Spina bifida: Interdisziplinäre Diagnostik, Therapie und Beratung [2., komplett überarbeitete Aufl.] 9783110228748, 9783110209532

This thoroughly updated second edition offers a unique, interdisciplinary survey of the basics, the urological and ortho

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Spina bifida: Interdisziplinäre Diagnostik, Therapie und Beratung [2., komplett überarbeitete Aufl.]
 9783110228748, 9783110209532

Table of contents :
Vorwort zur 2. Auflage
Vorwort zur 1. Auflage
Inhalt
Autorenverzeichnis
Abkürzungen
1. Einleitung
2 .Schwangerschaft und Geburt
3 .Zentrales Nervensystem
4. Endokrine Störungen
5. Neurogene Blasen- und Darmentleerungsstörung
6. Sexualität
7. Naturlatexsensibilisierung und -allergie
8. Bewegungsapparat und Mobilität
9. Entwicklungsneurologische und psychologische Aspekte
10.Sozialrechtliche Hilfen
11 .Selbsthilfe
12. Gesundheitliche Versorgung – Anforderungen und Erwartungen aus Sicht Erwachsener mit Spina bifida und an der Versorgung beteiligter Akteure
Stichwortverzeichnis

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Theodor Michael, Arpad von Moers, Elisabeth Strehl, Hannes Haberl, Susanne Lebek (Hrsg.) Spina bifida

Spina bifida

| Interdisziplinäre Diagnostik, Therapie und Beratung Herausgegeben von Theodor Michael, Arpad von Moers, Elisabeth Strehl, Hannes Haberl, Susanne Lebek 2., komplett überarbeitete Auflage

Herausgeber Dr. med. Theodor Michael 14197 Berlin [email protected] Priv.-Doz. Dr. med. PD Dr. med. Arpad von Moers DRK Kliniken Berlin Westend Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Spandauer Damm 130, 14050 Berlin [email protected] Dr. med. Elisabeth Strehl 91080 Spardorf [email protected]

Prof. Dr. med. Hannes Haberl Universitätsklinikum Bonn Neurochirurgische Klinik Sigmund-Freud-Str. 25, 53127 Bonn [email protected] Dr. med Susanne Lebek Charité – Universitätsmedizin Berlin, corporate member of Freie Universität Berlin, Humboldt-Universität zu Berlin, and Berlin Institute of Health Sozialpädiatrisches Zentrum und Centrum für Muskuloskeletale Chirurgie Kinder- und Neuroorthopädie Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin [email protected]

Der Verlag hat für die Wiedergabe aller in diesem Buch enthaltenen Informationen mit den Autoren große Mühe darauf verwandt, diese Angaben genau entsprechend dem Wissensstand bei Fertigstellung des Werkes abzudrucken. Trotz sorgfältiger Manuskriptherstellung und Korrektur des Satzes können Fehler nicht ganz ausgeschlossen werden. Autoren und Verlag übernehmen infolgedessen keine Verantwortung und keine daraus folgende oder sonstige Haftung, die auf irgendeine Art aus der Benutzung der in dem Werk enthaltenen Informationen oder Teilen davon entsteht. Die Wiedergabe der Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen und dergleichen in diesem Buch berechtigt nicht zu der Annahme, dass solche Namen ohne weiteres von jedermann benutzt werden dürfen. Vielmehr handelt es sich häufig um gesetzlich geschützte, eingetragene Warenzeichen, auch wenn sie nicht eigens als solche gekennzeichnet sind.

ISBN 978-3-11-020953-2 e-ISBN (PDF) 978-3-11-022874-8 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-038490-1 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data Names: Michael, Theodor, 1949- editor. Title: Spina bifida : Interdisziplinare Diagnostik, Therapie und Beratung / edited by/herausgegeben von Theodor Michael, Arpad von Moers, Elisabeth Strehl, Hannes Haberl, Susanne Lebek. Description: Komplett uberarbeitete und erganzte 2. Auflage. | Berlin ; Boston : De Gruyter, [2018] | Includes bibliographical references and index. Identifiers: LCCN 2018014371 (print) | LCCN 2018016342 (ebook) | ISBN 9783110228748 (pdf) | ISBN 9783110384901 (epub) | ISBN 9783110209532 (hardcover : alk. paper) Subjects: LCSH: Spina bifida. | Spine--Abnormalities. Classification: LCC RJ496.S74 (ebook) | LCC RJ496.S74 S675 2018 (print) | DDC 617.4/82--dc23 LC record available at https://lccn.loc.gov/2018014371 Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. © 2018 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandabbildung: Mit freundlicher Genehmigung der Charité, Centrum für diagnostische und interventionelle Radiologie und Nuklearmedizin, Klinik für Strahlenheilkunde, Pädiatrische Radiologie Satz: PTP-Berlin, Protago-TEX-Production GmbH, Berlin Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Vorwort zur 2. Auflage Spina bifida ist eine der Fehlbildungen, die wegen des großen und überaus komplexen Betreuungs- und Behandlungsaufwandes nicht nur für die Betroffenen und ihre Familien, sondern auch für die Behandlungsteams eine besondere Herausforderung darstellen. Deshalb sind wir dem Wunsch des Verlages und vieler Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Behandlungszentren gefolgt und haben uns zu einer neuen Ausgabe des Buches entschlossen. Dabei sollten neben Bewährtem neue Entwicklungen in allen Teilaspekten der medizinischen, therapeutischen, psychosozialen und technischen Behandlungsangebote für die Betroffenen aller Altersstufen dargestellt werden. Wie bei der 1. Auflage war es uns wichtig, das Zusammenwirken verschiedener medizinischer Disziplinen mit zahlreichen unterschiedlichen Berufsgruppen und mit Betroffenen auch in der Zusammensetzung der Autorenschaft deutlich zu machen. Auf diese Weise ist kein in allen Teilen konsequent durchstrukturiertes Lehrbuch entstanden, sondern eine Art Lesebuch, in dem Leser mit sehr verschiedenen Fragestellungen Informationen und Anregungen finden mögen. Knapp 20 Jahre nach der 1. Auflage galt es, Auswahl, Gewichtung und Darstellung der Themen auf fast allen Gebieten den neuen Entwicklungen anzupassen. Als neue Themen wurden u. a. die fetale Chirurgie und die bisher vernachlässigte Versorgungssituation Erwachsener aufgenommen. Der Kreis der Herausgeber wurde erweitert, um viele Themen fachlich noch besser abzubilden. Auch zahlreiche neue Autoren konnten gewonnen werden. Wir danken den Unterstützern in Industrie und Handel, dass sie uns durch Abnahmegarantien die neue Ausgabe ermöglicht haben. Besonders danken möchten wir den Mitarbeiterinnen des Verlags, die uns auf dem langen und nicht immer einfachen Weg bis zur Fertigstellung stets geduldig und kompetent beraten und unterstützt haben. Nicht zuletzt danken wir allen Autorinnen und Autoren, deren Fachwissen und persönliche Erfahrung dieses Buch prägen und deren Geduld und Engagement die Voraussetzung waren, dieses Projekt schließlich zum erfolgreichen Abschluss zu bringen. Berlin, Bonn, Erlangen 2018 Die Herausgeber Th. Michael, A. v. Moers, E. Strehl, H. Haberl, S. Lebek

https://doi.org/10.1515/9783110228748-001

Vorwort zur 1. Auflage Seit mehr als 20 Jahren ist im deutschen Sprachraum keine zusammenfassende Darstellung der Behandlungsmöglichkeiten von Kindern mit einer angeborenen Querschnittlähmung erschienen. In diesem Zeitraum gab es große Fortschritte in der Diagnostik und Therapie, die es ermöglichten, die Lebenserwartung und vor allem die Lebensqualität der Betroffenen entscheidend zu verbessern. Die Therapiekonzepte haben sich besonders in der Urologie und der Orthopädie zu konservativem und eher prophylaktischem Vorgehen gewandelt. Als bedeutendste Neuerung fiel die Einführung des sauberen Einmalkatheterisierens in diese Zeit. Das hat für viele Betroffene sicher den tiefgreifenden Wandel in der Lebensqualität mit sich gebracht. Dieses Buch soll unter Berücksichtigung der Neuerungen diagnostische, therapeutische und medizinische Konzepte zusammenfassen. Es soll aber auch die vielen anderen Aspekte darstellen, die bei der Behandlung und der Begleitung der Kinder und ihrer Familien von entscheidender Bedeutung sind und ohne die die medizinischen Angebote oft gar nicht angenommen werden können. Dieses Buch ist durch die Zusammenarbeit zahlreicher engagierter Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter entstanden, die sich an dem vom Bundesministerium für Gesundheit geförderten Projekt „Fortbildung von Bediensteten in Spina-bifida-Ambulanzen der neuen Bundesländer“ in der Zeit zwischen 1992 und 1995 beteiligt haben. Ihre Beiträge zu sechs Seminaren, die im Rahmen des Modellvorhabens zu grundlegenden Themen der Versorgung stattfanden, bildeten die Basis des Buches. Den Themenkatalog konnten wir noch durch entscheidende Beiträge ergänzen. Dieses Buch erhebt nicht den Anspruch, den Themenkomplex Spina bifida in allen Bereichen vollständig darzustellen. Vielmehr sollte der besondere Charakter der Seminare mit fachübergreifender Thematik und Mitwirkung aller an der Behandlung beteiligten Berufsgruppen erkennbar bleiben und auch die Leser zu fachübergreifender Diskussion anregen. Das Buch wendet sich in erster Linie an Therapeutinnen/Therapeuten, Sozialarbeiterinnen/Sozialarbeiter, Psychologinnen/Psychologen und Ärzteinnen/Ärzte in Praxen, Kliniken oder Therapieeinrichtungen, die sich über den aktuellen Stand der Behandlung von Patienten mit Spina bi?da informieren wollen. Aber auch Eltern und Selbstbetroffene finden hier umfassende Informationen, und nicht zuletzt können Lernende an diesem Beispiel einen Einblick in die Komplexität chronischer Erkrankungen und deren Behandlung gewinnen. An dieser Stelle möchten wir all denen Dank sagen, die die Entstehung des Buches ermöglicht oder dazu beigetragen haben: Frau Dr. Scherz und Herrn Dr. Statz im Bundesministerium für Gesundheit, die die Förderung des Modellvorhabens vorangebracht und begleitet haben; den Patienten und Eltern in unseren Ambulanzen, die bereitwillig die Projektzeit mit vielen Hospitanten, Foto- und Videoaufnahmen ertragen haben; Herrn Prof. Dr. Jacobi, Herrn Dr. Lison, Herrn Prof. Dr. Scheffner und Herrn Prof. Dr. Stehr, die die Durchführung des Projekts in ihren Kliniken ermöglicht https://doi.org/10.1515/9783110228748-002

VIII | Vorwort zur 1. Auflage

haben; Frau Bassir für die souveräne Organisation des Projekts von Berlin aus; den Autorinnen und Autoren, die ihre Beiträge meist pünktlich zur Verfügung gestellt haben; Frau Hartmann, Frau Poster und Frau Dr. Streeck für die Überarbeitung und die Korrekturen der Beiträge zu Themen der psychosozialen Begleitung; Frau Bauer für das geduldige Suchen und Finden der Fehler; Herrn Großkurth für die mühsame Arbeit bei der Gestaltung und beim Setzen der Texte und Abbildungen; den Sponsoren, die die Fertigstellung dieses Buches ermöglicht haben: Fa. AstraTech, Limburg/L Fa. Braun, Melsungen Fa. Coloplast GmbH, Hamburg Fa. Gottinger, München Fa. H. Krüger, Berlin Fa. Maltry, Potsdam Fa. Med.SSE-System, Fürth Fa. Medical Service, Bad Liebenzell Fa. Medicare-Pfrimmer, Erlangen Fa. Orthopädie Forum, Erlangen Fa. OWB, Berlin Fa. Pro-Walk, Egelsbach Fa. Otto Bock, Duderstadt Fa. San Aktiv, Berlin Frau Ullrich, Herrn Dr. Kleine und Herrn Dr. Radke vom Verlag de Gruyter für ihre Unterstützung und Beratung bei der Arbeit am Buch und ihre Geduld bis zum Eintreffen der Artikel.

Berlin und Erlangen im Frühjahr 1998 Th. Michael A. von Moers A. E. Strehl

Inhalt Vorwort zur 2. Auflage | V Vorwort zur 1. Auflage | VII Autorenverzeichnis | XXV Abkürzungen | XXXI 1 Einleitung | 1 Arpad von Moers 1.1 Epidemiologie und Ätiologie | 1 1.1.1 Epidemiologie | 1 1.1.2 Ätiologie | 1 Literatur | 3 Arpad von Moers, Matthias Kieslich 1.2 Klassifikation dorsaler Spaltbildungen | 4 Literatur | 7 2 Schwangerschaft und Geburt | 9 Anke Rißmann 2.1 Perikonzeptionelle Folsäure zur Prävention von Neuralrohrdefekten | 9 2.1.1 Was sind Folate und was ist Folsäure? | 9 2.1.2 Warum Prophylaxe von Neuralrohrdefekten mit Folsäure? | 10 2.1.3 Aktuelle Empfehlungen zur perikonzeptionellen Folsäureprophylaxe | 11 Literatur | 13 Robert Armbrust und Wolfgang Henrich 2.2 Pränatale Diagnostik | 17 2.2.1 Pränatale Diagnostik | 17 2.2.1.1 Die pränatale Diagnose der Spina bifida im 2. Trimester | 18 2.2.2 Die pränatale Diagnose der Spina bifida im 1. Trimester | 21 2.2.2.1 Pränatale Diagnose durch MRT | 25 2.2.2.2 Der Serum-Marker AFP | 26 Literatur | 26

X | Inhalt

Elisabeth Strehl 2.3 Diagnosegespräche prä- und postnatal | 28 2.3.1 Einleitung | 28 2.3.2 Grundlagen der Gesprächsführung | 29 2.3.2.1 Das SPIKES-Modell | 29 2.3.3 Konkrete Gesprächszeitpunkte | 30 2.3.3.1 Pränatales Gespräch | 30 2.3.3.2 Postnatales Gespräch | 36 2.3.4 Fazit | 37 Literatur | 37 Ueli Möhrlen und Martin Meuli 2.4 Fetale Chirurgie bei Spina bifida | 38 2.4.1 Einleitung | 38 2.4.2 „Two-hit-Pathogenesis“ | 39 2.4.3 Erste humane fetale Operationen | 40 2.4.4 Management of Myelomeningocele Study | 41 2.4.4.1 Präoperative Abklärungen | 41 2.4.4.2 Operatives Vorgehen | 42 2.4.4.3 Wichtigste Resultate des MOMS-Trials | 43 2.4.4.4 Risiken der fetalen Chirurgie | 43 2.4.5 Minimal-invasive fetale Chirurgie bei MMC | 45 2.4.6 Zürcher Erfahrungen | 45 2.4.7 Zukunft | 46 2.4.8 Schlusswort | 46 Literatur | 47 Robert Armbrust und Wolfgang Henrich 2.5 Geburtshilfliches Vorgehen | 48 Literatur | 49 Sevgi Sarikaya-Seiwert 2.6 Postnatale neurochirurgische Erstversorgung | 50 2.6.1 Elternaufklärung | 50 2.6.2 Operation der MMC | 51 2.6.2.1 Präparationsschritte | 52 2.6.3 Postoperative Betreuung und Pflege | 55 Weiterführende Literatur | 56 3 3.1 3.1.1

Zentrales Nervensystem | 57 Zerebrale Fehlbildungen | 57 Hydrocephalus | 57

Inhalt

PD Dr. med. Arpad von Moers 3.1.1.1 Klinik | 57 Literatur | 58 Karl-Titus Hoffmann und Franz W. Hirsch 3.1.1.2 Bildgebung | 59 Literatur | 62 Dhani C. Schuster und Michael J. Fritsch 3.1.1.3 Indikation und Therapie | 63 Literatur | 67 Martin Kunz und Michael J. Fritsch 3.1.1.4 Diagnostik und Therapie von Shuntkomplikationen | 68 Literatur | 74 3.1.2 Chiari-II-Malformation | 76 PD Dr. med. Arpad von Moers 3.1.2.1 Klinik | 76 Literatur | 78 Karl-Titus Hoffmann 3.1.2.2 Bildgebende Verfahren | 79 Literatur | 83 Ulrich Seidel 3.1.2.3 Neurophysiologie | 84 Literatur | 86 Christian Schropp 3.1.2.4 Chiari-II-assoziierte schlafbezogene Atemstörung | 86 Literatur | 96 Ulrich-Wilhelm Thomale 3.1.2.5 Indikation und Durchführung der kranio-zervikalen Dekompression | 97 Literatur | 106 PD Dr. med. Arpad von Moers 3.1.3 Assoziierte zerebrale Fehlbildungen | 108 Literatur | 110

| XI

XII | Inhalt

Wolfgang Voss 3.1.4 Epilepsie | 110 Literatur | 112 3.2 Spinale Fehlbildungen | 113 Theodor Michael 3.2.1 Klinik | 113 3.2.1.1 Klinik des primären Tethered cord | 113 3.2.1.2 Klinik des sekundären Tethered cord | 116 Literatur | 116 Ulrich Seidel 3.2.2 Evozierte Potentiale beim primären und sekundären Tethered-cord-Syndrom | 117 3.2.2.1 Transkranielle Elektro- und Magnetstimulation | 117 3.2.2.2 Tibialis-SEP | 118 Literatur | 119 Birgit Spors 3.2.3 Bildgebung | 120 Literatur | 128 3.2.4 Operative Therapie | 129 Sevgi Sarikaya-Seiwert 3.2.4.1 Primäres Tethered cord – Indikation und Durchführung der operativen Behandlung | 129 Literatur | 133 Hannes Haberl 3.2.4.2 Spinale Lipome | 134 Literatur | 140 Hannes Haberl 3.2.4.3 Sekundäres Tethered cord – Indikation und Operationstechnik | 141 Literatur | 144 Regina Trollmann und Helmuth G. Dörr 4 Endokrine Störungen | 147 4.1 Einleitung | 147 4.2 Methodische Aspekte | 147 4.3 Störungen des Längenwachstums | 148 4.4 Wachstumshormonmangel (GH-Mangel) | 150

Inhalt

4.4.1 Therapie mit Wachstumshormon | 150 4.4.1.1 Auxologische Effekte | 150 4.4.1.2 Metabolische Effekte | 152 4.5 Störungen der Pubertät | 152 4.5.1 Prämature Adrenarche | 153 4.5.2 Vorzeitige Pubertät | 153 4.6 Zusammenfassung | 155 Literatur | 156 5 Neurogene Blasen- und Darmentleerungsstörung | 159 Maria Bürst 5.1 Neurogene Blasen-Sphinkter-Dysfunktion: Grundlagen und Diagnostik | 159 5.1.1 Einleitung | 159 5.1.2 Physiologie der normalen Miktion | 160 5.1.2.1 Anatomie des unteren Harntraktes | 160 5.1.2.2 Physiologie des unteren Harntraktes | 161 5.1.2.3 Zusammenfassung | 162 5.1.3 Neurogene Blase | 162 5.1.3.1 Pathophysiologie | 162 5.1.3.2 Klassifikation | 163 5.1.3.3 Die vier wichtigsten Formen | 164 5.1.4 Diagnostik der neurogenen Blasenfunktionsstörung | 169 5.1.4.1 Körperliche Entwicklung mit Risikoeinschätzung des unteren Harntraktes | 169 5.1.4.2 Besonderheiten bei okkulter dysraphischer Störung | 169 5.1.4.3 Urodynamik | 170 5.1.5 Untersuchungszeitpunkte | 174 5.1.5.1 Primärdiagnostik | 174 5.1.5.2 Verlaufskontrollen | 175 5.1.6 Zusammenfassung | 176 Literatur | 177 Jörg Jüngert 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.2.4.1 5.2.4.2 5.2.4.3 5.2.5

Sonografie der Nieren und ableitenden Harnwege | 179 Einleitung | 179 Zeitplan | 180 Methodik | 181 Befunde | 181 Harnblase | 181 Harnleiter und vesiko-ureteraler Reflux | 184 Nieren | 184 Zusammenfassung | 185

| XIII

XIV | Inhalt

Literatur | 186 Weiterführende Literatur | 186 Johannes Urban 5.3 Überwachung der Nierenfunktion | 186 5.3.1 Einleitung | 186 5.3.2 Risikofaktoren für einen Nierenfunktionsverlust | 187 5.3.3 Risikoevaluation | 187 5.3.3.1 Urodynamische Parameter | 187 5.3.3.2 Monitoring der Nierenfunktion durch Laborparameter | 188 5.3.4 Niereninsuffizienz bei Patienten mit Spina bifida | 191 5.3.5 Sonderfall Shuntnephritis | 192 Literatur | 193 Günter Schott und Elisabeth Strehl 5.4 Neurogene Blase: konservative und operative Therapie | 197 5.4.1 Einleitung | 197 5.4.2 Grundlagen für Therapieentscheidungen | 198 5.4.3 Die wichtigsten Elemente der konservativen Therapie | 198 5.4.3.1 Intermittierendes Katheterisieren | 198 5.4.3.2 Antimuskarinerge Medikamente | 199 5.4.4 Therapeutisches Vorgehen in Abhängigkeit vom Blasentyp | 201 5.4.4.1 Neurogene Detrusorhyperaktivität mit Hyperaktivität des Sphincter externus/Beckenbodens (D+/U+) | 201 5.4.4.2 Neurogene Detrusorhyperaktivität mit hypoaktivem Sphincter externus/Beckenboden (D+/U−) | 210 5.4.4.3 Detrusorhypoaktivität mit Hyperaktivität des Sphincter externus/Beckenbodens (D−/U+) | 212 5.4.4.4 Detrusorhypoaktivität mit Hypoaktivität des Sphincter externus/Beckenbodens (D−/U−) | 212 5.4.4.5 Ergänzende Therapieoptionen | 212 5.4.5 Zusammenfassung | 213 Literatur | 213 Johannes Urban 5.5 Harnwegsinfekte bei neurogener Blasenentleerungsstörung | 217 5.5.1 Einleitung | 217 5.5.2 Prinzipien der Behandlung | 217 5.5.3 Prophylaxe von Harnwegsinfektionen | 218 Literatur | 221

Inhalt |

XV

Elisabeth Strehl 5.6 Die neurogene Darmentleerungsstörung | 223 5.6.1 Einleitung | 223 5.6.2 Grundlagen | 223 5.6.3 Anamnese | 224 5.6.4 Diagnostik | 224 5.6.5 Therapeutische Optionen | 224 5.6.5.1 Therapie der Obstipation | 225 5.6.5.2 Sonderfall Diarrhö | 228 5.6.5.3 Zusätzliche Maßnahmen zum Erreichen einer sog. sozialen Kontinenz | 228 5.6.6 Schluss | 229 Literatur | 229 Sabine Kühl 5.7 Aufgaben der Pflege bei Inkontinenz und Dekubitus | 231 5.7.1 Einleitung | 231 5.7.2 Inkontinenz | 231 5.7.2.1 Allgemeines zur Hilfsmittelversorgung bei Inkontinenz | 231 5.7.2.2 Blase | 232 5.7.2.3 Darm | 234 5.7.3 Hautverletzungen und Dekubitus | 235 5.7.3.1 Prophylaxe | 236 5.7.3.2 Konservative Therapie | 236 5.7.3.3 Indikation zur operativen Therapie | 237 5.7.4 Schlussbemerkung | 238 Literatur | 238 6 Sexualität | 239 Susanne Reichert 6.1 Neurogene Sexualfunktionsstörungen und Therapiemöglichkeiten | 239 6.1.1 Einleitung | 239 6.1.2 Diagnostik | 240 6.1.3 Sexuelle Dysfunktion beim männlichen Spina-bifida-Patienten | 241 6.1.3.1 Therapieoptionen der sexuellen Dysfunktion des Mannes mit Spina bifida | 242 6.1.4 Sexuelle Dysfunktion bei weiblichen Spina-bifida-Patienten | 244 6.1.4.1 Therapie der weiblichen Sexualstörung | 245 Literatur | 245

XVI | Inhalt

Friedrich Wolff und Reinhold Cremer 6.2 Gynäkologische Therapie von Mädchen und Frauen mit Spina bifida | 246 6.2.1 Einleitung | 246 6.2.2 Kontrazeption | 247 6.2.2.1 Ovulationshemmer | 247 6.2.3 Schwangerschaft | 250 6.2.3.1 Vorbereitung und Planung | 250 6.2.3.2 Betreuung einer Schwangerschaft | 250 6.2.4 Geburt | 253 Literatur | 254 Beate Martin 6.3 Sexualität im Spannungsfeld zwischen Lust, Bedürfnissen, Wünschen und Angewiesensein auf Hilfe | 255 6.3.1 Einleitung | 255 6.3.2 Spina bifida, psychosexuelle Entwicklung und Sexualität | 256 6.3.3 Soziale Behinderungen in der Sexualität | 258 6.3.4 Sexualität ist mehr als … | 260 6.3.5 Die gesellschaftliche Dimension | 260 6.3.6 Besondere Herausforderungen in Bezug auf Sexualität | 262 6.3.6.1 Pflege und Sexualität | 262 6.3.6.2 Inkontinenz | 262 6.3.6.3 Kinderwunsch, Verhütung, Schwangerschaft und Geburt | 263 6.3.6.4 Sexuelle Gewalt | 264 6.3.6.5 Sexuelle Hilfestellung, Sexualbegleitung und Sexualassistenz | 265 6.3.6.6 Loslassen und Haltgeben – die Rolle der Eltern und Angehörigen | 266 6.3.7 Sexuelles Schicksal? – Ein Resümee | 268 Literatur | 269 Weiterführende Organisationen | 269 Sabine Ruschpler 6.4 Behinderung und Sexualität – rechtliche Grundlagen und persönliche Erfahrungen | 270 6.4.1 Einleitung | 270 6.4.2 Definition von Behinderung | 271 6.4.3 Grundsätze der Behindertenrechtskonvention der UN | 271 6.4.4 Wie Behinderung in unserer Gesellschaft wahrgenommen wird | 272 6.4.5 Meine persönlichen Erfahrungen | 272 6.4.5.1 Meine Ausgangssituation | 272 6.4.5.2 Meine Lösungsansätze | 273 6.4.5.3 Meine heutige Situation | 274

Inhalt |

6.4.5.4 Schlussgedanken | 274 Weiterführende Literatur | 275 Paula Lapilover, Katharina Blümchen und Reinhold Cremer 7 Naturlatexsensibilisierung und -allergie | 277 7.1 Latexallergie | 277 7.2 Latexallergie bei Spina-bifida-Betroffenen | 279 7.3 Atopie und Allergie bei Patienten mit Spina bifida | 281 7.4 Präventionsmaßnahmen zur Verhinderung einer Latexallergie bei Kindern mit Spina bifida | 281 7.5 Vorgehen bei einer klinisch manifesten Latexallergie bei Kindern mit Spina bifida | 283 7.6 Vorschlag eines diagnostischen Vorgehens bei Patienten mit Spina bifida | 284 Literatur | 285 8 Bewegungsapparat und Mobilität | 287 Theodor Michael 8.1 Einleitung: Das Behandlungskonzept nach A. Ferrari | 287 8.1.1 Grundlagen | 287 8.1.2 Lähmungsniveau S3 | 288 8.1.2.1 Defizite | 288 8.1.2.2 Statische Hilfsmittel | 288 8.1.2.3 Dynamische Hilfsmittel | 288 8.1.3 Lähmungsniveau S2 | 288 8.1.3.1 Defizite | 288 8.1.3.2 Stehen | 291 8.1.3.3 Gehen | 291 8.1.3.4 Statische Hilfsmittel | 291 8.1.3.5 Dynamische Hilfsmittel | 293 8.1.4 Lähmungsniveau S1 | 294 8.1.4.1 Defizite | 294 8.1.4.2 Stehen | 294 8.1.4.3 Gehen | 294 8.1.4.4 Kompensation | 295 8.1.4.5 Erworbene Deformitäten | 295 8.1.4.6 Statische Hilfsmittel | 295 8.1.4.7 Dynamische Hilfsmittel | 295 8.1.5 Lähmungsniveau L5 | 296 8.1.5.1 Defizit | 296 8.1.5.2 Stehen | 297 8.1.5.3 Gehen | 298 8.1.5.4 Angeborene und erworbene Deformitäten | 298

XVII

XVIII | Inhalt

8.1.5.5 Statische Hilfsmittel | 298 8.1.5.6 Dynamische Hilfsmittel | 298 8.1.6 Lähmungsniveau L4 | 298 8.1.6.1 Defizite | 298 8.1.6.2 Stehen | 299 8.1.6.3 Gehen | 299 8.1.6.4 Kompensation | 299 8.1.6.5 Statische Hilfsmittel | 299 8.1.6.6 Dynamische Hilfsmittel | 299 8.1.7 Lähmungsniveau L3 | 300 8.1.7.1 Defizite | 300 8.1.7.2 Stehen | 300 8.1.7.3 Gehen | 301 8.1.7.4 Kompensation | 301 8.1.7.5 Erworbene Deformitäten | 301 8.1.7.6 Statische Hilfsmittel | 301 8.1.7.7 Dynamische Hilfsmittel | 301 8.1.8 Lähmungsniveau L2 | 302 8.1.8.1 Defizite | 302 8.1.8.2 Stehen | 302 8.1.8.3 Gehen | 302 8.1.8.4 Kompensation | 302 8.1.8.5 Statische Hilfsmittel | 303 8.1.8.6 Dynamische Hilfsmittel | 303 8.1.9 Lähmungsniveau L1 | 304 8.1.9.1 Defizite | 304 8.1.9.2 Stehen | 304 8.1.9.3 Gehen | 304 8.1.9.4 Kompensation | 305 8.1.9.5 Erworbene Deformitäten | 305 8.1.9.6 Statische Hilfsmittel | 305 8.1.9.7 Dynamische Hilfsmittel | 305 8.1.10 Thorakale Läsionen | 306 8.1.11 Zusammenfassung | 306 Literatur | 307 8.2 Orthopädie | 308 Bernd Doll und Susanne Lebek 8.2.1 Primäre und sekundäre Fußdeformitäten und ihre konservative und operative Behandlung | 308 Literatur | 311

Inhalt | XIX

Susanne Lebek und Bernd Doll 8.2.2 Behandlung primärer und sekundärer Kniedeformitäten | 312 8.2.2.1 Sagittalebene | 313 8.2.2.2 Koronalebene/Frontalebene | 314 8.2.2.3 Transversalebene | 314 8.2.2.4 Zusammenfassung | 315 Literatur | 315 Julia Funk 8.2.3

Primäre und sekundäre Hüftdeformierungen und ihre konservative und operative Behandlung | 316 8.2.3.1 Einleitung | 316 8.2.3.2 Therapie im Säuglings- und Kleinkindalter | 316 8.2.3.3 Therapie im Kindes- und Jugendalter | 317 8.2.3.4 Therapie im Erwachsenenalter | 319 8.2.3.5 Zusammenfassung | 321 Literatur | 321 Susanne Lebek und Julia Funk 8.2.4 Frakturen und Fugenverletzungen und ihre Behandlung | 322 8.2.4.1 Einleitung | 322 8.2.4.2 Diagnostik und Klinik | 324 8.2.4.3 Therapie und Komplikationen | 326 8.2.4.4 Prophylaxe | 327 8.2.4.5 Zusammenfassung | 327 Literatur | 327 Matthias Pumberger, Susanne Lebek 8.2.5 Operative Behandlung der Wirbelsäule | 329 8.2.5.1 Fehlbildungsskoliosen | 329 8.2.5.2 Kyphosen | 329 8.2.5.3 Wachstumsbedingte (entwicklungsbedingte) Skoliosen im Vorschulalter | 330 8.2.5.4 Wachstumsbedingte (entwicklungsbedingte) Skoliosen im Schulalter | 330 Literatur | 332 8.3 Orthopädietechnik | 333 Udo Herde 8.3.1 Biomechanische Aspekte und deren orthopädietechnische Umsetzung für den Orthesenbau | 333 8.3.1.1 Einleitung | 333 8.3.1.2 Biomechanische Aspekte | 334

XX | Inhalt

8.3.1.3 Zusammenfassung | 339 Weiterführende Literatur | 339 Claudia Kitzeder 8.3.2 Unterschenkel- und Oberschenkelorthesen | 339 8.3.2.1 Einleitung | 339 8.3.2.2 Wahl des Orthesensystems | 339 8.3.2.3 Einlagen und dynamische Sprunggelenkorthesen | 341 8.3.2.4 Unterschenkelorthesen (AFO) | 342 8.3.2.5 Oberschenkelgelenkorthesen (KAFO) | 344 8.3.2.6 Orthetische Versorgung | 344 8.3.2.7 Aufbau von Oberschenkelorthesen | 346 8.3.2.8 Statische Oberschenkelorthesen | 346 8.3.3 Beckenübergreifende Orthesen | 347 8.3.3.1 Salera-Gelenkorthese | 347 8.3.3.2 Twister- und RGO-Gelenkorthesen | 348 8.3.3.3 Richtlinien zur Einstellung von beckenhohen Orthesen | 350 8.3.3.4 Versorgung mit beckenhohen statischen Orthesen | 351 8.3.3.5 Gang mit dem Go-LiTE | 351 8.3.3.6 Fazit | 352 Literatur | 352 Udo Herde 8.3.4 Orthopädietechnische Versorgung von Skoliosen bei Kindern mit Spina bifida | 353 8.3.4.1 Einleitung | 353 8.3.4.2 Voraussetzung für eine Korsettbehandlung | 353 8.3.4.3 Funktionalität und Korsett | 353 8.3.4.4 Korrekturmöglichkeiten bei Lagerungsorthesen und bei der Korsettbehandlung | 354 8.3.4.5 Gipstechnik und Maßnehmen | 355 8.3.4.6 Aufgaben und Funktion des Korsetts in Abhängigkeit vom Lähmungsniveau L5 aufsteigend und Alter des Patienten | 356 8.3.4.7 Zusammenfassung | 357 Weiterführende Literatur | 358 Pasquale Incoronato 8.3.5 Anpassungskriterien bei Kinderrollstühlen | 358 8.3.5.1 Wann ist ein Rollstuhl indiziert? | 358 8.3.5.2 Besteht die Gefahr, das Kind zu demotivieren, selbstständig mit Orthesen zu gehen? | 359 8.3.5.3 Wie bekommt man einen Rollstuhl? | 359 8.3.5.4 Welchen Rollstuhl wählt man? | 359

Inhalt | XXI

8.3.5.5 Woraus besteht ein Rollstuhl? | 361 8.3.5.6 Wie wird ein Rollstuhl bemessen? | 362 8.3.5.7 Welche Risiken entstehen bei der Anwendung eines Rollstuhls? | 364 8.3.5.8 Wie lernt man Rollstuhlfahren? | 364 Literatur | 364 8.4 Physiotherapie | 365 Elrike Singendonk 8.4.1 Die Behandlung im 1. Lebensjahr | 365 8.4.1.1 Erste Kontakte mit Kind und Familie | 365 8.4.1.2 Umgang und Pflege | 366 8.4.1.3 Therapie | 367 8.4.1.4 Untersuchung und Prognose | 369 8.4.1.5 Kontrakturbehandlung, Dehnung und Orthesen | 370 8.4.1.6 Motorische Entwicklung, Orthesen- bzw. Hilfsmittelversorgung | 371 Literatur | 377 Antje Niemeyer 8.4.2 Behandlung vom 2. bis 4. Lebensjahr | 378 8.4.2.1 Grundfragen, Therapieplanung und Therapieziele | 378 8.4.2.2 Therapieschwerpunkte | 379 8.4.2.3 Ende der Therapie | 389 Literatur | 390 Claudia Langer 8.4.3 Physiotherapeutische Begleitung der Kinder nach Therapieende | 390 8.4.3.1 Bewegungsangebote | 391 8.4.3.2 Wie achte ich auf genügend Entlastung für Gesäß und Wirbelsäule? | 391 8.4.3.3 Ein Leben ohne Physiotherapie? | 392 Literatur | 393 9 Entwicklungsneurologische und psychologische Aspekte | 395 Helmuth Peters 9.1 Entwicklung und Entwicklungsdiagnostik – Möglichkeiten und Grenzen therapeutischer Interventionen bei Kindern mit Spina bifida | 395 Literatur | 400 Antje Blume-Werry 9.2 Forschungsergebnisse zur kognitiven Entwicklung bei Kindern mit einer Spina bifida und einem Hydrocephalus | 401 9.2.1 Einleitung | 401

XXII | Inhalt

Grundlegende relevante Faktoren der kognitiven Entwicklung | 402 Einfluss des Hydrocephalus | 403 Intelligenz | 403 Intelligenzstruktur | 405 Sprachgebrauch und Sprachverständnis | 405 Aufmerksamkeit | 407 Kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit (Prozessgeschwindigkeit) | 409 9.2.4.4 Lernen und Erinnern | 409 9.2.4.5 Exekutivfunktionen | 410 9.2.4.6 Mathematische Fähigkeiten | 412 9.2.4.7 Visuell-räumliche Fähigkeiten und räumliches Denken | 413 9.2.5 Auswirkungen auf schulische Leistungen | 415 9.2.6 Stärken und Kompensationen | 416 9.2.7 Förderung | 417 Literatur | 418 9.2.2 9.2.2.1 9.2.3 9.2.4 9.2.4.1 9.2.4.2 9.2.4.3

Andreas Frenzel 9.3 Psychologische Aspekte der Langzeitbegleitung und Krisenintervention | 421 9.3.1 Einleitung | 421 9.3.2 Überlegungen zum Zeitpunkt der Diagnosestellung und zum Prozess der Krankheitsauseinandersetzung | 422 9.3.3 Neuropsychologisches Verständnis der Behinderung Spina bifida | 424 9.3.4 Die Behinderung und deren Auswirkung auf die Entwicklung des Selbstkonzepts | 427 9.3.5 Krisen und Krisenintervention | 429 9.3.6 Familiäre Lebensqualität | 432 9.3.7 Professionelle Unterstützungsansätze | 433 Literatur | 435 Sabine Streeck 9.4 Elterliche Überbehütung als Hindernis auf dem Weg in die kindliche Autonomie? | 437 9.4.1 Einleitung | 437 9.4.2 Entwicklungspsychologische Aspekte | 439 9.4.2.1 Bindungstheorie | 439 9.4.2.2 Konzept der Feinfühligkeit | 440 9.4.2.3 Intersubjektivität | 441 9.4.2.4 Schamentwicklung | 442 9.4.2.5 Besonderheiten der Situation bei Behinderung | 444 9.4.2.6 Fallbeispiel Mona | 445

Inhalt |

XXIII

9.4.3 Überbehütung und Verwöhnung | 448 9.4.3.1 Überbehütung und Verwöhnung als allgemeines Phänomen | 450 9.4.3.2 Besonderheiten bei Behinderung | 451 9.4.3.3 Fallbeispiel Kira | 452 9.4.4 Zusammenfassung und praktische Konsequenzen | 454 Literatur | 456 Christian Au 10 Sozialrechtliche Hilfen | 461 10.1 Einleitung | 461 10.2 Überblick | 461 10.3 Leistungen der Krankenversicherung | 462 10.3.1 Familienversicherung | 462 10.3.2 Krankenbehandlung | 463 10.3.3 Häusliche (Kinder-)Krankenpflege | 463 10.3.4 Haushaltshilfe bzw. Familienpflege | 464 10.4 Pflegeversicherung | 466 10.4.1 Allgemeines | 467 10.4.2 Begriff der Pflegebedürftigkeit | 467 10.4.3 Besonderheiten der Beurteilung bei Kindern | 468 10.4.4 Zuordnung zu den Pflegegraden | 468 10.4.5 Feststellung der Pflegebedürftigkeit | 469 10.4.6 Leistungen der Pflegeversicherung | 470 10.4.7 Widerspruchs- und Klageverfahren | 470 10.4.8 Bestandsschutz | 471 10.4.9 Nebeneinander von Leistungen der Pflegeversicherung und der Krankenversicherung | 471 10.4.9.1 Grundpflege/häusliche Krankenpflege | 471 10.4.9.2 Hilfsmittelversorgung | 472 10.4.10 Soziale Sicherung der Pflegepersonen | 472 10.5 Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII | 473 10.5.1 Eingliederungshilfe | 473 10.5.2 Hilfe zur Pflege | 475 10.6 Sozialpädagogische Familienhilfe (§ 31 SGB VIII) | 475 10.7 Regelungen für behinderte und von Behinderung bedrohte Menschen (SGB IX – Teil 1) | 476 10.8 Besondere Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen (SGB IX – Teil 2) | 477 11 Selbsthilfe | 479 Elisabeth Strehl 11.1 Selbsthilfe als wesentlicher Teil des Gesundheitssystems | 479 11.2 Persönliche Erfahrungen in der Selbsthilfe | 480

XXIV | Inhalt

Luise und Kirsten Althaus 11.2.1 Selbsthilfearbeit in der Regionalgruppe | 480 Maike Wolff 11.2.2 Selbsthilfearbeit regional und auf Bundesebene – persönliche Erfahrungen | 482 11.2.2.1 Organisation und Aufgaben der ASBH | 483 11.2.2.2 Mein Weg von der Regionalgruppe bis in den Bundesvorstand | 484 11.2.2.3 Warum ich mich für die Arbeit im Bundesvorstand entschieden habe | 485 11.2.2.4 Meine Arbeit im Bundesvorstand | 485 11.2.2.5 Mein Fazit | 486 Birgit Babitsch und Theodor Michael 12 Gesundheitliche Versorgung – Anforderungen und Erwartungen aus Sicht Erwachsener mit Spina bifida und an der Versorgung beteiligter Akteure | 487 12.1 Aktueller Forschungsstand | 487 12.2 Zielsetzung der Studie zur Lebens- und Versorgungssituation von Erwachsenen mit Spina bifida | 489 12.3 Methodische Vorgehensweise | 490 12.4 Ergebnisse | 490 12.4.1 Beschreibung der Befragungsteilnehmer | 491 12.4.2 Einschätzung der aktuellen gesundheitlichen Versorgung | 492 12.4.3 Beurteilung der Behandlung durch Ärzte und andere Fachberufe | 494 12.4.4 Erwartungen an eine qualitativ hochwertige Versorgung | 494 12.4.5 Einschätzung zukünftiger Versorgungsmodelle | 496 12.5 Diskussion | 496 12.6 Fazit | 499 Literatur | 499 Stichwortverzeichnis | 503

Autorenverzeichnis Kapitel 1 Kapitel 1.1 Kapitel 1.2 PD Dr. med. Arpad von Moers (Hrsg.) DRK Kliniken Berlin Westend Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Spandauer Damm 130, 14050 Berlin [email protected] Prof. Dr. med. Matthias Kieslich Universitätsklinikum Frankfurt Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin Abteilung Neuropädiatrie Theodor-Stern-Kai 7, 60590 Frankfurt [email protected] Kapitel 2 Kapitel 2.1 Dr. med. Anke Rißmann Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg Leipziger Straße 44, 39120 Magdeburg [email protected] Kapitel 2.2 Dr. med. Robert Armbrust Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Gynäkologie mit Zentrum für onkologische Chirurgie Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin [email protected] Prof. Dr. med. Wolfgang Henrich Charité – Universitätsmedizin Berlin Klinik für Geburtsmedizin Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin [email protected] Kapitel 2.3 Dr. med. Elisabeth Strehl (Hrsg.) Adresse s. Impressum [email protected]

Kapitel 2.4 PD Dr. med. Ueli Möhrlen Klinik für Kinderchirurgie Zentrum für fötale Diagnostik und Therapie Kinderspital Zürich Steinwiesstrasse 75, CH-8032 Zürich [email protected] Prof. Dr. med. Martin Meuli Klinik für Kinderchirurgie Zentrum für fötale Diagnostik und Therapie Kinderspital Zürich Steinwiesstrasse 75, CH-8032 Zürich [email protected] Kapitel 2.5 Dr. med. Robert Armbrust Adresse s. Kap. 2.2 Prof. Dr. med. Wolfgang Henrich Adresse s. Kap. 2.2 Kapitel 2.6 Dr. med. Sevgi Sarikaya-Seiwert Universitätsklinikum Bonn Neurochirurgische Klinik Sigmund-Freud-Straße 25, 53127 Bonn [email protected] Kapitel 3 Kapitel 3.1.1.1 PD Dr. med. Arpad von Moers (Hrsg.) Adresse s. Impressum [email protected] Kapitel 3.1.1.2 Prof. Dr. med. Karl-Titus Hoffmann Universitätsklinikum Leipzig Abteilung Neuroradiologie Liebigstr. 20, 04103 Leipzig [email protected] Prof. Dr. med. Franz Wolfgang Hirsch Universitätsklinikum Leipzig Liebigstraße 20, 04103 Leipzig [email protected]

XXVI | Autorenverzeichnis

Kapitel 3.1.1.3 Dhani C. Schuster Dietrich-Bonhoeffer-Klinikum Klinik für Neurochirurgie Postfach 400135, 17022 Neubrandenburg [email protected]

Kapitel 3.1.2.4 Dr. med. Christian Schropp SPZ Kinderklinik Passau Bischof-Altmann-Straße 9, 94032 Passau [email protected]

PD Dr. med. Michael J. Fritsch Dietrich-Bonhoeffer-Klinikum Klinik für Neurochirurgie Postfach 400135, 17022 Neubrandenburg [email protected]

Kapitel 3.1.2.5 Prof. Dr. med. Ulrich-Wilhelm Thomale Head of Pediatric Neurosurgery Campus Virchow Klinikum Charité Universitätsmedizin Berlin Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin [email protected]

Kapitel 3.1.1.4 Martin Kunz Dietrich-Bonhoeffer-Klinikum Klinik für Neurochirurgie Postfach 400135, 17022 Neubrandenburg [email protected]

Kapitel 3.1.3 PD Dr. med. Arpad von Moers (Hrsg.) Adresse s. Impressum [email protected]

PD Dr. med. Michael J. Fritsch Dietrich-Bonhoeffer-Klinikum Klinik für Neurochirurgie Postfach 400135, 17022 Neubrandenburg [email protected] Kapitel 3.1.2.1 PD Dr. med. Arpad von Moers (Hrsg.) Adresse s. Impressum [email protected] Kapitel 3.1.2.2 Prof. Dr. med. Karl-Titus Hoffmann Universitätsklinikum Leipzig Abteilung Neuroradiologie Liebigstraße 20, 04103 Leipzig [email protected] Kapitel 3.1.2.3 Dr. med. Ulrich Seidel Charité – Universitätsmedizin Berlin Campus Virchow-Klinikum Sozialpädiatrisches Zentrum Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin [email protected]

Kapitel 3.1.4 Dr. med. Wolfgang Voss Sudetenstraße 22, 30559 Hannover [email protected] Kapitel 3.2.1.1 Kapitel 3.2.1.2 Dr. med. Theodor Michael (Hrsg.) Adresse s. Impressum [email protected] Kapitel 3.2.2 Dr. med. Ulrich Seidel Adresse s. Kap. 3.1.2.3 [email protected] Kapitel 3.2.3 Dr. med. Birgit Spors Charité – Universitätsmedizin Berlin Campus Virchow-Klinikum Kinderradiologie Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin [email protected] Kapitel 3.2.4.1 Dr. med. Sevgi Sarikaya-Seiwert Adresse s. Kap. 2.6

Autorenverzeichnis

Kapitel 3.2.4.2 Prof. Dr. med. Hannes Haberl (Hrsg.) Universitätsklinikum Bonn Neurochirurgische Klinik Sigmund-Freud-Straße 25, 53127 Bonn [email protected] Kapitel 3.2.4.3 Prof. Dr. med. Hannes Haberl (Hrsg.) Adresse s. Impressum [email protected] Kapitel 4 Prof. Dr. med. Regina Trollmann Universitätsklinik für Kinder und Jugendliche Loschgestraße 15, 91054 Erlangen [email protected] Prof. Dr. med. Helmuth G. Dörr Universitätsklinik für Kinder und Jugendliche Loschgestraße 15, 91054 Erlangen [email protected] Kapitel 5 Kapitel 5.1 Dr. med. Maria Bürst MVZ Klinikum Deggendorf Perlasberger Straße 41, 94469 Deggendorf [email protected] Kapitel 5.2 Dr. med. Jörg Jüngert Universitätsklinik für Kinder und Jugendliche Loschgestraße 15, 91054 Erlangen [email protected] Kapitel 5.3 Dr. med. Johannes Urban Josefinum Kinderklinik Kapellenstraße 30, 86154 Augsburg urban.johannes@josefinum.de Kapitel 5.4 Prof. Dr. med. Günter Schott Giesbethweg 27 B, 91056 Erlangen [email protected]

|

Dr. med. Elisabeth Strehl (Hrsg.) Adresse s. Impressum [email protected] Kapitel 5.5 Dr. med. Johannes Urban Adresse s. Kap. 5.3 E-Mail: urban.johannes@josefinum.de Kapitel 5.6 Dr. med. Elisabeth Strehl (Hrsg.) Adresse s. Impressum [email protected] Kapitel 5.7 Sabine Kühl Charité – Universitätsmedizin Berlin Campus Virchow-Klinikum Sozialpädiatrisches Zentrum Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin [email protected] Kapitel 6 Kapitel 6.1 Dr. med. Susanne Reichert Uroviva – Spezialklinik für Urologie Zürichstrasse 5, CH-8180 Bülach [email protected] Kapitel 6.2 Prof. Dr. med. Friedrich Wolff Krankenhaus Holweide Frauenklinik und Perinatalzentrum Neufelder Straße 32, 51067 Köln [email protected] PD Dr. med. Reinhold Cremer Kinderkrankenhaus Amsterdamer Straße 59, 50735 Köln [email protected] Kapitel 6.3 Beate Martin pro familia Münster Berliner Platz 24–28, 48143 Münster [email protected]

XXVII

XXVIII | Autorenverzeichnis

Kapitel 6.4 Sabine Ruschpler BG Unfallkrankenhaus Hamburg Bergedorfer Straße 10, 21033 Hamburg [email protected] Kapitel 7 Dr. med. Paula Lapilover Altonaer Kinderkrankenhaus Bleickenallee 38, 22763 Hamburg [email protected] PD Dr. med. Katharina Blümchen Universitätsklinikum Frankfurt Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin Schwerpunkt Allergologie Pneumologie Theodor-Stern-Kai 7, 60590 Frankfurt [email protected] PD Dr. med. Reinhold Cremer Adresse s. Kap. 6.2 [email protected] Kapitel 8 Kapitel 8.1 Dr. med. Theodor Michael (Hrsg.) Adresse s. Impressum [email protected]

Kapitel 8.2.3 PD Dr. med. Julia Funk Charité – Universitätsmedizin Berlin Centrum für Muskuloskeletale Chirurgie Sektion Kinder- und Neuroorthopädie Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin [email protected] Kapitel 8.2.4 Dr. med. Susanne Lebek (Hrsg.) Adresse s. Impressum [email protected] PD Dr. med. Julia Funk Adresse s. Kap. 8.2.3 [email protected] Kapitel 8.2.5 PD Dr. med. Matthias Pumberger Charité – Universitätsmedizin Berlin Centrum für Muskuloskeletale Chirurgie Sektion Wirbelsäulenchirurgie Charitéplatz 1, 10117 Berlin [email protected] Dr. med. Susanne Lebek (Hrsg.) Adresse s. Impressum [email protected]

Kapitel 8.2.1 Dr. med. Bernd Doll Kinderorthopädie Eichkamp 148, 14055 Berlin [email protected]

Kapitel 8.3.1 Udo Herde Orthopädie-Forum Essenbacher Straße 23, 91054 Erlangen [email protected]

Dr. med. Susanne Lebek (Hrsg.) Adresse s. Impressum [email protected]

Kapitel 8.3.2 Claudia Kitzeder Firma F. Gottinger Orthopädietechnik Ilchinger Weg 1, 85604 Zorneding [email protected]

Kapitel 8.2.2 Dr. med. Susanne Lebek (Hrsg.) Adresse s. Impressum [email protected] Dr. med. Bernd Doll Adresse s. Kap. 8.2.1 [email protected]

Kapitel 8.3.3 Claudia Kitzeder Adresse s. Kap. 8.3.2 [email protected]

Autorenverzeichnis

Kapitel 8.3.4 Udo Herde Adresse s. Kap. 8.3.1 [email protected] Kapitel 8.3.5 Pasquale Incoronato Charité – Universitätsmedizin Berlin Campus Virchow-Klinikum Sozialpädiatrisches Zentrum Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin [email protected] Kapitel 8.4.1 Elrike Singendonk Charité – Universitätsmedizin Berlin Campus Virchow-Klinikum Sozialpädiatrisches Zentrum Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin [email protected] Kapitel 8.4.2 Antje Niemeyer Charité – Universitätsmedizin Berlin Campus Virchow-Klinikum Sozialpädiatrisches Zentrum Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin [email protected] Kapitel 8.4.3 Claudia Langer Charité – Universitätsmedizin Berlin Campus Virchow-Klinikum Sozialpädiatrisches Zentrum Augustenburger Platz 1, 13353 Berlin [email protected] Kapitel 9 Kapitel 9.1 Dr. med. Helmut Peters Schulstr. 45, 55124 Mainz [email protected] Kapitel 9.2 Dr. phil. Antje Blume-Werry ASBH Hamburg e. V., 22309 Hamburg [email protected]

| XXIX

Kapitel 9.3 Andreas Frenzel Universitätsklinik für Kinder und Jugendliche Loschgestraße 15, 91054 Erlangen [email protected] Kapitel 9.4 Dr. phil. Sabine Streeck Weimarer Straße 36, 10625 Berlin [email protected] Kapitel 10 Christian Au, LL.M. Bahnhofstraße 28, 21614 Buxtehude [email protected] Kapitel 11 Kapitel 11.1 Dr. med. Elisabeth Strehl (Hrsg.) Adresse s. Impressum [email protected] Kapitel 11.2.1 Luise und Kirsten Althaus Georgstr. 12, 93138 Lappersdorf [email protected] Kapitel 11.2.2 Maike Wolff Gutenbergstr. 114, 50823 Köln [email protected] Kapitel 12 Prof. Dr. med. Birgit Babitsch Universität Osnabrück Fachbereich Humanwissenschaften/ Gesundheitswissenschaften Fachgebiet New Public Health Albrechtstraße 28, 49069 Osnabrück [email protected] Dr. med. Theodor Michael (Hrsg.) Adresse s. Impressum [email protected]

Abkürzungen 5-MTHF AABR AASM AEHP AFO AFP AGG ASBH AUR BA BAG BBF BfR BGG BMI BR BTX CA CIC CIMT CM I CM II CPAM CPAP DEGUM DHEAS DREZ DSD ED EOG EPUAP ETV EVD FAEP GCS GdB GFR GHD GV HGH HIT HWI ICCS ICS ICSI IGF1

5-Methyltetrahydrofolat Automated Auditory Brainstem Response (Neugeborenen-Hörscreening mit Hirnstammaudiometrie) American Academy of Sleep Medicine Akustisch evozierte Hirnstammpotentiale Ankle Foot Orthosis (Unterschenkelorthese) Alpha-Fetoprotein Allgemeines Gleichstellungsgesetz Arbeitsgemeinschaft Spina Bifida und Hydrocephalus e. V. Ausscheidungsurogramm Bone Age (Knochenalter) Bundesarbeitsgemeinschaft Becken-Bein-Fuß Bundesinstitut für Risikobewertung Behindertengleichstellungsgesetz Body-Mass-Index Blinkreflex Botulinumtoxin Chronologisches Alter Clean Intermittent Catheterisation Constraint Induced Movement Therapy Chiari-I-Malformation Chiari-II-Malformation Congenital Pulmonary Airway Malformation Continuous Positive Airway Pressure Deutsche Gesellschaft für Ultraschall in der Medizin Dehydro-epiandrosteron-Sulfat Dorsal-Root-Entry-Zone Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie Einzeldosis Elektrookulogramm European Pressure Ulcus Advisory Panel Endoscopic Third Ventriculostomy (endoskopische Drittventrikulostomie) Externe Ventrikeldrainage Frühe akustisch evozierte Potentiale Glycin Cleavage System Grad der Behinderung Glomeruläre Filtrationsrate Growth Hormon Deficiency (Wachstumshormonmangel) Growth Velocity (Wachstumsgeschwindigkeit) Human Growth Hormon (Humanes Wachstumshormon) Hydrodistension-Implantationstechnik Harnwegsinfekt International Children’s Continence Society International Continence Society Intrazytoplasmatische Spermieninjektion Insulin-like growth factor 1

https://doi.org/10.1515/9783110228748-003

XXXII | Abkürzungen

IGFBP-3 IIHS IK IONM ISCD ISK IVF KAFO KL LLP MDRD MEP MESA MMC MOMS MTHFR MZEB NBSD NIPT NO NRD NTD NVS OSAS OSG PAH PCP PE PG PPV PSG RGO SB SBAS SchKG SDS SEP SGB SH SPZ SSW STING SW TC TCS TESE TVT VPS ZML ZSAS

IGF-Bindungsprotein 3 International Infant Hydrocephalus Study Intermittierendes Katheterisieren Intraoperatives Neuromonitoring International Society for Clinical Densitometry Selbst-Katheterismus In-vitro-Fertilisation Knee Ankle Foot Orthosis (Knie-Knöchel-Fußorthese) Körperlänge Leak-point pressure Modification of Diet in Renal Disease (Formel zur Bestimmung der GFR) Motorisch evozierte Potentiale Mikrochirurgische epididymale Spermienaspiration Meningomyelozele Management of Myelomeningocele Study Methylen-Tetrahydrofolat-Reduktase Behandlungszentren für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen Neurogene Blasen-Sphinkter-Dysfunktion Nichtinvasive pränatale Testung Stickoxid Neuralrohrdefekt Neural tube defect Nationale Verzehrstudie Obstruktives Schlaf-Apnoe-Syndrom Oberes Sprunggelenk Prospective Adult Height (prospektive Endgröße) Planar Cell Polarity Polyethylen Pflegegrad Pubertas praecox vera Polysomnografie Reciprocal Gait Orthosis (reziproke Orthese) Spina bifida Schlafbezogene Atemstörungen Schwangerschaftskonfliktgesetz Standard deviation score Sensorisch evozierte Potentiale Sozialgesetzbuch Selbsthilfe Sozialpädiatrisches Zentrum Schwangerschaftswoche Subureterale transurethrale Injektion Armspannweite Tethered cord Tethered-cord-Syndrom Testikuläre Spermienextraktion Tiefe Beinvenenthrombose Ventrikulo-peritonealer Shunt Zentrale motorische Leitungszeit Zentrales Schlaf-Apnoe-Syndrom

1 Einleitung Arpad von Moers

1.1 Epidemiologie und Ätiologie 1.1.1 Epidemiologie Die Spina bifida gehört zur Gruppe der Neuralrohrdefekte (neural tube defect – NTD). Dabei handelt es sich um Verschlussstörungen des Neuralrohrs und der anhängenden mesodermalen und ektodermalen Strukturen. In epidemiologischen Studien werden häufig verschiedene Arten von NTD zusammengefasst, sodass die Angaben zur Häufigkeit nicht sehr genau sind. Die Ermittlung der Prävalenz von NTD ist zudem durch das Auftreten von Spontanaborten und die Zunahme von elektiven Aborten aufgrund der Pränataldiagnostik erschwert [1]. Bezugsgröße ist daher in der Regel die Anzahl der Lebendgeborenen. Es bestehen erhebliche regionale und ethnische Unterschiede und eine Änderung der Häufigkeit im zeitlichen Verlauf. Die häufigste Form der dorsalen Spaltbildungen in Mitteleuropa und den USA ist die Spina bifida in ihren unterschiedlichen Ausprägungsformen (s. Kap. 1.2) [2, 3]. Die Prävalenz liegt bei 0,3–0,8/1.000 Geburten, wobei auch der ethnische Hintergrund von Bedeutung ist; so besteht in den USA das höchste Risiko bei hispanischer Abstammung, das geringste Risiko bei asiatischer Abstammung oder Afroamerikanern [4, 5]. Die höchste Prävalenz in Westeuropa liegt mit 2,4–3,8/1.000 auf den Britischen Inseln vor (Irland bis 5/1.000). Die Größenordnung dieser Häufigkeiten wurden in der EUROCAT-Studie, die die Jahre 2003 bis 2007 erfasst, bestätigt [6]. In einigen Provinzen Chinas ist die Prävalenz von NTD um ein Vielfaches höher, dabei treten Anenzephalie/Enzephalozele häufiger als Spina bifida auf [7, 8]. Neben den regionalen Unterschieden weist die Häufigkeit von NTD eine abnehmende Tendenz auf, dies betrifft vor allem die Länder, in denen eine Folsäureprophylaxe stattfindet und eine systematische Pränataldiagnostik etabliert ist [6, 9, 10].

1.1.2 Ätiologie Für das Auftreten von NTD sind genetische und nichtgenetische Faktoren bedeutsam. Bei weniger als 10 % der Patienten liegt ein Syndrom wie Trisomie 13 oder 18, ein Meckel-Gruber-Syndrom oder ein Jarcho-Levin-Syndrom vor [2, 11]. Bei Mäusen wurden über 200 Gene identifiziert, die an der Regulation des Neuralrohrverschlusses beteiligt sind [12]. Es ist daher davon auszugehen, dass eine Vielzahl von genetischen Veränderungen beim Menschen identifiziert werden wird, die im Zusammenhang mit dorsalen Spaltbildungen stehen. Bei der Analyse einiger entsprechender humaner Gene wurden bei einem kleinen Teil der jeweils untersuchten https://doi.org/10.1515/9783110228748-004

2 | 1 Einleitung

Patienten Mutationen gefunden. Dies betraf Gene der PCP(planar cell polarity)Signalkaskade (bei Spina bifida CELSR1, FUZ, FZD6, PRICKLE1, NANGL1, VANGL2; bei Craniorachischisis CELSR1, VANGL2, SCRIB, DACT1) [13], ein Gen, das bei der Regulation der Zilienfunktion eine Rolle spielt (DNAAF1) [14] und Gene des Glycinstoffwechsels (glycin cleavage system – GCS), die am Folatstoffwechsel beteiligt sind (GLDC, AMT) [15]. Mutationen in den entsprechenden Mausgenen haben ebenfalls zu NTD geführt [15], sodass davon ausgegangen werden kann, dass die Mutationen relevant sind. Varianten im Gen für die Methylen-Tetrahydrofolat-Reduktase (MTHFR) konnten als Risikofaktor für das Auftreten eines NTD identifiziert werden, in der Knockout-Maus traten allerdings keine NTD auf [16, 17]. Lemay et al. [18] konnten mittels Gesamt-Genom-Sequenzierung bei 25 von 43 sporadischen Fällen mit einer Myelomeningozele 42 De-novo-Mutationen nachweisen. Sechs Mutationen waren Loss-of-function-Mutationen, zweimal war das SHROOM3-Gen betroffen, dem eine wichtige Rolle in der Embryonalentwicklung bei dem Verschluss des Neuralrohrs zukommt. Weitere Aspekte weisen auf die Bedeutung genetischer Faktoren hin: das Wiederholungsrisiko ist bei Geschwistern auf 2–5 % (20- bis 50-fach) erhöht, auch Verwandte 2. und 3. Grades haben noch ein erhöhtes Risiko. Die Häufigkeit von NTD in bestimmten ethnischen Gruppen bleibt auch nach dem Umzug in eine Region mit einer unterschiedlichen Prävalenz unverändert [19]. Bei gleichgeschlechtlichen Zwillingen ist die Konkordanz von NTD höher als bei Zwillingen unterschiedlichen Geschlechts [2]. Zahlreiche nichtgenetische Faktoren haben einen Einfluss auf das Auftreten von dorsalen Spaltbildungen [2, 20–22] (Tab. 1.1). Der Ernährungs- und Gesundheitsstatus der Mutter ist hierbei von besonderer Bedeutung. Im Vordergrund steht dabei die Folsäure (s. Kap. 2.1) [23–25]. Zunehmende Aufmerksamkeit kommt auch dem Übergewicht und dem metabolischen Syndrom zu. Für eine Vielzahl von Umweltfaktoren wurde ein Zusammenhang mit dem Auftreten von NTD berichtet (Tab. 1.1). Als Schädigungsmechanismen spielen sowohl toxische als auch epigenetische Faktoren eine Tab. 1.1: Risikofaktoren für das Auftreten von Neuralrohrdefekten (nach [2]). Mütterliche Ernährung

Andere mütterliche Faktoren

Umweltfaktoren

– Alkohol – Koffein – Geringe Aufnahme von Folat, Methionin, Zink – Niedrige Serumspiegel von Cholin, Vitamin B12 , Vitamin C – Schlechte Nahrungsqualität – Glykämische Stoffwechsellage

– Rauchen – Hyperthermie – niedriger sozio-ökonomischer Status – Infektionen – vorbestehender Diabetes mellitus – Adipositas – psychosozialer Stress – Valproinsäure

– Luftverschmutzung – Desinfektionsmittel im Trinkwasser – organische Lösungsmittel – Pestizide – aromatische Kohlenwasserstoffe – Nitrate

Literatur

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Rolle wie Veränderungen der Methylierung oder die metabolische Veränderung der Interaktion von Genen [2, 26, 27]. Für das Ausmaß der Funktionsstörung bei der offenen Spina bifida spielt neben der Lokalisation der Spaltbildung die sekundäre intrauterine Schädigung des neuronalen Gewebes eine entscheidende Rolle. Die verlängerte Exposition mit Amnionflüssigkeit hat eine toxische Wirkung, und es kommt im Verlauf der Schwangerschaft und unter der Geburt zu einer zusätzlichen mechanischen Schädigung [28–30] (s. Kap. 2.4). In der Summe handelt es sich um eine polygene Erkrankung, deren Manifestation durch exogene Faktoren mitbestimmt wird.

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Arpad von Moers, Matthias Kieslich

1.2 Klassifikation dorsaler Spaltbildungen Unter dem Begriff Neuralrohrdefekte werden folgende Fehlbildungen zusammengefasst: inkompletter Bogenschluss, geschlossene Spina bifida, Meningozele, Myelomeningo-/Meningozele, Enzephalozele, Anenzephalie und Craniorachischisis (Abb. 1.1).

1.2 Klassifikation dorsaler Spaltbildungen | 5

Craniorachischisis

Spina bifida occulta

Anencephalie

Geschlossene spinale Dysraphie

Encephalocele

Meningocele

Iniencephalie*

Myelomeningocele

Abb. 1.1: Schematische Darstellung der verschiedenen Neuralrohrdefekte nach [1]; autorisiert von Nature Publishing Group. *Defekt des occipitalen Schädels und der Wirbelsäule mit extremer Retroflexion des Kopfes.

Die Anenzephalie und die Craniorachischisis sind nicht mit dem Leben vereinbar. Die wesentlichen Phasen der Bildung des Neuralrohrs sind die Gastrulation (2.–3. Schwangerschaftswoche [SSW]), die primäre Neurulation (3–4 SSW) und die sekundäre Neurulation (5–6) [2, 3]. Während der Gastrulation wird das Mesoderm als dritte embryogene Lamina angelegt, aus dem die Chorda dorsalis (Notochord) gebildet wird. Störungen in dieser Entwicklungsphase führen zum kaudalen Regressionssyndrom, zur Diastematomyelie oder zu einem Dermalsinus. In der Phase der primären Neurulation erfolgt der Verschluss des Neuralrohrs. Dies geschieht nicht nach dem Prinzip eines Reißverschlusses, sondern diskontinuierlich zu unterschiedlichen Zeitpunkten. Dabei sind verschiedene regulatorische Gene involviert [4]. Störungen dieses Entwicklungsschrittes führen zur Myelomeningozele, Myelozele, Lipomyelomeningozele oder zu intraduralen Lipomen. Während der sekundären Neurulation bildet sich zunächst eine undifferenzierte kaudale Zellmasse, die durch den Prozess der retrogressiven Differenzierung zum Verschluss des kaudalen Neuralrohrs und zur Bildung des Filum terminale führt. Bei der retrogressiven Differenzierung handelt es sich um einen komplexen Prozess aus Apoptose, Regression, Degeneration und Differenzierung mit intermittierender Bildung eines terminalen Ventrikels. Wird dieser Entwicklungsschritt gehemmt, können eine Fixierung mit/ohne Lipom des Filum terminale, ein persistierender terminaler Ventrikel oder eine persistierende terminale Myelozystozele daraus resultieren [2, 3]. Die Verschlussstörungen treten in > 50 % lumbosakral auf, am zweithäufigsten ist die sakrokokzygeale Region mit 34 % betroffen, in 10 % ist der zervikale Spinalkanal

6 | 1 Einleitung

und in 3 % der thorakale Spinalkanal betroffen [4]. Das Verhältnis von offenen zu geschlossenen Dysraphien entspricht 1 : 2 [5, 6]. Welche Art der Fehlbildung entsteht hängt also vom Zeitpunkt der Schädigung durch exogene Einflüsse ab oder davon, welches regulatorische Gen involviert ist (s. Kap. 1.1). Die Klassifikation kann nach embryologischen Gesichtspunkten oder nach klinisch/radiologischen Kriterien erfolgen [6, 7]. Tab. 1.2: Klassifikation der spinalen Dysraphien nach [6]. Offene spinale Dysraphie (35 %) – Myelomeningozele (> 95 %) – Myelozele – Hemimyelomeningozele/Hemimyelozele Geschlossene spinale Dysraphie (65 %) Mit subkutaner Masse Lumbosakral – – – – –

Lipom mit Duradefekt Lipomyelomeningozele Lipomyeloschisis Terminale Myelozystozele Meningozele Zervikal

– Zervikale Myelozystozele – Zervikale Myelomeningozele – Meningozele Ohne subkutane Masse Einfache Dysraphie – – – – – –

Posteriore Spina bifida Intradurale und intramedulläre Lipome Lipom des Filum terminale Fixiertes Filum terminale Abnorm verlängertes Myelon Persistierender terminaler Ventrikel Komplexe Dysraphie

– – – – – –

Dorsale enterische Fistel Neuroenterische Fistel Split-cord-Malformationen (Diastematomyelie/Diplomyelie) Dermalsinus Kaudales Regressionssyndrom Segmentale spinale Dysgenesie

Literatur

| 7

Im klinischen Alltag hat sich die Klassifikation durchgesetzt, die sich aus dem klinischen Erscheinungsbild und den radiologischen Befunden ableitet (Tab. 1.2). Dabei werden die offene und die geschlossene Dysraphies unterschieden mit jeweils unterschiedlichen morphologischen Kriterien. Die Craniorachischisis und die Anenzephalie sind unter den Formen der offenen Dysraphie nicht aufgeführt, weil sie nicht mit dem Leben vereinbar sind. Bei den geschlossenen Formen ist die isolierte Bogenschlussstörung nicht berücksichtigt, die ein radiologischer Zufallsbefund ist und nicht zu klinischen Symptomen führt.

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2 Schwangerschaft und Geburt Anke Rißmann

2.1 Perikonzeptionelle Folsäure zur Prävention von Neuralrohrdefekten 2.1.1 Was sind Folate und was ist Folsäure? Wenn die Begriffe Folat und Folsäure oftmals synonym verwendet werden, ist das nicht korrekt. Folate gehören zu den wasserlöslichen Vitaminen der B-Gruppe (Vitamin B9 ). Der Name Folat leitet sich von dem lat. „folium“ (das Blatt) ab, weil das Vitamin zuerst im grünen Blattgemüse nachgewiesen wurde. Die einzelnen Verbindungen unterscheiden sich durch die Anzahl der an sie gebundenen Glutamatmoleküle, natürlich vorkommende Mono- und Polyglutamate, sie werden auch als Nahrungsfolat zusammengefasst und kommen überwiegend in pflanzlichen (Spinat, Salat, Spargel, Weizenkleie, Hefe) aber auch in tierischen Lebensmitteln (Geflügel- und Rinderleber) vor [1]. Im Intermediärstoffwechsel sind verschiedene Folatderivate an Prozessen der Zellteilung und Zellneubildung beteiligt. Sie stellen die C-Bausteine für den korrekten Aufbau der DNA zur Verfügung. Im Aminosäurestoffwechsel ist Folat ebenfalls am Umbau des Homocysteins in Methionin beteiligt. Diese Aminosäure kann sonst im Körper nicht verstoffwechselt werden. Ein erhöhter Homocysteinspiegel ist als Risikofaktor für thromboembolische Veränderungen und entsprechende Komplikationen in der Schwangerschaft, wie Präeklamsie, bekannt [2]. In klinischen Studien wurde eine negative Korrelation zwischen Folataufnahme und Serumspiegel sowie der Homocysteinkonzentration im Serum nachgewiesen [3]. In einer Metaanalyse von 2010 konnte aber ein protektiver Effekt gegenüber kardiovaskulären Ereignissen nicht nachgewiesen werden [4]. Folsäure ist die synthetische Form des Vitamins und im Vergleich zu den natürlich vorkommenden Folatverbindungen deutlich stabiler gegenüber Hitze- und Lichteinwirkung. Folsäure wird in Supplementen und angereicherten Nahrungsmitteln verwendet, sie ist geschmacklos und auf nüchternen Magen zu nahezu 100 % bioverfügbar. Der wichtigste Metabolit ist das 5-Methyltetrahydrofolat (5-MTHF); es ist die Hauptwirkform und überwiegende Transport- und Speicherform im Blut [5]. Die begrenzte Kapazität des Leberenzyms Dihydrofolatreduktase, das den Umbau katalysiert, hat zur Folge, dass auch ein geringer Anteil unmetabolisierter Folsäure in der peripheren Zirkulation von Menschen mit regelmäßigem Konsum von > 200 µg Folsäure nachweisbar ist. Bisher konnten Studien keine negativen gesundheitlichen Folgen dieser freien Folsäure aufzeigen (keine Koenzymfunktion im humanen Stoffwechsel) [6–8].

https://doi.org/10.1515/9783110228748-005

10 | 2 Schwangerschaft und Geburt

2.1.2 Warum Prophylaxe von Neuralrohrdefekten mit Folsäure? Die Spina bifida ist der häufigste Phänotyp eines Neuralrohrdefekts (NRD). Bereits 1991 und 1992 haben zwei große prospektive randomisierte, kontrollierte Interventionsstudien demonstriert, dass die Folsäuresupplementierung (360–800 µg) das Auftreten und Wiederauftreten (4 mg) von Neuralrohrdefekten signifikant senken kann [9, 10]. In diesen beiden Studien wurde die tägliche Folsäuresupplementierung allein oder in Kombination mit anderen Mikronährstoffen und Vitaminen mindestens 4 Wochen vor der Konzeption begonnen und über das 1. Trimester der Schwangerschaft fortgeführt. Diese Ergebnisse konnten später in einer großangelegten prospektiven Studie unter amerikanischer Regie im Vergleich zwischen Nord- und Südchina ebenfalls bestätigt werden. Es wurde eine Risikoreduktion für das Auftreten von NRD nach Supplementierung von 400 µg Folsäure pro Tag abhängig von der zuvor bestandenen Häufigkeit (im nördlichen China deutlich häufiger als im südlichen) zwischen 40 % und 85 % festgestellt [11]. Auch wenn bei der multifaktoriellen Genese der Neuralrohrdefekte nicht alle Fälle durch eine zusätzliche Folsäurezufuhr zu verhindern sind, zeigt doch die internationale Datenlage, dass 50 % bis zu 70 % der Neuralrohrdefekte bei adäquatem Folatstatus zum Zeitpunkt der Konzeption zu vermeiden wären (folatsensible NRD) [12–14]. In einer Metaanalyse (Cochrane Database) haben De-Regil et al. 2015 die veröffentlichten Studien zur Frage der präventiven Wirkung einer perikonzeptionellen Folsäuresupplementierung analysiert. Im Fokus stand die Folsäuresupplementierung vor der Konzeption bis zur 12. Woche der Schwangerschaft. Es wurden fünf Studien mit 7.391 Frauen (davon 2.033 in Anamnese Schwangerschaft betroffen von NRD, 5.358 ohne anamnestischen Hinweis auf NRD) eingeschlossen. Die Ergebnisse zeigen einen nachweislich protektiven Effekt (Relatives Risiko [RR] 0,31, 95 %Konfidenzintervall 0,17–0,58). Das entspricht einer Verminderung des Risikos für einen NRD um 69 % in der Gruppe mit täglicher Folsäuresupplementierung (allein oder in Kombination mit anderen Vitaminen oder Mineralstoffen) gegenüber der Placebo-Gruppe oder dem Vitamin- und Mineralstoffpräparat ohne Folsäure. Dabei wurden in den betrachteten Studien Dosen zwischen 360 µg/Tag bis 4.000 µg/Tag verabreicht [15]. Eine intermittierende, wöchentliche Einnahme von Eisen und Folsäuresupplementen in entsprechend hoher Dosis wird in Ländern propagiert, in denen mehr als 20 % der Frauen im gebärfähigen Alter von Anämien betroffen sind [16]. Seit einigen Jahren wird alternativ zu folsäurehaltigen Präparaten die Verwendung von Supplementen mit 5-Methyltetrahydrofolat (5-MTHF) propagiert, weil es die Hauptwirk- und Transportform ist. Die Rationale dafür ist, dass so die nach Aufnahme von Folsäure sonst notwendige Umwandlung in die Wirkform umgangen werden kann. Das ist besonders für Frauen mit MTHFR-Gen-Polymorphismus, der mit einer verringerten Umbaukapazität der aufgenommenen Folsäure einhergeht, von Bedeutung

2.1 Perikonzeptionelle Folsäure zur Prävention von Neuralrohrdefekten | 11

[17]. Verschiedene Studien konnten zeigen, dass Präparate mit 5-MTHF mindestens genauso gut den Folatstatus der Frauen verbessert wie Folsäure [5, 18, 19]. In der vorliegenden Cochrane-Metaanalyse konnte kein negativer Effekt der Folsäureprophylaxe für das Ungeborene oder die Mutter festgestellt werden. Für den in einigen Studien nachgewiesenen präventiven Effekt gegenüber anderen angeborenen Fehlbildungen wie konotrunkalen Herzfehlern und Lippen-KieferGaumen-Spalte reichte die Datenlage nicht aus [20–23]. Dabei ist die exakte Rolle der Folate in der Vorbeugung der Neuralrohrverschlussstörungen weiterhin nicht klar. Neben der großen Bedeutung in der DNA-Synthese und im Neurotransmitterstoffwechsel sind Folate umfangreich in Proteinsynthese und Metabolismus involviert. Das ist besonders bedeutend für Gewebe mit schnellem Wachstum [24, 25]. In Studien wurden ein Polymorphismus in Folatzyklusgenen, Folatrezeptorantikörpern und epigenetischen Vorgängen, die zu einer reduzierten DNA-Methylierung führen, als mögliche Pathomechanismen identifiziert [26–28].

