daher eignet sich Fußball in die eigenen Produkte zu erschließen und besonderem Maße, die Entwicklung räum- somit die eigene Sichtbarkeit zu erhöhen. licher Bewegungen von Sportlerinnen und Die sportbedingte Migration, vor allem die Sportlern zu beleuchten. . Abb. 15.1 doku- internationale, ist hier einer von zahlreichen mentiert exemplarisch die wachsende Zahl Katalysatoren für gesteigertes finanzielles Inausländischer Spieler in der Fußball-­ teresse externer Unternehmen in privater wie Bundesliga der Männer – im Folgenden kurz staatlicher Hand. Bundesliga –, den Einfluss der Auflösung Einen stetig wachsenden Anteil auszentraler migrationsreglementierender Re- ländischer Spieler verzeichnet nicht nur die gelungen und die binnen- und internationale Bundesliga. Im Jahr 2021 kamen zum ersten Migration durch die Frequenz von Zu- und Mal in der Geschichte mehr als die Hälfte Abgängen. der Spieler in den fünf großen europäischen Seit Gründung der Bundesliga im Jahr Ligen (Deutschland, England, Frankreich, 1963 ist eine steigende Migrationsaktivität Italien, Spanien) aus dem Ausland. In wenizu erkennen. Die Aufhebung wesentlicher ger wettbewerbsfähigen Ligen ist ein deutRestriktionen durch das Bosman-Urteil lich geringerer Anteil ausländischer Spieler (7  Box 15.2) sowie der generellen „Aus- zu verzeichnen (Poli et al., 2021b). Ein stär 



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S. Rauch

ker internationalisierter Markt zeichnet somit erfolgreichere Ligen aus. . Tab. 15.1 zeigt im Detail die Herkunft ausländischer Spieler in den fünf großen Herrenfußballligen, den Big Five Europas. Die Verteilung der Sportler verdeutlicht den Einfluss historischer Beziehungen zwischen Herkunfts- sowie Zielländern und verweist auf Migrationssysteme, die schon vor dem Auftreten sportbedingter Migration entstanden (. Abb. 15.2). Am klarsten spiegelt sich diese historische Komponente im überdurchschnittlichen Anteil der aus Lateinamerika stammenden Spieler in Spanien sowie an der hohen Zahl von Fußballern aus Brasilien in Portugal wider. Die Kolonialzeit, die sich bis ins 19. Jahrhundert erstreckte, prägte die kulturelle Nähe zwischen der Bevölkerung Lateinamerikas und der Iberischen Halbinsel. Mit ähnlichen Argumenten lässt sich der vergleichsweise hohe Anteil von Spielern afrikanischer Herkunft in Frankreich erklären. Diese Zuwanderung erhöhte sich zunächst infolge der Dekolonisation. Hinzu kommt, dass viele Spieler Nachkommen von Zuwanderinnen und Zuwanderern aus Afrika sind, in Frankreich geboren wurden und damit die französische Staatsbürgerschaft besitzen. Später, in den 1960/70er-Jahren, entwickelten sich im Zuge der Arbeitnehmeranwerbung zusätzlich Migrationsrouten zwischen Südeuropa sowie den Maghrebstaaten als Herkunfts- und den europäischen Ländern nördlich von Alpen wie Pyrenäen als Zielgebieten (Hillmann, 2008). Auch wenn im heutigen Profisport Transferbewegungen augenscheinlich losgelöst von diesen klassischen Strukturen sind, so ist eine hohe Anzahl an Akteurinnen und Akteuren aus bestimmten Quellländern in den jeweiligen Zielländern aktiv. Die allgemeine Zunahme der internationalen Spie­ lerbewegungen nach dem Bosman-Urteil hat sich nicht in einer deutlichen räumlichen Diversifizierung der Transfernetze niedergeschlagen. Die Routen hängen nach wie vor stärker von Kriterien wie der geographischen  



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(z. B. Deutschland – Osteuropa und Italien – Südosteuropa) oder kulturellen wie sprachlichen Nähe (z. B. Spanien – Lateinamerika und Frankreich – ehemalige afrikanische Kolonien) ab (Poli, 2010). Neben der Bedeutung interkontinentaler Wanderungen fällt zudem auf, dass die räumliche und strukturelle Nähe der europäischen Wettbewerbe das heutige Transfergeschehen maßgeblich prägt. So ist ein Subsystem mit einer höheren Zahl sportbedingter Migration zwischen Irland und den Fußballverbänden in Großbritannien sowie den Beneluxländern und Frankreich zu erkennen. Bestehende Migrationsrouten beeinflussen Wanderungen nicht nur in eine Richtung. So wechselten 83 Spieler aus Deutschland und 54 Spieler aus Frankreich in die Türkei. Ob es sich dabei um Spieler mit türkischem Migrationshintergrund handelt, lässt sich an dieser Stelle nicht klären.

15.3 

Netzwerke als Erklärungsansatz sportbedingter Migration

Die Motive sportbedingter Migration können sehr vielfältig sein. Sie zeichnen sich in hoh­em Maße durch proaktive Entscheidungsprozesse und autonomes Verhalten der jeweiligen Personen im Migrationsprozess aus. Athletinnen und Athleten zielen mit einer räumlichen Veränderung auf eine Verbesserung ihrer eigenen Situation ab. Ausschlaggebend für einen Wechsel sind primär ökonomische Faktoren. Im Profisport bezeichnet man dieses Phänomen auch als follow the money (Maguire & Pearton, 2000). Neben diesen finanziellen Aspekten spielen auch individuelle Fortschritte, erfolgversprechende Trainingsbedingungen oder verbesserte Aufstiegschancen eine zentrale Rolle im Entscheidungsprozess. Zusätzlich können auch soziale Aspekte, das familiäre Umfeld sowie der Ruf eines Zielorts ausschlaggebend für eine sportbedingte Migration sein.

263 Sport verbindet – Migration im Profisport

15

Neben bekannten Push- und Pull-­ Soziale Netzwerke (7 Box 15.4) dienen in Mechanismen (7 Box 15.3) ist die Migration einer Vielzahl von theoretischen Überim Sport stark geprägt von historischen Ent- legungen zur Migration als ein zentraler Erwicklungen, individuellen Erfahrungen und klärungsansatz. Der formelle und vor allem Motiven, den sich daraus bildenden Netz- aber informelle Informationsaustausch zwiwerken sowie dem ortsspezifischen sozialen schen Sportlerinnen sowie Sportlern und InKapital. Diese formellen und informellen stitutionen ist grundlegend für den EntKonstrukte sind ein wesentlicher Faktor zur scheidungsprozess. Erklärung sportbedingter Migration. BeDie sozialen Interaktionen mit Akteuren stehende Netzwerke mit einem hohen sozia- am Zielort einer Migration können wesentlen Kapital erleichtern die Rekrutierung von lichen Einfluss auf das Wohlbefinden und Athletinnen und Athleten und fördern somit die Leistungsfähigkeit von Athletinnen und die sportbedingte Migration. Bei der Ent- Athleten haben und reziprok für den Erfolg scheidungsfindung von Profisportlerinnen eines Standorts stehen. Ein Blick auf die und Profisportlern, eine Migration zu reali- Netzwerke zwischen den unterschiedlichen sieren, sind Informationen und Beziehungen Akteuren kann eine zusätzliche Erklärung zu der Zielregion und zum Verein sehr wich- für sportbedingte Migration liefern, die über tig. Auf allen Ebenen wird für jede Art der die Darstellung historischer Verbindungen Migration die Rolle von Netzwerken betont. und ökonomischer Motive hinausgeht. Box 15.3 Push- und Pull-Mechanismen sportbedingter Migration

Trotz der Vielschichtigkeit von Wanderungsmotiven können sie meistens in das klassische Schema der Push- und Pull-­ Mechanismen eingeteilt werden. Dieser Ansatz erklärt Wanderungsentscheidungen durch die vereinfachte, binäre Unterteilung von Motiven in „abstoßende“ Faktoren der Quellregionen und „anziehende“ Kräfte der Zielregionen. Trotz der aggregierten Betrachtung und Vernachlässigung individueller Motive ist diese Wanderungstheorie fester Bestandteil der Migrationsforschung (Hillmann, 2016; Pott & Gans, 2020). Proaktive Entscheidungsprozesse der nationalen und internationalen Migration sind stärker von Pull-Faktoren der jeweiligen Zielregionen geprägt. Vor allem nach beruflichem Aufstieg strebende Grup-

pen wie Profisportlerinnen und -sportler gehören hierzu. Reaktive Entscheidungen sind vorwiegend geprägt durch Push-Faktoren der Quellländer. . Tab.  15.2 zeigt Beispiele aus klassischen Wanderungsmotiven sowie äquivalent geltende Motive sportbedingter Migration. Anzumerken ist, dass klassische Beispiele nicht sportbedingter Migration eher zur Beschreibung von Migrationsströmen, also einer Vielzahl Betroffener, entworfen wurden. Hingegen beschreiben die hier aufgezeigten Erklärungsansätze eher verhaltensorientierte Wanderungsmotive sportbedingter Migration, die zwar eine Vielzahl professioneller Akteurinnen und Akteure betreffen, jedoch fallspezifisch und individuell wirken.  

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S. Rauch

..      Tab. 15.2  Beispiele sportbedingter und nicht sportbedingter Push- und Pull-­Faktoren zur Erklärung von Migration. (Verändert nach Pott & Gans, 2020, S. 997) Erklärungsansätze für Migrationsentscheidungen Push-Faktoren Pull-Faktoren Nicht sportbedingte Migration

Ökonomische Gründe

Arbeitslosigkeit, geringe Verdienstmöglichkeiten

Chancen auf bessere Bildung und höhere Löhne

Nichtökonomische Gründe

Krieg, Klimabedingungen, politische Verfolgung

Akzeptanz und Sicherheit, Familienzusammenführung

Geringer Verdienst und Aufstiegschancen, wenig Respekt und Einsatzzeit

Höhere Verdienst- und Entwicklungsmöglichkeiten, Ruf des Standorts und Prestige, höhere Einsatzchancen

Sportbedingte Migration

Die Akteursstruktur im Profisport ist sportartenübergreifend sehr ähnlich. Zentrale Figuren sind neben den Athletinnen und Athleten selbst Trainerinnen und Trainer sowie Verantwortliche im Management eines Standorts. Es ergibt sich daraus ein Geflecht aus mehreren Personen, die Migration maßgeblich beeinflussen. Häufig überschneiden sich Interessen der Akteure am Standort, die vornehmlich auf den sportlichen Erfolg des Vereins fokussieren. Hinzu kommen Prestige, zusätzliche finanzielle Gewinne sowie die Außenwirksamkeit eines Standorts (7 Kap.  13). Auch Athletinnen und Athleten zielen auf diesen Erfolg ab, konzentrieren sich aber vor allem auf die für sie besten finanziellen und sportlichen Entwicklungsmöglichkeiten. Diese beiden Faktoren sind ein wesentlicher Erklärungsansatz sportbedingter Migration. In diesem Kontext wird im Spitzensport immer wieder die Rolle von Agenturen sowie Beraterinnen und Beratern betont. Ihre Aufgabe liegt darin, kulturelle und sprachliche Barrieren zu überwinden und Kommunikation zwischen allen für einen Vereinswechsel relevanten Akteurinnen und Akteuren aufzubauen und zu koordinieren. Dies umfasst zudem das Sichten neuer Sportlerinnen und Sportler sowie diverse mediale Angelegen 

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heiten. Diese Institutionen sind in der heutigen Zeit in hohem Maße spezialisiert, um den komplexen Anforderungen der Transfermärkte gerecht zu werden (Poli, 2009). Sie bilden und formen aktiv Netzwerke und prägen Karriereverläufe und Migrationen maßgeblich (Maguire & Falcous, 2010). Die Fédération Internationale de Football Association (FIFA) etablierte 1991 das erste Lizensierungssystem für professionelle Agenturen. Beim Deutschen Fußball-Bund e. V. (DFB) sind beispielsweise 186 Agenturen registriert (Stand: August 2022). Auch in anderen Sportarten hat sich ein Lizensierungsverfahren für Vermittlerinnen und Vermit­ tler etabliert. Beim deutschen Handballbund sind 21 Agentinnen und Agenten (Stand: Juli 2018), bei der Deutschen Eishockey Liga 51 und bei der Basketball-Bundesliga 153 lizensiert. Die Agenturen haben keineswegs alle ihren Sitz in Deutschland, zahlreiche agieren auf internationaler Ebene und vertreten Klientinnen und Klienten auf der ganzen Welt. Zum Verständnis der Rolle der genannten Personen, Institutionen und Vereine innerhalb eines Netzwerks und ihres daraus wahrscheinlich resultierenden Einflusses auf den Migrationsprozess soll der Fußball der Herren aufgrund seiner Be-

265 Sport verbindet – Migration im Profisport

deutung im Sportgeschehen erneut als Beispiel herangezogen werden. Alle an entsprechenden Entscheidungen Beteiligten sind im hochklassigen Fußball aktiv und haben Zugriff auf Statistiken, Werdegängen und Videomaterial zu den infrage kommenden Spielern. Dennoch können letztendlich soziale Motive durchaus den Ausschlag zur Migration geben. Nicht selten sind es Vertrauensbeziehu­ ngen zwischen Trainern und Spielern, die eine professionelle Karriere maßgeblich beeinflussen. Ein Beispiel ist Pep Guardiola, der Thiago Alcântara erst aus der zweiten Mannschaft des FC Barcelona in die erste berief und dann mit dem Spruch „Ich will Thiago und sonst nichts!“ seinen Weg nach Deutschland ebnete. Eine vergleichbare Beziehung pflegt auch Trainer Jürgen Klopp, der Neven Subotić einst erst aus der zweiten Mannschaft des FSV Mainz 05 in die erste berief, bevor der Verteidiger ihm nach Dortmund folgte. Auch zwischen Trainer Jos Luhukay und Marcel Ndjeng besteht eine bemerkenswerte Beziehung, weil beide an vier unterschiedlichen Standorten gemeinsam aktiv waren. Es existieren zahlreiche Beispiele, in welchen neben monetärem Interesse auch soziale und räumliche Kriterien in die Entscheidungsprozesse einflossen. Der ehemalige Berater von Jogi Löw, Harun Arslan, gebürtiger Türke, der nun in Deutschland arbeitet, betreute neben Spielern mit türkischer Migrationsgeschichte auch Trainer türkischer Abstammung. Konstantinos Farras, der seinen Firmensitz in Bremen und griechische Wurzeln hat, ist Ansprechpar­ tner zahlreicher griechischer Spieler. Hinzu kommt, dass er einige ehemalige Akteure des SV Werder Bremen vertritt. Zur kulturellen Nähe kommt hier also noch die räumliche, die die Bildung eines Netzwerks begünstigt.

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Dass auch die sozialen Beziehungen zwischen Spielern einen wesentlichen Einfluss auf deren Migrationsverläufe haben, zeigt das Beispiel Pascal Groß und Marco Terrazzino. Die heute in den ersten Ligen Englands und Polens aktiven Fußballer wurden 1991 in Mannheim geboren und starteten ihre Karriere beim VfL Neckarau. Beide traten zeitgleich dem Jugendprogramm der TSG Hoffenheim bei und waren dort insgesamt dreieinhalb Jahre zusammen aktiv. Terrazzino wechselte dann zum Karlsruher SC, wohin ihm Groß nur kurze Zeit später folgte. Die enge soziale Beziehung und ein vermutlich fortwährender Austausch über Karriereentscheidungen resultiert auch daraus, dass die beiden zusammen aufgewachsen sind. Insgesamt waren beide Akteure 14 Jahre an gemeinsamen Standorten aktiv. Groß bezeichnete Terrazzino als „besten Kumpel“ im professionellen Fußball (Roth, 2014). Beide waren Bestandteil eines systematischen Transfergeschäftes mit der TSG Hoffenheim, die 2007 sieben Spieler der B-Junioren aus Neckarau rekrutierte. Von Vereinsseite kann eine Intention dieses gezielten Transfergeschäfts ein gesteigertes Interesse am Erhalt der sportlichen Synergie und dem damit erhofften Erfolg gesehen werden. Auch die räumliche Nähe der Standorte ist sicherlich ein relevanter Faktor. Auch in anderen Sportarten sind derartige Migrationsnetzwerke zu beobachten. Neben den genannten offiziellen Akteurinnen und Akteuren können auch Familienmitglieder oder Freunde eine entscheidende Rolle innerhalb eines Migrationsprozesses spielen. Die Netzwerke sind weder räumlich noch zeitlich statisch und können sich neuen Situationen anpassen. Das Ausscheiden und Hinzukommen neuer, zentraler Akteurinnen und Akteure führen zu einer Restrukturierung, zur Neubildung oder zur Auflösung des Netzwerks (7 Box 15.4).

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Box 15.4 Soziale Netzwerke und Migrationssysteme

Netzwerke besitzen in der Migrationsforschung eine große Relevanz und werden immer häufiger als eine zentrale Komponente im Wanderungsgeschehen gesehen. Migra­ tionsnetzwerke sind dynamische Beziehungen zwischen Akteurinnen sowie Akteuren und Institutionen am Herkunfts- oder Zielort. Diese sozialen Arrangements können formeller oder informeller Natur sein und beeinflussen die Migrationserfahrung und -entscheidung von Individuen maßgeblich (Haug, 2000). Starke persönliche Netzwerke Wandu­ ngsinteressierter sorgen für einen intensiven Informationsaustausch und beeinflussen somit die Wahrscheinlichkeit für eine Migration. Auch fördern derartige soziale Konstrukte

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Gerade Kettenmigrationseffekte tragen in hohem Maße dazu bei, spezifische Mig­ rationspfade zwischen zwei oder mehreren Regionen zu verstetigen. Entlang der weltweiten Arbeitsmigrationsverflechtungen oder großen Wanderungen haben sich zahlreiche Routen zwischen bestimmten Quellund Zielländern entwickelt. Derartige Migrationssysteme basieren auf raumzeitlich stabilen Wanderungen mehrerer Akteure, sind Ausdruck historischer Beziehungen und werden durch Netzwerke aufrechterhalten und reproduziert. Der Migrationssystemansatz fokussiert nicht die einzelnen Entscheidungen der Individuen, sondern versteht sich vielmehr als holistischer Ansatz zur Beschreibung der beobachtbaren Dynamiken.

Kettenmigrationseffekte zwischen zwei oder mehreren Regionen, die dadurch gekennzeichnet sind, dass Migrantinnen und Migranten der räumlichen Veränderung von Bekannten oder Verwandten in eine Zielregion folgen. Der Grad des sozialen Zusammenhalts innerhalb eines Netzwerks zwischen Akteurinnen und Akteuren wird als soziales Kapital bezeichnet (Hillmann, 2016). Nach Bourdieu (1983) ist soziales Kapital als Ressource zu verstehen, welche Mitglieder des Netzwerks durch soziale Beziehungen erzeugen und nutzen können. Diese Kapitalform hat einen hohen Einfluss auf Migrationsströme und die individuelle Handlungsfähigkeit innerhalb eines Wanderungsprozesses.

15.4 

 ritik am System der K internationalen sportbedingten Migration

Als Teil des globalen Sportprozesses wird Migration häufig als etwas Erfreuliches dargestellt, das das Recht des Einzelnen auf Mobilität widerspiegelt. Im Zuge dessen zeichnet sich ein Bild von relativer Freizügigkeit, scheinbar unbestreitbarem ­Erfolg, leicht verfügbarem Wohlstand. Negative Erfahrungen werden zumeist ausgeblendet und die Machtverhältnisse im Zusammenhang mit einem Vereinswechsel häufig übersehen. Im Vordergrund der Aufmerksamkeit stehen die positiven Effekte einer Migration, die im Zielland für die Sportlerin oder den Sportler zu erreichen sind. Zu diesen zählt

267 Sport verbindet – Migration im Profisport

unter anderem ein höheres sportliches Leistungsvermögen und die damit in Verbindung stehende erhöhte Erfolgswahrscheinlichkeit der Sportlerin oder des Sportlers bzw. der Mannschaft. Weiter sind auch passive, wie mediale, sowie soziale Effekte zu nennen und eine gesteigerte Aufmerksamkeit für den Standort. Nicht zu unterschätzen ist auch die identitätsstiftende Wirkung, die der Erfolg von Vereinen mit sich bringt (7 Kap. 18). Während sich vor allem für die Zielregionen derartige positive Folgen ergeben, zeigen sich einige negative Effekte in den Quellregionen. Zunächst können die positiven Faktoren, die sich für die Zielländer ergeben, reziprok als negativ für die Quellländer interpretiert werden. Die Ausbildung der Athletinnen und Athleten erfolgt zumeist im Heimatland. Durch die internationale Migration erfolgt eine Abwanderung dieses Talents. Dieses als Deskillisierung (oder auch muscle drain) bezeichnete Phänomen sorgt für eine systematische Reduzierung der Qualität im Urspr­ ungsland und einen zunehmenden Identitätsverlust durch die Abwanderung heimischer Individuen (Maguire & Bale, 1994). In zahlreichen Sportarten hat sich dadurch heute ein kolonialähnliches System des Transfers entwickelt. Von diesen Strukturen profitieren vornehmlich westliche Regionen, die aufgrund ihrer finanziellen Ressourcen eine Machtposition im Sport behaupten. Aber auch die administrativen Zentren und deren Normen für das moderne Weltsystem haben ihren Ursprung in diesen Regionen (Eichberg, 1997; Rauch, 2020, 2022). Derartige Strukturen hemmen die finanzielle, aber vor allem auch die sportliche Entwicklung der Ursprungsregion. Abhängigkeitsbeziehungen, denen kein historischer Hintergrund zugrunde liegt, sorgen aktuell umgekehrt in einigen Sportarten für neue Migrationsmuster von Spitzensportlerinnen und Sportlern. Die enorme finanzielle Zugkraft einzelner in 

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vestitionsstarker Standorte und Nationen sind neu auftretende Faktoren für sportbedingte Migration. So zieht es einzelne Akteurinnen und Akteure (z. B. professionale Basketballerinnen aus den USA) saisonal in die Türkei oder nach Russland. Andere namhafte Athletinnen und Athleten suchen im späteren Verlauf ihrer Karriere nach zahlungskräftigen Standorten am Persischen Golf oder in Fernost. Ein weiteres prominentes Beispiel für die immense finanzielle Zugkraft im Sportgeschehen ist die Handballnationalmannschaft Katars, die 2015 mit mehreren eingebürgerten bezahlten Spitzensportlern Vizeweltmeister wurde (7 Kap. 9). Kritik kann weiter auch an Institutionen wie dem Internationalen Olympischen Komitee (IOK) geübt werden. Diese prägen durch selektive Partizipationsmechanismen für Individuen und bestimmte Sportarten das moderne Sportsystem maßgeblich (Eichberg, 1997). Derartige Mechanismen können nicht nur zwischen unterschiedlichen Nationen beobachtet werden, sondern auch zwischen Standorten innerhalb eines Lands. Die gravitative Wirkung finanziell und medial großer Standorte sorgt auch im regionalen Kontext für Deskillisierungstendenzen.  

15.5 

Fazit und Ausblick

Nur wenige Sportlerinnen und Sportler schaffen den Sprung in den Profisport. Die individuelle Leistungsfähigkeit ist ein wes­ entlicher Bestandteil innerhalb dieses Prozesses. Um die Chancen des Zugangs zu ­erhöhen, sind jedoch zahlreiche unterschiedliche Faktoren ausschlaggebend. Sportbedingte Migration wird heute von historischen Verflechtungen zwischen Quell- und Zielregionen, von individuellen sportlichen und finanziellen Entwicklungsmöglichkei­ ten sowie formellen und informellen Netzwerken beeinflusst.

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Am Beispiel des Fußballs wurden diese Faktoren exemplarisch dargestellt. Auch wenn diese Sportart in besonders hohem Maße in globale Prozesse eingebettet ist, so sind die Einflüsse auf das Migrationsgeschehen auch auf andere Sportarten übertragbar, die bereits heute einen hohen Grad der Professionalisierung aufweisen oder diesen in der Zukunft erreichen werden. Diese Sportarten sehen sich somit den gleichen Mechanismen der sportbedingten Migration ausgesetzt. Globale Vernetzungen eröffneten zahlreiche neue Routen und Netzwerke, die es Sportlerinnen und Sportlern, Vereinen und Sponsoren ermöglichen, Zugang zu neuen Märken zu bekommen. Diese globalisierungsbedingten Strukturen prägen in hohem Maße das Erscheinungsbild des Profisports mit unterschiedlichen Folgen für Quell- und Zielregionen. Der Abzug von Talent (Deskillisierung) aus den Quellländern schwächt die Wettbewerbsfähigkeit der dortigen Vereine, und die internationale sportliche Leistungsfähigkeit wird im Wesentlichen durch die jeweilige Nationalmannschaft verdeutlicht. Die emigrierten Sportlerinnen und Sportler verfolgen primär ihre individuellen Interessen verbesserter Aufstiegs- und Verdienstmöglichkeiten. Aber auch die Herkunftsregion kann finanziell von der gesteigerten Aufmerksamkeit und zurückfließendem Kapital durch Werbeeinnahmen, Fanartikel und Ablösesummen profitieren. Auch können indirekte Effekte der Talentförderung entstehen, die den Wunsch nachfolgender Generationen, einen ähnlichen Karriereverlauf zu erreichen, erleichtert. Vereine und Standorte der Zielregionen verfolgen das primäre Ziel des sportlichen Erfolgs. Aufgrund der höheren Liquidität kann dieser durch eine breite Talentakquise erreicht werden. Neben den sportlichen Folgen können sich dadurch auch Chancen neuer Absatzmärkte für Fanartikel oder TV-Rechte ergeben, die Reichweite der Aufmerksamkeit wird vergrößert, und die Attraktivität für neue Investoren, aber auch weitere Talente kann gesteigert werden.

Dadurch ergibt sich für die künftige Forschung im Bereich der sportbedingten Migration eine Vielzahl unterschiedlicher Fragestellungen. Auf individueller Ebene der Athletinnen und Athleten ergibt sich folgende Fragen: Warum entscheiden sich Individuen, Profisportlerin oder -sportler zu werden? Wie gestaltet sich dieser Prozess, und welche Erfahrungen machen sie auf ihrem Weg? Im institutionellen Kontext hingegen kann die Frage aufgeworfen werden: Welche Inklusions- und Exklusionsmech­ anismen ergeben sich durch die formellen, aber vor allem informellen Netzwerke in der Sportwelt? Auch eine tiefer gehende Analyse der Wirkung sportbedingter Migration in Quell- und Zielregionen kann dabei unterstützen, die Prozesse sportbedingter Migration besser zu verstehen. Welche Faktoren spielen zukünftig eine zentrale Rolle für sportbedingte Migration? ? Übungs- und Reflexionsaufgaben 1. Neben den genannten Theorien liefern weitere Theorien und Ansätze der geographischen Migrationsforschung im Bereich der sportbedingten Migration Erklärungen. Wählen Sie geeignete aus und wenden Sie sie im Kontext der Sportmigration an. 2. Diskutieren Sie negative Aspekte der zunehmenden Internationalisierung der Sportmärkte im lokalen Kontext. Beleuchten Sie dabei nicht nur ökonomische Aspekte, sondern auch Fragen der lokalen Identifikation, Kultur und Entwicklung.

Zum Weiterlesen empfohlene Literatur Einführung in die Netzwerkforschung: Jansen, D. (2006). Einführung in die Netzwerkanalyse: Grundlagen, Methoden, Forschungsbeispiele. VS Verlag für Sozialwissenschaften.

269 Sport verbindet – Migration im Profisport

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271

Soziale Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im organisierten Sport – zwei Beispiele in der Schweiz Jenny Adler Zwahlen

Kinder mit Migrationshintergrund im Sportverein. (© Bundesamt für Sport) © Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Gans et al. (Hrsg.), Sportgeographie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66634-0_16

16

Inhaltsverzeichnis 16.1

 igration, organisierter Sport und soziale M Integration – 273

16.2

 portbeteiligung und Ausmaß der sozialen S Integration im organisierten Sport – 275 S port- und Bewegungsverhalten der jungen Bevölkerung mit Migrationshintergrund – 275 Ausmaß der sozialen Integration im organisierten Sport – 276

16.3

 edingungsfaktoren der sozialen Integration B im organisierten Sport – 276 I ndividuelle Bedingungsfaktoren der sozialen Integration bei Kindern und Jugendlichen – 276 Organisationale Bedingungsfaktoren der sozialen Integration – 278

16.4

Netzwerk Miteinander Turnen – 279  rganisation von MiTu – 279 O Vorgehensweise von MiTu zur Förderung der Integration durch Sport – 279

16.5

MidnightSports – 281  rganisation von MidnightSports – 281 O Vorgehensweise von MidnightSports zur Förderung der Integration durch Sport – 282

16.6

 ur Integrationsleistung der GoodZ Practice-Beispiele – 283

16.7

Zusammenfassung und Ausblick – 284 Literatur – 285

16

273 Soziale Integration von Kindern und Jugendlichen…

Einleitung

2021; Nobis et  al., 2021; 7 Kap.  17). Weiter zeigen Studien, dass bei organisierten Sportangeboten mit kulturell vielfältigen Teilnehmenden und Verantwortlichen Aggressionen, Stereotypisierungen, Diskriminierung, Fremdheitserfahrungen, rassistisch gefärbte Beschimpfungen, Konflikte bis hin zu Eskalationen auftreten (z.  B.  Janssens & Verweel, 2014; Nobis et al., 2021). Ziel dieses Beitrags ist einerseits, wesentliche Begriffe und Forschungserkenntnisse in der Thematik soziale Integration im organisierten Sport bezogen auf Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund vorzustellen. Andererseits sollen zwei Beispiele aus dem Schweizer Sport, die integrationsorientierte Bewegungs- und Sportangebote umsetzen, die Thematik verständlich machen.  

In der Schweiz leben derzeit etwa 57 % Kinder und etwa 55  % Jugendliche mit Migrationshintergrund, welche zukünftig die Gesellschaft mitgestalten werden (BFS, 2021). Ein Gesellschaftsbereich mit hohem sozial-integrativem Potenzial ist der organisierte Sport als soziale, gesellschaftliche und politische Sozialisationsinstanz (DOSB, 2014; Swiss Olympic, 2015). Für Kinder und Jugendliche ermöglichen insbesondere Sportvereine Sporttreiben als eine der beliebtesten Freizeitaktivitäten von Heranwachsenden (Adler Zwahlen et al., 2019). Man nimmt an, dass sich junge Migrantinnen und Migranten in Sportvereinen bei gemeinsamer Sportbetätigung (Kapiteleröffnungsbild), geselligem Miteinander, gegenseitiger Unterstützung und vereinspolitischen Tätigkeiten bewegungsbezogene Verhaltensweisen, gesellschaftlich verbindliche Werthaltungen und Umgangsformen aneignen, die für ihre ganzheitliche Entwicklung nützlich sind (Mutz, 2012; Zaccagni et al., 2017). Diese können gleiche Chancen und gelingende Teilhabe im Sportkontext sowie in außersportlichen Gesellschaftsbereichen ermöglichen (7 Kap. 14), z. B. im Bildungssektor. Gleichwohl sprechen Erkenntnisse aus dem (inter-)nationalen Raum dafür, dass die Integration der jungen Menschen mit Migrationshintergrund nicht automatisch funktioniert: Studien verweisen auf Unterrepräsentation in Sportvereinen. Dies indiziert, dass immigrierte Kinder und Jugendliche entweder ihr Recht auf Sporttreiben selbst nicht wahrnehmen (können) oder dass keine Chancengleichheit beim Zugang zum organisierten Sport zwischen einheimischen und immigrierten Kindern und Jugendlichen besteht (z. B. Hoenemann et al.,  

16.1 

Migration, organisierter Sport und soziale Integration

In den letzten Jahrzehnten hat sich die Bevölkerung in Europa sehr diversifiziert, sodass sich das Phänomen der internationalen Migration anhand des Kriteriums der Staatsangehörigkeit nur unzureichend analysieren lässt. Wissenschaftliche Untersuchungen arbeiten daher mit dem Konzept des Migrationshintergrundes (7 Box 16.1). Zur Definition von Migrantin oder Migrant wird als Kriterium der Geburtsort einer Person verwendet, weil es die internationale Migrationserfahrung eines Menschen berücksichtigen kann.  

274

J. A. Zwahlen

Box 16.1 Bevölkerung mit Migrationshintergrund (nach BFS, 2021)

Das Konzept Migrationshintergrund ersetzt die Unterscheidung zwischen in- und ausländischer Bevölkerung. Der stetige Anstieg des Anteils der Bevölkerung in der Schweiz mit ausländischer Staatsangehörigkeit basiert nicht allein auf der Immigration von Menschen, sondern auch auf dem Familiennachzug sowie deren in der Schweiz geborenen Nachkommen. Entsprechend umfassen Menschen mit Migrationshintergrund

16

Im Zusammenhang mit Förderung der sozialen Integration durch organisierten Sport stellt sich immer auch die Frage, wie und wo gemeinsames Sporttreiben organisiert werden kann. Dabei sind zum einen die Sportbiographie, Bedürfnisse und Möglichkeiten von Sporttreibenden zu berücksichtigen. Zum anderen ermöglichen vielfältige Institutionen mit unterschiedlichen organisationalen und strukturellen Rahmenbedingungen im Freizeitbereich für alle Bevölkerungsgruppen Bewegungs- und Sportangebote: (Ethnische) Sportvereine, Stiftungen, freiwilliger Schulsport, Tagesschulen oder Jug­ endorganisationen tragen mit attraktiven Sportangeboten zur sozialen Integration im Sport bei (zu Integrationsleistungen verschiedener Settings: Kleindienst-­ Cachay et al., 2012; Adler Zwahlen, 2018). Bei der sozialen Integration von Menschen mit Migrationshintergrund interessiert insbesondere, wie eingebunden Migrantinnen und Migranten in private Bereiche der Aufnahmegesellschaft sind (Heckmann, 2015). Es handelt sich um einen komplexen, mehrdimensionalen Eingliederungsprozess, der Zeit benötigt und generationenübergreifend ist (Heckmann, 2015). Soziale Integration ist ein wechselseitiger Prozess. Einerseits richten Migrantinnen und Migranten ihr Verhalten

solche, die außerhalb der Schweiz geboren (erste Generation) und die in der Schweiz geboren sind, aber mindestens ein Elternteil mit ausländischem Geburtsort haben (zweite Generation; BFS, 2021). In Abgrenzung zu Personen mit Migrationshintergrund umfassen Einheimische solche, die keine individuelle oder elterliche internationale Migrationserfahrung aufweisen.

in vielfältiger Weise auf soziale und politische Erwartungen der Aufnahmegesellschaft aus, ohne dabei eigene kulturelle Bezüge vollständig aufzugeben. Dadurch erhalten sie möglichst gleichwertige Zugangs- und Teilhabechancen zu wichtigen sozialen Ressourcen der Lebensführung – so auch zum Sport – wie die einheimische Bevölkerung (Esser, 2009). Andererseits ist eine offene Einstellung von Einheimischen der Aufnahmegesellschaft gegenüber kultureller Vielfalt gefragt, um Migrantinnen und Migranten gleichwertige Teilhabechancen zu ermöglichen. Bezogen auf den organisierten Sport stellen die Teilnahme an Sportangeboten oder die bloße Mitgliedschaft im Sportverein bereits einfache Formen der sozialen Integration dar. Für eine gesamthafte soziale Integration von Sporttreibenden ist die Einbindung in vielfältige Kommunikations- und Handlungsgelegenheiten des organisierten Sports maßgebend (Esser, 2009; Heckmann, 2015). Inwieweit jemand im organisierten Sport integriert ist, lässt sich durch Mitgliedschaft, Häufigkeit und Umfang der Sportaktivität oder Anzahl der Freundschaften nur unzureichend feststellen. Vielmehr sind verschiedene Indikatoren notwendig, die die vier Dimensionen von sozialer Integration nach Esser (2009) darstellen (7 Box 16.2).  

275 Soziale Integration von Kindern und Jugendlichen…

16

Box 16.2 Die vier Dimensionen sozialer Integration durch organisierten Sport (nach Esser, 2009)

Das vierdimensionale Konzept nach Esser (2009) wurde für die Integrationsforschung im organisierten Sport beispielsweise von Kleindienst-Cachay et al. (2012) oder Adler Zwahlen et  al. (2018) und Albrecht (2020) modifiziert und angewandt: 55 Kulturation impliziert u.  a. das Beherrschen der Vereinssprache und den Erwerb sportmotorischer Fähigkeiten, Ken­ ntnisse und das Respektieren der wichtigsten Sport- und Vereinsregeln sowie der Vereinswerte.

16.2 

Sportbeteiligung und Ausmaß der sozialen Integration im organisierten Sport

 port- und Bewegungsverhalten S der jungen Bevölkerung mit Migrationshintergrund Kennzahlen zum Sport- und Bewegungsverhalten in der Schweiz zeigen, dass vierbis neunjährige Kinder und zehn- bis 19-­jährige Jugendliche mit Migrationshintergrund weniger Sport treiben und häufiger inaktiv sind verglichen mit einheimischen Gleichaltrigen (Bringolf-Isler et  al., 2016; Lamprecht et al., 2021). Diesen Sachverhalt belegen auch Studien in weiteren europäischen Ländern wie in Deutschland (Hoenemann et  al., 2021), Dänemark (Nielsen et  al., 2013) oder Italien (Zaccagni et  al., 2017). Ähnlich wie bei den immigrierten Erwachsenen mit Migrationshintergrund in der Schweiz variiert die Sportaktivität bei Kindern und Jugendlichen nach Herkunft,

55 Interaktion spiegelt sich u. a. in der sozialen Akzeptanz, im Aufbau funktionierender Freundschaften im Verein oder in der Teilhabe an geselligen Vereinsanlässen wider. 55 Identifikation äußert sich u.  a. in der emotionalen Bindung zum Verein, im Vereinsstolz oder Empfinden eines Wirgefühls in der Sportgruppe. 55 Platzierung umfasst u. a. die Übernahme von Ämtern und Positionen im Verein, vereinspolitisches Interesse oder das Nutzen des Wahl- bzw. Mitspracherechts.

insbesondere bei Mädchen und jungen Frauen. Allerdings bestehen je nach Herkunft zwischen den einzelnen Gruppen mit Migrationshintergrund z.  T. erhebliche Unterschiede bzgl. der Intensität und Art der Sportaktivitäten (Hoenemann et  al., 2021; Lamprecht et al., 2021). Mit Blick auf die Teilhabe am organisierten Sport lässt sich anhand der Mitgliedschaftszahlen von Sportvereinen beoba­ chten, dass Kinder und Jugendliche mit Migrationshintergrund in der Schweiz wie in anderen Ländern Europas im Vergleich zu einheimischen Kindern und Jugendlichen unterrepräsentiert sind (Bringolf-­Isler et al., 2016; Lamprecht et al., 2021). Die Sportvereinspartizipation ist vor allem bei jungen Mädchen mit Migrationshintergrund wenig ausgeprägt (Zaccagni et  al., 2017; Lamprecht et al., 2021): Sind immigrierte Jungen mit 61 % in Sportvereinen vertreten, so sind es nur 43  % bei immigrierten Mädchen. In diesem Zusammenhang ist interessant, dass immigrierte Mädchen an Sportangeboten des freiwilligen Schulsports im Gegensatz zu Sportvereinsangeboten überdurchschnittlich oft teilnehmen (Lamprecht et al., 2021).

276

J. A. Zwahlen

 usmaß der sozialen Integration A im organisierten Sport Bei der sozialen Integration in verschiedenen Settings des organisierten Sports ist zentral, inwiefern auf das bloße Sporttreiben im organisierten Sport auch eine Einbindung in vielfältige Kommunikations- und Handlungsgelegenheiten folgt. Wissenschaftliche Befunde belegen anhand des vierdimensionalen Konzepts von sozialer Integration (7 Box 16.2), dass die Bevölkerung mit Migrationshintergrund bis zu einem bestimmten Grad und unabhängig von der Altersgruppe vielfältig in Sportvereine integriert sein kann. Für die Dimension Kulturation zeigt sich, dass die Teilhabe am Vereinssport Wissen über vereinstypische Abläufe, Sport- und Leiterkompetenzen, Regelakzeptanz und Commitment generiert (z.  B.  Janssens & Verweel, 2014; Van der Roest et al., 2017). Zudem konnten sich gängige Geschlechterrollenvorstellungen annähern (Zender, 2015). Für die Dimension Interaktion wurde belegt, dass zwischen Vereinsmitgliedern unterschiedlicher Herkunft Fremdheit verringert und Vertrauen aufgebaut wurde (z. B. Janssens & Verweel, 2014; Flensner et  al., 2022). Auch wurden neue Freundschaftsbeziehungen geknüpft (Van der Roest et al., 2017). Waren Freundschaften dauerhaft und regelmäßig, konnten (tiefe) interethnische Freundschaften entstehen (Mutz, 2012; Makarova & Herzog, 2014). Bezüglich der Dimension Identifikation äußerten Migrantinnen und Migranten, dass sie sich in einer Sportgruppe wohl und zugehörig fühlen. Sie entwickelten mit der Akzeptanz durch andere Vere­ insmitglieder, durch Sporterfolge oder (konfliktfreie) Sportausübung Gefühle von Stolz und Zugehörigkeit zum Verein (Adler Zwahlen et al., 2019; Flensner et al., 2022). Hinsichtlich der Dimension Platzierung stellt die formale Vereinsmitgliedschaft bereits eine erste Form der vereinspolitischen Integration dar. Migrantinnen und Migran 

16

ten nutzen Mitentscheidungsmöglichkeiten, z.  B. ihr Wahlrecht in der Generalversammlung, beteiligen sich aktiv durch ehrenamtliches Engagement und interessieren sich für die Mitgestaltung des Vereins (Kleindienst-Cachay et  al., 2012; Van der Roest et  al., 2017). Zwar besitzen Migrantinnen und Migranten Zugang zu sport- und verwaltungsbezogenen Funktionsrollen inn­ erhalb des Vereins, sie sind allerdings in dessen Führung unterrepräsentiert (Elling & Claringbould, 2005; Wicker et al., 2022). Adler Zwahlen et al. (2018) konnten zeigen, dass Sportvereinsmitglieder der ersten und zweiten Migrationsgeneration höhere Werte in Interaktion und Kulturation als in Identifikation und Platzierung aufweisen. Sie sind im Vergleich zu einheimischen Sportvereinsmitgliedern entlang der Dimensionen Kulturation, Interaktion und Platzierung etwas geringer sozial integriert. Die gleichartige Einbindung im organisierten Sport ist demnach nicht für alle Menschen mit Migrationshintergrund immer gegeben. Die Variationen resultieren aus unterschiedlichen individuellen Voraussetzungen und organisationalen Bedingungen, die die sozialen Integrationsprozesse beeinflussen.

16.3 

Bedingungsfaktoren der sozialen Integration im organisierten Sport

Individuelle Bedingungsfaktoren der sozialen Integration bei Kindern und Jugendlichen Die geringe Sportbeteiligung sowie das unterschiedliche Ausmaß der sozialen Integration von Heranwachsenden mit Migrationshintergrund können mit ihren Eigenschaften, Ressourcen und Kompetenzen zusammenhängen. Zudem fungieren in dieser jungen Altersgruppe die Eltern als Entscheidungs-

277 Soziale Integration von Kindern und Jugendlichen…

träger bzw. Türöffner für die Teilhabe an Bewegungs- und Sportangeboten. Hinsichtlich soziodemographischer Merkmale kristallisieren sich Barrieren heraus, deren Ursachen im Alter, Geschlecht, niedrigen Bildungsniveau und in geringen finanziellen wie materiellen Ressourcen (u. a. der Eltern) liegen (Hoenemann et  al., 2021; Lamprecht et  al., 2021). Muslimische Religionszugehörigkeit und (ausgeprägte) Religiosität hindern insbesondere Mädchen und junge Frauen wegen zu befolgender Verhaltensnormen sowie Alltagsverpflich­ tungen am Sporttreiben (Zender, 2015; Adler Zwahlen et al., 2019). Die Herkunft spielt eine grundlegende Rolle, weil sie über soziokulturelle Merkmale bei Integrationsprozessen im organisierten Sport zum Ausdruck kommt: Spezifische Einstellungen, Wert- und Handlungsorientierungen, die mit der Herkunft zusammenhängen, können von typischen Mustern der Aufnahmegesellschaft mehr oder weniger distanziert sein und die sportbezogene Integration beeinflussen (Mutz, 2012; Adler Zwahlen et  al., 2019). Bedeutsam erweist sich die Identifikation mit der Herkunfts- und/oder Aufnahmegesellschaft, welche die Attraktivität einer Zugehörigkeit zu einer Sportgruppe bzw. einem Sportverein oder den Umgang mit Ausgrenzungsund Isolationserfahrungen prägt (Maxwell et  al., 2013; Burrmann et  al., 2017). Die Sprachkompetenz und die Sprachverwendung im Freundeskreis sind teilweise Schlüsselfaktoren für die Sportvereinspartizipation (Adler Zwahlen et  al., 2019; Flensner et  al., 2022). Mit zunehmender Aufenthaltsdauer im Aufnahmeland gleichen sich Sportaktivitätsverhalten und soziale Integration in Sportvereinen denen der Einheimischen an (Mutz & Hans, 2015; Adler Zwahlen et al., 2018). Dabei ist auch die Rückkehrabsicht von jungen Migrantinnen und Migranten ins Herkunftsland zu

16

berücksichtigen (Gerber et  al., 2012; Adler Zwahlen et  al., 2019). Zudem sind soziokulturelle Merkmale und die Lebenssituation der Familie der Heranwachsenden zu betrachten: Relevant sind geringe Zeitressourcen der Eltern für die Begleitung zum Sportangebot infolge einer höheren Anzahl Kinder oder prekärer Formen elterlicher Erwerbstätigkeit (Gerber et al., 2012; Zaccagni et al., 2017), eine günstige Wohnlage oder -umgebung (Mutz, 2012; Zender, 2015), elterliche Überzeugungen über die Wichtigkeit von Sport und Bewegung und damit verbundene Unterstützungsleistungen (Zender, 2015; Stefansen et al., 2016). Sportaktivitäts- und vereinsmitgliedschaftsbezogene Merkmale sind ebenfalls bedeutungsvoll: sportliche Vorerfahrungen, die Häufigkeit und Wettkampforientierung der Sportaktivität im Verein, das Leistungsniveau, die Mitgliedschaftsdauer und das ehrenamtliche Engagement im Verein (Adler Zwahlen et  al., 2019; Buser et  al., 2022). Wenige Studien untersuchten die Einstellung, mit der sich Heranwachsende im organisierten Sport integrieren. Sie präferieren eher eine bikulturelle Integrationsstrategie, d.  h., sie orientieren sich an vereinstypischen Mustern, ohne jedoch eigene kulturelle Bezüge aufzugeben (Burrmann et  al., 2017; Adler Zwahlen et  al., 2019). Das Aktivitätsverhalten und die Teilhabe in Sportvereinen von immigrierten Kindern und Jugendlichen werden durch die Körper- und Bewegungspraktiken der Eltern oder Geschwister geprägt (Spaaij, 2013; Walseth & Strandbu, 2014), denn Eltern geben ihre Bewegungserfahrungen sowie sportspezifischen Kenntnisse an ihre Kinder weiter, erziehen diese eher sportbezogen oder sind Vorbild. In diesem Zusammenhang erweist sich die elterliche Sportaktivität (u.  a. in Sportvereinen) als förderlich (Adler Zwahlen et  al., 2019; Lamprecht et al., 2021).

278

J. A. Zwahlen

Organisationale Bedingungsfaktoren der sozialen Integration

16

Neben den individuellen Bedingungsfakt­ oren der Heranwachsenden mit Migrationshintergrund beeinflusst auch das weitere soziale Umfeld, z.  B. der Sportverein, ihre sportlichen Aktivitäten. Spezifische Programme und Angebote wie Zusatztrainings, außersportliche, teambildende Anlässe oder finanzielle und sprachliche Unterstützungsleistungen wirken sich günstig auf die soziale Integration aus (Braun & Finke, 2010; Lannen et  al., 2021). Für solche Angebote fehlen allerdings oft finanzielle und infrastrukturelle Ressourcen (Witoszynskyj & Moser, 2010; Kleindienst-Cachay et  al., 2012). Sind Sportangebote hinsichtlich der speziellen Bedürfnisse und Lebenslagen von jungen Migrantinnen und Migranten passend, so werden diese als attraktiv wahrgenommen, wie geschlechtergetrennte Spo­ rtgruppen, präferierte Sportarten oder flexible Bekleidungsregeln (Kleindienst-Cachay et al., 2012; Maxwell et al., 2013). Bestätigt hat sich, dass niederschwellige Sportangebote mit geringen sportmotori­schen und sprachlichen Kompetenzen integrationsfördernd sind (Braun & Finke, 2010; Flensner et  al., 2022). Solche Angebote sind zudem kostengünstig und können ohne Anmeldung und Verpflichtung besucht werden. Die Gestaltung von Kommunikationswegen kann die soziale Integration fördern: ein Leitbild, das explizit auf die Integrationsförderung ausgerichtet ist, aktive Rekrutierung der zu erreichenden Zielgruppe, Vernetzung mit externen Organisationen, Partnern und Schlüsselpersonen, Informations­ möglichkeiten, vereinsinterne Kommunikation und einheitliches Integrationsverständnis (Lannen et  al., 2021; Flensner et  al., 2022). Gemeinsames Sporttreiben ist kaum ohne soziale Interaktionen vorstellbar. Das ist ein Grund, warum personale Aspekte wie

Trainingsleitende mit Migrationshintergrund oder Ämterbesetzung durch kultursensible Personen besonders relevant sind. Integrationsförderliche Einstellungen, ein bikulturelles Integrationsverständnis und Integrationsbemühungen seitens der Sportvereinsakteure begünstigen die soziale Integration von Kindern und Jugendlichen (Buser et  al., 2022; Flensner et  al., 2022). Zudem erweisen sich Möglichkeiten zur Kompetenzentwicklung für Trainingslei­ tende, z. B. durch sensibilisierende Aus- und Weiterbildungen, als nützlich (Braun & Finke, 2010; Lannen et  al., 2021). Die Organisationskultur ist bedeutsam, weil sie sich als Willkommenskultur und Möglichkeit zum Aushandeln von Normen und kulturellen Spezifika zwischen Leitenden und jungen Sporttreibenden im Vereinssport positiv auf die soziale Integration auswirkt (Zender, 2015; Flensner et al., 2022). Anhand der vielfältigen Bedingungsfaktoren, die in der Realität zusammenwirken, wird die empirisch schwierig zu erfassende Komplexität von sozialen Integrationspro­ zessen im organisierten Sport sichtbar. Entsprechend werden zur Erklärung der Teilhabe und der sozialen Integration von jungen Menschen mit Migrationshintergrund im organisierten Sport neben klassischen Theorien (z.  B. soziale Ungleichheit, kulturelle Differenzen, Lebensstilansatz) vermehrt jüngere Ansätze aus anderen Wissenschaftsbereichen (z.  B. boundary work, Intersektionalität, ak­ teurtheoretischer Ansatz) angewendet (Adler Zwahlen, 2018). Das Netzwerk Miteinander Turnen (MiTu) und das Bewegungsangebot MidnightSports sind zwei Beispiele für gute Integrationspraxis im organisierten Sport in der Schweiz. Sie nehmen forschungsbasierte Erkenntnisse auf und setzen diese für die soziale Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund erfolgreich um. Die folgenden Beschreibungen und Erläuterungen basieren auf Telefoninterviews mit Elias Vogel (Projektleiter MiTu) sowie Jana Köpfli (Fachspezialistin

16

279 Soziale Integration von Kindern und Jugendlichen…

Bewegung und Gesundheit bei IdéeSport) im Juni 2020 bzw. März 2022. Zusätzlich wurden Informationen der Webseiten 7 www.mitu-schweiz.ch und 7 www.ideesport.­ch, des MiTu-Evaluationsberichts und des Stiftungsberichts 2020/21 der Stiftung IdéeSport (2021) verwendet.1  



16.4 

Netzwerk Miteinander Turnen

Organisation von MiTu MiTu wird von dem Breitensportverband Sport Union Schweiz getragen und durch deren Vereine an momentan 22 Standorten in drei Sprachregionen der Schweiz mit 3500 teilnehmenden Familien umgesetzt. Ziel ist, die Vorschulturnangebote „Muki“, „Vaki“, „Elki“ schweizweit zu nutzen, um Familien mit Migrationshintergrund, mit sozioökonomischen Herausforderungen und mit beeinträchtigten Kindern in die Gemeinde und in das Vereinsleben zu integrieren. Zentral ist das einstündige vielseitige und abwechslungsreiche Bewegungsangebot in Sporthallen, welches durch Vorschulturnleitende über 30 Wochen hinweg umgesetzt wird. Drei- bis fünfjährige Kinder können im Rahmen des Angebots zusammen mit ihren erwachsenen Bezugspersonen ihren Bewegungsdrang ausleben. Sie erhalten eine bewegungsbasierte Förderung von Sozialkompetenzen und Basiskompetenzen der Schulfähigkeit. Durch gemeinsames Bewegen werden nicht nur verschiedene Kulturen und Sprachen kennengelernt, sondern auch Vorurteile und Kontaktängste abgebaut. In den Erlebnislektionen des Bewegungsangebots wird meistens ein Jahresthema in Bewegungslandschaften mit Spiel

1

Die Autorin bedankt sich bei Elias Vogel und Jana Köpfli für ihre Unterstützung.

und Spaß, Entdecken, Singen usw. umgesetzt. In den Bewegungsangeboten ist das Geschlechterverhältnis der teilnehmenden Kinder ausgeglichen. Etwa ein Drittel der teilnehmenden Kinder hat einen Migrationshintergrund.

 orgehensweise von MiTu zur V Förderung der Integration durch Sport MiTu knüpft an drei zentrale Herausforderungen an: 1. Erreichbarkeit der Kinder und Eltern mit Migrationshintergrund: Bei MiTu sind niederschwellige Sportangebote wegweisend, um Kindern den Zugang zum organisierten Sport zu erleichtern. Die Teilnahmegebühr von 5 CHF pro Lektion (ca.  4,70 EUR) ist kostengünstig. Finanziell Bedürftige werden durch die „KulturLegi“ der Caritas2 und das Netzwerk unterstützt. Die Bewegungsang­ ebote setzen bei den Kindern und Eltern keine besonderen sportmotorischen und sprachlichen Kompetenzen voraus. Sie zielen darauf ab, dass elementare motorische Fertigkeiten und Verhaltensweisen beim Sport erlernt werden. Eltern (oder Großeltern) werden direkt in MiTu einbezogen, indem sie ihren Kindern bei den Aktivitäten helfen und nicht zuschauend am Hallenrand sitzen (. Abb. 16.1). Damit wird die Beziehung zwischen Kind und Elternteil gefördert. Indem über die Dauer des Bewegungsangebots hinweg möglichst immer dasselbe Elternteil eines Kinds teilnimmt, dürften sich einerseits alle Kinder in der Gruppe vertraut und sicher fühlen.  

2 Kinder und Erwachsene mit geringem Einkommen erhalten mit der „KulturLegi“ finanzielle Unterstützung bei Aktivitäten in den Bereichen Freizeit, Kultur, Sport und Bildung (ähnlich dem Bildungs- und Teilhabepaket in Deutschland).

280

J. A. Zwahlen

..      Abb. 16.1  Bewegungslandschaft für Kinder bei MiTu. (© Netzwerk Miteinander Turnen)

16

Andererseits werden Eltern miteinander vertraut und Brücken zwischen Familien gebaut. MiTu versucht, durch positive Bewegungserfahrungen sowie Informationsweitergabe an die Eltern hinsichtlich der Bedeutung des kindlichen Sporttreibens zu sensibilisieren. Ein weiterer Aspekt ist die zugesch­ nittene Rekrutierungsstrategie von MiTu: Der Fokus liegt hierbei auf Visibilität und Kommunikation nach außen, damit Migrantenfamilien die Bewegungsange­ bote von MiTu überhaupt erst wahrnehmen. Sehr hilfreich ist der viersprachige Flyer mit Informationen zu MiTu und der 14-sprachige Flyer für jeden Projektstandort. Neben der Mund-zuMund-Propaganda sind weitere Inform­ ationskanäle bedeutsam: die MiTu-Webseite mit Podcast, eine Facebook-Seite, diverse Foren und die App „parentu“ (in 13 Sprachen). Während der Corona-Pandemie konnten sich Interessierte zu Hause von Ideen zur Bewegung inspirieren lassen. Konkret erfolgte das mittels Videobeiträgen oder einer Linksammlung zu weiteren Videos, die für sämtliche Personen zugänglich waren. Von hoher Wichtigkeit ist die Vernetzung von MiTu mit Gemeinden, Fachstellen, Sozialdiensten, diversen Fachpersonen, Kinderarztpraxen, Schu-

len, Hochschulen, Vereinen und Verbänden. MiTu ist zudem Teil diverser Netzwerke, was den Informationsaustausch bezweckt, Ressourcen durch die Nutzung von Synergien spart und die Verbreitung der Thematik in der Gesellschaft ermöglicht. Bedeutsam ist dabei die Zusammenarbeit mit Schlüsselpersonen, also zielgruppennahen Partnern. 2. Zielgruppenspezifische Passung und Qualität der Bewegungsangebote: Eine kultursensible Haltung der Vorschulturnleitenden spielt bei MiTu eine wichtige Rolle. Diese werden wie andere Vereinsakteure im alltäglichen Austausch sowie in der Ausbildung zum Umgang mit kultureller Vielfalt und zur Herausbildung einer integrationsförderlichen Haltung sensibilisiert. Es wird darauf geachtet, dass bei den Vorschulturnleitenden ein Bewusstsein für die speziellen Bedürfnisse, z.  B.  Sprachschwierigkei­ ten, körperliche Beeinträchtigung, und Voraussetzungen der Teilnehmenden vorhanden ist. Dadurch wird zum einen die Teilnahme der Kinder und deren Eltern (oder Großeltern) an den Bewegungsangeboten erleichtert, zum anderen erhöht sich die Chance, dass die Bewegungsangebote hinsichtlich ihrer Ziele wirksam sind. Die Möglichkeit zum Erfahrungsaustausch und zur gegenseitigen Motivation, die Vernetzung unter Vorschulturnleitenden sowie die Gewährleistung der Qualität der Angebote sind weitere Schlüsselaspekte: Das „Web-Forum“ dient als Austauschplattform für alle Vorschulturnleitenden. Das Forum „Vorschulturnleitende“ auf Facebook wird genutzt, um die Meinung der Vorschulturnleitenden zu bestimmten Themen einzuholen. Im Forum „Weiterbildung MiTu“ gehen Vorschulturnleitende mit der Gemeindevertretung und lokalen bzw. regionalen

281 Soziale Integration von Kindern und Jugendlichen…

Fachstellen zu den Themen Inklusion und interkulturelle Kommunikation in Dialog. Darüber hinaus unterstützt die Projektleitung die Vorschulturnleitenden bei Fragen und Anliegen fachlich oder liefert Hinweise. MiTu besitzt eine eigene Ausbildungsstruktur mit dem dreitägigen Basiskurs „Vorschulturnen“ und einem Weiterbildungstag für Vorschulturnleitende. Somit können die Bewegungsangebote kompetent geplant sowie qualitativ hochwertig durchgeführt werden. Ergänzend zur Ausbildung wurde ein Leitfaden mit Best-­Practice-­Übungen als Orientierungshilfe erarbeitet, um die Qualität auch bei wechselnden Vorschulturnleitenden zu sichern. Die Projektleitung besucht jährlich alle Umsetzungsstandorte von MiTu, erhält dadurch Einblick in die Lektionen, gibt Rückmeldungen und veranlasst nötige Optimierungen. Eine wissenschaftliche Fundierung des Projekts wird in zweierlei Hinsicht gewährleistet: Einerseits werden Erkenntnisse aus der Forschung allgemein und aus der externen Evaluation (Lannen et al., 2021) direkt in das Projekt integriert. Andererseits werden Forschungserkenntnisse über Weiterbildungen an Vorschulturnleitende vermittelt. 3. Finanzierung der Bewegungsangebote: MiTu erhält Fördergelder von diversen Stiftungen, der Gesundheitsförderung Schweiz, Bundesstellen und Kantonen. Lektionen können regelmäßig stattfinden, was wiederum die Migrantenfamilien an den organisierten Sport und an den Verein bindet.

