Familie und Comic: Kritische Perspektiven auf soziale Mikrostrukturen in grafischen Narrationen 9783110786392, 9783110786361

As a pop-cultural medium, comics in particular present multifaceted perspectives on contemporary and historical concepts

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Familie und Comic: Kritische Perspektiven auf soziale Mikrostrukturen in grafischen Narrationen
 9783110786392, 9783110786361

Table of contents :
Inhaltsverzeichnis
Framing families – familiäre Konstrukte im Comic
Museum, Art & Family
Einleitung: Ausgestellte Familienbande. Überlegungen zur (musealen) Präsentation (auto)biografischer Comics im Spannungsfeld von Fakt und Fiktion
Roter Faden und Re-animation: Beobachtungen zu den Funktionen von Horst Steins Museumscomic für das Haydn-Geburtshaus in Rohrau
Vater und Sohn – und wo ist die Mutter? Das Motiv der Familie in den Bildgeschichten und Witzzeichnungen von Erich Ohser. Ein Bericht aus dem Erich-Ohser-Haus
Queering Family
Einleitung: Queering family. Heteronormative Familienkonzepte durchque( e)ren
Un_familiäre Selbst. Des- und Re-Orientierung in Parsua Bashis Nylon Road
So etwas wie Shape-Shifter? Trans✶ Familien in Joris Bas Backers und Nettmanns Familienjuwelen und Maurizio Onanos Oma Herbert
Caring masculinities, Diversität und queere Familienentwürfe in Something Positive und Kevin and Kell
Everyday (S)Heroes
Einleitung: Assemblage, Rhizome und soziokulturelles Futter – wie Comics familiären Alltag erzählen
Der Geschmack von (Familien-)Erinnerung. Alimentäre Kommunikation im Comic
Jüdische Familiengeschichten. Die generations- und grenzüberschreitenden Comics von Aline Kominsky-Crumb, Diane Noomin und Shira Spector
Es ist angerichtet! Familienstrukturen als Comicbausteine bei Alison Bechdel und Nando von Arb
Un/Familiar Super(s)heroes
Einleitung: Un/familiar super(s)heroes – Superheld✶innen zwischen Familienalltag und Ausnahmezustand
Eine super normale Familie? Blicke und Relationen in The Vision
Familienüberzeichnung bei Ms. Marvel: Partizipative Umgestaltungsprozesse als kunstpädagogische Chance
Interviews mit Comicschaffenden & Künstler✶innenstatements: Family matters
Einleitung: Family matters – Interviews mit Comicschaffenden & Künstler✶innenstatements
„Töchter“ und andere Familienangelegenheiten
Zumutbare Wahrheit
„Mein liebstes Medium ist alles gleichzeitig.“
Character cats – Die Katzenfamilie als tägliche Inspirationsquelle für eine Parallelwelt in progress
Verbandelt
Life of a Rookie – the Beginning. Ein Comic von Felizia Sonberger
Autor✶innenverzeichnis

Citation preview

Familie und Comic

Comicstudien

Herausgegeben von Juliane Blank, Irmela Marei Krüger-Fürhoff und Véronique Sina Advisory Board Ole Frahm · Sylvia Kesper-Biermann · Stephan Köhn · Markus Kuhn · Marina Rauchenbacher · Marie Schröer · Daniel Stein · Jan-Noël Thon · Janina Wildfeuer

Band 1

Familie und Comic Kritische Perspektiven auf soziale Mikrostrukturen in grafischen Narrationen Herausgegeben von Barbara Margarethe Eggert, Kalina Kupczyńska und Véronique Sina

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Österreichischen Kulturforums Warschau.

ISBN 978-3-11-078636-1 e-ISBN (PDF) 978-3-11-078639-2 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-078644-6 ISSN 2941-9549 Library of Congress Control Number: 2023910514 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2023 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Felizia Sonberger Satz: Integra Software Services Pvt. Ltd. Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck www.degruyter.com

Inhaltsverzeichnis Barbara M. Eggert, Kalina Kupczyńska und Véronique Sina Framing families – familiäre Konstrukte im Comic 1

Museum, Art & Family Barbara M. Eggert Einleitung: Ausgestellte Familienbande. Überlegungen zur (musealen) Präsentation (auto)biografischer Comics im Spannungsfeld von Fakt und Fiktion 11 Barbara M. Eggert Roter Faden und Re-animation: Beobachtungen zu den Funktionen von Horst Steins Museumscomic für das Haydn-Geburtshaus in Rohrau 15 Iris Haist Vater und Sohn – und wo ist die Mutter? Das Motiv der Familie in den Bildgeschichten und Witzzeichnungen von Erich Ohser. Ein Bericht aus dem Erich-Ohser-Haus 29

Queering Family Véronique Sina Einleitung: Queering family. Heteronormative Familienkonzepte durch-que(e)ren 49 Marina Rauchenbacher Un_familiäre Selbst. Des- und Re-Orientierung in Parsua Bashis Nylon Road 55 Katharina Serles So etwas wie Shape-Shifter? Trans✶ Familien in Joris Bas Backers und Nettmanns Familienjuwelen und Maurizio Onanos Oma Herbert 69

VI

Inhaltsverzeichnis

Elisabeth Klar Caring masculinities, Diversität und queere Familienentwürfe in Something Positive und Kevin and Kell 83

Everyday (S)Heroes Kalina Kupczyńska Einleitung: Assemblage, Rhizome und soziokulturelles Futter – wie Comics familiären Alltag erzählen 101 Marie Schröer Der Geschmack von (Familien-)Erinnerung. Alimentäre Kommunikation im Comic 107 Véronique Sina Jüdische Familiengeschichten. Die generations- und grenzüberschreitenden Comics von Aline Kominsky-Crumb, Diane Noomin und Shira Spector 129 Joanna Nowotny Es ist angerichtet! Familienstrukturen als Comicbausteine bei Alison Bechdel und Nando von Arb 151

Un/Familiar Super(s)heroes Daniel Stein Einleitung: Un/familiar super(s)heroes – Superheld✶innen zwischen Familienalltag und Ausnahmezustand 171 Björn Hochschild Eine super normale Familie? Blicke und Relationen in The Vision Klara Huber Familienüberzeichnung bei Ms. Marvel: Partizipative Umgestaltungsprozesse als kunstpädagogische Chance

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Inhaltsverzeichnis

Interviews mit Comicschaffenden & Künstler✶innenstatements: Family matters Kalina Kupczyńska Einleitung: Family matters – Interviews mit Comicschaffenden & 219 Künstler✶innenstatements „Töchter“ und andere Familienangelegenheiten 225 Ein Interview mit Stephanie Wunderlich, durchgeführt von Ilona Stütz unter der Beteiligung von James Sullivan Zumutbare Wahrheit 237 Ein Interview mit Leopold Maurer und Regina Hofer über „Insekten“, durchgeführt von Lisa-Viktoria Niederberger und Petra Weixelbraun „Mein liebstes Medium ist alles gleichzeitig.“ 245 Anna Kohlweis über textile Kunst mit Persönlichkeit, ihre künstlerische Entwicklung und Familienmodelle im Austausch mit Felizia Sonberger und Taylor Crosby Character cats – Die Katzenfamilie als tägliche Inspirationsquelle für eine Parallelwelt in progress 253 Isabella Griessenberger antwortet Barbara M. Eggert auf Fragen zu ihren vierbeinigen Mitbewohner✶innen Sheree Domingo Verbandelt 263

Life of a Rookie – the Beginning. Ein Comic von Felizia Sonberger Autor✶innenverzeichnis

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Barbara M. Eggert, Kalina Kupczyńska und Véronique Sina

Framing families – familiäre Konstrukte im Comic Theoretische Vorbemerkungen Um heute, im zweiten Dezennium des 21. Jahrhunderts ‚Familie‘ adäquat zu beschreiben, reicht der bewährte Rekurs auf biologische Blutsverwandtschaft nicht aus. Die Feminismus- und Gender-Theoretikerin Linda Nicholson schreibt mit Blick auf die viel beschworene ‚traditionelle Familie‘: „This common-sense of family history is [...] mythical“ (Nicholson 1999, 78). Nicholson greift auf Studien zur Familiengeschichte zurück und weist darauf hin, dass es allein im Westeuropa des 18. und 19. Jahrhunderts mindestens zwei verschiedene Definitionen von Familie gab, die allerdings beide davon abweichen, was heute als ‚nukleare Familie‘ betrachtet wird; die Klassenunterschiede wurden bei dieser Differenzierung mitberücksichtigt. Wie die Forscherin betont, bedeutet das altlateinische Wort familia nichts anderes als ‚Haus‘, im Sinn von ‚Haushalt‘, d. h. die Gesamtheit der Bewohner✶innen, nicht die biologische Verwandtschaft (Nicholson 1999, 80). Die Kulturwissenschaftlerin Christina von Braun weist u. a. anhand zahlreicher ethnologischer Befunde nach, dass es sich bei Verwandtschaft um ein kulturelles Konstrukt handelt. In vielen indigenen Kulturen entscheidet über die Verwandtschaft nicht die Abstammung, sondern die Tatsache, dass sich Angehörige einer Gruppe von einem Boden ernähren bzw. ihr Essen miteinander teilen (von Braun 2018, 27, 29). In den westlichen Kulturen brachte die Reproduktionstechnologie eine Wende in der Betrachtungsweise der Familie; von Braun veranschaulicht dies u. a. an der neuen Vielfalt der Definitionen von Mutterschaft und Vaterschaft: Neben dem juristischen Vater gibt es den sozialen Vater (der sich um das Kind kümmert, mit dem er nicht leiblich verwandt ist), und es gibt den Samenspender (den leiblichen Vater, der meistens keine Beziehung zu seinen Sprösslingen hat). (2018, 403)

und [...] neben der sozialen Mutter der Patchworkfamilie entstand auch die genetische Mutter, die intentionale Mutter, die Tragemutter, die Eizellspenderin usw. (2018, 403)

Von Braun konstatiert weiterhin: „Die beiden Begriffe ‚Vater‘ und ‚Mutter‘ nehmen heute mehrere Bedeutungen an; oder aber sie wurden, wie in Frankreich, ganz aus dem Gesetzbuch gestrichen: Im novellierten Code Civil ist nur noch von Elternteil 1 und Elternteil 2 die Rede“ (2018, 403). https://doi.org/10.1515/9783110786392-001

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Barbara M. Eggert, Kalina Kupczyńska und Véronique Sina

Hinzukommen die durch gleichgeschlechtliche Beziehungen entstehenden neuen Verwandtschaftsformen, auch „family of choice“, ‚Wahlfamilien‘ genannt, mit denen „der Begriff und die Praxis von Verwandtschaft neu [...] verhandelt“ werden (2018, 439). Im vorliegenden Band liegt der Fokus auf der Vielfalt familiärer Modelle und deren Repräsentation im Medium Comic, dabei ist es das Anliegen der Herausgeberinnen, die alternativen und/oder queeren Familienformen und deren Organisationsstrukturen und Dynamiken des Zusammenlebens stärker zu berücksichtigen. Hierzu gibt es in soziologischer Forschung empirische Studien, in denen die Eigenart der Familienverhältnisse untersucht wird. Dazu gehört u. a. die Frage nach der Beziehung zu biologischen Verwandten der queeren Familienangehörigen, zum Einfluss gesellschaftlicher Faktoren (wie etwa juristische Lage der LGBTQ✶-Personen im jeweiligen Land bzw. Bundesland), zu sozialen Herausforderungen, mit denen sie konfrontiert sind (etwa: Umgang mit Institutionen). Wie die US-amerikanische Forschung nachweist, vollzieht sich mit der steigenden Akzeptanz für queere Paare, Kohabitationsformen, Patchworkfamilien und Alleinerziehende ein Wandel in der kulturellen Wahrnehmung der Familie (Pain 2020, 277). Nach wie vor gelten bei der Selbstdefinition als Familie – auch unter nichtheteronormativen Familien – einige zentrale Aspekte wie gemeinsamer Haushalt, biologische und/oder legalisierte Bande solche wie Ehe oder Kinder, emotionale Unterstützung. In der soziologischen Forschung wird Familie zunehmend auch performativ aufgefasst: „Family is something people do, rather than only something they have or are“ (Pain 2020, 277). So wird eine große Diversität an queeren Familienformen verzeichnet – von Nuklearfamilien bis hin zu nichtnormativen polyamourösen Kohabitationsformen. In der einschlägigen Forschung wird darauf hingewiesen, dass allein schon die Existenz von queeren Familien und die von ihnen gemachten Erfahrungen eine kritische Hinterfragung der traditionellen Auffassung von Gender, Sexualität und Familie impliziert.1 Die Heteronormativität und die damit verbundenen Verwandtschaftsmodelle werden dabei nicht abgelehnt, sondern durch alternative Formen des Zusammenlebens herausgefordert. Die größte Hürde bleibt für queere Familien ein „Monozentrismus“ – sowohl auf der institutionellen Ebene als auch in Beziehungen zu anderen (Pain 2020, 288; Butterfield und Padavic 2014, 760, 768).

 Vgl. Fish und Russell 2018, 14–15: „Queer families and identities, however, are complex, dynamic, personally meaningful, developmentally situated, historically located, socially ascribed and diverse in ways that have not been captured in family science scholarship. [...] Thus, understanding queer families involves critical analysis of the normative forces of gender and sexuality as well as race and social class (and other axes of oppression) that shape experiences and possibilities of families.“

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Der soziologische Diskurs zu queeren Verwandtschaftsformen liefert einige wichtige Ansätze für eine Beschäftigung mit alternativen Familienformen: ‚Queering family‘ bedeutet zum einen eine veränderte Perspektive auf solche Elemente der Familiennarrative wie etwa Generationenabfolge oder auch allgemeiner die zeitliche Dimension der Verwandtschaftsverhältnisse, zum anderen richtet es den Fokus auf die unrealistische, weil verzerrte Art und Weise, wie die weiße heterosexuelle middle oder upper class Familie als tradiertes Modell der Verwandtschaft betrachtet (de facto: idealisiert) wird (Kilgard 2014, 98–100). Die kulturwissenschaftliche Perspektive auf die fluktuierenden Verwandtschaftsmodelle betont die Bedeutung der sozialen Verwandtschaft: Dies gilt gleichermaßen für homosexuelle, heterosexuelle, bisexuelle und andere Formen der Beziehung. In jeder von ihnen ist der leiblichen Verwandtschaft – gleichgültig ob sie natürlich oder reproduktionstechnisch zustandekam – kein langes Glück beschert, wenn sie nicht auf einem sozialen Beziehungsgeflecht basiert. (von Braun 2018, 487)

Und auch in den Gender und Queer Studies lassen sich verschiedene Studien finden, die sich mit Fragen der Diversität und Familienmodellen jenseits heteronormativer Verwandtschaftsbeziehungen auseinandersetzen (siehe etwa Holzleithner u. a. 2020). In der Folge verändern sich auch die Erklärungs- bzw. Darstellungsmodi: „Von vielen Forschern wird heute gefordert, Verwandtschaft nicht mehr in Kategorien von linearer Abstammung, sondern in Form eines horizontalen Netzwerks zu denken“ (von Braun 2018, 489). Dies entspricht den intendierten bzw. real praktizierten flachen Machtstrukturen innerhalb queerer Familien.2 An diese Befunde schließen sich auch einige der Forschungsfragen an, die in der Sektion „Queering family“ präsentiert werden.

Repräsentation von Familienkonzepten im Comic Eine Familie von Gezeichneten lautet der deutsche Untertitel von Alison Bechdels autobiographischem Comic Fun Home (2006, dt. Übersetzung 2008), in dessen Zent-

 Christina von Braun bemerkt dazu: „In der traditionellen Hetero-Familie ist die alte Konstellation – Vater gleich Kultur, Mutter gleich Natur – vorherrschend. Bei den homosexuellen Beziehungen sind diese Rollen austauschbar. [...] Der eine der beiden Elternteile bleibt dennoch kultureller oder sozialer Art – nur ist diese Rolle nicht auf ein bestimmtes Geschlecht festgelegt. [...] Anders als in der Patrilinearität gilt der kulturelle Part weniger als die genetische Verwandtschaft. Das lässt sich an den Bemühungen vieler homosexueller Paare ablesen, ihre Verwandtschaftsverhältnisse sowohl jenseits von Machthierarchien (‚zwei Eltern mit potentiell gleicher Macht‘) als auch jenseits der Kategorien von ‚intentional‘ oder ‚gewählt‘ anzusiedeln“ (2018, 442).

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Barbara M. Eggert, Kalina Kupczyńska und Véronique Sina

rum Bechdels Kindheit und Jugend mit einem Fokus auf die Vater-Tochter-Beziehung stehen. Während das englische Pendant, A Family Tragicomic, auf die (Genre-)Ambivalenz der Graphic Novel verweist, die bezüglich ihrer Inszenierung sowohl tragische als auch komödienhafte Züge aufweist, spielt der deutsche Untertitel mit der Doppeldeutigkeit des Wortes „gezeichnet“. Bechdel (re-)präsentiert nicht nur in vielschichtiger Weise im Medium Comic ihre eigene Familie, sie zeigt auch, inwiefern der Druck durch (patriarchalisch-heteronormativ geprägte) Rollenerwartungen familiäre Strukturen prägt, Entfaltungsräume einschränkt und sich bei den Familienmitgliedern physisch und psychisch einschreiben kann. Es entstehen Verletzungen, Narben, Traumata und andere Wundmale, die bisweilen über Generationen hinweg tradiert werden. Dass insbesondere das potenziell multimodale Medium Comic es vermag, die vielfältigen Facetten von bestehenden mikrosozialen Konstrukten zu reflektieren und alternative Konzepte von Familie aufzuzeigen, führen die wissenschaftlichen und künstlerischen Beiträge im vorliegenden Band deutlich vor Augen. Dies beginnt bereits im paratextuellen Bereich des Covers, das eine Illustration der Grazer Zeichnerin Feli Sonberger zeigt. Das Verhältnis, in dem die drei Wesen zueinanderstehen, ist nicht eindeutig definiert. Um ein klassisches Familienportrait mit Vater, Mutter, Kind(ern), gegebenenfalls Hund, handelt es sich jedenfalls nicht. Sind die drei ein Team, verbindet sie Freund✶innenschaft oder handelt es sich um eine chosen family mit Transspezies-Mitgliedern? Offenkundig ist, dass sich die drei Figuren nahestehen: Feli Sonberger hat ein durchbrochenes Cluster aus ihnen gebildet, bei dem sich die Konturen teilweise überschneiden und die Körper partiell miteinander verschmelzen. Zu einer visuellen Engführung der Charaktere tragen ferner farbliche und formelle Übereinstimmungen bei, worauf noch eingegangen werden soll. In der Mitte des Dreiergespanns befindet sich eine weiblich zu lesende Figur, deren Körper frontal ausgerichtet ist. Sie hat ihren rechten Arm erhoben und winkt aus dem Bildraum heraus. Angesichts der fototypischen Pose der Trias kann die Geste aber auch als Aktivierung eines digitalen Selbstauslösers interpretiert werden: Nach dieser Lesart würde nicht nur das Zusammensein gezeigt, sondern auch dessen technisch reproduzierte Dokumentation in der Tradition des Gruppen- oder Familienfotos festgehalten. Dieses Spiel mit Bild und Abbild wird in Sonbergers Zine Life of a Rookie – The Beginning (2021) fortgeführt, in dem die Coverillustration in abgewandelter Form vorkommt. Der linke Arm der Frauenfigur hängt hingegen passiv herab und verdeckt hierdurch ihre linke Konturlinie in Höhe von Hüfte und Oberschenkel. Gleichzeitig macht der Arm den Übergang zur bärenartigen Gestalt zu ihrer Linken unsichtbar, die ebenfalls frontal dargestellt ist – und erweist hierdurch seine metaphorische Funktion. Im Englischen gibt es den Begriff joined at the hip für Personen, die unzertrennlich sind – und im Fall dieses Paares wir die Unzertrennlichkeit in vielschichtiger Weise inszeniert: durch den geringen Abstand zueinander, durch die

Framing families – familiäre Konstrukte im Comic

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identische Körper- und Armhaltung, durch den Schulterschluss, bei dem sich die rechten Arme überlagern, sowie durch die identische Einfärbung der Hose der Frau und des Fells (oder ist es ein Kostüm?) der bärigen Erscheinung, die eine gemeinsame Farbfläche bilden. Die Zugehörigkeit der anthropomorphisierten Gans zu dieser Dyade wird subtiler kommuniziert: Ganz links in der Zeichnung angeordnet eröffnet sie den Figurenreigen. Auch wenn ihr menschlicher Körper, der mit Schal, Jacke, Rock und Schuhen bekleidet ist, eine frontale Ausrichtung aufweist, hat sie ihren Kopf nach rechts gewendet – zu den beiden anderen Figuren. Ihr Schnabel legt sich über den Arm der zentralen Frauenfigur und wird von diesem hinterfangen. Weitere Berührungspunkte gibt es an den Schuhen. Diese wie auch die Jacke des Gänsewesens weisen dieselbe Farbe wie die Hose und das Fellgewand auf. Vom Kleidungsstil ähnelt die Figur der jungen Frau, doch weist der Rock in Bezug auf Farbe und Form Übereinstimmungen mit der Bauchzone des Bärenwesens auf. Verbindet man durch Diagonale jeweils den höchsten und tiefsten Punkt der blauen Farbflächen, indem man eine abfallende Linie von der rechten Schulter der Gänsejacke zum linken Bärenfuß und eine aufsteigende Linie vom rechen Gänseschuh zum linken Bärenohr zieht, so überschneiden sich diese auf Höhe des Hosenknopfes der Frauenfigur, der wiederum vor ihrem Bauchnabel platziert ist, und werden hierdurch zu Nabellinien. Hat die Frauenfigur die anderen beiden Charaktere erschaffen – oder warum laufen hier die Linien zusammen? Der Titelillustration von Feli Sonberger und ihr Comic, dessen Abdruck die vorliegende Publikation beschließt, beinhaltet im Keim viele Fragen, um die es auch in den anderen wissenschaftlichen und künstlerischen Beiträgen geht: Wie findet Familiengenese statt? Wer bestimmt, wie Familie und familiäre Aufgabenteilung definiert sind, wer legt die Regeln fest? Wer gehört dazu – und wer nicht?

Struktur und Dank Ausgangspunkt für die vorliegende Publikation war das internationale OnlineSymposium „Eine Familie wie sie im Buche steht? Kritische Reflexionen über die Darstellung von sozialen Microstrukturen im Medium Comic“, das am 19. und 20. März 2021 im Rahmen des NextComic-Festivals Linz stattfand. Das Symposium bildete den wissenschaftlichen Auftakt für das seit 2009 jährlich stattfindende Ausstellungsevent, das im Jahr 2021 den thematischen Schwerpunkt auf next family setzte. Initiiert und organisiert wurde das Online-Symposium von Barbara Margarethe Eggert (Merz Akademie – Hochschule für Gestaltung, Kunst und Medien, Stuttgart), die auch den artist talk, sowie die Panels „Künstlerfamilien – Familienkünstler“, „Super(s)heroes – Superfamilies?“ sowie „Comics & art education“

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Barbara M. Eggert, Kalina Kupczyńska und Véronique Sina

konzipierte. Das Panel „Queering Family“ wurde auf Einladung von der AG Comicforschung der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM) vertreten durch Kalina Kupczyńska (Universität Lodz) und Véronique Sina (damals Universität Mainz, nun Goethe-Universität Frankfurt) in Kooperation mit der Österreichischen Gesellschaft für Comic-Forschung und -Vermittlung (OeGeC) aufgestellt. Ausgewählte Vorträge des Symposiums wurden für die Publikation verschriftlicht. Um ein breiteres Spektrum in Bezug auf Genres und Familienformen zu gewährleisten, wurden zusätzlich weitere Autor✶innen angefragt. Neben wissenschaftlichen Analysen dokumentiert der Band auch künstlerische Perspektiven auf das Thema Familie. So reflektieren die Comickünstlerinnen Sheree Domingo und Isabella Griessenberger über den Stellenwert der Familie in ihrem eigenen Schaffen. Diese werden durch drei Interviews mit Comicschaffenden ergänzt, deren Arbeiten 2021 beim Festival in Linz gezeigt wurden. Die Interviews wurden von Studierenden der Kunstuniversität Linz und Studierenden der New Yorker Fordham University geführt, die im Wintersemester 2020/2021 an einer Kooperationslehrveranstaltung von Barbara M. Eggert (damals Linz) und Susanne Hafner (New York) teilgenommen hatten. Die Beiträge zeichnen sich durch eine große Bandbreite an Familienkonzepten und -konstellationen sowie durch ihre Perspektivenvielfalt auf des Phänomen Familie aus. Die Sektion „Museum, Art & Family“ eröffnet den Band mit zwei Beiträgen, die sich dem Thema Ausstellungen widmen und dabei Raumkonstellationen in Verbindung mit der künstlerischen Repräsentation von Familien im Medium Comic fokussieren. Die darauffolgende Sektion „Queering family“ versammelt insgesamt drei Aufsätze, die sich aus gender- und queertheoretischer Perspektive mit der Verhandlung familiärer Strukturen in analogen und digitalen Comics auseinandersetzen. In der mit „Everyday (S)Heroes“ betitelten dritten Sektion des Bandes finden sich wiederum Texte, die sich aus verschiedenen disziplinären Zugängen der Thematisierung des familiären Alltags im Comic nähern. Einen Einblick in den vielschichtigen Referenzrahmen, den familiäre Verbindungen für das comictypische Genre der Superheld✶innen liefern, bietet die vierte Sektion des Bandes unter dem Titel „Un/Familiar Super(s)heroes“. Den Abschluss des Bandes bildet die bereits erwähnte Sektion „Family matters“. Die hier präsentierten Künstler✶innen-Statements und -interviews ergänzen die comicwissenschaftlichen Texte um eine oftmals vernachlässigte künstlerische Position. Wir möchten uns sehr herzlich bei Myrto Aspioti und Stella Diedrich vom De Gruyter Verlag für die freundliche und zuverlässige Betreuung des Buchprojektes bedanken und bei den Reihenherausgeberinnen dafür, dass unser Buchprojekt in die „Comicstudien“ aufgenommen wurde. Unser Dank gilt ferner allen Autor✶innen für die gute Kooperation in allen Redaktionsphasen der Publikation. Den Studierenden der Kunstuniversität Linz und der Universität Fordham aus dem Projektseminar von

Framing families – familiäre Konstrukte im Comic

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Barbara M. Eggert und Susanne Hafner danken wir fürs Mitmachen, für die Durchführung und redaktionelle Vorbereitung der Interviews mit den Comickünstler✶innen. Für ihren Comicbeitrag und die schöne Umschlagszeichnung danken wir Felizia Sonberger. Ein besonderer Dank gilt schließlich Barbara M. Eggert für die Idee, ‚Familie‘ zum Thema des NextComic-Festivals 2021 zu machen, wo der vorliegende Band seinen Anfang genommen hatte, für ihre Arbeit an der Vorbereitung und der Koordination des Symposiums „Eine Familie, wie sie im Buche steht?“, und last but not least für ihren ansteckenden Enthusiasmus. Der finanziellen Unterstützung durch die Kunstuniversität Linz, die Merz Akademie, das NextComic-Festival und das Österreichische Kulturforum Warschau ist es zu verdanken, dass aus „Familie und Comic“ ein Buchprojekt geworden ist.

Quellenverzeichnis Butterfield, Jonniann und Irene Padavic. „The Impact of Legal Inequality on Relational Power in Planned Lesbian Families“. Gender and Society 28.5 (2014), 752–774. Fish, Jessica N. und Stephen T Russell. „Queering Methodologies to Understand Queer Families“. Family Relations 76 (2018), 12–25. Holzleithner, Elisabeth, Julia Teschlade, Almut Peukert, Christine Wimbauer und Mona Motakef (Hg.). GENDER – Sonderheft 5 | Elternschaft und Familie jenseits von Heteronormativität und Zweigeschlechtlichkeit. Berlin: Barbara Budrich, 2020. Kilgard, Amy K. „Tossing and Turning: Queering Performances of Family Narrative“. Cultural Studies ↔ Critical Methodologies 14 (2014), 95–101. Nicholson, Linda. The Play of Reason. From Modern to Postmodern. Ithaca, NY: Cornell University Press 1999. Pain, Emily. „Queer Polyfamily Performativity: Family Practices and Adaptive Strategies Among LGBTQ + Polyamorists“. Journal of GLBT Family Studies 16.3 (2020), 277–292. von Braun, Christina. Blutsbande. Verwandtschaft als Kulturgeschichte. Berlin: Aufbau, 2018.

Museum, Art & Family

Barbara M. Eggert

Einleitung: Ausgestellte Familienbande. Überlegungen zur (musealen) Präsentation (auto)biografischer Comics im Spannungsfeld von Fakt und Fiktion Im Vorwort zum Ausstellungskatalog Family Matters zur gleichnamigen Ausstellung im Dom Museum Wien (2019/2020) beschreibt die Kuratorin Johanna Schwanberg die Familie als „Ort der Nähe, Ort der Gewalt, Ort des Diskurses“ (2019, 14). Hierbei stellt sie eine Diskrepanz zwischen der „historischen Dimension und der ungebrochenen Aktualität“ des Familiennarrativs einerseits und dem „avancierten Kunstgeschehen“ (Schwanberg 2019, 22) sowie dem Ausstellungsbetrieb andererseits fest. In letzteren wird „Familie von wenigen Ausnahmen abgesehen eher marginal behandelt“ (Schwanberg 2019, 22). Anders als in Literatur, Film und Wissenschaft, so Schwanberg, gebe es „gerade im Kunstbetrieb besondere Berührungsängste mit der Familienthematik, der nachwievor [sic!] ein verstaubter Beigeschmack anhaftet“ (2019, 23). Als weiteren Grund für die Unterrepräsentation des Themas im Sektor der bildenden Künste führt sie die „ideologische Vereinnahmung des Themas durch die Nationalsozialisten und deren Propaganda“ an (Schwanberg 2019, 23). „Oft scheint eine explizite kritische Dekonstruktion dieser Bilder die einzig angebrachte Möglichkeit einer künstlerischen Annäherung an das Thema Familie“ (Schwanberg 2019, 23), so ihr Resümee für die Zeit nach 1945, die mit der Kontinuität der Ikonographie der oft idealisierten (Kern-)Familie bricht. Diese Kontinuität beschreibt z. B. Daniela Hammer-Tugendhat (2019) im selben Ausstellungskatalog für die Zeit vom 13. Jahrhundert bis zum Biedermeier anhand von ausgewählten Kunstwerken. Ein besonders drastisches Beispiel für die Dekonstruktion des geschönten Familienbildes hingegen sind die schonungslosen Familienfotos von Richard Billingham (1996), in denen er seinen alkoholabhängigen Vater ebenso vorführt wie die kettenrauchende Mutter. Viele zeitgenössische Comicschaffende kennen ebenfalls keine Berührungsängste mit der Thematisierung von un(ge)schön(t)en Familienseiten. Als besonders staubaufwirbelnd erweisen sich in diesem Kontext die (kollaborativen) autobiografisch inspirierten Arbeiten der Crumbs. Deren Unerschrockenheit führte nicht zuletzt die Ausstellung R. Crumb, Aline Kominsky-Crumb, and Sophie Crumb: Sauve qui peut ! (Run for Your Life) geballt vor Augen, die von Februar bis März 2022 in der Pariser Dependance der Galerie David Zwirner zu sehen war und die Crumb’sche Familientradition fortführte, Tabus zu brechen und Schmutzwäsche in der Öffentlichkeit zu https://doi.org/10.1515/9783110786392-002

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Barbara M. Eggert

waschen. Dass die Familienthematik im Medium Comic mit seinen unterschiedlichen Genres von den comictypischen Superheld✶innen-Formaten bis hin zu (auto-)biografischen Text-Bild-Narrationen heute mehr denn je eine wichtige Rolle spielt, zeigen bereits das von Sarah Lightman und Eva Hesse herausgegebene Heft Family and Conflict in Graphic Narratives, das 2022 in der Reihe Studies in Comics erschien, wie auch die vielfältigen Beispiele im vorliegenden Band. Gerade (auto-)biografischen Comics ist hierbei das Spannungsfeld von (Alb-)Traum und Wirklichkeit, Fiktion und Realität eingeschrieben. Lynda Barry bringt dies auf den Punkt, wenn sie ihre Avatarin sinnieren lässt: „Is it autobiography if parts of it are not true? Is it fiction if parts of it are?“ (2002, 7). Auch die autobiografisch getönten Zeichnungen Erich Ohsers sowie Horst Steins biografische Blätter zur Familie Haydn, die im Rahmen dieses Teilkapitels analysiert werden, sind in der fruchtbaren Grauzone zwischen Fakt und Fiktion angesiedelt. Obgleich alle Unterkapitel der vorliegenden Publikation unterschiedlichen Teilaspekten der (Re-)Präsentation von Familie im Comic gewidmet sind, gilt dies in besonderer Weise für den folgenden Abschnitt, der die Komplexitätsschraube noch um eine Windung weiter dreht: Die hier vereinten Beiträge fokussieren auto- und heteroreferenzielle Comics mit Familienthematik im Kontext von Ausstellungen und thematisieren die Repräsentation im Raum (vgl. auch Eggert 2020). Barbara Margarethe Eggert nimmt den Comiczyklus über die Musikerfamilie Haydn in den Blick, den Horst Stein 2017 für die Wiedereröffnung des Haydn Geburtshauses Rohrau (Niederösterreich) schuf. Sie zeigt, wie durch den Bilderreigen ein narrativer Faden durch die Ausstellungsräume gespannt wird, der Zeit und Raum verflicht und den Mitgliedern der Familie Haydn auf unterschiedliche Weise zur Präsenz verhilft. Hierbei tut sich im Ausstellungsraum ein Dialog zwischen originalen Exponaten aus den Landessammlungen Niederösterreich sowie den von Stein imaginierten Einblicken in das Familienleben auf. Während Stein in seinem Zyklus verstorbene Familienmitglieder sichtbar macht, blendet Erich Ohser in seinen Vater und Sohn-Bildgeschichten die Figur der Mutter aus: Aus kuratorischer Perspektive widmet sich Iris Haist in ihrem Beitrag dem Motiv der Familie in ausgewählten Bildgeschichten und Witzzeichnungen von e.o.plauen, die im Rahmen der von ihr (mit-)kuratierten Ausstellung Vater und Sohn – Ganz real! von September 2021 bis März 2022 in der Galerie e.o.plauen in Plauen gezeigt wurden. In ihrem Text arbeitet sie u. a. den autobiografischen Entstehungskontext der Beispiele heraus, die mit ihren bisweilen stereotypen Gender-Klischees „in überzeichneter Form einen Einblick in die private Sphäre des Künstlers sowie in seine Ansichten, Wertvorstellungen und Wünsche“ geben (Haist im vorliegenden Band). Die Sichtbarmachung der autobiografischen Hintergrundfolie zu Ohsers Zeichnungen war auch ein zentrales Anliegen der Ausstellung, worauf bereits der Ausstellungstitel rekurriert.

Ausgestellte Familienbande

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Während eine Vielzahl von autobiografischen (insbesondere Bechdel 2006; Brenneisen 2019; Gloeckner 2002) und biografischen Comics (v. a. Jones 2008; Macellari 2020) gerade die Dysfunktionalität der Herkunftsfamilie beleuchten, entwerfen Ohser und Stein auf ganz unterschiedliche Weise utopische Familienvisionen, die gleichwohl (auto-)biografisch verwurzelt sind. Während Ohser seine eigenen Erlebnisse karikaturistisch überformt, (er-)findet Horst Stein Bilder für das, was hätte sein können. Beide schöpfen für ihre grafischen Narrationen aus dem privaten Familienleben. Das eigene (im Falle von Ohser) oder das fremde Kunstschaffen (der durch Stein portraitierten Haydns) – spielt bei den von Eggert und Haist analysierten Beispielen hingegen allenfalls eine untergeordnete Rolle. Diese Gewichtung des Privaten im Vergleich zur beruflichen Vita ist ein Zugang, der vielen (Auto-)Biografien im Medium Comic und auch Ausstellungskatalogen eignet. Die von Trina Robbins in Kooperation mit Anne Timmons und Margaret „Mo“ Oh geschaffene Biografie der Comicpionierin Lily Renée (2011) widmet beispielsweise dem Comicschaffen der Protagonistin lediglich sieben von insgesamt 78 Comicseiten. Aber auch in historischen Überblickswerken (Robbins 2013; Robbins 2020) und Ausstellungskatalogen (Kennedy 2017; Streeten und Tate 2018), die Cartoons und Comics von weiblich sozialisierten Personen fokussieren, wird dem familiären Umfeld ein wichtiger Stellenwert beigemessen. Comics werden – wie andere künstlerisch-medialen Formen auch – durch die sozioökonomischen Umstände ihrer Schöpfer✶innen geprägt. Das soziale Milieu, die Herkunftsfamilie, chosen families wie biologische Familienbande, zählen zu den Faktoren der Produktionsbedingungen. Sie sind der bisweilen durchaus auch toxische Humus, auf dem der Comic wilde Blüten treibt und mitunter ungeahnte Gewächse sprießen lässt. Den Humus zum Thema zu machen, ist für alle Kunstschaffenden relevant. Gerade Ausstellungen, in deren Rahmen flankierend (auto)biografische Artefakte gezeigt und der historische Kontext sichtbar gemacht werden, erweisen sich als probates Mittel um zu zeigen, aufgrund oder trotz welcher Umstände Comics entstehen.

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Roter Faden und Re-animation: Beobachtungen zu den Funktionen von Horst Steins Museumscomic für das Haydn-Geburtshaus in Rohrau Wenn die Rede von Comics im Allgemeinen und Museumscomics im Besonderen ist, sind in der Regel grafische Erzählungen in Form von Büchern, Heften sowie Comicstrips in Zeitschriften oder Zeitungen gemeint.1 Neben dieser ‚Familie‘ der analogen Comicmedien existieren spätestens seit 1996 ferner die digitalen ‚Verwandten‘, die sogenannten Webcomics, also Formate, die – nach der Definition von Björn Hammel – „online publiziert werden, und zu deren Rezeption ein Endgerät mit Internetzugang benötigt wird“ (2014, 23). Immer mehr Comicschaffende produzieren mittlerweile direkt für das Internet und passen sich hierbei an die jeweiligen Konventionen der gewählten Plattformen an oder spielen mit damit – sowohl stilistisch als auch formal.2 Dieses Spiel mit der genuinen Architektur des jeweiligen Mediums ist auch analogen Comicformaten zu eigen. Im Buch- bzw. Heftkörper tut sich hierbei ein dreidimensionaler Raum auf, der lesend und blätternd durchmessen wird (u. a. Chute und Jagoda 2014; Eckhoff-Heindl 2018; Trinkwitz 2021). Oft sind in diesem Raum wiederkehrende Bildmotive miteinander verflochten und spannen einen roten Faden durch die Erzählung, über Seiten und Panelzwischenräume (gutters) hinweg, ein Phänomen, das mit Thierry Groensteen als „braiding“ bezeichnet wird (Groensteen 2007, 146). Mit dem vorliegenden Beitrag über den im Jahr 2017 entstandenen Haydn-Zyklus von Horst Stein möchte ich nun eine weitere Form von grafischen Narrationen ins Spiel bringen, die die Grenzen der Trägermedien Papier und Bildschirm überschreitet und das braiding in den dreidimensionalen, architektonischen Innenraum ausdehnt. Die Rede ist von Comics und Comicelementen in Museen und anderen Ausstellungskontexten, insbesondere solchen, die dezidiert für Ausstellungskontexte geschaffen wurden.3 Gemäß dem Schwerpunkt des vorliegenden Bandes wird der Fokus meines kunst- und ausstellungswissenschaftlich verorteten Beitrags

 Zu Museumscomics, die dieser Definition folgen, siehe Yu-Kiener 2020.  Siehe auch den Beitrag von Elisabeth Klar im vorliegenden Band.  Beim Ausstellungsraum und seiner spezifischen Rhythmisierung durch Vitrinen, Rahmen, Sockel etc. handelt es sich um ein eigenes ‚Trägermedium‘, dessen genuine (narrative) Regeln ich in meinem Habilitationsprojekt erforsche (siehe auch Eggert 2020). https://doi.org/10.1515/9783110786392-003

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darauf liegen, wie Horst Stein in seinem orts- und kontextspezifischen Comic für die Räume des Haydn-Geburtshauses im Niederösterreichischen Rohrau die dort ehemals ansässige Familie Haydn inszeniert und re-animiert. Gleichzeitig wird anhand der Analyse einiger ausgewählter Blätter des Haydn-Zyklus’ exemplarisch eine Reihe von ästhetischen und vermittelnden Funktionen aufgezeigt, die Comics in Ausstellungskontexten wahrnehmen können.4

Comicspezifische Elemente des Haydn-Zyklus Handelt es sich bei den Blättern von Horst Stein überhaupt um einen Comic? Im Ausstellungskatalog wird der Zyklus als „graphic novel“ (Hanak-Lettner 2017, 27) bezeichnet. Dies ist irritierend, wird die (umstrittene) Bezeichnung Graphic Novel doch üblicherweise auf umfangreichere Comics angewendet, die in Buchform veröffentlicht werden – wobei mit diesem formalen Kriterium oft die inhaltliche Komponente einer in sich abgeschlossenen Erzählung verknüpft wird (vgl. u. a. Chute 2017, insbes. 16–21; Cates 2020; Williams 2020, 6–10; Etter 2021, 3). Weder die formale noch die inhaltliche Komponente dieser Definition trifft für den Haydn-Zyklus zu, da er weder in Buchform publiziert wurde noch eine in sich abgeschlossene Narration bietet. Allerdings entfaltet Horst Stein über die acht Blätter hinweg eine – nicht immer chronologische – grafische Erzählung, die Comicelemente beinhaltet. So weist das hier reproduzierte Blatt (Abb. 1), das den Beginn der musikalischen Ausbildung der berühmten Komponistenbrüder Joseph und Michael Haydn visualisiert, comictypische, voneinander getrennte, panelartige Bildfelder auf, zwischen denen sich – wie im Comic üblich – Abstände (gutters) befinden. Die Textelemente werden entweder in Sprechblasen arrangiert, wenn Stein z. B. die Haydns selbst zu Wort kommen lässt, oder aber werden ungerahmt in das Layout integriert, wie in vorliegendem Beispiel, wenn sich die Kaiserin Marie Theresia bei ihrem Friseur beklagt, dass Joseph Haydn seine Mitchorknaben zum Klettern auf dem Gerüst von Schönbrunn animiert habe. Um auf dem nächsten Blatt weiter lesen zu können, kann man nicht einfach blättern (oder swipen), sondern muss sich durch das Gebäude bewegen und auf die Suche begeben, gleichsam räumliche gutters überwinden, denn die acht Blätter

 Durch diesen Fokus auf Funktionalität hat der vorliegende Beitrag einen anderen Schwerpunkt als beispielsweise Kim Munson in dem von ihr herausgegebenen Band „Comic Art in Museums“ (2020), dessen Beiträge die Perspektive auf Comics als Kunst- und Ausstellungsobjekte vereint.

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Abb. 1: Horst Stein (W/A) und Werner Hanak-Lettner (W). Von Rohrau über Hainburg ins größte Haus der Welt. 2017, Sepia-Technik auf Büttenpapier, 62 x 46 cm. St. Pölten: Landessammlungen Niederösterreich. In: Werner Hanak-Lettner. Joseph und Michael Haydn. Von Rohrau in die Welt. AK Haydn Geburtshaus Rohrau. St. Pölten: Niederösterreichisches Landesmuseum, 2017. 44–45.

sind über die Ausstellungsräume verteilt, wobei es letztlich keine fixe Abfolge gibt, weder für die Räume noch für die Comicblätter. Sehr wohl existiert aber eine verbindende Storyline. Für den Ausstellungskontext definiert Charlotte Martinz-Turek den Begriff ‚Storyline‘ als einen inhaltsorientierten Leitfaden der mittels Ausstellungsobjekten, Texten und anderen Medien eine Aussage (oder mehrere) treffen will (2009, 15–16). Die Exponate sind hierbei in der Regel als Herzstück der Storyline zu begreifen, zu deren Inszenierung und Interpretation Texte und andere Begleitmedien sowie die Ausstellungsgestaltung (z. B. Lichtregie) dienen. Martinz-Turek unterscheidet im Folgenden zwischen „Erzählungen, die bewusst konzipiert wurden“ und solchen, „die jenseits jeglicher Intention scheinbar feststehende gesellschaftliche Werte tradieren“ (2009, 15). Bei der Ausstellung im Haydn-Geburtshaus ist eine der bewusst konzipierten Erzählungen im Sinne von Martinz-Turek die Familiengeschichte, die sich in diesem Haus abgespielt hat, in dem die gesamte Familie Haydn gemeinsam lebte. Eine wesentliche Aufgabe des Haydn-Zyklus von Horst Stein besteht folglich darin, alle Mitglieder der Familie Haydn und nicht nur die prominenten Komponistenbrüder in den Ausstellungsräumen wieder sichtbar

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zu machen sowie das Haus als Lebenszentrum der Familie Haydn zu (re)animieren. In meiner Typologie des Ausstellens von Comics, der ich mich in einem anderen Kontext gewidmet habe (siehe u. a. Eggert 2020), unterscheide ich zunächst zwischen Ausstellungen über Comics und – wie im Falle von Rohrau – Ausstellungen mit Comics. Während bei ersterem Typus die Comickunst thematisch im Zentrum der Ausstellung steht – sei es, die nationale oder internationale Geschichte des Comics oder das Werk mehrerer und einzelner Comicschaffender – werden bei letzterem Typus Comics oder Comicelemente zu Vermittlungszwecken oder als Teil des Ausstellungsdesigns funktionalisiert. Dies ist in den meisten Fällen der ‚Kunstfunktion‘ des Mediums abträglich. Nicht so bei der Arbeit von Horst Stein. Das liegt zum einen an der Ausführung zum anderen an der Präsentation.

Ausführung und Präsentation Der Zyklus für das Haydn-Geburtshaus umfasst insgesamt acht Blätter mit den Maßen 62 x 46 cm in Sepiatechnik (Büttenpapier mit Tuschezeichnungen), die verschiedene Abschnitte aus dem Leben bzw. Nachleben der Familie Haydn festhalten. Obgleich sich diese chronologisch (und thematisch) sortieren lassen und den Zeitraum von der Kindheit der Geschwister Haydn in den 1730er Jahren bis zu Einblicken in die Haydn-Forschung im Jahr 2017 abdecken, müssen sie nicht zwangsläufig linear gelesen werden.5 Drei der Blätter zeigen Ausschnitte aus dem Familienleben – und hierauf konzentriere ich mich in meinen folgenden Ausführungen. Diese, wie auch die übrigen Blätter des achtteiligen Zyklus, sind in die Informationstafeln an den Ausstellungswänden integriert und werden hinter Glas präsentiert. Hierdurch werden sie als Ausstellungsexponate markiert und als Kunst bzw. Originale inszeniert – gleichwertig beispielsweise den Originaldokumenten in der Ausstellung. Diese Präsentationsweise täuscht allerdings darüber hinweg, dass in der Ausstellung hochwertige Kopien gezeigt werden, während sich die originalen Sepiazeichnungen im Depot der Landessammlungen Niederösterreich in St. Pölten befinden.6  Zu nicht-linearen Comiclektüren siehe u. a. Eckhoff-Heindl 2018.  Da eine intensive Auseinandersetzung mit der Debatte um das Original in diesem Kontext nicht zielführend ist, sei an dieser Stelle nur exemplarisch auf weiterführende Literatur verwiesen (Frahm 2010, 37, Grünewald 2020 und Mahler 2007, insbes. 30). Das Interesse an Originalzeichnungen von Comics ist hierbei kein internationales Phänomen, sondern spiegelt eine westliche Konvention wider, die nicht zuletzt theoretisch an Walter Benjamins Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit anknüpft (Benjamin 1939). In Japan hingegen wird in Bezug auf Manga-Ausstellungen die Verwendung von genga‘ (dash) hochqualitativen, fak-

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Entstehungsanlass und Ausstellungskontext Der konkrete Entstehungsanlass für den Zyklus war die Wiedereröffnung der von Werner Hanak-Lettner kuratierten Haydn-Gedenkstätte im Jahr 2017.7 Als museumsverwandte Institutionen nehmen Gedenkstätten wie Geburts-, Wohn- und Sterbehäuser berühmter Persönlichkeiten eine Sonderstellung ein (Seibert 2011, 20–22; Bohnenkamp et al. 2015; Kahl und Kalvelage 2016). Insbesondere durch den Personen- und Geniekult des 19. Jahrhunderts erhielten sie einen starken Aufschwung. In authentisch-auratischer Atmosphäre (Stichwort genius loci) sollen an diesen biografisch aufgeladenen Orten Kunst- und Künstler✶innenmythen rund um das – meist männliche – Genie für die Besuchenden sichtbar oder gar erfahrbar gemacht werden (Bohnenkamp 2015; Drecoll u. a. 2019). Es ist diesem räumlich-örtlichen Wahrnehmungsdispositiv geschuldet, dass Personen, die das Kunstschaffen dieser Kultfiguren erst ermöglichten, so z. B. die Familie und das Personal, häufig gar nicht oder allenfalls am Rande vorkommen.8 In Rohrau hat man sich bewusst für einen anderen Weg entschieden. Schon der Name „Haydn Geburtshaus“ bezieht sich nicht nur auf die berühmten Komponistenbrüder: Die permanente Ausstellung, so Kurator Hanak-Lettner, „stellt die Kindheit und Jugend der Haydn-Kinder und die frühe Karriere der beiden angehenden Komponisten Joseph und Michael in den Mittelpunkt“ (2017, 10). Außerdem, so ist zu ergänzen, nimmt das Haus selbst als verbindender Lebensraum der vielköpfigen Familie eine zentrale Rolle ein. Das von Ludwig van Beethoven als „schlichte Bauernhütte“ (Nohl 1931, 5)9 bezeichnete Gebäude, ein ebenerdiges, strohgedecktes Kleinhaus, hatte der Wagnermeister Mathias Haydn im Jahr 1727 vor seiner Hochzeit mit der Marktrichterstochter und Schlossköchin Maria Anna Koller im Jahr 1728 selbst errichtet. Die nächste Abbildung (Abb. 2) zeigt die heutige Raumaufteilung und hält darüber hinaus die unterschiedlichen Bauphasen fest. Die Fragezeichen im Schema von Peter Aichinger-Rosenberger machen deut-

simile-artigen Kopien praktiziert und akzeptiert (International Manga Museum Kyoto 2011; vgl. Berndt 2019).  Das erste Mal wurde das Haus im Jahr 1959 eröffnet (Hanak-Lettner 2017, 17). Es ist somit die jüngste museal genutzte Haydn-Gedächtnisstätte in Österreich. 1982 wurde das Haus anlässlich des 250. Geburtstages von Joseph Haydn umfassend renoviert (Hanak-Lettner 2017, 23).  Ein Grund hierfür ist gewiss darin zu sehen, dass für die Zeitabschnitte bis in die 1950er Jahre hinein die Dokumentationslage für das weniger prominente Umfeld oft eher mager ausfällt – aber auch das Festhalten am Klischee des „einsamen Genies“ als wichtigem „Mythos vom Künstler“, so auch der Titel des erstmals 1937 erschienen Buches von Kris und Kurz, spielt hier eine wichtige Rolle.  „‚Sieh, mein ... schlichte Bauernhütte, wo ein so großer Mann geboren ward!‘“ (zitiert nach Nohl 1931, 5).

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Abb. 2: Peter Aichinger-Rosenberger. Schematischer Baualterplan. In: Hanak-Lettner 2017. 34.

lich, dass für die meisten Räume unklar ist, wie sie ursprünglich verwendet wurden.10 Mit dieser Wissenslücke geht die permanente Dauerausstellung, in die der Comiczyklus eingebunden ist, sehr offen um.

Familie im Fokus Neben der (frühen) Karriere der Komponistenbrüder, die fernab von der Familie und Rohrau u. a. in Wien und London stattfand, nimmt Horst Stein auf zwei Blättern seines Zyklusʼ das häusliche Familienleben in den Blick. Auf diese – wie zu

 Der erste Raum links der Einfahrt beherbergt heute Kassa und Museumsshop. Es wird vermutet, dass dort ursprünglich die Küche gewesen sein könnte (Hanak-Lettner 2017, 34–35). Auf dem Grund, wo sich ehemals die Wagner-Werkstatt von Vater Mathias befand, wurden vom 19. Jahrhundert bis 1959 angrenzende Neubauten errichtet, die heute den größten Raum der Gedenkstätte ausmachen. In diesen Räumen steht das musikalische Handwerk von Joseph und Michael Haydn im Mittelpunkt, dem im Zyklus von Horst Stein drei Bilder gewidmet sind. Aufgrund des Fokus der vorliegenden Publikation auf soziale Mikrostrukturen wird auf diese Blätter hier nicht näher eingegangen, doch ist dem gesamten Zyklus ein Unterkapitel in meiner Habilitationsschrift gewidmet.

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zeigen sein wird – in mehrfacher Hinsicht ortsspezifischen Blätter und ihren räumlichen Kontext innerhalb der Ausstellung werde ich im Folgenden näher eingehen. Der Raum rechts von der Einfahrt ist einer der Räume mit ungeklärter Ursprungsbestimmung. Heute ist er der Kindheit des Haydnnachwuchses gewidmet und wurde mit thematisch und chronologisch hierauf abgestimmten Möbeln aus der volkskundlichen Abteilung der Landessammlungen Niederösterreich ausgestattet (Abb. 3).

Abb. 3: Der Raum rechts der Einfahrt. Foto: Nafez Rerhuf.

Hierzu gehören unter anderem eine Wiege und eine Trommel. Von der Ausstattung aus dem Besitz der Familie Haydn ist bis auf einen eingebauten Kachelofen, von dem noch die Rede sein wird, nichts erhalten. Im Raum mit der kindheitsbezogenen Ausstattung begegnen die Museumsgäste einer Zeichnung aus dem Zyklus von Horst Stein, die die Haydn-Kinder versammelt (Abb. 4). Die intradiegetisch-homodiegetische Erzählerin dieser Zeichnung ist Franziska (1730‒1781), die älteste Haydn-Tochter, die hier von Horst Stein im Kreise ihrer Geschwister gezeigt wird. Insgesamt ist sie zweimal auf dem Blatt dargestellt – in zwei verschiedenen Altersstufen. Stein lässt die ältere Franziska die vierte Wand durchbrechen, indem sie per Sprechblase die Ausstellungsgäste adressiert: „Da bin ich gemeinsam mit den Elfen“, erläutert sie den Kranz aus bebilderten, gleichwohl

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Abb. 4: Horst Stein (W/A) und Werner Hanak-Lettner (W). Kleine Haydns. 2017, Sepia-Technik auf Büttenpapier, 62 x 46 cm. St. Pölten: Landessammlungen Niederösterreich. In: Hanak-Lettner 2017. 27.

textlosen Denkblasen, der in der Tat Franziska gemeinsam mit 11 weiteren Kindern zeigt. Diese Blasen inklusive ihrer selbst werden paradoxer Weise von ihrem jüngeren Alter Ego imaginiert, das – ein Huhn in den Armen – mit fünf Jugendlichen auf einem Balken balanciert, die bis auf Franziska alle die Uniform der Chorknaben tragen. Hier bezieht sich Stein auf das eingangs erwähnte Blatt, auf dem von der Schönbrunner Kletteraktion von Joseph Haydn die Rede war (Abb. 1). Gleichzeitig rekurriert er damit auf die comictypische Reduplikation von Körpern, die eingesetzt wird, um Bewegung(sabläufe) zu visualisieren. Franziska ist eines der 12 Kinder, die Maria Anna Koller, verheiratete Haydn, in diesem Haus zur Welt brachte, ehe sie 1754 mit 46 Jahren verstarb. Von den fünf Kindern der zweiten Ehefrau, Maria Anna Seeder, wird keines auch nur ein Jahr alt, und auch von den Kindern aus erster Ehe erreichten nur Franziska und fünf ihrer Geschwister das Erwachsenenalter (Hanak-Lettner 2017, 26). Neben Franziska sind dies die berühmten Komponistenbrüder Joseph (1732–1809) und Johann Michael (1737–1806), sowie Anna Maria (1739–1802), Katharina (1741 bis nach 1768) und Johann Evangelist, der als Sänger Karriere machte (1730–1781). Die Mädchen erhielten ihrem Herkunftsmilieu und der damaligen Zeit entspre-

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chend keine Ausbildung, wie der Kurator im Begleitband zur Ausstellung auch eigens anmerkt (Hanak-Lettner 2017, 9). Dennoch – oder gerade deswegen – lässt Stein hier Franziska zu Wort kommen. Allerdings entspricht das von ihr mit den Betrachtenden geteilte Wissen nicht dem Alter, in dem sie dargestellt ist, denn als Bartholomäus, ihr jüngster Bruder, stirbt, ist Franziska fast 31 Jahre alt. Generell spielt Horst Stein mit verschiedenen Zeit- und Realitätsebenen: So werden auch einige der früh verstorbenen Brüder und Schwestern in einem Alter dargestellt, das sie im wahren Leben nicht erreicht haben. Im Blasenkranz finden sich somit die toten Familienangehörigen auf einer Realitätsebene mit den Lebenden präsentiert. Stein greift hierbei auf eine Bildtradition zurück, die auf das Andenken der Verstorbenen abzielt: Eines von vielen Beispielen hierfür liefert der ebenfalls aus Niederösterreich stammende Barockmaler Martin Johann Schmidt genannt Kremser Schmidt. Das Schmidt’sche Familienportrait (Abb. 5), das die gesamte Familie inclusive Katzen und Kachelofen vereint, war für den familiären Privatgebrauch bestimmt.

Abb. 5: Martin Johann Schmidt. Familienbildnis. 1790, Öl auf Zinkblech, 72,4 × 86,4 cm. Wien: Oberes Belvedere (Leihgabe aus Privatbesitz).

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Der Maler und Familienvater Martin Johann Schmidt integrierte in das Familienbildnis (und andere Gemälde) Portraits seiner verstorbenen Kinder und sicherte so deren Andenken als Familienmitglieder, indem er an das Erinnern erinnerte. Zurück zum Comiczyklus: Wie zu zeigen ist, haben auch die Zeichnungen der Haydn-Eltern, denen ich mich als nächstes zuwenden möchte, eine vielschichtige Stellvertreter✶innenfunktion. Sie befinden sich im zweiten Raum links der Einfahrt (siehe Abb. 2). Dort steht auch der bereits erwähnte Kachelofen, ein Indiz, dass er ursprünglich als Wohnstube gedient haben mag, denn diese wurde üblicherweise beheizt – im Gegensatz zum Schlafbereich (Hanak-Lettner 2017, 34–36). Der Raumdeutung entsprechend wurde der Kachelofen mit zeitlich und funktional passendem Mobiliar aus den Landessammlungen ergänzt (Tisch, Eckbank, Truhe und Geschirr-Regal). Inhaltlich wird hier der Schwerpunkt auf „die Geschichte des Hauses und die Haydn-Eltern gesetzt“ (Hanak-Lettner 2017, 36). Teil der Inszenierung dieses Schwerpunktes sind drei weitere Bilder aus dem Zyklus, die uns die Eltern vorstellen und Beethovens Einschätzung des Hauses als „schlichte Bauernhütte“ (Nohl 1931, 5) im O-Ton zitieren. Beide Eltern werden im Zyklus in Ausübung ihrer Profession gezeigt (Abb. 6). Zuoberst hat Stein die Mutter, Anna Maria Koller, verheiratete Haydn, dargestellt. Direkt unterhalb, teilweise Linien aus dem oberen Panel fortführend, befindet sich das Bild des Wagnermeisters und Familienvaters, Mathias Haydn. Anna Maria Haydn war als Schlossköchin der Grafen Harrach im benachbarten Schloss tätig. Auf dem Blatt zeigt Stein sie insgesamt dreimal – und in verschiedenen Rollen. Im Vordergrund, als Brustbild, fixiert sie die Betrachter✶innen, die sie, analog zu Franziska (Abb. 1), in direkter Rede adressiert. Im Mittelgrund ist sie über die Diagonale liegend mit einem Baby auf der Brust dargestellt. Einen ihrer Füße hält ein Putto umfasst. Ein Medaillon oben rechts zeigt sie beim Hantieren mit einem Topf in der Schlossküche – und visualisiert das nie von ihr angefertigte WunschBild, von dem in der Sprechblase die Rede ist. Das Blatt ist somit auch ein Stellvertreter für ein zeitgenössisches Portrait, das es nie gegeben hat – dies gilt ebenso für die Darstellung ihres Mannes Mathias. In Zunftkluft werkt der Wagnermeister auf dem Blatt an einem defekten Rad und ist in seine Arbeit versunken. Durch die kaputte Speiche werden zwei comictypische Denkblasen sichtbar, die zeigen, dass Mathiasʼ Gedanken bei seiner Familie weilen: Ganz rechts sehen wir den Familienvater selbst an der Spitzharfe, eine langhaarige Frau im Hintergrund greift aus der Denkblase heraus in das Rad und hält dieses an. Überlappt wird diese Denkblase von einer weiteren, in der sich drei Kinder befinden. Einem davon ist ein historisches Zitat aus den biografischen Skizzen von Joseph Haydn in den Mund gelegt, in dem es um das musikalische Leben im Hause Haydn geht.

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Abb. 6: Horst Stein (W/A) und Werner Hanak-Lettner (W). Von den Eltern gibt es kein Portrait. 2017, Sepia-Technik auf Büttenpapier, 62 x 46 cm. St. Pölten: Landessammlungen Niederösterreich. In: Hanak-Lettner 2017. 43.

Mit der Darstellung von Rad und Kochgeschirr werden zwei Exponate aus der Wohnstube aufgegriffen und tragen so zu deren Rechtfertigung als Ausstellungsobjekte bei. Hierdurch erfüllen die Portraits auch eine Legitimierungsfunktion: Das ausgestellte Rad z. B. stammt zwar aus der Jugendzeit der HaydnKinder, nicht jedoch aus der Haydn-Werkstatt. Dass es dies gleichwohl getan

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haben könnte, zeigt die Grafik Horst Steins, die auch ein Objektportrait beinhaltet und so das Thema ‚Stellvertreter✶innenschaft‘ inszeniert. Die schlicht wirkende Pfanne als Ausstellungsobjekt hingegen wird durch die Grafik kontextualisiert und biografisch aufgewertet, stammt sie doch aus der ehemaligen Schlossküche.

Conclusio Bereits aus diesem selektiven Einblick wird deutlich, dass der Zyklus von Horst Stein eng mit dem räumlichen Kontext verknüpft ist, diese Ortsspezifik mitunter explizit thematisiert oder gar erst kreiert, so z. B., wenn die Bilder die Interpretation der möglichen Raumverwendung durch die Darstellung der Familie untermalen. Neben dieser Interpretationsfunktion kommt dem Comiczyklus in mehrfacher Hinsicht auch eine Re-Animierungsfunktion sowie eine Repräsentations- und Memorialfunktion zu, da sie die Familie Haydn als ehemalige Bewohner✶innen der Räume wieder sichtbar machen. Stein verleiht hierbei allen Mitgliedern der Familie Haydn ein Gesicht – dies gilt auch für die Kinder, die nur kurze Zeit überlebt haben, und definiert so Familie als Verbund ihrer lebenden und verstorbenen Mitglieder. Für Unmittelbarkeit sorgt, dass er die Haydns selbst zu Wort kommen lässt und bei den Familienbildern auf die Darstellung einer übergeordneten Erzählinstanz verzichtet. Die grafische Narration verknüpft die einzelnen Räume miteinander und bindet raumgreifend die Exponate mit ein, indem sie Eingang in den Bildraum des Comics finden. Hierdurch wird den Exponaten in der Storyline eine Quasiauthentizität eingehaucht, was weiter oben als Legitimierungsfunktion bezeichnet wurde. Schließlich bezieht sich die grafische Erzählung auf den Raum, der hierdurch zum Bestandteil des Comics wird. Dies gilt auch für die anderen Blätter, die nicht besprochen wurden. Im selben Jahr, in dem der Zyklus entstand und ausgestellt wurde, äußerte sich Andreas Platthaus kritisch in Bezug auf das Ausstellen von Comics: „Es gibt Kunstformen, die nicht für Ausstellungen gemacht sind; Comics gehören wie Literatur dazu. Will man sie partout ausstellen, muss man sich etwas anderes einfallen lassen als Aneinanderreihung“ (2017). Das Beispiel aus Rohrau ist definitiv eine Option für „etwas anderes“ im Platthaus’schen Sinne. Erst in situ können die Komplexität der ortsspezifischen Comicblätter von Horst Stein und ihre Verflechtungen mit den Ausstellungsräumlichkeiten und den Exponaten nachvollzogen werden. Dort erschließt sich das fluide Wechselspiel, die gegenseitige Kontextualisierung von Räumen, Objekten und Comicblättern als Komponenten einer explizit an die Ausstellungsgäste gerichteten Storyline, zu deren Inszenierung und Verdichtung

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die gezeichneten Haydns als intradiegetisch-homodiegetische Erzähler✶innen wesentlich beitragen.

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Vater und Sohn – und wo ist die Mutter? Das Motiv der Familie in den Bildgeschichten und Witzzeichnungen von Erich Ohser. Ein Bericht aus dem Erich-Ohser-Haus Die hier beschriebenen Beobachtungen und Forschungsergebnisse wurden im Zuge der Vorbereitungen auf die Ausstellung Vater und Sohn – Ganz real! gewonnen. Die Schau wurde von September 2021 bis März 2022 in der Galerie e.o.plauen in Plauen präsentiert. Der Text ist als kuratorisches Schlaglicht konzipiert und fokussiert insbesondere die stark autobiografische Prägung des Ohser’schen Schaffens hinsichtlich des Bildmotivs des ‚Konzepts Familie‘, die durch die Gegenüberstellung von Dokumenten aus dem Nachlass mit den Witzzeichnungen erstmals in dieser Tiefe herausgearbeitet wurde. In verschiedenen Gattungen in Erich Ohsers grafischem Werk, u. a. in seinen Bildgeschichten und Witzzeichnungen, findet sich die Institution Familie oder zumindest Mitglieder derselben als ein Hauptthema wieder. Häufig lassen sich autobiografische Anleihen nachweisen und damit auch die Inspiration durch seinen einzigen Sohn Christian und seine Ehefrau Marigard.1 Letztere spielt, wie auch die Mutter Ohsers, keine Rolle in seinen berühmt gewordenen Vater und Sohn-Bildgeschichten. In den Witzzeichnungen tauchen jedoch sehr wohl Bezugspersonen im Familienkontext auf, die als weiblich markiert sind oder sogar konkret als Ohsers Ehefrau identifiziert werden können. Kinder sind stets positiv belegt. Es stellen sich demnach die Fragen nach den (traditionellen) Rollen des Vaters, der Mutter und des Sohnes bzw. der Kinder in diesen Werkgruppen, nach der Bedeutung des Konzepts Familie sowie nach dem autobiografischen Kontext des Erzählten/Gezeichneten. Der vorliegende Beitrag untersucht Bildgeschichten und Witzzeichnungen Ohsers auf das Motiv der traditionellen, heteronormativen Kernfamilie hin und ordnet die Verwendung dieses Bildmotivs zeitlich und biografisch ein.

 Zu Erich Ohsers Leben und Wirken siehe bes. Schulze 2014 und Schulze 2017. https://doi.org/10.1515/9783110786392-004

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Das Konzept Familie in den Witzzeichnungen Wertet man die Cartoons und Witzzeichnungen im Nachlass Erich Ohsers aus, finden sich neben gesellschaftlichen Klischees und sozialen Themen vor allem Familien- und Generationenfragen als Grundfolie für dessen Witze.2 Frauke Klinkers bringt diesen Sachverhalt schon in ihrer Dissertation über Erich Ohser als Zeichner auf den Punkt: Die Konzeption für Familiengeschichten variieren in der Form einer Familienchronik, in Form des Lebenslaufes eines besonders charakteristischen Familienmitgliedes o. ä. [...] Besonders beliebt ist die Konzentration auf die Erlebniswelt des Kindes. Der Alltag, die Spielfreude und die Phantasie des Kindes bieten dem Zeichner ungleich viele Möglichkeiten, komische Ideen wirkungsvoll einzusetzen, als die reglementierte Arbeits- und Alltagswelt der Erwachsenen. (Klinkers 1976, 100–101)

Ohser interessierten die Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen, ihre gegensätzliche Sicht auf die Welt, aber auch die Vertauschung kindlicher und erwachsener Gemüter im jeweils anderen Körper ganz besonders als Kerninhalte seiner Pointen – und das schon seit den 1920er Jahren, bevor er 1931 selbst Vater wurde.3 Diese Tendenz lässt sich bis in die erste Hälfte der 1930er Jahre beobachten. In seinen Witzzeichnungen sind es oft Kinder, die Erwachsenen an Mut, Klugheit und Einfallsreichtum überlegen sind. In einem Witzbild für die Neue Leipziger Zeitung zeichnete er 1934 zum Beispiel einen grimmig schauenden Vater, dem sein aufgeweckter Sohn mit Schultasche gegenübersteht.4 Die Bildunterschrift verrät, was das Kind zu seinem Elternteil sagt: „Vati, die Aufgaben, die du mir gestern gerechnet hast, waren alle falsch. Aber tröste dich, die anderen Väter hatten es auch alle falsch.“ Als weiblich markierte Figuren sind oftmals und durchaus stereotypisch als schön und anziehend, aber auch als oberflächlich und unberechenbar gekennzeichnet. Es sind teils reine Klischeedarstellungen und teils Bildfindungen, die, im Kontext der 1930er Jahre, eine tiefe Verunsicherung des Künstlers mit Blick auf das vermeintlich ‚andere‘ und im Rahmen patriarchalischer Strukturen als hierarchisch ‚untergeordnete‘ weibliche Geschlecht erahnen lassen. So findet sich so Vom besonderen Näheverhältnis zu dieser Stadt zeugt der Umstand, dass Ohser sie in seinen Künstlernamen integrierte. Heute befindet sich sein Nachlass vor Ort. Der Nachlass Erich Ohsers wird seit 2004 von der Erich Ohser – e.o.plauen Stiftung in Plauen betreut. Neben sämtlichen historischen Zeitschriften, illustrierten Büchern, Briefen, Lebensdokumenten und sonstigen Ohsaria verwahrt die Stiftung mittlerweile ca. 1.500 Zeichnungen des Künstlers.  Christian Ohser kam am 20. Dezember 1931 in Berlin zur Welt und blieb das einzige Kind des Ehepaares.  NLZ, 14.09.1934.

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wohl eine scherzhafte Szene von Frauen, die so viel einkaufen, dass sie den tütentragenden Ehemann an den Schuhen identifizieren müssen, als auch eine Zeichnung einer Frau im Schafspelz, betitelt mit „Vamp-Schaf im Lammfell“ (Abb. 1).5 Ab 1924, enger ab 1927, verband Ohser eine ebenso leidenschaftliche wie schwierige, zeitweise sogar dramatische heterosexuelle Beziehung mit Marigard Bantzer, die er 1930 heiratete. Während die (binäre) Rollenverteilung der Geschlechter im 19. und frühen 20. Jahrhundert noch sehr klar aber traditionell-festgefahren war, sogar eher noch verschärft wurde im Vergleich zum 18. Jahrhundert, demokratisierte sich diese nach dem Ende des Ersten Weltkriegs deutlich. In den Arbeiterparteien entspannen sich ab den 1920er Jahren Diskussionen zu einer möglichen Ehereform und die bürgerliche Reformpolitik forderte, dass die Familie „zu einem Ort der gleichberechtigten Entfaltung und nicht der Unterordnung“ werden solle (Gestrich 2013, 5–8). Während Ohser also noch innerhalb einer strikt patriarchalen Familienkonzeption erzogen wurde, verlor der Ehemann und Vater nun seine einst als unanfechtbar empfundene Macht als alleiniges Oberhaupt seiner Familie. Diese sozialen Veränderungen führten zu einer Verunsicherung der bis dahin selten bestrittenen ‚Hausherren‘ im allgemein, wie auch Ohsers als Partner und frisch gebackenem Ehemann im Besonderen. In Ohsers Witzzeichnungen ist die Rolle der Mutter im traditionellen Familienverband entweder die der Klischeehausfrau oder sie ist diejenige, die die Ordnung im Haus wiederherstellt, während der Vater männlich konnotierte Stereotype bedient – gepaart mit solchen Merkmalen wie Kindlichkeit und Kindsköpfigkeit. Wird die Familie als Ganzes thematisiert, so stellt sie sich als untrennbare und eingeschworene Einheit dar. Innerhalb dieser Einheit gibt es keine Wertehierarchie, jeder einzelne Teil besitzt dieselbe Bedeutung für den Familienzusammenhalt. So ist auch Ohsers Vision von einem „gerechten Kino“6 zu verstehen, bei dem eine individuelle Sitzhöhe vorgeschlagen wird, damit alle Mitglieder einer Familie auf derselben Höhe – quasi auf Augenhöhe – sitzen und den Film aus derselben Perspektive sehen können.

 „Weihnachtseinkauf“, Zeitungsillustration, 1934, NLZ; „Vamp-Schaf im Lammfell“, Federzeichnung, 1939, Erich Ohser – e.o.plauen Stiftung, Nachlass Erich Ohser, Inv.-Nr. 1313.  Erich Ohser, „Vorschlag für ein gerechtes Kino“, Zeitungsausschnitt, frühe 1930er Jahre, siehe Erich Ohser, Als e.o.plauen noch Erich Ohser hieß, Klebealbum des Künstlers, 1924–1934, Erich Ohser – e.o.plauen Stiftung, Nachlass Erich Ohser.

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Abb. 1: „Vamp-Schaf im Lammfell“, Federzeichnung, 1939. Erich Ohser. e.o.plauen Stiftung, Nachlass Erich Ohser, Inv.-Nr. 1313.

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Das Familien-Konzept in den Vater und Sohn-Bildgeschichten Erich Ohser wurde 1934 vom damals für die Berliner Illustrirte Zeitung (sic!) zuständigen Ullstein Verlag als Zeichner für eine neue stehende Figur in einer wöchentlich erscheinenden Bildgeschichte unter Vertrag genommen. Damit er nach seinen für diese Zeit höchst verfänglichen Karikaturen für den Vorwärts, in welchen er sogar Adolf Hitler persönlich gehörig aufs Korn nahm, überhaupt noch so prominent für die Presse arbeiten durfte, legte sich der Grafiker und Illustrator aus Sachsen das Pseudonym e.o.plauen zu – Erich Ohser aus Plauen.7 Ohser reichte neben zwei anderen Entwürfen seine Idee für ein Vater und Sohn Gespann ein, das in einer weitgehend pantomimischen Bildgeschichtenserie ihre Scherze treibt, und bekam den Zuschlag. Kurt Kusenberg erinnerte sich 1962 daran, welche Vorstellungen er damals für die Hauptfiguren des neuen Strips in der Berliner Illustrirten Zeitung (BIZ) hatte: „Sie müssen mit Witz, mit Liebe erschaffen werden und bedürfen durchaus der öffentlichen Gegenliebe, um sich zu behaupten. Sie sind erstmal gut aufgenommen, so fließt ihnen Kraft zu; sie werden immer selbstständiger, immer leibhaftiger und leben dann so lange, wie sie es verdienen, Monate oder gar Jahre“ (Kusenberg 1962, 20). Tatsächlich bekamen seine Bildgeschichten, je länger die Serie lief, immer mehr Fans – die Leser✶innenschaft identifizierte Erich Ohser und seinen Sohn Christian mit seinen gezeichneten Charakteren und machte sie so zu prominenten Personen des öffentlichen Interesses (Schulze 2014, 80–86). Der Grund für die große Beliebtheit der Serie war – und ist es noch heute – ihr Inhalt und die stark reduzierte Form mit schnell zu erfassenden Grundlinien. Die Abenteuer und Streiche, die Vater und Sohn – extra ohne Namen und so nicht individuell besetzt, sondern auf den Großteil der durchschnittlichen männlichen Leser der 1930er Jahre in Deutschland übertragbar – erleben, machen die Figuren sympathisch und regen zum Schmunzeln an. Dazu tragen auch die immer mitbehandelten Gefühle und zwischenmenschlichen Beziehungen bei, die eine gewisse universelle Gültigkeit besitzen. Dies geschieht nicht zufällig, sondern kommt davon, dass Ohser immer wieder Ideen aus seinen eigenen Erlebnissen und Beobachtungen schöpfte. Der Künstler selbst betonte die Anleihen aus seinem Leben: „Der Vater ist im Charakter mein Vater, den ich jetzt, da ich selber einen Sohn habe, nochmal in mir selbst erlebe. ‚Vater und Sohn‘ ist nicht ausgedacht“ (Bongs 1951, o. S.). Der Fokus liegt auf der engen Beziehung zwischen Vater und Sohn, während andere Familienmitglieder eine untergeordnete Rolle spielen. Andreas Platthaus  Zu Erich Ohsers politischen Karikaturen siehe Müller 2004.