2.1.3 Aktuelle Empfehlungen zur perikonzeptionellen Folsäureprophylaxe Die Schwangerschaft ist eine besonders kritische Phase der Folatversorgung. Während von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung für Jugendliche und Erwachsene seit 2013 eine tägliche Zufuhr von 300 µg Nahrungsfolat empfohlen wird, liegt der Bedarf bei Schwangeren deutlich höher. Schwangeren wird empfohlen, 550 µg/Tag Folatäquivalent aufzunehmen (Tab. 2.1) [29]. Obwohl viele Lebensmittel Folat enthalten, lässt sich eine ausreichende Versorgung allein über die Ernährung in der Praxis kaum realisieren (Tab. 2.2), insbesondere, weil die Bioverfügbarkeit der Folate aus gemischter Kost nur bei maximal 50 % anzusetzen ist [30–32]. Tab. 2.1: Empfehlungen für die Folsäurezufuhr (zusätzlich zu folatreicher Ernährung). mindestens 1 Monat vor bis 3 Monate nach Konzeption alle Frauen, die schwanger werden wollen oder könnten: 0,4 mg Folsäure/Tag Frauen mit erhöhtem Risiko (vorausgegangene Schwangerschaft mit NRD, antiepileptische Medikation, chronisch entzündliche Darmerkrankung): 4 mg Folsäure/Tag

Nach Empfehlung zahlreicher medizinischer Fachgesellschaften und vom Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) sollen Frauen, die schwanger werden wollen oder könnten, zusätzlich zu einer folatreichen Ernährung 400 μg Folsäure pro Tag in Form eines Supplements einnehmen, um Neuralrohrdefekten vorzubeugen. Diese zusätzliche Einnahme eines Folsäuresupplements sollte spätestens 4 Wochen vor Beginn der Schwangerschaft anfangen und während des ersten Drittels der Schwangerschaft beibehalten werden.

12 | 2 Schwangerschaft und Geburt

Tab. 2.2: Folatgehalt ausgesuchter Lebensmittel (modifiziert nach [39]). Tagesdosis von 400 µg Folatäquivalent* ist enthalten in Weizenkeimen Spinat (im gekochten Zustand) Vollkornbrot Äpfeln

114 g 417 g 889 g 3.077 g

* Aufgrund der Unterschiede in der Resorption zwischen natürlich vorkommenden Folaten und der synthetischen Form Folsäure wurde der Begriff Folsäureäquivalent oder synonym Folatäquivalent eingeführt, um verlässliche Berechnungen zu erhalten. 1 µg Folatäquivalent = 1 µg Nahrungsfolat = 0,5 µg synthetische Folsäure.

Bei Frauen mit erhöhtem Risiko (vorausgegangene Schwangerschaft mit NRD, antiepileptische Medikation [z. B. Valproat], gastrointestinale Erkrankungen, die mit einer gestörten Vitaminresorption einhergehen [z. B. chronisch entzündliche Darmerkrankung]), sollte über den gleichen Zeitraum eine Supplementierung mit 4 mg Folsäure empfohlen werden [16, 33–35]. Welche weiteren Risikofaktoren gibt es? Methylentetrahydrofolatreduktase, ist ein Schlüsselenzym für den Umbau der Folsäure im menschlichen Organismus in die Hauptwirkform 5-Methyltetrahydrofolat (5-MTHF). Ein in der Bevölkerung weit verbreiteter MTHFR-Polymorphismus (unterschiedliche Variation des für dieses Enzym verschlüsselnden Genabschnitts) resultiert in einer thermolabilen Variante des Enzyms mit reduzierter Enzymaktivität (Umbaukapazität Folsäure in 5-MTHF reduziert) und in erhöhten Homocysteinspiegeln [36]. Eine Metaanalyse von Yadav et al. 2015 und weitere Studien zeigten, dass der Polymorphismus im Folsäurestoffwechsel ebenfalls als Risikofaktor zu werten ist [27, 37, 38]. Natürliche Grenzen der Empfehlungen zur perikonzeptionellen Folsäureprophylaxe sind ungeplante Schwangerschaften und das sehr enge Zeitfenster bis zum 28. Tag post conceptionem, in denen sich ein Defekt entwickeln kann [40, 41]. Es stellt sich daher die Frage, wie man möglichst viele Frauen erreichen kann. Eine gesetzliche Verordnung zur Folsäureanreicherung eines Grundnahrungsmittels (wie es zurzeit in 70 Ländern der Welt einschließlich Süd-, Mittel- und Nordamerika üblich ist) erfolgt in Deutschland und Europa nicht [42–44]. Aber auch dort wird eine zusätzliche Folsäuresupplementierung für Frauen im gebärfähigen Alter empfohlen, um ausreichende Folatspiegel zu erreichen [45, 46]. Für die initial im Zusammenhang mit der Folsäureanreicherung im Mehl in den USA vermutete erhöhte Rate von Darmkrebs gibt es in den weiteren Studien keinen Anhalt [47, 48]. Die zahlreichen europäischen Präventionskampagnen zur Propagierung der perikonzeptionellen Folsäuresupplementierung mit gezielter Information der Ärzteschaft, Apotheker und der Öffentlichkeit erreichte auch über 20 Jahre nach Einführung nur einen viel zu geringen Teil der Frauen im gebärfähigen Alter. Der erwartete

2.1 Perikonzeptionelle Folsäure zur Prävention von Neuralrohrdefekten | 13

Rückgang der Häufigkeit der NRD ist in Deutschland und Europa bisher ausgeblieben [43, 49–51]. Die tatsächliche Folataufnahme bleibt in Deutschland deutlich hinter den Empfehlungen der Fachgesellschaften zurück. Auf Grundlage der Nationalen Verzehrstudie (NVS II) wurde 2012 für Frauen im Alter zwischen 18 und 40 Jahren im Median mit 184 µg Folat pro Tag ermittelt [32, 52]. Die lückenhafte Folsäureprophylaxe der schwangeren Frauen bestätigen auch die Daten aus der prospektiven Erfassung im Rahmen des Fehlbildungsmonitoring Sachsen-Anhalt in Abb. 2.1 [53].

Prozent der befragten Schwangeren

70

67,5

65,3

64,0

61,1

60

61,9

53,8

50 40

33,5 27,4

30 20,3

20 8,1

10 0

1998–2000 (3.907*)

23,0

8,1 2001–2003 (2.109*)

Folsäure eingenommen

2004–2006 (2.642*)

2007–2009 (3.002*)

2010–2012 (2.738*)

2013–2014 (1.428*)

davon Folsäure richtig eingenommen

* befragte Schwangere im Zeitraum mit Angaben Einnahme von Folsäure Abb. 2.1: Anteil in % der Schwangeren in Sachsen-Anhalt von 1998 bis 2014, die Folsäuresupplemente während der Schwangerschaft eingenommen hatten. Daten wurden im Rahmen des Fehlbildungsmonitoring Sachsen-Anhalt in einer prospektiven Befragung der Schwangeren bei der Vorstellung in der Geburtsklinik in Vorbereitung zur geplanten Geburt erhoben. Folsäure eingenommen: Schwangere hat während der Schwangerschaft Folsäuresupplement eingenommen. Folsäure richtig eingenommen: perikonzeptionelle Einnahme des Folsäuresupplements (mindestens 4 Wochen vor Eintritt der Schwangerschaft und mindestens bis Ende des 1. Trimesters).

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Robert Armbrust und Wolfgang Henrich

2.2 Pränatale Diagnostik 2.2.1 Pränatale Diagnostik Die Diagnose einer spinalen Dysraphie ist pränatal mit hoher Genauigkeit möglich. Hierbei ist eine Unterscheidung zwischen der offenen und geschlossenen Form ebenso sicher zu treffen. Die Diagnose erfolgt durch die transabdominale Sonografie im Zeitraum des Zweittrimesterscreenings (18–22 SSW) oder in letzter Zeit bereits im Ersttrimesterscreening (11–14 SSW). Unter normalen Untersuchungsbedingungen lassen sich Neuralrohrdefekte pränatal mit einer Sensitivität von 97 % und einer Spezifität von 100 % detektieren [1–6]. Im 2. Trimester wird die Spina bifida aperta in einem überwiegenden Teil der Fälle durch sog. indirekte zerebrale und kraniale Zeichen begleitet [7–10]. In den letzten Jahren lässt sich durch eine differenzierte Embryosonografie insbesondere der hinteren Schädelgrube auch im 2. Trimester (11–14 SSW) die offene Form der Spina bifida sehr zuverlässig diagnostizieren [10–13]. In der Mehrzahl der Fälle tritt die Spina bifida aperta isoliert auf. Bei etwa 20 % der betroffenen Feten finden sich pränatal Begleitfehlbildungen. Die häufigsten sind ZNS- und Herzfehlbildungen, Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten, Bauchwanddefekte, Fußdeformationen (Pes equinovarus) und Fehlbildungen des Urogenitaltraktes (z. B. Nierenagenesie, Ureter duplex). Das Risiko für Chromosomenstörungen, vor allem Trisomie 13, Trisomie 18 und Triploidie ist mit ca. 9 % signifikant erhöht [14]. Deshalb sollte in diesen Fällen z. B. eine Amniozentese, Chorionzottenbiopsie oder Nabelschnurpunktion zur Karyotypisierung angeboten werden. Neben dem Pränataldiagnostiker sollten Geburtsmediziner, Neonatologen, Kinderneurologen aus der Langzeitbetreuung eines sozialpädiatrischen Zentrums (SPZ) und Kinderneurochirurgen interdisziplinär im gemeinsamen Konsil das Elternpaar beraten. Eine psychosoziale und genetische Beratung sollte neben der Anbindung an ein SPZ erfolgen.

18 | 2 Schwangerschaft und Geburt

2.2.1.1 Die pränatale Diagnose der Spina bifida im 2. Trimester Die pränatale Detektionsrate der Spina bifida aperta beträgt bis zu 90 % allein mithilfe der sog. indirekten Kopfzeichen [9, 15]. In der sonografischen Beurteilung des Kopfes ist zwischen 18 und 22 SSW auf folgende Parameter hinsichtlich des Kopfes und des Gehirns zu achten: die Kopfform sollte oval sein, der Kopfumfang normal (insbesondere kein schmaler biparietaler Durchmesser), die Weite des posterioren Horns der Lateralventrikel sollte ≤ 10 mm sein, das Kleinhirn sollte eine hantelförmige Konfiguration aufzeigen und im Durchmesser ca. dem Schwangerschaftsalter in Millimeter entsprechen. In der hinteren Schädelgrube sollte zudem die Cisterna magna darstellbar sein > 2 mm (Abb. 2.2).

Abb. 2.2: Transabdominale Darstellung des normalen fetalen Kopfes und Gehirns im TUI(Tomographic Ultrasound Image)-Modus mit 20 SSW: Beachte die quer-ovale Kopfform (rote Pfeile), den normal weiten posterioren Lateralventrikel (gelber Pfeil), das normal konfigurierte, hantelförmige Cerebellum (grüner Pfeil) sowie die Cisterna magna (blauer Pfeil) als echoleeres Areal hinter dem Kleinhirn in der hinteren Schädelgrube.

2.2.1.1.1 Indirekte kranielle Zeichen Im Falle einer offenen Dysraphie entsteht eine Art cerebrospinales Leck. Durch eine Hypotension im Subarachnoidalraum kommt es zu einer Kaskade, die das Bild der Chiari-II-Malformation zur Folge hat: eine obliterierte bzw. nicht darstellbare Cisterna magna und ein bananenförmiges hypoplastisches Cerebellum (sog. banana sign) mit einer nach kaudal gezogenen Vermis [7, 16, 17] (Abb. 2.3). Die bei einem „normalen“ Cerebellum vorkommende Taille zwischen den Hemisphären ist ebenso aufgehoben

2.2 Pränatale Diagnostik | 19

(a)

(b)

(c) Abb. 2.3: Transabdominale Sonografie mit 22 SSW. Kranielle indirekte Zeichen einer offenen spinalen Dysraphie. (a) Transcerebelläre Ebene: Im linken Bild normales Cerebellum. Im rechten Bild der pathologische Befund mit dem „banana sign“ und der typischen konkaven Form des Kleinhirns. (b) Transventrikuläre Ebene zur Beurteilung der Seitenventrikel: Im linken Bild der Normalbefund mit einer Ventrikelweite ≤ 10 mm. Im rechten Bild deutliche Ventrikulomegalie, insbesondere im posterioren Horn des Lateralventrikels. (c) Auffällige Kopfform: Sogenanntes lemon sign, im linken Bild erkennbar die quer-ovale, normale Kopfform, im rechten Bild die „Eindellung“ im vorderen Bereich der Schädelkalotte.

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wie die hantelähnliche äußere Kontur. Des Weiteren kommt es zu einer Herniation des Cerebellums und des Hirnstamms in das Foramen magnum, z. T. sogar bis in den Spinalkanal (Abb. 2.4). Die Kombination aus einer obliterierten Cisterna magna und dem banana sign hat eine falsch-positiv Rate von nahezu null.

Abb. 2.4: Pathologisch-anatomisches Korrelat der kraniellen Zeichen einer Spina bifida aperta: Hier ist die Herniation des Hirnstamms und des Kleinhirns durch das Foramen magnum gut zuerkennen. Gelber Pfeil: Hirnstamm. Orangener Pfeil: Herniation durch das Foramen magnum.

Des Weiteren bildet sich durch die gestörte Liquorzirkulation eine Ventrikulomegalie > 10 mm insbesondere im posterioren Horn des Seitenventrikels mit einem sog. dangling des Plexus chorioideus aus. Nach anfänglicher Mikrozephalie und schmalen BPD bis in das 2. Trimester hinein, entwickelt sich im Verlauf der Schwangerschaft ein Hydrocephalus internus und damit einhergehend eine Makrozephalie im 3. Trimester meist jenseits von 32 SSW [7, 8, 16]. Ein weiteres Zeichen ist das sog. lemon sign: Hierbei hat die Schädelkalotte im Frontalhirnbereich beidseits eine konkave Form. Dies kann allerdings auch in 1–2 % aller normalen Schwangerschaften vorkommen und ist oft im 3. Trimester nicht mehr nachweisbar. Eine Detektion ist ab ca. 13 SSW möglich, nach 24 SSW ist das lemon sign aber nur noch in 13 % nachweisbar [7, 18–21]

2.2.1.1.2 Direkte Zeichen Die systematische Beurteilung der Wirbelsäule sollte die zervikalen, thorakalen, lumbosakralen Segmente in der mid-sagittalen, axialen und koronaren Ebene erfassen. Dabei kann die Beurteilung der fetalen Wirbelsäule lagebedingt (dorsoposteriore oder Beckenendlage) durch einen hohen maternalen BMI sowie ein Oligo-/Anhydramnion erschwert sein. In der mid-sagittalen Ebene fällt bei einer Spina bifida aperta die un-

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regelmäßige Hautkontur auf. Bei einer Myelomeningozele ist sie angehoben, bei einer Myeloschisis abgeflacht. In dieser Ansicht kann die kranio-kaudale Ausdehnung des Defekts gemessen werden. In der axialen Ansicht sind die Unterbrechung der Hautkontur und die darunter aufgespreizten Wirbelbögen gut erkennbar. Koronar stellen sich die aufgespreizten Wirbelbögen durch eine ellipsoide Aufweitung dar. Die drei orthogonal zueinander stehenden Ebenen lassen sich mithilfe der multiplanaren Rekonstruktion in der 3D-Sonografie darstellen. Weitere 3D-Modi im Oberflächen- und Knochenmodus können zur Höhenlokalisation der Läsion dienen [22]. Direkte sonografische Zeichen der Spina bifida sind:

2.2.1.1.3 Normale und pathologische Anordnung der Wirbelverknöcherungszonen Bei einem Normalbefund zeigt sich in der transversalen Ebene ein spitzwinkliges Dreieck, entstehend aus den drei Ossifikationspunkten der beiden Wirbelbögen und des Wirbelkörpers. Bei Vorliegen einer Spina bifida ist der Spinalkanal nach dorsal offen und es entsteht ein U-förmiges Bild durch die aufgespreizten Wirbelbögen (Abb. 2.5). Es sollte eine anatomisch korrekte Zuordnung anhand der Wirbel zur Höhenlokalisation der Läsion erfolgen: Als Referenz kann der letzte Rippenbogen Th12 oder die Spina iliaca superior auf Höhe L5 zugeordnet werden [23].

2.2.1.1.4 Vorwölbung in der mid-sagittalen Ansicht Unmittelbar dorsal des Defekts am Wirbelkörper zeigt sich eine zystische prominente Erhebung. Hier kann, wie oben bereits erwähnt, durch die Beurteilung der Zele und des Hautniveaus zwischen einer Meningozele, einer Myelomeningozele und einer Myeloschisis unterschieden werden. Bei der letzten Form handelt sich um eine bestimmte Form der Spina bifida aperta, bei der das Nervengewebe an der betroffenen Stelle sichtbar völlig freiliegt und nicht von Haut oder Bindegewebe bedeckt ist. In dieser Ebene lässt sich ebenso am besten der Abbruch der dorsalen Hautkontur darstellen. Eine Darstellung normaler und pathologischer Befunde zeigt die Abb. 2.5.

2.2.2 Die pränatale Diagnose der Spina bifida im 1. Trimester Die Mehrzahl der pränatalen Diagnosen einer Spina bifida erfolgt im 2. Trimester. Mehrere Untersuchungen der letzten Jahre konnten aber zeigen, dass dies auch zuverlässig zwischen 11 und 14 SSW möglich ist. Eine frühere Diagnose im 1. Trimester kann dem Paar, nach chromosomaler Abklärung und interdisziplinärer sowie psychosozialer Beratung, mehr Bedenkzeit über das Fortsetzen oder frühzeitige Beenden der Schwangerschaft ermöglichen. In der Pränataldiagnostik etabliert sich zunehmend ein Trend zur differenzierten Embryosonografie im 1. Trimester. Außerdem weisen Testverfahren der nichtinvasiven pränatalen Testung (NIPT) durch Bestimmung freier fetaler DNA

22 | 2 Schwangerschaft und Geburt

(a)

(b)

(c) Abb. 2.5: Transabdominale Sonografie der fetalen Wirbelsäule mit 20 SSW. Gegenüberstellung normaler und pathologischer Befunde. (a) Mid-sagittale Ansicht mit normaler nicht unterbrochener Hautkontur und fehlender Vorwölbung über die gesamte Länge. (b) Deutlich ist die unterbrochene Hautkontur und die Vorwölbung im lumbosakralen Bereich zu erkennen. Man sieht auch, dass die Plakode bzw. die Nervenfasern in der Zele liegen. (c) Ansicht der Wirbelkörper in der transversalen Ebene: Gut zu erkennen sind die drei Ossifikationspunkte, die ein spitzwinkliges Dreieck bilden. (d) Demgegenüber steht ein pathologischer Befund mit einer U-Form und einem nach dorsal offenen Spinalkanal. (e) Frontalansicht der normalen Wirbelsäule in mehreren Ebenen durch Zuhilfenahme des TUI-Modus. (f) Multiplanaransicht des lumbosakralen Teiles der Wirbelsäule mit einem deutlich sichtbaren Defekt, parallel Darstellung der 3D-Oberflächenrekonstruktion. (g) 3D-Rekonstruktion eines Normalbefunds jeweils im Oberflächenmodus und Knochenmodus. (h) Pathologischer Befund mit einer Spina bifida aperta im 3D-Knochenmodus.

2.2 Pränatale Diagnostik | 23

(d)

(e) Abb. 2.5: (fortgesetzt)

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(f)

(g)

(h)

Abb. 2.5: (fortgesetzt)

aus dem maternalen Blut eine hohe Sensitivität und Spezifität für die Detektion von Trisomie 13, 18, 21 und zukünftig Mikrodeletionen auf. Für die Diagnose der Spina bifida im 1. Trimester sind vor allem Strukturen der hinteren Schädelgrube wegweisend: die Hirnstammbreite, der Abstand vom Hirnstamm zum Okzipitalknochen und dessen Ratio, die Darstellbarkeit der Cisterna magna sowie des 4. Ventrikels (sog. intrakranielle Transluzenz, kurz IT). Einen Normalbefund der Fossa posterior zeigt die Abb. 2.6. In einer großen, multizentrischen prospektiven Untersuchung an über 16.000 Feten konnte gezeigt werden, dass die pränatale Diagnose anhand dieser Parameter zwi-

2.2 Pränatale Diagnostik |

(a)

(b)

(c)

(d)

25

Abb. 2.6: Transabdominale Sonografie mit 13 SSW. (a) Bild eines Schädels im Sagittalschnitt einer normalen hinteren Schädelgrube mit der darstellbaren Cisterna magna (+-+) sowie der intrakraniellen Transluzenz (IT) (*-*) und dem Hirnstamm (+-+). Zu sehen ist auch der Abstand des Hirnstamms zum Okzipitalknochen (x-x). (b) Bild eines pathologischen Befunds mit nicht darstellbarer Cisterna magna und einer verringerten IT von 1,8 mm (+-+). (c) Weiteres Bild einer pathologischen hinteren Schädelgrube (IT von 0,9 mm) mit (d) dem entsprechenden Korrelat einer Spina bifida aperta.

schen 11 und 14 SSW mit hoher Genauigkeit möglich ist [24]. Hier wurden Normwerte und Perzentilen für die oben genannten Strukturen beschrieben und die sensitivsten Marker ermittelt. Im Falle einer Spina bifida lag die Detektionsrate bei 20 % für ein Fehlen des 4. Ventrikels und bei einem Cut-off-Wert unter 1,0 mm bei 50 %. Falls die Cisterna magna nicht darstellbar war bzw. < 0,8 mm war, betrug die Detektionsrate 70 % bzw. 90 %. Außerdem waren in nur einem der Fälle zwei Parameter auffällig, in allen anderen waren es mindestens drei. Ähnliche Ergebnisse konnten auch in anderen Untersuchungen nachgewiesen werden [24].

2.2.2.1 Pränatale Diagnose durch MRT Durch die hohe diagnostische Genauigkeit des Ultraschalls braucht eine MRT-Untersuchung zur pränatalen Diagnose einer Spina bifida in der Regel nicht eingesetzt zu werden. Sie kann allerdings zur Differenzierung von Begleitfehlbildungen z. B. des

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ZNS hilfreich sein, sollte dann aber auch frühestens ab 18 SSW durchgeführt werden. Auch im Hinblick auf mögliche fetalchirurgische Interventionsmaßnahmen kann das MRT zusätzliche Informationen bieten und die Planbarkeit des Eingriffs verbessern [25–27].

2.2.2.2 Der Serum-Marker AFP Das Serum-AFP kann neben Neuralrohrdefekten auch bei anderen Spaltbildungen (z. B. Gesichtsspalten, Bauchwanddefekten) und bei einer abnorm invasiven Plazentation erhöht sein [28]. Aufgrund der hohen sonografischen Detektionsraten im 2. Trimester wurde das Stufenmodell verlassen, bei dem zunächst bei auffälligen AFPWerten erst eine Sonografie bzw. invasive Diagnostik erfolgt. Für Regionen, in denen eine hochqualifizierte Ultraschalluntersuchung nicht flächendeckend verfügbar ist, sollte allerdings weiterhin bei auffälligen Werten des Serum-AFP (> 2,5-facher MoM [multiple of median] der entsprechenden SSW) und/oder sonografischem Verdacht ein gezielter Fehlbildungsausschluss und ggf. eine Amniozentese veranlasst werden [29–31].

2.2.2.2.1 Möglicher Umgang nach einer pränatalen Diagnose bei Spina bifida aperta In Deutschland bestehen für Schwangere drei Möglichkeiten bei einer pränatal diagnostizierten fetalen Spina bifida aperta: 1. Austragen der Schwangerschaft und postpartale kinderneurochirurgsiche Versorgung des Defekts, 2. Austragen der Schwangerschaft nach intrauterinem fetalchirurgischen Verschluss des Defekts < 26 SSW (bisher allerdings nur in einzelnen Studienzentren verfügbar) und ebenfalls primärer Sectio caesarea am Ende des III. Trimenons [32], 3. Abbruch der Schwangerschaft nach § 218a Abs. 2 des Strafgesetzbuchs (StGB). Laut Statistischem Bundesamt wurden im Jahr 2016 in Deutschland 3.785 Schwangerschaften aus medizinischer Indikation abgebrochen, davon 2.219 zwischen 13 und 22 SSW sowie 237 nach 23 SSW. Der Schwangerschaftsabbruch aus medizinischer Indikation ist durch § 218a Abs. 2 StGB geregelt: Diese liegt vor, wenn für die Schwangere eine Lebensgefahr oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustands besteht. Bei einer Abruptio aus medinzischer Indikation muss die Avitalität des Feten bei Geburt gesichert sein, was einen Fetozid vor Geburtseinleitung jenseits von ca. 22 SSW erfordert.

2.2 Pränatale Diagnostik | 27

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Elisabeth Strehl

2.3 Diagnosegespräche prä- und postnatal 2.3.1 Einleitung Die Mitteilung einer schwerwiegenden Diagnose bedeutet immer eine schwierige und hochgradig belastende Situation für die betroffenen Eltern und stellt hohe Anforderungen an den Arzt, der das Gespräch führt. „Are there good ways to give „bad news“? – Kann man „schlechte Nachrichten“ auf gute Weise vermitteln? lautet der Titel einer Arbeit, die Empfehlungen für die Gesprächsgestaltung aus einer retrospektiven Elternbefragung ableitet [1]. In Anlehnung an diese Frage wird es im ersten Teil dieses Kapitels um Grundlagen der Gesprächsführung und um die Voraussetzungen für das Gelingen der Kommunikation zwischen Arzt und Patienten bzw. Eltern gehen.

2.3 Diagnosegespräche prä- und postnatal

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Im Fall des pränatalen Diagnosegesprächs kommt jedoch noch ein weiterer wesentlicher Aspekt hinzu: Hier führt das Gespräch in die Entscheidungssituation über Fortführen oder Abbrechen der Schwangerschaft hinein und damit in einen Kontext, der über die medizinisch-fachliche Information hinaus menschliche, juristische und ethische Fragen berührt.

2.3.2 Grundlagen der Gesprächsführung Die Mitteilung der Diagnose – ob während der Schwangerschaft oder nach der Geburt – löst immer eine schwere akute Krise aus, die durch heftige emotionale Reaktionen geprägt ist. Während Eltern uns ihre Situation z. B. mit einem „uferlosen Fallen“, einem „Zusammenbruch der Welt“ oder einer „zerstörten Zukunft“ beschreiben, spricht die Life-event-Forschung von einem nicht-normativen Lebensereignis, d. h. von einem unerwarteten, unkontrollierbaren, kritischen Ereignis, das einen Bruch mit dem bisher gültigen und antizipierten Leben bedeutet. Die Diagnoseeröffnung und die Art und Weise ihrer Gestaltung können diese Lebenskrise verschärfen oder abmildern. (Zitat aus der 1. Auflage) [2].

Der gesprächsführende Arzt muss sich bewusst mit dieser Situation auseinandersetzen, kann aber von inzwischen reichlich vorhandenen Erkenntnissen und Erfahrungen über die Gesprächsführung beim „Überbringen schlechter Nachrichten“ profitieren [1, 3–5]. Wichtige konkrete Hinweise geben auch retrospektive Elternbefragungen. Aus den positiven wie auch den negativen Erfahrungen lassen sich sehr praxisnahe Empfehlungen formulieren, welche Wünsche Eltern an ein Diagnosegespräch haben [1, 6–8]: – emotionale Zuwendung und Einfühlungsvermögen, Fähigkeit zu authentischen Gefühlsäußerungen, – ruhige Gesprächsatmosphäre, ausreichend Zeit für Fragen, – gemeinsame Unterrichtung beider Eltern, wenn immer möglich, – Anforderungen an die Qualität der Information: – fachliche Kompetenz, – Verständlichkeit (Vermeidung von Fachtermini, Anpassung an das elterliche Sprachniveau), – Angebot mehrfacher Gespräche. In solchen Stellungnahmen wird immer wieder deutlich, dass das emotionale Klima eines Gesprächs und die Empathie des Arztes entscheidend sind, auch dafür, wie die Fachinformationen aufgenommen werden können.

2.3.2.1 Das SPIKES-Modell Ein bewährtes Modell, das in sechs Schritten alle wichtigen Elemente eines Diagnosegesprächs beschreibt, das SPIKES-Modell, [9], sei hier kurz zitiert:

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„SPIKES“ ist ein Akronym; jeder Buchstabe steht für einen englischsprachigen Begriff, der jeweils einen Schritt des Gesprächs repräsentiert: S steht für „Setting“ und bezieht sich auf – die Gesprächsteilnehmer (möglichst beide Eltern, evtl. andere Vertrauensperson bei alleinstehenden Müttern), – den Ort (ruhiger ungestörter Ort), – den Zeitrahmen (genügend viel); P steht für „Patient Perceptions“ und meint die Frage danach, was der Patient (bzw. die Eltern) bereits über die Diagnose wissen (Internet!?); I steht für „Invitation“ und meint die Vorbereitung auf die Gesprächsinhalte, auch die Frage, wie genau die Eltern informiert werden wollen; K steht für „Knowledge“ und bezieht sich auf die fachliche Informationsvermittlung – in verständlicher Sprache unter Vermeidung von Fachtermini, – möglichst mit Anschauungsmaterial, – mit Pausen und Gelegenheit zu Rückfragen; E steht für „Emotions“ und bezieht sich auf – den Umgang mit den Gefühlsäußerungen der Eltern, – die Fähigkeit, Empathie verbal und nonverbal auszudrücken; S steht für „Strategy and Summary“ und beinhaltet – die Zusammenfassung wichtiger Gesprächsinhalte, – die Festlegung der nächsten Schritte, – die Frage nach Unterstützung/Hilfe im familiären Umfeld, – das Angebot weiterer Kontakte. Ein solches Modell gibt eine Struktur und damit eine gewisse Sicherheit für den Gesprächsführenden, lässt aber genügend Freiheit, sich auf die unterschiedlichen Bedürfnisse von Eltern in der konkreten Situation einzulassen. Von einer guten empathischen Gesprächsführung profitieren beide Seiten: Die Eltern, weil ihnen durch das Gespräch eine Basis für die Auseinandersetzung mit der Diagnose gegeben wird und sie im Idealfall den Arzt als einen Partner erleben, der ihnen dabei zur Seite steht. Der Arzt hingegen wird das Diagnosegespräch für sich selbst als befriedigend und weniger belastend erleben, wenn es gelang, eine gute Kommunikation mit den Eltern herzustellen.

2.3.3 Konkrete Gesprächszeitpunkte 2.3.3.1 Pränatales Gespräch Die Diagnose einer Spina bifida wird mit großer Wahrscheinlichkeit bereits pränatal durch Ultraschall gestellt, sodass die Diagnosegespräche ganz überwiegend pränatal, häufig um die 20 SSW, z. T. aber auch erst später stattfinden. Die erste Mitteilung der Diagnose erfolgt praktisch immer durch den untersuchenden Frauenarzt. Vielerorts

2.3 Diagnosegespräche prä- und postnatal

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wird danach die ausführliche Information über die Bedeutung der Diagnose und über die Prognose von Ärzten und Therapeuten mit Erfahrung in der Langzeitbetreuung übernommen. Ein solches Diagnosegespräch soll der Schwangeren und ihrem Partner eine möglichst konkrete Vorstellung davon geben, was die gestellte Diagnose bedeutet, welche Auswirkungen auch in der Langzeitprognose zu erwarten sind und welche Therapiemöglichkeiten vorhanden sind. Es geht also zunächst um

2.3.3.1.1 Medizinische Informationen zum Krankheitsbild Die einzige spezifische Informationsquelle ist meist der Ultraschallbefund. Er erlaubt grundsätzlich, die Diagnose zu stellen und gibt Anhaltspunkte für die Prognose, vor allem durch die Lokalisation und Ausdehnung der Fehlbildung. Einige zusätzliche Befunde – als Nachweis oder Ausschluss – tragen zur genaueren Einordnung bei – Fehlstellung/Fehlbildung der Wirbelsäule (Gibbus, strukturelle Skoliose), – Bein- oder Fußfehlstellungen. – typische Hinweiszeichen für Hydrocephalus und Chiari-II-Fehlbildung (lemon und banana sign), evtl. auch eine auffallende Ventrikelweite, – Fehlbildungen an anderen Organen. Eine valide individuelle Prognose ist jedoch auch bei bester Qualität der Bildgebung nicht möglich. Am ehesten können vorsichtige Aussagen über das motorische Lähmungsniveau gemacht werden. Art und Ausmaß der praktisch immer anzunehmenden Blasen- und Darmlähmung sind genauso wenig erkennbar wie Anhaltspunkte für die zu erwartenden mentalen Fähigkeiten. Für die meisten wichtigen Punkte kann sich das Gespräch daher nur auf statistische Angaben aus der Langzeitbetreuung stützen und eine Streubreite von Möglichkeiten beschreiben. Durch Erfahrungen aus der Langzeitbetreuung können auch die vielen modernen Therapiemöglichkeiten angesprochen und gewürdigt werden (z. B. dass „soziale Kontinenz“ für die überwiegende Mehrheit erreicht werden kann) und Entwicklungschancen in realistischer Bandbreite deutlich gemacht werden. Die Frage nach den Ursachen beschäftigt viele Eltern. Da eine befriedigende Antwort (Stichwort „multifaktoriell“) in der Regel nicht möglich ist, kommt der Entlastung von Schuldgefühlen eine wichtige Bedeutung zu.

Pränatale Operation Seit einigen Jahren hat das therapeutische Angebot eine Erweiterung durch die Möglichkeit einer pränatalen Operation erfahren. Auf diese Möglichkeit und die damit verbundenen Chancen und Risiken sollte in einem pränatalen Diagnosegespräch immer eingegangen werden, sofern das Gespräch vor der 25 SSW stattfindet.

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Grundlage ist die Erkenntnis, dass der neurologische Befund bei Geburt nicht allein von der ursprünglichen Fehlbildung bestimmt ist, sondern dass während der Schwangerschaft permanent eine zusätzliche Schädigung des offenliegenden Neuralgewebes stattfindet (sog. Two-hit-Pathogenesis, s. Kap. 2.4.2). Daraus leitet sich das Konzept ab, das offenliegende Gewebe bereits pränatal operativ zu decken, um damit die Prognose des Kindes nach Möglichkeit zu verbessern. Grundsätzlich kann der Eingriff entweder offen fetalchirurgisch oder fetoskopisch erfolgen. Zum gegenwärtigen Stand des offenen fetalchirurgischen Vorgehens siehe Kapitel 2.4. Das Pränatalgespräch, das so präzise wie möglich den aktuellen Kenntnisstand vermitteln sollte, kann sich einerseits auf eine große randomisierte Studie und andererseits auf zwei zusammenfassende Publikationen stützen, die kürzlich die Ergebnisse verschiedener Zentren und der verschiedenen Methoden aufgearbeitet haben. Die einzige randomisierte Studie, die pränatal operierte (ausschließlich offen fetalchirurgisch) mit postnatal operierten Kindern verglich, ist die in den USA durchgeführte MOMS-Studie (Management of Myelomeningocele Study), deren Ergebnisse 2011 publiziert wurden [10]. Bisher liegen Nachuntersuchungsergebnisse bis zum Alter von 30 Monaten vor, weiter reichende Ergebnisse sind zu erwarten. Bei der pränatal operierten Gruppe fand sich eine bessere Gehfähigkeit im Alter von 30 Monaten (freies Gehen bei 42 % gegenüber 21 %) und eine deutlich reduzierte Zahl von Shuntimplantationen (40 % gegenüber 82 %). Allerdings gab es in dieser Gruppe auch deutlich mehr mütterliche und kindliche Komplikationen, vor allem eine erheblich höhere Rate an Frühgeburten (79 % gegenüber 15 %, durchschnittliches Gestationsalter 34,1 Wochen, dabei 13 % der Kinder unter der 30 SSW). Die kognitive Entwicklung der pränatal operierten Kinder war gleich gut oder besser als in der postnatalen Gruppe. Einschränkend ist hier aber festzuhalten, dass für diese Fragestellung die Nachbeobachtungszeit noch nicht ausreichend ist. Zwei aktuelle Übersichtsarbeiten [11, 12] vergleichen die beiden Methoden – offene vs. fetoskopische Chirurgie – miteinander, wobei verlässliche Daten bisher nur zu den mit dem Eingriff verbundenen Komplikationen und zur Shunthäufigkeit vorhanden sind, nicht jedoch zur psychomotorischen und kognitiven Entwicklung. Danach hat die offene Chirurgie gegenüber dem fetoskopischen Vorgehen günstigere Daten bezüglich vorzeitiger Membranruptur, Oligohydramnion, Frühgeburtlichkeit (Gestationsalter) und perinataler Sterblichkeit. Beim fetoskopischen Vorgehen war die Dauer des Eingriffs deutlich länger; außerdem waren nach der Geburt oft Nachoperationen notwendig. Bei der offenen Chirurgie fand sich als Nachteil für die Mutter eine deutlich größere Häufigkeit von Narbenproblemen des Uterus. Die Häufigkeit von Shuntimplantationen war in beiden Gruppen etwa gleich und entsprach mit 40 bzw. 45 % der MOMS-Studie. Im Pränatalgespräch liegt auch hier die Schwierigkeit darin, dass im konkreten Einzelfall eine Prognose, ob und in welchem Ausmaß ein Kind von einer pränatalen Operation profitieren würde, nicht möglich ist. Für die Abwägung von Hoffnung und Risiken ist die Aufklärung der Schwangeren bzw. des Paares wichtig, dass die

2.3 Diagnosegespräche prä- und postnatal | 33

Fetalchirurgie trotz möglicher Verbesserungen die Fehlbildung nicht beseitigen kann. Zu hohe Erwartungen, die enttäuscht werden, können ein großes Hindernis sein, im späteren Verlauf die dennoch bestehende Behinderung zu akzeptieren. Auch die Frühgeburtlichkeit, die bei beiden Methoden besteht und die für sich genommen ebenfalls einen Risikofaktor darstellt, sollte thematisiert werden.

2.3.3.1.2 Der Weg der Entscheidungsfindung In der Betroffenheit und Trauer, die durch die Besprechung der typischen Situation eines Kindes mit Spina bifida ausgelöst wird, stellt sich unausweichlich die Frage, was diese Diagnose konkret für das betroffene Paar bedeutet, welche Zukunft sich die Eltern vorstellen können, welchen weiteren Weg sie für gangbar halten, und wo sie möglicherweise auch an Grenzen stoßen. Über die medizinische Information hinaus wird daher die Entscheidungssituation über einen möglichen Abbruch der Schwangerschaft mit allen persönlichen, psychosozialen und ethisch-moralischen Aspekten zum Thema. In eine verantwortungsvolle Entscheidung müssen viele Aspekte eingehen:

a) Die aktuelle Rechtslage in Deutschland Der § 218a StGB (Straflosigkeit des Schwangerschaftsabbruchs) wurde zuletzt 1995 geändert. Die sog. embryopathische Indikation wurde als eigenständige Indikation gestrichen und ging in der medizinischen Indikation auf, bei der es allein auf die Gefährdung der körperlichen oder seelischen Gesundheit der Mutter ankommt. Für diese Indikation gibt es keine Frist mehr, so dass eine Entscheidung zum Schwangerschaftsabbruch praktisch bis zum Einsetzen der Geburt möglich ist. Zitat des Gesetzestextes: [13] Der mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch ist nicht rechtswidrig, wenn der Abbruch der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustands der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann.

Mit der veränderten Rechtslage ergaben sich neue Anforderungen an Aufklärung und Beratung, denen seit 1.1.2010 die Neufassung des Schwangerschaftskonfliktgesetzes (SchKG) Rechnung trägt [14]. Das Gesetz schreibt eine Beratungspflicht und eine Mindest-Bedenkzeit von 3 Tagen zwischen pränataler Diagnosestellung und Feststellung der medizinischen Indikation vor. Danach hat der Arzt, der die Pränataldiagnostik durchführt, die Pflicht, über die medizinischen, psychischen und sozialen Aspekte des Befunds allgemeinverständlich und ergebnisoffen zu beraten „unter Hinzuziehung von Ärztinnen und Ärzten, die mit der im Raume stehenden Gesundheitsschädigung bei geborenen Kin-

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dern Erfahrung haben“. Außerdem muss er speziell erstelltes Informationsmaterial der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) [15] aushändigen und auf die Möglichkeit einer Beratung in einer Schwangerschaftsberatungsstelle hinweisen und diese vermitteln. Auf diese zusätzliche psychosozial orientierte Beratung kann die Schwangere gegen Unterschrift aber auch verzichten. Damit ist die an vielen Orten schon seit langem praktizierte Zusammenarbeit zwischen Ärzten der Pränatalmedizin und Kinderärzten oder anderen Fachleuten der Langzeitbetreuung jetzt verbindlich vorgeschrieben.

b) Information über Hilfsangebote In vielen Fällen ist es hilfreich, das sehr umfassende schriftliche Informationsmaterial der BZgA (s. o.) auf die konkrete Situation bezogen zu erläutern, zumal sich Hilfsangebote sowohl auf die pränatale Situation als auch auf die Unterstützungsmöglichkeiten nach der Geburt eines Kindes mit einer Behinderung beziehen. Die Selbsthilfegruppe „Arbeitsgemeinschaft Spina Bifida und Hydrocephalus e. V.“ (ASBH) sollte vorgestellt und eine Kontaktaufnahme angeboten werden. Besonders hilfreich kann es sein, wenn aus der Erfahrung der Langzeitbetreuung ein persönlicher Kontakt zu einer betroffenen Familie hergestellt werden kann. Für Eltern, die sich außerstande sehen, ein Kind mit einer schweren Behinderung aufzuziehen, sollte auch der Hinweis nicht fehlen, dass es die Möglichkeit gibt, ein Kind nach der Geburt zur Adoption freizugeben.

c) Praktische Beratungssituation Die psychosoziale Beratung durch eine Schwangerschaftkonfliktberatungsstelle ist sehr wünschenswert, auch wenn sie nicht bindend vorgeschrieben ist. Die Auswertung eines Modellprojekts „Psychosoziale Beratung im Kontext von Pränataldiagnostik“ gibt dazu aufschlussreiche Detailinformationen [16]. In der eigenen Beratungspraxis am SPZ Erlangen legen wir in jedem Fall großen Wert darauf, dass die Gespräche gemeinsam von einem Arzt und einem Mitarbeiter des psychosozialen Bereichs (Psychologe oder Sozialpädagoge) geführt werden, um der vielschichtigen Situation besser gerecht zu werden. Die zusätzliche Beratung in der Konfliktberatungsstelle wird dadurch aber keinesfalls überflüssig. Häufig stehen die Beratungsgespräche unter einem hohen Zeitdruck, rasch zu einer Entscheidung zu kommen. Durch die Einführung einer mindestens 3-tägigen Bedenkzeit hat sich dieser Zeitdruck bereits deutlich reduziert. Uns erscheint es wichtig, diesem Druck nicht nachzugeben und den Eltern den zeitlichen Spielraum zu geben, den sie für ihre Entscheidung brauchen, z. B. für weitere Gespräche, oder auch – bei Bedarf – für das Hinzuziehen eines Dolmetschers. Wenn über die besonders belastende Situation eines Spätabbruchs (nach der 22 SSW p. c.) zu entscheiden ist, hat sich in Erlangen über mehrere Jahre ein Modell für ein multiprofessionelles Vorgehen im Sinne einer Ethikberatung entwickelt. Nach

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Gesprächen mit den Eltern werden die verschiedenen Sichtweisen aus Pränatalmedizin, Psychosomatik, Pädiatrie, Humangenetik, Medizinethik, Theologie und anderen Berufsgruppen, z. B. Krankenpflege, zusammengeführt. Das Ziel ist nicht ein Votum der Gruppe, sondern das Erarbeiten einer Entscheidungsgrundlage für den letztlich verantwortlichen Arzt [17, 18].

d) Moralisch-ethische Aspekte Bei der Entscheidung über Weiterführen oder Abbruch der Schwangerschaft steht das Recht der Schwangeren, eine für sie unzumutbare, untragbare Situation abzuwenden, gegen das Lebensrecht des ungeborenen Kindes – ein Dilemma, aus dem kein einfacher oder guter Weg herausführt. Es gibt kein „richtig“ oder „falsch“, sondern nur die Suche nach der Entscheidung, mit der diese Schwangere, dieses Paar am ehesten in Zukunft leben kann. Im Beratungsgespräch, das die Grundlagen für eine verantwortungsvolle Entscheidung vermitteln soll, wird auch dieser Konflikt ein Thema sein. Nur dann können Eltern zu einer für sie tragfähigen Entscheidung kommen, zu der sie langfristig stehen können. Ganz sicher besteht eine Schwierigkeit darin, dass das Kind, um das es geht, noch nicht konkret fassbar ist, und dass das Leben mit einem behinderten Kind für viele Menschen außerhalb ihres Vorstellungsbereichs liegt. So sind häufig neben der individuellen Lebenssituation vorbestehende grundsätzliche Einstellungen oder Überzeugungen ausschlaggebend. Dieser grundsätzlich immer vorhandene Konflikt verschärft sich und bekommt noch eine zusätzliche Dimension, wenn ein „Spätabbruch“, d. h. ein Abbruch nach Beginn der extrauterinen Lebensfähigkeit (nach der 22 SSW p. c.) zur Diskussion steht. In diesem Fall wird in der Regel vor dem Abbruch ein Fetozid erfolgen müssen, was Eltern, Ärzte und Berater im eigenen Erleben wesentlich stärker belastet als ein Abbruch zu einem früheren Zeitpunkt. Dass ein sog. Spätabbruch anders gesehen wird und die Entscheidung wesentlich beeinflusst, belegen Zahlen aus der Erlanger Spina-bifida-Ambulanz aus den Jahren 2000 bis 2008. Danach wurde bei Diagnosestellung vor der 22 SSW die Schwangerschaft in 16 von 21 Fällen (76 %) abgebrochen, nach der vollendeten 22 SSW jedoch nur in 7 von 25 Fällen (28 %).

2.3.3.1.3 Vorgehen bei Entscheidung für das Kind Wenn die Entscheidung getroffen ist, die Schwangerschaft weiterzuführen, kann sich – abhängig vom Zeitpunkt der Schwangerschaft – unmittelbar die Frage nach der pränatalen Operation stellen. Das fetoskopische Verfahren wird in Deutschland seit Jahren in Gießen angeboten, das offen fetalchirurgische Vorgehen in Zürich steht auch deutschen Familien offen. Es ist aber abzusehen, dass sich das Angebot in Deutschland in den nächsten Jahren weiter entwickeln wird, sodass es für Berater

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und betroffene Paare wichtig sein wird, sich jeweils aktuell zu informieren, welches Zentrum welche Methode mit welchen Ergebnissen anbietet. Andernfalls steht die Vorbereitung auf die Entbindung und die Zeit nach der Geburt im Vordergrund. Eltern sollen eine möglichst konkrete Vorstellung bekommen, worauf sie sich einstellen können, z. B. die Station kennenlernen, auf der das Kind nach der Geburt betreut wird; die Mitaufnahme der Mutter, die Möglichkeiten des Stillens usw. sollten geklärt werden. Das notwendige operative Vorgehen sollte besprochen, evtl. auch Kontakt zum Operateur hergestellt werden. Das Team des Diagnosegesprächs sollte bei Bedarf weiterhin zur Verfügung stehen und ansprechbar sein.

2.3.3.2 Postnatales Gespräch Im Gegensatz zur pränatalen Situation ist das Kind jetzt als eigenständiges Wesen sichtbar und wahrnehmbar und steht im Mittelpunkt aller Aktivitäten. Seine Existenz und die sich entwickelnde Eltern-Kind-Beziehung ist „neben der Kränkung und der Trauer um den Verlust des Normalen auch Trost, Kraftquelle und Auslöser für starke Gefühle des Mitleidens und des Beschützen-Wollens“ (Zitat aus der 1. Auflage) [2]. Wenn das Kind nach der Geburt in die Kinderklinik aufgenommen wird, sind zwei verschiedene Situationen möglich: – Es handelt sich um eine pränatal bekannte MMC. Die Geburt (fast immer durch Sectio) wurde geplant und in vielen Details vorbereitet. Ein Kontakt zu den Eltern besteht bereits durch ein oder mehrere pränatale Gespräche. – Oder aber – inzwischen sehr selten geworden, aber nicht ausgeschlossen – die Diagnose war pränatal nicht bekannt und zeigte sich erst bei der Geburt, die möglicherweise in einer entfernten Klinik stattfand. Im ersten Fall kann an die früheren Gespräche angeknüpft werden. Alle Aufmerksamkeit kann sich dem nun konkret vorhandenen Kind zuwenden. Neben allen Maßnahmen, die der genaueren Diagnostik und der Vorbereitung der operativen Zelenversorgung dienen, sollte Zeit und Gelegenheit sein, Mitfreude über die Geburt des Kindes auszudrücken und eine erste Rückmeldung zu geben, wie sich der Befund zu den Aussagen des Pränatalgesprächs verhält. Je nach räumlichen Verhältnissen sollte die Mutter so direkt wie möglich einbezogen sein. Im weiteren Verlauf kann mit den Eltern Schritt für Schritt anhand von Untersuchungsbefunden die Situation des Kindes und das therapeutische Konzept besprochen werden. Dabei sollte immer Raum für Emotionen, für Trauer und Hoffnung, Ängste und Zuversicht sein. Im zweiten Fall besteht fast immer eine Schocksituation, die noch verstärkt wird durch die Notwendigkeit, relativ schnell über eine Operation entscheiden zu müssen, und durch die Tatsache, dass die Mutter sich evtl. noch in einer entfernten Geburtsklinik befindet. Hier gilt es, die Ruhe für ein empathisches Gespräch zu finden, das

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einerseits die Sicherheit vermittelt, in dieser Situation nicht allein gelassen zu werden, andererseits die entscheidenden medizinischen Basisinformationen zusammenfasst. Weitere engmaschige Gesprächskontakte in den ersten Lebenstagen sind wichtig, um die Eltern an die Problematik der Diagnose heranzuführen und sie im Beziehungsaufbau zum Kind zu unterstützen. In beiden Fällen ist das Begleiten der Eltern in den ersten Wochen nach der Geburt oft eine wichtige Grundlage für eine vertrauensvolle Beziehung in der Langzeitbetreuung.

2.3.4 Fazit Die Diagnose Spina bifida wird in jedem Fall Folgen für das weitere Leben einer Familie haben. Bei einer Entscheidung für ein Kind mit einer schwerwiegenden Behinderung – ob mit oder ohne Option einer pränatalen Operation – verändert diese Entscheidung das Leben einer ganzen Familie grundlegend und nachhaltig, weckt oft ungeahnte Fähigkeiten und beeinflusst Wertvorstellungen und Lebensplanung. Im anderen Fall macht die Entscheidung für einen Abbruch der Schwangerschaft nichts ungeschehen, sondern bleibt Teil der Lebensgeschichte. In beiden Fällen spielt die Frage nach dem Wiederholungsrisiko bei weiteren Schwangerschaften meist eine wichtige Rolle und sollte im Rahmen einer humangenetischen Beratung besprochen werden. Ein Diagnosegespräch sollte daher nicht enden, ohne die Möglichkeiten weiterer Beratung und Begleitung zu thematisieren und konkret z. B. weitere Gesprächskontakte oder die Vermittlung weiterer Ansprechpartner anzubieten.

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Ueli Möhrlen und Martin Meuli

2.4 Fetale Chirurgie bei Spina bifida 2.4.1 Einleitung Mit der zunehmend besseren pränatalen Diagnostik, sowohl mittels Ultraschall als auch mittels MRI, wurde es möglich, fetale Fehlbildungen immer früher und präziser zu erkennen. Die Fortschritte in der pränatalen Diagnostik stellen eine wesentliche Grundlage für die fetale Chirurgie dar. Fetale Eingriffe stellen auch heute noch ein gewisses Risiko für den Feten und, wenn auch ein kleineres, für die werdende Mutter dar. Um eine fetale Intervention zu rechtfertigen, muss deshalb eine fetale Pathologie vorliegen, die das Überleben des Feten gefährdet bzw. einen schwerwiegenden und irreversiblen Schaden am wachsenden Organismus generiert. Fetale Operationsindikationen müssen also sehr sorgfältig gestellt werden.

2.4 Fetale Chirurgie bei Spina bifida | 39

Bereits 1981 wurde die erste fetale Operation, eine offene Vesikostomie bei posterioren Urethralklappen, durch Michael Harrison in San Franzisco durchgeführt [1]. Während der nächsten 30 Jahre entwickelte sich die fetale Chirurgie rasch weiter und verschiedene Fehlbildungen wurden versuchsweise pränatal operiert. Schlussendlich blieben nur wenige Indikationen für eine fetale Intervention bestehen: Die CPAM (congenital pulmonary airway malformation) und das sakrokokzygeale Teratom, die beide einen Hydrops fetalis verursachen können. Bei Auftreten eines Hydrops ist die Indikation zur fetalen Resektion gegeben. Die heute jedoch mit großem Abstand häufigste Indikation stellt die Myelomeningozele (MMC) als eine der schwerwiegendsten Formen der Spina bifida dar, wobei in aller Regel ein klassischer Verschluss des offenen Rückens (gleich wie bei der postnatalen Versorgung) durchgeführt wird [2, 5, 6].

2.4.2 „Two-hit-Pathogenesis“ Bis vor einiger Zeit nahm man an, dass die Hemmungsfehlbildung, d. h. die unvollständige Neurulation des Rückenmarks im Bereich der MMC-Läsion, und der zusätzliche traumatische Schaden bei einer allfälligen vaginalen Geburt für die schweren neurologischen Ausfälle verantwortlich seien. In den 90er-Jahren haben eine Reihe von tierexperimentellen Arbeiten als auch Untersuchungen an menschlichen Feten die MMC-Läsion zum ersten Mal detailliert beschrieben [7]. Zudem wurde mit der sog. Two-hit-Pathogenesis [8–11] ein vollständig neues Konzept zur Entstehung und intrauterinen Pathodynamik der MMC entwickelt: Vormals nahm man an, dass der Funktionsverlust des Rückenmarks durch die fehlende Neurulation bedingt sei, damit bereits sehr früh in der Schwangerschaft gesetzt würde und unbeeinflussbar bestehen bliebe. Dagegen basiert die neue, von Hutchins und Meuli beschriebene „Two-hit-Pathogenesis“ darauf, dass ein erster, bestenfalls nur sehr diskreter Schaden durch die fehlende Neurulation und die damit assoziierte Myelodysplasie („first hit“) entsteht. Histopathologische Studien des Rückenmarks von humanen Embryos und Feten aus der Frühschwangerschaft mit MMC zeigten dann auch ein im Bereich der Läsion nicht neuruliertes Rückenmark, das sonst aber normal entwickelt und insbesondere geweblich vollkommen intakt war [12, 13]. Der „second hit“ ereignet sich progressiv und praktisch über die ganze Länge der Schwangerschaft hinweg, indem das äußerst vulnerable Rückenmark völlig ungeschützt der Fruchthöhle und dem Fruchtwasser ausgesetzt ist. So kommt es durch fötale Bewegungen zu repetitiven Stoß-, Druck- und Reibephänomenen, die zu relevanten mechanischen Schädigungen des Neuralgewebes auf mikroskopischer Ebene führen (Erosion, Arrosion, Avulsion, Blutung, Entzündung). Dazu kommen die chronischen Gewebeirritationen (Entzündung, Degeneration) durch das im Laufe der Schwangerschaft zunehmend toxischer werdende Fruchtwasser (neurotoxische Urin- und Mekoniumbestandteile, Enzyme etc.), die schließlich zu einem weitgehenden, schlimmstenfalls vollständigen Funktionsverlust des exponierten Rückenmarks führen [14]. In weiteren Studien an

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humanen Feten konnte gezeigt werden, dass das Rückenmark proximal der MMCLäsion normal ist und nur im Bereich der MMC-Läsion einen unterschiedlichen Grad von Degeneration zeigte [7, 15]. Auch sonografische Untersuchungen von Feten mit MMC stützen die „Two-hitPathogenesis“. So konnten Korenromp et al. zeigen, dass mit zunehmender Dauer der Schwangerschaft die Beinbeweglichkeit der Feten verloren geht und die Ausbildung von Klumpfüßen zunimmt [16]. Auch neuere tierexperimentelle Arbeiten sind im Einklang mit der „Two-hitPathogenesis“ [17]. Danzer et al. konnten in einem fetalen Rattenmodell mit Retinoidsäure Neurulationsversagen und damit MMC-Läsionen induzieren. In diesem Modell konnte außerdem gezeigt werden, dass ein nichtneuruliertes Rückenmark eine normale Funktion aufweist und dass diese erst sekundär mit zunehmendem Gestationsalter verschwindet [18, 19].

2.4.3 Erste humane fetale Operationen Die Validierung der „Two-hit-Pathogenesis“ legte den Grundstein für die Indikation zur fetalen Chirurgie mit folgender Hypothese: Die frühestmögliche, eben bereits intrauterine Rückenrekonstruktion normalisiert die anatomische Umgebung des Rückenmarks weitestgehend, schützt das Rückenmark und verhindert damit nachhaltig die sonst auftretenden neuralen Gewebeschäden und die entsprechenden Funktionseinbußen. Die ersten Operationen wurden in der Mitte der 90er-Jahre durch Tulipan und Bruner beschrieben, die endoskopisch versuchten, einen von der Mutter stammenden Vollhautlappen auf die MMC-Läsion aufzulegen [20]. Diese Technik scheiterte und wurde darum verlassen. Adzick et al. publizierten 1998 zum ersten Mal einen erfolgreichen fetalen Verschluss einer MMC [21]. Bei einem Fetus mit einer Läsion auf Höhe Th11 wurde die Läsion in der 23. Schwangerschaftswoche operiert. Das Baby wurde in der 30. Schwangerschaftswoche geboren und zeigte ein wesentlich tieferes neuromuskuläres Lähmungsniveau, nämlich auf Höhe L4–L5. Ebenso war die präoperativ vorhandene Hindbrain-Herniation vollständig regredient und das Neugeborene zeigte keine Ventrikulomegalie. Aufgrund eines ausgeprägten Tetherings des Rückenmarks verlor das Kind im Alter von 6 Monaten die Beinfunktion wieder. Nachfolgende Arbeiten vom Children’s Hospital of Philadelphia und vom Vanderbilt University Medical Center zeigten, dass die Hindbrain-Herniation bereits 3 Wochen nach fetaler Operation regredient war und dass sich die Shuntwahrscheinlichkeit von 80–90 % bei postnatal operierten Kindern auf 46 % bei pränataler Operation signifikant reduzierte [22, 23]. Bis 2003 wurden mehr als 200 ungeborene Kinder mit MMC fetal operiert. Das durchschnittliche Gestationsalter dieser Patienten bei Geburt war 34 + 4 Wochen. Vier

2.4 Fetale Chirurgie bei Spina bifida | 41

Neugeborene verstarben aufgrund der Frühgeburtlichkeit [22–24]. 57 % der fetal operierten Kinder zeigten eine bessere motorische Funktion der unteren Extremitäten als aufgrund der Läsionshöhe bei postnataler Operation zu erwarten gewesen wäre [24]. Dagegen wurden natürlich auch die Probleme der fetalen Chirurgie, wie erhöhte Frühgeburtlichkeitsrate oder fetaler bzw. perinataler Tod des Kindes, aber auch Risiken für die Mutter evident [25, 26]. Diese Daten bildeten die Grundlage für die „Management of Myelomeningocele Study“ (MOMS), die die Evidenz für die pränatale Therapie in einer prospektiv randomisierten Studie schaffen sollte.

2.4.4 Management of Myelomeningocele Study Der MOMS-Trial [3] startete im Februar 2003. Ziel der Studie war es, je 100 Patienten prospektiv randomisiert in die Kontrollgruppe (postnatale Operation) bzw. in die Studiengruppe (fetale Operation) einzuschließen. Die Haupt-Outcome-Kriterien bildeten die fetale und neonatale Sterblichkeit und die Notwendigkeit einer Shuntversorgung des Kindes während des 1. Lebensjahres. Im Weiteren wurden die mentale und motorische Entwicklung im Alter von 30 Monaten verglichen. Die Studie wurde im Dezember 2010, nachdem 183 Patienten randomisiert worden waren, aufgrund der eindeutig besseren Resultate nach fetaler Operation vorzeitig abgebrochen (Randomisierung ethisch nicht weiter vertretbar). Die für den MOMS-Trial festgelegten Ein- und Ausschlusskriterien (Tab. 2.3) sind auch diejenigen, die im Wesentlichen heute weltweit für fetale Spina-bifida-Chirurgie Gültigkeit haben. 2.4.4.1 Präoperative Abklärungen Die präoperativen Abklärungen beinhalten eine abdominale und vaginale Sonografie, ein fetales MRI und eine fetale Echokardiografie. Im Weiteren sind eine Amniozentese zum Ausschluss von genetischen Auffälligkeiten und serologische Abklärungen notwendig. Qualifizieren die Schwangere und ihr Kind für den Eingriff, erfolgt ein interdisziplinär geführtes, nicht direktives Aufklärungsgespräch mit beiden Eltern, bei dem der mutmaßliche Verlauf nach pränataler dem nach postnataler Versorgung gegenübergestellt werden und bei dem sämtliche relevanten maternellen und fetalen Risiken besprochen werden. Mit diesen Kenntnissen ist das Paar (und letztlich die Mutter!) in der Lage, eine „informed decision“ zu fällen. Selbstverständlich muss die erwähnte finale Abklärung und das Aufklärungsgespräch durch das die Behandlung durchführende Team erfolgen. Die fetale Operation darf zwischen der 19. und 26. Schwangerschaftswoche (SSW) durchgeführt werden, wobei nach Möglichkeit ein Datum im Bereich der 23–24 SSW avisiert wird.

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Tab. 2.3: Ein- und Ausschlusskriterien. Einschlusskriterien

Ausschlusskriterien

– Myelomeningozele (oder Myeloschisis) zwischen Th1 und S1 mit Hindbrain-Herniation (bestätigt durch Ultraschall und MRI) – Mutter älter als 18 Jahre – Gestationsalter für Operation zwischen 19 SSW und 26 SSW – Normaler Karyotyp des Feten

– – – – – – – – – –

– – – – – –

Mehrlingsschwangerschaft Gestationsdiabetes Weitere fetale Anomalien außer MMC Fetale Kyphose > 30 Grad Cerclage oder Anamnese für inkompetente Zervix Plazenta praevia oder Plazentaablösung Kurze Zervix (< 20 mm) Übergewicht (BMI > 35) Frühere Frühgeburtlichkeitsprobleme Maternal-fetale Rh-Isoimmunisation, Kelly-Sensibilisierung oder Anamnese einer neonatalen alloimmunen Thrombozytopenie Mütterlicher HIV oder Hepatitis-B-Status positiv Positiver Hepatitis-C-Status Uterine Anomalien (große oder multiple Fibrome) Andere mütterliche Kontraindikationen für einen elektiven Eingriff Psycho-soziale Auffälligkeiten der Mutter Mütterliche Hypertension mit erhöhtem Risiko für eine Präeklampsie bzw. Frühgeburtlichkeit

2.4.4.2 Operatives Vorgehen Die materno-fetale Operation findet in einer tiefen Allgemeinnarkose kombiniert mit einer epiduralen Anästhesie statt. Der Uterus wird durch eine tiefe quere Laparatomie exponiert. Anschließend wird mittels Ultraschall die Lage des (500–600 g schweren) Fetus und der Plazenta bestimmt. Dann wird der Fetus so positioniert, dass die Läsion in den Bereich der Hysterotomie zu liegen kommt. Eröffnen der Uteruswand so, dass ein Stapler eingebracht und mit diesem die Hysterotomie vorgenommen werden kann (Abb. 2.7). Während der gesamten Operationszeit wird das Fruchtwasser durch körperwarmes Ringerlaktat ersetzt. Ebenfalls erfolgt während des gesamten Eingriffs eine echokardiografische Realtime-Überwachung des Feten. Die fetale MMC wird anschließend in üblicher Weise verschlossen (fetale Operationszeit durchschnittlich 30 Minuten). Vorerst wird die Zona epithelioserosa exzidiert (Abb. 2.8). Dadurch legt sich das Myelon in den offenen Spinalkanal. Die Dura wird identifiziert, freipräpariert und dann über der neuralen Plakode verschlossen. Anschließend werden bilateral paraspinal myofasziale Türflügel-Lappen gebildet, in die Mitte geschlagen und als weitere Schutzschicht über dem Rückenmark vernäht. Abschließend erfolgt der fetale Hautverschluss (Abb. 2.9). Danach Verschluss des Uterus und des mütterlichen Abdomens.

2.4 Fetale Chirurgie bei Spina bifida | 43

Abb. 2.7: Intraoperative Ansicht einer fetalen Myelomeningozele mit dem offen exponierten nicht neurulierten Rückenmark (Pfeil).

2.4.4.3 Wichtigste Resultate des MOMS-Trials Ausgewertet wurden die Daten von 158 Patienten (keine mütterliche Mortalität). Das Risiko für Schwangerschaftskomplikationen war in der pränatalen Gruppe erhöht. Die häufigsten Komplikationen waren ein Oligohydramnion, Membranablösung, Plazentaablösung und ein vorzeitiger Blasensprung. Bei einem Drittel der pränatal operierten Frauen zeigte sich bei Geburt eine Uterusdehiszenz oder eine dünne Narbe im Bereich der ehemaligen Uterotomie. Die fetal operierten Kinder kamen mit einem durchschnittlichen Gestationsalter von 34 + 1 SSW, die postnatal versorgten mit 37 + 3 SSW auf die Welt. Die vorgeburtlich operierten Kinder zeigten jedoch signifikant bessere Resultate: Die Shuntrate betrug nach fetaler Operation 40 %, verglichen mit 82 % bei postnatal operierten Kindern (p < 0,001). Im Alter von 30 Monaten war die Fähigkeit zum selbstständigen Gehen bei den pränatal operierten Kindern mit 42 % gegenüber 21 % in der postnatalen Gruppe signifikant höher. Auch die Ergebnisse verschiedener kognitiver bzw. psychomotorischer Tests waren in der pränatalen Gruppe besser oder gleich gut, niemals jedoch schlechter als in der postnatalen Gruppe.

2.4.4.4 Risiken der fetalen Chirurgie Die Hauptproblematik liegt (unabhängig davon, ob offen oder endoskopisch operiert wird!) in der Tatsache, dass am schwangeren Uterus mit seinen besonderen anatomischen und physiologischen Charakteristika operiert werden muss und dass danach die Schwangerschaft idealerweise noch über etwa 3 Monate „normal“ weitergehen sollte. Hier sind die „wunden Punkte“: Manipulationen, insbesondere formelle chirurgische Aktionen wie z. B. Inzision oder Naht lösen unweigerlich Kontraktionen aus, die einer immediaten medikamentösen Therapie bedürfen. Sind die Wehen nicht beherrschbar, kommt es unweigerlich zur Entbindung (Frühgeburt!). Der schwangere Uterus ist extrem gut durchblutet, chirurgisch provozierte Blutungen sind entsprechend stark, u. U. nur sehr schwer beherrschbar und schlimmstenfalls bedrohlich. Die Eihäute sind nur sehr lose untereinander und mit der Uteruswand verbunden, sie sind sehr fragil und nicht wirklich heilungsfähig. Die Gefahr von intraoperativen bzw. postoperativen Rissen, flächigen Blutungen, Fruchtwasserleckagen, namentlich im

44 | 2 Schwangerschaft und Geburt

(a)

(b)

(c)

(d)

(e)

(f)

(g)

Ependym

Epidermis

Myelon

Dermis

Pia Mater

Muskel

Arachnoidalraum

Wirbelkörper

Dura Mater

Abb. 2.8: Schematische Darstellung des fetalen Rückenverschlusses. (© Thieme). (a) Querschnitt durch eine lumbale MMC-Läsion, (b) Exzision der Zona epithelioserosa, (c) Tubularisation des Myelons durch Verschluss der Pia mater, (d) Verschluss der Dura mater, (e) Mobilisation der Haut und Bildung der muskulofaszialen Lappen, (f) Decken des tubularisierten Myelons durch muskulofasziale Lappen, (g) Hautverschluss.

2.4 Fetale Chirurgie bei Spina bifida | 45

Abb. 2.9: Intraoperative Ansicht des rekonstruierten fetalen Rückens nach Hautverschluss.

Bereich der vormaligen Hysterotomie, und dann die Gefahr von sekundären Infekten ist also entsprechend groß und wird durch den im weiteren Verlauf wachsenden Uterus (Zug- und Dehnungskräfte!) noch akzentuiert. Alle diese komplikativen Ereignisse haben ein hohes Risiko, dass es zur vorzeitigen Geburt mit schlimmstenfalls extremer Frühgeburtlichkeit des Kindes kommt. Eine weitere relevante Problematik ist die intraoperative fetale Bradykardie. Deren Ursachen sind hauptsächlich eine zu tiefe Narkose [27], eine Nabelschnurkompromittierung durch Abknickung, zuviel/zuwenig Fruchtwasser, Kontraktionen, eine Plazentalösung und eine starke fetale Blutung. Ursachenbehebung und pharmakologische sowie allenfalls mechanische Reanimation sind die (meist erfolgreichen!) Sofortmaßnahmen.

2.4.5 Minimal-invasive fetale Chirurgie bei MMC Die ersten Versuche eines minimal-invasiven fetalen MMC-Verschlusses wurden durch Bruner et al. [28] und Farmer et al. [29] in den USA unternommen. Beide Gruppen haben diese Technik wegen inakzeptabler Komplikationen und schlechter Resultate wieder aufgegeben. Sie wird allerdings seit Jahren in Deutschland und neuerdings auch in Brasilien durchgeführt, allerdings ohne jede Evidenz dafür, dass die fetoskopische Methode wenigstens gleich gute Resultate erbringt wie die Benchmark-Resultate der klassischen offenen Operation [30].

2.4.6 Zürcher Erfahrungen Am Zentrum für fetale Diagnostik und Therapie der Universität Zürich, das gemeinsam von der Klinik für Geburtshilfe des Universitätsspitals Zürich und der Chirurgischen Klinik des Universitäts-Kinderspitals Zürich betrieben wird, sind seit 2010 (Eröffnung

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des fetalchirurgischen Programms) 84 fetal-maternelle Operationen bei MMC (Stand April 2018) durchgeführt worden [31]. Prinzipiell werden die Abklärungen, die danach erfolgende nicht direktive pränatale Beratung sowie das gesamte perioperative Management und namentlich auch die Operation selbst nach den Kriterien und Vorgaben der MOMS gemacht. Sämtliche Patienten werden postnatal im Spina Bifida Zentrum des UniversitätsKinderspitals Zürich einer standardisierten und bis zum Übertritt in die Erwachsenenmedizin laufenden Nachkontrolle unterzogen, die sämtliche somatischen, kognitiven und psychosozialen Problembereiche im Sinne einer prospektiven Studie untersucht und für die nachmalige wissenschaftliche Auswertung dokumentiert. Aufgrund der aktuellen Zürcher Datenlage sind die Resultate in der Gesamtsicht praktisch identisch mit denen des MOMS-Trials. Dies zeigt konklusiv auf, dass die heute gültigen Benchmark-Resultate in entsprechend ausgerüsteten Zentren und durch entsprechend ausgebildete und erfahrene Teams auch außerhalb der MOMSTrial-Zentren erzielt werden können.

2.4.7 Zukunft Die zwei prioritären Ziele bestehen darin, die mütterliche und fetale Morbidität durch den Eingriff zu senken und das neurologische Outcome des Feten bzw. des Neugeborenen weiter zu verbessern. Diesen beiden Anforderungen könnten am ehesten minimal-invasive und zu einem deutlich früheren Zeitpunkt als heute erfolgende Verfahren gerecht werden. Durch komplikationsarme, fetoskopische oder ultraschallgesteuerte Methoden könnte es möglich werden, beispielsweise einen Tissue-engineerten Gewebeersatz so auf die Läsion zu applizieren, dass ein wasserdichter Verschluss und dadurch eine optimale Protektion des vormals offen exponierten Rückenmarks erreicht werden kann. Bestenfalls könnte dank zell- oder faktoreninduzierter neuraler Plastizität nicht nur ein besserer Funktionserhalt, sondern sogar eine Funktionsoptimierung möglich werden [31].

2.4.8 Schlusswort Aufgrund der MOMS-Daten stellt die offene fetale Chirurgie eine neue Therapieoption bei MMC dar unter der Bedingung, dass sowohl die medizinischen als auch personellen und infrastrukturellen Voraussetzungen für diese anspruchsvolle Therapie erfüllt sind. Dabei ist zu beachten, dass die intrauterine Operation weder eine vollständige Heilung bewirken kann noch risikolos oder komplikationsfrei ist. Auch fehlen noch Langzeitstudien, die die Dauerhaftigkeit dieser Erfolge bestätigen.

2.4 Fetale Chirurgie bei Spina bifida | 47

Dennoch bietet die offene fetale Chirurgie nach heutigem Wissen die Chance, in einigen Bereichen das Ausmaß der Behinderung des Ungeborenen zu vermindern. Aus diesem Grund sollten Frauen, die ein Kind mit MMC erwarten, rechtzeitig in der Schwangerschaft über die Option einer vorgeburtlichen Behandlung informiert werden.

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Robert Armbrust und Wolfgang Henrich

2.5 Geburtshilfliches Vorgehen Der optimale Geburtsmodus mit den Vor- und Nachteilen bei einer pränatal diagnostizierten Spina bifida wird in der Literatur und in Fachgesellschaften kontrovers diskutiert [1]. Trotz des häufig einheitlichen Vorgehens im Expertenkonsensus fehlen bisher Leitlinien mit einem hohen Evidenzlevel. Viele Empfehlungen zum Geburtsmodus beziehen sich auf unizentrische, ältere Arbeiten mit z. T. diskussionswürdiger Methodik [1]. Es fehlen bisher prospektiv randomisierte Studien. Im Zentrum der Debatte steht häufig eine potentielle Erhöhung der Gefahr einer neurologischen Schädigung oder gar das direkte Trauma selbst durch eine vaginale Geburt. Dabei stützt sich diese Schlussfolgerung häufig auf die Theorie, dass während

2.5 Geburtshilfliches Vorgehen | 49

der Passage durch den Geburtskanal ein Zug auf die Plakode einwirkt und dies zu einer weiteren Funktionseinschränkung durch Nervenschädigung führen könnte. Im Gegensatz dazu zeigen andere Studien, dass allein die Geburt und nicht der Zug für das Defizit verantwortlich sein könnte. Des Weiteren wurde beobachtet, dass Kinder, die vaginal geboren wurden, postnatal häufig keine Motorik in der unteren Extremität haben, obwohl dies pränatal sonografisch beschrieben worden war [2–6]. Luthy et al. [3] verglichen die neurologischen Ergebnisse von Kindern mit Spina bifida nach 2 Jahren hinsichtlich des Geburtsmodus: Sie konnten eine signifikant bessere motorische Funktion der unteren Extremitäten bei den durch primäre Sectio geborenen Kindern nachweisen. Es gibt allerdings auch eine Reihe von Studien, die bei Kindern mit einer pränatal diagnostizierten Myelomeningozele keinen Vorteil des Kaiserschnitts hinsichtlich der motorischen Funktion finden konnten [7–11]. Häufig hängt die Entscheidung auch davon ab, ob ein Hydrocephalus mit einer Makrozephalie vorliegt und dieser zu einem zephalopelvinen Geburtshindernis werden könnte. Weiterhin ist zu beachten, dass ca. zwei Drittel aller Kinder mit einer Spina bifida in Beckenendlage liegen. Außerdem sollte bedacht werden, dass es durch eine vaginale Geburt zu Ulzerationen und Verletzungen der Myelomeningozele und dies zu Infektionen führen kann [12]. Im Falle einer Sectio caesarea ist dieses Risiko neben den direkten Verletzungsrisiken sicher geringer und es wird eine sterile Abdeckung nach Kindsentwicklung vorgenommen. Ein Bonding bzw. der frühe Haut-zu-Haut-Kontakt, beides essentiell für die Mutter-Kind-Bindung, ist auch im Rahmen eines Kaiserschnitts möglich und empfehlenswert [13]. Generell sollten latexfreie Handschuhe bei der Geburt verwendet werden [14]. Es wird davon ausgegangen, dass bis zu 72 % aller Kinder mit einer Spina bifida eine Latexallergie entwickeln können [5, 15, 16]. Ätiologisch scheint hier vor allem die wiederholte Exposition gegenüber Latex, z. B. durch häufige operative Eingriffe und andere kleinere Eingriffe eine Rolle zu spielen [17–19].