16.5 

16

MidnightSports

Organisation von MidnightSports MidnightSports ist ein Programm der Stiftung IdéeSport für 13- bis 17-jährige Jugendliche. Mitglieder dieser Altersgruppe sollen unabhängig von Herkunft, Geschlecht, Religion oder anderen individuellen Merkmalen in einem sportlichen Rahmen Gesundheitsförderung, Partizipation und gesellschaftliche Integration erfahren. 2019 ermöglichten neben MidnightSports weitere Programme 131.000 Kindern und Jugendlichen Bewegung und Begegnung. Aktuell finden die Programme an 183 Standorten in allen Sprachregionen der Schweiz statt. Die 2540 Coachs werden für ihr ehrenamtliches Engagement entschädigt. In drei Regionalbüros arbeiten ca. 50 Festangestellte in einer agilen Organisationsform ohne Vorgesetzte und mit verteilten Führungsaufgaben. Fachlich und finanziell werden die Programme durch die öffentliche Hand wie Gemeinden, Kantone, Gesundheitsförderung Schweiz, Fachpartner, zahlreiche finanzielle Partner sowie über Fundraising unterstützt. Bei MidnightSports treffen sich Jugendliche in den sonst leer stehenden Sporthallen ihrer Gemeinden während des Winterhalbjahres an jedem Samstag zwischen 20 und 23 Uhr zum freien Spiel (. Abb. 16.2), Sporttreiben und zu sozialen Interaktionen. Etwa ein Drittel aller Teilnehmenden sind junge Frauen (35  %). Unklar ist der Anteil an Jugendlichen mit Migrationshintergrund.  

282

J. A. Zwahlen

..      Abb. 16.2  Beispiel für ein Bewegungsangebot bei MidnightSports. (© Stiftung IdéeSport: Christian ­Jaeggi)

Vorgehensweise von MidnightSports zur Förderung der Integration durch Sport

16

MidnightSports ist gekennzeichnet durch (1) eine dynamische Organisation mit zeitgemäßen Strukturen, (2) Bewegungsangebote, die spezielle Bedürfnisse und Lebenslagen der Jugendlichen berücksichtigen, und (3) außersportliche Möglichkeiten mit Potenzial zur vertieften Einbindung bei MidnightSports: 1. IdéeSport als dynamische Organisation mit zeitgemäßen Strukturen: Das Sti­ ftungsziel der Integrationsförderung gibt Mitarbeitenden eine Orientierung für ihr Handeln. Die flexiblen Strukturen und Prozesse ermöglichten beispielsweise während der Corona-Pandemie die Weiterentwicklung von Angeboten. In kurzer Zeit erarbeiteten die Teams alt­ ernative Programme unter Berücksichtigung der lokal sehr unterschiedlichen und wechselnden Corona-Veror­ dnungen. Daraus entstanden „Midnight U16“ für Jugendliche, „Midnight Outdoor“, „MidnightWeeks“ (wochenweise während der Schulferien) und „Midnight Online Challenges“ in den sozialen Medien.

Im Rahmen des Coach-Programms bei IdéeSport kooperieren Jugendliche mit der erwachsenen Projektleitung: Einerseits sind die Jugendlichen in der Regel aus der gleichen Region bzw. aus dem gleichen Schulkreis, und teilweise kennen sie sich. Somit können Coachs und Teilnehmende über bestehende Beziehungen in Kontakt treten. Andererseits organisieren die Coachs die Veranstaltungen mit, leiten Spiele und Bewegungsangebote an. Die Coachteams werden zum Umgang mit Konflikten und kultureller Vielfalt gezielt aus- und weitergebildet. Sie sind nach Herkunft, Alter, Persönlichkeit und Geschlechterverteilung heterogen zusammensetzt und bilden dadurch die Vielfalt der Teilnehmenden ab. Somit findet jeder Jugendliche eine passende Ansprechperson, und Hemmschwellen werden gegenüber Andersartigkeit abgebaut. Die verschiedenen Altersgruppen innerhalb des Coachteams ermöglichen Kontinuität über mehrere Saisons, sodass die Teilnehmenden bei MidnightSports mit den Coachs vertraut sind. Mit dem Verhaltenskodex „Sicher, respektvoll und gewaltfrei“ wird versucht, eine integrationsorientierte Haltung bei allen Beteiligten der IdéeSport-Programme zu verankern und ein Commitment zu schaffen. Vernetzung spielt eine wichtige Rolle: An den jeweiligen Standorten werden in die Projektgruppe Schlüsselpersonen aus Gemeinden, manchmal der Polizei und punktuell Eltern einbezogen. Die Vernetzung mit Sportvereinen, Schulen und zahlreichen Partnern von IdéeSport bedeutet, dass das interne Know-how erweitert bzw. fehlendes Know-how abgeholt wird. Mit Blick auf Erreichbarkeit der Jugendlichen sind Flyer in Schulen über das Angebot und Mund-

283 Soziale Integration von Kindern und Jugendlichen…

zu-Mund-Propaganda zentral. Passend zu der Art und Weise wie die Jugendlichen im Alltag in Kontakt stehen, gibt es an den jeweiligen Standorten Whats­ App-, Instagram- oder Facebook-Gruppen. 2. Passende Bewegungsangebote: Bewegu­ ngsangebote setzen an den Lebenswelten von Jugendlichen an und ermöglichen Bewegung, geselliges Miteinander, Knü­ pfen von Freundschaften und soziales Austauschen. Die Orte der Veranst­ altungen sind Sporthallen von Schulen. Sie erleichtern den Zugang für Jugendliche, weil diese Orte bei vielen Teilnehmenden Vertrautheit erzeugen und dadurch ihr individuelles Sicherheitsgefühl stärken. Zudem finden die Veranstaltungen Samstagabend statt, und die regelmäßige Durchführung ab Mitte Oktober bis Ende März weckt bei vielen Jugendlichen ein großes Interesse an der Teilnahme. Niederschwelligkeit ist auch bei MidnightSports ein Erfolgsfaktor: Die Teilnahme ist kostenlos und unverbindlich, eine Mitgliedschaft entfällt, Bekleidungsvorschriften (außer Hallenschuhe) bestehen nicht  – genauso wenig wie Lei­ stungsprinzip und Trainingscharakter. Sportmotorische Fähigkeiten, sportartspezifisches Können und ein bestimmtes Leistungsniveau spielen keine Rolle. Weiter wird kein Wissen über Abläufe beim Sporttreiben vorausgesetzt. Die Coachs leiten die Bewegungsangebote nur bei Bedarf an, somit ist freies Bewegen ohne oder mit eigenen Regeln möglich. Eine weitere Besonderheit ist die Partizipation der jungen Teilnehmenden: Ihre Bedürfnisse und Wünsche werden durch das Coachteam direkt bei den jeweiligen Veranstaltungen einbezogen. Auf diese Art ist das Bewegungsangebot interaktiv und individuell inszeniert. Diese Mitbestimmung weckt zugleich die emotionale Zugehörigkeit der Jugend-

16

lichen. Zudem wird versucht, Teilnehmende für die Rolle als Coach zu gewinnen, auszubilden und somit längerfristig an MidnightSports zu binden. Der Peer-to-Peer-Ansatz, bei dem Jugendliche für Jugendliche das Bewegungsangebot planen und betreuen, ist ein Schlüsselelement bei MidnightSports, denn jugendliche Coachs sprechen die gleiche „Sprache“ wie die jugendlichen Teilnehmenden. Sie wissen am besten, was ihre Gleichaltrigen zum Mitmachen motiviert. 3. Außersportliche Möglichkeiten: MidnightSports bietet in den Sporthallen ergänzende außersportliche Angebote an, z. B. Chill-Ecke und Verpflegungsmöglichkeiten. Sie tragen mit den Bewegungsangeboten dazu bei, dass MidnightSports zu einem entwicklungsgemäß passenden sozialen Treffpunkt für Jugendliche wird. 16.6 

 ur Integrationsleistung der Z Good-Practice-Beispiele

Der Beitrag von MiTu und MidnightSports für die soziale Integration von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund im organisierten Sport wird abschließend anhand des vierdimensionalen Konzepts von sozialer Integration (7 Abschn.  16.1) beispielhaft aufgezeigt: Für Kulturation zeigt sich, dass bei MiTu die immigrierten Kinder mit ihren Eltern – mithilfe von kultursensiblen Leitenden  – sportmotorische Fertigkeiten erlernen. Zud­ em sind sie hinsichtlich der Bedeutung von Bewegung für eine gesunde Entwicklung sensibilisiert. Teilnehmende bei MidnightSports kennen Regeln und Werte beim Sporttreiben, weil ein verbindlicher Verhaltenskodex gilt. Im Rahmen des Coach-­ Programms erhalten Jugendliche mit Migrationshintergrund nötige Leiterkomp­ etenzen für den Umgang mit Konflikten sowie kultureller Vielfalt im Sport und nut 

284

16

J. A. Zwahlen

zen diese bei den Veranstaltungen. Bei Interaktion zeigt sich, dass sich Familien durch die MiTu-Bewegungsangebote näher ­kennenlernen und auch in Zeiten, in denen keine Bewegungsangebote stattfinden können (Corona-Pandemie), per digitalen Inputs vernetzt bleiben. Der Verhaltenskodex bei MidnightSports begünstigt, dass Sporttreiben, Bewegen und Spielen weitestgehend konfliktfrei verläuft. Durch niederschwellige Rahmenbedingungen, gemeinsames Bewegen und geselliges Miteinander wird MidnightSports eine Art soziale Kontaktbörse und ein Ort der Alltagskommunikation für Jugendliche mit und ohne Migrationshintergrund. Für Identifikation lässt sich beobachten, dass sich Kinder und Eltern mit „ihrer“ MiTu-­ Gruppe vertraut und zugehörig fühlen, dank der regelmäßig durchgeführten Bewegungsangebote bei gleichbleibenden Teilnehmenden und Leitungspersonen. Die Gewinnung von Jugendlichen bei MidnightSports auch als Coach sowie die gleichbleibende Teamzusammensetzung über längere Zeit bewirken eine tiefere (Ein-) Bindung an IdéeSport. Dies dürfte Stolz und ein emotionales Zugehörigkeitsgefühl zum Team seitens der Jugendlichen mit sich bringen. Hinsichtlich Platzierung sind die Position in einer MiTu-Gruppe und die regelmäßige Teilnahme von Kindern und ihren Eltern ein Zeichen für soziale Integration. Damit verbunden haben die Migrantenfamilien das Recht zur Teilnahme an den digitalen Inputs. Weiter engagieren sich Jugendliche freiwillig als Coach bei den MidnightSports-­Veranstaltungen. Über den Peer-to-Peer-­Ansatz werden bei MidnightSports Teilnehmende für Entscheidungen und Planung von Bewegungsangeboten einbezogen; sie haben Mitsprache. Diese Beschreibungen verdeutlichen, dass Kinder und Jugendliche bei MiTu und MidnightSports vielfältig sozial integriert sind. Dies ist mitunter Ausdruck dafür, dass die Institutionen Netzwerk Miteinander Turnen und Stiftung IdéeSport Maßnahmen einsetzen und Rahmenbedingungen be-

sitzen, die günstige Möglichkeiten zur sozialen Integration entlang der vier Dimensionen zulassen. 16.7 

Zusammenfassung und Ausblick

In der Schweizer Bevölkerung nimmt der Anteil von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund zu. Die Bedeutung des organisierten Sports aufgrund seines ­sozial-integrativen Potenzials wächst. Allerdings sind die Teilhabechancen am organisierten Sport nicht per se für alle Heranwachsenden gleich, denn Integrationspro­ zesse laufen im organisierten Sport unter vielfältigen Bedingungen ab. Die GoodPractice-Beispiele heben hervor: Bei der Inszenierung von integrationsorientierten Bewegungsangeboten ist zielführend, einzelne individuelle und organisationale Beding­ ungsfaktoren der sozialen Integration systematisch zu beachten und in Maßnahmen umzusetzen. Dadurch gelingt es dem Netzwerk Miteinander Turnen und der Stiftung IdéeSport, junge Migrantinnen und Migranten für ihre Bewegungsangebote zu erreichen und sie vielfältig zu integrieren. Die Ansätze der Good-Practice-Beispiele dürften auch chancenreich sein, um junge Heranwachsende mit Beeinträchtigungen im organisierten Sport zu integrieren. Auch für diese Zielgruppe ist der Zugang zu und die Teilnahme an Bewegungsangeboten erschwert, und die Bedingungsfaktoren ähneln denen junger Migrantinnen und Migranten (z.  B.  Elling & Claringbould, 2005; Albrecht, 2020). Will man gemeinsames Sporttreiben schweizweit zumindest richtungsweise realisieren, dann liegt Potenzial darin, alternative Integrationssettings – neben Sportvereinen – herauszukristallisieren. Beispielsweise fördern Stiftungen, freiwilliger Schulsport, Kindertagesstätten oder Jugendorganisati­ onen mit Bewegungsangeboten proaktiv die soziale Integration. Wünschenswert ist, diese

285 Soziale Integration von Kindern und Jugendlichen…

Settings dann auch stärker in der Öffentlichkeit und Sportpraxis anzuerkennen und zu fördern. ? Übungs- und Reflexionsaufgaben 1. Welche Besonderheiten gilt es, bei der Gestaltung von Sportangeboten für Kinder und Jugendliche mit Mig­ rationshintergrund zu berücksich­ tigen? 2. Beschreiben Sie die Erfolgsfaktoren der beiden Bewegungsangebote MiTu und MidnightSports!

Zum Weiterlesen empfohlene Literatur Umfassende Fachbücher zur Thematik: Braun, S., & Nobis, T. (2011). Migration, Integration und Sport. Zivilgesellschaft vor Ort. VS Verlag. Gerber, M., & Pühse, U. (2017). Sport, Migration und soziale Integration. Eine empirische Studie zur Bedeutung des Sports bei Jugendlichen. Seismo. Zur historischen Entwicklung von Sportvereinen und der aktuellen Situation der Integra­tionsförderung im organisierten Sport in Europa: Van der Werff, H., Hoekman, R., Breuer, C., & Nagel, S. (2015). Sport clubs in Europe: A cross-national comparative perspective. Springer International Publishing.

Literatur Adler Zwahlen, J. (2018). Soziale Integration von Menschen mit Migrationshintergrund im organisierten Vereinssport. Dissertation, Universität Bern. Adler Zwahlen, J., Nagel, S., & Schlesinger, T. (2018). Analysing social integration of young migrants in sports clubs. European Journal for Sport and Society, 15(1), 22–42. Adler Zwahlen, J., Nagel, S., & Schlesinger, T. (2019). Zur Bedeutung soziodemographischer, sportbezogener und soziokultureller Merkmale für die soziale Integration junger Migranten in Schweizer Sportvereinen. Sport und Gesellschaft, 17(2), 125–154.

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J. A. Zwahlen

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287

Sozialräumliche Analyse von Sporträumen in Stadtquartieren Robin Kähler und Finja Rohkohl

Skateanlage am Rande einer Großstadt. (© Robin Kähler)

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Gans et al. (Hrsg.), Sportgeographie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66634-0_17

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Inhaltsverzeichnis 17.1

Raum, Sportraum und Sozialraum – 289  aum – 289 R Sportraum – 290 Sozialraum und Segregation – 290

17.2

Theoretischer Rahmen – 291  ensch-Raum-Beziehung – 291 M Zusammenhang von körperlicher Aktivität und Gesundheit – 293 Soziale Segregation und Raum – 294

17.3

Methode – 294  ängelanalyse bei Sportstätten – 296 M Sozialmonitoring zur Feststellung der Sozialstruktur – 297

17.4

Anwendungsbeispiel – 298

17.5

 erstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse aus der H Perspektive der Sportentwicklungsplanung – 300 Literatur – 301

17

289 Sozialräumliche Analyse von Sporträumen in Stadtquartieren

Einleitung Die Covid-19-Pandemie in den Jahren 2020 und 2021 hat in Deutschland besonders Kinder, Jugendliche und ältere Menschen belastet, die in beengten räumlichen Verhältnissen lebten und wenig Bewegungsgelegenheiten in ihrem Wohnumfeld vorfanden (Nowossadeck et al., 2021). Grundsätzlich sind Kinder in benachteiligten Wohngebieten einem höheren Gesundheitsrisiko ausgesetzt als Kinder, die zu Hause oder in ihrem Wohnumfeld anregende Bewegungsgelegenheiten vorfinden. In der Stadt Essen z. B. haben von den 71 % der im Zuge der Schuleingangsuntersuchungen gesundheitlich getesteten Kinder nur 58  % keine Gesundheitsstörungen (Stadt Essen, 2020). 70  % der Kinder mit entsprechenden Beeinträchtigungen haben Gewichtsprobleme. Zwei Drittel dieser Kinder leben in den eher „schlechteren“ nördlichen Stadtbezirken, in denen die durchschnittliche Wohnungsgröße und die Fläche der öffentlichen Freiräume je Einwohnerin und Einwohner geringer sind als im Süden. Im Norden wohnen auch wesentlich mehr Menschen mit Migrationshintergrund und Menschen mit Bezug von Leistungen zur Existenzsicherung (bis zum Vierfachen; Stadt Essen, 2020). Es ist daher zu vermuten, dass eine als belastend erlebte räumliche Situation die Gesundheit der Menschen negativ beeinflussen kann. Am Beispiel benachteiligter Wohnviertel wird der Frage nachgegangen, ob sich in diesen Quartieren auch die Quantität und Qualität der Sportstätten und -räume im Vergleich zur Gesamtstadt schlechter darstellen. Wenn dies so wäre, erlebten die Menschen eine Umwelt, in der sie weniger Möglichkeiten haben, sich durch Bewegung in geeigneten Räumen gesund zu erhalten. Nach der Erläuterung der zentralen Begriffe, theoretischen Grundlagen und Methoden werden anhand eines konkreten Beispiels die Lebenssituation der Menschen und die Gegebenheit der Sportstätten und  -räume in ausgewählten Sozialräumen

aufgezeigt. Eine Empfehlung, welchen Beitrag die Sportentwicklungsplanung zur Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse leisten könnte, schließt die Ausführungen ab.

17.1 

Raum, Sportraum und Sozialraum

Raum In Abhängigkeit von der Fragestellung einer wissenschaftlichen Untersuchung bzw. der Operationalisierung von Problemen auf Grundlage von Forschungsperspektiven und Fachdisziplin kann eine ganz unterschiedliche Auffassung von Raum Verwendung finden, die zu abweichenden Erklärungsansätzen führen kann (z.  B. Containerraum, alltäglicher Raum, relationaler Raum, sozialer Raum, politisch-geographischer Raum, ästhetischer Raum, kör­ perlicher, leiblicher und technischer Raum, medialer Raum, phänomenologischer Raum; Hasse, 2015; Drasdo, 2018). Zur Analyse der Verbindung von Menschen zu Sporträumen wird aus naheliegenden Gründen der relationale, soziologisch geprägte Raumbegriff von Löw (2015) gewählt (7 Kap. 2). Dieser Raumbegriff ist prozessual und beschreibt den Raum als ein dynamisches Gebilde, das sich aus der Beziehung zwischen Menschen und ihrer Umwelt konstituiert. „Raum wird konstituiert als Synthese von sozialen Gütern [Produkten gegenwärtigen materiellen Handelns (z.  B.  Sportgerät, Mauer, Tor, Markierung) und symbolischen Handelns (z. B. Vorschriften, Werte)], anderen Menschen und Orten in Vorstellungen durch Wahrnehmungen und Erinnerungen [die in Sozialisations- und Bildungsprozessen entwickelt werden], aber auch im Spacing durch Platzierung (Bauen, Vermessen, Errichten) jener Güter und Men 

290

R. Kähler und F. Rohkohl

schen an Orten in R ­ elation zu anderen Gütern und Menschen [z. B. das Aufstellen von Sportgeräten in einem Sportraum]“ (Löw, 2015, S. 263; 7 Kap. 2). Der Mensch erlebt diese Beziehung leiblich im Sinne eines gelebten Raums (Hasse, 2015, S. 31). Der gewählte Raumbegriff hat das Individuum, seine Wahrnehmung und sein Handeln im Fokus. Räume entstehen folglich dadurch, dass Menschen aktiv nicht nur materielle und symbolische Dinge miteinander verknüpfen, sondern auch Menschen. Um aber Dinge und Menschen miteinander zu verknüpfen bzw. zu platzieren, muss es erstens einen konkreten, geographisch markierten Ort geben, an dem diese Platzierung möglich ist (z. B. die Sportstätte; 7 Kap. 16). Und zweitens muss der Zugang zu den sozialen Gütern, die platziert werden sollen, gewährleistet sein. „Bereits die Zugangschancen [finanzielle Ausstattung, Bildung, sozioökonomischer Status, Zugehörigkeit] zu sozialen Gütern sind jedoch asymmetrisch verteilt. Damit sind auch die Möglichkeiten, Räume zu gestalten oder zu verändern, ungleich verteilt. […] Daher verfügen typischerweise höhere Klassen gegenüber niedrigeren Klassen, Männer gegenüber Frauen über bessere Möglichkeiten der Raumkonstitution“ (Löw, 2015, S. 212 f.).  



Sportraum Bei einem weiten Verständnis von Sport1 werden an einen Sportraum vielfältige Anforderungen vonseiten der Bevölkerung gestellt. Um diesen spezifischen Erwartungen

17 1 Der weite Sportbegriff „[…] umfasst vielfältige Sportformen, an denen sich alle Menschen unabhängig vom Geschlecht, Alter, sozialer und kultureller Herkunft an unterschiedlichen Orten allein oder in Gemeinschaft mit anderen zur Verbesserung des physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens sowie zur körperlichen und mentalen Leistungssteigerung beteiligen können“ (Wopp, 2012, S. 18; 7 Kap. QC).  

gerecht werden und entsprechende Angebote des Sportraums vorhalten zu können, ist es erforderlich, diesen Begriff ebenfalls weit zu fassen und die ganze Vielfalt an Spiel-, Sport- und Bewegungsräumen zu ­berücksichtigen (7 Kap.  20). Neben den klassischen Sportstätten für den Schul-, Wettkampf- und Leistungssport (z.  B. Sporthallen, Schwimmbäder, Leichtathle­ tikanlagen) und den Sportanlagen für spezielle Sportarten (z.  B.  Bowling-, Kegelbahnen) sind es insbesondere die wohnortnahen Alltags- und Lebensräume, die von großem Interesse sind und in denen sich die Mehrzahl der sportlich aktiven Menschen (selbstorganisiert) bewegt (7 Kap.  21). Diese Gelegenheiten zum Sporttreiben charakterisiert Lischka (2000, S.  23) als „Flächen, die ursprünglich nicht für sportliche Zwecke geschaffen wurden, aber dennoch räumlich und zeitlich Möglichkeiten für eine sportliche Sekundärnutzung bieten. Sie stehen allen Bürgerinnen und Bürgern, insbesondere für informelle [selbst organisierte] Sportaktivitäten, kostenlos zur Verfügung“ (7 Kap.  4). Beispiele für derartige Sportgelegenheiten sind Spielplätze, Schulhöfe, Bürgersteige, Fahrradwege, Wanderwege, Feldwege, Badeseen, Flussufer, Bolzplätze, Grünanlagen und Verkehrsflächen. In diesem Beitrag wird für alle genannten Variationen von sportlich nutzbaren Räumen der Oberbegriff Sportstätte verwendet.  





Sozialraum und Segregation Der Begriff Sozialraum ist aus territorialer Sicht ein klein- und nahräumlicher Begriff, der Nähe zu einer sozialen Gruppe oder Personen ausdrückt (Kessel, 2019, S. 17). Wenn der Raum sozial konnotiert ist, also erst durch die Art der sozialen Beziehungen der Menschen zueinander beschrieben wird, muss er eine eigene soziale Ordnung ausgebildet haben. So bezeichnet man beispielsweise ein städtisches Gebiet mit vielen Villen als Villenviertel und meint damit einen Ort,

291 Sozialräumliche Analyse von Sporträumen in Stadtquartieren

in dem wohlhabende Menschen leben. Die Menschen erleben den Sozialraum als ihren Lebensraum, den sie kennen, in dem sie einkaufen, wo ihre Kinder aufwachsen und möglicherweise auch ihr Sportverein liegt. Sie ordnen diesen Raum auch kulturell, indem sie ihm eigene Eigenschaften und wichtige räumliche Grenzen geben. Es ist ihr Wohnviertel. Der Sozialraum umschreibt ein lebensweltliches Areal, das den Menschen Identität und ein gewisses Heimatgefühl gibt. In der Sportwissenschaft betrachtet man Räume in diesem Sinne als lebensweltliche Sozial- und Bewegungsräume für die Bewegungspraxis (Bindel, 2011; Kähler, 2015, S.  54). Sie sind durch Raumstrukturen (Angebote) und durch Raumaktivitäten (Bewertung, Aneignung, Nutzung) konstituiert (Diketmüller, 2019). Häußermann und Siebel (2004, S.  139) bezeichnen die Stadt als Sozialraum, der aufgrund von historischen Entwicklungen, Marktprozessen oder Machtstrukturen durch die räumliche Trennung der verschiedenen Schichten und Gruppen gekennzeichnet ist. „Die Konzentration bestimmter sozialer Gruppen in bestimmten Teilräumen einer Stadt oder einer Stadtregion“ bezeichnen Häußermann und Siebel (2004, S.  140) mit sozialer Segregation. Zur Beschreibung der ungleichen räumlichen Verteilung von Bevölkerungsgruppen können Merkmale wie Alter, ethnische Zugehörigkeit, Herkunft, Bildung oder Einkommen in Betracht gezogen werden. Inhaltlicher Schwerpunkt des Beitrags sind benachteiligte Sozialräume, die im Vergleich zum Stadtgebiet beispielsweise von überdurchschnittlichen Anteilen unterer Einkommensgru­ ppen, von Personen mit Migrationshintergrund oder mit niedrigem Bildungsniveau gekennzeichnet sind. Welche Beziehung gibt es zwischen der sportlichen Aktivität und der erlebten, tatsächlichen Gesundheit des Menschen? Welchen Anteil daran hat die Qualität von Sportstätten in benachteiligten Sozialräumen?

17.2 

17

Theoretischer Rahmen

Mensch-Raum-Beziehung Es gibt verschiedene Ansätze zur Erklärung, wie Menschen mit Raum interagieren. Der space-time path von Hägerstrand (1970) geht der Frage nach, wie private Haushalte ihren Alltag organisieren und welche Bewegungen im Raum daraus resultieren. Andere Ansätze beschreiben hingegen, wie Menschen in Räumen handeln und welchen Einfluss ihr Handeln im Raum rückwirkend auf die eigene Identität hat. Es wird dargestellt, wie Menschen Räume wahrnehmen, was sie denken und was sie fühlen (z. B. der Ansatz symbolic action theory; Boesch, 1991). In Ergänzung dazu gibt es Theorien, die sich ganz konkret auf die Gedanken und Gefühle der Menschen zu einem Raum fokussieren (z. B. der Ansatz der Ortsbindung place attachment; Leyk, 2010; Hasse, 2015). In diesen Ansätzen wird beschrieben, welche Gedanken und Emotionen eine Person gegenüber einem Raum entwickeln kann und wie (stark oder schwach, positiv oder negativ) diese Emotionen ausgeprägt sind (z. B. Seamon, 2014). Baut eine Person eine positive Beziehung zu einem Raum auf, dann vermittelt dieser Raum u.  a. das Gefühl von Sicherheit und/oder sozialer Zugehörigkeit. Das Thema Sicherheit z. B. spielt bei Mädchen sowie Frauen und älteren Menschen eine besondere Rolle, wenn es darum geht, ob sie eine Sportstätte aufsuchen. Ungepflegte, schlecht belichtete, sozial wenig kontrollierbare Sportstätten werden von diesen Gruppen gemieden und als Störung erlebt. Mangelhafte oder ungeeignete Bewegungsräume können zu Unwohlsein, zu Störungen des Selbstwertgefühls bis hin zu Krankheiten führen (Wagner & Alfermann, 2006). Der erlebte bzw. gelebte Raum „baut“ die Seele des Menschen mit, könnte man wahrnehmungspsychologisch sagen (Hasse, 2015, S.  49). Damit ist gemeint, dass der

292

R. Kähler und F. Rohkohl

Raum mit seiner Atmosphäre (Weidinger, 2017) und Funktionalität unmittelbar auf die Empfindungen des Menschen wirkt. Gehl (2019, S.  31) bezeichnet Räume, in denen sich der Mensch aufgenommen und „verlockt“ fühlt, sie aufzusuchen, als ­„bauliche Einladungen“. Häußermann und Siebel (2004, S.  160) sehen die räumliche Ungleichheit als ein wesentliches Glied in einer Wirkungskette der sozialen Segregation. Schlechte räumliche Rahmenbedingungen in Wohnqua­ rtieren trügen zu einem erlebten sozialen Abstieg der dort wohnenden Menschen ebenso bei wie soziale Ungerechtigkeiten. Es kommt zu einem „Fahrstuhleffekt“, der das Gefühl der Menschen im Quartier, ausgegrenzt zu sein, verstärkt (. Abb.  17.1). Man kann annehmen, dass auch Sportstätten von schlechter Qualität, fehlende Sport- und Bewegungsräume im Wohn 

soziale Ungerechtigkeit

ungleicher Zugang zum Wohnungsmarkt

räumliche Ungleichheit

Einkommen

Wohnungsangebot privater Markt

segregierte Gebiete • alt • schlecht • billig • saniert

Arbeitsmarkt Sozialtransfers Diskriminierung

17

quartier, nicht nutzbare Freiräume für Sport und Bewegung, keine vereinsbezogenen oder öffentlich zugänglichen Sportangebote für Kinder und Jugendliche, Mädchen und Frauen, Menschen mit Beeinträchtigungen von den Menschen als Bestätigung und Verstärkung ihrer ohnehin schon prekären Situation wahrgenommen werden. Bewegungsräume sind auch Begegnungsräume. Sport ist ein geeignetes Mittel, dass Menschen sich nahekommen, kennenlernen, soziale Bindungen aufbauen und sich in einer Gruppe integrieren. Kinder und Jugendliche lernen im Spiel und Sport soziale Regeln und sammeln Kenntnisse in bestehenden sozialen Ordnungen (7 Kap.  14 und 16). Begegnungen und interkulturelle Erfahrungen zwischen Menschen unterschiedlicher Nationalitäten gelingen im Sport leicht, weil Sprachbarrieren eine geringe Rolle spielen. Auch aus dieser Sicht ist

sozialer Wohnungsmarkt

Mischgebiete • sozialer Wohnungsbau • Altbauten (saniert mit öffentlichen Mitteln)



Wandel

Folgen

Fahrstuhleffekt

Problemgebiete

selektive Wanderungen

weitere soziale Selektion

Quartiere der sozialen Exklusion

Wirkungen weitere Benachteiligung Ausgrenzung

..      Abb. 17.1  Wirkungsketten der sozialen Segregation. (Nach Häußermann & Siebel, 2004, S. 161)

293 Sozialräumliche Analyse von Sporträumen in Stadtquartieren

es notwendig, darauf zu achten, dass Menschen in ihrem Wohnumfeld einladende Räume für Begegnungen vorfinden.

 usammenhang von körperlicher Z Aktivität und Gesundheit Die Lebensverhältnisse, in denen Kinder und Jugendliche aufwachsen, sind von zen­ traler Bedeutung für ihren Gesundheitszustand und ihr Gesundheitsverhalten im Erwachsenenalter (RKI, 2018). Die vielfältigen Erfahrungen und Erlebnisse, welche Kinder und Jugendliche in ihrer Herkunftsfamilie und ihrem sozialen Umfeld machen, beeinflussen maßgeblich ihr individuelles Gesundheitshandeln. Neben der Aneignung von u.  a. gesundheitsrelevantem Wissen sind es auch die strukturellen und materiellen Bedingungen, welche den bewussten Umgang mit den Themen „Gesundheit und Krankheit“ prägen (RKI, 2018, S. 46). Ob und wie häufig sich Kinder und Jugendliche in ihrem Alltag bewegen, ist beispielsweise davon abhängig, wie viele Spiel-, Bewegungs- und Sportmöglichkeiten es in der direkten Wohnumgebung bzw. Lebenswelt der Kinder und Jugendlichen gibt, wie diese gestaltet sind und in welchem Zustand sich diese befinden. Eine quantitativ und qualitativ (sehr) gute Ausstattung an Spiel-, Bewegungs- und Sporträumen kann somit zu einem gesundheitsförderlichen Verhalten führen und in der Folge den Gesundheitszustand verbessern (Farley et al., 2008; Kähler & Schröder, 2012). Das Ermöglichen eines gesunden Leben­ sstils und insbesondere die Förderung von körperlicher Aktivität einer jeden Person sind (neben weiteren) zentrale Ziele des deutschen Gesundheitswesens (BMG, 2010; 7 Kap.  12). Die körperliche Aktivität bzw. physische Bewegung sind eine effektive Maßnahme von zentralem Stellenwert, um die Inanspruchnahme von Gesundheits 

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leistungen im präventiven, kurativen und rehabilitativen Bereich zu reduzieren und um die stetig steigenden Gesundheitsausgaben (Statista, 2022) einzudämmen. Eine angemessene körperliche Bewegung kann dazu beitragen, physische und psychische Krankheiten zu vermeiden oder das Risiko, an diesen zu erkranken, zumindest zu minimieren (Alt et al., 2015). Zu klären bleibt, was unter adäquater Bewegung zu verstehen ist und ab wann diese gesundheitsfördernd wirkt (Rütten & Pfeifer, 2016). Sie schließt grundsätzlich sportliche Aktivitäten, sofern sie der Gesundheit nutzen und gesundheitliche Gefährdungen vermeiden, ebenso ein wie Alltagsaktivitäten, z.  B.  Fahrradfahren oder Zufußgehen. Eine zu Bewegung einladende und zu körperlicher Aktivität anregende Lebensund Wohnumwelt sind ebenfalls Teilziele des nationalen Gesundheitsziels „Gesund aufwachsen“ (BMG, 2010). So wird beispielsweise der Maßnahme, ausreichend Bewegungsräume für Kinder, insbesondere in städtischen Bereichen, bereitzustellen, um die gesundheitsfördernden Strukturen zu stärken, eine sehr große Bedeutung beigemessen. Denn Studien zeigen (Lampert, 2010), dass für gesundheitsbezogene Einstellungen und Verhaltensmuster im Erwachsenenalter oftmals die Weichen bereits im Kindes- und Jugendalter gestellt werden und dass der überwiegende Anteil der Kinder und Jugendlichen in Deutschland bereits gesund aufwächst. Allerdings weisen sozialepidemiologische Studien (z.  B.  Hanson & Chen, 2007; Lampert & Richter, 2009) auch darauf hin, dass es Unterschiede im Gesundheitsverhalten der Kinder und Jugendlichen, insbesondere vor dem Hintergrund ihrer sozialen Herkunft, gibt. So bestätigen Ergebnisse aus der KiGGS Welle 2, „dass sich 3- bis 17-jährige Kinder und Jugendliche mit niedrigem sozioökonomischem Status (SES) häufiger als Gleichaltrige aus sozial

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R. Kähler und F. Rohkohl

­ essergestellten Familien ungesund ernähren, b seltener Sport treiben2 und häufiger übergewichtig oder adipös sind. […] Angesichts der bereits früh im Lebenslauf ausgeprägten sozialen Unterschiede im Gesundheitsverhalten sollten Maßnahmen noch stärker als bisher sozial benachteiligte Kinder und Jugendliche und deren Lebensbedingungen in den Blick nehmen“ (RKI, 2018, S. 45).

Soziale Segregation und Raum Der sozioökonomische Status einer Person ist ein wichtiger Faktor für ihre Gesundheit (RKI, 2015). Knapp 16  % der Bevölkerung sind gegenwärtig einem erhöhten Armutsrisiko ausgesetzt, was deutlich über dem Niveau Ende der 1990er-Jahre liegt (11  %). Kinder und Jugendliche sind von Armut überdurchschnittlich betroffen (Bertelsmann Stiftung, 2020). Nur wenige arme Kinder werden von den Sportangeboten der Vereine erreicht (Groos & Jehles, 2015; 7 Kap.  16), weil sie häufig in einer Umgebung aufwachsen, in der sich nicht nur Armut konzentriert, sondern es auch an Spiel-, Sportund Bewegungsmöglichkeiten im öffentlichen Raum mangelt. Soziale Kontakte sind bei Kindern mit Migrationsgeschichte und mangelnder Sport(vereins)erfahrung ohnehin erschwert. Fehlende Begegnungsmöglichkeiten im Sport verstärken bei ihnen das Gefühl, nicht integriert zu sein und keine sozialen Kontakte knüpfen zu können (Ungerer-Röhrich et al., 2006; 7 Kap. 16). Die materiellen Lebensverhältnisse der Menschen in diesen Quartieren, z.  B. hinsichtlich Spiel-, Sport- und Bewegungs 



17

2 „Der Anteil der Kinder und Jugendlichen, die in ihrer Freizeit Sport treiben, nimmt mit steigendem SES zu. Während von den Kindern und Jugendlichen mit niedrigem SES 58  % sportlich aktiv sind, trifft dies auf rund drei Viertel der Gleichaltrigen aus der mittleren Statusgruppe und 83 % derjenigen mit hohem SES zu“ (RKI, 2018, S. 51).

räumen in Relation zur Einwohnerzahl, sind schlechter als in der Gesamtstadt gestellt. Die sozialen Lebensbedingungen sind beeinträchtigt, wie durch fehlende Sportvereine oder ungepflegte Bolzplätze. Die Verwahrlosung von Sportstätten kann Ausdruck des Wehrens, der Enttäuschung und Aggressivität der Menschen gegen die erlebten Zustände in ihrem Wohnviertel sein. Für Kinder und Jugendliche, die sich noch in der Entwicklung ihrer Fähigkeiten und Haltungen befinden, bedeuten diese negativen räumlichen und sozialen Erfahrungen eine erhebliche Störung ihrer Persönlichkeitsentwicklung (Häußermann, 2001). Sie kann möglicherweise gelindert werden, wenn es sozial engagierte Sportvereine im Viertel gibt, welche den Kindern und Jugendlichen positive Erfahrungen im Umgang mit Regeln, Fairness, Zusammenarbeit, Verarbeiten von Niederlagen und persönlicher Leistung vermitteln (7 Kap. 16). Die Sportentwicklungsplanung als Element einer Stadtentwicklungsplanung kann zur Verminderung sozialer und räumlicher Ungleichheit beitragen, z. B. im Bereich der Sportstätten und Bewegungsräume (7 Kap. 21). Wie sieht die Realität in sozial benachteiligten Stadtvierteln aus? Mit welchen Verfahren lässt sich die derzeitige Situation bestimmen?  



17.3 

Methode

In benachteiligten Quartieren ist das Angebot von Infrastrukturen, Sport zu treiben, im Vergleich zur Gesamtstadt defizitär. Abträglich wirkt sich auf die Lebenswelt der Bewohnerinnen und Bewohner die symbolische (Image eines Stadtteils), strukturelle (wie unzureichende Anbindung an die Kernstadt, mangelhafte infrastrukturelle Ausstattung, klare räumliche Abgrenzung zu benachbarten Quartieren) und soziokulturelle (Unterversorgung an kulturellen Gütern, Einrichtungen und Räumen) Benachteiligung aus. Sie schränkt die Handlungsmöglich-

295 Sozialräumliche Analyse von Sporträumen in Stadtquartieren

keiten der im Quartier lebenden Bevölkerung objektiv (stark) ein. Merkmale dieser Wohnviertel sind u. a. „überdurchschnittlicher Anteil von Haushalten, die Sozialhilfe erhalten; überdurchschnittlicher Anteil von Arbeitslosen; schlechte Ausstattung der Wohnungen; niedrige Schulbildung (hoher Anteil von Schulabbrechern); hohe Kriminalität; überdurchschnittlicher Anteil von Teenagern mit Kind“ (Friedrichs & Blasius, 2000, S.  26). Die Ausstattung des Wohnumfelds mit Spiel-, Sport- und Bewegungsräumen kann einen Einfluss auf das individuelle (Gesundheits-)Verhalten und das Selbstwertgefühl der Menschen haben. Als Bestandteil einer integrierten Sportund Sportstättenentwicklungsplanung (Kähler, 2014) ist die Sozialraumanalyse eine geeignete Methode, um Zusammenhänge zwischen der Sportraumqualität und der Stadtquartiersstruktur zu erkennen (7 Box 17.1). In diesem Beitrag ist sie eine Analyse der Situation der Sportstätten, der Bewegungsräume und der Sozialstruktur der Bevölkerung nach bestimmten Indikatoren. Die Mängelanalyse von Sportstätten zeigt die materiell-objektive Struktur der zu untersuchenden Sozialräume auf. Sie wird durch ein Sozialmonitoring erfasst (z. B. der Wohnsituation), das auch die (räumliche) spiel-, sport- und bewegungsbezogene Infrastruktur (beispielsweise die Anzahl und der Zustand von Spiel-, Sport- und Bewegungsräumen, die Anzahl an Sportangeboten) des jeweiligen Untersuchungsgebiets abbildet.  

17

Box 17.1 Sozialraumanalyse

Die Sozialraumanalyse dokumentiert sowohl die physische Umwelt als auch die soziale Dimension von Räumen. Ihr Ziel in der Sportwissenschaft ist, vorhandene Strukturen und Ressourcen, Probleme und Herausforderungen sowie Potenziale und Bedarfsgruppen in Bezug auf das Themenfeld „Sport und Bewegung“ zu identifizieren und zu beschreiben (Spatschek & Wolf-Ostermann, 2016, S. 26 f.). Durch die Analyse ist es möglich, politische Interventionen abzuleiten. Das heißt, die Sozialraumanalyse ist eine Art politische Entscheidungshilfe, um sozialraumplanerische Maßnahmen zu initiieren. Das Ziel dieser Maßnahmen ist es, sozialräumliche Probleme zu lösen, diese zu minimieren und/oder gänzlich zu vermeiden.

Um die subjektive Lebenswelt der in den städtischen Quartieren wohnenden Bevölkerung zu erfassen, werden qualitative und quantitative Methoden wie Befragungen, Beobachtungen, Bestandsaufnahmen, subjektive Landkarten, Spaziergänge und Beteiligungsverfahren (z.  B.  Zukunftswerkstätten) angewendet. Sie tragen dazu bei, mehr darüber zu erfahren, wie die Spiel-, Sport- und Bewegungsräume von verschiedenen Nutzergruppen wahrgenommen, bewertet und angeeignet werden.

296

R. Kähler und F. Rohkohl

Mängelanalyse bei Sportstätten

17

Die Aufnahme und Bewertung der Mängel von Sportstätten können auf verschiedene Art erfolgen3: 55 Bautechnische, administrative Erfassung: In der Regel werden Mängel einer kommunalen Sportanlage durch die Mieter, Schulen oder Sportvereine der Stadt gemeldet, die dann, je nach Einschätzung der Dringlichkeit und der vorhandenen Finanzmittel, durch das eigene Personal oder durch Fachbetriebe die Mängel beheben lässt. Die Stadt stellt den Sanierungszustand fest, stimmt die Behebung intern oder mit den Ratsausschüssen ab und behebt die Mängel. Es gibt Verfahren, den Zustand einer Sportstätte aufgrund bestimmter Merkmale zu bestimmen (Wallrodt & Thieme, 2021). 55 Subjektive, erfahrungsgeleitete Beurtei­ lung der Mängel: Deren Bewertung aus Sicht derjenigen, welche die Sportanlage nutzen, geschieht aus einer praktischen, sportfunktionalen Perspektive. Sie zielt auf die Wirkungen ab, welche die Mängel in einer Sportstätte für das Sporttreiben bedeuten. Diese können am besten die Sporttreibenden selbst beurteilen. Deren Einschätzungen werden durch ausführliche schriftliche Befragungen zum Zustand der Sportstätte, zur Bewertung der Mängel nach bestimmten Qualitätsstufen, zur Zufriedenheit mit der Sportstätte und Empfehlung zu deren Weiterentwicklung erhoben. Die Sportstätte kann auf diese Weise sehr genau aus subjektiver, sportpraktischer Sicht bewertet werden. Diese Ein-

3

Diese Verfahren wurden von der Autorin und dem Autor in zahlreichen kommunalen Sportentwicklungsplanungen durchgeführt. Sie können im Internet auf der Website der jeweiligen Stadt unter dem Stichwort „Sportentwicklungsplanung“ gefunden werden.

schätzung kann die bautechnisch erhobene Aufnahme der Mängel ergänzen. Da die subjektive Sicht der Sporttreibenden in einer ingenieurtechnisch ausgerichteten Kommunalverwaltung möglicherweise wenig Gewicht hat, kann eine Kombination aus den beiden genannten Verfahren nützlich sein. 55 Bautechnisch, sportfunktional-erfahru­ ngsgeleitete Bewertung: Die Begehung und Bewertung einer Sportstätte (z.  B. Schulsporthalle, Schulhof, öffentlicher Freiraum) ist zwar sehr aufwendig, aber effektiv. Angehörige des Bau-, Grün-, Sport- und Schulamts, des organisierten Sports und bewegungswissenschaftlich sowie bautechnisch ausgerichtete Gutachterinnen und Gutachter bewerten gemeinsam vor Ort die bemängelte Sportstätte. Die festgestellten Defizite werden fotodokumentarisch und durch Tonbandprotokolle festgehalten. Die von den zuvor schriftlich befragten Nutzerinnen und Nutzern angegebenen Mängel in den Sportanlagen werden durch die Begutachtenden geprüft. Die als besonders sanierungsbedürftig eingesch­ ätzten Anlagen, deren Schäden kurzfristig behoben werden können, um höhere Folgeschäden zu vermeiden, werden in eine Dringlichkeitsliste aufgen­ ommen. Diese Anlagen werden daraufhin mit jenen verglichen, welche die Stadt im Rahmen einer eigenen Analyse selbst als sanierungsbedürftig eingestuft hat. Dieses Verfahren hat den Vorteil, dass die sozialen und sportbezogenen Wirkungen eines Mangels für den Sport und den Sozialraum am konkreten Objekt erklärt werden und erfahrbar gemacht werden können. 55 Sportpraktische Bewertung: In der Annahme, dass Sporträume stets durch soziale Praktiken der beteiligten Akteurinnen und Akteure produziert, verändert und angeeignet werden (Löw, 2015), reicht zur Einschätzung der zu erheben­ den Raumqualitäten eine rein quantita-

297 Sozialräumliche Analyse von Sporträumen in Stadtquartieren

tive Methode (schriftliche Bewertung der Sportstätte) nicht aus. Für die Erforschung von Bewegungsraumqualitäten sollten daher zusätzliche Werkzeuge eingesetzt werden, welche insbesondere die nutzenden Personen von Bewegungsräumen selbst mit einbeziehen (z. B. das Tool „SpaceMark“; Ruhl & Rohkohl, 2016). Raumdimensionen wie „flexibel – fest“ (z.  B. „Auf welche Art und Weise ermöglichen die im Sportraum befindlichen Elemente, z.  B. Obstacles in einem Skatepark, eine Neuanordnung zur Ausführung weiterer Bewegungsaktivitäten oder schränken diese ein, weil die Elemente zu schwer sind, sie jemand anderem gehören, sie fest installiert sind o.  Ä.?“), „offen  – hierarchisch“ (z.  B. „Auf welche Art und Weise, durch Markierungen am Boden, räumliche Grenzen wie Zäune und Türen, lädt der Raum Personen zur Nutzung ein?“), „anregend – zurückhaltend“ (z. B. „Auf welche Art und Weise inspiriert der Raum, wie durch die Bereitstellung von verschiedensten Ressourcen und das Anregen aller Sinne, die die Nutzerinnen und Nutzer zur Ausführung (neuer) Bewegungsformen?“) und „ganzheitlich  – fokussiert“ (z.  B. „Auf welche Art und Weise ist der Raum u.  a. bezüglich Erreichbarkeit, Aushang von Informationen oder Information über den Raum mit dem Wohnumfeld verbunden?“) können dabei unterstützen, einen Raum im Hinblick auf seine aktuelle Qualität zu bewerten und ihn insbesondere hinsichtlich einer zukünftigen Nutzung auf die Bedürfnisse der zu nutzenden Personen ausgerichtet zu entwickeln bzw. zu gestalten.

17

 ozialmonitoring zur Feststellung S der Sozialstruktur Zur Erhebung der sozialstrukturellen Daten kann auf ein Sozialmonitoring zurückgegriffen werden. Dieses ist ein kleinräumliches System, das die Sozialstruktur der Bevölkerung betrachtet und jeweils unter dem Gesichtspunkt des Status quo und der Entwicklung in den vergangenen drei Jahren analysiert. Erfahrungsgemäß liegen einer Stadt, insbesondere den mittleren und kleineren Kommunen, keine umfassenden Daten zur Sozialstruktur der Bevölkerung vor. Folgende sechs Indikatoren, bezogen auf die wohnberechtigte Gesamtbevöl­ kerung im Untersuchungsraum, werden bei den meisten Kommunen untersucht, weil sie auch In­ formationen zu Sozialtransferleistungen enthalten: 55 Kinder mit Migrationshintergrund unter 18 Jahren 55 Kinder von Alleinerziehenden unter 18 Jahren 55 Empfängerinnen und Empfänger von Leistungen zur Grundsicherung nach dem SGB II 55 Anteil der Arbeitslosen an der Bevöl­ kerung im erwerbsfähigen Alter 55 Nicht erwerbsfähige Hilfebedürftige unter 15 Jahren 55 Empfängerinnen und Empfänger von Leistungen nach SGB XII Die Daten werden zu einem Gesamtindex zusammengefasst, dessen Werteverteilung in einer Karte dargestellt wird. Sie wird als Basis für die Bewertung der Situation und Bedarfe im Sport herangezogen. Sowohl die quantitativ als auch die qualitativ erhobenen

298

R. Kähler und F. Rohkohl

Daten können in einem Geographischen Informationssystem erfasst, bearbeitet, ausgewertet und visualisiert werden. Aus ihnen lassen sich Maßnahmen zur Verbesserung der Spiel-, Sport- und Bewegungsraumqualität in den jeweiligen Sozialräumen ableiten. Die theoretische Vermutung einer Benachteiligung der Menschen in sozial schlecht gestellten Wohnvierteln muss empirisch belegt werden. Sind in Wohnquartieren, in denen Menschen belastende soziale Lebensverhältnisse erleben, auch Sportstätten und Bewegungsräume in einem Zustand, welcher den Eindruck einer Geringschätzung der dort lebenden Menschen verstärkt oder bestätigt?

17.4 

17

Anwendungsbeispiel

Das Ziel der Bundesstadt Bonn war es, bezogen auf die räumlichen Rahmenbed­ ingungen des Sporttreibens, möglichst allen Menschen den Zugang zu Sport zu ermöglichen (Kähler et  al., 2019a). Da sich die statistischen Bezirke einer Stadt wie Bonn aufgrund der verschiedenen Lebensbedingungen  und der Chancen, die ihre Weiterentwicklung bieten, sehr unterschiedlich entfalten, wurden die Ergebnisse aus den Bestands- und Bedarfsanalysen (z.  B. Befragung der Bevölkerung, Sportvereine, Schulen, Kindertagesstätten, Sportstättenuntersuchung) auch vor dem Hintergrund einer integrierten, stadtteilorientierten Untersuchung betra­ chtet (Kähler, 2014). Unter Hinzunahme einer sozialräumlichen Analyse sollte aufgezeigt werden, ob bestimmte statistische Bezirke als räumliche Grundlage von Bonn mit Sportstätten unterversorgt sind, ob sich deren Qualitäten unterscheiden und in welchen statistischen Bezirken sich die Bevölkerung so verändern wird, dass die Stadt auch im Bereich der Sportstätten Maßnahmen ergreifen und stadtentwicklungspolitische Handlungsbe­ darfe ableiten sollte.

In einem ersten Schritt wurde daher zunächst die soziale Lage der Bevölkerung aus sozialräumlicher Sicht untersucht (. Abb. 17.2). Ziel war es, die statistischen Bezirke Bonns hinsichtlich mehrerer Merkmale des Themenfelds „Soziale Ungleichheit“ im gesamtstädtischen Vergleich zu identifizieren und zu analysieren. Insgesamt gibt es demnach sechs statistische Bezirke, die einen „sehr niedrigen“ Statusindex aufweisen, und drei von ihnen weisen darüber hinaus eine „negative“ Dynamik (d. h. eine negative Entwicklungstendenz in allen Indikatoren) in den letzten drei betrachteten Jahren auf (. Abb. 17.2). Anhand des Datenmaterials aus den Bestands- und Bedarfsanalysen wurde die Qualität der Sporthallen und öffentlichen Freiräume in den statistischen Bezirken bewertet. Die meisten Anlagen wiesen erhebliche Mängel auf, die aus Sicht der Sportlerinnen und Sportler sowie Lehrenden die Ausübung des Sports deutlich beeinträchtigten oder sogar verhinderten und als Gesundheits- oder Verletzungsgefahr eingeschätzt wurden.4 Auch die technischen Anlagen waren, soweit dies durch eine augenscheinliche Prüfung sichtbar war, einer dringenden erweiterten ingenieurtechnischen Prüfung auf Funktionsfähigkeit zu unterziehen. Mehrere Belüftungen waren defekt, Fenster undicht, Temperaturregu­ lierungen kaum möglich und Isolierungen veraltet. Auch die Außenanlagen waren bis auf wenige Fälle in einem Zustand, der einen regelgerechten Sportunterricht oder ein Vereinstraining nicht möglich macht. Die Kleinspielfelder (. Abb.  17.3) und leichtathletischen Anlagen waren größtenteils unbrauchbar, defekt, ungepflegt und veraltet, insbesondere die Kunststoffböden der älteren Spielfelder. Die Mängel hängen nicht nur vom Alter der Anlagen ab, sondern auch von der Fürsorge und Pflege  





4 Die konkreten Mängel sind im Gutachten nachzulesen (Kähler et al., 2019a); zum Beispiel Augsburg (Kähler et al., 2017).

299 Sozialräumliche Analyse von Sporträumen in Stadtquartieren

17

..      Abb. 17.2  Räumliche Darstellung des Sozialmonitorings der Bundesstadt Bonn auf Grundlage der statistischen Bezirke. (Nach Kähler et al., 2019a)

300

R. Kähler und F. Rohkohl

..      Abb. 17.3  Kleinspielfeld auf einer öffentlich zugänglichen Sportanlage. (© Robin Kähler)

17

durch das technische Personal, der regelmäßigen Pflege und Sauberkeit durch die Stadt oder externe Auftragnehmerinnen und Auftragnehmer, der Wahrnehmung der Verantwortung durch das Lehr- und Übungspersonal sowie der Nachlässigkeit der Nutzerinnen und Nutzer. Schließlich hängen die Defizite auch von den Abläufen, die das Mängel- und ­Pflegemanagement betreffen, ab. Je länger die Beseitigung eines Mangels hinausgezögert wird, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass das Problem mit der Zeit anwächst und die Kosten für dessen Behebung steigen werden. Wenn Sanierungen nicht zügig erfolgen, verwahrlosen Sportstätten schleichend. Sie verlieren im Erleben der Menschen ihren Wert, werden gemieden oder nicht mehr genutzt. Damit sinken auch die Sportaktivitäten der Menschen. Wenn man zusätzlich die geringe Sportvereinsdichte und das geringe Interesse der städtischen Vereine insgesamt, sich in diesen Sozialräumen mit integrativen, an den Bedürfnissen der Menschen orientierten Sportangeboten an die Bevölkerung zu richten, in die Gesamtbewertung der Quartiere einbezieht, zeichnet sich im Vergleich zu anderen statistischen Bezirken ein eindeutiges Bild ab. Es gibt eine räumlich identifizierbare, sportbezogene Ungleichwertigkeit von Sportstätten und -räumen. Die Menschen in den benachteiligten Quartieren finden, wenn

sie sich sportlich bewegen und gesund erhalten wollen, kaum – und falls doch, dann eher ungeeignete  – Bewegungsräume entsprechend ihren Bedürfnissen vor. Die „besseren“ statistischen Bezirke Bonns  – das trifft auf andere Großstädte wie Augsburg (Kähler et  al., 2017), Berlin (Wopp, 2008), Köln (Kähler et  al., 2019b) ebenfalls zu  – sind mit ihrer anderen Bebauung, naturräumlichen Umgebung und höheren Qualität der Sportanlagen und öffentlich zugänglicher Bewegungsräume wesentlich privilegierter. Hierauf muss eine Sportentwick­ lungsplanung antworten.