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sieht genau in dieser Konstellation, die vom Familienideal des NS-Regimes so sehr abweicht, zumindest für den Moment des Lesens eine Parallelwelt zum Entfliehen der strengen, oft menschenunwürdigen Realität. In seinem Vorwort zu Marc Lizanos und Ulf K.s Neue Geschichten von Vater und Sohn schreibt er treffend: Die liebevollen Geschichten um das unzertrennliche Gespann entsprachen scheinbar perfekt dem nationalsozialistischen Familienideal [...]. Dass in Vater und Sohn nur ein einziges Mal eine Mutter auftaucht, dass der Sohn ein Einzelkind ist, dass der Vater sich gegen die Autoritäten immer wieder auf die Seite des Sohnes schlägt – all diese Abweichungen vom NS-Familienideal wurden übersehen. Die Serie war schnell beliebt geworden, gerade weil sie den Lesern in Zeiten des zunehmenden gesellschaftlichen Drucks eine ideologische Pause gönnte. (Platthaus 2015, 4)

Liest man die Erinnerung von Weggefährt✶innen Ohsers und Briefe des Zeichners aus der Mitte und vom Ende der 1930er Jahre, so liegt der Gedanke der „Weltflucht“ auch beim Autor der Vater und Sohn-Bildgeschichten äußerst nahe (Klinkers 1976, 25–30). Das Berufsverbot, das ihn zweimal tatsächlich ereilte, schwebte ständig wie ein Damoklesschwert über ihm und brachte Ohser dazu, sich – in Kombination mit seiner Schwerhörigkeit – immer unsicherer zu fühlen. (Klinkers 1976, 25–30; Reindl 1954, 37)

Der Gutmütige – Die Beziehung zwischen Vater und Sohn Das Verhältnis zwischen den Hauptcharakteren aus Vater und Sohn ist nicht ausschließlich ein liebevolles. Wäre es nämlich nur das, wären die Bildgeschichten wohl äußerst langweilig. Was die Erzählungen spannend und teilweise überraschend macht, sind die Diskrepanz und das Schwanken zwischen der damals erwarteten elterlichen Zucht als Strafe, der tatsächlich gefühlten Verbundenheit, Liebe und Gutmütigkeit sowie dem kindlichen Charakter beider Figuren (Gestrich 2013, 8–9). Auch diese Perspektive scheint Ohser seinem eigenen Familienleben entlehnt zu haben. In einer Zeit, zu der viele Kinder ihre Eltern siezen mussten, sprach Christian Ohser seinen Vater Erich ohne Scheu direkt an und nannte ihn liebevoll „Vati“.8 Die übliche oder zumindest die gesellschaftlich vorgegebene Autorität eines Vaters der 1930er und 1940er Jahre, der sich als Patriarch mit stren-

 Siehe u. a. Anrede in div. Briefen von Christian Ohser an seinen Vater, Erich Ohser – e.o.plauen Stiftung, Nachlass Erich Ohser.

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gen Ermahnungen und häufig noch mit Gewalt durchsetzt, fehlte Ohser beinahe völlig. Neuere Erkenntnisse aus der Korrespondenz Ohsers belegen, dass sich der Künstler bis kurz vor seinem Tod weitere leibliche Kinder wünschte.9 Es verwundert demnach wenig, dass Ohser sein einziges Kind sehr verwöhnte und ihm entsprechend viel durchgehen ließ. Christian Ohser erinnerte sich 2001, dass ihn meist seine Mutter ausschimpfte. Nur selten bat sie ihren Ehemann um mehr Strenge in der Erziehung – vergebens (Chr. Ohser 2001, 21). Stattdessen sind beinahe täglich stattfindende Zoobesuche und viele Ulkereien überliefert, die in ihrer Komik stellenweise tatsächlich sehr an die Vater und Sohn-Bildgeschichten erinnern (Chr. Ohser 2001, 17–27; 21). Über Ohsers Unvermögen der von ihm erwarteten Strenge nachzukommen, sei einmal mehr mit den Worten des aufmerksamen Kusenberg berichtet: Oft genug hatte er (Christian) sich eine Züchtigung redlich verdient, und die Mutter musste den Vater allen Ernstes bitten, den Ungebärdigen streng zu strafen. Mit finsteren Augen begab sich Ohser zu seinem Leiberben, doch drang aus dem Zimmer kein Wehlaut. Nach einiger Zeit pflegte er, der gutmütigste aller Väter, wieder zu erscheinen und verlegen zu erklären: ‚Ich habe es noch einmal mit Gutmütigkeit versucht‘.“ (Kusenberg, nach Klinkers 1976, 94)

In der Bildgeschichte „Schmerzhafte Selbstkritik“ thematisiert Ohser seine eigene Inkonsequenz in dieser Angelegenheit (BIZ 6/1937). Der Vater verweigert dem Sohn in drei Panels eine Spielzeuglokomotive, gibt aber im vierten Bild nach. Darauf folgen ein selbstanklagender Blick in den Spiegel und Schläge auf den eigenen Hintern. Die Tatsache, dass diese sanfte Haltung in der Kindererziehung eigentlich nicht zur Rolle des Vaters in dieser Zeit passte, verarbeitete Ohser gleich in der allerersten Vater und Sohn-Bildgeschichte „Der schlechte Hausaufsatz“ (BIZ 50/1934). Der Vater hat Mitleid mit seinem ratlosen Sohn und hilft ihm deshalb beim Schreiben eines Aufsatzes. Der Lehrer wird auf diesen Sachverhalt aufmerksam, begleitet den Sohn nach Hause und straft den Vater für seinen Ungehorsam mit einer Trachtprügel. Der Titel der Bildgeschichte zeichnet den Text des Erwachsenen zudem als schlecht aus und zeigt somit an, dass Erwachsene meist auch nicht schlauer sind als ihre Kinder. Letzteres verwendete Ohser auch gerne als Kernpunkt seiner Witzzeichnungen, in denen die Kinder oft als noch schlauer als ihre Eltern charakterisiert werden. Doch trotz einer gewissen Gutmütigkeit wird der Vater in den Bildgeschichten schnell wütend, brüllt und schlägt seinen Sohn auch mal wegen eines schlechten

 „Nach über 20 Jahren hört man also wieder mal voneinander. Dass Du vier Kinder hast, finde ich großartig. Ich habe leider nur vorläufig einen Sohn von 11 Jahren.“ Brief von Erich Ohser an Arthur Spranger, 03.12.1942, Erich Ohser – e.o.plauen Stiftung, Nachlass Erich Ohser, ohne Inv.-Nr.

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Traums oder wegen eines verlorenen Schachspiels.10 In immerhin neun Bildgeschichten kommt es zu konkreten Handgreiflichkeiten des Vaters gegen den Sohn – für damalige Verhältnisse kaum der Rede wert, aus heutiger Sicht dennoch nicht zu vertreten. Die spezifische und ob des Themas häusliche Gewalt durchaus problematische Komik lag und liegt in den betreffenden Panels vor allem in der Ratlosigkeit und Tollpatschigkeit des Vaters, die durch eine gewisse Überforderung mit der alleinigen Erziehung des Kindes zutage treten. Ohser spielt hier mit der Enthüllung der Charakterschwächen des Erwachsenen im Gegensatz zu dem pfiffigen und kreativen, bei Züchtigungen verwundert dreinblickenden Jungen. Da weibliche Bezugspersonen in traditionell-stereotypen Sinne, d. h. eher passive, gefühlsbetonte, mütterlich-sorgende Personen, die sich um die Kindererziehung und den Haushalt kümmern, für den Sohn fehlen, muss der Vater weitgehend diese so zugeschriebenen Rollen beider Elternteile übernehmen. Er erfüllt gemäß der caring masculinity alle anfallenden Aufgaben innerhalb der Beziehung und muss durch das Fehlen einer weiteren Person an seiner Seite auch die klischeehaft eher weiblich konnotierten Herausforderungen bestehen wie das Trösten und Umarmen des Kindes, das Zubereiten von Essen, das Fördern der Kreativität etc.11 Der Vater übernimmt also diese verschiedenen traditionellen Rollen und vereint sie in einer Person – dazu kommt der umfangreiche kindliche Teil seiner Persönlichkeit. Diese Mischung führt immer wieder zu lustigen Situationen, die die Leser✶innenschaft auf humorvolle Weise an ihre Balanceakte innerhalb ihrer eigenen Familie erinnern und so eine Identifizierung mit den Hauptcharakteren ermöglichen sollen.

Wo ist die Mutter? – Zur Rolle weiblich konnotierter Figuren bei Vater und Sohn Ob in den Vater und Sohn-Bildgeschichten überhaupt ein einziges Mal die ‚biologische Mutter‘ des Sohnes gemeint ist, ist bis heute nicht vollständig geklärt. Tatsächlich sind handlungs(mit)tragende Protagonistinnen innerhalb dieser Serie generell selten, es betrifft nur elf von insgesamt 193 offiziellen, abgedruckten Ge-

 „Vermengung von Traum und Wirklichkeit“, BIZ 38 / 1935 und „Schach dem Vater“, BIZ 28 / 1935.  Der Begriff ‚Caring Masculinity‘ bezeichnet eine von den traditionellen Stereotypen abweichende Variante von Männlichkeit, die aus der feministischen Fürsorgeethik abgeleitete Werte umfasst; weiterführend z. B. Karla Elliott, „Caring Masculinities: Theorizing an Emerging Concept“, Men and Masculinities 3/2019, 240–259.

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schichten.12 In fünf weiteren Bildgeschichten sind als weiblich markierte Figuren im Hintergrund, als Staffage oder als Teil einer hauptsächlich aus Männern bestehenden Gruppe eingefügt – in weiteren vier Geschichten sind immerhin als weiblich gekennzeichnete Kinder zu sehen,13 letzteres aber erst seit Folge 31 im Jahr 1935. Die Bildgeschichte, in der die Mitprotagonistin am ehesten als eine Mutterfigur zu Vater und Sohn gedeutet werden kann, ist die Frau in der zweiten Folge der Serie mit dem Titel „Das interessante Weihnachtsbuch“ (BIZ 51/1934) (Abb. 2). Eine als weiblich konnotierte Figur mit nach hinten gebundenen hellen Haaren und einfacher Kleidung achtet streng auf die Einhaltung der Sitten bei Tisch. Da der Sohn noch nicht zum Essen erschienen ist, ermahnt sie den Vater mit erhobenem Zeigefinger und schickt ihn weg, um das Kind zu holen. Als dann der Sohn auf seinem Platz sitzt, der Vater aber nicht wiederkommt, schickt sie ersteren ebenfalls weg, um den Herrn des Hauses zu finden. Schuld am Fernbleiben ist besagtes interessante Weihnachtsbuch im Nebenzimmer. Die Frau am Tisch gebärdet sich autoritär und steht dem Charakter von Vater und Sohn diametral entgegen. Detlef Manfred Müller geht sogar noch weiter und schreibt über die Wirkung dieser Figur im Ausstellungskatalog von 2009: „Fast scheint es, dass der Zeichner selbst über die weibliche Figur, die ihm da aus der Feder geflossen ist, erschrickt. Solche Mutter jedenfalls stört die Zwiesprache im Vater und Sohn-Idyll und es bleibt bei einem unangenehmen Auftritt“ (Müller 2009, 42). Tatsächlich durchbricht dieser weibliche Charakter die direkte Verbindung zwischen Vater und Sohn und wurde möglicherweise deshalb auch nicht wieder aufgegriffen. Uneindeutigkeit in der Ikonografie ist einer der Vorteile dieser pantomimischen Bildgeschichten, denn die Betrachter✶innen können sich die Szenen weitgehend aneignen und ihre eigene Lebenswirklichkeit hineinprojizieren. Wen der Künstler hier auch darstellen wollte, er entschied sich dagegen, sie dauerhaft in die Serie miteinzubeziehen. Dass Ohser das klischeehafte Familienidyll aber prinzipiell positiv bewertet, zeigt sich in der Bildgeschichte „Kommt ein Vogel geflogen“ (BIZ 1 / 1937). In einer Max und Moritz ins Gegenteil verkehrenden Erzählung, fliegt das erstandene, zum Kochen bereite Federvieh, an einen Regenschirm befestigt, durch die Luft, bahnt sich seinen Weg durch einen Kamin und landet direkt in der Pfanne einer

 157 in der BIZ, 1934–1937, weitere 38 in Sammelbänden des Ullstein Verlags 1935, 1936 und 1938.  Die stereotype Inszenierung von Weiblichkeit im Bild greift auf Formeln wie Röcke oder Kleider, lange, teilweise kunstvoll frisierte Haare, Schuhe mit hohen Absätzen und eventuell Schmuck und Make-up zurück. Kinder tragen zur Kennzeichnung eines weiblichen Geschlechts häufig zu einem oder zwei Zöpfen gebundene Haare und erhalten eine Puppe als Attribut.

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Abb. 2: Erich Ohser, Vater und Sohn, „Das interessante Weihnachtsbuch“, BIZ 51/1934.

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sechsköpfigen Familie. Diese Menschen freuen sich so sehr über den unverhofften Festtagsschmaus, dass auch Vater und Sohn fröhlich davongehen. Während des Kochens steht die ganze Familie um den Herd herum und tritt so als feste Einheit auf. Die Frau trägt daraufhin feierlich das Essen zum Tisch, während sie von Mann und Kindern bejubelt wird. Der Zusammenhalt der ‚Kernfamilie‘, ist ebenfalls in Ohsers Witzzeichnungen ein beliebtes Thema, das ihm offensichtlich auch persönlich am Herzen lag. Im Hause Ohser scheint es trotz wiederholter Spannungen zwischen den Eheleuten eine enge Bindung und ein Streben nach Harmonie gegeben zu haben (Schulze 2014, 48–50). In einem Brief aus dem Sommer 1938 schrieb er ihr, dass er „doch nur eine liebe Frau haben“ wolle, eine Aussage, die sich wenig mit seinem eigenen, unsteten Lebensstil vereinbaren ließ.14 Während des Krieges schickte Ohser Frau und Kind in den Süden Deutschlands, um sie in Sicherheit zu wissen – eine einseitige Entscheidung, die dem Willen Marigards offensichtlich wenig entsprach.15 Ein ähnliches Defizit wie der e.o.plauen-Preisträger Michael Sowa, der in seinem Gemälde Mutti! (2021) für die Stadt Plauen die Mutter zu Vater und Sohn auftreten lässt, fühlten auch andere Künstler✶innen.16 In den Neuen Abenteuern von Vater und Sohn von Marc Lizano und Ulf K. wird das Fehlen der Mutter über achtzig Jahre nach dem Ende der Ursprungsbildgeschichten von e.o.plauen thematisiert und erklärt (Lizano und Ulf K. 2015). Offensichtlich war es den Künstlern nicht ausreichend, Vater und Sohn ohne weitere Erläuterungen für sich alleine stehen zu lassen. Lizano und Ulf K. entschlossen sich für die Variante einer früh verstorbenen Mutter, die ihren Sohn über alles geliebt hat. Damit erklärt sich auch das manchmal tollpatschige Verhalten des Vaters in Ausübung der traditionell eher der Mutter zugeordneten Tätigkeiten. In einer Geschichte lassen sie die Mutter als Vision in Gestalt einer Engelsfigur erscheinen, die den Sohn sachte mit

 „Wenn ich wüßte wie ich es finanziell lösen könnte, würde ich in Paris bleiben. 2 Jahre oder mehr. [...] Ich würde mich totweinen um meine Marigard. Aber ich würde mir dann eine gute, liebe von den wirklich charmanten Französinnen nehmen und die Marigard würde mich im Leben nicht mehr zu sehen bekommen. Wenn ich immer wieder solche Briefe bekomme, denke ich immer wieder solche Dinge. Man möchte doch daß jemand lieb zu einem ist.“ Brief Erich Ohsers an Marigard, Sommer 1928, Erich Ohser – e.o.plauen Stiftung, Nachlass Erich Ohser, Inv.Nr. A 39.  „Die ungeheure Spannung + Sorge um Euch hat sich etwas gelegt, wenn’s mich auch bei allem verfolgt + ich wünschte, ich wäre in B. wo man hingehört.“ Brief Marigards and Erich Ohser, 2.12.41.[43?], Erich Ohser – e.o.plauen Stiftung, Nachlass Erich Ohser, Inv.-Nr. A 37.  Das Gemälde wurde von der Stadt Plauen angekauft und wird im Archiv des von der Erich Ohser – e.o.plauen Stiftung verwalteten Erich-Ohser-Hauses in Plauen aufbewahrt. Zur Galerie der e.o.plauen Preisträger✶innen siehe https://e.o.plauen.de/e-o-plauen-preis/ (abgerufen am 15.01.2021).

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der Hand berührt (Lizano und Ulf K. 2015, 31). Diese Gestalt erinnert sehr an eine mädchenhafte geflügelte Figur in der Vater und Sohn-Bildgeschichte „Das geopferte Frühstücksbrot“ (BIZ 2/1936). Im letzten Panel küsst und tröstet eine ebensolche Engelsfigur den tierlieben Sohn. In der Gegenüberstellung erschließt sich rückwirkend eine weitere Deutungsebene dieser Erscheinung als Vision einer abwesenden, möglicherwiese bereits verstorbenen Mutterfigur.

Großvater und Urgroßvater Mit den Jahren scheint dem Zeichner die Familie seiner Comicserie aus lediglich zwei Personen doch etwas klein geworden zu sein. Im November des Jahres 1936 führte Ohser in der Bildgeschichte „Die Familien-Ohrfeige“ die Figuren des Großvaters und des Urgroßvaters ein (BIZ 48/1936). In den Panels dieser Geschichte bestraft in einer Kettenreaktion immer ein Vater seinen Sohn mit einer Ohrfeige, beginnend mit dem Urgroßvater. Auf humoristische Weise thematisiert Ohser hier erlernte Handlungsweisen, die teilweise über Generationen weitergegeben und unreflektiert übernommen werden, ohne dass bestehende Strukturen dabei durchbrochen werden. Auf diese erste Bildgeschichte folgen die Nikolausgeschichte „Urahn, Großvater, Vater und Kind ...“ (BIZ 49/1936), „Die Ahnengalerie“ (Ullstein-Band II, 16/1936) und die moralisierende Folge „Im Reichtum: Geheilte Eitelkeit“ (BIZ 15/1937). In diesen Ahnen-Geschichten liegt die Komik unter anderem darin, dass Vater, Großvater und Urgroßvater auf dieselbe Art gezeichnet sind und sich lediglich durch die Farbe von Augenbrauen und Schnurrbart sowie durch ihre Kleidung unterscheiden. In der Bildergeschichte „Die Ahnengalerie“ geht Ohser noch einen Schritt weiter und erfindet eine Linie von immer gleich aussehenden Vätern mit ihren Söhnen, die bis ins Jahr 1590 zurückzuführen ist. Hüter dieser Galerie ist der Großvater, der mit seinem Stock stolz auf ein Gemälde zeigt, auf dem er als kleiner Junge, das heißt als Sohn, zu sehen ist. Das Gemälde datiert auf das Jahr 1845 und fällt so tatsächlich in die Kindheitsjahre von Ohsers eigenem Großvater. Diese Bildgeschichte von e.o.plauen führt auch Ole Frahm als exemplarisches Beispiel an, wenn er vom „Stammbaum des Comics“ (Frahm 2010, 62) schreibt, der „als Folge von Vätern und Söhnen erzählt [wird], in der ein Genie auf das andere folgt, eine Geschichte großer Künstler, die sich gegenseitig befruchten, um ohne Mütter große Werke zu gebären“ (2010, 62). Auch auf dieser Ebene werden patriarchale Strukturen reproduziert. Doch damit nicht genug. Ohser steigert die Idee der Ahnenreihe noch weiter und zeichnet 1937 einen „Stammtisch der Vater und Sohn Ahnen“, eine Gruppe

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von Männern mit dem Aussehen des Vaters, weißen Stoffgewändern und Flügeln, die an einem Tisch auf einer Wolke sitzen (Reindl 1982, 249). Die aktuellen Figuren Vater und Sohn sitzen hinten in einem kleinen Sportflugzeug und schauen diesem Treiben verwundert zu, während sich die Ahnen ebenfalls überrascht gebärden. Dass sich Ohser in diesem Jahr mit dem Ableben von Verwandten beschäftigte, macht eine weitere, ebendann entstandene aber nie veröffentlichte Vater und Sohn-Bildgeschichte deutlich. Es handelt sich dabei um eine alternative Version der allerletzten Folge.17 Vater und Sohn wollen den Großvater und den Urgroßvater besuchen, doch ihre Namen an der Tür sind durchgestrichen. Ein fremder Mann unterrichtet sie über deren Tod. Weinend gehen nun auch Vater und Sohn, wie es auch im letzten Panel der letzten Folge der offiziellen Serie „Das größte Abenteuer“ zu sehen ist, dem Firmament entgegen, um ihrerseits als Mond mit Schnauzbart und nebenstehendem hell leuchtendem Stern am Himmelsfirmament zu verbleiben (BIZ 49/1937). Möglicherweise entschied man sich für eine Variante, bei der lediglich die beiden ersten Panels abweichen, da diese direkte Gegenüberstellung von Tod, Trauer und das im Bild gezeigte symbolhafte „Gehen in den Himmel“ als Verherrlichung des Suizidgedankens gedeutet werden könnte. In der Tat litt Ohser seit den späten 1930er Jahren an depressiven Verstimmungen (Klinkers 1976, 25–30).

Tiere als Ersatzfamilie Tiere kommen als Akteur✶innen in den Vater und Sohn-Bildgeschichten häufiger vor als potenzielle Mutterfiguren oder unbeteiligte Protagonistinnen außerhalb des Familienkontextes. In immerhin fünfzig der beinahe zweihundert Folgen spielen Tiere eine kleinere oder größere Rolle innerhalb des Geschehens. Kurz nach dem ersten Auftritt von Großvater und Urgroßvater veröffentlicht die BIZ die Weihnachtsbildgeschichte „Liebe Gäste zum Feste“ (BIZ 52/1936) (Abb. 3). Am weihnachtlich gedeckten Tisch sitzend, werden die eingeladenen Tiere im letzten Panel stark vermenschlicht: Sie sitzen teilweise auf Bänken, beteiligen sich am (auch hier lediglich pantomimisch angedeuteten) Gespräch, essen von Tellern und genießen das Zusammensein bei Kerzenschein. Würde man diese besonderen Gäste durch Menschen ersetzen, ohne sonst etwas zu verändern, würde es ein ganz normales Abendessen mit der Familie oder guten Freund✶innen ergeben. Auch in anderen Bildgeschichten dieser Serie fällt das enge Verhältnis zwischen Mensch und Tier auf. Sie fungieren hier als eine Art Ersatzfamilie. Besonders  o. T., 1937, Tuschezeichnung, Privatbesitz.

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Iris Haist

Abb. 3: Erich Ohser, Vater und Sohn, „Liebe Gäste zum Feste“, BIZ 52/1936.

der Sohn schließt schnell Freundschaft mit Tieren und öffnet sich ihnen emotional. In der Folge „Auf einsamer Insel: XIV. Freundschaft mit Kängurus“ rettet der Sohn ein Kängurujunges vor einem großen Greifvogel (BIZ 38/1937). Das Muttertier adoptiert den Kleinen als Dank und lässt ihn in seinem Beutel reisen. Am Ende sitzen sie alle auch hier zusammen um einen improvisierten Tisch – der Vater mit dem Kängurujungen auf den Schultern, der Sohn weiterhin im Beutel der Kängurumutter.

Vater und Sohn – und wo ist die Mutter?

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Die eigene Familie: Autobiografische Cartoons und Witzzeichnungen Die mengenmäßig kleinste Gruppe in diesem Themenfeld, aber nicht minder spannend, sind die autobiografischen Cartoons und Witzzeichnungen.18 Ohser wird mit seinen Vater und Sohn-Bildgeschichten beinahe über Nacht zu einer prominenten Persönlichkeit. Ab 1938 erscheinen in der BIZ und in anderen Zeitungen gezeichnete Erzählungen aus Sicht Ohsers, mit ihm selbst in der Hauptrolle. In dieser Form entstehen zu dieser Zeit zudem einzelne Witzzeichnungen. Es handelt sich dabei um eine Art Berichterstattung bzw. Dokumentation mit einem Augenzwinkern und einer gehörigen Portion Selbstironie. Für den Familien-Aspekt sollen an dieser Stelle vor allem zwei Beispiele herausgegriffen werden: Eine Seite mit scherzhaften grafischen Kommentaren zum Thema „Wunschtraum: ‚Auto!‘“ und die Witzzeichnung „Probleme des ersten Schuljahres“.19 „Wunschtraum: ‚Auto!‘“ zeigt die Familie Ohser, den etwas stämmigen, wuschelhaarigen Vater, die modisch gekleidete und elegante Mutter sowie den spitzbübischen aber zurückhaltenden Sohn, wie sie eine andere Familie mit einem Auto durch ein Fenster beobachten. Die Familie hält hier wieder zusammen – auch, wenn es anfangs noch schwerbepackt und deshalb allerseits etwas ungehalten mit der U-Bahn zu einem Ausflug in die Natur geht. Die aus dem Fenster hinaus beobachtete Familie im Auto hat zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Ohser scheint wohl bewusst zu sein, dass die meisten Familien der 1930er und 1940er Jahre mehr Kinder haben als nur eines (Gestrich 2013, 22–23). Eine Familie, sofern es sich nicht um seine eigene handelt, ist in seinen Zeichnungen mindestens vierköpfig oder noch größer. Ob das Künstler✶innenpaar je selbst mehr Nachkommen geplant hat, ist nicht überliefert. „Probleme des ersten Schuljahres“ mit dem Beisatz „Am Sohn erlebt von e.o. plauen“ ist eine Tuschezeichnung, die ganz direkt das Themenfeld Familie und die Weitergabe von Eigenschaften/Fertigkeiten aufgreift (Abb. 4). Zu sehen ist Ohser selbst, wie er wütend ein Zeugnis des eigenen äußerst beschämten Sohnes mit einer schlechten Note im Fach Bildende Kunst in den Händen hält, hinter ihm ein lachender Mann, den er gerade portraitiert. Auf der Rückseite der Zeichnung ist folgender Text zu finden: „Sein Zeugnis mit ‚mangelhaft‘ im Zeichnen brachte er ausgerechnet, als ich den bekannten Erbbiologen M. porträtierte“. Was erst

 Speziell zu diesem Themenkomplex befindet sich aktuell eine Publikation der Autorin in Arbeit.  Auto Illustrierte, o. Dat. (nach 1938); Probleme des ersten Schuljahres. Am Sohn erlebt von e.o. plauen, Tuschezeichnung, 1939, Erich Ohser – e.o.plauen Stiftung, Nachlass Erich Ohser, Inv.-Nr. 1007.

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Abb. 4: Erich Ohser. Probleme des ersten Schuljahres. Am Sohn erlebt von e.o.plauen, Tuschezeichnung, 1939. Erich Ohser – e.o.plauen Stiftung, Nachlass Erich Ohser, Inv.-Nr. 1007.

einmal als witziger Schwenk aus Ohsers Leben gedacht war, ist aber vor allem das Geständnis einer Tatsache: Christian Ohser hatte nicht das Talent und nicht den Willen zur kreativen künstlerischen Arbeit. Für Erich Ohser scheint das kein Problem gewesen zu sein, seine sehr anspruchsvolle und kunstliebende Mutter hingegen fand auch durch das Fehlen von Gemeinsamkeiten mit zunehmendem Alter nur noch schwer Zugang zu ihrem Sohn.20

Fazit Erich Ohsers Familienbild war in seinen Zeichnungen – in seinen Bildgeschichten und Witzzeichnungen – nie völlig unabhängig von seinen eigenen Erfahrungen und seiner direkten Umgebung. Daher geben sie auch in stark überzeichneter

 Dies geht v. a. aus mündlichen Berichten von verschiedenen Bekannten und Freund✶innen der Familie Ohser hervor, die von den Mitarbeiterinnen der Erich Ohser – e.o.plauen Stiftung gesammelt und ausgewertet werden.

Vater und Sohn – und wo ist die Mutter?

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Form einen Einblick in die private Sphäre des Künstlers sowie in seine Ansichten, Wertvorstellungen und Wünsche. Diese verbindende autobiografische Ebene wird durch das Quellenstudium offenbar, speist sich aus den Motiven Ohsers ebenso wie aus seinen Notizen und Korrespondenzen sowie – etwas weniger unmittelbar – aus den Erinnerungen von Zeitzeug✶innen. Die Zusammenhänge zwischen Ohsers Leben und seinen Witzzeichnungen und Bildgeschichten konnten durch die unmittelbar benachbarte Hängung von Fotografien, Briefen, realistischen Zeichnungen und humorvollen Arbeiten des Zeichners innerhalb der musealen Präsentation der Galerie e.o.plauen sichtbar und einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden. In der Ausstellung Vater und Sohn – Ganz real! wurden u. a. ganz konkret eine realistische Portraitzeichnung Christian Ohsers, eine etwas stärker abstrahierte Zeichnung von Christian auf der Toilette, die autobiografische Witzzeichnung „Probleme des ersten Schuljahres“ und damit vergleichbare Vater und Sohn-Bildgeschichten so präsentiert, dass eine inhaltlich-autobiografische Leitlinie visualisiert werden konnte. Die (stereotype) Figur der Frau und Mutter ist das am wenigsten durchsichtige Motiv seiner Arbeiten, während Kinder meist extrem positiv belegt sind und sich durch Klugheit und Erfinder✶innengeist auszeichnen. Der Mann und Vater ist immer auch gleichzeitig ein Kind, das heißt noch immer Sohn des eigenen Vaters. In den Vater und Sohn-Bildgeschichten malt er ein anschauliches und häufig komisches, aber nie abwertendes Bild der Caring Masculinity, während Ohser in seinen Witzzeichnungen vermehrt traditionell männliche Klischeebilder einbringt. Letztlich ist ihm die heteronormative Kernfamilie als Einheit und der Zusammenhalt der einzelnen Mitglieder untereinander aber wichtig.

Quellenverzeichnis Berliner Illustrirte Zeitung 1 / 1937. Berliner Illustrirte Zeitung 15 / 1937. Berliner Illustrirte Zeitung 2 / 1936. Berliner Illustrirte Zeitung 28 / 1935. Berliner Illustrirte Zeitung 38 / 1935. Berliner Illustrirte Zeitung 48 / 1936. Berliner Illustrirte Zeitung 49 / 1936. Berliner Illustrirte Zeitung 50 / 1934. Berliner Illustrirte Zeitung 51 / 1934. Berliner Illustrirte Zeitung 52 / 1936. Berliner Illustrirte Zeitung 6 / 1937. Berliner Illustrirte Zeitung 49 / 1937. Bongs, Rolf. „Vater und Sohn ist nicht ausgedacht“. Der Mittag, 20.07.1951.

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Iris Haist

e.o.plauen. Vater und Sohn. Bd. 2, Berlin: Ullstein Verlag, 1936. Frahm, Ole. Die Sprache des Comics. Hamburg: Philo Fine Arts, 2010. Gestrich, Andreas. „Geschichte der Familie im 19. und 20. Jahrhundert“ [Enzyklopädie deutscher Geschichte, 50]. München: Oldenbourg Verlag, 2013. Klinkers, Frauke. Der Zeichner Erich Ohser (1903–1944). Diss., TU Berlin 1976. Kusenberg, Kurt. „Als Vater und Sohn geboren wurden“. e.o.plauen, Ausst.-Kat., Hannover, 1962. Kusenberg, Kurt. Unveröffentlichtes Manuskript, ohne Titel, o. J. (1947/48), ehem. Nachlass Erich Ohsers, zitiert nach Frauke Klinkers. Der Zeichner Erich Ohser (1903–1944), Diss., TU Berlin 1976. Müller, Detlef Manfred. Erich Ohser – e.o.plauen (1903–1944). Der politische Zeichner, Ausst.-Kat., Plauen, 2004. Müller, Detlef Manfred. Erich Ohser – e.o.plauen (1903–1944). Vater und Sohn & die Berliner Illustrirte Zeitung, Ausst.-Kat., Plauen, 2009. Neue Leipziger Zeitung, 14.09.1934. Ohser, Christian H. „Erinnerungen an meinen Vater“. Väter und Söhne. Bestandsaufnahme und Diagnose am Ende des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Bernd Wirkus. Konstanz: UVK Verlagsgesellschaft, 2001. 17–27. Ohser, Erich. „E.O.Plauen plaudert“. Zeichnung, Satire und Karikatur, Ausst.-Kat., Dortmund, 1940. Ohser, Erich. Als e.o.plauen noch Erich Ohser hieß. Klebealbum des Künstlers, 1924–1934, Erich Ohser – e.o.plauen Stiftung, Nachlass Erich Ohser. Platthaus, Andreas. „Zwei Stars kehren zurück“. Neue Geschichten von Vater und Sohn. Hg. v. Marc Lizano und Ulf K. Stuttgart: Panini, 2015. 2–5. Reindl, Ludwig Emanuel. E.O. Plauen – Der Vater und seine Freunde. Zürich: Sanssouci Verlag, 1954. Reindl, Ludwig Emanuel. Vater und Sohn. Gesamtausgabe. Konstanz: Südverlag, 1982. Schulze, Elke. Erich Ohser alias e.o.plauen. Die Werkausgabe. Zeichnungen, Illustrationen, Karikaturen, Witzbilder und Vater und Sohn-Bildgeschichten. Konstanz: Südverlag, 2017. Schulze, Elke. Erich Ohser alias e.o.plauen. Ein deutsches Künstlerschicksal. Konstanz: Südverlag, 2014.

Queering Family

Véronique Sina

Einleitung: Queering family. Heteronormative Familienkonzepte durchque(e)ren In ihrer Monografie Why Comics? From Underground to Everywhere (2017) schreibt die Comicforscherin Hillary Chute: „Queer comics are one of the most vibrant areas of contemporary comics“ (349). Maßgeblich verantwortlich für die anhaltende Popularität ‚queerer Comics‘ sei, so Chute, das 2006 erschienene „graphic memoir“ (2017, 349) Fun Home: A Family Tragicomic von Alison Bechdel. In dem autobiografischen Werk verhandelt Bechdel nicht nur die eigene lesbische Identität, sondern auch die zum Teil problematische Beziehung zu ihrem homosexuellen Vater und dessen vermeintlichen Selbstmord. Neben Bechdels bahnbrechendem Comic Fun Home lassen sich noch weitere ‚queere Comics‘ in der internationalen Publikationslandschaft ausmachen, die in den vergangenen Jahren zu einer vermehrten Sichtbarkeit marginalisierter und non-hegemonialer Lebensentwürfe beigetragen haben. Hierzu zählen u. a. Howard Cruses Stuck Rubber Baby (1995), Julie Marohs Le bleu est une couleur chaude (2010), Tillie Waldens On a Sunbeam (2018), Maia Kobabes Gender Queer. A Memoir (2020), Peer Jongelings Hattest du eigentlich schon Deine Operation? (2020), Joris Bas Backers Küsse für Jet. Eine Coming-OfGender Geschichte (2020) oder Diane Obomsawins Ich begehre Frauen (2020), um nur einige wenige genre-übergreifende Beispiele zu nennen.1 Wie Chute in ihren Ausführungen bemerkt, lassen sich unter dem Sammelbegriff „queer comics“ (2017, 349) Werke subsumieren, die in irgendeiner Weise das tatsächliche oder imaginäre Leben von LGBTQ✶-Figuren thematisieren. Queere Comics werden hier also mit queeren Figuren bzw. Inhalten gleichgesetzt. Als queere Comics können aber auch Arbeiten verstanden werden, die von Künstler✶innen kreiert wurden, die sich selbst als queer definieren. Fasst man den Begriff ‚queer‘ in einem bewusst offenen und weiten Sinn als eine Form der Normabweichung, Widerständigkeit und Unabgeschlossenheit (Brunow und Dickel 2018, 8), so kann auch die Ästhetik des Comics über ein queeres Potenzial verfügen. Denn als mehrdeutiger Begriff steht queer gleichzeitig für „a way of naming, describing, doing and being“ (McCann und Monoghan 2020, 1). Ein Blick auf die Begriffsgeschichte verdeutlicht zudem, dass das Wort ‚queer‘

 Eine Übersicht queerer Comics findet sich u. a. in der Queer Comics Database: http://queercomics database.com/ (abgerufen am 13.4.2022). https://doi.org/10.1515/9783110786392-005

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Véronique Sina

seine Karriere im 19. Jahrhundert als englischsprachiges Schimpfwort (dessen Begriffsgeschichte bis ins 16. Jahrhundert zurückreicht), als negative Zuschreibung von ‚Andersartigkeit‘ mit homo- und transphoben Konnotationen [begann]. Während der AIDS-Krise in den 1980er-Jahren reklamierten US-amerikanische Aktivist_innen in Gruppen wie ACT UP und Queer Nation den Begriff für sich, definierten ihn um und besetzten ihn als positiven, stolzen Kampfbegriff des antinormativen Widerstands gegen konservative heteronormative Gesellschaftsstrukturen. (Loist 2018, 37)

Auch Judith Butler versteht queer als einen Ort des anhaltenden Widerstandes, als „a site of collective contestation“ (1993, 19). „The term ‚queer‘“, so Butler, „emerges as an interpellation that raises the question of the status of force and opposition, of stability and variability, within performativity“ (1993, 18; Herv. im Orig.). Bei queer handelt es sich also um „eine offene, bewegliche, kritische Kategorie“ (Loist 2018, 38), die durch eine grundlegende Unbestimmbarkeit gekennzeichnet ist und sich nicht auf die Bezeichnung non-konformer sexueller Praktiken reduzieren lässt (Köppert 2019). Queer(ing) stellt vielmehr ein nützliches Instrumentarium der Denaturalisierung und Dekonstruktion (hetero-)normativer Konzepte dar (Kraß 2003) und impliziert dabei immer auch eine politische Dimension der Macht- und Hegemoniekritik, der Veruneindeutigung und des Verdrehens (Engel 2002). Innerhalb der Gender- und Queer Studies werden Geschlecht und Sexualität als performative Konzepte begriffen, als Instrumente „und zugleich [...] Effekte bestimmter [...] Bezeichnungs-, Regulierungs- und Normalisierungsverfahren“ (Hark 2009, 309).2 Dabei wird von der These ausgegangen, „dass die Zwei-GeschlechterOrdnung und das Regime der Heterosexualität in komplexer Weise koexistieren, sich bedingen und wechselseitig stabilisieren. Insbesondere garantieren sie wechselweise jeweils ihre ‚Naturhaftigkeit‘ und beziehen ihre affektive Aufladung voneinander“ (2009, 309). Eine queere Ästhetik des Comics vermag – so ließe sich in Anlehnung an die hier dargelegten Ausführungen schlussfolgern – ein ‚Unbehagen der Geschlechter‘ hervorzurufen und „die Diskontinuität der Kette sex – gender – Begehren – Identität“ (2009, 309; Herv. im Orig.) genauso zu durch-que(e)ren und gegen den Strich zu lesen, wie auch heteronormative Vorstellungen des traditionellen Konzepts ‚Familie‘. Als populärkulturelles und oftmals marginalisiertes Medium, das sich stets in einem Spannungsfeld von Affirmation und Verunsicherung hegemonialer Machtverhältnisse bewegt, bietet der moderne Comic einen idealen Nährboden für die Verhandlung hegemonie- und repräsentationskritischer Fragen. Denn als hybrides, uneindeutiges und zuweilen widerspenstiges Medium verfügt der Comic

 Eine Einführung in die Gender- und Queer Studies in grafischer Form liefert der lesenswerte Band Queer. A Graphic History (2016) von Meg-John Barker und Jules Scheele.

Einleitung: Queering family. Heteronormative Familienkonzepte durch-que(e)ren

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über ein ganz spezifisches queeres, d. h. norm-abweichendes Potenzial, welches etablierte Repräsentationsmuster und Konventionen zu hinterfragen, normierende Bezeichnungs- und Zuschreibungsprozesse als solche kenntlich zu machen und kritisch zu reflektieren vermag (Sina 2016). „There’s something queer about comics“, bemerken etwa Darieck Scott und Ramzi Fawaz in der Einleitung zu ihrer 2018 erschienenen Spezialausgabe „Queer About Comics“ des Journals American Literature. Für Scott und Fawaz stellen Comics ein Beispiel für „queer visual culture“ (2018, 197) dar. Insgesamt machen die beiden Autoren auf die enge Verzahnung von Queer Theory und Comics Studies aufmerksam: „At every moment in their cultural history, comic books have been linked to queerness or to broader questions of sexuality and sexual identity“ (2018, 198).3 Unter Rückgriff auf die Ausführungen von Eve Kosofsky Sedgwick stellen Scott und Fawaz die These auf, dass sich Comics nicht nur auf besondere Weise für queere Lektürestrategien eignen, aufgrund ihrer formal-ästhetischen Beschaffenheit seien Comics vielmehr selbst queere mediale Artefakte: „a queer mode of cultural production“ (2018, 199). Dieser Interpretation des Comics schließt sich ebenfalls Julia Glitz an, wenn sie bemerkt, dass das Medium Comic die „Existenz im Dazwischen, die Verwurzelung im Gegenkulturellen, das Widerständige, Provokante, Anormale [...] mit dem Feld queerer Ästhetiken“ (2019, 1) teilt. Die Aufsätze in dieser Sektion nähern sich aus gender- und queertheoretischer Perspektive dem Medium Comic an und legen dabei einen besonderen Fokus auf Familie und familiäre Strukturen. Im Sinne eines von Katie Acosta vorgeschlagenen intersektionalen „queering family scholarships“ (2018, 6) öffnen alle drei Texte den Blick für die Diversität familiärer Strukturen, „including (but not limited to) those consisting of same-sex, transgender, or polyamorous families“ (2018, 6) und zeigen dabei ein differenziertes Verständnis „of the varied ways in which families are formed“ (2018, 5). Basierend auf Parsua Bashis autobiografischen Werk Nylon Road (2006), einem Comic „über den Verlust der Heimat und die Trennung von der Familie“ (Rauchenbacher im vorliegenden Band) stellt Marina Rauchenbacher in ihrem Beitrag etwa die Frage, inwiefern durch die strukturelle Konzeption des Mediums Comic eine subversiv-queere Dimension in die Auseinandersetzung mit heteronormativen Familienstrukturen eingezogen werden kann. Unter Rückgriff auf Sara Ahmeds Ausführungen zur Queer Phenomenology zeigt Rauchenbacher die vielschichtige Verhandlung des Themenkomplexes

 Mit Verweis auf die polemischen Aussagen von Fredric Wertham macht Hillary Chute in Why Comics. From Underground to Everywhere auf einen weiteren diskursiven Berührungspunkt der Kategorie Queer mit dem Medium Comic aufmerksam, wenn sie schreibt: „Gayness used to be a public accusation leveled at comics to discredit the medium: in the 1950s Batman and Robin, and Wonder Woman, were suspected to be gay, and therefore a negative influence“ (2017, 349).

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Migration, Flucht und Diaspora in Bashis graphic memoir auf und verdeutlicht dabei, wie die Comickünstlerin „Prozesse der Re-Orientierung diskutiert“ und „die strukturelle Queerness des Mediums forciert funktionalisiert“, um so den Rezipierenden die „Möglichkeiten des Contra- und Que(e)rlesens“ zu bieten „und zwar auch in Hinblick darauf, wie Familiarität und Familie verhandelt werden“ (Rauchenbacher im vorliegenden Band). Katharina Serles setzt sich in ihrem Beitrag mit der Repräsentation von trans✶ Familien in Joris Bas Backers und Nettmans Familienjuwelen (2018) und Maurizio Onanos Oma Herbert (2019) auseinander und untersucht, wie die beiden Comics konventionell starre und binäre Gefüge von Geschlechterrollen unterlaufen. Während die in Familienjuwelen versammelten autobiografischen Comicstrips einen Fokus auf queer parenting legen und die „Herausforderungen von Partnerschaft, Elternschaft und Erziehung in Hinblick auf Gender im Allgemeinen“ (Serles im vorliegenden Band) thematisieren, präsentiert Oma Herbert „einen kindgerechten, spielerischen Umgang mit Spannungen und Zwängen einer heteronormativen Gesellschaft anhand der großmütterlichen und ebenfalls trans✶ Erzieher✶innenfigur und Titelgeberin ‚Oma Berta‘“ (Serles im vorliegenden Band). Den Abschluss der Sektion bildet der Beitrag von Elisabeth Klar. In einem close reading widmet sich Klar den beiden Webcomicserien Something Positive von R.K. Milholland (seit 2001) und Kevin and Kell von Bill Holbrook (seit 1995), die sich „durch eine starke Repräsentation von LGBTAIQ✶-Themen und -Figuren“ (Klar im vorliegenden Band) auszeichnen. Wie Klar verdeutlicht, weichen beide Comicserien „von dem Konzept der cis-gender, heterosexuellen und durch genetische Verwandtschaft bestimmten Kernfamilie ab“ und präsentieren alternative Konzepte von Männlichkeit, die vom hegemonialen Ideal divergieren „und sich stattdessen Karla Elliotts caring masculinities (2016) annähern“ (Klar im vorliegenden Band). Im Rahmen von „queer approaches to family“ (Acosta 2018, 4), gelingt es den Autor✶innen der drei hier versammelten Beiträge, das formal-ästhetische Potenzial des Comics herauszuarbeiten und zu verdeutlichen, wie queere Ansätze nicht nur die Family Studies, sondern auch die Comics Studies gewinnbringend erweitern können, indem heteronormative Vorstellungen von Familie hinterfragt und alternative Familienmodelle präsentiert und reflektiert werden.

Einleitung: Queering family. Heteronormative Familienkonzepte durch-que(e)ren

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Quellenverzeichnis Acosta, Katie. „Queering Family Scholarship: Theorizing from the Borderlands“. Journal of Family Theory & Review (2018). 1–13. Backers, Joris Bas (W/A). Küsse für Jet. Eine Coming-Of-Gender Geschichte. Berlin: Jaja Verlag, 2020. Barker, Meg-John (W/A) und Jules Scheele. Queer. A Graphic History. London: Icon Books, 2016. Bechdel, Alison (W/A). Fun Home: A Family Tragicomic. New York: Houghton Mifflin, 2006. Brunow, Dagmar und Simon Dickel. „Vorwort“. Queer Cinema. Hg. v. Dens. Mainz: Ventil Verlag, 2018. 7–16. Butler, Judith. „Critically Queer“. GLQ: A Journal of Lesbian and Gay Studies 1.1 (1993), 17–32. Chute, Hillary. Why Comics? From Underground to Everywhere. New York: Harper Collins, 2017. Cruses, Howard (W/A). Stuck Rubber Baby. New York: Paradox Press, 1995. Engel, Antke: Wider die Eindeutigkeit. Sexualität und Geschlecht im Fokus queerer Politik der Repräsentation. Frankfurt a. M.: Campus, 2002. Glitz, Julia. „Alison Bechdels Queere Archive“. online journal kultur & geschlecht 23 (2019). 1–20. https://kulturundgeschlecht.blogs.ruhr-uni-bochum.de/wp-content/uploads/2019/07/Glitz_QueereArchive.pdf (abgerufen am 14.4.2022) Hark, Sabine. „Queer Studies“. Gender@Wissen. Ein Handbuch der Gender-Theorien. Hg. v. Christina von Braun und Inge Stephan. Köln: Böhlau, 2009. 309–327. Kobabes, Maia (W/A): Gender Queer. A Memoir. St. Louis: Lion Forge, 2019. Köppert, Kathrin. „Queer Media Studies – Queering Medienwissenschaften“. Handbuch Medien und Geschlecht. Hg. v. Johanna Dorer, Brigitte Geiger, Brigitte Hipfl und Viktorija Ratkovic. Berlin: Springer, 2019, 1–16. Kraß, Andreas (Hg.). Queer denken. Gegen die Ordnung der Sexualität (Queer Studies). Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 2003. Loist, Skadi. „Queer Cinema Studies: ein Überblick“. Queer Cinema. Hg. v. Dagmar Brunow und Simon Dickel. Mainz: Ventil Verlag, 2018, 36–55. Maroh, Julie (W/A). Le bleu est une couleur chaude. Grenoble: Glénat, 2010. McCann, Hannah und Whitney Monoghan. Queer Theory Now. From Foundations to Futures. London: Red Globe Press, 2020. Obomsawins, Diane (W/A). Ich begehre Frauen. Zürich: Edition Moderne, 2020. Scott, Darieck und Ramzi Fawaz: „Introduction: Queer about Comics“. American Literature 90.2 (2018), 197–219. Sina, Véronique. Comic – Film – Gender. Zur (Re-)Medialisierung von Geschlecht im Comicfilm. Bielefeld: transcript, 2016. Walden, Tillie (W/A). On a Sunbeam. New York: First Second, 2018. Jongeling, Peer (W/A). Hattest du eigentlich schon Deine Operation? Berlin: Jaja Verlag, 2020.

Marina Rauchenbacher

Un_familiäre Selbst. Des- und Re-Orientierung in Parsua Bashis Nylon Road Parsua Bashis Nylon Road ist ein autobiografischer Comic, ein graphic memoir, aus dem Jahr 2006, in dem Bashi sich mit der Emigration in die Schweiz, genauer nach Zürich, sowie rückblickend mit dem Leben in Iran nach der Islamischen Revolution von 1979 beschäftigt. Nylon Road ist damit als Beitrag zu dem gesellschaftspolitisch aktuellen, auch in Comics prominent verhandelten Themenkomplex Migration, Flucht und Diaspora zu verstehen. Spezifisch interessiert an Nylon Road neben der autobiografischen Dimension, die Bashi etwa in einem Beitrag für das Schweizer Radio und Fernsehen (SRF) ausführte (Kulturplatz SFR Kultur 2006), die Auseinandersetzung mit der gesetzlichen und gesellschaftlichen Diskriminierung von Frauen✶ in Iran. Der Vergleich mit Marjane Satrapis einige Jahre zuvor erschienener Arbeit Persepolis (2000–2003), dem sicherlich international meistrezipierten und -diskutierten Comic zu iranischer Emigration/Diaspora, liegt daher auch nahe (Eder 2014; Watson 2017; Ebrahimi 2019). Der Titel, Nylon Road, bleibt im Comic explizit unerklärt. Bashi spricht in einem Interview mit Mehraneh Ebrahimi davon, dass sie ihn gewählt habe, um sich nicht zu sehr über den Begriff Iran zu vermarkten (Bashi 2014, zit. nach Ebrahimi 2019, 68). Jedenfalls assoziiert Nylon Road zuerst den Begriff Silk Road (68) und damit eine historisch wichtige und vielverklärte Verbindung zwischen ‚Osten‘ und ‚Westen‘ – in einem geografischen Sinn, aber vor allem auch in Hinblick auf eine mitgemeinte kulturelle/gesellschaftspolitische Dichotomie. Die Seidenstraße ist nicht nur eine Handelsroute, sondern auch eine Route der Migration. Darüber hinaus weckt der Titel Assoziationen mit Mode, wurde doch der Begriff ‚Nylon‘ von der Chemiefirma DuPont ab 1940 als Synonym für Strümpfe etabliert. Auf dem Cover der deutschsprachigen Originalausgabe (Abb. 1) wird dieser Bezug auch unmittelbar deutlich. Die Figur trägt Strümpfe, wobei ein Bein mit alef-bã, dem persischen Alphabet, beschrieben ist;1 das zweite mit Buchstaben des lateinischen Alphabets. Das Cover verweist somit doppelt auf den Prozess der Migration: sowohl durch die Assoziation einer (neuen) räumlichen Orientierung mittels der Akzentuierung der unterschiedlichen Schriften auf den Beinen und der titelgebenden Road als auch durch die Kontrastierung der prä- mit der post-migrantischen Identität, indem eben Schriften und Sprachen einander gegenübergestellt werden. An späterer Stelle wird darauf verwiesen, dass die Sprachbarriere „das Schwierigste  Vgl. detailliertere Ausführungen dazu Ebrahimi 2019, 70; Watson 2017, 79–82. https://doi.org/10.1515/9783110786392-006

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Marina Rauchenbacher

Abb. 1: Parsua Bashi, Nylon Road (2006), Cover.

an dieser Migration“ sei: „Ich glaube, zuhause ist man in seiner Muttersprache“ (Bashi 2006, 34). Auf dem Cover der englischsprachigen Übersetzung, das ein Panel aus dem Comic zitiert (Abb. 2), ist das Moment der Bewegung noch deutlicher akzentuiert: Die Figur blickt die Betrachter✶innen an, hinter ihr reihen sich verschiedene Ich auf der – symbolischen – Straße, dem Lebensweg (Bashi 2009). Bashi kontrastiert das Leben in der Schweiz mit dem Leben in Iran, thematisiert die Scheidung vom iranischen Partner, die Trennung vom eigenen Kind – das Fürsorgerecht wurde bei der Scheidung dem Vater zugesprochen – und beschäftigt sich mit Folgen der Migration, mit Einsamkeit und Fremdheitserfahrungen in der Schweiz. Für den Comic inhaltlich und strukturell konstitutiv ist dabei die simultane Realisation mehrerer Avatare des autobiografischen Ich. Dieses zentrale konzeptuelle Merkmal des Comics werde ich im Folgenden dreifach lesen: zuerst ausgehend von Analysen zur strukturellen Queerness des

Un_familiäre Selbst. Des- und Re-Orientierung in Parsua Bashis Nylon Road

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Abb. 2: Darstellung des Lebensweges. Bashi, Nylon Road. 18.

Mediums Comics,2 dann in einer phänomenologisch-queertheoretischen Wendung anhand von Sara Ahmeds Queer Phenomenology (2006) und damit als Beitrag zu Prozessen der migrantischen Des-/Re-Orientierung und basierend darauf schließlich als emanzipativen Entwurf einer ‚inneren Familie‘, der für postkoloniale Kritik und Auseinandersetzungen mit ableistischen Konzepten öffnet.

Das queere Potenzial von Comics Ohne hier ausführlich auf den Terminus queer selbst und die heterogenen Entwicklungen innerhalb der Queer Studies eingehen zu können, sollen für den vorliegenden Aufsatz wesentliche Punkte aufgegriffen werden. Es ist zuerst zentral, dass queer ein politischer Begriff ist, der auf eine kritische Auseinandersetzung mit Machtpolitik zielt, durchkreuzend, anti-hegemonial arbeitet. Während die Verhandlung von Gender, sex und sexueller Orientierung als inhaltlicher Ausgangspunkt zu verstehen – und solchermaßen gesellschaftskritisch zu denken – ist, hebt bereits

 ‚Comics‘ wird in diesem Aufsatz als Medienbegriff verwendet – und dabei die Pluralform als Singular (Chute 2008).

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Eve Kosofsky Sedgwick die intersektionale Dimension von queer hervor (1994, 9). Grundlegend für das Verständnis ist für die folgenden Analysen darüber hinaus die inhärente Metadiskussion, die den Terminus auch für strukturelle Fragen öffnet. So erläutert Judith Butler prägnant – und die Diskussionen konturierend –, dass queer „a site of collective contestation, the point of departure for a set of historical reflections and futural imaginings“ sein müsse; „to remain that which is, in the present, never fully owned, but always and only redeployed, twisted, queered from a prior usage and in the direction of urgent and expanding political purposes“ (1993, 173). Diese zwei Stränge sind einerseits ausschlaggebend für die in den Comics Studies zunehmenden Elaborationen zu Intersektionalität bzw. Interdependenz,3 die gesellschaftskritisch zu denken sind und sich historisch in die subversiv-machtkritische Tradition des Mediums Comics einreihen, und andererseits bezüglich einer strukturellen Queerness von Comics und der damit – wieder Bezug nehmend auf inhaltliche Dimensionen – einhergehenden Frage, wie Comics sich im Besonderen für queere, antihegemoniale Themen eignen (Fawaz 2016 und 2019; Scott und Fawaz 2018; auch: Glitz 2019; Sina 2020; Kupczyńska 2022; Rauchenbacher 2022). „Die Existenz im Dazwischen, die Verwurzelung im Gegenkulturellen, das Widerständige, Provokante, Anormale – das teilt das Medium des Comics mit dem Feld queerer Ästhetiken“ (Glitz 2019, 1). Übergreifend lässt sich an dieser Stelle sagen, dass die strukturelle Queerness an der Hybridität des Mediums, den Wiederholungsstrukturen, der Panelstruktur, dem Gutter, der Interlinearität, der Verbindung von Sequenzialität und Simultaneität festzumachen ist. Ramzi Fawaz und Darieck Scott betonen in diesem Kontext etwa die inhärente Brüchigkeit von Comics („refraction“; 2018, 201) und heben das Potenzial von Comics als (ursprüngliches) Außenseitermedium hervor. Es liege ein synthetischer Ansatz nahe, der Comics Studies und Queer Studies verbinde, „that considers the medium’s queerness as opening out into a variety of formal and narrative experiments that have attempted to deal with the problem of being literally and figuratively marginal or ‚queered‘ by social and political orders“ (2018, 199–200). Comics hätten eine besondere „expansive representational capacity“ (2018, 201), die eine Vielzahl von Konzeptionen, Narrationen unterschiedlichster Art ermögliche – hinsichtlich von nicht-normativen Genderkonzepten und übergreifend hinsichtlich der Durchbrechung gesellschaftskonstitutiver binärer Konfigurationen, wie ich hinzufügen möchte, – nämlich auch solcher, die für die Diskussion des machtpolitisch besetzten Begriffes ‚Familie‘ relevant sind.  Vgl. u. a. die Tagung der AG Comicforschung Race, Class, Gender & Beyond – Intersektionale Ansätze der Comicforschung, 20.–22.10.2021 auf Schloss Herrenhausen, Hannover. https://agcomic. net/2021/11/22/race-class-gender-beyond-recap (abgerufen am 14.12.2021). Vgl. auch den instruktiven, für die Lehre aufbereiteten Überblick zur intersektionalen Comicanalyse, verfasst von Véronique Sina, in Packard u. a. 2019. 151–184.

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Schließlich fokussieren Fawaz und Scott auf die – in den Comics Studies vieldiskutierte und auch für die Analyse von Nylon Road ausschlaggebende – medienkonstitutive Figur der Wiederholung, die differenztheoretisch gedacht werden kann (u. a. Balzer 1998; Frahm 2010; Sina 2016; Rauchenbacher 2022): „The unpredictability of serial narrative and narration and the visual structure of comics as a set of sequential panels that repeat, but always with a difference, suggest that comics are formally queer“ (Scott und Fawaz 2018, 202; Herv. im Orig.). Die Wiederholung begründet damit – wie es Véronique Sina formuliert – eine „performative Grundstruktur [...], welche das (produktive) Potenzial der Differenz und Verfehlung in sich birgt“ (2016, 30). Die Figur der Wiederholung legt auch forciert Möglichkeiten der Durchkreuzung linearer Zeitkonzepte nahe, was als ausschlaggebend für ein queeres Verständnis von Comics zu denken ist (Glitz 2019); Comics zeigt eine quasi überbordende Gegenwärtigkeit, und que(e)rt solchermaßen gesellschaftsdeterminierende Erzählmuster von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, wie es auch in Nylon Road deutlich wird. Durch die Ausarbeitung von insgesamt 12 unterschiedlich alten Avataren „im simultanen Bild-Raum des Comics“ werden Gegenwart und Vergangenheit verdichtet; die Handlung entfaltet sich „gleichzeitig-synchron“ und nicht „chronologisch-diachron“ (Eder 2014, 104). Diese Konzentration auf Gegenwärtigkeit ist für das Verständnis der Des-Orientierung infolge der Migration und die psychischen Auswirkungen grundlegend, weil sie produktiv der Idee einer „coherent post-migration identity“ (Watson 2017, 75) entgegengestellt werden kann. Angesichts der ersten ‚Selbstbegegnung‘ – dieser Begriff zielt auf die Beschreibung einer inhaltlichen Dimension – erläutert das erzählende Ich, Parsua,4 dass die anderen Ich „hier [waren], um mich daran zu erinnern, dass, wo auch immer ich mich befand, ich das Ergebnis ihrer Leben war ... “ (2006, 18). Dieser Selbstvergewisserungsprozess anhand der Fokussierung auf intrapersonale Anteile (siehe auch unten) ist für Parsua re-orientierend und stabilisierend, wie es schon durch die Darstellung des (symbolischen) Lebensweges deutlich wird (Abb. 2). Gleichzeitig ist dieser Prozess verstörend, was anhand der Begegnung mit dem ersten Avatar, der sechsjährigen Parsua, deutlich gemacht wird (Abb. 3). In Nylon Road ist die Konfrontation mit den Ich durch „pictorial embodiments“ (El Refaie 2012, 51) aufgrund der beschriebenen präsentischen Qualität wörtlich zu verstehen, sind sie doch tatsächlich als physisch anwesend realisiert (65). Zwar gibt es einen primären Avatar, Parsua im Jahr 2004 in der Schweiz, doch in den dialogischen Strukturen sind die Figuren einander gleichgestellt, sie interagieren

 Die fiktive Figur wird mit dem Vornamen, Parsua, bezeichnet; die Autorin mit dem Nachnamen, Bashi.

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Abb. 3: Einführung des ersten Avatars, der sechsjährigen Parsua. Bashi, Nylon Road. 14.

miteinander – weder auf piktoraler noch sprachlicher Ebene wird ein Bruch herbeigeführt, der das Geschehen beispielsweise als Traum, Illusion oder Rückschau kennzeichnen würde.

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Des- und Re-Orientierung Nylon Road que(e)rt damit die Erwartungshaltung an die Diegese, die das Erzählte einem – als plausibel erlernten – Möglichkeitsraum zuordnet, und wirkt verstörend. Ich möchte den Comic im Folgenden mit Sara Ahmeds Ausführungen zur Queer Phenomenology lesen und auf die Momente der Verstörung bzw. Des-Orientierung fokussieren. Wie Ahmed hervorhebt, beruhen soziale Übereinkünfte „in part on agreement about how we measure space and time, which is why social conflict can often be experienced as being ‚out of time‘ as well as ‚out of space‘ with others“ (2006, 13). Die Entkoppelung von Zeit und Raum setzt der Comic – wie bereits erläutert wurde – originär um. Phänomenologie – so Ahmed – sei für Queer Studies produktiv, weil sie die „importance of lived experience“ betone, „the intentionality of consciousness, the significance of nearness or what is ready-to-hand, and the role of repeated and habitual actions in shaping bodies and worlds“ (2006, 2). Ahmeds Elaborationen über phänomenologische Queerness bzw. queere Phänomenologie geben für das Verständnis von Nylon Road insofern einen zentralen Impuls, als die Produktivität der Des-Orientierung für ein Neudenken und – insbesondere – eine NeuRelationalisierung hervorgehoben wird. „It is in this mode of disorientation that one might begin to wonder: What does it mean to be orientated?“ (2006, 6). Parsua ist „abgeschnitten“ (Bashi 2006, 19) von ihrer Vergangenheit – es handelt sich um einen Schnitt, dessen Radikalität durch die piktorale Realisierung deutlich wird (Abb. 4). Die räumliche Separierung von der Heimat resultiert in der bereits beschriebenen Des-Orientierung Parsuas, wobei die multiplizierten Avatare als Ausdruck der „dislocation“ (El Refaie 2012, 65) und gleichzeitig als neue Referenzpunkte in der fremden Umgebung im Sinne einer Aus- bzw. Neugestaltung des Raumes und einer Neu-Orientierung verstanden werden können. Orientierung nämlich – so Ahmed – „depends on the bodily inhabitance of [...] space“ (2006, 6), wobei der Prozess des Orientierens an die Vertrautheit bzw. Kenntnis („familiarity“) der umgebenden Welt, demnach nicht nur an das Finden des Weges gekoppelt sei, sondern vielmehr an die Frage, „how we come to ‚feel at home‘“ (7). Gemäß der orientation toward objects, erläutert Ahmed weiter: „The familiar is an effect of inhabitance; we are not simply in the familiar, but rather the familiar is shaped by actions that reach out toward objects that are already within reach“ (7). Daran – also an dem, was in Reichweite ist und wovon Kenntnis besessen wird – orientiert sich die Einnahme des Raumes. Die Des-Orientierung „of the sense of home, as the ‚out of place‘ or ‚out of line‘ effect of unsettling arrivals, involves what we could call a migrant orientation“ (10). Bashis Praxis der simultanen Realisation der Avatare unter Einhaltung einer diegetischen Ebene (abseits von den eingeschobenen Rückblenden) kann anschließend daran als Verhandlung dieser (neuen) Einnahme des Raumes gelesen wer-

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Abb. 4: Erkenntnis über die Separierung von der eigenen Vergangenheit. Bashi, Nylon Road. 19.

den – ein konfliktreicher Prozess, gibt es doch aufgrund der migrantischen Erfahrung keine vertrauensvolle Kenntnisnahme über den Raum und dessen Objekte. Die grafischen Avatare werden – Ahmeds Rede von familiarity aufgreifend – als Manifestation des Selbst lesbar, die gleichermaßen vertraut und im neuen Raum unvertraut sind: un_familiäre Selbst. Anhand dieser Avatare werden neue Konzepte der umgebenden Welt geschaffen und sie nehmen aufgrund ihrer überschüssigen präsentischen Qualität wörtlich den Raum des Comics ein. Wie Jared Gardner erläutert, erzwingt die Linie „a physical, bodily encounter with an imagined scene of embodied enunciation, one necessarily effaced in print“ (2011, 66). Insgesamt wird das erzählende Ich mit 11 Avataren in unterschiedlichen Altersstufen konfrontiert – es gibt also 12 verschiedene, sich voneinander unterscheidende Parsuas, die eine stete Neu-Orientierung der Leser✶innen verlangen. Aus narratologisch-rezeptionsästhetischer Perspektive ist für das Verständnis der Leser✶ innen-Rolle Wolfgang Isers philologisches Grundlagenkonzept des impliziten Lesers5 aufschlussreich. Iser versteht darunter eine im Text angelegte Leseinstanz, die für die – immer neue – Generierung des Textes ausschlaggebend ist. Was er für  Isers Arbeiten dazu stammen aus den 1960er- und 1970er-Jahren, was auch die nicht-gegenderte Form erklären mag; es ist jedoch zentral, dass – wie aus einer feministischen Perspektive elaboriert wurde – das Konzept des impliziten Lesers literatur- und kulturgeschichtlich sehr wohl geschlechtlich codiert in Texten angelegt ist (u. a. Liebrand 1999). Im Folgenden wird daher der neutrale Terminus implizite Leseinstanz verwendet.

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literarische Texte im engeren Sinn formuliert, nämlich dass sie ihre „Wirklichkeit“ erst dadurch erlangen, dass die Leser✶innen „die vom Text angebotenen Reaktionen“ (1975a, 232) nachvollziehen, kann auch für Comics gelten. Von besonderer Relevanz sind die von Iser beschriebenen „Unbestimmtheitsstellen“, die er als „das wichtigste Umschaltelement zwischen Text und Leser“ versteht, weil „sie die Vorstellungen des Lesers zum Mitvollzug der im Text angelegten Intention aktiviert“ (1975a, 248). Es handelt es sich dabei nun nicht um einen endgültigen, sondern um einen stets zu aktualisierenden Vollzug. In diesem Sinn kann für Comics (wie für literarische Texte) als narratives Medium ein „Appellcharakter“ angenommen werden – wie es im Titel des zitierten Aufsatzes von Iser heißt –, weil sie Anknüpfungspunkte und Unbestimmtheitsstellen entwerfen, die die Leser✶innen zu Reaktionen herausfordern (1975a; 1975b). Unbestimmtheit ist ein konstitutives Element von Nylon Road; das Erzählte impliziert schon die Irritation der Leser ✶innen und die stete Notwendigkeit der Modifizierung der Erwartungshaltungen.6 Exemplarisch verdeutlicht werden kann dies an der Auseinandersetzung mit einem der Avatare, der 36 Jahre alten Parsua aus dem Jahr 2002 (Abb. 5), die, wie es im Blocktext heißt, der Erzählinstanz „[u]nter all meinen neuen Freundinnen [...] was Alter und Persönlichkeit betraf, näher stand“ (Bashi 2006, 76). Wie auch die anderen Avatare wird diese Parsua vorgestellt und als quasi selbstständige Figur eingeführt („Sie lebte allein in Teheran“ ... ). Dieser modus operandi kollidiert jedoch unmittelbar mit dem Wissen der Leser✶ innen, sind diese doch bereits mit der Konzeption des Comics vertraut. Der Konflikt zwischen dem Wissen bzw. der Erwartungshaltung der Leser✶innen und dem narratologischen Prinzip des Comics wird weiter zugespitzt, wenn über eine (mögliche) dritte Perspektive reflektiert wird: „Aber manchmal wollte ich nicht mit ihr zusammen gesehen werden, es war mir peinlich. Sie war laut“ (Bashi 2006, 77). Adressiert werden hiermit auch die Leser✶innen, die sie eben unumgänglich und ganz wörtlich „mit ihr zusammen“ sehen – ohne dass für das Aufeinandertreffen der unterschiedlichen Perspektiven und Erwartungshaltungen eine Lösung angeboten werden würde.

 Wie Iser erläutert, „spielen im Lesevorgang ständig modifizierte Erwartungen und erneut abgewandelte Erinnerungen ineinander“ (Iser 1975a, 257).

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Abb. 5: Konfrontation mit einem der Avatare, der 36 Jahre alten Parsua. Bashi, Nylon Road. 76.

Ich ist viele – eine alternative, innere Familie Nylon Road erzählt vor allem in zwei Episoden von Parsuas Scheidung sowie dem Verlust des Sorgerechts, thematisiert die repressiven Verhältnisse und die Rolle des gemeinsamen Kindes, dessen physische Abwesenheit sich auch in der fast gänzlichen Abwesenheit im Comic spiegelt. Das Kind wird nämlich nur an zwei Stellen in kurzen Rückblenden gezeigt (Bashi 2006, 47, 70). Ein wichtiges Thema

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für Parsua ist in diesem Kontext die Erfahrung von Stigmatisierung bzw. Exponierung als geschiedene Frau in Iran (2006, 71), was auch in Hinblick auf unterschiedliche gesellschaftliche Kontexte thematisiert wird: „Aber westliche Frauen können ihre Kinder behalten, ein Haus und einen Job finden, und niemand beleidigt sie, nur weil sie geschieden sind“ (2006, 71). Die entscheidende Erkenntnis jedoch betrifft schließlich die Notwendigkeit von Eigenverantwortung als Grundlage der Emanzipation vom Partner und dem patriarchalen System, was für Parsua nur aufgrund der Emigration möglich ist (2006, 73). Dabei fordert die Trennung von der Familie, von der Heimat und auch die autobiografische Konfrontation eine neue Form der Auseinandersetzung, in deren Zuge als repressiv erlebte Familienkonzepte ersetzt werden (müssen). In der Schweiz, fernab sowohl von der Herkunftsfamilie – die Beziehung zu den Eltern wird in den Rückblenden wiederholt thematisiert – als auch vom geschiedenen Partner; in einem Land, das die Protagonistin mit Sprach- und kulturellen Barrieren konfrontiert, scheint sie auf sich selbst zurückgeworfen. Die neue Beziehung in der Schweiz wird bezeichnenderweise nur am Rande erwähnt und spielt keine entscheidende Rolle. Mit Layli Maria Miron kann Nylon Road als Kritik an einer Nativism-AbleismMatrix gelesen werden; Tobin Siebers’ Ausführungen zum „complex embodiment“ folgend, ordnet Miron die multiplizierten Avatare sozial- und diversitätskritisch ein: „Bashi renders visible, both in her illustrations and through her self-dialogues, the harm inflicted by her environments on her intersecting identities as an immigrant woman“ (2019, 451). Sie bezieht damit auch Opposition gegen Kategorisierungen als Opfer und Pathologisierungen (2019, 457). Es zeigt sich nämlich in Hinblick auf die Orientierungsprozesse Parsuas, dass die multiplizierten Avatare einen emanzipativen Zweck haben – und zwar sowohl in Hinblick auf die Folgen der Emigration (Miron 2019; auch: Ebrahimi 2019, 79; Grünewald 2020, 41–42) als auch für Auseinandersetzungen mit Dis_ability: „Thus, Nylon Road encourages readers to question the ableist tendency to pathologize mental variation“ (Miron 2019, 458). Diesen Überlegungen folgend, sind die multiplizierten Avatare nicht nur – wie erläutert – Referenzpunkte einer neuen Familiarität, sondern auch einer ableismuskritischen Diskussion und können als eine externalisierte innere Familie verstanden werden. Diesen Begriff lehne ich an psychotherapeutische Ausführungen zum inneren Kind bzw. der Methode der Arbeit mit dem inneren Kind an, wie sie unter anderem von dem US-amerikanischen Theologen und Psychologen John Bradshaw entworfen wurden (1990). Damit sollen komplexe psychodynamische Prozesse, etwa zurückgehend auf Traumatisierungen, anhand von Visualisierungsarbeit (inneres Kind) adressiert werden. In Nylon Road werden die Ich selbst zur Familie, wobei dies kein homogenisierender, sondern ein konfliktreicher, identitätskritischer Prozess ist. Wie schon

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deutlich geworden ist, variieren sie in Aussehen, Alter und vorherrschenden Themen und nehmen zueinander unterschiedliche Rollen ein; sie treten in Interaktion, arbeiten sich aneinander ab. Die Externalisierung und Verdichtung der Avatare kann so auch als eine Form der Care-Arbeit gelesen werden. In der Fremde, zurückgeworfen auf sich selbst, steht die innere Familie im Vordergrund, weil die Identität zur Disposition steht: „Her narrating ‚I‘ does not have a consolidated identity, but a fractured and provisional one“ (Watson 2017, 84). Dabei wird auch die „expansive representational capacity“ des Mediums Comics deutlich (Scott und Fawaz 2018, 201), Erwartungshaltungen werden durchkreuzt, irritiert, destabilisiert, produktiv neue Interpretationen initiiert und gleichzeitig alternative Konzepte der Lesbarkeit der post-migrantischen Identität und auch des Konzeptes ‚Familie‘ ermöglicht. Identitäten, Identitätskonzepte und elterliche sowie kindliche Rollen werden eingenommen, gedoppelt, wieder verworfen und somit Identität als Tun bzw. – wie es etwa El Refaie mit Bezug auf Erving Goffman formuliert – als Amalgam ausgewiesen (2012, 53). Diese Familie ist keine endgültige, statische. Die Wiederholungsstrukturen, Gleichzeitigkeiten und die Leerstellen, die die strukturelle Queerness von Comics bedingt, zeigen notwendig auf die Brüchigkeit. Nylon Road verdeutlicht so auch das – dem Medium Comics inhärente – Spannungsfeld zwischen der Materialität der Körper und ihrer situierten Bedingtheit.