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50 | 2 Schwangerschaft und Geburt

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Sevgi Sarikaya-Seiwert

2.6 Postnatale neurochirurgische Erstversorgung 2.6.1 Elternaufklärung Bei bereits pränatal festgestellter MMC erfolgt frühzeitig eine neurochirurgische Vorstellung der Eltern. In einem ersten Gespräch können neben der zu erwartenden Prognose auch die operativen Versorgungstechniken der MMC und ihre Risiken erläutert werden. In einem zweiten Gespräch 3–4 Wochen vor der Geburt kann das Aufklärungsgespräch bei Bedarf vertieft werden. Möglichst frühzeitig nach der Geburt und in

2.6 Postnatale neurochirurgische Erstversorgung

|

51

Kenntnis des kompletten Befunds (neurologisches Niveau, sonografische Abklärung spinaler Begleitfehlbildungen, Ausmaß des Hydrocephalus, klinische Hinweise auf Chiari-Malformation oder andere Begleitfehlbildungen) sollte die schriftliche Aufklärung durch den Operateur erfolgen. Idealerweise sollte die Entbindung in dem Zentrum erfolgen, in dem auch die Erstversorgung des Kindes stattfindet. Falls pränatal die Diagnose nicht gestellt wurde, sollten das Kind und die Mutter so zeitnah wie möglich in ein Zentrum verlegt werden, in dem die vollständige chirurgische Versorgung gewährleistet ist. Angestrebtes operatives Ziel ist zunächst der Zelenverschluss innerhalb von 48 Stunden, idealerweise innerhalb von 24 Stunden. Bei unzureichender Vorinformation der Eltern muss die Operationsaufklärung in eine umfassende Basisinformation eingebettet werden. Dabei steht nicht die juristisch motivierte Risikoaufklärung im Vordergrund. Vielmehr sollte das Ziel des Gesprächs eine Information über die Bedeutung des Eingriffs für das Kind, den Eingriff selbst, seine Vorbereitung und Nachbehandlung sein. Den Eltern sollte nie der Eindruck vermittelt werden, sie müssten unter Zeitdruck entscheiden. Sind die Eltern nicht vorinformiert, ist oft ein zweiter präoperativer Gesprächstermin sinnvoll. Die freie, überlegte Entscheidung für das Kind und damit für den Zelenverschluss ist sehr wichtig für die Familie und die weitere Zusammenarbeit.

2.6.2 Operation der MMC Bis zur Operation sollte der Patient in Bauchlage gelagert werden. Die Plakode ist mit sterilen, NaCl-getränkten Kompressen feucht zu halten. Weiterhin empfiehlt sich eine antibiotische Abdeckung des Kindes. Die Operation erfolgt im vorgeheizten OPSaal. Sinnvoll gegen Auskühlung ist eine Infrarotlampe als Wärmequelle und/oder Einpacken des gesamten Kindes bis auf die Operationsregion. Das Neugeborene wird in Bauchlage am besten auf Gelkissen mit Thorax- und Beckenrolle gelagert. Danach wird das Operationsfeld großflächig inklusive Gesäß und Flanken mit vorgewärmtem Desinfektionsmittel abgewaschen und abgedeckt. Potentiell neurotoxisches Desinfektionsmittel darf nicht auf die Zele aufgetragen werden. Alle im OP verwendeten Materialien müssen latexfrei sein. Die mikrochirurgische Operationstechnik ermöglicht die optimale Schonung der vaskulären Versorgung der neuralen Strukturen, die sichere Differenzierung der Gewebeschichten (Reduktion der Häufigkeit von Einschlusstumoren) und die Präparation der oft sehr dünnen Dura ohne Perforation. Um Subcutis und Cutis zu schonen sollte zur Blutstillung nur sehr schwach eingestellte bipolare Koagulation verwendet werden. Kleinere Blutungen am Plakodenrand sistieren unter Spülung spontan.

52 | 2 Schwangerschaft und Geburt

2.6.2.1 Präparationsschritte Die Abb. 2.10(a) und (b) zeigen die noch unversorgte Zele nach der Geburt. Zunächst erfolgt über einen aus dem proximalen Pol der Zona epitheliosa nach kranial geführten Hautschnitt die Darstellung und Erweiterung der fehlbildungsbedingten Faszienlücke nach kranial zur Darstellung der intakten Dura kranial der Fehlbildung. Unter Umständen muss dazu der letzte geschlossene Wirbelbogen angefräst werden. Nun kann im ersten Schritt die Zele entlang der intakten Dura epidural umschnitten werden (Abb. 2.11(a), (b)). Dabei sollte im Übergang zur Zona epitheliosa möglichst wenig Haut geopfert werden. Nach Isolierung des Zelensackes wird wiederum von kranial kommend die Zona epitheliosa eröffnet und unter Schonung der Hinterwurzeln von der Plakode getrennt. Kaudal ist ein evtl. vorhandenes pathologisches Filum terminale zu durchtrennen (Abb. 2.12(a), (b)).

Dura

(a)

Plakode

(b)

Abb. 2.10: (a) Unversorgte Myelomeningozele nach der Geburt; (b) Skizze der unversorgten Myelomeningozele nach der Geburt.

Die Pia-Arachnoidea-Naht der Plakodenränder („Neuralrohradaptation“, Fadenstärke 9 × 0 oder 10 × 0) schafft eine glatte Myelonoberfläche und reduziert die Ausdehnung des sekundären Tetherings. Das Risiko späterer neurologischer Verschlechterungen wird dadurch jedoch nicht entscheidend gesenkt (Abb. 2.13(a), (b)). Bei voluminöser Plakode und flachem Spinalkanal sowie wenig Material zur plastischen Deckung kann auf die Plakodennaht verzichtet werden. Gelingt die Mobilisierung der verbliebenen Dura nicht ausreichend, muss mit einer allogenen Duraplastik die Dura liquordicht verschlossen werden (Abb. 2.14(a), (b)). Die Rekonstruktion einer zusätzlichen Faszienschicht wird unterschiedlich beurteilt. Vorteilhaft ist sie bei undichtem Duralsack und eher dürftigen Verhältnissen von Haut und subkutanem Fettgewebe. Nachteilig ist ein zu enger Faszienverschluss, der möglicherweise komprimierend auf das Rückenmark wirkt. Die Fascia lumbodorsalis kommt nach Abpräparation der Dura breitflächig zur Darstellung. Die Faszienlappen

2.6 Postnatale neurochirurgische Erstversorgung

Plakode

(a)

|

53

erster, umlaufender Schnitt

(b)

Abb. 2.11: (a) Abpräparation der Area epithelioserosa; (b) Skizze zur Abpräparation der Area epithelioserosa.

Dura Plakode Faszie

(a)

Hautlappen

(b)

Abb. 2.12: (a) Zelenverschluss; Zustand nach Lösen/Umschneiden des Rückenmarks; (b) Skizze zum Zelenverschluss; Zustand nach Lösen/Umschneiden des Rückenmarks.

können angelegt, von lateral mobilisiert und über den Spinalkanal geschlagen werden (Abb. 2.14(a), (b)). Durch Umschneidung der Zele am Übergang zur normalen Haut entsteht ein etwas größerer Hautdefekt als primär gemessen. Es ist wichtig, diesen Hautdefekt spannungsfrei zu verschließen. Durch weiträumige Mobilisation subkutan ggf. nach lateral bis in die Flanken sowie gluteal streng auf der Faszie gelingt es nahezu immer, die Zele primär mit Subkutannähten und Hautnähten zu verschließen. In sehr seltenen Fällen erfordert die Deckung der Zele eine plastische Verschiebeplastik. Wenn dies absehbar ist und keine eigene Erfahrung besteht, müssen plastische Chirurgen konsultiert werden. Das Ziel sollte immer ein primärer Verschluss sein, um Wundheilungsstörungen mit sekundären Infektionen zu vermeiden. Die Tab. 2.4 fasst die Therapiemöglichkeiten und Komplikationen zusammen.

54 | 2 Schwangerschaft und Geburt

Tab. 2.4: Neurochirurgische Komplikationen und ihre Therapiemöglichkeiten bei Spina bifida (Übersicht).

früh

verzögert

spät

Komplikationsart

Ursachen, Risikofaktoren

Prophylaxe, Therapie

neurologische Verschlechterung

neurotoxisches Desinfektionsmittel, Verletzung neuraler Strukturen bei Plakodenumschneidung, Zug an der Plakode bei der Präparation, Kompressionswirkung bei zu engem Zelenverschluss Intra-/epidurale Blutungen

subtile mikrochirurgische Technik, Rekonstruktion eines ausreichend weiten Liquorraumes

Wundheilungsstörung

Zelengröße, Kyphose, zu große Spannung der Wundränder, Devaskularisation der Haut

plastisch-chirurgische Deckungsverfahren, Kyphektomie Ausgleich der katabolen postoperativen Stoffwechselsituation

Meningitis, Wundinfektion

rupturierte, großflächige Zelen, späte Versorgung (nach 72 h), Wundheilungsstörung, Liquorfistel

Früherkennung wichtig (cave: oft afebril, ohne Leukozytose), Liquorpunktion ventrikulär, lokal falls möglich. Breitbandantibiose

Liquorfistel

insuffiziente Duranaht, ungünstige Hautsituation, druckaktiver Hydrocephalus

lokale Punktionen subkutan, Ventrikelpunktion, externe Ventrikeldrainage, Shunt erst nach Fistelverschluss

Chiari-II-Symptome

druckaktiver Hydrocephalus

1. Shunt, 2. okzipitozervikale Dekompression

Shuntinfektion

Frühgeborene, Wundheilungsstörung nach Zelenverschluss, vorangegangene Infektion

meist 1–2 Wochen nach Implantation externe Drainage, Liquorsanierung

nekrotisierende Enterokolitis

häufiger bei Kindern mit Zelen durch Subileusneigung, Frühgeborene

Wirbelsäuleninstabilität nach Kyphektomie

Ausriss des Fixationsmaterials aus dem weichen Knochen

sekundäres Tethered cord

sehr zurückhaltende Indikationsstellung, postoperative Immobilisation über mehrere Monate Detethering nur bei klinischer Verschlechterung

2.6 Postnatale neurochirurgische Erstversorgung

Plakode

(a)

| 55

DuraSchnitt

(b)

Abb. 2.13: (a) Rekonstruktion der Dura mater; (b) Skizze zur Rekonstruktion der Dura mater.

Dura

FaszienSchnitt (a)

(b)

Knochendefekt

Abb. 2.14: (a) Rekonstruktion einer Faszienschicht; (b) Skizze zur Rekonstruktion einer Faszienschicht.

2.6.3 Postoperative Betreuung und Pflege Die Wunde erhält optional einen einfachen Pflasterverband, damit die Hautdurchblutung jederzeit kontrolliert werden kann. Bei grenzwertiger Blutversorgung kann durch stündliches Ausstreichen der Haut zur Naht hin die Versorgung unterstützt werden. Wundprobleme können in Form von Wundrandnekrosen durch zu große Hautspannung oder Devaskularisation (eher venöse Abflussstörung) auftreten. Bei rasch progredientem Hydrocephalus oder insuffizientem Duraverschluss können sich ein Liquorpolster oder eine Liquorfistel ausbilden. Wunddehiszenzen oder Liquorfisteln, in geringerem Maße auch Hautnekrosen, erhöhen das Risiko der Wundinfektion und Meningitis. Der Artikel basiert auf der Arbeit von J. Krauß in der 1. Auflage.

56 | 2 Schwangerschaft und Geburt

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3 Zentrales Nervensystem 3.1 Zerebrale Fehlbildungen 3.1.1 Hydrocephalus PD Dr. med. Arpad von Moers 3.1.1.1 Klinik Bei der großen Mehrzahl der Patienten mit einer Spina bifida besteht ein Hydrocephalus. Es werden der shuntpflichtige Hydrocephalus und der arretierte Hydrocephalus unterschieden. Die Häufigkeit und die Art des Hydrocephalus stehen im Zusammenhang mit dem Vorhandensein einer Chiari-II-Malformation (CM II). Liegt ein shuntpflichtiger Hydrocephalus vor, haben 93 % eine CM II, bei einem arretierten Hydrocephalus haben nur 13 % eine CM II, 56 % keinen Hydrocephalus und 31 % eine CM I. In der Gruppe ohne Hydrocephalus haben 84 % keine CM II. Das Ausmaß der Gehbehinderung (Läsionshöhe) und die Art des Hydrocephalus sind miteinander verknüpft. Patienten ohne Hydrocephalus sind ohne/mit Unterstützung gehfähig, Patienten mit shuntpflichtigem Hydrocephalus sind zu 30 % nicht gehfähig [1]. Als ursächlich werden die Liquorzirkulationsstörung, die meist in Höhe des 4. Ventrikels lokalisiert ist, aber auch auf einer Aquäduktstenose basieren kann, eine Änderung der venösen Hämodynamik und ependymale Veränderungen angesehen. Der operative Verschluss der Zele kann die Dynamik der Ausprägung der Ventrikelerweiterung beschleunigen [2]. Eine Sonderform des Hydrocephalus ist der isolierte 4. Ventrikel [3]. Die klinische Symptomatik des shuntpflichtigen Hydrocephalus ist abhängig vom Lebensalter. Die akut/subakut gestörte Liquorzirkulation führt in den ersten Lebensmonaten bei offenen Schädelnähten zunächst zu einer Volumenzunahme, die durch ein Perzentilen-flüchtiges Kopfwachstum auffällt. Die Fontanellen sind weit geöffnet und können vorgewölbt sein, es können klaffende Schädelnähte getastet werden. Es erfolgt ein dysproportioniertes Schädelwachstum mit Betonung des Hirnschädels und ausladender, vorgewölbter Stirn. Durch den Druck auf die Lamina quadrigemina kann es zu einem sog. Sonnenuntergangsphänomen kommen, das Ausdruck einer vertikalen Blickparese mit Bulbuswendung nach kaudal (Parinaud-Syndrom) ist. Eine Schluckstörung kann zu einer Gedeihstörung führen. Nach Verschluss der Schädelnähte steht der rasch zunehmende Kopfumfang nicht mehr im Vordergrund. Es treten die Symptome der akuten/subakuten intrakraniellen Druckerhöhung in den Vordergrund mit Kopfschmerzen, Erbrechen – besonders Nüchternerbrechen oder nächtliches Erbrechen sind ein Warnsignal –, Vigilanzminderung und Hirnnervenparesen. Am häufigsten ist der Nervus abducens (N VI) aufgrund seines langen intrakraniellen Verlaufs betroffen. Auch eine vertikale Blickparese, eine Störung der Pupillomotorik und zerebrale Krampfanfälle sind https://doi.org/10.1515/9783110228748-006

58 | 3 Zentrales Nervensystem

möglich. Als Ausdruck einer Funktionsstörung des Hirnstamms können eine zentrale Atemstörung oder Bradykardien auftreten. Bei dem Vorliegen einer CM II kann sich durch die Beteiligung des Hirnstamms jede Shuntinsuffizienz in kurzer Zeit zu einer lebensbedrohlichen Situation entwickeln. Dies trifft für die Mehrzahl der Patienten zu. Nur bei einer massiven Druckerhöhung kann es im Kleinkindalter zu einer erneuten Öffnung („Sprengung“) der Schädelnähte kommen [1, 2]. Bei einer chronischen Drainagestörung können sich auch weniger spezifische Symptome wie eine Veränderung bzw. Verschlechterung der Blasen- oder Darmfunktion, eine Zunahme der Paresen, eine vermehrte Spastik, Missempfindungen oder eine Visuseinschränkung entwickeln [4]. Es können Störungen in der hypothalamischhypophysären Funktionsachse mit Störung der hormonellen Regulation auftreten [5]. Aufgrund dieser unspezifischen Symptomatik ist bei jeder Änderung des klinischen Befunds immer auch eine Shuntinsuffizienz in Betracht zu ziehen und auszuschließen. In der Regel ist die durch akut erhöhten Druck bedingte Symptomatik eines Hydrocephalus gut behandelbar und reversibel. Es können jedoch auch bei den Patienten mit einem arretierten Hydrocephalus oder ohne Hydrocephalus Beeinträchtigungen kognitiver und motorischer Fertigkeiten, des Sprachvermögens und von Gedächtnisfunktionen bestehen, als deren Ursache chronische Umbauvorgänge mit Volumenreduktion besonders der weißen Substanz, aber auch die supratentoriellen Migrationsstörungen und die Dysmorphien in der hinteren Schädelgrube angenommen werden [6, 7].

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3.1 Zerebrale Fehlbildungen |

59

Karl-Titus Hoffmann und Franz W. Hirsch 3.1.1.2 Bildgebung Bei der Diagnostik und Verlaufsbeurteilung des kindlichen Hydrocephalus ist die MRT wie bei nahezu allen neuropädiatrischen Fragestellungen die bildgebende Methode der ersten Wahl. Die MRT ist – mit Ausnahme von organisatorisch nicht anders durchführbaren Untersuchungen bei Notfällen und einiger weniger Erkrankungen mit der seltenen Notwendigkeit der Beurteilung intrakranieller Verkalkungen oder des knöchernen Schädels – der CT grundsätzlich vorzuziehen. Für die pränatale Diagnostik konnte eine prospektive multizentrische Studie zeigen, dass die diagnostische Genauigkeit der fetalen MRT-Diagnostik der pränatalen Ultraschalldiagnostik in der Fehlbildungsdiagnostik – gerade im Kleinhirnbereich – deutlich überlegen ist. Während der Ultraschallbefund nur in 68 % der Fälle richtig war, traf das auf 93 % der MRT-Befunde zu (Abb. 3.1) [1]. Wenngleich der transkranielle Ultraschall bis zum Verschluss der Fontanellen u. a. eine unkomplizierte Kontrolle von Ventrikelweiten bei Hydrocephaluspatienten ermöglicht, so kann dies auch mit kurzen und relativ komfortablen Untersuchungsprotokollen im MRT durchgeführt werden (Abb. 3.2).

Abb. 3.1: Fetales MRT in der 22 SSW. Eine infratentorielle Fehlbildung liegt hier nicht vor. Massive Erweiterung der Seitenventrikel und des 3. Ventrikels sowie sehr kleiner 4. Ventrikel. Der Befund spricht für eine Aquäduktstenose.

Abb. 3.2: Ultraschallschnitt koronal bei Hydrocephalus. Ein reproduzierbares Maß für das sonografische Monitoring der Ventrikelgröße ergibt die Flächenumfahrung der Seitenventrikel auf Höhe der Foramina Monroi.

60 | 3 Zentrales Nervensystem

Die Ventile ventrikulo-peritonealer Shunts neuerer Bauart sind meist MRT-kompatibel, oft bis zu Feldstärken von 3 Tesla. Eine Überprüfung und Einstellung der Druckstufe im Anschluss an die Untersuchung kann erforderlich sein. Die MRT-Diagnostik des Hydrocephalus erfordert grundsätzlich keine intravenöse Kontrastmittelgabe. Ausnahmen bilden Erst- oder Verlaufsuntersuchungen bei Tumoren oder Entzündungen. Die Aufnahme eines T2-3D-Datensatzes kann hilfreich für eine navigierte Ventrikelpunktion sein. Die Diagnose des Hydrocephalus in der Bildgebung ergibt sich aus der Erweiterung des Ventrikelsystems, wobei nicht alle Ventrikel beteiligt sein müssen. Bei zugrunde liegender Aquäduktstenose kann bei Erweiterung der Seiten- und des 3. Ventrikels eine normale Weite des 4. Ventrikels vorliegen. Ebenso können unregelmäßige, auch unterschiedlich stark ausgeprägte Erweiterungen einzelner Ventrikel infolge von Verklebungen oder Membranen auftreten, die wiederum zur Bildung von Zysten führen können. Eine Besonderheit in der Diagnostik des Hydrocephalus stellt der isolierte 4. Ventrikel dar, der infolge eines posthämorrhagischen Hydrocephalus und einer Shuntanlage auftreten kann und durch eine überproportionale, teilweise raumfordernde Erweiterung gekennzeichnet ist [2, 3]. Besondere Beachtung ist bei der Diagnostik des Hydrocephalus den Strukturen der Mittellinie auf sagittalen Aufnahmen zu widmen, die neben transversalen und ggf. koronaren Schnittbildern zumindest bei der Erstdiagnostik angefertigt werden sollten, um Fehlbildungen korrekt zuzuordnen und (peri-)aquäduktal oder in der hinteren Schädelgrube gelegene Ursachen des Hydrocephalus zu identifizieren, insbe-

(a)

(b)

(c)

Abb. 3.3: (a) Transversaler MRT-Schnitt eines Kindes mit Hydrocephalus bei Arnold-ChiariMalformation mit rechtsseitig parietaler Ableitung (VP-Shunt). (b) Sagittaler Schnitt desselben Kindes mit Arnold-Chiari-Malformation. Typisch sind u. a. die zu kleine hintere Schädelgrube, die tief in den Spinalkanal hineinreichenden Kleinhirntonsillen, die zipflige Ausziehung der Vierhügelplatte und die breite Massa interthalamica. (c) Sagittaler Schnitt desselben Kindes mit Arnold-Chiari-Malformation. Die thorakale Myelomeningozele wurde operativ verschlossen, es liegt noch immer ein Tethering des dysmorphen Myelons vor. Gelegentlich entwickelt sich ein Hydrocephalus bei einer Arnold-Chiari-Malformation erst nach dem Verschluss der Myelomeningozele.

3.1 Zerebrale Fehlbildungen |

61

sondere im Zusammenhang mit der Diagnostik einer Chiari-Malformation (Abb. 3.3) oder einer Dandy-Walker-Malformation (Abb. 3.4), die von einer Blake’s-Pouch-Zyste zu unterscheiden ist (Abb. 3.5).

(a)

(b)

Abb. 3.4: (a) Hydrocephalus bei Dandy-Walker-Malformation. (b) Gleicher Patient mit Dandy-WalkerMalformation. Das Kleinhirn ist hier – im Gegensatz zur Blake’s-Pouch-Zyste – hypoplastisch und nach kranial rotiert. Die hintere Schädelgrube ist vergrößert, es liegt ein Hochstand des Sinus transversus vor. Auch hier deutet der elongierte Boden des 3. Ventrikels auf einen erhöhten Hirndruck hin.

(a)

(b)

Abb. 3.5: (a) Blake’s-Pouch-Zyste: Im Gegensatzt zur Dandy-Walker-Malformation ist der Vermis komplett ausgebildet und nicht nach kranial rotiert. Es handelt sich um eine embryologisch persistierende Stenosierung der Foramina Magendi et Luschkae. Es resultiert ein ektatischer 4. Ventrikel. Häufig liegt ein moderater, nicht progredienter Hydrocephalus vor. Zu beachten ist auch der nach basal elongierte Boden des 3. Ventrikels, der ein relativ sensitives Zeichen für einen erhöhten Hirndruck ist. Der Sinus transversus verläuft weitestgehend normal. (b) Blake’s-Pouch-Zyste postoperativ nach endoskopischer Fensterung des 3. Ventrikels zu den basalen Zysten (Ventrikulostomie). Der dunkel abgebildete Liquorfluss (Flow void) ist jetzt nicht nur im 4. Ventrikel, sondern auch im 3. Ventrikel sowie präpontin zwischen 3. Ventrikel und basaler Zisterne zu sehen.

62 | 3 Zentrales Nervensystem

Auf folgende Merkmale ist insbesondere zu achten: – Morphologie von Aquädukt, Vierhügelplatte und 4. Ventrikel, – hypoplastische hintere Schädelgrube/Lage der Kleinhirntonsillen, – Balkenanomalien (Hypoplasie, Aplasie), s. a. Kapitel 3.1.2.2, – Struktur und Lage des Kleinhirnwurms, – Boden des 3. Ventrikels/mamillopontine Distanz. Eine Aquäduktstenose ist meist bereits an der Obstruktion und der begleitenden Aufweitung des rostralen Aquädukts im T2-gewichteten Bild erkennbar. Es sollten insbesondere bei Erstdiagnostik dünnschichtige Aufnahmen in GleichgewichtsGradientenecho-Technik (u. a. CISS-Sequenzen) angefertigt werden, um auch schmale, im Aquädukt gelegene Membranen identifizieren zu können [4, 5]. In Ergänzung der strukturellen Routinebildgebung können liquorflusssensitive Messungen in Phasenkontrasttechnik oder Gleichgewichtsmagnetisierung die Diagnose einer Aquäduktstenose oder der fehlenden Kommunikation liquorhaltiger Kompartimente, wie beispielsweise beim isolierten 4. Ventrikel, funktionell unterlegen [5, 6]. Bei der Verlaufsbeurteilung einer endoskopischen Drittventrikulostomie kann deren Funktionalität ebenfalls mithilfe flusssensitiver MRT-Sequenzen umfassender beurteilt werden [7]. Als numerische Größe für die Quantifizierung und Verlaufskontrolle des Hydrocephalus kann analog zur CT-Diagnostik der Evans-Index im transversalen MRT-Bild als Quotient aus der maximalen Weite der Seitenventrikelvorderhörner und der in gleicher Schicht gemessenen maximalen lateralen Distanz zwischen der Tabula interna der Schädelkalotte dienen. Über die visuelle Bildanalyse hinaus können beim Hydrocephalus mit der MRDiffusionstensor-Bildgebung mikrostrukturelle Veränderungen der weißen Substanz nachgewiesen werden, die einerseits als Folge axonaler Degeneration und andererseits als Ausdruck subtiler, auch reversibler Verdünnungseffekte gewertet werden [8, 9].

Literatur [1]

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Dhani C. Schuster und Michael J. Fritsch 3.1.1.3 Indikation und Therapie Etwa die Hälfte aller Patienten mit Neuralrohrdefekten weisen einen behandlungsbedürftigen Hydrocephalus auf. Als Ursache dafür werden sowohl eine Aufwärtsherniation des Vermis cerebelli durch das Tentorium bei zu kleiner hinterer Schädelgrube mit daraus resultierender relativer Aquäduktstenose als auch das Vorliegen einer ChiariII-Malformation mit relativer Raumnot im Foramen magnum und im oberen zervikalen Spinalkanal mit konsekutiver Störung der Liquorzirkulation (Abb. 3.6) diskutiert [1].

Abb. 3.6: MRT sagittal, T2-gewichtet. Darstellung der hinteren Schädelgrube mit ausgeprägter Chiari-II-Malformation. Erkennbar ist sowohl die relative Aquäduktstenose als auch die Verlegung des Foramen magnum und des oberen Spinalkanals durch Kleinhirntonsillen.

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Klinisch sprechen das Vorliegen oder die Progredienz folgender Zeichen für einen Hydrocephalus: – gespannte oder vorgewölbte vordere Fontanelle, – perzentilenflüchtiges Kopfumfangswachstum, – klaffende Schädelnähte, – Sonnenuntergangsphänomen, – Unruhe, Reizbarkeit, – Einschränkungen in der Nahrungsaufnahme (Saugen und Schlucken), – Entsättigung, Apnoe. Die bildgebende Diagnostik beruht wesentlich auf der Sonografie. Postnatal ist bei fast allen Patienten mit Spina bifida eine Erweiterung der Seitenventrikel zu verzeichnen. Dabei sind die Okzipitalhörner stärker dilatiert als die Frontalhörner [2]. Der maximale Durchmesser des Seitenventrikels in Höhe des Trigonums (> 26 mm) und die maximale Distanz zwischen den beiden Nuclei caudati (> 20 mm) gelten als Indikatoren für eine Operationsindikation [3, 4]. Die Computertomografie ist für die Routinediagnostik beim kindlichen Hydrocephalus obsolet und lediglich der akuten Notfalldiagnostik vorbehalten. Die Magnetresonanztomografie spielt eine entscheidende Rolle bei der Diagnostik und Nachsorge des Hydrocephalus im Kindesalter. Eine Sedierung oder Narkose ist bei jüngeren Kindern aufgrund der durch Bewegung verursachten Qualitätsverluste allerdings häufig erforderlich. Die MRT bietet die Möglichkeit, detailliert sowohl die zerebralen anatomischen Strukturen als auch den Liquorfluss darzustellen. Die Indikation zur Operation ergibt sich aus der klinischen Symptomatik und ihrer Dynamik (Progredienz) in Zusammenschau mit der Bildgebung. Am Beginn der Behandlung steht der operative Verschluss der Spina bifida aperta. Grundsätzlich gibt es die Option, dies pränatal (in wenigen ausgewählten Zentren) oder postnatal durchzuführen [5] (Abb. 3.7 und 3.8). Der Hydrocephalus kann entweder simultan zur postnatalen plastischen Deckung oder im Intervall versorgt werden. Diese zeitliche Zuordnung der Operation wird kontrovers diskutiert und in verschiedenen Kliniken verschieden gehandhabt. Für die

Abb. 3.7: Myelomeningozele in Höhe des 2.–4. Lendenwirbelkörpers.

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Abb. 3.8: Zustand nach plastischer Deckung.

gleichzeitige Versorgung spricht eine zu erwartende schnellere Heilung der Wunde am Rücken bei vermindertem Risiko für eine Liquorfistel, das Vermeiden einer zweiten Narkose, der Schutz des Hirns vor den Effekten des sich entwickelnden Hydrocephalus und die Verkürzung der Krankenhausaufenthaltsdauer [6–8]. Gegen eine gleichzeitige Versorgung spricht das erhöhte Risiko für eine Shuntinfektion oder -fehlfunktion. Grund dafür ist die Unreife und Vulnerabilität des Neugeborenen und wahrscheinlich ebenfalls die mögliche Kontamination des Liquors durch den offenen Spinalkanal. Insbesondere bei Kindern, die nicht im Krankenhaus geboren sind sollte ein zweizeitiges Vorgehen und mindestens ein Abstand von 10 Tagen zwischen den Operationen liegen [8–10]. Im deutschsprachigen Raum kann man allerdings davon ausgehen, dass Kinder mit einer pränatal diagnostizierten MMC in einer spezialisierten Klinik entbunden werden. Im zeitlichen Intervall bis zur definitiven Versorgung des Hydrocephalus können folgende temporäre Maßnahmen zur Anwendung kommen: – externe Ventrikeldrainage (EVD), – Punktionsreservoir (Ommaya oder Rickham). Beide Verfahren haben Vor- und Nachteile. Bezüglich der Faktoren Obstruktion, Infektion, Stabilität der Ventrikelweite, neurologisches Outcome, Mortalität und Revisionrate bestehen zwischen den Optionen keine signifikanten Unterschiede [11]. Nachteil eines Ventrikelreservoirs ist das intermittierende Druckmanagement durch teilweise tägliche perkutane Punktionen und die damit einhergehenden Risiken [12]. Der Vorteil des kontinuierlichen Druckmanagements durch eine EVD wird mit den Nachteilen einer potentiellen Überdrainage eines offenen Systems erkauft. Früher durchgeführte regelmäßige transfontanelläre Punktionen sind aufgrund des Risikos der Hirnverletzung mit Vakuolenbildung und der hohen Infektionsgefahr mittlerweile obsolet. Die Möglichkeiten der dauerhaften Therapie des Hydrocephalus umfassen die endoskopische Drittventrikulostomie (ETV) und die Anlage eines ventrikulo-peritonealen Shunts (VPS) (Abb. 3.9 und 3.10). Das Prinzip des Shunts besteht in der Ableitung des intraventrikulären Liquors über das implantierte Schlauch-Ventil-System in ein körpereigenes extrathekales

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Abb. 3.9: Röntgen, Schädel seitlich. Konfiguration des ventrikulo-peritonealen Shunts bei einem 4 Wochen alten Kind: Ventrikelkatheter, Bohrlochreservoir, verstellbares Garvitationsventil, distaler Katheter (Peritonealkatheter). Plastische Deckung der Myelomeningozele am Geburtstag, Shuntanlage nach 4 Wochen.

Abb. 3.10: Röntgen, Abdomen anterior-posterior mit Darstellung des distalen (peritonealen) Katheters. Gleicher Patient.

Niederdrucksystem (Peritoneum, venöses Gefäßsystem), in dem der Liquor resorbiert wird [13]. Das Shuntsystem besteht aus einem Ventrikelkatheter (proximaler Katheter), dem Ventil und dem Peritonealkatheter (distaler Katheter). Der Fluss innerhalb des Shuntsystems ist unidirektional. Neben den herkömmlichen Differenzdruckventilen haben sich in den vergangenen 10 Jahren zunehmend gravitationsassistierte und verstellbare Ventile in der Praxis durchgesetzt. Gravitationsassistierte Ventile passen den Öffnungsdruck der Körperposition an und mindern damit das Risiko

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einer Überdrainage. Die Verstellbarkeit von Ventilen gestattet die Anpassung des Öffnungsdrucks an das Alter, das Aktivitätsniveau und die Körpergröße eines Kindes. Das Prinzip der ETV besteht in der Umgehung eines Passagehindernisses (Aquäduktstenose) durch Schaffung einer Liquorkommunikation zwischen 3. Ventrikel und dem präpontinen Subarachnoidalraum. Bezüglich der Wertigkeit der beiden Methoden kann keine sichere Aussage getroffen werden. In einer Literaturrecherche von Limbrick et al. im Jahr 2014 konnten keine signifikanten Nachteile des einen Vorgehens gegenüber dem anderen gezeigt werden. In der IIHS (International Infant Hydrocephalus Study), bei der von 2004 bis 2016 prospektiv bei insgesamt 158 Patienten die beiden Methoden in Hinblick auf Zuverlässigkeit (keine Notwendigkeit einer erneuten Punktion im Untersuchungszeitraum) und Mortalität untersucht wurden, zeigten sich beide Methoden sehr zuverlässig, jedoch konnten leichte Vorteile in der Shuntgruppe festgestellt werden [14]. In einer ebenfalls 2014 veröffentlichten Arbeit von Jernigan et al. konnte gezeigt werden, dass bei Versorgung innerhalb der ersten 90 Lebenstage und insbesondere bei Patienten mit Frühgeburtlichkeit und Meningomyelozele beim Vergleich ETV gegenüber VP-Shuntanlage die ETV eine signifikant höhere Rezidivrate innerhalb des 1. Lebensjahres zeigt [15]. Wir empfehlen bei Kindern mit Spina bifida aufgrund der Verlässlichkeit der Methode die Anlage eines ventrikulo-peritonealen Shunts. Die ETV ist möglich, häufig aber chirurgisch anspruchsvoll aufgrund der bei vielen Kindern mit Spina bifida vorhandenen, großen Adhäsio interthalamica. Die Langzeitergebnisse der ETV sind nach unseren Erfahrungen – zumindest für Kinder, die primär im 1. Lebensjahr behandelt werden müssen (und das sind fast alle) – schlechter als beim Shunt.

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Martin Kunz und Michael J. Fritsch 3.1.1.4 Diagnostik und Therapie von Shuntkomplikationen 3.1.1.4.1 Mechanische Shuntkomplikationen Die Komplikationsrate eines bei einem Kind erstmalig implantierten Shunts beträgt innerhalb der ersten 2 Jahre bis zu 40 % [1]. Zumeist handelt es sich dabei um mechanische Shuntkomplikationen. Allein die Okklusion des Ventrikelkatheters macht einen Anteil von 50 % aus [2]. Im zeitlichen Verlauf kommt es zunächst zu einer Besiedlung des Ventrikelkatheters mit Mikroglia und später durch Astrozyten, die die Grundlage einer okklusiven Gewebemanschette, bestehend aus ependymalen Zellen und Plexus choroideus, darstellen. Weitere Prädilektionsstellen einer Okklusion sind die Ventileinheit und der Peritonealkatheter. Zu okklusiven Ventilfehlfunktionen kann es insbesondere bei erhöhten Liquoreiweißwerten kommen. Bei distalen Katheterverschlüssen spielen intraabdominelle Adhäsionen und die daraus resultierende unzureichende Liquorresorption eine Rolle. Neben okklusiven Komplikationen kann es innerhalb des Shuntsystems auch zu einer Diskonnektion, bedingt durch mechanische Beanspruchung und Materialverschleiß kommen (Abb. 3.11 und 3.12). Typischerweise kommt es im Hals- und Thoraxbereich zu wachstums- oder bewegungsinduzierten Katheterrissen. Insbesondere bei älteren Kathetersystemen lässt sich eine Kalzifikation und verstärkte Adhäsion im Subkutangewebe nachweisen. Die Dislokation von Ventrikel- oder Peritonealkatheter kann ebenfalls mögliche Ursache einer mechanischen Shuntinsuffizienz sein.

3.1 Zerebrale Fehlbildungen |

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Abb. 3.11: Diskonnektion von proximalem Katheter und Ventil. Operative Revision.

Abb. 3.12: Diskonnektion distal des Ventils. Operative Revision.

Es lassen sich akute und chronische Verläufe einer Liquorunterdrainage, bedingt durch Shuntkomplikationen, abgrenzen. Klinisch kann sich eine akut einsetzende Unterdrainage durch Kopfschmerzen, Übelkeit, Erbrechen, Schwindel, Krampfanfälle oder Bewusstseinsstörungen manifestieren. Außerdem können eine Fontanellenvorwölbung, ein Sonnenuntergangsphänomen und Okulomotorikstörungen, insbesondere eine Abduzensparese, auf eine Hirndrucksteigerung hinweisen. Bei chronischer Hirndrucksteigerung finden sich häufig Kopfschmerzen, Konzentrationsund Gedächtnisstörungen, insbesondere des Kurzzeitgedächtnisses. Stauungspapillen oder perzentilenflüchtiges Schädelwachstum sind ebenfalls klinische Zeichen einer chronischen intrakraniellen Hypertension. Insbesondere bei noch nicht vollständig verknöcherten Schädelnähten kann eine intrakranielle Hypertension lange kompensiert werden und sich lediglich durch Trinkunlust oder kardiopulmonale Instabilität bemerkbar machen. Bei bereits mit einem Shunt versorgten Kindern ist die Vigilanzminderung der beste klinische Prädiktor für eine Shuntinsuffizienz [3]. Im Rahmen der körperlichen Untersuchung ist im Shuntverlauf auf Diskonnektionsund Adhäsionsstellen oder Liquorpolster zu achten.

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Diagnostisch kommt im Säuglingsalter der transfontanellären Sonografie eine große Bedeutung bei der Beurteilung eines Hydrocephalus zu. Katheterfehllagen oder intraventrikuläre Blutungen lassen sich gut detektieren. Untersucherabhängig können auch intraperitoneale Katheterlage und Flüssigkeitsansammlungen dargestellt werden. Die Magnetresonanztomografie ermöglicht eine exakte Beurteilung von Ventrikelweite und Katheterlage. Dabei sollten immer Voraufnahmen, möglichst gleicher Modalität, vergleichend mit beurteilt werden. Eine konventionelle Röntgendarstellung des Shuntverlaufs ermöglicht die Lokalisation von Diskonnektionsstellen. Mittels Liquoraspiration aus Bohrlochreservoir oder ventilassoziierter Punktionskammer kann ein proximaler Katheterverschluss ausgeschlossen werden. Bei unklarer Okklusionsstelle im Shuntverlauf kann eine kontrastmittelgestützte Shuntdarstellung, die sog. Shuntografie, erfolgen. Nach Identifikation der zugrunde liegenden Shuntkomplikation besteht die neurochirurgische Therapie entweder in der Neuimplantation des Ventrikel- bzw. Peritonealkatheters, dem Austausch des Ventils oder in einer kompletten Shuntneuimplantation. Da es beim Versuch der Entfernung eingewachsener und okkludierter Ventrikelkatheter zu schwerwiegenden intraventrikulären Blutungen kommen kann, ist es nicht ratsam, diese um jeden Preis zu entfernen. Oftmals lassen sich poröse subkutane oder intraabdominelle Katheteranteile nicht vollständig bergen. Bei Patienten mit obstruktivem Hydrocephalus und funktionierender Liquorresorption ist auch nach langjähriger Shuntabhängigkeit bei mechanischem Shuntversagen eine Explantation mit anschließender endoskopischer Drittventrikulostomie möglich [4].

3.1.1.4.2 Shuntinfektionen Das Infektionsrisiko eines Shunteingriffs beträgt 5–9 % [5, 6], wobei bei Kindern gegenüber Erwachsenen ein höheres Infektionsrisiko beobachtet wird [7]. Bei Patienten mit Myelomeningozele hat sich gezeigt, dass eine Shuntimplantation innerhalb der 1. Lebenswoche mit einer deutlich höheren Infektionsrate einhergeht [8]. Als allgemein akzeptierte Risikofaktoren für Shuntinfektionen gelten eine frühere Shuntinfektion, Frühgeburtlichkeit und der blutungsassoziierte Hydrocephalus [9]. Ein zusätzlicher Risikofaktor ist eine Operationsdauer von über 90 Minuten [10]. Shuntassoziierte Infektionen treten zumeist bereits innerhalb der ersten 3 Monate nach Implantation auf [11]. Shuntinfektionen können sich klinisch durch milde Beschwerden wie unspezifische Abdominalsymptome, Müdigkeit, Abgeschlagenheit, Kopfschmerzen und Schwindel, aber auch durch gravierende Symptome wie Übelkeit, Erbrechen, Fieber, Schüttelfrost und Meningismus oder sogar Bewusstseinsstörungen bemerkbar machen. Äußere Anzeichen einer Lokalinfektion können beispielsweise Hautrötungen, Überwärmung, Schmerzen oder eine Schwellung im Shuntverlauf sein. Staphylococcus epidermidis, als typischer Vertreter der residenten Hautflora, ist mit 60–75 % der häufigste Verursacher einer innerhalb der ersten 6 Monate nach Im-

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plantation auftretenden Shuntinfektion [11]. Eine pathogene Bedeutung kommt aber auch Staphylococcus aureus, Propionibakterien und gramnegativen Erregern zu. Pilzinfektionen werden zumeist durch Candida versursacht. Insbesondere bei Säuglingen beträgt die Inzidenz candidaassoziierter Shuntinfektionen bis zu 7 % [12]. Spätinfektionen, die ab dem 6. Monat nach Shuntimplantation auftreten, sind fast immer durch Staphylococcus epidermidis bedingt [13]. Der paraklinische Nachweis eines infektiösen Geschehens kann schwierig sein. Unentbehrlich sind in diesem Zusammenhang Blutbildanalysen, Blutkulturen und eine Punktion von Bohrlochreservoir oder ventilassoziierter Punktionskammer, um einen kulturellen Keimnachweis und eine Resistenztestung zu ermöglichen. Eine Lumbalpunktion sollte vermieden werden, weil bei einer Shuntinfektion und möglicher Dysfunktion eine daraus resultierende intrakranielle Hypertension vorliegen kann. Eine bereits bestehende Ventrikulitis kann durch ein ependymales Kontrastmittelenhancement im MRT nachgewiesen werden. Auch der Nachweis einer intraabdominellen Pseudozyste mittels Sonografie kann im Zusammenhang mit weiteren pathognomischen Befunden beweisend für eine Shuntinfektion sein [14]. Prinzipiell ist eine alleinige konservativ-antibiotische Therapie einer Shuntinfektion möglich. Da die Erfolgsquote des operativen Therapieansatzes deutlich höher ist, sollte die konservative Therapie nur bei sehr hohem Operations- oder Narkoserisiko in Erwägung gezogen werden. Die operative Methode der Wahl ist die vollständige Entfernung des gesamten Shuntsystems. Liegt zudem eine intraabdominelle Pseudozyste vor, sollte die potentiell infizierte Zystenflüssigkeit vor Entfernung des Peritonealkatheters drainiert und für mikrobiologische Untersuchungen konserviert werden. Sofern weiterhin von einer Shuntabhängigkeit des Patienten ausgegangen werden muss, ist bei kommunizierendem Hydrocephalus eine spinale Liquorableitung und bei obstruktivem Hydrocephalus die Anlage einer externen Ventrikeldrainage erforderlich. Der große Vorteil einer kranialen Liquorableitung liegt in der Möglichkeit zur Messung des intrakraniellen Drucks, was insbesondere bei vigilanzgeminderten Patienten von großer Bedeutung ist. Bei gesicherter Shuntinfektion sollte, in Abhängigkeit vom erwarteten Keimspektrum, so früh wie möglich mit einer kalkulierten parenteralen Antibiotikatherapie begonnen werden. Einheitliche Empfehlungen zur kalkulierten Antibiotikatherapie kindlicher Shuntinfektionen existieren in der Literatur bislang nicht. Die Wirksamkeit von Vancomycin ist gut belegt [15–17]. Zudem sollte eine Kombination mit antimikrobiellen Substanzen mit guter Wirksamkeit gegen gramnegative Erreger wie beispielsweise Cefotaxim oder Ceftazidim erfolgen. Linezolid findet als Reserveantibiotikum bei vancomycinresistenten Erregern erfolgreich Anwendung [19, 20]. Die Therapie sollte nach Vorliegen eines Antibiogramms resistenzgerecht angepasst werden. Engmaschige Verlaufskontrollen der Liquorparameter Glucose, Laktat, Eiweiß und Zellzahl sind unter laufender Therapie obligat. Außerdem sollten regelmäßig mikrobiologische Liquoruntersuchungen erfolgen, um das eigentliche Therapieziel,

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die Sterilität des Liquor cerebrospinalis, nachweisen zu können. Erst bei dreimaligem Nachweis einer Liquorsterilität ist eine Shuntreimplantation, unter Fortführung der Antibiotikatherapie für weitere 10–14 Tage [21], zu empfehlen. Pilzbedingte Shuntinfektionen sollten in jedem Fall durch eine schnellstmögliche Shuntexplantation und hochdosierte Gabe antimykotisch wirksamer Substanzen therapiert werden [22]. Als wirksame Substanzen haben sich Amphotericin B und Fluconazol erwiesen [23]. Bei lebensbedrohlicher Pilzinfektion ist eine simultane, intravenöse und intrathekale Applikation von Antimykotika in Erwägung zu ziehen. Eine Shuntreimplantation nach Pilzbesiedlung ist ebenfalls erst bei mehrfachem Liquorsterilitätsnachweis und gutem klinischen Ansprechen auf die Therapie zu empfehlen. Die antimykotische Therapie sollte in jedem Fall für mehrere Wochen fortgeführt werden. Zur Vermeidung postoperativer Shuntinfektionen sollten strenge Handlungsprotokolle etabliert und respektiert werden. So konnte der Nutzen einer systemischen Antibiotikaprophylaxe im Rahmen der Shuntimplantation bereits mehrfach nachgewiesen werden [24, 25]. Standardisierte Operationsprotokolle können ebenfalls helfen, das Risiko postoperativer Infektionen zu reduzieren [26]. Dabei kommt dem Zusammenspiel einfacher Faktoren wie Operationsdauer, Personaltransit im OP-Saal und das Schließen der Türen eine entscheidende Rolle bei der Reduktion des Infektionsrisikos zu. Die Festlegung und Modifikation von Ansatzpunkten zur Minimierung postoperativer Shuntinfektionen waren und sind Gegenstand vieler wissenschaftlicher Arbeiten: So führen beispielsweise die Instillation von Vancomycin und Gentamycin in das Shuntreservoir und um den Peritonealkatheter [10] bzw. die intraoperative Anwendung topischen Rifampicinpulvers [27] zu einer deutlich niedrigeren postoperativen Infektionsrate. Für antibiotikabeschichtete Shuntsysteme konnte eine deutliche Reduktion des Infektionsrisikos nachgewiesen werden [28–31]. Auch für silberimprägnierte Shunts wurde ein reduziertes Infektionsrisiko aufgezeigt [32]. Möglicherweise wegweisende Aspekte könnte in diesem Zusammenhang die derzeit laufende multizentrische, randomisierte und kontrollierte Phase-III-Studie (BASIC) liefern [33].

3.1.1.4.3 Überdrainage Die Inzidenz symptomatischer Überdrainagen bei Kindern liegt nach Implantation von Standardniederdruckventilen bei ca. 9 % [34] (Abb. 3.13 und 3.14). Bei konventionellen Differenzdruckventilen muss insbesondere in den ersten 2 Monaten nach Implantation mit der Entstehung subduraler Hämatome und Hygrome gerechnet werden. Begünstigt wird die Genese dieser Komplikation durch das Vorliegen eines obstruktiven Hydrocephalus und ein Kindesalter ab 2 Jahren [41]. Folgen einer chronischen Überdrainage können orthostatische Kopfschmerzen, Schwindel, Übelkeit und Erbrechen sein. Aber auch vergrößerte Nasennebenhöhlen und Kraniosynostosen mit konsekutiver intrakranieller Hypertension werden beschrieben. Das klassische Schlitzventrikel-Syndrom stellt ein schwerwiegendes Erkrankungsbild, bestehend

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Abb. 3.13: Axiales MRT, T2-gewichtet. Überdrainage mit Ausbildung eines subduralen Hygroms links temporo-parieto-okzipital. Behandlung durch Ventilumstellung.

Abb. 3.14: Koronares MRT, T2-gewichtet, gleiche Patientin wie in Abb. 3.13.

aus chronischen Kopfschmerzen mit oder ohne krisenhafte Hirndrucksteigerung bei schlitzförmigen, normal weiten oder nur gering dilatierten Ventrikeln bei erhaltener oder aufgehobener Shuntfunktion, dar [42]. Die Diagnose dieses Krankheitsbildes ist sehr schwierig und sollte nicht allein von bildgebenden Verfahren abhängig gemacht werden. Als therapeutische Optionen bei nachgewiesener Überdrainage kommen ein Umstellen vorhandener Shuntventile [43], eine nachträgliche Implantation von (verstellbaren) Gravitationsventilen [44] oder der Austausch des gesamten Shuntsystems infrage. Um einer überdrainagebedingten Revisionsoperation vorzubeugen, empfiehlt

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sich bereits bei der Primäroperation die Verwendung (verstellbarer) gravitationsassistierter Ventile. Subdurale Hämatome oder Hygrome können je nach klinischem Schweregrad konservativ oder operativ behandelt werden. Nur in sehr seltenen Fällen ist eine operative Therapie überdrainageassoziierter Kraniosynostosen indiziert. Durch die primäre Verwendung gravitationsassistierter Shuntsysteme konnte die Inzidenz symptomatischer Überdrainagen auf unter 5 % gesenkt werden [35, 36]. Der zusätzliche Vorteil verstellbarer gravitationsassistierter Systeme liegt in der flexiblen und patientenspezifischen Modifikation der Liquordrainage, die Altersentwicklung und Wachstum Rechnung trägt [37–40].

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3.1.2 Chiari-II-Malformation PD Dr. med. Arpad von Moers 3.1.2.1 Klinik Die Klassifikation der Chiari-Malformation (CM) richtet sich nach dem Ausprägungsgrad und der Assoziation mit weiteren Fehlbildungen (Tab. 3.1) [1]. Die mit Abstand häufigsten Formen sind die Chiari-I-Malformation (CM I) und die Chiari-II-Malformation (CM II). Die CM II ist regelhaft mit einer Spina bifida (SB) assoziiert und ist darum hier Gegenstand der Betrachtung [2]. Die Genese und die

3.1 Zerebrale Fehlbildungen |

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Tab. 3.1: Klassifikation der Chiari-Malformation (nach [1]. Chiari I

Tiefstand der Kleinhirntonsillen in den oberen Spinalkanal, häufig assoziiert mit zervikaler Syringomyelie und knöchernen Fehlbildungen; es kann ein Hydrocephalus vorliegen

Chiari II

Tiefstand von Kleinhirntonsillen und Anteilen des Hirnstamms in den Spinalkanal; Assoziation mit spinalen Dysraphien und Hydrocephalus; supratentoriellen Fehlbildungen wie Corpus-callosum-Dysgenesie, Migrationsstörungen

Chiari III

Herniation des Kleinhirns und von Anteilen des Hirnstamms in eine Enzephalozele der hinteren Schädelgrube

Chiari IV

Kleinhirnhypoplasie/-Aplasie des Kleinhirns

den Ausprägungsgrad der CM determinierenden Faktoren sind nicht vollständig geklärt. Es spielen die primären Anlagestörungen, der Hydrocephalus, der vermehrte Liquorabfluss bei offener Spina bifida und mechanische Faktoren wie die Fixierung des Myelons (Tethered cord) eine Rolle [3, 4]. Die Verlagerung von Kleinhirngewebe erfolgt ganz überwiegend nach kaudal, der obere Anteil des Kleinhirnwurms und der Kleinhirnhemisphären können aber auch nach kranial in die mittlere Schädelgrube verlagert sein [5]. Die CM II geht fast ausnahmslos mit supratentoriellen Fehlbildungen einher, die im Kapitel 3.1.3 dargestellt sind. Aufgrund der Lokalisation der Fehlbildung kann die CM II zu vielfältigen Symptomen führen. Eine besonders kritische Phase sind die ersten Lebensjahre. In den ersten 2 Lebensjahren ist die symptomatische CM II die häufigste Todesursache bei Patienten mit einer Spina bifida. Zusammen mit der in der Regel vorhandenen Liquorzirkulationsstörung, die zu einem symptomatischen Hydrocephalus und einer progredienten Syringomyelie führen kann, ist sie der wichtigste Faktor für den Langzeitverlauf. Die CM II kann zu progredienten neurologischen und orthopädischen Symptomen führen, die die Mobilität und Selbstständigkeit einschränken können, und Hirnstammfunktionsstörungen werden als wichtigste Ursache für die erhöhte Mortalität von Patienten mit Spina bifida auch jenseits des Kindesalters angesehen [5]. Im Säuglings- und Kleinkindalter stehen die Funktionsstörungen des Hirnstamms im Vordergrund. Es können Apnoen, ein Stridor, Schluckstörungen mit der Gefahr einer Aspiration, ein fehlender Würgereflex, verschiedene Formen okulomotorischer Störungen und Funktionsstörungen anderer Hirnnerven auftreten. Die Schluckstörung kann zu einer Gedeihstörung führen. Häufig besteht eine Neigung zu einer opisthotonen Körperhaltung. Es kann zu einer Zunahme der Paraparese kommen, und es kann sich darüber hinaus eine Schwäche der Arme/Hände entwickeln. Bei älteren Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen können Kopfschmerzen, schlafbezogene Atemstörungen, Nackenschmerzen, eine zunehmende Koordinationsstörung/Gangunsicherheit aufgrund einer Gleichgewichtsstörung oder eine progrediente Skoliose Zeichen einer symptomatischen CM II sein. Es kann eine Änderung der Blasen- und Darmfunktion auftreten. Die Entwicklung oder die Zunahme

78 | 3 Zentrales Nervensystem

einer Spastik sowohl an der oberen Extremität als auch im Bereich der Paraparese können durch eine CM II bedingt sein. Es kann sich eine diffuse Muskelschwäche oder eine Schwäche einzelner, umschriebener Muskelgruppen entwickeln. Auch bei Patienten jenseits des Kleinkindalters können Symptome einer Hirnstammfunktionsstörung auftreten. Chronischer Husten als Ausdruck von Mikroaspirationen bei einer neurogenen Schluckstörung, vermehrtes Würgen, ein Schluckauf sowie eine Veränderung der Sprachmelodie und Intonation wurden berichtet [1, 2, 5]. Die Symptomatik kann sich entsprechend einer progredienten neurologischen Erkrankung entwickeln [6]. Circa 30 % der Patienten mit einer CM II werden symptomatisch [7]. Die eindeutige Zuordnung klinischer Symptome zur CM II kann im Einzelfall jedoch schwierig sein. Bei einem Großteil der Patienten mit einer CM II entwickelt sich eine Syringo-/ Hydromyelie. Diese kann ebenfalls zu neurologischen Symptomen führen. Typischerweise treten ausstrahlende Schmerzen, ein sensomotorischer Funktionsverlust und bei Lokalisation im oberen Spinalkanal Nackenschmerzen auf. Zusätzlich besteht bei > 80 % der Patienten ein Hydrocephalus, der ebenfalls symptomatisch sein kann. Als weiterer pathogenetischer Faktor für eine Änderung oder Zunahme der Symptomatik ist das Tethered-cord-Syndrom zu bedenken, besonders wenn die Symptome den Bereich der Paraparese betreffen. In einer Gruppe von 228 Patienten mit CM II wurden 74 (31,5 %) symptomatisch, davon wurden 26 operativ behandelt (11,4 %). Von diesen profitierten 60 % anhaltend von einer Dekompression. Bei den Atemstörungen bessern sich die obstruktiven Apnoen, auf die zentralen Apnoen ist der Einfluss gering [7, 8] (s. a. Kap. 3.1.2.5 und 3.1.2.4).

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3.1 Zerebrale Fehlbildungen |

79

Karl-Titus Hoffmann 3.1.2.2 Bildgebende Verfahren Die Wirbelsäule kann ohne Umlagerungen des Patienten komplett und unter Beibehaltung einer hohen Ortsauflösung im MRT-Bild untersucht werden, weil moderne Spulensysteme und Tischverschiebetechniken den Untersuchungsbereich vollständig erfassen, ebenso sind kombinierte Untersuchungen von Kopf und Hals möglich. Die MRT-Diagnostik der Chiari-Malformation erfordert grundsätzlich keine Kontrastmittelgabe. Ausnahmen bilden postoperative Untersuchungen und Untersuchungen bei Tumoren oder Entzündungen. Die Regel, dass jede Syringomyelie zumindest initial zum Ausschluss eines zugrunde liegenden Tumors (Hämangioblastom) mit Kontrastmittel untersucht werden sollte, gilt bei einem offensichtlich vorliegendem Komplex der Merkmale einer Chiari-Malformation nur eingeschränkt. Die konventionelle Myelografie mit intrathekaler Kontrastmitteleinbringung und der anschließenden postmyelografischen CT kann indiziert sein, wenn beispielsweise präoperativ die genaue Lokalisation und Ausdehnung von Anheftungen des Konus oder der Kaudafasern an der Wand des Spinalkanals oder in einem intraspinalen Lipom geklärt werden muss, sofern dies nicht mittels spezieller, stark T2-gewichteter MRT-Aufnahmen gelingt. Die Diagnose einer Chiari-II-Malformation in der Bildgebung ergibt sich im Wesentlichen aus morphologischen Merkmalen von MRT-Aufnahmen der kranialen und spinalen Mittellinie, wenngleich transversale und ggf. koronale Schnittebenen unverzichtbarer Standard jeder Untersuchung sind [1–3]: – hypoplastische hintere Schädelgrube, – reduziertes Kleinhirnvolumen, jedoch vergrößerte Fläche des Kleinhirnwurms in der mediosagittalen Schnittebene, – dysplastisches Kleinhirn mit Faltung der Kleinhirnhemisphären um den Hirnstamm, – Hernierung von Kleinhirnwurm und -tonsillen kaudal der Foramen-magnumEbene, – relativ kleiner und kaudalisierter 4. Ventrikel. – vergrößertes Foramen magnum, – vergrößerter Tentoriumschlitz bei Hernierung des Kleinhirnoberwurms nach kranial, – Dysplasie des Tentoriums mit tiefer Insertion in der hinteren Schädelgrube, – Falxdefekte, gelegentlich mit Interdigitationen des vorwiegend okzipitalen Kortex auf das Niveau der kontralateralen Hemisphäre, – Kaudalisierung des unteren Hirnstamms, – schnabelförmige Deformität der Vierhügelplatte, – Knickbildung am medullo-zervikalen Übergang, – Aquäduktstenose, – Hydrosyringomyelie (in 20–90 %) (Abb. 3.15), – Myelomeningozele (obligat), fast immer lumbal, selten zervikal (Abb. 3.16).

80 | 3 Zentrales Nervensystem

Abb. 3.15: Zervikale Syrinx beginnend auf Höhe von C1, darüber die transforaminale Hernierung von Kleinhirnanteilen und der kleine 4. Ventrikel, T1-gewichtetes sagittales Bild.

Abb. 3.16: Sagittales spinales T1-gewichtetes Bild mit Abbildung einer lumbosakralen Bogenschlussstörung ab dem Niveau von LWK4 und Meningozele mit Anheftung (Tethering) des tiefstehenden Conus medullaris an der dorsalen Wand des Spinalkanals bzw. der Zele sowie einem sakralen intraspinalen Lipom.

Die Abgrenzung zur Chiari-I-Malformation ergibt sich im Wesentlichen über das Fehlen einer Myelomeningozele, die normale Lage des 4. Ventrikels und die Hernierung lediglich der Kleinhirntonsillen, nicht des Kleinhirnwurms. Bei der ChiariIII-Malformation liegen zusätzlich eine zervikale Dysraphie und eine okzipitale Zephalozele vor [1, 2].

3.1 Zerebrale Fehlbildungen |

81

Die vergrößerte Fläche des Kleinhirnwurms in der Mediosagittalen bei verminderter Gesamtgröße des Kleinhirns, insbesondere dessen reduzierter Breite im Transversalschnitt, wird auf die kompressive Verlagerung der Mittellinienstrukturen infolge des reduzierten Volumens der hinteren Schädelgrube zurückgeführt [3] (Abb. 3.17). Ein Tiefstand der Kleinhirntonsillen bis zu 3 mm unterhalb der Foramen-magnumLinie wird als normal angesehen, einem Grenzbereich von 3–5 mm folgt der definitiv pathologische Tiefstand von mehr als 5 mm [4] (Abb. 3.18). Die exakte Bestimmung der Lage von Kleinhirnwurm und -tonsillen ist mitunter problematisch, wenn diese aufgrund der abnormen Faltung des Kleinhirns um den Hirnstamm in Höhe der Foramen-magnum-Ebene unzureichend genau abgrenzbar sind. Als weitere spezifische und sensitive Messparameter zur Charakterisierung der Schwere und zur Verlaufsbeurteilung einer Chiari-II-Malformation werden die mamillopontine Distanz in der mediosagittalen Schnittebene und die Breite des Kleinhirns im Transversalschnitt beschrieben [5]. Die Vergrößerung der mamillopontinen Distanz, die auf der Kaudalverlagerung des Hirnstamms einschließlich der Brücke beruht, kann jedoch durch einen gleichzeitig vorliegenden Hydrocephalus mit Beteiligung des 3. Ventrikels im Sinne eines falsch-negativen Messergebnisses antagonisiert werden, weil beim Hydrocephalus eine selektive Verlagerung der Mammillarkörper nach unten auftreten kann.

Abb. 3.17: T2-gewichtetes sagittales Bild mit (von oben nach unten) milder Dysmorphie des Balkens (besonders des Spleniums) und der Vierhügelplatte, größenbetonter Querschnittsfläche des Kleinhirnwurms und nach rostral verlagertem Pons infolge Hypoplasie der hinteren Schädelgrube sowie einer relativ kleinen Syringomyelie des oberen Halsmarks. Die Hernierung der Kleinhirntonsillen ist in dieser Schnittebene nicht adäquat abgebildet.

Dysgenesien des Balkens, wenngleich nicht spezifisch für die Chiari-II-Malformation, werden in über 90 % der untersuchten Fälle gefunden und betreffen überwiegend mehrere Balkenabschnitte. In geringerer Zahl liegen sie nur segmental in einzelnen Balkenabschnitten vor, so ausschließlich im Rostrum in ca. 20 %, ausschließlich im Splenium in ca. 10 % der Fälle [6]. Dominierende Befunde sind Hypoplasien, die we-

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(a)

(b)

Abb. 3.18: T1-gewichtetes sagittales Bild mit ausgespanntem schmalen, jedoch nicht primär dysmorphem Balken und kaudalisierten Mamillarkörpern infolge eines Hydrocephalus, typischer schnabelförmiger Deformität der Vierhügelplatte sowie Querschnittsvergrößerung des Kleinhirnwurms, kleinem 4. Ventrikel, Rostralverlagerung des Pons, Kleinhirnwurmtiefstand unterhalb der Foramen-magnum-Linie bei hypoplastischer hinterer Schädelgrube mit tiefem Ansatz des Tentoriums. Zusätzlich liegt eine vaskuläre Anomalie mit atypischer Drainage des Sinus sagittalis superior vor. (b) Das T1-gewichtete transversale Bild auf Höhe des Foramen magnum zeigt die Hernierung von Kleinhirnwurm und -tonsillen durch das Foramen magnum mit Positionierung der Tonsillen partiell seitlich des oberen Halsmarks.

niger das Balkenknie als die übrigen Abschnitte betreffen und partielle Agenesien, die am häufigsten im Isthmus und Splenium zu finden sind (Abb. 3.19). In Kenntnis der ontogenetischen Entwicklung des Balkens von rostral nach kaudal sind makromorphologisch somit vorwiegend die zu einem späteren Zeitpunkt entstehenden

(a)

(b)

Abb. 3.19: (a) Sagittales T2-Bild der Mittellinie (Ausschnitt). Auf Höhe der Balkenanomalie mit aplastischem Splenium sind Interdigitationen des okzipitalen Kortex bei offenbar vorliegendem Falxdefekt erkennbar. Daneben eine Dysmorphie des Tectums und Deformitäten des Kleinhirns, Pons und 4. Ventrikels. (b) Koronales T1-Bild, in dem die Interdigitationen okzipitaler Gyri bei zumindest teilweise fehlender Falx, die Asymmetrie der Okzipitalhörner und die gedrängte, nach oben spitz zulaufende Kleinhirnform deutlich werden.

3.1 Zerebrale Fehlbildungen |

83

Balkenabschnitte betroffen. Die Querschnittsfläche in der Mittellinie des Balkens bei Chiari-II-Patienten ist im Vergleich zu gesunden Kontrollpersonen reduziert [7]. Eine weitere, bereits im fetalen Ultraschall erkennbare supratentorielle Anomalie ist die verminderte Distanz der Okzipitalhörner zur okzipitalen Schädelkalotte im Vergleich zu normalen Feten [8]. Über die in der MRT-Routinebildgebung und einfachen visuellen Bildanalyse erkennbaren Befunde hinaus wurden mit der MR-Diffusionstensor-Bildgebung mikrostrukturelle Veränderungen der weißen Substanz beschrieben, die einen pathologisch verminderten Organisationsgrad mehrerer Faserbahnsysteme belegen [9, 10]. Dies betrifft insbesondere die langen Assoziationsfasersysteme zwischen vorderen und hinteren Hirnanteilen (Fasciculi longitudinalis inferior, frontooccipitalis, uncinatus und arcuatus), frontale Kommissurenfasersysteme (Balkenknie), nicht jedoch die größeren zentralen Projektionsfasersysteme (Capsula interna).

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84 | 3 Zentrales Nervensystem

Ulrich Seidel 3.1.2.3 Neurophysiologie Die elektrophysiologische Untersuchung ergänzt die bildgebende Diagnostik einer Chiari-II-Malformation (CM II) und ermöglicht eine nichtinvasive Objektivierung von Funktionsstörungen im zervikomedullären und zentralen Bereich des Nervensystems. Etabliert sind im Kindesalter die Ableitung der frühen akustisch evozierten Potentiale (FAEP), der somatosensibel evozierten Potentiale (Medianus-SEP) und des Blinkreflexes (BR). Die Latenzzeiten der Antwortpotentiale und Interpeaklatenzen sind entsprechend der Reifung des ZNS alters- und auch größenabhängig. Die Generatoren der abgeleiteten Antwortpotentiale sind definierten Strukturen oder Gebieten des Zentralnervensystems zugeordnet.

Frühe akustisch evozierte Potentiale (FAEP) – Welle I = N. cochlearis – Welle II = N. cochlearis (P. acusticus internus) – Welle III = Nucleus cochlearis ventralis (Medulla oblongata) – Welle IV = oberer Olivenkomplex (Pons) – Welle V = Colliculus inferior (Mesenzephalon) Aus den einzelnen Latenzzeiten werden die Interpeaklatenzen I–III (periphere Leitzeit), III–V (zentrale Leitzeit) und I–V errechnet.

Medianus-SEP – N9 = Erb-Punkt (Plexus brachialis) – N13a = C7 (Hinterhornneurone) – N13b = C2 (Höhe des Nucleus cuneatus, Medulla oblongata) – N20 = kontralaterale Hirnhälfte hinter dem Sulcus centralis Aus den einzelnen Latenzzeiten werden die Interpeaklatenzen N9–N13a/b (Funktion im Halsmarkbereich) und N13b–N20 (zentrale Leitzeit) errechnet. Eine besondere Schwierigkeit bei der Beurteilung ergibt sich durch das oft gemeinsame Vorliegen einer Syringo-/Hydromyelie des Halsmarks und einer CM II. Durch die Wahl der Referenzelektrodenposition zwischen dem Hyoid und dem Oberrand des Schildknorpels oder im Jugulum bei der Ableitung von C7 können Prozesse im unteren Halsmarkbereich besser erfasst werden [1].

Blinkreflex (BR) – R1 -Antwort = afferente Bahn (seitlicher Anteil des mittleren Ponsbereichs) – R2 -Antwort = efferente Bahn (unterer Ponsbereich und Medulla oblongata)

3.1 Zerebrale Fehlbildungen |

85

Die vollständige Ableitung des Blinkreflexes mit R1 - und R2 -Antwort ist frühestens Ende des 2. Lebensjahres konstant zu erwarten und ermöglicht eine Feststellung von subklinischen Läsionen in der Medulla oblongata, die durch FAEP-Ableitungen nicht entdeckt werden [2]. Eine CM II wird bei 80–90 % der Kinder mit Meningomyelozele im MRT nachgewiesen, bei 15–35 % der Kinder mit MMC entwickeln sich Symptome, bei zwei Dritteln dieser Kinder bereits vor dem 6. Lebensmonat. Bereits im NeugeborenenHörscreening mit Hirnstammaudiometrie (AABR) können Hinweise auf eine Hirnstammdysfunktion erkennbar sein [3]. Ein pathologischer FAEP-Befund in der 1. Lebenswoche erhöht das Risiko für das Auftreten klinischer Symptome [4], weshalb eine frühe Ausgangsableitung bei asymptomatischen Kindern wichtig ist, um Funktionsveränderungen im Verlauf beurteilen zu können. Es besteht aber kein Zusammenhang zwischen elektrophysiologischen Auffälligkeiten und Ausprägung der CM II im MRT [5] oder klinischer Symptomatik. Koehler et al. [6] fassen in ihrer Publikation unter Berücksichtigung relevanter Literatur zusammen, dass FAEP in Bezug auf klinische Symptome einen hohen negativen und niedrigen positiven prädiktiven Wert haben. Die Sensitivität von Blinkreflex und FAEP ist hoch, die Spezifität niedrig. Im klinischen Alltag ist diese Konstellation für die Planung therapeutischer Interventionen nicht hilfreich. In einer weiteren Studie [7] ziehen die Autoren die Schlussfolgerung, dass FAEP-Ableitungen keine höhere Aussagekraft im Erfassen klinisch bedeutsamer Symptomatik bei CM II haben, wohingegen die Vorhersagekraft durch Kombination mit Zusatzdiagnostik in Form von Blink- und Masseterreflex erhöht werden kann. Durch den Nachweis multilokulärer Funktionsstörungen (FAEP = pontin und mesenzephal, Blinkreflex = medullär, pontomesenzephal = Masseterreflex) erhöht sich das Risiko, im Verlauf klinisch manifeste Symptome zu entwickeln. Bedeutsam zur Interpretation der Ableitung evozierter Potentiale sind die Erkenntnisse einer japanischen Arbeitsgruppe [5, 8] aus ihren elektrophysiologischen Studien bei asymptomatischen Kindern mit CM II im Vergleich zu gesunden Kindern [9]. Die Autoren weisen wie bereits Docherty [10] eine stark verlängerte IPL III–V (Pons-Mittelhirn) bzw. N13–N20 (Medulla oblongata – sensorischer Kortex) in den ersten Lebensjahren nach, die sich im weiteren Verlauf bis Ende des Jugendalters kontinuierlich verringert, vereinzelt sogar den Normbereich erreicht, und im Sinne einer verzögerten Reifung von Hirnstammstrukturen bzw. einer primären intrinsischen Hirnstammfunktionsstörung interpretiert werden. Für die IPL I–III bzw. N9–N13 dagegen ist eine kontinuierliche Verlängerung mit zunehmendem Alter festzustellen, worauf die Hypothese basiert, dass im Verlauf des Wachstums bei Kindern mit Meningomyelozele ein verstärkter Zug auf die peripheren Anteile der afferenten Leitungsbahnen eintritt und zu Funktionsauffälligkeiten führt. Zusammenfassend ergeben neurophysiologische Untersuchungen weder als Einzelmessung und nur zu einem Zeitpunkt wesentliche klinisch relevante Informationen noch differenzieren sie, bei welchen symptomatischen Patienten eine operative Intervention erfolgen sollte. Eine Erweiterung der Aussagekraft elektrophysiologi-

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scher Untersuchungen ergibt sich durch ihre Kombination, wobei die Ableitung von Blink- und Masseterreflex im Routinealltag eine Herausforderung darstellen und oft nicht zu realisieren sind. Die Bedeutung elektrophysiologischer Untersuchungen liegt in regelmäßigen Verlaufskontrollen mit möglichst frühzeitigen Ausgangsuntersuchungen und dem Erkennen der Abweichung vom natürlichen Verlauf als Indikator für das steigende Risiko einer symptomatischen CM II.

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Christian Schropp 3.1.2.4 Chiari-II-assoziierte schlafbezogene Atemstörung Zu dem Symptomenkomplex der Chiari-II-Malformation (CM II) gehören Stridor, Apnoen und Dysphagie (im Sinne einer kaudalen Hirnnervenlähmung). Im Wachzustand können klinisch eindrucksvolle „apnoic spells“ auftreten. Schlafbezogene Atemstörungen (SBAS) sind in der Regel weniger auffällig und müssen gezielt gesucht werden. Obwohl CM-II-assoziierte Symptome seit langem bekannt sind, ist die Datenlage bezüglich Prävalenz, klinischer Bedeutung und Therapie der CM-II-assoziierten SBAS immer noch sehr begrenzt. Empfehlungen basierend auf höhergradiger Evidenz können daher im Folgenden nicht gegeben werden.

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3.1.2.4.1 Formen nächtlicher Atemstörungen Schlafbezogene Atemstörungen zeigen sich in Form von Apnoen, Hypopnoen, Abweichungen in Atemfrequenz oder Atemmuster. Die Atemstörungen werden nach ihrer Form in obstruktiv, zentral und gemischt unterteilt. Bei obstruktiven Ereignissen (OSAS) kommt es zu einem Abfall des Atemflusses trotz erhaltener Atemanstrengung, meist ausgelöst durch eine Obstruktion der (oberen) Atemwege. Bei „zentralen“ Ereignissen (ZSAS) sistiert der Atemfluss aufgrund fehlender Atemanstrengungen. Die Begriffe „obstruktiv“ und „zentral“ beschreiben lediglich die Form des Atemmusters bei einem respiratorischen Ereignis, nicht dessen Ursache. So kann eine Obstruktion auch durch eine Hirnnervenparese bedingt und Folge einer zentralnervösen Störung sein, das Bild einer „zentralen“ Apnoe durch Erschöpfung der Atemmuskulatur bei intakten ZNS-Strukturen auftreten. Weitere Formen der Atemstörungen sind die Hypoventilation, bei der Patienten eine Hyperkapnie als Zeichen der insuffizienten Respiration zeigen oder auffällige Atemmuster (z. B. Cheyne-Stokes-Atmung). Diese Einteilung wird unabhängig von der zugrunde liegenden Erkrankung verwendet [1–3].

3.1.2.4.2 Pathophysiologie der Atmung bei Patienten mit Chiari-II-Malformation Zum Verständnis der CM-II-assoziierten Atemstörung ist ein kurzer, damit bewusst grob vereinfachender Überblick über die beteiligten Strukturen der Atemregulation notwendig. Für eine ausführliche Darstellung wird auf die Spezialliteratur verwiesen.

Atemregulation Die Regulation der Atmung erfolgt im Hirnstamm im Bereich der Medulla oblongata und dem Pons. Verschiedene, sich anatomisch z. T. überlappende Strukturen wurden identifiziert und benannt (u. a. dorsal respiratory group, ventral respiratory group inklusive preBötzinger complex, parafacial respiratory group) und dem Pons (u. a. Kölliker-Fuse-Nucleus, parabrachial complex). Die medullären Netzwerke steuern Inund Exspiration und sind Rhythmusgeber. Die pontinen Zentren modulieren unter dem Einfluss stimulierender und hemmender Feedback-Signale die Atemphasen und haben damit eine wichtige Funktion in der Kontrolle der Atemphysiologie. Zusätzlich werden Informationen an übergeordnete Stellen (Hypothalamus, Amygdala) weitergeleitet. Im zervikalen Myelon (bis C6) wurden ebenfalls Neuronengruppen identifiziert, die auf spinaler Ebene sowohl rhythmische Atemaktivität generieren und modulieren können als auch der Weiterleitung und Organisation der Signale aus den übergeordneten Zentren an die Atemmuskulatur dienen [4, 5].

Input der respiratorischen Zentren Die Atemzentren erhalten ein Feedback über die Atemmechanik aus pulmonalen Rezeptoren und aus der Atemmuskulatur. Barorezeptoren und Dehnungsrezeptoren sichern ein Offenhalten der (oberen) Atemwege während der Inspiration. Die

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Autoregulation der Atmung und des Erhalts der Homöostase im Gas- bzw. SäureBasen-Haushalt erfolgt über Chemorezeptoren für pCO2 , pH und pO2 . pO2 -Rezeptoren liegen vorwiegend im Glomus caroticum der A. carotis. Die Afferenz erfolgt über den N. vagus. Ein Abfall des pO2 führt zu einer starken Stimulation der Atemzentren, stellt aber eher einen „Rescue-Mechanismus“ dar, weil Schwankungen des pCO2 rascher zur Anpassung der Atemarbeit führen. Die Messung von pCO2 und pH erfolgt zu einem geringeren Anteil im Glomus caroticum, hauptsächlich über zentrale Chemorezeptoren. Diese liegen überwiegend an der ventrolateralen Oberfläche der Medulla oblongata, aber auch in anderen Regionen des Hirnstamms. Auch Astrozyten sind an der CO2 -Sensitivität beteiligt. Die Rezeptoren reagieren rasch auf Veränderungen des pCO2 und pH im Liquor. Einflüsse auf die Atmung können auch direkt aus dem zerebralen Kortex, Hypothalamus, der Amygdala und der periaquäduktalen grauen Substanz erfolgen. Diese Einflüsse werden sowohl bei bewusster Atemsteuerung, Anstrengung, Reaktionen auf Hypoxie und Hyperkapnie, Stressreaktionen, aber auch zur Koordination von Schlucken, Vokalisation etc. mit der Atmung aktiv. Sie stabilisieren die Atmung im Wachzustand auch bei Abweichungen der Sollwerte und erhöhen den Atemantrieb [4–6].