17.5 

Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse aus der Perspektive der Sportentwicklungsplanung

Die Situation der Sportstätten in benachteiligten Sozialräumen ist für die Menschen, insbesondere für Kinder und Jugendliche, unbefriedigend. Wie soll und kann die kommunale Sportstättenentwicklungsplan­ ung darauf reagieren? Zum Schluss sollen Anregungen für eine Veränderung der Situation gegeben werden. Das Ziel, gleichwertige Lebensverhältnisse für die Menschen in einer Kommune herbeizuführen, wird in vielen Stadtentwicklungskonzepten angemahnt. Die „Gerechte Stadt“ der Neuen Leipzig Charta 2020 postuliert Chancengleichheit für alle Menschen. Der Anspruch einer Kommune mag vorhanden sein, aber in der Praxis stößt die Umsetzung auch in Bezug auf den Bereich Sport oft an ihre Grenzen. Die Gründe hierfür sind vielfältig: eine schwierige Haushaltssituation, geringe Personalausstattung im Bereich der Projektsteuerung der Kommune, unwirtschaftliche Sanierung oder Modernisierung von mängelbehafteten Sportstätten, Parti­ kularinteressen im Rat und in der Verwaltung der Stadt, geringe Unterstützung des Sports in Bevölkerung, Politik und Ver-

301 Sozialräumliche Analyse von Sporträumen in Stadtquartieren

waltung, Konkurrenz um die knappen Flächen in der Kommune (7 Kap.  21), keine passenden Förderprogramme zur Mitfinanzierung von Projekten, schlechte Erfahrungen der Kommune mit bestimmten Gruppen in Sozialräumen, keine Unterstützung seitens der Sportvereine, Probleme der Zuständigkeit innerhalb der Stadtverwaltung, nur um die wichtigsten zu nennen. Es gibt auch gelungene Beispiele dafür, wie die Sportraumsituation in benachteiligten Sozialräumen verbessert werden kann (Kähler et  al., 2019b). Die Evaluation der Umsetzung dieser gelungenen Projekte hat gezeigt, dass es allerdings zusätzlich zur Bereitstellung von Bewegungsräumen in benachteiligten Sozialräumen eines sozialen Netzwerks von engagierten Menschen und Einrichtungen bedarf (7 Kap. 16). Sie sorgen dafür, dass die Bewegungsräume dauerhaft sicher sind, gepflegt werden und auch allen Menschen zugänglich bleiben. Räumliche und soziale Fürsorge und Interventionen gehören in benachteiligten Quartieren zusammen.  

17

ialräumen“ im Detail bearbeitet und praktische Empfehlungen gegeben wurden. Fragen Sie bei der Stadt telefonisch nach oder prüfen Sie im Internet, ob die Empfehlungen des Gutachtens umgesetzt wurden – und wenn nicht, warum.

Zum Weiterlesen empfohlene Literatur Häußermann, H., & Siebel, W. (2004). Stadtsoziologie. Eine Einführung. Campus. Spatschek, C., & Wolf-Ostermann, K. (2016). Sozialraumanalysen: Ein Arbeitsbuch für soziale, gesundheits- und bildungsbezogene Dienste. UTB.



? Übungs- und Reflexionsaufgaben 1. Identifikation von benachteiligten Sozialräumen: Wählen Sie begründet Sozialindikatoren zur Beschreibung der Sozialräume einer Stadt Ihrer Wahl nach Stadtteilen oder statistischen Bezirken aus. Ermitteln Sie die benachteiligten städtischen Quartiere. Durchstreifen Sie eines der identifizierten Viertel und dokumentieren Sie die dort gefundenen Sportstätten und Bewegungsräume mit Ihrem Smartphone. Bewerten Sie selbst, ob Sie sich dort wohlfühlen würden. Schicken Sie Ihre Daten und Bewertung, wenn Sie wollen, an die Stadt. 2. Suchen Sie im Internet nach kommunalen Sportentwicklungsplanungen der letzten fünf bis zehn Jahre. Prüfen Sie, ob darin das Thema „Sportstätten und -angebote in benachteiligten Soz­

Literatur Alt, R., Binder, A., Helmenstein, C., Kleissner, A., & Krabb, P. (2015). Der volkswirtschaftliche Nutzen von Bewegung. Volkswirtschaftlicher Nutzen von Bewegung, volkswirtschaftliche Kosten von Inaktivität und Potenziale von mehr Bewegung (Studie im Auftrag der Österreichischen Bundes-­ Sportorganisation (BSO) und Fit Sport Austria). SportsEconAustria. https://www.­sportaustria.­at/ fileadmin/Inhalte/Dokumente/Initiative_Sport/ Studie_Volkswirtschaftlicher_Nutzen_Sport.­pdf. Zugegriffen am 24.05.2022. Bertelsmann Stiftung. (2020). Kinderarmut in Deutschland-Factsheet. https://www.bertelsmannstiftung.de/ fileadmin/files/BSt/Publikationen/GrauePublikationen/291_2020_BST_Facsheet_Kinderarmut_SGBII_Daten__ID967.pdf. Zugegriffen am 24.06.2022. Bindel, T. (2011). Feldforschung und ethnographische Zugänge in der Sportpädagogik. Shaker. BMG  – Bundesministerium für Gesundheit. (2010). Nationales Gesundheitsziel. Gesund aufwachsen: Lebenskompetenz, Bewegung, Ernährung. https:// gvg.­org/wp-­content/uploads/2022/01/Nationales_ Gesundheitsziel_Gesund_aufwachsen_2010.­pdf. Zugegriffen am 25.04.2022. Boesch, E. E. (1991). Symbolic action theory and cultural psychology. Springer. Diketmüller, R. (2019). Zur Räumlichkeit des Sozialen in Bewegungs-/Raum-/Analysen und ihr Beitrag für sozial verantwortete Interventionen. In E.  Balz & T.  Bindel (Hrsg.), Sport für den Men-

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17

R. Kähler und F. Rohkohl

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303 Sozialräumliche Analyse von Sporträumen in Stadtquartieren

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305

Die identitätsstiftende Wirkung von Sportstätten und Sportvereinen – der Hockenheimring und der 1. Fußballclub Kaiserslautern Paul Gans und Michael Horn

Identifikationsobjekt im Stadtbild von Kaiserlautern. (© Paul Gans und Michael Horn)

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Gans et al. (Hrsg.), Sportgeographie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66634-0_18

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Inhaltsverzeichnis 18.1

Regionale Identität – 307

18.2

 ockenheimring und 1. FC Kaiserslautern als H regionale Identifikationsobjekte – ein Vergleich – 308  ie Stadt Hockenheim und der Hockenheimring – 309 D Großstadt Kaiserslautern und der 1. FC Kaiserslautern – 313

18.3

Fazit – 318 Literatur – 319

307 Die identitätsstiftende Wirkung von Sportstätten und Sportvereinen – der…

Einleitung Sportveranstaltungen prägen je nach ihrer Größe, ihrem Prestige und der Reichweite ihrer Ausstrahlung den Bekanntheitsgrad des Austragungsorts und auch der Region, in der er liegt (7 Kap.  13). Diese Außenwahrnehmung kann zusätzlich von den zur Organisation der Events erforderlichen Infrastrukturen befördert werden. Sie ermöglichen beispielsweise in Abhängigkeit von ihrer Gestaltung ein breit gefächertes Angebot sportlicher wie auch nichtsportlicher Aktivitäten und erreichen dadurch eine hohe Nutzungsintensität. Schon allein die Architektur des Stadions oder der Sporthalle (7 Kap.  23) sowie die Geschichte der Sportstätte können das Ansehen des Orts erhöhen, ebenso Vereine oder Sportlerinnen und Sportler, die nationale oder internationale Erfolge erzielten. Der daraus resultierende Bekanntheitsgrad, der Ruf des Orts, beeinflusst seine Wahrnehmung, stärkt das Selbstwertgefühl der Einwohnerinnen und Einwohner und festigt ihre Bindung an den Ort. Hochwertige Sportstätten und -veranstaltungen, Persönlichkeiten im Sport wie erfolgreiche Vereine können zu konstitutiven Komponenten der regionalen Identität werden. Dieser Aussage wird am Beispiel des Hockenheimrings und des Fußballclubs 1. FC Kaiserslautern nachgegangen. Nach einer kurzen Einführung des Begriffs „regionale Identität“ werden Ergebnisse zweier empirischer Studien zu den b ­eiden Fallbeispielen vorgestellt. Eine vergleichende Betrachtung schließt den Beitrag ab.  



18.1 

Regionale Identität

Zu den sozialen Wirkungen, die mit der Durchführung von Sportgroßveranstaltun­ gen seitens der Besucherinnen und Besucher entstehen können, zählen die sportliche Unterhaltung, die Entstehung eines Gemeinschaftsgefühls innerhalb der Gruppen von

18

Zuschauerinnen und Zuschauern, die Förderung der Gesundheit durch Motivation zu eigener sportlichen Betätigung und die Vermittlung von (sportlichen) Werten. Aber auch unabhängig von einem Besuch der Veranstaltung oder der Sportstätte können sich soziale Effekte seitens der Bevölkerung einstellen, wenn die Austragung eines sportlichen Spitzenereignisses oder das Vorhandensein eines Vereins identitätsstiftend wirkt (Gans et al., 2003; Horn & Gans, 2012). Im Duden wird Identität als völlige Übereinstimmung von Personen oder Objekten definiert. Diese Wesensgleichheit zu erkennen, setzt die Identifizierung von Subjekten oder Gegenständen voraus. Dazu ist ein Set zahlreicher „kontext- und situationsspezifischer Merkmale“ (Weichhart, 2018, S. 910) zur Beschreibung der Unverwechselbarkeit der Untersuchungsobjekte unabdingbar (Wachter, 2016, S.  8). Regionale Identität basiert demnach auf dem Identifikationsprozess einer Person, der die kognitive Erfassung eines Raumausschnitts umfasst und dazu führen kann, dass sich diese Person mit einem Ort oder einer Region identifiziert. Raumbezogene Identifikation entspricht somit der gedanklichen Beschreibung und emotionalen Beurteilung jener Elemente in der als räumlich wahrgenommenen Lebensumwelt, die ein Individuum in seinem Bewusstsein oder eine Gruppe in der gemeinsamen Einschätzung einbezieht (Weichhart, 2018, S. 911 f.). Die Beschäftigung der Bevölkerung mit ihrer Lebensumwelt verdichtet im Laufe der Zeit regionales Wissen. Die Qualität der kognitiven Komponente bessert sich, das alltägliche Leben kann entsprechend den individuellen Bedürfnissen optimiert werden, die Zufriedenheit der Bewohnerinnen und Bewohner, in diesem Ort oder dieser Region zu leben, erhöht sich gewöhnlich. Mit dieser Entwicklung geht eine enger werdende emotionale Bindung einher, eine affektive Identifikation, die letztendlich im aktiven Engage-

308

P. Gans und M. Horn

ment für den Ort oder die Region münden kann. Diese konative ­Artikulation steht für den Zugehörigkeitswillen einer Person zur Region (Lindstaedt, 2006, S.  88) und verdeutlicht nachdrücklich den Einfluss der Innenwahrnehmung durch den Lebensalltag auf die Ausformung wie den Grad der Bindung einer Person an einen Ort oder eine Region. Hierzu tragen Stärken der Region wie die dortige Lebensqualität, national oder gar international bekannte Institutionen, Vereine oder Persönlichkeiten bei. Nach Schmidt und Bergmann (2013) verlieren allerdings tradierte gesellschaftliche, politische und soziale Einrichtungen in der Bevölkerung zunehmend ihre identitätsstiftende Wirkung, während der Bereich Sport noch an Bedeutung gewinnt. So können die großen Sportverbände in Deutschland (DFB und DOSB) und die großen Fußballvereine ihre Mitgliederzahlen steigern, während z. B. Gewerkschaften, Parteien und Kirchen Mitglieder verlieren. Die Bedeutung des Fußballsports wurde als identitätsstiftender Faktor für die Bevölkerung vielfach untersucht, und es wurde die These vertreten, dass gerade in strukturschwachen Regionen mit einer hohen Arbeitslosigkeit das Vorhandensein eines Bundesligavereins einen wichtigen Identifikationspunkt darstellen kann (7 Kap. 13). Ebenso kann die Ausrichtung eines herausragenden Sportereignisses identitätsstiftend auf die Bevölkerung wirken, wenn Stolz darüber erzeugt wird, dass die eigene Nation, Region und Stadt als Austragungsort für eine bedeutende Veranstaltung ausgewählt wurde, wenn die lokalen kulturellen Traditionen der Weltöffentlichkeit präsentiert werden, wenn man Gastgeber von vielen ausländischen Sportlern, Journalisten und Besuchern ist und wenn man mit einer gelungenen Organisation der Veranstaltung die eigene Leistungsfähigkeit demonstriert (Klein, 1996; Schmidt & Bünning, 2012). Ein bekanntes Beispiel dafür ist die FIFA Fußball-Weltmeisterschaft 2006, welche nicht nur das Bild Deutschlands in der Welt  

18

positiv verändert hat, sondern auch zu einem neuen positiveren Selbstverständnis der in Deutschland lebenden Menschen beitrug (BMI & DOSB, 2021). Dementsprechend gehört zu den Subzielen der Nationalen Strategie Sportgroßveranstalt­ ­ ungen, die gemeinsam von dem Bundesministerium des Innern und für Heimat (BMI) und dem Deutschem Olympischen Sportbund (DOSB) erarbeitet wurde, „[…] die Identifikation mit Deutschland zu erhöhen und damit den geselllschaftlichen Zusammenhang zu stärken“ (BMI & DOSB, 2021, S. 17). Zur Verbesserung des Zusammengehörigkeitsgefühls ist allerdings erforderlich, dass innerhalb der Bevölkerung eine gewisse Einigkeit besteht und zumindest eine Mehrheit der Einwohnerinnen und Einwohner der Ausrichtung einer Sportgroßveranstaltung (7 Kap.  12) oder dem Bau einer Sportstätte zustimmt (7 Kap.  23). Dies kann nicht immer vorausgesetzt werden. Die Durchführung einer Veranstaltung kann etwa wegen Bedenken hinsichtlich des Umweltschutzes oder zu starker Kommerzialisierung auf Widerstand treffen und einen sozialen Dissens hervorrufen (Horn & Zemann, 2006; Schallhorn, 2020). Als ein Beispiel für die Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls werden in der Literatur die Olympischen Spiele von Barcelona 1992 genannt. Die offensichtlich sportlich und organisatorisch erfolgreichen Spiele sollen eine Annäherung zwischen Katalanen und Spaniern bewirkt haben (Garcia, 1993; Ferrando & Hargreaves, 2001, S. 63).  



18.2 

 ockenheimring und 1. FC H Kaiserslautern als regionale Identifikationsobjekte – ein Vergleich

Im Mai 1932 wurde der Hockenheimring, damals eine Strecke aus unbefestigten Waldwegen, mit einem Motorradrennen vor

309 Die identitätsstiftende Wirkung von Sportstätten und Sportvereinen – der…

60.000 Zuschauerinnen und Zuschauern eröffnet. Bis heute erhielten Um- und Ausbaumaßnahmen die Attraktivität des Rings für den Motorsport. 1970 gastierte der Formel1-Grand-Prix erstmals auf dem Ring, und von 1977 bis 2008 fand alljährlich der medienwirksame Große Preis von Deutschland statt, seit 2009 im Wechsel mit dem Nürburgring. 2019 war die letzte Austragung infolge der mit dem Rennen verbuchten finanziellen Verluste. Die Hockenheim-Ring GmbH hatte als Betreiberin das Eventangebot frühzeitig diversifiziert. Rege­ lmäßige Veranstaltungen sind z.  B. Motorradrennen, die NitrOlympiX seit 1986, die Public Race Days seit 1995, das Eröffnungsrennen wie das Finale der Deutschen Tourenwagen-Meisterschaft (DTM) seit 2000, der BASF Firmencup seit 2003, ein Laufwettbewerb, an dem sich mehr als 750 Unternehmen beteiligen, oder das Formula Student Germany seit 2007 (Hockenheim-­ Ring GmbH, 2021; 7 Kap. 10). Der 1. FC Kaiserslautern wurde 1900 als Sportverein gegründet. Bekannt wurde er durch seine Fußballer, vor allem durch Fritz Walter, die den Kern der Weltmeistermannschaft 1954 stellten. Der Verein zählte zu den Gründungsmitgliedern der 1. Fußball-Bundesliga, war viermal Deutscher Meister und zweimal Pokalsieger. Nach mehreren sportlichen Abstiegen aus erster und zweiter Bundesliga konnte der Verein im Mai 2022 den Wiederaufstieg in die 2. Fußball-Bundesliga feiern. Der 1. FC Kaiserslautern gehört mit ca. 17.000 Mitgliedern zu den mitgliederstärksten Vereinen Deutschlands und kann auch in der 2. und 3. Liga vergleichsweise hohe Zuschauerzahlen bei seinen Heimspielen begrüßen. Der Verein mit dem Fritz-Walter-Stadion auf dem Betzenberg ist ein Symbol für den Fußball in der Pfalz (1. FC Kaiserslautern GmbH & Co. KGaA, 2022).  

18

 ie Stadt Hockenheim D und der Hockenheimring Die Stadt Hockenheim mit knapp 22.000 Einwohnerinnen und Einwohnern (Ende 2021) wird mit Motorsport identifiziert. Der Hockenheimring steht symbolisch für diese Wahrnehmung. Die Stadt pflegt diese Assoziation und bezeichnet sich auf ihrer Webseite als „Rennstadt Hockenheim“. Allerdings wirbt sie auch für das vor fast 60 Jahren eingeweihte Aquadrom u. a. mit dem größten Außenwellenbecken Deutschlands oder mit dem alljährlichen Rockevent auf dem Hockenheimring (Stadt Hockenheim, 2022). Welche Assoziationen verknüpft die Bevölkerung mit dem Ring? Wirkt die Rennstrecke identitätsstiftend? Welchen Stell­ enwert ordnen die Einwohnerinnen und ­Einwohner dem Ring für die Außenwahrnehmung Hockenheims zu? Zur Beantwortung dieser Fragen wurde 2014 im Rahmen einer Erhebung zum Hockenheimring eine schriftliche Befragung von Einwohnerinnen und Einwohnern Hockenheims organisiert. Hierzu zog die Stadtverwaltung aus dem Melderegister eine Zufallsstichprobe von 1.500 Personen. Auf Grundlage der vorliegenden Anschriften wurde ein standardisierter Fragebogen mit geschlossenen wie offenen Fragen postalisch verschickt, in denen die Befragten ihre persönliche Meinung zum Ausdruck bringen konnten. Der Rücklauf umfasste 400 auswertbare Fragebögen, sodass die Quote 26,7  % erreichte. Die Kernfragen beziehen sich auf die Nennung der Stärken und Schwächen der Stadt Hockenheim, auf die Teilnahme an Veranstaltungen in der Stadt und die Art des Nutzens, den der Hockenheimring für die Stadt hat (Horn & Gans, 2018). Die Bewohnerinnen und Bewohner Hockenheims fühlten sich in der Lebensumwelt, die ihnen die Stadt bietet, wohl. Die

310

P. Gans und M. Horn

hohe Zufriedenheit spiegelt sich in den Antworten zu Stärken und Schwächen der Kommune wider. Bei bis zu drei möglichen Nennungen war die Summe der positiven Wertungen mit 719 Angaben deutlich größer als die negativen Beurteilungen mit 467 (. Tab.  18.1 und  18.2). Bei den Stärken haben unterschiedlichste Freizeitangebote einen hohen Stellenwert. Beliebt waren kulturelle Veranstaltungen im Pumpwerk oder in der Stadthalle und das Aquadrom, das vielfältige Aktivitäten wie Schwimmen, Wellenbaden, Sauna oder Schnorcheln ermöglicht. Die Nähe zu Pfälzer Wald oder Odenwald, die Wälder vor Ort sowie Radund Wanderwege in der unmittelbaren Umgebung stärken zusätzlich die Attraktivität der Stadt als Wohnstandort. Dazu tragen auch die Aktivitäten der Vereine sowie die Charakterisierung Hockenheims als „Stadt der kurzen Wege“ bei. Die Befragten hoben die verkehrsgünstige Lage der Stadt hervor. Sie beurteilten sowohl die Anschlüsse mit ÖPNV als auch die Anbindung an das regionale wie überregionale Straßennetz als positiv, sodass z.  B. die Erreichbarkeit der rechtsrheinischen großstädtischen Zentren in der Metropolregion Rhein-Neckar,  

Mannheim und Heidelberg als insgesamt gut bezeichnet wurde. Im Vergleich zu den bisher aufgeführten Stärken fiel angesichts der offiziellen Außendarstellung Hockenheims die Zahl der positiven Nennungen zum „Hockenheimring“ mit gut 10 % deutlich geringer aus. Auf den ersten Blick mag diese Zurückhaltung überraschen, doch verweisen Stellungnahmen in der abschließenden offenen Frage auf eine hohe emotionale Bindung der Einwoh­ nerinnen und Einwohner mit der Rennstrecke: „Ich bin stolz auf unseren Hockenheimring. Durch den Hockenheimring sind wir weltbekannt“ und „Der Hockenheimring ist ein Teil von Hockenheim und bleibt aufgrund seiner Geschichte untrennbar mit der Stadt verbunden“. Diese Aussagen vermitteln  – trotz auch geäußerter kritischer Positionen – eine gemeinsame Einschätzung, ein Wir- und Zusammengehörigkeitsgefühl der Bevölkerung, das der identitätsstiftenden Wirkung des Rings Nachdruck verleiht. Die Rennstrecke ist für die Bewohnerinnen und Bewohner ein Alleinstellungsmerkmal von Hockenheim, nicht zuletzt wegen ihrer überragenden Bedeutung für die Außenwahrnehmung: „Der Ring ist für Hockenheim

..      Tab. 18.1  Stärken der Stadt Hockenheim. (Nach eigener Auswertung der Bevölkerungsbefragung 2014) Stärken

18

Alle Nennungen

Erste Nennung abs.

in %

abs.

in %

Freizeitangebote

50

15,5

126

17,5

Gute Verkehrsanbindung

49

15,2

86

12,0

Lage, Erreichbarkeit

40

12,4

60

8,3

Hockenheimring

36

11,1

73

10,2

Aquadrom

32

9,9

60

8,3

Naherholung im Grünen

26

8,0

90

12,5

Sonstige Angaben

90

27,8

224

31,2

Summe

323

100,0

719

100,0

Keine Angabe

77



481



18

311 Die identitätsstiftende Wirkung von Sportstätten und Sportvereinen – der…

..      Tab. 18.2  Schwächen der Stadt Hockenheim. (Nach eigener Auswertung der Bevölkerungsbefragung 2014) Schwächen

Alle Nennungen

Erste Nennung abs.

in %

abs.

in %

Innenstadt

60

21,7

83

17,8

Freizeitangebote

43

15,6

63

13,5

Lärm

39

14,1

57

12,2

Einkaufsmöglichkeiten

24

8,7

46

9,9

ÖPNV

20

7,2

32

6,9

Hockenheimring

12

4,3

20

4,3

Sonstige Angaben

78

2,3

166

35,5

Summe

276

100

467

100,0

Keine Angabe

124



733



wie ein Wahrzeichen, wie der Eiffelturm in Paris.“ Darüber hinaus wurden auch Überzeugungen geäußert, dass ohne den Ring trotz der Lärm- und Verkehrsbelastungen im Zusammenhang mit den dortigen Großveranstaltungen die Lebensqualität in der Stadt leiden könnte: „Hockenheim ohne den Ring wäre ein unbedeutender Marktflecken und hätte keine Arbeitsplätze vor Ort. Die Kultur wäre nicht in solchem Maße zu finanzieren, z.  B.  Stadthalle, Pumpwerk, Sportvereine.“ Die 30- bis 50-Jährigen und Befragte, die sich in der Stadt wohlfühlen, beurteilten den Hockenheimring besonders positiv. Die teilweise hohe Akzeptanz des Rings verdeutlicht folgende Stellungnahme: „Ich lebe selbst seit 46 Jahren in Hockenheim und bin hier aufgewachsen. Für mich gehört der Ring dazu. Er hat uns seit Jahrzehnten weltweit bekannt gemacht. Sicher kommt es schon immer zu gewissem Lärm und Beeinträchtigungen bei Großveranstaltungen. Aber im Prinzip weiß das jeder, der hier lebt bzw. sich für Hockenheim und Umgebung als Wohnort entscheidet. Deshalb kann ich persönlich das Gemeckere nicht nachvollziehen.“

Sehr negativ bewertete Komponenten der Lebensumwelt waren Innenstadt und Einkaufsmöglichkeiten, großteils bedingt durch die zum Zeitpunkt der Befragung stattfindenden umfangreichen Maßnahmen zur Neugestaltung des zentral gelegenen Einkaufsbereichs (. Tab.  18.2). Befragte verwiesen auf die „Verödung der Innenstadt“ oder auf das „Sterben des Einzelhandels“ und beklagten in diesem Zusammenhang ein schlechtes Angebot im Einzelhandel. Die geringe Attraktivität der Innenstadt dokumentiert sich zudem in Äußerungen wie „fehlende Fachgeschäfte“, „kein Flair“, „geringe Ausgehmöglichkeiten“ und in Verbindung damit die schwach bewertete Aufenthaltsqualität in der Innenstadt. Besonders bemängelt wurden zudem Gelegenheiten und Infrastrukturen für Kinder (z.  B.  Bolzplätze) und Jugendliche (z. B. Kino). Zur Verbesserung der Situation erkennen Bürgerinnen und Bürger durchaus Potenziale, die sich auch aus dem Hockenheimring ergeben könnten: „Die Bekanntheit des Hockenheimrings hat eben ihren Preis (Lärm, Schmutz, Verkehrsbehinderungen). Schön wäre es, wenn durch den Hocken 

312

18

P. Gans und M. Horn

heimring die Innenstadt wieder belebter wäre.“ Allerdings bleibt zu vermuten, dass entsprechende Maßnahmen eine Zunahme von Verkehrs- und Lärmbelastungen bedeuten und damit eine oftmals genannte Schwäche eher noch verstärkt werden würde, denn als Lärmquellen werden vor allem Pkw- und Zugverkehr genannt und weniger die Veranstaltungen auf dem Hockenheimring. Nur 4,3  % der befragten Bürgerinnen und Bürger stuften den Hockenheimring in der ersten Nennung wie bei der Berücksichtigung aller Fälle als eine Schwäche der Stadt ein. Im Umkehrschluss bedeutet dieses Ergebnis, dass die große Mehrheit der Befragten im Grundsatz eine eher positive Einstellung gegenüber dem Ring hat und wohl auch überzeugt ist, dass die Stadt ohne diese Infrastruktur mit den dort organisierten überwiegend sportlichen, aber auch kulturellen Veranstaltungen im Hinblick auf ihre ökonomische Basis wie ihres Image deutlich schlechter in der Metropolregion positioniert wäre: „Sehe den Ring positiv. Probleme gibt es aber genug: Dauerlärm, Dreck, Finanzen wegen Formel-1“ oder: „Bin froh, dass es den Ring gibt, davon profitieren alle. Es wäre schön, wenn es in Zukunft mehr Konzerte geben würde. Der Ring soll lieber die Formel-1 abgeben, da wird eh nur Verlust gemacht.“ Aus diesem Grund finden seit 2020 keine Formel-1Grand-Prix statt. Insgesamt ist die Aufgeschlossenheit der Befragten gegenüber dem Ring hoch. So waren etwas mehr als 5 % der Befragten in Veranstaltungen auf dem Hockenheimring eingebunden, und ein Viertel wünschte sich eine stärkere Mitwirkung. Darin spiegelt sich die Kooperation zwischen Hockenheim-­ Ring GmbH und Sportvereinen vor Ort wider. Deren Mitglieder engagieren sich ehrenamtlich bei der Durchführung von Veranstaltungen, und als Gegenleistung unterstützt die Betreiberin des Rings die Vereine. Dieses aktive Engagement lässt eine enge emotionale Bindung zumindest von

Teilen der Bevölkerung zum Hockenheimring deutlich werden und kommt auch im wiederholt geäußerten Wunsch zum Ausdruck, Bürgerinnen und Bürger bei der Planung von Veranstaltungen stärker zu beteiligen und – mit Verweis auf das Konzert der Böhsen Onkelz 2014 – die Bevölkerung auch bei der Entscheidung, welche Musikgruppe auftreten soll, einzubeziehen. Vorteilhaft wäre zudem die Einbindung des ­Gemeinderats, die Berücksichtigung der Interessen des Einzelhandels und mehr Informationen für die Bevölkerung über Ablauf oder mögliche Verkehrsbehinderungen bei Veranstaltungen. 45 Befragte oder knapp 14  % wünschten sich in ihren schriftlichen Ausführungen zur Form der Einbindung seitens der Hockenheim-Ring GmbH verbilligte Eintrittspreise zu den Veranstalt­ ungen für Hockenheimer Bürgerinnen und Bürger. Als Begründung wurde ein Ausgleich zu Lärmbelästigung und Verkehrsbehinderungen oder zur fehlenden Kapazitätsauslastung angegeben. Die emotionale Bindung und damit die affektive Identifikation mit der Rennstrecke zeigt sich auch darin, dass trotz aller Kritik 2014 fast die Hälfte der Befragten eine Veranstaltung auf dem Ring besucht hat und fast jeder achte mindestens fünfmal bei einem Event war. In der Beliebtheit  – gemessen durch den Anteil der Besuche – rangierten Konzerte, Formel-1-Grand-Prix und DTM sowie der BASF Firmencup als ein Ereignis des Breitensports ganz vorn. Auch das Motorsportmuseum erfreute sich einer gewissen Beliebtheit. Bürgerinnen und Bürger der Stadt, die sich in Hockenheim sehr wohl fühlten, waren besonders aufges­ chlossen gegenüber den Veranstaltungen auf dem Ring. So besuchte 2014 jeder Fünfte Rock’n’Heim sowie den DTM-­ Saisonstart, immerhin 18  % den Formel-1-­ Grand-Prix und fast 17  % den Auftritt der Böhsen Onkelz. Die Mehrheit der Befragten – unabhängig davon, ob sie sich in Hockenheim wohl fühlen  – war überzeugt, dass der Ring einen

313 Die identitätsstiftende Wirkung von Sportstätten und Sportvereinen – der…

Nutzen für die Stadt hat. Sie verdankt ihm ein positives Image und weltweite Bekanntheit. Nur 24 Befragte haben ergänzende Informationen zu den entsprechenden standardisierten Fragen festgehalten. Anmerkungen wie „Stadt Hockenheim erwacht bei großen Veranstaltungen zum Leben“ oder „Endlich mal was los“, aber auch kritische Untertöne „Das Potential wird viel zu wenig ausgeschöpft“ sind zu lesen, ohne jedoch mögliche Maßnahmen zu erläutern, die den Nutzen noch steigern könnten. Die Atmosphäre bei den Veranstaltungen hat die überwiegende Zahl der Befragten positiv beschrieben. Ihre Stellungnahmen verdeutlichen eine hohe emotionale Bindung mit dem Hockenheimring: „Bei Rock’n’Heim, DTM, Formel-1 super Stimmung und eine ganz gute Organisation“ oder „Es ist immer interessant, bei Veranstaltungen den vorderen Bereich des Rings zu besuchen, man trifft immer nette Leute“. Die Erfahrungen der Befragten mit Besucherinnen und Besuchern der Veranstaltungen waren zwar mehrheitlich positiv, die schriftlichen Anmerkungen zum Verhalten der Besuch­ erinnen und Besucher verdeutlichen aber eine große Bandbreite von einer stark ablehnenden Haltung bis zu einer fast begeisterten Position: „Ich habe schon vielfach Randale beobachtet“, „Lärm bis tief in die Nacht, Abfall“, „nette Gespräche, internationales Publikum“, „Die Besucher sind meistens richtig nett und freundlich sowie gut gelaunt“ oder „alkoholisierte, grölende Menschen in der Stadt, aber auch freundliche Menschen in der Stadt“. Fasst man die Ergebnisse für Stärken und Schwächen zusammen, beziehen sich die häufigsten Nennungen auf Aspekte zur Bewältigung des alltäglichen Lebens wie Einkaufen, Freizeitangebote, Naherholung oder Teilnahme am Verkehr. In dieser Hinsicht spielt der Hockenheimring eine untergeordnete Rolle. Trotzdem hat er im Bewusstsein der Bevölkerung ein insgesamt sehr positives Image. Den dortigen Ver-

18

anstaltungen verdankt Hockenheim seine weltweite Bekanntheit. Der Hockenheimring ist eine Stärke der Stadt mit einer ausgeprägten identitätsstiftenden Wirkung auf die Bevölkerung, die Mehrheit ist stolz auf den Ring. Sie ist sich der Einschränkungen, insbesondere Lärmbelästigungen und Verkehrsbehinderungen während der Großveranstaltungen, bewusst. Immerhin äußert sich ein Drittel der Befragten reserviert bis sogar ablehnend dem Ring gegenüber, da sie sich in ihren alltäglichen Aktivitäten eingeengt fühlen. Zur Beseitigung dieser Mängel erhoffen sie sich, dass die Bevölkerung stärker in die Planungen der Veranstaltungen eingebunden wird. „Der Hockenheimring gehört seit meiner Kindheit zu Hockenheim dazu – irgendwie ist man stolz. Im Großen und Ganzen sind die Veranstaltungen gut organisiert, mir fehlt jedoch gerade bei den Konzerten die Vielfalt. Müssen es immer Heavy Metal/ Rock’n’Heim/Böhse Onkelz sein? Warum nicht mal ein normales Popkonzert, zu dem man vielleicht auch mal als Einwohner selbst gehen würde und somit das Angebot vor Ort nutzt? Nachts immer mehr Lärmbelästigung durch Böller. Ich wünsche mir auch Infos über die Befragungsergebnisse.“ Trotz aller Kritik bleibt festzuhalten, dass die Befragten die Veranstaltungen auf dem Hockenheimring besuchen, was die Akzeptanz des Hockenheimrings in der Bevölkerung, ihre emotionale Bindung an die Sportstätte und deren identitätsstiftende Wirkung unterstreicht.

 roßstadt Kaiserslautern und der G 1. FC Kaiserslautern Die Stadt Kaiserslautern, in der Ende 2021 knapp 100.000 Menschen lebten, beschreibt sich auf ihrer Webseite mit „modern und zukunftsorientiert“, „kulturträchtig und traditionell“, „liebenswert und weltoffen“, „eine Stadt mit Charakter, Flair und Herz“. Eine Bildergalerie zeigt das Kulturzentrum

314

P. Gans und M. Horn

Kammgarn, den Kaiserbrunnen oder die Pfalzgalerie (Stadt Kaiserslautern, 2022). Welche Stärken und Schwächen hat die Stadt? Welche Assoziationen verknüpft die Bevölkerung mit Kaiserlautern? Welche Bedeutung hat der 1. FC Kaiserlautern in der Wahrnehmung der Stadt durch ihre Bewohnerinnen und Bewohner? Wirkt er auf sie identitätsstiftend? Zur Beantwortung dieser Fragen wurde im Januar 2022 eine standardisierte Online-­ Befragung von Einwohnerinnen und Einwohnern Kaiserslauterns durchgeführt. Allerdings war eine einfache Zufallsstichprobe anhand des Melderegisters nicht möglich, sodass zunächst 13 Straßen aus dem Straßenverzeichnis der Stadt zufällig ausgewählt wurden. In diesen und in anliegenden Straßen, die durch eine Laufregel bestimmt wurden, wurden 4.500 Flyer mit Informationen zur Studie und zu einem Link für den Zugang der Online-Erhebung in Briefkästen von privaten Haushalten verteilt. In der Erhebung gab es offene und ge-

schlossene Fragen, in denen die Befragten ihre persönliche Meinung zum Ausdruck bringen konnten. Insgesamt wurden 325 Fragebögen vollständig und auswertbar von Bewohnerinnen und Bewohnern beant­ wortet. Wie in der Studie zum Hockenheimring konnten die Befragten jeweils bis zu drei Stärken und Schwächen angeben. Insgesamt sind 579 positive und 488 negative Beurteilungen gelistet (. Tab. 18.3 und 18.4). Die Stärken sind geprägt von hohen Anteilen zugunsten „Pfälzer Wald“ und „FCK“, die gemeinsam bei der ersten Nennung fast 56  % und bei allen Angaben gut 40 % erreichen. Das Biosphärenreservat und größte zusammenhängende Waldgebiet Deutschlands wird von der Bevölkerung Kaiserslauterns hochgeschätzt, wie in den Erläuterungen „zahlreiche Ausflugs- und Wanderziele“, „Nähe zur Natur“ oder „sehr gute Luft“ zum Ausdruck kommt. Allerdings zeichnen sich auch andere Kommunen durch diese Stärke aus, sodass die Nennung  

..      Tab. 18.3  Stärken der Stadt Kaiserslautern. (Nach eigener Auswertung der Bevölkerungsbefragung 2022) Stärken

18

Alle Nennungen

Erste Nennung abs.

in %

abs.

in %

Pfälzer Wald

90

31,4

142

24,5

1. FC Kaiserslautern

70

24,4

99

17,1

Keine Stärke

18

6,3

18

3,1

TU Kaiserslautern

17

5,9

44

7,6

Stadtgröße

14

4,9

34

5,9

Naherholung

13

4,5

27

4,7

Kulturangebote

13

4,5

53

9,2

Freizeitangebote

12

4,2

37

6,4

Einzelhandel

8

2,8

18

3,1

Sonstige Angaben

32

11,1

107

18,5

Summe

287

100,0

579

100,0

Keine Angabe

38



396



18

315 Die identitätsstiftende Wirkung von Sportstätten und Sportvereinen – der…

..      Tab. 18.4  Schwächen der Stadt Kaiserslautern. (Nach eigener Auswertung der Bevölkerungsbefragung 2022) Schwächen

Alle Nennungen

Erste Nennung abs.

in %

abs.

in %

Verkehrsinfrastruktur

44

15,7

73

15,0

Kulturangebot

24

8,6

35

7,2

Freizeitangebot

10

3,6

31

6,4

Einzelhandel

12

4,3

21

4,3

Innenstadt

12

4,3

17

3,5

Stadtbild

17

6,1

34

7,0

Sozialstruktur

21

7,5

56

11,5

Verschuldung

17

6,1

34

7,0

Verschmutzung

25

8,9

41

8,4

Kriminalität

14

5,0

25

5,1

1. FC Kaiserslautern

17

6,1

24

4,9

Stadtpolitik

17

6,1

36

7,4

Sonstige Angaben

26

9,3

61

12,5

Summe

280

100,0

488

100,0

Keine Angabe

45



487



„Pfälzer Wald“ im Gegensatz zu „FCK“ nur bedingt als Alleinstellungsmerkmal der Stadt bewertet werden kann. Ein knappes Viertel der Befragten nannten den 1.  FC Kaiserlautern als Stärke. Sie sind überzeugt, dass der Verein die Außenwahrnehmung der Stadt beeinflusst, wie die Aussagen „1. FC Kaiserslautern als DAS Zugpferd für die Stadt“ oder „Man hat mit dem FCK einen international bekannten Fußballverein“ dokumentieren. Es scheint ein breiter Konsens in der Bevölkerung darin zu bestehen, dass der FCK den Bekanntheitsgrad der Stadt steigert. 193 oder 71  % von 269 Befragten stimmten dieser Aussage voll und ganz zu – darunter 130 Personen, die den „FCK“ nicht zu den Stärken Kaiserslauterns zählen. Das heißt, 40 % der Befragten erkennen die Bedeutung des FCK für die Außenwahrnehmung Kaiserslauterns zwar an, sind aber zugleich überzeugt, dass vom Verein besten-

falls geringe Effekte auf die Stadt ausgehen. Doch geht eine positive Stimmung von den „Fußballspielen auf dem Betzenberg“, wo sich das Fritz-Walter-Stadion befindet, und vom „Support der Fans“ aus. Mit 6,3 % der Angaben folgt an dritter Position „keine Stärken“. Die Information „Ehrlich gesagt, fällt mir dazu nichts ein“ drückt eine gewisse Unzufriedenheit der Bevölkerung mit ihrer Stadt aus. In Übereinstimmung mit dieser Aussage fühlen sich nur 82 % der Befragten „sehr wohl“ oder „eher wohl“, und auch die Zahl der genannten Stärken zur Zahl der Schwächen fällt im Vergleich zu Hockenheim geringer aus. Als Stärke wird auch die TU Kaiserslautern wahrgenommen, der eine Ausstrahlung nach innen wie nach außen unterstellt wird: „Universität und Fraunhofer Institute mit vielen Start-ups sind gut für die Region“ oder „TU Kaiserslautern als Top-Standort für Elektrotechnik und Ma-

316

18

P. Gans und M. Horn

thematik in Deutschland“. Stärken, die für das Alltagsleben von Bedeutung sind, spielen zahlenmäßig eine untergeordnete Rolle. Bezüglich Einkaufsmöglichkeiten gibt es durchaus positive Stimmen, wie „Kaiserslautern hat alles, was man braucht“; auch das Kulturzentrum Kammgarn oder das Pfalztheater werden wegen der dortigen Veranstaltungen als Stärke betrachtet. Die von den Befragten genannten Schwächen beziehen sich vor allem auf Angebote der Daseinsversorgung für die Bevölkerung. Bemängelt wird die Verkehrsinfrastruktur mit ihren Defiziten beim ÖPNV, bei der Parkplatzsituation und beim Ausbau des Radwegenetzes. Häufiger als Schwäche denn als Stärke wird das Kulturangebot eingestuft, das Jugendliche und junge Erwachsene zu wenig anspricht und als „einseitig“, „verschlafen“ oder „nicht alternativ“ beschrieben wird. Auch die Einkaufsmöglichkeiten schneiden schlecht ab. Es fehlen Möglichkeiten, „in der Innenstadt ­ niveauvoll einzukaufen“, der „Einzelhandel könnte vielfältiger sein“ und „Ständig wechseln die Geschäfte in der Innenstadt“. Sie wird als wenig attraktiv wahrgenommen, als „desolat und unschön“ oder ungepflegt. Dieser Eindruck spiegelt sich in der negativen Bewertung des Stadtbilds wider. Die ­Befragten setzen sich auch kritisch mit der angespannten sozialen und finanziellen Situation in Kaiserslautern auseinander. ­ Die Schwäche „Sozialstruktur“ fasst Nennungen wie „Armut“, „Arbeitslosigkeit“, „sehr strukturschwach“ oder „soziale Bre­ nnpunkte“ zusammen und wird als eine Ursache für die hohe Schuldenlast Kaiserslauterns wahrgenommen, die „eine Entwicklung der Stadt nicht mehr zulässt“ und „zu immer mehr Einsparungen in der öffentlichen Daseinsvorsorge“ zum Nachteil der Lebensqualität der Bevölkerung führt. Trotz der großen Zustimmung, die der FCK erfährt, ordnen 6,1  % der Befragten den Verein als Schwäche ein (. Tab. 18.4). Die in dieser Bewertung zum Ausdruck  

kommende Kritik richtet sich jedoch weniger gegen den FCK, sondern vielmehr gegen die Politik der Stadt. Am häufigsten verweisen die Befragten auf die hohe finanzielle Förderung des Vereins durch die Stadt Kaiserslautern trotz ihrer Schuldenlast: „Ein Großteil des Geldes fließt zum FCK“, „Der Nutzen des Vereins für die Stadt wird überbewertet“, „Arme Stadt, völlige Übergewichtung des 1. FCK“, „Fokus auf Tradition (FCK) statt auf Innovation“ oder „zu großer Fokus auf dem FCK“: Die Befragten werfen der Stadt vor, die ihr zur Verfügung stehenden knappen Mittel in nicht ausreichendem Maße zur Überwindung der wirtschaftlichen Strukturschwäche mit ihren sozialen Folgen einzusetzen und damit mittelfristig eine Verbesserung der kommunalen Haushaltssituation zu erreichen. Es kann nicht überraschen, dass „Stadtpolitik“ 17-mal als Schwäche und nicht einmal als Stärke genannt wird (. Tab.  18.4). Trotz der wirtschaftlichen und finanziellen Problematik der Stadt befürworten 122 oder 43 % von 283 Befragten Investitionen der Stadt in das Fritz-Walter-Stadion. Etwa die Hälfte von ihnen ist überzeugt, dass der Spielbetrieb Arbeitsplätze in Kaiserslautern schafft und sich finanziell positiv auf den städtischen Haushalt auswirkt. Die Akzeptanz des FCK als eine Stärke der Stadt ist in der Bevölkerung weit verbreitet. Sie ist beispielsweise in allen Altersgruppen vorzufinden, mit einem Drittel am höchsten bei den 30- bis unter 50-Jährigen, mit 16,5  % am geringsten bei den mindestens 50-Jährigen. Die Zustimmung schwankt unabhängig von der Wohndauer der Befragten in Kaiserslautern zwischen 20 und 26 %. 102 Personen fühlen sich in Kaiserslautern „sehr wohl“, und 37 von ihnen betrachten den FCK als Stärke der Stadt  – häufiger als den Pfälzer Wald mit 27 Nennungen. 108 Befragte besuchen oft oder (fast) jedes Heimspiel des Vereins. 47 % dieser Fußballbegeisterten sind überzeugt, dass der FCK eine Stärke der Stadt ist und in die 

18

317 Die identitätsstiftende Wirkung von Sportstätten und Sportvereinen – der…

..      Tab. 18.5  Ausmaß erwarteter negativer und positiver Auswirkungen, falls es den FCK nicht mehr geben würde. (Nach eigener Auswertung der Bevölkerungsbefragung 2022) Erste Nennung

Alle Nennungen

abs.

in %

abs.

in %

positive

40

16,5

64

18,3

negative

48

19,8

93

26,6

positive

5

2,1

11

3,1

negative

62

25,5

83

23,7

keine

72

29,6

74

21,1

Sonstige Angaben

16

6,6

25

7,1

Summe

243

100,0

350

100,0

Auswirkungen auf die Stadt

Auswirkungen auf die Befragten

sem Sinne weit vor dem „Pfälzer Wald“ mit 16,6 % der Nennungen rangiert. Insgesamt zeigt die Erhebung eine hohe emotionale Bindung der Bevölkerung Kai­ serslauterns an den FCK.  Diese Schlussfolgerung bestätigt sich in den Antworten zur abschließenden Frage der Interviews: „Stellen Sie sich vor, es würde den FCK nicht mehr geben. Würde sich für Sie etwas persönlich ändern?“ Bis zu drei Nennungen wurden erfasst (. Tab. 18.5). Die Effekte eines solchen Szenarios werden für die Stadt insgesamt negativ eingeschätzt. Die Befragten sind mit großer Mehrheit überzeugt, dass „die Identifikation mit der Stadt abnehmen“ und sie an „Attraktion“ verlieren bzw. „einen Imageverlust“ erleiden würde. Die Zahl sozialer Kontakte würde reduziert und das Gefühl der Zusammengehörigkeit geschwächt werden. Vereinzelt wird sogar eine Verschlechterung der Lebensqualität erwartet. Die Antworten zu den positiven Auswirkungen sind differenzierter. Sie betreffen „die finanzielle Entlastung der Stadt“, Probleme während eines Spiels wie „keine störenden Fans“ oder „Entlastung des Verkehrs“ und die Möglichkeit der „Umnutzung des Stadions“ zur Ausweitung von Freizeitangeboten. Immerhin  

wünschen sich 156 von 279 Befragten nicht nur Fußballspiele im Fritz-­Walter-­Stadion, sondern auch weitere Veranstaltungen wie Musikkonzerte. Die Lebensqualität in Kai­ serslautern könnte sich erhöhen. Die meisten Befragten erwarten „keine bzw. geringe Veränderung“ für ihre Person, wenn es den FCK nicht mehr geben würde. Positive Auswirkungen auf die persönlichen Belange der Befragten sind vernachlässigbar, die vor allem den Wegfall verschiedener Einschränkungen durch den Spielbetrieb (Verkehr, Fans, Lärm, Vandalismus) begrüßen. Diese negativen Begleiterscheinungen mit Spielen des Vereins nimmt nur ein kleiner Teil der Befragten wahr. So fühlen sich an Spieltagen 16 % aufgrund des hohen Polizeiaufgebots und 13 % wegen der Anwesenheit gegnerischer Fans unwohl. 18 % planen ihre Erledigungen so, dass sie bei Heimspielen zu Hause bleiben können. Rund ein Viertel der Befragten würde für sich unliebsame und teilweise tiefgreifende Folgen für ihre Person erwarten: „Mein ganzes Leben würde sich verändern“ (insgesamt 14 Nennungen), „unvorstellbar“ (28 Nennungen) oder „Trauer, Verlust“ (44 Nennungen). Sechs Befragte könnten sich sogar vorstellen, die Stadt zu verlassen.

318

P. Gans und M. Horn

Der hohe Stellenwert des FCK für die überregionale Bekanntheit der Stadt Kai­ serslautern ist unter den Befragten allgemein anerkannt. Aus dieser Einigkeit lässt sich allerdings kein Wir- oder Zusammengehörigkeitsgefühl ableiten, denn eine identitätsstiftende Wirkung des Vereins mit einer emotionalen Bindung an die Stadt ist nur in Teilen der Bevölkerung  – dann aber in durchaus hohem Maße  – ausgeprägt. Die Einstellungen unterscheiden sich in ihrer jeweiligen Position zur Politik der Stadt. Dieser wird von Kritikern vorgeworfen, dass sie den Verein finanziell zu sehr unterstützt, wodurch finanzielle Mittel nicht zur Verfügung stehen, um der wirtschaftsstrukturellen Schwäche Kaiserslauterns gegenzusteuern oder das Niveau der Daseinsvorsorge und damit der Lebensqualität zu erhalten. Auch negative Begleiterscheinungen, wie sie an Spieltagen des Vereins vorkommen, spielen für die teilweise ablehnende Haltung gegenüber dem FCK eine Rolle.

18

Ring GmbH seit Mitte der 1986er-Jahre ihr alljährliches Veranstaltungsangebot, nach der Jahrtausendwende mit Events des Breitensports sowie der Kultur. Diese vielfältige Nutzung und der Wegfall des Formel-1-Grand-Prix haben Ansehen und Rückhalt des Rings in der Einwohnerschaft verbessert, die identitätsstiftende Wirkung gestärkt. Im Vergleich zum Hockenheimring ist die Einschätzung des 1. FC Kaiserslautern nicht so einhellig. Die identitätsstiftende Wirkung des Vereins ist weniger stark als die der Rennstrecke. Weitgehende Einigkeit besteht zwar in der Bedeutung des FCK für die Außenwahrnehmung der Stadt, unter den Befragten kristallisieren sich allerdings zwei Gruppen heraus. Die eine bewertet den Verein als eine finanzielle Last für die Stadt. Nach Überzeugung dieser Gruppe kommen dem FCK zu hohe Mittel der Stadt zugute, die letztendlich der Stadt fehlen, um der wirtschaftsstrukturellen Schwäche der Stadt gegenzusteuern oder das Niveau beim Freizeitangebot zu erhalten. Zur anderen Gruppe zählen die Anhänger des Vereins, 18.3  Fazit die die Spiele besuchen und überzeugt sind, Die hohe identitätsstiftende Wirkung des dass vom FCK positive Effekte auf KaisersHockenheimrings basiert auf einer beein- lautern ausgehen und eher dadurch eine druckenden Identifikation der Bevölkerung Stärke für die Stadt ist. Im Vergleich zu mit der Rennstrecke. Sie ist das Allein- Hockenheim ist das Wir- und Zusammenstellungsmerkmal der Stadt und prägt ihre gehörigkeitsgefühl in Kaiserslautern deutweltweite Bekanntheit. Trotz kritischer Äu- lich schwächer ausgeprägt, die emotionale ßerungen bzgl. Lärm- und Verkehrs- Bindung der Bevölkerung an den Verein webelastung sowie auch Vandalismus infolge niger stark und letztendlich die identitätsvon Veranstaltungen auf der Rennstrecke stiftende Wirkung geringer als die des vermitteln die Aussagen der Befragten eine Hockenheimrings. Mit dem Aufstieg des 1. ausgesprochen positive Einschätzung, ein FC Kaiserslautern 2022  in die 2. FußWir- und Zusammengehörigkeitsgefühl und ball-Bundesliga könnte sich die finanzielle somit eine enge emotionale Bindung an den Situation des Vereins merklich verbessern, Ring. Dieses Ausmaß der Identifikation re- und die Argumente gegen den Verein könnsultiert u.  a. aus seiner Geschichte, den ten an Gewicht verlieren und das Wirgefühl Motorradrennen, die mit Beginn von Zehn- der Bevölkerung und damit ihre emotionale tausenden besucht wurden, oder vom For- Bindung an den 1. FCK stärken. mel-1-Grand-Prix seit den 1970er-­ Jahren. Die Unterschiede in den identitätsAllerdings diversifizierte die Hockenheim-­ stiftenden Wirkungen vom Hockenheimring

319 Die identitätsstiftende Wirkung von Sportstätten und Sportvereinen – der…

und 1. FC Kaiserslautern liegen in der Größe, im Prestige und in der Ausstrahlung der jeweiligen Veranstaltungen. Im Vergleich zum Spielbetrieb des FCK zählen die Events auf dem Hockenheimring deutlich mehr Besucher, es finden seit Jahrzehnten Auto- und Motorradrennen von nationaler und internationaler Bedeutung statt, und dementsprechend besitzen die Verans­ taltungen eine Ausstrahlung mit großer Reichweite. Zu berücksichtigen ist zudem, dass die wirtschaftliche und finanzielle Situation der beiden Städte merklich auseinanderliegt. ? Übungs- und Reflexionsaufgaben 1. Was versteht man unter regionaler Identität, und wie entsteht diese? 2. Entwerfen Sie eine Methodik zur Analyse der identitätsstiftenden Wirkung einer von Ihnen ausgewählten Sportstätte oder eines Sportvereins.

Zum Weiterlesen empfohlene Literatur Gans, P., Horn, M., & Zemann, C. (2003). Sportgroßveranstaltungen  – ökonomische, ökologische und soziale Wirkungen. Ein Bewertungsverfahren zur Entscheidungsvorbereitung und Erfolgskontrolle (Schr­ iftenreihe des Bundesinstituts für Sportwissenschaft, 112). Hofmann.

Literatur 1. FC Kaiserslautern GmbH & Co. KGaA. (2022). Mitgliedschaft  – FCK DE. https://fck.­de/de/fck-­­ der-­­club/mitgliedschaft/. Zugegriffen am 06.06.2022. BMI  – Bundesministerium des Innern und für Heimat, & DOSB  – Deutscher Olympischer Sportbund. (2021). Nationale Strategie Sportgroßveranstaltungen. BMI. Ferrando, M. G., & Hargreaves, J. (2001). Das Olympische Paradox und Nationalismus: Der Fall der

18

Olympischen Spiele in Barcelona. In K.  Heinemann & M.  Schubert (Hrsg.), Sport und Gesellschaft (Studien zur Sportsoziologie, 31, S. 63–85). Hofmann. Gans, P., Horn, M., & Zemann, C. (2003). Sportgroßveranstaltungen  – ökonomische, ökologische und soziale Wirkungen. Ein Bewertungsverfahren zur Entscheidungsvorbereitung und Erfolgskontrolle (Schriftenreihe des Bundesinstituts für Sportwissenschaft, 112). Hofmann. Garcia, S. (1993). Barcelona und die Olympischen Spiele. In H.  Häußermann & W.  Siebel (Hrsg.), Festivalisierung der Stadtpolitik (Leviathan Sonderheft, 13, S. 251–277). Springer Fachmedien. Hockenheim-Ring GmbH. (2021). Geschichte  – Hockenheimring. https://www.­hockenheimring.­de/ infos/hockenheimring/geschichte/ Zugegriffen am 06.06.2022. Horn, M., & Gans, P. (2012). Sport als Wirtschaftsund Standortfaktor. Geographische Rundschau, 64(5), 4–10. Horn, M., & Gans, P. (2018). Die ökonomische Bedeutung des Hockenheimrings für die Stadt und die Region Hockenheim. In G.  Nowak (Hrsg.), (Regional-)Entwicklung des Sports (Reihe Sportökonomie, 20, S. 17–36). Hofmann. Horn, M., & Zemann, C. (2006). Ökonomische, ökologische und soziale Wirkungen der Fußball-­ Weltmeisterschaft 2006 für die Austragungsstädte. Geographische Rundschau, 58(6), 4–12. Klein, M.-L. (1996). Der Einfluß von Sportgroßveranstaltungen auf die Entwicklung des Freizeit- und Konsumverhaltens sowie das Wirtschaftsleben einer Kommune oder Region. In G.  Anders & W.  Hartmann (Hrsg.), Wirtschaftsfaktor Sport: Attraktivität von Sportarten für Sponsoren, wirtschaftliche Wirkungen von Sportgroßveranstaltungen. Dokumentation des Workshops vom 2. Juli 1996 (Bundesinstitut für Sportwissenschaft, Berichte und Materialien, 15, S. 55–60). Sport und Buch Strauss. Lindstaedt, T. (2006). Regionsmarketing und die Bedeutung regionsbezogener Identität. Der Übergangsbereich der Verdichtungsräume Rhein-Main und Rhein-Neckar als Beispiel. Diss. Darmstadt. Schallhorn, C. (2020). Internationale Imagebildung durch Sportgroßereignisse. In R.  Streppelhoff & A. Pohlmann (Hrsg.), Sportgroßveranstaltungen in Deutschland. Band 1. Bewegende Momente (S. 47– 59). Sonderpublikationen des Bundesinstituts für Sportwissenschaft. Schmidt, S.  L., & Bergmann, A. (2013). Wir sind Nationalmannschaft. Analyse der Entwicklung und

320

P. Gans und M. Horn

gesellschaftlichen Bedeutung der Fußball-­ freizeit_kultur/tourismus/index.html.de. Zugegrif­ Nationalelf. (ISBS research series 7). fen am 06.06.2022. Schmidt, S. L., & Bünning, F. (2012): Die Stadt und ihr Wachter, M. (2016). Die Einführung von Themenorten Profifußball. Eine ganz normale Beziehung. (ISBS und ihr Einfluss auf örtliche gemeinschaftsfördernde research series 5). Aktivitäten als Indikatoren regionaler Identität. Stadt Hockenheim. (2022). Startseite. https://www.­ Masterarbeit. hockenheim.­de/startseite.­html. Zugegriffen am Weichhart, P. (2018). Identität, raumbezogene. In 06.06.2022. ARL  – Akademie für Raumforschung und Stadt Kaiserslautern. (2022). Tourismus – Stadt KaisersLandesplanung (Hrsg.), Handwörterbuch der lautern. https://www.kaiserslautern.de/tourismus_ Stadt- und Raumentwicklung (S. 908–914). ARL.