Resümee Parsua Bashis Nylon Road ist ein Comic über den Verlust der Heimat und die Trennung von der Familie. In exzeptioneller Weise werden Prozesse der ReOrientierung diskutiert, insofern als Bashi die strukturelle Queerness des Mediums forciert funktionalisiert. Dadurch bietet Nylon Road Möglichkeiten des Contra- und Que(e)rlesens und zwar auch in Hinblick darauf, wie Familiarität und Familie verhandelt werden. Dies ist insbesondere vor dem Hintergrund des Themas Migration/Flucht von Relevanz. Die Des-Orientierung und notwendige Re-Orientierung in der Fremde, wie es mit Sara Ahmeds Ausführungen zur Queer Phenomenology nachvollzogen wurde, wird durch die präsentische Qualität der vielfältigen, simultan realisierten Avatare umgesetzt, wobei auch die Rezipient✶innen gezwungen sind, diesen Prozess mit zu vollziehen. Narratologisch und rezeptionsästhetisch kann die Konzeption von Nylon Road anhand von Ausführungen zur impliziten Leseinstanz (impliziter Leser nach Wolfgang Iser) und den von Iser analysierten Unbestimmtheitsstellen verstanden werden. In der strukturellen Konzeption des Comics angelegt ist eben offensiv die stete Des- bzw. Re-Orientierung der Leser✶innen.

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Die konfliktreiche Auseinandersetzung mit der unvertrauten Umgebung und den un_vertrauten, un_familiären Selbst im Sinne einer Re-Orientierung subvertiert ableistische Zuschreibungen und eröffnet die Möglichkeit, die multiplizierten Avatare als innere Familie zu lesen, die – in der Fremde – zu der Herkunftsfamilie und normativen (Familien)Modellen in Konflikt tritt. In Hinblick auf die strukturelle Queerness des Mediums Comics ist diese Familie eine unabgeschlossene, offene, die Identität notwendig zum Verhandlungsgegenstand machen muss. Nylon Road bietet daher auch keine abschließende Lösung, die die narrativen Verfahren letztgültig erklären würde. In der forcierten Ausarbeitung einer Comicgegenwärtigkeit etabliert sich eine queere Erzähllogik, die die Verunsicherung von Wahrnehmung und Leseerwartungen zum Programm erklärt.

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Katharina Serles

So etwas wie Shape-Shifter? Trans✶ Familien in Joris Bas Backers und Nettmanns Familienjuwelen und Maurizio Onanos Oma Herbert Die beiden Comics Familienjuwelen (2018) von Joris Bas Backer und Nettmann sowie Oma Herbert (2019) von Maurizio Onano könnten in Form, Anspruch und Zielgruppe unterschiedlicher nicht sein. Es eint sie allerdings die mehr oder weniger lapidare Auseinandersetzung mit dem Thema trans✶ im Familienverband, hier bezeichnet als ‚trans✶ Familien‘.1 Das konventionell starre, binäre, paar-, cis- und heteronormative Gefüge des Geschlechtshabitus (Meuser 2006, 120–121) in der sogenannten Kernfamilie – also Vater, Mutter, Kind – unterlaufen die beiden Comics schon allein durch die Darstellung einer trans✶ Person: Familienjuwelen (2018) versammelt autobiografische Comicstrips der beiden Comickünstler – bestehend aus im Schnitt vier Panels – zumeist alternierend, seltener auch kollaborativ, und ab und zu ergänzt von Gastbeiträgen. Alle Strips verhandeln Herausforderungen von Partnerschaft, Elternschaft und Erziehung in Hinblick auf Gender im Allgemeinen. So geht es etwa um die Frage der Farbwahl bei der Einkleidung der Kinder – Bas Backer freut sich über rosa Kleidung für den Sohn, der darin „ganz emanzipiert aussehen“ wird (Bas Backer und Nettmann 2018, [74]) – oderum gesellschaftliche Erwartungen eines zweiten Kindes zur Komplettierung der Kernfamilie („Wir freuen uns schon ganz doll auf das zweite Kind!“, 2018, [86]) und die ironische Antwort von Nettmann, dessen Kind dem Titel nach ein „One Hit Wonder“ bleiben soll: „Wieso? / Ist das erste nüscht geworden?“ (2018, [86]). Das Coming-out eines Elternteils (in dem Fall von Joris Bas Backer) als Mann sowie seine Transition macht nur einen kleinen Teil der Strips aus. Der Comic Oma Herbert (2019) von Maurizio Onano sucht einen kindgerechten, spielerischen Umgang mit Spannungen und Zwängen einer heteronormativen Gesellschaft anhand der großmütterlichen und ebenfalls trans✶ Erzieher✶innenfigur und Titelgeberin ‚Oma Berta‘. Dabei geht es auch um die Normalisierung von performativen, variablen Identitäten und Körpern im Sinne des Becoming (Garner 2014, 30–32): „Wer ist denn der dicke Mann da neben Sebastian“, fragt das Nachbarskind Timo die Enkelin, die prompt den Titel erklärt: „Das ist Oma, als sie noch  Beide sind außerdem im Jaja Verlag erschienen; einem kleinen Independent-Verlag aus Berlin, der u. a. einen Schwerpunkt auf genderinklusive Themen legt. https://doi.org/10.1515/9783110786392-007

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Abb. 1: Detail aus: Maurizio Onano. Oma Herbert. Jaja Verlag: Berlin, 2019, [33]. © Onano / Jaja Verlag 2019.

Herbert war“ (Onano 2019, [33]; Abb. 1). Auch hier geht es vorrangig um die Beziehung dieser beiden Kinder und die Partnerinnensuche der Oma – immer begleitet, unterstützt und kommentiert von einem ungewöhnlichen Set an Figuren.

(Un)Doing Family Durch die explizite Nennung von ‚Familie‘ bzw. von den per definitionem innerhalb der Familie weitervererbten ‚Juwelen‘ oder durch die Nennung der Verwandtschaftsbeziehung ‚Oma‘ verweisen beide Titel explizit auf das biologische, rechtliche und soziale Zusammengehörigkeits-Konstrukt oder die soziale Mikrostruktur ‚Familie‘ (vgl. z. B. Hill und Kopp 2013, 9–49). Die inhärenten Logiken, aber auch Zwänge, Abhängigkeits- und Machtverhältnisse des Konstrukts ‚Familie‘ unterwandern beide Comics allerdings nicht ausschließlich durch die bloße Existenz einer trans✶ Person in diesem Gefüge – sie tun dies auch auf narrativ-struktureller Ebene. So erweitert Familienjuwelen das Nuklearfamilienpersonal durch die Gastbeiträge der Comickünstler✶innen Crippa XXX Almquist, Elke Renate Steiner, CX Huth und Roman Maeder auf eine nicht biologisch determinierte ‚Künstler✶innenfamilie‘. Die strukturelle Brüchigkeit oder Versatzstückhaftigkeit, die die einzelnen abgeschlossenen Comicstrips im ganzen Band evozieren – es lässt sich keine singuläre Geschichte einer Familie konstruieren –, setzt sich inhaltlich schließlich in der Dekonstruktion des klassischen Nuklearfamilien-Charakteristikums der ‚gemeinsamen Haushaltsführung‘ fort: Das „Beste des Tages“ ist für den Sohn – neben

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einem Geschenk und Pommes – „dass ihr [die Eltern] nicht mehr zusammen wohnen müsst“ (Bas Backer und Nettmann 2018, [121]). Die portraitierte ‚Familie‘ in Oma Herbert ist unkonventionell insofern, als die Elternebene völlig ausgespart bleibt. Der biologische Nukleus besteht aus Großmutter und trans✶ Frau Berta (vormals Herbert) und Enkelin Mimi. Hinzu gesellen sich in sozialer Zusammengehörigkeit diverse non-humane Figuren: Susi, die konservative und häufig beschwipste Maus; Thomas, ein brillentragender und besserwisserischer Vogel; Sebastian, der Kater mit Gewichtsproblemen und Masche/Fliege; und schließlich die Topfpflanze Gabi. Diese Figuren identifizieren sich als „wir“ in einem Haushalt / „zu Hause“ (Onano 2019, [71]) und bezeichnen Berta kollektiv als „Oma“ (vgl. z. B. 2019, [7], [12], [18]). Nur Gabi setzt sich durch die konsequente Ansprache von „Berta“ und ein entsprechend dadurch nicht hierarchisiertes Verhältnis von dem klassischen Verwandtschaftsgefüge Oma und Enkel✶innen ab (vgl. z. B. 2019, [42], [51]). Würde die Nicht-Humanität dieser Figuren den biologischen und speziezistischen Anspruch konventioneller Familienmodelle nicht unterlaufen, bliebe allerdings wenig Subversion übrig, denn die non-humanen Figuren sind durch die ständige Nennung des Vornamens und durch gewisse Attribute (wie Fliege bei Sebastian und Kleidchen bei Susi) konventionell gegendert. Hinzu kommt ein gleichsam binärer, wenn nicht stereotyper Umgang mit Farbe: Rot-Blau-Kontraste dominieren das Bild; wenn sie sich nicht verkleiden, sind weiblich identifizierte Figuren in Rottönen gehalten, während männlich identifizierte Figuren blaue Kleidung tragen. Berta ist schließlich auch eindeutig als Familienoberhaupt definiert und genießt eine entsprechende Autorität im dargestellten Gefüge (vgl. z. B. 2019, [26–27]). Das im Untertitel als trans✶ Familien bezeichnete Konstrukt sei kurz definitorisch unterfüttert: Als ‚transgender‘ werden in trans✶ Theorie und trans✶ Netzwerken bzw. Aktivismus gemeinhin Personen bezeichnet, die eine Überwindung von Gender-Binarität anstreben, und/oder sich mit dem ihnen biologisch zugewiesenen Geschlecht nicht (vollständig) identifizieren. Trans✶ mit Asterisk subsumiert dabei nicht nur Geschlechtsidentitäten, die als trans✶ Frau oder trans✶ Mann identifiziert sind (und damit einmal mehr Binarität evozieren), sondern auch viele weitere, die das binäre Gendersystem hinterfragen oder herausfordern, wie etwa genderqueere, non-binäre bzw. gender-nonkonforme Personen, Cross-Dressers usw. (Tompkins 2014, 27; Bockting 2012, 739–741). Trans✶ Personen, die medizinisch intervenieren, um die Geschlechtsanpassung oder auch Transition zu erleichtern bzw. zu vollziehen, werden zumeist entlang zweier Geschlechter-Vektoren klassifiziert: male-tofemale (MTF) oder female-to-male (FTM) (Kosenko u. a. 2018, 274). Coming-out bezeichnet jenen Vorgang, bei dem eine Person ihre Geschlechtsidentität mitteilt oder öffentlich macht. Familie – vom sozialen, biologischen und rechtlichen Zusammengehörigkeits-Konstrukt war bereits die Rede – ist, so die zeitgenössische Familientheorie

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einer jener zentralen Orte, an denen Hetero- und Cisnormativität (re-)produziert werden: „children learn to do gender [...] as they interact with their parents or guardians, siblings, cousins, grandparents, and so on“ (McGuire u. a. 2016, 63; Herv. im Orig.). Ebenfalls eingebettet in das Familienkonstrukt lernen Kinder Geschlechtshabitus und soziale Erwartungen daran, sowie die Grundannahme des Cis-Gender für die Familienmitglieder (McGuire u. a. 2016, 60). Heteronormativität kann letztlich selbst als „ideological composite“ (Oswald u. a. 2005, 144) identifiziert werden, das Geschlechtshabitus und das Konzept der Familie aneinander bindet: „It fuses together a gender ideology, a sexual ideology, and a family ideology into a singular theoretical complex. Doing sexuality and doing family properly are inseparable from doing gender properly“ (Oswald u. a. 2005, 144). Eine trans✶ Familie ist demnach jenes Gefüge, in dem durch die Existenz und das Coming-out von zumindest einem seiner Mitglieder als trans✶ potenziell ein Ort der Neu-Verhandlung und Re-Definition von Geschlecht, Identität, Rolle und Beziehung – aber auch Familie – entsteht: Trans✶ Individuen „may challenge gender conventions and push their family members to stretch and expand, to queer [...], their thinking in regard to gender, sexuality, and family“ (McGuire u. a. 2016, 61; Herv. im Orig.). Gerade trans✶ Personen in Familien können also die hetero- und cis-normative ‚Kernfamilie‘ aufbrechen (McGuire u. a. 2016, 69). So wird etwa neu definiert, wer Teil dieser Familie ist (beschrieben im Prozess des Inviting In analog bzw. entgegengesetzt zum Coming-out – vgl. McGuire u. a. 2016, 69) bzw. werden Familiengrenzen neu gezogen. Zum performativen Konzept des (Un)Doing Gender aus der interaktionistischen Geschlechterforschung2 gesellt sich also das (Un)Doing Family (McGuire u. a. 2016, 69–70). Trans✶ Personen haben darüber hinaus fast genauso viele verschiedene Möglichkeiten der Elternschaft bzw. Familiengründung wie Cis-Personen – sei es durch biologische Elternschaft mit oder ohne Unterstützung von reproduktiven Technologien, durch Surrogate, Adoption, Obsorge oder Pflege, Stiefelternschaft etc. (Pfeffer und Jones 2020, 200). Die prinzipielle Möglichkeit darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass gewisse bürokratische Hürden, soziale Stigmatisierung und Diskriminierung, trans✶ Elternschaft im Vergleich zu Cis-Elternschaft zusätzlich erschweren (Pfeffer und Jones 2020, 200). In Arlene Istar Levs Monografie Transgender Emergence (2004), die zentrale Stufen im Prozess des Coming-out als trans✶ beschreibt, ist die sogenannte Family Emergence ein vergleichbarer Prozess mit dem (Un)Doing Family, der die Transition nicht nur als individuellen, sondern auch als familiären Prozess beschreibt (2004, 271–314; Pfeffer und Jones 2020, 204), wie auch Carla A. Pfeffer und Kierra B. Jones in Hinblick auf Familien mit trans✶ Eltern(teilen) bestätigen: „Because

 Vgl. dazu z. B. West und Zimmermann 1987; Butler 1990 und Butler 2006; Hirschauer 2001.

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families constitute a system, [...] the family and each of its individual members may be said to be transitioning along with their transgender family member“ (2020, 208; vgl. zu diesem Prozess auch Zamboni, 2006).

Abb. 2: Joris Bas Backer. „Misslungenes Comingout“. Familienjuwelen. Berlin: Jaja Verlag, 2018 [2017], [110]. © Bas Backer und Nettmann / Jaja Verlag 2018.

Familienjuwelen greift diesen Zusammenhang nicht nur in seiner dia- bzw. trialogischen Struktur auf (auch Sohn Boontje zeichnet später mit), Strips wie „Misslungenes Comingout“ (Abb. 2) und „Every Rose Has It’s [!] Thorn“ (Abb. 3) thematisieren dieses gemeinsame transformative (Nach-)Vollziehen einer Transition. Dabei wird etwa verhandelt, wie sich das Kind mit dem ‚neuen‘ Pronomen ‚er‘ für ‚Mama‘ beschäftigt – „Mama, also warum willst du ‚er‘ heißen?“, fragt es (Bas Backer und Nettmann 2018, [110]). Verliert aber dann auch sofort wieder das Interesse, als es den Zusammenfall von „Mädchenkörper“ und „Jungsgehirn“ aufgrund seiner Erziehung als nicht problematisch beurteilen kann, denn: „Jungs und Mädchen sind nicht wirklich unterschiedlich“ (2018, [110]; Abb. 2). Inwiefern das Coming-out misslungen ist, deutet erst ein weiterer Comic von Nettmann an. Was das Kind als essenziellen Teil der Identität des Elternteils, aber auch der Eltern-Kind-Beziehung identifiziert – die Bartlosigkeit der weiterhin ostentativ als solche bezeichneten Mutter („Ich hab Mama ein bisschen lieber als dich / [...] / Mama ist viel kuschliger und hat nich so ʼnen Kratzebart“, 2018, [112]) – dürfte sich bald verändern, was das Kind aber (noch) nicht fassen kann. Das warnende „Na warte mal ab ...“ (2018, [112]) des Vaters deutet die künftige, möglicherweise bittere Erkenntnis – der sprichwörtliche Dorn der Rose, wie der Titel des Strips suggeriert – an (Abb. 3). Zuletzt wird auch die Neuverhandlung des partnerschaftlichen Verhältnisses als Reisemetapher visualisiert. Während der Cis-Partner es „hier ja ganz schön“ findet – dem Titel nach ist ‚hier‘ „in transit“ zwischen Mädchenland und Herrnburg – will der trans✶ Partner „weiter auf [s]einem weg“, was der Cis-Partner

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Abb. 3: Nettmann, „Every Rose Has It’s [!] Thorn“ ([2017]). Familienjuwelen. Berlin: Jaja Verlag, 2018 [2017], [112]. © Bas Backer und Nettmann / Jaja Verlag 2018.

schließlich – auch durchaus humorvoll – akzeptiert: „okay ... ich bring dich noch ein stück. / naja wenigstens gibt’s dann kein PMS mehr. / aber wehe wir bringen unsere unterhosen durcheinander!“ (2018, [111]).

Trans✶(in)visibilität in Comics Trans✶(in)visibilität in Comics ist spätestens seit Mitte der 2010er Jahre ein vieldiskutiertes Thema. 2014 gab es ein erstes trans✶ Panel auf der San Diego Comic-Con International (mit dem Titel „Breaking Barriers: Transgender Trends in Popular Culture“), dem voraus gingen Diskussionen um – häufig trans✶phobe – Einführungen von trans✶ Figuren wie Alysia Yeoh in Mainstream Superheld✶innen-Comics wie Batgirl (2011) (Scott und Kirkpatrick 2015, 162). Grundsätzlich ist zu sagen, dass in populären Repräsentationen häufig die objektifizierende, exotisierende Darstellung von trans✶ Frauen oder MTF – nicht selten auch als Opfer von Gewalt – dominiert(e). Die Trans✶phobie, die sich hier ausdrückt, könnte also durchaus als Trans✶misogynie (Scott und Kirkpatrick 2015, 164) bezeichnet werden – also als Ausdruck einer intersektionalen Diskriminierung von trans✶ Frauen als trans✶ Personen und Frauenfiguren in Comics. Vielen populärkulturellen Repräsentationen ist gemein, dass sie von Cis-Personen erschaffen wurden und – wenn nicht exploitativ – so immerhin nicht authentisch oder repräsentativ wirken. Das trifft so etwa auf die als eine der ersten ‚positiven‘ Darstellungen viel-besprochene Figur Wanda aus Neil Gaimans Sandman (Vertigo/DC 1989–1996) zu (Scott und Kirkpatrick 2015, 161–163). Auch die Autorin dieser Zeilen ist eine Cis-Person, die über trans✶ Repräsentation schreibt und damit das paternalistische ‚Sprechen über‘

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Marginalisierte potenziell fortsetzt, sofern sie diese Diskrepanz und Distanz nicht offenlegt und trans✶ Stimmen in der Wahl ihrer Quellen vorrangig berücksichtigt. Jener Vorwurf ist der autografischen Sammlung Familienjuwelen jedenfalls nicht zu machen.3 Gleichzeitig wird die Transition so beiläufig verhandelt, dass sie manchmal sogar zu überlesen ist. Ein zentraler Indikator ist die Signatur von Bas Becker, die zusammen mit der Jahreszahl fast schon als Koordinatensystem in diesem Prozess zu lesen ist. Lautet diese – einsetzend im Jahr 2011 – noch „annabb“ und „anna“ (z. B. Bas Backer und Nettmann 2018, [5], [10]) bzw. 2015 kurz „abb“ und „bassy“ (z. B. 2018, [89], [92]), kommt ab 2016 nur noch „bas“ zu stehen (z. B. 2018, [99]; Abb. 2) und scheint in seinen letzten beiden Strips ab 2018 der neue Vorname – fast als Happy End – „jorisbas“ bzw. „jorisbb“ auf (2018, [121], [123]). In wenigen Strips wird trans✶ auch inhaltlich thematisiert: So wird neben den schon diskutierten Szenen des misslungenen Coming-outs vor dem Kind und der partnerschaftlichen Diskussion der Transition auch der Wunsch nach Aussetzen der Periode formuliert („ich brauch dich nicht mehr!“, 2018, [92]; Herv. i. Orig.). Themen wie geschlechtsangleichende Operationen, Hormonbehandlungen, aber auch etwaige Diskriminierungserfahrungen bleiben ganz ausgespart; bis auf die Frisur (von Kinnlänge zu Kurzhaarschnitt) ändert sich auch in der Körperdarstellung von Bas Backer nichts. Nettmann verwendet überhaupt konsequent dieselbe Schablone einer maskierten, höchst femininen Figur mit traditioneller holländischer Mütze, bis er Bas Backer gar nicht mehr in seinen Strips darstellt. Das Thema Trans✶(in)visibilität in Comics kommt fast nicht ohne den – durchaus problematischen – Topos von trans✶ Personen als ‚Shapeshifter‘ aus (Scott und Kirkpatrick 2015, 163). Historische und Mainstream Darstellungen eines Geschlechterwechsels sind meist in SF- bzw. magische oder Superheld✶innen-Narrative wie Körpertausch oder eben Shapeshifting eingebettet – man denke an Mystique aus den X-Men (Marvel 1978–heute) oder die extraterrestrischen Skrulls ebenfalls aus den Marvel Comics (erstmals 1962 in den Fantastic Four). Diese Narrative sind insofern problematisch, als sie eine ‚problem-‘ und ‚schmerzlose‘ sowie potenziell immer wiederholbare Transformation nahelegen. Von einer authentischen Repräsentation von trans✶ Personen kann hier also nicht die Rede sein. Immerhin reflektieren einige Shapeshifter ihren Genderwechsel so, dass Geschlechtlichkeit letztlich als fluide bzw. als Konstruktion verstanden werden kann – etwa Skrull Xavin in  Autobiografische Comics zum Thema trans✶ sind im deutschsprachigen Verlagskontext rar: Joris Bas Backer hat mit Küsse für Jet. Eine Coming-of-Gender Geschichte (2020) einen weiteren vielbeachteten Comic über eine trans✶ Person vorgelegt, der – soweit recherchierbar – zwar autobiografisch inspiriert ist, aber ebenso wenig wie Onanos Oma Herbert noch der breit rezipierte Comic Nenn mich Kai von Sarah Barczyk (2016) unter das Genre der Autographics fällt.

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The Runaways (Marvel 2014): Xavins Gender-Repräsentation, Identifikation und Pronomen verändern sich je nach Situation; so definiert Xavin sich selbst als „shapeshifting“ und erklärt: „for us, changing gender is no different than changing hair color“ (zit. nach Scott und Kirkpatrick 2015, 162).

Abb. 4: Detail aus: Maurizio Onano. Oma Herbert. Jaja Verlag: Berlin, 2019, [35]. © Onano / Jaja Verlag 2019.

In Oma Herbert wird dieser Topos explizit aufgegriffen. Die titelgebende trans✶ Identität der Großmutter bleibt zwar über weite Strecken im Hintergrund, als eine Frage zu Bertas Gender im Zuge eines Rollenspiels aufkommt, erklären sich die Kinder ihre Identität als „so etwas wie ein Shape-Shifter“ (Onano 2019, [35]; Abb. 4). Die Berufung auf X-Men sowie das visuelle Kryptozitat „X-Can“ (Onano 2019, [35]) suggerieren kindliche Bewunderung dieser Subversion einer stabilen, biologisch determinierten, visuellen Identität. Das bleibt, auch wenn es sich hier um ein didaktisches Mittel handelt (Verständnis und Akzeptanz erfolgt über den Anschluss an Lebensrealitäten bzw. den Vergleich mit einem bekannten kulturellen Phänomen), letztlich problematisch. Erschwerend hinzu kommt, dass die wiederholte Thematisierung von Rollen oder dem Rollenhaften suggeriert, Transidentität sei etwas, das man an- und ablegen könnte wie ein Kostüm. Sei es das virtuelle Role Playing Game, RPG, das aber keines der Kinder tatsächlich spielen will („Spiel du ruhig. Ich schau lieber zu.“ – „Ich auch.“ / [...] / „Sebastian, möchtest du vielleicht spielen?“ – „Nö. Ich schau am liebsten zu.“ – Onano 2019, [22]) oder das aktuale Rollenspiel, das ausgerechnet Berta vorschlägt und für das sich alle Beteiligten verkleiden (vgl. Onano 2019, [23]). Das „R“, das Topfpflanze Gabi als Pirat ausgerechnet „rollen“ muss (Onano 2019, [25]), unterstützt die Lesart auf wortspielerischer Ebene. Auf Bildebene vermag der Comic es hier jedenfalls die Imagination der Spielenden der Realität gegenüberzustellen: Werden sie in einem Panel noch über eine

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Planke auf rauer See getrieben, entpuppt sich diese auf dem übernächsten als ein über zwei Hocker gelegtes Brett. Dabei wird das Gesehene einmal mehr als Konstruktion ausgewiesen (Onano 2019, [31–32]), was – ähnlich wie die abschließenden Szenen in und um das ‚Bronzene Theater‘ (2019, [78–93]) auf Inhaltsebene – letztlich Performanz bzw. Performativität ins Feld bringt.4 Nachgerade jedes Panel gerät so zur (manifesten wie metaphorischen) Bühne der Figuren, die darauf u. a. Körperlichkeit und Geschlecht performen.

Gewalt in trans✶ Familien Eine Diskussion von Darstellungen von trans✶ Familien muss schließlich auch Gewalt thematisieren, sind trans✶ Personen doch gerade im Familienverband physischer wie psychischer Gewalt ausgesetzt, was zahlreiche internationale Studien belegen: „Domestic violence and abuse (DVA) significantly affects gender and sexuality diverse people [...]. This includes violence and abuse between intimate partners, and from other family members“ (2020, 573), wie Shoshana Rosenberg, Damien W. Riggs, Nik Taylor und Heather Fraser für Australien festhalten. Kami A. Kosenko, Bradley J. Bond und Ryan J. Hurley beschreiben Ähnliches für die USA: „The National Transgender Discrimination Study reported that 57% of transgender individuals had been rejected by their families of origin“ (2018, 275). Während keiner der beiden Comics diese Missstände aufgreift,5 kann man Oma Herbert etwa durch die bereits erwähnte Farbgebung und eindeutige, binärgeschlechtliche Einordnung seiner non-humanen Figuren zumindest als Visualisierung des konstanten Drucks und damit auch der Gewalt eines binären GenderSystems verstehen. Die bereits als konservativ eingestufte Maus Susi, die auch nicht versteht, dass Berta eine Frau datet („Yolanda ist ... eine Frau?“, Onano 2019,  Vgl. zum Konzept von Performanz/Performativität z. B. Butler 1990, mit Bezug auf das Theater z. B. Fischer-Lichte 2004 und mit Schwerpunkt auf Comics z. B. Frahm 2010 und Sina 2016. Gerade die Performativität des Geschlechts innerhalb einer heterosexuellen Matrix ist dabei weniger spielerisch als im Beispiel intrinsisch mit Zwang und Gewalt verbunden.  An dieser Stelle sei der Vollständigkeit halber noch einmal auf den bereits erwähnten Comic Nenn mich Kai verwiesen, der das Unverständnis und die Zurückweisung der Eltern u. a. durch das Beharren auf den alten Vornamen bzw. beharrliches Misgendering darstellt („Dass du ein Mann bist? / Das ist Quatsch, Andrea“, Barczyk 2016, 44; „Therapie? Meine Tochter braucht keine Therapie! Und unnötige Operationen erst recht nicht!“, 2016, 45). Im Sinne der Family Emergence kommt es dort aber buchstäblich zu einem Happy End: In einem den Comic beschließenden Telefonat des Protagonisten mit seiner Mutter wird ihre sukzessive Akzeptanz seiner trans✶ Identität deutlich, sodass sie im letzten Panel via Lautsprecher des Mobiltelefons mit folgenden Worten zu hören ist: „Das freut mich, Andr ... Kai“ (2016, 76).

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[52]), verkleidet sich im Rollenspiel als „Robo-Susi“ und gibt Timo ein binäres Rätsel auf: „Hör gut zu. Du musst dieses Rätsel lösen: 1101 0001 10 1001 0111 10?“ (2019, [36]), das letztlich als Seitenhieb auf das hegemoniale System der Geschlechterdifferenz gelesen werden kann. Allerdings ist die reißerische Zusammenziehung von ‚Oma‘ und ‚Herbert‘ im Titel nichts anderes als ein Misgendering, also die Verwendung des falschen Namens (oder auch des falschen Pronomens, Genders oder der falschen Anrede), die auch im Rest des Comics nicht vorkommt (dort wird die Verwandtschaftsbezeichnung ‚Oma‘ sogar explizit zeitlich vom alten Vornamen getrennt; Abb. 1). Akte wie diese sind sehr wohl als gewaltvoll (und auch re-traumatisierend) zu identifizieren.

Trans✶ Medien Die fehlende familiäre Unterstützung sowie Gewalterfahrungen in traditionellen sozialen Netzwerken werden nun spätestens seit dem Web 2.0 bzw. seit dem Erfolgszug von Social Media zusehends durch mediale Repräsentation und Diskussion kompensiert. Kosenko, Bond und Hurley argumentieren in ihrer Studie in der Zeitschrift Psychology of Popular Media Culture wie wichtig die Rolle von Medien in Bezug auf Identitätsbildung, Genderausdruck, Informationsgewinnung und Community-Building ist – und zwar auf paradoxe Weise im positiven wie negativen Sinn: „media messages about transgender issues paradoxically assisted transgender audiences in rehearsing and negotiating their genders while simultaneously hindering development due to the stereotypical or negative representation of transgender individuals“ (2018, 276). Dies reflektiert Onano auch in Oma Herbert: Gleich zu Beginn schafft sich Berta ein Smartphone an, um auf Finder (anspielend auf Apps wie Tinder oder Grindr) soziale bzw. Datingkontakte zu finden (Onano 2019, [8]). Bei dem Verdacht auf Konfrontation mit Trans✶phobie nach einem Blinddate via Finder erstellt Topfpflanze Gabi sofort eine Online-Kampagne mit dem Hashtag „#GabigegenGemeinheiten“ (2019, [71]). Ebenso einzuordnen wäre auch, dass dem Buch Familienjuwelen ein Blog vorausging (familienjuwelen.blogspot.com), der unregelmäßig noch 2021 bespielt wurde und neben weiteren Strips auch Zusatzinformationen via Tags, Einleitungen und Kommentaren liefert. Ein – wenn auch anders gelagertes – zentrales mediales Moment in vielen trans✶ Narrativen ist die Bezugnahme auf fotografische Repräsentationen. Dass das intradiegetische Coming-out, die erste Erläuterung zu Bertas trans✶ Identität, ausgerechnet anhand einer Fotografie vollzogen wird (Abb. 1), ist von historischem Gewicht. Die Fotografie hat eine lange Geschichte als kolonialistische und rassistische Technologie – vor allem in Verknüpfung mit Anthropologie und Eth-

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nologie/Ethnografie bzw. Medizin Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts, die etwa Körper von trans✶ Personen zu Objekten eines pathologisierenden Blickes machten (Singer 2006). Gerade auch in Bezug auf die Ausbildung der bürgerlichen Familie, hat die Fotografie einen zentralen Stellenwert, wie etwa Bourdieu und Barthes herausgearbeitet haben: „[Die Fotografie] belegt nichts anderes als das soziale Protokoll einer Integration, das den Zweck hat, die Institution der Familie zu stabilisieren“ (Barthes 1989, 15). Die Kulturhistorikerin Elspeth H. Brown und die Fotografin Sara Davidmann erläutern in einem gemeinsamen Text zum trans✶ Familien-Album: The family photograph album has been, historically, one of the most pernicious of affective technologies. Proliferating since the late 1880s, when Kodak perfected roll film and began marketing its cameras and film to women and children as an instrument of normative domesticity and heterosexual family life, family snapshots and the albums in which they appear have routinely been a site of anxious disidentification for queer and trans✶ family members. (Brown und Davidmann 2015, 190)

Und: „While the genre of family photography is organized around the visual representation of the (familial) body, family snapshots of trans✶ people carry with them a shadow history of corporeal and subjective violence to the nonnormative body that is racialized in its history“ (2015, 193). Fotografien von trans✶ Personen in Familienalben (etwa die Fotos in der Schatztruhe oder die Galerie im Haushalt von Oma Herbert, Onano 2019, [33], [60–61]) verweisen also auf eine doppelt gewaltvolle Geschichte: die der Einbettung in wissenschaftlichen Rassismus, Kolonialismus und pathologisierende Medizin sowie die der Einbettung in hetero- und cis-normative Skripten der bürgerlichen Familie (Brown und Davidmann 2015, 194). Häufig ist auch die Zensur, das entfernte Foto und die Lücke im Familienalbum ein Index dieser Geschichte. In Bertas Haus wird diese Gewalterfahrung positiv umgekehrt. An den Wänden hängen Fotos der gewählten Familie und Bertas nach ihrer Transition (Onano 2019, [61]); das Foto von Herbert bleibt als Relikt einer Vergangenheit in der Schatztruhe aufbewahrt (Onano 2019, [33]).

Gefährt✶innenfamilien Zum Schluss sei mit Oma Herbert eine vielleicht hoffnungsvolle Antwort auf Trans✶phobie und Gewalt gegen trans✶ Personen versucht, die zugleich einmal mehr das bürgerliche Konstrukt der Kernfamilie zu subvertieren weiß – und zwar mit Blick auf die nicht-menschlichen Mitglieder der dort dargestellten Familie: Rosenberg, Riggs, Taylor und Fraser führen in ihrer aufschlussreichen Studie von 2020 – Being together really helped – aus, inwiefern tierische Begleiter die

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Verletzungsrisiken von trans✶ und non-binären Personen in heterosexistischen und cis-gender Gesellschaften vermindern: [...] human-animal bonds may help compensate for the risks of harm, specifically by providing TNB [trans- und non-binär, Anm. K.S.] people with unconditional positive regard [...]. That animal companions can express unconditional positive regard without concern for human hierarchies and stigmatised identities has particular relevance to TNB populations. This may be especially true for TNB people whose family members have rejected them because of their gender and/or sexual identities [...]. (Rosenberg u. a. 2020, 572)

Als vollwertige Mitglieder sind Vogel Thomas, Kater Sebastian, Maus Susi und Topfpflanze Gabi in Oma Herbert nun mehr als die zitierten „animal companions“ – sie evozieren Donna Haraways Konzept der Gefährt✶innenspezies, das sie in ihrem zweiten Manifest – dem Manifest für Gefährten (2003) – entwickelte. Zentral ist die Idee einer reziproken Beziehung von menschlichen und nicht-menschlichen Entitäten oder Wesen; die Gefährt✶innenspezies „verweist auf Beziehungen der KoKonstitution und Ko-Evolution“ (Hoppe 2019, 257). Haraway führt aus: „Wir sind auf konstitutive Weise Spezies der Gefährt✶innen. Wir erfinden einander leibhaftig, wir machen einander aus“ (2016, 8). Und sie betont, dass es nicht nur um Gefährt✶ innentiere geht, sondern um alle „organischen Wesen wie Reis, Bienen, Tulpen und Darmflora [...], die alles menschliche Leben zu dem machen, was es ist – und umgekehrt“ (2016, 21). Bertas Gefährt✶innenfamilie bildet schließlich jenes SupportNetzwerk, das das klassisch starre Konzept der cis- und heteronormativen – aber auch der anthropozentrischen – Familie zu subvertieren weiß – und ist also auch in diesem Sinne ‚queer‘.

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Caring masculinities, Diversität und queere Familienentwürfe in Something Positive und Kevin and Kell Something Positive von R.K. Milholland (seit 2001) und Kevin and Kell von Bill Holbrook (seit 1995) sind Webcomics von amerikanischen Autoren, deren erzählte Geschichten lange Zeiträume umfassen und ihre Charaktere über mehrere Lebensabschnitte (Ausbildung, Jobsuche, Heirat, Elternschaft, etc.) hinweg begleiten. Beide Webcomics sind nicht dezidiert als queere Webcomics deklariert, zeichnen sich jedoch durch eine starke Repräsentation von LGBTAIQ✶-Themen und -Figuren aus. Insbesondere weichen sie von dem Konzept der cis-gender, heterosexuellen und durch genetische Verwandtschaft bestimmten Kernfamilie ab. Diversität, Marginalisierung und Diskriminierung sowie der Umgang damit werden regelmäßig angesprochen. Ebenso ist in beiden Webcomics Elternschaft ein wichtiges Thema und wird von den Charakteren immer wieder diskutiert und thematisiert. Dabei zeigt sich, dass Bill Holbrook und R.K. Milholland Konzepte von Männlichkeit entwickeln, die vom dominanten hegemonialen Konzept von Männlichkeit abweichen und sich stattdessen Karla Elliotts caring masculinities (2016) annähern. Im folgenden Artikel wird zunächst kurz auf queere Familienstrukturen und den Begriff der caring masculinities eingegangen, um dann in einem close reading genauer zu analysieren, wie diese Konzepte in den zwei Webcomic-Serien umgesetzt und verhandelt werden.

Queere Familienstrukturen und caring masculinities Wenn Kath Weston 1991 in Families We Choose (biologische) Familie und queere Identität als Konzepte darstellt, die einander im cis-heteronormativen politischen Diskurs gegenseitig ausschließen, so spricht sie damit eine politische Realität an, die inzwischen zwar an Macht verloren hat, aber nicht nur in den USA immer noch große Relevanz besitzt. Weston erwähnt hier mehrere „exiles from kinship“ (21), die zum Tragen kommen: Der politische Diskurs selbst, der Familie und queere Identität oft als Gegensätze darstellt und dies zur Grundlage von Diskriminierung macht, die exkludierende Legaldefinition von Familie (kein Zugang zur Ehe), der auch institutionell erschwerte Weg zu eigenen Kindern (Verbot medizinischer Kin-

https://doi.org/10.1515/9783110786392-008

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derwunschunterstützung, Verbot der Adoption durch den✶die Partner✶in),1 und der Ausschluss aus der Ursprungsfamilie, der oft auf ein Coming-out folgt (21–41). Als Gegenkonzept entwickelt die queere Community laut Weston die „Families We Choose/Create“, die der „Biological/Blood Family“ gegenübergestellt werden (28). Queere Familienstrukturen sind folglich in einer Abgrenzung vom cisheteronormativen Konstrukt der traditionellen Kernfamilie zu verstehen und zumindest historisch immer aus einer Erfahrung des Ausschlusses von dieser heraus:2 As an ideal type, The Family consists of a legally married (biologically male) husband and a (biologically female) wife, approximately two children, and the obligatory dog or cat. Although the wife may work, her primary responsibility remains taking care of the home, husband, and children; the husband’s main task is breadwinning, though he may, on occasion, deign to ‚help out‘ around the house. (Bernstein und Reimann 2001, 2–3; Herv. im Orig.)

Dass dieses Konstrukt der Realität der meisten amerikanischen Familien nicht entspricht, tut sowohl laut Mary Bernstein und Renate Reimann (3) als auch Kath Weston demselben als „privileged construct“ (Weston 1991, 6) keinen Abbruch. Queere Familienstrukturen können hingegen gekennzeichnet sein durch CoParenting, d. h. durch mehr als nur zwei Elternteile, und dadurch, dass unterschiedliche Personen, ob genetisch verwandt oder nicht, Pflege- und Betreuungsarbeit übernehmen. Die Mutter ist hier nicht unbedingt der primäre Care-Giver, die Eltern sind nicht unbedingt in einer (cis-heterosexuellen) Beziehung, die körperliche Intimität miteinschließt. Nicht alle Familienmitglieder sind genetisch miteinander verwandt, stattdessen ist die einzelne Familie dynamisch und das Familiensystem konstituiert sich durch Trennung, Adoption, Wahlverwandtschaft und neue Elternteile immer wieder neu. Sowohl Something Positive als auch Kevin and Kell sind von männlich identifizierenden Autoren geschrieben worden. Insofern ist besonders interessant, dass in beiden Comics über die Jahre hinweg Konzepte von Männlichkeit und insbesondere Vaterschaft etabliert werden, die von dominanter hegemonialer Männlichkeit abweichen und stattdessen Männlichkeiten entwickeln, die sich in ihrer

 Wie dieselben diskursiven und politischen Dynamiken auch in Europa beziehungsweise im deutschsprachigen Raum weiterhin eine wichtige Rolle spielen, zeigt sich u. a. auch darin, dass beispielsweise in der ursprünglichen rechtlichen Konzeption der „Eingetragenen Partnerschaft“ in Österreich den Partner✶innen der „Familienname“ nicht zuerkannt wurde, „da es sich nach Ansicht der ÖVP bei ihnen um keine Familie handeln könne“ (Sulzenbacher 2009, 169).  Unter anderem beziehen sich auch Mignon Moore und Michael Stambolis-Ruhstorfer auf diese Familienform als Norm in ihrem Aufsatz „LGBT Sexuality and Families at the Start of the Twenty-First Century“ (2013).

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„rejection of domination and their integration of values of care, such as positive emotion, interdependence and relationality, into masculine identities“ (Elliott 2016, 241) stärker Elliotts Begriff der caring masculinities annähern. Hier werden laut Elliott, die sich wiederum auf Hanlon (2012) bezieht, traditionelle männliche Werte wie das Beschützen und Ernähren beziehungsweise materielle Versorgen in relationale, der Fürsorge zugewandte Werte umgestaltet: The feelings and emotions reported by Hanlon are related to caring masculinities, not to traditional, dominating hegemonic masculinity. ‚Competence‘ here, for example, does not mean ‚mastery‘ over one’s family or of a skill, but rather ‚ability‘ to care, in this case for children. ‚Respect‘ is coupled with ‚love‘ here, not with ‚fear‘ of the patriarch’s authority. The ‚responsibility‘ is for looking after a young life rather than bringing home a family wage. ‚Pride‘ is taken in caring for a child, rather than the men being ‚too proud‘ to do care work. (2016, 253)

Essenziell ist, dass männlich identifizierende Personen nicht von Anfang an diese Fürsorglichkeit und entsprechenden Gefühle mitbringen müssen: „It does not matter, then, if men do not ‚care about‘ (have nurturing attitudes and emotions) to begin. By ‚caring for‘ (doing care work), nurturing attitudes and emotions can develop in men“ (2016, 255). Wir werden sehen, dass auch dieser Weg von caring for zu caring about in den besprochenen Webcomics eine wichtige Rolle spielt.

Unverhoffte Geschwister in Something Positive Something Positive ist nach Aussage des Autors das Resultat eines Gesprächs, in dem eine gute Freundin ihm geraten habe, er solle endlich einmal etwas Positives mit seinem Leben machen. Der Webcomic ist die sarkastische Antwort auf diese Aufforderung (Milholland, Episode vom 5.1.2016) und hat zu Beginn ein dezidiert negatives Menschen- und Weltbild. Die Charaktere sind misanthropisch und zynisch, der Comic verwendet schwarzen und durchaus nicht immer politisch korrekten Humor. Es ist zu Beginn des Comics ebenso wenig absehbar, dass Elternschaft einmal eine wichtige Rolle im Leben der Hauptcharaktere spielen wird. Kinder werden sehr selten als etwas Wünschenswertes dargestellt, tatsächlich beginnt der Comic mit einem Abtreibungswitz (Milholland, Episode vom 19.12.2001). Das Verhalten der Hauptfigur Davan gegenüber Kindern ist oft ablehnend und geradezu feindlich (Milholland, Episode vom 8.3.2002), und er drückt recht unmissverständlich aus, keinen Kinderwunsch zu besitzen (Milholland, Episode vom 3.4.2004). Elternschaft beziehungsweise Familie ist jedoch vielfach etwas, das trotzdem ungeplant passiert, und oft auch etwas, das gewählt (oder auch verweigert) wird. So passieren über die Jahre Schwangerschaftsabbrüche (z. B. Milholland, Episode

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vom 23.9.2002), ausgetragene ungeplante Schwangerschaften (z. B. Milholland, Episode vom 2.3.2006), und Adoptionen – von Kindern, aber auch von Erwachsenen. (Familiäre) Beziehungen zwischen den einzelnen Figuren entwickeln sich langsam, werden distanzierter oder auch enger mit der Zeit, und korrespondieren nicht unbedingt mit genetischer Verwandtschaft. Ich werde in der Folge zwei Ereignisse genauer betrachten, in denen es im Comic zur Übernahme von Elternschaft und damit zu einer (Re-)Konstitution der jeweiligen Familie kommt: Die Adoption einer erwachsenen Figur durch die Eltern des Hauptcharakters Davan, und die Übernahme von Co-Parenting-Verpflichtungen durch Davan selbst. Monette ist zu Beginn des Comics ein Charakter, der oft zur Zielscheibe von Spott wird. Insbesondere Davan, die Hauptfigur, findet an ihr zunächst wenig gute Eigenschaften: Er findet sie dumm, zu promiskuitiv, und unehrlich bezüglich ihrer Sexualität (Milholland, Episode vom 31.12.2001). Als sie fast aus Zufall und aufgrund einer Notsituation temporär bei Davans Eltern einzieht, ist er alles andere als erfreut (Milholland, Episode von 11.3.2002; 12.3.2002). Doch aus der temporären Beherbergung wird ein dauerhaftes Wohnen, und zwischen Monette und Davans Eltern entwickelt sich mit der Zeit eine familiäre Beziehung. Nachdem sie eine Fehlgeburt durchmacht, wird Monette von ihnen adoptiert, was für Davan wiederum zunächst keine gute Nachricht ist (Milholland, Episode vom 27.5.2004). Er unterstützt sie jedoch unter anderem in ihrer Trauer um das verlorene Kind, und vermittelt ihr seine Wertschätzung (Milholland, Episode vom 21.11.2005).3 Monettes und Davans Beziehung reift über die Jahre und wird enger, dabei auch geschwisterlicher. Dieser Wechsel vollzieht sich auch sprachlich – so wird Monette schon bald nach der Adoption von allen Kindern der MacIntires als Schwester bezeichnet. Als einige Jahre nach dem Tod von Davans Mutter 2020 auch Davans Vater stirbt, drückt Monette auf dem Begräbnis ihre Unsicherheit aus, noch zur Familie zu gehören. Die beiden Menschen, die sie in diese Familie aufgenommen haben, sind schließlich beide tot. „Your place in our family isn’t dependent on our parents being alive. You know you’re still family, right?“, sagt Davan hier. Monette antwortet, „Yeah ... Yeah, I do. But it’s still nice to hear it out loud“ (Milholland, Episode vom 10.11.2020, Abb. 1). Diese sichere Bindung ist etwas, das Monette in ihrer Ursprungsfamilie nicht erleben konnte – in einem Plotstrang, in dem sie ihren genetischen Vater das letzte Mal sieht, bevor sie den Kontakt zu ihm vollständig abbricht, erfahren wir, dass Monettes Vater sie zuerst

 Sehr charakteristisch für Davan ist, dass er diese Wertschätzung ausdrückt, indem sich selbst dabei gleichzeitig abwertet. So fragt Monette ihn, woher er denn wisse, dass sie ein guter Mensch sei. Er antwortet darauf: „Because you’re nothing like me.“ (Milholland, Episode vom 21.11.2005).

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Abb. 1: Adoptivgeschwister. Milholland, Something Positive. https://somethingpositive.net/comic/ place-in-the-family/ © R.K. Milholland, 2020.

nicht nur nicht erkennt und sie wiederholt als dumm bezeichnet, sondern dass er ihr auch wichtige Informationen über ihre Familie vorenthalten hat, wie dass sie einen weiteren Bruder und Neffen und Nichten bekommen hat oder dass ihre Lieblingsschwester davongelaufen ist (Milholland, Episode von 24.11.2002 bis 29.11.2002). Sie

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spricht in der Folge explizit an, dass die gewählte Familie der MacIntires ihr eine Form von Bindung gibt, die sie in ihrer Ursprungsfamilie nie hatte. Dabei verändern sich auch Davans Eltern und entfernen sich immer mehr von ihrem ursprünglich konservativ christlichen Weltbild, um der Lebenswelt ihrer Kinder gerechter zu werden. Dies kulminiert unter anderem in einem Strip aus dem Jahr 2006, in dem ein queerer Jugendlicher seine Verwunderung darüber ausdrückt, das Davans Vater Fred Christ ist, obwohl er gerade eben fundamentalistische Christ✶innen zurechtgewiesen hat. Als Fred ihn nach dem Grund fragt, sagt der Jugendliche: „I dunno. I guess it’s because the only time anyone’s admitted they were a Christian before was when they were busy telling me why they’re better than me“. Fred setzt dem nichts entgegen, sondern geht später in sich, betet und weint (Milholland, Episode vom 19.10.2006).4 Das caring for von Fred führt hier folglich nicht nur zu einem caring about, sondern darüber hinausgehend auch zu einem Überdenken der eigenen Weltanschauung und einer dementsprechenden Neuorientierung.

Co-Parenting – Davan, Donna und Rory Davan wird eines Tages von einem ehemaligen One-Night-Stand, Donna, kontaktiert. Es stellt sich heraus, dass Davan der Vater von Donnas Sohn Rory sein könnte – die Vaterschaft ist jedoch unklar, da auch ein anderer Mann in Frage kommt (Milholland, Episode vom 19.12.2006 und 14.1.2007). Ein Vaterschaftstest beweist, dass Davan nicht der genetische Vater ist. Der tatsächliche Vater hat jedoch an dem Kind kein Interesse (Milholland, Episode vom 16.1.2007). Davan entscheidet sich hier trotz seiner grundsätzlichen Abneigung gegen Elternschaft (und gegen Kinder) bewusst dafür, eine Rolle im Leben des Kindes zu spielen, eben um dem Kind eine Vaterfigur anzubieten. Davan und Donna teilen sich die Elternschaft, wohnen aber weiterhin in getrennten Haushalten und haben körperlich intime Beziehungen mit anderen Personen, und nicht miteinander. Davan übernimmt in den folgenden Jahren viele Aufgaben in der Kinderbetreuung und damit traditionell weiblich konnotierte Tätigkeiten. Wie bei anderen Beziehungen in diesem Comic entwickelt sich auch die Beziehung zwischen ihm und Rory langsam. Es dauert, bis beide voneinander vorsichtig als Vater und

 Den genauen Inhalt dieses Gebets kennen wir nicht – es wird jedoch impliziert, dass Fred für die Sünden von fundamentalistischen Christ✶innen sowie der Kirche um Verzeihung bittet und möglicherweise auch eigene frühere Aussagen bereut, die er nun nicht mehr mit gutem Gewissen verantworten kann.

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Abb. 2: Vater-Sohn-Bonding. Milholland, Something Positive. https://somethingpositive.net/comic/ pride-promise/ © R.K. Milholland, 2020.

Sohn zu sprechen beginnen und auch in einem Strip des Jahres 2020, als Rory bereits ein Teenager ist, zeigt sich noch Davans Unsicherheit in seiner Rolle. Rory hatte zu diesem Zeitpunkt erst vor kurzem sein bisexuelles Coming-Out und würde gerne ein erstes Mal den Christopher Street Day besuchen – wegen der CoronaPandemie ist das jedoch nicht möglich. Davan, der Rory aufgrund derselben Um-

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stände gerade nicht persönlich treffen kann, klebt seinem Sohn stattdessen einen Brief ans Fenster, in dem er ihm verspricht, mit ihm nach der Pandemie auf eine Parade zu fahren: „I know I’ve always said no to parades, but I love you more than I hate crowds“ (Milholland, Episode vom 5.6.2020, Abb. 2). Davan unterschreibt seinen Brief zunächst mit „Love & Miss You“ und „Davan“, streicht diesen Namen jedoch durch und ersetzt ihn durch „Dad“ (Milholland, Episode vom 5.6.2020). Something Positive zeigt damit die Unsicherheit der einzelnen Mitglieder der Wahlfamilie darüber, wie die Beziehung zu anderen Familienmitgliedern zu definieren ist – ob Davan sich zum Beispiel tatsächlich Rorys Vater nennen darf. Zugleich zeigt der Strip aber auch die Charakterentwicklung Davans, die ihm ermöglicht, hier bewusst die Vaterrolle einzunehmen und auch dafür einzustehen, indem er seinen Namen durch „Dad“ ersetzt – Davan hat inzwischen genug Selbstvertrauen und genug Vertrauen in die Bindung zu Rory, um diesen Schritt zu setzen. Und eben derselbe Schritt kann wiederum Rory tieferes Vertrauen in die Beziehung geben. Auch hier ist es die aktive Betreuungsarbeit, die Davan leistet, die es ihm letztendlich ermöglicht, zu Rory eine Vater-Sohn-Beziehung aufzubauen. Zusammenfassend lässt sich das Welt- und Menschenbild von Something Positive möglicherweise als caring misanthropy bezeichnen. Die meisten Menschen werden negativ dargestellt, bei allen werden Fehler hervorgehoben. Gleichzeitig betont Milholland über viele Plotstränge, wie wichtig es ist, einzelne Beziehungen zu pflegen und sich umeinander zu kümmern. Tatsächlich, und den ursprünglichen Intentionen des Autors zum Trotz, entwickeln sich die meisten menschlichen Beziehungen in Something Positive in eine positive, achtsame Richtung (oder werden vollständig abgebrochen). Die Auseinandersetzung mit Elternschaft und Familie ist dabei essenziell. Positiv konnotiert werden vor allem caring masculinities.

Diversität in Kevin and Kell Die Dewclaws, um die sich der Webcomic Kevin and Kell von Bill Holbrook dreht, sind eine Patchworkfamilie von anthropomorphisierten Tieren in einer anthropomorphisierten Gesellschaft.5 Sie leben damit in einer Welt, in der Tiere (und bis zu einem gewissen Grad auch Pflanzen) über eine dem Menschen ähnliche Intelligenz besitzen, jedoch trotzdem die meisten ihrer speziestypischen Instinkte behalten

 Zu anthropomorphisierten Tiercharakteren in Comics siehe beispielsweise der von David Herman herausgegebene Sammelband Animal Comics. Multispecies Storyworlds in Graphic Narratives (2017) und „A Bibliography of Animal-Centric Graphic Novels 13th to 21st Centuries“ von Marion Copeland in Antennae 16 (2011).

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haben. Was ein einfaches Spiegelbild unserer Welt mit tierlicher Optik sein könnte, ist durch das ausgefeilte Worldbuilding des Autors zu einer komplexen Gesellschaft geworden, in der Mord von Töten zur Nahrungsaufnahme unterschieden wird (Holbrook, Episode vom 13.9.1995), in der sowohl pflanzenfressende als auch fleischfressende Wesen die Nahrungsbeschaffung gerne auf Dienstleistungsunternehmen auslagern, und in der Flöhe ein ernstzunehmendes Informationssicherheitsrisiko darstellen, da sie oft vertrauliche Gespräche mithören (Holbrook, Episode vom 1.11.2012). Es ist nur konsequent, dass in dieser Gesellschaft Marginalisierung und Machtunterschiede zwar ebenso existieren, aber nach anderen Parametern funktionieren. So werden gleichgeschlechtliche Paare beispielsweise nicht stigmatisiert, anders verhält es sich jedoch, wenn es um die Parameter Ernährungsweise und Spezies geht. Hier wiederum werden gesellschaftlich harte Grenzen gezogen. Es ist zwar Fortpflanzung grundsätzlich zwischen fast allen Spezies möglich, gern gesehen und akzeptiert ist allerdings vor allem die Heirat innerhalb der eigenen Spezies (Holbrook, Episode vom 6.9.1995). Noch stigmatisierter sind jedoch fast alle Arten von Beziehungen über Ernährungsweisen hinweg – pflanzenfressende und fleischfressende Tiere werden in den meisten Lebensbereichen getrennt und interagieren miteinander bis auf die Jagd kaum (Holbrook, Episode vom 10.2.1997). Liebe zwischen pflanzenfressenden und fleischfressenden Spezies ist erst recht nicht vorgesehen (Holbrook, Episode vom 7.9.1995; 21.9.1995 und 2.2.1998), umso weniger noch die Kinder, die aus dieser Liebe entstehen (Holbrook, Episode vom 9.11.1995). Wir werden sehen, dass die Dewclaws sehr grundlegend und nachhaltig die Grenzen dieser Gesellschaft durchbrechen. Kevin Dewclaw, ein Hase, ist mit Kell Dewclaw, einer Wölfin, verheiratet. Kevin bringt aus erster Ehe mit einer Häsin eine Adoptivtochter mit, einen Igel namens Lindesfarne. Kell hingegen bringt aus erster Ehe mit einem Fuchs einen Sohn mit, Rudy. Ihr gemeinsames Kind Coney sieht zwar aus wie ein Hase, ernährt sich jedoch von Fleisch. Was das in dieser Gesellschaft an Erklärungsaufwand bedeutet, kann man an einem Comic sehen, in dem Kevin ein Formular für eine Volkszählung ausfüllt – während andere Tiere nur Kästchen anhaken, muss er immer die Kategorie „other“ auswählen und seine besondere Situation erläutern (Holbrook, Episode vom 29.3.1999). Immer wieder handeln die Comics von alltäglicher und struktureller Diskriminierung, zum Beispiel wenn Kevin und Kell in ein Restaurant gehen und Kevin für eine Mahlzeit gehalten wird (Holbrook, Episode vom 1.12.1995), oder wenn Coney einen Jugendverein nicht besuchen kann, weil es für ihre Identität kein Kästchen auf dem Formular gibt (Holbrook, Episode vom 24.10.2000). Die Herkunftsfamilien sowohl von Kell als auch von Kevin sind zu Beginn keine unterstützenden Faktoren (Holbrook, Episode vom 9.10.1995). Sie brechen aufgrund der unerwünschten Beziehung den Kontakt ab oder verwenden sogar ge-

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walttätigere Taktiken, um sie zu beenden – so versucht Kells Bruder Ralph in den ersten Jahren des Comics mehrmals Kevin zu erlegen und zu essen. Da Ralph ein ausgesprochen schlechter Jäger ist und Kevin für einen Hasen ungewöhnlich groß, furchtlos und wehrhaft, geht diese Taktik jedoch nicht auf (Holbrook, Episode vom 13.10.1995). Die Beziehungen zwischen dem Paar und ihren Herkunftsfamilien verbessern sich langsam, über viele Jahre hinweg. Das geschieht, wie so oft bei Kevin and Kell, über viele kleine Geschichten, in denen die jeweiligen feindlich gesinnten Familienmitglieder entweder Hilfe benötigen, selbst in Situationen geraten, die gesellschaftlich nicht akzeptiert sind, oder über andere Geschehnisse verstehen, welche Vorteile der diverse, den Normen trotzende Haushalt der Dewclaws mit sich bringt (Holbrook, Episode vom z. B. 8.11.1995). Der (bei diesem Webcomic recht verlässliche) Erfolg kommt oft durch unwahrscheinliche Zufälle zustande, durch die unterschiedlichen Hochbegabungen (Holbrook, Episode vom z. B. 2.4.1997) der einzelnen Mitglieder der erweiterten Dewclaw-Familie (diese Familie spielt tatsächlich eine überdurchschnittlich wichtige Rolle in vielen Geschehnissen der Gesellschaft, in der sie lebt, vgl. z. B. Holbrook, Episode vom 11.3.1998), Hilfsbereitschaft, viele Gespräche, Abgrenzung gegenüber manchen diskriminierenden Verhaltensweisen und Hinnehmen von anderen, Geduld und das Vertrauen, sich mit der Zeit durchzusetzen. Kooperative Lösungen, bei denen alle gewinnen, werden bevorzugt, aber auch Konfrontationen, bei denen die Aggressor✶innen zu Schaden kommen, werden nicht gescheut (Holbrook, Episode vom 9.1.1997). Im Zweifelsfall werden Antagonist✶innen, insbesondere wenn es sich nicht um Bezugspersonen handelt, einfach gegessen (Holbrook, Episode vom 19.10.1995), in dieser Gesellschaft immer eine akzeptable Problemlösungsstrategie. In vieler Hinsicht muss die Familie der Dewclaws als hyper-abled betrachet werden – dennoch werden immer wieder (körperliche) Einschränkungen auf unterschiedlichen Ebenen angesprochen. Kell hat zu Beginn des Comics mit der Diagnose der Domestizierung zu kämpfen (Holbrook, Episode vom 6.1.1997); Rudy hat eine „tracking disability“, die ihm beim Jagen zu schaffen macht (Holbrook, Episode vom 11.3.1997); Rudys Partnerin Fiona entwickelt als Pubertierende plötzlich große Fennec-Ohren wie ihr Vater, die bei ihr zunächst body dysphoria auslösen und ihr auch sehr alltägliche Schwierigkeiten bereiten (Holbrook, Episode vom 26.3.2002). Lindesfarne besitzt kaum natürliche Instinkte (Holbrook, Episode vom 15.4.1998). Kevin wiederum verfügt nicht über die von Hasen erwartete Ängstlichkeit (Holbrook, Episode vom 6.11.2002). Diese unterschiedlichen (dis-)abilities passen wiederum gut in eine Gesellschaft, in der die Diversität an Körpern und Verhaltensweisen den Begriff Behinderung oder (dis-)ability stark relativiert – Tastaturen beispielsweise müssen für alle Formen von Körpern produziert werden (Holbrook, Episode vom 25.2.2001), und

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dass männliche Löwen nicht jagen können wird nicht als Behinderung wahrgenommen, sondern als die Norm (Holbrook, Episode vom 24.8.2010). Auf derartige Einschränkungen und Spezifika wird in unterschiedlichem Ausmaß gesellschaftlich auch Rücksicht genommen – zu Diskriminierung kommt es oft dann, wenn die körperliche Eigenheit nicht den jeweiligen Erwartungen an die Tierart entspricht. Aber auch erwartete (dis-)abilities werden nicht immer wahrgenommen und berücksichtigt – so müssen Fledermäuse ihre Tests auf Papier schreiben, obwohl sie den Text auf diesem nicht lesen können. Dies wiederum führt zu schlechten Noten im Schulsystem (Holbrook, Episode vom 19.5.2001). Ob die erwarteten körperlichen Eigenschaften und Verhaltensweisen den Individuen Schwierigkeiten bereiten oder nicht, hängt in diesem Webcomic von vielen Faktoren ab und kann sich auch ändern. So gewöhnt sich Fiona trotz anfänglicher Dysphorie an ihre großen Ohren und kann ihre außergewöhnliche Hörleistung in Zukunft zu ihrem Vorteil nutzen (Holbrook, Episode vom 21.9.2019). Kells Kollege ist mit seiner Rolle als nicht jagender männlicher Löwe zufrieden, bis seine Frau verstirbt und er plötzlich alleine für das Familieneinkommen aufkommen muss (Holbrook, Episode vom 24.8.2010). Kells Bruder Ralph fühlt sich erst wohl in seinem Körper, als er übergewichtig wird (Holbrook, Episode vom 20.2.2001). Mit den Jahren unterwandern immer mehr Charaktere rund um die Dewclaws die gesellschaftlichen Erwartungen, wie zum Beispiel Rudys Freund Bruno, der einen Transitionsprozess vom Fleischfresser zum Pflanzenfresser durchläuft und sich hierfür auch Operationen unterzieht. Dieser Transitionsprozess ist bezüglich der Stigmatisierung mit einem Gender-Transitionsprozess in unserer Gesellschaft zu vergleichen – und es werden im Comic auch dementsprechende zwischenmenschliche Konflikte, Stigmatisierungen und Diskriminierungen dargestellt (Holbrook, z. B. Episode vom 10.6.2016, Abb. 3). Immer mehr Tiere stehen jedoch für ihren eigenen Weg ein, outen sich. Die Familie der Dewclaws ist dabei oft Vorbild wie auch ein unterstützendes System, auf das die Individuen zurückfallen können, wenn sie mit Diskriminierung konfrontiert werden (Holbrook, z. B. Episode vom 3.4.2001). Obgleich man sich als Leser✶in also darauf verlassen kann, dass jede Geschichte in Kevin and Kell letztendlich gut für die Dewclaws und ihren Freund✶innenkreis ausgehen wird, so sind Machtunterschiede, Marginalisierung, einschneidende Lebensereignisse und Diskriminierung in allen Formen ein essentieller Bestandteil der beschriebenen Welt und des übergreifenden Plots. Dass die Marginalisierungen auf andere soziale Unterscheidungsmerkmale wie Essensgewohnheiten und Spezies verschoben werden, macht das Grundproblem einer diversen und doch normativen Gesellschaft umso deutlicher.

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Abb. 3: Diät-Transition. Holbrook, Kevin and Kell. https://www.kevinandkell.com/2003/kk0218.html © Bill Holbrook, 2003.

Patchworkfamilien-Dynamiken Die Dewclaws sind eine Patchworkfamilie, lindesfarne ist adoptiert, Rudy ist Kells Sohn aus erster Ehe. Coney ist das gemeinsame Kind von Kevin und Kell. Lindesfarnes erste Adoptivmutter hat wieder geheiratet und ein Rudel Stinktiere als Kinder bekommen. Diese familiäre Konstellation ist dabei nicht nur Hintergrundinformation, sondern prägt die jeweiligen interpersonellen Beziehungen. Gerade am Anfang ist das Patchworksystem noch nicht eingespielt und verursacht Konflikte. Lindesfarne hat Schwierigkeiten, mit ihrer neuen Stiefmutter Kell eine Bindung aufzubauen (Holbrook, Episode vom 18.9.1995, Abb. 4), verträgt sich zunächst nicht mit ihren neuen Bruder Rudy (Holbrook, Episode vom 11.9.1995), und spürt ihrer ersten Adoptivmutter gegenüber eine starke Ambivalenz, die sie mal Nähe und dann wieder Distanz suchen lässt (Holbrook, z. B. Episode vom 13.10.2017). Sie versucht auch, mehr über ihre ursprünglichen Eltern herauszufinden, nimmt zu diesen dann jedoch keinen Kontakt auf (Holbrook, Episode vom 1.5.1998). Dafür bleibt sie mit den späteren Kindern ihrer ersten Adoptivmutter in Verbindung (Holbrook, Episode vom 30.7.2018). Rudy hingegen fällt es schwer, Pflanzenfresser✶innen als Vater und Schwester zu akzeptieren (Holbrook, Episode vom 25.9.1995) und versucht zu Beginn immer wieder, Kevin in seiner Position als „dominant alpha male“ herauszufordern – wobei letzteres auch von der Schule als Hausaufgabe verlangt wird (Holbrook, Episode vom 26.9.1995; 27.9.1995). Auch er wird sich näher mit seiner Herkunft auseinandersetzen und versuchen, mehr über seinen verstorbenen biologischen Vater herauszufinden. Dieses Erbe – Rudy ist halb Wolf, halb Fuchs – wird Rudy weniger sichtbar machen als es andere Figuren im Comic tun, trotzdem wird in der Geschichte der Prozess der Beschäftigung mit der verstorbenen Vaterfigur als

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Abb. 4: Mutter-Tochter-Bonding. Holbrook, Kevin and Kell. https://www.kevinandkell.com/1995/kk0918.html © Bill Holbrook, 1995.

wichtig und konstruktiv dargestellt (Holbrook, Episode von 3.5.2000 bis 8.5.2000; 18.5.2002 bis 24.5.2002; 9.5.2008). Bindungen entwickeln sich wie bei Something Positive durch aktive Beziehungsarbeit (Holbrook, Episode vom 17.10.1995). Kell, am Anfang noch eine Fremde für Lindesfarne, wird mit den Jahren zu einer immer engeren und wichtigeren Bezugsperson, was auch daran liegt, dass Kell sich für das Bonding mit ihrer Tochter aktiv Zeit nimmt. Lindesfarnes erste Adoptivmutter wird dadurch nicht ersetzt und behält diese Rolle – das distanzierte Verhältnis, das Lindesfarne zu ihr pflegt, hat vielmehr mit dem problematischen Verhalten der Adoptivmutter zu tun.

Caring masculinities revisited In der Welt von Kevin and Kell ist es zunächst die Spezies, die akzeptierte und nicht akzeptierte Männlichkeiten definiert. So bedeutet es für den Wolf Rudy eine Bedrohung seiner Männlichkeit, domestiziert zu sein (Holbrook, z. B. Episode vom 11.5.2000) und einen Hasen als Vater zu haben. Kevin hingegen erfüllt die Anforderungen an Männlichkeit seiner eigenen Spezies nicht, weil er nicht ängstlich und paranoid genug ist (Holbrook, Episode vom 6.11.2002). Die Normativität von Genderrollen spielt folglich auch bei Kevin and Kell eine wichtige Rolle, und männlich identifizierende Individuen müssen sich oft mit toxischen Männlichkeiten auseinandersetzen. Rudy beispielsweise erfährt, dass sein biologischer (nicht domestizierter) Vater untreu war und gestorben ist, weil er sich als Jäger beweisen wollte (Holbrook, Episode von 18.5.2002 bis 24.5.2002; 9.5.2008). Rudy selbst geht fremd, als er seine Domestizierung kurzfristig verliert, und gefährdet damit seine Beziehung (Holbrook, Episode von 28.7.2000 bis 3.8.2000). Gleichzeitig wird er immer wieder herausgefordert, über die Einschränkungen der Genderrolle

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seiner Spezies hinaus zu wachsen – sein Freund Bruno wird zum Pflanzenfresser, er selbst arbeitet eine Zeit lang als Osterhase (Holbrook, Episode vom 28.4.2015), und macht letztendlich sogar eine Karriere in kompetitiver Gärtnerei (Holbrook, z. B. Episode vom 11.09.2021). Diese Entwicklung wird zwar als konfliktreich aber zugleich als eindeutig positiv dargestellt, da sie Rudys Handlungsraum erweitert und ihm letztendlich zu Glück und Erfolg verhilft. Kevin übernimmt als Vater und Ehemann oft repetitive Arbeiten im Haushalt und der Kindererziehung, inklusive typischer Pflegearbeiten wie Windeln wechseln (Holbrook, Episode vom 7.2.1997, Abb. 4). Kell ist bereits zu Beginn des Comics im Management eines großen Unternehmens beruflich erfolgreich und arbeitet dementsprechend viel. Kevin hingegen arbeitet als Systemadministrator von zuhause aus und kann so leichter die Kleinkinderpflege übernehmen (Holbrook, Episode vom 6.11.1995). Dass Kell im Comic dezidiert als „alpha“ (Holbrook, Episode vom 31.5.2016) bezeichnet wird, wird nie als Bedrohung von Kevins Rolle als Vater oder als Mann dargestellt. Ebenso reagiert zwar Kevin auf die Versuche seines Stiefsohns, ihn in seiner Rolle als „alpha male“ herauszufordern und weist ihn (mühelos) in die Schranken, diese ‚Rangkämpfe‘ gehen jedoch nie von ihm aus und er erledigt sie eher wie eine lästige Pflicht denn wie etwas, das ihm nahe geht (Holbrook, Episode vom 27.9.1995). Das ergibt innerhalb des Universums der Dewclaws auch vollkommen Sinn – als Hase ist ihm die Rangdynamik von Wölfen fremd. Er kann sie berücksichtigen und sich entsprechend verhalten, sie kann seine eigene Identität jedoch nicht bedrohen.

Diversität siegt Die familiären Beziehungen in Kevin and Kell stellen ein komplexes Netz dar, in dem biologische Herkunft wiederum zwar eine Rolle spielt, aber gleichwertig neben anderen Formen von Elternschaft und Verwandtschaft steht. Ähnlich wie bei Something Positive ist es wiederum die aktive Beziehungsarbeit, die den Unterschied macht. Die fixen Kategorien von Spezies und Diät, die die Welt von Kevin and Kell dominieren, verlieren über die Jahre hinweg langsam aber sicher an Bedeutung – immer mehr Interspezies-Kinder entstehen, oder andere Charaktere finden heraus, dass ihr eigenes genetisches Erbe wesentlich weniger homogen ist, als sie zunächst gedacht haben. In einem der Plotstränge, die 2020 erzählt werden, ist die Löwin Leona schwanger – der Vater ist ein Rhinozeros. Ultraschallbilder bei Vorsorgeuntersuchungen zeigen, dass der Fötus zwar eine feline Knochenstruktur hat, aber auch

Caring masculinities, Diversität und queere Familienentwürfe

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Abb. 5: Interspezies-Kinder. Holbrook, Kevin and Kell. https://www.kevinandkell.com/2020/kk1203.html © Bill Holbrook, 2020.

ein Horn. Dieses Horn kann, wie die künftigen Eltern bald herausfinden, wie Katzenkrallen ein- und ausgefahren werden (Holbrook, Episode vom 13.12.2020, Abb. 5). In einer von Beginn an bereits enorm komplexen Welt, einer Gesellschaft von unzähligen intelligenten Spezies, wandeln sich folglich die Identitäten immer weiter, und alte Kategorisierungen verlieren immer mehr an Bedeutung und Relevanz. Immer öfter müssen die Figuren mit dem Unbekannten, mit dem noch nicht Kategorisierten und nicht Benannten umgehen, und mit allen Vorteilen und Schwierigkeiten, die das mit sich bringt. Essenziell sind hier drei wichtige Grundbotschaften, die sich von Anfang an durch das gesamte Comic ziehen – positive Beziehungsarbeit ist wichtig, das Aufbauen von unterstützenden Systemen in einer diskriminierenden Gesellschaft ist essenziell, und letztendlich ist das einzige nachhaltige System eines, das eine möglichst hohe Diversität aufweist. Die Schwierigkeiten, die Diversität und Marginalisierung mit sich bringen, werden dabei nicht ignoriert. Und dennoch sind es bei Kevin and Kell sehr verlässlich immer die diversen und kooperativen (Familien-)Systeme, die siegen.

Conclusio Something Positive und Kevin and Kell gehen zweifelsohne von sehr unterschiedlichen Erwartungen an Gesellschaft und auch an einzelne Individuen aus. Während Something Positive wesentlich zynischer, pessimistischer und misanthropischer ist, so berücksichtigen allerdings beide Webcomics Dynamiken von Marginalisierung, beschäftigen sich mit den Konzepten Familie und Elternschaft, und kommen letztendlich zu ähnlichen Schlüssen. Aktive Beziehungsar-

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beit, Diversität, caring masculinities und queere Familienkonzepte sind es, die den Figuren zu einem glücklicheren Leben verhelfen. Interessant ist dabei, dass beide Webomics nicht nur queere Repräsentation in Form einzelner LGBTAIQ✶-Charaktere einbringen, sondern das Konzept der cisgender heterosexuellen biologischen Familie strukturell aufbrechen, indem sie genetische Verwandtschaft als nur eine von vielen möglichen Verwandtschaftsformen darstellen. Auch hier werden die Konflikte, die in Patchworkfamilien und Wahlfamilien entstehen können, nicht geleugnet, sondern vielmehr aufgegriffen, bearbeitet und reflektiert. Gute (familiäre) Beziehungen sind damit auch ein Produkt vieler Konflikte, denen Zeit und Platz eingeräumt wird, und die gemeinsam aufgearbeitet werden.

Quellenverzeichnis Bernstein, Mary und Renate Reimann (Hg.). Queer Families, Queer Politics. Challenging Culture and the State. New York: Columbia Press, 2001. Copeland, Marion: „A Bibliography of Animal-Centric Graphic Novels 13th to 21st Centuries“. Antennae 16 (2011), 85–98. Elliott, Karla. „Caring Masculinities: Theorizing an Emerging Concept“. Men and Masculinities, 19(3) (2016), 240–259. Hanlon, Niall: Masculinities, Care and Equality: Identity and Nurture in Men’s Lives.Basingstoke, UK: Palgrave Macmillan, 2012. Holbrook, Bill (W/A): Kevin and Kell. www.kevinandkell.com (03.09.1995; abgerufen am 13.9.2021). Herman, David (Hg.): Animal Comics. Multispecies Storyworlds in Graphic Narratives. London: Bloomsbury Academic, 2017. Milholland, R.K. (W/A): Something Positive. www.somethingpositive.net (19.12.2001; abgerufen am 13.9.2021). Moore, Mignon und Michael Stambolis-Ruhstorfer. „LGBT Sexuality and Families at the Start of the Twenty-First Century“. Annual Review of Sociology, Annual Reviews, 39 (1) (2013), 491–507. Sulzenbacher, Hannes: „Der merkwürdige Widerwille. Zur Strafverfolgung von Homosexuellen in Österreich“. Sex in Wien – Lust. Kontrolle. Ungehorsam. 411. Sonderausstellung des Wien Museums. Hg. v. Andreas Brunner, Frauke Kreutler, Michaela Lindinger, Gerhard Milchram, Martina Nußbaumer, Hannes Sulzenbacher. Wien: Wien Museum/Metroverlag, 2016. Weston, Kath. Families We Choose. Lesbians, Gays, Kinship. New York: Columbia University Press, 1997.