Besonderheiten im Schlaf Beim Übergang zum Schlaf fällt dieser zusätzliche Atemantrieb weg, die Atmung wird vorwiegend über die vegetativen Einflüsse autonom gesteuert. Es findet eine „Sollwertverstellung“ statt, die einen um ca. 3–8 mmHg höheren pCO2 akzeptiert. Die Sensitivität der Chemorezeptoren sinkt, der Tonus der Atemmuskulatur und der Dilatoren der oberen Atemwege wird reduziert. Unterschreitet der pCO2 den Sollwert um 2–6 mmHg tritt eine Reduktion der Atmung bis hin zur Apnoe auf. Die Apnoeschwelle im Schlaf liegt somit im Bereich normokapnischer Werte im Wachen. Die führt auch beim Gesunden bei raschen Übergängen von Wach- in den Schlafzustand zu einer unregelmäßigen Atmung, bis ein neuer Steady state etabliert ist. Beim Aufwachen laufen diese Prozesse in umgekehrter Richtung. Bei einer Arousal-Reaktion (gleich welcher Genese) tritt ein CO2 -Abfall auf, der zunächst protektiv wirkt, beim raschen Wiedereinschlafen aber eine zentrale Apnoe hervorrufen kann. Damit wird verständlich, dass der Schlaf eine kritische Phase der Atemregulation selbst bei im Wachzustand unauffälliger Atmung darstellt [7, 8]. Nach eigener Erfahrung treten respiratorische Ereignisse bei Patienten mit Chiari-Malformation verstärkt in REM-Schlafphasen auf.

Pathophysiologie der Atmung bei Chiari-II-Malformation Die anatomische Verteilung der o. g. Strukturen legt eine erhöhte Vulnerabilität bei einer Chiari-Malformation nahe, weil sowohl die im Hirnstamm gelegenen Strukturen als auch die für den sensorischen Input nötigen kaudalen Hirnnerven betroffen sind. Kinder mit einer CM II zeigen eine verminderte Reaktion auf Hyperkapnie, aber auch Hypoxie. Dies wird als Fehlfunktion der Regelkreise interpretiert, die periphere und

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zentrale Chemorezeptoren, Schaltzentralen und Efferenzen beinhalten. Dabei scheint das Ansprechen vermindert, aber nicht aufgehoben [9–12]. Aus diesen Aspekten wird plausibel, dass eine Chiari-Malformation mit unterschiedlichen Formen von Atemstörungen assoziiert sein kann. Obstruktive Atemstörungen können durch Fehlregulation pharyngealer Reflexe mit Aspiration, Kollaps der oberen Atemwege und Stimmbanddysfunktion auftreten. Auch die mittleren Atemwege werden teils über vagal vermittelte Reflexe offengehalten, eine Störung kann zu einer chronisch obstruktiven Ventilationsstörung führen. Defekte der Atemzentren und Defizite im Input aus peripheren und zentralen Chemorezeptoren bewirken eine Störung der Autoregulation der Atmung mit zentraler Atemstörung.

3.1.2.4.3 Klinik Epidemiologie Die Häufigkeit schlafbezogener Atemstörungen bei Menschen mit MMC ist nicht sicher bekannt. Kleinere prospektive Studien ergaben eine auffällige Polysomnografie bei bis zu 70 % (Kontrollgruppe: 6 %) der Patienten [13], obwohl diese klinisch-anamnestisch keine Hinweise für eine SBAS boten, in einer weiteren Untersuchung lag die Rate sogar bei 80 % [14]. Eine prospektive Querschnittsstudie aus Kanada mit 83 Kindern fand bei lediglich 37 % einen unauffälligen, bei 42 % einen abnormen und bei 20 % einen sicher pathologischen Polysomnografie(PSG)-Befund bezüglich einer SBAS [15]. Besondere Bedeutung erhält die SBAS durch eine Analyse von 380 Todesfällen bei Patienten kanadischer und nordamerikanischer Spina-bifida-Ambulanzen, in der bei ca. 23 % als Todesursache eine SBAS oder ein respiratorisches Versagen, bei weiteren 9 % ein plötzlicher unerklärter Tod während des Schlafes diagnostiziert wurde. Die Autoren schließen daraus, dass das Problem der SBAS bei MMC-Patienten ohne gezielte Diagnostik unterschätzt wird [16]. Trotz der eingeschränkten Daten muss man davon ausgehen, dass Patienten mit MMC ein deutlich erhöhtes Risiko einer SBAS haben und dies zur verringerten Lebenserwartung dieser Patientengruppe beiträgt.

Formen der Atemstörung bei Chiari-II-Malformation Bei Patienten mit CM II können sowohl zentrale wie auch obstruktive SBAS auftreten. Der Anteil an vorwiegend zentralen oder gemischten Ereignissen ist bei Chiariassoziierter Atemstörung höher als bei anderen Patientengruppen und wird mit 30–70 % der auffälligen PSG angegeben [14, 15]. Dies kann eine der Erklärungen dafür sein, dass die Atemstörung häufig unbemerkt bleibt, weil Schnarchen und hörbare Atempausen fehlen („Zentrale Apnoen sind stille Apnoen“). Ursache obstruktiver Apnoen kann eine CM-II-assoziierte Stimmbandparese sein [17].

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Klinische Symptome und Folgeerkrankungen SBAS werden mit einer breiten Palette an Symptomen und Folgeerkrankungen in Verbindung gebracht [18–21]. Aufgrund der Arousal-Reaktionen bei respiratorischen Ereignissen leiden die Betroffenen an einem gestörten Schlaf und erhöhter Tagesschläfrigkeit. Folgen sind eine verminderte Konzentrationsfähigkeit und kognitive Leistungsfähigkeit, erhöhte Unfallgefahr, verminderte Teilhabe am sozialen Leben und damit insgesamt eine verminderte Lebensqualität, bei Kindern auch Verhaltensauffälligkeiten und Entwicklungsstörungen. Letzteres wurde auch für CM-IIassoziierte Atemstörungen beschrieben [22]. Die Symptome können durch strukturierte Fragebögen erfasst werden (z. B. Epworth sleepiness scale, pediatric sleep questionnaire, Stanford sleepiness scale und andere) [23]. Weitere Symptome können Gedeihstörung, Nykturie bzw. Enuresis, Nachtschweiß, Palpitationen und nächtliche oder morgendliche Kopfschmerzen sein. Es besteht eine Assoziation mit arterieller Hypertonie, Herzinsuffizienz, kardialer Arrhythmie und Schlaganfall, wahrscheinlich auch mit Diabetes mellitus, Atherosklerose, Niereninsuffizienz und pulmonaler Hypertonie. Inwieweit diese Befunde auf Patienten mit CM-II-assoziierter Atemstörung übertragen werden können, ist nicht gesichert. Zur Beurteilung der kardiovaskulären und metabolischen Folgen fehlen ausreichende Daten. Mentale Entwicklungsstörungen, Teilleistungsstörungen und ein Aufmerksamkeitsdefizit können auch durch andere Spina-bifida-assoziierte ZNS-Malformationen verursacht sein. Enuresis und sexuelle Dysfunktion sind häufiger durch die spinale Fehlbildung bedingt. Bei Patienten mit CM-II-assoziierter Atemstörung können die damit verbundenen Arousal-Reaktionen fehlen [11]. Dies verhindert eine effektive Gegenregulation, mildert möglicherweise aber die Symptome einer gestörten Schlafarchitektur. Insbesondere bei (vorwiegend) zentraler Atemstörung ist daher die Auswirkung auf Gesundheit und Wohlbefinden des Patienten und damit die Therapie-Indikation schwer einzuschätzen. Aufgrund der genannten gesundheitlichen Risiken sollten CM-II-assoziierte Atemstörungen aber behandelt werden.

Risikofaktoren Als besondere Risikofaktoren für das Vorliegen einer relevanten SBAS wurden ein Lähmungsniveau oberhalb L3 bzw. Rollstuhlabhängigkeit, beobachtete Zyanoseattacken und eine Stimmbandlähmung identifiziert (Details s. Tab. 3.2) [15].

3.1.2.4.4 Apparative Diagnostik Die hier dargestellte Diagnostik sowie die konservative Behandlung schlafbezogener Atemstörungen erfordern die technische Ausrüstung und das Fachwissen einer entsprechend qualifizierten schlafmedizinischen Abteilung. Da diese jedoch nicht immer über entsprechende Erfahrung mit den spezifischen Problemen von Patienten mit MMC verfügt, ist eine enge Zusammenarbeit mit der betreuenden Spina-bifida-

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Tab. 3.2: Risikofaktoren für das Auftreten eines mäßigen bis schweren SBAS mit Angabe des relativen Risikos nach Waters et al., 1998, anhand einer Untersuchung von 83 Patienten. [15]. Symptom oder Befund

Relatives Risiko (95-%-Confidenzintervall)

Rollstuhl Sensibles Niveau oberhalb L3 Motorisches Niveau oberhalb L3 Anatomisches Niveau oberhalb L3 Dekompression der hinteren Schädelgrube in der Vorgeschichte Beobachtete Cyanose Adenoide Vergrößerte Tonsillen Stimmbandlähmung Beobachtete Apnoen im Schlaf Schnarchen ≥ 4 Nächte pro Woche Elterliche Sorge bezüglich einer SBAS Dysphagie

9,8 (2,4–40,1) 9,2 (2,9–29,3) 8,7 (2,7–27,8 3,8 (1,6–9,2) 3,5 (1,3–8,9) 4,6 (1,8–11,8) 3,9 (1,8–8,5) 3,4 (1,5–7,7) 3,2 (1,3–7,6) 2,6 (1,1–6,1) 2,5 (1,0–6,0) 2,3 (1,0–5,4) 2,0 (0,9–4,8)

Ambulanz bei der Wertung der Befunde und interdisziplinären Steuerung der Therapie notwendig.

Polysomnografie Die (stationäre) PSG ist der Goldstandard der schlafmedizinischen Diagnostik. Während des Nachtschlafes werden folgende Parameter fortlaufend registriert, parallel erfolgte eine Videoaufzeichnung: EEG und EOG (Schlafstadien), Oberflächen-EMG Kinn und (abhängig vom Lähmungsniveau) Bein (Aktivität, periodische Bewegungen), EKG (Herzfrequenz), Pulsoxymetrie (Sättigung), transkutanes pCO2 und pO2 , Atemexkursionen an Thorax und Abdomen, Atemfluss an Mund und Nase (Atemmuster). Ausgewertet werden Schlafstadien und Schlafzyklen, Arousal-Reaktionen, respiratorische Ereignisse (Apnoen, Hypopnoen, auffällige Atemmuster, Entsättigungen, pCO2 -Anstieg), Arrhythmien und Herzfrequenzverlauf jeweils in Abhängigkeit von den Schlafstadien und als Indizes pro Stunde Schlafzeit [1–3]. Die automatisierte Auswertung der Parameter muss besonders im Kindesalter aufgrund der altersspezifischen Besonderheiten durch einen erfahrenen Befunder kontrolliert werden. Altersabhängige Normwerte sind zu beachten [2]. Die Verwendung unterschiedlicher Normwerte schränkt die Vergleichbarkeit verfügbarer Studien ein.

Screeningverfahren Zum Screening gibt es vereinfachte, ambulant anwendbare Geräte. Der Vorteil liegt in der Vermeidung eines stationären Aufenthalts, der Nachteil in der fehlenden Überwachung, der häufig eingeschränkten Ableitequalität und Ableiteparameter. Nur eine schwerwiegende Atemstörung kann allein mittels Speicherpulsoxymeter erkannt wer-

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den [15]. Die Screeningverfahren können die Form der Atemstörung, die Auswirkung auf den Schlaf und begleitende neurologische Probleme nicht ausreichend abklären. Der Einsatz wird bei Vorliegen neurologischer und neuromuskulärer Erkrankungen und bei zentralen Atemstörungen nicht empfohlen [19, 23]. Daher ist zur Abklärung einer CM-II-assoziierten SBAS eine stationäre Polysomnografie zu empfehlen. Dies gilt aus unserer Sicht besonders für das Kindesalter.

Weitere Diagnostik Bei Auftreten einer Atemstörung ist eine Abklärung wie bei anderen CM-II-assoziierten Symptomen indiziert. Sie kann durch eine Shuntfehlfunktion ausgelöst bzw. verschlechtert werden, die vordringlich behandelt werden muss [24]. Obstruktive Apnoen können Folge einer CM-II-assoziierten Stimmbandparese sein, deshalb sollte die Stimmbandbeweglichkeit HNO-ärztlich mitbeurteilt werden [17, 25, 26], auch um anatomische Hindernisse wie Adenoide, eine Tonsillenhypertrophie oder eine chronische Rhinitis auszuschließen. Einen negativen Einfluss haben Adipositas, eine ungünstige Schlafposition (insbesondere Rückenlage), fehlerhafte „Schlafhygiene“ (Alkohol, Drogen, Einfluss von Medikamenten) und ein gastro-ösophagealer Reflux. Zusätzliche pulmonale Probleme müssen bedacht werden. Hierzu zählen obstruktive Lungenerkrankungen, eine restriktive Ventilationsstörung (hohes Lähmungsniveau, Skoliose) und körperliche Inaktivität. Diese können die Atemstörung wesentlich mit beeinflussen [19, 27, 28]. Kardiologische Kontrollen sind bei chronischen Ventilationsstörungen zu empfehlen.

3.1.2.4.5 Therapie Nach Ausschluss akuter neurochirurgischer Probleme (s. o.) ist das Ziel der konservativen Therapie eine Normalisierung der Atmung, Stabilisierung der Sauerstoffsättigung und des pCO2 , Reduktion der Sekundärerkrankungen, aber auch eine Normalisierung der Schlafarchitektur und der Tagessymptomatik infolge gestörten Schlafes. Die Therapieeinstellung und der Therapieerfolg sollten durch polysomnografische Untersuchungen überwacht und gesichert werden. Spezifische Daten für Patienten mit CM II sind begrenzt, die allgemeinen Therapieprinzipien zur Behandlung von SBAS gelten auch hier [29].

Obstruktive schlafgebundene Atemstörung Medikamentöse Therapie: Eine medikamentöse Therapie wird nicht empfohlen, mit Ausnahme des begleitenden Einsatzes steroidhaltiger Nasensprays bei allergischer Rhinitis [18]. Im Erwachsenenalter ist die Anwendung von Modafinil und Armodafinil bei anhaltender Tagesmüdigkeit trotz adäquater CPAP-Therapie effektiv, aufgrund möglicher Nebenwirkungen aber umstritten [30].

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Sonstige: Anatomische Hindernisse können ggf. operativ oder funktionell korrigiert werden (z. B. Adenotonsillektomie, Uvulopalatopharyngoplastie, maxilläres Advancement, orale Schienen) [19]. Bei ausgeprägter Stimmbandparese kann die Anlage eines Tracheostomas notwendig werden, auch andere Eingriffe am Kehlkopf (Kordotomie, Arytenoidektomie) sind möglich [31]. CPAP: Die CPAP-Versorgung (CPAP = continuous positive airway pressure) ist die Therapie der Wahl bei OSAS. Über eine auf die Nase aufgesetzte Maske wird ein beständiger Überdruck meist im Bereich von 4 (bei Kindern) bis 12 cmH2 O in den Atemwegen erzeugt. Diese „pneumatische Schienung“ verhindert den Kollaps der Atemwege. Bei mangelnder Toleranz des Druckes während der Exspiration oder zusätzlichen zentralen Apnoen kann eine Beatmung mit unterschiedlichen Druckniveaus während der In- und Exspiration erfolgen (BiLevel-CPAP). Eine Triggerung synchronisiert dies mit der Spontanatmung. Das stellt den Übergang zur nichtinvasiven Maskenbeatmung dar. Auf eine gute Passform ist zu achten, weil Druckstellen (besonders Nasenrücken und Lippen) oder Leckagen auftreten können, die zu Irritationen an den Konjunktiven, zu gestörtem Schlaf und zur Austrocknung der Schleimhäute durch den erhöhten Luftstrom führen können. Weitere Nebenwirkungen können Völlegefühl und Blähungen, selten Nasenbluten, Pneumothorax oder Aspiration sein. Die Industrie stellt eine Auswahl an Masken und Pronges zur Verfügung, die mittels Luftpolstertechnik, Gelkissen oder weichen Silikonausformungen für einen dichten und doch komfortablen Sitz sorgen. Die Masken werden mit Bändern oder Hauben am Kopf befestigt. Die Ausatmung erfolgt über ein in die Maske integriertes oder am Beatmungsschlauch anzubringendes Exspirationsventil. Bei überwiegender Mundatmung oder starker Leckage durch den geöffneten Mund kann eine „full-face“-Maske verwendet werden, die Nase und Mund umschließt. Bei Ausfall des Gerätes kann der Patient nicht an der Maske vorbei atmen und muss daher entsprechend überwacht werden. Bei fehlender Passform (z. B. bei anatomischen Besonderheiten) kann eine nach Abdruck angepasste Silikonmaske verwendet werden. Die Gewöhnung an die Maske kann (insbesondere bei Kleinkindern) schwierig sein. Bei diesen kann sich durch den Anpressdruck eine relative Mittelgesichtshypoplasie im Wachstum ausbilden [18, 19, 28]. Die langfristige Compliance ist häufig eingeschränkt [27]. Die CPAP-Therapie kann eine zentrale Atemstörung demaskieren und durch eine Verbesserung des pCO2 das Auftreten zentraler Apnoen begünstigen [8]. Der Therapieerfolg muss daher im Rahmen der Geräteanpassung im Schlaflabor überprüft werden. Sauerstoffgabe: Die nächtliche Sauerstoffapplikation kann die Grundsättigung verbessern und Sättigungsabfälle im Rahmen obstruktiver Ereignisse mildern. Obstruktive Ereignisse mit den zugehörigen negativen Effekten werden damit aber nicht verhindert [32]. Eine alleinige Sauerstofftherapie wird bei obstruktiver SBAS daher nicht empfohlen [18]. Sie kann aber ergänzend zur CPAP-Therapie (vor allem in der Anfangsphase) notwendig sein.

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Zentrale schlafgebundene Atemstörung Gabe von O2 : Bei Patienten mit idiopathischer zentraler SBAS oder Cheyne-StokesAtmung mit normo- oder hypokapnischen Werten im Wachzustand kann eine O2 Gabe die Regulationsstörung im Schlaf verbessern und nicht nur die Grundsättigung, sondern auch die Atmung stabilisieren [7, 8]. Ausreichende Langzeitdaten liegen allerdings noch nicht vor. Eine Sauerstofftherapie kann im Schlaflabor getestet und ggf. indiziert werden. Heimbeatmung: Die Applikation eines CPAP kann zu einer Verbesserung auch einer zentralen Atemstörung führen, ist meist aber nicht ausreichend. Therapie der Wahl ist dann die Anwendung eines Bilevel-CPAP mit Trigger (s. o.) und Back-upFrequenz [8]. Bezüglich Technik und Nebenwirkungen siehe oben „CPAP“. Bei ausgeprägter Atemstörung oder schwerer Fehlfunktion der Atemmuskulatur erlauben vollständig ausgestattete Heimbeatmungsgeräte eine differenzierte Beatmung mit unterschiedlichen Modi mit Messung und Einstellung von Druckwerten, Druckbegrenzungen, Atemvolumina, Frequenz, In- und Exspirationsdauer, Triggerart (flow- oder druckgesteuert) und Triggerempfindlichkeit. Dies ist auch nichtinvasiv über die o. g. Masken zu erreichen. Bei nicht behebbaren Obstruktionen der oberen Atemwege oder einem Versagen der nichtinvasiven Beatmung kann die Anlage eines Tracheostomas und eine invasive Beatmung erforderlich werden. Dies erfordert immer die Anwendung voll ausgestatteter Geräte inklusive Befeuchtung, weil die Anfeuchtung der Atemluft durch die oberen Atemwege entfällt. Eine Monitorüberwachung ist obligatorisch. Zur Trachealtoilette wird ein Absauggerät benötigt, weil das Abhusten erschwert ist. Bei schwerster Atemstörung müssen Ersatzgeräte zur Verfügung stehen. Betreuungspersonen müssen in die Anwendung und Pflege der Geräte eingewiesen sein. Baro- und Volutrauma, Infektionen, Verletzungen und Granulationen, Stenosen und Fisteln können auftreten. Weitere Probleme können Schluck- und Sprechstörungen, Dislokation und Verlegung der Kanüle sein. Die Pflege eines heimbeatmeten Patienten stellt eine große Belastung für die Familie dar. Eine Unterstützung durch ambulante Pflegedienste oder durch stationäre Einrichtungen sollte im Bedarfsfall ermöglicht werden. Der Übergang zur Beatmung ist daher eine schwerwiegende Entscheidung im Verlauf einer Erkrankung [19, 28]. Ist eine invasive Beatmung auch tagsüber nötig, kann ein Zwerchfellschrittmacher eingesetzt werden, um eine zeitweise Unabhängigkeit vom Beatmungsgerät zu erreichen. Hier wird über einen externen Taktgeber über an der Haut angebrachte Antennen ein implantierter Receiver angesteuert. Dieser löst über eine Stimulation des N. phrenicus eine Zwerchfellkontraktion und damit die Inspiration aus [21, 33]. Die erfolgreiche Anwendung auch bei CM-II-assoziierter Atemstörung wurde bereits in den 80er-Jahren beschrieben [34]. Nachteile sind die Invasivität des Verfahrens sowie diagnostische Einschränkungen, weil die Patienten nicht mehr in ein MRT gebracht werden dürfen.

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Medikamente: Methylxanthine aktivieren den Atemantrieb, verbessern die Kraft der Atemmuskulatur und erweitern die Bronchien. Nebenwirkungen können eine vermehrte Diurese, erhöhte Anfallsneigung und kardiale Arrhythmien sein. Relevante Ein- und Durchschlafstörungen begrenzen oft die Anwendbarkeit. Häufig verwendet werden Koffein und Theophyllin. Die wenigen verfügbaren Daten bei Patienten mit CM-II-Malformation zeigen zwar positive Effekte, jedoch keine Normalisierung der Befunde [29]. Azetazolamid erzeugt als Carboanhydraseinhibitor durch eine verminderte tubuläre Bikarbonatrückresorption in der Niere eine metabolische Azidose. Durch Stimulation peripherer und zentraler Chemorezeptoren führt dies zu einem vermehrten Atemantrieb. Isoformen der Carboanhydrase existieren auch im Endothel der Kapillaren und intrazellulär. Die Blockade führt bereits bei niedrigerer Dosierung zu einer leichten Erhöhung des CO2 . Eine höhere Dosierung führt zu einer Störung des CO2 -Austausches zwischen Gewebe und Erythrozyten. Der CO2 -Anstieg führt durch Stimulation zentraler Chemorezeptoren zu einem vermehrten Atemantrieb [35]. Dieser Mechanismus könnte auch bei CM-II-assoziierter Atemstörung effektiv sein. Nebenwirkungen können Parästhesien, (milde) gastrointestinale Beschwerden, eine vermehrt Diurese und Elektrolytverschiebungen sein. Eine Langzeitanwendung kann eine Nephrokalzinose begünstigen. Die häufigste Verwendung finden Carboanhydrasehemmer in der Therapie höheninduzierter Atemstörungen, es wird aber auch bei zentralen Atemstörungen anderer Genese eingesetzt [8]. Einzelfallberichte über einen positiven Effekt bei CM-II-assoziierter Atemstörung liegen vor [15]. Zusammenfassend ist auch bei zentraler Atemstörung die apparative Therapie mit nichtinvasiver Beatmung einer medikamentösen Therapie aufgrund unzureichender Wirksamkeit, ungünstigen Nebenwirkungsprofils oder fehlender Langzeitdaten vorzuziehen [7]. Chiari-Dekompression: Systematische Untersuchungen der Effekte einer Dekompression auf eine Atemstörung bei MMC und CM-II-Malformation liegen nicht in ausreichendem Maße vor. Fallserien legen nahe, dass eine Dekompression zu einer Besserung einer Atemstörung führen kann, dies aber nur bei einem Teil der Patienten erwartet werden darf. Häufig ist auch nach Dekompression eine weitere Therapie nötig [14, 15, 24, 29]. Die Ergebnisse scheinen damit ungünstiger als bei Patienten mit CM-I-Malformation [36]. Dies ist unter Berücksichtigung der Pathophysiologie auch plausibel. Durch den Eingriff sind lediglich die „mechanischen“ Komponenten (Druck auf den Hirnstamm, Syringomyelie bzw. -bulbie, Traktion der Hirnnerven, beeinträchtigte Durchblutung) zu beeinflussen. Dysplasie von Hirnnervenkernen, abnorme Vaskularisation, bereits eingetretene Schäden in Form von (Mikro-)Infarkten und Hämorrhagien können chirurgisch dagegen nicht beeinflusst werden. Dies impliziert, dass die Indikation einer Chiari-Dekompression allein aufgrund einer Atemstörung sorgfältig abgewägt werden und die Entscheidung unter

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Berücksichtigung weiterer Symptome, der individuellen anatomischen Situation und der Operationsrisiken getroffen werden muss. Auch nach erfolgter Dekompression müssen die Überwachung bezüglich der Atemstörungen und ggf. weitere konservative Therapiemaßnahmen fortgesetzt werden.

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Ulrich-Wilhelm Thomale 3.1.2.5 Indikation und Durchführung der kranio-zervikalen Dekompression 3.1.2.5.1 Einleitung Die Chiari-II-Malformation (CM II), die bei der Mehrheit aller Spina-bifida-Patienten vorliegt, resultiert in einer kaudalen Verlagerung der Kleinhirntonsillen in den Spinalkanal und ist häufig assoziiert mit einer dorsalen Abknickung der Medulla oblongata. Diese anatomische Fehlbildung bleibt zwar in vielen Fällen asymptomatisch, kann aber durch verschiedene pathophysiologische Faktoren wie intrakranielle Hyperten-

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sion, Konstriktion im kranio-zervikalen Übergang, Tethering des Rückenmarks und spinale Hypotension in unterschiedlichem zeitlichen Verlauf zum Auftreten und zur Zunahme von neurologischen Funktionsstörungen führen. Resultierende Schluckstörungen mit sekundärer Aspiration, Atemantriebsstörungen oder pharyngeale Hypotension mit obstruktiven Atemstörungen stellen die häufigste Ursache der Mortalität im Krankheitsverlauf von Spina-bifida-Patienten dar [1]. Die Indikation zur Dekompression des kranio-zervikalen Übergangs wird bei Progression oder Dekompensation der für eine CM II typischen, klinischen Symptomatik bei 10–33 % der Patienten gestellt [2, 3]. Vor einer kranio-zervikalen Dekompression ist die korrekte Shuntfunktion sicherzustellen und ein funktionell relevantes Tethered cord auszuschließen. In den letzten Jahren sind zudem präventive Maßnahmen zur Verringerung der Ausprägung einer CM II mehr und mehr in den Vordergrund der therapeutischen Anstrengungen gerückt worden. Hierbei kommt zum einen die fetale Chirurgie zum pränatalen Verschluss der Myelomeningozele zum Einsatz. Zum anderen soll eine individuell angepasste Shunttherapie eine Mikrozephalie mit der Folge einer Verstärkung der CM II verhindern. Die Überwachung der neurologischen Funktion durch das intraoperative neurophysiologische Monitoring und die mikrochirurgische Operationstechnik haben die intraoperative Morbidität im Falle einer Dekompression des kranio-zervikalen Übergangs deutlich verringert. Individuelle anatomische Gegebenheiten und das komplexe Zusammenspiel verschiedener Faktoren für eine klinische Dekompensation müssen sorgfältig in die Operationsplanung einbezogen werden. Anatomische Besonderheiten, klinische Dynamik und präventive bzw. operative Therapieansätze werden im Folgenden besprochen.

3.1.2.5.2 Prävention Die Prävention der CM II ist neben der Vermeidung eines shuntabhängigen Hydrocephalus und einer toxischen Schädigung des Myelons ein wesentliches Ziel der intrauterinen Versorgung der Myelomeningozele (s. Kap. 2.4). Sie soll im letzten Drittel der Fetalperiode den Liquorverlust über den spinalen Defekt (spinale Hypotension) und die damit verbundene Entwicklung sekundärer Fehlbildungen der hinteren Schädelgrube verhindern. In der 2011 veröffentlichten prospektiv randomisiert in ausgewählten Zentren durchgeführten MOMS-Studie wurde durch den offenen intrauterinen Verschluss die Rate der postnatal nachgewiesenen CM II von 96 % auf 64 % reduziert [4]. Die aktuelleren Daten der Post-MOMS-Phase aus Philadelphia, einem der größten fetalchirurgischen Zentren weltweit, bestätigen sogar eine Reduktion die CM-II-Rate auf 29 % [5]. Eine MRT-Studie mit einer Bilddatenakquisition während der Fetalperiode und postpartal verglich die CM-II-Rate bei Patienten, die eine prä- oder eine postnatale Versorgung einer Myelomeningozele erhielten. Hierbei zeigte sich, dass 81 % der CM II sich nach pränatalem Verschluss zurückbildeten, aber nur 3 % nach postnatalem Ver-

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schluss. Allerdings blieben unter den schwergradigen und potentiell dekompressionspflichtigen Kleinhirnverlagerungen 11,5 % in der pränatal versorgten Gruppe bzw. 65,5 % in der postnatalen Gruppe unverändert stark ausgeprägt [6]. Im Langzeitverlauf der Patienten stellt die Aufrechterhaltung des regulären Kopfwachstums bzw. des physiologischen intrakraniellen Raumes für die Hirnentwicklung einen relevanten Faktor dar, um einer Zunahme einer CM II vorzubeugen. Da ca. 60–85 % der Patienten einen shuntpflichtigen Hydrocephalus entwickeln und dieser Anteil mit der Ausprägung einer CM II korreliert, muss bei diesen Patienten insbesondere darauf geachtet werden, eine Liquorüberdrainage durch das Shuntsystem mit der Folge eines verringerten Kopfwachstums, einer relativen Verkleinerung des intrakraniellen Raumes und einer Zunahme der CM II zu verhindern. Dies kann durch verstellbare Ventile und durch antihydrostatische Komponenten langfristig erreicht werden, indem bei zunehmendem Körperwachstum und Aktivität der Patienten eine Überdrainage durch Anpassung des Ventilwiderstands verhindert wird [9, 10]. Regelmäßige Kopfumfangsmessungen eignen sich als einfache und sensible Monitoringmethode, um den Ventilwiderstand rechtzeitig zu erhöhen und damit das Kopfwachstum möglichst im normalen Perzentilenbereich zu halten. Der Einsatz von alternativen Methoden wie einer endoskopischen Ventrikulozisternostomie [8] als Hydrocephalustherapie kann das Problem der Überdrainage und damit der sekundären Verschlechterung einer CM II umgehen und die Shuntabhängigkeit bei Kleinkindern [7] verhindern. Ob damit auch bei Spina-bifida-Patienten langfristig eine suffiziente Hydrocephalusbehandlung mit einer optimalen neurokognitiven Entwicklung der Patienten gewährleistet ist, wurde allerdings bis heute nicht untersucht.

3.1.2.5.3 Anatomische Besonderheiten Die CM II wird als komplexe Fehlbildung sowohl der supra- als auch der infratentoriellen Kompartimente beschrieben, bei der die Schädelform und die zervikale Wirbelsäule mitbetroffen sind. Im Folgenden sollen ausschließlich die Auffälligkeiten des kranio-zervikalen Übergangs erläutert werden. Die hintere Schädelgrube ist häufig verkleinert und das Foramen magnum erweitert. Die hintere Schädelbasis ist steiler und der Klivus etwas konkaver geformt. Eine basiläre Invagination durch den Dens des zweiten Halswirbelkörpers ist deutlich seltener zu beobachten als bei einer CM I. Der zervikale Spinalkanal ist ebenfalls eher erweitert und die Wirbelbögen zeigen gelegentlich eine Bogenschlussstörung. Die hintere Schädelgrube ist nicht nur knöchern verändert, sondern zeigt auch ein steil stehendes Tentorium mit relativ tief lokalisiertem Confluens sinuum. Die subokzipitale intradurale venöse Drainage kann stark ausgeprägt sein und somit ein hohes Risiko für den Patienten bei Duraeröffnung darstellen. Der 4. Ventrikel ist schmal und elongiert. Das Foramen Magendie ist im MRT häufig nicht mehr zu identifizieren. Anteile des Plexus choroideus aus dem 4. Ventrikel können weiter kaudal und

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extraventrikulär lokalisiert sein. Neben einer Syringomyelie können sich auch zystische Veränderungen am Ausgang des 4. Ventrikels oder extramedullär im unteren zervikalen Spinalkanal ausbilden. Neben einem Tonsillentiefstand liegen auch die Pons, die abgeflacht erscheint, und die Medulla oblongata sowie die kaudalen Hirnnerven deutlich tiefer als normal. Das Kleinhirn kann sich lateral um den unteren Hirnstamm verlagern. Die dorsalen Anteile der Medulla oder des zervikalen Myelons, insbesondere ab dem Obex, können nach hinten und unten abgeknickt sein und sich mit den Kleinhirntonsillen verlagert haben [11]. Diese individuell mehr oder weniger stark veränderte Anatomie des kranio-zervikalen Übergangs muss im Rahmen der Operationsplanung analysiert werden, um hieraus ableiten zu können, welche Strukturen einer kranio-zervikalen Dekompression zugänglich sind. Die MRT-Diagnostik ist zwingend notwendig, um eine Indikationsstellung und Planung einer operativen Therapie bei CM II zu ermöglichen. Beispiele der MRT-Diagnostik von Patienten mit CMII sind in der Abb. 3.20 veranschaulicht. Neben der Beurteilung der individuellen anatomischen Gegebenheiten sollte bei Vorliegen folgender Voraussetzungen in der bildgebenden Diagnostik eine kranio-zervikale Dekompression in Betracht gezogen werden: 1. Tonsillentiefstand mit Kompression des zumeist alterierten unteren Hirnstamms und des zervikalen Rückenmarks. 2. Der Liquorsaum ist anterior sowie posterior im Bereich der CM II, der in der T2Sequenz beurteilt wird, weitgehend aufgebraucht. 3. Die Syringomyelie im zervikalen Myelon ist ein Zeichen einer dekompensierenden CM II, während intraparenchymatöse, hyperintense Signale im Myelon als Zeichen einer zervikalen Myelopathie eher selten anzutreffen sind. 4. Extramedulläre Zystenbildungen können sekundäre Raumforderungen darstellen, die zur klinischen Verschlechterung beitragen.

3.1.2.5.4 Indikation zur operativen Therapie Die klinische Symptomatik einer CM II ist vielfältig, sodass typische Symptome, die ausschließlich auf die CM II zurückzuführen sind, eher schwer von anderen Symptomen des Spina-bifida-Komplexes abzugrenzen sind. Allgemeinere Symptome sind Nackenschmerzen, zervikogener Kopfschmerz, zervikale Muskelverhärtungen, Bewegungseinschränkungen des kranio-zervikalen Übergangs oder radikuläre Schmerzen im Bereich der oberen Extremitäten. Klassische Hirnstammsymptome stellen sich als Dysphagie, Aspiration, Doppelbilder, Nystagmus, kaudale Hirnnervenstörungen, bulbäre Sprache, Ataxie, Spastik und Sensibilitätsstörungen oder Lähmungen der Extremitäten dar. Apnoephasen, die in einer Polysomnografie nachgewiesen werden müssen, können einhergehen mit vermehrtem Schnarchen und anhaltender Schläfrigkeit im Tagesverlauf. Im Kleinkindalter kann Stridor ein Zeichen einer ausgeprägten CM II sein und ist mit einer schlechten Prognose verbunden. Die heterogenen Symptome, die im Rahmen der Spina bifida auch mit anderen Ursachen zusammenhängen

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können, macht die Indikationsstellung zur Operation im Einzelfall schwierig. Hierbei spielt der zeitliche Faktor im Sinne einer Progression der Beschwerden und Dekompensation der Symptome, die bisher konservativ erfolgreich behandelt wurden, eine wichtige Rolle. Grundlegend wichtig ist auch, dass die Indikation interdisziplinär getroffen wird und die Eltern und ggf. das Pflegeteam in Bezug auf die zeitliche Entwicklung der Beschwerden mit in die Entscheidung zur Operation einbezogen werden. Die in den vorangegangen Kapiteln besprochenen diagnostischen Verfahren der Elektrophysiologie und des Schlaflabors sollten im zeitlichen Verlauf vorliegen, um bei grenzwertigen Befunden eine mögliche Progression objektivieren zu können. Die Indikation zur operativen Therapie richtet sich nicht primär auf die kraniozervikale Dekompression. Eine klinisch relevante Shuntfehlfunktion oder ein sekundäres Tethered-cord-Syndrom sind zwingend vorher auszuschließen. Im Zweifelsfall, wenn beides nicht sicher ausgeschlossen werden kann, wenn z. B. die letzten Operationen zu lange zurückliegen oder von nichtspezialisierten Teams durchgeführt wurden, sollte erwogen werden, zunächst eine operative Shuntrevision und dann ein Untethering durchzuführen, bevor die Dekompression des kranio-zervikalen Übergangs in Erwägung gezogen wird. In vielen Fällen kann dadurch auf eine Dekompression verzichtet werden. Die Dekompression im Bereich des kranio-zervikalen Übergangs wird demnach empfohlen, wenn eine Shuntrevision und ein Untethering entweder nicht indiziert sind oder keine Besserung der bestehenden Symptomatik erzielt haben und die Symptomatik eine Progression oder klare Dekompensation vorher noch gut konservativ therapierbarer Beschwerden aufweist. Dazu passend sollte ein Korrelat in der Magnetresonanztomografie der CM II mit eingeschränkten räumlichen Verhältnissen im Bereich des Foramen magnum und der oberen Halswirbelsäule vorliegen. In seltenen Fällen ist eine frühe Dekompression des kranio-zervikalen Übergangs bereits bei Kleinkindern notwendig, wenn zuvor ein suffizienter Verschluss der Myelomeningozele und eine adäquate Shunttherapie durchgeführt wurden. In diesen Fällen handelt es sich zumeist um stärker ausgeprägte CM II mit sehr tief stehenden Tonsillen und einem äußerst limitierten Platzangebot innerhalb der hinteren Schädelgrube und des oberen Zervikalkanals. Auch hier ist die Klinik wegweisend. Insbesondere konservativ therapieresistente Apnoephasen und ein Stridor können zur Indikationsstellung für eine Dekompression führen, die insbesondere bei Kleinkindern aufgrund der guten Elastizität des Weichteilgewebes meist knöchern, ohne Duraerweiterungsplastik ausreichend ist [12, 13].

3.1.2.5.5 Operative Technik Die operative Dekompression im Bereich des kranio-zervikalen Übergangs findet in Intubationsnarkose statt. Ein Blasenkatheter ist sinnvoll, um dem Patienten in der unmittelbaren postoperativen Phase das Katheterisieren zu ersparen. Die Lagerung erfolgt entweder in sitzender Position oder in Bauchlagerung, wobei die letztere Methode inzwischen deutlich häufiger Anwendung findet, weil der Lagerungsaufwand

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geringer ist. Der Kopf wird in nur leicht inklinierter Position in einer Mayfield-Klemme fixiert. Bereits die Lagerung sollte unter intraoperativem, neurophysiologischem Monitoring inklusive motorisch evozierter Potentiale (MEP), sensorisch evozierter Potentiale (SEP) und ggf. auch akustisch evozierter Hirnstammpotentiale (AEHP) erfolgen. Eine Messung jeweils unmittelbar vor und nach der Lagerung reicht zumeist aus, um die Stabilität der Messwerte und damit eine korrekte Lagerung zu verifizieren. Im Falle einer Verschlechterung der Werte kann die Lagerung angepasst werden, um potentiell fatale lagerungsbedingte Kompressionsschäden im Bereich der Medulla oblongata und des zervikalen Myelons zu vermeiden. Die Planung der Operation erfolgt präoperativ entsprechend der MRT-Bildgebung. Hier ist insbesondere wichtig zu beachten, ob die Kompression durch das Foramen magnum, durch die oberen Halswirbelbögen oder durch beides verursacht wird. Das Level der Kleinhirntonsillenverlagerung spielt hierbei die entscheidende Rolle, weil hierdurch das Ausmaß der Dekompression bis nach zervikal festgelegt wird. Dies bestimmt auch die Lokalisation des Hautschnitts. Nach der Lagerung können das Inion wie auch die Dornfortsätze des zweiten bzw. dritten Halswirbelbogens getastet werden. In Korrespondenz zu den MRT-Bildern kann hierdurch das Ausmaß der Hautschnittlänge nach kaudal relativ zu diesen anatomischen Landmarken bestimmt werden. Die Haare sollten nach Ausmessen der Inzisionslänge rasiert werden. Eine Rasurbreite von 1 cm reicht aus, angrenzende Haare können nach Befeuchtung durch die Desinfektion zur Seite gekämmt werden. Nach Desinfektion erfolgen das Abdecken und die Inzision der Haut entsprechend der Anzeichnung. Nach Präparation des subkutanen Fettgewebes in die Tiefe kann die Muskelfaszie dargestellt werden. Diese wird zunächst proximal unter Schonung der Muskulatur in dem Bindegewebe der Mittellinie, dem Ligamentum nuchae, inzidiert. Diese dient auch als Leitlinie nach kaudal und in die Tiefe. Die subokzipitale Kalotte wird dargestellt und mit einem Dissektor im oberen Teil der Inzision vom Schädel gelöst, um dann mit dem Messer an der Oberfläche und mit der Schere in der Tiefe die Muskulatur nach kaudal voneinander zu trennen. Durch das Einsetzen von Weichteilsperrern kann eine bessere Übersicht zur Identifikation der Muskelansätze von dem Subokziput und der Foramen-magnumHinterkante erlangt werden. Die Muskulatur wird von dem Hinterhauptknochen durch ein Raspatorium abgeschabt und durch weiteres Spreizen des Sperrers nach lateral verlagert. Am kranio-zervikalen Übergang kann nun der Atlasbogen identifiziert werden. Von diesem werden die Ansätze der Membrana atlanto-occipitalis scharf von der Mitte nach seitlich abgeschoben. Beidseits des Dornfortsatzes des zweiten Halswirbelbogens werden die Muskelfaszie und die Ansätze der Mm. rectus und obliquus capitis nah am Knochen inzidiert und mitsamt der paraspinösen Muskulatur zur Seite verlagert. Eine seitliche Präparation von jeweils 1 cm reicht meist aus. Je nach weiterer Dekompressionsnotwendigkeit kann weiter nach kaudal präpariert werden. Eine Dekompression über den Bogen des dritten Halswirbelbogens hinaus ist jedoch meistens nicht notwendig. Nach vollständiger Darstellung des knöchernen kraniozervikalen Übergangs erfolgt nun die knöcherne Dekompression. Bei Notwendigkeit

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der subokzipitalen Dekompression sollte zuvor auf den MRT-Bildern das Ausmaß der Kraniektomie nach kranial ausgemessen werden. 1,5–2 cm sind meist ausreichend. Hierfür werden zwei Bohrlöcher beidseits der Mittellinie in entsprechendem Abstand vom Foramen magnum angelegt. Die Dura kann in den Bohrlöchern mit einem Dissektor zirkulär von der Kalotte gelöst werden, um den Schuh des Kraniotoms gefahrlos epidural platzieren und eine Kraniektomie durchführen zu können. Es bietet sich an, dabei einen knöchernen Rand am Foramen magnum stehen zu lassen, der dann mit der Stanze vollständig entfernt wird. Die Entnahme des Knochens ist dadurch einfacher. Diese Technik verhindert die ungewollte Ruptur der Dura bei Ablösung der restlichen Anteile des teilweise stark mit der Dura verwachsenen atlanto-okzipitalen Ligaments, die bei ausgeprägter venöser Drainage innerhalb der Dura zu Blutungsproblemen führen. Mit dem Dissektor wird nun der Epiduralraum unter dem Atlas- und Axisbogen präpariert und mit dem Kraniotom kann eine beidseitige Laminotomie erfolgen, um dann das interspinöse Ligament zwischen dem zweiten und dritten Dornfortsatz mit der Schere zu lösen und beide Bögen entfernen zu können. Mit der Stanze wird noch etwas nachgearbeitet, um eine ausreichend laterale knöcherne Dekompression erreichen zu können. Mit einer Diamantfräse ist es wichtig unter mikroskopischer Kontrolle das Foramen magnum beidseitig nach lateral so weit zu erweitern, dass auch eine dorso-laterale Dekompression gewährleistet ist, ohne dabei die Kondylen zu gefährden. Das verbliebene mit der Dura verwachsene Ligament zwischen C0 und C1 wird unter wiederholter Blutstillung reseziert. Nun wird entschieden, ob eine Duraerweiterung notwendig ist. Bei Kleinkindern im Falle einer frühen Dekompression sollte hierauf verzichtet werden, weil die Dura ausreichend flexibel ist und ein ausgeprägter Sinus suboccipitalis zu erwarten ist, der zu hämodynamisch relevanten Blutverlusten bei Eröffnung führen kann [14]. In unklaren Fällen kann der intraoperative Ultraschall eine gute Kontrolle darüber geben, ob ein subduraler Liquorsaum über den Tonsillen die ausreichende Dekompression bestätigt. Wenn man auf eine Duraerweiterungsplastik verzichten kann, um auch die Komplikation einer Liquorfistel zu verhindern, wird von großer Bedeutung, dass die äußere Schicht der Dura kranio-zervikal inzidiert wird, um eine passive Erweiterung der Dura zu ermöglichen. In den meisten Fällen einer CM II ist allerdings eine Duraerweiterungsplastik erforderlich. Hier wird die Duraeröffnung über eine y-förmige Inzision durchgeführt. Eine Tonsillenresektion ist bei der CM II obsolet, weil in den tiefer gelegenen Tonsillen auch Hirnstammanteile enthalten sein könnten. Zudem geht es bei der Dekompression nicht wie bei der CM I darum einen Hydrocephalus zu verhindern, weil dieser in den meisten Fällen bereits im Vorfeld durch einen Shunt oder eine endoskopische Ventrikulozisternostomie behandelt wurde. In den Fällen, bei denen sich zystische Raumforderungen durch isoliert liquorproduzierende Kompartimente gebildet haben, sollten diese am Ort der dünnsten Membranen und im Kontakt zum Subarachnoidalraum weitläufig gefenstert werden. Zur Durarekonstruktion und -erweiterung wird eine dreiecksförmige Duraplastik eingenäht. Dies muss unbedingt liquordicht erfol-

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gen, weil die Komplikation eines Liquorkissens wieder einen komprimierenden Effekt haben würde. Die Ränder der Duraplastik werden unter die Duraränder gebracht. Durch Ein- und Ausstiche innerhalb der Ecken der Duraplastik werden Haltefäden platziert. Diese können durch fortlaufende Naht mit einem unter Zug gehaltenen Faden die dichte Einnaht gewährleisten. Hierbei muss darauf geachtet werden, dass bei der Einnaht der Plastik die Entlastung der Dura und Erweiterung des liquorumfluteten, intraduralen Raumes nicht erneut eingeschränkt wird. Als Duraplastikmaterial kann sowohl körpereigenes Material in Form von Periost oder Muskelfaszie verwendet werden als auch kommerziell erhältliches Material wie z. B. bovines Perikard oder Goretex. Die Literatur kann keinen Vorteil der einzelnen Implantate im Vergleich nachweisen. Goretex kann den Nachteil haben, dass eine Verwachsung der Duraränder zum nachhaltigen, liquordichten Verschluss schwerer möglich wird. Abschließend kann die Auflage von Fibrinkleber und Gelatineschwamm erfolgen, was auch in fertigen Kombinationspräparaten kommerziell erhältlich ist. Nach Muskulaturadaptation ist ein ebenfalls dichter Faszienverschluss durch fortlaufende Naht anzustreben. Die Subkutannaht erfolgt engmaschig. Die Hautnaht kann je nach Hautverhältnissen und Risiko einer Liquorfistel durch resorbierbares oder nichtresorbierbares Nahtmaterial oder durch Hautkleber erfolgen. Varianten der kranio-zervikalen Dekompression werden durch das Ausmaß der zu dekomprimierenden Areale festgelegt. Im Falle einer relativen Enge auf Höhe des Foramen magnum muss dies durch eine subokzipitale Kraniektomie dekomprimiert werden. Wenn sich hier jedoch keine Enge darstellt, kann auf die Kraniektomie verzichtet werden und eine rein zervikale Dekompression durchgeführt werden. Ihre Ausdehnung hängt ebenfalls von dem Ausmaß der relativen zervikalen Enge ab. Hierbei sollte nicht zwingend das vollständige Ausmaß des Tonsillentiefstands bewertet werden, sondern vielmehr der Bereich der Enge, die im MRT (T2-Sequenz) keinen äußeren Liquorsaum aufweist. Je mehr Wirbelbögen bei der Dekompression reseziert werden, desto eher kann der Eingriff zu einer kyphotischen Instabilität im langfristigen Verlauf führen [15, 16]. Wie hoch das Instabilitätsrisiko ist und im Verlauf eine Stabilisierungsoperation notwendig werden könnte, ist bis heute nicht untersucht. Als Alternative zur reinen Laminektomie wurde in diesen Fällen die sog. „open door laminoplasty“-Technik beschrieben [17]. Hierbei werden die Dornfortsätze ent▸ Abb. 3.20: Repräsentative Fallbeispiele mit Chiari-II-Malformation vor und nach kranio-zervikaler Dekompression. (a) Patient mit ausgeprägter, teilweise zystischer Raumforderung und Myelopathie bei kranio-zervikaler Enge. (b) Es erfolgte die ausgedehnte Dekompression bis HWK3 und Zystenentlastung. (c) Postnatale ausgeprägte Enge im Bereich des kranio-zervikalen Übergangs bei CM II mit Tonsillentiefstand bis HWK4 reichend. Klinisch bestanden anhaltender Stridor und Apnoephasen. (d) Es erfolgte die rein knöcherne Dekompression kranio-zervikal bis HWK2. (e) Weniger stark ausgeprägte CM II mit chronisch progredienten, eher weniger stark ausgeprägten Symptomen, aber einer dorsalen subarachnoidalen Zyste zerviko-thorakal. Es erfolgte die kranio-zervikale Dekompression bis zum Atlas. (f) Postoperativ zeigte sich eine ausreichende Dekompression und Rückbildung der Zyste.

3.1 Zerebrale Fehlbildungen |

(a)

(b)

(c)

(d)

(e)

(f)

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fernt und die verbleibenden Wirbelbögen durch laterales Fräsen der oberflächlichen Kortikalis verjüngt und nach außen gebogen. In den dadurch entstehenden dorsalen Spalt werden die Dornfortsätze quer eingenäht. Es wird dadurch eine künstliche Erweiterung des Spinalkanals erreicht und durch spätere Ossifikation eine Stabilisierung der Wirbelbögen ermöglicht. Erfolgsraten dieser Technik sind aufgrund zu geringer Fallzahlen nicht bekannt. Fallbeispiele der einzelnen OP-Techniken und das jeweilige postoperative MRT sind in der Abb. 3.20 dargestellt. Da es bei einer CM II nur äußerst selten zu einer basilären Invagination kommt, ist fast nie eine ventrale Dekompression durch Densresektion mit anschließender dorsaler kranio-zervikaler Stabilisierung notwendig. Da dies zu einer weiteren Lebensqualitätseinschränkung durch Verhinderung der Rotation des Kopfes führen würde, sollte die Indikation, wenn überhaupt, äußerst zurückhaltend gestellt werden. Die Ergebnisse und Komplikationen nach kranio-zervikaler Dekompression bei CM II sind in der Literatur nur limitiert beschrieben. Die Gruppe um T.S. Park beschreibt eine 60%ige, anhaltende Verbesserungsrate nach Dekompression. Bei gut 20 % kommt es nur zu kurzzeitigen Verbesserungen, während bei 15 % eine Progression aufgehalten werden konnte. Die Mortalität in dieser Serie, die mit 1 % beziffert wurde, habe nicht in kausaler Verbindung zur Operation gestanden. Eine erneute Dekompressionsoperation war bei 18 % der Fälle notwendig. Das Verhältnis von rein zervikal laminektomierten Fällen zur Kombination mit einer subokzipitalen Dekompression lag bei 24 : 9. Eine Duraerweiterungsplastik wurde in nur 21 % der Fälle für notwendig erachtet [2]. Dieser Anteil war in einer kürzlich veröffentlichten deutschen Kohorte deutlich größer und lag bei 78,5 %. Die Komplikationsrate in der deutschen Kohorte wurde mit 6 % angegeben [18]. Als Komplikationen sind Liquorkissen, Liquorfistel, Infektion, Nachblutung, progrediente Hirnstammkompression und Sinusvenenthrombose beschrieben worden.

3.1.2.5.6 Zusammenfassung Die Chiari-II-Malformation betrifft die Mehrzahl der Patienten mit Myelomeningozele und kann im Langzeitverlauf zu einer relevanten Morbidität und Mortalität beitragen. Die Prävention dieser Fehlbildung durch den intrauterinen Verschluss der Zele ist möglich. Das Verhindern der langfristigen Überdrainage von Hydrocephaluspatienten mit einem Liquorshunt kann ebenfalls die Ausprägung der Chiari-Malformation im langfristigen Verlauf reduzieren. Die Indikation zur Dekompression wird interdisziplinär gestellt und sollte erst nach Sicherstellung einer gesicherten Shuntfunktion und eines adäquaten Untetherings erfolgen. Individuell muss über eine rein zervikale Dekompression oder eine kombinierte Kraniektomie mit zervikaler Dekompression genauso wie über die Anwendung einer Duraerweiterungsplastik entschieden werden. Die Dekompression erzielt bei korrekter Indikation und erfahrener Umsetzung in einem Großteil der Fälle eine klinische Verbesserung oder eine Stabilisierung der Symptome.

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107

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PD Dr. med. Arpad von Moers 3.1.3 Assoziierte zerebrale Fehlbildungen Im Vordergrund der ZNS-Beteiligung stehen die Chiari-II-Malformation (CM II) und der Hydrocephalus. Die CM II umfasst dabei weitaus mehr infratentorielle Auffälligkeiten als nur den Tiefstand von Kleinhirnanteilen (s. Kap. 3.1.2.2). Darüber hinaus wurde eine Vielzahl supratentorieller ZNS-Fehlbildungen beschrieben (Tab. 3.3) [1–3]. Die häufigsten Malformationen betreffen das Corpus callosum und die Massa intermedia. Die Dysgenesie des Corpus callosum (CC) betrifft 60–90 % der Patienten (Abb. 3.21). Es besteht eine Verschmächtigung des CC oder eine meist partielle AgeTab. 3.3: Supratentorielle Fehlbildungen des ZNS (modifiziert nach [2]). Dienzephalon

Interhemisphärische Mittellinie

Weiße Substanz

Graue Substanz

– Vergrößerte/ verkleinerte (selten) Massa intermedia des Thalamus – Hypothalamische Adhäsion – Kleiner 3. Ventrikel mit/ohne schmalem Aquädukt – Verdickte Lamina terminalis

– Dys-/Hypo-/Aplasie des Corpus callosum – Dyslokation/-plasie der vorderen Kommissur – Hypoplasisches Septum pellucidum

– Verminderung anterior/ posterior/global

– Polymikrogyrie – Heterotypien – Kortikale Dysplasien – Gyrale Interdigitationen – Stenogyrie – Akzessorische Lappen

Abb. 3.21: Teilagenesie des Corpus callosum, vergrößerte Massa intermedia; MRT, T2w.

3.1 Zerebrale Fehlbildungen |

109

nesie, die alle Anteile des CC betreffen kann, wobei bei thorakaler Läsionshöhe bevorzugt eine Agenesie des Splenium vorliegt [1, 4–6]. Mit ähnlicher Häufigkeit besteht eine Veränderung der Massa intermedia, meist als Vergrößerung, selten als Verschmächtigung [1, 4]. Als Veränderungen der grauen Substanz sind gyrale Malformationen wie eine Verdickung oder Verschmächtigung des Kortex, Migrationsstörungen in Form nodulärer Heterotypien oder eine Polymikrogyrie beschrieben worden [1, 2, 7] (Abb. 3.22, 3.23).

Abb. 3.22: Noduläre, subependymale Heterotypien; MRT, T1w.

Die weiße Substanz kann auch unabhängig vom Ausmaß des Hydrocephalus verschmächtigt sein [5, 8, 9]. Weitere morphologische Veränderungen sind in der Tab. 3.4 zusammengestellt. Tab. 3.4: Knöcherne Fehlbildungen des Schädels. – – – – – –

Lückenschädel Kleine hintere Schädelgrube Verkürzung des Klivus Vergrößertes Foramen magnum Verformung des Felsenbeins Steiles, tief ansetzendes Tentorium mit großer Inzisur

Die supratentoriellen Veränderungen stehen im Zusammenhang mit der klinischen Symptomatik. Dies betrifft sowohl das Auftreten zerebraler Anfälle als auch Teilleistungs- und Wahrnehmungsstörungen sowie das Ausmaß einer mentalen Retardierung (s. Kap. 3.1.4 und 9.2) [1, 4, 7, 8]. Neben den Fehlbildungen des ZNS können auch verschiedene knöcherne Veränderungen auftreten.

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Abb. 3.23: Stenogyrie; MRT, T2w.

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Wolfgang Voss 3.1.4 Epilepsie Zerebrale Anfälle sind bei Patienten mit Hirnfehlbildungen ein relativ häufiges Ereignis. Insbesondere bei Kindern mit shuntversorgtem Hydrocephalus wird in der Literatur eine Häufigkeit von 39 % [1] bis zu 48 % [2] für das Auftreten mindestens

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111

eines Anfalls angegeben. Chronisch rezidivierende Anfälle im Sinne einer Epilepsie kamen in Stellman’s Kollektiv [1] bei knapp der Hälfte der Patienten vor, also bei ca. 18 %, während bei der anderen Hälfte nur sog. Gelegenheitskrämpfe auftraten. Bei Tully et al. hatten 23 % der Kinder mit einem Hydrocephalus eine Epilepsie [3], bei einem Fünftel trat eine BNS-Epilepsie auf. Shuntinfektionen verdoppelten das Risiko für die Manifestation einer Epilepsie [3]. Bei Patienten mit einem Hydrocephalus im Zusammenhang mit einer Spina bifida ist das Risiko geringer als bei anderen Ätiologien [4]. In der Gesamtgruppe von Kindern bis zu 9 Jahren beträgt die Prävalenz für die Entwicklung einer Epilepsie dagegen nur etwa 0,45 % [5]. 4 % aller Kinder erleiden im Laufe der Kindheit mindestens einen Anfall, zu fast 90 % handelt es sich dabei um Gelegenheitskrämpfe. Bei den Angaben zur Häufigkeit zerebraler Anfälle bei Patienten mit Meningomyelozele ist zu beachten, ob die angegebenen Zahlen für eine Epilepsie, also chronisch rezidivierende Anfälle, stehen, oder ob auch Gelegenheitskrämpfe eingeschlossen sind [6]. Eine behandlungsbedürftige Epilepsie wird bei Kindern mit MMC in einer Häufigkeit zwischen 3,4 % und 10 % angegeben [4, 7–9]. Entscheidend ist, ob ein shuntversorgter Hydrocephalus vorliegt. Kinder ohne Shunt entwickeln nur in Ausnahmefällen eine Epilepsie [9–11]. Ein weiterer wichtiger Einflussfaktor ist die Läsionshöhe. Bei einer Läsionshöhe oberhalb L2 trat bei 13 % eine Epilepsie auf, bei einer Läsionshöhe von S1 und niedriger bei 3 % der Patienten [9]. Im sozialpädiatrischen Zentrum in Hannover kam es bei 5 % der Patienten mit MMC zur Manifestation einer behandlungsbedürftigen Epilepsie [eigene Beobachtung]. Werden Gelegenheitskrämpfe mit einbezogen, so ergeben sich höhere Zahlen. Hack et al. [12] berichten von 15 % bei 346 MMC-Patienten und Chadduck et al. [10] von 17 % bei 190 Kindern, die mindestens einen Anfall erlitten haben, bei anderen Autoren sind 24 % bzw. 27 % angegeben [7, 13]. Das verdeutlicht, dass sowohl Gelegenheitsanfälle als auch behandlungsbedürftige Epilepsien bei Patienten mit einer Spina bifida eine höhere Prävalenz haben als in der Normalpopulation. EEG-Veränderungen sind bei MMC-Patienten sehr häufig. In der von Holder et al. [8] untersuchten Gruppe wiesen 42 % die Zeichen gesteigerter zerebraler Anfallsbereitschaft auf, weitere 42 % hatten eine Allgemeinveränderung und nur 16 % hatten ein altersentsprechend normales EEG. Die hypersynchrone Aktivität fand sich zumeist multifokal oder fokal, seltener generalisiert. Die Veränderungen scheinen sich aber zumindest bei einem Großteil der Patienten erst zu entwickeln, Cuppen et al. [14] haben bei 31 Kindern mit einer Spina bifida in den ersten 8 Lebenswochen keine EEGVeränderungen gefunden. Als anfallsauslösende Faktoren sind Shuntinfektionen mit Meningitis bzw. Ventrikulitis, eine Shuntmalfunktion, die zu einer unzureichenden Liquordrainage führt oder auch die Überdrainage eines ventilversorgten Hydrocephalus und die damit verbundene Entwicklung von Schlitzventrikeln zu nennen [1, 2, 6, 12]. Als weitere Ursa-

112 | 3 Zentrales Nervensystem

chen für das Auftreten von Anfällen werden die Verletzung des Hirnparenchyms bei der Shuntimplantation diskutiert. Wichtiger sind sicher die assoziierten Hirnfehlbildungen bei MMC-Patienten mit shuntpflichtigem Hydrocephalus, vor allem die kortikalen Dysgenesien und Heterotopien [11, 15]. Zwar spielen zerebrale Anfälle im Vergleich zu den nephrologischen und neuroorthopädischen Langzeitkomplikationen eine nachgeordnete Rolle [16], für die Langzeitprognose und die langfristige Lebensqualität sind sie dennoch von Bedeutung [9]. Zerebrale Anfälle sind eine der wichtigsten Ursachen für plötzliche, unerwartete Todesfälle im Erwachsenenalter [17].

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3.2 Spinale Fehlbildungen |

113

3.2 Spinale Fehlbildungen Theodor Michael 3.2.1 Klinik 3.2.1.1 Klinik des primären Tethered cord In der embryonalen Entwicklung kommt es zu einer Aszension des Conus medullaris im Verhältnis zur Wirbelsäule und der Dura spinalis [1–3, 6–9]. Eine Übersicht über den Stand des Conus medullaris gibt die Tab. 3.5. Tab. 3.5: Stand des Conus medullaris in Abhängigkeit vom Lebensalter [4, 5]. Ende 4 SSW: Ende 8 SSW: Ende mens III: Ende mens VII: Geburt:

gesamtes Medullarrohr kokzygeal S4 L4 L3

Erwachsener

weiblich: L1/L2 männlich: Th12/L1

Das dissoziierte Wachstum von Rückenmark einerseits und Dura sowie Wirbelsäule andererseits führt zum relativen Höhertreten des Rückenmarkendes, sodass sich die intraduralen Anteile der Spinalwurzeln sukzessive verlängern und die unterhalb des Conus medullaris gelagerte Cauda equina bilden. Wird nun durch einen pathologischen intraspinalen Prozess diese Aufwärtsbewegung des Conus medullaris verhindert, spricht man von einer Aszensionshemmung; das Krankheitsbild wird als Tethered cord (TC) bezeichnet. Eine anlagebedingte Aszensionshemmung, vor allem im Rahmen einer Myelodysplasie, wird als primäres Tethered cord bezeichnet. Hinweise auf das Vorliegen einer dysraphischen Störung mit TC geben z. T. sehr diskrete Hautauffälligkeiten im Verlauf der Wirbelsäule meist mittelständig oder dicht paravertebral und überwiegend lumbosakral gelegen: eine abnorme, derbe Behaarung (Abb. 3.24), die büschelförmig ausgebildet sein kann, ein Hämangiom

Abb. 3.24: Hairy patch (Foto: Th. Michael).

114 | 3 Zentrales Nervensystem

Abb. 3.25: Hämangiom (Foto: Th. Michael).

Abb. 3.26: Lipomeningomyelozele (Foto: Th. Michael).

Abb. 3.27: Hautanhängsel (Foto: Th. Michael).

(Abb. 3.25), eine weiche Vorwölbung in der Subcutis, die einem Lipom (Abb. 3.26) entspricht, oder Hautanhängsel (Abb. 3.27). Zu den Krankheitsprozessen, die eine Aszensionshemmung auslösen können, gehören auch Spaltbildungen des Rückenmarks im Sinne einer Diastematomyelie oder Diplomyelie (Split cord), wobei sich zwischen den gespaltenen Rückenmarkanteilen verschiedenes Gewebe wie Knochensporne, Bindegewebsstränge, Knorpelspangen, aber auch Lipome befinden kann. Ein Dermalsinus ist ein sicherer Hinweis auf eine dysraphische Störung und immer mit einem primären TC assoziiert. Die Diagnose impliziert eine Indikation zur sofortigen Operation, um aszendierende Infektionen zu verhindern. Bei allen anderen Formen der dysraphischen Störungen mit primärem TC

3.2 Spinale Fehlbildungen |

115

besteht zwar ebenfalls eine Operationsindikation, die aber erst nach eingehender Diagnostik und Wertung der Ergebnisse abhängig vom klinisch-neurologischen Befund und Alter zu stellen ist. Bei der offenen MMC handelt es sich immer um ein primäres TC, bei dem die Aszension des Rückenmarks durch die ausgebliebene Trennung von Nervengewebe, Dura und Plakode von der Cutis verhindert wird. Mit dem operativen Verschluss der MMC wird eine Trennung der Schichten und die Rekonstruktion des Neuralrohrs mit Verschluss der Dura angestrebt. Ausnahmslos kommt es zu einer erneuten Fixierung, die symptomatisch werden kann, dies wird als sekundäres TC bezeichnet. Die in Tab. 3.6 des Abschnitts 3.2.1.2 beschriebenen Symptome und Veränderungen können in gleicher Weise bei Kindern mit einem primären TCS auftreten, auch aus neurologischer Gesundheit heraus. Die Manifestation der Symptome ist sehr variabel sowohl bezüglich der Lokalisation als auch in Bezug auf den Zeitpunkt. Im 1. Lebensjahr treten sehr selten klinische Symptome (Tab. 3.6) auf. Wichtig sind jedoch Ausgangsuntersuchungen bei den beschriebenen kutanen Veränderungen im klinisch freien Intervall sowohl bezüglich der Bildgebung (MRT/Sonografie), der Blasenfunktion (Urodynamik/Videozystomanometrie) als auch der Elektrophysiologie. Regelmäßige klinische Untersuchungen mit Überprüfung der Blasenfunktion und der Neurophysiologie sind für die Verlaufsbeobachtung wichtig. Vieles spricht für die prophylaktische Operation des primären TC am Ende des 1. Lebensjahres, weil klinische Veränderungen besonders der Blasenfunktion meist irreversibel sind [10]. Tab. 3.6: Symptome des Tethered-cord-Syndroms: primär und sekundär. Allgemeinsymptome

– Schmerzen/Strecksteife/Parästhesien

Entwicklung von orthopädischen Problemen

– Fuß-/Beindeformität, meist einseitig – Wachstumsunterschied der unteren Extremitäten – progrediente Skoliose

Entwicklung von neurologischen Problemen

– Veränderung des Gangbildes – Muskelatrophie/Hypo- oder Hyperreflexie (Fuß, Unterschenkel) – gleichzeitig einseitige Spastik (gesteigerter PSR, positive Babinski-Gruppe) – trophische Ulzera – sensible Störungen segmental oder plurisegmental – segmentaler Myoklonus – Blasen-/Mastdarmstörungen: Veränderung der Kontinenz und/oder der Entleerungscharakteristik, Veränderung der Urodynamik

Der Zeitpunkt des Auftretens von Symptomen ist variabel, im 1. Lebensjahr allerdings eher selten. Die größte Wahrscheinlichkeit besteht in den späteren Phasen des schnellen Wachstums mit einem Gipfel bei 5 Jahren [10]. Symptome können aber auch noch

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nach Abschluss des Wachstums auftreten. Während bei kleineren Kindern die Verschlechterung der Blasenfunktion im Vordergrund steht [11], werden bei älteren Kindern eher segmentale oder polysegmentale Schmerzen beobachtet [10]. Beim Erwachsenen stehen Schmerzen lumbal oder segmental im Vordergrund gefolgt von Störungen der Kontinenz für Stuhl und Urin [12].

3.2.1.2 Klinik des sekundären Tethered cord Auch nach erfolgreicher chirurgischer Versorgung einer MMC postpartal, bei der es zunächst gelungen ist, eine freie Liquorzirkulation um die Plakode herzustellen, treten mit hoher Wahrscheinlichkeit erneute Verklebungen zwischen Dura und Myelon auf, die im Verlauf des Wachstums zu Symptomen des Tethered cords führen können: sekundäres TC. Die gängige Hypothese zum Pathomechanismus des symptomatischen TCS besagt, dass durch unzählige wiederholte Flexionsbewegungen der Wirbelsäule die versorgenden Gefäße im Rahmen der peripheren Fixierung des Myelons mechanischem Zug und damit einer Einengung ausgesetzt sind. Dies führt bei einem Teil der betroffenen Kinder zu einer klinisch durch Spastik oder Parästhesien auffälligen Hypoxie und bei Fortbestehen der Fixierung zum Untergang motorischer oder sensibler Bahnen (Paresen/Verlust von Sensibilität) [13]. Die typischen Symptome sind in Tab. 3.6 gelistet. Die Symptomatik des TCS ist nicht immer gut von den Zeichen einer Shuntinsuffizienz bzw. der dadurch provozierten Klinik einer Chiari-II-Malformation abzugrenzen. Deshalb ist vor einer Operation des TCS möglichst eine Shuntdysfunktion auszuschließen. Die Symptome können sowohl beim primären als auch beim sekundären TC auftreten. Entscheidend ist die regelmäßige Verlaufskontrolle der klinischen Befunde mit guter Dokumentation der Befunde und interdisziplinärer Einschätzung und Wertung möglicher Veränderungen, um ggf. zeitnah eine Operationsindikation stellen zu können (Tab. 3.6).

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Ulrich Seidel 3.2.2 Evozierte Potentiale beim primären und sekundären Tethered-cord-Syndrom Evozierte Potentiale werden zur prä- und postoperativen Diagnostik eines Tetheredcord-Syndroms, zum intraoperativen Neuromonitoring (IONM) und zur Verlaufskontrolle bei bekannter Myelonfixierung eingesetzt. Sie ermöglichen eine objektive Funktionsprüfung afferenter und efferenter Bahnen im Zentralnervensystem. Der Nachweis einer Anheftung des Rückenmarks mittels Kernspintomografie erlaubt keine Aussage über eine funktionell relevante Störung, weil bei über 80 % der Menschen mit Spina bifida ein Konustiefstand mit Anheftung des Myelons nachzuweisen ist. Kale et al. [1], Scaioli et al. [2], Leung et al. [3], Maurya et al. [4] haben beim primären und Boor et al. [5], Geerdink et al. [6] beim sekundären Tethered cord die Bedeutung der evozierten Potentiale im Rahmen der Diagnostik und Verlaufskontrollen hervorgehoben. Im Kindes- und Jugendalter finden transkranielle Elektro- und Magnetstimulation zur Beurteilung der absteigenden motorischen Bahnen (oberes und unteres Motoneuron), Neurografie und Tibialis-SEP zur Beurteilung sensorischer Bahnen vom peripheren Nerv bis zum sensorischen Kortex Anwendung. Zu beachten ist die Abhängigkeit der Normalwerte von Alter und Körpergröße.

3.2.2.1 Transkranielle Elektro- und Magnetstimulation Durch transkranielle elektrische Reizung oder Magnetfeldpulsreizung des motorischen Kortex wird über eine Oberflächenelektrode von definierten Kennmuskeln ein Muskelaktionspotential abgeleitet und Latenz und Amplitude bestimmt. Ein Averaging (elektronische Mittelung) ist im Gegensatz zu den SSEP nicht notwendig. Die

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elektrische Kortexreizung erfolgt wegen der damit verbundenen Schmerzhaftigkeit und der im Gegensatz zur Magnetfeldpulsreizung bestehenden Unempfindlichkeit gegenüber Narkotika [7, S. 557] nur noch in Narkose im Rahmen des intraoperativen Neuromonitorings. Weitere Details zur Ableitungstechnik bei intraoperativem Neuromonitoring haben Sala et al. [8–10] zusammengefasst. Ein generelles, aber insbesondere für das Kindesalter und für Menschen mit kognitiven Einschränkungen bestehendes Problem bei Magnetfeldpulsreizung ist der Einfluss der eigenkontrollierten Fazilitierung (willkürliche Vorinnervation) von ca. 10–20 % der Maximalkraft, die sowohl die Amplitude erhöht, die Latenz verkürzt als auch die Reizschwelle senkt. Umgekehrt muss bei Ableitungen ohne Vorinnervation zur Vergleichbarkeit gewährleistet sein, dass der Zielmuskel völlig entspannt ist. Der geeignete Zielmuskel im Bein ist der M. tibialis anterior, wohingegen M. vastus medialis und M. gastrocnemius wegen der zu kleinen evozierbaren Potentiale weniger geeignet sind [7, S. 553/554]. Aus der Latenzdifferenz nach kortikaler und lumbosakraler Stimulation kann die zentrale motorische Leitungszeit (ZML) errechnet werden. Geerdink et al. [6] zeigten in ihrer Studie bei 6- bis 16-jährigen Kindern mit operierter Meningomyelozele u. a. bei Fazilitation einen Zusammenhang zwischen Ausprägung der klinischen Symptomatik (Muskelkraft, Lähmungsniveau und Mobilität) und Verlängerung der ZML, wodurch die Bedeutung des oberen Motoneurons für die motorische Beeinträchtigung hervorgehoben wird. Die Arbeitsgruppe weist bei neu auftretenden Funktionsverschlechterungen auf die Bedeutung der transkraniellen Magnetstimulation für das frühzeitige Erkennen eines symptomatischen sekundären Tethered cord durch die hinzukommende Dysfunktion des oberen Motoneurons hin.

3.2.2.2 Tibialis-SEP Nach elektrischer Stimulation des N. tibialis in Höhe des Malleolus medialis können folgende Reizantworten abgeleitet werden: – Dornfortsatz L5 = N18 (Cauda-equina-Potential) – Dornfortsatz L1/Th12 = N22 (Hinterhornneurone) – Dornfortsatz C2 = N30 (Fasciculus/Ncl. gracilis) – primärer sensibler Kortex = P40 Beidseitige Veränderungen oder Seitendifferenzen der absoluten Latenz (> 3 ms), der Latenzintervalle (N22–P40) und der Amplituden (> 50 %) sind verlässliche Beurteilungskriterien für Leitungsstörungen. Die Latenzzeiten des kortikalen Antwortpotentials verlängern sich im Spontanschlaf abhängig vom Schlafstadium und durch Sedierung [11–13]. Boor empfiehlt daher bei Ableitung im Schlaf im Kleinkindalter, Sedierung oder intraoperativem Monitoring auch die Latenzzeiten der gegen diese äußeren Einflüsse unempfindlichen subkortikalen Antwortpotentiale P30 und N33 gegen eine Ohrreferenz zu bestimmen

3.2 Spinale Fehlbildungen |

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[13]. Welle P30 (Anfangsbereich des Lemniscus medialis) differenziert darüber hinaus generell zwischen intraspinaler und intrakranieller Leitung [14]. Roy et al. [15], Kale et al. [1], George et al. [16] und Scaioli et al. [2] bestätigen mit ihren Untersuchungsergebnissen den Nutzen der Tibialis-SEP-Ableitung zur Diagnose eines Tethered-cord-Syndroms. Postoperativ kann eine klinische Verbesserung mit einer Verbesserung der Tibialis-SEP-Befunde einhergehen (40–85 %), muss aber nicht. Leung et al. [3] beschrieben eine Verbreiterung der Welle P40 (Zeitdauer vom initialen Abgang von der Grundlinie bis zur erneuten Kreuzung der Nulllinie) als deutlichen Hinweis auf ein Tethered cord. Eine erkennbare Verringerung der Breite nach Untethering unterstreicht die mögliche Bedeutung der Potentialbreite. Eine Bestätigung durch weitere Studien fehlt bisher. Eine Interpretation des Ergebnisses einer Tibialis-SEP-Ableitung im Rahmen einer Diagnostik eines Tethered cords ist nur sinnvoll möglich, wenn bereits zeitnah zur Diagnosestellung beim primären Tethered cord bzw. zum operativen Verschluss beim sekundären Tethered cord die erste Ableitung erfolgt und im weiteren Verlauf in regelmäßigen Abständen wiederholt wird. Eine Ableitung erst bei klinischem Verdacht ist häufig schwierig zu interpretieren. Es sollten immer sowohl Tibialis- und MedianusSEP als auch FAEP abgeleitet werden, um differentialdiagnostisch ein funktionell relevantes Chiari-II-Syndrom einzubeziehen. Zusätzlich bestehende intraspinale Auffälligkeiten wie z. B. Syringomyelie lassen häufig keine eindeutige Interpretation zu.

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Birgit Spors 3.2.3 Bildgebung Spinale Dysraphien werden durch eine Anlagestörung des Neuralrohrs verursacht. In Abhängigkeit von der Beteiligung der unterschiedlichen Gewebekompartimente, der Wirbelbelbögen, der Subcutis/Cutis, der Meningen und des Myelons existieren unterschiedliche Anomalien. Die Magnetresonanztomografie ermöglicht es, mithilfe der verschiedenen Sequenzen die unterschiedlichen Gewebeanteile der Rückenmarkfehlbildungen darzustellen [1]. Zur Darstellung des Myelons sollte eine T2-gewichtete Sequenz verwendet werden. Der hohe Anteil der Protonen im Liquor lässt den Liquor weiß, hyperintens, der niedrige Anteil der Protonen des Myelons dieses schwarz, hypointens, erscheinen. Damit lässt sich die Morphologie des Myelons, seine Lage im knöchernen Spinalkanal, die Höhe des Conus medullaris und der Verlauf der Kaudafasern darstellen. In der T1-gewichteten Sequenz kann aufgrund des Protonenanteils das Fettgewebe mit einer differenten Signalintensität gegenüber dem Liquor dargestellt werden. Der niedrige Anteil der Protonen im Fettgewebe lässt das Fettgewebe weiß, hyperintens, den im Vergleich höheren Anteil der Protonen des Liquors diesen dunkelgrau, hypointens, erscheinen. Damit kann in der T1-Sequenz, anders als in der T2-Sequenz, im Spinalkanal das Fettgewebe vom Liquor unterschieden werden. Die Wirbelsäule stellt sich in beiden Sequenzen isointens dar und grenzt sich so von den übrigen Gewebekompartimenten ab (Abb. 3.28–3.31). Das Untersuchungsprotokoll zum Ausschluss einer spinalen Dysraphie sollte sagittale Schichten der gesamten Wirbelsäule und zusätzlich in Höhe der Anomalie axiale Schichten in einer T1- und T2-gewichteten Sequenz umfassen. Die Schichtdicke sollte maximal 3 mm betragen, bei Säuglingen kann zur besseren Auflösung zusätzlich eine 3D-Sequenz mit geringer Schichtdicke von 0,8–1 mm verwendet werden. Zur

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Abb. 3.28: T2-gewichtetes sagittales Bild eines gesunden Kindes.