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321

Sporttourismus – Reisemotivation von deutschen Fußballfans bei der WM 2014 in Brasilien Fabio P. Wagner und Julian M. L. Wilsch

Vor Christo Redentor in Rio de Janeiro, Brasilien: Fußballfans beanspruchen den FIFA-WMPokal für sich. (© Fabio P. Wagner)

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Gans et al. (Hrsg.), Sportgeographie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66634-0_19

19

Inhaltsverzeichnis 19.1

Sporttourismus – 323

19.2

Reisemotivation – 324  eisemotivforschung – 324 R Reiseentscheidungen – 325

19.3

Fußballfans und Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien – 326 F ans – 326 Fan Club Nationalmannschaft – 327 Fußball-Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien – 328 Fancamp – 328

19.4

 ußball-Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien: F Reisemotive deutscher Fans – 330  ntersuchungsmethode – 330 U Reisevorbereitung und Berichterstattung – 331 Reisemotive: Wieso nach Brasilien zur Fußball-­ Weltmeisterschaft? – 332 Reisemotive: Wieso ins Fancamp des Fan Club Nationalmannschaft? – 332

19.5

Fazit – 334 Literatur – 335

323 Sporttourismus – Reisemotivation von deutschen Fußballfans…

Einleitung „Fußball erlangt auf allen Kontinenten gesellschaftliche Bedeutung und fußballerische Großereignisse wie die vierjährlich stattfindenden Weltturniere machen die Menschheit zu Bewohnern eines globalen Dorfes“ (Schulze-Marmeling, 2000, S.  9). Das weltumfassende Phänomen Fußball hat sich durch seine Beliebtheit zu einem der populärsten Kulturerscheinungen entwickelt und somit eine enorme soziale Bedeutung (7 Kap. 15 und 18). Alle vier Jahre findet das Fußballspektakel FIFA1 Fußball-Weltmeis­ terschaft™ der Männer (WM) seinen Höhepunkt, „nicht zuletzt, weil es das größte Sportpublikum der Welt anzieht“ (Kfouri, 2014, S.  33). Mehrere Millionen Menschen lassen sich im jeweiligen Gastgeberland oder Zuhause bei den Live-­Übertragungen in den Bann des Megaevents ziehen. Das mediale Interesse erreicht immense Ausmaße und schenkt folglich dem Gastgeberland vor und während des Turniers eine enorme internationale Aufmerksamkeit (Haferburg & Steinbrink, 2010; 7 Kap. 9). Bereits 2009 erhielt Brasilien den Zuschlag für die Austragung der WM 2014 und damit auch gleichzeitig für den als Generalprobe geltenden FIFA Confederations Cup 2013. Allerdings berichtete die FAZ im Juli 2013 von einer chaotischen Veranstaltung, die teils von gewalttätigen Demonstrationen geprägt war. Diejenigen Personen, die zu dieser Zeit „ihre Entscheidung treffen, ob sie denn zur WM fliegen wollen oder nicht, sind durch die Bilder von brennenden Autoreifen und fliegenden Molotow-Cocktails abgeschreckt worden“ (Käufer, 2013). Dennoch waren viele Menschen bereit, in das größte Land des südamerikanischen Kontinents zu reisen und dabei erhebliche finanzielle Aufwendungen und mehrere Tausend Kilometer Wegstrecke auf sich zu nehmen. „Wer das Abenteuer WM 2014 plant, braucht starke  



1 Fédération Internationale de Football Association.

19

Nerven und ein gutes strategisches Konzept“ (Käufer, 2013). Welche Motive haben deutsche Fußballfans, nach Brasilien zur WM zu reisen, und aus welchen Beweggründen wählen sie als Unterkunft ein vom Deutschen Fußball-Bund e. V. (DFB) organisiertes Fancamp?

19.1 

Sporttourismus

„Sport-Tourismus ist das vorübergehende Verlassen des gewöhnlichen Aufenthaltsortes sowie der Aufenthalt in der Fremde aus sportlichen Motiven“ (Freyer, 2002, S.  20). In diesem Rahmen muss zwischen zwei grundlegenden Reisearten untersch­ ieden werden. Zum einen gibt es eine Form des sportlichen Aktivurlaubs, zum anderen die des sportorientierten Event- und Veranstaltungstourismus (. Abb.  19.1). Wenn im Urlaub selbst aktiv Sport getrieben wird und dies große Teile der Urlaubsgestaltung einnimmt, kann von einem sportlichen Aktivurlaub gesprochen werden. Im Gegensatz dazu steht beim sportorientierten Veranstaltungsurlaub der Besuch einer oder mehrerer Sportveranstaltungen, welche nach­ gängig thematisiert werden, im Vordergrund (Brösle, 2002; Opaschowski, 2002). Vor diesem Hintergrund generiert Freyer (2002) zwei weitere Definitionen des Sporttourismus. Die wesentliche Definition für diese Studie bezieht sich auf den sportorientierten Veranstaltungsurlaub. Er beschreibt ihn als „Sport-Tourismus von sport-­passiven Personen, insbesondere Reisen von Sport-­ Zuschauern: Sie verlassen ihren gewöhnlichen Aufenthaltsort und reisen in eine Destination, um sich dort Sport anzuschauen“ (Freyer, 2002, S.  29). Die Reisenden können bei dieser Form des Urlaubs als Sportzuschauerinnen und -zuschauer betrachtet werden, weil sie passiv am Sportgeschehen teilnehmen. Ihr Ziel ist, mittels ihrer Reiseaktivität eine Sportveranstaltung live und hautnah mitzuerleben. In diesem Fall kann von Event- oder  

324

F. P. Wagner und J. M. L. Wilsch

aktive Ausübung des Sports

Unterstützung des Sports

passives Erleben des Sports

Aktivsportlerinnen und -sportler (Amateur, Profi) • Training • Wettkampf • „Pflicht”

Aktivsport • Trainerinnen und Trainer • Medizinerinnen und Mediziner • Funktionärinnen und Funktionäre • Geräte

Zuschauerinnen und Zuschauer • Wettkämpfe • Training • Events • Prominente

Freizeitsportlerinnen und -sportler • Fun • Fitness • Bewegung • „freiwillig“

Passivsport • Organisation • Funktionärinnen und Funktionäre • Medien • Sponsoren

Sportattraktionen • Sportstätten • Sportorte • Sportmuseum • Sportidole

..      Abb. 19.1  Mögliche Systematisierung des Sporttourismus. (Nach Freyer, 2002, S. 22)

­eranstaltungstouristen gesprochen werV den. Kristallisiert sich der sportliche Wettbewerb als Hauptreisemotiv des Reisenden heraus, so ist dies neben der Einzigartigkeit und Zeitbegrenztheit der Veranstaltung ein Indikator für ein sporttouristisches Event (Kähler, 2014). Lohmann (2002) stellt weiter fest, dass folglich der Sport die Form des Urlaubs der Reisenden bestimmt. Es kann festgehalten werden, dass die Reise zur WM in Brasilien dem sportorientierten Veranstaltungsurlaub zuzuordnen ist. Weiter kann angenommen werden, dass die Reisenden als Event- oder Veranstaltungstouristen gesehen werden können, wenn sie Spiele der WM live im Stadion besuchen. Abzuwarten bleibt hingegen, ob sich der sportliche Wettbewerb, also das Fußballturnier, als Hauptmotiv herausstellt.

19.2 

19

Reisemotivation

„Warum verreisen Menschen? Diese Frage ist so alt wie die Menschheit, denn seit es sie gibt, sind die Menschen auch gereist“

(Mundt, 2001, S. 109). Motivation, so unterschiedlich die Ursprünge und so vielfältig deren Charakteristik auch sein mögen, bildet stets die Grundlage für jegliches Handeln. Wird die Reisemotivation untersucht, lässt sich Folgendes feststellen: Zu Beginn stehen zahlreiche Motive, die sich in Ausprägung und Intensität unterscheiden. Vereint bilden die Motive ein Konglomerat, das letztendlich als die Reisemotivation bezeichnet werden kann.

Reisemotivforschung Die Tourismuspsychologie beschäftigt sich ausführlich mit der Frage, warum sich Menschen aus reinem Vergnügen von einem Ort zum anderen bewegen (7 Box 19.1). Dementsprechend befasst sich die Forschung mit den Motiven, die die Menschen zum Reisen bewegen. Genauer sollte jedoch von Urlaubsreisemotiven gesprochen werden, weil die Motive von Geschäftsreisen im Folgenden keine Berücksichtigung finden (Braun, 1993a, S. 200).  

325 Sporttourismus – Reisemotivation von deutschen Fußballfans…

Box 19.1 Urlaubsreisemotivation

»» „Unter

Urlaubsreisemotiven verstehen wir die Gesamtheit der individuellen Beweggründe, die dem Reisen zugrunde liegen. Psychologisch gesehen handelt es sich um Bedürfnisse, Strebungen, Wünsche, Erwartungen, die Menschen veranlassen, eine Reise ins Auge zu fassen bzw. zu unternehmen. Wie andere Motive auch sind sie individuell verschieden strukturiert und von der soziokulturellen Umgebung beeinflusst.“ (Braun, 1993a, S. 199).

Als Pionierstudie der empirischen Urlaubsreisemotivforschung gilt die Studie von Hartmann (1962, zitiert in Braun, 1993a), die vier Gruppen von Reisemotiven unterscheidet: 55 Erholungs- und Ruhebedürfnis: Ausruhen, Abschalten, keine Hast und Hetze etc. 55 Bedürfnis nach Abwechslung und Ausgleich: Veränderung des Gewohnten, sich selbst entfalten etc. 55 Befreiung von Bindungen: Befreiung von Pflichten, sich ungezwungen bewegen etc. 55 Erlebnis- und Interessenfaktoren: Sensa­ tionslust, Interesse an fremden Kulturen etc. Opaschowski (2002, S.  91) ist der Auffassung, dass sich aus dem Hauptmotiv Erholung infolge einer Mischung von insgesamt zehn Motiven ein mehrdimensionales Bündel bildet: 55 „Sonne, Ruhe und Natur, 55 Kontrast, Kultur, Kontakt und Komfort, 55 Spaß, Freiheit und Aktivität“ Eine eindeutige Hierarchie der Urlaubsmotive lässt sich in der Studie nicht finden. Als Hauptfaktor unter den Reisemotiven

19

gilt aber das Erholungsmotiv. Was Erholung für eine Person darstellt, ist jedoch schwer zu definieren (Kleinsteuber & Thimm, 2008). Denn jegliche Urlaubsmotivation unterliegt soziologischen, sozialpsychologis­ chen, entwicklungs- und persönlichkeitspsychologischen Bezügen (Schmitz-Scherzer & Rudinger, 1974). Nach dem Verständnis von Braun (1993a) erscheint dies klar, denn jedes Individuum steht in einem anderen soziokulturellen Bezugsrahmen und wird hierbei unter dem Motiv „Erholung“ eine einzigartige Wahrnehmung aufweisen. Zu klären ist, ob diese klassischen Reisemotive auch auf die Reisenden zur WM nach Brasilien zutreffen.

Reiseentscheidungen Das soziale Umfeld, das Einkommen, der persönliche Besitz und die Lage der Konjunktur beeinflussen die Menschen in ihren Reiseentscheidungen. Ferner spielen hierbei die persönlichen Reisemotive, Reiseerfah­ rungen, soziale Werte und Vorabinfor­ mationen über das Reiseziel eine Rolle. Wie der verwendete Plural deutlich machen soll, gibt es nicht eine Reiseentscheidung, sondern vielmehr eine Aneinanderreihung von Teilentscheidungen, die die Wahl der Art und Weise des Reisens bestimmen (Braun, 1993b). Wann, wie, wie lange und wohin gereist werden soll, sind die elementaren Fragen der Reiseentscheidung. Der zugrunde liegende Prozess durchläuft verschiedene Phasen, in denen die einzelnen Teilentscheidungen getroffen werden, die aufeinander aufbauen und sich bedingen können. Zu Beginn werden der Reisezeitpunkt und das Reiseziel festgelegt, ehe die Dauer der Reise bestimmt wird. Nachrangig finden Preis, Unterkunft, Verkehrsmittel und Organisationsform der Reise ihre Beachtung (Braun, 1993b). Freyer (2011) und Mundt (2001) sehen hingegen

326

F. P. Wagner und J. M. L. Wilsch

Reisemotive

Entscheidung über: Reiseziele • Länder • Regionen • Orte Reiseerfahrungen

Verkehrsmittel • Automobil • Flugzeug • Bus

Organisationsform • Individualreise • Veranstaltungsreise

Unterkunft • Hotel • Pension • Ferienwohnung • Verwandte/Bekannte

Art der Reise • Rundreise • Standortreise

Möglichkeiten u. Restriktionen (Partner/Familie, Gesundheit, Einkommen, Urlaub)

Reisezeit

..      Abb. 19.2  Rahmenbedingungen der Reiseentscheidungen. (Nach Mundt, 2001, S. 148)

keine hierarchische Reihenfolge der einzelnen Elemente zur Reiseentscheidung. Sie gehen vielmehr davon aus, dass sich die Teilentscheidungen wechselseitig beeinflussen. . Abb.  19.2 macht deutlich, dass die Reisemotive im Gefüge der Rahmenbedingungen erheblichen Einfluss auf die Reiseentscheidungen nehmen, weil die Motive direkt auf die Reisezeit und -ziele, Organisationsform, Verkehrsmittelwahl, Unterkunft sowie Reiseart wirken. Diese bedingen sich untereinander und zeigen die Komplexität des Geflechts von Teilentscheidungen innerhalb der Reiseentscheidung. Auf die Motive selbst wirken wiederum die persönlichen oder berichteten Reiseerfahrungen, wie auch Einschränkungen und Möglichkeiten beispielsweise bezüglich Familie, Gesundheit oder Einkommen.

19.3 

Fußballfans und Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien



19

Fans Die Faszination Fußball besteht zum einen aus der eigenen aktiven Ausübung des Fußballsports, zum anderen mobilisiert es Millionen von Menschen, den Sport vor Ort, in den Stadien oder in den Medien zu verfolgen (7 Box 19.2). Durch die Etablierung des Fußballs als Zuschauersport mit hoher Anziehungskraft kann er als „kontinuierliches schichtübergreifendes Massenphänomen“ (Fürtjes, 2012, S.  65) verstanden werden. Die am Fußball interessierten Personen zeichnen sich nicht durch eine homogene  

327 Sporttourismus – Reisemotivation von deutschen Fußballfans…

Struktur aus. Eine wichtige Gruppe sind die Fans, die sich zum einen durch Leidenschaft für die Sache oder Person und die Identifikation damit, zum anderen durch das eingebrachte Engagement in Form von Zeit und/oder Geld hervorheben (Duttler, 2015). In Bezug auf den Fußball sind diejenigen Menschen als Fußballfans zu bezeichnen, deren Fanobjekte ein Verein oder eine Mannschaft (beides kollektive Objekte) sind. Darüber hinaus können einzelne Spieler einer Mannschaft zum personalen Fanobjekt werden. Als Investition von Geld können Eintrittskarten für Spiele, das Bezahlen von Pay-TV-Sendern oder Fanartikeln gesehen werden. Ein Tagesausflug zum Auswärtsspiel oder die 90 Minuten vor dem Fernseher können als zu investierende Zeit verstanden werden. Aus den obigen Ausführungen lässt sich für den vorliegenden Beitrag die deutsche Fußball-Nationalmannschaft als kollektives Fanobjekt verstehen. Personen mit einer leidenschaftlichen Bindung an die Nationalmannschaft können aufgrund ihres Engagements, mehrere Tage zur WM nach Brasilien zu reisen, somit als deutsche Fußballfans typisiert werden.

Box 19.2 Megaevent

Nach Preuß et  al. (2009) sind es fünf Merkmale, die zur Abgrenzung eines Megaevents dienen:

»» „(1)

Veranstaltungsturnus (aus Sicht des Austragungsorts), (2) Event-Konzeption (zentrale Produkt- bzw. Mar­ kenmerkmale zur Erzeugung eines Wiedererkennungswerts unter Wahrung der Einzigartigkeit der jeweiligen Ausrichtung), (3) Zeit (Event-Dauer und Intensität des Programmablaufs), (4) Austragungsinhalt (sportlich, kulturell, sonstig), (5) Größe (als qualitatives Bedeutungsmaß).“ (Preuß et  al., 2009, S. 26)

19

Als Megaevents sollten schließlich nur Olympische Winter- und Sommerspiele, Fußball-Weltmeisterschaften und EXPO-­ Weltausstellungen bezeichnet werden (Preuß et al., 2009, S. 28).

Fan Club Nationalmannschaft Der Fan Club Nationalmannschaft (FCN) soll der sicht- und hörbaren Unterstützung der deutschen Nationalmannschaft dienen und wurde vom DFB gemeinsam mit Coca-­ Cola 2003 ins Leben gerufen. Er sieht seine Ziele in der „Förderung der Fankultur und […] Verbesserung der Atmosphäre und der Sicherheit im Stadion sowie im Umfeld der Spiele der deutschen Fußball-­Nationalmannschaften“ (DFB, 2022a). Der FCN zählt mehr als 50.000 Mitglieder. „Der DFB erwartet, dass diese Fans durch ihr Auftreten und ihr Verhalten das Erscheinungsbild der deutschen Fußball-­ Nationalmannschaften und des DFB positiv beeinflussen und gegen Diskriminierung, Rassismus und Gewalt sowie für Toleranz und Fairness eintreten“ (DFB, 2022a). Um Mitglied zu werden, bedarf es einer einmaligen Zahlung sowie eines jährlichen Beitrags. Außerdem müssen die Teilnahmebedingungen akzeptiert, Angaben zur eigenen Person zugänglich gemacht und die Ermächtigung für das SEPA-­Lastschriftverfahren erteilt werden. Neben den Erlebnisgefühlen von Leidenschaft, Gemeinschaft und Emotion wird unter anderem mit folgenden Leistungen geworben: „Exklusive Ticketverkaufsphasen, Welcome-Package, Abonnement DFB-Journal, 20  % Rabatt im DFB-­ Fanshop, vergünstigter Eintritt im Deutschen Fußballmuseum“ (DFB, 2022b). Der FCN trat aus einem entscheidenden Grund als wichtiger Akteur in allen Reiseplänen deutscher Fußballfans in den Vordergrund: Erstmals hatten ausschließ­

328

F. P. Wagner und J. M. L. Wilsch

lich Mitglieder des Fanclubs die Möglichkeit, Tickets für Spiele der WM in Brasilien zu erwerben.

Fußball-Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien

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Die 20. WM der Männer wurde zwischen dem 12. Juni und 13. Juli 2014 auf dem südamerikanischen Subkontinent in Brasilien ausgetragen. Brasilien ist die größte Volkswirtschaft der südlichen Hemisphäre. Nichts scheint „den jüngsten Aufstieg Brasiliens zum Global Player symbolträchtiger zu belegen als die Gastgeberrolle für die Fußball-WM 2014 und für die Olympischen Spiele 2016“ (Dilger, 2014, S. 40). Trotz des wirtschaftlichen Aufstiegs ist das Land nach wie vor von außerordentlich hohen sozialen Ungleichheiten geprägt, nicht nur ein Erbe der Sklaverei, die erst 1888 abgeschafft wurde. Aufgrund dieser Gegensätze befürchteten viele Brasilianerinnen und Brasilianer, dass sich die finanziellen Folgen einer WM negativ auf ihre Lebensverhältnisse auswirken würden. So kam es während des FIFA Confederations Cup 2013 zu zahlreichen Protesten mit teils gewalttätigen Demonstrationen seitens der brasilianischen Bevölkerung. Die ablehne­ nde Haltung richtete sich zu großen Teilen gegen die FIFA, aber auch gegen die brasilianische Regierung. Die Menschen wollten auf die sozialen Disparitäten des Lands aufmerksam machen und forderten ein besseres Gesundheits- und Bildungssystem sowie den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs (Schütte, 2015). Laut Dilger (2014) waren es die größten Straßenproteste seit Ende der Diktatur 1985. Als Auslöser des Widerstands gegen die WM gilt das Publikwerden der horrenden Kosten für die WM-­Stadien. Die 64 Spiele der Endrunde fanden in zwölf verschiedenen Austragungsorten statt. In acht WM-Städten wurden die Stadien anlässlich der WM neu errichtet. Eine Rundumerneuerung erhielten die Stadien in Fort-

aleza, Rio de Janeiro, Curitíba und Porto Alegre (. Abb. 19.3). Laut einer Studie des brasilianischen Bundessenats beliefen sich die Kosten für das Land Brasilien auf 40  Mrd. Dollar; somit prognostizierte Kfouri (2014), dass die WM in Brasilien die bis dato teuerste aller Zeiten werden würde. Die Fußball-WM bewirkte auch positive wirtschaftlichen Effekte. Am Beispiel der Anzahl touristischer Ankünfte in Brasilien zeigt sich, dass sie sich von 2009 bis 2013 um jährlich 0,25  Mio. auf 5,81  Mio. erhöhte und 2014, im Jahr der Fußball-WM, die Zunahme mit einem Plus von 0,62 Mio. deutlich höher ausfiel. Bis 2019 (6,35 Mio.) verblieb die Zahl der touristischen Ankünfte etwa auf diesem Niveau, was sicherlich auch auf die Olympischen Spiele 2016  in Rio (6,55 Mio.) zurückzuführen ist (World Tourism Organization, 2021, S. 20).  

Fancamp Durch die Zusammenarbeit des FCN mit dem DFB-Reisebüro entstand für Mitglieder das Angebot, in das Fancamp in Itamaracá, Brasilien, zu reisen. Dieses diente als Basisquartier für Fans der deutschen Nationalmannschaft während der Vorrunde. Die Ilha de Itamaracá ist eine Insel des brasilianischen Bundesstaats Pernambuco und liegt rund 50  km nördlich der Landeshauptstadt Recife (. Abb. 19.3). Im Süden der Insel liegt die Hotelanlage Orange Praia, welche zum Fancamp umfunktioniert wurde und exklusiv für bis zu 350 Mitglieder des FCN reserviert war (. Abb. 19.4). Das Hotel selbst ist knapp 60 km vom Guararapes International Airport Recife und ebenso weit vom WM-Stadion Arena Pernambuco, in der fünf Spiele der Vorrunde ausgetragen wurden, entfernt. Die Mitglieder hatten die Möglichkeit, drei aufeinander aufbauende „Pakete“ zu buchen, die aus jeweils vier bzw. fünf Tagen Unterkunft bestanden. Optional kam ein Bustransfer zu den Vorrundenspielen der  



329 Sporttourismus – Reisemotivation von deutschen Fußballfans…

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..      Abb. 19.3  Spielorte der Fußball-WM in Brasilien. (Nach eigener Zusammenstellung)

kontingents an die Fans der jeweiligen Verbände gingen, war die Wahrscheinlichkeit, Tickets zu bekommen, hoch. An- und Abreise von und nach Deutschland konnten wahlweise selbst organisiert oder mitgebucht werden. Am An- und Abreisetag bot der FCN einen kostenfreien Transfer zum Flughafen an. Bis zu acht Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des FCN waren während des gesamten Zeitraums im Hotel vor Ort und ..      Abb. 19.4  Außenbereich des Fancamps. (© Fabio standen den Mitgliedern beratend und P. Wagner) unterstützend zur Verfügung. Außerdem deutschen Mannschaft hinzu. Die Tickets bot der FCN diverse Angebote zur Freizeitfür die Spiele waren über die FIFA-Online-­ gestaltung (Ausflüge, Beachsoccer etc.) an. Plattform zu erhalten. Da 8 % des Gesamt-

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F. P. Wagner und J. M. L. Wilsch

19.4 

Fußball-Weltmeisterschaft 2014 in Brasilien: Reisemotive deutscher Fans

Untersuchungsmethode Die Studie basiert auf der Befragung von Personen im Fancamp. Zunächst interessierten Umfang und Art der Reisevorbereitung (direkte/indirekte Erfahrungen, Informationen, Einschätzungen). Anschließend fanden sich Variablen zur Motivation, nach Brasilien zu reisen, wieder (z.  B.  Sport, Kultur, Soziales, Klima, Natur, Bildung). Dem folgten Fragen, warum das Fancamp als Unterkunft gewählt wurde (Organisation, Sicherheit, Soziales, Tickets), sowie zu weiteren Informationen der Reise (z. B. Verlängerung, Reisegruppe, Unterbringung, Reisedauer, Stadionbesuche, Besuch von Städten, Fanmeilen). Abschließend wurden die soziodemographischen Variablen erfragt. Bei nahezu allen Fragen mussten sich die Interviewten zwischen „ja/nein“ oder anhand einer vierstufigen Skala von „stimme genau zu“ bis „stimme nicht zu“ entscheiden. Bewusst wurde eine gerade Anzahl an Antwortmöglichkeiten gewählt, um das Phänomen „Tendenz zur Mitte“ zu vermeiden. Offene Fragen, welche keine festen Antwortkategorien hatten, wurden lediglich zweimal gestellt. Im Falle der Gründe für die Reise dienen die aus 7 Abschn. 19.2 bekannten Reisemotive von Hartmann (1962, zitiert in Braun, 1993a) und Opaschowski (2002) als Ausgangspunkt. Vor der eigentlichen Untersuchung wurde ein Pretest mit der Reisegruppe der Autoren durchgeführt. In Brasilien selbst fand die Erhebung an mehreren Tagen auf dem Gelände des Fancamps statt, um möglichst viele Untersuchungsteilnehmerinnen und -teilnehmer erreichen zu können. Den  

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Probanden wurde eine kurze verbale Einführung gegeben, in der das Vorhaben kurz geschildet wurde. Anschließend wurden die Personen gebeten, einen Fragebogen auszufüllen. Als die FCN-Mitglieder den Fragebogen fertig ausgefüllt hatten, wurde dieser eingesammelt und auf seine Vollständigkeit und Plausibilität geprüft. Diese Rücklaufkontrolle bot die Möglichkeit, sich einzelne Teile des Fragebogens von den Interviewten, falls nötig, ergänzen zu lassen. Laut offiziellen Angaben des DFB-­ Reisebüros waren insgesamt 278 Personen im Fancamp (Population, N = 278). Für die Beschreibung der Zusammensetzung nach Aufenthaltsdauer wird auf die Daten des DFB-Reisebüros zurückgegriffen. 16 % der Population buchten drei bis sechs Übernachtungen, ein Viertel der Personen (N = 74) blieb sieben bis zehn, fast die Hälfte (N = 134) elf bis 14 Nächte, und am kleinsten war die Gruppe (N  =  25), die 15 und mehr Nächte im Camp verbrachte. Die mittlere Aufenthaltsdauer lag bei etwas mehr als elf Nächten. Die Stichprobe umfasste n  =  123 Besucherinnen und Besucher. Die soziodemographischen Angaben der Probanden zu Alter, Familienstand und Beruf zeigten, dass es sich bis auf die Geschlechterverteilung (rund 90 % männlich) um eine eher heterogene Reisegruppe handelte. Die Mehrheit (56  %) der 123 Befragten war während der gesamten Urlaubsreise im Fancamp untergebracht, 44  % besuchten während ihres Reiseaufenthalts in Brasilien auch andere Ziele, weil sie ihre Reise bereits vor der Zeit im Camp begonnen bzw. danach fortgesetzt haben. Die durchschnittliche Aufenthaltsdauer in Brasilien lag im Median bei 17 Tagen. Fast alle befragten Fans (n  =  122) gaben an, Eintrittskarten für WM-­Spiele zu besitzen. Die Mehrheit (rund 62 %) hatte Tickets für drei bis fünf Begegnungen.

331 Sporttourismus – Reisemotivation von deutschen Fußballfans…

Reisevorbereitung und Berichterstattung Reiseerfahrung kann Einfluss auf die Reiseentscheidung nehmen. Positive Erfahrungen, die teils selbst gemacht (n = 13, positive/eher positive) oder aber von Bekannten berichtet wurden (n = 70, positiv/eher positiv; n = 4 eher negativ), könnten dazu beigetragen haben, dass diese befragten Personen zur Fußball-WM nach Brasilien gereist sind. Trotzdem bliebe eine gewisse Unsicherheit bezüglich des Reiseziels bestehen. Rund 90 % nahmen die Berichterstattung im Vorfeld der WM als eher negativ bzw. negativ wahr. Etwas mehr als ein Drittel der befragten Personen wurde dadurch auch in ihrem Reisevorhaben verunsichert. Vermutlich spielte dabei die Berichterstattung in den deutschen Medien zu den Protestwellen im Vorfeld der WM eine besondere Rolle. Der Widerstand war teilweise von kriminellen und gewalttätigen Übergriffen begleitet und wurde als eher negativ bzw. negativ empfunden. Als Gründe der Verunsicherung

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gaben die Probanden soziale Unruhen, Sicherheitsbedenken, Kriminalität, Gewalt und sonstiges (z. B. ungutes Gefühl) an. Vor Reiseantritt informierten sich 85  % der Besucherinnen und Besucher im Fancamp zu Brasilien. Rund 92 % der befragten Fans erkundigten sich über das vorherrschende Klima, einschließlich der unterschiedlichen klimatischen Gegebenheiten zwischen Deutschland und Brasilien. Auch die weiten Entfernungen zwischen den Spielorten, die in verschiedenen Klimazonen mit variierenden Witterungsverhältnissen lagen, könnten Anlass für das Interesse gewesen sein. Knapp 86  % verschafften sich einen Überblick über die sozialen Gegebenheiten, und weitere fast 82 % beschäftigten sich mit der Größe von Brasilien, was in Verbindung mit den geplanten Reisen zu den jeweiligen Spielen gesetzt werden kann. Etwa zwei Drittel der Probanden gaben an, sich über die politische und wirtschaftliche Situation kundig gemacht zu haben. Weniger als die Hälfte befasste sich hingegen mit dem Naturraum (. Abb. 19.5).  

..      Abb. 19.5  Vorabinformationen zu Brasilien nach verschiedenen Themen, n = 104. (Nach Daten der eigenen Erhebung 2014)

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 eisemotive: Wieso nach Brasilien R zur Fußball-­Weltmeisterschaft? Die drei am häufigsten genannten Reisemotive der Befragten sind das „Sportevent Fußball-Weltmeisterschaft“ (alle stimmen zu/eher zu), „Stadionbesuche“ (96  % stimmen zu/eher zu) und das Ziel, die „Nationalmannschaft zu unterstützen“ (94 % stimmen zu/eher zu; . Abb. 19.6). Es sind keine klassischen Reisemotive, was belegt, dass der Besuch der Fußball-Weltmeisterschaft für die Fans keine normale Urlaubsreise ist. Dagegen erfährt der Beweggrund „Erholung“, der immer individuell definiert wird und den Hauptanlass von Urlaubsreisen darstellt (7 Abschn.  19.2), nur eine mäßige Zustimmung (54  %). „Erholung“ spielt unter den Motiven der Befragten eine eher untergeordnete Rolle (. Abb. 19.6). Statt „Erholung“ erfahren eher konträre Motive wie „Party“ und „Abenteuer erleben“ Zustimmung. Eine Fußball-WM als Megaevent geht in der Regel mit einem vielfältigen Begleitprogramm einher. Die Verantwortlichen bemühen sich um eine Feieratmosphäre. Auf den Fanmeilen und rund um die verschiedenen Austragungsstätten werden zahlreiche Unterhaltungsmöglichkeiten geboten. Dies ist den meisten deutschen Fußballfans spätestens seit der WM 2006 im eigenen Land bekannt. Demnach konnte diese Erwartung auch an die WM in Brasilien gestellt werden. Soziale Aspekte wie das Kennenlernen von Einheimischen und ihrer Kultur, anderen Mitgliedern aus dem FCN oder der Besuch von Sehenswürdigkeiten erhalten eine moderate Zustimmung von rund 60 %. Das Interesse der Fans am Naturraum in Brasilien ist ähnlich wie der Anlass „Erholung“ mit lediglich etwa 47 % schwach ausgeprägt. Für ein Fünftel der Befragten stellt er kein Motiv dar, nach Brasilien zu reisen. Das Lernen oder Verbessern der portugiesischen Sprache erweist sich mit 89 % Ablehnung als Motiv mit der geringsten Ausprägung (. Abb. 19.6).  





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Reisemotive: Wieso ins Fancamp des Fan Club Nationalmannschaft? Die drei Motive der FCN-Mitglieder mit der höchsten Zustimmung für die Unterbringung im Fancamp sind „Mehr Sicherheit“ (80  % der Befragten), „Rundumorganisation“ (85 %) und die Gewissheit, „Ansprechpartner vor Ort“ kontaktieren zu können (84 %; . Abb. 19.7). Zu diesen Angaben passt die in Teilen negative mediale Berichterstattung über die Fußball-WM in Brasilien in Deutschland. Die damit einhergehende Verunsicherung der Probanden könnte sich im Verlangen nach mehr Sicherheit ausdrücken und letztendlich beim Prozess der Reiseentscheidung zum Entschluss führen, die Unterbringung im Fancamp zu wählen. Diese Annahme bestätigt sich im Zusammenhang zwischen denjenigen Personen, die sich durch die Berichterstattung in ihrem Reisevorhaben verunsichert fühlten, und dem Reisemotiv „Sicherheit“. Von den 43 „verunsicherten“ Befragten sahen alle, bis auf eine Person, Sicherheit als einen wesentlichen Grund für die Entscheidung, das Fancamp als Unterkunft zu wählen, an. 63  % gaben an, dass sie diesem Motiv zustimmen, 35 %, dass sie ihm eher zustimmen. Außerdem besteht ein Zusammenhang zwischen dem Beitritt in den Fan Club aufgrund der WM und dem Motiv „Sicherheit“. Von den 61 Befragten, die wegen der WM in Brasilien in den FCN eingetreten sind, stimmten 49 Personen (80  %) dem Motiv „Sicherheit“ zu oder eher zu. Vermuten lässt sich, dass diese neuen Mitglieder beigetreten sind, um neben den Tickets die Möglichkeit des Fancamps als Unterkunft in Anspruch nehmen zu können. Die „Rundumorganisation“ erfährt als Reisemotiv ebenfalls eine große Zustimmung. Verantwortung bezüglich der Reise abzugeben, entspricht dem klassischen Reisemotiv „Befreiung von Pflichten“ und „sich ungezwungen bewegen“ (7 Abschn.  19.2).  



19

333 Sporttourismus – Reisemotivation von deutschen Fußballfans…

Sehenswürdigkeiten besuchen Naturraum kennenlernen Erholung Portugiesisch lernen/verbessern Zusammentreffen verschiedener Kulturen einheimische Bevölkerung kennenlernen brasilianische Kultur kennenlernen Menschen kennenlernen Abenteuer erleben Party Besuche der Fanmeilen Nationalmannschaft unterstützen Stadionbesuche Sportevent Fußball-WM 0

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stimme genau zu

(n = 119 bis 123)

40

stimme eher zu

60

80

stimme eher nicht zu

100 % stimme nicht zu

..      Abb. 19.6  Motive der Reise nach Brasilien. (Nach Daten der eigenen Erhebung 2014)

mehr Sicherheit Rundumorganisation Ansprechpartner vor Ort organisierte Ausflüge Unterhaltungsprogramm 0 (n = 118 bis 122)

20 stimme genau zu

40 stimme eher zu

60 stimme eher nicht zu

80

100 % stimme nicht zu

..      Abb. 19.7  Motive für den Aufenthalt im Fancamp. (Nach Daten der eigenen Erhebung 2014)

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Weniger Zuspruch erhalten die Motive „Or- als fundamentaler Beweggrund betrachtet ganisierte Ausflüge“ (50  %) und „Unter- werden. Diese Faktoren können in Zuhaltungsprogramm“ (41  %). Diese bezogen sammenhang mit der zum Großteil als negasich überwiegend auf Themen zu Natur und tiv empfundenen Berichterstattung im VorKultur des Gastgeberlandes, an denen jedoch feld der WM und der damit einhergehenden ein eher geringes Interesse der FCN-­ Verunsicherung gebracht werden. Mitglieder bestand. Zusammenfassend hat die sehr heterogene Reisegruppe (mit Ausnahme der Geschlechterverteilung) größtenteils homogene Reisemotive. Etliche Motive sind un19.5  Fazit abhängig von Alter, Beruf oder FamilienDie Ergebnisse machen deutlich, dass es eine stand übergreifend genannt worden. Aufgabe von weiterführenden Studien Vielzahl an Motiven gibt, die die im Fancamp untergebrachten deutschen Fußballfans dazu könnte es sein, Unterschiede in den Reiseveranlasste, die Reise nach Brasilien anzu- motiven zwischen Deutschlandfans, die treten. Festzustellen ist, dass die Motivation innerhalb und außerhalb des Fancamps in erster Linie darin liegt, dem Megaevent untergebracht waren, zu untersuchen. FIFA Fußball-­Weltmeisterschaft 2014 beizu- Außerdem könnte bei zukünftigen Weltwohnen. Andere bedeutungsvolle, mit der meisterschaften analysiert werden, ob sich WM verbundene Beweggründe stellen die die Motive, ein organisiertes Fancamp zu Besuche der Stadien und das Bedürfnis, die besuchen, verändern. In Brasilien war wahrzunehmen, dass deutsche Nationalmannschaft in Brasilien zu unterstützen, dar. Diesen folgen soziale Mo- wohl kaum ein anderes Megaevent solch eine tive wie der Drang nach Abenteuer und Begeisterung und Unterstützung erfuhr, wie Party. Naturräumliche und kulturelle As- es bei einer Fußball-WM der Fall ist. Um mit pekte sind weniger als Anlässe für die Reise Jankowski (2014, S. 13) abzuschließen: „Der anzusehen. Insgesamt bestätigt sich die Fußball verzaubert und fasziniert die MenKomplexität des Prozesses der Reiseent- schen wie kein anderer Sport.“ scheidung (. Abb. 19.2). In der Urlaubs- und Reisemotiv- ? Übungs- und Reflexionsaufgaben 1. Wenden Sie die Rahmenbedingungen forschung gilt die Erholung stets als Hauptder Reiseentscheidung nach Mundt faktor unter den Motiven (Kleinsteuber & (2001) mithilfe von . Abb. 19.2 auf Thimm, 2008). Dies trifft auf die vorliegende Ihr nächstes Reisevorhaben an. VeriStudie allerdings nicht zu. Als wichtigstes fizieren Sie, ob in Ihren Überlegungen Motiv kristallisiert sich der Besuch eines eine aufeinander aufbauende Folge Megaevents, der Fußball-WM in Brasilien, der Entscheidungen stattfindet und heraus, aufgrund dessen die Reise als sportob Sie eine Priorisierung feststellen orientierter Eventurlaub (Opaschowski, 2002) können. betrachtet werden kann. 2. Diskutieren Sie, ob sich die klassiUnter den Motiven, die für einen Aufschen Reisemotive (7 Abschn. 19.2) enthalt im Fancamp sprechen, kann neben durch den gesellschaftlichen Wandel dem Wunsch der Verantwortungsabgabe der vergangenen 20 Jahre verändert durch die Rundumorganisation des FCN haben und, falls ja, welche Tendenund deren Ansprechpartner und Ansprechzen sich erkennen lassen. partnerinnen vor Ort der Sicherheitsaspekt  





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335 Sporttourismus – Reisemotivation von deutschen Fußballfans…

Zum Weiterlesen empfohlene Literatur Fritz, G. (2019). Fanclubs der Nationalmannschaften im deutschen Teamsport. Value Co-Creation zwischen Kommerzialisierung und Fankultur. Springer.

Literatur Braun, O.  L. (1993a). (Urlaubs-) Reisemotive. In H. Hahn & H. J. Kagelmann (Hrsg.), Tourismuspsychologie und Tourismussoziologie. Ein Handbuch zur Tourismuswissenschaft (S. 199–207). Quintessenz. Braun, O. L. (1993b). Reiseentscheidung. In H. Hahn & H. J. Kagelmann (Hrsg.), Tourismuspsychologie und Tourismussoziologie. Ein Handbuch zur Tourismuswissenschaft (S. 302–307). Quintessenz. Brösle, J.-J. (2002). Die Bedeutung des Sportreisemarktes für Reiseveranstalter. In A.  Dreyer (Hrsg.), Tourismus und Sport. Wirtschaftliche, soziologische und gesundheitliche Aspekte des Sport-Tourismus (S. 199–205). Springer. DFB  – Deutscher Fußball-Bund e. V. (2022a). Teilnahmebedingungen Fan Club Nationalmannschaft. Offizielle Webseite des DFB. https://www.­dfb.­de/ agb/agb-­fan-­club-­nationalmannschaft/. Zugegrif­ fen am 06.03.2022. DFB  – Deutscher Fußball-Bund e. V.(2022b). Jetzt Mitglied werden. Offizielle Webseite des DFB. https://fanclub.­dfb.­de/mitglied-­werden/. Zuge­grif­ fen am 06.03.2022. Dilger, G. (2014). Brasilien vor der WM: Geburtswehen einer Großmacht. In G.  Dilger et  al. (Hrsg.), Fußball in Brasilien: Widerstand und Utopie. Von Mythen und Helden, von Massenkultur und Protest (S. 40–45). VSA. Duttler, G. (2015). Fußballfans  – Kernthemen und theoretische Bezüge. In M.  Lames et  al. (Hrsg.), Fußball in Forschung und Lehre. Beiträge und Analyse zum Fußballsport XIX (S. 27–46). Feldhaus. Freyer, W. (2002). Sport-Tourismus  – Einige Anmerkungen aus Sicht der Wissenschaft(en). In A.  Dreyer (Hrsg.), Tourismus und Sport. Wirtschaftliche, soziologische und gesundheitliche Aspekte des Sport-Tourismus (S. 1–26). Springer. Freyer, W. (2011). Tourismus-Marketing: Marktorientiertes Management im Mikro- und Makrobereich der Tourismuswirtschaft (7. Aufl.). Oldenbourg. Fürtjes, O. (2012). Der Fußball und seine Kontinuität als schichtenübergreifendes Massenphänomen in Deutschland. SportZeiten, 12(2), 55–72.

19

Haferburg, C., & Steinbrink, M. (2010). WM 2010 – Kick-Off für Südafrika und Anstoße für die Stadtentwicklung. In C.  Haferburg & M.  Steinbrink (Hrsg.), Mega-Event und Stadtentwicklung im globalen Süden: die Fußballweltmeisterschaft 2010 und ihre Impulse für Südafrika (S. 10–25). Brandes & Apsel. Jankowski, T. (2014). Matchplan Fußball. Mit der richtigen Taktik zum Erfolg. Meyer & Meyer. Kähler, R. (2014). Überall und nirgendwo: Sind sporttouristische Eventräume temporäre Nicht-Orte? In H. Wäsche & T. Schmidt-Weichmann (Hrsg.), Stadt, Land, Sport. Urbane und touristische Sporträume (S. 130–141). Feldhaus. Käufer, T. (2013). Confed-Cup in Brasilien. Probleme, Pannen, Proteste. Frankfurter Allgemeine Zeitung. http://www.faz.net/aktuell/sport/fussball/confed-cup-in-brasilien-probleme-pannenproteste12266242.html. Zugegriffen am 08.02.2022. Kfouri, L. (2014). Lula, Dilma und die WM.  In G.  Dilger et  al. (Hrsg.), Fußball in Brasilien: Widerstand und Utopie. Von Mythen und Helden, von Massenkultur und Protest (S. 35–39). VSA. Kleinsteuber, H.  J., & Thimm, T. (2008). Reisejournalismus. Eine Einführung (2. Aufl.). VS. Lohmann, M. (2002). Sport light  – Der Stellenwert des Sports im Urlaubstourismus. In A.  Dreyer (Hrsg.), Tourismus und Sport. Wirtschaftliche, soziologische und gesundheitliche Aspekte des Sport-Tourismus (S. 175–180). Springer. Mundt, J. W. (2001). Einführung in den Tourismus. Oldenbourg. Opaschowski, H. (2002). Tourismus. Eine systematische Einführung. Freizeit- und Tourismusstudien (3. Aufl.). Leske + Budrich. Preuß, H., Kurscheidt, M., & Schütte, N. (2009). Ökonomie des Tourismus durch Sportgroßveranstaltungen: eine empirische Analyse zur Fußball-Weltmeisterschaft 2006. Gabler. Schmitz-Scherzer, R., & Rudinger, G. (1974). Motive, Erwartungen, Wünsche in Bezug auf Urlaub und Verreisen. In R.  Schmitz-Scherzer (Hrsg.), Freizeit (S. 369–380). Akademische Verlagsgesellschaft. Schulze-Marmeling, D. (2000). Fußball. Zur Geschichte eines globalen Sports. Die Werkstatt. Schütte, N. (2015). Die Wirkung der sozialökonomischen Proteste gegen die Fußballweltmeisterschaft 2014 auf ihre Legacy – Eine soziologische ex-ante Betrachtung. In M. Lames et al. (Hrsg.), Fußball in Forschung und Lehre. Beiträge und Analyse zum Fußballsport XIX (S. 202–206). Feldhaus. World Tourism Organization. (2021). International tourism highlights. 2020 Edition. UNWTO.

337

Sport, Planung und Politik Inhaltsverzeichnis Kapitel 20 Sportstättenentwicklungsplanung: Künftiger Sportstättenbedarf unter Berücksichtigung demographischer Veränderungen – 339 Robin Kähler Kapitel 21 Sport und urbanes Grün – Bewegungsraum-Management in der kommunalen Freiraumplanung – 355 Holger Kretschmer Kapitel 22 Olympische Spiele als Impulsgeber für eine nachhaltige Stadterneuerung? Das Beispiel Tokio – 369 Thomas Feldhoff Kapitel 23 Stadtentwicklung und Stadionarchitektur – 387 Gabriel M. Ahlfeldt und Wolfgang Maennig Kapitel 24 Nachhaltigkeit, Innovation und Vermächtnis: FIS Alpine Ski-Weltmeisterschaften St. Moritz 2017 – 405 Jürg Stettler, Anna Wallebohr und Sabine Müller

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Sportstättenentwicklungs­ planung: Künftiger Sportstättenbedarf unter Berücksichtigung demographischer Veränderungen Robin Kähler

Trendsport Pumptrack. (© Robin Kähler)

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Gans et al. (Hrsg.), Sportgeographie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66634-0_20

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Inhaltsverzeichnis 20.1

Sport und Sportstätte – 341

20.2

 rozesse einer kommunalen P Sportstättenentwicklungs­planung – 342

20.3

 indernisse auf dem Weg zur endgültigen H Sportstätte – 344 Politiksystem – formalpolitische Beteiligungsverfahren – 344

20.4

 emographischer Wandel und gesellschaftliche D Entwicklungen in Deutschland – 345

20.5

Auswirkungen demographischer Veränderungen auf das Sportverhalten der Menschen und die Sportstätten – 346

20.6

Zur derzeitigen Sportsituation in Deutschland – 350

20.7

Die Stadt als einladender Bewegungsraum – 351 Literatur – 352

341 Sportstättenentwicklungsplanung: Künftiger Sportstättenbedarf…

Einleitung Die Sportstättenentwicklungsplanung führt mitten in das Zentrum der Existenz des Sports: Der Sport braucht Räume, ohne Raum gibt es keinen Sport. Das Thema kommt dabei zur rechten Zeit, denn die Sportstättenentwicklungsplanung befin­det sich mitten in einem Wandel von einer bisher infrastrukturbezogenen Objektplan­ ung hin zu einer integrierten, gesamtgesellschaftlichen, bedarfsgerechten Raum- und Stadtplanung (7 Kap.  21). Viele der Sportanlagen, die sich bisher am Bedarf des Schulsports sowie des organisierten Spitzen- und Breitensports der 1980er-Jahre orientierten, stimmen im 21. Jahrhundert nicht mehr mit den Vorstellungen, Wünschen und Bedürfnissen der heutigen und zukünftigen Bevölkerung überein (Eckl, 2010, S.  127; 7 Kap.  4). Der demographische Wandel bringt mit seinen Auswirkungen neue Aufgaben für Staat, Gesellschaft und Wirtschaft, beeinflusst und verändert nahezu alle Lebensbereiche der Menschen. Es ist daher aus Sicht einer Sportstättenentwicklungsplanung zu fragen, inwiefern der demographische Wandel zu einer Veränderung des Sportverhaltens der Menschen und der Nachfrage nach neuen oder anderen Sportstätten führt (Wopp, 2012, S. 43 ff.; Ott, 2015, S. 2). Werden die Anteile des informellen, selbstbestimmten Sports der Bevölkerung und neue Trends im Sport zunehmen? Wie soll man mit den bestehenden Sportstätten in Zukunft umgehen – sanieren, modernisieren, abbauen? Der Schwerpunkt des Beitrags liegt zum einen auf der Darstellung des Zusammenhangs zwischen dem demographischen Wandel, den sportlichen Aktivitäten der Bevölkerung und dem Sportstättenbedarf, zum anderen auf der Beschreibung, wie eine Sportstättenentwicklungsplanung in der kommunalen Praxis verläuft. Zunächst werden die zentralen Begriffe definiert und das Verfahren eines Planungsprozesses vorgestellt. Hiernach werden der Zusammenhang zwischen dem demographischen Wandel, dem aktuellen

20

Sportverhalten der Menschen und dem Sportstättenbedarf erläutert und daraus Schlüsse für die Zukunft der Sportstätten gezogen. Die praktische Umsetzung von Infrastrukturmaßnahmen wird zum Schluss des Beitrags thematisiert.

20.1 

Sport und Sportstätte

Unter Sport wird in diesem Beitrag alles das, was der Mensch unter seinem Sport selbst sieht, verstanden. Das kann das selbstbestimmte Wandern im Gebirge, das Radfahren im öffentlichen Verkehrsraum, das wettkampforientierte Fußballspiel auf dem Sportplatz im Verein oder der kommerziell angebotene Fitnesssport im Studio sein. Der Begriff Sportstätte wird in der Sportwissenschaft aus anderen Blickwinkeln als in der Geographie diskutiert (Funke-Wienecke & Klein, 2008; Wetterich et  al., 2009; Kähler, 2012, 2020a). Aus Sicht einer Raumsystematik der Geographie kann die Sportstätte als physischer „Container“, als Realien und als System von Lagebeziehungen verstanden werden (Wardenga, 2002; DGfG, 2014; Fögele, 2016; 7 Kap. 2). Sportstätten sind in diesem Sinne physische und gesellschaftlich wirkliche Ausübungsorte für die Sportarten, welche die Menschen betreiben (An der Heiden et al., 2012, S. 12). In der Sportwissenschaft wird zwischen Sportstätte, Sportraum und Bewegungsraum unterschieden. Die Sportstätte ist die normgebundene Anlage (Dreifach-Sporthalle, Stadion), der Sportraum beschreibt die nicht normgerechten, informell aber immer noch mit Blick auf geregelte Sportarten genutzten Räume (Skateanlage, Tanzsaal), und der Begriff „Bewegungsraum“ wird im Kontext von freier ungeregelter, nicht zweckungebundener Bewegung verwendet, z.  B. in der kindlichen Entwicklung (Spielplatz). Im Folgenden werden die Begriffe „Sportstätte“ und „Sportraum“ sowie „Bewegungsraum“ synonym für alle physischen sportlich ge 

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R. Kähler

nutzten Räume und die von den Menschen als Sport- und Bewegungsräume gedeuteten, selbst gemachten Räume verwendet. Der öffentliche Raum als die Gesamtheit aller Flächen in einem Gemeindegebiet, die für die Allgemeinheit zugänglich sind, ist nur dann Gegenstand des Beitrags, wenn er auch als Sportstätte genutzt wird, wie es bei den BMX-Trails im Wald der Fall ist. Im Fokus stehen die kommunalen Sportstätten (7 Kap.  21). Sportstätten sind erlebte und physische Räume, in denen Menschen sich in Form geregelter oder selbst gewählter Sportarten oder -formen bewegen. Sport ist das, was die Menschen selbst darunter ­verstehen.

lingt es, externe Einflüsse, wie den demographischen Wandel, auf die Stadt und dann auf das Sportverhalten der Bevölkerung genauer und praxisbezogener zu erfassen. Im Rahmen dieses Konzepts leitet sich eine Planung für Sportstätten logisch aus den gesamtstädtischen Entwicklungsperspekti­ ven und Schlüsseltrends einer Stadt ab, die für die Lebensbedingungen der Menschen in Zukunft besonders relevant sind. Daraus lassen sich wiederum sportbezogene Perspektiven und Leitziele für eine Sport- und Bewegungsraumplanung für bestimmte Bauvorhaben bestimmen, die zu praktischen Maßnahmen führen. Dieser integrierte Planungsansatz für Sportstätten bezieht das Mensch-Umwelt-­ System der Stadt auf allen Ebenen ein, so20.2  Prozesse einer kommunalen weit hierfür Unterlagen seitens der Stadt zur Sportstättenentwicklungs­ Situation und Entwicklung der Bevölkerung, planung zu Bildungseinrichtungen, zur sozialen, In der Vergangenheit wurden verschiedene wirtschaftlichen und gesundheitlichen SituVerfahren einer Sportstättenentwicklungs- ation der Menschen, der Sportorganisati­ planung angewandt.1 Das politisch-­onen, des Verkehrs, der Politik, der Verstrategische Ziel dieser Konzepte war aus waltungsstruktur und des Finanzhaushalts Sicht des institutionalisierten Sports, den Be- der Stadt vorliegen. Bei Fragen zur Lage, darf an Sportstätten quantitativ zu sichern Situation, Erreichbarkeit und Nutzung der (7 Kap.  21). In der heutigen Zeit wird ein Sportstätten kann auf georeferenzierte integrierter, gesamtstädtisch ausgerichteter Daten zurückgegriffen werden (Rohkohl & Planungsprozess angewandt (Kähler, 2014, Flatau, 2015; 7 Kap.  17). Erst nach einer S.  129; Kähler, 2020b; . Abb.  20.1). Nach ausführlichen Analyse dieser Daten und der einer Analyse des Sportverhaltens der Be- Ziele einer Kommune lässt sich das Leitbild völkerung, der Sportvereine, Schulen wie an- für die Sportstättenentwicklungsplanung derer Einrichtungen und aller Sportstätten einer Kommune festlegen. Daraus lassen der Kommune werden die Ergebnisse bilan- sich, erstens, mögliche Schwerpunkte für ziert. Danach erfolgt eine Bewertung der ge- eine wissenschaftliche Untersuchung der Siwonnenen Ergebnisse im Hinblick auf die tuation des Sports in der Kommune abEntwicklung der Kommune. Das Verfahren leiten, zweitens, die Stärken und Schwächen einer integrierten Sportentwicklungsplanung des Sports identifizieren, drittens, hinsichtberücksichtigt die „Eigenlogik“ einer Kom- lich der Chancen und Risiken seiner Weitermune (Löw & Terizakis, 2011) und entwirft entwicklung bewerten und, viertens, strateeine Sportstättenentwicklungsplanung aus gische Handlungsziele und -felder ableiten. Sicht der Stadtentwicklung. Hierdurch ge- Diese Schritte münden in den wichtigsten Teil des Planungsprozesses, gemeinsam mit den einzubindenden Sportakteuren konkrete Maßnahmen für die politischen Ent1 Einen Überblick über die bisher angewendeten scheidungen des Rats einer Kommune zu bestimmen. Verfahren findet man bei Göring et al. (2018).  







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343 Sportstättenentwicklungsplanung: Künftiger Sportstättenbedarf…

Bestandsanalyse • Sportstätten • Bewegungsräume • Freiräume • Bäder • Sportverhalten • Schulen • Vereine • Bevölkerung • Sportangebote

Abgleich mit allen Daten der Stadtentwicklung

verschiedene Formen einer echten Bürgerbeteiligung

Bedarfsanalyse • Schulen • Vereine • Bevölkerung • Stadt

Bestands-BedarfsBilanzierung • sozialräumlich • gesamtstädtisch • wirtschaftlich • strategische Leitziele der Stadt • sportbezogenes Leitbild • Handlungsfelder der Sportentwicklung • sportbezogene strategische Ziele • konkrete Maßnahmen (Prioritäten, Planungsentwürfe, wirtschaftliche Bewertung)

Akteursbeteiligung • Verwaltung • Politik • Sportorganisation

Endabstimmung der Ergebnisse mit der Stadt kommunalpolitische Entscheidung/ Verabschiedung eines Sportentwicklungsplanes

..      Abb. 20.1  Verfahren einer kommunalen Sportentwicklungsplanung. (Nach Rütten, 2001; Kähler 2014)

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R. Kähler

20.3 

 indernisse auf dem Weg H zur endgültigen Sportstätte

Der Prozess einer integrierten Sportstättenentwicklungsplanung ist mit dem Ende des kooperativen, intersektoral und interdisziplinär ausgerichteten Planungsprozesses noch nicht beendet. Die Umsetzungsplanung ist ein eigenes Verfahren, das verschiedene Systeme tangiert (Kähler, 2020a):

Politiksystem – formalpolitische Beteiligungsverfahren Die oben skizzierte intergierte Sportstättenentwicklungsplanung ist nur ein informelles Planungsinstrument ohne Rechtsverbindlichkeit (Kähler, 2020a). Bis zum Ratsbeschluss finden innerhalb eines demokratischen Abstimmungsprozesses je nach Größe und Verwaltungsstruktur einer Kommune weitere, rechtsverbindliche Verfahrensschritte (z.  B. förmliche Abstimmung des Vorhabens in den Fachausschüssen und auf Stadtteil-/Bezirksebene, Ratsbeschluss) statt. Sie eröffnen Möglichkeiten (und Gefahren), das vorher gefundene Ergebnis aus Partikularinteressen, z. B. der politischen Parteien und interessierten Sportorganisationen, wieder zu verändern.

Rechtssystem – das Baugesetzbuch

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Der kommunale Bebauungsplan (B-Plan) ist ein rechtsverbindlicher Bauleitplan. Er regelt, wo und in welcher Weise eine Sportstätte gebaut oder geschaffen werden kann. Der Flächennutzungsplan (FNP) ist hierzu ein vorbereitender Bauleitplan, der den vorhandenen und voraussichtlichen Flächenbedarf, z.  B. für Sportstätten, ordnet. Eine geplante Sportstätte muss daher zunächst durch Ratsbeschlüsse in den FNP aufgenommen und dann im B-Plan verankert worden sein, bevor sie gebaut werden kann.

Ist sie das nicht, kann es zu einer notwendigen B-Plan-Änderung kommen, was in einer Kommune Jahre dauern kann.