Everyday (S)Heroes

Kalina Kupczyńska

Einleitung: Assemblage, Rhizome und soziokulturelles Futter – wie Comics familiären Alltag erzählen „Ähnlich einem Baum (oder einer Qualle) verzweigt sich die Familie ständig, weitet und bewegt sich fort. (Der Baum steht fest und die Qualle bewegt sich fort.)“ (Vagt 2012, o. S.) Anne Vagts Beitrag in der achten Ausgabe der Spring-Anthologie Familiensilber trägt den Titel „Die Konstante“ und reflektiert durch leitmotivisch wiederkehrende Dreiecke die Familienkonstellation „Vater, Mutter, Kind“ (Vagt 2012, o. S.). Die Simplizität der geometrischen Symbolik durchbrechen handschriftliche Einträge – sie hinterfragen die Offensichtlichkeit der familiären Grundstruktur und verunsichern durch ihre Mehrdeutigkeit, wie der oben angeführte Vergleich der Familie mit einem Baum (oder einer Qualle). So verfahren auch Comics, die in den folgenden Aufsätzen dieser Sektion vorgestellt und analysiert werden. Manche von den Comics führen in ihrer Machart vor, wie gezeichnete Familiengeschichten verschiedene mediale Ebenen in einem „sowohl fragmentierten als auch verwobenen Zusammenspiel“ (Sina im vorliegenden Band) kombinieren und anstatt vertikaler oder horizontaler Strukturen (etwa: Stammbaum bzw. Zeitachse) assoziativ zusammengefügte Assemblagen bilden. Assemblage, ein „prozessuales und transgressives Konzept“ (Sina im vorliegenden Band), bekannt aus der Avantgardekunst für ihre anarchische und antihierarchische Freude am Verbinden von „poor, ephemeral, nonart materials“ (Kelly 2008, 24) bietet sich besonders gut als Denkmodell für nichtnormative Familienkonstellation an. Mit dem Hinausgehen über die Grenzen des Anerkannten und gesellschaftlich Konformen verbindet Assemblage ästhetisches und politisches Potenzial, was besonders bei Repräsentation(en) alternativer Identitäts- und Familienformen produktiv sein kann. Auch Rhizom als „Verästelung und Ausbreitung nach allen Richtungen“ (Deleuze und Guattari 1977, 11) verlässt das sichere Terrain der Dichotomien und eignet sich als Figuration für solche sozialen Prozesse wie nichtnormative Familienbildung. Beide Konzepte finden sich in den folgenden Beiträgen als Veranschaulichung der Ästhetik mancher Comics über Familien, die sich wie ein Baum verzweigen und wie Quallen fortbewegen. Marie Schröer nimmt die spezifische ‚Erinnerungsfähigkeit‘ des Mediums Comic in den Blick. Dass autobiografische Comics über den visuellen Kanal, etwa über Authentizitätsmarker (Fotografien, persönliche Dokumente, Handschrift) „Erinnerungsorte und -objekte ausstellen“ (Schröer im vorliegenden Band) ist bekannt und gut erforscht (vgl. El Refaie 2012; Hirsch 1992). Schröer interessiert hingegen ein bisher https://doi.org/10.1515/9783110786392-009

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wenig untersuchtes Terrain, nämlich der Aspekt der kulinarischen Erinnerung, deren Repräsentation in autobiografischen Comics französischer, japanischer, USamerikanischer, deutscher, südkoreanischer und italienischer Autor✶innen Gegenstand ihres Beitrags ist. Erinnerung an Familie ist vom „gustatorischen Gedächtnis“ (Schröer im vorliegenden Band) kaum zu trennen, denn das familiäre Umfeld liefert wichtige Wegmarker für die jeweilige „kulinarische Sozialisation“ (ebd.). Und zugleich wird der✶die Lesende durch die visuelle und verbale Vermittlung von olfaktorischen und gustatorischen Reizen doppelt affiziert – als potenzielle✶r Gourmet und als Person mit einem eigenen Reservoir von erinnerten familiären Essszenen. Schröers Fokus ist literatur- und kulturwissenschaftlich orientiert, so analysiert sie die Bezüge zwischen Kulinarik und Familie in Anlehnung an tradierte bzw. oft wiederkehrende Topoi (die Proust’sche Madeleine; Bedeutung des Essens in der Exil- und Migrationsliteratur), bei Berücksichtigung der jeweiligen kulturellen Semantik des Essens. Auch die soziologische Betrachtung kommt nicht zu kurz – mit Rekurs auf Bourdieu wird plausibel gemacht, dass Essgewohnheiten und -rituale sich im Habitus offenbaren, ja zu ihm gehören. In den analysierten Comics sind Speisen „soziokulturelle Zeichen“ (Schröer im vorliegenden Band), die visuell und textuell vielfache Bedeutungen transportieren. Ob die stilistische Garnierung der kulinarischen Motive ludisch oder melancholisch ausfällt, hängt mit der erzählten Lebensgeschichte zusammen (und zwar unabhängig von ihrem Faktizitäts- oder Faktualitätsstatus) – Darstellung familiärer Bande in und mit kulinarischen Erinnerungen demonstriert den Grad der Intimität und Nähe. Essen fungiert als Trostspender, als „Bindeglied zwischen Kindheit und Erwachsenenwelt, Vergangenheit und Zukunft“, gemeinsames Kochen kann „Festhalten, Gedenken und Fürsorge“ (Schröer im vorliegenden Band) bedeuten. Erinnerte Küchenszenen geben Einblick in familiäre Prägung der Geschlechterverhältnisse und Rollenbilder. In Véronique Sinas Beitrag wird Familie vielfältig konnotiert. Zuerst einmal spielt auf der inhaltlichen Ebene der Topos der Erinnerung an die (überfürsorgliche) jüdische Familie sowie die biografische Konfrontation mit dem Thema der Familiengründung eine Rolle. Im Zentrum der Stories steht jeweils ein weibliches autobiografisches Ich, dessen schmerzhafte und verstörende Erfahrungen erzählt und repräsentiert werden sollen – die meta-reflexive Ebene ist stets präsent. Der Konstrukt ‚jüdische Familie‘ bildet einen Kontext mit vielfacher kultureller Codierung und ist zugleich als eine Reibungsfläche für die individuelle life story zu verstehen. Einen weiteren Aspekt bildet die ‚Familienähnlichkeit‘ der in den Comics von Aline Kominsky-Crumb, Diane Noomin und Shira Spector problematisierten Themen und formalen Herangehensweisen. Die Zeichnerinnen fokussieren Aspekte der autobiografischen Erfahrung von Frauen✶ – sexuelle Belästigung, Kinderwunsch, Trauma der Fehlgeburt – aber auch Stigmatisierung aufgrund queerer

Einleitung: Assemblage, Rhizome und soziokulturelles Futter

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Identität (Spector). Die hyperbolische, fragmentierte, collagierte Darstellungsweise pocht auf einen Kontrast zur konventionell realistischen konfessionellen Erzählweise, was sich seit Justin Greens Binky Brown Meets the Holy Virgin Mary, Robert Crumbs The Confessions of R. Crumb und Aline Kominsky-Crumbs Goldie. The Neurotic Woman (alle 1972) zu einem der zentralen Merkmale des autobiografischen Comics des Undergrounds etablierte. Diese Traditionslinie, die bekanntlich auch für Art Spiegelman prägend war (vgl. Kupczynska 2017, 197), lässt eine breitere Auffassung der ‚Familienähnlichkeit‘ zu, und umfasst damit auch Brüche und Konflikte als Teil einer ‚Familiengeschichte‘ des Undergrounds. Sina hebt den formal-ästhetischen Aspekt der ‚Familienähnlichkeit‘ besonders hervor, der Rekurs auf die Denkfigur und Modell der Assemblage wird produktiv eingesetzt. Es zeichnet sich dabei eine ‚matrilineale‘ Comic-Verwandtschaft ab: Spector wird eine stilistische wie motivische Nähe zu Kominsky-Crumb attestiert, eine queer-feministische Note und die jüdische Identität lassen an weitere ‚Verwandte‘, etwa an Ariel Schrag, denken. Noomins Stil – vor allem die Zeichnung ihres Avatars – erinnert an Trina Robbins Comics aus den 1970er Jahren.1 Wie Sina zeigt, lässt sich ‚Familie‘ nicht zuletzt auf der Ebene der feministischen Comic-Netzwerke ausmachen. Kominsky-Crumb fungiert bekanntlich als eine „godmother“ der Comic-Autobiografie (Chute 2010, 34), was der Künstlerin eine wegweisende Funktion innerhalb der Underground-Szene der frühen 1970er zuschreibt. Kominsky-Crumb und ihre Peers schreiben sich damit in einen breiteren Kontext des second wave-Feminismus ein, der in den USA jüdisch geprägt war.2 Den empowerment-Effekt von feministischen Netzwerken in der Comicszene betont u. a. Sarah Lightman in ihren künstlerischen und editorischen Projekten, die um die Problematik der (jüdischen) Familie, insbesondere der Mutterschaft, und des Künstlerin-Seins kreisen (2014, 2–5). Joanna Nowotny geht in ihrem Beitrag von zwei Tischszenen aus, die in ihrer Zusammensetzung auf die spezifische familiäre Konstellation in Alison Bechdels Comicdrama Are You My Mother? (2012) und in Nando von Arbs 3 Väter (2019) verweisen. Was Nowotny besonders in den Blick nimmt, ist die Remediatisierung persönlicher Dokumente einerseits und psychologischer und psychoanalytischer Diskurse andererseits. Bechdels konfessionelles und selbstanalytisches Schreiben/ Zeichnen zehrt von biografischen Artefakten, die die psychotherapeutische Praxis

 Vgl. etwa den Comic „I was a Fag Hag“ von 1974, abgedruckt in Trina Robbins Autobiografie Last Girl Standing (Robbins 2017, 37–40).  Vgl. Ann R. Shapiro: „Historians often date the beginning of what was then called ‚women’s liberation‚ to Betty Friedan’s Feminist Mystique (1963). By 1972 Ms.: The New Magazine for Women was launched with an editorial stuff that was half Jewish [...]. Historian Gerda Lerner, according to the New York Times, is a ‚godmother of women’s history‘.“ (Shapiro 2010, 68).

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zum Sprechen bringt. Aus der rückwärtsgewandten Beschäftigung mit der eigenen Tochtervergangenheit – hier fokussiert auf die Beziehung zur Mutter – entwickelt Bechdel eine Archäologie ihrer künstlerischen Aktivität. Diese wird auf dem Schreibtisch der Comickünstlerin ausgebreitet, auf einem autonomem Terrain, fern des von dem jungen Ich der Autorin gemiedenen Familientisches. Esstische als Orte, die mit erlebter Herkunft zusammenhängen, diese materialisieren und stabilisieren, werden mit der künstlerischen Werkstatt, der Sphäre der Reflexion und Individuation, zusammengedacht. Nowotny interessiert sich für Beziehungsachsen und ihre visuelle Realisierung auf den Comicseiten, und damit auch für die Anlegung der Machstrukturen innerhalb der Familien. Diese gestalten sich im Comic 3 Väter horizontal, was auch in der Anordnung am Familientisch deutlich wird, welche Nowotny als „spielerisch“ und „nicht normativ“ bezeichnet (Nowotny im vorliegenden Band). Vertikale, hierarchische Strukturen tauchen im Comic in der Begegnung mit Institutionen auf, die für die Kontrolle des Körpers zuständig sind. Sie sind allerdings weniger als eine reale Bedrohung zu verstehen, sondern als eine Reminiszenz an ödipale Strukturen, die im Comic durch die verspielt dargestellte Queerness der Väter „konterkariert“ wird (Nowotny im vorliegenden Band). Mit dem Sinnbild des Rhizoms verdeutlicht Nowotny die Verabschiedung der binären Logik der Psychoanalyse und bringt eine alternative Denkstruktur auf den Plan, die auch und gerade für Familienmodelle relevant sein kann. Wenn Deleuze und Guattari schreiben „[d]as Rhizom ist eine Anti-Genealogie“ (Deleuze und Guattari 1977, 18) und auf solche Merkmale des Rhizoms wie „Prinzip der Konnexion und der Heterogenität“ sowie „Prinzip der Vielheit“ verweisen (11, 13), dann präfigurieren sie alternative Familienkonstellationen wie etwa Patchworkfamilien, die im Comic 3 Väter „ein lustvolles Chaos“ bilden (Nowotny im vorliegenden Band). Zugleich wird die Rhizom-Struktur für die Comicästhetik und insbesondere für hybride Mensch-TierDarstellungen produktiv gemacht; letztlich offenbart sich im Comic was für Rhizom gilt: „Es gibt nichts als Linien“ (14). Auch so wird der Kontrast zu Are You My Mother? plakativ: Anders als von Arb nimmt Bechdel die auf Dichotomien basierende psychoanalytische Lehre ernst, wobei sich fragen lässt, inwiefern ihr Comicdrama tradierte Erklärungsmodi dadurch nicht fortschreibt.

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Quellenverzeichnis Chute, Hilary. Graphic Women. Life Narrative and Contemporary Comics. New York: Columbia University Press, 2010. Deleuze, Gilles und Felix Guattari. Rhizom. Übers. v. Dagmar Berger, Clemens-Carl Haerle, Helma Konyen, Alexander Krämer, Michael Nowak und Kade Schacht. Berlin: Merve, 1977. El Refaie, Elisabeth. Autobiographical Comics: Life Writing in Pictures. Jackson: University Press of Mississippi, 2012. Hirsch, Marianne. „Family Pictures. Maus, Mourning and Postmemory“. Discourse 15.2.1992, 3–29. Kelly, Julia. „The Anthropology of Assemblage“. Art Journal 67.1.2008, 24–30. Kupczynska, Kalina. „Poiesis des autobiografischen Comics“. Text + Kritik X/2017, Sonderband Comics und Graphic Novels, 2. Aufl. Neufassung, 190–205. Lightman, Sarah. „Preface and Acknowledgments“. Dies. (Hg.). Graphic Details. Jewish Women’s Confessional Comics in Essays and Interviews. Jefferson: McFarland 2014. 1–15. Robbins, Trina. Last Girl Standing. Seattle: Fantagraphics, 2017. Shapiro, Ann R. „The Flight of Lilith: Modern Jewish American Feminist Literature.“ Studies in American Jewish Literature, 29 (2010), 68–79. Vagt, Anne: „Die Konstante“. SPRING #8: Familiensilber 2012. O. S.

Marie Schröer

Der Geschmack von (Familien-)Erinnerung. Alimentäre Kommunikation im Comic Einführendes: Comics als Erinnerungsmedium „Schlichte Fragmente [...] Es ist so lange her, aber diese italienischen Sommer sind nicht fern. Die Erinnerungen sind zum Greifen nah“ heißt es in dem einseitigen Comic, den der französische Erfolgsautor Alfred für die deutsche Ausgabe von Le Monde Diplomatique beigesteuert hat (Abb. 1). In klassisch angeordneten (bis auf die eine Ausnahme) textfreien Panels findet sich ein Mosaik sommerlicher Kindheitserinnerungen, die autobiografisch motiviert sind und sich zugleich universell übertragen lassen. Die minimalistischen Zeichnungen transportieren durch die in warmen Tönen gehaltene Koloration ein Gefühl von Nostalgie. Der durch die Zeichnung automatisch implizierte Verfremdungs- oder Distanzierungseffekt sorgt dafür, dass die Zusammenstellung allseits vertrauter Motive deutlich weniger beliebig erscheint als eine fotografische Collage mit ähnlichen Motiven es täte. Nicht nur lässt sich anhand dieses kurzen Beispiels en passant illustrieren, inwiefern (autobiografische aber auch autofiktionale oder auf den Konventionen der Autobiografie aufbauende fiktionale) Comics gerade durch die Subjektivität der Zeichenebene ein Gefühl von Vertrautheit und Authentizität erzeugen können,1 es zeigt auch in nuce, warum Comics als Erinnerungsmedium so gut funktionieren. Die Panels bieten im doppelten Sinne Raum für Sammlung, indem Vergangenes anhand der klaren Struktur sortiert und ausgestellt wird. Damit kommen Comicschaffende und -sehende in den Genuss einer synästhetischen Kontemplationsmöglichkeit: Die Farben selbst suggerieren Sonne (orange), Sommernacht (dunkelblau) und Frische (türkis); die Größe der monochrom eingefärbten Anteile einzelner Panels vermittelt ein Gefühl von Weite und Bewegungsfreiheit, die Häufigkeit des Wassermotivs (in 12 von 20 Panels) lädt zum mentalen Eintauchen in Gewässer und Vergangenheit gleichermaßen ein. Das letzte Panel zeigt, gewissermaßen als krönenden Abschluss eines Sommertages voller Sonne, Meer und Bewegung, in der Kombination aus einem schlichten Raviolige Wie Elisabeth El Refaie in ihrer Monografie Autobiographical Comics argumentiert, spielt der Körper der Autor*innen nicht nur in der Verkörperung des autobiografischen Avatars eine Rolle: Intime Spuren des Körperlichen finden sich auch ganz allgemein in der Zeichnung, die ja, vor allem in ihrer nicht-digitalen Variante, unmittelbar auf die Hand der Comicschaffenden zurückzuführen ist – und Handschrift und -bild suggerieren Nähe und damit Authentizität (2012, 140–141). Auch Hillary Chute bezeichnet die individuelle zeichnerische Handschrift als ein „subjective mark of the body [...] rendered directly onto the page“ (2010, 117). https://doi.org/10.1515/9783110786392-010

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Abb. 1: Alfred. [ohne Titel]. Le Monde Diplomatique [deutsche Ausgabe] (Juni 2015). https://monde-diplomatique.de/images/news/original_images/33_2.jpg.

Der Geschmack von (Familien-)Erinnerung. Alimentäre Kommunikation im Comic

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richt auf karierter Tischdecke ein klassisches Motiv der italienischen Landhausküche, wie es in diversen Kochzeitschriften und -büchern immer wieder inszeniert wird. Mit 19 Bildausschnitten, die Alfred als „schlichte Fragmente“ bezeichnet und einem durch die Unvollständigkeit der Sätze ebenso fragmentarischen Text, macht sich der Autor auf die „Suche nach der verlorenen Zeit“. In der Kombination von (comictypischen) Ellipsen, Andeutungen und Sinnlichkeit (ausgeschnittene Motive, fragmentierte Sätze, affektiv aufgeladene Motive) wird ein poetischer Weg gefunden, ebenso punktuelle wie intensive (Kindheits-)Erinnerungen in das Medium Comic zu übersetzen. Sie sind dadurch nicht nur „zum Greifen nah“, wie Alfred schreibt, sondern können neben der visuellen und taktilen auch die auditive, olfaktorische und gustatorische Wahrnehmung inspirieren. Gerade Comics, die Identitäts- und Spurensuche zum Thema haben, nutzen die Bildebene nicht nur für das Vorantreiben der Handlung, sondern sehr stark für das Ausstellen von Erinnerungsorten- und -objekten. Sie stellen damit über Bande auch die mit ihnen verknüpften Assoziationen, Emotionen und sinnlichen Erfahrungen aus. Dass das Essen in vielen dieser Erinnerungscomics eine prominente Rolle spielt, liegt insofern nahe. Da die Lesenden die dargestellten Gerichte häufig kennen und den Geschmack nachvollziehen können, wird auf der Ebene der Rezeption über das sinnliche Erleben eine Verbindung zwischen Schreibenden und Lesenden hergestellt, die gerade in autobiografischen Erzählungen für ein zusätzliches Intimitäts- und Identifikationsmoment sorgt. Die Lesenden speisen sich gewissermaßen in die Erzählung ein und rekapitulieren ihre eigene kulinarische Sozialisation. Das letzte Bild des eingangs zitierten Mosaiks ist individuell austauschbar. Was für Alfred die Ravioli, können für andere, wie wir sehen werden, Palatschinken, Kimchi oder Sardinen sein; das jeweilige comfort food steht für das gleiche Phänomen. Die allgegenwärtige Phrase vom „Geschmack der Kindheit“ ist sein Resultat. Die kulinarische Sozialisation hinterlässt ihre Spuren und macht sich im Habitus bemerkbar, wie Pierre Bourdieu (1998 [1979], 141) in La Distinction (Die feinen Unterschiede) erläutert: „Im Geschmack für bestimmte Speisen dürfte wohl das von klein auf Gelernte, das am längsten dem Fernsein oder gar Zerfall der angestammten Welt widersteht und die Sehnsucht an sie wach hält, den stärksten und nachhaltigsten Niederschlag finden.“ Wenn Autor*innen ihre individuelle Geschichte anhand der Familiengeschichte rekapitulieren oder eine Biografie imaginieren, spielt dabei also auch das gustatorische Gedächtnis eine entscheidende Rolle. Der Semiotiker Roland Barthes (1961, 980) stellt fest, dass „jede Nahrung als Zeichen zwischen den Mitgliedern einer bestimmten Gruppe fungiert.“ Er fährt fort: Sie ist von einem (übrigens völlig abstrakten) anthropologischen Standpunkt aus zweifellos das primäre Bedürfnis; aber seitdem der Mensch sich nicht mehr von wilden Beeren ernährt, ist dieses Bedürfnis immer deutlich strukturiert worden: Substanzen, Techniken, Gebräuche

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zwischen den einen und den anderen in einem System signifikanter Unterschiede, und von diesem Augenblick an ist die alimentäre Kommunikation begründet. (1961, 980) [Übers. M.S.].2

Inwiefern und zu welchem Zweck aktuelle autobiografische, autofiktionale und fiktionale Comics gleichermaßen, Speisen als (Leit-)Motive in ihre Familiengeschichten integrieren und so „alimentäre Kommunikation“ betreiben, soll im Folgenden gezeigt werden.3 Dafür werde ich mich in drei Teilen unter folgenden Überschriften mit einer Reihe von kulinarisch motivierten Familiencomics beschäftigen. In Das Madeleine-Motiv: Essen und Erinnerung wird zunächst demonstriert, dass sich die durch Proust ikonisch gewordene Liaison von Essen und Erinnerung auch in Comics unterschiedlichster Provenienzen und Genres nachweisen lässt. Autor*innen wie Christophe Blain, Alfred, Lucy Knisley, Masayuki Kusumi und Jiro Taniguchi rekurrieren (mehr oder weniger subtil) auf das Vorbild, finden aber neue Bilder, um kulinarisches Erinnern zu dokumentieren und zu ästhetisieren. Der zweite Teil Vom Essen im Titel – Speisen als Überschriften schließt daran unmittelbar an, indem er auf die naheliegende Suche nach verbindenden Elementen in Comics geht, die das Kulinarische bereits im Titel tragen. Gezeigt wird, dass sehr unterschiedliche nach Lebensmitteln benannte Werke (wie Süsse Zitronen von Burcu Türker, French Milk von Lucy Knisley, Pour une poignée de Polenta von Vincent Vanoli oder Palatschinken von Caterina Sansone und Alessandro Tota) nicht nur durch die schmeckenden Titel, sondern auch ein Thema gemeinsam haben: Es geht immer um Familie. Die Frage ist, wie familiäre Bande mit Hilfe von kulinarischen Leitmotiven seziert werden. Hiernach wird auch im letzten Teil gefragt, in dem ein Comic von Yeon-Sik Hong etwas genauer unter die Lupe genommen wird, der sich in seiner Mischung aus Autosoziobiografie und Fiktion, Kochbuch und Familiengeschichte gängigen Kategorien entzieht. In Umma’s Table. Eine Hommage an die Mutter wird konkret skizziert, wie eine Mutter-Sohn-Beziehung durch kulinarische Fürsorge und Rituale  Leider ist der Text nicht ins Deutsche übersetzt, im Original heißt es: „C’est toute nourriture qui sert de signe entre les participants d’une population donnée. [...] [E]lle est sans doute, d’un point de vue anthropologique (d’ailleurs parfaitement abstrait), le premier des besoins ; mais depuis que l’homme ne se nourrit plus de baies sauvages, ce besoin a toujours été fortement structuré : substance, techniques, usages entres les uns et les autres dans un système de différences significatives, et dès lors la communication alimentaire est fondée.“ Auch in Deutschland kanonisch ist diesbezüglich seine Analyse des Gerichts Steak-Frites, in der er u. a. Pommes als „das alimentäre Zeichen des französischen Wesens“ bezeichnet (Barthes 2013, 102).  Für die Prosa-Belletristik hat Alois Wierlacher mit seiner Habilitationsschrift Vom Essen in der deutschen Literatur (1987) bereits in den achtziger Jahren demonstriert, dass auch Romanfiguren nicht bloß essen, um zu existieren; zahlreiche Werke befassen sich bis heute mit kulinarischen Topoi in Romanen. Dass auch im Comic mit der Darstellung von Mahlzeiten dramaturgische, charakterisierende und ästhetische Effekte erzielt werden, liegt auf der Hand, ist aber ein bisher noch weitgehend unerschlossenes Forschungsfeld.

Der Geschmack von (Familien-)Erinnerung. Alimentäre Kommunikation im Comic

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geprägt, gepflegt und über Generationen hinweg memorisiert wird und welche grafischen kulinarischen Motive für diese Bande gefunden werden.

Das Madeleine-Moment: Essen und Erinnerung Speisen sind aufgeladen mit Erinnerungen und Emotionen; unser Alltag wird durch Mahlzeiten rhythmisiert. Nicht immer ist dieser Erinnerungsprozess ein aktiv eingeleiteter wie im Falle von Alfred. Wir können uns an Speisen erinnern oder die Speisen erinnern uns an etwas. Genannt werden muss in diesem Zusammenhang die legendäre Proustʼsche Madeleine-Szene aus dem zwischen 1913 und 1927 publizierten siebenbändigen Romanzyklus A la recherche du temps perdu (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit). Im ersten Band Du côté de chez Swann (In Swanns Welt) (1913) wird geschildert, wie der erwachsene Erzähler beim Genuss einer Madeleine ein diffuses Vertrautheits- und Glücksgefühl empfindet. Plötzlich kommt die Erleuchtung: „Der Geschmack war der jener Madeleine, die mir am Sonntagmorgen in Combray [...] sobald ich ihr in ihrem Zimmer guten Morgen sagte, meine Tante Léonie anbot, nachdem sie sie in ihren schwarzen oder Lindenblütentee getaucht hatte ...“ (1982 [1913], 66). Auf diese kanonische Beschreibung gustatorisch ausgelöster Erinnerung wird medienübergreifend über direkte oder subtilere Zitate immer wieder rekurriert, also auch im Comic. In En cuisine avec Alain Passard (2011), einer Hommage an den französischen Sternekoch, zeichnet der Comicautor Christoph Blain im Prolog seinen autobiografischen Avatar bei der ersten Begegnung mit der Küche Passards (2011, 6). Das Essen zieht ihn von Gang zu Gang mehr in seinen Bann; als er schließlich ein Heueis probiert, katapultiert ihn der Geschmack (durch die Erinnerung an den Geruch) unverzüglich zurück in den Heuschober seiner Kindheitstage. Ähnlich ergeht es einem der zwei Protagonisten des Roadcomics Come Prima (2013), der von der langsamen Wiederannäherung zweier ungleicher Brüder erzählt, die nach dem Tod ihres Vaters gemeinsam nach Italien aufbrechen. Unterwegs entdeckt Fabio einen Orangenbaum, der ihn (olfaktorisch, optisch, gustatorisch) ebenfalls in eine andere Dimension befördert, was u. a. mit einer Veränderung des Zeichenstils markiert wird (Alfred 2013, 169–173). Der Gourmet: Von der Kunst allein zu genießen (im japanischen Original bereits 1997, in deutscher Fassung 2014 veröffentlicht) von Masayuki Kusumi und Jiro Taniguchi schildert die kulinarischen Streifzüge eines Tokioter Handlungsreisenden, der in Garküchen, Imbissen und Patisserien nicht nur neue, sondern vor allem vertraute Genüsse (wieder-)findet. „Ah, dieser Geschmack / aber woran denke ich eigentlich, wenn ich das sage / an das Mittagessen, das Oma mir gekocht hat, wenn ich sie als Kind in den Sommerferien besucht haben?“ lautet es über drei Panels verteilt

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nachdem der Speisende einen Currytopf in einem Ausflugslokal probiert hat (Kusumi und Taniguchi 2014, 121). Er hält inne, lässt seine Gedanken in die Vergangenheit und seinen Blick zum Nebentisch schweifen, an dem ein kleiner Junge gerade sein Essen verschüttet. „My most vivid memories consistently jog my brain with the recollection of how things tasted“ heißt es auf der ersten Seite von Lucy Knisleys kulinarischer Memoir Relish. My life in the kitchen (2013, 2). Knisley macht diese Erkenntnis zum Programm des Comics und erzählt, ausgehend von kulinarischen Erinnerungen und gespickt mit Rezepten, von Kindheit und Coming-of-Age in einer Foodie4-Familie. Trotz der bunten und cartoonesken äußeren Erscheinung, die den autobiografischen Comic von den zumeist schwarz-weißen Vertretern seiner Zunft abhebt, ist der Inhalt nicht ausschließlich fröhlich und anekdotisch. Es geht u. a. um die Scheidung ihrer Eltern und die Entfremdung zwischen der adoleszenten Lucy und ihrem Vater. Die geteilte Vorliebe für Essen fungiert hier zwar immer wieder als diplomatisches Mittel gegen Spannungen, beim gemeinsamen Schlemmen herrscht „momentary truce“ (2013, 46). Nahrungsmittel können aber ebenso gut als Akt der Rebellion eingesetzt werden. Nach einem Streit während einer gemeinsamen Italienreise holt sich die Jugendliche ein McDonalds-Menu, das sie genüsslich auf dem Boden hockend im gemeinsamen Hotelzimmer verzehrt. Motiviert wird sie nicht nur von der Lust an der Provokation (die Reaktion ihres Vaters beschreibt sie als „horrified“), sondern auch vom „familiar“ Geschmack: „Even though it was early, I could buy a burger and fries, warm and familiar, the grease eating through the bag, and the smell exactly the same as it was home“ (2013, 48). An dieser kleinen Szene lassen sich drei Aspekte aufzeigen: a) Die Etymologie des Wortes „familiar“ im Kontext Essen illustriert gut, welcher Art und wie intensiv die Vertrautheitsgefühle sind, die Speisen auslösen können. b) Die Szene macht deutlich, dass gerade standardisiertes Junk Food durch seine Berechenbar- und Vorhersehbarkeit ein Gefühl von Heimat, Sicherheit und Ordnung vermitteln kann. c) Sie illustriert nebenbei, dass der Comic u. a. durch die von der Autorin zelebrierte Affinität für gehobene Küche und McDonalds gleichermaßen eine geeignete Quelle für soziologische Studien in der Tradition Bourdieus ergeben könnte: Lucys (gespaltener kulinarischer) Habitus ist Resultat der Sozialisation unter Feinschmeckenden und dem (jugendlichen) Bedürfnis, sich von diesem ihr zugedachten Milieu zu unterscheiden. Der billige Burger gleicht für die Protagonistin der sprichwörtlichen „verbotenen Frucht“; mit ihm signalisiert sie ihre Autonomie.

 Mit Foodie werden Personen bezeichnet (oder bezeichnen sich selbst), die ein überdurchschnittlich hohes Interesse an Essen, Restaurants, Kochen haben und sich entsprechend gut auskennen. Der Terminus hat sich auch im akademischen Kontext durchgesetzt, kulinarisches Kapital gilt mittlerweile als eine Form des kulturellen Kapitals, siehe dazu z. B. Kathleen Collins Artikel „Cooking class: the rise of the ‚foodie‘ and the role of mass media“ (2015, 270–290).

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Vom Essen im Titel – Speisen als Überschriften Auf den ersten Blick deutlich wird die Verbindung zwischen Essen, Familie und Erinnerung in Erzählungen, die bereits im Titel Lebensmittel zitieren. In Burcu Türkers Süsse Zitronen (2016) geht es um die Trauerverarbeitung einer jungen Kunststudentin, die Schlüsselszenen im Leben ihrer kürzlich verstorbenen Mutter, einer Schauspielerin, rekapituliert. Die titelgebenden Zitronen stehen symbolisch für die erfrischende Fröhlich- und Unabhängigkeit der Mutter und für die enge Beziehung zwischen Mutter und Tochter: Erstere hatte schon während der Schwangerschaft einen Heißhunger auf Zitronen und gab diese Leidenschaft an die Tochter weiter. Nur in einem Panel, in dem die Hinterbliebene ihren Freundinnen von der geerbten Vorliebe erzählt (2016, 34) ist explizit von Zitronen die Rede, ansonsten ist das Leitmotiv ein subtiles: Mit dem Titel des Comics im Hinterkopf verstehen die Lesenden trotzdem, warum die Flashbacks in die Vergangenheit, in dem aus dem bewegten Leben der Mutter erzählt wird, häufig zitronengelb unterlegt sind und warum die Farbe im gesamten Comic leitmotivisch eingesetzt wird, um etwa die Nähe/Ähnlichkeit der Tochter mit der Mutter zu symbolisieren. Dass die Zitronen im Titel nicht nur gelb, sondern auch süß sind, führt uns automatisch zu der Speise- und Geschmacksmetaphorik, die oft für die ganz großen Fragen des Lebens eingesetzt wird, das sich bekanntermaßen durch Ambivalenzen auszeichnet, denen man mit (sprachlichen und tatsächlichen) Bildern oft eher gerecht werden kann als mit nüchtern-exakter Sprache.5 Und so beziehen sich die „süsse[n] Zitronen“ des Titels nicht nur auf die kulinarischen Präferenzen ihrer Mutter, sondern konnotieren ihr Leben und das Leben an sich („ʼCause itʼs a bittersweet symphony, thatʼs life“ wie The Verve es so akkurat und doppelt metaphorisch formuliert haben). In Pour une poignée de polenta (2004) (Für eine Handvoll Polenta) geht der in Frankreich geborene Autor Vincent Vanoli seinen italienischen Wurzeln auf die Spur; der Comic liest sich wie eine Collage aus Szenen, die in der Kindheit spielen, Szenen, die den erwachsenen Erzähler zu Besuch in seinem Elternhaus in Frankreich zeigen und Exkursen in das Italien der Kindheitsreisen und der Fantasie. Der Titel ist zum einen eine ludische Anspielung auf einen sehr bekannten ItaloWestern der 1960er Jahre namens PER UN PUGNO DI DOLLARI, für eine Handvoll Dollar. Ganz konkret bezieht er sich auf eine innerhalb der Familie Vanoli tradierte Geschichte, von der der autobiografische Ich-Erzähler hofft, sie sei übertrieben: „Mon père racontait que son père qui avait été bûcheron en Italie, était alors payé une poignée de polenta par journée de travail. Je ne sais pas quelle est la

 Nicht umsonst hat sich ja auch der Geschmacksbegriff in der Philosophie der Ästhetik derart eingebürgert, dass man fast von einer toten Metapher sprechen könnte.

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part dʼexagération dans ce témoignage mais, je n’ose pas imaginer ce que c’est, d’être payé une poignée de semoule de maïs“ (Vanoli 2004, 17).6 Das Bild zum Text zeigt den Vater des Erzählers beim Familienessen; es ist anzunehmen, dass gerade die Polenta-Anekdote zum Besten gegeben wird. Polenta bleibt ein Leitmotiv des Comics, zum Schluss sehen wir den Erzähler, der sich als älteren Herrn imaginiert und in dieser Rolle auf eine Polenta bei seinem Sohn einlädt, der nun ein Restaurant in Italien betreibt. Das ist aber nicht das einzige kulinarische Motiv in Vanolis autobiografischem Comic: Deutlich wir das Heimweh seiner in Frankreich gestrandeten Eltern in offiziell oder klandestin durchgeführten Kaffeezeremonien. Zum Ritual eines jeden Besuchs gehören die Pasta Asciutta; mit dem Geruch verbindet der Erzähler nicht nur Elternhaus und Kindheit, sondern auch den Gemütszustand, in den er sich begeben muss, um sich den familiären Herausforderungen stellen zu können. Als er bei einem Kurzbesuch von seiner Mutter gebeten wird, den Efeu auf der Hausfassade zu stutzen, eine Aufgabe, die er angesichts der unzähligen Tage im Jahr, an dem der Efeu auch ohne ihn problemlos geschnitten werden könnte als absurd empfindet (und die ihm zufolge einzig und allein zur Inszenierung des sich kümmernden Sohnes für die Nachbar✶innen bestimmt ist), imaginiert er sich auf einer Doppelseite zunächst in einem Astronautenanzug, dann als Gefangener in einer Schüssel voller Bandnudeln (Abb. 2). Der Erzähltext gibt Aufschluss über die visuellen Metaphern: „Je suis sûr que, si j’étais revenu d’une expédition sur la lune ou victorieux d’une campagne qui m’aurait valu des tas de médailles, elle m’aurait illico fait couper le lierre, sitôt la pasta aciuta terminée ... / la pasta aciuta était censée redonner des forces, exterminer la fatigue et surtour faciliter la phase de régression mentale dans cette zone de l’esprit permettant de s’adapter à la logique maternelle“ (Vanoli 2004, 62–63).7 Das lächerliche Rudern im mütterlichen Pastagericht symbolisiert das letzte zum Scheitern verurteilte Aufbegehren gegen die irrationale Familie, ab jetzt gelten die (durch das wiederkehrende Gericht) eingeleiteten elterlichen Regeln.

 „Mein Vater erzählte, dass sein Vater als er in Italien als Holzfäller gearbeitet hatte, damals mit einer Handvoll Polenta pro Arbeitstag bezahlt wurde. Ich weiß nicht, wie viel Übertreibung in dieser Aussage steckt, aber ich will mir gar nicht ausmalen, wie es ist, mit einer Handvoll Grieß entlohnt zu werden“ [Übers. M.S.].  „Ich bin mir sicher, selbst wenn ich von einer Mondexpedition oder einem Feldzug dekoriert mit Orden zurückgekehrt wäre, hätte sie mich nach der Pasta Asciutta sofort den Efeu schneiden lassen ... / Die Pasta Asciutta sollte neue Kraft geben, Müdigkeit beseitigen und vor allem die geistige Regression erleichtern, um sich in jenen Geisteszustand zu begeben, der sich der mütterlichen Logik anpasst“ [Übers. M.S.].

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Abb. 2: Vincent Vanoli. Pour une poignée de polenta. Angoulême: ego comme x, 2004. 62–63.

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Nach dem zappelnden Suppenkasper erfolgt ein Szenenwechsel, der Text schließt aber nahtlos an: „Inutile de lutter. Je perds à chaque fois que je reviens ici ...“8 Dass die Bestandsaufnahme und Recherche der Familienmacken und -genealogie am Esstisch und auf (kulinarischen) Reisen gleichermaßen erfolgen kann und bei aller Melancholie auch den ludischen Charakter einer Schnitzeljagd haben kann, zeigt auch Palatschinken (2015) von Caterina Sansone und Alessandro Tota: Der Comic erzählt von der Reise, die die Fotografin Sansone gemeinsam mit dem Comicautor Tota unternimmt. Es geht nach Rijeka in Kroatien, aus dem Sansones Mutter ins italienische Exil fliehen musste als die Stadt an die Volksrepublik Jugoslawien abgetreten wurde. Mit einer Handvoll Fotos im Gepäck (aufbewahrt in einer alten Amarettini-Blechdose) folgen die Fotografin und der Autor den Spuren der Mutter, indem sie den Fluchtweg in umgekehrter Richtung antreten und den alten Bildern, neue (in Form von Fotografie und Comic) gegenüberstellen. Der titelgebende Palatschinken rahmt die Migrationsgeschichte: Im Vorwort beschreibt Sansone, wie es zu der Bezeichnung kam: Eines Abends spazierten wir durch das Zentrum von Fiume und kamen an einer kleinen Bude vorbei, wo dampfende Pfannkuchen verkauft wurden. Auf dem Schild stand „Palačinke“. Dieses Wort weckte in mir eine schöne Kindheitserinnerung: ein Nachmittag in der Toskana, als wir mit der Familie am Meer spazieren gingen und meine Mutter sagte, zu Hause würde sie uns Palatschinken, Palacinche, backen. [...] Dieses Gericht hat zusammen mit Liedern, Sprichwörtern und Erinnerungen die Grenze überquert, als kulturelles Gepäck eines Volkes im Exil. (Sansone und Tota 2015, 12).

Im letzten Panel sieht man die beiden beim Verzehr der Mehlspeise. Der abschließende Satz lautet: „Die schmecken genauso wie in meiner Kindheit.“ Das Gericht dient hier also gleich in doppelter Hinsicht als Brücke: Es stellt die Verbindung zur Mutter, darüber zur Kindheit, und in die verlorene Heimat her. Wie Susanne Reichl feststellt: „Food [...] can provide a link to ‚home‘, even for those characters who have never been in the country of their parents’ ‚origin‘“ (2003, 192).9 Innerhalb des Epilogs findet sich neben dieser Kaffeehaus-Szene auch ein Rezept für

 „Es ist sinnlos, dagegen anzukämpfen. Ich verliere jedes Mal, wenn ich hierherkomme“ [Übers. M.S.].  Auch autofiktionale Comics wie Cyril Pedrosas Portugal (2012), in dem es um die Spuren- und Inspirationssuche eines Autors mit Schreibblockade geht, der sich den portugiesischen Wurzeln seiner Familie widmet, potenzieren Mahlzeitenszenen und Speisezitate, um die Bedeutung von Essen als Familienritual und Brücke in die Heimat zu betonen. In diesem Kontext besonders anschaulich ist eine Szene in der ein nunmehr seit Jahren in Frankreich lebender älterer Verwandter sich nicht davon abbringen lassen will, zum Markt zu fahren und frische Sardinen zu kaufen, obwohl der Ort mitten im Burgund keineswegs am Meer liegt (und es, wie sich dann rausstellt, auch keinen Fischhändler gibt). Vgl. Pedrosa 2012, 138–139.

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Palatschinken, das den Lesenden zusätzliche Immersion ermöglicht. Auch in Sohyun Jungs Comic Vergiss nicht, das Salz auszuwaschen (2014) stellt das Essen die Verbindung zu Familie (und auch hier speziell zur Mutter) und ehemaliger Heimat her; ein Rezept wird ebenfalls innerhalb der Diegese platziert. Es geht um eine junge Koreanerin namens Hana, die ein neues Leben in einer deutschen Großstadt beginnt. Regelmäßig kommuniziert sie via Videotelefonaten mit ihrer Mutter, die, obwohl sie so weit entfernt ist, in ihrer Sorge um die ‚verlorene‘ Tochter sehr viel Raum auf der Comicseite einnimmt (Abb. 3). Dargestellt wird die vermeintliche Übergriffigkeit mit einer so schlichten wie effizienten visuellen Metapher: Die Mutter begnügt sich nicht mit ihrem Platz auf dem Bildschirm, sondern bricht aus dem ihr zugewiesenen Rahmen aus; Hanna bleibt nichts anderes übrig als vor der dominanten Erscheinung (inklusive ihrer deutlich prominenteren Sprechblasen) zurückzuweichen. Die Textebene liefert einen Beleg dafür, wie die Thematisierung von Essen in familiären Konfliktsituationen als Ausweg/Substitut herhalten soll (statt zu sagen, wie sehr ihr die Tochter fehlt, schlägt sie vor, Kimchi zu schicken), aber hier durch die inkludierten Vorwürfe misslingt. Dass ‚mitgegebenes‘ Essen in Eltern-Kind-Beziehungen über das Kindesalter und geografische Entfernungen hinaus nicht nur Fürsorge, sondern auch körperliche Nähe symbolisiert und kompensiert (schließlich wird das von den einen handgemachte Essen von den anderen einverleibt), ist eine Erklärung dafür, warum die Literatur – vor allem die sogenannte Exil- oder Migrationsliteratur – voll von derlei Schlüsselszenen ist.10 Während die Protagonistin zu Beginn denkt, sie könne auf das mütterliche Kimchi (und damit auf den im doppelten Sinne familiären, d. h. vertrauten Geschmack) verzichten und sich zunächst mit deutschen Nahrungsritualen auseinandersetzt, versucht sie sich, den Geschmack der Heimat vermissend, in einem zweiten Schritt ohne mütterliche Hilfe an der Zubereitung. Der Blick durch die Scheibe des Asia-Shops mit seinem eklektisch zusammengewürfelten Warenangebot ist ein unverwandter; der Kommentar dazu bezeichnend: „Oh je ... Asien war mir noch nie so fremd“ (Jung 2014, 25).11 Nach einer Art Queste, in der die Protagonistin verschiedene Kimchi-Expert*innen aufsucht (u. a. darge Eine kurze, aber sehr aussagekräftige Szene findet sich z. B. in Hengameh Yaghoobifarahs Ministerium der Träume (2021): „‚Hast du Hunger?‘, ruft mir Mâmân von der Küchenzeile zu und hat bereits einen Teller in der Hand. Weil ich ihre Love Language beherrsche, sage ich Ja, obwohl ich eigentlich keinen Appetit habe, doch das war bei uns noch nie ein Grund dafür, nicht zu essen. Ob sie meine jemals lernen wird?.“  Vergleichen lässt sich Jungs Comic gut mit Yi Luos Running Girl (2016), in dem es um das Fremdheitsgefühl einer jungen Chinesin geht, die zum Kunststudium nach Deutschland gekommen ist und sich noch nicht ganz heimisch fühlt. Je mehr ihre via Skype geführte Fernbeziehung ins Wanken gerät, desto mehr sucht sie Zuflucht in ihrem Nebenjob. Das Sushi-Restaurant, in dem sie kellnert und putzt, bietet eine Ersatzfamilie und vertraut-fremde Geschmäcker: „Die

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Abb. 3: Sohyun Jung. Vergiss nicht, das Salz auszuwaschen. Eine kleine Reise in die koreanische Küche. Hamburg: mairisch verlag, 2014. 8.

stellt durch die Nachzeichnung der skurrilen Ergebnisse, die aus einer YouTubeSuche zum Thema Kimchi resultieren und einer Traumsequenz, in der der die Prot-

Köche geben sich viel Mühe, um etwas zuzubereiten, das weder japanisch noch chinesisch ist“ (Luo 2016, 14).

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agonistin den „Geist des Kimchi“ trifft) ist es ein Kommentar ihrer Mutter, der schließlich den Schlüssel zum perfekten Kimchi liefert: „Hast du auch nicht vergessen, das Salz auszuwaschen?“ Nach diesem Aha-Moment folgt das Rezept (in Comicform), dramaturgisch also ähnlich platziert wie in Palatschinken. Wir sehen im Anschluss eine imaginierte Szene, in der die Protagonistin, ihre Mutter und andere Figuren, die ihr auf der Odyssee begegnet sind, harmonisch gemeinsam am Tisch sitzen und das Kimchi degustieren. „Wie hast Du das gemacht?“ fragt die Mutter anerkennend, „[m]it dem Geist des Kimchi!“ antwortet die Tochter. Nach dem Festmahl hievt sie ihre Mutter zurück in den Computer und lässt sich nicht mehr durch den fortdauernden mütterlichen Wortschwall, der viele weitere Ratschläge zu Kimchi und Co. beinhaltet, beirren. Im letzten ganzseitigen Panel sehen wir die Protagonistin, die ihr Wohnhaus verlassen hat. Eine winzig kleine Tuschezeichnung auf weißem Grund zeigt den Umriss der jungen Frau, die bereit ist, sich den unbekannten Weiten der neuen Welt zu stellen und ihr Leben in Deutschland zu beginnen. Die Perfektionierung des Kimchi-Rezepts (mit der entscheidenden finalen Hilfe der Mutter) gleicht einem Initiationsritus. Mit der (aus dem Mutterland) übernommenen Tradition kann sich die Protagonistin Familie und Heimat selbstständig in die fremde Stadt holen; das ist die Voraussetzung für ihren Neustart. Diverse weitere (fiktionale und autobiografische) Titel, die das Essen im Titel tragen, beschäftigen sich mit dem Wechselspiel von Speisen, Familie, Heimat und Fremde. Zu nennen wären so unterschiedliche Publikationen wie etwa Marjane Satrapis Poulet aux Prunes (2004) (Huhn mit Pflaumen), in dem das von der Frau zubereitete Lieblingsgericht eingesetzt werden soll, um einen depressiven Musiker vom Suizid abzuhalten oder Lucy Knisleys French Milk (2008), in dem die eingangs erwähnte US-amerikanische Autorin in einem Reisetagebuch von einer sechswöchigen Mutter-Tochter-Reise nach Paris (und in erster Linie von ihren gemeinsamen kulinarischen Abenteuern) erzählt: Wie im Fall von Sohyun Jungs Kimchi-Comic dient das Essen als Bindeglied zwischen Mutter und Tochter, Kindheit und Erwachsenenwelt, Vergangenheit und Zukunft: Die IchErzählerin entdeckt zum einen gemeinsam mit ihrer Mutter die französische Esskultur (Sphäre des erwachsenen Erkundens) und lässt sich andererseits durch vertrautes comfort food (Sphäre der kindlichen Sorglosigkeit) trösten. Nach einer Panikattacke ob der neuen Verantwortungen, die ihr als Erwachsene blühen (einen Tag vor ihrem 22. Geburtstag) bereitet ihr die Mutter Pommes zu (diesmal also nicht in der subversiven Fast-Food-Variante der Vater-Tochter-Reise, s. o., sondern die hausgemachte); die Medizin wirkt: „But after I had calmed down and stopped prophesying doom while choking on my own labored breathing, mom made me some frites, which were perfect and salty and which I ate with Dijon mustard from a tube, which was delicious“ (Knisley 2008, 118).

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Generell ließe sich über den Zusammenhang zwischen sogenannten comfort food und Familienerinnerungen spekulieren, schließlich handelt es sich bei den meisten als comfort food gelabelten Speisen um solche, die auch dadurch Trost spenden, dass sie intuitiv und unkompliziert mit den Fingern gegessen werden können.12 Udo Pollmer stellt den Zusammenhang zwischen Junkfood, Körperlichkeit und Mütterlichkeit (vor der Omnipräsenz der Bezeichnung comfort food) bereits 1996 her, wenn er über Fast Food schreibt: „Wir greifen es mit den Händen und beißen in etwas Weiches, beinahe Körperwarmes. Der ideale Hamburger ist nicht heiß wie ein Mittagessen, sondern warm wie Muttermilch und als Erinnerung ans Säuglingsalter weich wie Babykost“ (Pollmer u. a. 1996, 188).

Umma’s Table: Kulinarische Hommage an die Mutter Das letzte Zitat leitet ideal zu einem der wichtigsten Aspekte über. Es ist auffällig, wie stark das Essen in Comics nicht nur allgemein mit der Sphäre des Familiären, sondern besonders mit der des Mütterlichen verknüpft ist. Mit Ausnahme einzelner hier genannter Comics (z. B. Portugal, Der Gourmet, En cuisine avec Alain Passard) werden in den meisten anderen Fällen Bezüge zu den von Müttern oder weiblichen Familienmitgliedern zubereiteten Speisen und damit zu den Frauen der Familie hergestellt. Dies ist natürlich in erster Linie damit zu erklären, dass die hier untersuchten Comics Spiegel unserer Zeit (oder der jüngeren Vergangenheit) sind. Gerade die autobiografischen und autofiktionalen Familiencomics lassen sich soziologisch lesen. Dabei ist festzustellen, dass die Elterngeneration der Autor*innen im überwiegenden Fall stereotype Geschlechterbilder verkörperte, in der die häusliche Sphäre den Frauen, die öffentliche eher den Männern zugeordnet wurde. Diese Rollenbilder finden sich in den Comics wieder. Auch wenn die meisten der im Comic geschilderten Kindheiten ein paar Jahrzehnte zurückliegen, hat sich die Lage nur bedingt geändert. Noch immer ist das Kochen im häuslichen Kontext und vor allem das Ver-

 Als unmittelbarer Beleg für diesen Zusammenhang genügt eine schnelle Instagram-Suche mit dem Hashtag #comfortfood. Die meisten unter dieser Überschrift gelabelten Speisen sind fettig, warm, weich und leicht zu verzehren (mit Händen oder einem Besteckstück), d. h. auch sie müssen nicht zwangsläufig am Esstisch eingenommen werden. Auch im eingangs erwähnten Comic Portugal findet sich eine Szene, in der auf die Wichtigkeit des traditionell besteckfreien, schnörkellosen (und familiären) Sardinen-Essens hingewiesen wird: Als der Protagonist Sardinen mit Besteck Essen will, greift eine ältere Dame beherzt ein: „Nein, nein, nicht mit der Gabel!“ (Pedrosa 2012, 65).

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sorgen der Kinder oft Frauen- und Muttersache, auch über „Muttermilch“ und „Säuglingsalter“ (Pollmer u. a. 1996, 188) hinaus, wovon etwa umgangssprachliche Wendungen vom „Essen wie bei Muttern“ zeugen. Die Familiencomics der folgenden Generationen werden daraufhin zu befragen sein, ob auf der heteronormativen binären Geschlechterdifferenz basierende Rollenbilder und Zuständigkeiten weiterhin in dem Maße (re-)produziert werden, was sich u. a. daran zeigen wird, wessen Kochkünste und Familienrezepte thematisiert und zelebriert werden. Dass Familiengeschichten in allen möglichen Medien immer wieder von tradierten Rezepten und ihrem besonderen Stellenwert für Familien und ihre Rituale erzählen, erstaunt also nicht. Und dass der Comic sich dann noch besonders anbietet, diese Rezepte in Bildform zu integrieren (siehe Relish, Vergiss nicht, das Salz auszuwaschen, En cuisine avec Alain Passard, Palatschinken) liegt auf der Hand. Nicht umsonst sind Gebrauchsanweisungen oft als kleine Comicstrips gestaltet. Seltener ist es, dass Comics explizit den Zusammenhang zwischen der Säuglingszeit, frühen Fütterungsritualen und der anschließenden kulinarischen Sozialisation (auch grafisch) thematisieren. Genau dies geschieht in Umma’s Table von Yeon-Sik Hong (2020), das die (autofiktional motivierte13) Geschichte des Comickünstlers Madang erzählt, dessen harmonisches Kleinfamilienleben immer wieder von der Sorge um seine Eltern unterbrochen wird, die in sehr ärmlichen Verhältnissen in einer Kellerwohnung in Seoul wohnen und gesundheitlich stark abbauen. Madang begleitet sie zu ihren Arztbesuchen in der Stadt; wenn er wieder zuhause bei Frau und Baby ist, lässt ihn der Gedanke an die beiden selten los. Während sein Verhältnis zum Vater ein distanziertes bis feindliches ist (schließlich hat dieser die Mutter sein ganzes Leben lang malträtiert), klammert er sich an das Bild der Mutter seiner Kindheit, die ihn und seinen Bruder inmitten der düsteren Grundstimmung liebevoll umsorgte.14 Immer wieder werden genussreiche und idyllische Mahlzeitensze-

 Umma’s Table liest sich instinktiv als Folgeband zu Umcomfortably Happily (2017), in dem autobiografisch vom neuen Leben auf dem Land erzählt wird; das betonen auch die meisten englischsprachigen Rezensionen. In Umma’s Table wird ein sehr ähnliches Setting allerdings (auto-) fiktionalisiert; die Familienmitglieder werden jetzt als anthropomorphe Katzenwesen dargestellt. Am Register ändert sich dadurch nichts. Man könnte darüber spekulieren, ob die Anthropomorphisierung damit zu tun hat, dass es diesmal auch ganz explizit um die Eltern des autofiktionalen Erzählers geht und er durch die grafische Verfremdung eine Distanzierung und Anonymisierung anstrebt.  Umma’s Table kann trotz des sehr anderen kulturellen Settings als autofiktionale Soziobiografie in einem Atemzug mit Edouard Louisʼ En finir avec Eddy Bellegueule (2014) und Didier Eribons Retour à Reims (2009) genannt werden. Vor allem das entworfene Psychogramm des Vaters, der die harte und schlecht entlohnte körperliche Arbeit mit Alkohol und Gewalt kompensiert, den Rest der Zeit von dem Fernseher vegetiert und als physisches und psychisches Wrack endet, ähnelt sich in allen drei Erzählungen.

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nen aus seinem aktuellen Leben („Sharing a hot meal with your family on a cold winter’s night ... it doesn’t get any better than that“ heißt es auf Seite 28) mit Szenen aus seiner Kindheit mit Mutter und Bruder und aktuellen Eindrücken aus dem Leben seiner Eltern kontrastiert. Glückliche Momente in seiner Kindheit waren in erster Linie die Mahlzeiten: Seine Mutter ermöglichte ihm und dem Bruder mit der guten Küche und dem Zelebrieren der Mahlzeiten kleine Fluchten aus dem Alltag; beim gemeinsamen Mahl war die Welt in Ordnung. Für den erwachsenen Madang wird das Kochen nach Tradition seiner Mutter zur Copingstrategie15 (so wie es offensichtlich auch für sie therapeutisch war). Während die Mutter aus der Jetzt-Zeit ihm entgleitet (sie ist des Lebens überdrüssig, was sich unter anderem an ihrem mangelnden Appetit manifestiert), setzt er der Mutter seiner Vergangenheit ein kulinarisches (und, wenn wir von der autofiktionalen Lesart ausgehen, grafisches) Denkmal: „Almost every memory I have of my mother begins with her cooking“ lautet die Überschrift zu einem sehr hell gehaltenen Panel, in dem Madang und sein Bruder durch ein Fenster die kochende Mutter beobachten; die Gerüche und Geräusche des Dampfes rahmen das Panel (Hong 2020, 84).16 Andere Szenen zeigen ihn als Studenten, der sich von Instantnudeln ernährt, aber die kulinarische Tristesse mit Vorfreude auf das heimische Essen überbrückt. Am Telefon verspricht ihm seine Mutter: „I’ll be waiting with all your favorite foods“ (2020, 342). Ihr gutes Essen hat ihn von Kindheit bis zum jungen Erwachsenenalter begleitet; es ist ganz eindeutig ihre „love language“ (siehe Fußnote 10). Madang kocht die Rezepte seiner Mutter für seine kleine Familie nach, hält sie so am Leben und gibt ihre durch Essen ausgedrückte Liebe an seinen Sohn weiter. Zu Beginn gelingt es ihm sogar noch, mit der alljährlichen Kimchi-Zubereitung ein gemeinsames Ritual zu zelebrieren, bei dem alle Beteiligten halbwegs glücklich erscheinen. Die komplett gestörte verbale Kommunikation wird durch die alimentäre Kommunikation ersetzt, die einen gemeinsamen Nenner für alle darstellt, wie Georg Simmel bereits 1910 in seiner Soziologie der Mahlzeit feststellt: „Von allem

 Der englische Ausdruck ist mittlerweile auch im Deutschen gebräuchlich, übersetzen ließe er sich mit „Bewältigungsstrategie“. Unterschieden wird zwischen funktionalen und dysfunktionalen Copingstrategien; die erstgenannten widmen sich konkreten Lösungsansätzen; die zweitgenannten haben eher Ablenkungscharakter (so wie das Kochen im Fall von Madang und seiner Mutter). Der eher negativen Konnotation zum Trotz steckt auch in der Ablenkung/Verdrängung therapeutisches Potenzial, die Betroffenen fühlen sich zumindest punktuell besser, indem sie sich auf etwas Positives konzentrieren.  Flashback-Szenen vom glücklichen Beisammensein in der Küche (wohlgemerkt immer ohne den Vater) finden sich häufiger. Eine spielt mit Topoi des Musicals; die drei Kochenden und Genießenden singen, tanzen und schweben durch den Raum (Hong 2020, 181); eine andere zeigt die kindliche Version des Erzählers in trauter Zweisamkeit beim gemeinsamen Kochen mit seiner Mutter (2020, 282).

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Abb. 4: Yeon-Sik Hong. Umma’s Table. Montreal: Drawn & Quarterly, 2020. 50–51.

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nun, was den Menschen gemeinsam ist, ist das Gemeinsamste: dass sie essen und trinken müssen“ (Simmel 2017, 69). Die Doppelseite, die dieses Event in Szene setzt, liefert aber bereits deutliche Indizien für den weiteren Verlauf (Abb. 4). Auffällig zunächst: Um die überdimensionale Kohlschüssel (die die zwei Einzelseiten und die Familie miteinander verbindet17 und den hohen Stellenwert des Essens symbolisiert) gesellen sich im ersten Panel bis auf den Vater alle Familienmitglieder. Diesen sieht man ab Panel zwei, wie er sich auf allen vieren Richtung Medikamentenschublade schleppt, um dann im siebten Panel seinen Platz am Rande der Kohlblätter einzunehmen und dort als einziger einen eher negativen Kommentar abzugeben. Durch die monochrom schwarze Hose wird er auch vestimentär als vergleichsweise düster konnotiert. Das emsige Hintergrundgeschehen wird im Off-Text des IchErzählers nicht kommentiert: Er widmet sich in allen Details dem Rezept und den im letzten Panel wiederum überdimensional dargestellten Ingredienzien; Rezepte werden hier über den Erzähltext noch radikaler in die Diegese integriert als in den obigen Beispielen. Das heißt: Während des gemeinsamen Kochens, das die Familie ein letztes Mal zu einem eher fröhlichen Anlass zusammenbringt, liegt Abschiedsstimmung in der Luft („I couldn’t help but thinking this might be the last time we’d all make Kimchi together“); die desolate Verfassung des Vaters trübt schon jetzt bzw. noch immer das ansonsten gesellige Beisammensein. In den Flashbacks in die Vergangenheit ist der Vater auch grafisch als der heilen Welt des Kochens und somit dem heilen Teil der Familie nicht zugehörig markiert, indem er etwa nicht in Gänze gezeichnet wird, sondern stattdessen seine lautmalerisch in Szene gesetzten Schritte und sein düsterer Blick durch den Türspalt das Ende des Friedens einläuten (Hong 2020, 95). Während die Mutter in der Kimchi-Szene noch an die fröhliche Köchin der Vergangenheit erinnert, geht es mit ihr im Laufe der Erzählung immer weiter bergab. Wenn Madang zuhause sieht, wie seine Frau den gemeinsamen Sohn stillt, stellt er automatisch den Bezug zu seinen ersten Lebensmonaten und dem Stillen und Versorgen her: „Did my mother look this happy when she nursed me?“ (2020, 63). Besonders plakativ werden Anfang und Ende des Lebens anhand des Brustmotivs in einer Krankenhausszene gegenübergestellt, in der die freigelegte, nur von Schläuchen bedeckte Brust der Mutter grafisch mit der prallen Stillbrust aus der Säuglingszeit parallelisiert wird. Der Kommentar dazu lautet: „Look at that feeble chest ... / The breasts that nursed both me and my brother ....“ (2020, 170). Die Seite, auf der der Tod der Mutter explizit thematisiert wird, arbeitet mit einer ähnlichen Gegenüberstellung (Abb. 5):

 Zum Abwechslungsreichtum der Seitenarchitektur und der Reibung zwischen extremen Realismus und fantastisch anmutenden Darstellungen siehe die Rezension von Chris Gavaler auf popmatters. URL: https://www.popmatters.com/yeon-sik-hong-s-ummas-table-2645449729.html (abgerufen am 16.12.2021).

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Abb. 5: Yeon-Sik Hong. Umma’s Table. Montreal: Drawn & Quarterly, 2020. 343.

„Until the day she died / she always put us first“ steht auf schwarzem und auf hellem Grund geschrieben. Im ersten Panel sind die Umrisse der Krankenhausapparaturen zu sehen; im letzten Panel schaut die Mutter ihren Sohn (und die Comiclesenden) einladend an und bittet zu Tisch: „Almost ready!“ Innerhalb der letzten Seiten des Comics zeigt eine Doppelseite erneut eine gemeinsamen Kochszene (also wie zu Beginn der Erzählung), diesmal aber eine offensichtlich imaginierte (ohne dass sie extra als solche markiert werden müsste), die die anderen Familienmitglieder außen vorlässt und eine glückliche Version der eben verstor-

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benen älteren Frau mit ihrem erwachsenen Sohn zeigt. Die beiden verbringen kochend, scherzend, gegenseitig probierend eine gute Zeit. Diese Version der Mutter ist es, die der Sohn in Erinnerung behalten will; wenn er kocht, ist sie bei ihm. Direkt im Anschluss sehen wir wie Madang seine kleine Familie zu Tisch bittet. Im letzten ganzseitigen Panel blickt er seine Familie (und uns) an, genau wie seine Mutter in der Küchenszene, ihre Söhne (und uns) anblickte und fragt: „Now then / Shall we eat?“ (Hong 2020, 358). Madang hat die Rolle seiner Mutter in seiner eigenen Kernfamilie übernommen; er ist der Familienkoch. Auch über diese Tätigkeit distanziert er sich explizit und intuitiv von seinem Vater und dem von ihm verkörperten Rollenbild. Sein Kochen ist Festhalten, Gedenken und Fürsorge. Umma’s Table zeigt en Detail auf fast 400 Seiten auf, was die anderen Comics eher punktuell angerissen haben: Dass Essen von Tag eins an eine Rolle spielt, dass mit Essen Fürsorge und Liebe kommuniziert werden kann, dass Essen Trost spendet, dass es nicht selten kulinarische Rituale sind, die von Generation zu Generation weitergegeben werden, dass diese Rituale unser Leben rahmen und würzen, dass Essen Erinnerung auslöst und Erinnerungen pflegt. In allen besprochenen Comics, unabhängig ihres Genres und ihrer kulturellen Herkunft, haben Speisen also weit mehr als eine ästhetische Funktion. Sie geben Auskunft über den Zeitgeist, entlarven problematische Rollenbilder, bedienen das Bedürfnis nach Nostalgie, feiern den Genuss und verbinden Menschen, kurzum: Sie sind soziokulturelle Zeichen. Die hier angerissenen Ansätze in weiterführenden Studien zu untersuchen, d. h. a) die comicspezifischen Merkmale der Essensdarstellung und -thematisierung en detail zu beleuchten und b) den Comic als eine weitere Quelle für kulturwissenschaftliche und soziologische Fragestellungen in Betracht zu ziehen, ist ein Forschungsdesiderat – noch ist so gut wie gar nichts über das Sujet geschrieben worden, also sollte für jeden Geschmack etwas dabei sein. Mit den genannten Fragen und Titeln hoffe ich einige Ansatzpunkte geliefert zu haben. Vor allem im Hinblick auf Familiengeschichten steht schon jetzt fest: Essen und Kochen sind elementarer Bestandteil familiärer Kommunikation oder anders gesagt: „alimentäre Kommunikation“. Im Comic lassen sich signature und comfort foods explizit ausstellen und rahmen; in Folge können sie dann auch subtiler in Text und Bild platziert werden. Kimchi und Polenta werden zu grafischen Leitmotiven, die gustatorische, olfaktorische und nicht zuletzt emotionale Erinnerungen an Familien/essen wecken und archivieren.

Der Geschmack von (Familien-)Erinnerung. Alimentäre Kommunikation im Comic

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Jüdische Familiengeschichten. Die generations- und grenzüberschreitenden Comics von Aline Kominsky-Crumb, Diane Noomin und Shira Spector In einem jüngst für die The Shalvi/Hyman Encyclopedia of Jewish Women verfassten Beitrag bemerkt Tahneer Oksman, dass jüdische Comickünstlerinnen – zumindest im angloamerikanischen Raum – auf eine weitreichende Geschichte zurückblicken können: „The history of Jewish women’s comics and graphic novels can be traced back to early and mid-20th-century progenitors, including artist Charlotte Salomon and cartoonists Hilda Terry, Lily Reneé, and Friedel Stern“ (Oksman 2021). Wenn es um die (historische) Verbindung von „Jewish women and comics“ (2021) geht, so führt Oksman weiter aus, spielen jedoch vor allem die amerikanischen Underground-Comics der 1960er und 70er Jahre eine zentrale Rolle. Während Comics bis dato als populärkulturelles Medium für die Massen rezipiert und häufig mit dem Vorwurf der Trivialität konfrontiert wurden, bildete sich in San Francisco parallel zur Hippie-Bewegung eine von männlichen Kunstschaffenden dominierte alternative Comicszene heraus. Diese hielt sich nicht mehr an die Restriktionen des in den 1950er Jahren implementierten Comics Code,1 sondern richtete ihre tabubrechenden Werke und ihre oftmals pornografischen sowie gewaltverherrlichenden Inhalte nunmehr dezidiert an eine erwachsene männliche Leserschaft.2 Unter der

 Nachdem Mitte der 1950er Jahre die Anti-Comicstimmung in den USA mit Fredric Werthams Buch Seduction of the Innocent (1954) ihren Höhepunkt erreichte, sah sich die Comicindustrie gezwungen, einen selbstbestimmten Comics Code einzuführen, der über die moralische ‚Korrektheit‘ des Mediums wachen sollte. Comichefte, die von der Comics Magazine Association of America (kurz C.M.A.A.) freigegeben wurden, hatten ein bestimmtes Siegel auf dem Cover zu führen, welches mit den Worten „approved by the comics code authority“ für moralisch unbedenkliche Inhalte stand. Produktionen, die dieses Siegel nicht erhielten, galten als jugendgefährdend und wurden größtenteils boykottiert (Knigge 1996, 140–141). Die Auswirkungen des Comics Codes auf die gesamte Branche waren katastrophal. Es kam zu einem kommerziellen Einbruch auf dem Comicmarkt und viele (vor allem kleinere) Verlage mussten die Produktion einstellen. Insgesamt wurden Comicproduzent✶innen und Verleger✶innen in ihren Themen und der erlaubten Darstellungsweise massiv eingeschränkt. Experimentierfreudige Produktionen, die sich an ein erwachsenes Publikum richteten, wurden aufgrund des rigiden Vorschriftenkatalogs nahezu unmöglich gemacht.  Für eine ausführliche Behandlung der Underground-Comics siehe auch Skinn 2004, Rosenkranz 2008 sowie Danky and Kitchen 2009. https://doi.org/10.1515/9783110786392-011

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Federführung von Robert Crumb boten die Underground-Comics3 vor allem weißen Künstlern ein avantgardistisches Experimentierfeld und schafften dabei zugleich eine misogyne Atmosphäre, die Comickünstlerinnen den Zugang zum „boys’ club“ (Robbins 2016, vii) nicht nur erschwerte, sondern in vielen Fällen sogar gänzlich verwehrte (Chute 2017; Sina 2022). Um dieser Ausgrenzung aktiv entgegenzuwirken, formierten sich Ende der 1960er Jahre im Zuge der Women’s Liberation-Bewegung erste feministische Netzwerke und -kollektive, die wiederum Künstlerinnen die Möglichkeit gaben, alternative Strukturen und Publikationsmöglichkeiten zu schaffen und so in der männlich dominierten Comiclandschaft Fuß zu fassen (Misemer 2019, 7). Damit funktionierten „der misogyne Ton und die Frauenverachtung in den Comics von Crumb sowie von solchen Underground-Comiczeichnern wie S. Clay Wilson und Spain Rodriguez [...] gewissermaßen als Initialzündung für US-amerikanische feministische Comics“ (Kupczynska 2020, 33). So entstand 1970 die ausschließlich von Frauen produzierte Comicanthologie It Ain’t Me, Babe (Robbins 2010; Oksman 2021), initiiert von den beiden jüdischen Künstlerinnen Trina Robbins und Barbara ‚Willy‘ Mendes.4 „Von den 32 Seiten des Heftes“, erinnert sich Trina Robbins, „stammten etwa zwei Drittel aus der Zeichenfeder von Jüdinnen“ (2010, 80). Zwei Jahre später gründete sich das so genannte Wimmen’s Comix Collective, ein Zusammenschluss verschiedener Künstlerinnen, die in San Francisco zwischen 1972 und 1992 unter dem Titel Wimmen’s Comix „den ersten und am längsten fortlaufend publizierten Frauen-Comic“ (Robbins 2010, 80) herausbrachten.5 Zu den 10 „Gründungsmüttern“ (Robbins 2010, 80) des Wimmen’s Comix-Kollektivs zählten neben Trina Robbins auch noch zwei weitere Jüdinnen, nämlich Sharon Rudahl und Aline Kominsky (später KominskyCrumb).6 Wie Robbins berichtet, stieß zudem „[s]chon bei der zweiten Ausgabe [...] die Zeichnerin Diane Noomin“ (2010, 80) zu dem Kollektiv. „Weitere wichtige jüdi-

 Im Laufe der Zeit hat sich für die Underground-Comics auch die Schreibweise ‚Comix‘ etabliert. Das X soll die Abgrenzung zum Mainstream markieren und verweist dabei zugleich auf die Altersfreigabe ‚x-rated‘ für nicht jungendfreie mediale Artefakte.  Bei Barbara ‚Willy‘ Mendes handelt es sich um die Selbstbezeichnung der Künstlerin.  Hierbei handelt es sich um die Comicanthologie Wimmen’s Comix, die von 1972 bis 1992 erschien. In den 1980er Jahren kommt es darüber hinaus ebenfalls zur Etablierung der so genannten Gay Comix-Bewegung: „Eine erste Ausdifferenzierung der Womyn’s Comix [hier sind die Wimmen’s Comix gemeint], deren Blütezeit sich in den USA bis Ende der 1980er Jahre erstreckt, leitet die erstmals 1980 publizierte Gay Comics-Anthologie mit lesbischen und schwulen Zeichner_innen ein“ (Reitsamer und Zobl 2011, 368).  Weitere Gründungsmitglieder des Wimmen’s Comix Collective waren Laura Fountain, Karen Hasken, Lee Mars, Terry Richards, Shelby Sampson und Janet Stanley (Robbins 2010, 80; Cook 2017, 37).

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sche Comic-Zeichnerinnen, die in späteren Jahren Teil der Gruppe wurden, waren Joey Epstein, Caryn Leschen und Leslie Sternbergh“ (Robbins 2010, 80). Inhaltlich setzte das feministische Kollektiv bewusst auf die sowohl persönlichen als auch alltäglichen Erfahrungswerte ihrer Mitglieder und konzentrierte sich primär auf Themen und Inhalte wie etwa Masturbation, Fehlgeburt, Abtreibung, Menstruation oder sexueller Missbrauch, „an die sich Männer nie herangewagt hätten“ (Robbins 2010, 83). Aber auch die Verhandlung geschlechtlich codierter jüdischer Identität(en) spielte eine wiederkehrende Rolle, wie Robbins ausführt: „In ihren Comix karikiert Kominsky oft ihre stereotyp jüdische Mutter, die sie auf den Namen ‚Blabbette‘ getauft hat, während Noomins Hauptfigur Didi Glitz eine Art moderner jüdisch-amerikanischer Frau ist, ein Typ, der manchmal auch als ‚JewishAmerican Princess‘ bezeichnet wird“ (2010, 83). Mit ihren persönlichen, unbeschönigten, alltäglichen, direkten und zugleich politischen Comics betraten die Mitglieder des Wimmen’s Comix-Kollektivs bis dato unbekanntes feministisches Comicneuland und ebneten dabei den Weg für kommende Generationen von „self-identified Jewish women cartoonists“ (Oksman 2021), wie etwa Sarah Lightman, Sarah Glidden oder Shira Spector. Zugleich ermöglichte die serielle Publikationsform der Wimmen’s Comix-Anthologie sowie die Arbeit in einem feministischen Kollektiv eine spezifische Form der Solidarität und des Austauschs unter den Künstlerinnen, die Leah Misemer unter dem Konzept der „correspondance zone“ beschrieben hat: „The correspondence zone provides a methodology for reading serial texts that encourages scholars to consider how individual elements of the series respond to one another in the service of creating public discourse. The term ‚correspondence‘ captures the dialogic nature of the space“ (2019, 10). Weiterhin heißt es bei Misemer: The term ‚zone‘, which marks a delimited, but changeable space, highlights the multiple possibilities for dialogue created within the serial form. Readers place themselves in dialogue with each other, with authors, or with the comic, while the issues can be viewed as responding to one another or to previous reader requests. (2019, 10)7

Anhand ausgewählter Werke von Aline Kominsky-Crumb, Diane Noomin und Shira Spector möchte ich im Folgenden dieser feministischen Comictradition beispielhaft nachgehen. Dabei sollen nicht nur ‚Familienähnlichkeiten‘ zwischen verschiedenen Generationen von jüdischen Underground- bzw. Post-UndergroundKünstlerinnen sowie den von ihnen kreierten Comics herausgearbeitet, sondern auch ein besonderer Fokus auf die kritische Reflexion und verqu(e)erende Reprä-

 Mit Bezug zu den Wimmen’s Comix bemerkt Misener zudem: „In the case of Wimmen’s Comix, women of all different backgrounds band together to strive for equality. The serial anthology format provides room for multiple stories within issues that might be placed in dialogue, as well as stories across issues that respond to one another“ (2019, 10).