Abb. 3.29: T1-gewichtetes sagittales Bild eines gesunden Kindes.

besseren Detailauflösung empfiehlt es sich, die Hals-, Brust- und Lendenwirbelsäule in einzelnen Abschnitten zu untersuchen. Allen Rückenmarkfehlbildungen gemeinsam ist eine fehlenden Vereinigung der beiden Hälften der Wirbelbogenanlagen, die unter dem Oberbegriff Spina bifida (gespaltener Dornfortsatz) zusammengefasst werden (s. Kap. 1.2) [2].

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Abb. 3.30: T1-gewichtetes axiales Bild in Höhe von BWK12/LWK1 eines gesunden Kindes.

Abb. 3.31: T2-gewichtetes axiales Bild in Höhe von BWK12/LWK1 eines gesunden Kindes.

Die einfachste Form der gedeckten spinalen Dysraphie stellt die posteriore Spina bifida dar. In Höhe eines Hautgrübchens oder anderer kutaner Veränderungen besteht eine fehlende Verschmelzung der Wirbelbögen, die am häufigsten in Höhe von LWK5 oder SWK1 vorkommt (Abb. 3.32) [3]. Bei einer komplexeren Ausprägungsform der Fehlbildung, dem Dermalsinus, ist neben der Fusion der Wirbelbögen die Verschmelzung des Neuroektoderms mit dem

Abb. 3.32: T2-gewichtetes axiales Bild in Höhe von LWK1 eines Kindes mit einer Bogenschlussstörung.

3.2 Spinale Fehlbildungen |

123

kutanen Ektoderm gestört. Es resultiert ein Hautgrübchen, von dem eine spinodermale Fistel ausgeht, die in einigen Fällen eine Verbindung zum Spinalkanal haben kann. Generell verläuft der Dermalsinus von der Cutis schräg nach kaudal, der in den sagittalen T1-gewichteten Sequenzen als hypointenser Strang zu erkennen ist (Abb. 3.33 und 3.34). Aufgrund des Verlaufs lässt sich der Dermalsinus in den axialen Schichten nur eingeschränkt abbilden.

Abb. 3.33: T2-gewichtetes sagittales Bild eines Kindes mit einem Dermalsinus (Pfeil).

Abb. 3.34: T2-gewichtetes axiales Bild eines Kindes mit einem Dermalsinus (Pfeil).

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Der Dermalsinus kann mit intraspinalen und subkutanen Lipomen assoziiert sein. Intraspinale Lipome können intradural, intramedullär oder als fibrolipomatöse Verdickung des Filum terminale auftreten (Abb. 3.35 und 3.36).

Abb. 3.35: T1-gewichtetes sagittales Bild eines Kindes mit einem intramedullären und intraduralen Lipom.

Abb. 3.36: T1-gewichtetes sagittales Bild eines Kindes mit einem Lipom des Filium teminale.

3.2 Spinale Fehlbildungen |

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Die gedeckten spinalen lipomatösen Fehlbildungen sind zu einem großen Anteil mit einem Defekt der Dura assoziiert. Das intraspinale Lipom hat durch eine posteriore Spina bifida eine breite Verbindung zu einem subkutanen Lipom. Die verschiedenen Formen der lipomatösen Fehlbildungen zeichnet eine charakteristische Lage der terminalen Plakode, ein Myelonanteil mit ausgebliebener Neurulation und fehlenden Meningen aus. Bei einer Lipomyelozele liegt die terminale Plakode mit den Meningen noch innerhalb des Spinalkanals. Im Gegensatz dazu liegt bei der Lipomeningozele die Plakode außerhalb des Spinalkanals, die Meningen liegen in einem großen subkutanen Lipom, das laterale Ausläufer in den Spinalkanal besitzt. Kennzeichen der häufigsten offenen spinalen Dysraphie, der Myelomeningozele, ist die dorsale Lage der segmentalen Plakode in Höhe eines Wirbelbogendefekts im Niveau der fehlenden Cutis. Der Subarachnoidalraum ist zusätzlich dilatiert und hebt die Plakode nach kranial. Die Mehrzahl der Myelomeningozelen liegt lumbosakral, selten findet sich eine Myelomeningozele lumbal, thorako-lumbal oder thorakal, das sich kaudal anschließende Myelon ist nicht fehlgebildet (Abb. 3.37–3.40). Im Gegensatz zur Myelomeningozele ist bei der selteneren Form der offenen spinalen Dysraphie der Myelozele der Subarachnoidalraum nicht dilatiert und die Plakode liegt flach oder ist trichterförmig im Niveau der Subcutis. Die offenen und geschlossenen Dysraphien können in Kombination mit einer Myelonfehlbildung, der Diastematomyelie, auftreten. Das Myelon liegt durch die fehlende Verschmelzung der Notochordanlagen als doppelte Anlage vor (Abb. 3.41). Der die Fehlbildung verursachende knöcherne oder knorpelige Sporn kann bei der

Abb. 3.37: T1-gewichtetes sagittales Bild eines Kindes mit einer Lipomyelozele.

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Abb. 3.38: T1-gewichtetes sagittales Bild eines Kindes mit einer Lipomeningomyelozele.

Abb. 3.39: T2-gewichtetes sagittales Bild eines Kindes mit einer Myelomeningozele.

Mehrzahl der Neugeborenen wegen der noch fehlenden Verknöcherung im MRT nicht zu erkennen zu sein. Mit der spinalen Sonografie können der Stand des Conus medullaris, die Beweglichkeit und die Pulsationen des Myelons sowie die Lokalisation der knöchernen Spaltbildung sicher erfasst und die intraspinalen Veränderungen besonders bei

3.2 Spinale Fehlbildungen |

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Abb. 3.40: T2-gewichtetes sagittales Bild eines Kindes mit einer thorakalen Myelomeningozele.

Abb. 3.41: T1-gewichtetes axiales Bild eines Kindes mit einer Diastematomyelie.

Neugeborenen und Säuglingen gut dargestellt werden (Abb. 3.42(a), (b)) [4]. Die sMRT ist hier jedoch besonders jenseits des Säuglingsalters überlegen [5, 6]. Ein Vorteil der Sonografie ist die Möglichkeit der unkomplizierten Verlaufsuntersuchungen. Nur in seltenen Ausnahmefällen kann eine computertomografische Untersuchung eine sinnvolle Ergänzung zur MRT-Darstellung sein. Eine 3D-Rekonstruktion oder ein Myelo-CT kann bei sehr komplexen knöchernen Fehlbildungen hilfreich für den Operateur sein und ist im Einzelfall zu besprechen.

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(a)

(b)

Abb. 3.42: (a) spinale Sonografie, sagittales Bild eines Kindes mit Fixierung des Myelons in Höhe der dorsalen occulten Spaltbildung; (b) korrespondierendes T-gewichtetes sagittales Bild.

Das Tethered cord (TC) ist keine gesonderte Unterform der spinalen Dysraphie, sondern beschreibt die durch die Fixierung bedingte Aszensionshemmung des Myelons, die mit einer Verminderung der Beweglichkeit und der Pulsationen einhergeht. Das primäre TC tritt bei der Mehrzahl der spinalen Dysraphien und Fehlbildungen mit einem intraspinalen Lipom auf. Als sekundäres TC wird die postoperative Fixierung des Myelons durch die Narbenbildung bezeichnet. Als klinisches Korrelat des TC kann sich durch die Distraktion und Fixation des Myelons ein Tethered-cord-Syndrom (TCS) entwickeln, das durch progrediente neurologische und orthopädische Symptome gekennzeichnet ist (s. Kap. 3.2.1.1 und 3.2.1.2). Die Darstellung des morphologischen Korrelats der Fixierung ist sowohl beim primären als auch beim sekundären TC meist gut möglich. Die Beurteilung der funktionellen Relevanz besonders beim sekundären TCS bereitet jedoch häufig Schwierigkeiten. Für die Entscheidung zu einer operativen Revision sind die klinische Symptomatik und die Ergebnisse der Funktionsuntersuchung (evozierte Potentiale, ggf. Sonografie) ausschlaggebend (s. Kap. 3.2.2).

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3.2 Spinale Fehlbildungen |

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3.2.4 Operative Therapie Sevgi Sarikaya-Seiwert 3.2.4.1 Primäres Tethered cord – Indikation und Durchführung der operativen Behandlung Spinale Fehlbildungen, die eine pathologische Fixation des Rückenmarks (Tethered cord) bewirken, verursachen mit hoher Wahrscheinlichkeit im Laufe von Jahren progrediente neurologische Ausfallerscheinungen oder Skelettdeformitäten [1–4]. Auch nach Abschluss des Wachstums sind Erstmanifestation oder Progredienz eines Tethered-cord-Syndroms nicht ausgeschlossen [5]. Prospektiv randomisierte Daten zum natürlichen Verlauf des Tethered cords existieren nicht. Das präventive operative Detethering kann das Auftreten von Defiziten verhindern. Sofern eine Verschlechterung bereits eingetreten ist, kann durch die Operation in der Regel die weitere Zunahme der Symptome abgewendet werden; im günstigsten Fall kann eine Besserung der Symptome eintreten. Wenn durch bildgebende Diagnostik eine pathologische Rückenmarkfixation nachgewiesen wurde und dennoch von einer Operation zunächst abgesehen wird, müssen betroffene Patienten engmaschig überwacht werden, um eine neurologische, orthopädische bzw. urologische Verschlechterung schnell zu erfassen [6, 7] und ein möglichst schnelles Detethering durchzuführen. Die Operationsvorbereitung erfolgt nach den üblichen Kriterien für Eingriffe im Kindesalter. Der Patient wird in Bauchlage auf Gelkissen gelagert, das Abdomen mit Thorax- und Beckenpolstern oder zwei Längspolstern freigehalten. Zur Vermeidung von Druckstellen werden Knie und Füße frei gelagert und eingewickelt. Eine Antibiotikaprophylaxe erfolgt mit einem Staphylokokken-wirksamen Antibiotikum. Durch Operationen am Liquorsystem kann durch den direkten Kontakt eine Latexallergie induziert werden, sodass Spina-bifida-occulta-Patienten in latexfreier Umgebung operiert werden müssen. Die Freilegung der Fehlbildung erfolgt von proximal nach distal und vom Gesunden zum pathologischen Befund. Nach Möglichkeit wird ein Mittellinienschnitt gewählt. Skoliotische Veränderungen im Bereich der Wirbelsäule können eine Adaptation des Hautschnitts notwendig machen. Bei intakten Wirbelbögen wird eine osteoplastische Laminoplastie durchgeführt, um den Spätfolgen einer Instabilität vorzubeugen.

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– – – –

Die Ziele der Operation sind das Lösen aller pathologischen Fixationen von Rückenmark und Kaudafasern, die Reduktion raumfordernd wirkender Gewebsmassen, das Lösen begleitender arachnoidaler Adhäsionen, die Beseitigung der Infektionsgefahr bei Vorliegen eines Dermalsinus.

Die Fasziennaht ist entscheidend für den liquordichten Wundverschluss. Spezielle Nahttechniken mit sich überlappenden Schichten reduzieren die Häufigkeit subkutaner Liquorpolster [8]. Der stationäre Aufenthalt postoperativ dauert im Regelfall 7–8 Tage.

3.2.4.1.1 Split-cord-Malformationen Der Begriff Split-cord-Malformation beschreibt Anomalien, bei denen eine Duplikation des Rückenmarks vorliegt. Er fasst die früheren Bezeichnungen Diastematomyelie, Diplomyelie und Pseudodiplomyelie zusammen. Split-cord-Malformationen betreffen bis zu 6-mal häufiger das weibliche Geschlecht. Typ I, früher als Diastematomyelie bezeichnet, ist eine lokale Spaltung des Rückenmarks sowie des Duralsacks. Beide Hemicordabschnitte verlaufen in einem eigenen Duralsack. Beide Duralsäcke werden durch einen knöchernen Sporn separiert. Der Sporn kann sich mittig befinden oder asymmetrisch lokalisiert sein und einen Hemicordabschnitt vollständig überbauen. Diastematomyelien weisen häufig komplexe Begleitfehlbildungen auf. Insbesondere pathologische Fila terminalia und aberrierende Gefäß-Nerven-Stränge sind häufig, aber auch eine begleitende Spina bifida aperta oder spinale Lipome. Durch komplexe Fehlbildungsskoliosen kann eine übersichtliche MRT-Bildgebung schwierig sein. Die Schnittführung folgt der Medianlinie über dem Spinalkanal. Die Anatomie der dorsalen Wirbelelemente ist in der Regel dysplastisch angelegt und häufig über mehrere Segmente fusioniert. Die Dornfortsätze können gedoppelt sein. Um den Spinalkanal freizulegen, ist es von Bedeutung, vom proximalen gesunden Randbereich der Fehlbildung in der Mittellinie nach kaudal zu präparieren. Nach Freilegung der Dura und des Knochensporns wird der Sporn extradural bis in die Ebene der Wirbelkörperrückwand abgetragen. Aus kräftigen epiduralen Venen und aus dem hypertrophierten Knochen kann es dabei zu stärkeren Blutungen kommen. Bei Kleinkindern kann der Blutverlust im Ausnahmefall eine Transfusion notwendig machen. Anschließend wird die Duraduplikatur medial sehr sparsam umschnitten, sodass genügend Material für einen primären ventralen Duraverschluss am Boden des Spinalkanals verbleibt. Arachnoidale Verwachsungen sowie aberrierende Nervenstränge, die blind in der Spornregion enden, werden gelöst und scharf durchtrennt. Die Dura wird dorsal fortlaufend und liquordicht verschlossen. Bei entsprechender pathologischer Befundung sollte im selben Eingriff das Filum terminale durchtrennt werden. Bei höher gelegenen Diastematomyelien ist dazu oft eine separate lumbosakrale Eröffnung notwendig.

3.2 Spinale Fehlbildungen |

131

Maßgeblich bestimmt wird die Prognose durch das Ausmaß dysplasiebedingter Funktionsstörungen. Die asymmetrische Rückenmarkspaltung ist prognostisch in der Regel ungünstiger.

3.2.4.1.2 Dermalsinus Gleichzeitig mit der dorsalen Ablösung des Neuralrohrs vom Oberflächenektoderm wächst perineurales Mesenchym in den neu entstandenen Zwischenraum ein. Bleibt die ektodermale Ablösung aus, kommt es zur Ausbildung eines Dermalsinus. Wesentlich häufiger als der Dermalsinus finden sich lumbosakral die harmlosen kokzygealen Sinusse. In Abgrenzung zum Dermalsinus liegen diese im kranialen Bereich der Rima ani, ihre Verlaufsrichtung ist nach kaudal gerichtet. Durch Verschieben der Haut kranialwärts und Palpation lässt sich eine strangförmige Verbindung zur Steißbeinspitze tasten. Spinale Dermalsinusse sind in Lokalisation und Verlaufsrichtung kranial orientiert und häufig von zusätzlichen kutanen Stigmata begleitet (vermehrte Behaarung, vaskulärer Naevus). Die bildgebenden diagnostischen Verfahren können zwischen dem Vorliegen eines echten Dermalsinus mit intraduralem Fehlbildungsanteil oder einer Fehlbildung ohne Durainvagination häufig nicht zuverlässig unterscheiden. Um rezidivierende und komplikationsträchtige Meningitiden zu vermeiden, muss jeder verdächtige Befund operativ exploriert und vollständig entfernt werden. Der Verschluss des Dermalsinus sollte auch im Akutstadium von Infektionen sofort durchgeführt werden. Die kutane Fistelöffnung wird mit einem Sicherheitssaum umschnitten und der Dermaltrakt als Ganzes bis zum Fasziendurchtritt präpariert und in die Tiefe verfolgt. Er kann durch eine Kerbe im Wirbelbogen oder im Dornfortsatz, alternativ durch eine Perforation des Ligamentum flavum in den Spinalkanal eintreten, um anschließend die Dura zu durchdringen. Intradural liegt regelhaft eine Verbindung mit dem Conus medullaris vor, gelegentlich begleitet von Einschlusstumoren oder einem Dermoid. Diese intraduralen Anteile können durch Keimpersistenz oder Streuung wiederholte Meningitiden hervorrufen und müssen deshalb vollständig entfernt werden. Die Operationsmorbidität ist mit zeitgemäßer mikrochirurgischer Operationstechnik sehr gering, die Prognose nach Entfernung nichtinfizierter Dermalsinusse exzellent. Operationen nach mehrfachen Meningitiden mit neurologischen Folgeerscheinungen sind weniger erfolgversprechend, sie können häufig keine vollständige Remission der bereits eingetretenen Ausfälle erzielen.

3.2.4.1.3 Pathologisches Filum terminale Das intakte Filum terminale ist elastisch und erlaubt abgedämpfte Bewegungen des Rückenmarks während der Flexion und Extension, um eine übermäßige Traktion neuraler Strukturen zu verhindern. Ein pathologisches Filum terminale ist zu etwa 80 % als Begleitkomponente komplexerer Fehlbildungen ausgebildet. Isoliert pathologische Fila terminalia fallen seltener durch kutane Stigmata auf. Sie stellen –

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wie jedes primäre Tethered cord – eine präventive Operationsindikation dar. Wenn sie bei der Abklärung neurologischer Symptome gefunden werden, ist die operative Durchtrennung allerdings zwingend erforderlich. Im langzeitigen Verlauf kann diese Fixierung – wie jedes Tethered cord – zu irreversiblen Schäden durch Sauerstoffmangel und konsekutive neuronale Degeneration führen. Im Kleinkindalter äußert sich ein Tethered-cord-Syndrom (TCS) typischerweise durch progressive motorische und sensorische Funktionsstörungen. Klinisch kann ein pathologisches Gangbild vorliegen oder die Blasenkontrolle gestört sein. Der Duralsack wird lumbosakral durch interlaminäre Fensterung, ggf. mit geringer Erweiterung nach sakral, freigelegt und eröffnet. Das Filum terminale wird identifiziert und nach Separation anhaftender Nervenfasern koaguliert und durchtrennt. Dabei darf kein Zug auf den Conus medullaris ausgeübt werden. Ein pathologisch fixierender Effekt wird normalerweise mit einem Konustiefstand (bei LW3 oder darunter) assoziiert. In Einzelfällen kann ein verdicktes Filum terminale auch bei physiologischem Konusstand Ursache eines TCS sein. Bei klinischen Beschwerden und normal hoch stehendem Konus kann ein dynamisches MRT der BWS und LWS die diagnostische Bestätigung erbringen. Beim dynamischen MRT wird eine Kernspintomografie-Untersuchung aufrecht und damit unter der natürlichen Gewichtsbelastung durchgeführt. Mit dieser Technik sind Bewegungsstudien möglich. Dies ermöglicht somit in komplexen Fällen eine ergänzende und aussagekräftigere Diagnostik. Dabei lässt sich die Wirbelsäule in der aufrechten Körperhaltung, unter Beugung nach vorn, unter Beugung nach hinten und sogar in seitlicher Beugung untersuchen. So können Patienten genau in der Haltung untersucht werden, in der Beschwerden auftreten. Dadurch lassen sich positionsabhängige Stresssituationen erkennen, die bis dahin nicht sichtbar waren [2, 9].

3.2.4.1.4 Operationsresultate Über den natürlichen Verlauf geschlossener Dysraphien ist wenig bekannt. Die berichteten Verläufe in Fallserien sind sehr unterschiedlich und hängen wahrscheinlich von der Schwere der Defizite bei Diagnosestellung sowie der Ausdehnung und Beschaffenheit der Fehlbildung ab [6, 7]. Randomisierte, kontrollierte Studien über den Erfolg von operativen Eingriffen sind nicht bekannt. Schätzungen von Langzeitergebnissen nach Operationen von geschlossenen spinalen Dysraphien basieren im Wesentlichen auf Belegen von unkontrollierten, retrospektiven Monocenter-Fallserien. Diese Daten lassen einerseits darauf schließen, dass operative Eingriffe bei geschlossenen spinalen Dysraphien – meist handelt es sich um Detethering-Operationen – bei 33–90 % der Patienten zu einer gewissen Verbesserung führen [5, 7, 10]. Andererseits wurde von postoperativen Verschlechterungen bei bis zu 13 % der Patienten berichtet [5]. Neurologische Verschlechterungen nach operation betreffen demnach im Wesentlichen die Blasen- und Mastdarmfunktion [5]. Diese Inkonsistenz bei dem beobachteten Verlauf resultiert wahrscheinlich aus den substantiellen Unterschieden des erfassten

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Patientenkollektivs (Kinder, Erwachsene) sowie der Bandbreite spinaler Anomalien und neurologischer Symptome. Außerdem unterscheiden sich bei den untersuchten Patientenkollektiven die neurochirurgischen Operationstechniken, die Nachuntersuchungsmethoden und multiple andere, nicht kontrollierte Faktoren. Besonders erfreulich ist die Ansprechrate bei erst kurzzeitig bestehenden Defiziten; je schwerer die Funktionsstörungen sind und je länger sie bestehen, desto niedriger ist die Erfolgsrate, und umso wahrscheinlicher sind auch bei Besserung persistierende Restdefizite [8, 11]. Konnatale Funktionsstörungen sind operativ in der Regel nicht beeinflussbar. Zu der häufigsten Komplikation zählen lokale subkutane Liquorkissen (10 %). Diese sind in der Regel konservativ mit Bettruhe therapierbar. Weitere Komplikationen sind Wundheilungsstörungen und oberflächliche oder tiefe Wundinfektionen (2–3 %) [12]. Hier sind ggf. lokale Wundrevisionen notwendig. Patienten, die an einem Tethered cord operiert worden sind, benötigen eine bildgebende Nachkontrolle, um im Falle einer neurologischen Verschlechterung ein Retethering eindeutig zu identifizieren. Das Risiko eines Retethering ist bei einem verdickten Filum terminale am geringsten [12]. Der Artikel basiert auf der Arbeit von J. Krauß in der 1. Auflage.

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Hannes Haberl 3.2.4.2 Spinale Lipome 3.2.4.2.1 Hintergrund Bereits in den ältesten europäischen medizinischen Schriftfunden zu Fehlbildungen aus dem 17. Jahrhundert finden sich detailgenaue Zeichnungen und Beschreibungen dysraphischer Krankheitsbilder (Abb. 3.43).

Abb. 3.43: Heelkundige verhandeling over de tegennatuurlyke splytinge der rugge-graat: Geschreven aan den uitmuntende chirurgyn Hendrik Ulhoorn Gerrit Bouman, 1732.

Anatomie und klinische Präsentation dieser variationsreichen dysraphischen Konstellation, ebenso wie das Spektrum der neurologischen Risiken des Spontanverlaufs bereits diagnostizierter Patienten, sind also lange bekannt [1–3]. Dennoch blieb die prognostische Beurteilung und Behandlung spinaler Lipome Gegenstand einer durch das gesamte 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart anhaltenden Kontroverse. Eine wichtige Ursache der unterschiedlichen Sichtweisen ist die Dunkelziffer nicht diagnostizierter Patienten, die eine Quantifizierung des langfristigen Risikos neurologischer Ausfälle während des Spontanverlaufs erschwert. Vor diesem Hintergrund blieben die seit 1918 [4] durchgeführten prophylaktischen Lipomoperationen aufgrund des Operationsrisikos trotz ihrer Popularität in den USA in Europa umstritten [5–7]. Erst in jüngerer Zeit wurden die Ergebnisse langfristiger Nachbeobachtungen veröffentlicht [8–10]. Sie werfen ein eher düsteres Licht auf die Prognose betroffener Patienten: Aufgrund der zurückhaltenden Operationsindikation unterzog sich ein hoher

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Prozentsatz der Patienten erst mit bereits eingetretenen, häufig irreversiblen, neurologischen Ausfällen einem operativen Eingriff. 23–51 % der operierten Patienten wurden – ebenso häufig wie nichtoperierte Patienten [10] – später erneut symptomatisch. Auch prophylaktische Lipomteilresektionen scheinen dieses Risikoprofil langfristig nicht zu beeinflussen. Dieses ungünstige Risiko-Nutzen-Profil operativer Eingriffe vor dem Hintergrund der nicht sicher einschätzbaren Prognose des Spontanverlaufs veränderte sich entscheidend durch die Arbeiten Dachling Pangs, der an 315 konsekutiv prophylaktisch operierten Patienten für alle Lipomtypen zeigen konnte, dass bei radikaler Lipomresektion hervorragende Langzeitergebnisse ohne nennenswertes Rezidivrisiko zu erzielen sind. Ein 20-jähriger rezidiv- und symptomfreier Verlauf konnte bei 88,1 % der Patienten nach kompletter Lipomresektion bzw. ein 10-jähriger symptomfreier Verlauf bei 34,6 % der Patienten mit einer Lipomteilresektion festgestellt werden [11]. Diese Ergebnisse verändern gegenwärtig die traditionelle Risikobewertung der prophylaktischen Operation und unterstützen eine frühe Intervention. Als entscheidender Faktor für den langfristigen Erfolg erweist sich die Radikalität der Lipomentfernung. Die zentrale Bedeutung dieses Kriteriums geht von der Annahme aus, dass die traditionell hohe Rate postoperativer Verschlechterungen mit der Häufigkeit eines Retetherings bzw. eines verbleibenden Tetherings korreliert. Als wichtigste Einflussgröße für ein Tethered cord wird wiederum der enge und anhaltende Kontakt neuraler Strukturen mit der Dura angenommen. Er wird unter normalen anatomischen Verhältnissen vor allem durch die Durchmesserdifferenz zwischen Hülle und Inhalt (cord-sac-ratio [12]), aber auch durch deren glatte Oberflächen sowie durch häufige schwerkraft- und bewegungsinduzierte Verschiebungen neuraler Strukturen gegenüber ihrer Hülle verhindert. Voluminöse (Rest-)Lipome, postoperativ raue, fibröse Oberflächen sowie die Reduktion der Verschieblichkeit des Rückenmarks gegenüber der Dura durch ein inkomplettes Untethering gelten umgekehrt als risikosteigernd.

3.2.4.2.2 Chirurgisch orientierte Klassifikation Die Diskussion der hier unter chirurgisch-embryologischen Aspekten nach einem Vorschlag von Dachling Pang adaptierten Nomenklatur ist nicht abgeschlossen; es werden immer wieder neue Vorschläge vorgelegt [13]. Bei der von Pang als dorsale Lipome („Dorsal Lipoma“) definierten Subgruppe, bei der sich die ovalär geformte Kontaktebene des Lipoms auf die Dorsalseite des Rückenmarks unter Aussparung des distalen Conus medullaris und der Dorsal-RootEntry-Zone (DREZ) beschränkt, zieht der Lipomstiel durch einen dorsalen Duradefekt in das subkutane Fett. Der unbeteiligte distale Konus mündet häufig in ein verdicktes Filum terminale (Abb. 3.44(a)). Dorsale Lipome gehen auf eine segmentale Verschlussstörung ausschließlich während der primären Neurulation zurück. Sie sind deshalb auch ausnahmslos mit einem knöchernen Defekt vergesellschaftet. Ihre Embryoge-

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(a) dorsal

(b) transitional

(c) chaotic

Abb. 3.44: Fusionsbereiche dysraphischer Lipome mit dem Rückenmark: (a) streng dorsale Fusionszone des dorsalen Konuslipoms, die sich medial der Dorsal-Root-Entry-Zone befindet und die Konusspitze sowie sensorische und motorische Wurzeln ausspart; (b) ebenfalls streng dorsale Fusionszone transitioneller Lipome, die allerdings die Konsusspitze involviert, dabei aber immer medial der Dorsal-Root-Entry-Zone bleibt; (c) nach ventral ausladende Fusionszone chaotischer Lipome, die die Wurzelabgangsbereiche involviert und deshalb eine vollständige Resektion verhindert.

nese erklärt die scharfe Demarkationslinie zwischen Lipom, Pia mater und Myelon, die von entscheidender Bedeutung für die vollständige Lipomresektion ist. Lipome, die den Conus medullaris involvieren und bei denen die Demarkationslinie – vergleichbar mit dorsalen Lipomen – proximal mittig beginnt, dann aber auf ihrem Weg nach kaudal nach lateral auslenkt und das Konusende in einer schraubenförmigen Wendung nach ventral umschließt, werden von Dachling Pang als transitionelle Lipome („Transitional Lipoma“) eingestuft (Abb. 3.44(b)). Die häufige Involvierung des gesamten unteren Rückenmarks sowie des Filum terminale ist suggestiv für eine kombinierte Störung der primären und der sekundären Neurulation durch die Invasion mesenchymaler Zellen. Häufig finden sich im Inneren der kaudaleren Lipomanteile zudem kleine Hohlräume, die den Vakuolen des Neuralrohrs während der sekundären Neurulation entsprechen könnten. Die Plakode kann zur Gegenseite rotieren; ausnahmslos bleiben aber alle neuralen Strukturen ventral und lateral dieser ausladenden Demarkationslinie auf der ipsilateralen Seite. Der Duradefekt kann auf der dominanten Seite des Lipoms sehr viel ausgedehnter sein und das kaudale Ende des Duralsacks erreichen. Operativ ist hier eine vollständige Entfernung zumindest der dorsalen Lipomanteile möglich, bezüglich weit nach ventral ragender Ausläufer müssen gelegentlich Kompromisse gemacht werden. Lipomyelomeningozelen entsprechen operationstechnisch einem dorsalen oder transitionalen Lipom. Sie sind zusätzlich dadurch gekennzeichnet, dass ein

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137

Teil des distalen Conus medullaris, umgeben von einer duralen Ausstülpung, nach extraspinal zieht. Distal der Wurzelabgänge endständig am Conus medullaris ansetzende terminale Lipome („Terminal Lipoma“), die sich intradural nach kaudal erstrecken und das Filum terminale entweder in ganzer Länge oder in seinen distalen zwei Dritteln ersetzen, lassen sich – bei in aller Regel normaler Konfiguration des Konus – unproblematisch komplett resezieren. Die letzte chirurgisch relevante Lipomgruppe, die in ihrem proximal dorsalen Ansatz ebenfalls den dorsalen Lipomen ähnelt, zeichnet sich durch den sukzessiven Verlust der Demarkationslinie im Verlauf nach kaudal und ventral aus. Die Grenze zwischen Lipom und Rückenmark ist unregelmäßig, multiple Lipomausläufer durchqueren die Plakode nach ventral. Die Relation zu den Wurzeln bzw. der DREZ ist bei diesen als chaotisch („chaotic“) eingestuften Lipomen ebenfalls unklar, sie umwachsen die Nervenwurzeln (Abb. 3.44(c). Sehr oft sind sie vergesellschaftet mit einer sakralen Agenesie. Die Separation von Fett- und Nervengewebe ist kaum möglich, eine vollständige Lipomresektion deshalb ausgeschlossen. Auch im Falle einer inkompletten Lipomresektion muss ein vollständiges Untethering angestrebt werden. Sollte das Lipom den Duralsack nach distal vollständig ausfüllen, so kann eine vollständige Transsektion des kaudalen Lipomanteils distal der Wurzeln S3 ohne neurologischen Schaden durchgeführt werden. Um die Trennlinie exakt zu bestimmen, ist ein zuverlässiges intraoperatives Neuromonitoring zur sicheren Identifizierung der Wurzeln L5, S1 und S2 unerlässlich. Nur dann kann die Integrität aller neurologischen Funktionen nach Durchtrennung des Lipoms gewährleistet werden.

3.2.4.2.3 Operationstechnik Zwischen der Entwicklung einer MMC und eines dysraphischen Lipoms bestehen embryologische Parallelen. Die Plakode repräsentiert in beiden Fällen die embryonale Neuralplatte, die im Falle einer MMC eine partielle Verschlussstörung aufweist, im Falle eines Lipoms wird sie im Rahmen der gestörten Neurulation von mesenchymalem Gewebe besiedelt. Die operative Versorgung mündet deshalb für beide Entitäten möglichst in eine chirurgische Neurulation mit einer mediodorsalen Adaptation und Vernähung der Plakodenränder. Für die Resektion eines spinalen Lipoms wird zunächst die Dura in der erwarteten proximalen Ausdehnung freigelegt. Dazu kann im Falle einer Spina bifida eine Laminotomie oder Laminektomie des letzten geschlossenen Wirbelbogens erforderlich werden. Im Falle eines über dem Lipom längerstreckig geschlossenen Spinalkanals führen wir eine spezielle Laminoplastie unter Erhalt der Ligamenta interspinosa durch. Nach Freilegung des eventuellen duralen Lipomdurchtritts wird von kranial kommend und ca. ein spinales Niveau oberhalb des Lipomnidus beginnend, die Dura eröffnet. Die Duraeröffnung wird bis in den lipomatösen Duradefekt hinein fortgeführt

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und – bei dorsalen oder transitionellen Lipomen – nach kaudal ebenfalls ein Niveau über die Lipomgrenze hinaus vollendet. Die Dura wird zur Seite aufgespannt. Nun wird, von proximal kommend, die Demarkationslinie zwischen Lipom, Pia mater und Rückenmark identifiziert und mit einer scharfen Mikroschere eröffnet. Die Grenzfläche zwischen Lipom und Rückenmark lenkt in kaudaler Richtung aus dem Niveau der proximalen Oberfläche des Myelons relativ deutlich in die Tiefe aus und ist von einer Trennschicht bedeckt. Wenn die ersten Anteile des proximalen Lipompols entfernt sind, wird diese Grenzfläche, die sog. white plane sichtbar (Abb. 3.45).

Abb. 3.45: Abtragung des Lipoms entlang der „white plane“, einer deutlich identifizierbaren Trennschicht zwischen Rückenmark und Lipom.

Sie unterscheidet sich deutlich in ihrer etwas helleren Färbung und ihrer etwas festeren Konsistenz vom Myelon. Sie kann mit der Mikroschere gut ertastet werden. Weil die in spitzem Winkel auf diese Ebene zu angesetzten Schnitte spürbaren, sogar akustisch deutlich wahrnehmbaren Widerstand bieten, wird sie als „crispy“ bezeichnet. In dieser sich gelegentlich etwas in das Myelon absenkenden oder in das Fett aufwölbenden Ebene kann das Lipom komplett entfernt werden (Abb. 3.46).

Abb. 3.46: Exposition der „white plane“ nach vollständiger Resektion des Lipoms.

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Anschließend erfolgt eine chirurgische Neurulation, indem die Ränder der Plakode mittig zusammengeführt und lateral der DREZ mit einer 8.0 Mikronaht spannungsfrei vernäht werden (Abb. 3.47).

Abb. 3.47: Chirurgische Neurulation durch Adaption der beidseitigen DorsalRoot-Entry-Zone mittels Mikronaht.

Im Falle eines den gesamten kaudalen Duralsack ausfüllenden, die Cauda equina durchwachsenden Lipoms genügt eine Freilegung in Projektion auf die proximalen Lipomanteile bis zum lumbosakralen Übergang. Nach Duraeröffnung müssen im Laufe der Präparation nach distal die proximalen sakralen Wurzelabgänge bis einschließlich S3 sicher identifiziert werden. Hier ist ein zuverlässiges Neuromonitoring von entscheidender Bedeutung. Kaudal von S3 können Lipom, Wurzeln und Restplakode ohne funktionelles Risiko durch einen transversalen Schnitt abgesetzt und im Duralsack belassen werden. Das diskonnektierte kaudale Restlipom erfüllt eine wichtige Funktion, indem es den Duralsack durch sein Volumen „aufspannt“ und so die „sac-cord-ratio“ im operierten Bereich verbessert. Der subkutane bzw. epifasziale Lipomanteil wird belassen, um eine Liquorfistel in den Resektionsraum mit all ihren sekundären Risiken zu vermeiden. Es ist sehr viel einfacher und risikoärmer, diesen oberflächlichen Lipomanteil in einem kleinen zweiten Eingriff zu entfernen, sobald das duranahe subfasziale Operationsgebiet liquordicht verheilt bzw. vernarbt ist. Der Duraverschluss erfolgt unter Einbringung einer großzügig dimensionierten Duraplastik, um nicht nur die ungehinderte Liquorzirkulation zu gewährleisten, sondern auch die „sac-cord-ratio“ günstig zu beeinflussen. Die Plastik sollte aus feinem, wasserdicht vernähbaren und gut adaptierbaren Material (z. B. Pferdeperikard) bestehen. Wir bevorzugen zunächst eine provisorische Fixierung mit einigen Einzelknopfnähten entlang der Duraränder zur möglichst gleichmäßigen Ausrichtung, insbesondere in schwierig zu nähenden Abschnitten. Anschließend wird mit einer engen fortlaufenden Naht ein dichter Verschluss herbeigeführt. Die Dura kann im Nahtbereich mit Fibrinkleber oder mit fibrinhaltigen resorbierbaren Materialien überschichtet werden. Postoperativ ist für 48 Stunden die Lagerung in der Horizontalen zu empfehlen, um den hydrostatischen Druck nicht zu früh zu erhöhen.

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Über dem Duraverschluss werden Muskulatur und Faszie genäht bzw. adaptiert. Zuletzt wird die Haut zweischichtig verschlossen.

3.2.4.2.4 Postoperative Kontrollen Kontrolluntersuchungen umfassen in der Regel neben der klinischen Untersuchung elektrophysiologische und urologische Parameter. Urodynamik und Nervus-tibialisSSEP sind wichtige Ausgangsbefunde bzw. klinische Indikatoren für eine etwaige neurologische Verschlechterung im Rahmen der weiteren postoperativen Kontrollen. Eine MRT-Kontrolle sollte einmal postoperativ zur Erfassung des Ausgangsbefunds erfolgen und dann nach Maßgabe des klinischen Verlaufs bei relevanten Veränderungen einzelner Verlaufsparameter wiederholt werden.

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Hannes Haberl 3.2.4.3 Sekundäres Tethered cord – Indikation und Operationstechnik Das Tethered-cord-Syndrom (TCS) gehört zu den potentiellen negativen Folgen einer umschriebenen und nichtprogredienten angeborenen Fehlbildung. Anders als bei einer degenerativen Erkrankung ist eine klinische Verschlechterung deshalb prinzipiell nicht hinzunehmen – sie hat fast in jedem Falle einen behandelbaren Grund.

3.2.4.3.1 Indikationsstellung Der operative Verschluss eines Neuralrohrdefekts hinterlässt – begünstigt durch die anatomischen Verhältnisse mit einem postpartal noch sehr flachen Spinalkanal – ausnahmslos und völlig unabhängig von der operativen Technik ein Tethered cord. Damit ist das Risiko programmiert, im weiteren Verlauf ein TCS zu entwickeln. Dieses Risiko realisiert sich in einem Drittel der betroffenen Fälle. Phuong et al. haben gezeigt, dass ohne zeitnahes operatives Vorgehen innerhalb von 5 Jahren ein Risiko der weiteren orthopädischen und urologischen Verschlechterung von 60 % besteht [1]. Das TCS rechtfertigt ein offensives operatives Management, weil nur die möglichst frühe Intervention gute Chancen für eine Limitierung neuer Defizite bietet. Im konkreten Falle empfehlen wir bei vorliegendem Hydrocephalus zunächst immer erst die Shuntfunktion zu überprüfen [2]. Falls Zweifel an einer einwandfreien Shuntfunktion nicht auszuräumen sind, ist eine operative Revision indiziert. Erst wenn dadurch keine klinische Besserung zu erzielen ist, sollte das radiologisch verifizierte Tethered cord als wahrscheinlichste Ursache der klinischen Verschlechterung angesehen und behandelt werden. Eine rein prophylaktische neurochirurgische Behandlung des TC ist nur im Vorfeld einer geplanten Wirbelsäulenaufrichtung begründet, falls operationstechnisch das Risiko besteht, mechanischen Stress auf das Myelon zu übertragen. In diesem Zusammenhang ist die Option eines längenneutralen orthopädischen Eingriffs unter Vermeidung einer neurochirurgischen Intervention im Team zu evaluieren. Falls noch nicht geschehen, muss vor der Indikationsstellung zur Revision eine kernspintomografische Screeninguntersuchung des gesamten Spinalkanals erfolgen, um komplementäre, relevante Fehlbildungen auszuschließen.

3.2.4.3.2 Die Tethered-cord-Operation Nach Anlage eines Blasenkatheters für die folgenden 24 Stunden wird das Kind in Bauchlage auf Gelkissen platziert, um Druckulzera zu vermeiden. Eine antibiotische Single-shot-Prophylaxe, altersentsprechend mit einem einfachen Penicillin oder einem Penicillin der 2. Generation, wird appliziert. An der Bildgebung orientiert wird der Situs nun in Projektion auf den Bereich der Fixierung eröffnet. In der Regel schließt dies die Narbe der Erstversorgung in voller Länge ein. Obwohl grundsätzlich die transversale Schnittführung aus kosmetischen und physiologischen Gründen zu bevorzugen wäre, kommt aufgrund der vorgegebenen Narbe in der Regel die longitudinale

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Schnittführung – auch wegen der Erweiterungsmöglichkeit in kranio-kaudaler Richtung – zur Anwendung. Die Rückenmuskulatur wird vorsichtig mobilisiert und nach lateral gehalten, um die gesamte Ausdehnung des ossären Defekts freizulegen. Die spätere intradurale Orientierung kann durch einen weiteren Präparationsschritt entscheidend verbessert werden. Dazu wird die fehlbildungsbedingte fibröse Verbindung zwischen Pedikeloberfläche und Duraoberfläche gelöst und der Epiduralraum beidseits nach latero-ventral dargestellt. Durch diesen Schritt wird die Bestimmung der Mittellinie, die bei sehr weitem Spinalkanal inmitten spröder Narbenplatten durchaus schwierig sein kann, erleichtert. In kranialer Richtung wird der Übergang zur normal konfigurierten Duraoberfläche freigelegt. Dazu kann die Laminotomie oder Laminektomie des angrenzenden Wirbelbogens notwendig werden. Vor der Duraeröffnung wird das Kind in leichte Kopftieflage gebracht, um exzessiven Liquorverlust zu vermeiden. Nun wird das Mikroskop eingeschwenkt und die Dura proximal im nicht betroffenen Bereich eröffnet, angeschlungen und zur Seite gehalten. Die Arachnoidea wird identifiziert und nach medial von der Dura abgeschoben, um Zugang zum Epiarachnoidalraum zu gewinnen. In diesem Spaltraum ist die weitere Dissektion nach kaudal schnell und sicher möglich. Sobald die dorsal beginnende fibröse Vernarbung erreicht ist, oder der Epiarachnoidalraum durch Voroperationen nicht mehr sicher darstellbar ist, wird die Schnittführung der sukzessiven Duraeröffnung aus der Mittellinie nach beidseits lateral ausgelenkt. Wenn die Plakode bei der Erstoperation durch Mikronähte dorsal geschlossen wurde, beschränkt sich die erneute Fixierung in der Regel auf den Mittellinienbereich und ist einfach zu lösen bzw. zu umschneiden. Andernfalls ist die Fixierungsfläche wesentlich ausgedehnter und involviert die gesamte funktionsrelevante Innenseite des Rückenmarks. Es empfiehlt sich, dort im Sinne einer Risikominimierung mit der Präparation weiter nach lateral auszuweichen. Stets sollten Abgangsbereich und Austritt der dorsalen Nervenwurzeln gut überblickt werden. Die Dekompression der Plakode wird in dieser Umschneidungstechnik nach kaudal komplettiert. Im Bereich der letzten sakralen Wurzelabgänge kann die Dissektion etwas schwieriger werden – meist fehlt dort die arachnoidale Trennschicht, die dem Operateur die Sicherheit gibt, sich mit der Präparationsebene außerhalb der Ebene der Nervenwurzelverläufe zu bewegen. Nach erfolgreicher Zirkumzision sinkt die Plakode in der Regel in die Tiefe des im Laufe des postpartalen Wachstums deutlich voluminöser gewordenen Spinalkanals. Beim einfachen Tethered cord ohne Zusatzpathologie kann nun die auf der Plakode verbliebene dorsale Narbenplatte vorsichtig reduziert werden, um eine möglichst glatte Oberfläche herzustellen. Wenn der durch ein vollständiges Untethering erzielte Überblick über die Wurzelverläufe erreicht und das Myelon frei beweglich ist, kann die Entfernung eines Dermoides oder eines Restlipoms bzw. die Durchtrennung und Resektion eines pathologischen Filum terminale atraumatischer und mit geringerer Komplikationsgefahr durchgeführt werden. Wie auch bei der Lipomchirurgie gehen wir davon aus, dass die sog. cord-sac-ratio [3] relevant

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für das Risiko eines Retetherings ist. Beim Duraverschluss wird deshalb häufig ein Patch erforderlich, um genügend Raum für eine großzügige Liquorzirkulation zu schaffen. Derzeit verwenden wir hierzu ein speziell aufgearbeitetes, elastisches und transparentes Präparat auf der Basis von Pferdeperikard, das, ebenso wie synthetische Patches, die Risiken bovinen Materials vermeidet. Die Hoffnung, die Intensität der postoperativen Vernarbung durch die Materialwahl günstig zu beeinflussen, hat sich nach unserer Beobachtung bisher allerdings durch kein Material erfüllt. Operationstechnisch muss für Passgenauigkeit und eine faltenfreie Einarbeitung gesorgt werden, um das Risiko eines Retetherings niedrig zu halten. Die Verwendung epiduraler, resorbierbarer, fibrinhaltiger Auflagen zur „Versiegelung“ der Duranaht liegt aufgrund der mangelnden Evidenz im Ermessen des Operateurs. Die Wunde wird schichtweise verschlossen. Wenn die Ebene der Muskelfaszie in der Mittellinie in ganzer Länge adaptierbar ist, empfiehlt sich eine zweite, oberflächliche, fortlaufende Fasziennaht zur zuverlässigen Prophylaxe einer subkutanen Liquorfistel. Die Haut wird mit einer nichtresorbierbaren Naht verschlossen. Eine Wunddrainage ist nicht erforderlich. Postoperativ wird bei Verwendung eines Duraersatzes 2-tägige Bettruhe verordnet – anschließend wird der Patient zügig mobilisiert. Die Fäden werden 10 Tage postoperativ entfernt.

3.2.4.3.3 Komplikationen Das Risiko einer Liquorfistel liegt zwischen 4 und 7 % [4, 5], motorische, sensorische und vegetative Störungen können über vaskuläre Einschränkungen temporär durch die Mobilisierung von Plakode und Wurzeln provoziert werden. Im Einzelfall können die Folgen unbemerkter vaskulärer Restriktionen – ein Fall in der Erfahrung des Autors – allerdings bleibende Ausfälle bis hin zur Querschnittslähmung auslösen. Neurologische Ausfälle durch die Verletzung neuraler Strukturen sind bei mikroskopischer Technik in erfahrener Hand sehr selten [6]. Die Mehrheit der Patienten nach primärem MMC-Verschluss leidet bereits an einer chronischen neurogenen Blasenentleerungsstörung. Postoperative Verschlechterungen werden deshalb eher selten nachgewiesen. Die Datenlage wäre durch die konsequentere Umsetzung regelmäßiger urodynamischer Kontrolluntersuchungen noch zu verbessern.

3.2.4.3.4 Ergebnisse 73 % aller betroffenen Kinder zeigen mehr als ein Symptom. Die symptombezogene Prognose ist allerdings unterschiedlich. Im Gegensatz zum erwachsenen Patienten lassen sich Schmerzen im Kindesalter durch eine Operation sehr erfolgreich beseitigen [7]. Die motorische Schwäche wird in der Literatur unterschiedlich beurteilt. Während McLone über 70 % Verbesserung berichtet, sehen andere Autoren [8] eher eine mehrheitliche Stabilisierung auf dem präoperativen Niveau. Der kleinste gemein-

144 | 3 Zentrales Nervensystem

same Nenner dürfte die hohe Sicherheit sein, eine weitere Progredienz der Schwäche durch ein erfolgreiches Untethering zu verhindern. Sehnen- und Muskelverkürzungen verbessern sich naturgemäß nur in einer Minderheit der Patienten von 22 % mit noch nicht strukturell fixierten Veränderungen. Spastische Einschränkungen reagieren in 63 % positiv auf ein Untethering; ebenfalls hoch ist die Aussicht auf eine Verbesserung des Gangbildes mit 78 %. Divergent sind die Erfahrungen mit urologischen Problemen. Während McLone auch hier 64 % Besserungen angibt, sehen andere Autoren analog eher eine Stabilisierung der Befunde auf dem präoperativen Niveau [9]. Nicht in allen Fällen gelingt eine vollständige Adhäsiolyse. In unserer Studienklientel entwickelten alle unvollständig operierten Patienten (5 %) langfristig erneut neurologische Verschlechterungen. Die Entwicklung einer Skoliose gehört zu den Leitsymptomen eines TCS. Es ist allerdings weiterhin offen, ob eine unbedingt indizierte, frühe Adhäsiolyse die Dynamik der Skolioseentwicklung lange genug bremst, um die Wachstumsphase zu überbrücken [10–15].

3.2.4.3.5 Zusammenfassung Die frühe und offensive operative Behandlung des symptomatischen sekundären Tethered cord sichert der überwiegenden Mehrheit der Patienten eine Stabilisierung sich bis dahin verschlechternder neurologischer Funktionen. Für eine Minderheit dieser Patienten ist darüber hinaus eine Funktionsverbesserung zu erzielen. Das Risiko der Operation ist im Verhältnis zum Gewinn zu vernachlässigen.

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3.2 Spinale Fehlbildungen |

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Regina Trollmann und Helmuth G. Dörr

4 Endokrine Störungen 4.1 Einleitung Endokrine Störungen sind bei Kindern mit Meningomyelozele (MMC) nicht selten und gewinnen angesichts der in den letzten Jahrzehnten gestiegenen Lebenserwartung für die Betroffenen zunehmend an Bedeutung [1]. In der Literatur finden sich vor allem Berichte über einen Wachstumshormonmangel [2–4] und Störungen der Pubertät wie eine prämature Adrenarche oder eine frühe Pubertät [2, 5–8]. Die Häufigkeit eines Wachstumshormonmangels soll bei ca. 15 % liegen [2]. Die Pubertas praecox vera wird in einer Häufigkeit von 16–20 % bei MMC-Patienten beschrieben [5], wobei die bekannte Mädchenwendigkeit auch bei den MMC-Patienten vorkommt. Jugendliche mit MMC sind häufig übergewichtig oder adipös [9], wobei der Body-Mass-Index mit dem Knochenalter und dem Tanner-Stadium der Pubertätsentwicklung signifikant korreliert [10, 11]. Ein Hodenhochstand kommt bei Jungen mit MMC bei 25 % vor [6], während er bei gesunden Reifgeborenen nur in ca. 3 % vorliegt. Da mehr als 90 % der Patienten komplexe ZNS-Anomalien wie z. B. einen shuntpflichtigen Hydrocephalus, eine Chiari-II-Malformation, einen dilatierten 3. Ventrikel, eine Agenesie des Corpus callosum, andere Mittelliniendefekte, Migrationsanomalien und/oder Heterotopien aufweisen, liegt es auf der Hand anzunehmen, dass die Hypothalamus-Hypophysen-Achse bei der Pathogenese der endokrinen Störungen eine zentrale Rolle spielt. Histologische Untersuchungen der Hypophyse von Feten mit MMC zeigten schwere Fehlbildungen im Bereich der Sella turcica und eine verlagerte Adenohypophyse [12].

4.2 Methodische Aspekte Angesichts oft erheblicher Skelettdeformitäten ist eine standardisierte Erhebung der auxologischen Messparameter erschwert. Wir führen unsere Messungen in Erlangen einheitlich im Liegen und wenn möglich auch mit demselben Untersucher durch. Die Körpergröße wird als Länge im Liegen, daher Körperlänge (KL), vom Scheitel bis zur Ferse bei maximaler passiver Streckung der Extremitäten gemessen. Liegen Beugekontrakturen vor, werden die Messungen bei maximaler Streckung durchgeführt und der Grad der Kontrakturen im Verlauf dokumentiert. Die Oberlänge wird vom Scheitel bis zum Oberrand der Symphyse erfasst. Die Armspannweite entspricht dem Abstand D3–D3 bei maximaler Streckung der Arme in der Horizontalen (mit Kontakt zur Unterlage/Wand). Als Messinstrument dienen ein horizontales Stadiometer bzw. ein Metallmaßband. Für jede Einzelmessung wird der sog. SDS-Wert (Standard Deviation Score) nach der Formel „(Istwert der Körperlänge minus Altersmittelwert) geteilt durch Stanhttps://doi.org/10.1515/9783110228748-007

148 | 4 Endokrine Störungen

dardabweichung)“ ermittelt. Hierbei werden die Längendaten mit publizierten Referenzwerten wie z. B. der 1. Zürcher Longitudinalstudie [13] bzw. die Armspannweiten mit den Daten von Flügel et al. [14] verglichen. Dem chronologischen Alter (CA) parallel verläuft die Reifung des Knochenalters (bone age – BA), das einen wichtigen Parameter zur Beurteilung der physiologischen Reife darstellt. Als Referenzdaten zur Bestimmung des individuellen Knochenalters wird der Atlas von Greulich und Pyle herangezogen [15]. Nach der Methode von Bayley und Pinneau ist es mittels Knochenalterbestimmung möglich, die individuelle prospektive adulte Endgröße (PAH) zu ermitteln [16]. Bei Kindern mit pathologischer Wachstumsgeschwindigkeit und Abweichen der Körperlänge vom Altersnormbereich (KL SDS < −2) verwenden wir als Screeningparameter hinsichtlich einer gestörten Wachstumshormonsekretion die Messung der Armspannweite (SW) und die Serumspiegel von Insulin-like growth factor 1 (IGF1) und dessen Bindungsprotein 3 (IGFBP-3). Bei Vorliegen pathologischer Screeningparameter bestimmen wir die nächtliche Spontansekretion des Wachstumshormons über 10 Stunden (Blutabnahmen alle 20 Minuten; Beginn 20 Uhr) und die Wachstumshormonsekretion mittels standardisierter pharmakologischer Stimulationstests (z. B. Arginin, Clonidin). Die Stadien der Pubertätsentwicklung werden nach Tanner beurteilt [17]. Als frühnormale Pubertät wird das Auftreten sekundärer Geschlechtsmerkmale bei Mädchen im Alter von 8–9 Jahren bzw. bei Jungen im Alter von 9–10 Jahren angesehen. Die Diagnosestellung der Pubertas praecox basiert auf folgenden Kriterien: Auftreten des Pubertätsstadiums Tanner B2 vor dem 8. Geburtstag bei Mädchen bzw. Testesvolumen > 3 ml (bestimmt mit dem Orchiometer) vor dem 9. Geburtstag bei Jungen; pubertäre LH- und FSH-Serumspiegel mit einem stimulierten LH/FSH-Quotienten > 1 im GnRHTest, erhöhte Östradiol- bzw. Testosteronserumspiegel, beschleunigtes Knochenalter. Im Ultraschall kann man bei Mädchen den vergrößerten Uterus darstellen.

4.3 Störungen des Längenwachstums Patienten mit MMC sind nicht nur im Kindesalter, sondern auch als Erwachsene kleinwüchsig [6, 18–20]. Die in der Literatur berichteten Endgrößen liegen zwischen 142 cm bei Frauen und 152–159 cm bei Männern [19–21]. Neben den bekannten Faktoren im Rahmen der Grundkrankheit wie Höhe der neurologischen Läsion mit konsekutiven motorischen, sensiblen und trophischen Störungen der unteren Extremitäten sowie Skelettdeformitäten (insbesondere Beugekontrakturen, Skoliose), kommen die Immobilisation, Infektionen und Ernährungsstörungen und auch endokrine Störungen wie ein Wachstumshormonmangel oder eine frühe Pubertät infrage. Anhand eines Kollektivs von 109 Patienten mit MMC und Hydrocephalus (52 weiblich, 57 männlich) im mittleren Alter von 9,4 Jahren (3,2–21,0 Jahre) untersuchten wir in einer Querschnittsanalyse das Wachstum und mögliche wachstumslimitierende Fak-

4.3 Störungen des Längenwachstums | 149

toren [20]. Die Verteilung des motorischen Lähmungsniveaus betrug in unserem Kollektiv ≥ L2: n = 35, L3–L4: n = 29, L5–S1: n = 33, < S1: n = 12. Anthropometrische Daten einschließlich Armspannweite und Knochenalter wurden in regelmäßigen Abständen im Rahmen der ambulanten Kontrollen erhoben. 46,8 % der Patienten (50/109) waren kleinwüchsig mit einem SDS der Körperlänge von −3,44 ± 1,15, während die genetischen Zielgrößen der Patienten im Referenzbereich lagen. Als signifikante wachstumslimitierende Faktoren fanden sich die Höhe der neurologischen Läsion, damit verbunden der Mobilitätsstatus, der Grad der Skelettdeformitäten sowie der Pubertätsstatus. Patienten mit thorako-lumbalem Lähmungsniveau (> L2, n = 35) hatten eine niedrige mittlere Körperlänge von −3,13 ± 1,62 SDS, während sich bei lumbosakralem bis sakralem Lähmungsniveau eine Körperlänge von −1,12 ± 1,2 SDS (n = 45) fand (p < 0,005). Ebenso fanden sich signifikante Längenunterschiede innerhalb der verschiedenen Mobilitätsgrade (Rollstuhlfahrer: KL SDS −2,82 ± 1,6, n = 47; Fußgänger: −1,36 ± 1,44, n = 62; p < 0,005) sowie in Abhängigkeit vom Ausmaß der Skelettdeformitäten (Patienten mit Beugekontrakturen > 15°: KL SDS −2,54 ± 1,96; ohne Beugekontrakturen: −1,30 ± 1,89; Skoliose > 20°: KL SDS −2,56 ± 1,89; ohne Skoliose: −1,70 ± 1,54). Unsere Ergebnisse decken sich mit den in der Literatur beschriebenen Befunden und zeigen den Zusammenhang mit der Höhe der motorischen Läsion auf. So ist bei thorakalem Lähmungsniveau eine mittlere Endgröße von 130 cm, bei sakraler Läsion eine Endgröße von 150–160 cm zu erwarten [19, 22]. Das Längenwachstum in Korrelation zum Pubertätsstatus ist in Tab. 4.1 dargestellt. Die Daten zeigen, dass sich das Längendefizit aufgrund einer Akzeleration des Knochenalters ab Pubertätsbeginn zunehmend signifikant verschlechtert. Die Endgrößen der Erwachsenen liegen weit unterhalb ihrer genetischen Zielgröße. Tab. 4.1: Körperlänge in Korrelation zum Pubertätsstatus bei Patienten mit MMC (Mittelwert, SD, Range). Präpubertär

Pubertär

Erwachsene

N

67

27

15

Chronolog. Alter

7,0 ± 2,4

11,0 ± 2,6

17,8 ± 1,2

KL SDS CA

−1,68 ± 1,59 (−5,39–1,69)

−2,48 ± 1,59 (−5,95–1,15)

−3,20 ± 1,89 (−6,20–0,59)

N Knochenalter

11 6,3 ± 3,4

19 11,9 ± 2,7

13 18,6 ± 0,4

KL SDS BA

0,35 ± 1,75 (−2,19 ± 2,33)

−2,61 ± 1,76 (−6,48–1,83)

−3,35 ± 1,31 (−5,98 bis −0,58)

Zielgröße SDS

+0,46 ± 0,8

+0,21 ± 0,9

−0,18 ± 1,0

150 | 4 Endokrine Störungen

Im Vergleich zur Körperlänge wies die Armspannweite (SW) eine geringere Abweichung vom Altersreferenzwert auf. Der SDS-Wert lag im Mittel bei −1,01 (n = 109). Unabhängig von der Höhe der neurologischen Läsion und von Skelettdeformitäten fand sich bei 82,6 % der Patienten eine normale SW, während alle Patienten mit verminderter SW < −2 SDS auch deutlich kleinwüchsig waren (KL SDS −3,29 ± 1,29). Die Daten zur Armspannweite bestätigen, dass der Kleinwuchs nicht nur durch orthopädische oder neurologische Faktoren zu erklären ist.

4.4 Wachstumshormonmangel (GH-Mangel) Die Diagnostik eines GH-Mangels wird nach denselben Kriterien wie bei kleinwüchsigen gesunden Kindern durchgeführt. Es hat sich gezeigt, dass eine verminderte Armspannweite einen wichtigen Hinweis für das Vorliegen eines GH-Mangels geben kann [23–25]. Die betroffenen Patienten mit verminderter Armspannweite hatten dann auch in einem sehr hohen Prozentsatz pathologisch erniedrigte IGF1- und IGFBP-3Serumspiegel, die wiederum Indikatoren der normalen GH-Sekretion sind, weil sie durch GH stimuliert werden. Auch ein retardiertes Knochenalter kann bei Kindern mit MMC, die jünger als 9 Jahre sind, Hinweis für einen GH-Mangel sein. Die Häufigkeit eines GH-Mangels wird in der Literatur mit ca. 15 % angegeben, wobei sowohl Störungen der GH-Spontansekretion im Sinne einer neurosekretorischen Dysfunktion als auch ein verminderter GH-Anstieg nach pharmakologischer Stimulation im Sinne eines klassischen GH-Mangels vorkommen. Veränderungen in der GH-Spontansekretion wurden erstmals von Rotenstein et al. beschrieben [3]. In den Proben, die über eine Periode von 12 Stunden nachts gesammelt wurden, war die GH-Sekretion deutlich vermindert. So fand sich nur ein GH-Peak von > 7 ng/ml und ein verminderter GHMittelwert von 1,88 ng/ml (Norm > 3).

4.4.1 Therapie mit Wachstumshormon 4.4.1.1 Auxologische Effekte Mit der Diagnose Wachstumshormonmangel (GHD) ist für einzelne Patienten mit MMC die Indikation für eine Therapie mit rekombinantem Wachstumshormon (hGH) gegeben. Allerdings erschwert die Grunderkrankung die Entscheidung für eine solche Therapie. Über den Einsatz von GH bei Patienten mit MMC und positive Therapieeffekte über ein Intervall von 6 Monaten wurde erstmals 1989 von Rotenstein et al. [3] berichtet. Derzeit kann man nach Literaturberichten von mindestens 200 behandelten MMC-Patienten ausgehen. Insgesamt wird die GH-Therapie hinsichtlich einer signifikanten Verbesserung von Wachstumsgeschwindigkeit, Körperlänge, Armspannweite sowie der Serumspiegel von IGF1 und IGFBP-3 positiv bewertet [24, 26, 27].

4.4 Wachstumshormonmangel (GH-Mangel)

| 151

In unserem Patientengut (n = 7 Patienten) konnte nach einer Therapiedauer von im Median 18 Monaten in einer Dosis von 0,17 mg/kg/Woche (tägliche subkutane Injektionen) eine signifikante Verbesserung der Wachstumsrate, der Körperlänge sowie der Armspannweite beobachtet werden [28]. Gerade die Armspannweite, die nicht von der neurologischen Läsion betroffen ist, wird als wichtiger Parameter zur Beurteilung des Therapieerfolgs angesehen. In einer weiteren Analyse stellten Rotenstein und Breen den Therapieeffekt bei präpubertären MMC-Patienten (n = 81) zusammen, wobei 71 % der Patienten einen GH-Mangel hatten. Die Daten stammten aus der National Cooperative Growth Study und umfassten ein Therapieintervall von 1 Jahr (n = 46) bis 4 Jahre (n = 11) [29]. Im 4. Therapiejahr lag die mittlere Wachstumsgeschwindigkeit bei 6,6 cm/Jahr (vor Therapie: 4,5 cm/Jahr) und der mittlere SDS der Körperlänge bei −2,2–1,4 (vor Therapie: −4,0–1,2). Ähnliche Ergebnisse ergab die Analyse von KIGS, einer pharmakoepidemiologischen Datenbank der Firma Pfizer, in der weltweit Daten von Patienten gesammelt werden, die mit dem Wachstumshormonpräparat Genotropin® behandelt werden [30]. Insgesamt konnten 80 Patienten (38 Jungen) mit MMC im chronologischen Alter von im Median 11,6 Jahren gefunden werden. Bei 52 Patienten fand sich ein GH-Mangel. Die GH-Dosis lag im Median bei 0,23 mg/kg/Woche. Nach einer Behandlungsdauer von im Median 3 Jahren verbesserte sich die Körperlänge von −2,97 auf −2,01 SDS. Bei longitudinaler Analyse einer Untergruppe von 21 Patienten über 3 Jahre zeigte sich sogar eine Verbesserung der Körperlänge von −3,25 bei Beginn auf −1,87 SDS. Angaben über tatsächlich erreichte Endgrößen nach hGH-Therapie von MMCPatienten liegen derzeit in der Literatur nicht vor. Rotenstein et al. berichteten über sog. Near final height data von 20 MMC-Patienten (12 Jungen), die mehr als 90 % ihrer Endgröße erreicht hatten. Die Körperlänge verbesserte sich im Vergleich zu unbehandelten Erwachsenen mit MMC um etwa +0,6 SDS. Dies entspricht etwas mehr als 3 cm. Allerdings erreichten 15 der 20 Patienten eine Endgröße, die oberhalb der 3. Perzentile der gesunden Referenzpopulation lag [31]. Schwerwiegende Nebenwirkungen der GH-Therapie bei MMC sind bisher nicht bekannt geworden. Im Therapieverlauf wurden Einzelfälle eines symptomatischen Tethered-cord-Syndroms und einer progredienten Skoliose berichtet [27, 28]. Ob durch das vermehrte Längenwachstum die Skoliose früher manifest wird, kann aus den bisherigen Daten nicht beurteilt werden. Im Gegensatz zur idiopathischen Skoliose verläuft eine Lähmungsskoliose bei MMC (ohne GH-Therapie) häufig bereits im frühen Kindesalter progredient. Für MMC-Patienten liegen in der Literatur keine Langzeitstudien über die Skolioseprogredienz unter GH-Therapie vor. Ein frühzeitiges operatives Detethering wird als Möglichkeit diskutiert, um eine progrediente Skoliose bei MMCPatienten unter der Wachstumsstimulation zu verhindern [32]. Ein Ausschluss von MMC-Patienten mit schwerer Skoliose von einer GH-Therapie sowie engmaschige klinische und radiologische Kontrollen des Wirbelsäulenbefunds im Therapieverlauf erscheinen nach diesen Beobachtungen und nach eigenen Erfahrungen gerechtfertigt.

152 | 4 Endokrine Störungen

4.4.1.2 Metabolische Effekte Neben der Beschleunigung des Längenwachstums wird durch hGH auch eine Verbesserung der Muskelmasse und der Mobilität postuliert. Die Daten von Rotenstein und Reigel, erhoben an 18 präpubertären MMC-Patienten über 1 Jahr, ergaben im Verlauf der Therapie eine Zunahme des Grundumsatzes bei gleichzeitiger Abnahme der Fettfaltendicke und Verbesserung der Muskelkraft [33]. Kontrollierte Studien zu metabolischen und ossären Effekten von GH bei MMC Patienten liegen in der Literatur bisher nicht vor. Möglicherweise kann eine Therapie mit GH auch die Adipositas, die insbesondere bei pubertären und erwachsenen Patienten häufig vorliegt, und eine verminderte Knochendichte positiv beeinflussen. Dass die aktive Muskelkraft entscheidend die Knochendichte und -stabilität bestimmt, ist aus zahlreichen Studien belegt. Für Patienten mit MMC liegen hierzu nur wenige Daten vor. Aus klinischen Beobachtungen einer schweren Demineralisation und erhöhten Frakturrate bei immobilisierten MMCPatienten mit thorakalem und hochlumbalem Lähmungsniveau [34] ist bekannt, dass die Verminderung der Knochendichte der unteren Extremitäten mit der Höhe der motorischen Läsion korreliert [35]. Durch Vergleich der Knochendichte von 6- bis 19-jährigen MMC-Patienten mit gesunden Kontrollen konnten Quan et al. [36] nicht nur eine erhöhte Demineralisation an den unteren Extremitäten feststellen, vielmehr zeigten die Autoren eine Verminderung der Knochendichte des distalen Radius von MMC-Patienten als möglichen Hinweis auf systemische Effekte der eingeschränkten Mobilität. Die niedrigsten Knochendichten wurden vor allem bei weiblichen Patienten und bei Patienten, die ausschließlich im Rollstuhl sitzen, beschrieben [39]. Eine erniedrigte Knochendichte des distalen Radius korrelierte signifikant mit der Frakturrate der Patienten [1]. Die niedrigen Knochendichten bei MMC-Patienten können durch erniedrigte Vitamin-D-Spiegel erklärt werden [38, 39]. In der polnischen Studie hatten die MMC Patienten im Mittel niedrige 25-OH-Vitamin-D-Spiegel von 11,5 ± 7,87 ng/ml [38]. Insgesamt hatten 48 % der Kinder Werte < 10 ng/ml (schwerer VitaminD-Mangel). Bei 27 Kindern wurde eine signifikant verminderte Knochendichte mittels DXA gemessen, wobei 15 Patienten (55,5 %) eine Osteoporose und 7 (26 %) eine Osteopenie hatten. Nur 5 Kinder (18,5 %) hatten normale Werte an der Wirbelsäule. Darüber hinaus wurde eine signifikante negative Korrelation zwischen den 25-OHVitamin-D-Spiegeln und der Osteoporose gefunden. Man sollte daher bei Kindern mit MMC regelmäßig die Vitamin-D-Spiegel bestimmen und bei niedrigen Werten eine Substitution mit Vitamin D durchführen [39].

4.5 Störungen der Pubertät Störungen einer vorzeitigen bzw. frühnormalen Pubertätsentwicklung finden sich häufig bei MMC-Patienten [2, 5, 6, 20, 21]. Angesichts einer erheblichen psychischen Belastung und des Risikos einer weiteren Verschlechterung der Endgröße durch

4.5 Störungen der Pubertät | 153

vorzeitigen Epiphysenfugenschluss sind eine frühzeitige Diagnostik sowie Beratung und ggf. Therapie anzustreben.

4.5.1 Prämature Adrenarche Die Adrenarche definiert den Beginn der physiologischen Androgenproduktion in der Zona reticularis der Nebennierenrinde. Die Serumkonzentrationen von Dehydroepiandrosteron-Sulfat (DHEAS) steigen bei gesunden Mädchen im Alter zwischen 5 und 6 Jahren physiologisch an. Eine „übersteigerte Adrenarche“ ist dadurch charakterisiert, dass die betroffenen Mädchen bereits DHEAS-Werte haben, die deutlich über dem Bereich pubertärer gesunder Mädchen liegen (> 222 µg/dl bzw. > 6 µmol/l). Die physiologischen Veränderungen, die der Adrenarche zugrunde liegen, sind nach wie vor nicht ganz geklärt. Neben den Wirkungen von CRH und ACTH spielen die Zunahme der 17,20-Lyase-Aktivität, erhöhte IGF-1- und Insulinkonzentrationen und auch der Ernährungsstatus eine Rolle. Unsere eigenen Untersuchungen zeigen, dass die Patienten mit MMC häufiger eine verfrühte und verstärkte adrenale Androgenproduktion haben [37]. Bei MMC-Patienten mit isolierter Pubarche und präpubertären MMC-Patienten ohne Pubarche waren die DHEAS-Serumspiegel deutlich erhöht. Patienten mit Pubarche und erhöhten DHEAS-Werten (n = 12) hatten eine schlechtere Wachstumsprognose als Patienten mit normalen DHEAS-Werten. Die Diagnose prämature Adrenarche stellt eine Ausschlussdiagnose dar, d. h., alle anderen endokrinen Störungen, die mit einer prämaturen Adrenarche einhergehen wie z. B. das adrenogenitale Syndrom oder Tumore der Ovarien oder Nebennieren, müssen ausgeschlossen sein.

4.5.2 Vorzeitige Pubertät Zahlreiche Studien haben vor allem bei Mädchen mit MMC gezeigt, dass die sexuelle Reifung verfrüht und rasch abläuft [2, 5, 6, 20, 21]. In unserem Kollektiv (n = 109) fanden sich 27 pubertäre Patienten (22 weiblich, 5 männlich) im mittleren Alter von 11,2 ± 2,7 Jahren [20]. Erste Pubertätszeichen (Mädchen: Tanner B2, Jungen: Hodenvolumen > 3 ml) traten bei Mädchen im mittleren Alter von 8,6 ± 1,4 Jahren (5,5–11,1 Jahre), bei Jungen mit 11,1 ± 1,9 Jahren (8,0–12,1 Jahre) auf. Wie in Tab. 4.2 dargestellt, wurde auch ein beschleunigtes Tempo der Pubertät bei Mädchen im Vergleich zu den Referenzdaten beobachtet. So wurden alle Tanner-Stadien früher erreicht. Auch das Menarchealter lag im Mittel in unserer Kohorte mit 10,9 ± 1,6 Jahren um −2,31 SDS signifikant früher als in der Referenzpopulation. Die Therapie der Wahl der idiopathischen Pubertas praecox vera (PPV) ist die Behandlung mit GnRH-Agonisten, die heute als Depotpräparate in der Regel alle 28 Tage subkutan verabreicht werden. In unserem eigenen Kollektiv wurde bei 8 Patienten

154 | 4 Endokrine Störungen

Tab. 4.2: Chronologisches Alter (Jahre; Mittelwert ± SD) bei Auftreten der Stadien B2 bis B5 nach Tanner und Alter bei Menarche bei 22 Mädchen mit MMC im Vergleich zur Referenzpopulation [13]. Tanner

CA

Referenz

SDS

B2 B3 B4 B5 Menarche

8,6 ± 1,4 9,9 ± 1,5 11,3 ± 2,1 11,8 ± 1,5 10,9 ± 1,6

10,9 ± 1,2 12,2 ± 1,2 13,2 ± 0,9 14,0 ± 1,2 13,4 ± 1,1

−1,95 ± 1,15 −1,95 ± 1,22 −2,12 ± 2,29 −2,48 ± 1,28 −2,31 ± 1,91

(6 weiblich, 2 männlich) die Diagnose einer Pubertas praecox vera gestellt. Alle Patienten wiesen einen shuntversorgten Hydrocephalus bei Chiari-II-Malformation auf. Das mediane chronologische Alter bei Diagnosestellung betrug bei den Mädchen 7,6 (Streubereich 5,5–9,2) und bei den Jungen 8,0–8,8 Jahre [8]. In der Tab. 4.3 sind die auxologischen Daten der 8 Patienten vor Therapiebeginn mit einem GnRH-Agonisten dargestellt. Es fällt eine mittlere Knochenalterakzeleration von 1,4 Jahren auf. 2 Mädchen waren bereits postmenarcheal. 5 Patienten waren deutlich kleinwüchsig, wobei die Körperlängen zwischen −6,3 und −2,1 SDS lagen. Tab. 4.3: Auxologische Daten von 8 Patienten mit Pubertas praecox vera vor GnRH-Analoga-Therapie. Mädchen (n = 6)

CA (Jahre) BA (Jahre) BA/CA KL SDS CA KL SDS BA BMI kg/m2 Progn. Endgröße (cm) Zielgröße (cm)

8,6 9,7 1,20 −2,46 −2,87 21,3 147,2 160,5

Median Range

6,1–9,8 7,5–11,5 1,0–1,45 −6,3 bis −1,20 −6,7 bis −0,69 15,7–27,3 117,2–158,3 157,5–168,0

Jungen (n = 2) Pat. 1

Pat. 2

8,0 9,2 1,0 −2,9 −3,9 15,1 158,1 169,1

8,9 10,7 1,2 −2,6 −2,9 15,6 157,6 183,0

Die Therapie erfolgte bei 5 Mädchen mit Triptorelin i.m. (Injektionsintervall 28 Tage, mediane Einzelinjektionsdosis 138 µg/kg KG, mediane Therapiedauer 36 Monate), bei 3 Patienten (1 weiblich, 2 männlich) mit Leuprorelinacetat s.c. (Injektionsintervall 28 Tage, mediane Einzelinjektionsdosis 171 µg/kg KG, mediane Therapiedauer 6 Monate). Unter der GnRH-Analoga-Therapie, die ohne Auftreten von lokalen oder systemischen Nebenwirkungen verlief, war keine sichere Rückbildung, allerdings auch keine weitere Zunahme der sekundären Geschlechtsmerkmale zu beobachten. Die prämature Menstruation konnte in allen Fällen gestoppt werden. Die initial erhöhten basalen LH-, FSH- und Östradiolserumspiegel sowie die stimulierten

4.6 Zusammenfassung |

155

LH/FSH-Quotienten waren im Verlauf rückläufig, eine konstante Suppression auf präpubertäres Niveau konnte jedoch trotz hoher Einzelinjektionsdosen und Verkürzung des Injektionsintervalls auf 20–25 Tage (n = 4) nicht vollständig erreicht werden. Möglicherweise ist dies im Zusammenhang mit der Injektionsart und -lokalisation zu beurteilen. Aufgrund der zu vermutenden Resorptionsstörungen im Bereich der Glutealmuskulatur sollten daher die s.c.-Injektionen in Regionen von normaler Sensibilität wie der Bauchhaut erfolgen, um eine effektivere Suppression zu ermöglichen. Die Beschleunigung der Knochenreifung (BA/CA initial 1,2 + 0,2) konnte bei 4 Patienten gebremst werden (BA/CA 0,8 ± 0,3). Eine Verbesserung der prospektiven Endgröße (PAH), die initial bei durchschnittlich 137 cm (117–154 cm) lag, wurde in unserer Kohorte nicht erreicht. Nach Beendigung der Therapie kam es innerhalb von 8 Monaten bei allen Mädchen zum Auftreten normaler Menses.