Politik- und Verwaltungssystem – Verhandlungsverfahren mit Teilnahmewettbewerb für Architekten Bevor der Bau beginnt, findet im Rahmen eines Realisierungswettbewerbes für die Sportstätte ein mehrstufiges, aufwendiges, kommunalinternes, verwaltungsgesteuertes Verfahren statt. In dessen Verlauf können sich immer wieder Änderungen an der ursprünglich geplanten Baustruktur, Ausstattung und am Standort der Sportstätten ergeben. Der Einfluss der Politik auf das endgültige Planungsergebnis ist zwar gesichert, weil der Rat das Projekt beschließen muss. Allerdings sind die Projekte verwaltungsintern bereits so vorbereitet worden, dass keine Einwände zu erwarten sind.

Rechtssystem – die HOAI Die verbindliche Umsetzungsplanung für den Bau einer Sportstätte (Leistungsphase 1 und 2 nach der Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI): Grundlagenermittlung und Vorplanung der Sportstätte) beginnt erst nach dem offiziellen Beschluss des Rats der Kommune für das Projekt bei gleichzeitiger Einstellung der Finanzmittel hierfür und der Vergabe der Umsetzungsplanung an ein Architekturbüro. Dieses ist verpflichtet, nachdem es den Zuschlag für den Bau erhalten hat, selbst förmliche Beteiligungsrunden mit der Bevölkerung durchzuführen, um den „tatsächlichen“ Sportbedarf festzustellen. Erst dann darf das Büro eine erste Entwurfsplanung der Sportstätte skizzieren. Das Ergebnis dieser gesetzlich geregelten förmlichen Planung kann von den im ersten, informellen Beteiligungsverfahren gefundenen Ideen für eine Sportstätte abweichen.

345 Sportstättenentwicklungsplanung: Künftiger Sportstättenbedarf…

Politiksystem – Förderprogramme für Sportstätten Die Kommunen sind je nach ihrer Haushaltslage auf Förderungen durch die Landes- und Bundesregierung angewiesen. Der Fördermittelgeber stellt den Kommunen eine Mitfinanzierung ihrer Bauprojekte auf der Grundlage von Gesetzen und politischer Vorgaben (Förderungskriterien) in Aussicht und entscheidet selbst über die Zuwendung der Mittel. Geförderte Projekte werden daher primär nicht auf kommunaler Ebene, nach den dort bekannten Sportbedürfnissen der Menschen entschieden, sondern nach den meist politischen Interessen der Mittelgeber. Der erste Schritt einer integrierten, gesamtgesellschaftlichen Sportstättenplan­ ung beginnt mit einer Analyse der Rahmenbedingungen für den Sport. Welchen Einfluss hat der demographische Wandel auf die Entwicklung der Gesellschaft?

20.4 

Demographischer Wandel und gesellschaftliche Entwicklungen in Deutschland

Der demographische Wandel und seine Folgen stellen eine der wichtigsten gesellschaftlichen und ökonomischen Herausforderungen des 21. Jahrhunderts dar und gehören zu den bedeutungsvollsten Entwicklungen in den kommenden Jahren. Der Begriff „demographischer Wandel“ beschreibt Struktur und Entwicklung der Bevölkerung und wird mit den Kriterien Altersstruktur, kleiner werdende private Haushalte, Geburtenhäufigkeit und Sterblichkeit, wachsende Anteile von Personen mit unterschiedlichem Migrationshintergrund, Immigration und Emigration, Zu- und Fortzüge innerhalb Deutschlands erfasst. Der demographische Wandel ist in Deutschland wesentlich von einer Alterung der Bevölkerung infolge einer niedrigen Ge-

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burtenhäufigkeit und einem überdurchschnittlichen Anstieg der Lebenserwartung älterer Menschen gekennzeichnet (Schreiber-Rietig & Latzel, 2007, S. 7; Gans et al., 2019, S.  63  ff.). Mit steigender Lebenserwartung und einem längeren gesunden Leben wächst auch der Wunsch der Menschen, durch Bewegung und Sport körperlichen Einschränkungen entgegenzuwirken. Auch die jährliche Nettozuwanderung von ca. 300.000 Menschen aus dem Ausland wirkt sich auf die sportlichen Aktivitäten aus (Statistisches Bundesamt, 2022). Viele der Immigrantinnen und Immigranten haben in der Regel keine Sportvereinsbiographie und keinen Schulsport erlebt, wie sie vergleichsweise bei Menschen, die in Deutschland aufgewachsen sind, vorliegen. Des Weiteren werden die nachrückenden Alterskohorten kleiner, sodass die Anzahl der jungen Erwachsenen sinken wird. Diese Gruppe zählt zu den sportlich Aktivsten der Gesellschaft, was wiederum eine rückläufige Sportnachfrage zur Folge hat. Ein weiterer Faktor, der sich auf das Sportverhalten der Bevölkerung auswirkt, ist das seit etwa 2000 zu beobachtende Wachstum der Städte. Sie profitieren von ihren Urbanisationsvorteilen wie dem leichten Zugang zur Verkehrsinfrastruktur, der Nähe zu sozialen, kulturellen und konsumtiven Angeboten, zu Arbeitsplätzen und Arbeitsstätten und können dadurch die Lebensbedürfnisse unterschiedlichster Gruppen erfüllen (Gans et  al., 2019, S.  100). Zudem kommt der in vielfältiger Weise strukturierte Wohnungsbestand der Nachfrage unterschiedlicher Gruppen nach Wohnungen entgegen. Mit dem gesellschaftlichen Wandel und der zunehmenden Verdichtung der Städte werden sich auch das Sportbedürfnis der städtischen Bevölkerung und das hierzu benötigte Raumangebot verändern (Wopp, 2012, S. 32; 7 Kap. 4). Neben den Wachstumsräumen gibt es auch Gebiete mit anhaltend rückläufiger Bevölkerungsentwicklung. Betroffen sind ­  

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strukturschwache Städte und ländliche Räume (Henkel, 2012, S.  130; Haimann, 2014). Vor allem junge Menschen verlassen diese Regionen wegen geringer beruflicher Perspektiven. Im ländlichen Raum können Infrastrukturen wie Schulen und Sportstätten als Folge zurückgehender Bevölkerungsentwicklung kaum mehr unterhalten werden (Wetterich et al., 2009, S. 33). Die Globalisierung hat seit den 1970er-­ Jahren den wirtschaftlichen Strukturwandel vorangetrieben. Deutlich zugenommen hab­ en Beschäftigungsverhältnisse im Die­ nstleistungssektor, während sich die Zahl der Industriearbeitsplätze verringerte. Mit der damit einhergehenden Veränderung der beruflichen Tätigkeiten haben sich auch die Motive für das Sporttreiben verändert. Die Stärkung von Fitness und Gesundheit, noch vor Entspannung und Spaß, sind die zentralen Motive für das Sporttreiben der meisten Menschen (Europäische Kommission, 2018, S. 51). Auch stieg mit der sich ausweitenden Erwerbstätigkeit von Frauen deren Interesse, Sport zu treiben und zu konsumieren (Preuß et  al., 2012). Die Entwicklung von Informations- und Kommunikationstechnologien führte einerseits z. B. zu neuen digitalen Sportangeboten, die auch im privaten Bereich realisiert werden können, andererseits zu einem Rückgang von Sportaktivitäten bei Jugendlichen infolge steigender Nutzung sozialer Medien (Albert et  al., 2019, S. 213 ff.). Die insgesamt positive Entwicklung der Berufs- und Einkommenssituation vieler Menschen in Deutschland geht zeitgleich mit einem höheren Armutsrisiko von Familien mit mehreren Kindern, Alleinerziehenden und Menschen mit geringerer formaler Bildung einher. Die Möglichkeit dieser Gruppen, überhaupt oder regelmäßig Sport zu treiben, ist aus wirtschaftlichen und sozialen Gründen gering. Das Thema Sportstät­ tenentwicklung und -räume ist daher auch unter gesellschaftlichem und sozialräumlichem Blickwinkel zu sehen (Kähler, 2017; 7 Kap. 16 und 17).  

Die Lebenssituation vieler Menschen hat sich gewandelt. Zeigt sich die Vielfalt auch am Sportverhalten der Menschen? Im zweiten Planungsschritt werden die Beziehungen zwischen dem demographischen Wandel und anderen Faktoren einerseits und dem Sportverhalten und den Sportbedürfnissen der Menschen andererseits erläutert.

20.5 

Auswirkungen demographischer Veränderungen auf das Sportverhalten der Menschen und die Sportstätten

Als Konsequenz aus den beschriebenen gesellschaftlichen Veränderungen hat sich das Sportverhalten der Menschen seit den 1990er-Jahren erheblich gewandelt. Bis zur Wiedervereinigung 1989 prägte noch die staatliche Haltung zum Sport ein Sportverständnis, das dem traditionellen, leistungsbezogenen Wettkampfsport der Sportfachverbände und -vereine entsprach. Vereine und die Bildungseinrichtungen lehrten und betrieben hauptsächlich die klassischen, normgerechten Sportarten Geräteturnen, Leichtathletik, Schwimmen oder Mannschaftssportarten. Auch wenn bereits in den 1970er- und 1980er-Jahren mit der fortschreitenden Individualisierung und Freizeitorientierung der Menschen New Games (kooperative Spiele aus der Friedensbewegung der 1970er-Jahre) und neue Individualsportarten wie Tennis und Fitness auf den Markt kamen, haben sich erst mit der zunehmenden Kommerzialisierung des Sports mit Beginn der 1990er-Jahre das Sportangebot und das Sportverhalten der Menschen weitgehend verändert (Wopp, 2012, S. 43). Der Wandel ist auf Änderungen von Wert und Motiven zurückzuführen (Wetterich et al., 2009, S. 37; . Abb. 20.2, 7 Kap. 4). Er zeigt sich mit zunehmendem Alter der  



347 Sportstättenentwicklungsplanung: Künftiger Sportstättenbedarf…

Rang- unter platz 18 Jahre

18 bis unter 30 Jahre

30 bis unter 65 Jahre

mindestens 65 Jahre

1

Fußball (17,3)

Fitness (16,4)

Schwimmen (14,6)

Fahrradfahren (16,3)

2

Schwimmen (14,5)

Joggen (14,2)

Fahrradfahren (13,7)

Schwimmen (14,4)

3

Joggen (7,3)

Schwimmen (8,5)

Joggen (13,7)

Gymnastik (10,5)

4

Fahrradfahren (6,4)

Fahrradfahren (7,5)

Fitness (12,4)

Fitness (9,6)

5

Tennis (6,4)

Fußball (6,7)

Yoga (3,9)

Nordic Walking (7,3)

6

Badminton (5,9)

Krafttraining (4,0)

Tennis (3,7)

Joggen (5,8)

7

Fitness (4,5)

Tanzen (3,0)

Wandern (3,3)

Tennis (5,8)

8

Basketball (3,2)

Yoga (3,0)

Nordic Walking (2,9)

Wandern (3,5)

9

Handball (3,2)

Basketball (2,0)

Krafttraining (2,9)

Aquagymnastik (2,9)

10

Turnen (3,2)

Klettern (2,0)

Gymnastik (2,5)

Krafttraining (2,9)

11

Tanzen (2,7)

Squash (2,0)

Fußball (2,4)

Tanzen (2,6)

12

Leichtathletik (1,8)

Badminton (1,7)

Tanzen (2,0)

Yoga (2,2)

13

Reiten (1,8)

Leichtathletik (1,5)

Pilates (1,4)

Golf (1,6)

14

Volleyball (1,8)

Gymnastik (1,2)

Badminton (1,2)

Fußball (1,3)

15

Bouldern (1,4)

Reiten (1,2)

Golf (1,2)

Rehasport (1,3)

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..      Abb. 20.2  Rangfolge der Top 15 betriebenen Sportarten der Befragten, differenziert nach Altersgruppen (n = 1073; Angaben in %). (Nach Kähler et al., 2019, S. 21)

Menschen in einer Abkehr von traditionellen Werten wie Wettkampforientierung, Leistungsbereitschaft oder Pflichtbewusstsein und Hinwendung zu neuen Werten wie Selbstentfaltung, Gesundheitsorientierung und Erholung (7 Kap. 12). Da die persönliche Gesundheit im höheren Alter ein knappes Gut wird, gewinnen in einer älter werdenden Bevölkerung die Motive Gesundheit und Wohlbefinden eine wachsende Bedeutung (Breuer, 2018, S.  50). Sportarten wie Gymnastik, Walking, Radfahren, Schwimmen können auch im höheren Alter noch betrieben werden und tragen zum Erhalt bzw. zur Förderung der individuellen  

Gesundheit bei (Wopp, 2012, S. 39; An der Heiden et al., 2014, S. 12). . Abb. 20.2 zeigt am Beispiel der repräsentativ befragten Bevölkerung der Stadt Bonn, welche Sportarten die Menschen in welchem Alter ausüben. Gefragt wurde nach den drei wichtigsten selbst ausgeübten Sportarten (Kähler et al., 2019, S. 21). Die Jugendlichen und insbesondere diejenigen, die Mitglied in einem Sportverein sind, betreiben überwiegend noch die traditionellen, regelgerechten Sportarten wie Fußball, Tennis, Basketball und Handball in den funktional hierfür vorgesehenen Normsportstätten (. Abb.  20.2). Mit fortschreitendem  



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Alter gewinnen Individualsp­ortarten, fitnessund gesundheitsorientierte Sportarten und -formen an Bedeutung, die weitestgehend informell und selbstbestimmt im öffentlichen Raum (z. B. Bolzplatz, Park, Joggingrouten, Skateanlage, Outdoor-Fitnessanlagen, Trails, Rad- und Wanderwege, Wasserflächen, Berge; 7 Kap. 4 und 21) oder in privatwirtschaftlichen Einrichtungen (z.  B.  Kampfsport-, Fitness-, Tanz-, Gesundheitsstudios, Meditationszentren, Kletter-, Eis-, Beach-, Reitsportanlagen, Bäder) ausgeübt werden. In allen Altersgruppen sind die Sportarten Joggen, Schwimmen und Fahrradfahren beliebt. 80  % der Bevölkerung schätzen sich selbst als sportlich aktiv ein, 60 % davon treiben regelmäßig Sport (Wopp, 2012, S. 43). In den Altersgruppen weichen die Aktivenzahlen der Sportarten mitunter deutlich voneinander ab, weil manche Sportarten z.  B. häufiger von jüngeren als von älteren Sporttreibenden ausgeübt werden. Zwei Drittel der städtischen Bevölkerung üben mittlerweile außerhalb von Sportorganisationen im öffentlichen Raum ihren Sport aus und wählen dafür Sportformen, die meist keinen Normen folgen und an unterschiedlichsten, sportlich nutzbaren Orten ausgeübt werden (7 Kap. 4). Verkehrsräume werden z. B. zum Skaten, Inlineskaten, Joggen, Nordic Walking, BMX-Freestyle, Radsport oder Parkour aufgesucht. Durch die technische Weiterentwicklung der Sportgeräte entstehen neue Ausdifferenzierungen der genannten Sportformen (Trends). Auf offenen Schulhöfen werden je nach deren Gestaltung Kinderspiele, Ballsportarten wie Streetball, Tischtennis sowie Rad- und Rollsportarten ausgeübt, während die regelgerechten, meist kommunalen Sportanlagen – wie eine öffentlich zugängliche Sportanlage mit Laufoval und Rasenplatz – zum Joggen, Lauftraining, Fußballspielen, Bolzen, Yoga oder auch zum Fitnesstraining genutzt werden. Eine Beachanlage wird auch zum Beach-Fuß 



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ball,  -Tennis, -Frisbee, -Volleyball, -Boule und -Handball verwendet. Freiräume lassen weitaus mehr Möglichkeiten für eigene Nutzungsideen zu als genormte Sportstätten. Man trifft hier auf Fangspiele, Rückschlagspiele (z.  B.  Federball), Torschussspiele (z.  B.  Fußball), auf Streetball (3 × 3), auf Spiele mit Holzkegeln oder Kugeln (z. B. Boule) oder auf eine Slackline, auf der balanciert wird. Naturräume werden als Bewegungsraum für Ausdauersportarten wie das Joggen, zum BMX-Fahren, Klettern, Wandern, Radfahren und im Winter für Schneesportarten aufgesucht (7 Kap.  3). Industriebrachen, unbenutzte Gebäude, Garagen u. a. werden zu temporären Bewegungsräumen u ­ mfunktioniert, zum Teil auch im Do-it-yourself-­Verfahren selbst hergestellt (7 Kap.  4). Jugendliche suchen zum Skaten, Parkour-­Sport, BMX-Freestyle innerhalb ihrer Szenen abseits der öffentlich kontrollierbaren Räume abgelegene Orte auf und eignen sich diese temporär an (Kähler, 2015). Gelegentlich entwickeln sich auch daraus selbstverwaltete Gruppen mit festen Regeln und Verantwortlichkeiten für das angeeignete Gelände. Die öffentlich nutzbaren Geräteparks mit Outdoor-­ Fitnessgeräten (z.  B.  Calisthenics-Anlagen) findet man auf Grünflächen (7 Kap. 4). Mädchen und Frauen unterscheiden sich hinsichtlich der ausgeübten Sportarten und der Bedeutung, die sie ihrem Sport geben, von Jungen und Männern. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede äußern sich darin, dass Männer eher die wettkampf- und leistungsorientierten Mannschaftssportarten, z.  B.  Fußball und Volleyball, das sportliche Radfahren, Krafttraining und Wintersport, bevorzugen, während Frauen Fitnesssport, Schwimmen, Wandern, Yoga, Pilates, Tanzen, Gymnastik und Nordic Walking präferieren (Eckl et al., 2005). Sport und sportliche Aktivität ist auch ethnisch geprägt (Breuer, 2018, S.  52). So  





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konnten Breuer und Wicker (2008) zeigen, dass unabhängig von Bildung oder Einkommen Bürgerinnen und Bürger türkischer oder südeuropäischer Herkunft signifikant seltener sportlich aktiv sind als die Bevölkerung insgesamt. Die sportlich Aktiven unter den Personen mit Migrationshintergrund bevorzugen diejenige Sportart, die aus ihrer ethnisch-kulturellen Sicht eine Bedeutung und Tradition hat (z. B. Cricket in England oder Pelota im Baskenland). Der Fußballsport ist bei den Jüngeren mit nichtdeutschen Wurzeln sehr beliebt. Die Planung von Sportstätten muss in Städten mit einem hohen Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund diese Zusammenhänge berücksichtigen. Das Sportverhalten und die Sportstättensituation stellen sich in ländlichen Räumen anders dar als in Ballungsräumen (Henkel, 2012). Die Ursachen liegen zum einen in einer unterschiedlichen Lebenssituation der Dorfbevölkerung im Vergleich zu den Einwohnerinnen und Einwohnern in den Städten, zum anderen im Angebot von Sportstätten und Sportarten (Schreiber-­ Rietig & Latzel, 2007, S. 16). Die Bevölkerung in einem Dorf will aber das bestehende Sportangebot und die älteren, selbst erbauten Sportstätten erhalten. Derzeit gibt es daher im ländlichen Raum ein Überangebot von Fußballplätzen. Für Jugendliche im ländlichen Raum ist das Sportangebot allerdings unmodern, sie finden kaum Räume für ihre Sportarten wie Skateboardfahren, Inlineskaten, Outdoor-­Fitness, Schwimmen oder Mountainbike. Eine kommunale Sportstättenplanung für ländlich geprägte Regionen muss daher die Einstellungen und Interessen aller dort lebenden Menschen bei der Weiterentwicklung der Sportstätten berücksichtigen. Das Sportverhalten der Menschen und das Sportstättenangebot unterscheiden sich auch zwischen den Kommunen unterschiedlicher Größe und zwischen den Stadtteilen in größeren Städten. Diese Differenzierung hängt von der Zusammensetzung der Bevölkerung, der Tradition in der Kommune,

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vom lokalen Sportangebot der Sportvereine und von den vorhandenen Sportstätten ab. Bei mangelndem Sportangebot einer kleineren Kommune kommt eine interkommunale Kooperation bei der Sportstättennutzung und -planung in den Blick. Wenn es in einer Kommune keine Sportstätten oder zu wenige Sporttreibende gibt, stellt sich für die Versorgung mit Sportangeboten und -stätten die Frage, ob Nachbarkommunen geeignete Sportstätten haben, die mitgenutzt werden können. Im Fußballsport ist das bereits üblich. Auch zwischen Stadtteilen einer größeren Stadt kann es erhebliche Versorgungsunterschiede geben (7 Kap.  17). Das Angebot von nutzbaren Sportstätten ist in verdichteten Wohngebieten und in Stadtteilen mit einer hohen Anzahl von Menschen, die von Transferleistungen leben, meist geringer als in Stadtteilen mit mehr Freiräumen und höherer Wohnqualität (Kähler, 2017). An der Heiden et al. (2014, S. 6) und das BMWi (2021, S.  14) schließen aus der Bevölkerungsentwicklung, dass sich in Zukunft bestimmte Sportarten mehr, andere weniger entwickeln werden. Das trifft insbesondere für die Ballsportarten zu (−15 %). Die Häufigkeit von Schwimmen und Radfahren bleibt dagegen stabil, der Gesundheitssport mit Gymnastik, Wandern, Nordic Walking nimmt sogar zu. Insgesamt würde aber keine Sportstätte ein „demographisches Wachstum“ erwarten (An der Heiden et al., 2014, S. 5). Weiß und Norden (1999, S.  43) gehen davon aus, dass sich das einheitliche Bild des Sports im Zusammenhang mit einer zunehmenden Individualisierung, Pluralisierung, Differenzierung und dem Verlust des Organisations- und Deutungsmonopols der Sportvereine weiter diversifizieren wird (7 Kap. 4). Die Sportbedürfnisse der Menschen haben sich in den letzten Jahrzehnten verändert. Auf welche Sportstättensituation treffen diese Wünsche? Entspricht die Beschaffenheit der Sportstätten in Deutschland diesen Wünschen? Der dritte Schritt des Planungsprozesses beschreibt deren derzeitige Situation.  



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R. Kähler

20.6 

Zur derzeitigen Sportsituation in Deutschland

Das Sportverhalten und der Bedarf an Sportstätten haben sich mit dem demographischen Wandel erheblich verändert. Die Nachfrage trifft in Deutschland auf derzeit 228.800 Sportstätten (hinzu kommen noch 381.900  km Sportwege; Statistisches Bundesamt, 2012), die von ihrer Struktur, Qualität und Nutzung die gewandelten Bedürfnisse nur teilweise erfüllen können. Es gibt einen erheblichen Modernisierungsbedarf. Diese große Zahl signalisiert allerdings zunächst, dass es ausreichend Sportstätten für die Menschen zu geben scheint. Deren Quantität ist aber nicht das zentrale Problem der Sportstättenentwicklung, sondern die Qualität und Struktur. Die meisten Sportanlagen sind in der Zeit des ersten, zweiten und dritten Memorandums zum Goldenen Plan (DOG, 1961) in den Jahren 1961 bis 1992 gebaut worden.2 1992 folgte auch ein Goldener Plan Ost für die östlichen Bundesländer (7 Kap. 21). Zwei Drittel von ihnen, überwiegend sind es Schulsportanlagen, befinden sich aus hoheitlichen Gründen im Besitz der Kommunen, ein Viertel sind in der Verantwortung der Sportvereine, der Rest sind überwiegend privatwirtschaftliche Anlagen. Die Standorte der Sportstätten orientierten sich bisher einerseits hauptsächlich am Bedarf an Sportanlagen für die normgerechten, wettkampftauglichen Grundsportanlagen (Ballsportarten, Geräteturnen, Leichtathletik, Schwimmen), andererseits an städtebaulichen Richtwerten (Quadratmeter pro Einwohner), weil die Sportvereine diese Sportanlagen außerhalb der schulischen Zeiten für das Training in den regelgerechten  

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2 Der Lebenszyklus einer Sportstätte beträgt etwa 40 bis 50 Jahre.

..      Abb. 20.3  Innovative Schulsporthalle in Dänemark. (© Keingart)

Sportarten mitnutzen.3 Für den Sportunterricht und die Sportangebote der Grundschulen und Sekundarstufe I und für Schülerinnen und Schüler im Ganztagesbetrieb sind andere, pädagogische Sportstätten sinnvoll, die einen vielseitigen erfahrungs- und kompetenzorientierten Sportunterricht erlauben (. Abb.  20.3). Nur der Sportunterricht der Sekundarstufe II braucht regelgerechte Sportanlagen. Freie, nichtorganisierte Gruppen der Bevölkerung können nur in Ausnahmefällen die kommunalen Sportanlagen anmieten. Für Menschen mit Behinderungen sind die meisten kommunalen Sportstätten nicht barrierefrei. Die Standardisierung der Maße und Ausstattung der Sportstätten ist durch Industrienormen für den Sportanlagenbau festgelegt. Hierzu gehören die DIN-18032 für Sporthallen, die DIN-18035 für Sportplätze und die DIN EN 15288 für Bäder. Weitere Regelsätze legen viele Details der Ausstattung, z.  B.  Barrierefreiheit, Sportböden und energetische Bewertungen, fest. Die Normen werden für die finanzielle Förderung des Staats zugrunde gelegt, was dazu  

3

Dabei benötigen Schulsportstätten für die Grundschulen und Schulen der Sekundarstufe I laut Lehr- und Bildungsplan der Länder keine genormten Einfach-, Zweifach-, Dreifachhallen oder eine Wettkampf-Leichtathletikanlage Typ C, auf der alle leichtathletischen Disziplinen wettkampfmäßig gelehrt werden können.

351 Sportstättenentwicklungsplanung: Künftiger Sportstättenbedarf…

führt, dass es kaum Abweichungen von der standardisierten Ausstattung und räumlichen Anordnung gibt. Der Sanierungsbedarf der kommunalen Sportstätten (Sporthallen, -plätze und Bäder) beläuft sich nach Schätzungen des Deutschen Olympischen Sportbunds und der kommunalen Spitzenverbände auf 31 Mrd. Euro (DOSB, 2018). Die Höhe des Sanierungsstaus ist von Kommune zu Kommune allerdings verschieden. Bäder weisen einen sehr hohen Sanierungsbedarf auf, Sportplätze haben mehr Mängel als Sporthallen. Klimaneutralität und Nachhaltigkeit sind hierbei noch gar nicht im Blick. Diese Themen werden die Entwicklung der Sportstätten zukünftig wesentlich bestimmen (Eßig et al., 2015). Der informell betriebene, selbst organisierte Sport der Bevölkerung (z.  B.  Radfahren, Joggen, Gymnastik, Schwimmen) ist auf sportlich nutzbare Flächen im öffentlichen Raum, auf Bäder und kommerzielle Sporteinrichtungen angewiesen. Der öffentliche Raum ist in verdichteten urbanen Zentren sehr begrenzt und steht für sportliche Zwecke kaum zur Verfügung. Die Sicherung vorhandener Freiräume für Menschen ist hier das größte Problem einer Sportstättenentwicklungsplanung (7 Kap. 21).  

20.7 

 ie Stadt als einladender D Bewegungsraum

Wenn das staatliche Ziel, gleichwertige Lebensverhältnisse für die Menschen zu schaffen, auch für das sportlich aktive Leben der Menschen gelten soll, dann müssen auch alle Menschen, unabhängig von ihrem Alter, Glauben, Geschlecht, Einkommen, ihrer Behinderung, Migrationsgeschichte und Bildung geeignete Sporstätten und Bewegungsräume vorfinden. Es braucht hierfür zwar auch normgerechte, spezialisierte Sportstätten, die für Sporttreibende in den

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organisierten Sportarten geeignet sind, aber diese werden nur von einem geringen Teil der Bevölkerung erwünscht und gebraucht. Mit einem gewachsenen Bedürfnis der Menschen nach einem gesunden, selbstbesti­ mmten, verantwortungsbewußten und bewegungsaktiven Leben kommen völlig neue Ideen für Räume in den Blick. Zum einen sind es sportlich vielseitig nutzbare, öffentlich zugängliche, atmosphärisch anregende, einladende und nachhaltig umweltschon­ ende Sportstätten und -räume, wie Grünflächen mit Outdoor-­Fitnessgeräten, Skateanlagen oder Radwege. Zum anderen wird die räumliche Gestaltung der Stadt sich grundsätzlich auf die gewachsenen Bewegungsbedürfnisse der Menschen neu einstellen müssen, denn wenn die Bewegung für das körperliche, seelische und soziale Wohlbefinden des Menschen aus dessen Sicht lebenswichtig ist, muss die Stadt sich selbst zu einem bewegungsfreundlichen Lebensraum weiterentwickeln  – von einer automobilen zu einer autonom mobilen, einladenden, gesunden Stadt. ? Übungsaufgaben 1. Sie werden von Ihrer Heimatgemeinde gebeten abzuschätzen, welche Sportstätten diese in Zukunft benötigt. Entwerfen Sie hierfür ein Planungskonzept unter Berücksichtigung der derzeitigen Bevölkerungs-, Schul-, Sport- und V ­ ereinsentwicklung Ihrer Kommune. 2. Sie sind Skater oder Skaterin und wünschen sich in Ihrer Gemeinde eine Skateanlage. Sie haben hierfür schon eine Interessengruppe mit anderen Interessierten gebildet und wollen nun die Politik davon überzeugen, dass eine Anlage gebraucht wird. Sie planen hierfür eine Präsentation, um für Ihre Idee zu werben. Mit welchen Argumenten werden Sie versuchen, Ihr Projekt durchzusetzen?

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R. Kähler

Zum Weiterlesen empfohlene Literatur Rütten, A., Nagel, S., & Kähler, R. (Hrsg.) (2014). Handbuch Sportentwicklungsplanung. Hofmann. Funke-Wienecke, J., & Klein, G. (Hrsg.) (2008). Bewegungsraum und Stadtkultur. Transcript.

Literatur

20

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353 Sportstättenentwicklungsplanung: Künftiger Sportstättenbedarf…

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Sport und urbanes Grün – BewegungsraumManagement in der kommunalen Freiraumplanung Holger Kretschmer

Sport in urbanem Grün. (© Holger Kretschmer)

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Gans et al. (Hrsg.), Sportgeographie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66634-0_21

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Inhaltsverzeichnis 21.1

Planung und urbanes Grün – 358

21.2

 port und urbanes Grün – Veränderung S der Nachfrage – 360

21.3

Sport und kommunale Planung – 362

21.4

 portentwicklungsplanung als integriertes S Bewegungsraum-Management – 364

21.5

Sportentwicklungsplanung als Teil der integrierten Stadtentwicklung – 366 Literatur – 367

357 Sport und urbanes Grün – Bewegungsraum-Management in der…

Einleitung Die Nachfrage nach sportlichen Aktivitäten hat sich in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert. Neben den klassischen, anlagengebundenen Sportarten lässt sich ein deutlicher Trend zur freien, nicht organisierten Sportausübung erkennen (Digel, 2009; 7 Kap.  4). Aktivitäten wie Laufen, Radfahren oder Spazierengehen sind längst fester Bestandteil der urbanen Erholungsaktivitäten und finden vor allem auf den urbanen Grün- und Freiflächen statt (Eckl, 2012). Durch die veränderte Nachfrage stößt der Sport in Räume vor, die ohnehin schon intensiv für andere Zwecke genutzt werden. So sind urbane Grünflächen nicht nur Orte der Erholung und Sportausübung, sondern leisten auch einen Beitrag zur Verbesserung der Luftqualität und des Stadtklimas, fördern die Biodiversität und tragen zum Artenschutz bei (BMUB, 2015). Urbanes Grün wirkt positiv auf allen Ebenen der nachhaltigen Stadtentwicklung und trägt zum Wohlbefinden der Bevölkerung, zur Lebensqualität in den Städten und zu deren Attraktivität als Wohnstandort bei. Diese Multifunktionalität führt in der Praxis zu erheblichen Konflikten, da sich die einzelnen Funktionen räumlich überlagern, inhaltlich jedoch sehr unterschiedliche Anforderungen an urbanes Grün stellen können. Neben dieser internen Funktionskonkurrenz gerät das urbane Grün auch von außen zunehmend unter Druck. Gerade die Planungsstrategie „Innen- vor Außenentwick­ lung“, die die Ausweitung der Sied­lungsfläche reduzieren soll und damit eine intensive Nachverdichtung in den Städten fördert (Reiß-Schmidt, 2018), kollidiert immer wieder mit den Forderungen nach einem Mehr an urbanem Grün. Die Diskussion um den Wert von Ökosystemdienstleistungen (Kirchhoff, 2019) und die Etablierung des Begriffs der grünen Infrastruktur sind ein deutliches Indiz dafür, dass sich urbanes Grün immer wieder gegen Ansprüche von außen behaupten muss (Heiland et  al., 2017). Eine umfassende Koordination der einzelnen Nut 

zungen scheint daher zwingend notwendig. Dabei gilt es, die oftmals sehr unterschiedlichen Perspektiven und Zielsetzungen der einzelnen Fachplanungen bezüglich des urbanen Grüns sinnvoll aufeinander abzustimmen. Der Schlüssel für eine erfolgreiche Koordination liegt hierbei weniger in sektoralen Planungen, sondern in einer integrierten Planung, die eine ressortübergreifende Perspektive auf Stadtplanung und Stadtentwicklung einnimmt (BMUB, 2007). Als ein wichtiger Akteur auf urbanen Grünflächen sollte der Sport ein fester Bestandteil dieser integrierten Planung sein. Die aktuelle Sportentwicklungsplanung tut sich allerdings mit der konzeptionellen Einbindung der freien Sportausübung auf urbanen Grünflächen noch immer schwer. Sie fokussiert traditionell den anlagengebundenen Sport, weil die Erfassung der Sportnachfrage abseits der Sportanlagen und der etablierten Vereinsstrukturen eine erhebliche Herausforderung darstellt, gleichzeitig aber die Voraussetzung für eine bedarfsorientierte Planung ist (7 Kap. 4 und 20). Durch eine Neuausrichtung der Sportentwicklungsplanung in Richtung eines integrierten, flexiblen BewegungsraumManagements (Klos et  al., 2008) könnte die Sportentwicklung nicht nur dem geänderten Sportverhalten gerecht werden, sondern auch im Rahmen einer gesamtstädtischen integrierten Planung von der Fachkompetenz anderer Planungsressorts profitieren und zugleich als Impulsgeber für die Entwicklung von urbanem Grün und der Steigerung der Lebensqualität in Städten dienen. Der Beitrag zeigt die Möglichkeiten auf, die ein Bewegungsraum-Management im Rahmen einer integrierten Planung bietet. Hierzu wird zunächst die Bedeutung von urbanen Grünflächen für das Leben in der Stadt skizziert, bevor die Auswirkungen der veränderten Sportnachfrage auf das urbane Grün beschrieben werden. Die folgende Betrachtung von Stärken und Schwächen der ­ aktuellen Ansätze zur Sportentwicklungsplanung mündet in die stru­ kturelle Darstellung eines Bewegungsraum 

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H. Kretschmer

Managements, das eine umfassende Planung von Sport und Bewegung im Rahmen einer integrierten Stadtentwicklung ermöglichen könnte.

21.1 

Planung und urbanes Grün

Das 21. Jahrhundert wird gemeinhin als das Jahrhundert der Städte bezeichnet, weil der globale Urbanisierungsgrad rasant ansteigt (WBGU, 2016). Der Trend zur Stadt als bevorzugte Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens ist in Europa und speziell in Deutschland nicht neu und der Urbanisi­ erungsprozess weit fortgeschritten. Die großen Urbanisierungsphasen haben hier bereits zur Zeit der Industrialisierung stattgefunden und sich im Zuge der Suburbanisierung in den 1970er- und 1980er-Jahren gefestigt. Mit einem Anteil der städtischen Bevölkerung von 77,4 % (World Bank, 2021) darf der Urbanisierungsgrad in Deutschland als hoch eingestuft werden. Vor diesem Hintergrund kommt dem urbanen Grün eine wachsende Bedeutung für die Lebensqualität in deutschen Städten zu und erzeugt positive Effekte auf allen Ebenen der Nachhaltigkeit. Aus ökologischer Perspektive leisten urbane Grünflächen, z. B. als Rückzugsräume für die städtische Flora und Fauna, einen maßgeblichen Beitrag zur Biodiversität. Darüber hinaus sind sie durch ihre klimatische und hydrologische Pufferfunktion ein wichtiger Bestandteil des städtischen Klimaschutzes (Greiving et  al., 2011). Aus ökonomischer Perspektive steigert urbanes Grün die Lebensqualität in und damit die Attraktivität von Städten und fungiert als weicher Standortfaktor wie eine Triebfeder für eine positive ökonomische Entwicklung (Willen, 2020). Nicht zuletzt erfüllt urbanes Grün eine erhebliche soziale Funktion, indem es ein Ort der gesellschaftlichen Begegnung und Kommunikation ist. Als Erholungsfläche wirkt es dabei nicht nur gesundheitsfördernd (Claßen et  al., 2012), sondern bringt die städtische Bevölkerung

auch in Kontakt mit der Natur (BMUB, 2015). Wie wichtig der direkte Kontakt mit urbanem Grün für die städtische Bevölkerung ist, hat sich zuletzt während der Corona-­Pandemie gezeigt. Bislang liegen nur wenige belastbare Studien zur verstärkten Nutzung der öffentlichen Grünflächen vor, doch scheint ein Bedeutungsgewinn des urbanen Grüns in Zeiten der Lockdowns nachweisbar (Dosch & Haury, 2020; Thorn et al., 2020). Dies gilt vor allem für städtische Quartiere mit einer hohen Bevölkerungsdichte, in denen es nur wenige private Grünräume, wie Hausgärten, gibt (7 Kap. 17). Der Begriff urbanes Grün ist in der Stadtentwicklung sehr breit angelegt und beschreibt nicht nur die größeren Erholungsflächen, die für sportliche Aktivitäten von besonderer Bedeutung sind, sondern umfasst unterschiedliche Skalen, welche von einzelnen Bäumen über kleinere Grünflächen bis hin zu ausgedehnten Stadtwäldern oder Ackerflächen reichen. Böhm et  al. (2019, S.  17) summieren unter urbanem Grün „alle Formen temporärer und permanenter städtischer Grünräume sowie städtischer Grünstrukturen an Gebäuden“. Hierzu zählen „u.  a. öffentliche Parks und Gärten, Alleen, Grüngürtel, Stadtwälder, Friedhöfe, Ruderalflächen, ruderalisierte Brachflächen, wohnbezogene Grünanlagen, Klein-, Mieter- und Gemeinschaftsgärten, Hof-, Dach- und Fassadenbegrünung, grüne Zwischennutzungen“ (Böhm et  al., 2019, S.  17). Dabei kann der Begriff „urbanes Grün“ im weitesten Sinne mit dem Begriff Stadtnatur gleichgesetzt werden. Als Stadtnatur gelten in diesem Zusammenhang „alle Lebewesen, Lebensgemeinschaften und ihre Lebensräume in Städten“ (Breuste, 2016, S.  7), ganz gleich ob sie spontan entstehen oder durch Menschen geplant eingebracht werden (z.  B.  Bäume, Pflanzungen). Beide Definitionen unterstreichen die Vielfalt von urbanem Grün und die Bedeutung selbst kleinster Einheiten für die Lebensqualität in Städten.  

359 Sport und urbanes Grün – Bewegungsraum-Management in der…

Trotz der Bedeutung für Nachhaltigkeit und Lebensqualität steht urbanes Grün immer wieder zur Disposition. Hier ist in erster Linie die gestiegene Nachfrage nach Siedlungsflächen, welche mit dem anhaltenden Urbanisierungstrend einhergeht, als Hauptkonkurrent zu nennen. Zusätzlich führt die Planungsmaxime „Innen- vor Außenentwicklung“ zwar grundsätzlich zu einer Reduktion der neu beanspruchten Siedlungsfläche, erhöht aber gleichzeitig den Druck auf das bestehende urbane Grün. Zum einen kommt es durch die Nachverdichtung zu einer Steigerung der Einwohnerdichte und damit zu einer erhöhten Nachfrage nach Erholungsflächen. Dies ist besonders in den Quartieren problematisch, in denen ohnehin bereits ein Defizit an Grünflächen besteht (Willen, 2020). Zum anderen werden im Zuge der Nachverdichtung existierende Freiflächen, z.  B. ruderalisierte Brachflächen, bebaut, was nach der oben genannten Definition einem Verlust von urbanem Grün gleichkommt. Die Grünflächenplanung sieht sich also immer wieder in der Situation, das bestehende Grün gegen andere Nutzungen „verteidigen“ zu müssen und die Bedeutung urbanen Grüns herauszustellen. Dieser Rechtfertigungsdruck mündet aktuell in die Diskussion um die sogenannte Ökosystemdienstleistungen, ein Konzept, das im Kern auf eine Monetarisierung der Funktionen von urbanem Grün abzielt (Kirchhoff, 2019). Durch die Bewertung der Ökosystemdienstleistungen bleibt der Wert des urbanen Grüns nicht länger abstrakt, sondern kann mit anderen Parametern der Stadtentwicklung verglichen werden. Hierdurch erfährt das urbane Grün einen Bedeutungsgewinn, der sich auch im Begriff der grünen Infrastruktur widerspiegelt. Der Begriff trägt der Erkenntnis Rechnung, dass „Ökosysteme und ihre Leistungen […] ebenso wie

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‚graue, also technische Infrastruktur‘ für die Entwicklung eines Landes unverzichtbar sind“ (BfN, 2022, o.  S.). Mit der Gleichsetzung von urbanem Grün mit anderen Infrastruktureinrichtungen, wie Straßen, Schulen oder Krankenhäusern, erfolgt eine planerische Verankerung von Grün als Teil der Daseinsvorsorge. Urbanes Grün ist damit ein essenzieller Bestandteil für das Funktionieren des städtischen Zusammenlebens und muss bei planerischen Aktivitäten berücksichtigt werden. Die Entwicklung von grüner Infrastruktur soll dabei fünf Prinzipien (Hansen et al., 2018) folgen: 1. Qualitäten von Grün- und Freiflächen verbessern, 2. vernetzte Grünsysteme schaffen, 3. Mehrfachnutzung und Funktionsvielfalt fördern, 4. grüne und graue Infrastrukturen zu sammen entwickeln und 5. Kooperationen und Allianzen anregen. Für die Umsetzung dieser Kriterien ist ein integrierter Planungsansatz notwendig, da einzelne Fachplanungen die genannten Prinzipien nicht allein umsetzen können. Im Rahmen einer integrierten Stadtentwicklung könnte der Sport aktiv an der Entwicklung von urbanem Grün mitwirken, denn als maßgeblicher Teil der Naherholung wird das urbane Grün intensiv durch Sporttreibende genutzt. Vor allem die Vernetzung, Mehrfachnutzung und Erreichbarkeit sind zentrale Ansatzpunkte, durch die die Sportentwicklungsplanung profitieren und gleichzeitig zur Flächensicherung beitragen könnte. Eine fehlende Einbindung des Sports kann hingegen nachteilige Effekte mit sich bringen, weil ein fehlendes Angebot nicht selten zu einer unbeabsichtigten, ggf. sogar illegalen Raumnutzung durch sportlich Aktive führen kann (7 Box 21.1).  

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H. Kretschmer

Box 21.1 Konflikte bei der Nutzung urbanen Grüns

Wie wichtig die Berücksichtigung von Sport und Bewegung auf urbanem Grün ist, zeigt sich oft in Konfliktsituationen. Diese treten in der Regel dann auf, wenn kein ausreichendes oder koordiniertes Angebot zur Verfügung steht und die Bürgerinnen und Bürger eigenständig Sporträume schaffen (7 Kap. 3). Die Spanne dieser Räume reicht hierbei von der ganzjährigen Nutzung ebener Rasenflächen für den Freizeitfußball (inkl. wöchentlicher, privater Mäharbeiten) bis zum Bau von MountainbikeDownhill-­ Strecken mit einer Vielzahl von Hindernissen, die z. T. größere Erdbewegungen mit sich bringen (. Abb. 21.1). Diese Nutzungen werfen, je nach Standort, nicht nur naturschutzfachliche Fragen auf (Landschaftsschutzgebiet; 7 Kap. 6), sondern bereiten den Städten als Grundstückseigentümerinnen vor allem versicherungstechnische Probleme. Selbst eine Beseitigung von zweifelsfrei illegalen Anlagen stellt dabei nur eine temporäre Lösung  





21.2 

 port und urbanes Grün – S Veränderung der Nachfrage

Die verstärkte Nachfrage nach Sport- und Bewegungsangeboten auf urbanen Grünflächen resultiert aus einem veränderten gesellschaftlichen Sportverständnis. Das Resultat dieses Wandels ist eine Aufweitung der Sportdefinition, die grundsätzlich in zwei Kategorien eingeteilt werden kann. In der ersten Kategorie finden sich Festlegungen, die den Wettkampfcharakter des Sports in den Vordergrund stellen. So erläutert Tiedemann (2021, o. S.) den Sport als ein „kulturelles Tätigkeitsfeld, in dem Menschen sich freiwillig in eine Beziehung zu anderen Menschen begeben, um ihre jeweiligen Fähigkeiten und Fertigkeiten in der Bewegungskunst zu vergleichen  – nach selbst gesetzten oder übernommenen Regeln und auf Grundlage der gesellschaftlich akzeptierten ethischen Werte“. Tiedemann

..      Abb. 21.1  Illegale Downhill-Strecke im Äußeren Grüngürtel der Stadt Köln. (© Holger Kretschmer)

dar. Die weiterhin bestehende Nachfrage führt in der Regel zur Entstehung neuer Strecken und kann nur durch die Schaffung eines attraktiven, legalen Angebots befriedigt werden.

(2021) adressiert damit traditionelle Wettkampfsportarten, die vorwiegend, wenn auch nicht ausschließlich, in Sportvereinen ausgeübt werden. Eine vergleichbare Definition findet sich beim Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB), bei der die im Verband organisierten Sportarten neben der Einhaltung ethischer Werte auch Regeln und/oder ein System von Wettkampfeinteilungen haben müssen (DOSB, 2018, S. 3). Die Festlegungen dieser ersten Kategorie gelten als Sportdefinitionen im engeren Sinne und haben den Sport und sportbezogene Planungen lange Zeit dominiert. Zur zweiten Kategorie der Begriffsbestimmung von Sport zählen solche, die ein weites Verständnis des Sportbegriffs haben. In diese Kategorie fällt z.  B. die Definition von Wopp (2011, S.  19), der unter dem Begriff Sport „vielfältige Bewegungs-, Spielund Sportformen“ fasst, „an denen sich alle Menschen unabhängig von Geschlecht,

361 Sport und urbanes Grün – Bewegungsraum-Management in der…

Alter, sozialer und kultureller Herkunft an unterschiedlichsten Orten allein oder in Gemeinschaft mit anderen zur Verbesserung des physischen, psychischen und sozialen Wohlbefindens sowie zur körperlichen und mentalen Leistungssteigerung beteiligen können“. Zusätzlich bringt Wopp (2011) bei seiner Abgrenzung die Innenansicht der Sporttreibenden ein, indem er jede Bewegungsaktivität als Sport klassifiziert, die von den Aktiven selbst als Sport betrachtet wird. Die Notwendigkeit einer Aufweitung des Sportbegriffs ergibt sich aus einer ­zunehmenden Ausdifferenzierung des Sports. Sport hat sich zu einem Massenphänomen mit einer Vielzahl von Sportmodellen und -formen entwickelt (Krüger et  al., 2013, S.  388), was ­gemeinhin mit gesamtgesellschaftlichen Individualisierungs- und Pluralisierungstende­ nzen in Verbindung gebracht wird. Durch die Entstehung neuer Sportarten, die nicht ausschließlich mit Wettkampfcharakter betrieben werden, sondern sich anderer Motive bedienen, deckt die enge Definition nicht mehr alle Sportaktivitäten ab. Darüber hinaus hat sich auch das gesellschaftliche Verständnis von Sport gewandelt. Sport ist als Teil von Fitness und Gesundheit ein anerkannter und nicht selten essenzieller Bestandteil unterschiedlicher Lebensstile geworden (7 Kap. 4 und 12). In der Planung kommt sowohl der engere als auch der weitere Sportbegriff zur Anwendung. Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (BMVBS) unterscheidet zwischen Sportarten und Sportformen. Sportarten haben ein eindeutig definiertes und messbares Ziel, unterliegen einem Regelwerk und sind in Wettkämpfen organisiert. Sportformen können hingegen vielfältige Ziele haben und sind nicht an die Einhaltung von Regeln im Wettkampf gebunden (Hendricks et  al., 2011). Die Unterscheidung im engeren und weiteren Sinne ist nicht nur von akademischer Natur, sondern hat maßgebliche räumliche Auswirkungen (7 Kap. 3 und 4). Sportarten benötigen in der Regel normierte Sport 



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anlagen, damit die festgesetzten Regeln anwendbar und Wettkämpfe regelgerecht durchführbar sind. Für die Ausübung von Sportformen kommen hingegen auch nichtnormierte Räume infrage, wie die urbanen Grünflächen. Diese Trennung in Sportanlagen und andere Sporträume spiegelt sich auch in der Organisationsform der Sportausübung wider. Da der Zugang zu normierten Sportanlagen oftmals nur über die Mitgliedschaft in einem Sportverein oder bei einem kommerziellen Anbieter möglich ist, werden Sportarten zumeist „organisiert“, also mit einer institutionellen Anbindung, ausgeübt. Diese Mitgliedschaft ist bei der Ausübung von Sportformen nicht notwendig, da die Sporträume frei zugänglich sind und die Sportausübung daher eigenständig organisiert werden kann. Der Anteil der über 16-jährigen Sportlerinnen und Sportler, die eigenständig organisiert Sport treiben, beträgt in der Bundesrepublik Deutschland etwa 72 % (Repenning et al., 2019). Die verbleibenden 28 % gehen mindestens einer sportlichen Aktivität in einem Sportverein nach. Das schließt jedoch nicht aus, dass zumindest Teile dieser Gruppe auch selbst organisiert Sport treiben. Mit Blick auf die fünf beliebtesten Sportarten (Radsport, Schwimmen, Fitness, Laufen, Wandern) fällt auf, dass nur ein geringer Prozentsatz von 1–7  % diese Aktivitäten in einem Sportverein ausübt (Repenning et  al., 2019). Dennoch wird in der Literatur immer wieder betont, dass den über 90.000 Sportvereinen in Deutschland eine hohe Bedeutung bei der Sportentwicklung zukommt. Sie leisten einen wichtigen Beitrag zur Vermittlung von gesellschaftlichen Werten und damit auch für den sozialen Zusammenhalt, insbesondere für die Altersgruppe der Kinder und Jugendlichen, bei denen der Organisationsgrad, also die Mitgliedschaft in einem Verein, überproportional höher ist als bei den über 16-Jährigen. Durch die Ausdifferenzierung des Sportsystems vertreten die Sportvereine nur noch einen Teil der sportlich aktiven

362

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H. Kretschmer

Bürgerinnen und Bürger. Diese Verschiebung wird bei der Planung von Sport und Bewegung auf kommunaler Ebene bislang nur unzureichend berücksichtigt, da sich die etablierten Ansätze der Sportentwicklungsplanung auf die Planung von Sportanlagen fokussieren (7 Kap. 4).  

21.3 

 port und kommunale S Planung

Obwohl die Planung von Sport- und Bewegungsanlagen keine staatliche Aufgabe ist, sind die Themenbereiche Sport und Stadt eng miteinander verbunden. Sowohl im Bildungsbereich (Schulsport) als auch in der Freiflächenplanung (Freizeitsport) oder in der Stadtentwicklung (wohnortnahe Erholung) werden sportbezogene Themen bereits berücksichtigt. Aus dem System Sport haben sich in den vergangenen 60 Jahren unterschiedliche Ansätze und Empfehlungen entwickelt, die ein Mindestmaß an Sport- und Bewegungsräumen sicherstellen sollten. Den Beginn dieser Entwicklung markiert der Goldene Plan für Sportstättenentwicklung der Deutschen Olympischen Gesellschaft (DOG; 7 Kap.  6), der in den frühen 1960er-Jahren veröffentlicht wurde und eine flächendeckende Versorgung der bundesdeutschen Bevölkerung mit Sportanlagen initiieren sollte. Der Goldene Plan war ein richtwertorientierter Ansatz, der bestimmte Sportflächen je Anlagentyp (Sporthallen, Sportfreianlagen und Schwimmbäder) pro Einwohner vorsah (DOG, 1961). Durch die einfache Anwendung der Richtwerte wurde der Plan von den Kommunen aufgegriffen und führte vor allem in den ersten Jahren nach seiner Veröffentlichung zu einem starken Anstieg der Sportstättenzahl. Die letzte Fassung mit dem Titel Goldener Plan Ost stammt aus dem Jahr 1992 und nahm vor allem die nachholende Sportentwicklung in den ostdeutschen Bundesländern nach der Wiedervereinigung in den Blick. Die Leitlinien des überarbeiteten  

Plans gingen „von der Annahme aus, dass in den neuen Bundesländern eine den alten Bundesländern entsprechende Sportentwicklung stattfinden würde“ (BISp, 2022). Die Neuauflage ignorierte damit die zunehmende Kritik am Goldenen Plan, die bereits Ende der 1980er-Jahre laut wurde. Durch die zunehmende Individualisierung und Ausdifferenzierung des Sportsystems konnte die starre Richtwertplanung die Veränderungen im Sportverhalten nicht mehr adäquat abbilden und ging oftmals an der Nachfragerealität vorbei (7 Kap. 4 und 20). Darüber hinaus stellte die flächendeckende Versorgung mit Sportanlagen die Städte und Gemeinden zunehmend vor finanzielle Probleme. Besonders die Instandhaltung und Sanierung der bestehenden und in die Jahre gekommenen Sportanlagen belasteten die ohnehin unterfinanzierten kommunalen Haushalte stark und stellt in vielen Kommunen bis heute ein gewichtiges Problem dar. So wurde, nicht zuletzt auch durch die knapper werdenden finanziellen Mittel, die Forderung nach stärker nachfrageorientierten Ansätzen laut, die vor allem einen bedarfsgerechten Einsatz von Finanzmitteln ermöglichen sollten. Ein erster Versuch, die Planung an der Nachfrage auszurichten, wurde mit dem Leitfaden für die Sportstättenentwicklungsplanung des Bundesinstituts für Sportwissenschaft (BISp) unternommen. Der ­Anfang der 1990er-Jahre erstmals veröffentlichte und bis zum Jahr 2000 weiterentwickelte Leitfaden sollte mit einer quantitativen Bestands- und Bedarfsanalyse auf Basis einer repräsentativen Bevölkerungsbefragung die Grundlage für eine nachfrageorientierte Sportentwicklungsplanung legen (Köhl, 2006). Wie der Titel bereits vermuten lässt, fokussierte auch dieser Ansatz fast ausschließlich Sportanlagen. Allerdings berücksichtigte der Leitfaden in Teilen die Diversifizierung des Sportangebots, indem die Bedarfsanalyse eine sehr große Anzahl an Sportarten berücksichtigte und auch nichtnormierte Anlagen, wie Skateparks,  

363 Sport und urbanes Grün – Bewegungsraum-Management in der…

einbezog. Die wesentliche Innovation des Leitfadens war allerdings die Etablierung von neun Planungsschritten, die sich in den Punkten Zielformulierung, Bilanzierung von Angebot und Nachfrage, Zustandsbew­ ertung der Anlagen, Maßnahmenform­ ulierung, Erfolgskontrolle und Fortschrei­ bung zusammenfassen lassen. Diese Strukt­ urierung findet sich auch in nachfolgenden ­Konzepten, wie der kooperativen und integrierten Sportentwicklungsplanung, wieder. Der gegen Ende der 1990er-Jahre entwickelte Ansatz zur kooperativen Sportentwicklungsplanung ersetzt die streng quantitative Bedarfsanalyse des Leitfadens durch eine eher qualitativ ausgerichtete Komponente. Den Kern des Ansatzes bildet eine Planungsgruppe, die alle Akteure der Sportentwicklung zusammenführen soll und die Sportentwicklungsplanung dialogorientiert angeht. Die Planungsgruppe steuert den Prozess der Sportentwicklung von der Bedarfsanalyse über die Maßnahmenentwick­ lung bis zur Umsetzung. Teil der Planungsgruppe sind nicht nur die kommunalen Akteure, sondern auch externe Expertinnen und Experten, die die Kommune bei der Erarbeitung eines Sportentwicklungsplans beraten und begleiten. Die Einbindung der externen Perspektive soll eine objektive und wissenschaftlich fundierte Bewertung der lokalen Situation sicherstellen. Durch diesen Schritt der Qualitätssicherung kann die Sportentwicklungsplanung nach dem Kooperativen Ansatz allerdings nicht mehr eigenständig von der Kommune durchgeführt werden, wie dies beim Goldenen Plan oder der Leitfadenmethode möglich war. Des Weiteren stellen Rütten und Ziemainz (2009) bei ihrer Analyse unterschiedlicher Sportentwicklungskonzepte heraus, dass der Zusammensetzung der Planungsgruppe im kooperativen Ansatz eine große Bedeutung zukommt. So ist die Planungsgruppe prinzipiell intersektoral zusammengesetzt, bietet also die Möglichkeit, auch Akteurinnen und Akteure, deren Tätigkeiten

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inhaltlich einen geringen Bezug zu Sportentwicklungsplanung haben, wie aus dem Naturschutz oder nichtorganisierten Sport, einzubinden. Dementgegen haben Meinungen und Positionen von Akteuren, die nicht in der Planungsgruppe vertreten sind, keine Chance, an der Sportentwicklung zu partizipieren. Um die Stärken der beschriebenen Ansätze zusammenzuführen und ein breites Bild des Sportbedarfs zu erstellen, schlagen Rütten und Ziemainz (2009) vor, den Leitfaden und die kooperative Planung in einem integrierten Ansatz zusammenzuführen. Die­ ser basiert auf einer Bestands- und Bedarfsanalyse nach der Leitfadenmethode, die dem kooperativen Planungsprozess vorgeschaltet wird (Rütten & Ziemainz, 2009). Das Problem der fehlenden Einbindung von Sport und Bewegung auf urbanem Grün lösen sie damit jedoch nicht. Ein wesentliches Problem bei der Einbindung von freien Sportangeboten lässt sich am Beispiel der Planungsgruppe darstellen. Während für nahezu alle Akteure der Sportentwicklung, z.  B. ein lokaler Sportbund und Planungsämter, zentrale Ansprechpartner existieren, kann es für den nichtorganisierten Sport eine solche Inter­ essenvertretung jedoch nicht geben. Damit gestaltet sich eine institutionalisierte Einbindung von rund 75 % der Sporttreibenden außerhalb des organisierten Sports schwierig. Auch eine quantitative Erhebung des Bedarfs stößt hier aufgrund der Diversifizierung im Sport an ihre Grenzen. Möglich wäre eine Einbindung mittels offener Partizipation, z.  B. über Planungswerkstätten. Allerdings ist diese Form der Partizipation und Bedarfsermittlung ebenfalls aufwendig und kostenintensiv. Vor dem Hintergrund einer angespannten Haushaltslage fokussieren sich viele Kommunen mit ihrer Sportentwicklung daher auf den messbaren Bedarf im Bereich der Sportanlagen und die etablierten Strukturen der Sportentwick­ lung. Eine Sportentwicklungsplanung, die das erweiterte Sportverständnis bei der Pla-

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H. Kretschmer

nung berücksichtigen möchte, wird zukünftig dennoch auf einen integrierten Planungsansatz setzen müssen. Der Begriff „integriert“ meint in diesem Zusammenhang nicht allein die Zusammenführung ­bestehender Planungsansätze, sondern insbesondere die Überwindung der sektoralen Planungsprozesse hin zu einer ganzheitlichen Planung. Sportentwicklungsplanung muss also als integraler Bestandteil einer gesamtstädtischen Planung verstanden werden (Heinrich-Böll-Stiftung, 2022). Damit zielt Sportentwicklung nicht nur auf ein fixes und punktuelles Ziel in Form eines Sportentwicklungsplans ab, sondern wird als partizipativer, fortgeschriebener Prozess verstanden, der auf Veränderungen reagieren und sowohl im Ziel als auch bei der Zielerreichung flexibel angepasst werden kann und muss (Kähler, 2016).