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sentation von (alternativen) Familienstrukturen und Fragen der Mutter- bzw. Elternschaft gelegt werden. Die Grundlage für meine sowohl medienästhetische als auch gender- und queertheoretische Analyse bildet die Frage nach der intermedialen, d. h. generations- sowie grenzüberschreitenden Beziehung zwischen den Werken von Aline Kominsky-Crumb, Diane Noomin und Shira Spector. In Anlehnung an die Ausführungen von Josch Hoenes und Barbara Paul verstehe ich unter Intermedialität bzw. intermedialen Techniken, Prozessen und Referenzen „[t]the complex mutual relationships among audiovisual artifacts“ (Hoenes und Paul 2017, 11). Eng damit verbunden ist das Konzept der Assemblage bzw. der (inter-)medialen Gefüge, das es ermöglicht, Interaktionen zwischen medialen Artefakten als „sources of queer, resistant potential“ (Hoenes und Paul 2017, 13) zu begreifen und fruchtbar zu machen. Mit dem Begriff der Assemblage lässt sich also das Zusammenspiel bzw. Ineinandergreifen verschiedener miteinander verflochtener medialer Ebenen und intermedialer Bezugnahmen beschreiben: Assemblages produce complex webs of relationships by establishing links between specific multiplicities and by rendering tangible historically and culturally specific realms of experience and desire. Unlike means of ordering that function by establishing identities and boundaries and, thus, always cling to static notions, the assemblage is conceived as fundamentally processual. (Hoenes und Paul 2017, 13)

Wie die Autor✶innen weiter ausführen vermag das sowohl prozessuale als auch transgressive Konzept der Assemblage rigide Dichotomien und als vermeintlich ‚natürlich‘ geltende binäre Oppositionen aufzubrechen und ins Wanken zu bringen (Hoenes und Paul 2017, 13) und bildet damit einen idealen Ausgangspunkt für die folgende kritische Auseinandersetzung mit dem hybriden, Bild und Text kombinierenden ‚Zwischen-Medium‘ Comic.

„Godmother“ der Underground-Comics: Aline Kominsky-Crumb Von Hillary Chute als ‚Pionierin‘ und „godmother“ (2010, 34) der autobiografischen Comicform bezeichnet, greift die Mitbegründerin des Wimmen’s Comix-Kollektivs Aline Kominsky-Crumb bereits in den 1970er Jahren auf die sequenzielle Kunst zurück, um ihre persönliche(n) und gleichzeitig politisch relevante(n) Geschichte(n) zu erzählen. Sowohl in ihrem 380 Seiten umfassenden Graphic Memoir, das 2007 unter dem Titel Need More Love erschienen ist, als auch in ihrer Comicanthologie

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Love That Bunch (2018 [1990])8 lotet die Underground-Künstlerin immer wieder die darstellerischen Möglichkeiten des Comics aus und konfrontiert die Rezipierenden mit tabubrechenden Themen wie non-konformen sexuellen Praktiken/Vorlieben oder (häuslicher) Gewalt (Sina 2020). In ihren expressiven autobiografischen Comics, die verschiedene Erlebnisse und Anekdoten aus dem Leben der Künstlerin sowie ihrer Familie dokumentieren und in überzeichneter grafischer Form wiedergeben, stellt Kominsky-Crumb nicht nur normierte Schönheitsideale, weibliche Körperlichkeit, Sexualität und geschlechtlich codierte (kulturelle) jüdische Identität(en) in den Vordergrund. Im Zuge von Kominsky-Crumbs grafischer Dokumentation des jüdischen Selbst spielen auch die Verhandlung und Inszenierung jüdischer Familien-Geschichte(n) und -Erinnerung(en) eine zentrale Rolle (Most 2006; Sina 2021). Dies wird bereits in ihrem Debütwerk, dem fünfseitigen Kurzcomic „Goldie: A Neurotic Woman“ deutlich, den Kominsky-Crumb 1972 in der ersten Ausgabe des bereits erwähnten feministischen Underground-Magazins Wimmen’s Comix publiziert.

Abb. 1: Inszenierung jüdischer Familien-Geschichte(n) in „Goldie. A Neurotic Woman“. Aline Kominsky-Crumb (W/A). „Goldie: A Neurotic Woman [1972]“. Need More Love. A Graphic Memoir. London: MQ Publications, 2007. 140.

Der in Schwarzweiß gehaltene und mit zittriger Linienführung gezeichnete Comic inszeniert einzelne Etappen aus dem Leben der Künstlerin, genauer gesagt ihres grafischen Alter Egos Goldie, deren Name eine verkürzte Version von ‚Goldsmith‘,

 Bei Love That Bunch handelt es sich um eine im Fantagraphics Verlag publizierte Sammlung von diversen Comicstrips, die sich um die Erlebnisse von Kominsky-Crumbs autobiografischem Alter Ego ‚The Bunch‘ drehen.

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dem Mädchennamen von Kominsky-Crumb darstellt. In dem titelgebenden ersten Panel der Kurzgeschichte sehen wir eine runde Portraitzeichnung der erwachsenen Goldie, die im Profil vor einem tief schwarzen Hintergrund dargestellt wird, wie sie abwesend in die Ferne blickt (Abb. 1).9 Über dem Portrait ist der Schriftzug „Goldie“ zu lesen, während darunter eine Textbox mit den Worten „A Neurotic Woman“ zu finden ist (Kominsky-Crumb 2007 [1972], 140). Im darauffolgenden Panel taucht Goldie erneut auf, nun jedoch als junges, lächelndes Mädchen mit Schleife im Haar und Davidstern-Kette um den Hals. Am oberen linken Rand des Panels ist eine weitere Textbox platziert, wo in schwarzen Lettern vor weißem Grund die Glückseligkeit der jungen Protagonistin mit den Worten „In the beginning I felt loved ...“ (Kominsky-Crumb 2007 [1972], 140) ebenfalls auf der verbalen Ebene Ausdruck findet. Goldie, deren Ganzkörperdarstellung von einem rechteckigen Panel im Panel eingefasst und gerahmt wird, ist wiederum umgeben von verschiedenen Familienmitgliedern, bei denen es sich um ihre Eltern (rechte Seite) und ihre Großeltern (linke Seite) zu handeln scheint, die sie liebevoll anblicken (Abb. 1). Während ihre Großmutter Goldie als Prinzessin bezeichnet, stehen in einer Gedankenblase der Eltern die stolzen Worte „We made her“ (Kominsky-Crumb 2007 [1972], 140) geschrieben. Für Tahneer Oksman symbolisiert dieses Panel, bzw. die hier dargestellte Panel-im-Panel-Konstruktion, das durchaus zwiespältige sowie problematische Verhältnis der Protagonistin zu ihrer jüdischen Familie und ihrem jüdischen Selbstbild: The box-within-a-box arrangement suggests that such unadulterated love and attention, framed most powerfully through female presences, requires stringent boundaries; Goldie’s sense of unconditional love is related to an understanding of herself as divided from, but still maintaining proximity to, others. It is a sense of self that, as we soon witness, is unsustainable, as it inevitably and theatrically breaks down. (Oksman 2016, 38–40)

Während in den ersten Panels die glückliche Kindheit der Protagonistin im Kreise ihrer Familie und Freund✶innen geschildert wird, erfolgt im letzten Panel der ersten Comicseite der von Oksman prognostizierte theatralische Breakdown. In einer visuellen Umkehrung des sowohl titelgebenden ersten als auch zweiten Panels wird Goldie hier erneut prominent in Szene gesetzt, dieses Mal jedoch grotesk überzeichnet und isoliert vor einem leeren weißen Hintergrund (Abb. 2). Wie die Textbox verkündet, befindet sich Goldie nun in der Pubertät und mit der Pubertät

 Die kreisrunde Inszenierung des Portraits weckt zudem Assoziationen an ein Medaillon, in dem ein Foto eingelassen ist. Außerdem erinnert die Darstellung an ein auf einer Münze abgebildetes (Herrscher✶innen)-Portraits. Als Erzeugnisse der Goldschmiedekunst stellen sowohl Münze als auch Medaillon eine zusätzliche Referenz zu Kominsky-Crumbs Mädchennamen ‚Goldsmith‘ her. Für diesen sowie den Hinweis, dass der Text „We made her“ Goldie als Goldstück und damit als Artefakt behandelt, danke ich Barbara M. Eggert.

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kommen Einsamkeit und erste Selbstzweifel. Auch das liebevolle Verhältnis zu ihrer Familie ändert sich nun drastisch und das Gefühl von Geborgenheit und Akzeptanz scheint zu schwinden, wie auch Oksman festhält: The dramatic metamorphosis occurs abruptly, emphasizing how Goldie’s changing and aging body makes her feel increasingly out of control and isolated from others. On the following two pages, as she goes through puberty and attends high school, she is increasingly portrayed alone or, when connected to others, in humiliating and degrading situations. (Oksman 2016, 40)

Als junge Teenagerin hat Goldie nicht nur mit ihren wachsenden Unsicherheiten und Minderwertigkeitsgefühlen zu kämpfen, sondern empfindet auch ihren Vater und seine Annährungsversuche als zunehmende sexuelle Bedrohung („My father’s attention made me sick“). Auch die ersten heterosexuellen Erfahrungen, die sie während ihrer High School-Zeit macht, traumatisieren die Protagonistin nachhaltig, da sie von ihrem damaligen Freund zunächst zum penetrativen Geschlechtsverkehr genötigt und danach zum Opfer verletzender Rede wird, wenn dieser sie in aller Öffentlichkeit als „whore“ (Kominsky-Crumb 2007 [1972], 142) beschimpft.

Abb. 2: Groteske Überzeichnung des jüdischen Selbst in „Goldie. A Neurotic Woman“. Aline Kominsky-Crumb (W/A). „Goldie: A Neurotic Woman [1972]“. Need More Love. A Graphic Memoir. London: MQ Publications, 2007. 140.

Im Laufe ihrer Karriere als Comickünstlerin hat Kominsky-Crumb das Thema der sexuellen Nötigung und Gewalt immer wieder aufgegriffen und damit nicht nur ihre eigenen traumatischen Erlebnisse verhandelt, sondern auch ein zeit- und generationsübergreifendes intermediales Netz zwischen ihren diversen Werken gesponnen und so dazu beigetragen, dieses äußerst sensible und zugleich gesellschaftspolitisch

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höchst relevante Thema präsent und sichtbar zu machen. So wird etwa The Bunch, ein weiteres grafisches Alter Ego der Künstlerin, in dem 1976 erstmalig erschienenen Comic „The Young Bunch. An Unromantic Nonadventure Story“, von ihrer ersten großen romantischen Liebe namens Al während eines Rendezvous vergewaltigt (Kominsky-Crumb 2018 [1976], 15–16). In der Kurzgeschichte „Take Me Already ... Pleeze! I Think? ... Maybe??“, die 2019 in der von Diane Noomin kuratierten preisgekrönten Comicanthologie Drawing Power. Women’s Stories of Sexual Violence, Harassment, and Survival veröffentlicht wurde, thematisiert Kominsky-Crumb erneut ihr traumatisches ‚erstes Mal‘ und reflektiert dabei zugleich ihre generationsübergreifende Vorbildfunktion als Comicpionierin: „On my book tour this year a lot of women asked me about my first sex experience story ... Most of them saw it as a rape“, schreibt Kominsky-Crumb im zweiten Panel des Kurzcomics, um dann im dritten Panel festzustellen: „These young women admire me!“ (Kominsky-Crumb 2019, 82). Darüber hinaus lassen sich auch die Themen Schwangerschaft und Muttersein wiederholt in zahlreichen Comics von Kominsky-Crumb ausmachen. In ihrem Debütwerk „Goldie“ findet sich beispielsweise ein Panel, in dem die Protagonistin berichtet, wie sie nach Abschluss der High School mit diversen Partnern Sex hatte und schließlich schwanger wurde (Kominsky-Crumb 2007 [1972], 142). In dem autobiografischen Comic „My Very Own Dream House“, publiziert zum ersten Mal 2018 in der Neuauflage der Love That Bunch-Anthologie, greift die Künstlerin das Thema (ungewollter) Schwangerschaft und Promiskuität erneut auf. Hier erfahren die Rezipierenden, dass Kominsky-Crumb während ihrer ‚Hippie-Phase‘ mit 18 Jahren schwanger wurde, nachdem sie mit „hundreds of guys“ (Kominsky-Crumb 2018, 188) Geschlechtsverkehr hatte und davon ausgegangen war, dass LSD ein probates Verhütungsmittel sei. Diese intimen und zugleich schockierenden Details werden in einem Panel vermittelt, welches Kominsky-Crumbs grafisches Alter Ego nackt und hochschwanger zeigt (Kominsky-Crumb 2018, 188). Auf der nächsten Seite erläutert das grafische Alter Ego der Künstlerin, dass sie im Juni 1967 einen Jungen zur Welt gebracht und dann zur Adoption freigegeben habe. Den Abschluss der Seite bildet ein Panel, in dem die Protagonistin die Rezipierenden direkt anblickt und in einer selbstermächtigenden Geste offen zugibt, dass sie keine ihrer damals getroffenen Entscheidungen bereut habe (2018, 189). Als „godmother“ der autobiografischen Underground-Comics antizipiert Kominsky-Crumb in ihren Werken nicht nur „many of the themes, styles, and concerns of later Jewish women cartoonists“ (Oksman 2021). Mit der offenen und schonungslosen Thematisierung alltäglicher sowie traumatischer Erlebnisse und persönlicher Erfahrungswerte sowie der unbeschönigten und tabubrechenden Inszenierung weiblicher Körperlichkeit, Sexualität, Mutterschaft und pervertierter Familienstrukturen setzt sie zudem den bekannten Slogan der zweiten Frauenbewegung „das Private ist Politisch“ konsequent in ihren widerspenstigen Comics

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um und trägt damit zu einer nachhaltigen, generations- und grenzüberschreitenden Erweiterung des Zeig- und Sagbaren im Medium Comic bei (Sina 2020).

Mutterschaft, Fehlgeburt und Metareflexion in Diane Noomin’s „Baby Talk“ Wie bei Aline Kominsky-Crumb handelt es sich auch bei der jüdisch-amerikanischen Künstlerin Diane Noomin um eine zentrale Wegbereiterin des autobiografischen Comics sowie des feministischen Undergrounds, die bereits in ihren frühen Arbeiten explizit auf ihre jüdische Identität bzw. ihre jüdische Familie verweist und diese thematisiert (Oksman 2021). Wie bereits erwähnt, kann etwa Noomins grafisches Alter Ego Didi Glitz als Verkörperung des vor allem im anglo-amerikanischen Raum etablierten Stereotyps der JAP – der Jewish American Princess gelesen werden.10 Wie Riv-Ellen Prell erläutert, zeichnet sich eine JAP in der Regel durch ihren ausgeprägten Materialismus, ihre Oberflächlichkeit, ihre Selbstbezogenheit und durch ihre finanzielle Abhängigkeit von ihrem Vater bzw. ihrem Ehemann aus. Darüber hinaus gilt eine JAP wahlweise als hypersexuell oder aber als unerotisch, frigide, faul und vorlaut (Prell 1996). Genauer gesagt handelt es sich bei Didi Glitz um „an over-thetop suburbanite single mother with a signature exaggerated blonde bouffant, whose sexual and romantic adventures are recorded in graphic, expressively stylized comics“ (2021), wie Tahneer Oksman zusammenfasst. In ihren Ausführungen zu Diane Noomin betont Oksman die Vorbildfunktion der jüdischen Künstlerin, die diese gemeinsam mit Aline Kominsky-Crumb erfüllt, wenn es um die unkonventionelle sowie tabubrechende Darstellung von Mutterschaft, Schwangerschaft oder aber der Thematisierung von Verlust und Fehlgeburt im Medium Comic geht: Many Jewish women cartoonists have explored motherhood from a variety of angles, a theme that can be traced back to Noomin’s and Kominsky-Crumb’s early works. The emphasis is often on the daily ins-and-outs of parenting [...]. In line with Noomin’s groundbreaking comics on her experiences of miscarriage, Jewish women cartoonists have also used comics to tell moving stories of infertility and loss. (2021)

 Das Stereotyp der Jewish American Princess wurde in der amerikanischen Nachkriegsliteratur der 1950er Jahre (von vornehmlich männlichen Autoren wie Philip Roth) etabliert und in den 1970er Jahren zunehmend negativ konnotiert. Zum Stereotyp der Jewish American Princess siehe u. a. Prell 1996 sowie Clementi 2012.

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Zu den von Oksman erwähnten „groundbreaking comics“ zählt sicherlich der 12seitige Schwarzweiß-Comic „Baby Talk: A Tale of 4 Miscarriages“, der erstmalig 1991 in dem von Noomin und Kominsky-Crumb herausgegebenen UndergroundMagazin Twisted Sisters11 und ein weiteres Mal 2012 in der Anthologie Glitz-2-Go veröffentlicht wurde. Mit „Baby Talk“ präsentiert Noomin ihren Leser✶innen eine „fertility herstory“ (Lightman 2021), die sich rund um das Thema Familienplanung, Kinderwunsch und Fehlgeburt dreht. Auf der ersten Seite des Comics ist zunächst eine intime Szene im Schlafzimmer des fiktiven jüdischen Paares Jimmy und Glenda zu sehen, die gemeinsam im Bett liegen und über Babynamen nachdenken, dabei ausgelassen singen und sich mit Kissen bewerfen (Noomin 2012 [1991], 90). Die zweite Seite des Kurzcomics beginnt mit einem prominent platzierten randlosen Panel, das sich über die gesamte Breite der Panelreihe erstreckt und visualisiert, wie die vor Glück strahlende Glenda mit Freund✶innen bzw. Familienmitgliedern telefoniert und sie über ihre Schwangerschaft informiert. Das Glück der Protagonistin wird jedoch jäh getrübt, als sie in der zweiten Panelreihe erwähnt, dass sie erst im zweiten Monat schwanger sei und ihre Freundin Chris sie darauf hinweist, dass sie mit der Verbreitung der frohen Kunde vielleicht besser noch etwas warten sollte, da die Gefahr einer Fehlgeburt im ersten Drittel der Schwangerschaft besonders hoch sei. Den Abschluss der Seite bildet ein Panel mit wellenförmigem Rand, das sich genau wie das erste über die gesamte Breite der Comicseite zieht und eine schlafende Glenda zeigt, die von ihrem ungeborenen Kind und dessen verschiedenen Entwicklungsstadien während der Schwangerschaft träumt (Noomin 2012 [1991], 91). Im ersten Panel der dritten Seite, das ebenfalls von einer Wellenlinie umrandet wird, ist schließlich der überdimensionierte Kopf des Fötus dargestellt, der in einer Gedankenblase seine Mutter mit den Worten adressiert „Sorry Mom ... I’m outta here ...“ woraufhin Glenda ein verstörtes „NO!“ ausruft und im nächsten Panel von Jimmy aus ihrem Alptraum geweckt wird (Noomin 2012 [1991], 91–92). In der darauffolgenden Panelreihe wird die Narration abrupt unterbrochen, als plötzlich nicht nur Didi Glitz, sondern auch die Künstlerin selbst, bzw. Noomins grafisches Ich, durch ein in die Comicseite gerissenes Loch heraustreten und so nicht nur intermediale Panelgrenzen, sondern auch Zeit-, Erzähl- und Realitätsebenen gesprengt und dabei zugleich neu miteinander in Beziehung gesetzt werden

 Im Laufe der Zeit kommt es zu Meinungsverschiedenheiten zwischen Kominsky-Crumb und den restlichen Wimmen’s Comix-Mitgliedern, die schließlich zum Ausschluss der Künstlerin aus dem Kollektiv führen. Gemeinsam mit Diane Noomin gründet sie daraufhin ein eigenes Comicmagazin, dessen Erstausgabe 1976 unter dem Titel Twisted Sisters erscheint (Gehring 2016, 51).

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Abb. 3: Durchbruch intermedialer Panelgrenzen. Diane Noomin (W/A): „Baby Talk: A Tale of 4 Miscarriages“ [1995]. Glitz‐2‐Go. Seattle: Fantagraphics Books, 2012. 92.

(Abb. 3).12 Im Rahmen einer Metareflexion über die bereits inszenierten Geschehnisse versucht Didi Glitz Noomin dazu zu überreden, die fiktionalen Charaktere Glenda und Jimmy zu verwerfen, ihr Schweigen zu durchbrechen und die Geschichte ihrer Fehlgeburten aus ihrer eigenen, persönlichen Perspektive vor einem öffentlichen Publikum (der Leser✶innenschaft) wiederzugeben und sich so dem Trauma zu stellen: „It’s your story ... Are you gonna let some cartoon yuppies cry cartoon tears

 Das grafische Ich von Diane Noomin sitzt auf ihrem Zeichentisch, auf dem wiederum genau die Comicseite zu sehen ist, aus der Noomin und Didi Glitz soeben herausgetreten sind.

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over your lost babies?“ (Noomin 2012 [1991], 92).13 Und tatsächlich wechselt auf der übernächsten Seite die erzählerische Instanz und nun ist es Noomin, die aus ihrer subjektiven Perspektive über ihre verschiedenen Fehlgeburten berichtet. Dass es sich hierbei um traumatische Erlebnisse für die Künstlerin handelt, wird u. a. durch die gewählte Schriftart symbolisiert, wenn ab Seite fünf die dunkel gehaltenen Anfangsbuchstaben der Panel-Beschriftungen – genau wie bereits der Untertitel des Comics – vor Blut zu triefen scheinen, das wiederum auf die Geschichte bzw. die Panels herabtropft und so bekannte Visualisierungskonventionen des Horrorgenres bedient (Abb. 4).14 Aber auch der aus Sicherheitsnadeln zusammengesetzte Titel-Schriftzug „Baby Talk“ ruft bereits negative Konnotationen hervor, wie Joanne Leonard ausführlich erläutert: „‚Baby Talk‘ is visually ‚barbed‘ by all the pointed ends of the safety pins depicted, and it contains a verbal barb as well, since the story ‚Baby Talk‘ is ‚all talk and no action‘ – that is, lots of words but, ultimately, no baby“ (2014, 80).

Abb. 4: Kinderwunsch, Horror und Trauma. Diane Noomin (W/A): „Baby Talk: A Tale of 4 Miscarriages“ [1995]. Glitz‐2‐Go. Seattle: Fantagraphics Books, 2012. 90.

 Für Sarah Lightman ähnelt das Eindringen von Didi Glitz und Noomin in die Comicdiegese ironischerweise der Ikonografie einer Kindergeburt – „the image of birthing a child“ (2013, 2016).  Das Blut symbolisiert hier zudem die Fehlgeburten (Leonard 2014, 80).

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Nach der vierten Fehlgeburt besucht Noomins grafisches Ich auf der 12. und letzten Seite der Kurzgeschichte schließlich eine feministische Klinik, die sich auf künstliche Befruchtung spezialisiert hat (Noomin 2012 [1991], 101). Aufgrund ihres Alters und ihrer (medizinischen) Vorgeschichte wird sie von der dortigen Ärztin davor gewarnt, wieder schwanger zu werden, da es höchst wahrscheinlich noch einmal zu einer Fehlgeburt kommen würde. Das nächste Panel zeigt eine im expressionistischen Stil gezeichnete Noomin, die mit weit ausgebreiteten Armen mitten auf der Straße die Worte „I can’t do this!“ (Noomin 2012 [1991], 101) ruft. Die gesamte Szenerie erinnert an das berühmte Gemälde „Der Schrei“ von Edvard Munch, wie auch Joanne Leonard bemerkt, wenn sie schreibt: Tellingly, she stands in the middle of a street, thus signaling Noomin’s refusal to make this turn in her story represent a merely personal, private moment of anguish behind closed doors. The setting resembles that of Edvard Munch’s The Scream (1893). It has a receding street and landscape as background; figures of others on the street hover at the left edge; and the weather (a blood-red sky in Munch’s painting, rain in Noomin’s comic) creates atmosphere. Noomin’s use of rain in her scene is also a possible substitute for (or magnification of?) tears. (2014, 81)

Die drauffolgende mittlere Panelreihe zeigt Noomin in einem Zwiegespräch mit Didi Glitz, die dem grafischen Ich der Künstlerin beruhigend zuspricht und sie darauf hinweist, dass eine Adoption eine mögliche Alternative wäre. Begleitet wird die Panelreihe von einem Spruchband am unteren Bildrand, in dem die Textzeile „You can’t always get what you wa-a-ant ...“ (Noomin 2012 [1991], 101) aus dem gleichnamigen Lied der Britischen Rockband The Rolling Stones aus dem Jahr 1969 geschrieben steht (Leonard 2014, 81). Im Epilog des Comics, der sich aus den letzten beiden Panels des Kurzcomics zusammensetzt, erfahren die Leser✶innen, dass sich Noomin und ihr Ehemann tatsächlich für eine alternative Familiengemeinschaft entschieden haben, da sie ihre 16-jährige Nichte bei sich aufgenommen haben. Von ihrem Kinderwunsch ‚geheilt‘ sehen wir im letzten Panel wie Noomins grafisches Ich mit Didi Glitz nackt unter der Dusche steht und erleichtert verkündet: „It’s gone ... The fetal attraction is gone!! It’s like a cancer was removed! Suddenly I feel lighter!!“ (Noomin 2012 [1991], 101).

Red Rock Baby Candy: Experimentelle Collage und (inter-)mediales Gefüge In ihrem jüngst erschienenen autobiografischen Debütwerk, dem „visual memoir“ (Oksman und Spector 2021) Red Rock Baby Candy (2021) thematisiert und verhandelt auch die in einer lesbischen Beziehung lebende jüdisch-kanadische Comi-

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ckünstlerin Shira Spector ihre persönlichen Erfahrungen in puncto Kinderwunsch, Trauer und Fehlgeburt. Der großformatige und als Hardcover-Edition publizierte Comic lässt bereits mit seinem aufwändig bunt verzierten Cover und dem darauf abgebildetem Selbstportrait der Künstlerin Reminiszenzen an den Einband von Aline Kominsky-Crumbs 2007 publiziertem Graphic Memoir Need More Love erkennen. In der Tat haben seit dem Erscheinen von Spectors Comic verschiedene Kritiker✶innen ‚Familienähnlichkeiten‘ zwischen den Werken der beiden Künstlerinnen ausgemacht. „Imagine Aline Kaminsky-Crumb [sic!] as a mixed-media collagist and you might come close to picturing Spector‚s psychedelic longform poem about her arduous path to pregnancy, her father‘s cancer, her sexuality“ (Hart zit. nach Spector 2020) schreibt etwa Michelle Hart in The Oprah Magazine. Und auch Tahneer Oksman fühlt sich mit Blick auf den unkonventionellen Stil der Künstlerin an die feministischen Underground-Comics von Kominsky-Crumb erinnert, wie sie in einem Interview mit Spector berichtet (Oksman und Spector 2021). Für Hillary Brown besteht die Traditionslinie, die sie zwischen den (queer-)feministischen Arbeiten von Spector und Kominsky-Crumb zieht, in ihrer schonungslosen Selbstdarstellung.15 Dementsprechend formuliert Brown: „Spector reminds me of Aline Kominsky Crumb [sic!] in the way that she’s unafraid to reveal her vanity, one of the hardest weaknesses to expose, but she’s both gentler and more probing, less of a goof“ (2021). In dem bereits erwähnten Interview mit Tahneer Oksman beschreibt Spector den kreativen Herstellungsprozess von Red Rock Baby Candy als „improvisational, related to quilt-making“ (Oksman und Spector 2021). Als Mutter und arbeitende Person, die sich ihrem künstlerischen Schaffen nicht Vollzeit widmen kann, musste Spector die Arbeit an ihrem „visual memoir“ immer wieder unterbrechen und die einzelnen Schichten und Versatzstücke der Narration nach und nach zusammensetzen (2021). Das so entstandene (inter-)mediale Gefüge bezeichnet Hillary Brown wiederum als experimentelle Collage (Brown 2021), die sich nicht nur verschiedener medialer Formen und Visualisierungstechniken bedient (Zeichnung, Malerei, Fotografie etc.), sondern auch unterschiedlicher Schriftarten und Zeichenstile sowie variierender Kolorierung: The book starts out in black and white, in panels that are more traditional but already seeping into one another. A flower overlaps two panels. A leaf inserts itself between two words of narration. Things are already a little messy. Pink enters around page 12, with flowers and dresses and lipstick, arteries and capillaries and uterine linings. Spector slowly adds in

 Auf Seite 11 ist beispielsweise ein in Schwarzweiß gehaltenes, grotesk überzeichnetes Selbstportrait der Künstlerin zu sehen, das von Spector mit den Worten „I am Frankenstein in a sundress“ (Spector 2021, 11) kommentiert wird. Auch die verschiedenen Textboxen, die mit Pfeilen versehen sind, die wiederum auf das Selbstportrait der Künstlerin zeigen, erinnern stark an die selbstreflexiven Darstellungen von Aline Kominsky-Crumb.

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other colors, one at a time. Her lines get more varied, with black ink wash. Her lettering not only scoots around the page like a living thing but changes how it presents itself: cursive, printing, spangled letters a [sic!] la Vegas, all caps, all lowercase, cross stitched, multicolored, and more. (Brown 2021)

Die von Brown beschriebene Assemblage, im Sinne eines sowohl fragmentierten als auch verwobenen Zusammenspiels verschiedener medialer Ebenen, lässt sich ebenfalls in der medialen Beschaffenheit des Comics selbst, in dessen Interaktion von Bild und Text, wiederfinden. Diese sei nicht nur ein grundlegendes Charakteristikum des Mediums, sondern mache den Comic zu einem ‚bisexuellen‘, sprich queeren interdisziplinären Medium, wie Shira Spector im Gespräch mit Tahneer Oksman ausführt (Oksman und Spector 2021).16 Die erzählte Zeitspanne in Red Rock Baby Candy umfasst circa zehn Jahre. Die einschneidenden und traumatischen Erfahrungen, die die Künstlerin in dieser Zeit durchlebt und mit Hilfe ihres „visual memoirs“ darzustellen und zugleich zu verarbeiten sucht, umfassen u. a. die wiederholten, erfolglosen Versuche durch künstliche Befruchtung schwanger zu werden sowie den Krebstod ihres Vaters. Aber auch das alltägliche Familien- und Liebesleben der Künstlerin sowie ihre queere jüdische Identität spielen im Rahmen der grafischen Erzählung immer wieder eine zentrale Rolle. Dabei entfaltet sich die Narration keineswegs linear oder chronologisch, sondern Gegenwart und Vergangenheit scheinen sich in einem heterogenen Zeichenspiel immer wieder zu überschneiden bzw. werden mit Hilfe formal-ästhetischer Mittel nebeneinandergestellt und übereinander gelagert. So ist beispielsweise in dem ersten Panel des Comics die detaillierte Zeichnung eines Tattoos mit dem Schriftzug „Sing“ zu sehen. Wie die über dem Panel angeordnete Textbox suggeriert, existiert diese Tätowierung jedoch noch gar nicht: „Truth is I don’t have this tattoo – yet“ (Spector 2021, 2). Der Comic beginnt also mit einer Zukunft, die noch gar nicht stattgefunden hat, mit einer queeren Zukünftigkeit, die traditionelle Vorstellungen von Zeitlichkeit und linearer Narration ins Wanken bringt.17 Der Comic beginnt ebenfalls mit dem Verlust eines Familienmitglieds, und zwar mit dem Tod des Vaters der Protagonistin, die sich schmerzhaft bewusst machen muss, dass sie nicht mehr 14, sondern 41 ist, und dass ihr Vater verstorben ist und nicht mehr wieder kommen wird. Gleichzeitig lässt sie ihn bzw. sein grafisches Alter Ego – zumindest für einen kurzen Augenblick – in ihren Zeichnungen

 Im Interview mit Tahneer Oksman wird Shira Spector hierzu wie folgt zitiert: „For me, it’s incredible to be working in comics, a medium that is so—I want to say, bisexual [laughs]. It’s interdisciplinary; it’s words and images, so that’s already mixed media in a sense“ (Oksman und Spector 2021).  Zum Konzept queerer Zeitlichkeit(en) siehe u. a. Edelman 2004, Halberstam 2005, Muñoz 2009, Freeman 2010 sowie Frankenberg 2021.

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Abb. 5: Non-Linearität und Fragmentierung. Shira Spector (W/A). Red Rock Baby Candy. Seattle: Fantagraphics Books, 2021. 3.

wieder auferstehen und zum Teil ihres (Familien-)Lebens werden, wenn sie sich etwa auf der zweiten Seite des Comics daran erinnert, wie er ihren Plattenspieler ausschaltete, als sie noch klein und beim Musik hören eingeschlafen war (Spector 2021, 2). Während Spector im ersten Panel der zweiten Seite ihren Vater proträtiert, wie er lächelnd am Steuer seines Autos sitzt, um sie als Teenagerin von einer Party abzuholen, ist in der unteren Hälfte der Seite die Abbildung eines Plattenspielers zu sehen, die sich aus zwei Panels zusammensetzt (Abb. 5). In der Textbox am oberen Rand des linken Panels sind die Worte „I miss him and I want him returned“ (Spector 2021, 3) über zwei Zeilen hinweg verteilt zu lesen, wobei das Wort „returned“ durchgestrichen ist und mit dem darüberstehenden Wort „back“ ersetzt wurde, sodass zunächst der Satz „I miss him and back I want him“ von den Rezipierenden gelesen wird.18 In ihren Ausführungen zu Red Rock Baby Candy beschreibt Hillary

 Im Vergleich zum rechten Panel ist die Schrift am unteren Rand des linken Bildes auffallend zittrig und wirkt damit wie der Schriftzug eines Kindes. Dadurch wird nicht nur das frühere Selbst der Protagonistin evoziert, sondern auch das durch den Tod ihres Vaters hervorgerufene Trauma

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Brown, wie der Lesefluss durch dieses Wortspiel unterbrochen wird und die Augen der Rezipierenden förmlich gezwungen sind, zwischen Anfang und Ende der Textbox hin und her zu springen: [Y]ou don’t realize how it’s supposed to read until you hit the last, struck-through word, at which point your eyes record-scratch back to the beginning of the text box. There’s an actual record player in the image below, as if to unearth that feeling. This constant revision, dragging the reader along for the ride, feels like being dipped into someone else’s thought process, and it’s crucial to Spector’s project, in which she does something similar with her life: reexamining it like a knitter scanning for a flaw, then picking up the missing stitches and inserting fixes. It’s not very linear but neither are humans. Time is real, but stories are things we make, and memories are stories we use to tell us about ourselves. (2021)

Die formal-ästhetischen Inszenierungsstrategien der Non-Linearität und Fragmentierung sind auch im weiteren Verlauf des Comics von zentraler Bedeutung, wenn sich Spector – teils in surrealen Flashback- und Traumsequenzen – wiederholt den Themen Fehlgeburt und Unfruchtbarkeit zuwendet und dabei auch ihre Rolle als Teil der „queer parenting community“ (Oksman und Spector 2021) reflektiert. Wie die Künstlerin im Gespräch mit Tahneer Oksman verdeutlicht, musste sie als unfruchtbare lesbische Frau gegen ein doppeltes Schweigen („a double silence“) und eine ganz spezielle Form der Stigmatisierung ankämpfen.19 Eine wichtige Inspiration für die Umsetzung und Verhandlung dieser Thematik im Medium Comic fand Spector wiederum in dem Kurzcomic „Baby Talk“ von Diane Noomin, wie sie Tahneer Oksman berichtet (Oksman und Spector). Genau wie in „Baby Talk“ sind auch in Red Rock Baby Candy wiederholt Szenen auszumachen, in denen die Protagonistin von ihren ungeborenen Kindern und (drohenden) Fehlgeburten träumt, die sie nicht loszulassen scheinen und sich immer wieder in die Geschichte einschreiben (Spector 2021, 36 und 45). Aber auch das Thema der sexuellen Gewalt hält Einzug in Spectors Comic, wenn sie in einem langen schriftlichen Exkurs darüber berichtet, wie sie zunächst

visualisiert und affektiv aufgeladen. Für den Hinweis auf die zittrige Linienführung danke ich Kalina Kupczynńska.  Diese spezielle Form der Stigmatisierung beschreibt Shira Spector im Gespräch mit Tahneer Oksman wie folgt: „Historically, LGBTQ + people have been denied the right, or the safety, to even start families. And if we do, we face violence and discrimination and the horror of having our children taken from us. Positive images exist for a reason. In the early aughts, when I was involved in the queer parenting community, there was just this overwhelming sense of shining, happy people having babies, as if to say, we may be queer but our reproductive systems are working just fine, thank you. Like no one wanted to mess up that rosy picture. But my reproductive system was not working at all. What I found, in this community where I would expect more voices and more bravery and more communication around things people usually don’t want to talk about, was just more silence.“ (Oksman und Spector 2021).

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Abb. 6: (Inter-)Mediales Gefüge. Shira Spector (W/A). Red Rock Baby Candy. Seattle: Fantagraphics Books, 2021. 89.

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als junges Mädchen wiederholt ‚begrapscht‘ und dann als Teenagerin von ihrem damaligen Freund sexuell genötigt wurde: „when you’re a teenage girl, getting molested in someone else’s basement is just practicing. Mazel tov!“ (Spector 2021, 85). Drei Seiten später erfolgt ein (erneuter) Zeitsprung in das Jahr 1985 und wir sehen in einem ganzseitigen Splash Panel wie die Protagonistin an einen Baum gelehnt über ihr ‚erstes Mal‘ und mögliche Verhütungsmethoden nachdenkt (Abb. 6). Über dem Kopf der Protagonistin ist ein in kräftigem Pink gezeichneter Querschnitt weiblicher Geschlechts- und Reproduktionsorgane (Uterus, Muttermund, Vagina) zu sehen. Mitten in der Gebärmutter befindet sich eine als toxisch markierte Spraydose, die beispielhaft für „explosive canisters of foam“ (Spector 2021, 89), also für chemische Verhütungsmittel steht, während vom linken Bein der Protagonistin ein in Pink gehaltenes Spruchband abgeht, auf dem in weißer Schrift „wisk eggs“ geschrieben steht. In ihren Händen hält das grafische Ich der Künstlerin ein Heft auf dem „Call us dykes“ zu lesen ist. Ihr gegenüber ist ein Grabstein mit einem Davidstern und der Inschrift „Nice Normal Girl 1968–1985“ platziert. Über die Assemblage verschiedener Versatzstücke und medialer Artefakte wird hier nicht nur beispielhaft ein relationales bzw. (inter-)mediales Gefüge zwischen Spectors Verhandlung queerer jüdischer Identität, Sexualität, Weiblichkeit und potenzieller (Un-)Fruchtbarkeit etabliert, sondern auch „eine Simultanität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“ (Glitz 2019, 9) evoziert, die Red Rock Baby Candy zu einem grenz- und generationsübergreifenden ‚queeren Archiv‘20 werden lässt, welches „über das Vermögen [verfügt], durch formal-narrative, [und] medienästhetische Potenziale zu sagen, was anderweitig nicht möglich wäre“ (Glitz 2019, 8–9).

Schlussbemerkungen: Jewish Un/Motherhood In ihrem autobiografischen, multimedialen Projekt Motherhood/Unmotherhood, das sowohl Gemälde, Illustrationen, Animationen und Comics umfasst, setzen sich die beiden jüdischen Künstlerinnen Sarah Lightman und Emily Steinberg mit den soziokulturellen Erwartungen auseinander, mit denen sich jüdische Frauen konfrontiert sehen, wenn es um das Thema Familie und Mutterschaft geht. Denn  Wie Julia Glitz beispielhaft anhand der Analyse von Alison Bechdels Comics ausführt, entstehen queere Archive „durch alternative Archivsammlungen, queere Lektürestrategien, durch Einbeziehung unkonventioneller Speichermedien, die flüchtig sind und sich durch ihre Affektstrukturen auszeichnen: Medien also, die in konventionellen Archivsammlungen nur selten Berücksichtigung finden, da sie ob ihrer Inhalte und Formate dem Feld des Privaten oder der low culture zugewiesen werden. Ihre Botschaften sind subtil und uneindeutig. Sie sind angewiesen auf einen in Spuren angelegten Kontext affektiver Resonanz“ (Glitz 2019, 2).

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Mutterschaft, so betonen die beiden Künstlerinnen, gehöre zu den zentralen Grundsätzen jüdischen Lebens. Sei es, dass die wesentliche Rolle ‚der Frau‘ traditionell in der (biologischen) heterosexuellen Reproduktion gesehen oder aber die Überwindung der Shoah eng mit dem Aspekt der Fortpflanzung und dem damit verbundenen Überleben des jüdischen Volkes in Verbindung gebracht würde (Lightman und Steinberg 2008). Doch was passiert, wenn die Erfahrung Mutter zu sein, eine (biologische) Familie zu haben, alles andere als erfreulich ist? Oder aber der Kinderwunsch unerfüllt bleibt und alternative Formen der Lebensgemeinschaft gewählt werden, die dem traditionellen Bild der biologischen Kernfamilie bzw. heterosexuellen Partnerschaft entsagen? All diesen persönlichen und zugleich tabubrechenden Themen widmen sich die drei jüdischen Post-/Underground-Künstlerinnen Aline Kominsky-Crumb, Diane Noomin und Shira Spector, deren Comicschaffen im Rahmen des vorliegenden Beitrags beispielhaft als Teil einer (queer-)feministischen Comickultur beleuchtet wurde. Dabei wurden schlaglichtartig verschiedene ‚Familienähnlichkeiten‘ herausgearbeitet und verdeutlicht, wie die Werke der Künstlerinnen im Rahmen eines (inter-)medialen Gefüges in einem grenz- und generationsübergreifenden Dialog miteinander stehen.

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Joanna Nowotny

Es ist angerichtet! Familienstrukturen als Comicbausteine bei Alison Bechdel und Nando von Arb Eine Familie sitzt an einem Tisch. Wir lesen die relativ realistisch gezeichnete Szene sofort in Einklang mit traditionell-stereotypen Familienmodellen: Die Mutter serviert das Essen den zwei Kindern und dem Vater. Nur eine fehlt – die Tochter liegt in der „privacy“ der Toilette auf dem Boden und zeichnet (Bechdel 2013, 142–143). Die Mutter ruft sie, denn am Familientisch darf niemand fehlen; mit dem Essen wird erst begonnen, wenn alle versammelt sind (Abb. 1). Eine andere Familie sitzt an einem Tisch: drei Kinder mit eierförmigen Köpfen, fast identisch gezeichnet. Dazu vier weitere Figuren, eine skurriler als die andere: Da ist, von links nach rechts, ein einem Harlekin gleichender Mann mit überlangen Beinen und einer Art Beret; eine Art Fuchs in einem bedruckten Kleid; ein Vogel, die Flügel gefaltet vor sich auf dem Tisch; und zuletzt eine Art Felsen mit winzigem Kopf und riesigen Händen. Der Harlekin-Mann erkundigt sich, ob alle „schlechte Laune“ haben (Abb. 2), dann steht er auf, zieht die Taschen seiner Hose nach außen und verkündet, dass es sich hier um die Ohren eines Elefanten handle. Er greift in seinen Hosenschlitz und imitiert den Rüssel. Nun ist ein Großteil der Anwesenden aufgestanden: Die Eierkinder scharen sich um den Harlekin-Mann und lachen, die Vogel-/Mutterfigur ruft zwar „Igitt!“, aber auch sie lässt ein „Hihi“ vernehmen (von Arb 2020, 208–209). Erst nach diesem Intermezzo versammelt man sich wieder, der Fuchs findet die Vorführung „unkultiviert“ und „grossartig“, der Felsen hingegen fand „solches Zeug [...] noch nie amüsant“, worauf ihn der Harlekin-Mann „Arschloch“ nennt (von Arb 2020, 210). Verschiedene Arten von Tischen sind kulturell unterschiedlich kodiert; sie geben einen Rahmen für Handlungen vor und an ihnen und durch sie können normative soziale Institutionen gefestigt oder subvertiert werden. Sara Ahmed schreibt in Queer Phenomenology: „what we do with the table, or what the table allows us to do, is essential to the table [...]. Doing things ‚at‘ the table is what makes the table what it is“ (Ahmed 2006, 45). Ein Beispiel eines solchen Tischtyps, der Handlungen kanalisiert und Exklusionen oder Inklusionen produziert, wäre eben der Familientisch, der in den zwei Szenen wortwörtlich im Zentrum steht. Der erste Familientisch entspricht dem konservativ-bürgerlichen Bild der Kleinfamilie und die Mutterfigur waltet als seine Hüterin; der zweite Familientisch hingegen ist geprägt durch ein lustvolles Chaos (mit teilweise aggressiven Untertönen) mit einer Mutterfigur, die spielerische, nicht normative Momente geschehen lässt. https://doi.org/10.1515/9783110786392-012

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Abb. 1: Die Künstlerin und der Familientisch in Are You My Mother? Alison Bechdel. Are You My Mother? Boston: First Mariner Books Edition, 2013. 142.

Die Szenen illustrieren, wie grundverschieden die Familienbilder sind, die in den zwei hier zur Diskussion stehenden Graphic Novels vermittelt werden: Alison Bechdels Comic Drama (so der Untertitel) Are You My Mother?, der weniger bekannte und seltener diskutierte Nachfolger ihres hochgelobten Werks Fun Home, behandelt die Beziehung der Künstlerin zu ihrer Mutter. Die erwachsene Bechdel kämpft mit den Folgen eines Familienlebens, das erbarmungslos auf Konformität ausgerichtet war, mit Eltern, die um jeden Preis die Fassade eines bürgerlichheteronormativen Familienbildes aufrecht erhalten wollten.1 Nando von Arb dagegen zeichnet in 3 Väter die unkonventionelle Patchwork-Familie – drei Kinder,

 Die Thematik wurde im Kontext von Fun Home verschiedentlich diskutiert – einige Forschungsverweise sowie eine eigene Auslegung finden sich bei Froese (2020, 257).

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Abb. 2: Patchwork-Familie am Tisch in 3 Väter. Nando von Arb. 3 Väter. Zürich: Edition Moderne, 2020 [2019]. 204.

eine Mutter und drei Vaterfiguren –, in der er groß wurde, mit all ihren schönen und herausfordernden Seiten. Bei Bechdel steht eine Mutter im Zentrum, doch das Verhältnis ist fundamental geprägt durch den Dritten im Bunde, den Vater, bei von Arb sind die Väter titelgebend, doch diese gravitieren um die Mutterfigur.

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Wenn man Familien als Netzwerke versteht,2 so weisen sie verschieden starke Beziehungsachsen auf – und bei Bechdel sind die Beziehungsachsen zu den Eltern die mit Abstand stärksten, während bei von Arb eine Multiplizität von verschieden ausgeprägten Beziehungen dargestellt wird. In beiden Graphic Novels geht es auch um familiäre Rollenvorstellungen, um das ‚Normale‘ sowie dessen Sub- und Pervertierung. Im vorliegenden Aufsatz wird untersucht, wie familiäre Beziehungen auf der medialen Ebene dargestellt werden, auf welche Diskurse sich die Graphic Novels beziehen und welche medienästhetischen Merkmale sie aufweisen. Zur Debatte steht die Remediation persönlicher Dokumente sowie psychoanalytischer Diskurse von Denker✶innen wie Jacques Lacan, Alice Miller und Donald Woods Winnicott, die Valenz von Vaterfiguren und innerfamiliärer Beziehungen sowie die verkörperlichte Natur von Rollenbildern. Die jeweiligen Formen, die Familienbilder in den beiden Graphic Novels annehmen, können als geometrische Formationen – wie ein Dreieck oder ein Rhizom – imaginiert werden, und diese prägen das Arrangement der Figuren auf den Seiten.

Psychoanalyse remediiert Are You My Mother? ist eine künstlerische Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit und gleichzeitig der Versuch einer Selbstdiagnose und Therapie.3 Die erwachsene Alison Bechdel kämpft mit psychischen Problemen und blickt zurück auf ihre Kindheit und die sie prägendsten Beziehungen – hier zur Mutter, in Fun Home zum Vater –, um sich durch deren Analyse selbst zu heilen. Familiendynamiken sind in Are You My Mother? zuerst einmal problembelastet, da sie die erwachsene Künstlerin quälen und Verhaltens- sowie emotionale Muster herbeigeführt haben, die sie einschränken. Nach dem Suizid des Vaters, dessen in Fun Home ambivalente Umstände erst in Are You My Mother? aufgelöst werden, fällt Bechdel in eine Depression und begibt sich ein erstes Mal in Therapie, eine Therapie, aus der in letzter Folge auch der Comic resultiert: „I didn’t consider myself the sort of person who needed therapy. But something frightening had been going on“, erklärt die Caption, und das

 In der Soziologie sind solche Ansätze verbreitet; vgl. z. B. den Forschungsbericht bei Bierschock (1996, 15–32).  Vgl. zur Therapie-Thematik Magnet 2017. Dieser quasi-therapeutische Ansatz wurde teilweise kritisiert und Are You My Mother? in dieser Hinsicht negativ gegen Fun Home ausgespielt; die Rezeption und ihre gendertheoretischen Implikationen werden diskutiert bei Barounis (2016, 149–151).

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Panel zeigt Bechdels Avatar4 sitzend auf einem Sofa in einer Praxis. „Everything’s gone flat. Nothing interests me, I’ve lost my appetite. For everything“.5 Unmittelbar nach dem Besuch lichtet sich die Depression, und ein Panel bildet einen Tagebucheintrag Bechdels vom 29. Mai 1987 ab, in dem sie zugibt, dass sie sich wünscht, die Therapeutin Jocelyn wäre ihre Mutter (Abb. 3).

Abb. 3: Das therapeutische Tagebuch in Are You My Mother? Bechdel, 2013. 51.

 Der Avatar wird in der Folge einfach als ‚Alison Bechdel‘ bezeichnet – dies darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass er natürlich eine künstlerische Konstruktion ist, die Authentizität und Unmittelbarkeit nur simulieren kann.  Hervorhebung im Original. Barounis diskutiert die Depressionsthematik und attestiert Bechdel in Are You My Mother? einen „distinctly crip-feminist literary style“; vgl. Barounis 2016, 157, zu Are You My Mother? allgemein 148–158.

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Die persönlichen Dokumente erfahren hier eine Remediation, werden also „the formal logic by which new media refashion prior media forms“ unterworfen (Bolter und Grusin 1999, 273). Dies forciert den autobiografischen Charakter der Graphic Memoir. Die zweite Szene des Comics bereitet schon den Boden für eine nicht-fiktionale Rezeptionshaltung: Bechdels Avatar übt im Auto das Gespräch mit der Mutter, in dem sie ihr sagen will: „I’m writing a book about dad“ (5). Sie imaginiert die Reaktionen der Mutter; wie die Caption die Lesenden informiert, hat die Figur „some practice in telling my mother difficult things“ (5): „I felt kind of like I did twenty years earlier, when I was preparing to tell her I was a lesbian“ (6). Zum ersten Mal wird Bechdels Queerness hier mit der Mutter-Beziehung in Verbindung gebracht. „This story – a memoir about my mother – could begin with either of those scenes“, mit einer Traumdarstellung, die das Buch eröffnet, oder dem vorgestellten Gespräch; „perhaps the real problem with this memoir about my mother is that it has no beginning“ (6). Die Erzählstimme sagt also deutlich an, dass es sich bei Are You My Mother? um einen nicht-fiktionalen Text in dem Sinne handelt, dass die Referenz die außertextuelle Realität ist und das „I“ und der gezeichnete Avatar für Bechdel selber stehen. Doch so glatt diese Identifikation scheint, so komplex ist sie bei genauerer Analyse. Elisabeth El Refaie hat die Multiplizität des „authorial self“ in Fun Home analysiert: The living, breathing person who created Fun Home, for example, is clearly not identical with the narrator, the timeless, disembodied ‚voice‘ telling the story. The autobiographical protagonist is also a literary construct, which is made up of several earlier incarnations of the author’s self, including the little girl. This young Alison clearly lacks the knowledge and benefit of hindsight the narrator enjoys [...]. [T]he authorial self in autobiographical comics can thus be characterized as tacitly – or sometimes quite blatantly – plural. (El Refaie 2012, 52)

Diese Analyse lässt sich auf Are You My Mother? übertragen; in der Szene im Auto klaffen das gezeichnete „I“ und die Erzählstimme, die mehr weiß als die Figur, deutlich auseinander. Und der Effekt des Anfangs problematisiert die scheinbar einfache ‚autobiografische‘ Anlage auch insofern, als durch die MetaAuseinandersetzung mit dem Schreiben der Graphic Memoir deren Gemachtheit sowie die Unmöglichkeit eines objektiven, neutralen Blicks auf das eigene Leben und die es bestimmenden Beziehungen betont wird. Die scheinbar einfache ‚Authentizität‘ und ‚Unmittelbarkeit‘ des Tagebucheintrags steht so in einem Spannungsverhältnis zur höchst komponierten und reflektierten Anlage der Graphic Memoir mit ihren zahlreichen literarischen und transmedialen Anspielungen;6 der sorgfältig (ab)gezeichnete Eintrag ist Teil eines komponierten Textganzen, mit dem bestimmte Rezeptionseffekte erzielt werden.  Z. B. auf Virginia Woolf; vgl. dazu u. a. Barounis 2016, 140–141; Clewell 2017, 63–65.

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Die Remediation persönlicher Dokumente7 ist nur eine Spielart von medialer Übersetzung bei Bechdel. Genauso zentral für die Anlage von Are You My Mother? ist die Remediation psychologischer und psychoanalytischer Diskurse und Werke, die als erklärende Modelle für die eigenen Erlebnisse und Probleme dienen. Are You My Mother? ist somit auch ein Ritt durch psychoanalytische Analysen von Mutter-Kind-Verhältnissen (vgl. dazu auch Clewell 2017), und schon der Inhalt des Tagebucheintrags, in dem Bechdel sich wünscht, die Therapeutin wäre die Mutter, gehorcht anscheinend einem klassischen psychoanalytischen Postulat, dem der Übertragung von problembelasteten Beziehungen und besonders Elternbeziehungen auf den✶die Therapeut✶in. Bechdel bezieht sich in Are You My Mother? u. a. auf Sigmund Freud, Jacques Lacan, Alice Miller und ganz besonders auf Donald Woods Winnicott, dessen Theoreme den einzelnen Kapiteln ihre Titel und Themen geben.8 Diese Psychoanalytiker✶innen sind sich einig darin, dass das Unbewusste durch Familiendynamiken geprägt ist, die die meisten Menschen seit der frühsten Kindheit erleben. Jedes Kapitel von Are You My Mother? beginnt mit einem Traum, der analysiert wird; der Comic hat Züge eines Traumtagebuchs. Damit wird ein Primat des Traums über die Wachwelt etabliert, des Unbewussten über das Bewusste. In Freuds Traumdeutung, auf die auch explizit verwiesen wird (Bechdel 2013, 42), sind Träume ein Mittel zur Selbstanalyse, die Heilung verspricht – dies passt natürlich zum therapeutischen Ansatz der Graphic Novel. Froese hat Bechdels psychologischen Zustand in Fun Home – respektive den Zustand ihres Avatars im Comic – mit Halberstams Queer Art of Failure in Verbindung gebracht, und Ähnliches ließe sich über Are You My Mother? sagen: „the enduring affective suppression that Alison experiences, especially given the manner of depiction amounts to a ‚narrative without progress,‘ or a queer failing“ (Froese 2020, 263). In dieser Hinsicht löst die Selbstanalyse ihr Versprechen nicht ein, und Clewell argumentiert zurecht, dass „Bechdel’s memoir articulates the efectiveness – and limits – of psychoanalysis as a therapeutic tool“ (Clewell 2017, 53). Am Schluss der Erzählung aber schließt Bechdel zumindest innerlich Frieden; die Caption des letzten Panels lautet: „There was a

 Ausführlich wird Bechdels Arbeit mit ihrem persönlichen (Familien-)Archiv aus Bildern und Texten und deren genaue Reproduktion auf den Comicseiten bei Chute 2010 diskutiert, 175–218, mit einem Fokus auf Fun Home.  Clewell argumentiert, dass der Comic die Lesenden „in the role of analyst“ versetze „encouraging us to analyse Alison, a task that is facilitated and rendered challenging by the tensions that Bechdel creates through juxtaposing words and images in single panels. Moreover, the gutters separating panels require us to take an active role in reading across these blank spaces to construct the book’s meaning. Graphic memoir, in other words, is especially well suited to creating an experience of the psychoanalytic process for the reader“ (Clewell 2017, 52).

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certain thing I did not get from my mother. There is a lack, a gap, a void. But in its place, she has given me something else. Something, I would argue, that is far more valuable. She has given me the way out“ (288–289). Dieser „way out“ bezieht sich hier auch auf die künstlerische Arbeit als Comicautorin, auf Bechdels Kreativität, die sich in der textuell-visuellen Selbstanalyse entlädt. Die familiäre Konstellation im Zentrum von Are You My Mother? ist, in psychoanalytischen Begriffen, ein Teilkonflikt in der Dreiecksanordnung Vater – Kind – Mutter. Nach Fun Home, der Graphic Memoir über den Vater und seine nicht offen gelebte Queerness (vgl. Quinan 2017), fokussiert Bechdel hier die Beziehung zur Mutter, also eine duale Konstellation. Doch der Vater bleibt ein zentraler Bezugspunkt, auch wenn er die Comicseite nicht in Beschlag nimmt. Exemplarisch lässt sich dies an einer Doppelseite zeigen, deren Fokus Bechdels hermetische, doch durch den Vater gestörte Mutter-Beziehung ist: Bechdel erzählt, dass sie immer von einer Fotografie fasziniert war, die sie als lachendes Baby in den Armen der Mutter zeigt – „I didn’t realize until relatively recently that it was one of a sequence“, bekennt die Erzählstimme in einem Panel, in dem die Fotografie sorgfältig remediiert wird (Bechdel 2013, 31). Die folgende Doppelseite zeigt fünf Fotografien sequenziell arrangiert: „I don’t have the negatives, so there’s no way to know their chronological order, but I’ve arranged them according to my own narrative“ (Abb. 4). Die Doppelseite fungiert so auch als Reflexion über das sequenzielle Erzählen überhaupt und über die psychologisch-intellektuelle Leistung, die nötig ist, um Bilder gedanklich in eine sequenzielle Ordnung zu bringen – eine Leistung, die Scott McCloud bekanntermaßen als „closure“ (erste Nennung McCloud 1994, 63) bezeichnete und als grundlegend für das Medium Comic verstand. Die Fotos scheinen auf einem Schreibtisch zu liegen, umgeben von Zeichenmaterial, Pinseln, einem Füller, einem Gummi, einem Lineal, alles bereit für die Remediation, die in der Graphic Memoir erfolgt. In den Fotos imitiert das Baby die „expression and the shape“ des Mundes der Mutter, und Bechdel remediiert als ‚Erklärung‘ dieses Phänomens einen Ausschnitt aus Donald Winnicotts Text The Ordinary Devoted Mother, in dem der Psychologe über eine Phase nach der Geburt eines Babys spricht, „in which to a large extend she is the baby and the baby is her“. Die ganz partikuläre eigene Mutter, auf Fotografien gebannt, wird hier zur abstrakten „mother“ der Psychoanalyse, zum allgemeinen „her“ eines letztlich medizinischen Diskurses, und eine solche Verallgemeinerung, die gerade gegenüber Frauen auch auf repressive Weise instrumentalisiert wurde, wird von Bechdel kreativ eingesetzt, angeeignet, ‚remediiert‘ im Rahmen des Projekts der eigenen Heilung und Befreiung. Nur die letzte Fotografie fällt quasi aus dem Rahmen dieser intimen Beziehung, wie sie die Psychoanalyse Winnicotts präfiguriert hat, denn dort blickt das Baby aufmerksam oder auch erschreckt in die Augen der Lesenden: „In my arrangement of these photos, the rapport between mom and me

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Abb. 4: Galerie der frühesten Kindheit in Are You My Mother? Bechdel, 2013. 32–33.

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builds until I shriek with joy. Then the moment is shattered as I notice the man with the camera. At three months, I had seen enough of my father’s rages to be wary of him“. Der Vater ist abwesend, außerhalb des Bildes, der unsichtbare dritte Eckpunkt des Dreiecks – und doch zentral.

Familienrhizome und psychoanalytische Restbestände In der Szene aus Are You My Mother?, mit der dieser Aufsatz begann, imaginiert die junge Alison Bechdel ein medizinisch-autoritäres Szenario: Das Bild, das sie in der Toilette im Geheimen zeichnet, bildet einen „doctor examining a little girl“ ab – „examining, in particular, her genitalia. No – cleaning her genitalia. I remember writing a caption: ‚Doctor cleaning a little girl’s tee-tee place.’ [...] / In this gynecological fantasy, I was both the powerful male subject and the vulnerable female object, though I would not have admitted the latter.“ (Bechdel 2013, 143) Das Kind erforscht Macht- und Genderdynamiken und deren Verflechtung im Medium der Zeichnung und erlebt dies als aufregende Befreiung; „I was amazed [...] by my ability to imagine such an unimaginable scenario. In fact, that was part of my excitement – realizing the apparently unlimited potential of my own mind to invent“ (143). In der Deutung der erwachsenen Alison war diese Exploration – und damit auch die Entdeckung des Potenzials der Kunst – für die Mutter so inakzeptabel, dass sie einen Bruch im liebevollen familiären Verhältnis herbeiführte, denn die Mutter entsorgte die Zeichnung und hörte auf, Alison einen Gutenachtkuss zu geben (143–144). Auch in 3 Väter wird an einer Stelle ärztliche Autorität und ein normativdisziplinierender Blick auf den Körper eines vergleichsweise machtlosen Subjekts (oder, in Bechdels Worten, eben Objekts) in Szene gesetzt, und in der Szene wird ein psychoanalytischer Subtext greifbar. Solche Texte und Diskurse werden hier allerdings nicht remediiert, nicht explizit behandelt, sondern auf der Basis von Vorwissen im sprachlichen Material des Comics und der Inszenierung der Szene(n) greifbar. Eine riesenhafte Doktorfigur, deren Gesicht nie ganz abgebildet ist, spricht über den winzigen Protagonisten auf der Liege vor ihm: „Also, er könnte grösser sein.“ Nando fragt: „Mein Schnäbeli?“ / „Nein, Du!“. Der Arzt hört das Schnäbeli ab – eine absurde Versuchsanordnung, die sich wohl der Tatsache verdankt, dass das Stethoskop quasi sinnbildlich für den Arztberuf steht (vgl. Wolff 2018) – und urteilt: „Ich muss dir leider mitteilen, dass dein Schnäbeli stark entzündet ist. Wir müssen es abschneiden“ (von Arb 2020, 130–134). Durch die riesenhafte Figur des Arztes wird nicht nur ein fundamentales Konzept der Psychoanalyse überspitzt

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in Szene gesetzt, die Kastrationsangst, ausgelöst durch eine übermächtige ‚Vaterfigur‘, sondern auch die normative und gewaltvolle Natur von medizinischem Wissen und einem Gesundheitsregime, dem schon Kinder unterworfen sind. Gleichzeitig ironisiert 3 Väter aber solche Strukturen insofern, als die Arztfigur sich als völlig harmlos erweist – eigentlich produziert der Protagonist eine Art ‚Freud’schen Verhörer‘, da, wie der leibliche Vater im Auto erklärt, sie „doch nicht deinen Penis ab[schneiden]“, sondern „nur deine Vorhaut“ (136). Und auch das Konzept des „Phallus“ wird einige Seiten weiter ironisiert, wenn der felsartige Mann mit Namen Zelo den Protagonisten tröstet, sein „frisch beschnittene[r] Penis, auch Phallus genannt“ sei ganz normal und „vermutlich auch funktionstüchtig“: „Wie schreibt man Falus?“ – „Keine Ahnung“ (146–147). Der Text weiß hier mehr als eine Figur, da das Wort zuerst richtig geschrieben wird. Wenn eine Form der Kastrationsangst hier verschoben über den Arzt dargestellt und ironisiert wird, so werden ödipale Strukturen in der Familie selber konterkariert und spielerisch außer Kraft gesetzt. Die Pluralität an Vaterfiguren ersetzt eine Dreiecksstruktur durch eine verschlungene Masse, durch eine Art Rhizom im Sinne von Deleuze und Guattari, also durch multiple, heterogene und hybride Formen der Verbindung, die das binäre und hierarchische Schema der Psychoanalyse (Liebe zwischen Sohn und Mutter; Konkurrenz zwischen Sohn und Vater) in Frage stellen. Das Titelbild ist hier programmatisch: Zwar sind nur die drei Väter abgebildet, und nicht der Rest der Familie, der das Beziehungsgefüge noch einmal verkompliziert, aber auch die drei Väter formen kein Dreieck. Stattdessen brechen sie mit Händen, Füßen, Köpfen und anderen Körperteilen aus einem Rahmen aus, den die Zeichnung setzt – je eine Linie unten und oben erinnert an eine Panelgrenze oder an einen Architrav und eine Plinthe –, sie halten sich umschlungen und überlagern sich (Abb. 5). Die Masse hat kein eindeutiges Zentrum und keine klaren Achsen, da alle mit allen verbunden sind und Beziehungen sich überlagern; eine Diagnose, die sich auf die gesamte Familie ausdehnen lässt. So ist beispielsweise der Protagonist mit den Vätern nicht nur direkt und/oder vermittelt über die Mutter verbunden, sondern auch vermittelt über die Geschwister: Kiko, der Harlekin-Mann, ist der leibliche Vater seiner Schwester und in einer Szene möchte er Kiko ohne die Schwestern treffen, um nicht um dessen Aufmerksamkeit konkurrieren zu müssen (157). Die Kinder zusammen mögen zwar eine Art Einheit bilden, was visuell durch ihre eierförmige Gestalt – sie gleichen sich wie ein Ei dem anderen – verdeutlicht wird. Sie verbünden sich in schwierigen Zeiten und verfolgen gemeinsame Projekte; so zimmern sie zum Beispiel absurderweise einen Sarg, in dem sie wie in einem Auto sitzen (26–27) – eine Wiederverwörtlichung der Redewendungen „wieder ein Nagel mehr in meinem Sarg“ und „das hat mich wieder eine Stunde näher an den Tod gebracht“ (24–25), durch die die Mutter ausdrückt, dass es ihr laut Erzählstimme

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Abb. 5: Verschlungene Körper in 3 Väter. Von Arb, 2020. Titelseite.

„mega scheisse“ ging (ebd.). Dennoch sind die Geschwister distinkte Individuen, die sich nicht zuletzt in Sachen sex and gender voneinander unterscheiden.9 Ganz anders werden die Geschwister, ihre Beziehungen zur Protagonistin und ihre Rolle im Kinder-Eltern-Gefüge in Are You My Mother? dargestellt: Bechdels Geschwister mögen zwar ab und an in Bildern vorkommen, ihnen kommt aber keine narrative Rolle zu und sie melden sich kaum je zu Wort;10 im auf die Mutter-Tochter-Beziehung fokussierten Blick, der geschult ist an der klassischen Psychoanalyse, sind sie vernachlässigbar. Was in 3 Väter von der Psychoanalyse allerdings übrig bleibt, ist ein Begehren der Mutter gegenüber. In einer spielerisch-absurden Sequenz sucht der Protagonist

 So wirft die Schwester dem Protagonisten an einer Stelle vor, ein Sexist zu sein (96–97).  Eine Ausnahme findet sich in einer Szene, in der alle Geschwister von der Mutter Gutenachtgeschichten verlangen (Bechdel 2013, 134–135).

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einen neuen Partner für die Mutter, was ihn unter anderem zu einer nackten Männerstatue führt: „Haben Sie bereits eine Frau?“ Zuletzt fragt er sein eigenes Spiegelbild, das in Spiegelschrift zurückfragt: „Hast du eine Frau?“. „Manchmal wollte ich meine eigene Mutter heiraten“, bemerkt die Erzählstimme (99–100). Während der Spiegel auf Bechdels Titelblatt nicht nur auf die Konformität einer Frauenrolle verweist, die auf Äußerlichkeiten bedacht ist, sondern auch die narzisstische Komponente der Mutter-Tochter-Beziehung in den Blick nimmt und dabei möglicherweise das Spiegelstadium Lacans mitdenkt, ist von Arbs Spiegel das Emblem einer Usurpation der Vaterrolle oder besser Liebhaberrolle, die hier vakant geworden ist. Der Fuchs und der Harlekin mögen Väter für den Protagonisten sein, aber sie sind keine erotischen Partner für die Mutter, und der Junge setzt sich hier selber an die Stelle eines potenziellen neuen Partners.

Wortkörper und Rollenbilder Die Multiplizität und Hybridität der Beziehungen, die in 3 Väter dargestellt sind, wird auf der ikonischen Ebene wirksam. Die Figuren sind hybride, ähneln Tieren – wie der leibliche Vater oder die Mutter – oder Objekten – wie der Fels Zelo oder Kiko, der an einer Stelle zu einer Art Kreisel wird, um den die Kinder sich drehen (59). Ausgedrückt wird so auch die Fähigkeit, neue Arten von Beziehungen einzugehen, denn die Grenze zwischen dem Menschlichen und nicht-Menschlichen wird permeabel. Im Sinne einer posthuman ausgerichteten Comicforschung erstreckt sich die Vielfalt an Beziehungen, die die Dreiecks- und Dualkonstellationen der klassischen Psychoanalyse ersetzt, also über den Bereich des Menschlichen hinaus. Oder, anders herum gedacht: Durch Bildlichkeiten, die Menschen Tieren und Objekten ähnlich werden lassen, wird eben diese Vielfalt ikonisch wirksam. Menga und Davies haben argumentiert, dass sich „the infrastructural forms and rhizomatic assemblages“ von Comics, also ihre Fähigkeit, polyphonische und „plurivectoral“ Narrative zu entwickeln, besonders eignen für posthumane Erzählformen: „It is this ability to build new narrative structures that entwine the non-human with the human“ (Menga und Davies, 671), und von Arb scheint dies ernst zu nehmen. Eine wichtige Dimension dieser ikonischen Hybridität ist die Assimilation von Körpern an Buchstaben.11 Tim Ingold ebnet in seiner Bildtheorie den Unterschied zwischen einer gezeichneten und geschriebenen Linie ein; Schreiben ist ein „special case of drawing“ (Ingold 2007, 122), und somit hat Schrift immer eine  Bei Bechdel fungiert die Handschrift der Tagebucheinträge als Markierung der Körperlichkeit der Schreibenden; vgl. dazu Chute 2010, 111, die diesen Aspekt bei Lynda Barry diskutiert.

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bildhafte Komponente. Dies wird bei von Arb zelebriert: So zeigt die erste seitenfüllende Zeichnung den Muttervogel in Form des Buchstabens M. Die Rolle der Mutter schreibt sich hier ebenso in die Figur ein wie die Tatsache, dass sie „eine Frau mit Ecken und Kanten“ war (oder wurde) (Abb. 6).

Abb. 6: Mit Ecken und Kanten – 3 Väter. von Arb, 2020. 9.

Ein Echo dieser Buchstabenförmigkeit findet sich unter anderem in Darstellungen von Kiko, in denen seine überlangen Beine in der Form eines M zusammengelegt sind (von Arb 2020, 35). Kiko, der ansonsten einem auf den Kopf gestellten V gleicht (vgl. z. B. 31), nimmt hier eine ‚mütterliche‘ Rolle ein: Obwohl die Mutter ihn einst verlassen hatte, will er „für sie“ „und uns da sein“, er birgt die drei Kinder in seinem Schoss, und diese „liebten ihn sehr“ (Abb. 7). Rollen schreiben sich hier und an anderen Stellen in Körper ein, die Sprache und die soziale Funktion, die eine Figur übernimmt, sind nicht trennbar von ihrer Körperlichkeit. Man könnte hier von „embodiment“ sprechen, und mit den Worten von Hayles ist „Embodiment [...] contextual, emeshed within specifics of

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Abb. 7: Körper als Buchstabe in 3 Väter. von Arb, 2020. 35.

place, time, physiology, and culture“ – und damit auch Sprache (Hayles 1999, 196). Hier wird diese Partikularität auf die Spitze getrieben: In einer Übersetzung von 3 Väter in eine Sprache, in der das Wort „Mutter“ nicht mit dem lateinischen Buchstaben M respektive das Wort „Vater“ nicht mit V beginnt, würden Sinndimensionen wegfallen. Normative Rollenvorstellungen und sprachliche Zuschreibungen können Menschen Gewalt antun; hier werden sie jedoch durch Überlagerungen und unerwartete Zusammenhänge gequeert. Die Materialität des Comics und seiner Bausteine wird betont und der Comic zeigt sich selber als gemachtes, ‚ornamentales‘ Kunstwerk, das die körperliche Dimension von Sinnproduktion in Szene setzt. Eine solche überhöhte, ‚unrealistische‘ Darstellungsweise lenkt die Aufmerksamkeit auf die Performativität von Rollenbildern. Diese Form der Umsetzung ist spielerisch und doch ernst, und während die Buchstabenkörper an manchen Stellen lesbar sind oder Lesbarkeit zumindest evozieren – Kikos Beinzelt kann man, muss man aber nicht als umgedrehtes V lesen –, lässt von Arb den Lese- oder Entzifferungsimpuls

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an anderer Stelle ins Leere laufen. Auf einer Seite formt Kiko mit seinen Beinen zahlreiche ‚Buchstaben‘, deren Folgen aber doch unlesbar bleiben (von Arb 2020, 47). Schreiben ist zwar ein „special case of drawing“, aber Bilder können Buchstabenförmigkeit auch imitieren, ohne entzifferbar zu sein.

Fazit Um kurz zusammenzufassen: Bechdels Are You My Mother? behandelt eine MutterTochter-Beziehung, die stets auf den abwesenden Dritten, den Vater, bezogen bleibt. In 3 Väter stehen dagegen multiple und veränderliche familiäre Konstellationen zur Disposition. Die familiäre Dreiecksstruktur bei Bechdel weicht bei von Arb einer Art Rhizom, einer verschlungenen, auch chaotischen und desorientierenden Masse mit multiplen, sich überlagernden Beziehungsachsen – man könnte hier von einem queeren Verständnis von Familie sprechen. Interessanterweise existiert im Universum von 3 Väter allerdings nur heterosexuelles Begehren, während queerness als Thema der Narration in Are You My Mother? zentral ist. In den Worten von Nussbaums The Autobiographical Subject wird Bechdels eigene „gendered subjectivity“ ausgestellt (Nussbaum 1989, XIV) – als queere Frau erschreibt sich Bechdel einen Platz im in der ‚westlichen‘ Welt traditionell männlich und heterosexuell besetzten Genre der Autobiografie und in psychoanalytischen Diskursen, die gerade gegenüber nicht normativen Subjekten teilweise höchst repressiv wirken konnten. Während Are You My Mother? psychoanalytische Narrative im Rahmen der Suche nach Selbsterkenntnis und Heilung mobilisiert, werden Elemente der Psychoanalyse in 3 Väter auf spielerische Weise in den Ring geworfen,– aber auch wieder verworfen. Ganz am Schluss der Narration allerdings wird die Psychoanalyse auch in 3 Väter wieder ins Recht gesetzt: Die Hauptfigur sitzt bei einer Therapeutin, einer Katze mit Frauengesicht, einer Art undurchschaubaren Sphinx. „Ich habe drei Väter“, berichtet Nando, und die Therapeutin zeichnet ein trauriges Gesicht auf ihren Notizblock, quasi ein Comicpanel im Panel. Die Therapeutin als Comiczeichnerin, die man mit dem realen Zeichner in Beziehung setzen könnte – zwischen den Zeilen oder Bildern wird hier das evoziert, was in Are You My Mother? explizit ist: Comics können eine Form von Selbsttherapie sein. „Du hast Verlustängste“, resümiert die Sphinx, und auf der nächsten Doppelseite malt und signiert der Protagonist ein Gemälde von vier Totenköpfen (von Arb 2020, 286–291). Aus normativer Perspektive hat Nando zwar einen Überfluss an engen Bezugspersonen – und doch hat er etwas zu therapieren, wofür sich die Comicseiten anscheinend anbieten.