4.6 Zusammenfassung Patienten mit MMC und Hydrocephalus sind häufig kleinwüchsig und haben eine frühnormale bzw. vorzeitige Pubertätsentwicklung. Das gestörte Längenwachstum kann aufgrund der zahlreichen wachstumslimitierenden Faktoren, die mit multiplen neurologischen, orthopädischen und urologischen Problemen einhergehen, erklärt werden. Allerdings sollten Hormonstörungen nicht übersehen werden. Angesichts der multiplen Skelettdeformitäten sind standardisierte Messverfahren und der Vergleich zu Referenzdaten erschwert. Die Armspannweite, die von den Folgen der neurologischen Läsion nicht beeinträchtigt ist, ist nach unserer Meinung ein geeigneter Parameter zur Beurteilung des linearen Wachstums und zur Differenzierung von Wachstumsstörungen bei Patienten mit MMC. Darüber hinaus sollte bei der Berechnung des Body-Mass-Index (BMI) bei Kindern mit MMC, um Übergewicht bzw. Adipositas zu definieren, ebenfalls die Armspannweite und nicht die Körpergröße verwendet werden. Nach unseren Ergebnissen sind die Messungen der Armspannweite und der IGF1- und IGFBP-3-Serumspiegel bei MMC-Patienten als Screeningmethode für einen Wachstumshormonmangel geeignet. Der Einsatz von hGH bei Kindern mit MMC wird weiterhin kontrovers diskutiert. Unter den Entscheidungskriterien für eine Therapie sollten im Rahmen der interdisziplinären Betreuung die orthopädischen Befunde, der Mobilitätsgrad, die mentale Entwicklung und die Motivation der Eltern Berücksichtigung finden. Ein Therapieversuch mit hGH kann jedoch, im Falle einer Verbesserung der Körperlänge, entscheidend zur Verbesserung der Selbstständigkeit und sozialen Integration der Kinder beitragen. Unserer Meinung nach sollte eine individuelle und interdisziplinäre Therapieentscheidung das Ziel sein. Durch die Therapie mit GnRH-Analoga bei PPV können positive Effekte auf den Verlauf der Pubertätsentwicklung und der Knochenalterprogredienz erreicht werden.

156 | 4 Endokrine Störungen

Ergebnisse über Endgrößen von MMC-Patienten nach Therapie mit GnRH-Analoga liegen in der Literatur nicht vor. Standardisierte auxologische Screeningprogramme einschließlich regelmäßiger Erhebung der Armspannweite, des Knochenalters und der Pubertätsstadien nach Tanner sind in der ambulanten interdisziplinären Betreuung von Kindern mit MMC erforderlich (vgl. Methodik). Durch enge Zusammenarbeit mit einem pädiatrischen Endokrinologen sollte eine rechtzeitige Diagnosestellung und ggf. Therapie von Störungen des Wachstums und der Pubertätsentwicklung angestrebt werden, die – unbehandelt – für nicht wenige Betroffene eine zusätzliche Einschränkung von Entwicklungschancen und Lebensqualität bedeuten können.

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5 Neurogene Blasen- und Darmentleerungsstörung Maria Bürst

5.1 Neurogene Blasen-Sphinkter-Dysfunktion: Grundlagen und Diagnostik 5.1.1 Einleitung Die Geburt eines Kindes mit spinaler Dysraphie, ob offen oder geschlossen, ist der Beginn eines langen Feldzuges für die gesamte Familie. Nahezu 95 % dieser Kinder weisen Funktionsstörungen des unteren Harntraktes auf, die eine nicht zu unterschätzende Gefahr für den oberen Harntrakt darstellen [1]. Hohe intravesikale Drücke, hervorgerufen durch intrauterin oder postnatal auftretende DetrusorSphinkter-Dyssynergie, gefährden die Nieren dieser Kinder [2]. Aber auch bei vermeintlich geringer Nervenschädigung wie bei okkulter spinaler Dysraphie kann es zu einer Nierenschädigung kommen [2, 3]. Systematische urodynamische Kontrollen haben gezeigt, dass sich die Art der Blasendysfunktion während der Entwicklung ändern kann [1, 4, 5], sodass lebenslange Kontrollen in dem Risiko angepassten Abständen von großer Bedeutung sind. Die Blasendysfunktion ist Folge der gestörten nervalen Kontrolle des asymmetrischen Zyklus von Harnspeicherung und Harnentleerung. Speziell bei kongenitalen Defekten des Rückenmarks, wie der Myelomeningozele, gibt es kein typisches Bild einer neuromuskulären Dysfunktion des unteren Harntraktes. Harninkontinenz ist nicht nur die Folge einer Sphinkterinsuffizienz, sondern kann auch durch Detrusorhyperaktivität ausgelöst werden. Die Prognose des Krankheitsbildes wird nicht zuletzt durch Restharnbildung, Harnstauung und Reflux, die mit ihrer Prädisposition zur aszendierenden, komplizierten Pyelonephritis die Nierenfunktion bedrohen, bestimmt [6]. Die Dynamik der Blasenfunktionsstörung erzwingt eine lebenslange Betreuung dieser Kinder mit intensiver Überwachung des gesamten Harntraktes und kontinuierlicher Anpassung der therapeutischen Regime. Es gilt jeweils, den Funktionszustand von Detrusor und Sphinkter zu ermitteln und Veränderungen am oberen Harntrakt frühzeitig zu erkennen [7–10]. Ziel der neurourologischen Behandlung ist der Erhalt einer physiologischen Blasencompliance als Voraussetzung für den Schutz des oberen Harntraktes und eine ausreichende Speicherfunktion der Harnblase mit restharnfreier Blasenentleerung mit Entwicklung der Kontinenz spätestens zum Schulalter, zum späteren Zeitpunkt Unabhängigkeit im Blasen- und Darmmanagement [11]. Um diese Ziele zu erreichen, ist das Verständnis der physiologischen und pathophysiologischen Miktion essentiell. Nur so können adäquate konservative oder chir-

https://doi.org/10.1515/9783110228748-008

160 | 5 Neurogene Blasen- und Darmentleerungsstörung

urgische Behandlungen ausgewählt und zum richtigen Zeitpunkt eingesetzt werden [12, 13]. Durch die modernen neurourologischen Behandlungsstrategien wird nicht nur die Lebenserwartung, sondern vor allem die Lebensqualität der Patienten nachhaltig gebessert [14–16].

5.1.2 Physiologie der normalen Miktion Der gesamte untere Harntrakt bildet funktionell eine Einheit. Nur so gelingt die Harnspeicherung und -entleerung durch ein und dasselbe Organ. Der gesunde Miktionszyklus umfasst Blasenfüllung mit Urinspeicherung und -entleerung. Nach der Definition der International Continence Society (ICS) versteht man unter der Speicherphase das Zeitfenster der Blasenfüllung ohne relevanten Druckanstieg. Der Zeitraum der Blasenkontraktion nach vorheriger Relaxierung von Blasenhals, Harnröhre und Beckenboden wird als Miktion bezeichnet. Das ZNS koordiniert das sympathische, parasympathische und somatische Nervensystem und stellt somit eine normale Miktion mit anschließender Urinkontinenz bis zur nächsten Miktion sicher [2, 12]. Die Ausbildung der Kontinenz des Erwachsenen ist ein langwieriger Reifungsprozess und erstreckt sich über die ersten Jahre der Kindheit.

5.1.2.1 Anatomie des unteren Harntraktes Der Urin fließt aus der Niere über die Harnleiter in die Blase. Die Harnleiter treten schräg in die Blasenwand ein und funktionieren als Ventil mit Verhinderung des Urinrückflusses während der Blasenfüllung und -entleerung. Die Ventilfunktion bleibt nur so lange erhalten wie der intramurale schräge Harnleiterverlauf erhalten ist [12]. Anatomisch unterscheidet man an der Harnblase den Detrusor und das Sphinktersystem. Der Detrusor besteht aus einer komplexen, in sich verwobenen Struktur von glatten Muskelfasern. Zwischen den Muskelfasern liegen lockeres Bindegewebe und kollagene Fibrillen, wobei das Mengenverhältnis von Muskulatur zu Bindegewebe bei gesunden jungen Menschen mit 4 : 1 angegeben wird. Obstruktion bewirkt eine Veränderung zugunsten der kollagenen Anteile [17]. Aus dem Trigonum heraus ist bei männlichen Individuen um den Ansatz der Harnröhre durch besondere Anordnung der Muskelfasern funktionell der innere Sphinkter ausgebildet. Die Harnröhre wird zusätzlich durch einen Sphincter externus verschlossen, der der quergestreiften Muskulatur des Beckenbodens entstammt. Das weibliche Sphinktersystem ist weniger komplex aufgebaut, es umgibt die gesamte Urethra [12].

5.1 Neurogene Blasen-Sphinkter-Dysfunktion: Grundlagen und Diagnostik | 161

5.1.2.2 Physiologie des unteren Harntraktes Zur Miktionssteuerung sind Kortex, Hirnstamm, Rückenmark und die Blase erforderlich. Das Zusammenspiel dieser Strukturen ermöglicht die Willkürkontrolle der Miktion mit koordinierter Blasenentleerung zur richtigen Zeit am richtigen Ort. Das pontine Miktionszentrum ist essentiell für die Koordination der Miktion. Hier werden die konträren Einflüsse von Sympathikus und Parasympathikus auf den unteren Harntrakt gegeneinander verschaltet. Bei der Blasenentleerung kommen von diesem Zentrum exzitatorische Signale zum sakralen Rückenmark. Dies führt zur Detrusorkontraktion während gleichzeitig inhibitorische Signale zum thorakolumbalen Rückenmark mit Effekt der Sphinkterrelaxation gesendet werden. In Summe führt dies zur gesamten Entleerung des Blaseninhalts [12]. Das pontine Miktionszentrum steht unter Kontrolle des Großhirns und ist somit willkürlich steuerbar. Der Sphinkter hält durch einen Dauertonus die Kontinenz in Ruhe aufrecht (sog. Slow-twitch-Fasern). Durch die Kontraktion von sog. Fast-twitchFasern wird die Kontinenz unter Belastung sichergestellt [18]. Bei gesunder Detrusorfunktion ist die Kontinenz eine Leistung des urethralen Verschlussmechanismus. Das koordinierte Zusammenspiel zwischen Sphinkterrelaxation und Detrusorkontraktion ist Grundvoraussetzung für eine gesunde Miktion. Während der Harnspeicherung wird der sakrale Miktionsreflex durch inhibitorische Signale unterdrückt, während exzitatorische Signale am thorako-lumbalen Rückenmark zur Kontraktion des inneren Schließmuskelsystems führen. In Summe führt dies zur Harnspeicherung bei relaxiertem Detrusor mit niedrigen intravesikalen Drücken. Sensorische Informationen über den Füllungszustand der Blase erreichen über den Hypothalamus und Thalamus den präfrontalen Kortex. Diese Hirnregion ist für die hemmenden Einflüsse verantwortlich. Sobald die Entscheidung der Einleitung der Willkürmiktion getroffen ist, werden die hemmenden Impulse unterbrochen. Das Endergebnis ist Stimulation des Miktionszentrums mit Durchführung der Miktion. Drei gemischt sensorisch-motorische Nerven (N. hypogastricus, N. pelvicus und N. pudendus) innervieren den unteren Harntrakt. Der N. hypogastricus übernimmt die autonome sympathische Innervation , der N. pelvicus ist für die parasympathische Innervation verantwortlich und der N. pudendus ist Träger der somatischen Nervenfasern. Die Nerven des sympathischen Systems entspringen in Höhe von Th10 bis L2 aus dem Rückenmark und gelangen über den N. hypogastricus zu α-adrenergen Rezeptoren am Blasenhals und der proximalen Urethra. Bei steigender Blasenfüllung kommt es zur zunehmenden Tonisierung des Blasenhalses und der proximalen Urethra. Zusätzlich ziehen Fasern zu β-adrenergen Rezeptoren zum Blasenfundus und bewirken eine Hemmung der Detrusoraktivität. Die parasympathischen Nervenfasern entspringen dem sakralen Miktionszentrum. Sie werden im Plexus pelvicus bzw. in der Blasenwand auf postganglionäre cholinerge Neurone umgeschaltet. Die Aktivierung des sakralen Parasympathikus

162 | 5 Neurogene Blasen- und Darmentleerungsstörung

führt zu Acetylcholin- und Stickoxid(NO)-Ausschüttung mit dem Ergebnis der Detrusorkontraktion und Relaxation der proximalen Urethra. Actylcholin bewirkt die Aktivierung der Neurone und führt zur Detrusorkontraktion durch Aktivierung der M2- und M3-Muskarinrezeptoren. Bei NO-Ausschüttung kommt es über parasympathische Innervation im Bereich der proximalen Urethra zu einer Relaxation der glatten Muskulatur. Das somatische Nervensystem mit Innervation des äußeren Schließmuskels hat seinen Ursprung im Onuf’schen Kern in Höhe S2–S4 und zieht über den N. pudendus zum quergestreiften äußeren Schließmuskel. Supraspinale Zentren, die der Willkürkontrolle unterliegen, senden während der Blasenfüllung exzitatorische Signale zum Onuf’schen Kern. Dies bewirkt eine Kontraktion von externem Sphinkter und Beckenboden; während der Blasenentleerung wird dieser Einfluss unterdrückt, was zur Relaxation von Harnröhren- und Beckenbodenmuskulatur führt. Informationen über den Füllungszustand der Blase werden über afferente Leitungsbahnen der Hinterstränge des Rückenmarks und über die nicht umgeschalteten Bahnen des Tractus spinothalamicus übermittelt. Die Rezeptoren sind suburothelial und muskulär angeordnet. Einige sensorische Fasern ziehen durch das Urothel bis zur Oberfläche und liefern Informationen über physikalische und chemische Reize. Die sensorischen Fasern sind myelinisierte A-δ-Fasern und unmyelinisierte C-Fasen. Die A-δ-Fasern reagieren auf Dehnung der Blasenwand und informieren über Blasenfüllung und Harndrang, während C-Fasern Schmerzreize übermitteln.

5.1.2.3 Zusammenfassung Während der Blasenfüllung bewirken supraspinale Zonen die Hemmung des pontinen Miktionszentrums mit Stimulation des sympathischen thorako-lumbalen Nervengeflechts und gleichzeitiger Hemmung des sakralen Parasympathikus. Diese supraspinalen Zentren bewirken über die Anregung des N. pudendus die Kontraktion des externen Sphinkters. Kontinenz wird dadurch erreicht, dass der Blasenentleerungsreflex willkürlich unterdrückt werden kann. Die Einleitung der Miktion ist ein aktiver Prozess und wird durch höhere neuronale Zentren gesteuert [19].

5.1.3 Neurogene Blase 5.1.3.1 Pathophysiologie Neurogene Störungen des unteren Harntraktes betreffen sowohl den Detrusor als auch den Sphinkter. Die betroffenen anatomischen Strukturen reagieren abhängig von der Lokalisation der Nervenläsion mit Überfunktion, Unterfunktion oder bleiben von der Nervenläsion ausgespart. Dementsprechend ergeben sich acht unterschiedliche Läsionsmuster, jedes mit der Notwendigkeit der separaten Behandlungsstrategie [20].

5.1 Neurogene Blasen-Sphinkter-Dysfunktion: Grundlagen und Diagnostik | 163

Aufgrund der urodynamischen Untersuchungsergebnisse ist eine Klassifikation der neuromuskulären Dysfunktionen des unteren Harntraktes möglich. Diese Klassifikation gibt Auskunft über den Funktionszustand des unteren Harntraktes, aber nicht über die neurologische Ursache [21]. Die überwiegende Mehrzahl der Kinder mit MMC hat eine gemischte neuromuskuläre Dysfunktion des unteren Harntraktes.

5.1.3.2 Klassifikation Es gibt mehrere Einteilungen für die neurogene Blase, jede Klassifikation mit Vorund Nachteilen. Die Klassifikation sollte die enge Verknüpfung von Detrusormotorik, Sphinkteraktivität und Blasensensorik berücksichtigen. Die Harnblase mit dem Detrusor als Hauptelement arbeitet zugleich als Reservoir und als Austreibungsmechanismus, die Harnröhre mit glattmuskulären und quergestreiften Anteilen als Sphinkter und als Conduit [6]. Detrusor- und Harnröhrenfunktion können durch urodynamische Untersuchungsmethoden erfasst werden, die Beurteilung der Blasensensorik erfolgt auf subjektiven Angaben. Eine derartige urodynamische Klassifikation ist als Basis für eine gezielte Therapie auf dem Boden einer exakten, individuellen Funktionsanalyse geeignet [6]. Eine weit verbreitete Klassifikation unterteilt nach der Höhe der Läsion [12]. Kongenitale neuromuskuläre Dysfunktionen des unteren Harntraktes sowohl bei Spina bifida mit ausgedehnten Myelomeningozelen als auch bei okkulten Blaseninnervationsstörungen lassen sich nur bedingt in eine derartige Klassifikation einordnen, weil die angeborenen Fehlbildungen des Nervensystems keine scharf begrenzten Läsionen sind und die Höhe der dysraphischen Störung nicht den Typ der neurogenen Detrusorund Sphinkterfunktionsstörung definiert [12, 22]. Darüber hinaus ist bei Neugeborenen der Maturationsprozess des Nervensystems bei kongenitalen Defekten nur schwer vorhersehbar. Mit zunehmendem Wachstum besteht eine natürliche Tendenz zur Verschlechterung der Blasenfunktion u. a. bedingt durch Erhöhung des Blasenauslasswiderstands durch Prostatawachstum bzw. Östrogenisierung der Harnröhre in der Pubertät [2]. Der Funktionszustand des Detrusors bzw. Sphinkters sollte so gut wie möglich getrennt voneinander beschrieben werden. Sowohl der Detrusor als auch der Sphinkter kann normal, überaktiv bzw. inaktiv sein. Dies ermöglicht theoretisch neun verschiedene Kombinationen [21]. Von praktischer Bedeutung sind vor allem die vier Formen, die im Folgenden genauer dargestellt werden.

Detrusoraktivität Die Detrusorfunktion kann normal, hyperaktiv oder hypoaktiv sein. Patienten mit normaler Detrusorfunktion können willkürliche Detrusorkontraktionen auslösen und unterbrechen. Die Detrusorkontraktion bewirkt eine restharnfreie Blasenentleerung.

164 | 5 Neurogene Blasen- und Darmentleerungsstörung

Der Begriff Detrusorhyperaktivität beschreibt das Auftreten anhaltender oder intermittierender Detrusorkontraktionen mit einem Druckanstieg > 15 cmH2 O, die der Patient nicht unterdrücken kann. Bei der Detrusorhypoaktivität sind keine oder nur sehr schwache willkürliche oder unwillkürliche Detrusorkontraktionen nachweisbar. Selbst bei nichtobstruktiver Urethra kommt es nicht zur kompletten Blasenentleerung.

Sphinkteraktivität Die Sphinkteraktivität kann normal, hyperaktiv oder insuffizient sein. Bei Sphinkterinsuffizienz kommt es zur Harninkontinenz, sobald der intravesikale Druck ansteigt (z. B. Husten) und der Harnröhrenverschlussdruck negativ wird. Es zeigt sich das klinische Bild der Belastungsinkontinenz.

Blasensensibilität Die Blasensensibilität kann nur durch Befragen nach subjektivem Empfinden eruiert werden. Die normale Blase des Kindes vermittelt unmittelbar vor Erreichen der maximalen Blasenkapazität einen starken Harndrang. Bei übersensibler Harnblase kommt es zu einem frühzeitig einsetzenden imperativen Harndranggefühl ohne Nachweis einer motorischen Aktion des Detrusors. Ein fehlendes Gefühl der Blasenfüllung und fehlender Harndrang sind Zeichen für eine Hyposensitivität.

5.1.3.3 Die vier wichtigsten Formen D+/U+ = Hyperaktivität des Detrusors (D) und des urethralen Sphinkters (U) (Muster I) Die Detrusorhyperaktivität ist durch unwillkürliche Detrusorkontraktionen in der Speicherphase gekennzeichnet und gefährdet durch die intravesikale Hochdrucksituation den oberen Harntrakt [23]. Sind Detrusor- und Sphinkteraktivität nicht koordiniert, spricht man von DetrusorSphinkter-Dyssynergie (Abb. 5.1). Eine vollständige Blasenentleerung wird trotz hohen Miktionsdrucks verhindert. Der Sphinktertonus ist erhöht und wirkt funktionell im Sinne einer subvesikalen Obstruktion. Manche Kinder weisen eine kleine Hochdruckblase mit kollagenverdicktem Detrusor auf. Die morphologischen Veränderungen des Detrusors sind sekundär und in erster Linie abhängig vom Tonus der quergestreiften Beckenbodenmuskulatur. Andere zeigen eine bezogen auf das Alter vergrößerte Blasenkapazität mit Überlaufinkontinenz. Beides begünstigt das Auftreten einer obstruktiven Ureteronephropathie und schließlich auch das Auftreten eines vesiko-renalen Refluxes. Bei progredienter Niereninsuffizienz droht ein terminales Nierenversagen. Ohne Behandlung ist die Prognose dieser Form der neurogenen Blasendysfunktion schlecht [24–27].

5.1 Neurogene Blasen-Sphinkter-Dysfunktion: Grundlagen und Diagnostik | 165

60

Pves cm H2O

40 20 0 60

Pabd cm H2O

40 20 0 60

Pdet cm H2O

40 20 0 15

EMG uV

10 5 0 21 ST

50 s

hu 00:00

hu

Af 01:40

03:20

BD Uv

Uv

05:00

Af 06:40

08:20

10:00

Abb. 5.1: Muster I: Zystometriekurve eines 4 Monate alten Patienten mit thorakalem Lähmungsniveau (vor Beginn einer anticholinergen Behandlung) LPP ca. 40 cmH2 O.

D−/U+ = Detrusor schwach, Beckenboden überaktiv (Muster II) Der Detrusor ist hypo- bis akontraktil, der Sphinkter hyperreflexiv-obstruktiv. Die funktionelle Blasenkapazität ist altersbezogen normal bis vergrößert (Abb. 5.2) [26]. Klinisch zeigt sich am Ende eine Überlaufinkontinenz. Der überhöhte Blasenauslasswiderstand stellt einen Risikofaktor für den oberen Harntrakt dar. Sofern diese Kinder nicht adäquat behandelt werden, können sich Harnwegsinfekte, Dilatation des oberen Harntraktes und ein vesiko-renaler Reflux entwickeln [28–30].

166 | 5 Neurogene Blasen- und Darmentleerungsstörung

100 80 60 Pves cm H2O 40 20

7

0

2

5

6

3

1

1

-1

2

5

16

12

9

6

5

40

Pabd 20 cm H2O 0

10

15

18

-3

-2

40

Pdet 20 cm H2O 0 40

EMG uV

20

7

2

0

300 300 200 200

200

100 100 21

Aufsetzen

0

ST BD hu hu 160 s

600 600 6

400 400

400

Vinfus ml

4 500 500

00:00

DV 05:20

huDV 10:40

AfDV hu Af 16:00

21:20

hu pr DV 26:40

hu DV

DV pr Uv hu Txt 32:00

Abb. 5.2: Muster II: Zystometriekurve eines 13-jährigen Patienten mit lumbalem Lähmungsniveau. LPP ca. 40 cmH2 O, Blasenkapazität 650 ml. Entleerung durch ISK, im Intervall trocken.

D+/U− = Hyperaktiver Detrusor mit schlaffem Sphinkter (Muster III) Diese Form der Blasenfunktionsstörung ähnelt Muster I, wobei der Detrusorumbau weniger rasch erfolgt, weil die subvesikale Obstruktion fehlt. Die Blase läuft unkontrolliert aus, Inkontinenz tritt bei der klinischen Symptomatik in den Vordergrund. Die Detrusorkontraktionen treten frühzeitig auf (Abb. 5.3) [20, 26].

5.1 Neurogene Blasen-Sphinkter-Dysfunktion: Grundlagen und Diagnostik | 167

60

Pves cm H2O

40 20 0 60

40 Pabd cm H2O 20 0 60

Pdet cm H2O

40 20 0 60

EMG uV

40 20 0 150 100

Vinfus ml

50

21

0

ST

60 s

pr

00:00

pr 02:00

pr 04:00

pr

pr BD 06:00

Uv 08:00

Uv Uv Uv Uv Uv Uv Uv 10:00 12:00

Abb. 5.3: Muster III: Zystometriekurve eines 7-jährigen Patienten mit sakralem Lähmungsniveau. LPP ca. 20 cmH2 O. Blasenentleerung durch IK, keine Trockenzeiten. Anticholinerge Therapie begonnen.

D−/U− = Schlaffe Parese von Detrusor und Sphinkter (Muster IV) Während der Blasenfüllung zeigt sich nur ein geringer intravesikaler Druckanstieg, dessen Steilheit von der Detrusorelastizität abhängt. Detrusorkontraktionen sind nicht nachweisbar (Abb. 5.4). Sobald der intravesikale Druck den Harnröhrenverschlussdruck übersteigt, kommt es zum spontanen Urinabgang. Bei der Blasenfüllung fehlt das Gefühl von Harndrang. Die Blasenkapazität ist hoch, sofern nicht ein

168 | 5 Neurogene Blasen- und Darmentleerungsstörung

80 60

Pves 40 cm H2O 20

17

13

12

16

14

15

80

80

80

-3

-1

2

0 60

Pabd cm H2O

40 20 0 60

40 Pdet cm H2O 20 0 60

EMG uV

40 20 0 600 400

300 300 200 200 100 100 21

ST BD hu 85 s

Druckgefühl

200 0

Aufsetzen

Vinfus ml

00:00

hu 02:50

DV

hu Txt Uv Uv hu DV 05:40

08:30

Txt hu Uv

hu Uv 11:20

DV 14:10

Txt

Txt Uv

17:00

Abb. 5.4: Muster IV: Zystometriekurve eines 13-jährigen Patienten mit lumbalem Lähmungsniveau. LPP 25 cmH2 O, Blasenkapazität bis 400 ml, abhängig von körperlicher Aktivität. Nach operativer Blasenhalsrekonstruktion (Pippi-Salle) trocken

kollagener Umbau des Detrusors stattgefunden hat. Das Elektromyogramm der Beckenbodenmuskulatur ist ruhig und entspricht einem akinetischen Sphinkter. Die Prognose dieser Form der Blasendysfunktion ist gut, wenngleich die Lebensqualität dieser Patientengruppe durch die Inkontinenz beeinträchtigt ist [26].

5.1 Neurogene Blasen-Sphinkter-Dysfunktion: Grundlagen und Diagnostik | 169

5.1.4 Diagnostik der neurogenen Blasenfunktionsstörung Die Methoden zur Diagnostik von Blasenfunktionsstörungen machten in den letzten 25 Jahren enorme Fortschritte. Hauptverantwortlich hierfür ist die Entwicklung digitaler Techniken. Mit geringer Strahlenbelastung ist die exakte radiologische Darstellung der Blasenmorphologie, des Blasenhalses und der Harnröhre möglich. Die synchron durchgeführte urodynamische Untersuchung ermöglicht eine exakte Klärung der aktuellen Blasenfunktionsstörung [14, 31]. Durch ein vorausschauendes Management von Kindern mit neurogener Blasenfunktionsstörung bei Spina bifida kann das Risiko für das Auftreten eines terminalen Nierenversagens signifikant reduziert werden [32]. Dies bedeutet eine große Verantwortung für jeden, der Kinder mit dieser Diagnose betreut. Eine Betreuung ab der Geburt ist essentiell, um die Frühzeichen der Harntraktdilatation, die zur Nierenschädigung führt, zu erkennen.

5.1.4.1 Körperliche Entwicklung mit Risikoeinschätzung des unteren Harntraktes Sinnvoll ist die Anpassung der urologischen Diagnostik an die einzelnen Abschnitte der körperlichen Entwicklung, weil jede dieser Lebensphasen eine andere Herausforderung für das Kind, aber auch die Eltern und den betreuenden Arzt darstellt [33]. Insbesondere während der Lebensabschnitte mit raschem körperlichen Wachstum (1.–3. Lebensjahr und Pubertätswachstumsschub) steigt das Risiko für das Auftreten eines Tethered-cord-Syndroms mit Änderung der Blasenfunktion. Bei fehlender Therapie beginnt die irreversible Nierenschädigung bei Kindern mit Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie kurz nach der Geburt [34, 35]. Bis zu 20 % dieser Kinder versterben, sofern sie während des 1. Lebensjahres nicht adäquat behandelt werden [33]. Bei ca. 35 % der Blasen kommt es in der Zeitspanne vom Neugeborenenalter bis zum Alter von 2 Jahren zur signifikanten Funktionsverschlechterung [36]. Anschließend stabilisiert sich die Blasenfunktion. Sofern es zu einem späteren Zeitpunkt zur Änderung der Blasenfunktion kommt, muss dies als Hinweis für eine Änderung im neurologischen Status gewertet werden und stellt eine absolute Indikation für eine neurologische Untersuchung dar [37]. Die häufigste Ursache hierfür ist ein Tethered-cord-Syndrom. Während der Pubertät kommt es durch Prostatawachstum bzw. Östrogenisierung der Harnröhre zur natürlichen Verbesserung der Kontinenz, allerdings um den Kaufpreis einer Erhöhung des Leak-point pressure mit zunehmendem Risiko für den oberen Harntrakt [38].

5.1.4.2 Besonderheiten bei okkulter dysraphischer Störung Die Diagnose wird nur in einem Teil der Fälle kurz nach Geburt gestellt. Hinweisend sind Hautveränderungen (wie Haarbüschel, Hämangiom, Hautanhängsel oder Li-

170 | 5 Neurogene Blasen- und Darmentleerungsstörung

pom), die immer Anlass zur bildgebenden Diagnostik sein müssen [39]. Bei fehlenden Hautveränderungen wird die Diagnose häufig deutlich später gestellt, weil neurologische Auffälligkeiten fehlen oder nur diskret sind. Mit zunehmendem Wachstum kann es durch Tethering des Rückenmarks zur Ausbildung von Symptomen des unteren Harntraktes in Form von persistierender Harn- und Stuhlinkontinenz und der unteren Extremitäten mit Ausbildung von Muskelschwäche bis Atrophie kommen [40–42]. In jedem Verdachtsfall ist eine Bildgebung (MRI) indiziert. Bei Bestätigung der Diagnose entspricht die urologische Abklärung der der offenen Myelomeningozele [33].

5.1.4.3 Urodynamik Laut Definition der ICCS (International Children’s Continence Society) ist jede Information und Untersuchung im Hinblick auf die Funktion des unteren Harntraktes Teil der Urodynamik. Informationen kommen von unterschiedlichen Quellen wie Anamnese, klinische Untersuchung, Trink-, Miktions- bzw. Katheterprotokoll, Urindiagnostik, Sonografie mit Restharnbestimmung und zuletzt invasive Zystomanometrie, bedarfsweise in Form einer Video-Urodynamik [43].

5.1.4.3.1 Anamnese Bei Erwachsenen bestimmt eine gründliche Anamnese mitunter die halbe Diagnostik, dies entfällt im Kindesalter zum Großteil, je jünger der Patient, desto mehr. Die Erhebung der urologischen Anamnese ist naturgemäß frühestens ab dem Kleinkindalter relevant und umfasst u. a. Fragen nach Harndranggefühl oder ein Völlegefühl im Unterbauch, das nach Blasenentleerung wieder verschwindet. Zusätzlich wird Art und Schwere der Inkontinenz mit Management, Modalität der Blasenentleerung und Frequenz, Symptomatik und Therapie von Harnwegsinfektionen erfragt. Die Stuhlanamnese fragt den gesamten Zyklus der Speicher- und Entleerungsphase ab (Gefühl für bevorstehende Stuhlentleerung, Art der Stuhlentleerung bis Stuhlinkontinenz) [1].

5.1.4.3.2 Klinische Untersuchung Der Funktionszustand des Beckenbodens wird zur Risikoeinschätzung der Entwicklung hoher Detrusordrücke beurteilt. Die Untersuchung des Anus (offen vs. geschlossen) gibt einen Eindruck über den Funktionszustand des Beckenbodens (gelähmt vs. überaktiv). Dieser Befund wird erstmals postnatal erhoben [11]. Bei älteren Kindern wird die Sensibilität der Dermatome S2–S5, der Bulbokavernosusreflex, der anokutane Reflex und die Fähigkeit der willkürlichen Sphinkterkontraktion geprüft.

5.1 Neurogene Blasen-Sphinkter-Dysfunktion: Grundlagen und Diagnostik | 171

5.1.4.3.3 Urindiagnostik Die Urindiagnostik dient dem Ausschluss von Harnwegsinfektionen bzw. Bakteriurien. Bei Säuglingen und Kleinkindern mit spontaner Blasenentleerung haben sich in der Routinediagnostik sterile Urinklebebeutel zur Uringewinnung durchgesetzt. Bei Patienten, die die Harnblase mittels Katheterismus entleeren, wird der Katheterurin untersucht [31]. Die Urindiagnostik umfasst Stix, Sediment und ggf. Urinkultur.

5.1.4.3.4 Trink-Miktions-Katheterprotokoll Entscheidende Informationen werden dem Blasentagebuch entnommen, das über 3 Tage geschrieben wird. Der Patient bzw. die betreuende Person protokolliert Trinkmenge, Miktionszeit mit jeweils entleerter Urinmenge und den Zustand der Einlagen (trocken vs. nass) zum Zeitpunkt der Urinentleerung.

5.1.4.3.5 Sonografie Mittels Nierensonografie wird eine Harntraktdilatation ausgeschlossen und die altersentsprechende Größenentwicklung der Nieren nachgewiesen [11]. Wichtig ist die Bestimmung des Restharns und die Beurteilung der Blasenwanddicke. Das Ergebnis kann eine Indikation für die urodynamische Untersuchung aufzeigen, weil mittels Sonografie keine Information über die Höhe der intravesikalen Drücke zu erhalten ist [32, 34, 43].

5.1.4.3.6 Video-Urodynamik Die Zystomanometrie in Kombination mit einem Miktionszysturethrogramm ist und bleibt das Basisdiagnostikum zur Abklärung der komplexen Funktionsstörung des unteren Harntraktes und ist integraler Bestandteil der Erst- und Folgeuntersuchungen bei Kindern mit Myelomeningozele [44]. Diese Methode ermöglicht die gemeinsame Erhebung der funktionellen Blasenparameter zusammen mit der Morphologie. Nur durch Kombination des radiologischen Nachweises von Reflux, Divertikel etc. mit der urodynamischen Messung ist eine exakte Einschätzung der jeweiligen Druckverhältnisse in der Harnblase möglich. Ein Harnwegsinfekt wird unmittelbar vor der Untersuchung durch Urinstix und Sedimentuntersuchung ausgeschlossen. Vor jeder urodynamischen Untersuchung sollte das Blasentagebuch geschrieben sein. Dies erleichtert die Aufdeckung untersuchungsbedingter Artefakte, die nicht der Realität entsprechen [1]. Allein die Urodynamik bildet die gesamte Phase der Harnspeicherung und Harnentleerung mit dem jeweiligen Verhalten von Detrusor und Sphinkter ab. Der Schwerpunkt der urodynamischen Abklärung hat sich in Richtung Speicherphase verscho-

172 | 5 Neurogene Blasen- und Darmentleerungsstörung

ben, weil dieser im Hinblick auf die Gefährdung des oberen Harntraktes vorrangige Bedeutung zukommt. Mit zunehmender Höhe der sensiblen Schädigung verstärkt sich die Reflexaktivität des Detrusors. Bereits geringe Reize können das Untersuchungsergebnis artifiziell verändern [1]. Sofern die Blasenentleerung mittels Katheterismus erfolgt, hat die Entleerungsphase naturgemäß keine Bedeutung [43]. Die Durchführung der urodynamischen Untersuchung erfolgt nach standardisierten Regeln. Die Blase wird kontrolliert mit einer Rate pro Minute von 5 bis maximal 10 % der aus dem Blasentagebuch bekannten funktionellen Blasenkapazität mit körperwarmem Füllmedium gefüllt. Schnellere Füllung und reduzierte Temperatur provozieren den Detrusor mit entsprechendem Einfluss auf den Befund [38]. Während der Füllungsphase werden intravesikale Druckänderungen bei steigendem Blasenvolumen, maximale zystometrische Blasenkapazität und Compliance bestimmt, die Entleerungsphase bildet Miktionsdruck bzw. Detrusor-Leak-point pressure ab [45]. McGuire hat sich speziell mit der Bedeutung des Detrusor-Leak-point pressures befasst; das ist jener intravesikale Druck, bei dem es zum Urinabgang kommt. Bei Drücken unter 40 cmH2 O kommt es nur in Ausnahmefällen zu einer Nierenschädigung [25, 46]. Madersbacher ist allerdings der Meinung, dass die alleinige Orientierung am Detrusor-Leak-point pressure von untergeordneter Bedeutung ist. Es können sogar gefährliche Situationen verschleiert werden. Nach Madersbacher gibt das Reflexievolumen (Blasenfüllungsvolumen bis zum Auftreten der ersten unwillkürlichen Detrusorkontraktion) und die bis zu diesem Zeitpunkt auftretende Compliance gute Hinweise über die Gefährdung des oberen Harntraktes [1]. Die gleichzeitige radiologische Darstellung des Harntraktes ist bei diesen Patienten essentiell. Nur so können Druckverluste durch Reflux, Formveränderungen der Blase mit massiver Pseudodivertikelbildung und die Konfiguration des Blasenhalses bei Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie eingeschätzt werden (Abb. 5.5). Ein Reflux in die männliche Adnexe ist immer pathologisch und Zeichen eines erhöhten Druckes in der hinteren Harnröhre während der Miktion. Hier ist in jedem Fall eine Behandlungsindikation gegeben. Zur Einschätzung des Zusammenspiels von Detrusor und Sphinkter ist die Ableitung der Muskelpotentiale des Sphincter ani externus erforderlich. Dies erfolgt über Klebeelektroden synchron zur Zystomanometrie [47, 48]. Das Urethradruckprofil und die Uroflowmetrie spielen jeweils als isoliertes Verfahren bei der Abklärung der neurogenen Blase nur eine untergeordnete Rolle. Normwerte für das Urethradruckprofil gibt es für das Kindesalter nicht [31].

▸ Abb. 5.5: (a) Video-Urodynamik bei hypertensiver Blase mit Ausbildung von zahlreichen Pseudodivertikeln (Muster I: D+/U+). (b) 13-jähriger Patient mit kaudalem Regressionssyndrom, nicht erkannte neurogene Blasenfunktionsstörung. LPP 55 cmH2 O.

5.1 Neurogene Blasen-Sphinkter-Dysfunktion: Grundlagen und Diagnostik | 173

81

90

Pves 60 cm H2O

59

61

8

8

50

53

10

10

30

10 0 90

Pabd cm H2O

60

36 30

2

0 90 60 Pdet cm H2O

45

30

8 0 30000 20000

EMG uV 10000 10

0

20

600

400 400

400

100 100

0

ST

90 s

(a)

(b)

pr BD DV hu pr 00:00 03:00

singt

21

lacht sagt pin pong

200

räkelt sich

Vinfus ml

300 300

200 200

Af hu Txt Txt Txt hu Txt DV 06:00 09:00 12:00

DV 15:00

Uv hu 18:00

Uv DV

174 | 5 Neurogene Blasen- und Darmentleerungsstörung

5.1.5 Untersuchungszeitpunkte Die urologische Diagnostik muss die hohe Rate an Änderungen des neurogenen Reaktionsmusters am unteren Harntrakt erfassen. Hierzu werden die Untersuchungen je nach Lebensalter und Verlauf in unterschiedlich großen Abständen wiederholt. Tab. 5.1 zeigt eine Zusammenstellung, welche Untersuchungen im Regelfall in Abhängigkeit vom Lebensalter zu empfehlen sind. Bei anamnestischen Änderungen des Detrusor- oder Sphinkterverhaltens sind kurzfristigere Untersuchungsabstände erforderlich, ebenso zur Erfolgskontrolle nach Änderungen z. B. der medikamentösen Therapie. Zusätzliche Kontrollen sind auch erforderlich nach Kontinenzchirurgie und/oder Blasenaugmentation (hier ist der Nachweis niedriger intravesikaler Drücke zum Schutz des oberen Harntraktes obligat) sowie nach neurochirurgischem Eingriff wegen Tethered cord [11, 32, 49]. Tab. 5.1: Empfohlene Untersuchungen und Zeitpunkte [31, 33]. Neugeb. Anamnese

6.–12. Woche

6 Monate

9 Monate

12 Mo- 2.–3. nate Lj.

4.–10. Lj.

11.–18. > 18 J Lj.

X

X

X

X

X1)

X2)

X2)

X2)

X2)

X2)

X2)

Urindiagnostik

X

X

X

X

X

X1)

Sonografie (Nieren, Blase, Restharn)

X

X

X

X

X

X1)

X2)

X2)

X2)

X

X3)

X3)

X3)

X3)

X

X4)

X5)

X5)

X5)

X

X2)

X2)

X2)

X2)

Labor (Kreatinin, Cystatin C)

X

Zystomanometrie/VideoUrodynamik

X

Miktionszysturethrografie RR-Messung

X

X6)

1) 6-monatiges Intervall; jährliches Intervall; 2) 2-Jahres-Intervall als Routine; 3) indikationsabhängig auch häufiger; jährliches Intervall, früher bei renaler oder neurologischer Veränderung; 4) 3-Jahres-Intervall; 5) früher bei auffälligem klinischen Verlauf, renaler oder neurologischer Veränderung; 6) Durchführung bei sonografischer Nierengrößendifferenz, Ektasie des Nierenhohlsystems, Blasenwandverdickung, Pyelonephritis.

5.1.5.1 Primärdiagnostik Der Zeitpunkt der Erstuntersuchung ist von mehreren Faktoren abhängig. Bei Neugeborenen mit offener MMC bestimmt der klinische Zustand und die Notwendigkeit des operativen Zelenverschlusses den Zeitpunkt der ersten urologischen

5.1 Neurogene Blasen-Sphinkter-Dysfunktion: Grundlagen und Diagnostik | 175

Untersuchung [33]. Postoperativ erfolgt eine klinische Untersuchung mit Beurteilung des Kontraktionszustands des Anus. Nahezu alle Patienten mit neurogener Blasendysfunktion zeigen postnatal sonografisch eine normale Nierenmorphologie [43]. Mittels Restharnsonografie nach Urinabgang unabhängig ob im Strahl oder tropfenweise wird die Fähigkeit der Harnblase zur Entleerung abgeschätzt. Eine Urinuntersuchung ist obligat. Prinzipiell sollte bei allen Neugeborenen der aseptische Katheterismus und ggf. die anticholinerge Therapie mit Oxybutynin unmittelbar nach Verschluss des Rückens eingeleitet werden. Unter diesem Therapieregime können beim Großteil der Patienten die intravesikalen Drücke niedrig gehalten werden [11]. Laut der Untersuchung von Kochakarn et al. zeigen derart behandelte Patienten zum Zeitpunkt der Pubertät eine deutlich stabilere Blasenfunktion verglichen mit Patienten, bei denen der Katheterismus erst im Alter von 4 Jahren eingeleitet wurde [50].

5.1.5.2 Verlaufskontrollen 5.1.5.2.1 Neugeborenenzeit bis Kleinkindalter Über den Zeitpunkt der Durchführung der ersten urodynamischen Untersuchung, d. h. unmittelbar nach Verschluss der Zele bzw. im Alter von 2–3 Monaten, wird nach wie vor diskutiert [1]. Der Funktionszustand des Beckenbodens nach Verschluss des Rückens kann sich von Paralyse zu Überaktivität innerhalb von 2 Monaten verändern. Dies ist ein Argument für die Durchführung der ersten Zystomanometrie nach Ende des 2. Lebensmonats [11]. Nach Erhalt des ersten Ergebnisses der Video-Urodynamik wird die Entscheidung über die Fortführung des aseptischen Katheterismus bzw. der Spontanmiktion gefällt. Bei Nachweis einer Detrusorhyperaktivität wird zusätzlich zum Katheterismus eine anticholinerge Medikation eingeleitet. Empfehlenswert ist die Kontrolle der Zystomanometrie nach 2–3 Monaten, um das Sistieren der hyperaktiven Blasensituation nachzuweisen [33]. Zu diesem Zeitpunkt wird die Nierensonografie wiederholt, vor allem bei bekanntem Reflux oder Harntraktdilatation. Das Miktionszystourethrogramm wird bei Auftreten einer Pyelonephritis bzw. Veränderungen des oberen Harntraktes kontrolliert [33]. Die Sonografie wird im weiteren Verlauf im 3-Monats-Abstand während des 1. Lebensjahres und anschließend im 6-Monats-Abstand bis zur Einschulung durchgeführt [31, 33]. Die Urodynamik wird im Jahresabstand oder bei Problemen (Veränderungen des oberen Harntraktes bzw. Änderung des neurologischen Befunds im Bereich der Extremitäten) bedarfsweise in kürzeren Abständen kontrolliert [33]. Der Grund für die engmaschigen Kontrollen während dieses Lebensabschnitts liegt im raschen Körperwachstum mit dem Risiko des Auftretens eines spinalen Tetherings [51, 52]. Zur Abklärung wird im Zweifelsfall ein MRI durchgeführt [53].

176 | 5 Neurogene Blasen- und Darmentleerungsstörung

5.1.5.2.2 4. bis 10. Lebensjahr In diesem Lebensabschnitt verläuft das Körperwachstum weniger rasant, das Risiko für das Auftreten eines Tetherings ist geringer [54]. Die sonografische Untersuchung wird in Halbjahres- bis Jahresabständen empfohlen [31, 33]. Der Nachweis von Hydronephrose, Blasenwandverdickung, Veränderung der Restharnbildung, des Gangbildes oder der neurologischen Befunde der unteren Extremitäten stellt eine Indikation für die Kontrolle der Zystomanometrie dar [33]. Bei Auftreten von Pyelonephritiden wird eine Video-Urodynamik empfohlen.

5.1.5.2.3 11. bis 18. Lebensjahr In diesen Lebensabschnitt fällt der Pubertätswachstumsschub mit neuerlicher Gefahr eines Tetherings. Die Diagnostik wird intensiviert. Einmal pro Jahr erfolgt die sonografische Untersuchung. Die Notwendigkeit der Frequenzsteigerung des Katheterismus zum Erhalt der Kontinenz, neu auftretendes Einnässen oder wiederholte Harnwegsinfekte (HWI) sind Hinweise für Änderungen des Funktionszustands des unteren Harntraktes. Eine Kontrolle der Zystomanometrie bzw. Video-Urodynamik (bei durchgemachter Pyelonephritis) ist obligat. Unter dem Hormoneinfluss während der Pubertät ändert sich der Funktionszustand des unteren Harntraktes. Durch die Östrogenisierung kommt es zu einer Erhöhung des Blasenauslasswiderstands beim Mädchen, beim Knaben wächst die Prostata mit demselben Effekt auf den Blasenausgang. 45 % der Patienten mit Inkontinenz werden während der Pubertät kontinent, ein geschädigter oberer Harntrakt bildet sich nicht zurück [33].

5.1.5.2.4 Erwachsenenalter Nach Abschluss des Körperwachstums ist das Risiko für das Auftreten eines Tethered cords eher gering. Jährliche urologische Kontrollen, bei denen man sich durch Anamnese, Sonografie und Urinbefund davon überzeugt, dass keine therapiebedürftigen Veränderungen aufgetreten sind, sind jedoch weiterhin zu empfehlen. Sofern die Blasenfunktion klinisch stabil ist, ist eine Kontrolle der urodynamischen Messung in 3-Jahres-Abständen ausreichend [33].

5.1.6 Zusammenfassung Die Diagnostik mit dem Schwerpunkt der video-urodynamischen Untersuchung und die therapeutische Begleitung der Patienten mit neurogener Blasenfunktionsstörung setzen große Erfahrung des Untersuchers und Vertrautheit mit den physiologischen Gegebenheiten voraus. Unabdingbar ist die Verbindung der Zystomanometrie mit bildgebender Diagnostik, im Idealfall als simultane Video-Urodynamik, alternativ als urodynamische Messung mit anschließendem Miktionszysturethrogramm.

Literatur

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Dennoch kommt dem Blasentagebuch eine wichtige Bedeutung zu: Bei Diskrepanzen zwischen den im Alltag ermittelten Werten und den Messwerten der Urodynamik wird man sich eher den Angaben des Patienten unter häuslichen Bedingungen anschließen, um der tatsächlichen Situation des Patienten gerecht zu werden und die Gefahr einer Übertherapie zu vermeiden [1].

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5.2 Sonografie der Nieren und ableitenden Harnwege |

179

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Jörg Jüngert

5.2 Sonografie der Nieren und ableitenden Harnwege 5.2.1 Einleitung Die Sonografie der Nieren und ableitenden Harnwege hat einen zentralen Stellenwert in der Betreuung von Patienten mit spinalen Fehlbildungen. Die Diagnose einer Spina bifida ist typischerweise mit einer Blasenentleerungsstörung und entsprechenden Konsequenzen für den oberen Harntrakt assoziiert. Bei einigen Formen (z. B. dem kaudalen Regressionssyndrom) finden sich auch vermehrt renale Fehlbil-

180 | 5 Neurogene Blasen- und Darmentleerungsstörung

dungen. Daher ist die Sonografie der Nieren und ableitenden Harnwege bei jeder Form einer spinalen Fehlbildung zum Screening, zur Diagnosestellung und zur Verlaufskontrolle unabdingbar. Als strahlenfreie Technik ist die Sonografie hervorragend geeignet, im B-Bild Aufschluss über die Anatomie und Pathologie der Nieren und ableitenden Harnwege zu geben. Zusätzlich kann die Dopplersonografie die Durchblutung der Nieren erfassen. Der Einsatz weiterführender bildgebender Diagnostik kann gezielt gesteuert werden. Bei sonografisch guten Voraussetzungen kann die kontrastmittelverstärkte Sonografie das Erkennen eines vesiko-uretero-renalen Refluxes mit hoher Sensitivität und Spezifität im Rahmen der Verlaufsbeobachtung ohne Strahlenbelastung ermöglichen. Dies kann dazu beitragen, die aufgrund zahlreicher notwendiger Röntgenuntersuchungen oft beträchtliche kumulative Strahlenexposition zu reduzieren. Die Untersuchung muss stets beide Nieren, Ureteren und die Harnblase umfassen, um strukturelle pathologische Veränderungen zu erkennen und die altersentsprechende Größenentwicklung der Nieren zu bewerten. Eine Meningomyelozele als klinisch bedeutsamste Form einer Spina bifida ist typischerweise mit einer Chiari-II-Malformation des zentralen Nervensystems assoziiert. Diese geht regelhaft mit einem drainagepflichtigen Hydrocephalus einher. Durch die Sonografie der Harnblase lässt sich zugleich freie Flüssigkeit erfassen, die zumeist Ausdruck einer erhaltenen Liquorableitung durch einen ventrikulo-peritonealen Shunt ist.

5.2.2 Zeitplan Da der Typ der neurogenen Blasenstörung während der gesamten Entwicklung variabel ist und Änderungen besonders häufig in den ersten Lebensjahren auftreten, sollte der Zeitplan für sonografische Untersuchungen dies durch engmaschigere Untersuchungen vor allem in den ersten 2 Lebensjahren berücksichtigen. Basierend auf der aktuellen AWMF-Leitlinie [1] sind folgende Kontrollen zu empfehlen: Tab. 5.2: Zeitpunkt sonografischer Kontrolluntersuchungen. Alter

Neugeborenes

4–12 Wochen

1. und 2. Lj.

3.–6. Lj.

Ab 7. Lj.

Sonografie (Nieren, Blase, Restharn)

x

x

Alle 3 Monate

Alle 6 Monate

Alle 6–12 Monate

Zusätzliche Untersuchungen sind stets bei akuten unklaren Bauchschmerzen, akuten Erkrankungen der Nieren und ableitenden Harnwege und Verschlechterung neurologischer Befunde (z. B. Zunahme einer muskulären Hypertonie) durchzuführen.

5.2 Sonografie der Nieren und ableitenden Harnwege |

181

5.2.3 Methodik Die aktuelle Dokumentationsempfehlung der Deutschen Gesellschaft für Ultraschall in der Medizin (DEGUM) fordert als apparative Mindestvoraussetzung einen CurvedArray- (evtl. Sektor/Vektorschallkopf) und Linearschallkopf. Die Mindestfrequenz bei Neugeborenen beträgt 7 MHz, bei Kleinkindern 5 MHz und bei Jugendlichen 3 MHz. Der erweiterte Ultraschall schließt die Möglichkeiten zur Farbdopplersonografie und Pulsed-wave(PW)-Dopplersonografie mit ein. Zur kontrastmittelgestützten Miktionsurosonografie stehen zusätzlich weitere spezielle Programme zur Verfügung. Als Vorlaufstrecke wird normalerweise Gel, bei Säuglingen selten ein Gelkissen eingesetzt. Wird Gel zu sehr erwärmt, kann es durch Abnahme der Viskosität sehr dünnflüssig werden. Die Untersuchung der ausreichend gefüllten Harnblase nach guter oraler Hydratation steht immer am Anfang der Untersuchung. Die Untersuchung erfolgt in Rückenlage mit Darstellung der Harnblase von vorn in Quer- und Längsschnitten. Die Nieren werden ebenfalls in zwei Ebenen in Längs- und Querschnitt von ventral oder im Flankenschnitt (evtl. in Inspiration, Kinder sollen einen „dicken Bauch“ machen) oder dorsal in Bauchlage dargestellt, durchgemustert und vermessen. Gerade bei skoliosebedingter Dystopie, Adipositas und Obstipation kann die Beurteilbarkeit der Nieren eingeschränkt sein [2, 3]. Entsprechend kann man in diesen Fällen häufig die Standardebenen zur Nierendarstellung nicht anwenden. In diesen Fällen ist oft die Untersuchung in Seitenlage mit Lagerung der Hand hinter dem Kopf, im Sitzen oder Stehen hilfreich. Es empfiehlt sich, gerade bei schwierig lokalisierbaren Nieren für Folgeuntersuchungen die Lage explizit im Befund zu beschreiben. Insgesamt scheint die Qualität der Nierensonogramme bei Patienten mit lumbaler MMC qualitativ im Vergleich zu Gesunden eingeschränkt. Hierfür ursächlich scheint die echoreiche Bauchdecken- und Rumpfmuskulatur mit Reduktion der Signaldynamik [4].

5.2.4 Befunde 5.2.4.1 Harnblase Der Befund erfasst – Lage: orthotop; dystop; verdrängt, z. B. durch stuhlgefüllte dilatierte Darmschlingen bei Obstipation oder durch Raumforderungen wie Liquorzysten. – Füllungszustand: Volumen (ml) (Abb. 5.6). Die Ellipsoidformel Höhe × Breite × Tiefe × 0,52 führt häufig zu Fehlbestimmungen. Geeigneter erscheint die Kuboidformel Höhe × Breite × Tiefe bei geringen Volumina, bei Volumen über 60 ml unter Berücksichtigung eines Korrekturfaktors von 0,8 [5]. – Blasenwand: Durchmesser (normal 3–5 mm, abhängig von Füllung, Schnittebene und Alter), mitunter Aufbau der Blasenwand (Muscularis und Mucosa), Kontur

182 | 5 Neurogene Blasen- und Darmentleerungsstörung

Abb. 5.6: Patient mit lumbaler MMC, 1 Jahr. Trabekulierte Harnblase. Volumetrie.

– – – –

(glatt oder unregelmäßig begrenzt, trabekuliert, Divertikel oder Pseudodivertikel). Blaseninhalt (echofrei, Binnenechos, Luft, Stein). Uretermündungen (Distanz, geöffnete Ostien und Megaureteren). Entleerungsvermögen (spontan; Restharn, auch nach Kathetern). Nachbarorgane (weibliches Genitale, Rektum) (Abb. 5.7 und 5.8), Douglasraum, freie Flüssigkeit).

Ein Hinweis zur Blasenwand: Kinder mit MMC, die standardisiert und konsequent behandelt werden, bilden oft keine relevante Detrusorverdickung aus, die sonografisch gefasst werden kann. Die Detrusordicke bei optimal behandelten Kindern korreliert nicht mit dem Ausmaß einer Blasendysfunktion, der renalen Funktion oder der anticholinergen Therapie [6].

5.2 Sonografie der Nieren und ableitenden Harnwege |

183

Abb. 5.7: Suprapubischer Transversalschnitt. Patient 1 Jahr. Unregelmäßig begrenzte Harnblasenwand (1), beidseits leicht erweiterte Ureteren (2, 3), stuhlgefülltes weites Rektum (4).

Abb. 5.8: Erwachsene Patientin, 23 Jahre: Kathetern nicht mehr möglich. Suprapubischer Längsschnitt: Imprimierung der Harnblase von dorsal und Abknickung der Urethra durch 7,5 cm großes Uterusmyom.

184 | 5 Neurogene Blasen- und Darmentleerungsstörung

5.2.4.2 Harnleiter und vesiko-ureteraler Reflux Normalerweise sind die Ureteren nicht erweitert. Für ihre Beurteilung ist die Berücksichtigung der Blasenfüllung ein ganz wesentliches Merkmal. Idealerweise sollte die Beurteilung bei unterschiedlichen Blasenfüllungen erfolgen. Distal lassen sich die Ureteren zumeist retro- oder paravesikal beurteilen, proximal im Bereich des Nierenhilus. Eine primäre oder sekundäre Dilatation ist regelhaft Ausdruck einer Harntransportstörung. Differentialdiagnostisch gilt es, eine Obstruktion im Bereich der Harnblasenmündung oder durch Steine, Strikturen, Raumforderungen, oder einen vesiko-ureteralen Reflux auszuschließen. Peristaltik und Wanddicke sind für die Beurteilung des Ureters wesentliche Merkmale. Die Miktionsurosonografie hat sich als Verlaufsdiagnostik etabliert. Sie setzt primär die Darstellbarkeit der Nieren, Harnleiter und Harnblase voraus. Als dynamische Untersuchung bietet sie die Möglichkeit, kontinuierlich nach Blasenfüllung über einen Katheter durch Übertritt von Gasbläschen in den Harnleiter sowie u. U. bis zum Nierenbeckenkelchsystem einen Reflux zu detektieren. Moderne Programme stellen dabei das reguläre B-Bild neben ein kontrastmittelspezifisch kodiertes Bild, das bereits einzelne in Schwingung gebrachte Bläschen als helle Punkte aufleuchten lässt [7]. Somit sind bereits geringste Refluxpathologien zu erkennen.

5.2.4.3 Nieren Die Prognose von Kindern mit MMC hängt neben den neurologischen Komplikationen wesentlich vom Erhalt der Nierenfunktion ab. Entsprechend hat im Rahmen der Diagnostik die Sonografie einen zentralen Stellenwert. Sie ermöglicht die Beurteilung des Parenchyms, der altersgerechten Nierengröße, von Kelch- oder Pyelektasien (Abb. 5.9), von Steinen, Tumoren, Narben, Gefäßen und fokalen Läsionen. Die Untersuchung kann von ventral oder lateral in Rückenlage durchgeführt werden. Die Darstellung der rechten Niere von lateral ist in der Regel bei orthotoper Nierenlage problemlos, sofern ein geeignetes Leberschallfenster besteht. Bei Zwerchfellhochstand oder Dystopie der Niere sowie Überlagerung durch Luft und Stuhl kann die Darstellbarkeit eingeschränkt sein. Die Darstellbarkeit der linken Niere von lateral hängt von der Milzgröße und Magenfüllung ab. Der kaudale Anteil ist häufig durch den Darm überlagert. Die Nierengröße lässt sich jedoch häufig nur in Bauchlage sicher beurteilen. Entscheidend ist das Erkennen insbesondere von Harntransportstörungen, die mit Verschmälerung des Parenchyms und Kelchdilatation einhergehen. Ebenso wichtig sind Veränderungen, die durch rezidivierende Pyelonephritiden zu Parenchymverlust, Narben und Schrumpfnieren führen können. Kommt es zu einer fortschreitenden renalen Pathologie, kann die Dopplersonografie wichtige ergänzende Informationen zur Vaskularisation der Nieren und der Nierenarterien und -venen geben.

5.2 Sonografie der Nieren und ableitenden Harnwege |

185

Abb. 5.9: Sonografie der Niere. Patient mit lumbaler MMC, 1 Jahr. Flankenschnitt rechts: Erweiterte Nierenkelche, inhomogene Textur, kaum abgrenzbare kortiko-medulläre Differenzierung, teils gesteigerte Echogenität.

5.2.5 Zusammenfassung Die Sonografie der Nieren und ableitenden Harnwege ist fester Bestandteil der Langzeitbetreuung von Patienten mit MMC. Zusammengefasst sollten stets folgende Befunde erhoben werden: 1. Nierenlage, 2. Nierenvolumen (u. a. zur Erfassung einer kompensatorischen Hypertrophie der kontralateralen Niere); Annäherungsrechnung: Länge × Breite × Tiefe × 0,8; Berechnung der gewichtsbezogenen Perzentile, 3. Textur (homogen – inhomogen), 4. Parenchymechogenität (normal, gesteigert) und Verschmälerung, Narbenbildung, fokale Läsionen, 5. kortiko-medulläre Differenzierung, 6. Nierenbeckenweite in mm im Hilusquerschnitt, 7. Klassifikation der Nierenbeckendilatation, Kelchkonfiguration, 8. prävesikale Harnleitererweiterung, assoziierte Harnweganomalien, Ureterperistaltik, 9. Blasenfüllung (entleert, mäßig gefüllt, stark gefüllt), Blasenwandkonfiguration und -dicke, Divertikel/Pseudodivertikel, 10. retrovesikal freie Flüssigkeit bei ventrikulo-peritonealem Shunt.

186 | 5 Neurogene Blasen- und Darmentleerungsstörung

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Johannes Urban

5.3 Überwachung der Nierenfunktion 5.3.1 Einleitung Eine neurogene Blasenentleerungsstörung kann unbehandelt bereits im Kindesalter zur schweren und irreversiblen Nierenfunktionseinschränkung führen [1]. In historischen Kollektiven wurde eine terminale Niereninsuffizienz in 30 % der Patienten beobachtet [2]). Renale Komplikationen wie Urosepsis und Niereninsuffizienz gehören weiterhin zu den häufigsten Ursachen einer erhöhten Mortalität bei erwachsenen Patienten mit Meningomyelozele [3–5]. In den letzten Jahrzehnten wurden diagnostische und therapeutische Strategien entwickelt, um eine Schädigung des oberen Harntraktes mit konsekutivem Nierenfunktionsverlust zu verhindern [6–9]. Die meisten Patienten mit Spina bifida zeigen bei Geburt einen normalen oberen Harntrakt.

5.3 Überwachung der Nierenfunktion | 187

Ohne adäquate Therapie kommt es bei über der Hälfte der Patienten bereits in den ersten 3 Lebensjahren zu einer infektions- oder druckbedingten Schädigung der oberen Harnwege [10]. Eine frühzeitige urodynamische Untersuchung der Harnblase bereits in den ersten Lebensmonaten ermöglicht die Einschätzung des individuellen Risikos für einen Nierenfunktionsverlust im Verlauf. So wird eine individualisierte präsymptomatische Therapie von Hochrisikopatienten ermöglicht [11–14]. Ist eine lebenslange nephrourologische Überwachung und individualisierte Therapie gewährleistet, kann beim überwiegenden Anteil der Patienten eine normale Nierenfunktion erhalten werden [15, 16].

5.3.2 Risikofaktoren für einen Nierenfunktionsverlust Eine Nierenparenchymschädigung bei Patienten mit neurogener Blasenentleerungsstörung kann druck- und/oder infektionsbedingt entstehen. Intravesikale Drücke über 40 cmH2 O in der Füllungsphase führen zu einer Abnahme der glomerulären Filtrationsrate und zu einer Behinderung der Urindrainage aus Nierenbecken und Harnleiter in die Blase [17–19]. In einer Multivarianzanalyse der Risikofaktoren für einen irreversiblen Nierenschaden zeigte sich als Hauptrisikofaktor das weibliche Geschlecht in Kombination mit einem hochgradigen Reflux [20]. Mädchen hatten bei gleichem Refluxgrad ein 5-fach erhöhtes Risiko im Vergleich zu Jungen. Zu ähnlichen Ergebnissen kommt Kurzrock in einer retrospektiven Analyse von 272 Kindern mit Spina bifida [13]. Er konnte jedoch als weiteren signifikanten Risikofaktor für einen Nierenfunktionsverlust die „späte“ Etablierung eines aseptischen Einmalkatheterismus nach dem 1. Lebensjahr identifizieren. In einer von Shiroyanagi [21] durchgeführten Studie zeigten Kinder mit hochgradigem vesiko-ureteralem Reflux und einer positiven Anamnese für febrile Harnwegsinfekte das höchste Risiko für Nierenparenchymnarben in der DMSA-Szintigrafie.

5.3.3 Risikoevaluation 5.3.3.1 Urodynamische Parameter In der urodynamischen Evaluation können Risikoblasen frühzeitig identifiziert und therapiert werden. Verschiedene urodynamische Messgrößen wurden mit einem erhöhten Risiko für einen Nierenfunktionsverlust assoziiert: 1. Leak-point pressure (LPP): Es ist allgemein akzeptiert, dass Patienten mit einem hohen Auslasswiderstand (Leak-point pressure) > 40 cmH2 O untherapiert ein erhöhtes Risiko für eine druckbedingte Schädigung des oberen Harntraktes haben [17, 22]. Bei diesen Patienten kann es zur Ausbildung eines sekundären vesiko-ureteralen Refluxes oder zu einer sekundären funktionellen Obstruktion des uretero-vesikalen Übergangs mit Ausbildung einer Hydronephrose kommen.

188 | 5 Neurogene Blasen- und Darmentleerungsstörung

2.

Sphinkter-Detrusor-Dyssynergie (DSD): Bei Patienten mit einer DSD kommt es zu abnorm hohen intravesikalen Drücken bei Miktion. Unbehandelt besteht ein hohes Risiko für eine mittelfristige druckbedingte Schädigung der Blase und des oberen Harntraktes [6, 23, 24]. 3. Blasencompliance: Bei Patienten mit einer eingeschränkten Dehnbarkeit des Blasenhohlmuskels erfolgt die Urinspeicherung auf hohem Druckniveau. Bei einer Compliance < 40 % der Altersnorm steigt das Risiko eines Nierenfunktionsverlustes [17, 22]. 4. Detrusorhyperaktivität: Häufige ungehemmte Detrusorkontraktionen > 40 cmH2 O führen zu einer Blasenwandhypertrophie mit sekundär gestörter Compliance und erhöhen das Risiko für einen sekundären Reflux oder eine sekundäre Harnabflussstörung. Das Risiko für eine Nierenparenchymschädigung nimmt damit zu [22, 23]. 5. Hostility-Score: Ein ursprünglich von Galloway [25] publizierter Hostility-Score wurde von Stein [26] modifiziert. Er erlaubt eine praxisnahe Ermittlung des individuellen Risikos für eine Nierenfunktionsverschlechterung durch Punktebewertung verschiedener anerkannter Risikofaktoren. Bei steigender Gesamtpunktzahl steigt das Risiko für eine Einschränkung der Nierenfunktion (Tab. 5.3).

Tab. 5.3: Modifizierter Hostility-Score zur Beurteilung des Risikos für eine Einschränkung der Nierenfunktion [26]. 0

1

2

Reflux

0

I., II.°

≥ III.°

Maximale funktionelle Blasenkapazität (ml) als % der Altersnorm

> 80 %

50–80 %

< 50 %

Spitzen-Detrusordruck bei autonomer Kontraktion (cmH2 O)

< 15

15–40

> 40

Leak-point pressure

< 25

25–40

> 40

Sphinkter

entspannt

nicht entspannt

dyssynerg

5.3.3.2 Monitoring der Nierenfunktion durch Laborparameter Bei Patienten mit einem hohen Risiko für einen progredienten Nierenfunktionsverlust sollte ein regelmäßiges Monitoring der Nierenfunktion erfolgen. Die glomeruläre Filtrationsrate (GFR) ist die universell akzeptierte Messgröße zur Einschätzung der Nierenfunktion. Die Normwerte sind altersabhängig (Tab. 5.4). Die Bestimmung der GFR kann über verschiedene Methoden erfolgen. Als Goldstandard gilt die Inulinclearance. Aufwendig, aber exakt sind Tests, in denen die Clearance radioaktiv markierter Substanzen wie Iothalamat, DTPA oder EDTA zum Einsatz kommt. Häufiger

5.3 Überwachung der Nierenfunktion | 189

Tab. 5.4: Altersabhängige Referenzbereiche für die GFR [27]. Alter Neugeborene > 10

Männer

Frauen

77–179 70–162 63–147 56–130 49–113 42– 98 35– 81

71–165 64–149 58–135 51–120 45–104 39– 90 32– 75

ml/min/m2

Kinder (Monat 3–12) > 70 ml/min × 1,73 Kinder und Jugendliche (1–20J) > 80 ml/min × 1,73 Erwachsene (GFR in ml/min × 1,73) 20–29 30–39 40–49 50–59 60–69 70–79 80–89

werden endogene Methoden wie die Kreatininclearance verwendet, die aber eine präzise Harnsammlung über einen definierten Zeitraum (meist 24 Stunden) erfordern. Aus diesen Gründen wird in der Praxis die GFR häufig über Näherungsformeln berechnet.

5.3.3.2.1 Kreatininbasierte Formeln zur Abschätzung der glomerulären Filtrationsrate Die glomeruläre Filtrationsrate kann bei Kindern mittels Schwartz-Formel aus aktuellem Serumkreatinin (Jaffé-Methode) und Körperlänge in Kombination mit einem alters- und geschlechtsspezifischen Korrekturfaktor geschätzt werden [28] (Tab. 5.5). Im Erwachsenenalter haben sich die vereinfachte MDRD-Formel oder die CockcroftGault-Formel durchgesetzt (Tab. 5.6). Problematisch ist die Anwendung kreatininbasierter Formeln im sog. kreatininblinden Bereich einer GFR zwischen 60 und 80 ml/min. Eine beginnende Niereninsuffizienz wird durch einen fehlenden Kreatininanstieg maskiert. Bei Patienten mit angeborener Querschnittslähmung kommt es durch die meist reduzierte Muskelmasse zu einer Überschätzung der Nierenfunktion. Bei der Anwendung der Schwartz-Formel besteht ein weiteres Problem in der weitestgehenden Umstellung der Laboranalytik auf die enzymatische Methode. Die gemessenen Kreatininwerte liegen im Schnitt ca. 20 % unter den Werten nach Jaffé. Daraus resultiert ebenfalls eine Überschätzung der glomerulären Filtration bei Verwendung der „alten“ Schwartz-Formel. Die 2009 publizierte kreatininbasierte „neue Schwartz-Formel“ ist bislang nur für Kinder mit milder bis moderater chronischer Niereninsuffizienz validiert [29].

190 | 5 Neurogene Blasen- und Darmentleerungsstörung

Tab. 5.5: Schwartz-Formel: alters- und geschlechtsabhängige Konstante (k). k

Kreatinin (mg/dl)

Kreatinin (µmol/l)

Kinder < 1 Jahr Kinder 2–12 Jahre Weiblich 13–21 Jahre Männlich 13–21 Jahre

0,45 0,55 0,55 0,70

39,8 48,6 48,6 61,9

Tab. 5.6: Kreatininbasierte Formeln zur Berechnung der GFR. Kinder GFR (ml/min × 1,73 m2 )

k*Länge(cm)/SKrea (Jaffé) 0,413 × Länge(cm)/SKrea (enzymatisch)

Vereinfachte MDRD-Formel

GFR (ml/min × 1,73 m2 )

186 × SKrea−1,154 × Alter−0,203 × (0,742 bei Frauen) × (1,21 bei Farbigen)

Cockcroft-Gault-Formel

GFR (ml/min)

(140 −Alter) × Gewicht/(72 × SKrea)

Schwartz-Formel „alt“ Schwartz-Formel „neu“ Erwachsene

5.3.3.2.2 Cystatin C In den letzten Jahren wird zunehmend die Bestimmung der Cystatin-C-Konzentration im Serum zur Beurteilung der Nierenfunktion im Kindesalter diskutiert [30, 31]. Cystatin C ist ein endogenes niedermolekulares Protein, das unabhängig von der Muskelmasse von allen kernhaltigen Zellen konstant produziert, frei filtriert, nichttubulär sezerniert und im proximalen Tubulus vollständig abgebaut wird. Somit scheint die Serumkonzentration unabhängig von antropometrischen Daten und somit speziell für Patienten mit angeborener Querschnittslähmung und meist reduzierter Muskelmasse geeignet zu sein [31, 32]. Die Cystatin-C-Werte im Serum fallen im 1. Lebensjahr ab und bleiben dann bis zum 60. Lebensjahr konstant (Tab. 5.7). Über verschiedene Formeln [31, 33–35] ist eine Bestimmung der sog. Cystatin-GFR bezogen auf 1,73 m2 /KOF möglich (Tab. 5.8). In einem von Andersen [30] publizierten Review zeigte die von Zapitelli entwickelte Cystatin-C- und kreatininbasierte Formel die beste Korrelation zur mittels exogenen Clearancemethoden bestimmten GFR bei Patienten mit Spina bifida. Bei Patienten mit eingeschränkter Cystatin-GFR sollte jedoch zur Bestätigung eine Bestimmung der Kreatininclearance im 24-h-Sammelurin (ggf. Dauerkatheter) oder durch eine exogene Clearancemethode erfolgen.

5.3 Überwachung der Nierenfunktion | 191

Tab. 5.7: Altersabhängige Normwerte für Cystatin C nach Harmoinen [36] (PETIA-Methode). Cystatin C (mg/l) Frühgeborene Reifgeborene > 8 Tage–1 Jahr > 1–3 Jahre > 3–16 Jahre

1,34–2,57 1,36–2,23 0,75–1,87 0,68–1,60 0,51–1,31

Tab. 5.8: Cystatin-C-basierte Formeln zur Abschätzung der GFR. Referenz

Formel für GFR (ml/min × 1,73 m2 )

Methode

Grubb

84,69 × Cystatin C−1,680 × 1,384 (wenn < 14 Jahre)

PETIA

Hoek

−4,32 + (80,35 × 1/Cystatin C)

PENIA

Zapitelli

× e0,003 × Länge(cm) )/(CysC0,635

× SKrea0,547 (mg/dl))

(43,82 wenn Spina bifida × 1,57 × SKrea0,925

PENIA

5.3.4 Niereninsuffizienz bei Patienten mit Spina bifida Die Behandlung von Patienten mit manifester Niereninsuffizienz muss in enger Zusammenarbeit mit einem Nephrologen bzw. pädiatrischen Nephrologen erfolgen. Ziel ist die Erfassung und Therapie sekundärer durch die Niereninsuffizienz bedingter Veränderungen (Tab. 5.9). Beim Eintreten einer terminalen Niereninsuffizienz wird heute in aller Regel eine Nierenersatztherapie erfolgen [37]. Diese ist prinzipiell trotz des meist vorhandenen Tab. 5.9: Sekundäre Veränderungen bei Niereninsuffizienz. Sekundäre Veränderungen bei Niereninsuffizienz

Diagnostik

Therapie

Arterielle Hypertonie

RR-Messung, ggf. Langzeit-RR

Gewichtsreduktion Antihypertensiva

Renale Osteopathie

Kalzium, Phosphat, alkalische Phosphatase, intaktes Parathormon, 25-OH-Vitamin D

Phosphatarme Ernährung Phosphatbinder Aktives Vitamin D

Renale Anämie

Blutbild, Retikulozyten, Eisen, Ferritin

Eisensubstitution Erythropoietin

Renale Dystrophie

Wachstumsperzentilen Wachstumsgeschwindgkeit Knochenalter Ernährungsprotokoll

Ernährungsberatung Wachstumshormon

Renale Azidose

Blutgasanalyse

Bikarbonat

192 | 5 Neurogene Blasen- und Darmentleerungsstörung

ventrikulo-peritonealen Shunts als Peritonealdialyse möglich [38, 39]. Alternativ kann eine Hämodialyse erfolgen. Abhängig von der Gesamtsituation wird heute eine frühzeitige Nierentransplantation angestrebt. Zur optimalen Planung der Transplantation wird von den meisten Zentren eine Lebendspende favorisiert. Zum Schutz des Transplantats ist in der Regel die operative Schaffung eines Niederdrucksystems, idealerweise vor der Transplantation notwendig. Die Ergebnisse der Nierentransplantation bei Patienten mit neurogener Blasenentleerungsstörung sind nach den spärlich vorhandenen Daten vergleichbar mit Patienten ohne neurogene Störung der Blasenfunktion [40–44].