21.4 

Sportentwicklungsplanung als integriertes BewegungsraumManagement

Eine solch flexible Herangehensweise zeigen Klos et al. (2008) mit dem Konzept eines Bewegungsraum-Managements. Dabei betonen sie, dass das Konzept nicht in Konkurrenz zu bestehenden und etablierten Planungsprozessen tritt, sondern „als ein Ablaufschema zu verstehen [ist], das bestehende Strukturen aufgreift und vor dem Hintergrund einer Nachhaltigen Entwicklung […] [neu] zusammenführt“ (Klos et  al., 2008, S.  46). Ziel des Bewegungsraum-­ Mana­ gements ist also die Kombination unterschiedlicher Kompetenzen, um eine ganzheitliche Sportentwicklung in den Blick zu nehmen (7 Kap. 17 und 20). Damit folgt es im Grundsatz der integrierten Planung, wie sie in der Leipzig Charta definiert ist (BMUB, 2007). Das Bewegungsraum-­ Management umfasst fünf Bausteine (Kommunalpolitik  

und Koordinierung – Bestands- und Bedarfsanalyse  – Angebotsentwicklung  – Planung, Umsetzung, Weiterentwicklung  – Erfolgskontrolle und Evaluation; . Abb. 21.2), die eine kontinuierliche Planung und Entwick­ lung von Sport und Bewegungsange­boten ermöglichen sollen (Klos et al., 2008). Auf den ersten Blick unterscheidet sich das Bewegungsraum-Management in seiner Struktur nur marginal von den bereits vorgestellten Planungsansätzen zur Sportentwicklungspla­ nung. Auch im Bewegungsraum-Manage­ ment finden sich kooperative Ansätze, eine Bilanzierung von Angebot und Nachfrage sowie eine Maßnahmenentwicklung. Der wesentliche Unterschied liegt in der prozesshaften Betrachtung der Sportentwicklung (. Abb.  21.2), die auf eine kontinuierliche und von der Kommune eigenständig umzusetzende Sportentwicklung angelegt ist. Diese wird zwar auch von anderen Ansätzen aufgenommen (Göring et  al., 2018), aber noch nicht immer konsequent umgesetzt. Die Grundlage des Bewegungsraum-­ Managements bildet ein politischer Handlungsrahmen, der die Bedeutung von Sport und Bewegung für die städtische Bevölkerung anerkennt und die Sportentwicklungsplanung in eine, idealerweise bereits bestehende, integrierte Planungspolitik einbindet. Durch die Verwendung eines weiten Sportbegriffs wird hierbei nicht nur dem traditionellen Sport, sondern auch den Sport- und Bewegungsaktivitäten im öffentlichen Raum eine besondere Bedeutung zugewiesen (7 Kap. 4 und 6). Das „Bekenntnis zum Sport“ wird in einer Absichtserklärung, z. B. einer Charta oder einem Leitbild, festgeschrieben und in Form einer „Koordi­ nierungsstelle für Sport und Bewegung“ institutionalisiert. Diese bildet den operativen Kern der Sportentwicklungsplanung und treibt eigene Ziele im Rahmen des gesamtstädtischen Leitbilds voran (Bau und Sanierung von Sportanlagen, Einrichtung von nichtnormierten Bewegungsräumen etc.), während sie gleichzeitig Ansprechpartner  





365 Sport und urbanes Grün – Bewegungsraum-Management in der…

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politsicher Handlungsrahmen

gesamtstädtisches Leitbild

themenbezogene Arbeitsgruppe Siedlungsentwicklung

...

Freiraumentwicklung

Planungsprozess

Bestands- und Bedarfsanalyse Sportverhaltensstudie

Landschaftbewertung Sportentwicklung

Evaluation und Fortschreibung

Sportentwicklung

Umsetzungsprozess

Angebotsentwicklung

Planung, Umsetzung und Weiterentwicklung

Maßnahmenkatalog und Entwicklungsplan

..      Abb. 21.2  Integriertes Bewegungsraum-­Management. (Nach Klos et al., 2008)

für sportbezogene Planungen anderer Instanzen (z.  B.  Siedlungsentwicklung, Grünflächenplanung, Gesundheitsvorsorge, Schulentwicklung) ist (7 Kap. 12). Wie bei den bestehenden Ansätzen zur Sportentwicklungsplanung stellen die Bestands- und Bedarfsanalyse auch im Rahmen des Bewegungsraum-Managements die Datengrundlage für zukünftige Planungen bereit (7 Kap. 20). Dabei sollen sowohl die klassischen Erhebungsmethoden (repräsentative Befragungen) als auch offene Formate (Workshops, Bürgerwerkstätten, Onlinebefragungen) Berücksichtigung finden. So entsteht ein umfassendes Bild der Sportnachfrage, das perspektivisch weiterentwick­ elt wird. Die offenen Formate sollten während des Aufbaus eines BewegungsraumManagements noch spezieller auf Sport und Bewegung ausgerichtet sein. In der Weiter 



entwicklung kann die Sportentwicklung auch als Teil anderer Partizipationsprozesse, z.  B. im Zuge einer Quartiersentwicklung (7 Kap.  17), aufgegriffen und die Bedarfsanalyse fortgeschrieben werden. Darüber hinaus sollte bei der Bestandserhebung auch das Wissen anderer Fachplanungen eingebunden werden. Für die Planung auf urbanen Grünflächen kann z. B. das in vielen Kommunen bereits etablierte digitale Grünflächenkataster Auskunft über geeignete Räume für freie Sportangebote geben. Ferner können Informationen über Boden- und Vegetationsschäden ein erstes Bild von der Verteilung bereits etablierter, aber ggf. unerwünschter Aktivitätsräume geben. Bei einer Verlagerung von Aktivitätsräumen, z.  B. aus Gründen des Naturschutzes, kommt der zuvor genannten ­Koordinierungsstelle die Aufgabe zu, Alter 

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nativen zu bewerten sowie mit anderen Fachplanungen abzustimmen. Langfristig sollten Informationen zu Sport und Beweg­ ung in einem Geographischen Informationssystem (GIS) zusammengeführt werden. Dies gilt sowohl für die Sportanlagen als auch für Angebote jenseits der Sportanlagen. Im Sinne einer integrierten Planung muss das GIS „Bewegungsraum“ mittelfristig an bestehende digitale Informationssysteme, z. B. ein Grünflächenkataster oder einen digitalen Stadtzwilling (Hälker & Ziemer, 2020), angebunden werden. Nur durch die zentrale Bereitstellung von Daten verfügen die Fachplanungen über einen einheitlichen Kenntnisstand zur räumlichen Verteilung von Funktionen und können dadurch eine integrierte Planung betreiben. Die Bilanzierung von Angebot und Nachfrage mündet in die eigentliche Angebotsentwicklung. Dabei wird die Sportentwicklung auf Grundlage politischer Vorgaben und unter Berücksichtigung der Nachfrageanalyse ausgerichtet und eine Umsetzungsstrategie entwickelt. Idealerweise kommt es hierbei durch den integrierten Planungsansatz zu einem Abwägen unterschiedlicher Interessen, sodass „im optimalen Fall ein interdisziplinärer Konsens“ (Klos et al., 2008, S. 49) entsteht. In der folgenden Planungs- und Umsetzungsphase werden die Einzelmaßnahmen priorisiert und in die Praxis umgesetzt. Bei der Priorisierung spielt eine Vielzahl von Faktoren, wie die Budgetierung, zeitliche Entwicklungsperspektiven oder übergeordnete Projekte, eine Rolle. Da im Bereich der Planung von Sport und Bewegung auf urbanem Grün aufgrund mangelnder Erfahrung zumeist große Unsicherheit über den Erfolg einzelner Maßnahmen besteht, sollte hier mit kleineren und kostengünstigen Maßnahmen begonnen werden. Darüber hinaus sollten die Kommunen in einen Austausch mit anderen Städten und Gemeinden treten, um von deren Erfahrungen zu profitieren.

Ein unverzichtbarer Baustein im Bewegungsraum-Management ist eine zeitnahe Evaluation der Maßnahmen, um den Erfolg oder Misserfolg der Sportentwicklungsstrategie sowie der Organisationsstruktur zu bewerten. Mit dem letzten Baustein, Erfolgskontrolle und Evaluation, legt die Kommune also den Grundstein für die kontinuierliche Weiterentwicklung des BewegungsraumManagements.

21.5 

Sportentwicklungsplanung als Teil der integrierten Stadtentwicklung

Eine moderne Sportentwicklungsplanung muss sich zukünftig als Bestandteil einer gesamtstädtischen integrierten Planung verstehen. Mit Blick auf den Sport selbst sollen die Städte und Gemeinden dem veränderten Sportverhalten Rechnung tragen und auch Angebote abseits der klassischen Sportanlagen entwickeln. Ein Beispiel für einen solch umfassenden Ansatz stellt der aktuelle Sportentwicklungsplan der Stadt Köln dar (Kähler et  al., 2019). Er zeigt, wie in einer Millionenstadt eine integrierte Sportentwicklungsplanung mit einer breiten Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger realisiert werden kann. Allerdings ist der Ausgang dieses Experiments noch ungewiss und eine Bewertung der Ergebnisse erst in einigen Jahren möglich. Die Sportentwicklungsplanung kann aber durchaus mehr zur gesamtstädtischen Entwicklung beitragen, als nur passgenaue Sportangebote zu entwickeln. Durch die vielfältigen Anknüpfungspunkte der Sportentwicklungsplanung an andere Bereiche der Stadtplanung (Freiraumplanung, Schulentwicklung, Siedlungsentwicklung, Gesundheit etc.) kann die Sportentwicklungsplanung in Form eines integrierten Bewegungsraum-Managements ein effizientes Erreichen von gesamtstädtischen Zielen

367 Sport und urbanes Grün – Bewegungsraum-Management in der…

unterstützen. Hierzu muss sie allerdings die Nische der Fachplanungen verlassen und sich als wertvoller Partner der Stadtentwicklung in die Planungen einbringen. ? Übungsaufgaben 1. Nennen Sie die grundlegenden Schwächen der traditionellen Sportentwicklungsplanung. 2. Was unterscheidet eine integrierte Planung von einer sektoralen Planung?

Zum Weiterlesen empfohlene Literatur BfN – Bundesamt für Naturschutz (2008). Menschen bewegen  – Grünflächen entwickeln. Ein Handlungskonzept für das Management von Bewegungsräumen in der Stadt. 7 https://www.bfn.de/sites/default/ files/2021-07/Menschen_bewegen.pdf. Zugegriffen: 08.06.2022. Göring, A., Hübner, H., Kähler, R. S., Weilandt, M., Rütten, A., & Wetterich, J. (2018). Memorandum zur kommunalen Sportentwicklungsplanung. 7 https:// cdn.dosb.de/user_upload/www.dosb.de/ Sportentwicklung/Sportentwicklungsplan­ ung/2018_Memorandum-2-SEP_web.pdf. Zugegriffen: 08.06.2022. Klos, G., Kretschmer, H., Roth, R., & Türk, S. (2008). Siedlungsnahe Flächen für Erholung, Natursport und Naturerlebnis. Landwirtschaftsverlag.  



Literatur BfN  – Bundesamt für Naturschutz. (2022). Bundeskonzept Grüne Infrastruktur. https://www.­bfn.­de/ bundeskonzept-­gruene-­infrastruktur. Zugegriffen am 08.06.2022. BISp  – Bundesinstitut für Sportwissenschaft. (2022). Der Goldene Plan Ost. https://www.­bisp.­de/ DE/50_Jahre/Artikel/DigitAusst_1992.­h tml#_ ncjm1ufb6. Zugegriffen am 08.06.2022. BMUB  – Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (Hrsg.). (2015). Grün in der Stadt − für eine lebenswerte Zukunft.

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Grünbuch Stadtgrün. https://www.­bbsr.­bund.­de/ BBSR/DE/veroeffentlichungen/ministerien/bmub/ verschiedene-themen/2015/gruenbuch2015-dl. pdf?__blob=publicationFile&v=2. Zugegriffen am 05.06.2022. BMUB  – Bundesministerum für Umwelt, Naturschutz, Bau und Reaktorsicherheit (Hrsg.). (2007). LEIPZIG CHARTA zur nachhaltigen europäischen Stadt. https://www.­bmuv.­de/fileadmin/Daten_BMU/Download_PDF/Nationale_ Stadtentwicklung/leipzig_charta_de_bf.­pdf. Zugegriffen am 05.04.2022. Böhm, J., Böhme, C., Bunzel, A., Kühnau, C., Landua, D., & Reinke, M. (2019). Urbanes Grün in der doppelten Innenentwicklung. (BfN Skripten, 444). https://www.­bfn.­de/sites/default/files/BfN/service/ Dokumente/skripten/skript444.­pdf. Zugegriffen am 02.03.2022. Breuste, J. (2016). Was sind die Besonderheiten des Lebensraumes Stadt und wie gehen wir mit Stadtnatur um? In J.  Breuste, S.  Pauleit, D.  Haase & M.  Sauerwein (Hrsg.), Stadtökosysteme: Funktion, Management und Entwicklung (S. 85–128). Springer. Claßen, T., Heiler, A., & Brei, B. (2012). Urbane Grünräume und gesundheitliche Chancengleichheit  – längst nicht alles im „grünen Bereich“. In G.  Bolte, C.  Bunge, C.  Hornberg, H.  Köckler & A.  Mielck (Hrsg.), Umweltgerechtigkeit durch Chancengleichheit bei Umwelt und Gesundheit: Konzepte, Datenlage und Handlungsperspektiven (S. 113–123). Huber. Digel, H. (2009). Gesellschaftlicher Wandel und Sportentwicklung. Meyer & Meyer. DOG  – Deutsche Olympische Gesellschaft. (1961). Der Goldene Plan in den Gemeinden. Ein Handbuch. Eigenverlag. DOSB – Deutscher Olympischer Sportbund. (2018). Aufnahmeordnung des DOSB. https://cdn.dosb.de/user_ upload/www.dosb.de/uber_uns/Satzungen_und_ Ordnungen/aktuell_Aufnahmeordnung_2018_.pdf. Zugegriffen am 08.06.2022. Dosch, F., & Haury, S. (2020). Städtisches Grün in Pandemiezeiten: Beobachtungen, Erkenntnisse und Herausforderungen für die Zukunft. Informationen zur Raumentwicklung, 47(4), 68–81. Eckl, S. (2012). Sport im Wandel – Bewegungsräume im Wandel. Forum Wohnen und Stadtentwicklung, 2012(6), 287–290. Göring, A., Hübner, H., Kähler, R. S., Weilandt, M., Rütten, A., & Wetterich, J. (2018). Memorandum zur kommunalen Sportentwicklungsplanung. https:// cdn.dosb.de/user_upload/www.dosb.de/Sportentwicklung/Sportentwicklungsplanung/2018_Memorandum-2-SEP_web.pdf. Zugegriffen am 06.06.2022.

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H. Kretschmer

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Olympische Spiele als Impulsgeber für eine nachhaltige Stadterneuerung? Das Beispiel Tokio Thomas Feldhoff

Sportmetropole Tokio: Blick von Shibuya Sky in Richtung Norden auf das Nationalstadion Yoyogi (im Bild vorne links) und das neue Olympiastadion (im Bild hinten rechts). (© Thomas Feldhoff)

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Gans et al. (Hrsg.), Sportgeographie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66634-0_22

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Inhaltsverzeichnis 22.1

Stadtentwicklung mit Großprojekten – 372

22.2

 ie unternehmerische Stadt und der Preis D für Olympia – 374

22.3

 lympisches Dorf, SportstättenO und Infrastrukturprojekte – 377

22.4

Stadtumbau und Bevölkerungsverlagerungen – 380

22.5

Fazit und Ausblick – 382 Literatur – 384

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371 Olympische Spiele als Impulsgeber für eine nachhaltige Stadterneuerung?…

Einleitung Olympische Spiele haben in der öffentlichen Wahrnehmung nicht nur in Deutschland und nicht erst neuerdings einen schweren Stand: überdimensioniert und teuer, kommerzialisiert und korrupt, umweltzerstörerisch, anfällig für nationalistische Instrumentalisierung, zusammenfassend: alles andere als nachhaltig – so die Gegner von Olympiabewerbungen, die einer Studie von Cottrell und Nelson (2010) zufolge seit dem Beginn der modernen Olympischen Spiele einen immer stärkeren Zulauf erfahren haben (Singler, 2020; 7 Kap.  8 und  9). Tokio war nichtsdestotrotz 2020/21 bereits zum zweiten Mal nach 1964 Austragungsort, die Ausgangsbedingungen aber waren durchaus verschieden. Die 1960er-Jahre waren die Hochzeit des japanischen Wirtschaftswunders, der schier grenzenlosen Technologie-Euphorie und der architektonischen Aufbrüche. Die Metabolisten um Kenzo Tange erarbeiteten sein­ erzeit zukunftsweisende städtebauliche Entwürfe, u. a. für das Nationalstadion Yoyogi (Kapiteleröffnungsbild). Japan spielte außerdem eine zentrale Rolle in den US-amerikanischen Strategien zur Eindämmung des Kommunismus in Ost- und Südostasien. Insofern waren die Spiele, die damals die ersten in dieser Region überhaupt waren, auch Ausdruck der neuen weltwirtschaftlichen und weltpolitischen Rolle Japans. Der von Tokio ausgehende Hochgeschwindigkeitszug Shinkansen war das wichtigste Symbol der Modernität der Metropole und der neuen Zeit, die das Inselreich als eine der global führenden Wirtschafts- und Technologienationen emporsteigen ließ. Nach einer langen Phase der wirtschaftlichen Krise bzw. Stagnation, die mit dem Platzen einer Immobilien- und Aktienmarktblase Anfang der 1990er-Jahre ihren Ausgang genommen hatte, waren die Spiele 2020/21 eine Gelegenheit, der Welt zu demonstrieren, dass mit Japan als Innovationsstandort noch zu rechnen ist. Zu den Themenfeldern für die  

Entwicklung und Anwendung urbaner Innovationen gehörten wieder Mobilitätslösungen, mehr noch grüne Energien und grünes Bauen, grüne und blaue Infrastrukturen, Umw­ eltmonitoring, Gesundheitsmanagement, Videoüberwachungs- und Sicherheitssysteme. Das waren zugleich auch zentrale Themenfelder der „Tokyo Vision 2020“, des Entwicklungsleitbilds der Präfe­ kturregierung Tokio, das die globale Wettbewerbsfähigkeit der „Urban Technology Metropolis“ (Kassens-Noor & Fukushige, 2018) unterstützen sollte. Unverändert wichtig geblieben ist die japanische Sicherheitspartnerschaft mit den USA, die angesichts des Weltmachtanspruchs Chinas aber auch eine neue Qualität erreicht hat. Die Erfahrungen zeigen, dass Stadt­ planung und Städtebau immer Ausdruck gesellschaftlicher Abstimmungs- und Entscheidungsprozesse sind, in denen Ziele und Strategien der Entwicklung neu bestimmt werden. Für städtebauliche Großprojekte ist die starke symbolische Aufladung als Zukunftsentwurf für Problemlösungen kennzeichnend – ihre Sicht- und Wahrnehmbarkeit hat demonstrativen Charakter (7 Kap. 23). So sollte auch Olympia 2020/21 in Tokio als Katalysator für die längst als notwendig erkannte städtebauliche und infrastruk­ turelle Erneuerung wirken, der Positionierung Tokios im globalen Metropolenwettbewerb um Kapital und Talente Auftrieb verleihen, Aufbruchstimmung und einen neuen Optimismus verbreiten. Dabei lassen sich die symbolischen und langfristigen Wirkungen eines solchen Großevents und seiner Strahlkraft weder im Vorhinein noch im Nachhinein einfach bemessen (Selle, 2005; Baade & Matheson, 2016). Der Beitrag erarbeitet am Beispiel der jüngeren projektorientierten Entwicklung Tokios zentrale Herausforderungen einer nachhaltigen Stadtentwicklung, die über die kurzfristigen Aufmerksamkeits-, Wirtschafts- und Sportsverbandsinteressen hinausreichen. Die  

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T. Feldhoff

Einzelfallstudie stellt den prozesshaften Charakter der urbanen Transformation Tokios in den Mittelpunkt des Interesses. Sie ist eingebettet in die Forschung zu Großprojekten, die spätestens mit David Harveys (1989) Grundlegung des Ansatzes der unterneh­ merischen Stadt bzw. der neoliberalen Urbanisierung (Moulaert et al., 2001; Swyngedouw et  al., 2002) auch eine wichtige theoretische Konzeptionalisierung erfahren hat. Darüber hinaus liegen zahlreiche Studien zur Quantifizierung der Nutzen und Kosten von Großprojekten, auch in vergleichender Perspektive, vor (Flyvbjerg et  al., 2002; Flyvbjerg, 2007; Flyvbjerg & Stewart, 2012; Vöpel, 2014; Flyvbjerg et  al., 2021). Sie deuten auf die große Bedeutung „strategischer Verfälsch­ ungen“ hin, d.  h. politökonomisch bedingter Schönrechnereien im Rahmen der Projekteinwerbung (Selle, 2005, S. II). Der nicht zuletzt deshalb umstrittene Charakter der Olympi­ schen Spiele überschattet oft schon den Auswahlprozess  – und damit auch das künftige Ereignis selbst, das zugleich immer stärker herausgelöst aus dem lokalen Kontext als Teil einer globalisierten und kommerzialisierten Sportindustrie erscheint (Chappelet, 2016; Andranovich & Burbank, 2021). Entscheidend für die Einschätzungen und Bewertungen des Erfolgs von Großprojekten ist im vorliegenden Beitrag das Nutzenkriterium nach Groth (1992). Einzelne Maßnahmen der Stadtpolitik sollen demnach für die Menschen auch langfristig direkten oder zumindest indirekten Nutzen entfalten und Möglichkeiten für eine lebendige und gerechte Stadt schaffen (auch Baade & Matheson, 2016, S.  216). Der Beitrag analysiert damit Aspekte der Gleichzeitigkeit, des Wechselspiels, des Ineinandergreifens, des Nebeneinanders und der Konfliktpotenziale von endogen und exogen induzierten urbanen Transformationsprozessen  – und ihre Auswirkungen auf das „Raummachen“ in Japans Hauptstadt. Die Olympischen Spiele als exogener Treiber haben dabei der in erster Linie profitorientierten Stadterneuerung einen zu-

sätzlichen Antrieb und neue Dynamik verliehen, sie sind aber nicht ursächlich dafür, denn Stadterneuerung ist eine Daueraufgabe für Metropolen im Wettbewerb um Renommee und Wertzuwächse aus Investitionen  – und keine Einmallösung.

22.1 

Stadtentwicklung mit Großprojekten

Großprojekte als Instrument von Stadtentwicklung sind immer auch Ausdruck gesellschaftlicher Veränderungsdynamiken; sie werden durch Akteursbündnisse auf Zeit interessenorientiert gestaltet (Huning & Peters, 2003; Dziomba & Matuschewski, 2007; Adam & Fuchs, 2012). Die kapitalistische Grundstücksverwertung ist dabei vom Streben nach Ertragsmaximierung und Spekulation bestimmt. Großprojekte sind außerdem abhängig vom Staatsverständnis im Span­ nungsverhältnis zwischen Top-­ down- und Bottom-up-Ansätzen sowie vom Selbstverständnis der Planer und Architektinnen, einschließlich ihrer Handlungsorientierungen. Aufgrund positiver Wirkungserwartungen und starker politischer Einflussnahmen billigen die Entscheidungsträger hohe Kosten und damit verbundene Risiken (7 Kap.  8). Ob und wie Großprojekte in den Dienst einer Nachhaltigkeitstransformation gestellt werden können, ist dort besonders umstritten, wo die Abhängigkeit der Kommunen von privaten Investoren groß ist, denn diese agieren in der Regel in einem befristeten Realisierungszeitraum marktorientiert, nutzungsspezifisch und räumlich punktuell (Mayer, 2008). Typische Kennzeichen einer solchermaßen projektorientierten Entwicklungsstrategie sind (nach Mayer, 2008, S. 132): 1. Die thematische Schwerpunktsetzung, um richtungsweisende ­Problemlösungen für die künftige Stadt- und Regionalentwicklung beispielhaft zu erproben  

373 Olympische Spiele als Impulsgeber für eine nachhaltige Stadterneuerung?…

2. Die räumliche Schwerpunktsetzung im Hinblick auf die Auswahl von Flächen und Objekten und damit verbunden die Schaffung privilegierter Orte („Oaseneffekte“) 3. Die zeitlich begrenzte Bündelung wesentlicher personeller, finanzieller und materieller Kapazitäten Öffentlich-private Partnerschaften spielen bei Entwurf, Planung, Einrichtung und Erstellung städtebaulicher Großprojekte zumeist eine zentrale Rolle als Organisationsform. Während (Sport-)Infrastrukturprojekte in der Regel durch öffentlich-private Stadtumbaukoalitionen umgesetzt werden und als bauliche Highlights eine dauerhafte Wirksamkeit entfalten, bedeutet die Festivalisie­ rung von Stadt ihre zeitlich limitierte medienwirksame Inszenierung (Adam & Fuchs, 2012, S.  566). Zugleich geht es dabei um langfristige Wirkungserwartungen im Sinne von Identifikation, Bekanntheits- und Ima­ gegewinnen (. Tab.  22.1 und  12.1, 7 Kap. 12). Damit ist häufig die Verdrängung stadtteilorientierter kleiner Kulturen und die  



22

Trans­formation des Charakters von Städten hin zu einer „inszenatorischen Praxis von Urbanität“ (Klein, 2004) verbunden, denn die Stadtpolitik stellt im Wettbewerb um die Austragung von Großveranstaltungen die sozialräumlichen Bedingungen für die Festivalisierung urbaner Bewegungskulturen erst her (Klein, 2004). Der Umbau der betreffenden Stadtbereiche, die Erneuerung von Infrastrukturen und die Aufwertung des öffentlichen Raums sind damit wichtige Ansatzpunkte urbaner Transfor­mationspro­ zesse. Und das nicht erst heute: Die Bezüge zwischen Großveranstaltungen und großstädtischer Infrastrukturentwick­ lung beschreibt Lenger (2014) bereits in seinen Betrachtungen zu europäischen Metropolen der Moderne (1850–1900) an den Beispielen Barcelona und Paris (auch Van Laak, 2018, S. 196). Im Rahmen der langfristig wirksamen Stadtentwicklungskonzepte werden Groß­ ereignisse idealerweise zu einem Projekt, das der ausrichtenden Stadt oder Region insgesamt zum Vorteil gereicht und sozialräumliche Fragmentierungsprozesse zumindest nicht verstärkt. Durch entsprechende Strate-

.       Tab. 22.1  Nutzen und Kosten der Olympischen Spiele. (Verändert nach Vöpel, 2014, S. 7)

Nutzen

Kosten

Kurzfristig

Langfristig

Tangibel

Einkommenseffekte Beschäftigungseffekte Fiskalische Effekte Schaffung von Wohnraum

Tourismus Innenentwicklung Sportinfrastruktur Öffentliche Infrastrukturen

Intangibel

Internationalität Netzwerke und Kontakte

Extern: Bekanntheit und Image Intern: Motivation, Mobilisierung und Identifikation Standortattraktivität

Tangibel

Bewerbungsverfahren Planung und Durchführung Infrastrukturmaßnahmen

Instandhaltungskosten Rückbaumaßnahmen

Intangibel

Überfüllung Lärm

Opportunitätskosten durch Mittelkonzentration Flächennutzung

374

22

T. Feldhoff

gien zur Einbettung des Events in ein Gesamtkonzept für eine menschenfreundliche Stadt kann Oaseneffekten und der Schaffung privilegierter Orte präventiv begegnet werden. Im Falle der Olympischen Spiele in London 2012 war die Kritik an der state-led gentrification (Watt, 2013) und damit einhergehenden Verdrängungspro­ zessen groß (Giulianotti et  al., 2015). Sie waren das Ergebnis von Kontroll- und Partizipationsdefiziten, „weil die Prozeduren lokaler Demokratie mit der Eigendynamik solcher Projektentwicklungen nicht Schritt halten können“ (Selle, 2005, S. II). Auch systematische Kostenunterschätzungen bei Gro­ ßereignissen (Flyvbjerg & Stewart, 2012; Flyvbjerg et  al., 2021) und Großinfrastrukturprojekten (Flyvbjerg, 2007) sind ein wichtiges Thema der Governance-­Forschung, weil sie auf enge Zusammenhänge zwischen Stakeholder-Interessen und Macht und daraus resultierende strategische Verfälschungen verweisen (7 Kap. 8). Hohe Eigendynamiken, kaum zuverlässig prognostizierbare Planungsfolgen und nicht erkennbare Verantwortlichkeiten in einem komplexen „Geflecht von Rollen, Interessen und Aktivitäten“ (Selle, 2011) – in Verbindung mit hohen Kosten  – bedeuten auch hohe politische Risiken (Selle, 2005). Kritische Fragen nach der Organisation und Legitimität von Stadtentwicklung und ihrem öffentlichen Nutzen sind deshalb umso dringlicher zu stellen. Hierbei kommt den unabhängig von anderen staatlichen Einrichtungen agierenden Kontrollinstanzen, etwa den Rechnungshöfen, eine besondere Verantwortung zu. Allerdings geht es bei der Argumentation für Großprojekte nicht nur um Kosten-Nutzen-Rechnungen, sondern auch um die Bewertung der neuen Chancen zur individuellen Teilhabe und Aneignung urbaner Räume, der Vielfalt und Offenheit ihrer Nutzungsmöglichkeiten.  

22.2 

 ie unternehmerische Stadt D und der Preis für Olympia

Die Ausrichtung der Stadtplanung an privatwirtschaftlichen Interessen hat in Japan eine lange Tradition und ist in den letzten zwei Jahrzehnten mit einem weiteren politisch gestützten Bedeutungszuwachs projekt- und marktförmiger Steuerungsprinzipien im Städtebau einhergegangen (Feldhoff, 2020, 2021). Die Entwicklung einer unternehmerischen Stadtpolitik (Harvey, 1989) hängt dabei eng mit Strategien zur Förderung der Wettbewerbsfähigkeit der Global City Tokio in Anbetracht eines scharfen internationalen Standortwettbewerbs zusammen. Und sie unterstreicht zugleich den flüchtigen, transitorischen Charakter des Metropolraums und die Beschleunigung des Wandels der Maßstäbe moderner Urbanität (Hanakata, 2020, S. 107). Besonders hervorzuheben unter den veränderten institutionellen Rahmenbeding­ ungen ist das im Jahr 2002 erlassene Sondermaßnahmengesetz zur städtischen Revital­ isierung, welches die Ausweisung sogenannter Urban Regeneration Areas of Urgent Needs, ab 2003 auch der High-rise Residential Building Promotion Districts vorsah. Mit der Novellierung des Gesetzes wurden ab 2011 Special Urban Regeneration Areas of Urgent Needs festgelegt. Hauptanreizinstrument für private Investoren war und bleibt die Planungsderegulierung, insbesondere die Deregulierung der Geschossflächenzahlen, die zu einer dramatischen Zunahme der Stadtumbauprojekte mittels des Hoch- und Tiefgeschossbaus im Kernbereich der Metropole geführt hat (Feldhoff, 2020; Hanakata, 2020, S. 107; Tanaka et al., 2020; . Abb. 22.1). Das gilt auch für andere staatliche Programme wie die Special Zones for Corporate Asian Headquarters (2011) oder die National Strategic Special Zones  

22

375 Olympische Spiele als Impulsgeber für eine nachhaltige Stadterneuerung?…

Zahl der Gebäude in Tokio mit mindestens 10 Stockwerken: Zahl der Stockwerke nach Anzahl der Stockwerke 10 11 24.000 12 23.000 13 bis 29 22.000 30 und mehr 21.000 20.000 19.000 18.000 17.000 16.000 15.000 14.000 13.000 12.000 11.000 10.000 9.000 8.000 7.000 6.000 5.000 4.000 3.000 2.000 1.000 0

1985

1990

1995

2000

Zahl der Gebäude in Tokio mit mindestens einem Kellergeschoss: nach Anzahl der Kellergeschosse

Zahl der Kellergeschosse 1 2 3 4

2005

2010

2015

2017

72.000 69.000 66.000 63.000 60.000 57.000 54.000 51.000 48.000 45.000 42.000 39.000 36.000 33.000 30.000 27.000 24.000 21.000 18.000 15.000 12.000 9.000 6.000 3.000 0

2019

..      Abb. 22.1  Entwicklung des Hoch- und Tiefgeschossgebäudebaus in den 23 Stadtbezirken Tokios, 1985– 2019. (Nach Tokyo Metropolitan Government; versch. Jahre)

(2013). Diese sind am internationalen Standortmarketing orientiert und zielen darauf ab, Tokios Weltläufigkeit zu betonen und seine innerstädtische Attraktivität für Wohlhabendere, Kreative und High Potentials zu verbessern  – und damit einen Beitrag zur wirtschaftlichen Revitalisierung Japans insgesamt zu leisten. Die Folge dieses stateled urban renewal (Mori, 2017, S.  289) ist eine intensivere Privatisierung, Kommerzialisierung und Überwachung innerstädtischer Räume.

Die Ausbreitung kontrollierter Erlebnisund Konsumräume ist auch ein Ergebnis der Ausrichtung der Olympischen Spiele – eine kosteneskalierende Angelegenheit, wie der Blick auf die geplante und tatsächliche Mittelmobilisierung zeigt (. Abb.  22.2). Das jüngste offizielle Budget für die verschobenen Spiele 2020 beläuft sich nach Angaben des Organisationskomitees auf 1,453 Bio. Yen (11,1 Mrd. Euro, Wechselkurs am 31.12.2021), verglichen mit einem ursprünglichen Budget von knapp 830 Mrd. Yen. Das  

376

T. Feldhoff

(Mrd. Yen)

22

3.200 3.000 2.800 2.600 2.400 2.200 2.000 1.800 1.600 1.400 1.200 1.000 800 600 400 200 0

Budgetposten Infrastruktur, Sicherheit Notreserve Corona-Schutzmaßnahmen Organisation und Durchführung Sportstätten

(Mrd. Euro) 24,45 22,92 21,39 19,86 18,33 16,81 15,28 13,75 12,22 10,70 9,17 7,64 6,11 4,58 3,06 1,53 0

Kostenaufteilung 12/2021 Zentralregierung Japans Präfektur Tokio Organisationskomitee Ende 2021: 130,9 ¥ = 1 €

Bewerbung Budget V1 Budget V2 Budget V3 Budget V4 Budget V5 2013 12/2016 12/2017 12/2018 12/2019 12/2020

Schätzung/tatsächliche Kosten 12/2021

..      Abb. 22.2  Kostenentwicklung der Olympischen und Paralympischen Spiele Tokio 2020/21. (Nach Board of Audit of Japan, 2019, und Unterlagen des

Tokioter Organisationskomitees; eigene Berechnungen und eigene Darstellung)

im Dezember 2017 festgelegte Budget der Version 2  in Höhe von 1,35 Bio. Yen, das sich aus 810 Mrd. Yen für die Sportstätten (permanente, temporäre und Energiekosten) und 540 Mrd. Yen für die Organisation und Durchführung der Spiele (Transport, Sicherheit, Technologie und Betrieb, Marketing, Kommunikation und allgemeine Ausgaben) zusammensetzte, wurde in den Versionen 3 und 4 im Wesentlichen beibehalten, weil sich Erhöhungen und Kürzungen in den verschiedenen Teilen des Budgets ausglichen. Im Vergleich zum Zeitpunkt der Bewerbung haben sich die Schätzungen der Aufwendungen aber fast verdoppelt  – nach Einschätzungen vieler Beobachter Schönrechnerei, um die öffentliche Zustimmung und die Wahrscheinlichkeit der Projektgenehmigung zu erhöhen (Baade & Matheson, 2016, S.  208; Marikova Leeds, 2020). Die Corona-Pandemie führte schließlich zu einem größeren Sprung in der Version 5 des

Budgets, die sechs Monate nach der ursprünglich geplanten Durchführung der Spiele 2020 erstellt wurde. Neben dem Kostenanteil des Organi­ sationskomitees in Höhe von 634,3 Mrd. Yen tragen die Präfekturregierung Tokio und die japanische Zentralregierung die tatsächlichen Kosten (. Abb.  22.2), wobei zusätzliche Aufwendungen für weitergehende Investitionen in die öffentliche Infrastruktur (wider capital costs) sowie Kosten, die in direktem Zusammenhang mit den Spielen stehen, wie Polizei- und Sicherheitskosten außerhalb der olympischen Stätten, noch nicht einberechnet sind (Budgetposten „Infrastruktur, Sicherheit“ in . Abb.  22.2). Im Dezember 2019 hatte der japanische Rechnungshof einen Bericht über seine Untersuchung der Ausgaben im Zusammenhang mit den Spielen veröffentlicht. Demnach summierten sich in den Jahren 2013 bis 2018 die Kosten der Zentralregierung bereits  



377 Olympische Spiele als Impulsgeber für eine nachhaltige Stadterneuerung?…

auf rund 1,06 Bio. Yen – statt der offiziell genannten 150  Mrd. Yen (Board of Audit of Japan, 2019). Die Regierung wurde aufgefordert, ein höheres Maß an Kostentransparenz herzustellen. Da außerdem die Präfe­ kturregierung bereits angekündigt hatte, etwa 810 Mrd. Yen für olympiabezogene Projekte getrennt vom V3-Budget auszugeben, dürften die tatsächlichen Ausgaben bei deutlich über 3 Bio. Yen liegen. Das zeigt, dass es bei den strategischen Orientierungen der beteiligten Akteure nicht nur um die Spiele als solche, sondern auch um die Ausnutzung der Sonderbedingungen zur Durchführung von Infrastruktur- und Stadtumbaumaßnahmen im weiteren Sinne ging – und dass die nachträgliche Bilanzierung von Großprojekten selbst unter Einbeziehung externen Sachverstands nur näherungsweise möglich ist. Auf der Nutzenseite ist die Symbol- bzw. Ausstrahlungskraft der Olympischen Spiele in Verbindung mit der kommerziellen Präsentation von Urbanität kaum zu ­monetarisieren. Dabei fällt die Kostenentwicklung in Tokio, wenn die offiziellen Angaben des Tokioter Organisationskomitees zugrunde gelegt werden, nicht aus dem internationalen Vergleichsrahmen: Den Berechnungen von Flyvbjerg et  al. (2021) zufolge wurden die Kosten der Olympischen Sommerspiele zwischen 1960 und 2016 gemessen an den ursprünglichen Budgets durchschnittlich um 213  % überschritten. Sie weisen damit die höchste durchschnittliche Kostenüberschre­ itung aller Arten von Megaprojekten auf (Flyvbjerg et  al., 2002). Flyvbjerg et  al. (2021, S.  249) sprechen vom Eternal Beginner Syndrome als einer Hauptursache, das heißt fehlender Expertise der Erstaustragungsorte und entsprechender Reibungsverluste in der Projektorganisation und Stadtplanung, die aus dem Wechselmodell resultieren.

22.3 

22

Olympisches Dorf, Sportstätten- und Infrastrukturprojekte

Mehr Lebensqualität durch neue Sport- und Freizeitstätten  – das war eines der Hauptversprechen, mit denen die Organisatoren das bauliche, ökonomische und soziale Erbe der Olympischen Spiele (Legacy) angepriesen hatten (7 Kap. 8 und 24). Neben acht komplett neuen Sportstätten und zehn temporären Anlagen wurden in Tokio auch 25 bereits bestehende Anlagen in das Konzept eingebunden und für die Spiele teilweise modernisiert. Dazu gehören etwa die Kampfsporthalle Nippon Budokan und das von Kenzo Tange entworfene Nationalstadion Yoyogi als besonderes architektonisches Highlight der 1960er-Jahre. Das Stadion war seinerzeit Ausdruck der von Zukunftsoptimismus angetriebenen Metabolistenbewegung japanischer Architekten (7 Kap. 23), die unter Annahme der Planbarkeit von Gesellschaft umfassende urbane Zukunftsutopien von Großbauten und Megastrukturen entwickelt hatten  – Technikutopien, die die Grundlage für städtebauliche Konzepte wie Tanges „A Plan for Tokyo, 1960“ bildeten (Cho, 2018). Diese Vision einer kolossalen Floating City in der Bucht von Tokio wurde zwar nie realisiert, aber die schrittweise Gewinnung von Neuland in der Bucht weiter intensiviert  – und das damals noch avantgardistische Konzept des urbanen Lebens auf dem Wasser hat sich infolge des Klimawandels und des damit einhergehenden Meeresspiegelanstiegs längst als Travelling Concept in der Stadtplanung etabliert. Dieses Neuland bildete zudem eine wichtige Grundlage für das moderne Waterfront Development, das als „Tokyo Bay Zone“ (. Abb. 22.4) auch Teil des Raumkonzepts  





378

22

T. Feldhoff

der Spiele wurde. Hier befinden sich zahlreiche der neu gebauten Wettkampfstätten, die mit ihren Nachnutzungskonzepten zugleich die Nachhaltigkeit der Spiele demonstrieren: die Ariake Arena, das Kasai Canoe Slalom Centre, das Aquatics Centre oder der Sea Forest Waterway. Die Paralympics konnten weitestgehend in denselben Einrichtungen durchgeführt werden; einige mussten nur im Hinblick auf die besonderen Anforderungen der Athletinnen und Athleten, Zuschauerinnen und Zuschauer, beispielsweise an die Barrierefreiheit, modifiziert werden. Im Übergangsbereich zwischen der „Tokyo Bay Zone“ und der „Heritage Zone“, in der sich hauptsächlich die Sportstätten befinden, die bereits bei den Spielen 1964 genutzt worden waren, liegt das Olym­ pische Dorf. Sein Bau war mit dem Ziel verbunden, so heißt es in den Bewerbungsunterlagen: „The Olympic Village will become an urban residential ‚smart city pioneer model‘, where Japanese technologies are assembled.“ Die Anlage befindet sich auf einer ursprünglich in den 1930er- bzw. 1960er-Jahren geschaffenen Neulandinsel von rund 13  ha Größe im zentralen Stadtbezirk Chuo (Distrikt Harumi 5). Auf der seither mindergenutzten Fläche wurden 21 Wohnblöcke mit 14 bis 18 Geschossen gebaut, einschließlich Einzelhandelsflächen. Die gesamte Geschossfläche beträgt rund 690.000 m2, die Investitionskosten belaufen sich auf 207  Mrd. Yen (1,58  Mrd. Euro). Dieses Investment tätigte ein Konsortium von sechs Immobilienentwicklern, das den Boden zu einem vergünstigten Preis von der Stadt erworben hatte. Nach den Spielen sollen noch zwei weitere jeweils 50 Etagen hohe Gebäude im Zentrum des unter dem Namen Harumi Flag vermarkteten Geländes als Leuchttürme des Waterfront Development realisiert werden. Insgesamt werden so bis 2024 insgesamt 23 neue Gebäude und 5.650 neue Wohneinheiten entstanden sein  – das

entspricht etwa 30  % des jährlichen Wohnungsneubaus in den 23 Stadtbezirken Tokios (Feldhoff, 2020, S. 47 f.). Die günstige Lage zur Shoppingmeile Ginza (2,5  km) bzw. zum Bahnhof Tokio (3,3 km) und die guten Versorgungsmöglichkeiten sprechen für das neue Quartier. Ein Standortnachteil im Vergleich zu anderen Projekten des Stadtumbaus ist hier allerdings der ÖPNV-Zugang zum Stadtzentrum. Derzeit verfügt Harumi Flag noch nicht über einen praktischen, zeitsparenden Bahnzugang. Wäh­rend der Spiele war ein Bus-Rapid-Transit-(BRT-)System eingerichtet worden, um die Athletinnen und Athleten zum Festland zu transportieren. Aber die Frage, ob der BRT den Anforderungen des postolympischen Alltags gerecht werden kann, muss sich erst noch erweisen, wenn die projektierten Bevölkerungszuwächse realisiert sind. Dieses insbesondere durch den Zuzug junger Familien der oberen Mittelschicht und Hochqualifizierter bedingte Wachstum bringt weitere Probleme mit sich: eine Überlastung der öffentlichen Infrastruktur, insbesondere fehlende Plätze in Kinderbetreuungseinrichtungen und Schulen, schließlich Immobilienpreissteigerungen auch in angrenzenden Wohngebieten. Damit verbunden sind new-build gentrification-­ Phänomene (Mori, 2017), die zur weiteren Attraktivitätssteigerung der Waterfront beitragen werden – und dies ungeachtet des Umstands, dass die früher für Tokio typische Vielfalt der Stadtmorphologie zunehmend einer an internationalen Standards orientierten Gleichförmigkeit gewichen ist. Die baulichen Highlights der Spiele sind mit ihren repräsentativen Elementen wichtig für die Selbstdarstellung nach innen und außen. Als Sehenswürdigkeiten entfalten sie an sich dauerhaft Attraktivität, vermitteln Bekanntheit und Image (Vöpel, 2014; 7 Kap. 23). Unter den olympianahen Infrastrukturprojekten, die der Allgemeinheit zugutekommen, ist die weitere Verbesserung des öffentlichen Nahverkehrssystems hervor 

22

379 Olympische Spiele als Impulsgeber für eine nachhaltige Stadterneuerung?…

zuheben, vor allem die Erneuerung des Bahnhofs Tokio. Hier im Central Business District (CBD) der Metropole kreuzen sich zahlreiche Linien des innerstädtischen und des Intercity-Verkehrs, im Umfeld sind im Zuge des von Mitsubishi Estate bewerkstelligten Stadtumbaus attraktive Aufenthaltsflächen entstanden. Außerdem wurde die Erreichbarkeit der „Bay Zone“ durch Erweiterungen bestehender Bahnlinien und die Einrichtung neuer Bahnhöfe verbessert. Im Bereich des Straßenverkehrs wurden der Bau der zentralen Shinagawa-Route des Metropolitan Expressway (Eröffnung 2015) und der Harumi-­Route, der Nationalstraßen 357 und 14 sowie der Nord-Süd-Route der Bayshore Road zur Entlastung des Verkehrs realisiert, ferner der Ausbau der Harumi-­ Route des Tokyo Metropolitan Expressway als Zufahrtsstraße zum Athletendorf und weiter seewärts gelegener Neulandgebiete. Weniger erfreulich für die Bevölkerung im Zentrum war der Umstand, dass neue Anflugrouten des Flughafens Haneda über dicht bebautes Siedlungsgebiet geführt und die Anzahl der insgesamt an den beiden internationalen Flughäfen Haneda und Narita erlaubten Flugbewegungen deutlich ausgeweitet wurde. Tanaka et  al. (2020, S.  39) stellen als Folge davon Immobilienpreisrückgänge fest, beispielsweise in Daikanyama und S ­hirogane für Eigentumswohnungen um bis zu 25 %. Klimaschutzmaßnahmen zur Emissionsreduzierung und Klimaanpassungsmaßnah­ men durch grünes Bauen für mehr ökologische Qualität und mehr Lebensqualität im Stadtraum sind weitere wichtige Handlungsfelder (7 Kap.  8). Dabei geht es um beispielhafte Demonstrationsprojekte von ­ Technologieführerschaft: So wurde das Athletendorf in Harumi als erste „Wasserstoffstadt“ der Welt propagiert. Dazu gehörte die Installation von Wasserstofftankstellen, die langfristig zu einem flächendeckenden System weiterentwickelt werden und damit zu einer Mobilitätswende beitragen sollen. Ein anderes Projekt ist der bereits erwähnte  

Sea Forest, der auf einer aus Müll aufgeschütteten Neulandinsel (Distrikt Aomi 3) entstanden ist: Grünflächen mit Pinienwäldern in Kombination mit Sport- und Freizeiteinrichtungen. So kommen durch die Begrünung und gleichzeitige Förderung von Sport und Bewegung zwei wichtige ­Elemente urbaner Gesundheit zusammen (7 Kap.  12 und 21). Die größte Herausforderung im öffentlichen Raum ist allerdings die Barriere­ freiheit, vor allem der Schienenbahnhöfe. Diesbezüglich sollten die Paralympics Maßstäbe setzen, um zu zeigen, wie soziale In­ klusion gelingen kann und wie Menschen mit Behinderungen mehr Selbstständigkeit bei der Bewältigung ihres Alltags erlangen können. Neben der Realisierung zum Teil lange überfälliger Bahnhofserneuerungen wurde hauptsächlich der Einsatz behindertengerechter Taxis gefördert, beispielsweise für die Rollstuhlbeförderung. Diese Maßnahmen waren auch für Japans schnell alternde Gesellschaft und die gesellschaftlichen Teilhabemöglichkeiten der Senioren von großer Bedeutung. Stadtumbaumaßnahmen in Tokio hängen immer auch mit Verbesserungen des Katastrophenschutzes zusammen, weil sie beispielsweise neueste Bautechnologie und die Schaffung öffentlich zugänglicher Freiflächen mit einbeziehen. Im Zuge der Olympischen Spiele wurden zahlreiche Projekte zur Verbesserung des Küstenschutzes und des Informationsmanagements im Katastrophenschutz, einschließlich des kostenlosen öffentlichen WLAN-Netzes, sowie Maßnahmen zum Infektionsschutz und zur Einreisekontrolle umgesetzt. Speziell für das Athletendorf wurden Hochwasserbarrieren und Videoüberwachungssysteme (auch zur Terrorabwehr) installiert, außerdem Projekte zur Verbesserung der Cybersicherheit finanziert. Angesichts der Dichte der Bebauung und des hohen Marktwerts von Grundstücken ist die Schaffung zusätzlicher öffentlicher Freiflächen in Kombination mit der Neuordnung von Evakuierungskonz­  

380

22

T. Feldhoff

epten mit Fluchtwegen und Sammelplätzen eine wichtige Maßnahme, die sich die Privatinvestoren freilich durch zusätzliche Gesch­ ossflächen kompensieren lassen. Die neuen Gebäude gelten als erdbeben- und feuerresistent  – und tragen in Kombination mit Maßnahmen zur Luftverbesserung (insbesondere Feinstaubreduzierung und klimafreundliche Mobilität) auch dazu bei, ein sicheres Umfeld für Bevölkerung, Touristinnen und Touristen sowie Investoren zu schaffen. Gebiete mit Neubauten zeichnen sich daher durch besonders hohe Immobilienpreise aus, was Tendenzen zu einer kleinräumigen sozialen Segmentierung der Stadt weiter verstärkt hat (Tanaka et  al., 2020, S. 42 ff.).

Minato sowie des Waterfront-­ Bereichs des Stadtbezirks Koto sind allerdings kein neues Phänomen (. Abb.  22.3)  – sie sind bereits seit den frühen 2000er-Jahren festzustellen und haben durch den Stadtumbauboom seit 2013 eine zusätzliche Dynamik erfahren (Hanakata, 2020). Die Wohnungsbauaktivitäten des Privatsektors konzentrieren sich im inneren Stadtgebiet auf prestigeträchtige, verkehrsgünstige Lagen mit guter Anbindung an ein attraktives Bahnhofssubzentrum (z.  B. Aoyama Park Tower und Shibuya Scramble Square in der Nähe von Shibuya, Tokyo Midtown Hibiya in der Nähe von Yurakucho). Da das neue Wohnungsangebot überwiegend in Hochhäusern mit mindestens 20 Stockwerken mit einem Schwerpunkt auf Eigentumsbildung entstanden ist (. Abb. 22.1), sind kleinräumige Bevölkerungsverlagerungen festzustellen (. Abb.  22.4). Hanakata (2020, S.  204) spricht von Manshon Urbanization. Die Neubaugebiete sind häufig mit dem Ausbau neuer ÖPNV-­Angebote verbunden (z. B. der Yurikamome- oder der Rinkai-Linie) und finden sich punktuell längst auch in der Unterstadt (Shitamachi) östlich des Sumida-Flusses – einem Gebiet, das Hanakata (2020, S. 140) noch als „the guardian of the city’s old traditions“ bezeichnet. Unter Aspekten der soziokulturellen Nachhaltigkeit  



Stadtumbau und Bevölkerungsverlagerungen

22.4 

Im Zuge der Vergabe der Spiele 2013 an Tokio sind zahlreiche Leuchtturmprojekte und Schaufensterzonen einer unternehme­rischen Stadtpolitik entstanden, die die sichtbaren Zeichen einer vom Hochhausbau getriebenen Reurbanisierung sind. Intrametropolitane Bevölkerungsverlagerungen zugunsten der zentralen Stadtbezirke Chuo, Chiyoda und



(Mio. Einwohner) 14 12 10 8

Stadtbezirke Chuo-ku, Chiyoda-ku; Minato-ku, Koto-ku übrige 19 Stadtbezirke (ku) übrige Präfektur Tokio

6 4 2 0

1995

2000

2005

2010

2015

2020

..      Abb. 22.3  Bevölkerungsentwicklung Tokios: Präfektur (Tokyo-to), 19 Stadtbezirke und vier zentrale Stadtbezirke (Chuo, Chiyoda, Minato, Koto), 1995–

2020. (Nach Statistiken des Tokyo Metropolitan Government; eigene Berechnungen und Darstellung)

381 Olympische Spiele als Impulsgeber für eine nachhaltige Stadterneuerung?…

22

Durchschnittliche jährliche Bevölkerungsveränderung 2000 bis 2020 in % über 0,66 0,33 bis 0,66 0,02 bis 0,33 - 0,02 bis 0,02 - 0,33 bis -0,02 - 0,66 bis -0,33 unter -0,66 ..      Abb. 22.4  Bevölkerungsentwicklung Tokios auf Stadtviertelebene, 2000 bis 2020 (in %). (Nach Volkszählungsdaten; 7 https://www.­toukei.­metro.­tokyo.­

lg.­jp/juukiy/jy-­index.­htm; Berechnungen und Kartographie: Roman Fritz)

sind diese Entwicklungen bedenklich, weil für renditeorientierte Investoren und Eigentümer die Grundstücke und Gebäude in erster Linie Anlageobjekte sind, die Bauwirtschaft an lukrativen Aufträgen interessiert ist, während stadtteilorientierte kleine Kulturen verschwinden (Marikova Leeds, 2020). Dass ein räumlicher Schwerpunkt der neuen Sportanlagen und auch des privatwirtschaftlichen Investments an der Water­ front liegt, lässt sich mit der Attraktivität wassernaher Lagen und auch mit dem Umstand erklären, dass es sich hier in der Regel um regelmäßig parzellierte Neulandflächen

mit übersichtlichen Besitzverhältnissen handelt. Das heißt, die Developer können zeit- und kostenintensive Aushandlungsprozesse mit einer Vielzahl von Grundbesitzern, die typisch für Umbauprojekte im Bestand sind, vermeiden. Das gilt auch für größere innerstädtische Brachflächen, ehemalige Hafenareale und Gelände erneuerungsbedürftiger öffentlicher Wohnanlagen, die nicht nur für neue Wohnungen, sondern auch für Gewerbeflächen für kreative Berufe (z.  B.  Videogaming im Stadtbezirk Ota) umgenutzt wurden (Hanakata, 2020, S. 190 f.).