Es ist angerichtet! Familienstrukturen als Comicbausteine

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Quellenverzeichnis Ahmed, Sara. Queer Phenomenology: Orientations, Objects, Others. Durham: Duke University Press, 2006. Barounis, Cynthia. „Alison Bechdel and Crip-Feminist Autobiography“. Journal of Modern Literature 39.4 (2016), 139–161. Bechdel, Alison. Are You My Mother? Boston, New York: First Mariner Books Edition, 2013. Bierschock, Kurt. Familien und soziale Netzwerke: methodologische Überlegungen zu den Beziehungen zwischen Familien unterschiedlicher ethnischer Herkunft [Forschungsbericht]. Ifb-Materialien, 1996. https://www.ssoar.info/ssoar/bitstream/handle/document/11682/ssoar-1996-bierschockfamilien_und_soziale_netzwerke.pdf?sequence=1&isAllowed=y&lnkname=ssoar-1996-bierschockfamilien_und_soziale_netzwerke.pdf (abgerufen am 30.09.2021). Bolter, Jay David und Richard Grusin. Remediation. Understanding New Media. Cambridge/ Massachusetts: MIT, 1999. Chute, Hillary. Graphic Women: Life Narrative and Contemporary Comics. New York: Columbia University Press, 2010. Clewell, Tammy. „Beyond Psychoanalysis: Resistance and Reparative Reading in Alison Bechdel’s Are You My Mother?“ PMLA 132.1 (2017), 51–70. El Refaie, Elisabeth. Autobiographical Comics: Life Writing in Pictures. Jackson, Mississippi: University Press of Mississippi, 2012. Froese, Jocelyn Sakal. „Lateral Moves and Ghostly Gay Children: Queer Spatial Metaphors in Alison Bechdel’s Fun Home.“ Inks: The Journal of the Comics Studies Society 4.3 (2020), 251–265. Hayles, Katherine N. How We Became Posthuman: Virtual Bodies in Cybernetics, Literature,and Informatics. Chicago: The University of Chicago Press, 1999. Ingold, Tim. Lines: A Brief History. London: Routledge, 2007. Magnet, Shoshana. „Are You My Mother? Understanding Feminist Therapy with Alison Bechdel“. Women & Therapy 40.1–2 (2017), 207–227. Menga, Filippo und Dominic Davies. „Apocalypse yesterday: Posthumanism and comics in the Anthropocene“. Nature and Space 3.3 (2020), 663–687. Nussbaum, Felicity. The Autobiographical Subject. Gender and Ideology in Eighteenth-Century England. Baltimore, London: The Johns Hopkins University Press, 1989. Quinan, Christine. „Alison Bechdel and the queer graphic novel“. Doing Gender in Media, Art and Culture: A Comprehensive Guide to Gender Studies. Hg. v. Rosemarie Buikema et al. London: Routledge, 2017. 153–168. McCloud, Scott. Understanding Comics: The Invisible Art. New York: HarperCollins, 1994. von Arb, Nando. 3 Väter. Zürich: Edition Moderne, 2020 [2019]. Wolff, Eberhard. „Über das Stethoskop und seine Wandlungen als Symbol.“ Schweizerische Ärztezeitung 99.12 (2018), 404.

Un/Familiar Super(s)heroes

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Einleitung: Un/familiar super(s)heroes – Superheld✶innen zwischen Familienalltag und Ausnahmezustand Am Anfang des umfangreichsten und langlebigsten Genres der US-amerikanischen Popkultur steht die Familie – oder besser gesagt: der Verlust der Familie und die damit verbundene Herausforderung, kindliches Trauma durch den selbstlosen Einsatz gegen das Böse zu überwinden. Kurz vor der Zerstörung des Planeten Krypton wird das Baby Kal-El von seinen Eltern in ein Raumschiff gepackt und zur Erde geschickt. Er landet im Mittleren Westen, im Örtchen Smallville (Kansas), und wächst dort als Waisenkind unter dem Namen Clark Kent bei seinen Adoptiveltern Martha und Jonathan auf. Das Familienidyll bleibt jedoch nicht lange bestehen. Schon bald setzt Clark als Superman seine außergewöhnlichen Kräfte im Kampf gegen das Verbrechen, gegen Ungerechtigkeit und Ausbeutung ein und folgt damit einem Ethos, das Peter Coogan in Superhero: The Secret Origin of a Genre (2006) als „prosocial and selfless“ (2006, 31) beschreibt und das ein ungestörtes Familienleben unmöglich zu machen scheint. Supermans riesiger Erfolg in Action Comics #1 (1938) und den darauffolgenden Abenteuern sollte nicht folgenlos bleiben. Nur ein Jahr später präsentiert DC Comics mit Batman einen zweiten Superhelden, dessen Leben durch den frühen Verlust seiner Eltern geprägt ist. Der junge Bruce Wayne wird nach einem gemeinsamen Kinobesuch Zeuge der Ermordung seiner Eltern Martha und Thomas durch einen Ganoven, der es auf die Perlen seiner Mutter abgesehen hat. Wenige Tage nach diesem Ereignis sehen wir den Jungen an seinem Bett knien, die Hände zum Gebet gefaltet: „I swear by the spirits of my parents to avenge their deaths by spending the rest of my life warring on all criminals“ (Finger u. a. 1939). Batmans Jagd auf Verbrecher und sein Einsatz gegen das Böse sind unmittelbar mit dem Verlust von Familie verbunden. Doch auch wenn Bruce Wayne in seinem Butler Alfred Pennyworth eine Art Ersatzvater findet, über die Jahrzehnte hinweg diverse jugendliche Robins unter seine Fittiche nimmt und später sogar selbst Kinder haben wird, bleibt er letztlich ein dark knight und lone vigilante – eine hypermaskuline Autoritätsfigur im permanenten Ausnahmezustand, immer im Einsatz gegen das Böse, wie Jeffrey Brown in Batman and the Multiplicity of Identity (2018) argumentiert. Als Familienvater ist er allerdings wenig alltagstauglich; man sieht ihn weder beim Abwasch oder mit Baby auf dem Arm – es sei denn, man schaut sich entsprechende Fanart an.

https://doi.org/10.1515/9783110786392-013

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Was sich bei männlich definierten Superhelden wie Superman und Batman als traumatischer Verlust der Eltern erzählen lässt, erhält im Ursprungsmythos der ersten und sicherlich wichtigsten Superheldin Wonder Woman eine interessante Wendung. In dem von William Moulton Marston geschriebenen und von Harry G. Peter gezeichneten „The Origin of Wonder Woman“ in Wonder Woman #1 (1941) wird Diana, die zukünftige Superheldin, von ihrer Mutter, der Königin Hippolyte, mit Hilfe der Göttin Athena zunächst als Statue erschaffen und dann von der Göttin Aphrodite zum Leben erweckt. Die folgenden Panels erzählen Dianas Kindheit und Jugend im Zeitraffer und präsentieren damit eine ‚weibliche Variation‘ der bekannten Superman-Darstellung – wir sehen Diana als Dreijährige beim Bäume ausreißen und als Fünfjährige beim Wettlauf mit einem Hirsch. Ihre Unsterblichkeit erhält sie kurz darauf, indem sie vom Jungbrunnen trinkt und damit dieses Geburtsrecht einlöst (allerdings erst, nachdem sie Aphrodite ihre ewige Treue geschworen hat). Auch wenn Dianas Ursprung nicht im eigentlichen Sinne wie bei Superman und Batman traumatisch ist, bleibt auch ihr ein konventionelles (d. h. heteronormativ kodiertes) Familienleben verwehrt – sie wächst ohne Vater in der rein weiblich sozialisierten Gesellschaft der Amazonen auf Paradise Island auf, die ihre Unsterblichkeit nur so lange behalten können, wie kein Mann die Insel betritt. Trotz dieser Umstände bleibt die Figur der patriarchalen Geschlechterhierarchie ihrer Zeit unterworfen. „[I]n the 1940s, Wonder Woman, like many women joining the war effort, became part of the public sphere but had to conform to traditional female roles of subordination to masculine authority“, schreibt Joan Ormrod in Wonder Woman: The Female Body and Popular Culture (2020, 4). Auch der Marvel-Verlag, der sich Anfang der 1960er Jahre zum größten Konkurrenten von DC Comics aufschwingt und diese Position bis heute behauptet, versieht seinen erfolgreichsten Superhelden Spider-Man mit einem familiären Trauma. Wie hinlänglich bekannt ist, muss Peter Parker nicht nur den Tod seines geliebten Onkel Ben verkraften, sondern auch mit der Erkenntnis leben, dass er diesen Tod hätte verhindern können. Diese Schuld macht ihn zum eigentlichen Superhelden, der seine Spinnenkräfte verantwortungsvoll im Sinne der Gemeinschaft einsetzt und sich aufopferungsvoll um seine Tante May kümmert. „And a lean, silent figure slowly fades in the gathering darkness, aware at last that in this world, with great power there must also come – great responsibility!“ verkündet die Erzählstimme am Ende der ersten Spider-Man-Geschichte in Amazing Fantasy #15 (Lee u. a. 1962, 11). Der Verantwortung, für das Wohl aller zu sorgen, welche Superheld✶innen wie Spider-Man aufgrund ihrer Superkräfte erhalten, steht in diesem Zitat die Einsamkeit dieser außergewöhnlichen Figuren, den Freuden und Sorgen des Alltags vielfach enthobenen Figuren, entgegen. Sie müssen die Welt retten und dabei immer wieder ihr Leben riskieren, sonst machen sie sich schul-

Einleitung: Un/familiar super(s)heroes – Superheld✶innen

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dig; ein herkömmliches Familienleben ohne permanente Störungen von außen ist für sie undenkbar, auch wenn einige der Superheld✶innen im Laufe ihrer langjährigen Serienkarrieren durchaus das ein oder andere Mal als Familienvater, Mutter, Sohn oder Tochter auftreten. So haben Superman und Wonder Woman eine gemeinsame Tochter namens Lara in Frank Millers The Dark Knight Strikes Again (2002); Batman und Talia al Ghul haben einen Sohn in Grant Morrisons Batman & Son (2007); und seit Amazing Spider-Man: Renew Your Vows #1 (2015) sind Peter Parker und Mary Jane Watson Eltern einer Tochter namens Anna-Mary Parker. Wie diese Bespiele zeigen, bilden familiäre Verbindungen trotz der grundlegenden Unvereinbarkeit von Familie und Superheld✶innen-Beruf(ung) einen konstanten Referenzrahmen für das Genre. Serien wie Marvel Family Comics (Fawcett Publications, 1945‒1954) und Storylines wie A Death in the Family (Jim Starlin u. a. 1988) belegen dies ebenso eindrucksvoll wie die Fan-generierten Überblicksseiten auf der DC Database und der Marvel Database, die alle in den Serienuniversen der beiden Verlagen auftretenden Familien kartografieren (bei DC sind es 57 Familien, Marvel sogar 354).1 Und auch an familienorientierten Online-Rankings herrscht kein Mangel: „Marvel: 5 Best Superhero Families (& 5 Infamous Supervillain Families)“, „Got You Fam: The 20 Most Dangerous Super-Powered Families“, „11 Strongest Families In Marvel Comics, Ranked“ und „15 Superheroes Who Had To Fight Their Parents“ sind nur einige Beispiele einer popkulturellen Praxis des Kommentierens und Kanonisierens besonders prägnanter Figuren und Geschichten außerhalb etablierter verlegerischer Gatekeeping-Strukturen.2 Sie zeigen, dass der Idealisierung und Enthebung der Superheld✶innen aus den Zusammenhängen des alltäglichen Lebens immer auch eine imaginäre Wiedereinbettung in genau diese Zusammenhänge gegenüber steht – Zusammenhänge, die der Welt der Lesenden deutlich näher stehen als die außergewöhnlichen Missionen der Superheld✶innen. Spider-Man mag über noch so fantastische Kräfte verfügen und sie gegen eine ganze rogue’s gallery an Superschurk✶innen einsetzen, am Ende des Tages bleibt er Peter Parker, der nette Junge von nebenan, der seine Tante liebt und ein glückliches Leben zu leben versucht. Dass sich die Arten und Weisen, wie Familie in diesen Comics thematisiert und visualisiert wird, über die Jahrzehnte hinweg verändern, weil sich auch die

 https://dc.fandom.com/wiki/Category:Families (abgerufen am 14.4.2022); https://marvel.fandom. com/wiki/Category:Characters_by_Family (abgerufen am 14.4.2022).  https://www.cbr.com/marvel-best-superhero-supervillain-families/; https://www.cbr.com/dange rous-super-powered-families/ (abgerufen am 14.4.2022); https://fandomwire.com/11-strongest-fami lies-in-marvel-comics-ranked/ (abgerufen am 14.4.2011); https://screenrant.com/comic-book-super heroes-who-fought-fight-their-parents-batman-robin/ (abgerufen am 14.4.2022).

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gesellschaftlichen Vorstellungen von Familie wandeln, liegt auf der Hand. Waren romantische Beziehungen lange Zeit eher traditionell angelegt – Sue Storms Ehe mit Reed Richards war zu Anfang der Fantastic Four-Serie wenig revolutionär, auch wenn sie zeitgleich mit dem Aufkommen des second-wave feminism Eingang in das Narrativ findet – gewinnt die Darstellung familiärer Zusammenhänge spätestens in den 1980er Jahren an Tiefe und Komplexität. In den Heften Fantastic Four #267–268 (1984) verlieren Sue und Reed ihr zweites Kind, das aufgrund einer erhöhten Strahlendosis, der Sue während einer Mission ausgesetzt ist, vor der Geburt stirbt.3 Als Selina Kyle (Catwoman) in den 2000er Jahren schwanger wird und eine Tochter gebärt, muss sie feststellen, dass sich ihr Leben als Superschurkin nicht mir ihrer Verantwortung als Mutter vereinbaren lässt. Doch anstatt ihren Job an den Nagel zu hängen und sich der Erziehung des Kindes zu widmen, bringt sie es bei einer Adoptivfamilie unter. Sie wird damit zu einer bad mother (auf Deutsch: ‚Rabenmutter‘), die dem heteronormativen Ideal von Mutterschaft widerspricht und damit ein konservatives Weltbild repräsentiert – auch wenn ihre Entscheidung, sich nicht auf ihre Mutterrolle reduzieren zu lassen und die Karriere der Familie vorzuziehen, durchaus als eine Verweigerung immer noch hegemonialer gesellschaftlicher Normen gelesen werden kann. Ein Versuch, genau diese Quadratur des Kreises – „Parent by day. Hero by night“4 – hinzubekommen, finden wir in Dennis Hopeless und Javier Rodriguezʼ Spider-Woman Shifting Gears: Baby Talk (2016), das die hochschwangere und später junge Mutter Jessica Drew bei ihrer ‚Arbeit‘ begleitet und damit eine weitgehend unsichtbare Seite einer Superheldin zeigt. Dass dies nicht unbedingt auf ungeteilten Zuspruch trifft, verdeutlichen Rezension auf Seiten wie Goodreads. So schwankt Sam Quixote zwischen Begeisterung und Ernüchterung und pocht letztlich auf die Unvereinbarkeit von Superheldinnentum und Familie (sprachlich übrigens mit deutlich sexistischem Unterton): Jessica Drew aka Spider-Woman is knocked up hard and about to pop – but oh no, her OBGYN has been taken over by Skrulls (shape-shifting space goblins)! Superhero comics, eh? [...]. Preggo Spider-Woman is an ok comic but I didn’t love it. Why is her maternity hospital in a black hole – is that really the ideal location to be birthing babies? And Skrulls? It all felt so contrived, like Jess can’t just have her baby, she’s also gotta be kicking butt because she’s a superhero. I wasn’t into the forced and silly action.5

 https://whatculture.com/comics/10-most-tragic-moments-in-the-history-of-the-fantastic-four? page=10 (abgerufen am 14.4.2022).  https://bleedingcool.com/comics/a-very-pregnant-spider-woman-by-dennis-hopeless-and-javierrodriguez-marveloctober/ (abgerufen am 14.4.2022).  https://www.goodreads.com/book/show/27163014-spider-woman (abgerufen am 14.4.2022).

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Hier zeigt sich neben der bereits benannten Spannung zwischen Alltag und Ausnahmezustand auch die gesellschaftliche Relevanz populärer Seriennarrative. Denn wie auch immer die Lesenden diese Version von Spider-Woman bewerten, die Comics sind Anlass und Auslöser für breit geführte Diskussionen über Geschlechterrollen und Familienbilder; sie reflektieren und artikulieren gesellschaftlichen Wandel in massenkompatibler Form. Dennoch bleibt die genretypische Definition des Superhelden als traditionell weiß, männlich, heterosexuell und meistens kinderlos erhalten – zumindest als Folie, vor der alternative Familienentwürfe bestehen müssen. Dass der Comic durchaus vielfältige Möglichkeiten bietet, diese Folie zu hinterfragen, zeigen nicht nur die in den voranstehenden Absätzen genannten Beispiele, sondern auch die zwei in dieser Sektion versammelten Beiträge. Björn Hochschilds „Eine super normale Familie? Blicke und Relationen in The Vision“ weist im Titel bereits auf die genreinhärente Spannung zwischen Alltag und Ausnahmezustand („super“/„normal“) hin. Hochschild arbeitet heraus, wie dieser Marvel-Comic den populären Topos „heteronormative[r], weiße[r] Vorstadtfamilie“ (Hochschild im vorliegenden Band) aufgreift und superheld✶innenspezifisch verhandelt. Der Comic tut dies, indem er überholte Familienbilder nicht einfach durch neuere Bilder ersetzt, sondern den „immanenten Drang, Familie als Kerngemeinschaft in Relation zu angrenzenden Gemeinschaften (wie denen der Nachbarschaft) denken zu müssen und Familienbilder als fixierte Repräsentationen zu nutzen, um sie im Gemeinschaftsgeflecht zu positionieren“ (Hochschild im vorliegenden Band), in Frage stellt und den Lesenden die „Wirkmacht des eigenen Blickes“ (Hochschild im vorliegenden Band) vor Augen führt. Klara Hubers „Familienüberzeichnung bei Ms. Marvel: Partizipative Umgestaltungsprozesse als kunstpädagogische Chance“ wendet sich der Welt der Marvel-Comics zu und konzentriert sich dabei auf verschiedene Varianten der Ms. Marvel/Captain Marvel-Figur. Sie kommt zu dem Schluss, dass einige Darstellungen heteronormative Familienkonstruktionen öffnen, indem sie „stereotype Rollenmuster und innerfamiliäre Beziehungen überspitz[e]“ (Huber im vorliegenden Band), wogegen vor allem die Comics mit Kamala Khan als pakistanisch-muslimischer Ms. Marvel „interkulturelle Aspekte miteinbez[ieht] und Vorurteile sowie negative Stereotypen gegen Muslim✶innen auf diversen Ebenen dekonstruiert“ (Huber im vorliegenden Band).

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Quellenverzeichnis Brown, Jeffrey. Batman and the Multiplicity of Identity. The Contemporary Comic Book Superhero as Cultural Nexus. London: Routledge, 2019. Coogan, Peter. Superhero. The Secret Origin of a Genre. Austin: MonkeyBrain Books, 2006. Finger, Bill (W), Bob Kane (A), Sheldon Moldoff (I). „The Batman and How He Came to Be“. Detective Comics 33: 1–2 (November 1939). New York: DC Comics. Lee, Stan (W), Steve Ditko (W/A/I). „Spider-Man“. Amazing Fantasy #15 (August 1962). New York: Marvel Comics. 1–11. Marston, William Moulton (W) und Harry G. Peter (P/I). „The Origins of Wonder Woman“. Wonder Woman #1 (Juni 1942). 2–13. Ormrod, Joan. Wonder Woman: The Female Body and Popular Culture. London: Bloomsbury, 2020.

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Eine super normale Familie? Blicke und Relationen in The Vision Ein Mädchen mit blondem Haaransatz und rosa Spitzen bläst eine ebenso rosafarbene Kaugummiblase auf. Sie sitzt im Schulunterricht vor einem aufgeklappten, mit Stickern geschmückten Laptop; ein auffälliger Auftritt. Sie macht einen Jungen in der vorderen Reihe auf sich aufmerksam und dreht ihren Laptop zu ihm um. In großen Lettern steht eine Frage auf dem Bildschirm: „R U NORMAL?“ (King 2020 [2015–16], #1, [13]).1 Diese Szene ereignet sich im ersten von 12 Bänden der von Tom King geschriebenen und von Gabriel Hernandez Walta (#1–6, #8–12) und Michael Wash (#7) gezeichneten Superheld✶innen-Comicserie The Vision (2015–2016). Anlass der Frage ist die Beschaffenheit des Jungen: Vin hat grüne Haare und eine rot-orangene, von Lücken und Nähten durchzogene Haut. Er ist ebenso wie seine Eltern Vision und Virginia und seine Schwester Viv ein Synthezoid, ein Mensch-Maschine-Hybrid. Nicht nur ihre Beschaffenheit, sondern auch ihre Erschaffung macht die Visions zu einer besonderen Familie: Vater Vision, selbst synthetisch hergestellt, baute sich seine Familie in der Hoffnung auf ein ‚normales‘ Leben und setzte Vin, Viv und Virginia in ihrer Rolle als Kinder, Mutter und Ehefrau in die Welt. ‚Normal‘ heißt für Vision dabei nicht bloß ein ‚menschliches‘ Leben, sondern ein Lebensbild, das als weißes, heteronormatives Vorstadtleben einer amerikanischen Kernfamilie gezeichnet ist (De Dauw 2020, 138). Die 12 Ausgaben von The Vision erzählen von diesem Versuch, im Verlaufe dessen nicht nur Sohn Viv und Mutter Virginia, sondern auch Menschen in ihrem erweiterten Umfeld ihr Leben verlieren. Die Frage nach dem Normalitätsstatus, den das Schulmädchen in der ersten Ausgabe stellt, gibt Vin bereits eine Seite später an seine Schwester weiter (King 2020, #1, [14]). Sie zieht sich durch die Serie und hallt als Echo in einer Reihe von analytischen und durchaus kritischen Stimmen zu The Vision nach (Packard 2018; Haar 2019; Nowotny 2019; De Dauw 2020; Peppard 2020; Pinti 2020). Einige dieser Auseinandersetzung schreiben The Vision ein Ausstellen von Normalitätsbildern als Konstruktion zu, beschreiben oder kritisieren jedoch die Affinität der Serie zu Wiederholungsstrukturen und wie durch diese das Streben nach einem überholten Normalitätsbild letztlich als Notwendigkeit ausgestellt werden würde.

 Ich beziehe mich hier auf die 2020 erschienene Gesamtausgabe, die keine Paginierung aufweist. Angaben zu Seitenzahlen sind von der ersten Seite nach dem Cover der jeweiligen Seite ausgehend gezählt. https://doi.org/10.1515/9783110786392-014

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Unter der Annahme, dass The Vision mehr vermag als die Konstruktion von Normalität wiederholend auszustellen, widmet sich dieser Aufsatz einer Analyse der Art und Weise, in der die Serie ihr Bild eines ‚normalen‘ Familienlebens konstruiert. Der Fokus liegt dabei auf dem, was jene Szene rahmt, in der das Schulmädchen die zentrale Frage nach der Normalität stellt: Der Relation zweier, beziehungsweise dreier Blicke, die über das erste und letzte Panel der Seite gesetzt werden.2 Im ersten ist der durchdringende Blick des Schulmädchens zu sehen, die gerade provokativ ihr Kaugummi aufbläst. Im letzten Panel stehen die leeren, weißen und verunsicherten Augen Vins. Zwischen diesen beiden Blicken entfaltet sich nicht nur die Frage „R U NORMAL?“. Beide Blicke binden in diese Frage und ihre Relation zueinander unmittelbar die Lesenden mit ein, indem sie sich diesen zuwenden. In ihrem zweifachen Adressiert-Werden sind die Lesenden in die Aushandlung von Blickrelationen eingeschrieben. Um zu verstehen, wie The Vision sein Normalitätsbild von Familie konstruiert und verhandelt, wird im Folgenden zunächst ein Einblick in die kritischen Stimmen zu dieser Serie gegeben. Daraufhin werden verschiedene Sequenzen und Szenen bezüglich ihrer Blicke analysiert. Das heißt konkret, sowohl hinsichtlich der Blickkonstruktionen zwischen Figuren als auch den Perspektivkonstruktionen der Zeichnungen und Erzählungen: angefangen bei der Eröffnungssequenz der Serie und fortgesetzt in Szenen, die markante Verschiebungen in diesen Konstruktionen vornehmen. Abschließend sollen vor dem Hintergrund dieser Analysen die Wiederholungsstrukturen dieser Serie erneut bezüglich der Konstruktion eines Normalitätsbildes von Familie befragt werden.

 Spreche ich hier von ‚Normalität‘, ziehe ich damit explizit keinen externen Begriff heran. Meine Analyse zielt auf die spezifische Art und Weise in der The Vision Normalität als Bild entwirft und verhandelt, hier insbesondere über die Relation verschiedener Blicke. The Vision repräsentiert oder visualisiert nicht bloß bestehende Konzepte, sondern arbeitet als Comic aktiv am Verständnis von Normalität (und hier auch Familie) mit. Damit denke ich Comics ähnlich wie Hermann Kappelhoffs die audiovisuellen Bilder des Films beschreibt: „Wir verstehen audiovisuelle Bilder also keineswegs als Mittler von Sinnkonstruktionen (Narrative, Ideen, Ideologien), die – medienneutral – vorab existieren und im Bewegungsbild repräsentiert sind; vielmehr sehen wir die Bewegungsbilder selbst als Agenten eines Interaktionsprozesses, der die Rezipienten in ihrer körperlich-affektiven Realität in einen gemeinschaftlich geteilten Wahrnehmungshorizont einbindet, den wir gemeinhin als unsere alltägliche Realität ansprechen. Anders gesagt, wir verstehen audiovisuelle Bilder [...] als Medien der Wahrnehmung, die buchstäblich ein Sehen und Hören entstehen lassen, das es diesseits der Zirkulation audiovisueller Bilder nicht gibt“ (2018). Zur genaueren theoretischen Reflexion eines solchen Verständnisses audiovisueller Bilder in Relation zum Comic siehe Hochschild 2023.

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Wieder und wieder die heteronormative, weiße Vorstadtfamilie? Für eine von 2015 bis 2016 erschienene Serie mit futuristischen Plot-Elementen wirkt das Familienbild, dem die Synthezoiden nacheifern, auffällig überholt. Es ist das Bild einer heteronormativen, nuklearen – durchaus weiß konnotierten (De Dauw 2020) – Familie. Die Visions leben in einer jener gesichtslosen amerikanischen Vorstädte, die in zahlreichen anderen Erzählungen längst nicht mehr nur zum Träumen einladen.3 Die bunten aber zugleich gedeckten und fast schon verwelkten Farben dieser Nachbarschaft erschaffen eine Atmosphäre nostalgischen Erinnerns an eine bereits im Vergehen sich befindende Zeit. Die Farbpalette hüllt die Räume ins Licht eines ewigen Spätherbstes. Diese Atmosphäre des nostalgischen Erinnerns wird immer gestört durch das Erscheinen verschiedener, sich als gegenwärtig ausweisender Medientechnologien. Oft werden sie zu unmittelbaren Quellen innerdiegetischer Störungen: Es ist ein Laptop, der Vin mit dem Zweifel an seiner Normalität konfrontiert oder ein Smartphone, das Visions Ehefrau Virginia beim Begraben einer Leiche aufzeichnet und durch diese Zeug✶innenschaft die Visions daran hindert, wieder unauffällig – das heißt hier eben auch unsichtbar – zu werden. Nicht nur das Familienbild der Visions, die ganze Welt in der sie sich bewegen, scheint damit aus der Zeit gefallen zu sein. Für Anna Peppard (2020) gilt dies für die gesamte Interpretation der Figur Vision der Serie. Vision besäße seit seinem ersten Auftritt in Avengers Vol. 1, #57 (1968) – und insbesondere den Erzählungen um seine Beziehung zur Hexe Wanda – eigentlich ein queer-feministisches Potenzial zum Entwurf neuer Modelle des Lebens und Liebens. Doch genau dieses löse sich in The Vision nicht ein: „The Vision I fell in love with didn’t want a subservient wife; he wanted a superheroic partner whose passion inspired his own, and whose power he openly acknowledged as superior to his. And he certainly wouldn’t want a virginal wife“ (Peppard, 2020). Statt aus ihrem gemeinsamen Hybrid-Sein einen neuen Lebensentwurf zu kreieren, sind die Visions in The Vision mit dem beständigen Verkleiden ihrer Beschaffenheit und Individualität beschäftigt. Das Problematische dieses Strebens nach Unauffälligkeit sieht Esther De Dauw potenziert in Wiederholungsstrukturen, die am Erhalt heteronormativer, weißer Lebensideale mitwirken. Der Versuch der weißen Domestizierung des Le-

 Hillary Chute beschreibt die Ambivalenz, mit der amerikanische Vorstädte in Comics wie denen von Charles Burns (insbesondere Black Hole 2005) und Chris Ware (insbesondere Building Stories 2012) inszeniert werden, als Begegnung zwischen Romanze und Horror oder Nostalgie und Melancholie (Chute 2017, 141–174).

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bens „must be made, again and again. The search for white domesticity by those outside of whiteness is framed as normal and even morally correct while its (inevitable) failure is depicted as sad and tragic“ (De Dauw 2020, 138). Im Narrativ sei diese Wiederholung gleich zweifach verankert: Zum einen ist der gesamte Versuch des Familienlebens in The Vision bereits die Wiederholung jenes gescheiterten Versuchs von Vision und Wanda aus The Vision and the Scarlet Witch, Vol. 2 (1985–1986). Zum anderen endet The Vision mit einem Epilog, der Vision nach dem Tod seines Sohnes und seiner Ehefrau seinen Fehler erneut begehen lässt, indem er seine Frau (wieder)herstellt. Die Serie markiere damit sein Streben nach einem bestimmten Normalitätsbild als unausweichliche Notwendigkeit (De Dauw 2020, 138). Wiederholungsstrukturen kritisiert auch Joanna Nowotny. Sie findet sie jenseits makroperspektivischer Plot-Strukturen auf Panelebene wieder: von einzelnen Worten und Sätzen bis zu ikonografischen Momenten, wie etwa einem zweifachen Zerschlagen des Esstisches zunächst durch Virginia und später ihre Tochter (Nowotny 2019, 49–50; siehe auch: Haar 2019, 70–74). Während posthumane Wesen wie die Visions das Potenzial besäßen, jene Utopie neuer Lebensentwürfe zu erträumen, die Donna Haraway in der Figur des Cyborgs zum Ausdruck bringe, verbliebe The Vision in den Wiederholungsstrukturen eines selbsterhaltenen Patriarchats, in dem der Familienvater Frankenstein gleichkommend Oberhaupt und Re-Produzent zugleich sei (2019, 45–48). Dabei würden die Visions nicht mehr leisten können, als zu Karikaturen von Normalitätsbildern zu werden: „Die Visions führen unsere ‚Normalität“ [...] als eine konstruierte vor, anstatt nach Alternativen zu ihr zu suchen“ (2019, 54). Doch dass Normalität eine Konstruktion ist, stellt die Serie bereits in ihrem ersten Band aus, spätestens in den Blickkonstellationen um die Frage „R U NORMAL?“. Unter der Annahme, dass die folgenden Bände diese Erkenntnis nicht bloß mehrfach wiederholen, möchte ich in der folgenden Analyse genauer nach der Qualität dieses Konstruierens fragen. Dazu beginne ich mit einem Blick auf die Eröffnungssequenz der Serie.

Seht her! Hier gibt es nichts zu sehen! The Vision beginnt mit einer Einladung. Auf dem Cover des ersten Bandes (gezeichnet von Mike del Mundo) winken die vier Synthezoiden den Lesenden lächelnd von ihrer Eingangstür aus zu (Abb. 1). Sie präsentieren sich als eng umschlungene und deutlich hierarchisierte, heteronormative Gemeinschaft. Vision ragt als Familienoberhaupt über alle anderen hinaus und legt seiner etwas kleineren Frau Virginia einen Arm um die Schulter. Sohn Vin und Tochter Viv darunter wiederholen

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die Positionierung und Haltung ihrer Eltern. Umgeben sind sie von einer geordneten Idylle. Grüne, rund geschnittene Hecken versprechen einen gepflegten Vorgarten im Off des Bildes. Stuck ziert den Rahmen der Tür, die links und rechts von edlen Wandlaternen begleitet wird. In Fluchtperspektive gesetzt führt ein sauber

Abb. 1: Cover #1. Die Begrüßung der Familie als öffentlich verhandelte Kerngemeinschaft. Tom King (W), Gabriel Hernandez Walta (A, #1–6, #8–12), Michael Walsh (A, #7) und Jordie Bellaire (A). The Vision. The Complete Collection. Hg. v. Jennifer Grünwald. New York: Marvel Worldwide Inc., 2020 [2015–2016] #1. Cover.

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gepflasterter Pfad am unteren Bildrand auf die Tür zu. Er ist noch Teil der Einladung an die Lesenden, zieht er doch deren Blick in die Bildmitte, vorbei an einer braungrünen Fußmatte auf der „Welcome“ steht und damit die Geste der Familie in Worte fasst. Doch vom gepflasterten Pfad zum Lächeln und Winken der Visions durchkreuzt der Blick eine Leerstelle. Auf der Fußmatte stehen keine Füße. Stattdessen ragen die Oberkörper der Visions umgeben von einem eisblauen Schimmer aus ihrer Tür heraus. Dieser Schimmer zeugt vom fantastischen Eindruck ihrer Superkräfte, die es ihnen unter anderem erlauben, feste Materie zu durchschreiten. Die Körperhaltung wiederum zieht auch einen unheimlichen mit sich: wie Jagdtrophäen ragen die Oberkörper aus der Tür heraus. Mit ihren leuchtenden Augen und dunkler Umrandung wirken die Visions ebenso wie zu ihrer begrüßenden Geste ausgestopft und aufgehängt, nicht als aktiv Begrüßende, sondern passiv Begrüßen-Müssende. So begegnen sich im Blick der Lesenden die Eindrücke von fantastischen Fähigkeiten und einem unheimlichen Ausgestellt-Sein. Schon auf dem Cover ist damit der Blick der Lesenden in eine ambivalente Relation eingebunden, gleichsam eingeladen und zugewandt sowie bedroht und bedrohlich. Damit ist auch eröffnet, inwiefern es in dieser Reihe um Familie geht: Die Kernfamilie ist von vornherein als Bild gesetzt. Als eine Relation von Figuren, die zugleich als sich selbst inszenierend und als in Szene gesetzt erscheinen und somit abhängig sind von Blicken, die sie auf sich ziehen und die auf sie fallen. Die Familie, um die es hier geht, ist insofern in keinerlei Hinsicht eine private Institution mehr, sondern eine öffentlich verhandelte Kerngemeinschaft.4 Der Einladung der Visions folgend entfaltet sich auf den nächsten fünf Seiten die Eröffnungssequenz der Serie. Die Familie als Kerngemeinschaft wird auf diesen Seiten unmittelbar in Relation zu der nächsten, angrenzenden Gemeinschaft gesetzt, indem die Sequenz vom Besuch des Nachbarehepaars George und Nora erzählt. Sie werden von den Visions begrüßt, bringen Kekse vorbei, erhalten eine Führung durchs Haus und streiten sich auf dem Hin- und Rückweg über den Menschlichkeits-Status der Visions. Den begrüßenden und als bedrohlich angedeuteten Oberkörpern des Covers stellt das erste Panel der ersten Seite eine explizite Bedrohung in Form zweier dunkler Schatten gegenüber, die sich auf eine braune Tür (Abb. 2) legen. Sie wiederholen sich in langgezogener Form auf einem Gehweg im übernächsten Panel. Erst mit dem Umblättern zur zweiten Seite werden sie als Schatten von George und Nora ausgewiesen und dabei sämtliche Panels der ersten

 Hier ist noch der Rahmen interessant, den die Complete Collection (2020) um das Cover setzt: Auf gelbem Untergrund liegend und an den Ecken mit Klebehalterungen befestigt, sieht es aus wie ein Foto in einem Album und stellt sich somit einmal mehr als Familienbild aus.

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Abb. 2: #1, Seite 1. Ein bedrohlicher Blick durch die Nachbarschaft. King, Walta, Walsh und Bellaire. The Vision. The Complete Collection. #1, 1.

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Seite als deren Points-of-View gekennzeichnet. Vor dieser verzögerten Auflösung entfaltet sich ein anonymer Blick auf Türen, Häuser und Straßen einer gesichtslosen amerikanischen Vorstadt; und binnen sieben Panels eine rekonstruierbare Bewegung von der braunen Tür im ersten zur grünen Tür der Visions im letzten Panel. Wiederholt wird der Blick der Lesenden über Einfluchtpunktperspektiven ins Zentrum gesetzt, nur dass sich hier das Unheimliche in die dunklen Schatten verlagert, die von diesem Zentrum der Betrachtung aus ins Bild ragen. Besonders an diesen Schatten ist ihre Materialität: Als grobe Schraffuren kratzen sie sich in die ansonsten überwiegend sanft auslaufenden und ineinander übergehenden Flächen und Flecken, die meist von einfachen, klaren Konturen begrenzt werden. Die Schattenschraffuren bestehen gänzlich aus dem Schwarz dieser Konturen und zerschneiden immer wieder die Ränder ihrer Panels. Damit ist die Position des Blickes zur Bedrohung geworden. Von ihr gelangt eine dunkle Materie ins Bild und scheint sich hier und dort schon als Finsternis in der Umgebung niedergeschlagen zu haben. Vereinzelt ist sie zu sehen im Schatten eines Baumes, eines schwebenden Briefkastens oder einer Überdachung. Wie aber bewegt sich jener Blick, der vom Cover ausgehend an die Position der Lesenden und vom ersten Panel an die Quelle der bedrohlichen Schatten gebunden ist, auf dieser ersten Seite von einer Tür zur nächsten? Sechs hochkante Panels folgen auf das horizontale Schatten-Panel und sind ebenso gleichmäßig geformt wie die Umgebung der Nachbarschaft, die sie preisgeben. Der Übergang von einem Panel zum nächsten wird zuallererst von der Gleichförmigkeit der Umgebung gestaltet. Nahezu jedes Panel zeigt identisch gefärbte Gehwege, Straßen, Bäume, Häuser und Rasenflächen. So verschiebt sich vom zweiten zum dritten Panel etwa die Perspektive auf diese Straße: Blickt sie im zweiten Panel von der geöffneten braunen Haustür aus im rechten Winkel auf die Straße, verläuft sie im dritten Panel schräg nach rechts. Gemeinsam mit der Positionierung der Panels zueinander und der dadurch notwendigen Bewegung des Blickes der Lesenden nach rechts, entsteht der Eindruck einer Drehung des Blickes nach rechts. Streng genommen gibt es jedoch kaum etwas Distinktes, das den Raum des zweiten unmittelbar an den des dritten Panels anschließen lässt. Noch deutlicher wird dies in den Übergängen vom vierten bis zum siebten Panel. Diese verlaufen ohne planimetrische Anschlüsse und ohne Wiederaufgreifen distinkter Objekte, Körper, Häuser oder Gegenstände. Der Raum dieser Nachbarschaft wird allein zusammengehalten von der Gleichförmigkeit der Umgebung, seinen immer wieder gleichen Bäumen, Gehwegen und Asphaltierungen. Der schwebende Briefkasten der Visions, der in Panels fünf und sechs zu sehen ist, könnte irgendwo in dieser tristen Gegend stehen; sein individueller Ort ist unerheblich. Dass der Briefkasten zweimal zu sehen ist, stellt eine von zwei Ausnahmen zu den fehlenden räumlichen Anschlüssen der Seite dar. Vom dritten zum vierten und

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vom fünften zum sechsten Panel wird zunächst ein Nachbar, der gerade in ein Auto steigen will und anschließend eben jener schwebende Briefkasten wieder aufgegriffen. Beide Male generiert diese Doppelung eine Annäherung des Blickes; im Falle des Briefkastens in Form einer extremen Vergrößerung, die den Blick auf die kleinen Düsen lenkt, mittels derer sich der Briefkasten in der Luft hält. Der Nachbar wiederum scheint von eben dieser Annäherung des Blickes affiziert zu sein. Denn er wiederholt jenes zugewandte Winken und Lächeln der Visions von dem Cover. Der Blick, als Quelle der Schatten, hebt die einzige körperliche Bewegung dieser ansonsten menschenleeren Gegend vergrößernd hervor und lässt es auch so – ähnlich der Trophäen-Körper des Covers – wie ausgestellt erscheinen. So ist es auch nicht das Schweben des Briefkastens, das ihn besonders macht: In seiner grünen Farbgestaltung hebt er sich von seiner Umgebung kaum ab. Es ist seine extreme Vergrößerung, die ihn wortwörtlich hervortreten lässt. Somit ist es dieser an Lesende und Schatten gebundene Blick, der bestimmt, was in dieser Welt auffällt und was nicht, und damit also das, was die Relation dessen setzt, was als ‚normal‘ erscheint und was bestimmt, wer sich wie als ‚normale‘ Familie in dieser Erzählung präsentieren kann, beziehungsweise zu präsentieren hat. „Normal“ zu sein bedeutet hier also unaufällig zu bleiben. Auffällig zu sein erfordert, durch unauffällige Reaktion wieder unsichtbar zu werden. So wird der Gang von der braunen zur grünen Tür zu alles anderem als einer fließenden Bewegung. Er verwirklicht sich als Relation von Nachbar✶innen zu Nachbar✶innen, indem er in einer gleichförmigen Gegend schlaglichtartig Ausschnitte als Besonderheiten hervorhebt, gleichwohl ob dies ein schwebender Briefkasten ist, oder ob ein Nachbar bloß in sein Auto steigen will. Jede kleinste Abweichung wird von diesem Blick bemerkt und scheint sich ihm stellen zu müssen. Und noch im Lächeln und Winken des Nachbarn am Auto wiederholt sich der Ausdruck eines Bewusstseins über das Gesehen-Werden, das die Visions auf dem Cover mit einladender Geste adressieren. Diesem bedrohlichen Blick gegenüber wird die Zuwendung zur Flucht nach vorne: Seht her! Hier gibt es nichts zu sehen!

Leben im Kompromiss mit Blicken Die Blicke auf die Nachbarschaft erschöpfen sich nicht in den Perspektivkonstruktionen der Panelzeichnungen. Sie sind ebenso gebunden an die Erzählperspektiven der Erzählboxen. Eine Analyse deren dialogischer Beziehung als „recitant“, der (in einer wiederum in sich dialogisierten Form) das generische Vorstadtleben beschreibt und einem „monstrator“, der die Bilder dieser Vorstadt mit Merkwürdigkeiten wie dem schwebenden Briefkasten anreichere, nimmt Daniel Pinti vor (2020,

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255–257).5 Es entstehe dabei ein Dialog um Banalität und Surrealität. Ganz dem Titel des Bandes entsprechend – „Visions of the Future“ –, sei der Comic „a dialogic vision, so to speak, simultaneously of the ordinary and extraordinary, the mundane and the fantastic“ (Pinti 2020, 255). Innerhalb der Erzähltexte entfaltet sich dieses dialogische Spiel schon auf der ersten Seite: als Aufeinandertreffen objektiver Beschreibungen und subjektivierter, freier, indirekter Rede (Pinti 2020, 255). Noch jenseits des Plots um die künstlich erschaffene Vision Familie werde hier eine Relation von (individuellem) Verlangen und (algorithmischer) Vorbestimmtheit verhandelt; zwischen dem, was gemacht werden will und dem, was gemacht wird, weil es sich eben so gehört (Pinti 2020, 255). Ein Kompromiss, der am Ende der ersten Seite gezogen wird, im gleichzeitigen Ausdruck von Sympathie und Mitleid diesem Nachbarschaftsleben gegenüber: „They made the compromises that are necessary to raise a family“ (King 2020, #1, [1]). Dabei geht es um mehr als das Aufgeben eines kulturell vielfältigen Großstadtlebens zugunsten der vermeintlichen Sicherheit öder Vorstädte. Auch mit den bedrohlichen Blicken der Sequenz ist ein Kompromiss einzugehen. Er scheint darin zu bestehen, sich ihrer Bedrohung in Flucht nach vorn durch das eigene Zuwenden zu stellen und darin auf eine Stabilität im (Nicht-Mehr-)GesehenWerden zu hoffen, sofern und solange die Blicke sich freundlich wegwinken lassen. Gerade dieser Kompromiss wird mit dem Umblättern auf die zweite Seite und der Auflösung der Point-of-View-Konstruktion verkompliziert (Abb. 3). Im ersten Panel sind George und Nora mit Keksen in der Hand zu sehen. Der Dialog zwischen dem Ordinären und dem Außergewöhnlichen entfalte sich laut Pinti in Relation dieses Bildes zu einem Erzähltext, der dem Ehepaar ihre Namen verleiht: „Behold George and Nora.“ Hierzu Pinti: „The word ‚Behold‘ itself is, to adopt Bakhtin’s phrase, ‚shot through‘ with overtones of the mythic, of the biblical, of the mode of the fantastic; it is part of the discourse of [...] indeed, the visionary. [...] [T]he text ‚dialogizes‘ their seemingly stereotypical normalcy“ (Pinti 2020, 257). Interessanterweise wird hier Georges und Noras Normalität befragt und nicht die der Visions. Auch das Nachbarsehepaar bleibt von den Relations-Setzungen des bedrohlichen Blickes nicht verschont. Es beginnt so eine seltsame Loslösung dieses Blickes von seinem bildperspektivischen Ursprung. Das Unheimliche löst sich vom Nachbarsehepaar ab, das in eine ebenso bedrohliche Relation gesetzt wurde wie einst die Visions, und schmiegt sich an die vom Außergewöhnlichen wissende Erzählbox an.

 Die Begriffe entnimmt Daniel Pinti aus Thierry Groensteens The Monstrator, the Recitant, and the Shadow of the Narrator (2010). Beim Konzept des Dialogischen orientiert er sich wiederum an Mikhail Bakhtins The Dialogic Imagination (1983).

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Abb. 3: #1, Seite 2 und 3. Sehen und Gesehen-Werden. King, Walta, Walsh und Bellaire. The Vision. The Complete Collection. #1, 2–3.

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Im Verlauf dieser zweiten Seite füllen sich die Panels zunehmend mit Schatten, die schließlich in einem Splash-Panel auf der dritten Seite ihre Schraffur zurückerlangen; diesmal verlagert ins Inneres des Hauses der Visions, die bei geöffneter Tür ihre Nachbar✶innen (und die Lesenden ein zweites Mal) in Empfang nehmen. Trotz ihrer bedrohlichen Größe findet nicht einfach ein Tausch der Positionen vom Nachbarsehepaar und den Visions, von Bedrohtem und Bedrohung statt. Entscheidend ist, wie die Perspektiv-Konstruktionen des Bildes den bedrohlichen Blick im Verlauf der Seite nach und nach von den Figuren lösen, indem sie sich mit jedem neuen Panel verschieben von einer halbnahen Frontalansicht von George und Nora im ersten Panel über einen detaillierten Point-of-View beim Betätigen der Türklingel im zweiten, über eine entfernte Seitenansicht im dritten, einer Sicht über die Schulter des Ehepaars im vierten und schließlich einer seitlichen Stellung zu ihnen und Vision im letzten Panel. Dieses Hin und Her zwischen Binnen-, Frontal- und Seitenansicht, zwischen nah und fern mündet auf der dritten Seite in einer Stellung des Blickes zwischen den Nachbarsparteien. In leichter Untersicht ragen die Visions empor. Der Blick der Lesenden irgendwo auf Bauchhöhe gesetzt, entkoppelt sich vom Point-of-View des Nachbarehepaars. Hier treffen nicht bloß Ordinäres und Außergewöhnliches aufeinander. Die Blicke, die sich in den Perspektivkonstruktionen und den Erzählperspektiven einstellen, werden selbst zum Ursprung jener sich scheinbar unendlich ausdehnenden Störung des suburbanen Raumes. In diesem Moment, da sich der Blick von den Figuren zu lösen und den Erzählboxen anzuschmiegen beginnt, droht der Kompromiss der Figuren mit den bedrohlichen Blicken zu zerfallen. Wenn George und Nora das Haus der Visions betreten, entfaltet sich ein Sehen und Gesehen-werden, das den Rest der Serie bestimmen wird und auf den letzten beiden Seiten der Eröffnungssequenz den bedrohlichen Blick noch einmal neu qualifiziert. Eingeschrieben in diese Blicke und damit an ihnen beteiligt, sind die der Lesenden, die ihrer Einladung auf dem Cover gefolgt sind.

Vom Blick vorgezeichnet Die Doppelseite vier und fünf begleitet George und Nora beim Betreten des Hauses der Visions, einer Führung durch dieses und schließlich auf dem Weg nach draußen. Die Hausführung zieht sich entlang einer Reihe von Memorabilien aus Visions Zeit bei den Avengers. Sie endet vor der Pflanze „Everbloom“, deren Blüten im Verlauf der Comicserie zweifach Zukunftsvisionen auslösen und so den Verlauf der Handlung auf eine noch zu untersuchende Weise vorzeichnen. Während es Vision ist, der das Nachbarsehepaar durchs Haus führt, treten die Sprechblasen,

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die den Beginn und das Ende der Doppelseite rahmen, zugunsten von Erzählboxen zurück, die den Lesenden Geschichten zu den sichtbar werdenden Gegenständen erzählen. Hat sich die Perspektive des Bildes auf den vorherigen zwei Seiten vom Ehepaar gelöst, scheint sie sich auf den Seiten vier und fünf frei durch den Raum und zwischen den Figuren hin und her zu bewegen: zwischen seitlichen Ansichten und Point-of-Views beider Familien, vogelperspektivischen, distanzierten Ansichten und Detailansichten von Gegenständen und Gesichtern. Die rahmenden Sprechblasen markieren eine weitere Differenz. Nicht nur sind es zunächst ausschließlich die Visions, die sprechen und nach der Führung allein George und Nora, auch gibt es eine klare, optische Differenzierung ihrer Sprechblasen und damit deren Klangqualitäten. Den weißen Sprechblasen menschlicher Figuren wie George und Nora sind im Falle der Visions gelbe Blasen gegenübergestellt, die jeweils vier gleichmäßig verteilte Einkerbungen an ihren Rändern aufweisen. Verzögert vollzieht sich hier in Sprechakten, was sich als Relation über Blicke seit dem Cover bereits mehrfach eröffnet hat: Die Relation von Präsentation und Reaktion, in der die Visions sich hier vorstellen und George und Nora anschließend ungehindert nach dem Verlassen des Hauses ihren Streit um die ‚Menschlichkeit‘ der Visions fortführen. Der eingeladene Blick hat im Übertreten der Schwelle jene Relation gesetzt, die mit der Einladung dieses Blickes verhindert werden sollte. George und Nora haben hingesehen und festgestellt, dass es durchaus etwas zu sehen (und zu hören) gibt; dass die Einrichtung eben keine Einrichtung ist, sondern sich mehr als Museum der Erinnerungen von Superheld✶innen-Tätigkeiten hervorheben. Während sich diese Relation realisiert, bindet sich der bedrohliche Blick der vorherigen Seiten in einem Umschwung der Erzählperspektive fest an die Erzählungen der lilafarbenen Boxen. Im vorletzten Panel (Abb. 4) konstatiert die Erzählstimme im Adressieren ihres Sprechaktes als Erzählung ein Vorwissen den Figuren gegenüber: „Later, near the end of our story, one of the Visions will set George and Nora’s house on fire. They will die in the flames“ (King 2020, #1, [5]). Indem der Sprechakt sich selbst als Erzählung ausweist und im „our“ die Lesenden noch in seine Perspektive einbezieht, bindet er jenen Blick, der vom Cover ausgehend die Lesenden einlud, sich und sie an die Position der Schattenschraffur und damit die Quelle des drohenden Unheils setzte, fest an sich. Auch der Bildraum bleibt von dieser Verschiebung nicht unbeeindruckt: plötzlich löst sich der ansonsten so gleichförmige Hintergrund der Vorstadt auf, zeigt George und Nora von einem rot-orangenen Farbverlauf, der sich wie der Lichtkranz jener angedrohten Flammen in einen grau-blauen Himmel streckt. Damit richtet sich die ganze Welt an jenem bedrohlichen Blick aus, der die Lesenden in sich einschließt, als Ursprung des dunklen Schattens markiert wurde und sich nun fest an den drohenden, sprachlichen Erzählakt bindet, und taucht die Figuren ins Licht eines Unheils. Dieses konkretisiert sich noch einmal im letzten

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Abb. 4: Panel 2–5. Die Leser✶innen sind eingebunden in den bedrohlichen Blick. King, Walta, Walsh und Bellaire. The Vision. The Complete Collection. #1, 5.

und bisher größten Panel der Sequenz (ausgenommen der Splash-Page auf Seite 3). Auf einmal öffnet sich der Blick erstmals einer Totalen der Nachbarschaft, gibt gleich zwei Straßenseiten und mehrere Häuser preis. George und Nora laufen,

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dem Blick den Rücken zugekehrt, einem deutlich gesetzten Fluchtpunkt in der Mitte des Bildes entgegen. Ein Wind bläst Laub nahe des unteren Panelrands durchs Bild. Und genau hier zieht sich rechts unten die nächste Schattenschraffur erneut vom vorderen Off des Bildes in dieses hinein. Nur ist diese Schraffur kein klar definierbarer Schatten mehr; keine menschliche Silhouette und kein Umriss eines Bildobjektes. Sie erinnert an den Schatten einer Wolke, nur wäre diese am ansonsten freien Himmel fremd. So ist im Verlauf der Sequenz aus einer Bedrohung anonymer Personen und ihren Blicken und Schatten eine alles umfassende, bedrohende Erzählung geworden, von der eine dunkle Materialität ausgeht und die in einer subjektivierten Erzählstimme organisiert den Blick der Lesenden an sich bindet und zu Verbündeten des Setzens eben jener Relationen macht, die das ‚normale‘ Vorstadtleben (der Visions) nicht nur zur Unmöglichkeit, sondern zum Unheil verklärt. Somit scheint sich De Dauws Kritik an selbsterhaltenden Wiederholungsstrukturen dieser Erzählung zunächst zu bestätigen: Wäre diese Eröffnungssequenz das Muster, nach dem die weiteren Bände verfahren, so würde sich im Determinismus der Erzähltexte tatsächlich das Setzen von Relationen durch die Blicke des Comics als alternativlose Vorbestimmung ausbilden. Ob dies sich jedoch für The Vision als Serie bestätigt, insbesondere für seine Art und Weise Familie als Bild zu denken, lässt sich erst beantworten, wenn man die Spur dieser sich an den Erzähltext bindenden Blickkonstruktion entlang ihrer Bewegungen durch die 12 Bände verfolgt. Schlaglichtartig soll diese im folgenden Abschnitt nachgezeichnet werden.

Differenzen und Wiederholungen Am Ende der Eröffnungssequenz des ersten Bandes „Visions of the Future“ kündigt sich der Erzähltext als Zukunftsvision an. Dieser drohende Determinismus konkretisiert sich erstmals am Ende des dritten Bandes. In einer in schwarz-weißen Kontrasten mit wenigen Farbakzentuierungen gestalteten Binnenerzählung vollzieht die Hexe Agatha Harkness ein Ritual. Sie verspeist aus dem Magen einer ermordeten Katze eine Blüte der Everbloom-Pflanze und erhält daraufhin eine Zukunftsvision. Im letzten Panel dieses Bandes beginnt Agatha mit einem entsetzten Blick, der sich erneut an die Lesenden richtet, in einer Sprechblase die ersten Sätze des Erzähltextes des ersten Bandes zu wiederholen (King 2020, #3, [20]). Die dunkle Schattenschraffur findet sich in ihrer Kleidung wieder und verbindet sich mit dunklen Kleksen und Spritzern, die von ihrem blutrot gefärbten Mund ausgehend in die hellgraue Umgebung sprühen. Die dunkle Schraffur vermengt sich mit dieser flüssigen

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Qualität zu einem brutalen Übergriff in die Umgebung Agathas und setzt den ebenso brutalen Determinismus der Erzählung fort. Wiederum drei Ausgaben später vollendet sich die Anbindung der Erzählstimme an Agatha. Die lilafarbenen Erzähltexte führen sich nach dem Umblättern auf die letzte Seite, jeweils durch drei Punkte miteinander verbunden, in nun weißen Sprechblasen fort. Sie sind gebunden an eine gegenwärtige Geist-Erscheinung der Hexe, die dem Blick der Lesenden den Rücken zukehrt und ihre Erzählung im letzten Panel mit dem Vorzeichnen eines Untergangs abschließt: „He will raze the world“ (King 2020, #6, [20]). Ihr Blick wird dabei aufgefangen von einer großen Gruppe anderer Figuren: den Avengers, die den Bildraum anfüllend Agathas Erzählung bis hierhin gelauscht zu haben scheinen und nun zum Hoffnungsträger einer möglichen neuen Differenz der permanenten Wiederholung und zur Vorzeichnung durch die Erzählung werden, indem sie genau diese vereiteln sollen. Hier zieht sich ein Riss durch die Serie. Die siebte Ausgabe besitzt bis zur letzten Seite einen deutlich anderen Zeichenstil6 und erzählt von Visions vergangener Partner✶innenschaft mit der Hexe Wanda. Erst als die Ausgabe auf der letzten Seite in die Gegenwart (und den gewohnten Zeichenstil und mit ihm in einen von Schatten angefüllten Splash-Panel) zurückfindet, setzen erstmals wieder Erzählboxen ein. Die Seite zeigt eine aus dem vorherigen Flashback wiederholte Situation. Vision erzählt Virginia im Ehebett einen Witz, der einst Wanda zum Lachen brachte, in seiner erschaffenen Ehefrau jedoch keine Regung verursacht. Der Erzähltext greift diese Wiederholung als seinen eigenen Neubeginn auf: „In the end, we begin again. / And everything is new and different“ (King 2020, #7, [20]). Wiederholung und Differenz sind hier in eins gesetzt, die Erzählstimme ist wieder da, aber anders: rot, nicht mehr lila gefärbt und doch sprachlich kaum von der vorherigen zu unterscheiden, ebenso vorahnend, ebenso vorzeichnend und ebenso ungebunden an eine Figur, wie ursprünglich Agathas erzählte Vision. Es dauert bis zum Ende des elften Bandes, ehe sich diese neue/alte Erzählung wieder zu binden versucht. Bis hierhin hat Virginia Agathas Ritual mithilfe der Everbloom-Pflanze im Hause der Visions wiederholt. Sie scheint so einen Mord vorauszusehen, den Vision begehen wird, um seine Familie und den Tod seines Sohnes Vin zu rächen. Nicht die Avengers sind es letztlich, die Visions Entgleisung vereiteln, sondern Virginia, die sich selbst opfernd den Mord für ihren Ehemann begeht und einen Ausweg für sich nur noch im Freitod findet. Im zentralen Panel der letzten Seite von Ausgabe 11, bindet sich der Erzähltext zwar noch nicht an eine Figur, offenbart aber wie einst der lila Text der ersten Ausgabe ihre✶n Adressat✶in. Diese rote Erzählung ist hier weder an ein Wir noch an die Avengers gerichtet, son-

 Tatsächlich löst hier Zeichner Michael Walsh für eine Ausgabe Gabriel Hernandez Walta ab.

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dern einzig an Viv: „But remember, always remember my darling Viv– / [...] / Your mother fought this code and saved you.“ (King 2020, #11, [20]). Doch auf die Nennung der Adressatin erfolgt in dieser Erzählung keine unmittelbare Anbindung an eine adressierende Figur. Zunächst setzt die rote Erzählung im zwölften Band sogar aus. Erst sechs Seiten später – auf der nächsten Splash-Page – setzt sie wieder zur Abschiedssequenz von Vision und Virginia ein, die mit ihrem Freitod endet. Auf dieser Seite steht Vision vor der Tür seines ins Dunkel gehüllten Hauses. Ein von Tony Stark installierter Schutzmantel lässt die Tür weiß strahlen und damit, so Nowotny, wie im Weiß der Seite als ein noch zu füllendes Panel erscheinen (2019, 52). Hier wiederholt der Erzähltext ein drittes Mal die ersten Sätze des ersten Bandes und setzt so die Hoffnung auf eine tatsächliche Differenz in diesen leeren, weißen Raum. Die letztliche Bindung an eine Figur findet erst nach der zehnseitigen Abschiedssequenz statt. Sie führt hier wider Erwarten nicht zur Mutter, die ihre Held✶innengeschichte erzählt, sondern zu Wanda, die auf einem Spaziergang mit Viv das Opfer der Mutter zur heroisierenden Erinnerung macht. In dieser wird Virginia zu eben jener Superheldin erhoben, wie Vision es als Avenger, so betont die Serie gleich mehrfach, schon oft gewesen ist: 37-mal habe Vision die Welt gerettet, einmal tut es hier nun Virginia.7 Der Spaziergang streckt sich über zwei Seiten, deren erstes Panel die Bewegungsrichtung des Paares zu der von George und Nora aus dem letzten Panel der Eröffnungssequenz umkehrt. Wanda und Viv laufen aus der Bildtiefe eines horizontalen Panels auf die Lesenden zu, im Hintergrund nicht mehr eine triste Kleinstadt sondern das Lincoln Memorial. Im letzten Panel der Sequenz umarmt Viv ihren wiederbelebten Hund Sparky. Die Schraffur unter ihnen ist nicht mehr eigene Materialität des Schattens. Sie scheint dem grasbewachsenen Untergrund zu entspringen. So zieht für einen kurzen Augenblick tatsächlich eine Differenz in die Welt von The Vision ein. Welche Rolle spielt hier nun der kritisierte Epilog (De Dauw 2020, 138)?

Familie als Bild, Familie als Bewegung Im dreiseitigen Epilog der Serie führen Vision und Viv als einzige Überlebende der Familie zunächst tatsächlich ein scheinbar ‚normales‘, das heißt hier störungsfreies und unbeobachtetes Familienleben. Vision verabschiedet Viv bei

 Zu einer detaillierten Auseinandersetzung mit eben diesen 37 Wiederholungen siehe Packard 2018.

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ihrem Aufbruch zur Schule. Im Vergleich zur Eröffnungssequenz sind die Farben satter, die Flächen klarer und vor allem die Blicke in den Raum unbesetzter. Kein Schatten zieht sich durch den Blick ins Bild, keine Point-of-Views werden eingenommen und zu keinem Zeitpunkt wird der Blick der Lesenden von den Figuren adressiert. Auf der letzten Seite bricht der Band mit dieser Idylle, indem er zeigt, wie Vision im Geheimen an der Erschaffung eines weiteren Synthezoiden bastelt (Abb. 5). Sein Wiederholen eines Liedes, das Virginia häufig am Klavier sang, deutet dieses neue Modell als neue/alte Ehefrau an und die diese tatsächlich neue Blickkonstruktion des Epilogs droht wieder in sich zusammenzufallen. Diese letzte Seite besteht aus zunächst sechs auffällig kleinen, fast quadratischen Panels in denen Vision über einen geheimen Schalter einen Sarg aus dem Boden fahren lässt; und schließt mit drei auffällig hoch gestreckten Panels, die ihm beim Arbeiten an dem neuen/alten Familienmitglied zeigen. Schwarze Schraffuren ziehen sich dabei von oben nach unten ins Bild und scheinen tatsächlich nicht nur eine Rückkehr des bedrohlichen Blickes, sondern gar eine unausweichliche Wiederholung der Fehler und damit die von De Dauw kritisierte repetitive Struktur anzukündigen. Es ist ein Ankündigen einer nächsten Erzählung, die erneut versuchen wird das ‚normale‘ Familienleben als Relation zu setzen und selbst im (erneuten) Abwenden der darin vorgezeichneten Katastrophe nicht mehr vermag, als der (neuen) Virginia die Chance zu geben, die Welt in ihrem heldenhaften Aufopfern selbst zum zweiten, dritten oder 37. Mal zu retten. Doch während die drei letzten hohen Panels genau diese Wiederholung ansetzen, fällt das letzte der vorherigen sechs kleinen Panels wortwörtlich in den Blick der Lesenden. Zum einzigen Mal im Epilog und zum letzten Mal innerhalb der Serie werden die Lesenden direkt durch einen Blick adressiert. Sie blicken hier aus einer dem Hund Sparky angenäherten Perspektive, den Vision mit seinem Zeigefinger an den Lippen und zur Ruhe mahnt: „SHHHHH“ (King 2020, #12, [20]). Ohne, dass sich die Adressierung des Blickes gleich wieder in einer neuen Erzählung verliert, lässt The Vision den Blick einer Figur erstmals dem bedrohlichen Blick des Comics und der Lesenden selbst als Drohung gegenüberstehen: nicht als Flucht nach vorn in lächelnder Zuwendung, sondern als wehrhafte Mahnung. Hund und Lesende werden hier gleichermaßen zum Stillschweigen aufgefordert. Vision droht damit jenem Blick, mit dem die Lesenden in die Serie eingebunden und die Schatten Zugang zu ihrer Welt erhalten haben. Er mahnt hier nicht einzudringen, hier still zu bleiben. Es ist die Aufforderung ein Geheimnis für sich zu behalten: Hier gibt es nichts zu sehen! In den letzten Zügen schnellt damit das sich wiederholende Unheil der Figuren und die Relationalität von Normalität von den multiplen Erzählperspektiven zurück zur Position der Lesenden. Sie sind es, die am Ende die letzte Relation zum Gesehenen bilden und dabei Differenzen ziehen. Nicht allein Vision, sondern mit

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Abb. 5: Epilog, letzte Seite. Hier gibt es nichts zu sehen!. King, Walta, Walsh und Bellaire. The Vision. The Complete Collection. #12, 20.

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ihm die Lesenden sind es, die jene Bewegung fortführen, in der eine unerreichbare ‚Normalität‘ angestrebt wird. Das Bild des heteronormativen, weißen Familienlebens in der amerikanischen Vorstadt wird hier abgeschlossen als eine Gefangenschaft in eigens angelegten Strukturen. Dieses Bild ist dabei weder als normal, noch als moralisch korrekt gesetzt und sein Scheitern weder traurig noch tragisch qualifiziert (De Dauw 2020, 138). Es erschöpft sich nicht darin, Normalität als Konstruktion bloß auszustellen (Nowotny 2019, 54). The Vision steht seinem überholten Familienbild auch nicht alternativlos gegenüber. Die Alternative ist jedoch nicht primär in den Erzählungen und Motiven um Superheld✶innen und Mensch-Maschine-Hybriden zu suchen, sondern in den Blickkonstruktionen, aus denen heraus sich diese Erzählungen entfalten. The Vision gestaltet sich als kritische Reflexion darüber, ob Bilder tatsächlich Alternative oder Ausweg zu oder aus diesem Lebensmodell sein können; und ob ihre Problematik nicht vielmehr in jenen Strukturen verborgen liegt, die über Erzählungen Blicke auf diese Bilder richten und sie darin gleichsam mit (wieder-)herstellen. Teil dieser Struktur ist der ihr immanente Drang, Familie als Kerngemeinschaft in Relation zu angrenzenden Gemeinschaften (wie denen der Nachbarschaft) denken zu müssen und Familienbilder als fixierte Repräsentationen zu nutzen, um sie im Gemeinschaftsgeflecht zu positionieren. In seinem erneuten Bauen eines Familienmitglieds lässt die Serie Vision mit einer gewissen Tragik zurück. Denn was er hier in jedem Falle wiederholt, ist das Herstellen eines Familienmitglieds aus seiner Perspektive. Für die Serie The Vision gilt jedoch ein anderer Maßstab. Sie hat das Problematische dieses Blickes über Vision hinaus längst als Teil ihrer ästhetischen Erfahrung verhandelt. Über 12 Bände hat sie die Bedrohungen, die von diesem Herstellen von Familienbildern ausgehen, immer wieder zurückgebunden an die Blicke der Lesenden. Über diese Blickkonstruktionen, über das beteiligende Eingewoben-Sein in diese Blicke macht die Serie diese Konstruktion von Normalität erfahrbar. Sie bindet sie an die Lesenden zurück und überantwortet ihnen dieses Konstruieren. Gerade deshalb ist es entscheidend, dass die Serie sich am Ende zu einer weiteren, unerzählten Zukunft hin öffnet und die Lesenden in Unsicherheit darüber belässt, ob dies eine neue Erzählung oder nur eine weitere Iteration sein wird. The Vision überlässt den Lesenden damit die Erfahrung der Wirkmacht des eigenen Blickes darin, Bilder herzustellen, die die Bewegung dessen, was Familie als Relation von Individuen bedeutet, zu fixieren drohen. Die Alternative zum ‚normalen‘ Familienbild wäre es nach The Vision demnach, nicht nach einem alternativen Familienbild zu suchen, sondern die Suche nach einem Bild aufzugeben. Die Alternative zu jener Familie, die auf dem Cover der ersten Ausgabe zu sehen ist, bleibt in der offenen Zukunft dieser Serie unsichtbar. Sie muss es bleiben. Nur so kann vermieden werden, dass die Visions als

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Familie am Ende wieder als ein Bild sichtbar werden, das eingerahmt werden kann und wie das Cover der ersten Aufgabe dazu einlädt und dazu hergestellt ist angesehen zu werden ohne zu stören.

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Familienüberzeichnung bei Ms. Marvel: Partizipative Umgestaltungsprozesse als kunstpädagogische Chance Comics eignen sich aufgrund ihres künstlerischen und inhaltlichen Potenzials sowie der enormen Beliebtheit des popkulturellen Mediums hervorragend für den Einsatz im Unterricht des Faches Bildnerische Erziehung (BE).1 Der vorliegende Beitrag fokussiert als Beispiel die Comicfigur Ms. Marvel alias Carol Danvers, die seit 1967 in unterschiedlichen Publikationsformaten und Comicserien aus dem Hause Marvel Comics anzutreffen ist. Dabei durchlebt die Figur zahlreiche Transformationen, Veränderungen und Überzeichnungen auf diversen Ebenen. Seit 2014 agiert eine neue Figur unter der Identität Ms. Marvel: die 16-jährige pakistanisch-amerikanische und muslimische Schülerin Kamala Khan. Diese komplexen Veränderungen werden im Folgenden anhand ausgewählter Beispiele aus bildungswissenschaftlicher Sicht für den Kontext Schule beleuchtet.2 Insbesondere der Dimension Familie kommt im Hinblick auf einen schüler✶innenbezogenen BE-Unterricht eine bedeutende Rolle zu. Auch bei Ms. Marvel ist Familie stets Teil der Überschreibungen.3 Mit der gewählten und fortan verwendeten Formulierung Überzeichnung wird die comictypische Bildästhetik der „überzeichnete[n] Reduktion“ (Sina 2016, 48) in Zusammenhang mit dem Akt der Überschreibung verschränkt. Familiäre Überzeichnungen in der Historie der Figur stellen aufgrund des Analysepotenzials und der Anknüpfungspunkte zum Lebensalltag der Schüler✶ innen den Schwerpunkt dieses Beitrags dar. Ziel des vorliegenden Textes ist es aufzuzeigen, wie Schüler✶innen im BEUnterricht durch die kritische Betrachtung der ausgewählten Comics in weiterer  Im Gegensatz zum deutschen Kunstunterricht sind in Österreich BE, Technisches und Textiles Werken sowie Mediengestaltung einzelne Unterrichtsfächer.  Vorangegangene Literatur, die sich mit Comics im bildungswissenschaftlichen Kontext Schule beschäftigen, sind beispielsweise Engelns u. a. 2020, Kirtley u. a. 2020, Seelow 2019.  Die kulturelle Methodik der Überschreibung kann im bildhaften Sinne einer Palimpsestierung aufgefasst werden. Darunter versteht man laut dem Beitrag Tradierung, Weiterschreibung, Überschreibung (o. D.) „eine antike oder mittelalterliche Manuskriptseite oder Rolle, die beschrieben, durch Schaben oder Waschen gereinigt und danach neu beschrieben wird“. In diesem Prozess wird etwas bereits Geschriebenes überschrieben, was folglich auch eine Löschung impliziert. Als weitere Strategien der Überschreibung sind Überblendung, Überlagerung, Verzerrung, Parodie, Veruneindeutung oder Verfremdung zu nennen (vgl. Brucher und Purgina, o. D.). https://doi.org/10.1515/9783110786392-015

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Folge an eigene partizipative Umgestaltungsprozesse herangeführt werden können.4 So beinhaltet die vergleichende Comicanalyse am Beispiel der Ms. Marvel zahlreiche persönliche und familiäre Überzeichnungen sowie Diversifikationsprozesse, deren Analyse als konkrete Ausgangspunkte für die eigene künstlerische und gesellschafts(um)gestaltende Praxis der Schüler✶innen dienen können.