5.3.5 Sonderfall Shuntnephritis Bei der Shuntnephritis besteht keine ursächliche Verbindung zur neurogenen Blase, sondern es handelt sich um eine seltene renale Komplikation chronisch infizierter ventrikulo-atrialer Shuntsysteme. Die Erstbeschreibung erfolgte durch Black et al. [45]. In einer von Haffner et al. [46] publizierten Übersichtsarbeit wird das klinische Spektrum anhand der bis zum damaligen Zeitpunkt publizierten Patienten dargestellt. Durch den meist chronisch schleichenden Verlauf erfolgt die Diagnose häufig mit zeitlicher Verzögerung. Im Gegensatz zur Infektion ventrikulo-peritonealer Shuntsysteme, die meist innerhalb der ersten 6 Monate nach Implantation auftritt, kann es bei ventrikulo-atrialen Shunts viele Jahre nach Implantation zur Shuntbesiedlung und schleichenden Shuntinfektion kommen [47, 48]. Nur bei einem kleinen Anteil der Patienten von ca. 1–2 % kommt es jedoch im Verlauf zu einer Shuntnephritis [49]. Klinisch fallen die Patienten durch rezidivierende, manchmal durch körperliche Anstrengung ausgelöste Fieberschübe, Anämie und Hepatosplenomegalie auf [46, 49–51]. Hautsymptome und zentralnervöse Symptome durch eine intrakranielle Druckerhöhung können vorhanden sein. Die renale Beteiligung zeigt sich durch eine Mikro- oder Makrohämaturie in Kombination mit einer mehr oder weniger ausgeprägten Proteinurie. Häufig findet sich eine arterielle Hypertonie. Die Nierenfunktion ist initial normal. Im Verlauf kann es jedoch zu einem progredienten Nierenfunktionsverlust bis hin zur terminalen Niereninsuffizienz kommen. Eine häufige Differentialdiagnose zu Beginn des Krankheitsbildes ist die rezidivierende fieberhafte Harnwegsinfektion. Bei gleichzeitig vorliegenden vaskulitischen Hautveränderungen wird manchmal an eine Purpura-Schoenlein-Henoch-Nephritis gedacht [52]. Prinzipiell kann natürlich auch unabhängig vom Vorhandensein eines ventrikulo-atrialen Shunts eine primäre oder durch eine Kollagenose bedingte Glomerulonephritis vorliegen. Durch die chronische bakterielle Infektion des atrialen Shuntsystems mit intermittierender Bakteriämie kommt es zur Bildung von zirkulierenden Immunkomplexen und zur Entstehung einer Immunkomplexnephritis. Serologisch finden sich häufig erniedrigte Komplement-C3- und -C4-Spiegel als Zeichen einer Aktivierung des

5.3 Überwachung der Nierenfunktion | 193

Komplementsystems über den klassischen Weg. Die Blutsenkungsgeschwindigkeit und das CRP sind in der Regel erhöht. Der am häufigsten nachgewiesene Erreger ist Staphylococcus epidermidis. Ein breites Spektrum anderer Keime wurde jedoch beschrieben [46, 50, 53–55]. Ein Keimnachweis in Liquor- und Blutkulturen gelingt in 75–85 % der Fälle. Negative Kulturen schließen eine Shuntinfektion jedoch nicht aus. Eine einfache, aber wenig bekannte serologische Nachweismethode ist der Anti-Staphylococcus-epidermidis-Titer [56]. Bei Titern größer 1 : 160 kann von einer Staphylococcus-epidermidis-Infektion ausgegangen werden. Bei infizierten ventrikulo-atrialen Shunts werden in der Regel Titer über 1 : 4.000 nachgewiesen. Bayston [57] plädierten bereits 1994 für ein regelmäßiges Screening von Patienten mit ventrikulo-atrialem Shunt. In Deutschland ist dieser Test leider nicht kommerziell verfügbar. Bei klinisch und laborchemisch unklarem Bild kann eine probatorische antibiotische Therapie erwogen werden. Kommt es darunter zu einer Abnahme der zirkulierenden Immunkomplexe und Besserung von Hypokomplementämie und Proteinurie, so ist von einer Shuntnephritis auszugehen und eine primäre oder durch eine Kollagenose bedingte Glomerulonephritis unwahrscheinlich [58]. Histologisch handelt es sich bei der Shuntnephritis meist um eine membranoproliferative Glomerulonephritis mit subendothelialer und mesangialer Ablagerung von C3, IgM und häufig auch IgG. Eine mesangio-proliferative Glomerulonephritis sowie eine endo- bzw extrakapillär proliferierende Glomerulonephritis wurden ebenfalls beschrieben [46, 50, 58, 59]. Die Therapie der Shuntnephritis besteht in einer antibiotischen Behandlung in Kombination mit einer Entfernung des infizierten Shuntsystems. Bis zur Keimsanierung wird häufig eine externe Liquordrainage durchgeführt. Bei fortbestehender Shuntbedürftigkeit erfolgt in der Regel die Umwandlung in einen ventrikuloperitonealen Shunt. Die nephrologischen Befunde normalisieren sich bei ca. 50 % der Patienten im Verlauf. Insbesondere bei verzögerter Diagnosestellung und Therapie besteht jedoch ein hohes Risiko für eine irreversible Nierenfunktionseinschränkung [46]. Die Angaben zur Mortalität schwanken zwischen 10 und 19 % [46, 50]. Bei persistierender Hämaturie, Proteinurie und Nierenfunktionseinschränkung sollte eine Nephroprotektion mit einem ACE-Hemmer zur Verlangsamung der Progression der Niereninsuffizienz erfolgen [60]. Zusammenfassend sollte bei allen Patienten mit einem ventrikulo-atrialen Shuntsystem im Rahmen der Verlaufskontrollen an diese seltene, aber ernste Komplikation gedacht werden.

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5.4 Neurogene Blase: konservative und operative Therapie | 197

Günter Schott und Elisabeth Strehl

5.4 Neurogene Blase: konservative und operative Therapie 5.4.1 Einleitung Die neurogene Dysfunktion des unteren Harntraktes ist durch eine Störung sowohl der Speicherfunktion als auch der Blasenentleerung gekennzeichnet. Das Problem der neurogenen Blase besteht im Risiko für den oberen Harntrakt, der Inkontinenz oder der maliziösen Kombination von beidem. Der urologische Leitsatz Die Blasenqualität entscheidet über die Nierenfunktion trifft in besonderem Maß für die neurogene Blase zu. In den letzten 40 Jahren sind bei der neurogenen Blasen-Sphinkter-Dysfunktion (NBSD) eindrucksvolle Therapieerfolge durch Entwicklung neuer Therapiekonzepte möglich geworden, die gerade auch für Menschen mit Spina bifida die Prognose grundlegend verbessert haben. So kann bei konsequenter Diagnostik und Therapie ab Geburt die Entwicklung einer Niereninsuffizienz praktisch immer verhindert werden, und gleichzeitig ist das Erreichen einer sog. sozialen Kontinenz ein realistisches Therapieziel geworden. Entscheidende Grundlage für alle modernen Therapiekonzepte war die Einführung des intermittierenden Katheterisierens der Blase. Sir Ludwig Guttmann setzte erstmals ab 1944 in England den sterilen intermittierenden Katheterismus erfolgreich für Querschnittsgelähmte ein. 1972 publizierte Lapides das Konzept des sauberen Einmalkatheterismus als Selbst-Katheterismus [1]; ein gleichermaßen simples wie höchst wirkungsvolles Vorgehen, das sich in der Folgezeit weltweit als Basistherapie für verschiedene Formen neurogener Blasenentleerungsstörungen durchsetzte. Für den Siegeszug der Methode, insbesondere auch für die Anwendung bei Säuglingen und Kleinkindern, war auch die stetige Verbesserung der Materialien und die Entwicklung bedarfsgerechter Produkte durch die Industrie mit entscheidend. Das Katheterisieren ist in den meisten Fällen Teil eines umfassenderen Therapiekonzepts und wird oft gemeinsam mit Pharmakotherapie eingesetzt, insbesondere mit antimuskarinerg wirkenden Parasympatholytika. Aber auch für viele operative Verfahren ist der intermittierende Katheterismus die entscheidende Voraussetzung und hat den Weg frei gemacht für neue Konzepte. Von operativer Seite war es vor allem Paul Mitrofanoff [2], dem die weite Verbreitung kontinenter Harnreservoirs mit oder ohne Erhaltung der Originalblase zu verdanken ist. Die Verwendung der Appendix als zuverlässiges kontinentes Stoma bietet die Möglichkeit des intermittierenden Katheterismus auch bei fehlenden oder erschwerten Voraussetzungen für einen natürlichen Katheterismus. So können aktuelle Therapiekonzepte unter Berücksichtigung der jeweiligen individuellen Situation nicht nur die Lebenserwartung, sondern auch die Lebensqualität entscheidend verbessern.

198 | 5 Neurogene Blasen- und Darmentleerungsstörung

5.4.2 Grundlagen für Therapieentscheidungen Die modernen Verfahren der neurourologischen Diagnostik, insbesondere die Urodynamik, besser noch als Video-Urodynamik, haben entscheidend zu einem verbesserten und vertieften Verständnis der neurogenen Blasen-Sphinkter-Dysfunktion beigetragen. Sie ermöglichen die Zuordnung zu vier Blasentypen, die sich aus der Kombination unabhängiger Funktionsstörungen von Detrusor (D) und urethralem Sphinkter (U) ergeben, die jeder für sich überaktiv (gekennzeichnet mit einem +) oder inaktiv (gekennzeichnet mit einem −) sein können. Diese rein funktionelle Einteilung wurde 1986 [3] bzw. 1990 [4] vorgeschlagen, ist bis heute für die Gruppe der Spina-bifida-Patienten die Basis des Therapiekonzepts und liegt entsprechend auch den aktuellen AWMF-Leitlinien für Patienten mit Meningomyelozele zugrunde [5]. Für diese Patientengruppe ist charakteristisch, dass keine Korrelation zwischen der anatomischen Höhe der Läsion und dem Typ der neurogenen Detrusor- und Sphinkterfunktionsstörung besteht, außerdem Veränderungen des Typs der Funktionsstörung jederzeit im Verlauf möglich sind, z. B. wachstumsbedingt bei Tethered cord. Das funktionelle Konzept ermöglicht problemorientierte Therapieentscheidungen und vor allem auch prophylaktisches Handeln durch Erkennen von Risikokonstellationen. Vergleichende Langzeituntersuchungen konnten in den letzten 20 Jahren zeigen, dass ein früher Therapiebeginn bald nach der Geburt für die Langzeitprognose entscheidend ist. Ein präsymptomatischer Therapiebeginn ist danach der sicherste Weg, sekundäre Schäden am oberen Harntrakt und an der Blase zu vermeiden und die Zahl notwendiger urologischer Operationen deutlich zu reduzieren [6–10]. Therapeutische Ziele sind vor allem der langfristige Schutz der oberen Harnwege durch restharnfreie Blasenentleerung, Vermeidung von Infektionen und eine möglichst weitgehende Normalisierung des Blasendrucks sowie das Erreichen einer sog. sozialen Kontinenz (d. h. Kontrolle über die Blasenentleerung mit Trockenzeiten von mindestens 3 Stunden).

5.4.3 Die wichtigsten Elemente der konservativen Therapie 5.4.3.1 Intermittierendes Katheterisieren Das intermittierende Katheterisieren (IK) als Selbst-Katheterismus (ISK) )oder FremdKatheterismus ist die Therapie der Wahl für fast alle Formen der NBSD. Es ermöglicht eine regelmäßige restharnfreie Blasenentleerung ohne Druckbelastung und dient damit sowohl dem Schutz des oberen Harntraktes als auch der Verbesserung der Kontinenz. Es wird in den ersten Lebensjahren ganz überwiegend von den Eltern oder anderen Pflegepersonen durchgeführt, später nach Möglichkeit von den Kindern und Jugendlichen selbst.

5.4 Neurogene Blase: konservative und operative Therapie | 199

Die Häufigkeit sollte in der Regel bei 4–5(–6)× pro Tag liegen. Sie orientiert sich an der funktionellen Blasenkapazität, muss aber auch die Realisierbarkeit im häuslichen Alltag berücksichtigen. Es lässt sich nachweisen, dass die Zahl symptomatischer Harnwegsinfekte (HWI) durch den IK signifikant vermindert wird [11], dennoch zählen HWI zu den häufigsten Komplikationen, die durch geeignetes Management jedoch deutlich reduziert werden können. Die entscheidenden Faktoren zur Risikominderung für HWI [12] sind: – gute Schulung der Eltern bzw. der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen selbst, – guter Hygienestandard, – atraumatisches Vorgehen, – Gewährleistung einer restharnfreien Entleerung (sonografische Kontrolle!), – ausreichend hohe Frequenz der Entleerung, evtl. Verkürzung einer langen Nachtpause. Alle Versuche, einen bestimmten Kathetertyp oder eine besonders definierte Methode des Katheterismus (steril, aseptisch oder sauber) als eindeutig überlegen im Hinblick auf die Infektvermeidung herauszustellen, sind bisher ohne überzeugendes Ergebnis geblieben [13]. So kommt ein aktuelles Cochrane-Review über das intermittierende Katheterisieren zu dem Schluss: „Currently, the evidence is weak and it is not possible to state that any catheter design, technique or strategy is better than another.“ [14]. Es besteht jedoch weitgehende Einigkeit darüber, dass in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen wegen des größeren Risikos nosokomialer Infektionen strikt aseptisches Vorgehen notwendig ist, während im häuslichen Bereich eher Elemente des „sauberen“ Katheterismus (clean intermittent catheterisation – CIC) praktiziert werden können. Es sollten jedoch nur sterile Einwegmaterialien benutzt und der einzuführende Katheteranteil steril gehalten werden. Über den Umgang mit Harnwegsinfekten siehe Kapitel 5.5.

5.4.3.2 Antimuskarinerge Medikamente Die zweite Säule der konservativen Therapie sind Antimuskarinika, die die glatte Muskulatur eines überaktiven Detrusors entspannen, dadurch den intravesikalen Druck senken und die Compliance der Blase verbessern. Indem sie gesteigerte Entleerungsbestrebungen der Blase bremsen, tragen sie erheblich zum Erreichen einer Kontinenz bei. Eine Übersicht über die derzeitig verfügbaren Wirkstoffe gibt Tab. 5.10. Viele (vor allem neuere) Medikamente sind im Kindesalter nicht zugelassen; sonst gelten unterschiedliche Altersbeschränkungen. Die Behandlung im Kleinkindalter bedeutet also überwiegend „off-label-use“. Allerdings bestehen vor allem mit dem Wirkstoff Oxybutynin weltweit langjährige Erfahrungen, sodass er nach allgemeiner Überzeugung auch im 1. Lebensjahr eingesetzt werden kann [15]. Gerade die positiven Ergebnisse eines frühen Behandlungsbeginns nach Geburt sprechen dafür, dass Nichtbehandlung das größere Risiko wäre!

200 | 5 Neurogene Blasen- und Darmentleerungsstörung

Tab. 5.10: Antimuskarinika. Substanz

Zulassung

Dosierung Kdr.

Dosierung Erw.

Oxybutynin oral

ab 6. Lj.

0,2–0,4 mg/kg/d 2–3 ED

10–15(–20) mg/d 2–3 ED

Oxybutynin intraves.

bisher keine

0,5–0,9 mg/kg/d 2 ED

bis 30 mg/d bis 3 ED

Propiverin

ab 2. Lj.

0,8 mg/kg/d 2 ED

2–3 × 15 mg/d

Trospiumchlorid

ab 13. Lj.

0,6–0,8 mg/kg/d 2–3 ED

2–3 × 15 mg/d

Tolterodin*

ab 18 J.

2× (1–)2 mg/d 1× 4 mg (ret.)/d

Darifenacin**

ab 18 J.

1× 7,5(–15) mg/d

Solifenacin**

ab 18 J.

1× 5(–10) mg/d

Fesoterodin**

ab 18 J.

1× 4(–8) mg/d

ED = Einzeldosis * lt. Firmeninfo bei Kindern nicht empfohlen, da Wirksamkeit nicht nachgewiesen; ** selektive M3-Rezeptor-Antagonisten; Zulassung nicht für neurogene Blasenfunktionsstörung.

Die Tatsache, dass sich muskarinerge Rezeptoren in vielen Organsystemen des Körpers befinden, macht es verständlich, dass es ein recht breites Spektrum von Nebenwirkungen gibt, die fast immer dosisabhängig sind. Die therapeutische Dosis sollte nach Möglichkeit unterhalb der Nebenwirkungsschwelle liegen. Häufigste Nebenwirkungen: – Speicheldrüsen: Mundtrockenheit, – Haut: Hautrötung, – Auge: Akkommodationsstörungen, Verschwommensehen, – Gastrointestinaltrakt: Völlegefühl, häufig Obstipation, seltener auch Diarrhö, – ZNS: Müdigkeit, Schwindel, Benommenheit, Verwirrtheit, Angst- oder Erregungszustände; bei älteren Patienten kognitive Einbußen beschrieben. Trospiumchlorid als einziges quartäres Amin (alle anderen Antimuskarinika sind tertiäre Amine) passiert die Blut-Hirn-Schranke höchstens in geringem Maße und hat dadurch am wenigsten zentrale Nebenwirkungen [16]. Allerdings ist die Resorption eher gering und wird durch gleichzeitige Nahrungsaufnahme beeinträchtigt, sodass die Einnahme vor den Mahlzeiten empfohlen wird. Oxybutynin hat nach einigen Studien bei intravesikaler Gabe weniger NW und kann bei Bedarf in höherer Dosierung gegeben werden [17–20]. Es sollte in sterilen Einzelportionen verordnet werden.

5.4 Neurogene Blase: konservative und operative Therapie | 201

5.4.4 Therapeutisches Vorgehen in Abhängigkeit vom Blasentyp Die Darstellung der Therapiekonzepte bezieht sich auf die vier bereits beschriebenen Typen der NBSD, siehe Abb. 5.10 (s. Kap. 5.1.3.3).

D+/U+

überaktiver Detrusor (a) überaktiver Sphinkter

D+/U–

(b)

D–/U+

inaktiver Detrusor (c) überaktiver Sphinkter

überaktiver Detrusor inaktiver Sphinkter

D–/U–

(d)

inaktiver Detrusor inaktiver Sphinkter

Abb. 5.10: Klassifikation der neurogenen Blasen-Sphinkter-Dysfunktion (nach H. Madersbacher [4]).

5.4.4.1 Neurogene Detrusorhyperaktivität mit Hyperaktivität des Sphincter externus/Beckenbodens (D+/U+) Von den vier Mustern einer NBSD hat die Hochdruckblase bei zunehmender Wandspannung das höchste Risiko. Der hyperkontraktile, verdickte Blasenmuskel und die vermindert dehnbare, sog. Low-compliance-Blase führen rasch zu einem sekundären Aufstau infolge einer Einflussstauung. Dazu kommt häufig eine ungenügende Blasenentleerung bei bestehender Dyssynergie zwischen Detrusor und Sphincter externus.

5.4.4.1.1 Klinische Charakteristika Klinisch imponieren die funktionell kleinkapazitären Hochdruckblasen mit häufiger Stakkatomiktion sowie unfreiwilligem Harnabgang und zunehmender Restharnbildung. Durch fortschreitende Hypertrophie des Detrusors und Kollagenisierung der Blasenwand mit weiter abnehmender Compliance, meist durch rezidivierende Harnwegsinfektionen kompliziert, entwickelt sich bei einem Teil ein sekundärer Reflux, der dann häufig zu rasch progredienten renalen Destruktionen führt. Besonders gefährlich wird die Situation bei ausgeprägter Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie, also einer fehlenden Relaxation des Sphincter externus, resp. sogar einer Aktivitätszunahme während der Detrusorkontraktion.

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5.4.4.1.2 Pathomechanismus Die Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie manifestiert sich zusammen mit einer Beckenbodenüberaktivität und erzeugt somit eine hochsignifikante funktionelle subvesikale Obstruktion, die zu massiv erhöhten intravesikalen Drücken und konsekutiv zur Dilatation des oberen Harntraktes im Sinne einer Einflussstauung führt. Gleichermaßen stehen inkomplette Blasenentleerungen im Vordergrund. Oft entwickelt sich durch fortschreitende Pathologisierung der Blasenwand eine Refluxsituation, meist über den Mechanismus paraostialer Divertikel im Sinne refluxiver Stenosen. Die Kombination von Obstruktion und Restharnbildung mit rezidivierenden Harnwegsinfektionen ist somit imstande, den oberen Harntrakt in kurzer Zeit substantiell zu schädigen. Bei fortbestehender Blasenauslassresistenz infolge ausgeprägter Dyssynergie ist somit eine fortschreitende Verschlechterung der Blasencompliance als Folge der Detrusorhyperaktivität mit konsekutiver Kollagenisierung der Matrix die Folge. Dieser Circulus vitiosus endet ohne Therapie oder bei insuffizienter Behandlung in einer kleinkapazitären, kontrakten Low-compliance-Hochdruckblase (Hochdruck in der Füllungs- und Entleerungsphase gleichermaßen). Die abnehmende Compliance führt nicht nur zur wachsenden Inkontinenz, sondern bietet auch die Grundlage einer fortschreitenden funktionellen Obstruktion des oberen Harntraktes und somit eines wachsenden Risikos für eine renale Destruktion. Während in der Frühphase die Blasenentleerung meist durch eine kompensatorische Blasenwandhypertrophie und Überaktivität noch kompensiert erscheint, führt im Progress ein weiterer Verlust an Kontraktilität über wachsende Restharnmengen, Harnwegsinfektionen, Drucksteigerungen und progredienten Detrusorumbau, ggf. noch in Verbindung mit sekundärem Reflux, zur Katastrophe. Die Kombination von Hochdruckblase, VUR-Reflux und Harnwegsinfektion ermöglicht die Übertragung der malignen Blasenbinnendrücke via Harnleiter auf das zarte Nierenbeckenkelchsystem und kann zur Tubulorhexis führen, also der Ruptur der feinen Sammelrohre, zur Fornixruptur im Bereich der zarten Kelchnischen, die ab Drücken von 15 mH2 O rupturieren können, oder über den Mechanismus des pyelosinuvenösen Back-flow zur direkten Einschwemmung von Bakterien in das Venensystem mit Phlebitiden und postphlebitischen Thrombosen als Folge und somit zur direkten Zerstörung der Nieren. Hierbei sind diese Pathomechanismen für die renale Substanz umso gefährlicher, je jünger die Kinder sind, infolge besonderer Vulnerabilität der Nieren im frühen Säuglingsalter. Die renale Protektion hängt bei der neurogenen Blase von der erfolgreichen Erhaltung einer guten Blasencompliance mit möglichst geringen Füllungsdrücken und ausreichender Blasenentleerung ab. Frühzeitige (video-)urodynamische Studien im Säuglingsalter sind nicht zuletzt zur Erkennung dieser Patientengruppe mit hohem renalen Risiko besonders wichtig. Eine frühzeitige Erkennung der Detrusorhyperaktivität und deren Beeinflussung mit Pharmakotherapie kann diese maliziöse Entwicklung meist verhindern. Gemäß

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dem Innervationsmuster der Blase und der entsprechenden Rezeptorverteilung der nervalen Steuerung (Abb. 5.11) stehen mit den Parasympatholytika (Antimuskarinika) sehr effektive Medikamente zur Detrusorrelaxation zur Verfügung.

somatisch innerviert parasympathisch innerviert sympathisch innerviert durch α-Rezeptoren β-Rezeptoren

Abb. 5.11: Innervation und Rezeptorverteilung der Blase und hinteren Harnröhre [21].

Mit zunehmendem Umbau und einer Kollagenisierung der Blase verliert die Pharmakotherapie jedoch ihre Wirksamkeit. Die Therapie muss daher entsprechend frühzeitig erfolgen und in der Regel mit dem intermittierenden Katheterismus kombiniert werden, weil die Verminderung der Detrusoraktivität eine weitere Zunahme der Restharnmenge zur Folge hat. Über die zur Verfügung stehenden Medikamente informiert Abschnitt 5.4.3.2.

5.4.4.1.3 D+/U+-Dekompensation Bei bereits fortschreitender Dekompensation mit beginnendem Harnaufstau infolge Einflussstauung oder Reflux kann zur konsequenten Niederdruckableitung bis zur Rekompensation eine temporäre Ableitung erforderlich sein, je nach Verlauf über 3–6(–12) Monate, siehe Abb. 5.12. Hierfür kann entweder ein suprapubischer Fistelkatheter (z. B. Zystofixableitung) oder aber eine katheterfreie Blasenhautfistel bis zur Rekompensation und Stabilisierung in Betracht kommen. In weniger fortgeschrittenen Fällen kommt zur Entlastung auch ein nächtlicher Dauerkatheter infrage mit Ableitung in einen Beutel oder direkt in die Windel (Achtung: keine hydrophil beschichteten Katheter verwenden, weil diese antrocknen und Schleimhautverletzungen verursachen können!). Beim suprapubischen Fistelkatheter kommt die sog. „Tidel“-Drainage zur Anwendung, womit der Urinauffangbeutel auf Blasenniveau resp. Kindniveau verstanden wird. Bei dieser Ableitungsform mit der Funktion eines Überdruckventils bei erhaltenem Muskelspiel können intravesikale Druckspitzen durch Überlauf abgefangen werden, die Blase wird jedoch nicht defunktionalisiert.

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(a)

(b)

Abb. 5.12: Temporäre suprapubische Ableitung (Zystofix). (a) links Ausgangsbefund, rechts sechs Monate nach Zystofix (weiblich, 1 Jahr); (b) links Ausgangsbefund, rechts sechs Monate nach Zystofixableitung und Uretero-Zysto-Neostomie (UCN) links (weiblich, 6 Jahre).

Für längere Ableitungskonzepte, die jedoch nicht im Sinne einer operativen Blasenhautfistel geplant werden, hat sich anstelle des sog. Zystofixkatheters ein suprapubischer Ballonkatheter wegen seiner besseren Verträglichkeit aufgrund geringerer mechanischer Irritation in der Blase bewährt.

5.4 Neurogene Blase: konservative und operative Therapie | 205

Bei fortgeschrittener Dekompensation mit renaler Einschränkung und Destruktion oder einer malignen vesikalen Hypertension bzw. spastischen Kontraktion der Blase kann als Ultima ratio eine operative Blasenhautfistel, z. B. in der einfachen Blocksom-Technik, nach wie vor auch heute noch indiziert sein. Mit dieser Technik lässt sich über einen Zeitraum von 1–3 Jahren als Überbrückung die vesikale bzw. renale Situation in vielen, zunächst ausweglos erscheinenden Fällen retten, siehe Abb. 5.13. Je nach Situation sind in Einzelfällen noch zusätzlich temporäre Nephrostomien, vor allen Dingen in der Anfangsphase, erforderlich. Die Erfahrung zeigt, dass nach Besserung der Blasenfunktion und damit der urodynamischen Situation dann später oft doch noch auf das konservative Therapiekonzept mit medikamentöser Detrusorrelaxation und intermittierendem Katheterismus zurückgegriffen werden kann.

(a)

(b)

Abb. 5.13: Blasen-Haut-Fistel. (a) vor OP (männlich, 3 Monate); (b) 1 Jahr nach OP (männlich, 15 Monate).

Wenn ein überaktiver Sphinkter als Ursache einer funktionellen infravesikalen Obstruktion im Vordergrund steht, wird man bei Knaben heute eher nicht mehr an eine (abgestufte oder komplette) Sphinkterotomie denken, sondern evtl. eine minimalinvasive, endoskopische Sphinkterschwächung durch den gezielten Einsatz von Botulinumtoxin mit Injektion in den Sphincter externus versuchen (s. Botox® -Therapie).

5.4.4.1.4 Sekundärer Reflux Bei persistierendem vesiko-renalem Reflux mit rezidivierenden pyelonephritischen Schüben kann bei Ansprechen der zuvor erwähnten Konzepte meist eine weitgehende Normalisierung oder Stabilisierung der Blasenwand erzielt werden, sodass auch operative antirefluxive Maßnahmen (in der extravesikalen Technik nach Gregoir-Lich oder in transvesikalen Techniken nach Cohen oder Politano) technisch risikoarm möglich

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werden – wenn sie überhaupt noch indiziert sind und der Reflux nicht ohnehin spontan sistiert. Bei persistierenden, stärkeren Veränderungen des Detrusors mit Wandhypertrophie und Pseudodivertikeln sind eher cross-trigonale oder infrahiatale Verfahren wie z. B. in der Technik nach Cohen oder Glenn-Anderson geeignet, weil das Trigonum selbst weniger von den neurogenen Blasenwandveränderungen betroffen ist und somit ein geringeres postoperatives Stenoserisiko besteht. Neben den klassischen Antirefluxoperationen bietet sich gerade bei der neurogenen Blase eine minimal-invasive, sog. endoskopische Antirefluxplastik mittels subureteraler Injektion eines „bulking agent“ an. Wenngleich mit dieser simplen Technik die Erfolgsraten, verglichen mit offen-chirurgischen Maßnahmen, deutlich niedriger sind, ist die nahezu risikofreie Methode dank verbesserter Technik und zwischenzeitlich großer Erfahrungen gerade für die neurogene Blase mit vesikorenalem Reflux eine Bereicherung der Therapieoptionen. Als Substanz wird ein Dextranabkömmling (Deflux® ) verwendet, alternativ Dexell® , Vantris® . Von technischer Seite konnten die Ergebnisse auch bei der neurogenen Blase, die insgesamt mit schlechteren Erfolgsraten belegt ist, infolge wachsender Erfahrung und durch den Einsatz der sog. HIT Hydrodistension-Implantationstechnik), der „Double-HIT“ mit Platzierung von zwei Depots im Harnleiterlumen, resp. der Kombination der früheren „STING“-Technik (STING = Standardverfahren Subureterale Transurethrale Injektion) mit der HIT verbessert werden. Annähernd 3 % der Neugeborenen mit neurogener Blase bei Myelodysplasie weisen initial einen VUR-Reflux auf. Die hohen intravesikalen Drücke, wie sie bei der neurogenen Blasendysfunktion das besondere Risiko für den oberen Harntrakt darstellen, gilt es primär zu senken, wodurch in vielen Fällen der sekundäre Reflux spontan verschwindet oder aber stark mitigiert wird. Bei fehlender Behandlung wächst allerdings in den folgenden 3–5 Jahren die Refluxinzidenz bei dieser Risikogruppe auf 30–40 % an.

5.4.4.1.5 Botulinumtoxin Seit Ende der 80er-Jahre ist es zu einem zunehmenden Einsatz von Botulinumtoxin auch in der Urologie gekommen. Die Indikationen erstrecken sich überwiegend auf die Detrusorhyperaktivität und seltener auf die Sphincter-externus-Dysfunktion. Die Wirkung, die auf einer präsynaptischen Hemmung der Acetylcholinfreisetzung beruht, erstreckt sich über einen Zeitraum von ca. 6–12 Monaten, sodass in der Regel wiederholte Anwendungen notwendig sind. Seit November 2011 ist Botox® zumindest bei Erwachsenen zur Behandlung neurogener Blasenfunktionsstörungen zugelassen. Das Verfahren selbst ist minimal-invasiv, wobei das Botulinumtoxin nach Aufbereitung via Zystoskopie endoskopisch mit einer Injektionsnadel zeilenweise in den Detrusor injiziert wird. Hierbei sollte das Trigonum wegen eines iatrogenen Refluxrisikos durch Paralyse der trigonalen Muskulatur ausgespart bleiben.

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Die Indikation zur Botox® -Therapie ergibt sich vor allem bei ungenügender Wirkung oder systemischen, nicht tolerablen Nebenwirkungen durch orale, resp. auch intravesikale Antimuskarinika. Als Kontraindikation einer Botulinumtoxin-Therapie (BTX) gelten vor allen Dingen generalisierte Störungen der Muskelaktivität wie z. B. bei Myasthenia gravis oder eine generalisierte Blutungsneigung. Der Therapieerfolg, der in der Literatur mit bis über 90 % angegeben wird, ist jedoch zweifellos von der Detrusorqualität abhängig und bei bereits fortgeschrittenem Umbau des Detrusors im Sinne einer Kollagenisierung und Fibrosierung nicht oder kaum mehr zu erwarten. Ein weiteres Problem kann durch Toleranzentwicklung infolge Antikörperbildung gegen Botulinumtoxin entstehen, insbesondere bei frühzeitigen und häufigen Reinjektionen mit zu kurzen Intervallen. Neben der Injektion in den Detrusor bei Hyperaktivität mit anschließender schlaffer Lähmung des Blasenmuskels in Kombination mit intermittierendem Einmalkatheterismus zur Blasenentleerung ist als weitere Option die Sphincter-externusDysfunktion als Indikation vor allem aus der Erwachsenenurologie bekannt. In Einzelfällen kann hier auch im Kindesalter eine Injektion geringer Mengen von Botulinumtoxin in den Sphincter externus entweder auf perinealem Zugangsweg oder transurethral zu einer gezielten Schwächung des Sphincter-externus-Bereichs führen, wobei die Gratwanderung zwischen Stressinkontinenz resp. persistierender Spastik infolge unzureichender Sphinkterrelaxation nur schwer steuerbar ist. Die empirisch gefundenen Dosierungen liegen für Botox® bei Kindern zur Relaxation des Detrusormuskels bei 5–12 U/kg Körpergewicht und einer Maximaldosis von 300 U sowie bei der seltenen Indikation im Bereich des Sphincter externus bei 1–2 U/kg und einer Gesamtdosis von 20–40 U Botox® . In der Regel – aber abhängig von Blasensensibilität und Alter des Kindes – kann dieses minimal-invasive Verfahren bei den Patienten mit Myelodysplasie ohne Narkose schmerzfrei durchgeführt werden, wobei sich in unserer Klinik eine sog. Standby-Bereitschaft durch einen Anästhesisten bewährt hat. Die Indikation für dieses nebenwirkungsarme, jedoch vergleichsweise aufwendige Verfahren hat sich überwiegend als Second-line-Therapieoption und sinnvolle Alternative etabliert, bevor definitive operative Maßnahmen wie eine Blasenaugmentation oder Harnableitung erwogen werden. Während die maximalen Detrusordrücke nach Botulinumtoxinbehandlung bei korrekter Indikation laut Literaturübersicht durchschnittlich auf mindestens die Hälfte gesenkt werden konnten, stieg die funktionelle Blasenkapazität um 50–100 % an und die Compliance der Blasenwand verbesserte sich gleichfalls um durchschnittlich 100 %. Außerdem ist bei geeigneter Indikation in den meisten Fällen mit einer wesentlichen Verbesserung der Kontinenzsituation nach Botox® -Injektion in den Detrusormuskel zu rechnen (Literatur zur Botox® -Therapie: [22–31]).

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5.4.4.1.6 Enterozystoplastik Bei extrem kleinkapazitären, hypertensiven Blasen oder nicht beherrschbarer neurogener Detrusorhyperaktivität kann sich eine Indikation zur Blasenaugmentation ergeben. Durch aufgesetzte detubularisierte und gebeutelte Darmsegmente aus Ileum oder Sigmaschleifen wird die Blase wesentlich vergrößert und vor allem in ein Niederdrucksystem umgewandelt, wobei auch eine initial bestehende Überaktivität weitgehend neutralisiert wird. Hier war es vor allem der intermittierende Katheterismus, der, als sichere und effektive Methode zur Blasenentleerung anerkannt, einer Blasenaugmentation und somit weitgehenden Ruhigstellung des Detrusors den Weg ebnete. Die früheren Formen einer Harnableitung wie das Ileum- oder Sigma-Conduit mit nassem Stoma sind heute nur noch für wenige weit fortgeschrittene und deletäre Situationen reserviert. Als bewährte Methode der Augmentation hat sich die sog. Clam-Patch-Zystoplastik durchgesetzt. Eine Alternative zur Augmentation mit Darmsegmenten stellt die sog. Autoaugmentation dar, bei der mindestens die kraniale Hälfte des Blasenmuskels unter Schonung der Blasenschleimhaut entfernt wird und somit der Blasenscheitel wie ein großes Divertikel nachgibt. Der Vorteil dieses Verfahrens liegt in der erhaltenen originären Blasenschleimhaut und somit fehlenden metabolischen oder sekretorischen Komplikationen. Nachteil ist bei ohnehin oft grenzwertig technischer Durchführbarkeit ein vielfach unzureichender Effekt bezüglich des Kapazitätsgewinns und der intravesikalen Drucksituation [32]. Im Gegensatz zur Clam-Zystoplastik mit Verwendung eines Darm-Patches zur Verbesserung der Blasensituation, vergleichbar einer Dehnungsfuge, ist eine PouchAugmentation der überwiegende Ersatz der Harnblase durch Darmschleifen, die detubularisiert, gegenläufig vernäht und zur Halbkugel umgeformt, auf die breit eröffnete oder subtotal resezierte originäre Blase aufgenäht werden, siehe Abb. 5.14 und 5.15. Trotz Detubularisation und geometrisch vorteilhafter Rekonstruktion der Darmanteile lässt sich eine Pouch-augmentierte Blase aber seitens der Peristaltik meist nicht vollständig dämpfen, insbesondere bei Verwendung von Sigmacolon. Als Faustregel gilt: Die Clam-Patch-Zystoplastik ist überwiegend bei Hyperaktivität des Detrusors indiziert, während eine Pouch-augmentierte Blase vor allem bei kleinkapazitärer Blase mit low compliance indiziert ist.

Trotz streng zu stellender Indikation zur Augmentation mit Darmanteilen darf die Entscheidung jedoch nicht zu spät gestellt werden, zumal im fortgeschrittenen Stadium mit weitgehender renaler Destruktion diese Ableitungsform wegen ihrer metabolischen Konsequenzen und Risiken kontraindiziert ist. Theoretisch kommt der Ureterozystoplastik, nämlich der Verwendung eines Megaureters als ideales Substrat zur Augmentation, eine besondere Bedeutung zu,

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(a)

(b)

(c)

(d)

Abb. 5.14: Blasenaugmentation. (a) Blase quer geöffnet; (b) Detubularisiertes Sigma zur Halbkugel vernäht; (c) Einnähen des Augmentates; (d) Fertige Augmentation.

(a)

(b)

Abb. 5.15: Blasenaugmentation (weiblich, 13 Jahre). (a) Kapazität vor OP < 15 ml; (b) Ein Jahr nach Blasenaugmentation bei kleinkapazitärer, hypertensiver Blase mit vesikoureteralem Reflux beiderseits.

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verbindet er doch die Vorteile verwendeten Urothels mit der guten Dehnbarkeit der dünnen Harnleitermuskulatur. Praktisch sind entsprechende Voraussetzungen mit ausreichendem Megauretervolumen bei gleichzeitig funktionsloser Niere allerdings selten.

5.4.4.1.7 Risiken und Komplikationen nach Augmentation mit Darmanteilen Operationen mit Verwendung von Darmanteilen (Darmersatzblasen, Blasenaugmentationen) sind mit typischen nichtchirurgischen Risiken und möglichen Langzeitfolgen verbunden, die eine spezielle Langzeitüberwachung auf Lebenszeit erforderlich machen [33–35]. Zwar spielen die Länge des verwendeten Darmanteils und die Art des Darms (Dünn- oder Dickdarm) eine Rolle; die angeführten Folgeerscheinungen betreffen aber prinzipiell alle Operationen mit Verwendung von Darm: – Schleimbildung, die insbesondere den intermittierenden Katheterismus behindern kann, – metabolische Azidose, die regelmäßige Blutgasanalysen und ggf. Substitution erforderlich macht [36], – symptomatische Harnwegsinfekte, – Steinbildung (begünstigt durch Infekte), – Vitamin-B12 -Mangel (bei Verwendung von Ileum), eine Spätfolge, die erst nach mehreren Jahren erkennbar ist [37, 38], – Risiko einer malignen Entartung als Spätfolge [39]. Empfehlung endoskopischer Kontrollen ab 5 bzw. 10 Jahren nach Augmentation.

5.4.4.2 Neurogene Detrusorhyperaktivität mit hypoaktivem Sphincter externus/Beckenboden (D+/U−) Die Kombination von Detrusorhyperaktivität mit einer hypoaktiven Sphincter-externus-Zone kann zu einer gewissen Hypertrophie und verminderter Compliance der Detrusorwand, sogar bis zum Risiko eines sekundären Harnaufstaus führen. Dieses Risiko ist jedoch insgesamt wegen des urethralen „Lecks“ viel geringer und der Verlauf ist weniger gefährlich. Klinisch steht daher die detrusor- und sphinkterbedingte Inkontinenz, meist mit dem Bild einer Durchlaufblase, im Vordergrund. Als therapeutisches Ziel sind gleichermaßen die Dämpfung des Detrusors und die Verbesserung des urethralen Verschlussmechanismus angezeigt. Bei frühzeitigem Behandlungsbeginn ist fast immer eine Pharmakotherapie zur Relaxation des Detrusors erfolgreich, die damit zwar oft auch die Inkontinenz bessert, aber das Sphinkterproblem nicht löst. Eine empfehlenswerte medikamentöse Therapie gibt es nicht, auch die endoskopische Blasenhalsunterspritzung mit periurethraler Applikationen von „bulking agents“ konnte die Erwartungen nicht erfüllen. Das heißt, dass zur Behebung einer Sphinkterinkompetenz meist invasivere Maßnahmen erforderlich sind. Zur Erhöhung des Auslasswiderstands kommen Blasen-

5.4 Neurogene Blase: konservative und operative Therapie | 211

halssuspensionstechniken oder Zügelplastiken infrage, die insbesondere in Kombination mit simultaner Augmentation und somit deutlich reduzierten intravesikalen Drücken Erfolgsaussichten von durchschnittlich etwa 80 % aufweisen. Faszienschlingenoperationen aus der Aponeurose der Rektusmuskulatur sind vor allem beim weiblichen Patienten oft die beste Wahl. Die Technik ist einfach und reduziert nicht die Blasenkapazität. Beim männlichen Patienten scheinen die Ergebnisse schlechter zu sein. Die besten Resultate sind erwartungsgemäß bei gleichzeitiger Augmentation der Blase zu erwarten. Langzeitergebnisse mit Erfolgsraten von fast 90 % werden in der Literatur berichtet [40–42]. Alternativ kann bei ausreichender funktioneller Blasenkapazität (primär oder sekundär nach Augmentation) und weiterhin persistierender Inkontinenz infolge mangelnden Sphinkterwiderstands die Implantation eines hydraulischen Sphinktersystems nach Scott indiziert sein und stellt bei korrekter Indikation insbesondere bei Knaben eine effektive Option dar [43–45]. Im Hinblick auf die anatomischen Größenverhältnisse und das Körperwachstum mit daraus resultierenden Korrektureingriffen sollte die Implantation eines Scott’schen Sphinkters jedoch nicht vor dem 14.–16. Lebensjahr, besser erst im frühen Erwachsenenalter empfohlen werden. Die operativen Maßnahmen zur Erhöhung des Auslasswiderstands sind allerdings nicht unproblematisch. Besonders bei originär erhaltener Blase (ohne Augmentation) besteht nach erfolgreicher Verbesserung des Blasenverschlussdrucks langfristig das Risiko einer zunehmenden „Neurogenisierung“ des Detrusors. Es kann zu gravierenden Veränderungen des Typs „Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie“ kommen. Eine zuvor areflexive Blase kann zur überaktiven Blase mit dem Risiko progredienter Veränderungen des oberen Harntraktes werden [46, 47]. Abhilfe kann hier die gleichzeitige Blasenaugmentation schaffen, allerdings dann meist mit dem Nachteil fehlender Spontanmiktion – und des wesentlich größeren Eingriffs. Die Indikation zur operativen Erhöhung des Blasenauslasswiderstands sollte nicht zuletzt aus diesem Grund streng und erst im (frühen) Erwachsenenalter gestellt werden. Für die Verschiebung auf einen Zeitpunkt jenseits der Pubertät spricht auch die Beobachtung, dass sich der Blasenauslasswiderstand durch Prostatawachstum bei männlichen und Östrogenisierung bei weiblichen Patienten in der Pubertät ändern kann [48]. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Behandlung der Harninkontinenz bei Sphinkterinsuffizienz eine Herausforderung bleibt. Eine Lösung kann nur individuell gefunden werden und hängt, neben korrekter Indikationsstellung, von der persönlichen Erfahrung des Arztes einerseits und den Wünschen und der Bereitschaft des Patienten andererseits ab.

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5.4.4.3 Detrusorhypoaktivität mit Hyperaktivität des Sphincter externus/Beckenbodens (D−/U+) Bei dieser Kombination führt die verminderte Aktivität des Detrusors in Verbindung mit einer Hyperaktivität des quergestreiften Sphinkters zu einer unregelmäßigen und ungenügenden Blasenentleerung mit Blasenüberdehnung und dem klinischen Bild der Überlaufinkontinenz. Dekompensation kann in seltenen Fällen zu sekundärem Aufstau des oberen Harntraktes führen. Die günstigen Detrusordruckverhältnisse mit weitgehend normo- oder hypotrophem Blasenmuskel lassen jedoch das Therapiekonzept vergleichsweise einfach gestalten. Der intermittierende Einmalkatheterismus ist hier klar indiziert und Methode der ersten Wahl. Die Kontinenz ist durch den hyperaktiven Sphinkter gegeben, ein unfreiwilliger Harnabgang wird zuverlässig verhindert. Dekompensierte Formen werden zunächst suprapubisch bis zur Kompensation entlastet und dann anschließend durch intermittierenden Katheterismus als Dauerlösung saniert.

5.4.4.4 Detrusorhypoaktivität mit Hypoaktivität des Sphincter externus/Beckenbodens (D−/U−) Die Normo- bis Hypoaktivität des Detrusors bei schlaffem, quergestreiftem Sphinkter ist in dieser Form lediglich ein Inkontinenzproblem und protegiert den oberen Harntrakt per se. Bei partieller Retention kann eine regelmäßige, häufige Blasenentleerung mittels Katheterisieren zur Erzielung einer Teilkontinenz beitragen. Höhergradige Kontinenzprobleme lassen sich nach persönlicher Erfahrung am ehesten durch ein artifizielles Sphinktersystem, wie z. B. nach Scott, frühestens ab dem Jugendalter, besser erst im jungen Erwachsenenalter ausreichend beeinflussen. Als Alternative kommen theoretisch auch die übrigen Verfahren in Betracht, wie sie im Kapitel 5.4.4.2 bereits beschrieben wurden. Vorteilhaft wirkt sich hier jedoch der normo- bzw. hypoaktive Detrusor aus. Die fehlende Hyperaktivität des Detrusors mit normalen Drücken ist die Basis günstiger Resultate, allerdings besteht auch hier langfristig das Risiko einer sekundären Neurogenisierung des Detrusors.

5.4.4.5 Ergänzende Therapieoptionen Neben den geschilderten funktionsorientierten Therapieformen müssen im Einzelfall noch weitere individuelle Handicaps Berücksichtigung finden, um eine gleichermaßen wirkungsvolle und auch praktikable Lösung zu finden. Als Beispiel sei hier die Anlage eines Mitrofanoff-Ventils trotz vorhandener katheterisierbarer Harnröhre mit ausreichendem Verschlussdruck bei bestimmten Patientinnen erwähnt, die als Rollstuhlfahrerinnen z. B. aufgrund einer Adipositas oder anderer Einschränkungen sonst für den intermittierenden Katheterismus immer auf Fremdhilfe angewiesen wären. Hier hat sich die Anlage eines kontinenten Appendix-

5.4 Neurogene Blase: konservative und operative Therapie | 213

stomas zur Entleerung der Harnblase (z. B. in Kombination mit einer Augmentation) bestens bewährt, wobei bei fehlender oder nicht verwendbarer Appendix alternativ auch ein Monti-Type-Procedure ähnlich gute Ergebnisse zeigt (Yang-Monti-Procedure als Appendixersatz aus detubularisiertem und durch quervernähter Retubularisierung rekonstruiertem schmalem Dünndarmring) [2, 49–51]. Das Risiko von Stomastenosen auf Hautniveau, wie es trotz aufwendiger Techniken nicht zuverlässig zu beherrschen war (z. B. VQZ-Technik nach Ransley), lässt sich in Form eines Nabelstomas, ggf. noch kombiniert mit einer kaudalwärts gerichteten Rotation des Nabels zur spannungsfreien Interposition der Appendix, funktionell und kosmetisch besser lösen [52]. Die wesentlich invasiveren Eingriffe wie vollständiger Blasenersatz aus Darm mit kontinentem Stoma, aber auch supravesikale nasse Harnableitungen bergen langfristig hohe Risiken und sind bei den heute zur Verfügung stehenden Methoden nur noch in seltenen Ausnahmefällen gerechtfertigt.

5.4.5 Zusammenfassung –

– –

– –

Frühe exakte Diagnostik und möglichst präsymptomatischer Therapiebeginn sind wichtige Voraussetzungen für den langfristigen Funktionserhalt von Nieren und Blase. Das Vermeiden einer sekundären Schädigung der Nieren und das Erreichen einer befriedigenden sozialen Kontinenz sind realistische Therapieziele. Regelmäßige lebenslange Kontrollen sind notwendig, um mögliche Veränderungen rechtzeitig zu erkennen (Wechsel des Blasentyps vor allem im Kindesalter möglich) und die Therapie zu steuern. Intermittierender Katheterismus und anticholinerge Therapie haben operative Maßnahmen zunehmend in den Hintergrund treten lassen. Blasenaugmentation, temporäre Blasenhautfistel, Faszienzügelplastik und artefizieller Sphinkter bleiben in ausgewählten Fällen und unter Berücksichtigung der Risiken Methoden der Wahl.

Für die Durchsicht des Manuskripts und wertvolle Hinweise danken wir Maria Bürst, Karin Hirsch und Johannes Urban.

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216 | 5 Neurogene Blasen- und Darmentleerungsstörung

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5.5 Harnwegsinfekte bei neurogener Blasenentleerungsstörung | 217

Johannes Urban

5.5 Harnwegsinfekte bei neurogener Blasenentleerungsstörung 5.5.1 Einleitung Bei Patienten mit einer neurogenen Blasenentleerungsstörung besteht ein erhöhtes Risiko für Harnwegsinfektionen. Febrile Harnwegsinfekte insbesondere bei gleichzeitig vorliegendem Reflux bergen das Risiko einer kortikalen Narbenbildung mit konsekutivem Nierenfunktionsverlust [1, 2]. Der Umgang mit einer Infektion der Harnwege bei Patienten mit neurogener Blasenentleerungsstörung ist auch in spezialisierten Zentren uneinheitlich [3, 4]. Konsens besteht lediglich in einer sofortigen antibiotischen Behandlung bei Fieber, Flankenschmerzen, Dysurie und verändertem Blasenverhalten. Eine asymptomatische Besiedlung der Harnwege bei Patienten ohne vesiko-ureteralen Reflux stellt nach dem heutigen Wissen keinen signifikanten Risikofaktor für das Entstehen von Nierenparenchymnarben dar und bedarf keiner antibiotischen Therapie [5].

5.5.2 Prinzipien der Behandlung Der Verdacht auf einen Harnwegsinfekt ergibt sich bei Patienten mit neurogener Blasenentleerungsstörung aus der Kombination einer manchmal untypischen klinischen Symptomatik in Kombination mit einem auffälligen Urinbefund. Eine Höhenlokalisation des Harnwegsinfekts ist meist anhand der vorliegenden Symptome und Laborparameter möglich (Tab. 5.11). Bei jedem Infektionsverdacht sollte frühzeitig eine Urinkultur angelegt werden, um resistente Keime zu erfassen und gezielt behandeln zu können. Tab. 5.11: Symptome einer Harnwegsinfektion bei Patienten mit Spina bifida. Befunde

Pyelonephritis

Zystitis

Leukozyturie

vorhanden

vorhanden

Fieber

> 38,5 °C

< 38,5 °C

CRP (mg/l)

> 20 mg/l

< 20 mg/l

Flankenschmerzen

vorhanden

nicht vorhanden

Sonografie

Zunahme Nierenvolumen Urothelzeichen Binnenechos im Nierenbecken Parenchymveränderungen

Nieren unauffällig Binnenechos in der Blase verdickte Blasenwand

Verändertes Blasenverhalten

vorhanden

vorhanden

218 | 5 Neurogene Blasen- und Darmentleerungsstörung

Bei fieberhaften Harnwegsinfektionen muss eine prompte antibiotische Therapie zur Verhinderung von Nierenparenchymnarben erfolgen (Tab. 5.12). Im Säuglingsalter sollte die Therapie wegen der Gefahr der Urosepsis initial parenteral erfolgen. Jenseits des Säuglingsalters kann je nach Klinik eine ambulante orale Therapie unter ärztlicher Überwachung erfolgen. Bei Durchbruchsinfekten unter einer antibiotischen Prophylaxe muss mit resistenten Keimen gerechnet werden. Besonders problematisch sind symptomatische Durchbruchsinfekte mit Pseudomonaden. Zur Vermeidung einer Hospitalisierung ist im Einzelfall und nach Aufklärung der Eltern eine orale Therapie mit Ciprofloxacin vertretbar. Tab. 5.12: Antibiotische Therapie bei Harnwegsinfekten (angelehnt an [6]). Erkrankung

Antibiotische Therapie

Dauer

Pyelonephritis (Säuglingsalter)

Cefotaxim 100 mg/kg/Tag in 3 ED Ampicillin 200 mg/kg/Tag in 3 ED Cefotaxim 100 mg/kg/Tag in 3 ED

4–7 Tage i.v, anschließend 7 Tage p.o. 10–14 Tage i.v.

Urosepsis (jedes Alter) Komplizierter HWI (= mit Fehlbildung)

Ampicillin 200 mg/kg/Tag in 3 ED Bei schwerkrankem Kind ggf. + Aminoglycosid

Pyelonephritis > 1. Lj. (unkompliziert)

Cefixim 10 mg/kg/Tag in 1–2ED p.o. ggf. initial Cefotaxim 100 mg/kg/Tag in 3ED i.v.

(7–)10 Tage i.v./p.o.

Zystitis

Nitrofurantoin 3–5 mg/kg/Tag 3 ED

3–5 Tage

TMP oder TMP/SMZ 5–6 mg/kg/Tag 2 ED Cefuroximaxetil 30 mg/kg/Tag 2 ED Cefaclor 50 mg/kg/Tag 3 ED Amoxicillin + Clavulansäure 20–60 mg/kg/Tag (Amoxicillinanteil) 3 ED Asymptomatische Bakteriurie

keine Therapie

5.5.3 Prophylaxe von Harnwegsinfektionen Rezidivierende symptomatische Harnwegsinfekte bei Patienten mit Spina bifida sind meist Ausdruck einer unzureichend therapierten neurogenen Blasenentleerungsstörung. Um die Infekthäufigkeit zu senken, stehen folgende Maßnahmen zur Verfügung: 1. Etablierung eines regelmäßigen sauberen Einmalkatheterismus: Bei unbehandelten Patienten werden eine Restharnbildung, erhöhte Miktionsdrücke bei Sphinkter-Detrusor-Dyssynergie und erhöhte Drücke in der Füllungsphase für

5.5 Harnwegsinfekte bei neurogener Blasenentleerungsstörung | 219

Infekte verantwortlich gemacht. Durch einen regelmäßigen sauberen Einmalkatheterismus ggf. in Kombination mit einer anticholinergen Therapie wird eine druckfreie Urinspeicherung und eine druck- und restharnfreie Blasenentleerung ermöglicht. Durch diese Maßnahme wird die Häufigkeit symptomatischer Harnwegsinfekte gesenkt, während die Häufigkeit einer asymptomatischen bakteriellen Besiedlung steigt [7]. 2. Optimierung der Katheterisierungstechnik: Von herausragender Bedeutung ist die restharnfreie Entleerung der Harnblase. Diese wird durch die Wahl einer an das Harnröhrenkaliber angepassten Kathetergröße sowie durch den langsamen Rückzug des unter Blasenniveau gehaltenen Katheters am Ende der Katheterisierung erleichtert. Bei Patienten mit vesicorenalem Reflux sollte die Entleerung des sekundären Restharns abgewartet werden. Gegebenenfalls ist bei fehlerhafter Katheterisierungstechnik eine erneute Schulung des Patienten bzw. seiner Betreuungspersonen anzustreben. Insbesondere bei Patienten mit hohem Auslasswiderstand ist zur Vermeidung einer Überdehnung der Harnblase die Etablierung einer nächtlichen Urindauerableitung zu erwägen. Koff [8] konnte in einer Studie an Kindern mit Meningomyelozele und Hochdruckblasen zeigen, dass eine nächtliche Harndauerableitung neben positiven Effekten auf eine Dilatation der oberen Harnwege, Blasencompliance und Blasenkapazität auch zu einer signifikanten Reduktion symptomatischer Harnwegsinfekte führt. Als Nachtkatheter wird entweder ein latexfreier Ballonkatheter oder ein Gel-Einmalkatheter verwendet. Nicht geeignet sind Katheter mit hydrophiler Beschichtung. Idealerweise erfolgt die Ableitung in ein geschlossenes Beutelsystem. Alternativ kann insbesondere bei stuhlkontinenten Patienten eine Ableitung direkt in die Windel erfolgen. 3. Optimierung der anticholinergen Therapie und der Katheterfrequenz nach urodynamischer Evaluation der Harnblase: Ziel ist eine möglichst druckarme Speicherung des Urins und die Verhinderung ungehemmter autonomer Kontraktionen. Diese Maßnahmen begünstigen die Maturation sekundärer Refluxe und senken damit das Risiko für fieberhaft symptomatische Harnweginsfekte. 4. Optimiertes Darmmanagement: Es gibt Hinweise in der Literatur, dass bei Patienten mit unauffälligem Harntrakt und rezidivierenden Harnwegsinfekten die alleinige Behandlung einer Obstipation zu einer Reduktion der Infekthäufigkeit führt [9, 10]. Eine retrograde Darmirrigation führt bei Kindern mit Darmentleerungsstörung und Harnwegsinfekten zu einer signifikanten Reduktion der Infekthäufigkeit [11]. Theoretisch sollte durch eine verbesserte Stuhlkontinenz durch ein optimiertes Darmmanagement die Infektionsrate positiv beeinflusst werden. Studien zu dieser Fragestellung bei Patienten mit neurogener Blasenund Mastdarmentleerungsstörung liegen jedoch nicht vor.

220 | 5 Neurogene Blasen- und Darmentleerungsstörung

Medikamentöse Prophylaxe Antibiotische Prophylaxe: Der Nutzen einer antibiotischen Prophylaxe bei Kindern mit rezidivierenden Harnwegsinfekten ist schlecht belegt [12]. In einer doppelblinden Placebo-kontrollierten Crossover-Studie bei Kindern mit neurogener Blasenentleerungsstörung fand sich eine Reduktion der Anzahl symptomatischer Harnwegsinfekte um 47 % unter Nitrofurantoin bei gleichzeitiger Zunahme der Besiedlung mit resistenten Keimen [13]. In einer von Morton et al. [14] publizierten Metaanalyse fand sich eine Verdoppelung der Inzidenz resistenter Keime unter antibiotischer Prophylaxe. Die Infektionshäufigkeit konnte durch die Prophylaxe nicht signifikant gesenkt werden. Die Überlegenheit einer antibiotischen Prophylaxe im Vergleich zur prompten Behandlung symptomatischer Harnwegsinfekte bei Kindern zur Verhinderung von Nierenparenchymnarben konnte bislang nicht belegt werden [15]. Bei Kindern mit neurogener Blasenentleerungsstörung sollte eine antibiotische Prophylaxe deshalb nur nach strenger Nutzen/Risikoabwägung eingesetzt werden. Die häufigsten Indikationen sind: Kinder < 1 Jahr, rezidivierende symptomatische Harnwegsinfekte trotz optimierten urologischen Managements, insbesondere bei persistierendem vesikorenalem Reflux. Die Prophylaxe wird üblicherweise in einer abendlichen Einmalgabe mit einem Drittel bis einem Fünftel der üblichen Tagesdosis verabreicht. Geeignete Antibiotika sind z. B. Nitrofurantoin, Trimethoprim oder Cefaclor (Tab. 5.13). Tab. 5.13: Antibiotische Prophylaxe. Antiinfektivum

Einmalige Tagesdosis (mg/kgKG)

Zulassung

Nitrofurantoin Trimethoprim Cefaclor

1(–2) 1(–2) 10

ab 3. Lebensmonat ab 6. Lebenswoche ab Geburt

Cranberryextrakt: Der Einsatz von Cranberrypräparaten in verschiedenen Darreichungsformen hat eine lange Tradition in der naturheilkundlichen Prävention und Behandlung von Harnwegsinfektionen. Verschiedene Eigenschaften dieser Präparate konnten in Zellkulturen nachgewiesen werden. Die in Cranberryextrakten enthaltenen Proanthocyanidine (PAC) scheinen in vitro und im Tierexperiment die Adhäsion von E.-coli-Bakterien mit Typ-1-Fimbrien aber auch mit p-Fimbrien an das Urothel zu verhindern [16–18]. Ein weiterer Wirkmechanismus scheint in der nahezu kompletten Hemmung der mannosespezifischen Bindungsfähigkeit von E.-coli-Bakterien an das Urothel zu liegen [18]. Vor dem Hintergrund einer weltweiten Zunahme von Antibiotikaresistenzen ist es in den letzten 10 Jahren zu einer enormen Verbreitung dieser Behandlungsoption gekommen. Noch 2007 wurde in einer Cochrane-Analyse eine klinische Wirksamkeit von Cranberry in der Prophylaxe von Harnwegsinfekten bei Frauen postuliert. Eine aktualisierte Metaanalyse der verfügbaren klinischen Stu-

5.5 Harnwegsinfekte bei neurogener Blasenentleerungsstörung | 221

dien (Cochrane-Review 2012) kommt jedoch zu dem Schluss, dass zum jetzigen Zeitpunkt keine ausreichende Evidenz zur Verabreichung von Cranberrypräparaten zur Prophylaxe und Therapie von Harnwegsinfekten vorliegt [19]. Insbesondere bei Kindern mit einer neurogenen Blasenentleerungsstörung bei Spina bifida konnte kein statistisch relevanter Unterschied zwischen der Behandlungsgruppe und der PlaceboGruppe gezeigt werden [20, 21]. Problematisch bei der langfristigen Verabreichung von Cranberrysaft war in allen Studien der adstringierende Geschmack und die damit häufig verbundenen Complianceprobleme. Die auf dem Markt vorhandenen Cranberryextrakte in Tabletten- oder Kapselform zeigen eine z. T. mangelhafte Deklaration der Proanthocyanidkonzentration. Bei Erwachsenen wird eine PAC-Dosierung von mindestens 2 × 36 mg/Tag als möglicherweise wirksam erachtet [22]. Es existieren keine Dosisfindungsstudien für pädiatrische Patienten. Urinansäuerung: L-Methionin ist eine schwefelhaltige Aminosäure, deren Abbau zur Freisetzung von H-Ionen führt. Die dadurch erzielte Urinansäuerung wirkt bakteriostatisch. Fünfstück [23] konnte zusätzlich eine pH-unabhängige Verminderung der bakteriellen Adhärenzfähigkeit am Uroepithel nachweisen. Bei Patienten mit neurogener Blasenentleerungsstörung konnte ein Nutzen im Rahmen von Studien bislang nicht belegt werden. Im Einzelfall kann eine Urinansäuerung in einer Dosis von 3 × 500 mg/Tag und einem Ziel-pH 5 erwogen werden. Vorsicht ist beim Einsatz bei Patienten mit Niereninsuffizienz und eingeschränkter Urinansäuerungsfähigkeit geboten. Regelmäßige Kontrollen des Säure-Basen-Haushalts sind hier obligat.

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5.6 Die neurogene Darmentleerungsstörung |

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Elisabeth Strehl

5.6 Die neurogene Darmentleerungsstörung 5.6.1 Einleitung Die neurogene Darmentleerungsstörung, die sich als Obstipation und/oder Inkontinenz manifestiert, gehört zu den häufigsten Problemen im Zusammenhang mit einer Spina bifida. Trotz der gravierenden Auswirkungen auf Wohlbefinden, soziale Integration und Lebensqualität der Betroffenen [1–3], erfährt sie in der interdisziplinären Betreuung oft nicht die Beachtung, die ihrer Bedeutung entspricht. Von Anfang an, d. h. beginnend im Säuglingsalter, sollte der Darm und seine Problematik einen festen Platz im Themenkatalog der multidisziplinären Sprechstunde haben. Es ist wichtig, dieses Thema aktiv anzusprechen, weil für Eltern erfahrungsgemäß zunächst andere Fragen im Vordergrund stehen und weil ältere Kinder und Jugendliche das Thema am liebsten vermeiden möchten. Die Inhalte der Beratung hängen naturgemäß sehr stark vom Alter des Kindes und von individuellen Fragestellungen und Bedürfnissen ab. In den ersten Lebensjahren geht es ausschließlich darum, der Entwicklung einer chronischen Obstipation entgegenzuwirken. Später steht meist der Umgang mit der unzureichenden Kontrolle über die Entleerung, d. h. die Inkontinenz, im Vordergrund. Bei älteren Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen ist es häufig wichtig, eine bereits eingetretene Resignation („das ist bei mir eben so“) zu erkennen und eine therapeutische Perspektive aufzuzeigen.

5.6.2 Grundlagen Die neurogene Darmentleerungsstörung betrifft hauptsächlich den Enddarm, d. h. Rektum und Anus. Das Rektum dient der Aufnahme des zur Entleerung anstehenden Stuhls und seinem Transport, während der Analkanal als Kontinenzorgan für die Kontrolle über die Ausscheidung zuständig ist. Komponenten der normalen Funktion sind: – Peristaltik, – Sensibilität für Füllung/Dehnung des Rektums, – reflektorische Aktivität des Sphincter internus (in Ruhe geschlossen, Öffnung bei Füllung der Ampulle), – Diskriminierungsfähigkeit für fest/flüssig/gasförmig, – willkürliche Betätigung des externen Sphinkters/Beckenbodens. Die Innervation wird vom Sakralmark (S2–S4) gesteuert, sodass die ganz überwiegende Zahl von Patienten mit Spina bifida von einer Funktionsstörung betroffen ist.

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Als Folge treten vor allem zwei Symptome auf, in individuell unterschiedlicher Ausprägung und Kombination: – eine Entleerungsstörung, fast immer im Sinne einer Obstipation, – eine Störung der Kontinenz. Die Obstipation hat häufig eine zweite Komponente im Sinne einer allgemeinen Darmträgheit, die durch Bewegungsmangel, zu geringe Flüssigkeitszufuhr und ungünstige (ballaststoffarme) Ernährung begünstigt wird.

5.6.3 Anamnese Als Grundlage der Beratung werden genaue Angaben benötigt zu Stuhlfrequenz und -beschaffenheit, Ernährungsgewohnheiten und täglicher Trinkmenge sowie zu den aktuellen Methoden der Darmentleerung, evtl. auch zu früheren Erfahrungen mit anderen Methoden. Ebenso wichtig sind Informationen über Kontinenz/Inkontinenz, über die Häufigkeit ungewollten Stuhlabgangs und/oder Stuhlschmierens und über den Gebrauch von Inkontinenzhilfen (Windeln, Vorlagen, evtl. Analtampons). Medikamente, die die Stuhlbeschaffenheit oder die Entleerung beeinflussen können, wie z. B. Antibiotika oder Anticholinergika, sollten erfragt werden. Wichtig ist aber auch zu erfahren, welche Wünsche und Erwartungen Eltern und Betroffene haben und wie groß die Bereitschaft ist, etwas zu verändern.

5.6.4 Diagnostik Eine sorgfältige klinische Untersuchung mit Palpation des Abdomens, Inspektion der Analregion, Prüfung des Analreflexes und rektal-digitaler Untersuchung zur Beurteilung des Sphinktertonus, des Füllungszustands der Ampulle und ggf. der aktuellen Stuhlbeschaffenheit ist fast immer zur Beurteilung ausreichend. In manchen Fällen ist eine Röntgenaufnahme des Abdomens hilfreich, um das Ausmaß einer Obstipation genauer einzuschätzen. Manometrische Untersuchungen haben zwar wesentlich zum Verständnis der neurologischen Situation beigetragen [4], sind im klinischen Alltag aber selten erforderlich und erleichtern das therapeutische Vorgehen nicht. Auch ein Kontrasteinlauf ist nur in Ausnahmefällen indiziert.

5.6.5 Therapeutische Optionen Fast jeder Patient mit Spina bifida benötigt ein auf seine individuelle Situation zugeschnittenes Programm, um sowohl die Obstipation als auch die Inkontinenz bestmöglich zu kontrollieren. Oft ist eine längere Versuchsphase mit verschiedenen Me-

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thoden, evtl. auch eine Kombination mehrerer Methoden erforderlich, um zum Erfolg zu gelangen. Der Schwerpunkt der folgenden Darstellung liegt auf der Behandlung der Obstipation, weil eine erfolgreiche Behandlung dieses Problems gleichzeitig die wichtigste Voraussetzung zur Beherrschung der Inkontinenz ist. Ziel der Behandlung ist eine regelmäßige kontrollierte Darmentleerung, täglich bis spätestens alle 3 Tage und kein ungewollter Stuhlabgang (auch kein Stuhlschmieren) zwischendurch. Alle Maßnahmen müssen auf die jeweilige Situation einer Familie und des Patienten abgestimmt und in deren Alltag integrierbar sein. Dies bezieht sich vor allem auf räumliche und zeitliche Voraussetzungen, aber auch auf eine gefühlsmäßige Akzeptanz der Methode. Erfolgversprechend ist eine Methode vor allem dann, wenn sie sehr konsequent und regelmäßig, möglichst immer zur selben Uhrzeit angewendet werden kann.

5.6.5.1 Therapie der Obstipation 5.6.5.1.1 Ernährung und Flüssigkeitszufuhr Eine gesunde ballaststoffreiche Ernährung und ausreichende Flüssigkeitszufuhr sind die prinzipiell sinnvolle Grundlage jeder Therapie einer Obstipation und zielen vor allem auf die nichtneurogene Komponente der Obstipation (verzögerte Dickdarmpassage). Sie sind als unterstützende Maßnahmen sehr empfehlenswert, aber selten allein ausreichend. Liegt allerdings eine schwere Obstipation, möglicherweise sogar mit einem Megacolon vor, ist eine ballaststoffreiche Ernährung so lange kontraindiziert, bis sich nach einer gründlichen Entleerung (Desimpaktion) ein regelmäßiger Entleerungsrhythmus eingespielt hat [5].

5.6.5.1.2 Einüben einer regelmäßigen Entleerung (sog. Toilettentraining) Wenn immer möglich, sollte versucht werden, den Darm frühzeitig an regelmäßige Entleerungszeiten zu gewöhnen, am besten ca. 30 Minuten nach einer Mahlzeit unter Ausnutzung des gastrocolischen Reflexes. Es ist sinnvoll, dieses Einüben zumindest zu Beginn durch entleerungsfördernde Zäpfchen (s. u.) zu unterstützen [6]. Langfristig kann diese Methode dann erfolgreich sein, wenn eine Entleerung mittels Bauchpresse gelingt und eine gewisse Sensibilität für die Füllung des Enddarms vorhanden ist. Je früher diese Maßnahme eingeübt wird, desto größer sind ihre Erfolgschancen. King et al. fanden, dass die Bereitschaft zur Mitarbeit und der Erfolg deutlich besser waren, wenn das Training bis zum Alter von 6 Jahren begonnen wurde [7].

5.6.5.1.3 Orale Medikamente Die meisten oralen Laxantia sind nur für den kurzzeitigen Gebrauch bestimmt und haben zusätzlich den Nachteil, dass der Wirkungseintritt zeitlich nicht ausreichend steuerbar ist. Sie kommen für die meisten Patienten nicht infrage, weil sie eine Inkontinenzproblematik eher verstärken. Dennoch gibt es in dieser Gruppe zwei wichtige

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und hilfreiche Substanzen, die beide auch langfristig angewendet werden können: Lactulose und Macrogol (z. B. Movicol® ). Bei beiden Medikamenten kann durch individuelle Dosierung die Stuhlkonsistenz in gewünschter Weise „gesteuert“, d. h. der Obstipation entgegengewirkt werden. Sie können eingesetzt werden, wenn prinzipiell eine willkürliche Entleerung mit der Bauchpresse möglich ist oder auch in Verbindung mit anderen Maßnahmen, z. B. der Enddarmspülung. Macrogol ist in höherer Dosierung auch sehr gut geeignet, bei ausgeprägter chronischer Obstipation zu Beginn der Therapie den Darm gründlich zu entleeren.

5.6.5.1.4 Transanale Maßnahmen Alle Maßnahmen, die „von unten“, also durch den After angewendet werden, haben den Vorteil der guten zeitlichen Steuerung. Sie sind daher grundsätzlich empfehlenswert für alle Patienten, bei denen gleichzeitig Obstipation und Inkontinenz zu behandeln sind. Handschuhe und alle sonst verwendeten Materialien müssen selbstverständlich strikt latexfrei sein! Im Einzelnen geht es um – Stimulierung und Dehnung des Afters durch Fieberthermometer (Säuglinge) oder Finger. – digitales Ausräumen des Enddarms, – Anwendung von entleerungsfördernden Zäpfchen oder Mini-Klistieren, – retrograde (transanale) Enddarmspülungen. Die digitale Dehnung des Afters kommt vor allem bei einem spastischen Sphinkter zum Einsatz. Das manuelle Ausräumen war mangels anderer Methoden früher gebräuchlicher als heute. Nachteilig ist – neben ästhetischen Einwänden – die meist vorhandene Abhängigkeit von Fremdhilfe. Außerdem kann nur der unterste Teil des Enddarms entleert werden, sodass die nachteiligen Folgen einer Obstipation (Völlegefühl, Appetitlosigkeit) nicht beseitigt werden, oft auch weiterhin Inkontinenz besteht. Unter den entleerungsfördernden Zäpfchen steht für uns Lecicarbon® an erster Stelle. Durch Gasbildung wird ein Dehnungsreiz auf den Enddarm ausgeübt. Bei gutem Sphinktertonus ist ein Versuch empfehlenswert, weil einige Patienten allein mit dieser Maßnahme eine regelmäßige, zeitlich gut kontrollierte und ausreichende Entleerung haben. Als wichtigste Methode ist die retrograde Enddarmspülung zu nennen, deren gute Wirksamkeit bei relativ geringen Nebenwirkungen in zahlreichen Studien bestätigt wird [8–13]. Zur Durchführung stehen verschiedene Systeme zur Verfügung. Die Spülflüssigkeit gelangt entweder schwerkraftabhängig aus einem aufgehängten Beutel über einen Schlauch in den Enddarm oder wird – wie beim Peristeen® -System – mit einer Handpumpe über einen Ballonkatheter eingebracht. In besonderen Fällen

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kann auch eine elektrische Pumpe (Braun Irrimatic R) verwendet werden. Gegenüber dem einfachen Beutelsystem hat das Peristeen® -System den großen Vorteil, dass es leichter auch ohne Fremdhilfe angewendet werden kann. Die Spülung sollte im Sitzen auf der Toilette erfolgen. Bei eingeschränkter Sitzfähigkeit ist ein Toilettenaufsatz oder ein Toilettenstuhl erforderlich. Über einen Konus oder einen Ballonkatheter wird körperwarmes Leitungswasser (evtl. auch physiologische Kochsalzlösung) in den Enddarm geleitet und führt zu einer Entleerung der unteren Darmanteile. Als Spülflüssigkeit wird überwiegend Leitungswasser verwendet [12, 14, 15]. Systematische Elektrolytkontrollen zeigten keine nachteiligen Effekte [12, 14]. Dies ist bei den empfohlenen Mengen (10–20 ml/kg KG bis maximal 1.000 ml) auch nicht zu erwarten, sodass als Standard die Verwendung von Leitungswasser empfohlen werden kann. Bei Problemen (wie z. B. Bauchschmerzen) kann aber auch physiologische Kochsalzlösung probiert werden. Nach eigener Erfahrung ging dann allerdings in einigen Fällen der Entleerungseffekt verloren, weil die Flüssigkeit offenbar rasch vom Körper aufgenommen wurde und kein Spüleffekt stattfand. Bis zum Erreichen einer guten Darmentleerung muss die Spülung anfangs täglich durchgeführt werden, dann sind meist 2-tägige Intervalle ausreichend. Für die überwiegende Mehrzahl der Patienten ist der Erfolg im Hinblick auf Obstipation und Kontinenz überzeugend [9, 10, 16]. Als Nachteil wird von den Anwendern vor allem der relativ große Zeitaufwand (30–60 Minuten) angegeben, außerdem doch in vielen Fällen die Abhängigkeit von einer Hilfsperson, die durch das Peristeen® -System aber verringert werden kann [10].

5.6.5.1.5 Antegrade Darmspülung (MACE-Procedure) Malone beschrieb 1990 eine Methode, durch ein operativ angelegtes Darmstoma (unter Verwendung der von der Blase bekannten Mitrofanoff-Technik) mithilfe von regelmäßigen antegraden Darmspülungen Obstipation und Inkontinenz bei Kindern mit Spina bifida zu behandeln [17, 18]. Die Methode wird als „MACE (oder ACE) procedure“ bezeichnet: (Malone) Antegrade Continence Enema. Die in Follow-up-Studien [19–21] beschriebenen Ergebnisse sind gut bezüglich der Kontinenz (ca. 80 %), der Zeitaufwand ist ähnlich wie für die retrograde Spülung. Oft (in 17 bis zu 40 %) ist jedoch mit Komplikationen, vor allem Stomastenosen, zu rechnen, die z. T. einer operativen Revision bedürfen. Die bessere Chance für Selbstständigkeit bei der Darmentleerung war lange Zeit ein wesentliches Argument für das operative Vorgehen [15]; seit für die retrograde Spülung das Peristeen® -System zur Verfügung steht, ist dieser Unterschied offenbar nicht mehr signifikant [22]. Die Operation bleibt eine Option, wenn alle konservativen Methoden nicht zu einem befriedigenden Erfolg geführt haben. Allerdings gibt es Langzeituntersuchungen, die zeigen, dass längst nicht alle Patienten dauerhaft von der Operation profitie-

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ren: Nach durchschnittlich 5,5 Jahren benutzten 18 % der Patienten eines Zentrums das Stoma nicht mehr [19], nach durchschnittlich 11 Jahren waren es sogar 40 % [23].

5.6.5.2 Sonderfall Diarrhö Eine echte Diarrhö ist ausgesprochen selten. Häufig verbirgt sich dahinter eigentlich eine Obstipation, die zu einer Überlaufinkontinenz von sekundär (bakteriell) verflüssigtem Stuhl geführt hat. Oft ist auch Stuhlschmieren so zu erklären. Bei manchen Patienten mit chronischer Obstipation finden in größeren Abständen, aber mit gewisser Regelmäßigkeit, massive durchfällige Entleerungen statt, die durch Behandlung der Obstipation verschwinden. Andere Ursachen können Infektionen, Nahrungsmittelunverträglichkeiten oder Medikamentennebenwirkungen sein; nicht zuletzt ist auch an psychogene Ursachen, z. B. Stress oder Angst, zu denken [5]. Eine therapeutische Beeinflussung kann durch eine ballaststoffarme Ernährung versucht werden; nach Infektionen und/oder Antibiotikatherapie kann eine Beeinflussung der Darmflora erfolgreich sein. In seltenen Fällen kommt eine vorsichtige Behandlung mit Loperamid (z. B. Imodium® ) infrage.