382

22

T. Feldhoff

Die Attraktivität des Mikrostandorts ist aus der Sicht der Investoren also letztlich entscheidend für Stadterneuerungsmaß­ nahmen, der konkrete Bezug zu den Olympischen Spielen nachrangig. Ziel ist die Errichtung multifunktionaler Quartiere, zum Teil in Verbindung mit Maßnahmen zur Verbesserung der Sicherheit durch die Beseitigung dicht bebauter Bereiche mit Holzgebäuden und/oder schlechter Wohnqualität, auf der Grundlage einer funktionalen Nutzungs- und Bodenpreisdifferenzierung in der Vertikalen. Neben der Symbolkraft der besonderen architektonischen Gesta­ ltung zielen Vermarktungskampagnen über Images auf qualifizierte Gruppen der Gesell­ schaft. Damit verbunden ist auch die weitere Entwicklung der Stadt zur Bühne im Rahmen von Festivalisierungstendenzen. Die Projekte führen außerdem zu einer großflächigen Privatisierung des öffentlichen Raums im Kernbereich der Metropole, der zwar in weiten Teilen allgemein zugänglich bleibt, aber von konsumkräftigen Gruppen der Gesellschaft dominiert und von Sicherheitssystemen bzw. -diensten überwacht wird (Feldhoff, 2021). Die enge Kooperation der öffentlichen Hand mit starken Akteuren der Bau- und Immobilienwirtschaft sowie die geschickte gemeinsame Instrumentalisierung des Narrativs der nachhaltigen Spiele waren entscheidend für die Vermeidung größerer Konflikte bei der Planung und Umsetzung. Auf informellen Aushandlungsprozessen basierende kooperative Verhandlungssysteme sowie marktförmige Steuerungsprinzipien, insbesondere Anreizsysteme für Geschossflächenboni, sind weiterhin entscheidende Instrumente des Stadtumbaus. Aufgegriffen wurden aber zunehmend olympische Nachhaltigkeitsthemen wie urbanes Grün in Form begrünter Häuserfassaden und Dächer oder öffentlich zugänglicher Parkanlagen, möglichst in Kombination mit vernetzenden blauen Infrastrukturen. Die wertvollen Funktionen urbaner Grün- und Wasserflächen im Hinblick auf durch den

Klimawandel verstärkte urbane Hitzeinseleffekte werden unter dem Begriff Öko­ systemdienstleistungen ­(ecosystem services) zusammengefasst (Albert et al., 2022). Probleme aufgrund altersselektiver Fortzüge und steigender Leerstandsquoten ergeben sich hingegen in weniger attraktiven Quartieren. Betroffen sind davon vor allem Wohnungen in Mietshäusern in Holz- oder Leichtmetallbauweise sowie suburbane Außenbereiche des Metropolraums in weniger verkehrsbegünstigten Lagen mit Wohnungsbeständen, die den Familienlebenszyklus durchlaufen haben. 22.5 

Fazit und Ausblick

Kenzo Tanges visionäre Vorstellungen von der Stadt als vernetztes System für Mobilität, Fluidität und Interkonnektivität haben an Aktualität nichts verloren. In gewisser Weise scheint Tanges Plan für die Bucht von Tokio in aktuellen Diskursen über die Smart City ein Vermächtnis zu finden, weil er bereits Architektur und Stadt als Ausdruck intelligent vernetzter Verkehrs-, Kommunikations- und Informationsnetzwerke verstand (Cho, 2018, S.  149). Sie sind von zentraler Bedeutung für den modernen Stadtumbau, wobei das Bemühen der Akteure unverändert auf eine möglichst effiziente Ausnutzung des knappen Bodens gerichtet ist. Das bedeutet konkret ein primär an den Interessen der Bau- und Immobilienwirtschaft ausgerichtetes Streben nach vertikaler Expansion im Kontext von Reurbanisierung und kompakter Multifunktionalität. Dagegen haben zivilgesellschaftliche Eige­ ninitiative und Partizipation im Quartier im Kontext des die Olympischen Spiele begleite­ nden Stadtumbaus praktisch keine Rolle gespielt. Die Entstehung von „privatized, commercial, and sanitized post-­industrial spaces“, die Giulianotti et al. (2015, S. 103) im Londoner Osten beobachtet haben (7 Kap. 8), findet sich heute auch in großer Zahl in Tokio. Auseinandersetzungen um die Nutzungs 

383 Olympische Spiele als Impulsgeber für eine nachhaltige Stadterneuerung?…

und Aneignungsweisen städtischer Räume haben keine breitenwirksame Bedeutung erlangt, weil offenbar die langfristigen Vorteile für die Bewohnerschaft im Sinne des Nutzenkriteriums nach Groth (1992) überwiegen und zugleich die positiven Botschaften der Handlungsnarrative des Stadtumbaus den öffentlichen Diskurs bestimmen. Die „Demonstration des Machbaren“ hat insofern auch in Tokio politische Mehrwerte erzeugt (Van Laak, 2018, S. 196). Dabei bieten die bereits vorhandene Funktionsmischung und die Umnutzung innerstädtischer Brachflächen gute Voraussetzungen für eine nachhaltige Stadtent­ wicklung: durch die Bereitstellung innerstädtischen Wohnraums, die Umsetzung des Leitbildes einer Stadt der kurzen Wege, hervorragende ÖPNV-Anbindungen, durchaus noch erweiterungsfähige Bindungspflichten zur Sicherung sozialer und ökologischer Belange. Insofern ist das Bemühen erkennbar, die Wohn- und Lebensqualität in den Quartieren auch durch eine spürbare Verbesserung ihrer ökologischen Qualitäten zu erhöhen. Investitionen in urbanes Grün werden für die Gesundheit der Menschen aufgrund des zunehmenden urbanen Hitzestresses weiter an Bedeutung gewinnen. Derzeit sind diese Bemühungen zwar noch eher kleinteilig im Sinne grüner Imageprojekte wahrnehmbar, sie gehen aber über die traditionellen Pocket Park- und Topfgartenkulturen hinaus und positionieren Tokio als Reallaboratorium zukunftsgerichteter Problemlösungsversuche. Die angesprochenen Konzentrationsprozesse innerhalb des Agglomerationsraums haben zur Folge, dass Ballungsrisiken und Probleme einer auf Katastrophenschutz ausgerichteten Stadtplanung (Freiflächen, Brand- und Hochwasserschutz) noch zunehmen werden. Der Mangel an inner-

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städtischen Freiräumen ist schon lange als Problem im Hinblick auf Erdbebengefahr und Katastrophenprävention erkannt, aber der Gestaltungsspielraum der Stadtplanung ist eingeschränkt, weil Eigentums- und Finanzierungsfragen Hindernisse aufwerfen. Die innere Stadterweiterung durch Nachverdichtung und Ausweichen in die Vertikale bedeutet zudem aufgrund der Vielzahl gleichförmiger Projekte und des demographischen Wandels mittelfristig möglicherweise eine Immobilienblase, heute schon einen Bedeutungsverlust der Stadterhaltung. Es entstehen neue Bevölkerungsschwerpunkte mit gesellschaftlichen Exklusionstendenzen, die von kleinräumig wirksamen soziotechnischen Transformationsprozessen profitieren, in deren Zuge auch die der natürlichen Alterung un­ terliegenden Infrastrukturen erneuert werden. Die Olympischen Spiele haben diese bereits laufenden Prozesse beschleunigt und zugleich die Gefahr des breitenwirksamen Hervortretens einer kritischen Öffentlichkeit, die sich gegen Auswüchse der unternehm­ erischen Stadt wendet, abgewehrt. ? Übungs- und Reflexionsaufgaben 1. Warum ist Tokio ein besonders gutes Beispiel für das Konzept der unternehmerischen Stadt? 2. Wie bewerten Sie die Nachhaltigkeit des Stadtumbaus in Tokio im Kontext der Olympischen Spiele?

Zum Weiterlesen empfohlene Literatur Browne, J., Frost, C., & Lucas, R. (Hrsg.) (2019). Architecture, Festival and the City. Routledge. Gold, J.  R., & Gold, M.  M. (Hrsg.) (2017): Olympic Cities: City Agendas, Planning and the World’s Games, 1896– 2020. Routledge.

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T. Feldhoff

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385 Olympische Spiele als Impulsgeber für eine nachhaltige Stadterneuerung?…

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387

Stadtentwicklung und Stadionarchitektur Gabriel M. Ahlfeldt und Wolfgang Maennig

Max-Schmeling-Halle und Velodrom in Berlin an der Landsberger Allee im Prenzlauer Berg, Stadtbezirk Pankow. (© Bernd Clemens/euroluftbild.de/ZB/picture alliance)

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Gans et al. (Hrsg.), Sportgeographie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66634-0_23

23

Inhaltsverzeichnis 23.1

Status quo der Stadionarchitektur – 389

23.2

Ikonische Architektur – 391

23.3

Stadionarchitektur im Wandel – 392

23.4

 usstrahlungseffekte gebauter Umwelt – empirische A Messungen – 394

23.5

Fazit – 401 Literatur – 402

389 Stadtentwicklung und Stadionarchitektur

Einleitung Spätestens seit der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 stecken deutsche Stadien voller technischer Innovationen und werden hohen Anforderungen an Komfort und Sicherheit gerecht. Dagegen bleibt ihr Design meist konventionell und funktional. Dabei zeigen internationale Beispiele, wie unkonventionelle, teils ikonische Stadionarchitektur dazu genutzt werden kann, neue Wahrzeichen zu erzeugen und erfolgreiche Stadtentwicklungspolitik zu betreiben. Die empirische Evidenz deutet darauf hin, dass gelungene Architektur nicht nur eine betriebswirtschaftliche Komponente hat, sondern auch positive Ausstrahlungseffekte beinhaltet. Dieser Beitrag diskutiert den derzeit beobachtbaren Wandel in der internationalen Stadionarchitektur und zeigt wichtige Strömungen anhand ausgewählter Beispiele auf. Zudem wird ein Zugang zur Quantifizierung von Wohlfahrtseffekten gebauter Umwelt vorgestellt und ein Überblick über die empirische Evidenz für Ausstrahlungseffekte gebauter Umwelt im Allgemeinen und Sportstätten im Besonderen gegeben.

23.1 

 tatus quo der S Stadionarchitektur

Oftmals hat die Bevölkerung einer Stadt, beispielsweise aufgrund sportlicher Erwägungen, insgesamt eine positive Haltung zu einem Stadion. Allerdings gilt dies weniger in der Wahrnehmung der unmittelbaren Anwohnerinnen und Anwohner der Stadi­ onneubauten; letztere werden regelmäßig von Bürgerprotesten begleitet: ein typischer Not in my Backyard-Fall (NIMBY)? „Ein Stadion  – gerne, aber nicht bei uns“? Beispielsweise schildert Tu (2005), wie der Neubau des FedExField, heute Heimstätte der Washington Commanders, einem NationalFootball-League-Team in den USA, erst im

23

vierten ernsthaften Anlauf und auch dann nur gegen den Willen der Anwohnerinnen und Anwohner durchzusetzen war. Offensichtlich sind die verschiedenen wirtschaftlichen und sozialen Wirkungen eines Stadionneubaus in der unmittelbaren Umgebung in der Wahrnehmung der dort wohnenden Bevölkerung oft negativ. Wesentliche Gründe mögen ein erhöhtes Verkehrsaufkommen und andere Begleiterscheinungen eines Massenbesuchs von Sportfans sein (7 Kap.  18 und  24). Und diese negativen Wirkungen werden offensichtlich nicht im­ mer durch die Ausstrahlungseffekte einer gelungenen Architektur und/oder die dadurch in der Umgebung geschaffenen Aufenthaltsqualitäten ausgeglichen. Beispiel Deutschland: Zwar liegt die Schönheit immer auch im Auge des (liebenden) Betrachters – aber in Deutschland sind seit der Wiedervereinigung nur wenige herausragende Stadionarchitekturen mit überregionaler Strahlkraft und städteplanerischer Ästhetik entstanden. Dies gilt auch für die bislang letzte große deutsche Chance, die Fußball-WM 2006  – von der Münchner Allianz Arena (. Abb. 23.1) vielleicht abgesehen. Den Clubmanagern ist dabei weniger ein Vorwurf zu machen: Sie haben die Aufgabe, die Budgets für ihre Mannschaften zu maximieren. Hierzu müssen sie ihre Ausgaben auf das beschränken, was zur Zufriedenheit der Fans nötig ist. Ihre Aufgabe ist es auch nicht, Stadt- und Regionalpolitik zu betreiben, eine städteplanerisch interessante Architektur zu machen und regionalwirtschaftliche externe Effekte zu realisieren, von denen ihre Vereinskasse nichts hat. Verantwortlich für solche stadtentwicklungsbezogenen Ambitionen sind die kommunalen Entscheidungsträger, die gegebenenfalls auch für die Finanzierung etwaiger Mehrkosten für eine anspruchsvollere Architektur (und ggf. bessere Standorte) sorgen sollten. Notabene: Mün 



390

G. M. Ahlfeldt und W. Maennig

Olympiastadion München Architekten: Behnisch & Partner

23

Eröffnung 1972 (© Hans und Christa Ede / stock.adobe.com)

Allianz Arena München Architekten: Herzog & de Meuron Eröffnung 2005 (© uslatar / stock.adobe. com)

National Stadium Beijing Architekten: Herzog & de Meuron Eröffnung 2008 (© calvin86 / stock.adobe.com)

Moses Mabhida Stadium Durban Architekten: gmp Gerkan, Marg und Partner Eröffnung 2009 (© ShDrohnenFly / stock.adobe.com)

..      Abb. 23.1  Beispiele ikonischer Stadionarchitektur

23

391 Stadtentwicklung und Stadionarchitektur

chens Arena hat rund 280  Mio. Euro gekostet, während der Durchschnitt der restlichen WM-­Stadien bei rund 100 Mio. Euro lag (Ahlfeldt et  al., 2010). Angesichts der leeren kommunalen Kassen und der in der Bevölkerung vermehrt anzutreffenden Haltung, dass man den Fußball-Millionarios keine öffentliche Unterstützung geben solle, fallen derartige Zuschüsse den Politikern allerdings schwer.

23.2 

Ikonische Architektur

Die Zurückhaltung bei den gestalterischen Ambitionen von Stadionbauten in Deutschland verwundert vor dem Hintergrund, dass sich in den letzten drei Dekaden weltweit ein breiter architektonischer Trend zu ikonischen Bauten aller Nutzungsarten mit positiver Ausstrahlung und überregionaler Anziehung­ skraft materialisiert, der den Wirkungen des Opernhauses in Sydney, des Centre Pompidou in Paris oder des Guggenheim-­Museums in Bilbao nacheifert. Aufbauend auf Jencks (2005, 2006, 2007), McNeill (1999, 2007) und Sklair (2005, 2006), stellen wir in . Tab.  23.1 eine kurze und nicht erschöpfende Liste der wesentlichen Hauptmerkmale ikonischer Gebäude zusammen: Die Bauwerke befinden sich in der Regel in fußläufiger Entfernung zum Stadtzentrum und oft an einem Gewässer. Sie zeichnen sich durch eine Architektur aus, die zumindest zum Zeitpunkt der Planung höchst innovativ, oft scheinbar unpraktikabel und nicht funktional, aber einzigartig ist. Oft sind die Pläne so unkonventionell, dass sich unter den Bürgern wütender Widerstand aufbaut, der aber allmählich in ein Gefühl von regionalem Stolz und Identifikation umschlägt (7 Kap. 18). In jedem Fall zielen die Städte darauf ab, sich „auf die Landkarte zu setzen“, und damit auf ein Image, dessen Effekte zu langfristigen Steigerungen im Tourismus und damit einhergehenden steti 



..      Tab. 23.1  Ikonische Gebäudemerkmale. (Nach Jencks, 2005, 2006, 2007; McNeill, 1999, 2007; Sklair, 2005, 2006) Architektur

Innovatives und verdichtetes Erscheinungsbild, bewusst abweichend von existierenden Gebäuden, oft hoch in figuraler Form

Reminiszenz

Metaphorischer Charakter, Gemeinsamkeiten mit Dingen, die das Gebäude und die Umgebung repräsentieren

Städtebau

Dominiert die umgebende Bausubstanz

Standort

In der Regel an exponierten, zentralen Standorten, oft an Wasserfronten

Prominenz des Architekten

Hohe Reputation durch gewonnene Preise und Medienpräsenz, weniger durch Umsätze

Nutzung

Traditionell öffentliche Nutzung, insbesondere von Kunst und Kultur, aber auch von Verwaltung und Kirchen, zunehmend private Nutzung, vor allem für Büros, neuerdings Sportarenen

Planungsziele

Strategie der Stadtentwicklung, oft im Zusammenhang mit Stadtsanierung, Schaffung von globalen Referenzen, Attraktion von Touristen

gen Einnahmen führen können (7 Kap. 13). Sklair (2005) stellt fest, dass sich auf seiner Liste von 27 ausgewählten ikonischen Gebäuden, die von Pritzker-Preisträgern im Zeitraum 1979 bis 2004 entworfen wurden, 13 auf Gebäude für Kunst und Kultur beziehen, neun öffentliche Einrichtungen oder Non-Profit-Institutionen, z. B. Kirchen und Schulen beherbergen, während nur fünf Gebäude ein eindeutig kommerzielles Profil haben. Zu den Beispielen ikonischer Architektur gehören auch kulturelle Wahrzeichen wie die Elbphilharmonie in Hamburg und  

392

G. M. Ahlfeldt und W. Maennig

der Erweiterungsbau der Tate Modern in London (beide vom Architekturbüro Herzog & de Meuron entworfen), die zur Aufwertung der HafenCity in Hamburg bzw. der South Bank in London beitragen sollen.

23

rolle inne (. Abb. 23.1).2 Als Leuchtkörper, der die Vereinsfarben der (damaligen) Heimmannschaften FC Bayern und TSV 1860 München aufnimmt, erstrahlt sie einerseits unverwechselbar und weithin sichtbar an der Einfahrt zur Stadt München (7 Kap. 2). Weitgehend freistehend bekommt die Arena einen monolithischen Charakter, der die Wirkung noch unterstützt. Andererseits ist die Isolation des Stadions die große Schwäche des Standorts. An der urbanen Peripherie gelegen, nur umgeben von Autobahnen und Entsorgungsinfrastrukturen, müssen Entwicklungsimpulse in die Umgebung weitgehend verpuffen. Es gibt aber Beispiele für eine gelungene Integration in die Stadtstrukturen wie die Sportstätten für die Olympischen Spiele 1992  in Barcelona. Architekten wie Calatrava (Fernmeldeturm Montjuic), Gregotti (Wiederaufbau des Montjuic-Stadions), Pei (Internationales Handelszentrum) und Isozaki (Palau Sant Jordi) wurden für die Gestaltung der olympischen Wettkampfstätten und der begleitenden Projekte ausgewählt. Viele Vorhaben wurden im Hinblick auf die Zeit nach den Spielen optimiert (Brunet, 1993), sodass ein eindrucksvolles Beispiel entstand, wie Megasportereignisse für Stadtentwicklung genutzt werden können  



23.3 

Stadionarchitektur im Wandel

Auch wenn aufregende, innovative Architektur immer noch in erster Linie mit repräsentativen Kulturprojekten assoziiert wird, bleibt sie keineswegs darauf beschränkt. Das Olympiastadion in München (von Behnisch & Partner) ist eines der berühmtesten Symbole der Stadt (. Abb. 23.1); auf der Brache des ehemaligen Flughafengeländes ist ein beliebtes Wohn- und Gewerbegebiet entstanden.1 Der Palau Sant Jordi in Barcelona (von Arata Isozaki), das neue Wembley-Stadion in London (Architekturbüro Foster and Partners), Moses Mabhida Stadium in Durban (Architekturbüro gmp) sowie das Beijing National Stadium (Architekturbüro Herzog & de Meuron; . Abb.  23.1) bedienen sich ikonischer Elemente, um einen Wiederkennungswert für die Stadien und neue Wahrzeichen für ihre Städte zu schaffen. Unter den deutschen WM-Stadien hat die Münchner Allianz Arena eine Sonder 



1

Interessante Stadionprojekte aus dem frühen oder mittleren 20. Jahrhundert sind die La Bombonera in Buenos Aires, die Azteca in Mexiko-Stadt oder das Maracanã in Rio de Janeiro. Zahlreiche Beispiele finden sich bei Nerdinger (2006) und Stürzebecher und Ulrich (2002), die auch interessante Beispiele der Architektur von Sportstätten diskutieren.

2 Auch das Kölner RheinEnergieSTADION ist hervorzuheben. Der von gmp gestaltete Neubau folgt in seiner puristischen Materialauswahl und funktionalen Form den Idealen der klassischen Moderne. Das Dach wird von vier in den Tribünenecken platzierten 72 m hohen stählernen Gitter-Pylonen getragen, die mit Hängeseilen miteinander verbunden sind und sich bei Dunkelheit in helle Leuchtkörper verwandeln. Zur Weihnachtszeit, wenn die Leuchtpylonen passend zur Adventszeit geschaltet werden, wird das Rhein­ EnergieSTADION zu Deutschlands größtem Adventskranz.

393 Stadtentwicklung und Stadionarchitektur

(7 Kap.  8, 9 und  21). Barcelonas Engagement für Architektur und Stadtentwicklung hat das Royal Institute of British Architects überzeugt, mit seinen seit 1848 geltenden Grundsätzen zu brechen und (s)eine königliche Goldmedaille an eine Stadt und nicht an eine Einzelperson zu verleihen. Auch das Moses Mabhida Stadium in Durban, ein Stadion für bis 70.000 Zuschauer, das für die Fußball-­Weltmeisterschaft 2010 in Südafrika errichtet wurde, nimmt explizit Bezüge zur Stadtstruktur auf (Maennig & Schwarthoff, 2006). Das Moses Mabhida Stadium wurde als Keimzelle für die Entwicklung eines städtischen Areals betrachtet und sollte Durban zu einer der führenden Sportstädte des afrikanischen Kontinents entwickeln. Hierzu konzipierte das beauftragte Architekturbüro gmp das ikonische Element des monumentalen Bogens, welcher das Stadion der Länge nach überspannt und die Dachkonstruktion trägt. Indem sich der Bogen in seinem Verlauf teilt, zitiert er die Flagge der Republik Südafrika und bietet sich als Symbol nationaler Identitätsstiftung an. Der Bogen ist begehbar, womit das Stadion auch unabhängig von großen Sportevents als Anziehungspunkt für Touristenströme wirken und damit zur Belebung des gesamten städtischen Areals beitragen soll. In solchen Fällen sollen die Stadien das fragile urbane Gleichgewicht nicht sprengen, sondern sich in bestehende Stadtstrukturen einfügen und diese behutsam bereichern. Die Architektur kann sich selbst zurücknehmen und im Detail dennoch auf Qualität setzten. Damit wird die Architektur in gewisser Weise funktional, jedoch nicht im betriebswirtschaftlichen Sinne, sondern indem sie die örtlichen Zwänge annimmt und die Bedürfnisse der Anwohnerinnen und Anwohner adressiert. Gerade in dicht besiedelten innerstädtischen Gebieten hat es bisweilen Sinn, urbane Räume zu schaffen oder zu verbinden, anstatt dominante  

23

Monolithen – und seien sie ästhetisch auch noch so anspruchsvoll – zu platzieren. Weitere Beispiele sind hier die Berliner „Olympiahallen“, welche im zeitlichen Zusammenhang mit Berlins Bewerbung für die Olympischen Spiele 2000 als Wettkampfstätten für Radrennen sowie Box- und Schwimmwettkämpfe konzipiert wurden (Kapiteleröffnungsbild). Innerstädtische Are­ ale in Berlin, wie Prenzlauer Berg, die zu Beginn der 1990er-Jahre in einem desolaten baulichen Zustand waren, wurden als Standorte für die Hallen ausgewählt. Aus internationalen Wettbewerben gingen Entwürfe als Sieger hervor, die erstaunliche Gemeinsamkeiten aufweisen. Dominique Perrault (Velodrom und Schwimmhalle), der mit seinem Entwurf für die französische Natio­ nalbibliothek bekannt wurde, und das damals weitgehend unbekannte Team um Albert Dietz und Jörg Joppien (Max-Schmeling-­ Halle) setzten unabhängig voneinander auf ein Konzept, das die Architektur verschwinden lässt, indem die Hallen zum großen Teil in der Erde versenkt wurden. Dies geschah nicht aus wirtschaftlichen Zwängen – die Projekte wiesen vielmehr besonders hohe Baukosten auf.3 Es ging den Architekten darum, in einem dicht besiedelten Gebiet Berlins neue öffentliche Räume zu schaffen und die Hallen in ein (Grün-)Flächenkonzept einzubetten. Die Max-Schmeling-Halle besitzt lediglich nach Norden eine klassische Glasfassadenfront, während ihre Südseite in einen begrünten Schuttberg eingebettet ist und nach Westen und Osten die ebenfalls begrünte Dachstruktur bogenförmig in die umliegenden Parkanlagen übergeht. Von der Straße aus betrachtet sind Velodrom und 3 Die Baukosten betrugen 205  Mio. DM für die Max-Schmeling-Halle sowie 545  Mio. für das Velodrom (Myerson & Hudson, 2000; Perrault & Ferré, 2002).

394

23

G. M. Ahlfeldt und W. Maennig

Schwimmhalle kaum sichtbar, weil sie in ein künstlich angelegtes 17  m hohes Tableau eingelassen sind und dieses nur um jeweils 1 m überragen. Erst nach Betreten dieses Tableaus, das von einer mehrere Hundert Meter langen Treppe eingerahmt wird und dem Vorbild der Nationalbibliothek entliehen ist, eröffnet sich dem Besucher der Anblick der in eine metallische Außenhaut gekleideten Hallen. Diese sind in eine parkähnliche Landschaft mitsamt 350 teils deutschen, teils französischen Apfelbäumen eingebettet. Perraults Pläne für Velodrom und Schwimmhalle wurden 1999 von der Jury des Deutschen Architekturpreises mit dem zweiten Platz belohnt. Zwei Jahre später erhielt die Max-Schmeling-Halle eine IOC/IAKSGoldmedaille, die vom Internationalen Olympischen Komitee sowie der Internationalen Vereinigung Sport- und Freizeiteinrichtu­ ngen e.  V. für herausragendes Design und Funktionalität vergeben wird. Ein letztes Beispiel für moderne, ästhetisierte, stadtorientierte Stadionarchitektur ist der St. Jakob-Park in Basel (Architekturbüro Herzog & de Meuron), wo das Stadion hinter einer zeitlos schlichten Fassade verschwindet, die das Stadion von außen kaum noch als solches erkennbar macht und sich

damit nahtlos in die Stadtstruktur einfügt. Einen ikonischen Charakter bekommt dieses Stadion bei Dunkelheit, wenn die Galerie entweder in den Vereinsfarben des FC Basel erstrahlt oder weiße Schweizerkreuze vor rotem Hintergrund zeigt. Die selbst strahlende Fassade wurde von denselben Architekten auch in anderen Projekten wie der Allianz Arena aufgenommen.

23.4 

Ausstrahlungseffekte gebauter Umwelt – empirische Messungen

. Tab.  23.2 fasst die im vorigen Abschnitt beschriebenen erwarteten externen Kosten und Nutzen, ihre möglichen Wirkungsbereiche sowie die Variablen zusammen, durch die Effekte messbar werden können. Für die monetären externen Effekte, welche durch die ikonische Stadionarchitektur hervorgerufen werden können, eignen sich Analysen der lokalen Einkommens- und Beschäftigungsstatistiken. Für die oft als intangibel genannten Ausstrahlungseffekte eignen sich insbesondere Analysen von Immobilienpreisen und von Volksabstimmungen.  

.       Tab. 23.2  Externe Effekte von ikonischen Stadionbauten Architektur

Sonstiges

Ökonomische Messvariablen

Monetäre Effekte (lokal und auf Ebene der Metropolregion)

Ausgaben von Touristen, die ikonische Architektur besuchen

Baubedingte Mehreinnahmen der lokalen Bauindustrie; Opportunitätskosten der Investitionen

Einkommen, Beschäftigung

Intangible wirtschaftliche Effekte (lokal und auf Ebene der Metropolregion)

Ausstrahlungseffekte der gebauten Umwelt; Imageeffekt; erhöhte Identifikation von Bürgern und Fans; Stolz auf ein neues Wahrzeichen

Aufbruchsignale für zukünftige Entwicklungen

Immobilienpreise, Ergebnisse von Abstimmungen

395 Stadtentwicklung und Stadionarchitektur

Mit der Realisierung solch anspruchsvoll gestalteter Sportanlagen gehen vergleichsweise große Investitionsvolumen einher, die kaum rein privat finanzierbar sind. Der Einsatz öffentlicher Mittel muss wohlfahrtsökonomisch gerechtfertigt werden, insbesondere wenn darunter die Finanzierung anderer Belange im Gesundheitswesen oder im Bildungsbereich oder auch im Breitensport leidet (7 Kap. 2, 10, 12 und 22). Können also vor diesem Hintergrund erhöhte Investitionen in die Architektur moderner Sportarenen gerechtfertigt werden? Sind die dafür ausschlaggebenden Ausstrahlungseffekte gebauter Umwelt im Allgemeinen und anspruchsvoll gestalteter Sportanlagen im  

Besonderen überhaupt messbar? Die Quantifizierung dieser externen Effekte ist aus ökonomischer Sicht zum einen über die Preise möglich, welche Informationen über die Zahlungsbereitschaft der Marktteilnehmer für sämtliche Attribute einer Immobilie inklusive ihrer Lage beinhalten. Nach den in der empirischen Stadt- und Immobilienökonomie üblichen Annahmen hedonischer Modelle (Rosen, 1974) beinhalten die Gleichgewichtspreise von Immobilien Informationen über die Zahlungsbereitschaft für alle Attribute einer Immobilie einschließlich ihrer Lage. Erhöht sich die Lageattraktivität infolge einer städtebaulichen Maßnahme, so erhöhen sich monetär messbare Werte.

Box 23.1 Multivariate Verfahren – hedonische Modelle

Hedonische Preismodelle bzw. -schätzungen von Immobilien sind multivariate Regre­ ssionsschätzungen, die versuchen, alle wesen­ tlichen Einflüsse auf den Wert einer Immobilie zu berücksichtigen. Üblicherweise werden diese Faktoren in die sogenannten Strukturdeterminanten (Größe, Anzahl der Zimmer, Existenz eines Balkons, Baujahr etc.), die Lagedeterminanten (Entfernung vom Zentrum, von der nächsten Grünfläche, von der ÖPNV-Haltestelle, von Wasserflächen, Luftqualität etc.) sowie soziodemographische Determinanten (z.  B.  Alter, Bildungsniveau, Einkommensniveau, Mig­ ration­ shintergrund der benachbarten Bevölkerung) eingeteilt. Hedonische Preisschätzungen basieren auf beobachteten Transaktionen (manchmal auch auf Angebots-

23

daten) und erfassen somit die Zahlungsbereitschaft der Käufer. Als Vorteil kann gesehen werden, dass Immobilienwerte auf der Grundlage konkreter Kaufentschei­dungen geschätzt werden und die benötigten Daten in vielen Regionen relativ gut verfügbar sind. Die Methode bzw. die Auswahl der zu testenden Determ­ inanten kann relativ leicht auf neue Fragestellungen angepasst werden. Als Nachteil wird gesehen, dass solche statistischen Modelle und ihre Ergebnisse manchen Beteiligten weniger verständlich sind als Methoden, in welche weniger Informationen einfließen; beispielsweise gelingt es aufgrund politischer Wiederstände in Deutschland nur in wenigen Städten, hedonische Modelle als Grundlage für die Erstellung von Mietspiegeln zu verwenden.

396

23

G. M. Ahlfeldt und W. Maennig

Derartige  – aus Sicht des Stadions  – externen Wertzuwächse können wohlfahrtsökonomisch eine Intervention des Staats rechtfertigen. Zwar lässt sich architektonische Qualität nicht ohne Weiteres als Variable in einem empirischen Modell berücksichtigen, aber man kann die durch ein empirisches Modell nicht erklärte Preisvariation auf systematische Beziehungen zur gebauten Umwelt hin untersuchen. Finden sich anderweitig nicht erklärbare Preissprünge in der unmittelbaren Umgebung eines Stadionneubaus, die in zeitlicher Nähe der Fertigstellung auftreten, dann bedeutet dies bei umfassender Berücksichtigung der Umgebungsfaktoren ein Indiz für einen sachlogischen Zusammenhang. Schwierigkeiten bereitet es jedoch, die Wirkungen eines Stadions in seiner Funktion als Sportstätte von denen seiner Architektur zu trennen. Im Falle der von Ahlfeldt und Maennig (2009) untersuchten und oben näher beschriebenen Berliner „Olympiahallen“ können diese Faktoren als Quelle potenzieller Ausstrahlungseffekte weitgehend ausgeschlossen werden. Zum einen wurden die Standorte explizit aufgrund der guten infrastrukturellen Anbindung ausgewählt, sodass keine besonderen Investitionen in die Verkehrsinfrastruktur getätigt wurden – und sich die Lagewertigkeit auf diese Weise verbessert hat. Zum anderen dienen die Hallen nicht als regelmäßige Spielstätten bekannter Sportvereine, sodass keine nennenswerten ökonomischen Impulse wie verbesserte Beschäftigungsmöglichkeiten in der Umgebung zu erwarten sind. Wie aus . Tab.  23.3 ersichtlich, legen empirische Untersuchungen nahe, dass die Umsatzwirkungen auf lokale Betriebe generell eher zu vernachlässigen sind. Ahlfeldt und Maennig (2009, 2010a) stellen unter Verwendung eines umfassenden multivariaten Modells (7 Box  23.1) signifikant erhöhte Grundstückspreise in einer Umgebung von bis zu 3.000 m fest, die auf eine höhere Lageattraktivität infolge der neu geschaffenen Stadträume schließen lassen.  



Bei näherer Betrachtung von . Abb.  23.2 zeigt sich jedoch ein Unterschied zwischen den Preisen in den Umgebungen von Max-­ Schmeling-­Halle am Mauerpark und dem Velodrom-Sportkomplex an der Landsberger Allee (Kapiteleröffnungsbild). Im zuletzt genannten Fall werden in unmittelbarer Nähe Preisaufschläge von bis zu 8  % realisiert, die sich mit zunehmender Entfernung verringern. Während die Preiseffekte in der Umgebung der Max-Schmeling-Halle in mittlerer Entfernung vergleichbar hoch ausfallen, sind in der unmittelbaren Nähe keine signifikanten Aufschläge sichtbar. . Abb. 23.3 verdeutlicht die Unterschiede der geschätzten Preiswirkungen, die sich aus parametrischen Regressionsmod­ ellen mit quadratischen Entfernungsspezifikationen ergebenen. Die deutlich größeren Preiswirkungen des von Tu (2005) untersuchten FedExField können dadurch erklärt werden, dass es sich um ein  – deutlich größeres  – American-Football-Stadion handelt. ­ Relativ gesehen ähneln sich jedoch die Preiswirkungen von FedExField und Velodrom. Umso erstaunlicher sind, in Anbetracht der ähnlichen Größen und Konzeptionen, die Unterschiede in den Ausstrahlungseffekten zwischen Velodrom und Max-Schmeling-Halle innerhalb einer Entfernung von 1.500  m. Eine naheliegende Erklärung ist, dass die (ähnlichen) positiven Impulse aufgrund der attraktiven Architekturen durch verschieden ausfallende entgegengerichtete Einflüsse zu unterschiedlichen externen Gesamteffekten führen: Die Max-­ Schmeling-­ Halle wird als multifunkti­ onale Arena mit einem breiten Spektrum an Veranstaltungen genutzt. Zum damaligen Untersuchungszeitraum diente die MaxSchmeling-­ Halle den Füchsen Berlin sowie Alba Berlin als Heimspielstandort für Handball- bzw. Basketballspiele. Der regelmäßige Besuch (ungeliebter) Fangruppen bzw. deren negative externe Effekte können preismindernde Auswirkungen in der Nähe der Max-Schmeling-Halle auslösen. Zu diesen externen Effekten gehören nicht nur Geräusch 



Stadien

Querschnitt der NFL-Stadien

FedExField, Football

Lambeau Field, Football

Neues Basketballstadion

Neues Footballstadion für Dallas Cowboys

Max-Schmeling-Halle, Handball, Basketball

Velodrom, Radfahren, Schwimmen (keine regelmäßigen Sportveranstaltungen)

Max-Schmeling-Halle, Handball, Basketball

Velodrom, Radfahren, Schwimmen (keine regelmäßigen Sportveranstaltungen)

Alle NFL-, NBA-, MLB- und NHL-­ Stadien 1990 und 2000

Autoren

Carlino & Coulson (2004)

Tu (2005)

Coates & Humphreys (2006)

Coates & Humphreys (2006)

Dehring et al. (2007)

Ahlfeldt & Maennig (2009)

Ahlfeldt 6 Maennig (2009)

Ahlfeldt & Maennig (2010b)

Ahlfeldt & Maennig (2010b)

Feng & Humphreys (2012)

Immobilienbewertungen

Bodenrichtwerte

Bodenrichtwerte

Bodenrichtwerte

Bodenrichtwerte

Immobilientransaktionen

Anteil der Ja-Stimmen

Anteil der Ja-Stimmen

Immobilientransaktionen

Mieten

Daten



Hedonisch

Hedonisch

Hedonisch

Diff-in-diff

Diff-in-diff

Diff-in-diff

OLS

OLS

Hedonisch, diff-in-diff

Hedonisch

Methoden

.       Tab. 23.3  Empirische Belege für die Wirkung von Stadien (7 Box 23.1 und 23.2)

397

(Fortsetzung)

Eine Erhöhung der Entfernung um 1 Meile verringert Immobilienwerte um 0,5 %.

8 % max. Effekte, mit der Entfernung abnehmend, Wirkungsbereich von 3 km

3,5 % max. Erhöhung, Wirkungsbereich von 3 km, ausgleichende externe Effekte

15 % aggregierte Effekte

2,5 % aggregierte Effekte

–1,5 % Ankündigungseffekt

27 % max. Erhöhung, ausgleichende externe Effekte

7 % max. Erhöhung, Bereich zwischen 1,06 und 2,31 Meilen

13 % max. Anstieg, mit der Entfernung abnehmend, Wirkungsbereich von 3 Meilen

8 % Anstieg in den Stadtkernen

Ergebnisse

Stadtentwicklung und Stadionarchitektur

23

Olympiapark in London

Allianz Arena, Fußball

Allianz Arena, Fußball

Wembley, Fußball

Schließung von Arsenal Stadium, Öffnung von Emirates Stadium, Fußball

Stadionbauten in 12 Städten in den USA.

Wegzug zweier NBA-Mannschaften in Seattle und Charlotte

Nationwide Arena, NHL Crew Stadium, Fußball

Umzug einer Mannschaft in die Chesapeake Energy Arena

Kavetsos (2012)

Ahlfeldt et al. (2014)

Ahlfeldt et al. (2014)

Ahlfeldt & Kavetsos (2014)

Ahlfeldt & Kavetsos (2014)

Harger et al. (2016)

Humphreys & Nowak (2017)

Feng und Humphreys (2018)

Stitzel & Rogers (2019)

Unternehmensumsätze

Immobilientransaktionen

Immobilienbewertungen

Unternehmensumsätze

Immobilientransaktionen

Immobilientransaktionen

Anteil der Ja-Stimmen

Anteil der Ja-Stimmen

Immobilientransaktionen

Daten

Diff-in-diff

Hedonisch

Diff-in-diff

Diff-in-diff

Diff-in-diff

Diff-in-diff

OLS, SAR, binäre Wahl

OLS, SAR, binäre Wahl

Diff-in-diff

Methoden

Positiver, jedoch nicht signifikanter Effekt auf Umsätze von Unternehmen in der Unterhaltungsbranche innerhalb von 5 Meilen

Erhöhung der Entfernung vom Stadion um 10 % verringert die Preise um 1,75 %

Aufwertung durch den Wegfall ausgleichender externer Effekte

Keine signifikanten Effekte auf Unternehmensumsätze

Durch den Umzug verursachte Verdopplung der Distanz zum Stadion verringert Preise um ca. 20 %, ausgleichende externe Effekte

17,8 % max. Erhöhung, Wirkungsbereich von 5 km

Milieus als wesentlicher Bestimmungsgrund der Wahlentscheidung

–50 % max. Effekte, mit der Entfernung abnehmend, Wirkungsbereich von 4,3 km

Positiver Ankündigungseffekt von 2,1–3,3 %

Ergebnisse

23

NFL National Football League, NBA National Basketball Association, MLB Major League Baseball, NHL National Hockey League

Stadien

Autoren

.       Tab. 23.3 (Fortsetzung)

398 G. M. Ahlfeldt und W. Maennig

23

399 Stadtentwicklung und Stadionarchitektur

0,08

Velodrom

0,06

Differenz

0,04

Max-Schmeling-Halle

Prenzlauer Berg

0,02 0 -0,02

27.000 26.000 25.000 24.000 Y-K oor din 23.000 ate (Me 22.00021.000 te r ) 20.000

30.000 28.000 29.000 27.000 25.000 26.000 r) 24.000 ate (Mete 23.000 X-Koordin 22.000

31.000

0,15

..      Abb. 23.2  Geschätzter Einfluss der Max-­Schmeling-­Halle und des Velodroms auf die Immobilienpreise. (Nach Ahlfeldt & Maennig, 2010a, S. 223)

FedEXField

Einfluss auf Immobileinpreise (%) 0,05 0,1

Max-Schmeling-Halle

0

Velodrom

0

2

Entfernung (km)

4

6

..      Abb. 23.3  Geschätzter Einfluss der Berliner „Olympiahallen“ und des FedExField auf Immobilienpreise im näheren Umfeld. (Nach Ahlfeldt & Maennig, 2010b, S. 638)

400

G. M. Ahlfeldt und W. Maennig

und andere Belästigungen durch Fans, sondern auch die Parkraumproblematik (7 Kap. 18). Die positiven Preiseffekte in der Umgebung der Max-Schmeling-Halle aufgrund ihrer Qualität der Architektur und ihrer gelungenen städtischen Einbindung wurden durch diese negativen externen Effekte kompensiert. Anders bei der Schwimmhalle und dem Velodrom: Hier entfallen solche negativen Einflüsse aufgrund des Ligabetriebs; es verbleiben die positiven Stadtentwicklungseffekte der beiden Hallen. Solche positiven Wirkungen ikonischer Stadionarchitektur sind auch international nachgewiesen. Ahlfeldt und Kavetsos (2014) finden – auch im Vergleich zu anderen untersuchten Stadien – auffällig positive Immobi­ lienpreisentwicklungen infolge des 2007 fer­ tig­gestellten Neubaus des Wembley-Stadions. Wie bereits in 7 Abschn. 23.3 erwähnt, wurde das neue Wembley-Stadion vom weltberühmten Architekten Norman Foster mitgestaltet. Es ist durch einen ikonischen 133 m hohen Bogen weithin sichtbar. Da das neue Wembley-Stadion das alte an gleicher Stelle und in gleicher Funktion ersetzt, ist es wahrscheinlich, dass die Preiswirkung in erster Linie auf das veränderte Erscheinungsbild zurückzuführen ist. Was die Nutzung der Ergebnisse von Volksabstimmungen als Indikator für die externen Effekte von Stadionneubauten betrifft, geht die politische Ökonomie davon aus, dass Wählerinnen und Wähler ihren (erwarteten) Nutzen aus der Wahlentscheidung maximieren. Umgekehrt ermöglicht die empirische Analyse des Wahlverhaltens Rückschlüsse auf den erwarteten Nettonutzen der Wählerschaft in Bezug auf einen Abstimmungsgegenstand, darunter auch zu Gütern, zu denen der Markt kaum Signale  

23



bzgl. damit verbundener Zahlungsbereitschaften anbietet. Hierzu mögen Imageeffekte für die Stadt und deren Bevölkerung, Identifikationsmöglichkeiten etc. gehören. In der angelsächsischen Literatur werden diese Effekte teilweise als non-use values bezeichnet, weil sie auch denjenigen Bewohnerinnen und Bewohnern zukommen, welche die Stadien nicht besuchen (Johnson & Whitehead, 2000). Coates und Humphreys (2006) zeigen für zwei Stadionprojekte in den USA, wo Bürgerentscheide zu Stadionsubventionen relativ häufig vorkommen, dass die Zustimmung zu den Projekten in der räumlichen Nähe erhöht war, was auf positive räumlich beschränkte externe Effekte der Arenen hindeutet. Ahlfeldt et al. (2010, 2014) untersuchten den ersten „Stadion“-Bürgerentscheid in Deutschland aus dem Jahr 2001 zum Neubau der Allianz Arena in München. Sie zeigen, dass – zumindest nach den Erwartungen der Anwohnerinnen und Anwohner  – die Proximi­ tätskosten eines Stadions dessen Proxi­ mitätsnutzen übersteigen können: Die Ablehnung des Stadionbaus war in den Wahlkreisen um den Bauplatz besonders hoch. Als Schwäche der Analyse von Volksabstimmungen wird jedoch oft genannt, dass kaum eine Ex-post-Analyse möglich ist und die Bevölkerung in der näheren Umgebung die gesamte Bandbreite positiver und negativer Effekte, einschließlich derer, die sich aus der Stadionarchitektur und dem Stadtdesign ergeben, nicht angemessen antizipieren können. Hintergrund ist, dass sie die Wertigkeit entsprechender Gebäude unter Umständen (noch) nicht erfahren haben. . Tab.  23.3 fasst den Erkenntnisstand zu den externen Effekten von Stadien mit besonderer architektonischer Gestaltung zusammen.  

401 Stadtentwicklung und Stadionarchitektur

23

Box 23.2 Multivariate Verfahren (diff-in-diff, OLS, SAR, binäre Wahl)

Der diff-in-diff- oder Differenz-von-Differ­ enzen-Ansatz ist eine multivariate Regressio­ nsschätzung, bei der die Wachstumsraten der Werte eingehen, und zwar in der Differenz zu vergleichbaren Gruppen. Das Verfahren ist in der Pharmaforschung seit Langem bewährt: Hier wird die Veränderung des Gesundheitsstatus einer Gruppe, die ein (neues) Medikament erhält, mit der Veränderung des Gesundheitsstaus einer Gruppe verglichen, die kein Medikament oder ein Placebo erhält. Die Immobilien im Einzugsgebiet des Stadionneubaus können als behandelte Gruppe interpretiert werden, die Immobilien beispielsweise in einer vergleichbaren Stadt als nicht behandelte Gruppe. Ordinary Least Squares (OLS) oder Kleinstquadratemethode ist das am häufigsten angewandte lineare Regressionsverfahren. Die Regressionsgleichung zwischen dem Wert der

23.5 

Fazit

Eine Reihe von empirischen Studien legt nahe, dass Stadionneubauten ein probates Mittel sein können, um Stadtentwicklungspolitik auf Stadtteilebene durchzuführen. Dabei können entweder städtische Areale um einen Stadionneubau neu ausgerichtet werden oder Sportstätten in ein räumliches Konzept eingebettet werden, das sich komplementär zu den bestehenden Strukturen verhält. Allerdings muss dafür erstens der Standort geeignet sein, um Interaktionen mit gebauter Umwelt zu ermöglichen, zweitens muss die übliche, von betriebswirtschaftlichen Zwängen geprägte Investorenarchitektur überwunden und in Richtung einer stadtraumorientierten Architektur abgelöst werden. Die internationale Stadionarchitektur hat einen kräftigen Bedeutungsgewinn erlebt. International renommierte Architekten

Immobilie und den ihn beeinflussenden Faktoren wird so bestimmt, dass die Summe der quadrierten Differenzen zwischen geschätzten und beobachteten Werten minimiert wird. Räumliche autoregressive Modelle (spatial autoregressive models, SAR-­Modelle) berücksichtigen eine mögliche räumliche Autokorrelation der beobachteten Werte der erklärten Variablen mit denen räumlich benachbarter; beispielsweise mag der Wert einer Immobilie vom Wert der benachbarten Immobilien abhängen. Modelle binärer Wahl erklären und prognostizieren Entscheidungen zwischen zwei Alternativen, z.  B. eine Ja-Stimme in einer Abstimmung zu einem Stadionneubau oder eine Nein-Stimme. Diese Modelle stehen im Gegensatz zu Standardregressionsmodellen, bei denen der Wertebereich jeder Variable als kontinuierlich angenommen wird.

wurden weltweit beauftragt, aus Stadien unverwechselbare Wahrzeichen für ihre Städte zu formen, so wie es bislang vor allem für repräsentative Kulturprojekte typisch war. Ikonische Formen sollen für internationale Aufmerksamkeit sorgen und so den Städten im internationalen Wettbewerb um den Tourismus einen Vorteil verschaffen. Ein metaphorischer Charakter erleichtert die Identifikation der Bürgerinnen, Bürger und Sportfans mit „ihrem“ Stadion. Sogar im Rahmen vorsichtiger, umgebungsorientierter Architekturstrategien lassen sich ikonische Elemente einbringen, wie das Velodrom in Berlin zeigt. Weitere interessante Beispiele sind das RheinEnergieSTADION in Köln und der St. Jakob-Park in Basel. Grundsätzlich modernistisch und zurückhaltend in der Form, gewinnen sie bei Bedarf und nach Einbruch der Dunkelheit durch den Einsatz charakteristischer Lichtelemente einen ikonischen Charakter. Damit

402

23

G. M. Ahlfeldt und W. Maennig

wird demonstriert, wie markante, auf wichtige und besonders brisante Abendspiele ausgerichtete Bilder erzeugt werden können, ohne dass die Stadien ihre Umgebung völlig dominieren. Die empirischen Ergebnisse zeigen, dass die gebaute Umwelt von Marktteilnehmern als signifikante Wertdeterminante wahrgenommen wird. Beispielsweise beweisen die Berliner „Olympiahallen“, dass Sportarenen, wenn sie architektonisch anspruchsvoll gestaltet sind und ihre Umgebung in ein städtebauliches Konzept einbeziehen, zu einer Erhöhung der Attraktivität des umgebenden Raums beitragen können. Auch wenn der Wandel im Verständnis von Stadionarchitektur mittlerweile eingesetzt hat, wird es dauern, bis die Skepsis von Anwohnerinnen und Anwohnern gegenüber benachbarten Sportstätten nachlässt. Gerade wenn öffentliche Mittel eingesetzt werden, sollten die Planungsbehörden darauf achten, dass die Stadien nicht nur unter dem Gesichtspunkt der Gewinnmaximierung für den jeweiligen Sportverein entworfen werden, sondern auch einem ganzheitlichen Konzept folgen, das die Kosten für die Nachbarschaft minimiert. Zusätzlich kann eine unkonventionelle Stadionarchitektur eingesetzt werden, deren Formensprache entweder der Sanierung des Gebiets oder der Verstärkung von Image- und Ausgabeneffek­ ten dient. ? Übungs- und Reflexionsaufgaben 1. Erläutern Sie, welche (Gruppen von) Determinanten den Wert einer Immobilie beeinflussen. 2. Welche Wirkungen gehen von Stadionneubauten auf die Nachbarschaft aus? Wovon hängt es ab, wo in der Nachbarschaft die Gesamtwirkungen positiv oder negativ wahrgenommen werden?

Zum Weiterlesen empfohlene Literatur Ahlfeldt, G. M., Maennig, W., & Scholz, H. (2010), Erwartete externe Effekte und Wahlverhalten. Das Beispiel der Münchener Allianz-Arena. Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik, 230(1), 2–26. Tu, C.  C. (2005). How does a new sports stadium affect housing values? The case of FedExField. Land Economics, 81(3), 379–395.

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403 Stadtentwicklung und Stadionarchitektur

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405

Nachhaltigkeit, Innovation und Vermächtnis: FIS Alpine Ski-Weltmeisterschaften St. Moritz 2017 Jürg Stettler, Anna Wallebohr und Sabine Müller

Blick auf die Schneelandschaft von St. Moritz, Schweiz. (© mikefuchslocher/stock.adobe.com)

© Der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Gans et al. (Hrsg.), Sportgeographie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66634-0_24

24

Inhaltsverzeichnis 24.1

Nachhaltigkeit, Innovation und Vermächtnis (NIV) – 407  achhaltigkeit – 407 N Innovation – 408 Vermächtnis – 409

24.2

Das NIV-Konzept – 410  rsprung des Konzepts – 410 U Das NIV-Konzept der Alpinen Ski-Weltmeisterschaften St. Moritz 2017 – 410

24.3

Analysen und Berichterstattung – 412  konomischer und touristischer Nutzen – 412 Ö Projektziele – 412 NIV-Charta – 413 Erkenntnisse aus der Anwendung des NIV-Konzepts – 414

24.4

 nwendbarkeit des NIV-Konzepts A für Sportgroßveranstaltungen – 415

24.5

Ausblick – 417 Literatur – 418

24

407 Nachhaltigkeit, Innovation und Vermächtnis: FIS Alpine…

Einleitung Sportgroßveranstaltungen gelten insbeson­ dere in der Politik, Wirtschaft und im Sport als Chance für die gastgebende Destination. Städte, Regionen und Länder erwarten von der Durchführung einer Großveranstaltung kurz- und auch langfristig positive Effekte, die zu einem sogenannten Vermächtnis (Legacy) führen und die Investitionen in die Austragung der Veranstaltung rechtfertigen. In Bezug auf die Größe kann vermutet wer­ den: je größer die Veranstaltung, desto grö­ ßer das potenzielle Vermächtnis. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Austragungsorte erheblich in die Kandidatur zur Durch­ führung von Welt- und Europameister­ schaften, insbesondere in den populären Sportarten wie Fußball, Leichtathletik oder Ski Alpin, investieren. Laut Preuss (2006) liegt einer der Hauptgründe darin, dass sportliche Großveranstaltungen erhebliche wirtschaftliche Vorteile mit sich bringen kön­ nen. Dies sind beispielsweise Investitionen in Infrastruktur in Bereichen wie Transport, Wohnen, Telekommunikation sowie Sport und Unterhaltung (7 Kap. 8, 9 und 22). Da­ rüber hinaus können sportliche Großereig­ nisse zu positiven immateriellen Effekten in den Bereichen Image, Know-­ how, Netz­ werke, Kultur, Identität etc. führen (7 Kap. 13 und 18). Allerdings stehen diesen Vorteilen auch Nachteile, das heißt negative Effekte, gegen­ über. Die Literatur zeigt auf, dass Sport­ großveranstaltungen nicht zwangsläufig zu einem positiven Vermächtnis, sondern mög­ licherweise auch zu langfristigen negativen Auswirkungen führen können. Die Gast­ geber laufen Gefahr, Kosten zu über­ schreiten (Preuss, 2007; Baade & Matheson, 2016; Flyvbjerg et  al., 2016). Potter (2016) meint, Großveranstaltungen führen zu ­Ungleichheit, weil ausgewählte Anspruchs­ gruppen von der Durchführung profitieren, während die allgemeine Bevölkerung die Kosten trägt. Entsprechend der Aus­ führungen ist die Durchführung einer Groß­  



veranstaltung mit Vor- und Nachteilen ver­ bunden. Schlussendlich ergibt sich ein Nettoeffekt, der zu einem positiven oder ne­ gativen Vermächtnis führt. Das Vermächtnis von Sportgroßveran­ staltungen wurde bereits anhand ver­ schiedener Studien untersucht. So zeigen Jago et al. (2010) auf, dass eine sorgfältige Planung und Verwaltung wichtige Voraussetzungen sind, um den Nettobeitrag von Megaevents zu maximieren. Um den Nutzen für gastgebende Destinationen zu optimieren, muss Legacy substanziell in die Planung von Megaevents einfließen (Jago et al., 2010). Girginov (2012) bezieht sich insbesondere auf die Olympi­ schen Spiele 2012 in London (7 Kap. 8) und nennt Governance als wichtigen Faktor zur Erzielung eines positiven Vermächtnisses. Ro­ gerson (2016) analysiert die Erfahrungen von Glasgow als Gastgeberstadt für die XX. Commonwealth-Spiele im Jahr 2014. Leop­ key und Parent (2017) untersuchen in einer weiteren Studie die Managementansätze für die Olympischen Spiele 2000  in Sydney (7 Kap. 8) und die Olympischen Winterspiele 2010 in Vancouver (7 Kap. 7). Die Erkenntnisse aus der Umsetzung der Bemühungen von Veranstaltern, kurz- wie auch langfristig positive Effekte durch eine Großveranstaltung zu erzielen, sind in die Entwicklung des NIV-Konzepts eingeflossen, das im Beitrag vorgestellt wird. Zum besseren Verständnis werden im Folgenden zunächst die wichtigsten Begriffe diskutiert.  





24.1 

Nachhaltigkeit, Innovation und Vermächtnis (NIV)

Nachhaltigkeit 1987 stellte die Weltkommission für Umwelt und Entwicklung (World Commission on Environment and Development, WCED) im sogenannten Brundtland-Bericht (WCED, 1987) das Konzept der nachhaltigen Ent­

408

24

J. Stettler et al.

wicklung vor. Seither gab es zahlreiche Ver­ suche, eine einheitliche Definition der Nach­ haltigkeit zu formulieren (Waseem & Kota, 2017). Waseem und Kota (2017, S.  361) spezifizieren Nachhaltigkeit als „eine Fähig­ keit zur Erhaltung oder ein Zustand, der lange auf dem gleichen Niveau fortgesetzt werden kann“. Holmes et  al. (2015) be­ zeichnen Nachhaltigkeit als einen stabilen Zustand, in dem Verbrauch und Erneuerung von Ressourcen in einem Gleichgewicht ste­ hen, welches die Bedingungen für das menschliche Überleben aufrechterhält. Mit anderen Worten: Nachhaltige Entwicklung kann die heutigen Bedürfnisse erfüllen, ohne die Möglichkeiten künftiger Genera­ tionen zur Deckung ihrer eigenen Bedürf­ nisse einzuschränken. Dieses Prinzip beruht auf wirtschaftlichen, sozialen und öko­ logischen Komponenten (Holmes et  al., 2015; Waseem & Kota, 2017). Die drei ge­ nannten Komponenten bzw. Säulen bilden auch die Grundlage der Sustainable Development Goals (SDGs). Auf dem Earth Summit in Rio de Janeiro 1992 wurden die 17 SDGs der Vereinten Nationen vorgestellt und von den Teilnehmerstaaten anerkannt. Sie bilden einen gemeinsamen Rahmen zur Bewältigung der wichtigsten globalen Nach­ haltigkeitsherausforderungen. Explizit ist in Absatz 37 der UN-Agenda 2030 für nach­ haltige Entwicklung erwähnt: „Sport ist auch ein wichtiger Motor für nachhaltige Entwicklung. Wir erkennen den wachsen­ den Beitrag des Sports zur Verwirklichung von Entwicklung und Frieden durch die Förderung von Toleranz und Respekt und die Beiträge, die er zur Stärkung von Frauen und jungen Menschen, Einzelpersonen und Gemeinschaften sowie zu Zielen in den Be­ reichen Gesundheit, Bildung und soziale In­ klusion leistet“ (Vereinte Nationen, 2015). Seitdem ist das Thema der nachhaltigen Entwicklung auch für alle Akteure im Sport von zentraler Bedeutung. Aus diesem Grund

hat auch das International Olympic Com­ mittee (IOC) die Anforderungen an die Be­ werberstädte von Olympischen und Para­ lympischen Spielen entsprechend geändert (IOC, 2021; 7 Kap. 8).  

Innovation Innovationen finden in allen Bereichen und Branchen statt. Dies erklärt, warum Neue­ rungen Gegenstand verschiedener Forschun­ gsarbeiten, aber auch von hoher unter­ nehmerischer Relevanz sind. Im Rahmen dieses Beitrags wird der Schwerpunkt auf Innovationen gelegt, die sich vor allem auf Veranstaltungen beziehen. In Bezug auf den Tourismus und öffent­ liche Veranstaltungen definieren Yang und Tan (2017, S.  862) Innovationen wie folgt: „Innovation bezieht sich auf die Generie­ rung, Akzeptanz und Umsetzung neuartiger Ideen, die neue Produkte, Dienstleistungen oder Liefersysteme ermöglichen“ (auch Hjalager, 2010; Chen, 2011). Darüber hin­ aus werden Innovationen in der Literatur als eine Wettbewerbskraft erster Größen­ ordnung bezeichnet (Yang & Tan, 2017).1 Speziell für Veranstaltungen zeigen Yang und Tan (2017), dass Innovationen in zweierlei Hinsicht ein Schlüsselfaktor sind. Zum einen erhöhen sie den Wert einer Ver­ anstaltung. Zum anderen können Unter­ nehmen oder eine Organisation Innovatio­ nen als Instrument zur Markenbildung und zum Aufbau von Unternehmensloyalität einsetzen. Allgemein formuliert, implizieren Innovationen für Veranstalter die Möglich­ keit, neue Produkte und Dienstleistungen in den Nachhaltigkeitsdimensionen Wirt­ schaft, Gesellschaft und Kultur sowie Um­ welt auszulösen. 1

Für eine Diskussion und einen Überblick über In­ novation s. auch Krizaj et al. (2014).