Positionierung Die hier eingenommene kunstpädagogische Perspektive nimmt Bezug auf die Sekundarstufe I und II an den österreichischen allgemeinbildenden Höheren Schulen (AHS) und insbesondere das rezeptiv-reflexive Handlungsfeld5 des Faches BE, in welches auch die Comicanalyse eingeordnet werden kann. Fächerübergreifend erscheinen die allgemeinen österreichischen Unterrichtsprinzipien, im Speziellen die Grundsatzerlässe zur reflexiven Geschlechterpädagogik und Gleichstellung sowie zur interkulturellen Bildung,6 als besonders relevant (vgl. Unterrichtsprinzipien, o. D.). Dieser Zusammenhang spiegelt sich auch in der theoretischen Verankerung im Spannungsfeld von geschlechtergerechter,7 kunstpädagogischer (Eßer 2016) und migra-

 Für Auswahl- und Vorbereitungsprozesse wurden im Rahmen der eigenen Diplomarbeit (Huber 2020, 33–35) Analysekriterien entwickelt, anhand welcher Comics auf die Eignung für einen geschlechtergerechten Unterricht hin geprüft werden können.  Neben dem künstlerisch-praktischen kommt dem rezeptiv-reflexiven Handlungsfeld im BEUnterricht eine große Rolle zuteil. Das Fach BE umfasst ein umfangreiches Spannungsfeld von Inhalt, Methodik, Material, Technik sowie bildender und angewandter Kunst, visueller Medien, Umweltgestaltung, Alltagsästhetik. Dabei schreibt der österreichische Lehrplan künstlerischer Praxis dieselbe Bedeutung wie der Reflexion und Dokumentation bzw. Präsentation zu. An Aufgabenstellungen in der Oberstufe wird demnach die Anforderung gestellt, diese drei Kompetenzbereiche gleichwertig anzusprechen. Auch in der Unterstufe ist ein Gleichgewicht zwischen praktischen Gestaltungsaufgaben und Reflexion anzustreben (vgl. Verordnung des Bundesministers für Unterricht und Kunst vom 14. November 1984 über die Lehrpläne der allgemeinbildenden höheren Schulen; Bekanntmachung der Lehrpläne für den Religionsunterricht an diesen Schulen, 2021).  Interkulturelle Bildung wird in diesem Grundsatzerlass als Rahmenbegriff verstanden, wobei inhaltliche Veränderungen und Anpassungen an zukünftige Debatten stattfinden können (vgl. Interkulturelle Bildung – Grundsatzerlass 2017).  Geschlechtergerechter Unterricht ist im Sinne der konstruktivistischen Genderforschung zu verstehen. Folglich wird im Unterricht nicht nach spezifischen Unterschieden zwischen den Geschlechtern gesucht, sondern erforscht, wie Geschlecht und Geschlechterrollen konstruiert werden (vgl. Schneider 2015, 9). Geschlecht meint sowohl das soziokulturelle Geschlecht (Gender) als auch das biologische Geschlecht (Sex). Diese Differenzierung weist auf gesellschaftliche Konstruktion von Geschlechtlichkeit hin und entspricht der Lebensrealität von Schüler✶innen, wenn-

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tionspädagogischer Forschung (Mecheril 2013) wider. Bei der angewandten Methode handelt es sich um an die Literaturanalyse anknüpfende vergleichende Comicanalyse, bei der vor allem narratologische, semantische, syntaktische und genrespezifische Aspekte des jeweiligen Werkes betrachtet werden.8

Überzeichnungen der Figur Ms. Marvel Beim Versuch, die inhaltliche Figurenentwicklung der Ms. Marvel stringent und chronologisch zu ordnen, lassen sich – insbesondere bezüglich der Origin-Story und Backstory-Wound9 – Wiederholungen, Widersprüche und Überschreibungen feststellen. Bevor konkrete Familienüberzeichnungen fokussiert, analysiert und verglichen werden, muss zunächst ein Bezug zur allgemeinen Entwicklung der Protagonistin Ms. Marvel hergestellt werden, in welcher sich erste Überzeichnungen manifestieren. Die Figur Carol Danvers trägt ursprünglich den Namen Ms. Marvel. Sie ist Superheldin, Journalistin und ehemalige Pilotin bei der NASA. Als Protagonistin tritt sie in der nach ihr benannten Comicheftserie Ms. Marvel (Erstausgabe 1977) oder als Teil der bekannten Superheld✶innen-Gruppe Avengers im heft- und serienübergreifenden Universum von Marvel Comics auf. Ihre Reichweite und Beliebtheit steigt im Laufe der Zeit stetig an, was u. a. auf die multimedialen Adaptionen (Blockbusterfilme, Merchandise-Produkte etc.) zurückzuführen ist. Im Jahre 2012 wird Carol Danvers ursprünglicher Superheld✶innen-Name überzeichnet: Sie wird zu Captain Marvel und die Comics über sie werden von nun an unter diesem Namen publiziert. Im Jahr 2014 geht Marvel Comics einen Schritt weiter und führt – für die Leser✶innen zunächst irritierend – einen neuen Charakter unter der Identität Ms.

gleich es im Sinne der Gender- und Queer-Studies das Ziel sein sollte, diese binäre Struktur zu überwinden. Packard u. a. (2019, 153) behandeln diese Aspekte detailliert im Rahmen des Kapitels zur intersektionalen Comicanalyse.  Der Zugang zur Comicanalyse dieser Arbeit orientiert sich vor allem an der Einführung von Packard u. a. 2019, in der gängige interdisziplinäre Verfahren der Comicanalyse theoretisch und praktisch-methodisch behandelt werden.  Die Origin-Story als Hintergrund- bzw. Entstehungsgeschichte gibt den Leser✶innen in Superheld✶innen-Comics in der Regel Auskunft über die psychologische Motivation hinter den heldenhaften Taten und ist ein grundlegendes Identitätsmerkmal der jeweiligen Held✶innen. Auch die meist darin enthaltene(n) Backstory-Wound(s), also Erinnerungen an eine häufig traumatisierende, psychische Wunde, tragen zur Identität und Handlungsmotivation der Superheld✶innen-Figuren bei (vgl. Packard u. a. 2019, 128).

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Marvels ein: die 16-jährige pakistanisch-amerikanische und muslimische Schülerin Kamala. Typischerweise ist auch sie Teil der transtextuellen Storyworld Marvels,10 in der weiterhin ihr Idol Captain Marvel/Carol Danvers lebt. Kamala Khan selbst erhält unerwartet Superkräfte und steigt somit in die Fußstapfen ihres Vorbilds. Ihre Abenteuer werden u. a. in der eigenen Comicheftserie mit dem Namen Ms. Marvel publiziert. Nicht nur Name und Figur, sondern auch Serie werden folglich überzeichnet. Aufgrund der Komplexität des umfangreichen Marvel-Universums wird der Fokus der Analyse im Anschluss auf zwei prägnante Publikationen mit Familienüberzeichnungen gelegt. Dabei wird aus selbigem Grund kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben.

Captain Marvel – Die ganze Geschichte: Familienüberzeichnung der Familie Danvers Die Origin-Story der Figur Captain Marvel und insbesondere ihre familiäre Verankerung wird in der Anthologie Captain Marvel – Die ganze Geschichte (Abb. 1) im Jahre 2018 grundlegend überzeichnet.11 Captain Marvel/Carol Danvers erfährt in dieser Serie, dass sie seit ihrer Geburt Superkräfte besitzt, die ihr von ihrer Mutter weitervererbt wurden. Diese Erkenntnis widerspricht der wiederholt publizierten Behauptung, die Kräfte seien ihr erst bei einer Explosion von einem männlichen Superhelden übertragen worden.12 Die Überzeichnung betrifft nicht nur die Rolle der Superheldin selbst, sondern speziell die ihrer Mutter Marie Danvers. Maries Randauftritte in früheren Comics entsprechen den stereotypen Rollenklischees einer Mutter und dem damit

 Marvel verknüpft verlagseigene Comicreihen nicht nur in einer übergreifenden Storyworld und verstärkt so die Leser✶innenbindung, sondern löst die Episodenhaftigkeit der einzelnen Hefte und Serien durch das Prinzip der Kontinuität auf. Folglich wird seitens der Leser✶innen ein bestimmtes Wissen über vergangene Ereignisse innerhalb der Storyworld benötigt, um das jeweilige Werk vollständig erfassen zu können (vgl. Abel und Klein 2016, 243–244).  Die Anthologie umfasst die fünf Ausgaben der gleichnamigen Comicheftserie, veröffentlicht 2018 bis 2019, geschrieben von Margaret Stohl und gezeichnet von Erica D’Ursu, Carlos Pacheco und Marguerite Sauvage.  Die männliche Figur ist Mar-Vell, der ebenso den Titel Captain Marvel trägt. Bei der Umbenennung in Captain Marvel handelt es sich um eine doppelte Überzeichnung: einerseits der Ms. Marvel, andererseits des alten, männlichen Captain Marvel. Die Übertragung der Superkräfte von Mar-Vell auf Carol Danvers wurde zum ersten Mal 1969 im Heft 18 der Serie Captain Marvel (1968) publiziert und nach mehrfachen Wiederholungen beispielsweise auch noch 2017 in Captain Marvel 125 nacherzählt.

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Abb. 1: Julian Totino Tedesco. Captain Marvel – Die ganze Geschichte. Stuttgart: Panini Comics, 2019. Cover.

verbundenen Aufgabenspektrum, so wird sie beispielsweise beim Abwaschen oder Servieren gezeigt (Abb. 2). In Captain Marvel – Die ganze Geschichte, wird jedoch Marie Danvers’ Hintergrundgeschichte erzählt, wodurch sie eine eigene Origin-Story erhält: Auf einem anderen Planeten geboren, wurde sie als junge Captain Mari-Ell im Rahmen einer Mission zu Erde geschickt. Im Rahmen ihrer Mission lernt sie ihren späteren Mann Joseph ‚Joe‘ Danvers, Carols Vater, kennen und entscheidet sich bewusst dazu, ihre Mission und somit ihre Supermacht abzulegen. Sie zieht die Rolle als Mutter und Ehefrau einem Dasein als Kriegerin vor. Was als rückwirkende emanzipatorische Überzeichnung der Figur Marie Danvers interpretiert werden kann, wird nicht konsequent weitergeführt: Ab

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Abb. 2: Jim Mooney und Joe Sinnott. Homecoming! Ms. Marvel Vol. 1 (1977) 13. New York: Marvel Characters, Inc., 2014. 1.

dem Zeitpunkt der Heirat wird die Vergangenheit der Figur Marie Danvers nicht weiter inhaltlich überzeichnet. Die Familienüberzeichnung in Captain Marvel – Die ganze Geschichte betrifft nicht nur die Hintergrundgeschichten einzelner Charaktere, sondern in weiterer Folge die innerfamiliären Beziehungen. War der Witwer Joe Danvers beim Kennenlernen von Marie Danvers noch liebevoll und fröhlich, wird er im Laufe von Carols Kindheit launisch, übergriffig und alkoholabhängig. Das Bewusstsein, nicht dem herrschenden Rollenbild der beschützenden Vaterfigur als Familienoberhaupt gerecht werden zu können (sowohl Mutter als auch Tochter sind stärker, als er jemals sein könnte) und die damit verbundene Ohnmachtserfahrung werden als Auslöser für sein Verhalten präsentiert. Paradoxerweise fällt dem Vater die Rollenverände-

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rung seiner Ehefrau von der Kriegerin zur Hausfrau schwer, was als weiterer Grund für sein destruktives Verhalten präsentiert wird.13 Während das Verhältnis von der Protagonistin Carol Danvers/Captain Marvel zu ihrer Mutter in dieser Anthologie auf eine neue, nie dagewesene verständnisvolle Weise überzeichnet und gestärkt wird, erfährt die Verbindung zu ihrem Vater keinerlei Verbesserung. Es wird lediglich versucht, das unterdrückende, gewaltvolle, launische Handeln des Vaters durch eine Erweiterung seiner Backstory-Wound zu erklären.14 Ebenso unverändert bleibt die Tatsache, dass die Mutter keinerlei Mitspracherecht bei der Berufswahl und Ausbildungsfinanzierung der Tochter hat. Joe Danvers weigert sich, seiner Tochter eine Ausbildung zu ermöglichen bzw. diese zu finanzieren, da Carol seiner Meinung nach für Familie und Haushalt bestimmt sei. Das Privileg einer Berufsausbildung bleibt dem Bruder vorbehalten. Doch die Überzeichnung in Captain Marvel – Die ganze Geschichte betrifft nicht nur einzelne Figuren und innerfamiliäre Beziehungen, sondern das gesamte Familienkonstrukt. Der Witwer Joe Danvers bringt seine beiden Söhne mit in die Ehe: Die klassische Normfamilie wird somit überzeichnet und zur Patchworkfamilie. Die Beziehungen zwischen den Geschwistern bzw. Halbgeschwistern unterliegen dabei keinerlei Veränderungen. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Familienüberzeichnung in Captain Marvel – Die ganze Geschichte zwar das Familienkonstrukt öffnet, teilweise Origin-Story und Backstory-Wound ergänzt, dabei Wesenszüge einzelner Familienmitglieder, stereotype Rollenmuster und innerfamiliäre Beziehungen überspitzt. Die Comicanalyse knüpft hierbei im hohen Maße an Eßers (2016, 15) Appell den BEUnterricht betreffend an, eine Orientierungshilfe für Jugendliche im Umgang mit den vielzähligen geschlechterbezogenen Stereotypen und Geschlechterdarstellungen zu bieten. Im Kontext eines BE-Unterrichts, in welchem die Schüler✶innen als aktiv Gestaltende agieren, können die Erkenntnisse einer kritisch-reflexiven Comicanalyse anhand Captain Marvel – Die ganze Geschichte in weiterer Folge in künstlerischpraktischer Gestaltung münden. Nachahmung und Umgestaltung sind laut Eßer (2016, 43) beliebte Möglichkeiten der künstlerisch-kreativen Auseinandersetzung. So kann beispielsweise die Familie Danvers weiter entwickelt und umgestaltet wer-

 Das zu hinterfragende Männlichkeitskonstrukt, welches diese ambivalente Erklärung beinhaltet, wird im Comic nicht angesprochen und muss im Sinne eines geschlechtergerechten Unterrichts unbedingt thematisiert und aufgearbeitet werden.  Wenngleich der Vater kein Superheld ist, erscheint an dieser Stelle trotzdem die Begrifflichkeit Backstory-Wound treffend, da es sich um eine traumatisierende, psychische Wunde handelt, die einen Großteil der Handlungen erklärt.

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den. Darüber hinaus verbindet die Strategie der Überzeichnung diese Ansätze und bemächtigt die Schüler✶innen weiter: Etwas bereits Bestehendes wird für ungültig erklärt, dekonstruiert und durch neue Ansätze und Bilder modifiziert. Auf diese Weise kann übergreifend gelernt werden, dass gesellschaftliche Defizite auch in popkulturellen Massenmedien nicht einfach hingenommen, sondern kritisch reflektiert werden müssen.15

Ms. Marvel – Kamala Khan: Überzeichnung von islamophoben Vorurteilen durch Familie Khan Wie eingangs erwähnt, wird – zwei Jahre nach Carol Danversʼ Wandel zu Captain Marvel – die Figur Ms. Marvel durch die junge Kamala Khan neu besetzt und somit überschrieben.16 In der Anthologie Ms. Marvel – Kamala Khan (Abb. 3),17 die die ersten fünf Hefte der gleichnamigen Comicheftserie beinhaltet, werden Origin-Story der jungen muslimischen und pakistanisch-amerikanischen Superheldin sowie deren erste Missionen erzählt.18 Nachdem Kamala Khan unerwartet zu ihren Superkräften kommt, muss sie der Veränderung, ihrem Doppelleben als Superheldin und Schülerin, insbesondere aber auch der an sie gerichteten Rollenerwartungen als Tochter gerecht werden. Diese schwierige Aufgabe ist keine Neuigkeit im Superheld✶innen-Genre und

 Im BE-Unterricht kann diese Comicanalyse z. B. Auslöser für die Thematisierung gesellschaftlicher und rechtlicher Anerkennung von queeren Familienstrukturen sein.  Dieser Austausch eines bekannten Charakters durch einen ‚schwächeren‘ Charakter of color ist kein Einzelereignis: Diversität soll so erhöht werden und der alte Charakter ein Update erfahren, ohne an Akzeptanz bei der Fangemeinde einbüßen zu müssen (vgl. Cocca 2016, 210). Spannend bezüglich Diversität und Überzeichnung ist die Tatsache, dass in den 1980er Jahren die erste Schwarze Superheldin Monica Rambeau unter dem Titel Captain Marvel Teil der Avengers ist. Später arbeiten sie und Carol Danvers/Captain Marvel sogar zusammen.  Veröffentlicht 2014, verfasst von der muslimischen Autorin G. Willow Wilson und gezeichnet von Adrian Aphona und Jake Wyat.  Marvel Comics geht hierbei den zunehmenden Forderungen einer breiten Masse an Leser✶ innen für mehr Diversität und Identifikationspotenzial nach (vgl. Cocca 2016, 207–210). Die neue Serie Ms. Marvel entwickelt sich als extrem erfolgreich, trotz der zahlreichen Prognosen, neue weibliche Charaktere einer Minderheit würden nicht verkaufbar sein. Die erste Ausgabe bricht bereits sämtliche Rekorde und ist zu einem internationalen Topseller geworden (vgl. Cocca 2016, 207–210).

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Abb. 3: Nico Leon. Ms. Marvel – Kamala Khan. Stuttgart: Panini Comics, 2020. Cover.

entspricht einer Vielzahl an bereits dargestellten Standardsituationen.19 Doch bei Kamala Khan als Ms. Marvel werden interkulturelle Aspekte miteinbezogen und

 Ähnliche Erfahrungen macht beispielsweise die Marvel-Figur Miles Morales: Der Jugendliche tritt u. a. in seiner eigenen Comicheftserie als neuer Spider-Man auf und ist der Sohn eines Schwarzen Amerikaners und einer Puerto-Rikanerin. Nachdem Miles Morales unerwartet seine Kräfte erlangt, kämpft er in der zweiten Ausgabe der Serie Spider-Man (Vol. 2) mit den Schwierigkeiten den vielschichtigen Rollenerwartungen als Superheld, Schüler, Sohn und Enkelsohn gerecht zu werden. Er wird in diesem Comic u. a. von seinen Eltern und seiner Großmutter diesbezüglich zur Rede gestellt.

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Vorurteile sowie negative Stereotypen gegen Muslim✶innen und speziell das familiäre Zusammenleben auf diversen Ebenen dekonstruiert und überschrieben.20 Kamala Khan gewährt als Teil einer Minderheit Einblicke in ihre Ängste und ihre Wahrnehmung, anders als Gleichaltrige zu sein und nicht dazuzugehören. Als Ms. Marvel realisiert sie jedoch, dass sie lieber sie selbst sein möchte und stolz auf ihre Identität sein kann.21 Ihre Backstory-Wound scheint neben erlebten rassistischen Vorurteilen und Kämpfen mit dem eigenen Anderssein zudem generationsübergreifende Konfliktthemen zu beinhalten: Kamala Khan widerspricht aktiv den Vorurteilen (vor allem der älteren Generation) gegenüber Jugendlichen, egoistisch, faul und nur mit dem Smartphone beschäftigt zu sein (Abb. 4). Trotz des scheinbar zufälligen Erlangens der Superkräfte, ist ihre Entscheidung, Superheldin zu werden, eine bewusste und aktive. So entwirft sie ihr Kostüm schließlich selbst und fertigt dieses nach der Vorlage ihres Burkinis an. Das Kostüm als ikonographisches Symbol22 ist somit von immenser Bedeutung, da es neben der Selbstermächtigung bei dieser Handlung Auskunft über die familiäre und religiöse Identität und Systemverbundenheit der Superheldin gibt.

 Andreasson (2019, 70–71) spricht gesellschaftlich nicht nur von einer medialen Überspitzung des dargestellten Anderssein seit 9/11, sondern von einer regelrechten ‚Monsterisierung‘ negativer Stereotype in der Repräsentation von Muslim✶innen und dem Islam allgemein. Muslim✶ innen werden seitdem verstärkt als homogene, monsterähnliche Gruppierung stigmatisiert. Die Konstruktionsweise von kulturellen, politischen und religiösen Differenzen eines monsterähnlichen Anderssein in Medien, muss laut Andreasson (vgl. 2019, 70–71) in der kritischen Rezeption von Ms. Marvel stets miteinbezogen werden.  Erwähnenswert ist hier die Verwandlungsszene, in der Kamala Khan zunächst in Gestalt von Captain Marvel ihre Superkräfte erhält, wobei sie nicht nur deren Gestalt und Kostüm, sondern auch Haut- und Haarfarbe annimmt. Diese Metamorphose basiert auf dem Wunsch, nicht mehr äußerlich anders sein zu wollen und spiegelt Kamalas Ängste und Zweifel bezüglich ihrer pakistanischen Herkunft und ihres muslimischen Glaubens wider. Die Szene weist nicht nur temporäres Whitewashing auf, da ein nicht-weißer Charakter mit einer weißen Figur besetzt wird, sondern beinhaltet aufgrund einer konstruierten Unterscheidung eines Anderssein auch den Prozess des Otherings (vgl. Andreassen 2019, 71). Die unterschiedlichen analytischen Auseinandersetzungen mit dieser Schlüsselszene münden in etlichen Begründungsversuchen. So kann dies u. a. als marketingtechnischer Versuch gesehen werden, den Charakter auch einer nicht-multikulturellen Leser✶ innenschaft zugänglich zu machen. Weitere Interpretationen sind die Etablierung einer aktiven Entscheidung von Kamala Khan gegen das Weiß-Sein bzw. die aktive Thematisierung einer limitierten beruflichen Erfolgschance als nicht-weiße Person. Diese Ansätze sind bei Andreassen (2019) nachzulesen.  Ikonographische Symbole werden angelehnt an Panofsky als „symbolisch aufgeladene thematische Bezüge und Motivtraditionen auf der Bildebene“ (Packard u. a. 2019, 119) verstanden.

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Abb. 4: Adrian Alphona. Ms. Marvel – Kamala Khan. Stuttgart: Panini Comics, 2020. 167.

Bei näherer Analyse erfolgt durch die Superheldin Ms. Marvel eine Überzeichnung von islamophoben Vorurteilen insbesondere durch freundschaftliche und familiäre Verbindungen. In der heteronormativen Familienkonstellation von Vater, Mutter und zwei ehelichen Kindern scheint Religiosität ein allgegenwärtiges Thema zu sein. Gleichzeitig spielt die Comicserie auch hier mit den Erwartungen der Leser✶innen. Vor allem der Bruder ist streng gläubig und betet häufig, während die Eltern diese Hingabe als übertrieben ansehen. Sie selbst sprechen und handeln im Sinne von allgemein gültigen Normen und Werten wie Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft, Respekt und Fleiß. Wichtig ist jedoch hierbei zu erwähnen, dass die Religiosität des Bruders ihn zu keinem Zeitpunkt unglücklich erscheinen lässt – denn auch dies ist ein gängiges Vorurteil, mit dem Muslim✶innen konfrontiert sind (vgl. Andreassen 2019, 77). Kamalas eigene Religiosität ist offen, tolerant und bezieht sich ebenso auf Werte der Nächstenliebe. Verinnerlichte Zeilen aus dem Koran bzw. aus religiösen Gesprächen stärken sie in schwierigen Situationen und lassen sie richtige Entscheidungen treffen. Kamala Khan wird nach einem Regelverstoß von ihren Eltern zu einem von ihr gefürchteten Gelehrten in die Moschee geschickt. Doch auch diese Standardsituation wird revidiert, als dieser verständnisvoll, tolerant, zeitgemäß und offen reagiert (Abb. 5). Weitere Rassismuserfahrungen werden in Ms. Marvel angesprochen: Bedenken und Vorsicht der Eltern bleiben nicht unbegründet und existieren auch bei der

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Abb. 5: Jake Wyat. Ms. Marvel – Kamala Khan. Stuttgart: Panini Comics, 2020. 113.

Tochter. So hat Ms. Marvel bei einem ihrer Einsätze Sorge, dass aufgrund ihrer visuellen Erscheinung nicht nur ihre persönliche Identität entlarvt wird, sondern ihre helfende Tätigkeit negativ auf Familie und Religionsgemeinschaft in ihrer Moschee zurückfallen könnte (Abb. 6). Damit spielt sie konkret auf kollektive Erfahrungen der (amerikanischen) post-9/11-Gesellschaft an (vgl. Andreassen 2019, 75). Der in Ms. Marvel dargestellte Freundeskreis und Familienverband wirkt diesen Stereotypen und Vorurteilen entgegen. Durch die unterschiedlich entworfenen Ausprägungen des Islams erfahren muslimische Identitäten eine Diversifikation und gängige rassistische Stereotype somit eine Überzeichnung. Die Kommentare von gleichaltrigen Schulkolleg✶innen suggerieren beispielsweise Unterdrückung seitens der Eltern, insbesondere des Vaters, und transportieren diverse Klischees eines islamophoben Rassismus. In Ms. Marvel wird diesen Aussagen aktiv entgegengewirkt. So antwortet Kamalas Freundin Nakia

Familienüberzeichnung bei Ms. Marvel: Partizipative Umgestaltungsprozesse

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Abb. 6: Adrian Alphona. Ms. Marvel – Kamala Khan. Stuttgart: Panini Comics, 2020. 71.

auf die an sie gerichteten Fragen, ob ihr Vater sie zum Kopftuchtragen zwinge und ein Ehrenmord zu befürchten sei, selbstbewusst. Sie überschreibt demnach dieses Vorurteil mit einer Richtigstellung. Nakias Erklärung, ihr Vater lehne ihr Kopftuchtragen ab und halte es lediglich für eine Phase (Abb. 7), korrigiert somit die Annahme, Kopftücher seien als Zeichen der Unterdrückung von Frauen durch Männer zu lesen. In Ms. Marvel spielen Freundeskreis und Familie eine außergewöhnlich große Rolle. Anders als bei Captain Marvel sind sie nicht nur ergänzende, sondern essenzielle Elemente hinsichtlich Handlungsstrang, Figurengestaltung und Erfolg der Serie. Die Dekonstruktion von infrage zu stellenden rassistischen Stereotypen sowie der damit verbundenen Konstruktionsmechanismen ist stets Teil der Ereignisse, indem Auswirkungen auf Individuum und Familie gezeigt werden. Präsentem antimuslimischen Rassismus wird entgegengewirkt, indem rassistische und diskriminierende Vorurteile zwar implizit und explizit dargestellt werden, jedoch

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Abb. 7: Adrian Alphona. Ms. Marvel – Kamala Khan. Stuttgart: Panini Comics, 2020. 7.

durch Figuren, freundschaftliche und familiäre Beziehungen nicht bestätigt, sondern durchwegs hinterfragt und dekonstruiert werden.

Familienüberzeichnungen bei Ms. Marvel – kunstpädagogische Perspektive Kamala Khan konzentriert sich in und als Ms. Marvel im Sinne einer migrationspädagogischen ästhetischen Bildung nicht auf Trennung und Verstärkung von Differenzierungen zwischen Migrant✶innen und Nicht-Migrant✶innen.23 Angelehnt an Mecheril (2013, 28–29) soll migrationspädagogischer BE-Unterricht nicht lediglich kulturelle Unterschiede thematisieren (und dabei sogar in Gefahr geraten, Differenzen und Vorurteile bei den Schüler✶innen zu verstärken), sondern Konstruktionsmechanismen hinter diesen Unterscheidungen fokussieren. Dies beinhaltet beispielsweise die Frage nach Herkunft und Hintergründen von Differenzierungen, von (Zu-)Ordnungssystemen, Othering, sowie gesellschaftlichen Umgang damit. Ms. Marvel zeigt einerseits bestehende Differenzierungen durch erzählte Rassismuserfahrungen und gesellschaftlich reproduzierte Vorurteile auf, wirkt diesen aber andererseits durch eine Diversifikation von Stereotypen entgegen. Die kritisch-reflexive Comicanalyse muss hier diese konstruierenden Hintergrund-

 Teil der migrationspädagogischen Forderung ist die Abgrenzung zur interkulturellen Kunstpädagogik, welche die Integration von Anderen, von Menschen mit Migrationshintergrund und einen respektvollen Umgang mit kulturellen Differenzen und Fremdheit fokussiert. Mecheril (2013, 28–29) kritisiert, dass bei diesem interkulturellen Konzept von einer grundlegenden Verschiedenheit und einer Differenzierung von Migrant✶in – Nicht-Migrant✶in, von eigen – fremd ausgegangen wird.

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mechanismen aufdecken und benennen. Anhand des Comics kann im BE-Unterricht rassismuskritisches Lernen ermöglicht werden, ohne – wie zu Recht häufig kritisiert – auf die Vorerfahrungen diskriminierter Menschen zurückzugreifen. Von Rassismus betroffene Personen müssen sich und ihre Diskriminierungserfahrungen nicht wiederholend erklären, was Richter und Preetz (2012, 4) als schmerzhaften Prozess einstufen. Ms. Marvel kann hier stellvertretend agieren; als pakistanischamerikanische Muslimin, die von intersektionalen Diskriminierungsstrukturen betroffen ist (nämlich bezüglich Geschlecht, Herkunft und Religion) birgt sie ein breit gefächertes Identifikationspotenzial für die Schüler✶innen. Überdies werden Diskriminierungsvarianten in Erfahrungen von Familienangehörigen und Freund✶innen gezeigt, die jedoch stets mit Erwartungshaltungen spielen und gegen Vorurteile angehen. Zusätzlich eignen sich die von Klischees geprägten Aussagen der Comicfiguren zur Identifikation und Entlarvung des persönlichen internalisierten Rassismus, für den Verantwortung übernommen und der weiter überschrieben werden muss. Rassismus darf nicht als Ausnahme verstanden werden – er ist institutionell, strukturell und gesellschaftlich allgegenwärtig.24 Laut Mamutovič (2012, 6) sei es fehlerhaft, Rassismus als Randphänomen zu betrachten. Vielmehr sei er gesellschaftliche Normalität, was auch in Ms. Marvel gezeigt wird und durch einen kritisch-reflexiven Comicunterricht thematisiert werden muss. In Anbetracht dieser Faktoren begünstigt der Comic Ms. Marvel eine Begegnung der Schüler✶innen mit dem Medium und der Kunstform Comic zu, indem er deren Interesse auf mehreren Ebenen anspricht. Neben der thematisch-analytischen Aufbereitung des Comics für den Unterricht kann auch die eigene künstlerisch-praktische Umsetzung von großer Bedeutung für die Schüler✶innen sein. Individuelle Anliegen können durch diverse Erzähl- und vor allem auch Gestaltungsmöglichkeiten unkompliziert reproduziert und verbreitet werden. In der konkreten Unterrichtspraxis lohnt es sich, den Lernenden als Begleitung und Inspiration für die eigene künstlerisch-praktische Gestaltung weitere Comics sowohl mit unterschiedlichen Thematiken als auch diversen künstlerischen Stilen zu präsentieren. Comics aus populären Verlagen wie Marvel Comics werden von großen Künstler✶innen-Teams gestaltet und können Darstellungsdruck bei den Schüler✶innen erzeugen, sofern sie als einzige Beispiele gezeigt werden. Durch eine Vielzahl an bewusst ausgewählten Beispielen mit verschiedenen Zeichenstilen kann diesem Druck entgegengewirkt werden. Die konkreten Aufgabenstellungen,

 Auch Lehrpersonen haben die Pflicht, stets eigene Privilegien zu reflektieren und diese verantwortungsbewusst und im Sinne von Antidiskriminierung einzusetzen, da rassismuskritisches Lernen nie abgeschlossen sein wird (vgl. Richter und Preetz 2012, 4–5).

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Techniken und Umsetzungsmöglichkeiten liegen im Ermessen der Lehrperson und sind an die Bedürfnisse der jeweiligen Schüler✶innen im jeweiligen Unterrichtsund Klassengeschehen anzupassen. Als Beispiele für mögliche neue Überzeichnungen bieten sich Charakterumgestaltungen der Comicfiguren oder gesamten Familienstrukturen, neues Charakterdesign, Splash-Pages, One-Page-Comics, Webcomics, Interventionen im Schulgebäude, Zines etc. an.

Conclusio Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass das Medium Comic und die Themenbereiche Persönlichkeit und Familie für die Schüler✶innen niederschwellig zugänglich sind und zahlreiche Schwerpunktsetzungen erlauben. Wie diese Analyse exemplarisch aufgezeigt hat, sind Überzeichnungen im Comic gängiges Mittel und variieren in Ausprägung, Intention und Wirkung. Wurden bei Captain Marvel die Origin-Story, also ein Teilbereich einer Superheld✶ innen-Identität, sowie die Familienstruktur durch eine Familienüberzeichnung aktualisiert, erfolgt bei Ms. Marvel eine radikale Überzeichnung von Figur und Familie. Auf diese Weise findet ein Diversifikationsprozess durch Dekonstruktion von islamophoben, rassistischen Vorurteilen statt. Bei beiden Ansätzen handelt es sich um anregende Strategien für Schüler✶innen, die zu eigenen künstlerischpraktischen Arbeiten inspirieren können. Die Überzeichnung der Ms. Marvel – sei es durch Captain Marvel oder Kamala Khan – ermöglicht folglich eine außergewöhnliche Bandbreite an Einsatzmöglichkeiten im rezeptiv-reflexiven Handlungsfeld des Faches BE. Die Comicanalyse im geschlechtergerechten BE-Unterricht macht dabei visuelle und inhaltliche Defizite sichtbar, deckt Konstruktionsmechanismen von geschlechterspezifischen Klischees in Bezug auf familienspezifische Rollenbilder sowie rassistische Rollenklischees und -erwartungen auf diversen Ebenen auf und erlaubt Freiraum für künstlerischpraktische Bildproduktion. Die Comicanalyse erweist sich als relevantes kunstpädagogisches Werkzeug, mit deren Einsatz soziale und persönliche Kompetenzen von Schüler✶innen gestärkt sowie fachspezifische und fächerübergreifende Bildungsziele erfüllt werden können. In einem methodisch sowie inhaltlich geschlechtergerechten und rassismuskritischen Unterricht kann die Comicanalyse als Orientierungshilfe für Lernende dienen, die zur kritischen Meinungsbildung und zum aktiven Hinterfragen von Rollenklischees führen Bezüglich der Dekonstruktion von speziell familiären Rollenklischees kommt der Auseinandersetzung mit vielschichtigen freundschaftlichen und familiären Beziehungen sowie diversen Familienstrukturen eine tragende Rolle zu. Partizipative Umge-

Familienüberzeichnung bei Ms. Marvel: Partizipative Umgestaltungsprozesse

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staltungsprozesse im Comic stellen somit eine kunstpädagogische Chance dar, die zu stetem Diskurs anregen und einen Beitrag zu gestaltenden Demokratisierungsprozessen leisten.

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Klara Huber

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Interviews mit Comicschaffenden & Künstler✶innenstatements: Family matters

Kalina Kupczyńska

Einleitung: Family matters – Interviews mit Comicschaffenden & Künstler✶innenstatements Im Mittelpunkt dieser Sektion steht ein Austausch mit Comicschaffenden zum Thema ‚Familie‘, der in Form von Interviews und Statements konzipiert wurde. Die folgenden Künstler✶innen-Gespräche entstanden im Rahmen eines kollaborativen internationalen online-Lernprojektes, das 2020–2021 von Susanne Hafner von der Universität Fordham und Barbara Margarethe Eggert von der Kunstuniversität Linz initiiert, organisiert und durchgeführt wurde. Das Projekt hieß „Family 2.0: The De/Construction of Familiar Structures in Comics“ und wurde Teil des 10-tägigen NextComic-Festivals: Studierende aus Fordham und Linz bereiteten gemeinsam Interviews mit einigen am Festival beteiligten Comicschaffenden vor. Die Aufgabe der Studierenden umfasste neben der Recherche zur Person und Werk der✶des jeweiligen Künstler✶in und der Formulierung der Fragen auch die editorische Betreuung der endgültigen Druckfassung der Gespräche. Das Anliegen des transatlantischen Projektes war zum einen die kommunikative Vermittlung von deutscher Sprache an die amerikanischen Teilnehmer✶innen und zum anderen eine breit angelegte Erkundung des Konzepts ‚Familie‘ im Medium Comic. Die comicwissenschaftliche Tagung, die traditionellerweise als Begleitprogramm des Festivals veranstaltet wurde und diesmal den Titel „Eine Familie, wie sie im Buche steht?“ trug, galt als wichtiger theoretischer Rahmen für die Beschäftigung mit der Darstellung von sozialen Mikrostrukturen im Comic.

Stephanie Wunderlich im Gespräch: Eigene Familie als Comicthema, SPRING-Kollektiv als „Chosen Family“ Stephanie Wunderlich ist aktives Mitglied des SPRING-Kollektivs – ihren ersten Auftritt hatte die Künstlerin in der Spring-Anthologie #5 Alter Ego (2008), seitdem ist sie regelmäßig dabei. Die Gruppe gibt einmal pro Jahr die sorgfältig edierte Anthologie zu einem Thema heraus – die Themen sowie andere Entscheidungen bzgl. der Publikation werden basisdemokratisch getroffen. Es ist außerdem ein reines Frauenkollektiv, das einem Frustgefühl über das Gender-Missverhältnis in https://doi.org/10.1515/9783110786392-016

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Kalina Kupczyńska

der deutschen Comicszene entwachsen ist. Der Fokus liegt also auf „weiblichen Erzählperspektiven“ (Wunderlich im vorliegenden Band), jedes Jahr werden neue Zeichnerinnen zur Mitarbeit eingeladen. ‚Familie‘ ist ein Thema, mit dem sich die Künstlerin oft auseinandersetzt – die Arbeit, die auf dem NextComic-Festival vorgestellt wurde, trug den Titel „Töchter“, für die Anthologie Wunder (Spring #11, 2014) lieferte sie eine Geschichte über die Scheidung ihrer Eltern und für Familiensilber (Spring # 8, 2011) über ihre Oma Gundula. Wunderlich wurde gefragt, inwiefern das Spring-Kollektiv als Chosen Family gelten könnte. Das Zusammenhalten über die Jahre hinweg, die engen Kontakte innerhalb der Gruppe, gemeinsame Verantwortung für die Anthologie, gemeinsame Zeichenreisen, aber auch etablierte Rituale – wie etwa das obligatorische Gruppenfoto, das bei der Fertigstellung jedes Spring-Buches gemacht wird – ließen sich als Prämissen einer solchen Bezeichnung nennen.

Regina Hofer und Leopold Maurer im Gespräch: Was Familien verschweigen In ihrer Graphic Novel Insekten (2019) werden die Erinnerungen des Großvaters von Leopold Maurer an seine Kriegsjahre und die Beteiligung an Kriegsverbrechen als Mitglied der Waffen-SS erzählt. Maurer und Hofer haben den Großvater interviewt und seine Perspektive des überzeugten Nationalsozialisten in der Graphic Novel festgehalten. Die emotionale Nähe zum Großvater stellte dabei zuweilen eine Hemmschwelle und eine Herausforderung dar, zugleich machte sie den Autor✶innen bewusst, warum ähnliche Geschichten in vielen österreichischen Familien verschwiegen werden. Die familiäre Verstrickung des Enkels wird im zweiten Erzählstrang der Graphic Novel sichtbar, in dem er aus der Ich-Perspektive Szenen aus seiner Pubertät rekapituliert. Die Frage nach der Vererbbarkeit einer Affinität zur Gewalt schwingt dabei unterschwellig mit, ohne dass sie direkt artikuliert wird. ‚Familie‘ erscheint dabei als ein Umfeld, das eine✶n ideologisch mitprägt, etwa wenn man, wie im Fall von Leopold Maurer, mit gewissen Themen früh konfrontiert wird und sich damit auseinandersetzen muss, ohne die Familienbande zu zerstören. Die Familie gilt hier also auch als Wächterin über die politische Korrektheit und als eine Instanz, die „die Vergangenheit schönredet“ (Maurer im vorliegenden Band), um die eigene Integrität nach außen zu schützen.

Einleitung: Family matters – Interviews

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Anna Kohlweis im Gespräch: Familie als künstlerisches Miteinander Im Rahmen des NextComic-Festivals wurden die textilen Figuren der Künstlerin Anna Kohlweis präsentiert: House Apparitions (2019) sowie zwei Serien Inside Familiar (2020) und Mothering Myself (2020), bestehend aus digitalen Malereien. Die Arbeit Inside Familiar zeigt das Haus als ein Sinnbild für das ‚Konstrukt Familie‘ und spielt mit dem Konzept des „Familienhauses“ als einem Ort, an dem familiäres Zusammensein sich vollzieht. Über ihre Textilarbeiten erzählt die Künstlerin im biografischen Kontext – Anna Kohlweis’ Kindheit war geprägt durch die Nähleidenschaft ihrer ebenfalls künstlerisch tätigen Mutter, das Bedürfnis, „Kunst zu machen oder irgendwas zu machen und erfinden“ (Kohlweis im vorliegenden Band) betrachtet sie als Bestandteil ihres familiären Umfelds. Die Serie Mothering Myself reflektiert über das Konzept der Selbstfürsorge mit Rekurs auf die archetypische Bedeutung einer Mutterfigur.

Isabella Griessenberger im Gespräch: ‚Familie‘ transhuman denken und zeichnen Isabella Griessenberger erkundet visuell das transhumane Terrain zwischen Comicfigur, Cyborg, Mensch und Katze. Die Künstlerin „transformiert im Medium Comic die Mitglieder ihrer Katzen-Familie in Protagonist✶innen einer Storyworld, die Sci-Fi-Elemente und Alltagskomponenten miteinander verbindet“ (Eggert im vorliegenden Band). Isabella Griessenberger betreut eine elfköpfige Katzen-Familie und sieht es als wichtigen Teil ihrer künstlerischen Arbeit, über die Verantwortung, die v. a. mit der Pflege der besonderen Rasse der Nacktkatzen verbunden ist, aufzuklären. Zugleich interessiert sich Griessenberger für den visuellen Aspekt des Transhumanen und behandelt die Katzen mit ihren individuellen Charakterzügen als eine Inspirationsquelle für ihre grafischen Erkundungen der Schnittstellen zwischen biologischen Spezies (Mensch, Katze) und künstlichen bzw. fantastischen Wesen (Cyborg, Alien). Der familiäre Aspekt liegt dabei nahe: Die Künstlerin betrachtet ihre Katzen als Gefährt✶innen (companion animal), woraus die Verpflichtung zur Fürsorge resultiert. Hinzukommt, dass Griessenberger in ihren Comics den Aspekt der Verwandtschaft herausarbeitet, von dem Haraway spricht, wenn sie von Gefährtentieren als Effekten „der Paarung zwischen technowissenschaftli-

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Kalina Kupczyńska

cher Perspektive und spätindustriellen Praktiken der Haustierhaltung, mit ihren demokratischen Massen, die ihre Lebensgefährt✶innen lieben“ (Haraway 2016, 20).

Statement von Sheree Domingo: ‚Familie‘ im Spannungsfeld der aktuellen Diskurse; Künstlerinnen-Kollektiv als „Familie und Anker“ Die Comicautorin Sheree Domingo greift in ihrem Beitrag „Verbandelt“ einen Aspekt auf, der bei dem Thema ‚Familie‘ oft übergangen, verschwiegen, ja sogar tabuisiert wird. Es handelt sich dabei um die Rolle solcher Institutionen wie Pflegeund Senior✶innenheime bei der Aufrechterhaltung des familiären Lebens von Alten und Kranken. Domingo hat ihre Perspektive auf diese Problematik im Comic Ferngespräch (2019) gezeigt, wo sie eigene Erfahrungen mit „alternativen Großmüttern“ (Domingo im vorliegenden Band), den Bewohnerinnen eines Pflegeheims, geschildert hat. Die Autorin nutzt eine autobiografische Narration für die Verarbeitung der Migrationsgeschichte ihrer Mutter, einer philippinischen Pflegekraft, im Kontext der familiären Bande. Die Verflechtung solcher zentralen Diskurse der Gegenwart wie (Arbeits-)Migration und Globalisierung mit dem nicht minder relevanten Thema des Umgangs westlicher Gesellschaften mit Pflegebedürftigen verleiht dem Comic von Sheree Domingo eine besondere Brisanz. Diese resultiert zugleich aus der intimen retrospektiven Sicht auf die eigenen und fremden Familienbedürfnisse und -defizite. Ein anderer Schwerpunkt des Beitrags von Sheree Domingo liegt in der Kooperation innerhalb des Comickünstlerinnen-Kollektivs Die Goldene Discofaust, die auf der Ausstellung „Vorbilder✶innen – Feminismus in Comic und Illustration“1 in Form einer langen Stoffbahn von den Mitgliedern der Gruppe dargestellt wurde. Den Zusammenhalt innerhalb des Kollektivs beschreibt Domingo als einen wichtigen Faktor ihres künstlerischen Lebens, sie bezeichnet die Gruppe als „Familie und Anker“ (Domingo im vorliegenden Band). Vor allem die Unterstützung und Aufmunterung seitens der Discofaust-Freundinnen in schwierigen Phasen, etwa auf der Suche nach einem Verlag, haben für Domingo eine große Bedeutung. Zugleich spricht die Autorin die Gemeinsamkeiten in der Wahl der Themen an: Einige Künstlerinnen aus dem Kollektiv teilen das Bedürfnis, die Re-

 Die von den Kuratorinnen Lilian Pithan und Katharina Erben konzipierte Wanderausstellung wurde u. a. im Rahmen des 20. Internationalen Comic-Salons Erlangen 2022 gezeigt. https://www. comic-salon.de/de/vorbilderinnen (abgerufen am 20.06.2022).

Einleitung: Family matters – Interviews

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flexionen über den Stellenwert der Familie in ihren autobiografischen Comics zu verarbeiten (so Karolina Chyzewska und Burcu Türker). In dem Beitrag werden dementsprechend Comics der Künstler-Kolleginnen als Inspirationsquelle aufgeführt, was die Rolle der Gemeinschaft als einen Ort des Austausches und konstruktiver Zusammenarbeit noch einmal unterstreicht.

Quellenverzeichnis Domingo, Sheree. Ferngespräch. Zürich: Edition Moderne, 2019. Haraway, Donna. Das Manifest für Gefährten. Übers. v. Jennifer Sophia Theodor. Berlin: Merve, 2016. Hofer, Regina und Leopold Maurer. Insekten. Wien: Luftschacht, 2019.

„Töchter“ und andere Familienangelegenheiten Ein Interview mit Stephanie Wunderlich, durchgeführt von Ilona Stütz unter der Beteiligung von James Sullivan Die Illustratorin Stephanie Wunderlich stellte im Rahmen des NextComic-Festival 2021 ihren Comic „Töchter“ (2016) aus. Anfang 2021 war sie in Krems zu einer Artist Residency eingeladen. Wir treffen die Illustratorin im April 2021 virtuell in ihrem Atelier. Im Hintergrund sieht man den großen Arbeitstisch, auf dem sich bunte Papiere stapeln und einen ersten Einblick in das Arbeiten der Künstlerin gewähren. Ausgangspunkt für das Gespräch war das Thema Familie, was nahe liegt, denn viele der Arbeiten Stephanie Wunderlichs kreisen um dieses Thema. Häufig erzählt sie Geschichten aus ihrer Kindheit und dem Heranwachsen; Protagonist✶innen sind dabei oft auch ihre Töchter, ihre Großeltern oder Eltern (Abb. 1). Motto des NextComic-Festivals im Jahr 2021 ist ebenfalls Next Family. Neben traditionellen Familienstrukturen werden alternative Familienformen thematisiert, wie queere, nicht heteronormative Kernfamilien oder auch das Konzept der Chosen Family. Ilona Stütz: Während des zweiten Tages des Symposiums Eine Familie, wie sie im Buche steht? Kritische Reflexionen über die Darstellung von sozialen Microstrukturen im Medium Comic lag der Fokus vor allem auf nicht-klassischen, vermeintlichen „Bilderbuch-Familien“. Im Zusammenhang mit dem Begriff der Chosen Family stellten einige der Panelteilnehmenden in den Raum, ob sie als Comicforschende und Forschungsgruppe einander nicht auch eine Chosen Family sind. Mit Blick auf deine Arbeit und SPRING habe ich mich gefragt, ob man das SPRINGKollektiv nicht auch als eine Chosen Family bezeichnen könnte? Stephanie Wunderlich: Das SPRING Kollektiv gründete sich vor mittlerweile 18 Jahren. Die Gruppe besteht aus einem Kern, der seit Jahren auch privat befreundet ist. Die ursprünglichen Gründungsmitglieder waren eine Gruppe Frauen, die alle an der Hochschule für Angewandte Wissenschaft in Hamburg bei Anke Feuchtenberger studierten. Über die Jahre stießen auch andere Illustratorinnen zur Gruppe dazu, die nicht in Hamburg studiert hatten. Ohne persönliche Beziehungen und ein Pflegen dieser, über regelmäßige Treffen, wäre das Projekt möglicherweise schon zu Ende gegangen. Vor allem auch gemeinsame Zeichenreisen in der Vorbereitung der Heftproduktion tragen zum Durchhaltewillen und Motivation bei. Für die Ar-

https://doi.org/10.1515/9783110786392-017

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„Töchter“ und andere Familienangelegenheiten

Abb. 1: Seite aus dem Comic „Töchter“. SPRING #13 THE ELEPHANT IN THE ROOM, 2016. 155.

beit an diesem Langzeitprojekt ist gemeinsamer Spaß, eine gegenseitige Wertschätzung und die Lust, miteinander Zeit zu verbringen, unumgänglich. Stephanie Wunderlich selbst studierte Kommunikationsdesign an der FH Augsburg und am ISIA Urbino, dem Istituto superiore per le industrie artistiche. Sie stieß mit dem 5. Band zum SPRING Kollektiv hinzu, das seit 2004 jährlich einen Band veröffentlicht. Diese Bände haben jeweils einen thematischen Schwerpunkt, zu dem alle Illustratorinnen Beiträge aus dem Bereich Comic, Illustration oder freie Zeichnungen erstellen. Der Name SPRING hat dabei nichts mit dem englischen ‚Frühling‘ zu tun, sondern ist vom Imperativ von ‚springen‘ abgeleitet.

„Töchter“ und andere Familienangelegenheiten

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James Sullivan: Vielleicht kannst du nochmals zusammenfassen, wie sich das Kollektiv gründete – einerseits was Motivation und Beweggrund war, aber vielleicht auch, ganz pragmatisch, wie die Zusammenarbeit über so langen Zeitraum gelingt oder gelingen kann. Stephanie Wunderlich: Tatsächlich bildete sich die Idee für SPRING aus einem Frustmoment heraus. Es gab damals an der Hochschule für Angewandte Wissenschaft eine andere Comicanthologie, für die Beiträge eingereicht werden konnten. Nachdem Vorschläge zweier Gründerinnen abgelehnt wurden, entsprang daraus die Idee, etwas Eigenes zu gründen, aus dem Bedürfnis, die Beiträge nicht umsonst gemacht zu haben. SPRING unterscheidet sich dabei grundlegend von der anderen Publikation, da es keine Chefredaktion gibt, die Beiträge auswählt, da unsere Gruppe basisdemokratisch funktioniert. Was bedeutet, dass es niemand gibt, der✶die am Ende die Oberhand hat und Entscheidungen fällt, sondern dass alles gemeinsam abgestimmt wird. Was SPRING außerdem von vielen anderen Comicanthologien unterscheidet, ist, dass es von Beginn an eine reine Frauengruppe war. Und das ist auch über die Jahre so beibehalten worden. Ziel ist es, damit weibliche Erzählperspektiven aufzuzeigen. Nachwuchssorgen gibt es dabei nie, da es einfach so viele tolle Zeichnerinnen gibt, wovon auch jedes Jahr einige als Gäste eingeladen werden, am aktuellen Band mitzuarbeiten. Einige dieser Gäste sind auch Teil der festen Gruppe geworden, da es natürlich auch hier einen gewissen Wechsel über die Jahre gibt. Wobei auch von der Ursprungsgruppe noch einige aktiv sind. Zu den Bänden gibt es außerdem die Tradition eines Gruppenfotos (siehe Abb. 2–5). Die Ähnlichkeit zur Tradition der Familienfotos ist unbestreitbar. Ein gewisser Bruch ist dadurch gegeben, dass passend zu dem jeweiligen Thema Verkleidungen oder Requisiten eingebaut werden. Im Artist Talk betonte Stephanie Wunderlich auch, dass die Arbeit an den Beiträgen zur SPRING Anthologie vor allem auch ein Ausgleich zu Auftragsarbeiten darstellt. Die Themen und die gewählten zwei Farben für den Druck bilden die einzige Vorgabe, die es innerhalb der Entwicklung der Beiträge gibt. Darüber hinaus gibt es niemanden, wie etwa eine✶n Chefredakteur✶in oder eine✶n Kund✶in mit Erwartungen. Jeder Band ist damit auch Experimentierfeld – erzählerisch wie auch gestalterisch. Ilona Stütz: Mich würde, wenn ich das fragen darf, vor allem auch interessieren, wie die Arbeit in der Gruppe finanziell über so lange Zeit aufrechterhalten werden kann. Beim Artist Talk im Rahmen des Symposiums hast du auch erzählt, dass euch als Kollektiv hochwertige Drucke total wichtig sind. Einzelne Bände sind teilweise sehr aufwändig produziert. Der Band Wunder (SPRING 2014) be-

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„Töchter“ und andere Familienangelegenheiten

Abb. 2: Gruppenfoto SPRING #15 ARBEIT 2018. Foto: Manfred Bogner.

Abb. 3: Gruppenfoto SPRING #16 SEX 2019. Foto: Manfred Bogner.

„Töchter“ und andere Familienangelegenheiten

Abb. 4: Gruppenfoto SPRING #17 GESPENSTER 2020. Foto: Manfred Bogner.

Abb. 5: Gruppenfoto SPRING #18 FREIHEIT 2021. Foto: Manfred Bogner.

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„Töchter“ und andere Familienangelegenheiten

steht aus einzelnen Heftchen, die zu großen Plakaten entfaltet werden können. Der Schuber, in dem alle Beiträge zusammengehalten werden, ist mit Siebdruck bedruckt. Der Band Gespenster (SPRING 2020) aus dem Jahr 2020 leuchtet im Dunkeln. Mich hat als Käuferin hier überrascht, dass die Bände vergleichsweise günstig erhältlich sind. Auch im Vergleich mit anderen Sammelbänden. Stephanie Wunderlich: Uns ist es immer wichtig, dass es am Ende ein hochwertiges Produkt ist, das man gerne liest und auch gerne im Regal stehen hat. Insofern wird auf Details sehr viel Wert gelegt. Das Projekt trägt sich finanziell selbst. Das heißt, Einnahmen des Vorjahres finanzieren die Produktion des nächsten Jahres und werden reinvestiert. Das bedeutet, niemand aus dem Kollektiv musste je etwas privat investieren, um die Veröffentlichung zu ermöglichen. Und es bleibt am Ende auch noch immer etwas über, um zum Beispiel Stände auf Messen zu bezahlen oder die Miete einer Unterkunft für die gemeinsamen Zeichenreisen im Vorfeld der Produktion. Neben dem Verkauf der Bücher selbst sind die Anzeigen im hinteren Teil der Bücher immer noch eine kleine zusätzliche Einnahmequelle. Es sind von den Zeichnerinnen persönlich gestaltete Anzeigen, die für die Kund✶ innen jetzt auch nicht wahnsinnig teuer sind und ein super Angebot darstellen. Vor allem da sie – salopp gesagt – mehr oder weniger zu Preisen verkauft werden, zu denen oft Originale nicht erhältlich sind. Für eine außerordentliche Projektreise wie die nach Indien für The Elephant in the Room (SPRING #13, 2016) haben wir um eine Förderung des Goethe Institut und der Stiftung meacenia angesucht. Aber ja, wären wir ein wirtschaftlich denkender, gewinnorientierter Verlag, müssten wir die Bücher teurer verkaufen. (Sie lacht.) Für das Kollektiv ist das aber ok, da wir, nicht wie ein Verlag, Mitarbeiter✶innen bezahlen müssen und niemand der Beteiligten darauf angewiesen ist, Gewinn aus dem Verkauf von SPRING zu machen. Der Band The Elephant in the Room (SPRING #13, 2016), ist in mehrfacher Hinsicht ein „Sonderband“. Er entstand in Verbindung mit einer Reise nach Indien. Acht deutsche Zeichnerinnen reisten ins südindische Nitryagram, um gemeinsam mit acht indischen Zeichnerinnen an einer Ausgabe von SPRING zu arbeiten. Visuell fällt der Band ebenfalls ein bisschen aus der Reihe, da er mit vier Farben gedruckt wurde. James Sullivan: Beim Symposium hast du auch erwähnt, dass manche Themen der Bände schneller feststehen und es bei anderen einen längeren Prozess des Entscheidens und Verhandelns braucht. Wie werden die Themen für die Bände allgemein gewählt? Stephanie Wunderlich: Die Themenvorschläge werden eigentlich meist gesammelt, sobald ein Heft abgeschlossen ist. Häufig sind es um die acht Ideen, die dann zur Abstimmung stehen. Wobei hier der demokratische Prozess auch wich-

„Töchter“ und andere Familienangelegenheiten

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tig ist und es eine erste und zweite Stimme gibt, um die Abstimmung feiner abzustufen. Der Band Familiensilber (SPRING #8, 2011), Nummer 8, fiel hier etwas heraus. Während einer Reise wurde das Thema vorgeschlagen und jede hatte sofort eine Geschichte dazu im Kopf und alle waren davon begeistert. Auch weil alle sofort Ideen dazu hatten, wurde später überlegt, ob es nicht noch eine zweite Ausgabe dazu geben soll. Natürlich gibt es auch Themen, mit denen mehr gerungen wird. Das Thema für die Ausgabe, die aktuell in Arbeit ist, ist Freiheit (SPRING #18, 2021). Das ist ein sehr großes Thema. Und ich habe beispielsweise ungewöhnlich lange gebraucht, um auf meine Geschichte zu kommen. Viele Ideen wurden schnell sehr komplex und anderes wiederum wirkte schnell trivial. James Sullivan: Wie läuft im Allgemeinen die Organisation der Zusammenarbeit ab? Stephanie Wunderlich: Einzelne Aufgaben sind klar verteilt, um einen Überblick zu behalten. So gibt es eine Person, die beispielsweise für die Finanzen verantwortlich ist, und jemand anderes für die Verwaltung der Anzeigen. Wenn Abstimmungsprozesse anstehen, dann nimmt das meist eine Person in die Hand. Um die Mailflut klein und übersichtlich zu halten, sind wir mittlerweile auf Slack, als digitales Kommunikationstool, umgestiegen. Wichtig ist uns auch, dass Gäste entsprechend begrüßt und eingebunden werden, sodass auch sie die Möglichkeit bekommen, sich einzubringen. Allgemein lebt das Kollektiv vom Austausch miteinander und auch gewissen Reibungen, die es geben kann und aus denen spannende neue Ideen entstehen. Das Ziel ist auch etwa, eine studentische selbstorganisierte Atmosphäre aufrecht zu erhalten, aus der das Kollektiv auch entstand. Während des Studiums hat man viele Gelegenheiten, mit anderen zu arbeiten, einander zu unterstützen, sich auszutauschen. Im Arbeitsalltag geht das häufig verloren. Man wird von Kund✶ innen für einen bestimmten Stil gebucht, muss Abgabetermine und Briefings einhalten. An SPRING ist dieser Gemeinschaftsprozess die Schönheit. Themen der bisherigen Bände waren unter anderem „Arbeit“ (SPRING #15, 2018), „Wunder“ (SPRING #11, 2014), „Gespenster“ (SPRING #17, 2020), „Sex“ (SPRING #16, 2019) oder „Yo Future!“ (SPRING #14, 2017). Der erste Band hatte den Titel Nachstellungen (SPRING #1, 2004). Zu diesem Jahresthema arbeiten die Illustratorinnen dann sehr frei. Was eine visuelle Klammer bildet, ist die Reduktion auf zwei Farben pro Band. Die einzelnen Beiträge sind sowohl im Aufbau als auch im Zeichenstil sehr individuell, die Verwendung der gleichen zwei Farben verbindet aber alle Beiträge, und so sind die einzelnen Beiträge eindeutig einem jeweiligen Band zuordenbar und auch für den✶die Leser✶in ergibt es eine gewisse Kohärenz. Ilona Stütz: Mich haben die Geschichten – und ich besitze persönlich einige Bände – eigentlich durchwegs alle sehr in den Bann gezogen und sie klingen teilweise doch

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„Töchter“ und andere Familienangelegenheiten

auch sehr persönlich und fantastisch, so dass ich mir dachte „Ok, die können nicht echt sein, oder das ist Realität mit einem Funken Fantasie und Abstraktion“. Beim Symposium meintest du aber auch, dass du die Geschichten so erzählt, wie sie passiert sind. Als Beispiel hast du aus dem Band Familiensilber die Geschichte deiner Großmutter erzählt, bei der erst nach ihrem Tod der Familie bekannt wurde, dass sie an einem gewissen Punkt im Alter nicht auf Kur war, sondern sich noch auf einer Fernreise befand. Diese „Das kann aber nicht echt so passiert sein“-Verwunderung hatte ich auch bei der Geschichte „Die wundersame Rückholung meiner großen Schwester“ (Wunderlich 2014) aus dem Band Wunder (SPRING #11, 2014). Hier wird die Geschichte der Scheidung der Eltern erzählt und wie sich du und deine Schwester zwischen dem Leben mit der Mutter und dem Vater entschieden habt und die Schwester beim Vater blieb. In der Geschichte wird erzählt, dass die Schwester am Ende durch ein Missverständnis zurück zur Mutter und dir „geholt“ wurde. Da ein Brief der vermutlich als Teil eines Spiels geschrieben wurde und der im Puppenhaus platziert war, von der Mutter gefunden wurde und diese ihn so interpretierte, dass die Schwester von Heimweh und Sehnsucht geplagt war. Ich habe mich beim Lesen vor allem gefragt, ob die Familienmitglieder jeweils vor dem Erscheinen der Bücher wissen, dass es um sie gehen wird, oder welche Geschichten erzählt werden. Oder auch, ob sie die Geschichten überhaupt kennen, oder so auch etwas Neues über die Familie erfahren? (Abb. 6). Stephanie Wunderlich: Bei der Geschichte mit meiner Schwester ist bis heute nicht ganz geklärt, wer den Brief geschrieben hat. Auch nach Veröffentlichung des Bandes sind wir uns beide jeweils sicher, ihn nicht geschrieben zu haben. Und es gibt somit auch zwei Wahrheiten. Aber es ist immer wieder spannend, dass ja auch über ganz vieles in Familien überhaupt nicht gesprochen wird. Grundsätzlich wissen meine Familienmitglieder aber schon oft, worum es in den Projekten geht, an denen ich arbeite. Ilona Stütz: Meine Frage wäre hier noch, wie die Geschichten ausgewählt werden, also welche der Geschichten du zu einem Thema erzählen möchtest. Weil es klingt, als wären so viele da und du hast auch vorher schon erwähnt, dass die meist sehr schnell gefunden sind. Stephanie Wunderlich: Innerhalb der Gruppe kann jede frei wählen, worüber und wie sie erzählt. Natürlich gibt es einen Austausch und es wird auch geschaut, wie viele Facetten abgedeckt werden. Gleichzeitig gab es im Band Familiensilber (SPRING 2011) drei oder vier Erzählungen über Großmütter. Also neben meiner noch weitere. Einerseits war dann die Überlegung, ob es zu einseitig ist. Aber gleichzeitig bekommt man gerade durch diese verschiedenen Geschichten über Großmütter neue Einblicke und Vergleiche darin, wie unterschiedlich die Erinnerungen und Geschich-

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Abb. 6: Seite aus dem Comic „Töchter“. SPRING #13, 2016. 148.

ten dann doch sind. Es wird eigentlich nicht bewusst gelenkt. Beim Heft Freiheit (SPRING 2021) wurde diskutiert, ob Corona thematisiert werden sollte, da es aktuell ist. Oder auch, ob die Beiträge politischer werden sollten, aber am Ende zeichnet sich SPRING vor allem dadurch aus, dass jede die Geschichte macht, auf die sie Lust hat und die sie erzählen möchte. Meine eigenen Geschichten stammen meist aus der Pubertät oder Kindheit. Also Phasen, zu denen ich auch schon eine gewisse Distanz habe. Über mein Erwachsenenleben habe ich noch wenig erzählt. Vielleicht weil es hier anfängt, zu persönlich oder zu intim zu werden und man Angst hat, zu viel preiszugeben. Obwohl es auch hier Geschichten zu erzählen gäbe, aber es mangelt eben an der Distanz. Und sei es nur, dass die Person, über die man erzählen möchte, verstorben ist und man sich im Rahmen der Trauer mit dem Menschen intensiver auseinandersetzt. Und die Distanz zu sich selbst hat man eben am besten mit den Jahren, so eben zu Kindheit und Pubertät. Wo es dann leichter fällt, sich auch mal über sich selbst lustig zu machen oder Geschichten humorvoll zu erzählen.

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Ilona Stütz: Das kann ich gut nachvollziehen. Vor allem, da die Erinnerungen oft auch etwas verklärt sind und man nicht mehr zu 100 Prozent weiß, wie was genau passiert ist. Es gibt auch eine Freiheit. Stephanie Wunderlich arbeitet vor allem mit Scherenschnitten und Collagen. Ein Stil, durch den man ihre Comics in den SPRING-Bänden schnell wiederfindet und erkennt. Im Kontext des NextComic-Festivals stellt sie Fine Art Prints der Comicseiten aus, auch da es keine wirklichen ‚Originale‘ der Comics gibt und es eine Überschneidung analoger Techniken und Materialien mit digitalen Bearbeitungen ist (Abb. 7).

Abb. 7: Work-In-Progress Abbildung (Copyright: Stephanie Wunderlich).

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James Sullivan: Kannst du deinen Arbeitsprozess noch etwas näher beschreiben? Im Hintergrund sieht man ja auch den großen Tisch mit den bunten Papieren. Was ist der Weg von der Idee bis hin zum Comic? Wird erst die Geschichte geschrieben, gibt es ein Storyboard oder Skizzen? Stephanie Wunderlich: Zu Beginn mache ich grobe Skizzen, die ein ungefähres Storyboard sind. Um eine Gesamtvorstellung zu haben. Und dafür reichen auch schon gewisse Andeutungen, um im Kopf zu haben, wohin es gehen wird und wie das Gesamte am Ende aussehen wird. Es gibt einen groben Aufbau, auch um zu wissen, wie die Doppelseiten aussehen werden. Ganz häufig arbeite ich mit Positiv- und Negativräumen und Kontrasten. Auf einer Seite arbeite ich Hell auf Dunkel und die zweite Seite der Doppelseite dann Dunkel auf Hell. Wenn das aber feststeht, dann arbeite ich darauf los. Und es ist nicht so, dass ich Seite für Seite mache. Sondern mal diese Seite, dann diese Seite. Und nach und nach werden so die acht Doppelseiten gefüllt. Durch dieses Planen zu Beginn und das parallele Arbeiten stelle ich auch sicher, dass sich die Stilistik durchzieht. Häufig ist es schon passiert, dass ich die Texte erst am Ende geschrieben habe, oder ich auch nicht wusste, wie die Geschichte ausgehen wird zum Zeitpunkt des Beginnens. Dieses Jahr passierte es zum ersten Mal, dass der gesamte Text bereits vor dem Zeichnen formuliert war und auch, dass feststand, wo er stehen sollte, da es kleinere Panels sind als sonst. Ilona Stütz: Was uns noch als ein stilistisches Mittel auffiel, das sich durch die Bände zieht, neben der klaren Reduktion auf einzelne Farben pro Band, war die deutsche beziehungsweise englische Untertitelung aller Beiträge. Vor allem beim Kooperationsprojekt mit den indischen Künstlerinnen könnte man annehmen, dass es Mittel zum Zweck war, um eine gemeinsame Sprache zu finden und das Buch sowohl in Deutschland als auch Indien lesbar zu machen. Aber es ist etwas, das sich durch alle Bände durchzieht. Das kam uns im Projekt und der Zusammenarbeit zwischen Linz und New York natürlich absolut zugute – was ist die Motivation dahinter? Vor allem da die Platzierung der Untertitel doch auch weitere Einschnitte in die Gestaltung bedeuten kann. Stephanie Wunderlich: Tatsächlich war das eine Entscheidung, die schon in der dritten oder vierten Ausgabe fiel. Und es ist vor allem praktisch, um sich sowohl an Menschen zu richten, die Deutsch sprechen, als auch an solche, die es nicht tun. Teilweise sprechen auch die Gäste nicht Deutsch und dann verfassen diese ihre Beiträge auf Englisch und werden deutsch untertitelt. Teilweise ist es auch herausfordernd, in der Gestaltung zu schauen, wo man eben Platz für die Übersetzung auf jeder Seite hat. Hier haben wir aber auch den Vorteil, dass die Ge-

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schichten häufig auch hinsichtlich Text eher reduziert sind. Und wir waren auch schon auf Festivals wie in Toronto eingeladen. Vermutlich wäre das nicht so schnell passiert, wenn unsere Bücher nur deutsch wären. Und so eröffneten wir uns eben die Möglichkeit, ein größeres Publikum zu erreichen. James Sullivan: Ich noch eine abschließende Frage. Wie stehen die einzelnen Familienmitglieder, also zum Beispiel deine Mutter oder auch die Töchter, dazu, immer wieder auch Teil der Geschichten zu sein? Immerhin wird doch auch Einblick in das Familienleben gewährt. Stephanie Wunderlich: Ach, meine Töchter finden das häufig lustig, Teil der Geschichte zu sein. Und sie kommen auch in dem neuen Comic wieder vor. Ich nehme an, sie sind auch etwas stolz. Und hinsichtlich der intimen Einblicke, sie treten doch meist eher als Randfiguren in den Geschichten auf und es geht weniger um sie persönlich.

Quellenverzeichnis SPRING (Hg.). Nachbestellungen. Hamburg: Mairisch, 2004. SPRING (Hg.). Familiensilber. Hamburg: Mairisch, 2011. SPRING (Hg.). Wunder. Hamburg: Mairisch, 2014. SPRING (Hg.). The Elephant in the Room. Hamburg: Mairisch, 2016. SPRING (Hg.). Yo Future. Hamburg: Mairisch, 2017. SPRING (Hg.). Arbeit. Hamburg: Mairisch, 2018. SPRING (Hg.). Sex. Hamburg: Mairisch, 2019. SPRING (Hg.). Gespenster. Hamburg: Mairisch, 2020. SPRING (Hg.). Freiheit. Hamburg: Mairisch, 2021. Wunderlich, Stephanie. „Die wundersame Rückholung meiner großen Schwester“. Wunder. Hg. v. SPRING. Hamburg: Mairisch, 2014. Plakat 14. Wunderlich, Stephanie. „Töchter“. The Elephant in the Room. Hg. v. SPRING. Hamburg: Mairisch, 2016. 143–158.

Zumutbare Wahrheit Ein Interview mit Leopold Maurer und Regina Hofer über „Insekten“, durchgeführt von Lisa-Viktoria Niederberger und Petra Weixelbraun „Okay, mein Großvater ist ein Kriegsverbrecher“ – Was in vielen Familien in Scham und Schweigen gehüllt oder unter den Tisch gekehrt wird, legen Leopold Maurer und Regina Hofer in ihrer Graphic Novel Insekten, die 2019 im Luftschacht Verlag erschienen ist, offen dar. Es ist am großelterlichen Küchentisch, wo in ein Diktiergerät gesprochen wird, der Großvater die Geschehnisse von fünf Jahren bei der Waffen-SS nicht ohne Stolz in der Stimme rekapituliert und die Großmutter nicht müde wird zu betonen, dass sie ja „trotz des Krieges eine schöne Jugend hatten“.