409 Nachhaltigkeit, Innovation und Vermächtnis: FIS Alpine…

Vermächtnis Gemäß Davies (2017) ist das Vermächtnis (Legacy) von Sportveranstaltungen ein weit gefasstes Konzept mit mehreren Dimensio­ nen, Bedeutungen und Interpretationen. Es geht der Frage nach, was nach der Ver­ anstaltung übrig bleibt (Girginov, 2012). Die Literatur veranschaulicht das theoretische Konstrukt des Vermächtnisses als einen drei­ dimensionalen Würfel. Die drei Dimensio­ nen stellen drei unterschiedliche Kategorien von Wirkungen dar: positive und negative, geplante und ungeplante sowie materielle und immaterielle (Preuss, 2007). Im All­ gemeinen stellt ein Vermächtnis jede positive oder negative dauerhafte Veränderung der Umwelt dar, die sich aus einem Ereignis er­ gibt und über den Zeitraum des Ereignisses hinausgeht. Diese positiven oder auch negati­ ven Veränderungen können in verschiedenen Bereichen auftreten (. Abb.  24.1). Im Fol­ genden werden die wichtigsten Chancen und Risiken bei der Durchführung einer Sport­ großveranstaltung aufgezeigt. Eine detail­ lierte Erläuterung der Chancen und Risiken bei der Durchführung von Olympischen und  

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Paralympischen Winterspielen liefern Stettler et al. (2017b). Eine Großveranstaltung löst wirtschaftliche Impulse aus, insbesondere in der Aus­ tragungsregion. In der Regel hält dieser Im­ puls nur kurz an. Darüber hinaus kann die Wirtschaft aber auch langfristig von einem Großanlass profitieren. Insbesondere für den Tourismus bietet sich die Möglichkeit, die Bekanntheit durch die verstärkte Medienpräsenz zu steigern, das Image posi­ tiv zu beeinflussen und dadurch langfristig von der Austragung einer Großveran­ staltung zu profitieren. Auch der Sport kann eine Veranstaltung als Plattform nutzen und positive Wirkungen im Spitzen-, Nach­ wuchs- und auch Breitensport auslösen. Schlussendlich können auch in vielen weite­ ren Bereichen Innovationsprozesse ausgel­ öst werden (z.  B.  Baugewerbe, Logistik, Kommunikation, Energieeffizienz oder Res­ sourcennutzung) und damit langfristig zu positiven Wirkungen führen. Eines der größten Risiken bei der Durch­ führung Olympischer und Paralympischer Winterspiele bilden Kosten und Finanzierung, d. h. Kostenüberschreitungen und die

Infrastruktur Kosten und Finanzierung Politik und Gesetze

Wirtschaft und Netzwerk Medien und Image

Olympische Winterspiele

Innovation und Technologie Sport und Exzellenz

Tourismus

Gesellschaft, Kultur und Paralympics

Umwelt und Landschaft

..      Abb. 24.1  Übersicht über die Vermächtnisdimensionen von Olympischen Winterspielen. (Nach Stettler et al., 2017b)

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damit zusammenhängende Frage, wer diese finanziert. Zudem besteht auch ein In­ vestitionsrisiko infolge von Fehlinvestitionen. Ein weiteres großes Risiko besteht in Bezug auf die internationale Sicherheitslage und die Kosten, um dieser angemessen zu be­ gegnen. Weitere potenzielle Risiken sind Probleme in der Organisation der Spiele, ­ schlechtes Wetter, Dopingskandale sowie eine negative Berichterstattung durch die Medien. Um Chancen zu nutzen und die auf­ geführten Risiken zu minimieren, wurde das sogenannte NIV-Konzept entwickelt, welches im folgenden Abschnitt näher erläutert wird.

24.2 

Das NIV-Konzept

Ursprung des Konzepts Die Fußball-Europameisterschaft 2008  in der Schweiz und in Österreich (kurz EURO 2008) war neben der Fußball-Weltmeister­ schaft 2006 die erste große Fußballver­ anstaltung, die das Thema „Nachhaltige Entwicklung“ prominent in den Vordergrund rückte und das Nachhaltigkeitsmanagement in die Organisation der Veranstaltung integ­ rierte (UEFA, 2008). Langfristig betrachtet, konnten jedoch kaum positive Effekte fest­ gestellt werden (Müller et al., 2010). Dement­ sprechend hat die EURO 2008 ihr Potenzial, ein positives Vermächtnis zu schaffen, nicht ausgeschöpft. Vor diesem Hintergrund und der Bestrebung bei den Olympischen Winter­ spielen 2022  in Graubünden, ein positives Vermächtnis zu schaffen, haben die Initian­ ten der Kandidatur Graubünden 2022 das NIV-Konzept (Nachhaltigkeit, Innovation und Vermächtnis) entwickelt. Das erste Element Nachhaltigkeit steht für die Durchführung von ökologisch, sozial verträglich und wirtschaftlich ergiebigen Spielen (Lacotte et al., 2013). Das heißt, im Sinne der Definition von Nachhaltigkeit, in allen Dimensionen die Bedürfnisse der

Gegenwart zu befriedigen, ohne die Bedürf­ nisse künftiger Generationen zu gefährden. Darüber hinaus verfolgt das NIV-Konzept den Ansatz, eine Sportgroßveranstaltung als Plattform zu nutzen, um technologische, organisatorische, ökologische oder ge­ ­ sellschaftliche Innovationen auszulösen (z. B. neue Geschäftsmodelle, die Nutzung von di­ gitalen Technologien). Das Ergebnis aus die­ sen Bestrebungen ist ein positives Vermächtnis für den Austragungsort, die Bevölkerung aber auch für die Politik, Wirtschaft sowie die Umwelt (Stettler et al., 2017b). Obwohl die Kandidatur für Graubünden 2022 zurückgezogen wurde, konnte das NIV-Konzept für die Alpinen Ski-Welt­ meisterschaften St. Moritz 2017 adaptiert und erstmals umgesetzt werden. Sowohl das Konzept als auch die Erkenntnisse aus der Prozessbegleitung und Umsetzung St. Moritz 2017 werden in den folgenden Ab­ schnitten vorgestellt und diskutiert.

 as NIV-Konzept der Alpinen D Ski-Weltmeisterschaften St. Moritz 2017 Das NIV-Konzept der Ski-WM 2017 be­ inhaltet vier zentrale Elemente. Dies sind die Vision, die NIV-Charta, die NIV-Projekte sowie die Anspruchsgruppen der Ski-WM 2017, mit denen gemeinsam das NIV-­ Konzept adaptiert und umgesetzt wurde. Das Konzept mit seinen einzelnen Bestand­ teilen wird im sogenannten NIV-Gebäude visuell dargestellt (. Abb.  24.2). Die Ski-­ WM 2017 verfolgte die Vision von stimmungsvollen Weltmeisterschaften, die das Wirgefühl in der Austragungsregion stärken und die Jugend weltweit für den Schneesport begeistern sollten (7 Kap. 18). Weiterhin nahmen sich die Organisatoren der Veranstaltung vor, die für die Wett­ kämpfe notwendige Infrastruktur nach­ haltig zu nutzen und Innovationen in der Region und im Sport zu fördern.  



411 Nachhaltigkeit, Innovation und Vermächtnis: FIS Alpine…

Ski-WM 2017 Vision Nachhaltigkeit + Innovation = Vermächtnis (NIV)

NIV-Charta Grundsätze: Umwelt, Wirtschaft, Gesellschaft (Sport), Management Nachhaltigkeitsziele • Umwelt • Wirtschaft • Gesellschaft • Management

Innovationsziele • Umwelt • Wirtschaft • Gesellschaft

Vermächtnis

NIV-Projekte zur Umsetzung der Nachhaltigkeits- und Innovationsziele Umwelt

Wirtschaft

Gesellschaft

1 Klima und Energie

6 alpiner Skirennsport

11 Event-Kompetenzzentrum

16 Impulsprogramm alpiner Skisport

2 Verkehr

7 Investitionen in Infrastruktur

12 historisches Erbe

17 Jugend in den Schnee

3 Abfälle

8 Großveranstaltungen

13 Tourismusentwicklung

18 Schweizer Sporthilfe

4 Landschaft: Biodiversität

9 mediale Infrastruktur

14 Verpflegung

19 Jugend und Zukunft

5 Ressourcen: Pistenpräparierung

10 Leistungszentren

15 Kommunikation Management

20 strategische NIV-Begleitung

21 operative NIV-Begleitung

22 NIV-Analysen und Berichterstattungen

Anspruchsgruppen Engadin St. Moritz Tourismus

Engadin St. Moritz Mountains

ASESE: Alpine Sports Events St. Moritz Engadin

SRG: Schweizerische Radio- und Fernsehgesellschaft

FIS: Fédération Internationale de Ski

Gemeinde St. Moritz

Kanton Graubünden

Bund (BASPO, ARE): Bundesamt für Sport

NGO Umwelt (Pronatura, WWF)

Swiss Olympic

Swiss Ski

Bevölkerung

Zuschauer

Athleten

Weitere

..      Abb. 24.2  NIV-Gebäude. (Nach Stettler et al., 2017a)

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Um die Vision umzusetzen, wurden in der sogenannten NIV-Charta die Grundsätze des Handelns (Verbindlichkeit der Charta, Partizipation von Anspruchsgruppen) fest­ ­ gehalten sowie konkrete Nachhaltigkeitsund Innovationsziele in den Dimensionen Umwelt, Wirtschaft, Gesellschaft und Management formuliert. Der Kern des ­ NIV-Konzepts der Ski-WM 2017 bestand aus 22 NIV-Projekten (. Abb. 24.2). Sie soll­ ten sicherstellen, dass die Grundsätze und Ziele der NIV-Charta eingehalten bzw. er­ reicht werden. So widmete sich jedes Projekt einem bestimmten Thema in den Dimensio­ nen Umwelt, Wirtschaft und Gesellschaft (z.  B.  Verkehr, Landschaft, Infrastruktur, Tourismus, alpiner Skisport, Jugend).2 Er­ gänzend dazu erfolgten auf der Management­ ebene eine strategische Begleitung, operative Steuerung, Analysen und die Bericht­ erstattung zum Gesamtprojekt. Erarbeitet wurden die NIV-Charta und die NIV-Projekte gemeinsam mit den Anspruchsgruppen der Ski-WM 2017. Dies waren Akteure aus den Bereichen Politik, Sport, Wirtschaft/Tourismus sowie Um­ weltschutz (. Abb.  24.2). Die Anspruchs­ gruppen wurden nicht nur in die Ent­ wicklung einbezogen, sie waren auch gleichzeitig verantwortlich für die Um­ setzung einzelner NIV-Projekte und damit auch für die Zielerreichung der NIV-Charta.  



24.3 

Analysen und Berichterstattung

Um den Erfolg bei der Umsetzung des Konzepts zu überprüfen, wurden ver­ schiedene Wirkungsanalysen durchgeführt und in einem abschließenden Bericht ­dokumentiert (Stettler et al., 2017a). Unter­ sucht wurden der ökonomische und touris­

2 Details zu den einzelnen Projekten finden sich im NIV-Bericht der Ski-WM 2017 (Stettler et  al., 2017a).

tische Nutzen der Sportgroßveranstaltung, das Erreichen der einzelnen Projektziele sowie das Erreichen der Ziele der NIVCharta.

 konomischer und touristischer Ö Nutzen Zuschauende, Teilnehmende, Medien und weitere Personengruppen lösten durch die Ski-WM 2017 insgesamt rund 144.000 Logiernächte im Kanton Graubünden aus. Rund die Hälfte wurde in der Hotellerie ver­ bracht. Die übrigen 50 % der Logiernächte (71.000) entfielen auf Übernachtungen in Ferienwohnungen oder der übrigen Para­ hotellerie wie Jugendherbergen, Privat­ zimmer oder Ferienheime. Insgesamt wurde durch die Ski-WM 2017 in der Schweiz di­ rekt und indirekt eine Bruttowertschöpfung von rund 142  Mio. CHF ausgelöst, davon etwa 49  Mio. CHF bzw. 35  % im Kanton Graubünden (7 Kap. 10). Dabei betrug im Kanton Graubünden die direkte Wertschöpfung rund 23 Mio. CHF, die indirekte Wertschöpfung über die Vorleistungen, In­ vestitionen und Einkommen rund 26  Mio. CHF (Stettler et al., 2017a).  

Projektziele Die Bestandteile des NIV-Konzepts (Vision, NIV-Charta, NIV-Projekte etc.) wurden von Beginn an dokumentiert und laufend kont­ rolliert und angepasst. Im Anschluss an die Ski-WM 2017 erfolgte eine Überprüfung, inwieweit die Projektziele erreicht wurden. Gemessen an den Zielvorgaben der einzel­ nen Projekte wurden 14 NIV-Projekte erfolgreich, fünf Projekte teilweise erfolg­ reich sowie drei Projekte nicht oder nicht erfolgreich umgesetzt. Als sehr erfolgreich und innovativ wurde das Projekt 7 „Investitionen in alpine ­Ski-­Infrastruktur“ eingestuft. Ziel des Pro­ jekts war es, permanente Bauten langfristig

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413 Nachhaltigkeit, Innovation und Vermächtnis: FIS Alpine…

für den Tourismus und den Wintersport zu nutzen und bei temporären Bauten darauf zu achten, dass sie schnell wieder zurück­ gebaut werden können und das Landschafts­ bild und die Landschaftsfunktion nicht be­ einträchtigen. Weiterhin sollten flankierende Maßnahmen zur Förderung der Biodiversi­ tät und Aufwertung der Lebensräume durch Revitalisierungsmaßnahmen umgesetzt wer­ den. Sämtliche Maßnahmen konnten wie ge­ plant und termingerecht umgesetzt sowie Er­ fahrungen aus der Umsetzung abgeleitet werden (Stettler et al., 2017a). Ebenfalls sehr erfolgreich war das Projekt 16 „Wintersport: Impulsprogramm alpiner Skisport“. Ziel des Projekts war es, im alpi­ nen Skisport der Schweiz Impulse zu setzen und den Grundstein für den sportlichen Er­ folg der Schweizer Athleten und Athletinnen während und nach der Ski-WM 2017 zu legen. Der Schneesport in der Schweiz sollte langfristig von der Ausstrahlung der Ski-WM 2017 und dem Erfolg der Schweizer Athleten und Athletinnen profitieren. Es wurden ver­ schiedene Maßnahmen im Bereich Breiten­ sport, Trainerbildung, Nachwuchssport und Leistungssport umgesetzt. Der Aufbau eines erfolgreichen Technikteams im Spitzensport stand im Vordergrund. Mit sieben Medaillen während der Ski-WM 2017 (vier davon von Athletinnen und Athleten aus dem Technik­ team) konnten die anvisierten Ziele kurz­ fristig erreicht werden. Auch in den Folge­ jahren ist es gelungen, internationale sportliche Erfolge zu erzielen. Nur teilweise erfolgreich umgesetzt wer­ den konnte das Projekt 14 „Verpflegung: Bio, Fairtrade und regionale Produkte“. Das Ziel, mehr als die Hälfte der Produkte im Bereich Verpflegung von lokalen und regio­ nalen Betrieben zu beziehen, wurde erreicht (85 % der Produkte kamen aus dem Enga­ din respektive dem Kanton Graubünden). Die Realisierung eines regionalen „Markt­ platzes“ sowie die Lancierung eines Slow-­ Food-­Premium-Produkts konnte nicht um­

gesetzt werden. Die Ideen erwiesen sich in der Praxis als nicht ausführbar. Das Projekt 1 „Klima und Energie“ hatte zum Ziel, bei regionalen Unternehmen im Hinblick auf die Ski-WM 2017 den Energie­ verbrauch mit konkreten Maßnahmen zu re­ duzieren. Die eingesparte Energie (Effizienz­ zertifikate) sollte an die Ski-WM 2017 abgegeben werden. Die Unternehmen hätten damit zur Stärkung und Positionierung der gesamten Region im Nachhaltigkeitsbereich langfristig beigetragen. Ihr Engagement wäre durch ein Zertifikat „Energiepartner der Ski-WM 2017“ honoriert worden. Das Pro­ jekt konnte jedoch nicht umgesetzt werden. In der zweijährigen Vorbereitungszeit wurde die Projektidee Schritt für Schritt konkreti­ siert. Es entstand ein durchdachtes Konzept, das sich auf andere Großveranstaltungen übertragen ließe. Da aufgrund langer Ent­ scheidungsprozesse die Exklusivitätsfrage im Energiesektor lange nicht geklärt war, konnte das Projekt nicht rechtzeitig vorangetrieben werden. Insgesamt zeigte sich bei der Analyse der Projekte, dass aus unterschiedlichen Grün­ den Projekte nicht oder weniger erfolgreich abgeschlossen werden konnten. Die Folge­ rungen daraus sind in den 7 Abschn. 24.4 eingeflossen.  

NIV-Charta Im Anschluss an die Analyse der einzelnen Projekte wurde überprüft, inwieweit die Ziele der NIV-Charta erreicht wurden (Stettler et al., 2017a): 1. Alle durchgeführten Projekte haben einen Bezug zu mindestens einer der drei Nachhaltigkeitsdimensionen und konn­ ten größtenteils erfolgreich oder teilweise erfolgreich umgesetzt werden (19 von 22 Projekten). Damit konnten die Ver­ anstalter den Anspruch auf Nachhaltigkeit erfüllen.

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2. Nur zehn der insgesamt 22 NIV-Projekte regelmäßigen Informationsveranstaltungen hatten jedoch einen substanziellen Innov­ konnte der Partizipationsanspruch erfüllt ationsgehalt, wovon zudem einzelne Pro­ werden. jekte nicht oder nur teilweise erfolgreich durchgeführt werden konnten. Daher wurden die Weltmeisterschaften nur be­ Erkenntnisse aus der Anwendung dingt zum Auslösen von technologischen, organisatorischen, ökologischen und ge­ des NIV-Konzepts sellschaftlichen Innovationen genutzt. 3. Potenzial für ein Vermächtnis hatten 18 Die Umsetzung des NIV-Konzepts am Bei­ der 22 Projekte. Da aber vier dieser 18 spiel der Ski-WM 2017 lieferte wertvolle Er­ Projekte nicht erfolgreich umgesetzt wur­ kenntnisse über das NIV-Konzept als sol­ den, resultierte nur aus 14 Projekten ein ches, den Prozess sowie für die Bereiche Organisation und Governance sowie Finan­ Vermächtnis. Dies sind konkret: 55 Langfristige Kraftstoffeinsparungen zierung: 55 NIV-Konzept: Das ursprünglich für bei Pistenfahrzeugen (Projekt 5) Graubünden 2022 entwickelte NIV-­ 55 Nationale Lösung zur Lagerung des Konzept hat sich bei der Durchführung Rennmaterials (Projekt 6) der Ski-WM 2017 bewährt. Ein ge­ 55 Breitere Pistenunterführung (Pro­ meinsames Verständnis der Beteiligten jekt 7) über die Kernbestandteile und Inhalte 55 Erneuerung der medialen Infra­ des NIV-Konzepts und der damit ver­ struktur (Projekt 9) bundenen Begriffe bildet die Grundlage 55 Historisches Erbe aufbereitet und für den Prozess. Vermächtnisziele kön­ neu geschaffen, wie Infotafeln zum nen materieller (Infrastruktur) oder im­ historischen Erbe, renovierter Eispa­ materieller (Wissen) Natur sein und nach villon Hotel Kulm und neu die Skulp­ innen (Stärkung des Zusammenhalts) tur Edy (Projekt 12) oder nach außen (Imageförderung) wir­ 55 Impulsprogramm alpiner Skisport, ken. Innovationsziele sollten von Anfang Nachwuchs- wie Leistungssport an die wirtschaftliche Umsetzung und (Projekt 16) 55 Schaffung eines Jugend-­den Beitrag zum Erbe berücksichtigen. Das NIV-Gebäude bietet eine klare und Organisationskomitees, das weiterhin verständliche Visualisierung und Kom­ tätig sein wird (Projekt 19) munikation des NIV-Konzepts nach 55 Erkenntnisse für andere Sportgroß­ innen (Veranstalter) und nach außen veranstaltungen (Projekt 20 und 21) (Stakeholder, Medien etc.). Durch kon­ krete NIV-Projekte ist es möglich, das Die systematische Konkretisierung und NIV-Konzept mit den Zielen der NIVOperationalisierung der Vision Ski-WM Charta zu operationalisieren. Diese Ope­ 2017 mithilfe der NIV-Charta sowie NIV-­ rationalisierung ist eine wesentliche Projekten führte zu einer hohen normativen Voraussetzung für die Umsetzung und Verbindlichkeit. Eine deutlich geringere Zielerreichung der NIV-Ziele. Es hat sich Verbindlichkeit zeigte sich jedoch in der jedoch gezeigt, dass die Vision und die operativen Umsetzung der NIV-Projekte. Ziele stärker an einer übergeordneten Dank des systematischen Einbezugs der An­ Strategie (z.  B. der Destination/Region) spruchsgruppen bei der Entwicklung und und der Größe der Veranstaltung aus­ Begleitung des NIV-Konzepts und der NIV-Projekte, diverser Workshops sowie der gerichtet werden sollten (7 Abschn. 24.4).  

415 Nachhaltigkeit, Innovation und Vermächtnis: FIS Alpine…

24

55 Prozess: Die erfolgreiche Umsetzung len Ressourcen für das strategische und einzelner NIV-Projekte und des Gesamt­ operative NIV-Management zu berück­ ansatzes erfordert einen frühzeitigen Ein­ sichtigen. Finanzielle Reserven ermög­ bezug der wichtigsten Interessengruppen. lichen, offen auf Projektideen zu reagie­ Verbindliche Vereinbarungen und eine ren, die erst in der Vorbereitung einer enge Zusammenarbeit zwischen den Ak­ Großveranstaltung entstehen. teuren sowie ein systematischer und kon­ sequenter Austausch sind wesentliche Abschließend kann festgehalten werden, Erfol­gsfaktoren für eine erfolgreiche Um­ dass die Ski-WM 2017 für Veranstalter und setzung des NIV-­Konzepts. Austragungsorte wertvolle Erkenntnisse zu 55 Organisation und Governance: Beinhaltet den Möglichkeiten und Grenzen des NIV-­ das NIV-Konzept langfristige Projekte Ansatzes lieferte. Die Erfahrungen haben ge­ und Ziele, die über die operative Durch­ zeigt, dass es mit einem bei den Anspruchs­ führung der Veranstaltung hinausgehen, gruppen breit abgestützten NIV-Konzept ist die Umsetzung der Projekte für den sowie konkreten Projekten möglich ist, eine Veranstalter anspruchsvoll und selten Großveranstaltung als Plattform zu nutzen, finanzierbar. Aus diesem Grund sollte die um ein positives Vermächtnis für den Sport Verantwortung für den gesamten Prozess und die Austragungsregion zu schaffen. bei der öffentlichen Hand oder einer über­ Dafür müssen jedoch folgende Voraus­ geordneten Dachorga­nisation (z. B. Sport­ setzungen erfüllt sein: verband) liegen. Darüber hinaus kann 1. Frühzeitiger Einbezug und enge Zu­ eine externe strategische Unterstützung sammenarbeit der Stakeholder genutzt werden, um den Management­ 2. Breit abgestütztes NIV-­Konzept prozess oder Analysen durchzuführen, 3. Verbindliche, aufeinander abgestimmte welche prüfen, ob die Großveranstaltung und messbare Ziele nachhaltig war und zu einem Vermächt­ 4. Konkrete Projekte und Maßnahmen zur nis führt oder nicht. Für die konkrete Um­ Erreichung der Ziele setzung sowie das Monitoring und Cont­ 5. Verbindliche Leistungsaufträge für die rolling der Projekte ist es entscheidend, ein Stakeholder operatives NIV-Management durch eine 6. Klare Verantwortlichkeiten und Rollen starke Persönlichkeit im Organisations­ 7. Sicherstellung der Finanzierung (ab­ komitee zu verankern. Um die Interessen gestimmt auf Ziele und Projekte) der Stakeholder zu berücksichtigen, sind 8. Konsequente Umsetzung und laufendes eine frühzeitige Einbindung, eine enge Zu­ Controlling sammenarbeit und verbindliche Abspra­ chen zentrale Erfolgsfaktoren. 55 Finanzierung: Auf der finanziellen Seite ist es zwingend erforderlich, das NIV-­ 24.4  Anwendbarkeit des NIV-Konzepts für Budget für den Managementprozess und die Projekte frühzeitig festzulegen. Die Sportgroßveranstaltungen zeitnahe Sicherstellung eines NIV-­ Budgets ist für die Implementierung des Das NIV-Konzept eignet sich grundsätzlich NIV-Managements (Prozess) und der für alle Großveranstaltungen. Es hat sich je­ NIV-Projekte (Umsetzung) von hoher doch gezeigt, dass die Größe der Ver­ Relevanz und sollte an den Zielen aus­ anstaltung respektive das Budget darüber gerichtet sein. Dabei sind nicht nur die entscheidet, in welchem Umfang und in wel­ finanziellen, sondern auch die personel­ chen Bereichen langfristige Wirkungen er­

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L-Events Eidgenössisches Schwingfest

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XL-Events Ski-WM

XXL-Events Olympische Spiele

weitere Bereiche • allgemeine Infrastruktur • Kompetenzaufbau • gesellschaftliche Aspekte

Sportförderung • sportartspezifische Infrastruktur • Image der Sportart • Nachwuchsförderung Event • Event-Infrastruktur • Logiernächte • Bekanntheit • Image NIV-Konzept kann einen Beitrag leisten. NIV-Konzept kann teilweise einen Beitrag leisten. NIV-Konzept kann keinen Beitrag leisten.

..      Abb. 24.3  Zusammenhang zwischen Veranstaltungsgröße und Beitrag zur Realisierung von NIV-­ Potenzialen. (Nach Stettler et al., 2017a)

zielt werden können. Die Möglichkeiten und Grenzen des NIV-Konzepts in Bezug auf die Veranstaltungsgröße werden in . Abb. 24.3 veranschaulicht. Bei Sportveranstaltungen kann in An­ lehnung an Stettler et  al. (2011) zwischen kleinen und mittleren Veranstaltungen (XS, S und M) und Sportgroßveranstaltungen (L, XL und XXL) unterschieden werden. Sport­ großveranstaltungen zeichnen sich unter an­ derem durch ein Budget von über 1  Mio. CHF (L), über 50 Mio. CHF (XL) oder über 1 Mrd. CHF (XXL) aus (7 Abschn. 24.3). Veranstaltungen der Größe L können langfristig positive Wirkungen in den Be­  



reichen Event (z. B. Infrastruktur) und Touris­ mus (Bekanntheit, Image etc.) hervorrufen. Bei XL-Veranstaltungen wie einer Ski-WM trägt das NIV-Konzept zusätzlich zur Sport­ förderung bei, was bei Veranstaltungen der Größe L selten oder nur teilweise möglich ist. Ein Beispiel für erfolgreiche Sportförderung über eine Veranstaltung der Größe L ist die Leichtathletik-­ Europameisterschaft 2014 in Zürich (Leichtathletik EM 2014 AG, 2015). Das Auslösen eines Vermächtnisses in weiteren Bereichen wie Infrastruktur, Kom­ petenzaufbau oder Gesellschaft ist nur bei XXL-Veranstaltungen wie Olympischen und Paralympischen Spielen der Fall.

417 Nachhaltigkeit, Innovation und Vermächtnis: FIS Alpine…

24.5 

Ausblick

Ein wichtiges Vermächtnis der Ski-WM 2017 für die Sport- und Veranstaltungs­ branche liegt in den Erfahrungen und Er­ kenntnissen, die bei der Umsetzung des NIV-Konzepts und der einzelnen Projekte gesammelt wurden. Diese wurden zum einen im NIV-Bericht der Ski-WM 2017 fest­ gehalten (Stettler et  al., 2017a), zum ande­ ren flossen die Erkenntnisse in die Er­ arbeitung des NIV-Leitfadens ein. Dieser hilft Veranstaltern, Austragungsregionen, aber auch Sportverbänden, eine Großveran­ staltung nachhaltig durchzuführen und als Plattform zu nutzen, um Innovationen aus­ zulösen, die langfristig zu positiven Wirkun­ gen und einem Vermächtnis führen. Die Entwicklung innovativer Konzepte und Ge­ schäftsmodelle fordert nicht nur Kreativität und Mut, sondern auch eine konstruktive Zusammenarbeit mit relevanten Anspruchs­ gruppen, um Prozesse anzustoßen, Ideen zu entwickeln und umzusetzen sowie damit In­ novationen zu fördern. Aus diesem Grund verfolgt der NIV-Leitfaden den Ansatz, dass eine enge Zusammenarbeit der drei wich­ tigsten Anspruchsgruppen (Veranstalter, Austragungsort und Verband) eine not­ wendige Grundvoraussetzung ist (Hand­ lungsfeld 1 des Leitfadens). Entlang von neun weiteren Handlungsfeldern werden im NIV-­ Leitfaden Ziele definiert, notwendige Schritte und Hilfsmittel erläutert und da­ durch das NIV-­Konzept Schritt für Schritt konkretisiert (Stettler et al., 2019). Neben Erkenntnissen aus der Begleitung von einmaligen Sportgroßveranstaltungen zeigt die Analyse der Sporteventförderung in der Schweiz, dass neben der langfristigen und strategischen Planung wiederkehrende Events eine Schlüsselrolle bei der Schaffung

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eines Vermächtnisses einnehmen. Ohne einen wiederkehrenden Anlass als Anker fällt es dem nationalen Sportverband oder möglichen Initianten einer Kandidatur häufig schwer, eine einmalige Sportgroßveranstaltung, wie eine Welt- oder Europameisterschaft, in das Austragungsland zu holen. Reputation, Image und die Bekanntheit der Sportart oder Desti­ nation im In- und Ausland, was über wieder­ kehrende Veranstaltungen erreicht werden kann, spielen eine entscheidende Rolle bei den Vergabeprozessen. Weiterhin findet über die Durchführung von wiederkehrenden Sport­ veranstaltungen ein Kompetenzaufbau statt, der für die Durchführung von einmaligen Großveranstaltungen unabdingbar ist. Das Schaffen eines Vermächtnisses für den Sport und die Austragungsregion ist nur über ein langfristig geplantes und strategisches Event­ portfolio des Sportverbands möglich. Dies sollte neben wiederkehrenden Veranst­ altu­ ngen als Anker einmalige Sportgroßveran­ staltungen beinhalten. Ebenso relevant sind Veranstaltungen im Nachwuchs- und Breiten­ sport, um den Sport in all seinen Facetten zu fördern. Dies gilt nicht nur für die Sport­ förderung, auch die Regionalplanung sollte die Förderung der verschiedenen Eventtypen in allen Bereichen (Kunst, Kultur, Sport etc.) langfristig planen und strategisch zur Er­ reichung von definierten Zielen einsetzen. ? Übungs- und Reflexionsaufgaben 1. Welches Vermächtnis haben Sport­ großveranstaltungen in der Ver­ gangenheit ausgelöst? Wo wurde das vorhandene Potenzial nicht voll aus­ geschöpft? 2. In welchen Bereichen sind in der Zu­ kunft Innovationen bei Sportgroß­ veranstaltungen zu erwarten? (. Abb. 24.1).  

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Zum Weiterlesen empfohlene Literatur Alana, T., Graham, C., Kristine, T., Milli­ cent, K., Paul, B., & Liz, F. (2019) Sport event legacy: A systematic quantitative review of literature. Sport Management Review, 22(3), 295–321.

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419 Nachhaltigkeit, Innovation und Vermächtnis: FIS Alpine…

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421

Serviceteil Stichwortverzeichnis – 423

© Der/die Herausgeber bzw. der/die Autor(en), exklusiv lizenziert an Springer-Verlag GmbH, DE, ein Teil von Springer Nature 2023 P. Gans et al. (Hrsg.), Sportgeographie, https://doi.org/10.1007/978-3-662-66634-0

423

Stichwortverzeichnis A Abenteuertourismus 39 Abfall 94 Action-Sport 39 Active-City-Strategie  200, 205, 213, 214 Affektive Identifikation  312 Agency 241 Agentur 264 Alkohol 149 Alleinstellungsmerkmal –– einer Stadt  310 Alpen –– Klimawandel 105 Alpenkonvention  104, 113 Alpinismus 23 Alternative Sports  39 Angebotsseitige Effekte eines Sportvereins  221 Anspruchsgruppe 410 Arabische Halbinsel –– geographische Eckdaten  146 Arbeitskräfteangebot 177 Arbeitskräftenachfrage 177 Arbeitslosigkeit  178, 181 Arbeitsmarkt 177 –– regionaler 191 –– sportbedingter 177 –– Sportberuf  181 –– sportbezogener 179 Arbeitsmarktanalyse 185 Arbeitsmarktstatistik  178, 186 Arbeitsmarkttyp 191 Architektur –– Ausstrahlungseffekt 389 –– ikonische 391 Assoziatives Markennetzwerk  223 Ausdauersportevent 207 Ausländerregelung 257 Ausnahmeregelung –– im Umweltschutz  113 Außenwahrnehmung –– einer Stadt  307, 310, 315 Ausstrahlungseffekt –– gelungener Architektur  389 –– intangibler 394

B Ballsport 349 Barrierefreiheit 379 Basistheorie 161 Bebauungsplan (B-Plan)  344

Befahrungsverbot 44 Begegnungsort –– transnationaler 72 Begegnungsraum 12 Beherbergungswesen –– ökonomischer Effekt von Sportgroßveranstaltungen 160 Bekanntheitsgrad –– einer Stadt  307, 315 Bekleidungsvorschrift 149 Benachteiligter Sozialraum  289, 294, 298, 300 Beruf –– sportbezogener 179 Berufsfachlichkeit 179 Berufssport –– Bruttoentgelt 184 Beschäftigung  177, 178 –– sportbezogene  185, 187, 191, 192 Beschäftigungseffekt 203 Beschäftigungsverhältnis 187 Beschneiung  8, 92, 103, 109, 110 –– Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP)  113 –– Wasserverbrauch 110 Beteiligungsverfahren 344 Bevölkerung –– ökonomischer Effekt von Sportgroßveranstaltungen 160 Bevölkerungsentwicklung 380 Bevölkerungsverlagerung 380 Bewegung –– adäquate 293 –– und Gesundheit  212, 293 Bewegungsangebot  274, 279 –– bei MidnightSports  282 –– niederschwelliges 283 Bewegungsort 54 Bewegungsraum  12, 56, 292, 341, 348 –– für Kinder  293 Bewegungsraum-Management  357, 364 Bewegungsverhalten 275 Bike-Polo 53 Binnenwanderung 255 Biodiversität 107 Boden 107 Bodenverdichtung –– Pistenkorrektur 107 Bosman-Urteil 258 Bossaball 53 Brachfläche  86, 381 Brandware 57 Breitensport  87, 91, 96 –– Entwicklung durch Sport  246

A–B

424

Stichwortverzeichnis

Bruttoentgelt 184 Bruttoumsatz –– nach Veranstaltungstyp  170 Bruttowertschöpfung 161 Buildering 53

C CO2-Emission 129 –– Pistenpräparation 110 CO2-Fußabdruck –– Olympische Spiele  93, 127 –– Sportgroßveranstaltung 92 Community 242 Conscientization 242 Containerraum  25, 28 Corona-Pandemie  71, 95, 181, 184, 205, 280, 282, 289, 358, 376 Crossminton 53 Crunning 53

D Dammbau 106 Demographischer Wandel  345, 350 Deskillisierung 267 Deutscher Alpenverein  88 Differenz-von-Differenzen-Ansatz 401 Digitalisierung 204 Direkte ökonomische Wirkung  159 Direkter Einkommenseffekt  203, 208 Diskriminierung 143 Downsizing von Sportgroßveranstaltungen  134

E E-Bike 46 Eigenimage  220, 230 Einkommenseffekt  203, 207, 208 Einzelhandel –– ökonomischer Effekt von Sportgroßveranstaltungen 160 Emotionale Bindung –– an Sportstätte  312 –– an Sportverein  317 –– an Stadt  318 E-Mountainbike 88 Empowerment  12, 239, 249 –– Ebenen des Frauenfußballs  241, 243 Empowerment-Konzept  240, 241 Energieverbrauch –– Sportgroßveranstaltung 92 Energiewende 96

Entgelt 184 Entrepreneurship  61, 63 Entwaldung –– für Pistenbau  110 Erosion –– Pistenkorrektur 107 Erwerbstätigkeit –– sportbedingte 177 Espace vécu  56 Experimentalist 54 Extremsport 39

F Fan 327 Fan Club Nationalmannschaft (FCN)  327 Fancamp  328, 330, 332 Fangruppe  224, 227 Fankultur 150 Fanregion 223 Fehlinvestition 410 Fernwanderung 255 FIFA  140, 143 –– Kopftuchverbot 245 FIFA Fußball-Weltmeisterschaft  323 FIFA Fußball-Weltmeisterschaft  2006 –– identitätsstiftende Wirkung  308 FIFA Fußball-Weltmeisterschaft  2014 328 –– Reisemotive 332 FIFA Fußball-Weltmeisterschaft  2022 139, 143 –– Boykottaufruf  151 –– Emissionsneutralität 147 –– Widerstand 148 FIFA World Cups  139, 143, 323, 328 Flächennutzungsplan (FNP)  344 Flächenverbrauch –– Skisport 92 Förderprogramm –– für Sportstätten  345 Frauenfußball  12, 239, 250 –– Entwicklung 243 –– in Europa  247 –– Professionalisierung 248 Freiraum  55, 348, 383 Freizeitangebot 310 Freizügigkeit 266 –– bei Arbeitsplatzwahl  258 Fremdimage  220, 230 Fußball  140, 261, 309, 326 –– identitätsstiftende Wirkung  308 –– Migrationsnetzwerk 265 Fußballfan 327 Fußball-Leistungszentrum 248 Fußball-Weltmeisterschaft  32, 139, 143, 323, 328

425 Stichwortverzeichnis

G

B–K

Hardware 57 Hedonisches Modell  395 Hijab-Verbot 245 Honorarordnung für Architekten und Ingenieure (HOAI)  344 Humanökologie 96

Ikonische Stadionarchitektur  389 –– externe Effekte  394 Ikonisches Gebäudemerkmal  391 Image  11, 25, 32, 220, 313, 391 –– Definition 220 –– Messmethoden 223 Imagetransfer  224, 227 Indirekte ökonomische Wirkung  160 Indirekter Einkommenseffekt  203 Individualsport  39, 87, 96, 348 Industriebrache 348 Induzierter Einkommenseffekt  203 Informeller Sport  52 Infrastruktur 42 Infrastrukturprojekt  373, 378 Inklusion  281, 379 Inline-Downhill 53 Innen- vor Außenentwicklung  359 Innovation  408, 410, 414 Input-Output-Rechnung 211 Instagrammability 41 Intangibler Ausstrahlungseffekt  394 Intangibler Effekt des Sports  206 Integration 12 –– grenzregionale 74 –– grenzüberschreitende  69, 70, 72 –– regionale 78 –– soziale 274–276 –– sportbezogene 277 –– von beeinträchtigten Kindern  279 Integrationsförderung 278 Integrierte Sportentwicklungsplanung  342, 357, 363, 366 Integrierte Sportstättenentwicklungsplanung  344 Integrierte Stadtentwicklung  358, 359 Interaktion  275, 284 –– soziale 278 Internationale Migration  255 Internationales Olympisches Komitee (IOC)  108, 123 Interregionale Wanderung  255 Intraregionale Wanderung  255

I

J

Identifikation  275, 276, 284 –– affektive 312 –– nationalstaatliche 32 –– raumbezogene 307 Identifikationsobjekt 308 Identität 244 –– Definition 307 –– regionale  73, 307 Identitätsbildung 70 Identitätsstiftung  71, 308, 310, 313, 318 –– nationale 393 Ikonische Architektur  391

Jugendliche –– Sportverhalten 275

Gameplan for Growth  247 Gastronomie –– ökonomischer Effekt von Sportgroßveranstaltungen  160, 167 Gebäudemerkmal –– ikonisches 391 Gemeinschaftsgefühl 307 Gemeinwohlorientierung 69 Gemeldete Arbeitsstelle  178, 183 Gesamtbeschäftigung 187 Geschlechterrolle 245 Geschlechterungleichheit 244 Gesundheit  289, 307 –– Kinder und Jugendliche  293 Gesundheitssport 349 Gesundheitsverhalten –– im Erwachsenenalter  293 Globalisierung  255, 261 –– und Migration  256 Globalisierungsprozess  141, 144 Goldener Plan  91, 350, 362 Goldener Plan Ost  350, 362 Golfsport 91 Greenpeace 125 Greenwashing 109 Grenze 69 Grenzraum 69 Grenzüberschreitung  8, 74 Großprojekt 372 Grüne Infrastruktur  357, 359

H

K Kafala-System 10 Kanusport 44 Kapital –– soziales 266 Katar  139, 143, 144 –– Entwicklungsstrategie 148 –– ökologischer Fußabdruck  150

426

Stichwortverzeichnis

Kind –– Sportverhalten 275 Klassifikation der Berufe  179 Kleinstquadratemethode 401 Klettersport 45 Klimaschutz  96, 379 Klimatisierung von Freizeiteinrichtungen  143 Klimawandel  8, 92, 94, 95, 103, 105, 124, 382 Kommerzialisierung 39 Kommunale Sportstättenplanung  349, 362 Konkurrenz –– räumliche 43 Konsumausgabe  161, 167, 172 Konsum-Materialist 54 Konzept –– relationales 28 Kooperation –– grenzüberschreitende  70, 72 Kooperative Sportentwicklungsplanung  363 Körperliche Aktivität  293. Siehe auch Bewegung Korruption  143, 148 Kostenentwicklung –– Olympische Spiele  376 Kostenüberschreitung 409 Kreislauftheorie 161 Kulturation  275, 276, 283 Kulturelle Vielfalt  274 Kumulationseffekt 47 Kunstschnee  92, 104, 105, 107, 110

L Lagebeziehung  6, 41, 341 Landschaft 26 Landschaftsverbrauch –– Errichtung von Sportstätten  85, 91 –– Sportgroßveranstaltung 87 Lawinengefahr 111 Lead user  41 Lebensstil 39 Legacy  9, 123, 125, 131, 133, 377, 407, 410, 414 –– Definition 409 Leipzig Charta  364 Leitfaden für die Sportstättenentwicklungsplanung 362 Lichtverschmutzung 108 Lifestyle Sports  39 Lizensierungssystem 264

M Mängelanalyse 13 –– von Sportstätten  295, 296 Markennetzwerk  223, 230

Megaevent 327. Siehe auch Sportgroßveranstaltung Mehrwertsteuersatz 171 Menschenrechtsverletzung  139, 143, 146, 148 Mensch-Raum-Beziehung 291 Methode der assoziativen Markennetzwerke  223 Methode der kleinsten Quadrate  401 MidnightSports 281 –– Verhaltenskodex  282, 283 Migration 255 –– sportbedingte  12, 255, 256, 261, 262, 267 Migrationshintergrund  274, 289, 294 Migrationsnetzwerk 266 Migrationsroute 262 Migrationssystem 266 Mobilität –– sportbedingte 256 Modell binärer Wahl  401 Motorsport  87, 309 Motorsportveranstaltung –– Bruttoumsatz 170 –– ökonomische Wirkungen  165 Mountainbiking 46 Multi-Item-Befragung 226 Multi-Item-Methode 223 Multiplikatoranalyse 163 Multiplikatoreffekt  171, 203 Multiplikatorprozess 161 Multivariates Modell  396 Mure 111 Musikgroßveranstaltung –– Bruttoumsatz 170 –– ökonomische Wirkungen  165

N Nachfrageseitige Effekte eines Sportvereins  220 Nachhaltigkeit  9, 381, 382, 410, 413 –– Definition 408 –– Olympische Bewegung  124 –– Olympische Sommerspiele  92 –– Olympische Spiele  122, 124, 378 –– Olympische Winterspiele  108 –– Wintersport 103 Nachhaltigkeitsstrategie 121 –– Olympische Spiele  126, 127, 131, 133 Nachholeffekt 208 Nachnutzung 378 Nachtskifahren 108 Nahwanderung 255 Nationale Strategie Sportgroßveranstaltungen  308 Nation-Branding-Strategie 141 Nature sport  39 Naturerlebnis 88 Naturraum 348 Naturrisiko 106

427 Stichwortverzeichnis

Naturschutz  44, 89, 96 –– Olympische Bewegung  125 Naturschutzgebiet  9, 88, 109, 111 –– Aufhebung 110 Natursport 39 –– als ökologischer Faktor  89 –– Raumwirksamkeit 42 Natursportart 87 Nettoumsatz –– nach Veranstaltungstyp  171 Nettowertschöpfung  162, 171 Nettowertschöpfungsquote 171 Netzwerk 263 –– soziales 266 Netzwerk Miteinander Turnen (MiTu)  279 Nichtadditivität 212 Nichtregierungsorganisation 134 NIV-Charta 410 NIV-Konzept  16, 410 –– Erkenntnisse 414 NIV-Projekt 410 Nomadentum  57, 58 Nutzen-Kosten-Analyse 211 Nutzentheorie 203

Olympische Sommerspiele  9 –– Nachhaltigkeit 92 Olympische Spiele  121, 371 –– CO2-Fußabdruck  93, 127 –– Kosten und Nutzen  373 –– Kostenentwicklung 376 –– Nachhaltigkeit  122, 124, 378 –– Nachhaltigkeitsstrategie  126, 127, 131, 133 –– ökologischer Fußabdruck  123, 134 –– Ökologisierung 123 –– Umweltrichtlinien 125 Olympische Winterspiele  32, 103, 110 –– Nachhaltigkeit 108 –– Risiken bei der Durchführung  409 –– Vermächtnisdimensionen 409 Olympisches Dorf   110, 132, 378 –– Brisbane 130 –– London 127 –– Sydney  125, 126 Ordinary Least Squares (OLS)  401 Organisierter Sport  274, 275 Orgware 57 Outdoor-Sport 39 –– Motivgruppen 40

O

P

Oaseneffekt  373, 374 Öffentliche Verwaltung –– ökonomischer Effekt von Sportgroßveranstaltungen 160 Öffentlicher Nahverkehr  378, 380 Öffentlicher Raum  51, 55, 57, 59, 342 –– Privatisierung 382 Öffentlicher Verkehr  129, 132 Ökologie –– Definition 85 Ökologische Belastung  43, 47 Ökologische Instrumentalisierung  9 Ökologischer Fußabdruck  8, 9 –– Katar 150 –– Olympische Spiele  123, 134 –– Skisport 92 –– Sportgroßveranstaltung 87 Ökonomische Instrumentalisierung  9 Ökonomischer Effekt –– Berechnung 213 Ökosystem 201 Ökosystemdienstleistung  122, 357, 359, 382 Olympiagelände –– Brisbane 132 –– London  127, 132 Olympiaplanung 129 Olympic Agenda 2020+5  123 Olympische Bewegung  124

Paddelsport 44 Participatory Competence  242 Partizipation 283 Peer-to-Peer-Ansatz  283, 284 Pistenkorrektur 107 Pistenplanierung 103 Place 25 Planungsderegulierung 374 Platzierung  275, 276, 284 Plogging 53 Politische Instrumentalisierung  10 Post-Event-Zukunft 151 Post-hoc-Test 225 Power 241 Privatisierung –– des öffentlichen Raums  382 Privatwirtschaft –– ökonomischer Effekt von Sportgroßveranstaltungen 160 Professionalisierung einer Sportart  257 Profisport  87, 96, 261 –– Akteursstruktur 264 Pull-Faktor  263, 264 Push-Faktor  263, 264

Q Querschnittsbranche 201

K–Q

428

Stichwortverzeichnis

R Rangkorrelationskoeffizient 187 Raum  23, 289 –– als Container  6, 41 –– als Konstrukt  41 –– als soziales Konstrukt  6 –– als soziale Konstruktion  31, 32 –– als System von Lagebeziehungen  41 –– erlebter  56, 291 –– mediale Repräsentation  32 –– öffentlicher  51, 55, 57, 59, 342 –– topischer 41 –– Typologie 55 –– wahrgenommener 41 Raumaneignung  23, 56, 57 –– durch Trendsport  52 –– grenzüberschreitende 78 –– individuelle 70 Raumausschnitt 26 Raumkonzept  23, 24 –– des Containers  26 Raumordnungsregion (ROR)  186 Raumtypologie 41 Raumunternehmen 62 Raumverständnis 56 Realisierungswettbewerb 344 Regional- und Stadtentwicklungsplanung  9 Regionale Identität  307 Regionalentwicklung 129 Regionalplanung 129 Regressionsanalyse 225 Regressionsverfahren 401 Regulierung –– des Wettbewerbs  257 Regulierungsdichte 44 Reiseentscheidung  325, 331 Reisemotiv  325, 332 –– deutscher Fußballfans  330 Reisemotivation 324 –– Definition 325 Reisemotivforschung 324 Relationales Konzept  28 Resource 241 Restraum 55 Risikosport 39

S SAR-Modell 401 Schneekanone 104 Schneesport 413 Segregation –– soziale 291 Sekundärstatistik 178 Selbstinszenierung 54

Sicherheitslage 410 SINUS-Jugendstudie 54 Skaterszene 57 Skigebiet 103 –– Bewilligung 113 Skiken 53 Skilobby 113 Skisport 413 –– ökologischer Fußabdruck  92 Skiwettbewerb 103 Smart City  200 Smartphone 204 Software 57 Soziale Integration  12, 274, 276 –– Bedingungsfaktoren 276 –– durch organisierten Sport  274 –– vierdimensionales Konzept  275, 283 Soziale Interaktion  278 Soziale Segregation  291 –– Wirkungskette 292 Sozialer Effekt –– von Sportgroßveranstaltungen  307 Soziales Kapital  266 Soziales Netzwerk  266 Sozialkapital 69 Sozialmonitoring  295, 297 –– räumliche Darstellung  299 Sozialraum  290, 291 Sozialraumanalyse  13, 295 Sozioökonomischer Status (SES) –– und Gesundheit  294 Space 25 Spatial turn  23 Speicherbecken 104–106 Spikeball 53 Sport 341 –– Definition  3, 85, 360 –– Entwicklung 240 –– Förderung durch die EU  72 –– geschlechtsspezifische Unterschiede  348 –– gesellschaftliche Wahrnehmung  32 –– grenzüberschreitender 78 –– identitätsstiftende Wirkung  308 –– Individualisierung 203 –– informeller 51 –– Instrumentalisierung  9, 141 –– Kommerzialisierung 346 –– Motive  346, 347 –– ökonomische Effekte  203, 210 –– organisierter  274, 275 –– politische Dimension  69 –– Transformation 6 –– und Arbeitsmarkt  177 –– und Ökologie  85 –– und Stadt  199 –– und urbanes Grün  360

429 Stichwortverzeichnis

Sport- und Stadtentwicklung  201 Sportakademie 143 Sportangebot 274 –– digitales 346 –– niederschwelliges 279 Sportanlage 341 Sportart  3, 87, 361 –– fitness- und gesundheitsorientierte  348 –– hegemoniale 242 –– männliche vs. weibliche  242 –– Professionalisierung  247, 257 Sportartikelhersteller 41 Sportbedingte Migration  255, 256, 261, 267 –– Motive 262 Sportbedingte Mobilität  256 Sportberuf   181, 187 –– Beschäftigungsverhältnis 190 Sportbezogene Integration  277 Sportentwicklungsplanung  55, 294, 295, 357, 364 –– Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse  300 –– integrierte  342, 357, 363, 366 –– kooperative 363 Sportform  4, 348, 361 Sportgeographie –– Entwicklung 4 Sportgroßveranstaltung  96, 121, 142, 249, 327, 407. Siehe auch Olympische Spiele –– Boykott 142 –– Energieverbrauch 92 –– Landschaftsverbrauch 85 –– NIV-Konzept 415 –– Landschaftsverbrauch 87 –– ökologischer Fußabdruck  92 –– ökonomische Wirkungen  159 –– ökonomischer Nutzen  412 –– soziale Effekte  307 –– touristischer Nutzen  412 –– Umweltbelastung 122 –– Umweltschutz 125 –– Umweltauswirkungen  93, 121 –– Umweltverträglichkeit 133 –– Vergabe  139, 140141 –– Vorbereitung und Durchführung  147 Sportification 59 Sportifizierung 142 Sportinfrastruktur 93 Sportisierung 85 Sportives Zeitalter  85 Sportkonsum 202 Sportlandschaft 41 Sportmarkt 142 Sportmegaevent 141. Siehe auch Sportgroßveranstaltung Sportmigrationsforschung 256 Sportökologie  8, 85, 86 –– integrative 96

R–S

Sport-Ökosystem 201 –– urbanes  201, 203, 205 Sportorientierter Veranstaltungsurlaub  323 Sportraum  4, 240, 290, 341 –– in benachteiligten Sozialräumen  289 –– Definition 240 –– sportbezogene Ungleichwertigkeit  300 Sportsatellitenkonto  178, 212 Sportscape  27, 41 Sportstätte –– Bedarf  350 –– in benachteiligten Sozialräumen  289, 300 –– emotionale Bindung  312, 313 –– Förderung 345 –– identitätsstiftende Wirkung  313 –– interkommunale Kooperation  349 –– Mängelanalyse  295, 296 –– Sanierungsbedarf  351 –– Sicherheit 291 –– sportbezogene Ungleichwertigkeit  300 –– Standardisierung 350 Sportstättenentwicklungsplanung  14, 295, 342, 362 –– integrierte 344 Sportstättenplanung 341 –– kommunale  349, 362 Sportstudio 204 Sportswashing  69, 141 Sporttourismus  139, 323 –– Systematisierung 324 Sportunterricht 350 Sportverein  204, 361 –– identitätsstiftende Wirkung  318 –– ökonomische Effekte  220 Sportverhalten  14, 341, 342, 346, 350 –– Bevölkerung mit Migrationshintergrund  275 –– Stadt vs. Land  349 Sportwirtschaft 201 Sportwissenschaft 47 Stadionarchitektur –– ikonische 389 Stadionneubau 389 –– Preiseffekte 396 –– und Nachbarschaft  389 Stadt –– als Bewegungsraum  351 –– Festivalisierung  373, 382 –– Wachstum 345 Städtebau 371 Städtebauliches Großprojekt  371, 372 Stadtentwicklung  199, 342, 372, 373 –– integrierte  199, 200, 358, 359 –– nachhaltige  357, 383 –– profitorientierte 15 Stadtentwicklungskonzept 300 Stadtentwicklungspolitik 389 –– auf Stadtteilebene  401

430

Stichwortverzeichnis

Stadterneuerung  372, 382 Stadtimage 228 Städtische Revitalisierung  374 Stadtnatur –– Definition 358 Stadtplanung  55, 58, 371, 374 Stadtpolitik 372 –– unternehmerische 380 Stadtraum –– unbestimmter 55 Stadtteilentwicklung 59 Stadtumbau  379, 380, 382 Standortfaktor 220 Standortimage  219, 222 Standortmarketing 375 Stand-up-Paddling 44 Stiftung IdéeSport  281, 282 Strukturwandel 346 Sustainable Development Goals (SDGs)  408 System von Lagebeziehungen  28, 41, 341

Umweltschutzkonzept –– von Sportgroßveranstaltungen  121 Umweltverträglichkeit –– von Sportgroßveranstaltungen  133 Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP)  113 Umweltzertifizierung 109 Urban hacking  59 Urbaner Transformationsprozess  373 Urbanes Grün  357, 358, 382 –– Definition 358 Urbanes Sport-Ökosystem  201, 203, 205 Urbanisierungsgrad 358 Urlaubsreisemotiv  325, 332 –– deutscher Fußballfans  330 Urlaubsreisemotivation 324 –– Definition 325 Urlaubsreisemotivforschung 324

T

Varianzanalyse (ANOVA)  225 Vegetation 107 Veranstalter 159 Verdrängungseffekt  163, 208 Vereinsimage 228 Vereinssport 39 –– grenzüberschreitender 71 Verhaltenskodex  282, 283 Verkehrsplanung 129 Verlängerung der Wertschöpfungskette  208 Verletzung –– von Menschenrechten  139, 143, 146, 148 –– von Umweltrecht  113 Vermächtnis 407. Siehe auch Legacy Versportlichung der Gesellschaft  85 Vertiefung der Wertschöpfungskette  209 Vision 410 Visitor footprint  122

Talentförderstrategie 248 Tangibler Effekt des Sports  206 Teilhabe  275, 276 Teilhabechance 274 Title IX Federal Education Amendment  243 Tour de France  23 Tourismus  23, 409 Tourismuswirtschaft 39 –– ökonomischer Effekt von Sportgroßveranstaltungen 160 Transformationsprozess –– urbaner 373 TranSPORT(S) 73 Trendsport 39 –– Definition 51 Trendsportler 54 Triathlon 208 Trinkwasser 94 Turnier der kurzen Wege  147 TV-Übertragungsrecht 261

U Uferbetretungsverbot 44 Ultimate Frisbee  53 Umweltbelastung –– durch Sportgroßveranstaltungen  121, 122 Umweltqualität 121 Umweltrecht 113 Umweltrichtlinie –– Olympische Spiele  125 Umweltschutz  9, 109, 113 –– Olympische Bewegung  124 –– Sportgroßveranstaltung 125

V

W Wahrnehmung –– der Stadt  314 –– des Raums  6, 30, 42 –– eines Orts  307 –– von Sport  142 Wandern 73 Warenproduktion –– sportbezogene 177 Wasserhaushalt 105 Wasserknappheit 105 Wasserkonflikt 105 Wasserqualität 105 Wasserverbrauch –– Beschneiung 110 –– Golfsport 91

431 Stichwortverzeichnis

Wasserverfügbarkeit 104 Waterfront 381 Waterfront Development  377 Wertschöpfung  161, 303, 412 –– räumliche 212 Wertschöpfungsanalyse 162 Wertschöpfungskette  207, 208, 209 Wertschöpfungskonzept 207 Wettbewerb –– grenzüberschreitender 71 –– Regulierung 257 Wettbewerbsdruck 256 Wintersport –– Nachhaltigkeit 103

Wintersporttourismus  92, 95 Wirgefühl  310, 318, 410 Wirkungsanalyse  10, 159, 161 –– NIV-Konzept 412 Wirtschaftszweig 190 Wohlfahrtseffekt  203, 213

Z Zwischenmiete  60, 61 Zwischennutzung  60, 61

S–Z