Lisa-Viktoria Niederberger: Die SS-Vergangenheit des Großvaters als Graphic Novel zu erzählen – wie können wir uns den damit verbundenen Arbeitsprozess vorstellen? Leopold Maurer: Mein Großvater hat immer viel über den Krieg erzählt. Interviewtechniken kannte ich von meinem Soziologiestudium. Und da dachte ich, dass es interessant wäre, ihn statt dieser klassischen „Der Opa erzählt vom Krieg“-Geschichte, einmal ganz genau zu fragen: Was war wann und wo? Ihn wirklich reden lassen, ihm eine Plattform geben. Dass wir dieses Projekt umsetzen möchten, haben Regina und ich gemeinsam beschlossen. Zwischen den einzelnen Interviews, auf denen Insekten basiert, und der Fertigstellung des Buches lagen Jahre. Dafür haben wir meinen Großvater dreimal jeweils einen ganzen Nachmittag lang interviewt. Regina Hofer: Und so eine Sitzung hat drei bis vier Stunden gedauert. Wir hatten also zehn Stunden Aufnahmen, die wir weiterverarbeiten konnten. Leopold Maurer: Genau. Dann haben wir zwar das Material gehabt, aber sehr lange nichts damit gemacht, weil’s uns zu steil war. Regina Hofer: ‚Perplex‘ trifft es für mich besser, vor allem nach dem dritten Gespräch. Ich war zu dem Zeitpunkt erst Anfang zwanzig, und ich konnte gar nicht richtig erfassen, was der Großvater alles erzählt hat. Er hat wirklich von Kriegsverbrechen gesprochen. Das war das erste Mal, dass ich einem Nazi gegenübergesessen bin. Viele schweigen darüber, aber er hat alles einfach so erzählt. Da waren wir wirklich schockiert, mussten das daheim besprechen. Zuerst haben wir die Interviews einfach weggelegt. Wir hatten zu dem Zeitpunkt gerade beide unsere Kunststudien beendet. Der Nationalsozialismus war für mich immer schon ein Thema, mit dem ich mich künstlerisch auseinandersetzen wollte. Ich komme nun mal auch

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aus einem Umfeld, wo das noch ein großes Thema gewesen ist. Nach dem Krieg hat das ja nicht einfach aufgehört, sondern ist verdeckt noch weitergegangen. Lisa-Viktoria Niederberger: Wusste der Großvater während der Aufnahmen, dass ihr plant, das Erfahrene künstlerisch zu verarbeiten oder zu veröffentlichen? Oder hat er das eigentlich nur für die familieninterne Erinnerung erzählt? Leopold Maurer: Ich weiß es gar nicht mehr. Ich glaube, wir haben ihm schon gesagt, dass wir was damit machen werden. Aber es war uns ja selbst noch nicht ganz bewusst, was das ist, und wie das dann aussehen wird. Es war immer der Gedanke da, es als Basis für eine Geschichte zu verwenden. Anfangs dachte ich: vielleicht nicht eins-zu-eins. Dass die Graphic Novel textlich so nahe an den Aufnahmen ist, das hat sich erst mit der Zeit entwickelt. Ich habe mehrmals begonnen, mit dem Material zu arbeiten, versucht Skizzen anzufertigen, aber es war lange nicht befriedigend für mich. Ich weiß gar nicht mehr, was den Ausschlag dafür gegeben hat, die Geschichte so zu erzählen, wie sie jetzt ist. Vielleicht war es die ÖVP/FPÖ Koalition (2017–2019), die uns klar gemacht hat: Da muss man jetzt was machen. Da muss man zeigen, was da los ist in vielen Familien Österreichs, was da noch unterm Teppich schlummert. Deswegen haben wir damit angefangen. Regina Hofer: Wir haben ihm eine Bühne geboten, aber wir waren uns auch nicht sicher, ob es gut ist, so jemandem eine Bühne zu geben. Jemandem, der dieser Ideologie noch immer anhängt und nicht reumütig ist. Aber wir wussten auch, dass es notwendig ist. Man muss auch einmal die Täter✶innen sprechen lassen. Lisa-Viktoria Niederberger: Also handelt es sich beim Text nicht um eine konstruierte Erzählerstimme, sondern sind es eins-zu-eins Zitate vom Großvater? Es liest sich nämlich auch so, als würde es ungefiltert rauskommen. Regina Hofer: Total ungefiltert, genau. Wir haben ja zwei Erzählstränge, von denen einer während des Kriegs spielt. Diesen Part habe ich übernommen, weil da Distanz notwendig war. Ich glaube, dass Distanz bei so einem Projekt ganz wichtig ist, und die hatte der Leo als Enkelkind einfach nicht. Ich konnte mit einem gewissen Abstand besser damit arbeiten. Ich habe mir die Aufnahmen immer und immer wieder angehört, stundenlang. Manche Dinge waren inhaltlich schwer zu begreifen, auch der Dialekt hat mir manchmal Mühe bereitet. Manche Worte kannte ich auch nicht, da musste ich mich einlesen in die Kriegsterminologie, richtig recherchieren. Und dann plötzlich versteht man alles, auch diese spezielle Sprache. Ich habe aber sicher drei bis vier Anläufe dafür gebraucht. Und dann war da noch diese Chronologie dahinter. Ich war so ungläubig, dass das

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wirklich so sein kann. Dass der da überall dabei gewesen ist. Und dann habe ich einfach drauf los geschrieben. Petra Weixelbraun: Aber wenn du das jetzt erzählst, klingt es schon, als hätte dich das trotz Distanz sehr mitgenommen. Regina Hofer: Am Anfang schon, ja. Ich war wirklich schockiert. Der Großvater, den ich von den Treffen davor auch schon gut kannte, war ja ein sympathischer Mann. Ein guter Redner, wie man bei manchen Zitaten noch herauslesen kann. Und dann war der ausgerechnet bei dem SS-Regiment dabei, das in Frankreich all diese Kriegsverbrechen begangen hat. Leopold Maurer: Was wir durch die Interviews erfahren haben, hat auch gar nicht zu dem gepasst, was bei uns die übliche Familienlegende war. Die Narration war nämlich: „Der Opa war nur ein kleiner Soldat, ein Fahrer. Zwar bei der Waffen-SS, aber ein Fahrer, immer ganz weit weg von dem, was passiert ist. Vielleicht hat er auch mal geschossen, weil es nicht anders ging, aber er war sicher kein Kriegsverbrecher.“ So wurde das in der Familie erzählt. Und natürlich stimmt das. Er war Fahrer, aber eben nicht nur. Regina hat mich immer wieder damit konfrontiert. Trotzdem war es für mich ein langer, harter Prozess, bis ich mir eingestehen konnte: „Okay, mein Großvater ist ein Kriegsverbrecher.“ Das war schon eine sehr schmerzhafte Erfahrung. Petra Weixelbraun: Wie hat die Familie auf die Veröffentlichung reagiert, wenn das bis zu diesem Zeitpunkt unter den Tisch gekehrt worden ist? Regina Hofer: Der Großvater ist ein Jahr nach dem letzten Interview gestorben. Leopold Maurer: Und erst als die Großmutter, die zweite Hauptbetroffene, dann auch tot war, haben wir so richtig mit dem Projekt begonnen. Meinen Eltern haben wir die Veröffentlichung schon angekündigt. Den Dialog mit ihnen dazu gesucht. Mein Vater war sehr grantig, hat aber nichts dazu gesagt, weil er weiterhin der Meinung gewesen ist, dass der Opa nur ein Mitläufer gewesen ist. Und meine Mutter war auch grantig, weil sie befürchtet hat, dass auch private Dinge, die sie betreffen könnten, in der Graphic Novel thematisiert werden könnten. Nachdem das nicht der Fall war, wurde bei uns in der Familie nicht weiter über Insekten gesprochen. Regina Hofer: Ich glaub, das ist ja gerade das Problem. Das Schweigen. Das ist in der Elterngeneration bei den meisten da, nicht nur in Österreich, auch in anderen Ländern. Das ist Aufarbeitung, die nicht stattfindet. Wahrscheinlich ist es nochmal schwieriger, wenn es der eigene Vater war. Das versteh ich jetzt besser, nachdem wir dieses Projekt gemacht haben. Beim Großvater ist es leichter. Darum

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reden die Enkel jetzt darüber, schreiben Bücher oder setzen sich anders damit auseinander. Es kommen jetzt ja immer mehr Geschichten zur Nazizeit, und eben auch aus der Täter✶innenperspektive. Distanz ist einfach immer das Hauptthema. Leopold Mauer: Ich habe immer gewusst, dass mit meinen Eltern noch mehr über das Thema zu sprechen nicht zielführend gewesen wäre. Es wird innerhalb der Familie über unsere Kunst prinzipiell nicht viel geredet, egal, was wir für ein Thema behandeln. Es wird das Drumherum besprochen, ob wir eine Ausstellung haben. Aber inhaltliche Sachen nicht. Regina Hofer: Interessant ist auch die Rolle der Frau. Leopolds Mutter war wirklich aufgebracht über das Buch. Weil sie dachte, dass diese heile Fassade, die man nach außen hin aufgebaut hat, verloren geht. Dass die Familie in die Öffentlichkeit gezerrt wird. Wir haben auch bewusst die Großmutter in Insekten zu Wort kommen lassen. Denn die hat genauso ihre Rolle im Krieg gespielt. Alle Frauen haben das. Genauso wie es jetzt auch bei den Rechtsextremen wieder viele Frauen gibt, die mitmachen. Hier in dieser Familie sieht man wieder diese unterschiedlichen Positionen von Mann und Frau. Die Frau, die gern alles verschweigen möchte und der Mann, der sowieso nicht darüber reden will. Es gibt zum Glück auch Familien, die sich damit auseinandergesetzt haben. Aber der Großteil der Familien in Österreich hat diese Aufarbeitung nicht getan. Lisa-Viktoria Niederberger: Wie ist Insekten außerhalb eurer Familie rezipiert worden? Regina Hofer: Tatsächlich ganz gut. Hauptsächlich in Deutschland interessanterweise. Da waren wir auch zweimal für die beste Graphic Novel nominiert. Leopold Maurer: In Österreich war es auch gut. Regina Hofer: Stimmt, im Standard zum Beispiel. In Österreich ist aber die Graphic Novel Szene weit nicht so groß, wie in Deutschland. Wir waren im Österreichischen Kulturforum in Berlin eingeladen, um das Buch vorzustellen. Da gab es dann mit dem Publikum schon eine sehr große Diskussion. Leopold Maurer: Genau. Und zwar zu dem Thema, das wir schon angesprochen haben: Da waren viele Männer aus der Generation unserer Väter, die sich in der Erzählung sehr wiederfinden konnten. Die gesagt haben: „Bei uns ist das genauso gewesen, ich hätte das auch immer gerne gewusst, aber wir haben nie darüber geredet.“ Und dafür haben wir schlussendlich das Buch gemacht. Nicht um mit meiner eigenen Familie herumzudiskutieren. Und natürlich finden wir es super, dass jetzt Graphic Novels über Widerstandskämpfer✶innen gemacht werden, aber leider

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muss man die Täter✶innen auch beleuchten. Es ist nun mal leider so, dass es mehr Familien mit Täter✶innen gibt als mit Partisan✶innen und dergleichen. Das ist ein Fakt, den man ans Tageslicht holen muss. Natürlich gab es aber auch, besonders von Menschen, die die Graphic Novel nicht gelesen hatten, erst einmal die ablehnende Reaktion. Dieses „Ach nicht schon wieder so was! Ihr wollt doch nur Geld machen, weil sich das Nationalsozialismusthema gut verkauft.“ Was übrigens nicht stimmt. Pikante Geschichten verkaufen sich gut, oder etwas über Widerstand. Aber Täter✶innengeschichten nicht. Regina Hofer: Genau. Wir haben das Buch gemacht, weil wir eine Diskussion entfachen, bzw. am Leben erhalten wollten. In der Schule unserer Kinder wurden letztes Jahr lauter Hakenkreuze in die Spinde geritzt. Niemand weiß warum, aber es ist öfters passiert. Eines Tages ist dann auch mal „Heil Hitler“ an der Tafel gestanden und dadurch ist die Schule draufgekommen, dass es viele Kinder gab, die gar nicht wussten, wer Hitler ist. Man muss einfach viel, viel mehr drüber reden. Rechtsextremismus geht weiter. Auch jetzt in der Corona Zeit ist alles wieder viel mehr nach rechts gerückt. Leopold Maurer: Genau das wollte ich mit meinem Part in Insekten auch zeigen. Wie nah man als Kind oder Jugendlicher an diesen eigenartigen Ideologien ist. Wie schnell das, besonders in der Gruppe, gehen kann, dass man auf andere hinunterschaut. Mir war ganz wichtig zu zeigen, dass es nicht nur um die Vergangenheit und den bösen Opa geht, sondern dass das leider in vielen von uns schlummert. Wir uns dem immer bewusstwerden müssen, uns fragen: „Hallo, was tu ich da? Auf welcher Seite befinde ich mich jetzt gerade?“ Petra Weixelbraun: Wie wichtig Erziehung ist und wie groß ihr Einfluss ist, zeigt sich ja in beiden Erzählsträngen von Insekten sehr deutlich. Wie war das bei dir? Leopold Maurer: Ich bin von meinen Eltern ganz nach dem Konzept „keine Waffe etc.“ erzogen worden. Es war jedoch keineswegs so, dass man auf jemand anderen hinuntergeschaut hätte. Ich denke da mehr an diese gruppendynamischen Prozesse in der Kindheit oder Jugend. Zum Beispiel wenn am Fußballplatz jemand gemobbt wird. Wie verhält man sich, wie positioniert man sich? Ist man derjenige, der verteidigt oder macht man mit? Regina Hofer: Naja, der Großvater wäre als Kind vermutlich schon einer gewesen, der mitgemacht hätte. Leopold Maurer: An den Großvater habe ich auch klassische Kindheitserinnerungen: Fischen und ihm zusehen, wie er in der Werkstatt arbeitet. Das sieht man im Comic. Er hat dabei immer seine Monologe abgehandelt, egal ob’s über den Natio-

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nalsozialismus oder das Dorfgeschehen gewesen ist. Aber so eine nationalsozialistische Erziehung, blond und blauäugig, hat es nicht gegeben. Trachten vielleicht, aber das war für österreichische Verhältnisse eigentlich ganz normal. Blasmusik am Land ist jetzt nichts, was per se nationalsozialistisch ist. Mein Vater ist Diplomat und wir sind viel gereist. Somit habe ich gar nicht so viel Zeit mit meinem Großvater verbracht. Das waren immer nur die Ferien, da war ich ein bisschen bei Oma und Opa, dann waren wir eh wieder im Ausland unterwegs. Regina Hofer: Aber das mit der Waffe? Also dass der Opa dem Enkerl eine Waffe gibt und sich nichts dabei denkt? Leopold Maurer: Selbst das mit der Waffe, das war so gang und gäbe. Alle Burschen haben ein Luftdruckgewehr gehabt. Luftdruckgewehr und Fahrrad, das hat einfach dazu gehört, zumindest in unserem Dorf. Es war auch nicht so, dass wir die ganze Zeit mit dem Luftdruckgewehr rumgeschossen hätten, ganz im Gegenteil. Ich habe das von meinem Opa gekriegt, das war verbogen, damit hat man nichts mehr getroffen. Und hin und wieder habe ich damit geschossen. Aber es war jetzt nicht so, als hätte er gesagt: „Du musst jetzt an die Waffe.“ Überhaupt nicht. Und natürlich war der Opa Jäger, aber Jäger war quasi jeder am Land, zum Zeitvertreib. Und wenn ich ihn begleitet habe, dann hat er seine Geschichten eben am Hochstand erzählt. Diskussionsbereitschaft über den Nationalsozialismus ist erst gekommen, als ich ein Jugendlicher wurde. Ich habe gestritten, er hat seine Theorien ausgebreitet, aber mich auch ausreden lassen und ernst genommen. Er hat nie gesagt: „Du brauchst jetzt gar nix sagen, denn du kennst dich nicht aus, du hast damals nicht gelebt.“ Wir sind viel zusammengesessen, haben geraucht und ich habe versucht, ihm zu kontern. Das ist mir aber nicht gut gelungen, weil er so überzeugt war. Das hat er auch selbst immer gesagt, er wird sich sicher nicht bekehren lassen. Er wird immer Nationalsozialist bleiben und wenn er tot ist, dann wird das sowieso mal aus sein. Leider hat er damit nicht recht behalten, der Nationalsozialismus ist nach wie vor ein großes Thema. Lisa-Viktoria Niederberger: Und eben weil das so ist = habt ihr nicht Angst, dass die Graphic Novel von der Gegenseite vereinnahmt wird? Dass es rechte Leser✶ innen geben könnte, die mit dem Großvater sympathisieren? Regina Hofer: Natürlich könnte es das geben, aber dadurch, dass das Buch keine große Öffentlichkeit hat, ist es jetzt nicht so das Thema. Ich kann mir aber vorstellen, dass jemand den Klappentext liest und sich denkt: „Hey, das schau ich mir an, vielleicht kenn ich ja den ein oder anderen darin.“

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Leopold Maurer: Ich glaube aber nicht. Natürlich ist der eigene Opa nicht von Anfang an ein unsympathischer Nationalsozialist, zumindest, wenn er nicht gerade mit der Rute dasteht. Das Thema ist ja, dass das immer als gegeben hingenommen wird. Du kennst nichts anderes und die Familie sagt: „Da waren ja alle dabei. Was hätte er denn sonst machen sollen?!“ Aber ich finde, im Buch bleibt durch die Bebilderung kein Zweifel, dass der Opa schlussendlich kein cooler Typ ist. Das wird nicht vereinnahmt. Lisa-Viktoria Niederberger: Stimmt, spätestens wenn man von der Familienhandlung wieder zurück zu den Kriegsverbrechen und den Massakern kommt, positioniert ihr euch eindeutig. Leopold Maurer: Der alte Großvater hat so seine Rollen: Er redet vom Nationalsozialismus, er schießt eine Runde. Er hat Momente, in denen er nachdenklich und reuevoll wird, aber das wird sofort wieder unterbrochen mit dem Part von Regina. Regina Hofer: Aber das stimmt, da waren wir immer sehr nervös, was man sagt und welche Bilder man verwendet. Da haben wir oft diskutiert, dass es ja nicht in die falsche Richtung losgeht. Weil man keinesfalls möchte, dass das irgendjemand cool findet. Leopold Maurer: Aber es ist so eine Gratwanderung. Weil der Opa ein sympathischer Mensch war. Wenn man mit ihm zusammengesessen ist, mit ihm getrunken hat, hat er Witze erzählt. Und die konnte er nun mal gut erzählen, allein von der Stimmlage her war das schon ein Wahnsinn. Er war eine Erscheinung und sicher nicht der personifizierte Teufel. Seltsam, diese Balance, dass diese Menschen eben auch Täter✶innen waren. Aber, es kann ja auch ein Dreifachmörder im Gespräch ein ganz kommoder, angenehmer Mann sein. Wie hieß er, dieser Massenmörder in Österreich? Lisa-Viktoria Niederberger: Unterweger. Leopold Maurer: Genau, der Jack Unterweger. Für den so viele Künstler✶innen in die Bresche gesprungen sind. Das ist jetzt natürlich ein Extrembeispiel, aber es zeigt schon, was das für Auswirkungen haben kann, wenn sich einer gut präsentiert. Und der Großvater war auch ein Mensch mit vielen Seiten. Diese Lügen, die um seine Vergangenheit gesponnen worden sind, die kamen ja nicht mal von ihm selbst. Er selbst hat ja offen gesprochen. Es war die Familie, die diesen Deckmantel darüber geworfen hat, und seine Vergangenheit schöngeredet hat. Regina Hofer: Ja, und das war auch, was ich so schlimm gefunden habe. Dass man da so einen Täter am Tisch sitzen hat, jahrelang, aber das gar nicht so richtig

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realisiert. Ein furchtbarer Zustand, und es ist bei vielen Familien so. Bei der Wehrmacht haben sie ja alle bei den Kriegsverbrechen mitgemacht. Die haben so viele Leute umgebracht, das kann man sich gar nicht vorstellen. Aber diese Gruben, die sie ausgehoben haben für die Leichen der Leute, die sie erschossen haben, das war tagtäglich. Was er vor allem vom Russlandfeldzug erzählt hat, das war ein Wahnsinn. Die haben da ein Massengrab nach dem anderen ausgehoben. Ich schätze mal, dass das für den Opa einfach dazugehört hat, es war ja seine Pflicht – er hat sich zwar freiwillig gemeldet – aber es war trotzdem seine Pflicht. Und er war überzeugt von der Ideologie. Ein bisschen Mitleid hat er mit den Russen gehabt, denn die hat er sympathisch gefunden. Aber wenn es darum gegangen ist, dass man sie umbringen muss, musste man sie umbringen. Leopold Maurer: „Krieg ist Krieg“, würde er da sagen. Regina Hofer: Genau: „Krieg ist Krieg.“ Und das ist die Banalität des Grauens. Am gleichen Tisch, an dem er von den Kriegsverbrechen gesprochen hat, hat er uns eben auch Witze erzählt. Und wenn er vom Krieg gesprochen hat, war das oft so alltäglich. Gut, der Krieg war auch sein Alltag. Mit 17 rein und fünf Jahre dabei. Leopold Maurer: Und er sagt auch an einer Stelle, dass ja nicht jeden Tag Krieg war. Er hatte auch Heimaturlaub und ist mit den Kamerad✶innen zusammen an der französischen Riviera rumgefahren. Regina Hofer: Das war natürlich auch ein großes Abenteuer. Er hat davon geschwärmt, wo er überall war. Lisa-Viktoria Niederberger: Das vermittelt auch die Oma gut, obwohl sie in der Graphic Novel nur eine Nebenrolle einnimmt. Einer ihrer wenigen Sätze lautet doch: „Wir haben ja trotzdem eine schöne Jugend gehabt. Das könnt ihr euch ja gar nicht vorstellen.“ Regina Hofer: Ja, genau, aber das sagt der Opa auch. Er war immer bei den Kämpfen dabei, er hat immer um sein Überleben kämpfen müssen, während andere vielleicht ins Kino gegangen sind. Das macht was mit dir.

Felizia Sonberger und Taylor Crosby

„Mein liebstes Medium ist alles gleichzeitig.“ Anna Kohlweis über textile Kunst mit Persönlichkeit, ihre künstlerische Entwicklung und Familienmodelle im Austausch mit Felizia Sonberger und Taylor Crosby Textile Skulpturen, digitale Malereien, Illustrationen und Musik ‒ die freischaffende Künstlerin Anna Kohlweis nützt unterschiedlichste Medien und Techniken für ihr Schaffen. Die gebürtige Kärntnerin lebt in Wien und hat dort bei Ashley Hans Scheirl in der Klasse für Kontextuelle Malerei an der Akademie der Bildenden Künste studiert. Die Künstlerin verbindet mit jedem ihrer Werke einen Lernprozess, und ihre Arbeiten sind immer eng verwoben mit ihren aktuellen Lebensumständen und dem Ort, an dem sie wohnt. Abwechslung spielt in ihren Arbeitsprozessen eine besonders große Rolle. Im Rahmen des diesjährigen NextComic-Festivals sind nicht nur ihre textilen Figuren House Apparitions (Kohlweis, 2019) im Kulturquartier zu bestaunen, sondern auch die zwei Serien Inside Familiar (Kohlweis, 2020a) und Mothering Myself (Kohlweis, 2020b), bestehend aus digitalen Malereien. Die textilen Figuren stehen alle in mysteriösen Verwandtschaftsverhältnissen zueinander. Sie tragen außergewöhnliche Namen wie „The Grump“, „Underworld“, „Creeps doesn’t live here anymore“ oder „Small God of Sparks“. Anna Kohlweis ist nicht nur in den Bildenden Künsten umtriebig, sondern auch als Musikerin tätig. Sie hat unter den Pseudonymen Paper Bird (2006–2011) und Squalloscope (seit 2011) schon zahlreiche Alben und EPs veröffentlicht („Anna Kohlweis // House Apparitions“). Wir haben Anna Kohlweis virtuell zu einem Interview getroffen und zu ihrem künstlerischen Schaffen, zu Familienkonstrukten und ihrer Entwicklung als Künstlerin befragt. Taylor Crosby: Wie bist du zur Kunst gekommen? Wann hast du damit begonnen? Anna Kohlweis: Ich habe immer schon gezeichnet und gemalt, wollte immer schon schreiben, seit ich schreiben kann, und habe immer schon Musik gemacht. Ich bin so aufgewachsen. Ich habe dann irgendwann mit Mitte Zwanzig angefangen, Kunst zu studieren auf der Akademie der bildenden in Wien, das war dann quasi meine professionelle Ausbildung. Aber ich lernte eigentlich mehr durchs Machen als durchs Kunststudium. Was ich mache ist sehr autodidaktisch. Ich habe das alles immer schon irgendwie gemacht. Dazwischen gab es Pausen als Teenager oder mit Anfang Zwanzig, wenn man keine Ahnung hat, was man mahttps://doi.org/10.1515/9783110786392-019

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chen soll, und die Eltern sagen: „Bitte studierʼ doch Wirtschaft!“ (Anna lacht). Aber es war schon immer da. Taylor Crosby: Was sind deine liebsten Medien für künstlerische Arbeiten? Anna Kohlweis: Mein liebstes Medium ist alles gleichzeitig. Ich brauche alles für meine mentale Gesundheit, um produktiv zu bleiben. Das heißt: Ich habe Phasen, wo ich zum Beispiel sehr viel Tuschemalereien mache oder Aquarellmalereien, aber das geht nur ein paar Wochen gut und dann muss ich zur Musik zurück. Wenn ich zu viel Musik mache, muss ich wieder zum Malen zurück. Das heißt, es muss alles parallel und in Balance passieren, sonst verliere ich da irgendwo die Energie und die Motivation. Ich glaube, das ist auch der Grund dafür, dass ich hauptsächlich für mich selbst arbeite und eher selten für andere Menschen. Ich mache zwar oft Auftragsillustrationen, aber mir ist die Selbstbestimmung dabei wahnsinnig wichtig. Taylor Crosby: Woher nimmst du deine Inspiration? Anna Kohlweis: Von allem. Vom Am-Leben-sein. Ich glaube, Inspiration ist wie ein Muskel, den man trainieren muss, so wie das Gehirn, das wie ein Muskel funktioniert, den man trainieren muss – und man muss nur offen sein, sobald die ganzen Türen und Fenster im Kopf offen sind, ist auch alles Inspiration. Das kann man dann gar nicht mehr so fest machen an ein oder zwei Sachen.

Die Bedeutung der Chosen Family Felizia Sonberger: Zu deiner Serie Inside Familiar (Abb. 1) hast du ja das Haus als Sinnbild für das Konstrukt Familie und eben figurative Darstellungen in Gebäuden konzipiert. Wie wichtig ist es für deine Definition von Familie, dass man unter einem Dach lebt? Glaubst du, in Zukunft wird so ein Konzept wie das der Chosen Family1 gleichgestellt sein zu dem der Kernfamilie? Inside Familiar zeigt das Haus als das ‚Konstrukt Familie‘ und erforscht das Selbst in der Familie. Es ist komplett digital. Anna Kohlweis: Auf die letzte Frage: Ich würde es mir sehr, sehr wünschen. Ich habe mir in den letzten Jahren recht viele Gedanken um das Konzept von Heirat

 Der Begriff Chosen Family oder auch Family of choice bezieht sich auf selbst ausgewählte Familien, die von tiefer Freundschaft und Unterstützung ohne Blutsverwandtschaft geprägt sind. Das Chosen Family-Konzept wurde stark durch die LGBTQ+ Community geprägt.

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Abb. 1: Anna Kohlweis. Inside Familiar, 2020.

gemacht und wie viele Dinge sich da gesetzesmäßig ändern, wenn man heiratet, und wie viele Vorteile man hat. Wie wahnsinnig ungerecht das eigentlich ist gegenüber Menschen, die nicht heiraten dürfen oder deren Partnerschaft einer Ehe nicht gleichgestellt ist. Ich glaube, da sollte es eine viel offenere Definition geben, weil auch teilweise unsere Freundeskreise viel wichtiger sind als die Blutsverwandtschaft, weil wir ja unsere eigenen Familien suchen im Laufe des Lebens und oft stark daran arbeiten müssen, diese Idee loszuwerden, dass unsere Blutsverwandtschaft die oberste Priorität haben muss. Das kann oft zu ganz destruktiven Familienverhältnissen führen. Ich finde es auch überhaupt nicht wichtig,

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Felizia Sonberger und Taylor Crosby

dass Familien unter einem Dach wohnen, und ich glaubʼ, das ist mir auch im letzten Jahr nochmal extra bewusst geworden, weil ich schon das Gefühl habe, dass sich ein Großteil meines Freundeskreises wie Familie anfühlt und auch wie eine Familie miteinander agiert. Bei mir lebt die Hälfte meiner Freund*innen in den USA; es gibt viel Kommunikation über das Internet, aber nicht in Person, und doch fühlt man sich gut aufgehoben. Felizia Sonberger: Sind die Malereien eigentlich komplett digital gemacht, oder ist das Mixed Media? Anna Kohlweis: Das ist alles komplett digital. Felizia Sonberger: Ich habe in einem Interview von dir zu deinen textilen Skulpturen gelesen, dass die alle Persönlichkeiten haben. Eine hat sogar einen Doktortitel in Psychologie. Entstehen diese Persönlichkeiten, bevor du eine Figur machst oder erst nachdem du eine Skulptur angefertigt hast? Anna Kohlweis: Ich glaube, das entsteht erst währenddessen und manchmal im letzten Arbeitsschritt. Meistens ist das Gesicht das Letzte, was ich nähe, aufmale oder besticke. Da kristallisiert sich erst oft heraus, wer oder was das ist. Oft merke ich erst Wochen danach, dass das auch in Korrelation dazu passiert, was gerade so in mir vorgeht. Ich glaube, es ist ein Herausarbeiten von Emotionen und Lebensumständen und von ganz viel Unterbewusstem, das halt wirklich passiert, während diese Handarbeit passiert und während man greift und befüllt, ausstopft. Ich merke das oft erst danach und manchmal erst, wenn ich später mit jemand anderem darüber rede. Das ist dann irgendwie ganz lustig, wenn man erkennt: „Ach ja genau, eigentlich passt die Beschaffenheit der Skulptur total dazu, dass ich mich so und so fühlte zu dem Zeitpunkt.“ Felizia Sonberger: Das textile Arbeiten, begleitet dich das auch schon lange? Machst du das auch schon seit deiner Kindheit? Anna Kohlweis: Ich habe von meiner Mutter nähen gelernt, das klassische Puppenkleider nähen als Kind und als Teenager dann Kleidungsstücke. Und ich nähte auch über die Jahre meine eigenen Kleidungsstücke – vor allem Bühnenoutfits, weil ich als Musikerin auf Bühnen stehe und oft eigene Kleider dafür nähe. Das mit den Puppen hat sich dann herauskristallisiert. Ich bin als Kind auch mit selbst genähten Puppen aufgewachsen, die meine Mutter gemacht hat. Es gibt Fotos, auf denen ich fünf Jahre alt bin und diese Puppe – Charlotte – ist gleich groß wie ich. Jetzt ist es lustig, diese Fotos zu sehen und sich zu denken: „Ah ok, ich sehe, woher das kommt.“

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Felizia Sonberger: Solche Fertigkeiten wurden in deiner Familie also weitergegeben – ist jetzt in den Entstehungsprozessen deine Familie auch noch involviert oder eben deine Chosen Family? Anna Kohlweis: Eigentlich gar nicht. Ich glaube, schon sehr viel, warum ich Kunst mache, kommt sicher von meiner Familie. Meine Mutter ist selber Künstlerin, und hat nach 40 Jahren Unterrichten als Lehrerin wieder verstärkt angefangen, an ihrer eigenen Kunst zu arbeiten. Es war immer präsent und ist immer gefördert geworden. Ich habe einen jüngeren Bruder, der ist auch bildender Künstler. Der macht ganz Anderes, Soundinstallationen und baut Roboter. Es war ein normaler Teil von meinem Aufwachsen, dass man Kunst macht oder irgendwas macht und erfindet. Kreativ Probleme lösen im Alltagsleben, quasi der Grundsatz von Kunstmachen, Design und allen möglichen kreativen Auswüchsen und Ausformungen. Thematisch ist meine Familie, von dem, waas ich mache, eigentlich sehr ausgenommen davon. Ich habe teilweise Projekte, wo Familienerbstücke verwendet werden. Stickereien und Fotoserien, Objekte, die über die Generationen weitervermacht worden sind. Aber momentan eigentlich nicht. Scheint gerade nicht so wichtig zu sein.

Das Selbst erforschen Felizia Sonberger: Zu deiner Serie Mothering Myself (Abb. 2). Ist das Konzept der Selbstliebe, des Selbstbemutterns nicht auch mit einem hohen Anspruch an sich selbst verbunden? Findest du es gerade in Zeiten von Covid manchmal schwierig, fürsorglich zu dir selbst zu sein? Mothering Myself erforscht das Selbst und wie man das Selbst mit Grundbedürfnissen heilen kann. Es ist auch komplett digital. Anna Kohlweis: Als Covid begann, führte ich ein Gespräch mit einer Freundin, über die Dinge, die sie in den letzten fünf Jahren Psychotherapie lernte. Über sich selbst und darüber, wie man mit anderen Menschen umgeht. Ein großer Moment war, als sie feststellte, dass, wenn es ihr schlecht geht, sie sich nur vorstellen muss, dass sie die Kleinkind-Version ihrer selbst ist. Wie würde sie dann mit sich selbst umgehen? Da ist es dann ganz natürlich, dass man das Kind fragt: Dir geht es schlecht, was ist los? Brauchst du was zu essen? Ist dir kalt? Ist dir zu warm? Grundbedürfnisse. Als Erwachsene vergessen wir oft, uns um ganz grundsätzliche Bedürfnisse zu kümmern, wenn es um uns selbst geht, weil wir viel Leistungsdruck haben, oder weil wir denken, dass wir gewisse Dinge nicht verdienen. Was natürlich nicht stimmt, aber man hat das dann so im Hinterkopf. Man leistet

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Felizia Sonberger und Taylor Crosby

Abb. 2: Anna Kohlweis. Mothering Myself, 2020.

immer fort und vergisst Grundbedürfnisse zu haben, die andere Menschen nicht decken können. Das Konzept der Selbstfürsorge ist wahnsinnig wichtig, und ich fand es schön, es visuell umzusetzen und sich zu fragen: „Wie könnte das visuell umgesetzt werden, wenn man sich selbst bemuttert?“ Taylor Crosby: Mir ist aufgefallen, dass du mit viel Blau-, Rot- und Orangetönen gearbeitet hast. Ist das Zufall oder fühlst du dich von diesen Farben angezogen? Anna Kohlweis: Ich mach immer sehr viel mit Blau und Rot, und ich glaube, das ist vielleicht Zufall. Ich habe da gerade ein Bild vor mir (weist auf das Bild und lacht), das ist auch blau und rot. Ich fühle mich dazu hingezogen und kaufe auch häufig Dinge in diesen Farben. Was ich daran mag, sind diese Gegenpole zwischen warm und kalt. Die Gegensätze und alle möglichen Sachen, die blau und rot kodiert sind. Und ich glaubʼ, das ist einfach Bauchgefühl.

„Mein liebstes Medium ist alles gleichzeitig.“

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Felizia Sonberger: Du erforschst dich selbst in deinen Arbeiten – oder zumindest wirkt es so. Lernst du bei der Erstellung von jedem neuen Artwork auch Dinge über dich selbst? Anna Kohlweis: Ja, die ganze Zeit. Es ist eines der spannendsten Dinge. Es ist ein dauernder Lernprozess. Teilweise passiert es während der Arbeit und ganz stark auch wenn man mit anderen Leuten darüber redet. Ich finde es selbst nicht immer einfach, Leute zu finden, mit denen der Austausch gut funktioniert. Wenn man solche Leute im Freundeskreis hat, ist es eine wahnsinnig wichtige Quelle an Selbsterkenntnis, und auch wenn man lernt, anderen Leuten die richtigen Fragen zu stellen. Es ist ein dauernder Austausch aus Sachen entdecken, Teile von sich selbst entdecken und Teile vom eigenen Leben besser verstehen. Für mich ist es wichtig in meiner Kunst, dass das immer wieder passiert. Weil auch alles super persönlich ist, was ich mache. Teilweise ist es kodiert, teilweise straight forward.

Social Media und die Zukunft Felizia Sonberger: Weil du gerade von Austausch gesprochen hast – hast du auch viel Austausch über Social Media? Was bringt dir das für deine Arbeit? Anna Kohlweis: Es ist ein etwas schwieriges Thema. Wenn man sehr viel auf Social Media unterwegs ist, hat man auch ein bisschen die Angst, dass sich die eigene Arbeit verändert. Wenn man sichtbar bleiben will durch den Algorithmus, wird man ein bisschen dazu gezwungen, gewisse Arten von Kunst zu posten. Generell habe ich persönlich speziell Instagram als sehr hilfreich empfunden, um andere Künstler*innen kennenzulernen oder zu entdecken. Ich glaube, ich habe die meisten meiner momentanen Lieblingskünstler*innen durch Instagram gefunden. Das sind keine Leute, die schon in großen Galerien oder auf irgendwelche Museumswebsites vertreten sind. Fürs Netzwerken und Entdecken ist es ganz toll. Es ist aber für gewisse Arten von Kunst schwierig, sie darzustellen. Zum Beispiel sowas wie Soundinstallationen geht auf Instagram gar nicht. Es ist ein bisschen ein zweischneidiges Schwert. Es ist hilfreich, aber kann auch eine Maschine sein, die einen schnell mal verschluckt. Dann ist man zu abhängig davon und macht sich zu viele Gedanken über die Meinung von anderen Menschen. Felizia Sonberger: Hast du ein Lieblingsprojekt von dir selbst? Anna Kohlweis: Nicht wirklich. Meistens ist es das Neueste, an dem ich gerade arbeite. Momentan sind es (in der bildenden Kunst) diese textilen Skulpturen.

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Weil es mir sehr viel Freude bereitet hat, die im letzten Jahr zu fabrizieren. Jetzt sind die Figuren zum ersten Mal nicht in meiner Wohnung, sondern wo anders – da ist es interessant von anderen Leuten zu hören, was die sich dazu denken. Das ist auch eine bestimmte Art von Interaktion mit dem Publikum, die da passiert. Leute fühlen sich angezogen von den Puppen. Wenn gerade nicht Corona ist und sie in einer Ausstellung sind, dann habe ich es gern, Menschen auch mit den Figuren interagieren können. Dass sie sich daneben hinsetzen und ein Foto machen oder etwas in der Art. Es ist spannend, wie Leute darauf reagieren, was sie davon denken. Ob sie denken, dass es süß ist oder unheimlich. Da gehen die Meinungen stark auseinander. Es ist interessant, so eine Interaktion mitzubekommen. Felizia Sonberger: In welche Richtung möchtest du dich in Zukunft entwickeln? Anna Kohlweis: Ich würde gern mehr großformatig malen. Das hat eigentlich mit den Inside Familiar-Sachen begonnen; obwohl die digital sind, existieren sehr große Drucke davon. Davor habe ich das erste Mal seit Jahren ein richtig großes Bild gemalt, das 1,50 mal 1 Meter groß war, und da möchte ich anschließen. Dadurch, dass ich zuhause arbeite und mein Wohnzimmer gleichzeitig mein Aufnahmestudio und mein Atelier ist, herrscht Platzmangel. Das heißt, ich muss mir einen Monat freinehmen, wo ich mir Platz mache, großformatig zu malen.

Quellenverzeichnis „Anna Kohlweis // House Apparitions“. NextComic-Festival 2021. http://www.nextcomic.org/Veranstal tung/anna-kohlweis-houseapparitions/?instance_id=6925 (abgerufen am 14.4.2022). Kohlweis, Anna. Inside Familiar. 2020a. © Anna Kohlweis. Kohlweis, Anna. Mothering Myself. 2020b. © Anna Kohlweis. Kohlweis, Anna. House Apparitions. 2019. © Anna Kohlweis.

Character cats – Die Katzenfamilie als tägliche Inspirationsquelle für eine Parallelwelt in progress Isabella Griessenberger antwortet Barbara M. Eggert auf Fragen zu ihren vierbeinigen Mitbewohner✶innen Die medienübergreifend arbeitende Künstlerin Isabella Griessenberger, auch bekannt als Synthebelle, hat einen festen Platz in der Comicszene in Österreich. Vielen ist sie u. a. durch ihre Arbeiten für ASH – Austrian Superheroes bekannt, für die sie sowohl Stories als auch Coverart produzierte. Parallel präsentiert sie ihre eigenen Projekte in den Social Media, in denen sie sich in Kombination unterschiedlicher Medien als hybrides Wesen inszeniert, das zwischen Comicfigur, Cyborg, Mensch und Katze oszilliert. Parallel hierzu transformiert sie im Medium Comic die Mitglieder ihrer Katzen-Familie in Protagonist✶innen einer Storyworld, die Sci-Fi-Elemente und Alltagskomponenten miteinander verbindet. Barbara M. Eggert: Vielleicht magst du damit beginnen, deine Familienmitglieder Amon und Azula vorzustellen, weil diese ja auch für dein künstlerisches Schaffen eine wichtige Rolle spielen. In den Social Media verwendest du häufig die Bezeichnung „Alien“ für die beiden. Welche Bedeutung hat dieser Begriff für dich im Kontext deines Schaffens? Isabella Griessenberger: Amon und Azula sind die zwei jüngsten Mitglieder meiner insgesamt 11-köpfigen Katzen-Familie. Sie kamen 2019 dazu und es kam mir vor, als wären sie auf einem UFO angereist, so außergewöhnlich waren sie (Abb. 1 und 2). Ich war schon jahrelang an Nacktkatzen/Sphynx interessiert, 2019 habe ich mich gründlich informiert, war bereit für die Menge an Verantwortung, die mit der Haltung dieser besonderen Rasse einhergeht und holte die beiden dann zu mir. Sie waren von Beginn an komplett anders als das, was ich zuvor von Katzen gewohnt war: Sie sind sehr liebevoll, verschmust und liebesbedürftig, menschenbezogen, verspielt, sehr intelligent und gesprächig wie auch sehr fordernd und wollen ständig überall dabei sein. Amon ist manchmal fast schon mehr wie ein Hund, sein Lieblingsplatz sind meine Schultern und eingerollt in meinen Pullovern und Sweatshirts. Azula ist weniger die Kuschlerin, sie will lieber den ganzen Tag spielen. Ihr Charakter entwickelte sich sehr schnell, sie sind so lebhaft, dass ich jeden Tag neue Ideen und Inspiration für Bilder bekomme und manchmal wünschte ich, ich hätte mehr Hände und Freizeit, um das alles zeichnerisch umzusetzen. https://doi.org/10.1515/9783110786392-020

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Parallelwelt in progress

Abb. 1: Isabella Griessenberger. Azula und Amon in humanoider Form, digitale Zeichnung, 2021. © Isabella Griessenberger.

Meine Einstellung zu der Rasse ist allerdings zwiegespalten – und das wird auch immer so bleiben. Meinen beiden fehlen zum Beispiel die Tast-/Schnurrhaare, was unter die Kategorie der „Qualzucht“ fällt, verständlich. Nicht allen Nacktkatzen fehlen die Tasthaare, das kommt immer auf die✶den Züchter✶in an. Darauf sollte man dringend achten, wenn man überlegt, sich eine Sphynx-Katze zuzulegen! Amon und Azula haben zum Glück keine Probleme damit, ihnen sind über die Zeit sogar ein paar gewachsen. Ich will in Zukunft in meinen Arbeiten auch mehr über die Rasse informieren und aufklären, denn es ist super wichtig, dass die Menschen nicht nur die schönen Bilder auf Social Media sehen und hierdurch einen reduzierten falschen Eindruck erhalten. Ich habe über die letzten drei Jahre keine einzige kritische Stimme gehört – dafür unzählige Anfragen über die Kosten und das Wesen der Sphynx, weil viele eben durch dieses „fancy social media“ plötzlich auch eine

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Abb. 2: Die Nackkatzen Amon und Azula, 2020. Foto: Isabella Griessenberger.

Nacktkatze wollten. Das Erste, das ich interessierten Personen erzählte, betraf die Pflege, mögliche Gesundheitsrisiken und daraus resultierende Tierarztkosten, wie auch die Zeit und Verantwortung, die für dieses Tier erforderlich ist, denn Sphynx sind ungern alleine. Jeder einzelne dieser Menschen ist von der Idee, sich eine Sphynx zu holen, sofort schon beim Thema „Pflege“ abgesprungen. Und das finde ich auch gut so. Ich finde den Begriff „Alien“ deswegen so passend, weil Sphynx oft mit Vorurteilen betrachtet werden. Viele Menschen bevorzugen das klassische, süße Haustier, was heißt „flauschiges Fell“ und niedliches Aussehen. Sphynx sehen schon als Babies aufgrund der Hautfalten relativ „erwachsen“ und ernst aus. In der Vergangenheit habe ich oft mitbekommen, wie man sie als „hässlich“, „unheimlich“, „merkwürdig“ oder sogar als „böse“ bezeichnet und auch offen Abneigung ausgedrückt wurde, einzig und allein aufgrund ihres Aussehens. Jemand hat mal zu mir gesagt „Aber du musst zugeben, so ein bisschen gruseln sie dich doch schon manchmal, oder?“ Das ist ein für mich nicht nachvollziehbarer Gedanke. Für mich haben diese Faktoren nie eine Rolle gespielt, ich habe sie nie so gesehen. Ein bisschen identifiziere ich mich auch mit ihnen, weil es mir mit „menschlichen Vorurteilen“ und Oberflächlichkeiten in meinem Leben ähnlich erging. Sozusagen bin ich auch ein „Alien“. Der Begriff gefällt mir sehr gut, weil ich mich mittlerweile einfach wohl damit fühle, etwas anders zu sein, wie meine Katzen auch. Barbara M. Eggert: Wie bist du vorgegangen, um Amon und Azula in characters/ creatures zu transformieren?

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Isabella Griessenberger: Die Umsetzung von der Katze zum „Abbild“ oder auch die Umwandlungen in eine andere Form, wie zum Beispiel Aliens oder auch die – wie ich sie mir vorstelle – menschliche Version ist für mich relativ einfach. Wenn ich sie in Alien-Versionen umsetze, bleiben sie mehr am „Original“ dran und es kommen nur Details von außen dazu. Sie bringen von selbst schon so viel Charakter mit, dass ich sofort ein Bild in meinem Kopf habe, welche Form und Farben ihre Eigenheiten haben bzw. haben könnten. Fellfarben und Körperformen zeichne ich gerne etwas extremer – was auch sehr mit dem Charakter der konkreten Katze zusammenhängt. Die Grundlagen sind eigentlich alle schon da, man kann aber sehr gut darauf aufbauen und erweitern. Ich will mich dabei natürlich trotzdem so weit an ihnen orientieren, dass man sie noch erkennt. Ich bin selbst ein großer Fan des Sci-Fi-Genres, Amon und Azula kamen mir immer schon wie Aliens vor (neben andren Vergleichen wie Dinosaurier, Känguru-Babys, Hunde oder auch Hühnchen). Für menschliche Versionen würde ich zum Beispiel nur Details von den Katzen übertragen. Barbara M. Eggert: Wie gehst du generell beim Erschaffen von characters/creatures vor? Erst die Figuren, dann die Storyworld oder umgekehrt? Isabella Griessenberger: Beim Erschaffen der Charaktere/Creatures gehe ich bei der Katzenstory komplett anders vor, als bei 90 % meiner anderen privaten Projekte, die keine Vorlage haben. Diese erschaffe ich hauptsächlich aus dem Kopf: 70–80 % sind von mir ausgedacht, dazu kommen 20–30 % Inspiration, Vorlage/Referenzen (die ich auch gerne selbst erstelle durch Fotos usw.) Aber die Katzengeschichte ist sozusagen zu 70 % nach Vorlage und den Rest interpretiere ich dazu, weil die Charaktere sozusagen schon existieren und ich lediglich in alle möglichen Variationen „übersetze“(Abb. 3–5). Die Storyworld/Storyline lehne ich an ihr Alter und ihre eigene Timeline an. Luna war zum Beispiel meine erste Katze, weil das schon lange her ist, gebe ich ihr gerne einen etwas altmodischeren bzw. konservativeren Stil – im krassen Vergleich zu den Sphynx, die sozusagen „aus der Zukunft/aus dem All“ kommen und wesentlich futuristischere Designs bekommen. Und natürlich alles in between, ich fand, dass das einfach gut passt. Anfangs hatte ich das alles eigentlich immer nur aus Spaß gemacht, da es einfach und schnell zwischendurch ging, wenn mal etwas Pause zwischen der Arbeit ist. Mittlerweile habe ich aber schon ein paar Kurzcomics geplant, vielleicht auch etwas Längeres, sobald sich die Zeit finden wird. Ich habe verschiedene Stile, die ich je nach Projekt einsetze. Tiere fallen mir zum Beispiel leichter und gehen mir schneller von der Hand. Der Zeichenstil für den Katzencomic wäre daher auch dementsprechend einfacher.

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Abb. 3: Isabella Griessenberger. All together, digitale Zeichnung, 2020. © Isabella Griessenberger.

Ich habe andere Projekte und Geschichten, in denen ich einen realistischeren, detaillierteren und strengeren Zeichenstil benutze, den ich zwar auch liebe, allerdings kommt da mein Perfektionismus manchmal in die Quere, was nicht immer einfach ist. Ich habe bemerkt, dass mein Perfektionismus bei Tieren nicht so „streng mit mir“ ist, das heißt: Ich bin da weniger verbissen. Ich muss noch herausfinden, woran das liegt. Ich könnte mir vorstellen, dass es damit zusammenhängt, dass Tiere die ersten waren, die ich als Kind lange gezeichnet habe. Menschen habe ich erst viel später angefangen, erst als ich 10 oder 11 war, da wurde das Thema interessant. Die „unbeschwerte“ Zeit mit den Tierzeichnungen war dann langsam vorbei und ich bin relativ ehrgeizig geworden. Barbara M. Eggert: Wie visualisierst du das (angestrebte) Näheverhältnis/die „familiäre“ Zusammengehörigkeit deiner Protagonist✶innen? Isabella Griessenberger: Die Beziehungen und Verbindungen zwischen den Charakteren der Katzen hängen auch zum Großteil davon ab, wie sie sich im wahren Leben gegenseitig behandeln, sie haben ihre Lieblingsgeschwister, wie

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Abb. 4: Isabella Griessenberger. Family picture, digitale Zeichnung, 2022. © Isabella Griessenberger.

auch diejenigen, denen sie eher aus dem Weg gehen. Luna war zum Beispiel, als erste und einzelne Katze damals, nicht wirklich erfreut über Neuzugänge. In der Geschichte habe ich sie zu einer Art „Vermieterin“ gemacht, die im Erdgeschoss wohnt. Erdgeschoss deswegen, weil man da sozusagen als Erstes reingeht. Wir bekamen die anderen immer als Geschwisterpaar mit ein paar Jahren Abstand dazu, das erste Geschwisterpaar bekommt dementsprechend den 1. Stock und so weiter. Das UFO von Amon und Azula parkt auf dem Dach. Da die Jüngsten die Ältesten nicht mehr kennengelernt haben, ist auch die persönliche Beziehung zu diesen Charakteren eher milde – sie wohnen zwar im selben Haus, allerdings symbolisieren auch die sechs Stockwerke eine immer weitere generationsbedingte Distanz zwischen den Charakteren. Barbara M. Eggert: Kannst du kurz den Einstieg in die Storyworld skizzieren? Isabella Griessenberger: Wie ich die Geschichte beginnen werde, habe ich noch nicht genau festgelegt. Im Moment sammle ich Ideen zusammen, was das Ganze beinhalten könnte und wie sich dann ein möglicher roter Faden durch alles hindurchziehen lässt. Außer ich entscheide mich dafür, dass es einfach nur fortlau-

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fende Kurzgeschichten bleiben. Character Sheets würde ich auch auf jeden Fall gerne erstellen – vor allem, wenn ich allen in Kurzgeschichten umsetzen würde, wäre das eine gute Vorstellrunde. Ich war nie besonders gut als Autorin, zwar sagte man mir, ich sei nicht schlecht darin, allerdings macht es mir wohl einfach keine Freude – daher überlege ich auch noch, ob es Text/Sprechblasen geben wird, oder ich es hinbekomme, dass alles auch stumm funktionieren würde. Ich werde vermutlich beides anstreben. Barbara M. Eggert: Inwiefern ist es dir wichtig, Alternativen zur Realität aufzuzeigen oder Kritik zu üben in Bezug auf familiäre Rollenbilder, quasi-familiäre, auch speziesübergreifende Konstellationen, sexuelle Orientierung etc.? Isabella Griessenberger: Rein auf die Katzen-Charaktere bezogen möchte ich in Zukunft ein paar Dinge ändern. Ich möchte – wie schon erwähnt – gerne mehr aufklären und informieren. Sphynx sind nicht ohne Grund ein umstrittenes Thema, ich möchte in Zukunft auch darauf aufmerksam machen. Ich will auch ernstere Themen anschneiden, die weniger mit Comedy zu tun haben und vielleicht zum Nachdenken anregen. Sexuelle Orientierungen zwischen meinen eigenen Katzen sind mehr oder weniger in die Charaktere eingeflossen. Auch hier beziehe ich mich auf das, was ich von ihnen kenne. Firefox zum Beispiel hatte vor dem Kastrieren mehr „Interesse“ an seinen männlichen Mitbewohnern, da war die Sache für mich relativ klar. Die, die schon länger dabei waren und von denen ich keine Eindrücke bekam, was das Thema angeht – habe ich auch eher als konservativ und „heterosexuell“ betrachtet, ein bisschen „vom alten Schlag“, während die jüngeren Generationen offener sind und viel mehr variieren, was sich ja auch in unserer Gesellschaft über die Zeit immer mehr entwickelt bzw. geäußert hat und daher ganz gut auch damit reflektiert. Das Schöne an der ganzen Sache mit Katzenfiguren ist, dass ich auch schon öfter mit anderen Zeichner✶innen, die selbst Katzen besitzen, über kleine Nebenstories und Freundschaften unter unseren Charakteren gesprochen habe und man sozusagen die erzählte Welt so nochmal mehr erweitern kann, z. B. welche Nachbarn haben sie, welche Kontakte würden sie außerhalb ihres Zuhauses pflegen, usw. Ich halte mich da beim Thema „Katzen“ mit Vorliebe an wirkliche Tiere, mit denen auch ich schon mal in Kontakt war bzw. die in meinem persönlichen und auch nicht ganz so persönlichen Umfeld sind. In der Geschichte werden die Haustiere meiner Freund✶innen, die Nachbar✶innen und/oder Freund✶innen meiner Katzen portraitiert. Barbara M. Eggert: Was sind wichtige Inspirationsquellen für dich?

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Isabella Griessenberger: Inspirationsquellen habe ich unzählige. Auf das Thema „Katzen“ beschränkt sind die wichtigsten Quellen darunter natürlich die Katzen selbst, meine Erinnerungen an die, die leider nicht mehr unter uns sind, und natürlich jede Menge von den Erfahrungen und Bereicherungen, die ich tagtäglich durch meine Katzenfamilie erhalte. Barbara M. Eggert: Auf welchen Plattformen können sich deine Leser✶innen über das Voranschreiten dieses und deiner anderen Projekte auf dem Laufenden halten? Isabella Griessenberger: Momentan nutze ich nur Instagram (als Plattform), arbeite aber noch an einer Homepage als Portfolio.

Abb. 5: Isabella Griessenberger. The best sleep, digitale Zeichnung, 2020. © Isabella Griessenberger.

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Quellenverzeichnis Griessenberger, Isabella. Azula und Amon in humanoider Form, digitale Zeichnung, 2021. © Isabella Griessenberger. Griessenberger, Isabella. Die Nacktkatzen und Azula, Fotografie, 2020. © Isabella Griessenberger. Griessenberger, Isabella. All together, digitale Zeichnung, 2020. © Isabella Griessenberger. Griessenberger, Isabella. Family picture, digitale Zeichnung, 2022. © Isabella Griessenberger. Griessenberger, Isabella. The best sleep, digitale Zeichnung, 2020. © Isabella Griessenberger.

Sheree Domingo

Verbandelt „Wenn ich alt bin, kannst du mich ruhig ins Altenheim stecken“, sagt meine Mutter immer, die selbst als Pflegerin in einem Senior✶innenheim gearbeitet hat. Bevor eine schwere Corona-Erkrankung sie dazu veranlasste, früher in Rente zu gehen als geplant. Spätestens seit der Pandemie wissen die meisten, dass der Pflegeberuf körperlich anstrengend und schlecht bezahlt ist. Und trotzdem liebte meine Mutter ihre Arbeit. Weil sie Menschen mag und sie gerne zum Lachen bringt. Sie war der ‚Klassenclown‘ im Altenheim. Als philippinische Pflegerin in einem deutschen Altenheim gab es seitens der Heimbewohner✶innen natürlich rassistische Kommentare, wenn sie auch die Ausnahme waren. Aber die hat sie immer mit einem derben Witz beiseite geschmettert, anstatt sich davon fertig machen zu lassen. Eine Haltung, die ich sehr bewundere. Oft hat sie sich mit älteren Damen angefreundet, mit denen sie nach ihrem Dienst noch ein Eis essen gegangen ist – ohne Scheu davor, zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen. Und so hatte ich als Kind immer viele alternative Großmütter, während meine eigenen geografisch von mir getrennt waren. Diese Realität spiegelt sich in meinem Comic Ferngespräch wider, der 2019 bei Edition Moderne erschienen ist. Noch ehe mir bewusst wurde, worum es in Ferngespräch gehen würde, war mir eine Sache klar: Dass ich eine Geschichte erzählen will, die in einem Altenheim spielt. Weil dieser Ort so besonders und seltsam ist. Ein Kindergarten für pflegebedürftige Menschen, um die sich ihre Angehörigen nicht kümmern können oder wollen. Vielleicht weil sie fünf Tage die Woche arbeiten müssen. Ein Ort, in dem alte Menschen entkoppelt von ihrer Familie und ihrem Zuhause leben. Entkoppelt wie ich von dem Tier, das ich als Salami auf meinem Brot esse oder von der Person, die meine Jeans genäht hat. Entkoppelt wie die Menschen, die ihre Heimat verlassen, um in reichen Industrieländern zu arbeiten, damit ihre Kinder daheim in die Schule gehen können. Denn das macht die globalisierte, kapitalistische Welt, in der wir leben: sie trennt. Wie schmerzhaft es für meine Mutter gewesen sein muss, sich dabei nicht um ihre eigenen Eltern auf den Philippinen kümmern zu können, habe ich erst spät begriffen. Eigentlich erst während der Arbeit an meinem Buch, was verrückt ist. Darum ist dieser Comic sehr persönlich, denn erst durch die Arbeit daran, konnte ich vieles in Zusammenhang bringen und aufarbeiten: Die persönliche Migrationsgeschichte meiner Mutter, die der von so vielen Pfleger✶innen ähnelt; die Tatsache, dass ich meine Großeltern kaum kannte; meine Erinnerungen an Ferngespräche und Verbindungen, die abbrechen und die Einsamkeit der alten

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Menschen, zwischen denen ich als Kind gesessen habe, während ich auf meine Mutter wartete. Und so begleitete ich wieder für die Recherche an dem Buch meine Mutter zur Arbeit. Während sie und ihre Kolleg✶innen schnellen Schrittes durch die langen Gänge huschten, saß ich zwischen den Heimbewohner✶innen, die nichts weiter zu tun hatten als auf die nächste Mahlzeit zu warten. Als würde die Zeit hier in zwei verschiedenen Geschwindigkeiten vergehen. Ich zeichnete in Ruhe und unterhielt mich. Viele der Dialoge, die das Mädchen in Ferngespräch mit den Heimbewohner✶innen führt, basieren auf diesen Unterhaltungen. Gleichzeitig habe ich versucht, in Ferngespräch mit möglichst wenig Text zu arbeiten, es gibt keine Erzählstimme aus dem Off. Es sind Gesten und Blicke, die ausgetauscht (oder gemieden) werden, die die Beziehung der Figuren zueinander ausdrücken. Oder Dinge, die nicht gesagt oder ausgesprochen werden, aber anders gemeint sind. Wie die alte Dame, die die Pflegerin fragt, ob sie ihr eine Kiste vom Schrank runterholen könnte, deren Inhalt völlig unnütz ist (Abb. 1). Denn eigentlich will sie sagen: „Bitte bleiben Sie doch noch ein Weilchen, ich möchte nicht alleine sein.“ In Taiyo Matsumotos Sunny Vol.2 (2013) gibt es eine Szene, in der einer der Jungen im Kinderheim seine Mutter in der Großstadt besucht, was nicht sehr oft vorzukommen scheint. Als er nach ihrer Hand greift, bemerkt sie: „Deine Hände sind immer so trocken. Benutzt du denn nicht die Creme, die ich dir besorgt habe?“ (2013, 197). „Ich will sie nicht aufbrauchen, weil sie nach dir riecht“, (2013, 198) entgegnet er, holt die Creme aus seiner Hosentasche und riecht daran. Daraufhin gehen sie in eine Drogerie, wo die Mutter alle Nivea-Dosen kauft, die vorrätig sind. Ohne dass es gesagt werden muss, weiß man, dass die Mutter nicht vorhat, ihren Sohn in nächster Zeit wieder zu sehen. An dieser Szene liebe ich, dass sie so banal und trotzdem herzzerreißend ist. In Ferngespräch begegnen sich Mutter und Tochter in derselben traumartigen Landschaft: dem Strand, der auf einem Fächer abgebildet ist. Einem Touristenartikel, mit der Aufschrift „The Philippines“, der bei ihnen zu Hause in Deutschland hängt. Natürlich haben die beiden jeweils ihre eigenen Sehnsüchte und Erinnerungen an diese Heimat, aber dass sie sich in demselben Traum begegnen, drückt ihre Verbundenheit aus. Die Mutter ist für das Kind der einzige Zugang zur philippinischen Heimat, denn sie selbst kennt dieses Land kaum. Die pinke, schemenhafte Großmutter löst sich im Wasser auf, die Mutter schafft es nicht mehr nach ihr zu greifen und scheint im Meer verloren zu gehen (Abb. 2). Da taucht plötzlich die Tochter auf und der Schwimmring, mit dem sie ans Ufer schwimmt, hat dieselbe Farbe wie die Oma. Und die Mutter folgt ihr (Abb. 3). Surreales und Traumhaftes helfen mir hier, Emotionen, das Innere der Figuren und ihr Verhältnis zueinander zu beschreiben.

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Abb. 1: Seite aus Ferngespräch. Sheree Domingo. Ferngespräch. Zürich: Edition Moderne, 2019. 33.

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Abb. 2: Doppelseite aus Ferngespräch. Domingo. Ferngespräch. 84–85.

Abb. 3: Doppelseite aus Ferngespräch. Domingo. Ferngespräch. 86–87.

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„Ich habe geweint, als ich When David Lost His Voice gelesen habe“, erzählte ich meiner Dozentin Judith Vanistendael während ihrer Comicklasse an der LUCA School of Arts in Brüssel, wo ich ein Semester lang studierte. Ihr Comic kam zu dem Zeitpunkt auf Englisch heraus. „Gut! Das ist auch mein Ziel“, war ihre Antwort und sie lachte dabei. Ich möchte auch von Abgründen und der Schönheit des Lebens gleichzeitig erzählen können, so wie sie, dachte ich damals. When David Lost His Voice (2012)1 handelt von der Kehlkopfkrebs-Diagnose des Protagonisten und dem Umgang seiner Patchworkfamilie mit der Krankheit und seinem Tod. An einer Stelle sieht Miriam, Davids erwachsene Tochter, ihren todgeweihten Vater als Skelett. Sie reibt sich verdutzt die Augen: „Ich drehe durch!“ (Vanistendael 2014, 68–69). Der ganze Comic ist nüchtern erzählt, niemals kitschig und doch ist man als Leser✶in ganz nah bei den Figuren. Auf einer anderen Doppelseite tanzt Miriam mit einem Skelett, dem Tod. Man spürt den Schmerz, der in dem Verlust eines geliebten Menschen liegt, aber der Totentanz lässt auch auf einen Neuanfang hoffen. Es sind surreale und fantastische Szenen, die mich als Leserin affizieren und reale Gefühle wecken.

Ineinander verflochten: Freundschaften und Comics Im Rahmen der Ausstellung „Vorbilder✶innen – Feminismus in Comic und Illustration“2 wurde mein Kollektiv „Die Goldene Discofaust“ beauftragt, Comics zu unseren Vorbilder✶innen zu zeichnen. Und da zeichnete ich natürlich eine Hommage an Judith Vanistendael. Die Goldene Discofaust besteht aus Karolina Chyzewska, Schirin Moaiyeri, Ilki Kocer, Katharina Röser, Kirsten Rothbart und Burcu Türker, fast alle sind Comiczeichner✶innen. Und sie begleiten mich seit meiner Studienzeit in Kassel. Für die gleiche Ausstellung schufen wir auch eine Installation, die wir an anderer Stelle wie folgt beschrieben haben: Während jede einen eigenen Comic zu Ihrem Vorbild gezeichnet hat, treten wir in der Installation miteinander in einen Dialog: Was jede an ihrer/m Künstler:in bewundert, hat eine andere weitergewandelt in etwas Neues und auf einer Stoffbahn zum Ausdruck gebracht.

 Der Comic ist auf dem deutschen Markt 2014 unter dem Titel Als David seine Stimmer verlor erschienen.  Die Wanderausstellung „Vorbilder✶innen – Feminismus in Comic und Illustration“ wurde von Lilian Pithan und Katharina Erben im Auftrag des Comic-Salon Erlangen kuratiert. Vgl. https:// www.comic-salon.de/de/vorbilderinnen (abgerufen am 20.02.2022).

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Die Bahnen (ob zusammengeknüllt, übereinander liegend, nebeneinander in der Luft schwebend ...) spiegeln unsere Art miteinander zu arbeiten wider: Verspielt, aufeinander eingehend, einander stützend und doch jede auf ihrer eigenen Art und Weise.3

Vier junge Frauen sitzen im Zimmer unter einem selbstgebastelten Zelt aus Bettlaken und malen sich gegenseitig Bärte ins Gesicht. Geburtstagsüberraschungsparty. Sie trinken, lachen, tanzen, rauchen Shisha und reden die ganze Nacht. „Warst du denn nie sauer, dass sie weg, nach Istanbul, gezogen ist? / Nein, gar nicht. / Komisch. Ich wäre schon sauer gewesen. / Ich wusste schon immer, dass sie ihre Heimat und die Bühne vermisst hat. / Ich hab’ mal gelesen, dass Eltern und Kinder Konflikte suchen, um ihre Trennung erträglicher zu machen. / Vielleicht hätte ich mich doch mal mit ihr streiten sollen“ (Türker 2016), sagt die junge Frau mit den knallroten Haaren und lacht. „Wär’s dann jetzt einfacher, was meint ihr?!“ Die anderen schließen sich ihrem Lachen an. In Burcu Türkers Süße Zitronen trauert die Protagonistin um den frühen Verlust ihrer Mutter. Sie schwelgt in schönen und schmerzhaften Erinnerungen in roten, warmen Pastellfarben. Es ist ein sehr persönlicher, poetischer und berührender Comic. Am Ende räumt die Hauptfigur die Reste der Party weg, die Bettlaken des Zeltes lösen sich vom Haken und hüllen sie ein, in ein warmes, sattes Rot. In Fast wie zu Hause (2015) sitzen Freundinnen in einer Küche, der Protagonistin werden die Haare geschnitten. „Warum Frauen sich wohl immer die Haare schneiden, wenn sich was ändert? / Ich denke, um das Alte abzustreifen. / Ja, so eine Art Häutung. / Also ich hab das auf jeden Fall von meiner Mutter“ (Chyzewska 2015,15–16), sagt die Protagonistin während ihr die Haare ins Gesicht gekämmt werden. Sie steht vor einer großen Reise, einem Erasmus-Studium in Krakau, den Spuren ihrer Mutter folgend. Aufgewachsen zwischen zwei Kulturen, geht es in Karolinas Chyzewskas Comic um die Suche nach der eignen Identität. Ich erinnere mich an unser Zelt aus Bettlaken und an das Haarescheiden in der WG-Küche. Es sind gemeinsame Erinnerungen aus unserer Studienzeit. Zu dieser Zeit lernten wir uns alle kennen. Das ist inzwischen 12 Jahre her und Die Goldene Discofaust ist zu meiner Familie und meinem Anker geworden. Mir ist inzwischen klar, dass unsere Freund✶innenschaft genauso wichtig für unsere Arbeit ist wie die Kunst, die wir machen. Ferngespräch war meine Abschlussarbeit und ich hatte anfangs Schwierigkeiten einen Verlag zu finden. Der Comic war zwar fertig, aber hatte noch ein paar Baustellen, doch nach der Universität gab es erst einmal wichtigere Probleme: Überleben. Und das hieß viele Nebenjobs, die nichts mit Comics zu tun haben. In dieser Zeit war die Die Goldene Discofaust sehr wichtig für mich. Wir arbeiteten

 https://diegoldenediscofaust.com/wandeln (abgerufen am 20.02.2022).

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gemeinsam an freien Projekten: Zines, Ausstellungen oder Lesungen. Wir fuhren weiterhin gemeinsam auf Comicfestivals, so wie wir es auch während unserer Studienzeit gemacht haben. Und es war aufregend und ermutigend mitzubekommen, wie Burcu Türker und Karolina Chyzewska ihre Bücher veröffentlichten. In unseren drei sehr autobiografischen Comics geht es um die Mütter. Mütter, die an irgendeinem Zeitpunkt in ihrem Leben nach Deutschland eingewandert sind, sei es für die Arbeit oder die Liebe. Die Biografien innerhalb unserer Gruppe ähneln sich. Ob das der Grund ist, weshalb wir zusammengefunden haben, ist schwer zu sagen. Zumindest ist das jetzt manchmal unsere Erklärung, wenn wir danach gefragt werden. Und natürlich auch, weil wir gemeinsam stärker und lauter sind. Ich habe innerhalb der Comic-Community in Deutschland viel Solidarität und offenen Austausch erfahren. Vor allem unter nicht-cis-männlichen Zeichner✶innen, aber natürlich gibt es auch Ausnahmen. Vielleicht ist der Zusammenhalt so groß, da das Comiczeichnen an sich schon prekär genug ist und es da hilft, Banden zu bilden, statt die Ellenbogen auszufahren. Vor allem das Studio, in dem ich seit 2020 mit Burcu Türker, Nino Bulling, Barbara Ott und Schirin Moaiyeri arbeite, ist ein solcher Ort des Austauschs. Ob es um Bildkomposition, Stipendienbewerbungen, das Mittagessen oder die Rente geht. Solche Netzwerke und Freund✶innenschaften sind der Nährboden, auf dem ich als Künstlerin wachsen kann. Sie sind für die Leser✶innen unsichtbar, wie das, was zwischen den Panels passiert, aber entscheidend für die Story. Gleichzeitig eröffnen mir Comics anderer Zeichner✶innen neue Perspektiven auf zwischenmenschliche Beziehungen, Liebe und Körper. Sehr inspirierend finde ich Steinfrucht (2021) von Lee Lai oder oder „Abfackeln“ von Nino Bulling. Die Welt braucht mehr Comics, die mit dem brechen, was als vermeintliche ‚Norm‘ angesehen wird, weil Geschichten Empathie schaffen. Und davon können wir nicht genug haben: Empathie und Liebe.

Quellenverzeichnis Bulling, Nino (W/A). Abfackeln. Zürich: Edition Moderne, 2022. Chyzewska, Karolina (W/A). Fast wie zu Hause. Posen: Centrala, 2015. Domingo, Sheree (W/A). Ferngespräch. Zürich: Edition Moderne, 2019. Lai, Lee (W/A). Steinfrucht. Berlin: Avant, 2021. Matsumoto, Taiyo (W/A). Sunny Vol. 2. San Francisco: VIZ Media, 2013. Türker, Burcu (W/A). Süße Zitronen. Berlin: Jaja Verlag, 2016. Vanistendael, Judith (W/A). When David Lost His Voice. London: Self Made Hero, 2012.

Life of a Rookie – the Beginning. Ein Comic von Felizia Sonberger

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Autor✶innenverzeichnis Taylor Crosby hat in Deutschland und den USA gelebt. Heute ist Taylor Studentin an der Fordham University in New York City. Sie hat Internationale Politik, Wirtschaft, und Germanistik studiert. Ihre anderen Interessen sind Philosophie, Psychologie, und Musik. Sie hofft auf einen Master in Wirtschaftswissenschaften. Sheree Domingo ist Comiczeichnerin. Ihre Arbeiten wurden unter anderem in der Berliner Zeitung und Le Monde Diplomatique veröffentlicht. Ihr Comicdebüt Ferngespräch (Grimmelshausen Förderpreis 2021) ist 2019 bei Edition Moderne erschienen. 2022 erschien zusammen mit dem Autor Patrick Spät Madame Choi und die Monster, für den sie den Comicbuchpreis der Berthold Leibinger Stiftung erhalten haben. Sheree lebt und arbeitet in Berlin. Dr. Barbara Margarethe Eggert ist seit 2023 Rektorin der Merz Akademie – Hochschule für Gestaltung, Kunst und Medien, Stuttgart. Sie forscht und lehrt im Bereich Comics Studies mit einem Schwerpunkt auf Ausstellungen von, mit und als Comics. Seit 2019 konzipiert und organisiert sie die wissenschaftliche Begleittagung zum NextComic-Festival, Linz. Für die AG Comicforschung in der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM) engagiert sie sich seit 2022 im Vorstandsteam. Unter dem Namen eggy veröffentlicht sie (Web-)Comics, schreibt Szenarios für Kooperationsprojekte und kuratiert Ausstellungsprojekte. Isabella Griessenberger ist eine Künstlerin aus Wien, Österreich, die seit 2023 als Concept Artist im Game Design-Bereich arbeitet. Nach dem Studium an der Kunstschule Wien, welches sie mit ausgezeichnetem Diplom abschloss, arbeitete sie an mehreren Covern, Concept Art und Comics für „ASH – Austrian Super Heroes“, „Levana“, „Woman“ und auch an einem Comicbuch für eine der erstaunlichen Attraktionen des „Europaparks“ und plant zur Zeit neben privaten Projekten eine berufliche Weiterbildung. Dr. Iris Haist ist wissenschaftliche Leiterin des Erich-Ohser-Hauses mit Galerie e.o.plauen und Vorständin der Erich Ohser – e.o.plauen Stiftung in Plauen. Aufbauend auf der bisherigen Forschungssituation konzipiert sie Fokusausstellungen, die noch wenig beachtete Aspekte des Schaffens Erich Ohsers alias e.o.plauen – über seine berühmten Vater und Sohn-Bildgeschichten hinaus – näher beleuchten. Björn Hochschild ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Seminar für Filmwissenschaft (Freie Universität Berlin) sowie der Kollegforschungsgruppe Cinepoetics. Seine 2021 abgeschlossene Promotion zur Begegnung mit Comic- und Filmfiguren erscheint 2023 bei De Gruyter. Er ist Teil des Koordinationsteams der AG Comicforschung in der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM). Arbeits- und Forschungsfelder sind: Filmwissenschaft, Comicforschung, Figurentheorie, Phänomenologie, Afroamerikanisches Kino. Mag.a Klara Huber studierte Bildnerische Erziehung und Mediengestaltung an der Kunstuniversität Linz (AT). Seit dem Abschluss ihres Studiums lebt sie in Graz und unterrichtet dort als Pädagogin an einem Gymnasium. Sowohl in der beruflichen Tätigkeit und Forschung als auch in der eigenen künstlerischen Praxis stellen intersektionale Diversität und der sensible Umgang mit Rollenbildern einen Schwerpunkt ihrer Arbeit dar.

https://doi.org/10.1515/9783110786392-022

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Elisabeth Klar, geboren 1986 in Wien, Studium der Vergleichenden Literaturwissenschaft und Transkulturellen Kommunikation. 2011 gemeinsam mit Barbara Eder und Ramon Reichert Herausgeber✶in von Theorien des Comic – Ein Reader (transcript, Bielefeld). Mitglied der AG Comicforschung in der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM), der Gesellschaft für Comicforschung (ComFor) und der Österreichischen Gesellschaft für Comicforschung und Vermittlung (OeGeC). Schwerpunkte in der Comicforschung: Körper im Comic, Queere Identitäten im Comic, Erzähltechniken. Elisabeth Klar arbeitet als Schriftsteller✶in und in der Softwareentwicklung. Dr. Kalina Kupczyńska, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Lodz. Stipendiatin der Alexander-von-Humboldt-Stiftung, des ÖAD, des DAAD und des polnischen Nationalen Wissenschaftszentrums (NCN). Publikationen zur deutschsprachigen Avantgarde, zur österreichischen Gegenwartsliteratur, zu Comicadaptionen literarischer Texte, zu Gender-Aspekten im Comic, zur polnischen Comickultur und zu Comicautobiografien. 2020–2022 im Koordinationsteam der AG-Comicforschung bei der Gesellschaft für Medienwissenschaft (GfM) sowie Jurymitglied des Martin Schüwer-Publikationspreises. Lisa-Viktoria Niederberger BA ist Autorin und Kulturwissenschaftlerin, lebt in Linz/Österreich, wo sie über Vulva-Darstellungen in der feministischen Kunst schreibt und forscht. Themenschwerpunkte ihrer Arbeit sind psychische Erkrankungen, Körperbilder und soziale Gerechtigkeit, z. B. im Winter 2022 als Essay und Audioinstallation mit dem Titel „Wie wir sind“ im Rahmen der Ausstellung „de/re constructing female bodies“ in der OÖ Kunstsammlung. Dr. Joanna Nowotny arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin im Dienst Forschung und Vermittlung am Schweizerischen Literaturarchiv (SLA) in Bern. Sie promovierte an der ETH Zürich und forschte und unterrichtete an den Universitäten Bern und Wien sowie der University of Chicago. Arbeits- und Forschungsfelder: Digital- und meme-Kultur (Memes. Formen und Folgen eines Internetphänomens, mit Julian Reidy, transcript 2022), Comicstudien, deutsch-jüdische Literatur und Philosophie, Intersektionalitätsforschung. Dr. Marina Rauchenbacher ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Kulturmanagement und Gender Studies an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien (mdw) und arbeitet im Projekt Visualitäten von Geschlecht in deutschsprachigen Comics (Co-Antragstellerin). Sie forscht und lehrt v. a. zu Visual Culture Studies, Gender und Queer Studies, Comics und deutschsprachiger Literatur. Sie ist Vorstandsmitglied des Arbeitskreises Kulturanalyse und der Österreichischen Gesellschaft für Comic-Forschung und -Vermittlung. Dr. Marie Schröer ist Juniorprofessorin für Kultursemiotik und Kulturen romanischer Länder an der Universität Potsdam. Sie forscht, lehrt und publiziert u. a. zu Comics, Autobiografie/Autofiktion, Gegenwartsliteratur und Food Studies. Katharina Serles ist Co-Antragstellerin und wissenschaftliche Mitarbeiterin im FWF-Projekt Visualitäten von Geschlecht in deutschsprachigen Comics am Institut für Germanistik der Universität Wien. Ihre Forschungs- und Arbeitsschwerpunkte sind Comics, Literatur und Bildende Kunst, Gender Studies, Bildtheorie und Barockrezeption. Sie ist Mitbegründerin der Österreichischen Gesellschaft für Comics (OeGeC) und Chefredakteurin des kulturpolitischen Magazins KUPFzeitung.

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Dr. Véronique Sina vertritt im Sommersemester 2023 die Professur für Filmwissenschaft an der Goethe-Universität Frankfurt. Seit Oktober 2022 leitet sie am dortigen Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft das von der DFG geförderte Forschungsprojekt „Queering Jewishness – Jewish Queerness. Diskursive Inszenierungen von Geschlecht und ‚jüdischer Differenz‘ in (audio-)visuellen Medien“. Arbeits- und Forschungsfelder: Gender Media Studies, Queer Theory, Jewish Visual Studies, Intersektionalitätsforschung, Medienästhetik, Holocaust Studies, Comic-, Film- und Intermedialitätsforschung. Felizia Sonberger ist 1991 in der Steiermark geboren und absolvierte ihre Ausbildung zur Grafik Designerin an der Ortweinschule Graz. In ihrer grafischen Tätigkeit fokussiert sie sich auf den Bereich Illustration. Derzeit unterrichtet sie Kunst und studiert Bildnerische Erziehung und Technische & Textile Gestaltung an der PH Steiermark. Als Teil vom Kollektiv Risograd beschäftigt sie sich mit dem Druckverfahren Risographie. Dr. Daniel Stein ist Professor für Nordamerikanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Siegen und Teilprojektleiter im SFB 1472 Transformationen des Populären. Er ist Autor der Monografien Music Is My Life: Louis Armstrong, Autobiography, and American Jazz (2012) und Authorizing Superhero Comics: On the Evolution of a Popular Serial Genre (2021) sowie Mitherausgeber der Zeitschrift Anglia. MMag. art Ilona Stütz BA hat Textilkunst und Kunstvermittlung (Bildnerische Erziehung, Textiles Gestalten und Mediengestaltung Lehramt) an der Kunstuniversität Linz studiert. Arbeits- und Forschungsfelder: Diversität und Intersektionalität, Repräsentation von Körpern in (Sach)Kinder- und Jugendliteratur. Sie arbeitet seit 2023 als Projektkoordinatorin im Bereich Art&Science an der Johannes Kepler Universität Linz und rezensiert u. a. für das „Kollektiv buuu.ch – Diverse Kinderbücher“. James Sullivan schloss 2021 sein Bachelor Studium in Journalismus an der Fordham University in New York City ab. Seit 2019 arbeitet er als Social Media Redakteur für SNY TV. Petra Francesca Weixelbraun ist wissenschaftliche Projektmitarbeiterin an der Universität für angewandte Kunst Wien im Projekt IMAGE+ und an der Universität Wien für das Projekt Serious Game Changers. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind die Erforschung von didaktischen Einsatzmöglichkeiten von Videospielen, künstlicher Intelligenz und Graphic Novels zur Identitätsförderung Jugendlicher.