5.6.5.3 Zusätzliche Maßnahmen zum Erreichen einer sog. sozialen Kontinenz Unter „sozialer Kontinenz“ (z. T. auch Pseudokontinenz genannt) versteht man einen Zustand, bei dem mithilfe geeigneter Maßnahmen nie oder nur sehr selten ungewollter Stuhlabgang oder Stuhlschmieren auftritt (d. h. nicht mehr als 1 × Monat). Es kann nicht genug betont werden, dass eine erfolgreiche Behandlung der Obstipation fast immer schon der wichtigste Schritt auf dem Weg zum Erreichen einer sozialen Kontinenz ist. Vor allem Patienten mit herabgesetztem Schließmuskeltonus (häufig Patienten mit guter motorischer Funktion, d. h. mit sakralem Lähmungsniveau, die vor allem bei körperlicher Aktivität ungewollt Stuhl verlieren) haben nur eine Chance, wenn der Enddarm möglichst vollständig leer ist. Bei unwillkürlichem Stuhlabgang trotz erfolgreich behandelter Obstipation kommen Analtampons als zusätzliches Hilfsmittel infrage. Form und Größe sollten nach rektal-digitaler Untersuchung individuell ausgesucht (und ausprobiert) werden; ihre Anwendung ist nur sinnvoll bei weitgehend entleertem Enddarm; häufig ist ein zusätzliches Verkleben des Afters notwendig, um ein Herausrutschen zu vermeiden. Manche Patienten benutzen Analtampons zur Sicherung der Kontinenz nur in bestimmtem Situationen (Schulvormittag, Fortgehen, Schwimmen). Leider ist dieses an sich gute Hilfsmittel häufig wirkungslos bei den schon erwähnten Patienten mit tiefem Lähmungsniveau und herabgesetztem Schließmuskeltonus, weil sie auch den Tampon bei körperlicher Aktivität verlieren. Insgesamt gilt auch für die Anwendung von Analtampons, dass ihr Erfolg umso wahrscheinlicher ist, je besser die Obstipation beherrscht ist – sie können und dürfen eine Behandlung der Obstipation nicht ersetzen [24]!

5.6 Die neurogene Darmentleerungsstörung |

229

Biofeedback-Training wurde auch bei Spina-bifida-Patienten versucht, hat aber kritischen Überprüfungen nicht standgehalten. Eine Studie mit EMG-Kontrollen belegt die Unwirksamkeit bei neurogen bedingter Darminkontinenz [25].

5.6.6 Schluss Das Ziel einer guten sozialen Kontinenz wird je nach Studie und Patientenkollektiv in 70–80 % erreicht [26–28]. Die Erfahrung hat jedoch gezeigt, dass für den einzelnen Patienten nicht nur der Erfolg im Hinblick auf die Kontinenz zählt, sondern Zeitbedarf und Selbstständigkeit eine große Rolle spielen. Nur wenn diese Faktoren – in individuell unterschiedlicher Gewichtung – berücksichtigt sind, wird eine Methode auch langfristig praktikabel sein. Ein wichtiger Aspekt soll am Schluss stehen: Mehrere Studien weisen darauf hin, dass ein erfolgreiches Darmmanagement eine kontinuierliche (lebenslange) Beratung und Unterstützung voraussetzt. Wenn dies nicht gewährleistet ist, werden Therapieprogramme oft vernachlässigt oder ganz aufgegeben [28, 29]. Besonders gravierend erscheint ein Bruch in der Kontinuität und der oft vollständige Verlust einer interdisziplinären Betreuung beim Übergang ins Erwachsenenalter [23], wodurch viele bis dahin erreichte Erfolge infrage gestellt werden – natürlich nicht nur im Hinblick auf das Darmmanagement.

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Sabine Kühl

5.7 Aufgaben der Pflege bei Inkontinenz und Dekubitus 5.7.1 Einleitung Die Kombination von Inkontinenz und Sensibilitätsstörungen stellt besonders hohe Anforderungen an die Pflege der Spina-bifida-Patienten. Für Patienten und Angehörige besteht in allen Lebensaltersstufen ein großer Bedarf an fachlich qualifizierter und spezialisierter Beratung und Behandlung durch eine Pflegefachkraft, die in einem Team zur Langzeitbetreuung einen festen Platz haben sollte. Eine möglichst große personelle Konstanz hilft, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen und Erfahrungen nutzbar zu machen. Folgende Bereiche gehören zum Aufgabengebiet der Pflege: – Beratung über geeignete Hilfsmittel bei Inkontinenz (Urin- und/oder Stuhlinkontinenz), – Schulung des Einmalkatheterismus, – Anleitung und Beratung zu Techniken der Darmentleerung, – Ernährungsberatung, – Prophylaxe und Behandlung von Dekubitalulzera.

5.7.2 Inkontinenz 5.7.2.1 Allgemeines zur Hilfsmittelversorgung bei Inkontinenz Ziel der Beratung ist eine individuelle Versorgung, bei der sich der Patient sicher fühlen soll ohne überversorgt zu sein. Inkontinenzhilfsmittel sind bei neurogener Blasen- und Darminkontinenz grundsätzlich verordnungsfähig, bei Kleinkindern spätestens ab 3 Jahren. Die Verordnung muss bei der Krankenkasse eingereicht und genehmigt werden. Bei Erstverordnung ist immer eine ausführliche ärztliche Begründung notwendig. Jede Verordnung muss neben der Diagnose die individuell erforderliche Menge (Tages- bzw. Monatsbedarf) möglichst genau angeben. Die Pflegefachkraft sollte für die Auswahl eines Produkttyps (z. B. Einmalwindeln, Höschenwindeln, Inkontinenzeinlagen verschiedener Größe und Stärke) einen Überblick über die Produktpalette haben und möglichst auch typische Produkte als Beispiel zeigen können. Für die Bemusterung zur individuellen

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Erprobung ist dann eher die jeweilige Lieferfirma zuständig, die Vertragspartner der Krankenkasse sein muss. Durch Verträge der Krankenkassen mit bestimmten Anbietern ist die Wahlmöglichkeit u. U. erheblich eingeschränkt; jeder Patient hat jedoch Anspruch auf eine angemessene Qualität des Hilfsmittels, dazu gehören insbesondere eine gute individuelle Passform und vor allem auch eine gute Hautverträglichkeit. Für männliche Patienten kommt in einzelnen Fällen auch eine Versorgung mit einem Kondomurinal infrage. Bei Stuhlinkontinenz gibt es die Möglichkeit der Versorgung mit Analtampons aus verschiedenen Materialien. Die Auswahl von Form und Größe dieser Tampons muss in enger Zusammenarbeit zwischen Patienten/Eltern und behandelndem Arzt erfolgen. Wichtig ist, dass trotz Versorgung mit Analtampons dringend auf eine regelmäßige Stuhlentleerung geachtet wird. Analtampons sind eine empfehlenswerte Teilversorgung für Patienten, um z. B. mehr Sicherheit in der Schule, beim Sport oder Schwimmen zu erlangen.

5.7.2.2 Blase 5.7.2.2.1 Anleitung zum intermittierenden (Selbst-)Katheterismus Als wichtigste Behandlungsmöglichkeit der neurogenen Blase hat sich seit mehr als 3 Jahrzehnten der intermittierende (Selbst-)Katheterismus der Blase erwiesen; entsprechend gehört die Anleitung von Eltern oder Patienten zum intermittierenden Katheterismus (IK) oder intermittierenden Selbst-Katheterismus (ISK) zu den wesentlichen pflegerischen Aufgaben. In vielen Zentren wird der IK bereits kurz nach der Geburt begonnen; dennoch ist es keine Seltenheit, dass die Indikation auch erst zu einem späteren Zeitpunkt gestellt wird. Wenn die medizinische oder soziale Notwendigkeit zum Katheterisieren vorliegt, wird dies vom behandelnden Arzt im differenzierten Gespräch erläutert. Viele Eltern und Patienten sind erst einmal stark verunsichert, auch wenn das Thema Katheterismus den meisten nicht ganz fremd ist. Hier kann das Gespräch mit der Pflegekraft entscheidend dazu beitragen, offene Fragen zu besprechen und Ängste und Zweifel abzubauen. Eventuell ist die Vermittlung einer Kontaktfamilie hilfreich oder der Einsatz von Infomaterial in Form einer DVD. Ist die Entscheidung gefallen, wird bei einem ambulanten Termin zunächst die passende Kathetersorte und -größe (Länge und Außendurchmesser in Charriere) bestimmt. Hier ist es wichtig, über das vielfältige Angebot an Kathetermaterial informiert zu sein, das auf dem Markt ist, um eine individuelle Versorgung wählen zu können. Es gibt hochwertige Katheter von verschiedenen Herstellern; für die definitive Auswahl sind die konkreten individuellen Bedürfnisse und nicht zuletzt die Handhabung entscheidend. So gibt es Katheter mit integriertem Auffangsystem für das Katheterisieren unterwegs, Katheter mit Luer-Lock-Ansatz für das Instillieren von Medikamenten in die Blase und spezielle besonders diskrete Katheter für Mädchen

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und Frauen. Manchmal ist es sinnvoll, für einen Patienten je nach Bedarf zwei verschiedene Kathetertypen nebeneinander zu verwenden. Die Anleitung von Eltern ist nach unserer Erfahrung gut im Rahmen eines oder mehrerer ambulanter Termine möglich. Das Kind wird einmal im Beisein der Eltern katheterisiert und dabei jeder einzelne Schritt erläutert. Unmittelbar danach machen die Eltern unter detaillierter Anleitung selber den ersten Versuch. Die weitere Schulung von Eltern erfolgt abhängig von Standortvorgaben, entweder bei ambulanten Terminen oder – falls die Möglichkeit besteht – im Rahmen von Hausbesuchen. Aus unserer Erfahrung haben Hausbesuche mehrere Vorteile. Sie ergeben ein genaueres Bild der familiären Situation, die Atmosphäre ist meist viel entspannter, sodass Eltern und Patienten auch leichter über Ängste und offene Fragen reden können. Gleichzeitig können technische und praktische Probleme dort gelöst werden, wo das Katheterisieren dann gut in den Tagesablauf eingegliedert und mit möglichst geringem Zeitaufwand durchgeführt werden soll. Da die Kinder in der Regel 4- bis 5-mal täglich katheterisiert werden müssen und auch Kindertagesstätten und Schulen besuchen, muss abgeklärt werden, wer das Katheterisieren dort übernimmt. Falls sich kein Erzieher, Betreuer oder Lehrer bereit erklärt, diese Aufgabe zu übernehmen, sollte über den Einsatz eines ambulanten Pflegedienstes das Katheterisieren sichergestellt werden. Die Anleitung von Kindern und Jugendlichen zum Selbst-Katheterismus ist in der Regel zeitaufwendiger und braucht vor allem eine längere Übungsphase. Auch hier sind – soweit möglich – Hausbesuche empfehlenswert. Mancherorts werden spezielle Seminare zum Erlernen des Selbst-Katheterismus angeboten, die den großen Vorteil haben, dass neben den Pflegefachkräften auch Selbstbetroffene an der Anleitung und Motivation mitwirken und eigene Erfahrungen weitergeben können. Für viele Kinder und Jugendliche ist es auch sehr hilfreich zu erleben, dass sie mit ihrem Problem nicht allein sind. Die Anleitung erfolgt entsprechend der aktuellen AWMF-Leitlinie [1]. Die Prinzipien des aseptischen Katheterismus, die in Kliniken unbedingt beachtet werden sollten, können im häuslichen Bereich im Sinne des hygienischen (sauberen) Katheterismus gelockert werden. Allerdings sollten nur sterile Katheter verwendet und der einzuführende Katheteranteil nicht mit den Händen berührt werden. Sterile Handschuhe sind nicht erforderlich. Eine Schleimhautdesinfektion mit z. B. Octenisept® wird vor allem in der Lernphase empfohlen, kann erfahrungsgemäß aber im weiteren Verlauf oft ohne Nachteil weggelassen werden. Folgende Materialien kommen zum Einsatz: – Wasser und Seife, – steril verpackte Einwegkatheter, – sterile Kompressen, – Schleimhautdesinfektionsmittel/steriles Wasser, – evtl. Urinauffanggefäß.

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Vorbereitung und Durchführung geschieht in dieser Reihenfolge: – Hände mit Wasser und Seife waschen, – Katheter vorbereiten (je nach Kathetersorte evtl. Gleitmittel oder sterile Benetzungsflüssigkeit zugeben), – sterile Kompresse gut anfeuchten (Wasser oder Desinfektionsmittel), – Reinigung des Genitale mit den sterilen Kompressen, – Einführen des Katheters in die Harnröhre; dabei den einzuführenden Katheteranteil nicht berühren und nirgends anstoßen (z. B. Windel, Toilettenbecken usw.), – Katheter sanft vorschieben, bis Urin läuft. Nicht mit Gewalt oder gegen einen Widerstand einführen. – Wenn kein Urin mehr aus dem Katheter läuft, diesen erst langsam, dann zügig entfernen. – Wichtig: auf eine geeignete Lichtquelle achten! Neben der Klärung der technischen und praktischen Probleme muss ganz dringend über die Wahrung der Intimsphäre des Kindes gesprochen werden. Das Katheterisieren ist, solange der Patient es nicht allein vollziehen kann, ein erheblicher Eingriff in seine Intimsphäre. Deshalb ist Sensibilität bei der Wahl der Personen, die katheterisieren und die Auswahl der Örtlichkeit sehr wichtig. Die Frage, wie lange ein Vater seine Tochter, oder eine Mutter ihren Sohn katheterisiert, sollte ebenfalls erörtert werden. Trotz all dieser vielen Aspekte zeigt die Erfahrung, dass Patienten oder Eltern das Katheterisieren recht schnell sicher beherrschen.

5.7.2.3 Darm Bei jedem Patienten mit neurogener Darmentleerungsstörung muss von Anfang an auf eine regelmäßige Darmentleerung geachtet werden, weil die Gefahr der Obstipation und/oder des ständigen Stuhlverlustes besteht.

5.7.2.3.1 Ernährungsberatung Eine der wesentlichsten Voraussetzungen für eine regelmäßige Darmentleerung ist die richtige Ernährung. Die Aufgabe der Pflegefachkraft ist hier, auf die Wichtigkeit einer gesunden Mischkost hinzuweisen. Sehr wichtig sind Ballaststoffe in Form von rohem Obst und Gemüse, Vollkornprodukte und vor allem die ausreichende Flüssigkeitszufuhr in Form von Wasser, Tee und ungesüßten Säften. Leider wird diese gesunde Ernährung von Spina-bifida-Patienten oft nicht akzeptiert und dadurch nicht realisiert. Die besten Erfolge lassen sich erzielen, wenn möglichst die ganze Familie bei der Ernährungsumstellung mitmacht. Bei schwerwiegenden Ernährungsproblemen mit chronischer Obstipation und/ oder extremem Über- oder Untergewicht sollte die Beratung und Zusammenarbeit mit einer Diätassistentin oder Ernährungsberaterin angeboten werden.

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5.7.2.3.2 Maßnahmen zur Unterstützung der Darmentleerung Zur Unterstützung und Anregung der Darmentleerung kommen verschiedene auf die individuelle Situation abgestimmte Maßnahmen infrage. Diese werden nach Anamneseerhebung, abdominellem Befund und rektaler Untersuchung vom Arzt verordnet. Im Einzelnen handelt es sich um – Training der regelmäßigen Darmentleerung durch Bauchpresse, evtl. unterstützt durch Zäpfchen oder manuelle Stimulation, – Laxantien zur oralen Einnahme oder als Zäpfchen oder Mini-Klistier, – Enddarmspülungen, – evtl. Colonmassage (durch ausgebildete Therapeuten). Die Anleitung zum Verabreichen der unterschiedlichen Medikamente und zur Anwendung bestimmter Techniken zur Darmentleerung sollte von Pflegefachpersonal durchgeführt werden. Für die häufig eingesetzten Enddarmspülungen ist eine genaue Anleitung besonders wichtig, wobei es neben der Wahl des Irrigationssets auch um die Sitzposition des Kindes und evtl. notwendige Hilfsmittel wie Toilettenaufsatz oder Toilettenstuhl geht. Es sollte Zeit für ruhige Beratungsgespräche geben, in denen z. B. auch der richtige Zeitpunkt für die angeführten Maßnahmen bestimmt wird.

5.7.3 Hautverletzungen und Dekubitus Mit der Sensibilitätsstörung im Bereich von Becken und unteren Extremitäten sind erhebliche Risiken für Hautschäden verbunden, weil durch fehlendes oder eingeschränktes Schmerz- und Temperaturempfinden eine Gefährdung nicht wahrgenommen wird. Patienten erleiden oft unbemerkt Verbrennungen, Erfrierungen oder Druckgeschwüre, die schon zu starken Gewebeschädigungen geführt haben können, bevor sie überhaupt bemerkt werden. Das Problem ist leider sehr häufig. Untersuchungen und Befragungen von Patienten im Erwachsenenalter ergaben, dass über 80 % in ihrem bisherigen Leben mindestens einmal eine ernsthafte Hautverletzung hatten, oft mit langwierigem Verlauf [2]. Solche Ulzera können wochenlange Krankenhausaufenthalte, noch längere Fehlzeiten in Schule und Beruf und nicht zuletzt eine langdauernde Beeinträchtigung der Lebensqualität verursachen. Im Extremfall sind sie sogar lebensbedrohlich. Daraus folgt, dass alles getan werden muss, um das Auftreten von Hautschäden möglichst zu vermeiden. Von Anfang an und immer wieder muss in Gesprächen mit den Eltern, später mit dem Patienten selbst, ein Problembewusstsein geschaffen werden, sodass Gefahren erkannt und möglichst gemieden werden können [3].

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5.7.3.1 Prophylaxe 5.7.3.1.1 Aufklärung über Gefahren Die Basis einer individuellen Beratung ist die Ermittlung der gefährdeten, d. h. sensibilitätsgestörten Hautpartien, die jeder Patient von sich kennen sollte. Typische Gefahrenquellen sollten benannt und erläutert werden: – thermisch: Wärmflasche/Heizkissen/Heizkörper, heißes Wasser (z. B. zu heißer Zufluss Badewanne), heißer Sand oder Asphalt, aber auch Kälteeinwirkung (besonders an unzureichend geschützten Füßen), – mechanisch: Druck und Scherkräfte durch Orthesen, Druck durch langes Sitzen ohne entsprechenden Schutz und regelmäßige Entlastung (Rollstuhl und andere Sitzgelegenheiten), langes Liegen ohne spezielle Lagerung und regelmäßiges Umlagern, Fremdkörper (Steinchen) im Schuh, Falten bei Strümpfen und Kleidung, Krabbeln auf rauem Boden (z. B. Schwimmbad).

5.7.3.1.2 Pflegemaßnahmen und Hilfsmittel Hier geht es um Anleitung und Beratung, wie bei der täglichen Pflege Hautschäden vorgebeugt werden kann und welche Hilfsmittel prophylaktisch zur Druckentlastung eingesetzt werden können: – Sorgen für intakte und belastungsfähige Hautverhältnisse durch gute Hautpflege, gerade im Urogenitalbereich (wird durch Erreichen von Kontinenz, falls möglich, sehr erleichtert, weil Feuchtigkeit die Haut für mechanische Schäden anfälliger macht), – Anleitung zur aufmerksamen, täglichen Hautbeobachtung; wenn selbstständig durch den Patienten unter Verwendung eines Spiegels! – besondere Aufmerksamkeit bei Orthesen und Hilfsmitteln, insbesondere nach Neuanfertigung (anfangs Empfehlung stündlicher Kontrollen!), – Empfehlung eines Antidekubitus-Kissens und regelmäßige Druckentlastung bei Rollstuhlfahrern (Hochstützen).

5.7.3.2 Konservative Therapie Ein Dekubitus wird üblicherweise in vier Schweregrade eingeteilt (Klassifikation nach EPUAP = European Pressure Ulcus Advisory Panel, 2009): 1. Stadium 1: nicht wegdrückbare Rötung bei intakter Haut, evtl. Schwellung, Überwärmung. 2. Stadium 2: Schädigung der oberen Hautschichten: Blasenbildung, oberflächliche Wunde. 3. Stadium 3: tiefe Wunde, alle Hautschichten zerstört, Knochen und Sehnen nicht sichtbar. 4. Stadium 4: vollständiger Haut- bzw. Gewebeverlust, freiliegende Knochen, Sehnen oder Muskeln, evtl. Osteomyelitis.

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5.7.3.2.1 Druckentlastung Bei jeglicher Rötung muss umgehend mit Druckentlastung reagiert werden. Die Ursache muss erkannt und beseitigt werden. Ab dem Stadium 2 ist zusätzlich eine spezielle Wundbehandlung erforderlich. Die Druckentlastung ist bei jedem Schweregrad eines Dekubitus die wichtigste Maßnahme, ohne die jede Wundbehandlung sinnlos ist. Leider bedeutet eine konsequente Druckentlastung meist erhebliche Einschränkungen für das tägliche Leben, z. B. muss Sitzen im Rollstuhl vermieden werden oder Orthesen, die zur selbstständigen Fortbewegung genutzt werden, dürfen nicht angelegt werden.

5.7.3.2.2 Wundbehandlung Kommt es trotzdem zu einer offenen Druckstelle, muss eine phasengerechte Wundversorgung erfolgen. Dabei ist es sehr hilfreich, auf die Erfahrung von Pflegepersonal mit Ausbildung zum Wundmanager zurückgreifen zu können. Grundsätzlich soll die Therapie nach dem Prinzip der modernen feuchten Wundbehandlung erfolgen, die der chronischen Wunde die besten Heilungschancen bietet. Für das individuelle Vorgehen und die Wahl der geeigneten Materialien ist der Schweregrad (Stadium) und der aktuelle Zustand der Wunde maßgeblich, der immer wieder neu überprüft und bewertet werden muss. Man unterscheidet in zeitlicher Reihenfolge – Reinigungsphase, – Granulationsphase, – Epithelisierungsphase. Jede Phase kann durch entsprechende Produkte unterstützt werden. Zu Beginn kann es nötig sein, Nekrosen oder ausgedehnte Beläge chirurgisch abzutragen.

5.7.3.3 Indikation zur operativen Therapie Bei höhergradigem Dekubitus (insbesondere Stadium 4) oder wenn sich auch mit erhöhtem Pflegeaufwand und völliger Druckentlastung keine Besserung einstellt, sollte in einem Zentrum mit entsprechender Erfahrung (Querschnittzentrum, Zentrum für plastische Chirurgie) über einen möglichen operativen Verschluss entschieden werden. Auch bei einer Operation ist der Zeitbedarf bis zur Abheilung hoch, jedoch in der Regel geringer als bei der konservativen Therapie. Vor allem aber wird durch eine plastische Deckung im Vergleich zum Narbengewebe eine wesentlich belastungsfähigere lokale Situation geschaffen. Allerdings ist auch nach einer plastischen Operation eine konsequente Dekubitusprophylaxe unverzichtbar! Dekubiti gehören leider zum Alltag in der Pflege von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit MMC und lassen sich nicht gänzlich vermeiden. Da aber die Therapie, ob konservativ oder operativ, ein sehr hohes Maß an Geduld und Disziplin sowohl vom Patienten als auch vom Pflegepersonal erfordert, sollten alle denkbaren Anstren-

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gungen zur Dekubitusprophylaxe gemacht werden, damit lange Immobilitätszeiten vermieden werden können.

5.7.4 Schlussbemerkung Bei allen aufgeführten pflegerischen Bereichen steht immer die individuelle Situation des einzelnen Patienten im Vordergrund. Der intensive und oft auch langfristige Kontakt zu einer Pflegefachkraft bietet die große Chance, durch Beratung und Gespräche Hilfe zur Entwicklung von Selbstständigkeit und Motivation zur eigenen Versorgung zu geben.

Literatur [1] [2] [3]

AWMF-Leitlinie Register Nr. 043/047 2013: Diagnostik und Therapie der neurogenen Blasenentleerungsstörungen bei Patienten mit Meningomyelocele. www.awmf.org Plaum PE, Riemer G, Froslie KF. Risk factors for pressure sores in adult patients with myelomeningocele – a questionnaire-based study. Cerebrospinal Fluid Res. 2006; 3: 14. ASBH-Ratgeber 11: Dekubitus – Vorbeugen und Behandeln 2003. Herausgeber/Eigenverlag: ASBH-Bundesverband.

6 Sexualität Susanne Reichert

6.1 Neurogene Sexualfunktionsstörungen und Therapiemöglichkeiten 6.1.1 Einleitung Mit steigender Lebenserwartung und besserer Eingliederung der Patienten mit Spina bifida in unsere Gesellschaft treten Fragen der Pubertät, Sexualerziehung, Sexualität und Reproduktion mehr in den Vordergrund. Die meisten Erkenntnisse über sexuelle Funktionsstörungen bei Spina bifida resultieren aus der Untersuchung von traumatisch querschnittsgelähmten Patienten. Während ein Patient mit erworbener Querschnittslähmung meistens auf sexuelle Erfahrungen vor dem Ereignis zurückgreifen kann und seine aktuelle Situation mit der früheren vergleicht, kommt der Jugendliche mit Spina bifida in die Pubertät und entwickelt sexuelle Wünsche und Vorstellungen, die sich an denen Gleichaltriger orientieren. Die Jugendlichen haben die Chance, ihre eigene Sexualität zu entwickeln und zu lernen, mit den Grenzen zu leben, die sich aus ihrer körperlichen und evtl. auch geistigen Behinderung ergeben [1–3]. Untersuchungen zeigen, dass die meisten unserer Patienten sexuell aktiv sind. In der Altersgruppe zwischen 16 und 25 Jahren hatten 25 % einen festen Partner, 70 % wünschten sexuelle Kontakte, 47 % hatten sexuelle Kontakte und 22 % Geschlechtsverkehr im letzten Jahr [2, 4–8]. Die Sexualerziehung ist für Jugendliche mit Spina bifida genauso wichtig wie für nichtbehinderte Kinder und Jugendliche. Enge Kontaktpersonen wie Eltern und Therapeuten sollten um die spezifischen Probleme dieser Patienten wissen. Es gibt große Unterschiede in der Wahrnehmung der sexuellen Probleme männlicher bzw. weiblicher Patienten durch Eltern und die Therapeuten. Während bei den Männern der Fokus oft auf der Erektionsfähigkeit liegt, wird Sexualität bei Frauen mehr im Kontext der Reproduktionsfähigkeit gesehen, was zumindest den Bedürfnissen der jungen Frauen nicht gerecht wird [4, 6, 10]. In der Adoleszenz rücken dann während der Arztkonsultationen zunehmend Fragen der Familienplanung in den Vordergrund. Die Erektion, die Ejakulation und das Orgasmusempfinden können je nach Höhe der Rückenmarkschädigung und in Abhängigkeit von begleitenden Pathologien, wie z. B. eines Hydrocephalus, gestört sein [5]. Patienten mit Spina bifida kann man in drei Gruppen einteilen, die durch die Höhe der motorischen Läsion bestimmt wird: 1. thorakale Myelomeningozele (Läsion über oder bis L2), 2. lumbale Myelomeningozele (zwischen L3 und L5), 3. sakrale Myelomeningozele (Läsion bei oder tiefer als S1) [11]. https://doi.org/10.1515/9783110228748-009

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Patienten mit Spina bifida und einer motorischen Läsion unterhalb S1 haben vergleichsweise geringere neurologische Ausfälle und haben oft auch bei neurogener Blasen- und Mastdarmstörung weniger ausgeprägte oder manchmal auch keine sexuellen Funktionseinbußen. Patienten mit Läsion zwischen L3 und L5 haben unterschiedliche sexuelle Funktionsstörungen. Patienten mit Spina bifida bei L2 bzw. darüber sind rollstuhlpflichtig und müssen mit ausgeprägten neurologischen und anatomischen Einschränkungen zurechtkommen, um ihre Sexualität leben zu können. Mindestens 80 % der Menschen mit Spina bifida bzw. Myelomeningozele werden mit einem Hydrocephalus geboren und damit mit dem Risiko einer mehr oder weniger stark ausgeprägten kognitiven Einschränkung. Welchen Einfluss der Hydrocephalus auf das Sexualleben hat, ist wenig untersucht. Es scheint aber so zu sein, dass Menschen mit Hydrocephalus mehr Probleme mit ihrem Sexualleben haben als Menschen ohne Hydrocephalus. Fakt ist, dass mit größerer kognitiver Einschränkung die Patienten einer engen Beziehung bedürfen, um überhaupt ihre Sexualität ausleben zu können [5]. Frauen mit einer körperlichen Behinderung müssen häufiger sexuelle Übergriffe erleiden, als gleichaltrige nichtbehinderte Frauen. Bei der Sexualerziehung sollte darauf speziell eingegangen werden und den jungen Frauen gezeigt werden, dass sie sich wehren können und auch wehren dürfen. Viele Übergriffe geschehen auch hier im engen Umfeld von Familien- und Betreuerkreis. Gerade die psychische und physische Abhängigkeit von Betreuern, Therapeuten und anderen Hilfspersonen vermindert die Distanz und fördert das Verschweigen solcher ungewollten sexuellen Handlungen, aus Angst, aus dem Betreuungsnetz zu fallen, nicht glaubhaft zu sein oder vor Nachteilen im täglichen Leben. Auch Jugendliche mit Spina bifida erfahren ihre sexuelle Aufklärung als erstes von anderen Jugendlichen oder aus Medien, zu denen auch das Internet zählt. An zweiter Stelle fungiert die Schule, an dritter Stelle Eltern und Therapeuten als sexuelle Aufklärer. Die meisten Kinder bzw. Jugendlichen und Eltern wünschen sich ein Gespräch darüber mit dem Arzt oder Therapeuten. Über die Besonderheiten und Möglichkeiten fühlen sich die wenigsten Kinder und Jugendlichen ausreichend aufgeklärt [6, 12–15].

6.1.2 Diagnostik Um Patienten mit Spina bifida hinsichtlich Sexualfunktion und Fertilität beraten zu können, muss man zunächst mit einer neurologischen Untersuchung zu Informationen über die Lähmungshöhe, die Art der Lähmung (motorisch, sensibel) und vor allem über Restfunktionen gelangen. Die Blasenfunktion kann mit einer video-urodynamischen Untersuchung bestimmt werden. Aus dieser Untersuchung lassen sich wichtige Rückschlüsse auf Erektions- und Ejakulationsfähigkeit bzw. Lubrifikation und genitale Erregung ziehen. Die Kerngebiete im Rückenmark für Sexualfunktion und Blasenfunktion liegen eng beieinander, sodass isolierte Stö-

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rungen der Harnblase oder Erektion, Ejakulation bzw. Lubrifikation nur sehr selten vorkommen. Auch die Frage nach der vorliegenden Form der Inkontinenz wird dabei beantwortet und es können Empfehlungen gegeben werden, wie man am besten Urinund Stuhlverlust während des Sexualaktes vermeidet. Zusammenfassend sollte nach der Untersuchung bekannt sein: – die Höhe der Rückenmarkschädigung (motorisches und sensibles Niveau), – die Art der neurologischen Defizite, – die Restsensibilität und -motorik, – das Ausmaß der Spastik von Beinen, Beckenboden und Bauchdecke, – die Beckenbodenfunktion (Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie, Prolaps von Blase oder Uterus), – die Funktion des inneren Blasenschließmuskels. Bei der allgemeinen körperlichen Untersuchung sollten Anomalien im äußeren Genitale erkannt werden, z. B. Kryptorchismus beim Jungen und genitale Fehlbildungen wie z. B. Spaltbildung der Symphyse sowie Descensus von Uterus und/oder Vagina bei Mädchen.

6.1.3 Sexuelle Dysfunktion beim männlichen Spina-bifida-Patienten Der komplexe Vorgang der Erektion wird durch Reize verschiedener Art (z. B. visuelle, taktile, olfaktorische oder psychogene Reize) stimuliert. Diese werden über den Hypothalamus und über das sympathische psychogene Ejakulationszentrum in den spinalen Segmenten Th11–L2 dem parasympathischen reflexogenen Erektionszentrum S2–S4 zugeführt. Abhängig von der Höhe der Spina bifida sind Erektion und Ejakulation entsprechend gestört [8, 16]. Bei thorakaler Spina bifida mit einer Läsion oberhalb von Th11 sind peripher, d. h. durch taktile Reize wie Berühren oder Streicheln der Glans, Erektionen reflektorisch auslösbar. Diese Erektionen haben oftmals eine für die Kohabitation ausreichende Rigidität, seltener eine genügend lange Erektionsdauer. Sobald der taktile Reiz aufhört, fällt auch die Erektion zusammen. Da es keine Verbindung vom spinalen Erektionszentrum zum Gehirn gibt, gibt es keine zentral induzierten psychogenen Erektionen, d. h., psychische Stimuli erzeugen keine Reaktion des Penis. Patienten mit einer Läsion oberhalb von Th11 sind rollstuhlabhängig mit schlaffer oder auch spastischer Lähmung der unteren Extremitäten. Liegt die Läsion zwischen Th11 und L2, ist ähnlich wie bei einer Läsion oberhalb von Th11 eine reflektorische Erektion auf taktile Reize hin möglich, aber oft erigieren nur die Corpora cavernosa und nicht das Corpus spongiosum mit der Glans, sodass die Qualität der Erektion als unzureichend für das Einführen des Penis in die Scheide erlebt wird. Auch hier hält die Erektion oft nicht lange genug an. Eine psychogen

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induzierte Erektion ist, vergleichbar mit einer Schädigung oberhalb Th11, nicht möglich. Bei lumbaler Spina bifida unterhalb L2 wird das Bild der möglichen Störungen vielfältiger. Wenn der Reflexbogen intakt ist, sind sowohl reflektorische als auch psychogen induzierte Erektionen möglich, allerdings auch hier mit oftmals unzureichender Rigidität und Dauer. Bei sakraler Spina bifida können Erektionen zwar psychogen induziert werden, sind aber in Rigidität und Dauer für die Kohabitation oftmals nicht ausreichend. Hier gibt es keine reflektorischen Erektionen mehr. Aus Untersuchungen an traumatisch querschnittsgelähmten Männern kann abgeschätzt werden, inwieweit eine Ejakulation möglich ist: Bei kompletter Läsion oberhalb L2 (thorakale Spina bifida) in 4 %, bei inkompletter Läsion, und dazu gehören viele Spina-bifida-Patienten, in 32 % der Fälle. Bei kompletter Läsion unterhalb L2 (lumbale und sakrale Spina bifida) haben ca. 18 % der Männer einen Samenerguss. Bei inkompletter Läsion unterhalb L2 immerhin 70 %. Fehlender Samenerguss heißt nicht unbedingt, dass es zu gar keiner Ejakulation kommt. Oftmals kommt es bedingt durch die Auslösung eines Massenreflexes im Beckenboden zu einer retrograden Ejakulation, d. h. zu einem Samenerguss in die Harnblase. Auch bei Blasenhalsinsuffizienz, die relativ häufig bei Spina-bifida-Patienten unter L1 auftritt, nimmt das Ejakulat den Weg des geringsten Widerstandes – in die Harnblase. Auch die Empfindungen beim Orgasmus sind abhängig vom Niveau der Lähmung. Oberhalb von Th12 gehen dem Orgasmus meistens Extremitätenspastiken voraus. Einige Patienten berichten auch über Bauchschmerzen, die durch Spastik der Bauchdecke ausgelöst werden. Nach dem Orgasmus verschwindet die Spastik oftmals für Stunden, zugunsten eines Gefühls der Wärme und kompletten Entspannung. Bei erhaltener Oberflächensensibilität, gerade im Penisbereich, kommen die Orgasmusempfindungen denen ungelähmter Männer nahe. Dem Mann mit Spina bifida fehlt der Vergleich zum „normalen“ Orgasmus, was auch dazu führt, dass unsere Kenntnisse darüber nur sehr gering sind. Auf der anderen Seite wird das Orgasmusempfinden in Studien selten als Problem beschrieben. Am Ende zählt die sexuelle Zufriedenheit [8, 9, 16].

6.1.3.1 Therapieoptionen der sexuellen Dysfunktion des Mannes mit Spina bifida 6.1.3.1.1 Therapie der erektilen Dysfunktion Die erektile Dysfunktion kann heute relativ gut mit PDE-5-Hemmern behandelt werden. Zugelassen sind bisher vier Präparate mit den Wirkstoffen Sildenafil (Viagra® ), Tadalafil (Cialis® ), Avanafil (Spedra® ) und Vardenafil (Levitra® , Vivanza® ). Diese Präparate führen über eine Relaxierung der glatten Muskulatur in den Corpora cavernosa zu einem vermehrten Bluteinstrom und bei sexueller Reizung zu einer besseren Erektion. Die sämtlich verschreibungspflichtigen, aber nicht erstattungsfähigen, Medika-

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mente unterscheiden sich in der Zeit bis zum Wirkungseintritt und in der Wirkdauer. Kontraindikation ist zwingend die simultane Einnahme von nitrathaltigen Medikamenten, wie z. B. Nitrospray oder NO-Donatoren, wozu auch sog. Poppers (Szenedrogen) gehören. Typische unerwünschte Wirkungen sind Kopfschmerzen (10 % Flush bzw. Gesichtsrötung), verstopfte Nase (10 %), Rhinitis (4 %) und Farbschleier (2,8 %). Bei zu großen Nebenwirkungen und/oder Wirkungslosigkeit kann mit lokal zu applizierenden Vasodilatatoren eine Erektion erzeugt werden. Am gebräuchlichsten und auch am verträglichsten ist ein Prostaglandin-E1-Analogon (Alprostadil), das als Präparate Caverject® , Viridal® und Muse® zugelassen und ebenfalls verschreibungs-, aber nicht erstattungspflichtig ist. Caverject® und Viridal® werden in einer sog. Schwellkörperautoinjektionstechnik angewendet, d. h. der Patient injiziert sich das Medikament direkt in ein Corpus cavernosum. Nach ein paar Minuten kommt es zu einer Erektion, die meistens 1 Stunde lang anhält. Die benötigte Dosis muss vorher getestet werden, um die Nebenwirkungen wie Blutdruckanstieg, Tachykardie und Flush niedrig zu halten und um vor allem eine schmerzhafte Dauererektion (Priapismus) zu vermeiden. Alprostadil kann man auch in Form eines Zäpfchens erhalten, das in die Harnröhre eingeführt wird und dort über die Urethralschleimhaut aufgenommen wird. Dieses System wird als Muse® (Medicated urethral system for erection) bezeichnet. Wegen der damit verbundenen, oft schmerzhaften Reizung der Urethralschleimhaut und der nicht immer sicher reproduzierbaren Wirkung hat dieses Medikament keine weite Verbreitung gefunden, ist aber für einen Spinabifida-Patienten mit Hypästhesie im Genitalbereich durchaus eine Alternative zur Schwellkörperautoinjektion. Aktuell werden Gels bzw. eine Salbe getestet, mit denen der Wirkstoff auf die Glans aufgetragen werden kann. Bisher ist aber noch kein solches Präparat zugelassen. Alternativ zur medikamentösen Therapie kann man eine mechanische Erektionshilfe anwenden. Eine sog. Penispumpe arbeitet mit einem durchsichtigen Plastikzylinder, der über den Penis gesteckt wird. Mit einer mechanischen oder elektrischen Pumpe wird ein Vakuum erzeugt, wodurch es zum Bluteinstrom kommt und der Penis erigiert. Damit die Erektion nach Wegnehmen des Zylinders nicht sofort wieder zusammenfällt, wird vorher ein elastischer Ring um die Penisbasis gelegt. Abgesehen vom apparativen Aufwand bleibt der Penis an der Basis beweglich, weil die proximalen Anteile der Corpora cavernosa nicht mit erigieren. Wird der Ring zu eng gewählt, ist die arterielle Durchblutung der Penishaut und der Glans ungenügend, sodass sich der Penis oft auch kalt anfühlt. Bei zu hohem Druck beim Erzeugen des Vakuums kann es zum Zerreißen von venösen Gefäßen kommen mit Ausbildung von großen Hämatomen.

6.1.3.1.2 Therapie bei Ejakulationsstörung bzw. Infertilität Die Behandlung der Infertilität richtet sich nach den vorliegenden Problemen. Wir unterscheiden prinzipiell eine Infertilität infolge einer Ejakulationsstörung und eine

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Infertilität infolge einer schlechten Qualität der Spermien (zu wenig, zu wenig beweglich, zu viele pathologische Formen). Bei vorhandener antegrader oder auch retrograder Ejakulation kann bei schlechter Spermaqualität das Ejakulat aufgefangen bzw. aus der Blase katheterisiert werden und für eine Insemination oder für ein Verfahren der assistierten Befruchtung, einer In-vitro-Fertilisation (IVF) bzw. intrazytoplasmatische Spermieninjektion (ICSI), verwendet werden. Bei fehlender Ejakulation lohnt sich vor allem bei thorakalen Myelomeningozelen der Versuch einer transanalen Elektrostimulation. Dieser Eingriff muss in einem entsprechend ausgerüsteten Zentrum erfolgen und ist nur bei Patienten mit fehlender oder zumindest nahezu aufgehobener Sensibilität im Anogenitalbereich bzw. unter Th12 ohne Narkose durchführbar. Die Elektroejakulation kann man beliebig oft wiederholen, die ursprüngliche Hoffnung, dass sich durch wiederholte Versuche und so erzeugter Ejakulationen die Qualität verbessert, haben sich zumindest bei traumatisch querschnittsgelähmten Männern nicht erfüllt. Alternativ kann auch durch ein spezielles Massagegerät, das auf die Glans aufgesetzt wird, eine Ejakulation erzeugt werden. Dies ist nur bei erhaltenem spinalen Reflexbogen möglich. Diese Methode wird dem Paar in der Praxis gezeigt und kann dann zu Hause angewendet werden, wobei die Frau lernen muss, sich das so gewonnene Ejakulat in die Scheide einzuführen. Vor allem bei Patienten mit einer Spina bifida im Bereich L2/L3 und tiefer kann man oft durch all diese Methoden keinen Samenerguss erzeugen, sodass dann bei Kinderwunsch nur durch einen operativen Eingriff Spermien gewonnen werden können. Möglich ist prinzipiell eine mikrochirurgische epididymale Spermaspiration (MESA) bzw. eine testikuläre Spermienextraktion (TESE) durch direkte Entnahme von Parenchym aus den Hoden für die dann obligate IVF- bzw. ICSI-Behandlung.

6.1.4 Sexuelle Dysfunktion bei weiblichen Spina-bifida-Patienten Prinzipiell wird auch bei den Frauen mit Spina bifida zwischen einer peripher, durch direkte genitale Reize, und einer zentralen, psychogen ausgelösten Erregung unterschieden. Beim Mann können wir die Erektion vermessen, aber die sexuelle Erregung bei der Frau ist schwer zu objektivieren. Messbar ist die vaginale Durchblutung als Korrelat der genitalen Reaktion. Einschränkend sei vermerkt, dass diese Untersuchungen an Frauen mit erworbener Querschnittslähmung durchgeführt wurden und nicht speziell an Spina-bifida-Patientinnen. Neuere Methoden versuchen durch ein PET des Hirnstamms objektive Daten zu bekommen. Die Orgasmusfähigkeit lässt sich nur aus Erhebungen mit Fragebögen abschätzen [10, 17]. Wir wissen, dass die psychogen ausgelöste Zunahme der genitalen Durchblutung durch das sympathische Nervensystem vermittelt wird. Folglich ist bei erhaltener Sensibilität in den Dermatomen Th11–L2 eine psychogen induzierte Erregung möglich. Bei erhaltenen Segmenten Th11–L2 ist selbst bei proximal davon liegender Rücken-

6.1 Neurogene Sexualfunktionsstörungen und Therapiemöglichkeiten | 245

markschädigung eine Lubrifikation durch manuelle genitale Stimulation auslösbar, auch wenn die Patientin dies nicht als sexuelle Lust empfindet. Bei kompletter Läsion bei L2 und darüber berichten nur ca. 50 % der Frauen über genitale Reaktionen und nur 12 % der Frauen haben einen Orgasmus. Ab einer Lähmung unterhalb von L2 kommt es sowohl zu genitalen Reaktionen (Schwellung der Labien, Lubrifikation) als auch zu Orgasmen. Bei kompletter Läsion unter L5 kommt es zu keiner reflektorisch ausgelösten Erregung mehr, dafür ist eine psychogen ausgelöste genitale Erregung möglich [17].

6.1.4.1 Therapie der weiblichen Sexualstörung Bis heute gibt es noch keine zugelassenen Medikamente oder Therapieverfahren, die zu einer vermehrten genitalen Erregung oder verbesserten Lubrifikation führen. Gleitgels sollten großzügig benutzt werden, auch um Schleimhautverletzungen in der Vagina zu vermeiden und damit bakteriellen Infektionen und Mykosen vorzubeugen, nicht zuletzt auch mit Blick auf die Harnwegsinfektionen, die analog wie bei nichtbehinderten Mädchen bei den ersten Sexualkontakten bzw. bei Partnerwechsel gehäuft auftreten. Eine ganze Reihe von Untersuchungen zeigt, dass die Geschlechtsreife (Menarche) bei Mädchen mit Spina bifida früher eintritt als in der Durchschnittspopulation. Auch eine echte Pubertas praecox (vorzeitige Pubertät) ist nicht selten (Einzelheiten s. Kap. 4.5). Über die Qualität der Menstruation bei Frauen mit Spina bifida gibt es keine Untersuchungen, die eigenen empirischen Erfahrungen lassen keine wesentlichen Unterschiede in Dauer und Intensität der Blutung erwarten. Die hygienische Versorgung während der Menstruation ist erfahrungsgemäß eher unproblematisch. Einige Frauen berichten aber über eine vermehrte Bein- und Bauchspastik kurz vor und während der Menstruation [10]. Die Möglichkeiten und Probleme von Kontrazeption, Schwangerschaft und Entbindung sowie gynäkologischer Therapie bei Spina-bifida-Patientinnen werden im folgenden Kapitel ausführlich dargestellt.

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Friedrich Wolff und Reinhold Cremer

6.2 Gynäkologische Therapie von Mädchen und Frauen mit Spina bifida 6.2.1 Einleitung Die Möglichkeit schwanger zu werden, d. h. die Fertilität, ist bei jungen Frauen mit Spina bifida nicht herabgesetzt [1]. Trotzdem werden Sexualaufklärung und die damit verbundene Beratung über Schwangerschaftsverhütung häufig vernachlässigt. Die meisten chronisch kranken Jugendlichen, so auch junge Frauen mit Spina bifida, haben jedoch die gleichen Bedürfnisse nach Partnerschaft, Liebe und Sexualität wie andere Jugendliche ihres Alters. Daher ist ein verantwortungsvoller Umgang mit der Verhütung ebenso wichtig wie Kenntnisse über Erhaltung und Störungen der Fertilität, der Vorbeugung gegen Genitalinfektionen sowie die Entwicklung und

6.2 Gynäkologische Therapie von Mädchen und Frauen mit Spina bifida |

247

Entfaltung einer selbstbestimmten Sexualität. Zu einer umfassenden Sexualerziehung gehört aber auch die Ermutigung zu klaren Grenzziehungen zum Schutz gegen Grenzüberschreitungen und sexuelle Gewalt.

6.2.2 Kontrazeption Insbesondere bei ungeplanten Schwangerschaften kann es bei medikamentöser Therapie zur Gefahr einer Fehlbildung durch die Medikamente und einer Gesundheitsgefährdung für den Feten kommen (z. B. Valproinsäure, Sartane, ACE-Hemmer, verschiedene Antibiotika). Daher sollte rechtzeitig an eine sichere und nebenwirkungsarme Kontrazeption gedacht werden. Dabei sollten die Bedürfnisse und Wünsche der jungen Frauen berücksichtigt werden. Neben der Kenntnis des Zyklus mit der Ovulation bei normaler Zykluslänge um den 14. Zyklustag ist insbesondere die Kenntnis der fruchtbaren Tage von Bedeutung [2]. In der Regel wird man jedoch – wie bei anderen Jugendlichen und jungen Frauen – auf eine sichere Kontrazeption durch eine moderne Mikropille zurückgreifen. Sie gilt als relativ sicher, risikoarm und wird im Allgemeinen gut akzeptiert. Bei jungen Frauen, die keinen Ovulationshemmer einnehmen wollen, bzw. Jugendlichen, die sich noch nicht mit der Einnahme von Ovulationshemmern auseinandergesetzt haben, ist das Kondom beim Partner eine Alternative. Dabei ist zu beachten, dass die meisten Kondome latexhaltig sind. Bei Latexsensibilisierung und -allergie müssen latexfreie Kondome aus Polyurethan oder Polyisopren verwendet werden (zu Produkten siehe Test der Stiftung Warentest 4/2009). Auf eine bestehende Latexsensibilisierung und -allergie müssen Ärzte, insbesondere Frauenärzte und Hebammen, unbedingt aufmerksam gemacht werden, weil sonst bei der Verwendung latexhaltiger Medizinprodukte wie Handschuhen, CTG-Bändern usw. allergische Reaktionen bis zum anaphylaktischen Schock auftreten können [3–5].

6.2.2.1 Ovulationshemmer Für die Wahl eines Ovulationshemmers gibt es keine besonderen Empfehlungen. In vielen Fällen ist der sog. Langzyklus, d. h. die Einnahme der Ovulationshemmer über 2–3 Monate ohne Unterbrechung, von Vorteil, weil es insbesondere auch beim Vergessen einer Pille zu keiner Spontanovulation kommt. Bei Frauen mit MagenDarm-Erkrankungen, angeborener oder erworbener Laktoseintoleranz oder häufigen Antibiotikatherapien, z. B. bei Harnwegsinfekten, kann es zu einer Verminderung der Sicherheit oraler Medikamente kommen. In diesen Fällen kann auf die vaginale Applikation (NuvaRing® ) oder eine transdermale Ovulationshemmerapplikation (Evra® ) ausgewichen werden.

248 | 6 Sexualität

6.2.2.1.1 Absolute und relative Kontraindikationen Die wichtigsten absoluten und relativen Kontraindikationen sind in Tab. 6.1 zusammengefasst. Tab. 6.1: Kontraindikation gegen kombinierte hormonelle Verhütungsmittel bei Jugendlichen. Absolute Kontraindikation

Relative Kontraindikation

Thrombophilie, Thrombose/Embolie in der Eigenanamnese [6]

Thromboembolie bei Verwandten 1. Grades

akute Lebererkrankung

chronische Lebererkrankung

Migräne mit Aura

hormonabhängige Kopfschmerzen Migräne

Diabetes mellitus mit Mikroangiopathie Hypertonie über 160/100 mmHg

Bei Kontraindikationen gegen Östrogene kann auf eine reine Gestagenpille (Cerazette® ) umgestellt werden. Sie wird durchgehend ohne Pause eingenommen und wirkt ovulationshemmend bei gleicher Sicherheit wie kombinierte Mikropillen. Das Gleiche gilt auch für das sog. Verhütungsstäbchen (Implanon® ), das am Oberarm des nicht dominierenden Armes (meist links) subkutan gelegt wird. Es ermöglicht über 3 Jahre eine sichere östrogenfreie Kontrazeption. Weniger verbreitet ist in Deutschland die Dreimonatsspritze mit dem Depotgestagen. Obwohl die Sicherheit dieser Maßnahmen hoch und ein Vergessen ausgeschlossen ist, werden die damit verbundenen häufigen Stimmungsschwankungen und die Gewichtszunahme oft als Nachteil empfunden. Bei jungen Frauen mit Spina bifida wird man daher in der Regel diese Verhütungsmethode nicht wählen. Eine weitere Alternative ist eine Hormonspirale. Dabei wird über ein Depot innerhalb der Spirale kontinuierlich eine geringe Menge Gestagen an das Endometrium abgegeben, sodass es zu einer Atrophie der Gebärmutterschleimhaut kommt und sich die befruchtete Eizelle nicht einnisten kann.

6.2.2.1.2 Besondere Risiken Aufgrund der Minderbewegung und schlechteren Durchblutungssituation der Beine mit u. U. bereits existierenden Lymphödemen besteht vor allem bei rollstuhlpflichtigen Patientinnen, d. h. bei hoch lumbalem und thorakalem Lähmungsniveau, eine erhöhte Thromboseneigung [7]. Dieses Thromboserisiko kann bei der Einnahme von hormonellen Kontrazeptiva (der Pille) ansteigen, sodass besondere Vorsichtsmaßnahmen zu berücksichtigen sind. Eine Thrombose oder Embolie ist im Jugendalter ein sehr seltenes Risiko (1 : 100.000). Das Risiko nimmt altersabhängig zu, kann jedoch auch durch Begleitrisiken erhöht werden. Hierzu zählen Diabetes mellitus, erhöhter Blut-

6.2 Gynäkologische Therapie von Mädchen und Frauen mit Spina bifida | 249

druck, Adipositas und Thrombophilien, d. h. Störungen im Gerinnungssystem. Die häufigste erbliche Ursache ist die sog. APC-Resistenz (Faktor-V-Leiden-Mutation) mit einer Häufigkeit von 3–7 % in der Bevölkerung Europas. Daher ist bei der Verwendung von Kontrazeptiva die Familienanamnese besonders wichtig und es sollte nach bestehenden familiären Thromboserisiken oder einer Thrombose in der Eigenanamnese gefragt werden [6]. Bei erhöhtem Thromboserisiko sollten östrogenhaltige Kontrazeptiva nur mit größter Zurückhaltung verordnet werden. In vielen Fällen besteht sogar eine absolute Kontraindikation (Tab. 6.2). Hier muss eine individuelle Entscheidung getroffen werden. Eventuell kann dann auf die gestagenhaltige Minipille zurückgegriffen werden. Tab. 6.2: Typische Symptome einer tiefen Beinvenenthrombose (TVT). Zunehmende Schwellung mit Vergrößerung des Beinumfangs, insbesondere asymmetrisch. Spontane und belastungsunabhängige Schmerzen in den Beinen, die sich durch Hochlagerung nicht bessern (Cave! Je nach Querschnittshöhe werden die Schmerzen u. U. nicht wahrgenommen.). Druckschmerz an der Innenseite des Fußes Wadenschmerzen bei Druck und Beugung des Fußes Verstärkte Venenzeichnung unter der Haut

Neben der APC-Resistenz gibt es noch eine Reihe von anderen Thrombophilien, die das Risiko für eine Thrombose erhöhen. Dazu zählen der kongenitale Protein-SMangel, der Protein-C-Mangel, die Erhöhung von Faktor VIII sowie die Antiphospholipid-Antikörper-Erkrankung. Trotz dieser Vielzahl von Erkrankung ist ein generelles Thrombophiliescreening auch bei Frauen mit Spina bifida nicht notwendig, die Problematik sollte jedoch mit dem Arzt vor der Verschreibung eingehend besprochen werden. Weitere Risikofaktoren sind: 1. Nikotinabusus: Der Nikotinabusus erhöht das Thromboserisiko um das 2-Fache. 2. Übergewicht: Übergewicht führt zu einer 3-fachen Erhöhung des Risikos, insbesondere bei einem BMI > 30. Dabei spielt gerade bei rollstuhlpflichtigen Spinabifida-Frauen die Immobilität eine zusätzliche Rolle. 3. Allgemeiner Bewegungsmangel, insbesondere langes Sitzen mit angewinkelten Beinen: Auch dieser Faktor trifft bei Spina bifida häufig zu. 4. Varizen: Varizen führen zu einer 1,5-fach höheren Gefahr einer Thrombose. 5. Verschiedene Erkrankungen wie u. a. Herzinsuffizienz, Infektionen. Je nach Vorgeschichte und individueller Krankheitsanamnese erfordert die Entscheidung, welche kontrazeptive Maßnahme und welcher Ovulationshemmer besonders geeignet ist, eine umfassende Beratung. Auch unter der Einnahme sollte eine regel-

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mäßige Kontrolle und Überwachung stattfinden. Unter dieser Voraussetzung kann die Sicherheit dieser Methoden als sehr hoch angesehen werden.

6.2.3 Schwangerschaft 6.2.3.1 Vorbereitung und Planung Vor einer geplanten Schwangerschaft nach Absetzen der Kontrazeption sollten geplante und notwendige Röntgenuntersuchungen bzw. Computertomografien sowie operative Eingriffe durchgeführt werden. Damit wird vermieden, dass notwendige Prozeduren in der Schwangerschaft erfolgen müssen. Ein weiterer wichtiger Punkt vor der Planung einer Schwangerschaft ist eine umfassende humangenetische Beratung zur Frage des Wiederholungsrisikos einer Spina bifida. Dazu ist die Familienanamnese von besonderer Bedeutung. Obwohl exakte Daten dazu fehlen, wird nach der bisherigen Literatur das Spina-bifidaWiederholungsrisiko für das Kind mit 3–4 % angegeben, wenn ein Elternteil betroffen ist. Habe beide Eltern eine Spina bifida, liegt dieses Risiko bei ca. 10 % [8, 9]. Zur Prävention von Neuralrohrdefekten, zu denen auch die Spina bifida gehört, wird heute eine Folsäuregabe empfohlen. Dabei sollen 4 mg Folsäure wenn möglich schon bei Planung einer Schwangerschaft, spätestens jedoch bei Ausbleiben der Regelblutung eingenommen werden. Die Einnahme soll bis zur 12. Schwangerschaftswoche fortgeführt werden. Die Folsäuredosis entspricht den Empfehlungen für Frauen, die bereits einmal mit einem Spina-bifida-Kind schwanger waren. Da sich die Spaltbildungen bis zum 28. Tag in der embryonalen Entwicklung manifestieren, spielt die frühzeitige Einnahme eine entscheidende Rolle. Es kann aus der Literatur nicht belegt werden, wie stark eine solche Folsäureprophylaxe bei einer Spina-bifida-betroffenen Mutter das Wiederholungsrisiko beim Feten senkt. Tab. 6.3: Folsäureprophylaxe bei Kinderwunsch Spina-bifida-betroffener Frauen. 4 mg Folsäure pro Tag 4 Wochen vor der Konzeption bzw. bei Kinderwunsch beginnend bis zum Abschluss der Organentwicklung 12 Wochen nach Konzeption

6.2.3.2 Betreuung einer Schwangerschaft Die Vielfalt der Ausprägung des Querschnittssyndroms bei Spina bifida (unterschiedliche motorische und sensible Ausfälle, zusätzliche Beinfehlstellungen oder das Vorhandensein einer Spastik) und die dadurch bedingte sehr unterschiedliche Mobilität, die Situation des in 80–90 % vorhandenen shuntpflichtigen Hydrocephalus und nicht zuletzt die urologische Situation mit verschiedenen Blasenentleerungsstörungen und

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unterschiedlichen Methoden der Harnableitung erschweren allgemeingültige Aussagen zur Schwangerschaft von Frauen mit Spina bifida [10]. In der Schwangerschaft müssen eine Reihe von Problemkomplexen beachtet werden. Tab. 6.4: Probleme der Schwangeren mit Spina bifida. Erhöhtes Harnwegsinfektionsrisiko durch gestörten Urinabfluss aus der Blase und verminderte Speicherkapazität der Blase Erschwerte Auswahl von Antibiotika wegen möglicher fetaler Risiken Harnabflussstörung von der Niere mit Risiko der Nierenschädigung Bei ventrikulo-peritonealer Liquorableitung verschlechterte Liquorresorption, erhöhte Zahl von Shuntkomplikationen Verschlechterter venöser Abfluss aus den Beinen mit dem Risiko der Zunahme von Ödemen und Thrombosen

Das erhöhte Harnwegsinfektionsrisiko kann in der Betreuung erhebliche Probleme bereiten. Dabei sind die Abflussstörungen und die geringe Blasenkapazität die entscheidenden Faktoren. Es ist daher eine Überwachung mit frühzeitiger Erkennung von Harnwegsinfektionen wichtig. Bei Nachweis einer Infektion sollte in jedem Fall die Sensibilitätstestung der Erreger abgewartet werden, um geeignete Antibiotika auszuwählen. Ähnliche Einschränkungen gelten auch in der Stillzeit, insbesondere weil viele Antibiotika in die Muttermilch übergehen. Penicilline und Cephalosporine sind – soweit die Erreger sensibel sind – für die Schwangerschaft grundsätzlich unbedenklich. Dagegen besteht für Gyrasehemmer, Sulfonamide und auch Nitrofurantoin eine Kontraindikation in der Schwangerschaft, für Nitrofurantoin insbesondere in den letzten Wochen der Gravidität, weil die Erythrozyten des Neugeborenen geschädigt werden. Für anticholinerg wirkende Medikamente zur Senkung des Blasendrucks ist die Datenlage zur Empfehlung einer Einnahme in der Schwangerschaft nicht ausreichend, sodass die Gebrauchsinformationen davon abraten. Für das weit verbreitete Oxybutynin gibt es nur eine Literaturquelle, die eine erhöhte Fehlbildungsrate an Ratten nur bei toxischer Dosierung fand [11], entsprechende Studien am Menschen fehlen. Wir können aber den Empfehlungen des Pharmakovigilanz- und Beratungszentrums für Embryonaltoxikologie (www.embryotox.de) folgen, die Anticholinergika bei strenger Indikationsstellung, wie sie die neurogene Blasenentleerungsstörung darstellt, in der gesamten Schwangerschaft zulassen, auch Oxybutynin mit der Unsicherheit bei fehlenden Studien zur humanen Toxizität im 1. Trimester. Es ist nicht bewiesen, ob eine intravesikale Applikation hinsichtlich der Risiken für den Foeten sicherer ist als die systemische orale Einnahme. Entsprechend ist eine differenzierte sonografische Organdiagnostik, wie unten beschrieben, durchzuführen. Auf die mög-

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liche Herzfrequenzsteigerung des Foeten bei oraler Einnahme von Anticholinergika muss geachtet werden. Bei rechtsseitigen Unterbauchbeschwerden sollte an eine Harnstauung der Niere gedacht werden; insbesondere rechtsseitig kommt es bei der fortgeschrittenen Gravidität häufig zur Stauung des Nierenbeckens und damit verbunden zu Harnwegsinfekten. Häufig ist dies mit extremen Schmerzen verbunden, sodass in Einzelfällen eine urologische Intervention mit Einlage einer Harnleiterschiene erfolgen muss. Gerade bei Schwangeren, bei denen eine Blasenaugmentation oder andere Blasenoperationen vorangegangen sind, sollte die Betreuung interdisziplinär in enger Kooperation mit einem (Neuro-)Urologen erfolgen.

Hierbei sind eine Schwangerschaft und eine vaginale Entbindung bei der Blasenaugmentation durchaus möglich, wenn darauf geachtet wird, dass die Blase zum Zeitpunkt der Geburt leer ist, um einen Abriss des rekonstruierten Blasenhalses zu vermeiden. Ist ein Kaiserschnitt notwendig, wie beim Mainz-Pouch empfohlen [12], muss beim Schnitt die Blutversorgung der augmentierten Blase geschont werden und die besondere Anatomie der vergrößerten Blase beachtet werden [13, 14]. Zur Überwachung der Nierenfunktion wird eine monatliche Kontrolle des Serumkreatinins in der Schwangerschaft empfohlen [15]. Zu Art und Häufigkeit von Shuntkomplikationen während der Schwangerschaft und Geburt gibt es lediglich Einzelfallberichte. Danach besteht ein höheres Risiko für eine periphere Shuntverlegung und eine schlechtere Resorption des Liquors bei ventrikulo-peritonealer Ableitung. Besonders bei relativ kurzen peripheren Ableitkathetern kann es bei zunehmendem Wachstum der Schwangerschaft und Ausdehnung des Bauches zu einer inkorrekten Lage und Verlegung kommen. Vermehrte Kopfschmerzen können auf eine Dysfunktion des Shunts hinweisen. Daher ist bei liegendem Shunt eine enge Kooperation mit Neurochirurgen erforderlich. Nach einer Studie zu Schwangerschaften von Shuntträgerinnen, die überwiegend nicht eine Spina bifida als Ursache des Hydrocephalus hatten, kam es zu einer erhöhten Rate an Frühgeburten [16]. Im Übrigen gelten auch für die Schwangerschaft die Empfehlungen der Mutterschaftsvorsorge, die Kontrollen sollten aber engmaschiger erfolgen. Während üblicherweise eine Schwangerschaftsüberwachung in 4-wöchigen Intervallen bis zur 32. Schwangerschaftswoche und danach alle 14 Tage erfolgt, sollte bei Schwangeren mit Spina bifida regelmäßig alle 2 Wochen eine Kontrolle stattfinden [17]. Zu den empfohlenen Untersuchungen gehört dabei auch eine pränatale Diagnostik zwischen der 12. und 14. Schwangerschaftswoche. Dabei werden die Nackentransparenz, das Nasenbein und andere Parameter vermessen. Die Scheitel-Steiß-Länge sollte zwischen 45 und 84 mm (entsprechend 11.+0 bis 13.+6 SSW) liegen. Im Sagittalschnitt des Schädels wird dann die Größe des echofreien Raumes (innen-innen) gemessen. Nach mehrfacher Messung wird die größte Nackentransparenzmessung verwen-

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det. In Softwareprogrammen wird dann die Messung – meist in Kombination mit den Serumparametern freies β-HCG und PAPP-A – bestimmt. Bei dieser Messung in spezialisierten Zentren, die eine Auswertung in Risikokalkulationsprogrammen ermöglichen, lassen sich mit hoher Sicherheit eine Fehlbildung sowie Chromosomenanomalien beim Feten ausschließen. Bei entsprechendem Nachweis ist eine weitere invasive Diagnostik durch Chorionbiopsie oder Amniozentese möglich. Zu den Einzelheiten muss auf die entsprechende Literatur verwiesen werden [18]. Ferner wird heute vielfach in der 22. Schwangerschaftswoche ein ausführliches Organscreening empfohlen. Dabei erfolgt eine systematische Untersuchung des Kindes einschließlich der Herzanatomie, der Anlage aller Organe sowie der äußeren Konturen, der Extremitäten und des Rumpfes. Auf diese Weise lassen sich Fehlbildungen frühzeitig erkennen und ggf. in Einzelfällen sogar behandeln. Die Abortrate von Schwangeren mit Spina bifida wird mangels größerer Kollektive von Patientinnen in der Literatur nicht ausreichend dargestellt, in einer größeren Serie von Schwangeren mit Hydrocephalus überwiegend anderer Ursache kamen bei 23 % der Frauen Fehlgeburten vor [13].

6.2.4 Geburt Es sollte bereits frühzeitig mit der werdenden Mutter bei Spina bifida über die Art der Geburtsleitung gesprochen werden. Die Muskulatur der Gebärmutter ist nicht von der Querschnittslähmung betroffen, sodass Wehen als unwillkürlich gesteuerte Muskelkontraktionen regulär ablaufen können. Aufgrund der atypischen Lage des Rückenmarks ist eine Periduralanästhesie häufig nicht möglich [19]. Liegt ein hoher Querschnitt vor, kann evtl. auf eine Anästhesie ganz verzichtet werden [20]. Häufiger ist aber aufgrund der sensiblen Empfindlichkeit der Geburtswege, die umso häufiger ungestört erhalten ist, je tiefer die Meningomyelozele lag, eine Analgesie unter der Geburt erforderlich und aus diesen Gründen eine Entbindung mittels Kaiserschnitt indiziert. Weitere Ursachen für die Indikation eines Kaiserschnitts sind die Hüftfehlstellung durch Luxation, die ein ausreichendes Spreizen der Beine nicht erlaubt, sowie eine starke Adduktorenspastik. Es ist daher eine frühzeitige Besprechung des Geburtsablaufes in einer Geburtsklinik mit Erfahrung in der Betreuung querschnittsgelähmter Mütter notwendig. Dabei sollte gerade bei Spina bifida, bei der es auch gehäuft zur Frühgeburt kommen kann, eine Klinik gewählt werden, bei der ein Perinatalzentrum, d. h. eine Intensivstation für Früh- und Neugeborene, mit entsprechender neonatologischer Versorgung angeschlossen ist. Eine solche Klinik garantiert am ehesten eine umfassende Versorgung von Mutter und Kind unter der Geburt. Über Geburtskomplikationen gibt es bei wenigen publizierten Fällen keine verlässlichen Aussagen; die von uns betreuten Patientinnen hatten unkomplizierte Entbindungen mittels Sektio [21].

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Abschließend ist zu betonen, dass die Betreuung der Schwangeren immer eine interdisziplinäre Aufgabe zwischen Gynäkologen, Urologen, Neurochirurgen, Neurologen und anderen Fachdisziplinen ist.

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6.3 Spannungsfeld Sexualität

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Beate Martin

6.3 Sexualität im Spannungsfeld zwischen Lust, Bedürfnissen, Wünschen und Angewiesensein auf Hilfe 6.3.1 Einleitung Sexualität ist ein Lebensthema mit unterschiedlichen Entwicklungsaufgaben in den verschiedenen Lebensphasen. Mal nimmt es eine bedeutende, mal eine untergeordnete Position im Leben eines Menschen ein. Sexualität kann eine Ressource sein, die Lebensenergie spendet, die Gefühle von Glück und Wohlbefinden auslöst. Sexuelles und körperliches Erleben wird aber auch durch gesellschaftliche, psychosoziale und kulturell geprägte Zusammenhänge und Aspekte beeinflusst. Sex, Liebe und Lust sowie körperliche Empfindungen und sexuelles Verlangen gehören zum Leben dazu. Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung ist gesetzlich verankert, in Deutschland verknüpft mit dem Recht auf Aufklärung und Beratung (vgl. SFHG). Die Inanspruchnahme dieser rechtlichen Bestimmungen ist aber nicht für alle Menschen gleichermaßen möglich. Tendenziell erfahren Personen mit einer Behinderung soziale Benachteiligungen, die ihnen die gesellschaftliche Teilhabe erschweren. Ein Zustand, der auch im Sinne der (sexuellen) Menschenrechte dringend verbessert werden muss. Die internationale Konferenz für Bevölkerung und Entwicklung verknüpfte schon im Jahre 1994 Gesundheit, Familienplanung und Sexualität mit den allgemeinen Menschenrechten. Ihr Aktionsprogramm, welches von 179 Staaten unterzeichnet wurde, stellte eine erste Maßnahme dar, die sexuellen und reproduktiven Rechte durch entsprechende politische Flankierungen zu schützen [1].

Die Förderung von Inklusion und Teilhabe insbesondere in öffentlichen Bereichen, ist eine Aufgabe, die in Bezug auf Gleichstellung und Inanspruchnahme dieser Rechte nach wie vor verbesserungswürdig ist. Dazu zählt beispielsweise die barrierefreie Gestaltung von öffentlichen Räumen. Vielerorts stoßen Menschen mit einer Beeinträchtigung z. B. durch Kommunikations- oder Mobilitätseinschränkungen an Grenzen, die ihnen die Wahrnehmung von (sexuellen) Rechten erschwert. Zudem ist es eine gesellschaftliche Aufgabe, Maßnahmen zu ergreifen, die dem Abbau von Vorurteilen und Berührungsängsten gelten. Die Umsetzung realistischer Begegnungs- und Kommunikationswege sowie die Förderung einer inklusiven Gesellschaft sind Kennzeichen einer demokratischen Gesellschaft.

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Die Herausforderung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene, die mit einer Spina bifida leben, wird es sein, die körperlichen Einschränkungen wahrzunehmen und als Teil ihres Selbst zu akzeptieren. Eine begleitende, sexualbildnerische Aufgabe könnte es sein, sie dabei zu unterstützen, sich dennoch im eigenen Körper wohl zu fühlen und mit anderen in Beziehung zu treten. Zur Erreichung dieser Ziele benötigen die betroffenen Menschen, aber auch die Angehörigen und pädagogisch-therapeutische Begleitpersonen, Zeit, finanzielle Ressourcen und gesellschaftliche Unterstützung. Heinz Bude beschreibt eine inklusive Gesellschaft wie folgt: Die Gesellschaft entsteht aus den unermesslich vielen Ichs, die alle etwas Eigenes und Einzigartiges in die Waagschale werfen, und das einzelne Ich findet Anklang in einer Gesellschaft, die in ihren Institutionen, Gewohnheiten und Übereinkünften die Impulse, Ideen und Initiativen ihrer Mitglieder widerspiegelt. Ohne die Differenz im Einzelnen keine Identität im Ganzen. Eine Atmosphäre der persönlichen Freiheit und des öffentlichen Glücks kann dann gedeihen, wenn die Verfassung des Gemeinwesens den Eigensinn der Bürgerinnen und Bürger oder sonst wie sich verstehender Personen erwartet und begrüßt [2].

6.3.2 Spina bifida, psychosexuelle Entwicklung und Sexualität Sexualität zählt zu den Grundbedürfnissen eines Menschen. Sexuelle Bedürfnisse sind facettenreich, so wie sexuelles Begehren z. B. abhängig von der Lebensphase oder der Beziehung wandelbar ist. Eine Weichenstellung erfolgt im Kindes- und Jugendalter, wenn auch in jeder Altersstufe neue Entwicklungsschritte hinzukommen. Die Entstehung einer sexuellen Identität ist auch mit der individuellen Sozialisation, der eigenen Lerngeschichte und Biografie verknüpft. Sexualität ist veränderbar, gestaltbar und störanfällig. Biografische Erlebnisse und Erfahrungen, Lebenszusammenhänge (z. B. Wohnform) und die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben beeinflussen die Sexualität sowie die eigene Bedürfnis-, Geschlechts- und Beziehungsgeschichte [3]. Sexualität bedient sich des Körpers, indem eine Verbindung zwischen ihm, den Emotionen und Gedanken hergestellt wird. Mit jedem Teil des Körpers und der einzelnen Sinnesorgane können erotische und sexuelle Reize wahrgenommen werden. Eine Fixierung auf die Sexualorgane würde eindimensionale Wahrnehmungen voraussetzen. Der menschliche Körper ist so beschaffen, dass Mängel in einem Bereich durch andere (Sinnes-)Wahrnehmungen ausgeglichen werden können. So sind z. B. orgastische Erlebnisse im ganzen Körper spürbar. Auch können Gedanken und Gefühle körperliches Fühlen beeinträchtigen. So suchen Männer, Frauen und Paare eine Beratungsstelle aufgrund sexueller Funktionsstörungen auf, obwohl bei ihnen nachweislich keine körperlichen Ursachen vorliegen. Spina bifida ist eine Erkrankung, die meistens spürbare körperliche Auswirkungen hat und somit auch das sexuelle Erleben beeinflusst. Je nach Krankheitsbild können bei den betroffenen Personen massive oder minimale Einschränkungen vorliegen. Deshalb müssen alle begleitenden Maßnahmen immer individuell geplant werden

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und sollten so früh wie möglich beginnen. Dazu gehören auch Körperwahrnehmungsübungen und aktive Sexualerziehung. Da es sich um eine angeborene Fehlbildung handelt, sind die Körpererlebnisse und Empfindungen vom Lebensbeginn an mit der möglichen Beeinträchtigung verbunden. Anders als das beispielsweise bei Spätbehinderungen der Fall ist, wissen die betroffenen Personen nicht, wie sich ein Leben und der Körper ohne die Einschränkungen anfühlen. Das kann Vor- und Nachteile für sie haben. In Bezug auf Sexualität ist es demnach wichtig, das Thema gleichfalls wie die körperlichen Auswirkungen von Geburt an als Normalität und Selbstverständlichkeit in den Alltag zu integrieren. Kinder, die mit Spina bifida aufwachsen, nehmen ihren Körper, ihre Sinneserfahrungen – egal, wo sie im Körper spürbar sind – von Anfang an so wahr. Sie erleben ihren Körper so wie er ist, selbst dann, wenn sie an einigen Körperstellen nur eingeschränkt oder gar nichts fühlen. Für jüngere Kinder bedeutet das: Sie nehmen ihren Körper gleichfalls wie andere Kinder als Teil ihres Selbst wahr. Haben sie hingegen Schmerzen, wird das ihr Wohlgefühl nachhaltig beeinflussen. Mit zunehmendem Alter und der Bewusstwerdung von den vorhandenen Einschränkungen und Lebenszusammenhängen verändert sich ihre Wahrnehmung. Die Kinder begreifen, dass ihr Körper und dessen Funktionsweisen und somit sie sich als Person von anderen Gleichaltrigen unterscheiden. Teilweise massiv oder nur geringfügig werden sie beispielsweise weniger als andere die Möglichkeit haben, ihr Streben nach Autonomie auszuleben sowie frei und unbeobachtet durch Erwachsene mit anderen Kindern zu spielen und notwendige körperliche Erfahrungen zu durchleben, wie es z. B. beim Doktorspiel oder beim gemeinsamen Toilettengang passiert. Kinder lernen insbesondere im gemeinsamen Spiel mit sich und anderen, indem sie Erwachsene imitieren oder Erlebnisse, die sie spannend, interessant oder als ängstigend empfunden haben, verarbeiten. Fehlen ihnen diese Erfahrungen, bleiben ihnen wesentliche Körperwahrnehmungs- und Lernfelder vorenthalten. Wird das Kind in seiner Gesamtheit und dem Gefühl „so wie ich bin, bin ich in Ordnung und liebenswert“ angenommen, hat das positive Auswirkungen auf das Körpererleben, das Selbstwertgefühl, die Identitätsbildung und auf das spätere Beziehungs- und Sexualleben. Im Fall von erfahrenen Ablehnungen und mangelnden positiven Körpererlebnissen mit sich selbst und durch andere, können die Entstehung von Minderwertigkeitsgefühlen, Frustration und Körperfeindlichkeit die Identitätsentwicklung maßgeblich mit beeinflussen. Menschen, die es nicht gelernt haben, ihren Körper zu lieben und ihn so anzunehmen wie er ist, haben häufig größere Probleme partnerschaftliche Beziehungen zu gestalten. Ihr Wunsch nach Anerkennung und das Bedürfnis, viel Aufmerksamkeit und Bestätigung durch den Partner/die Partnerin zu bekommen, können dann sehr groß sein und die Beziehungen belasten. So kommt es schneller zu Trennungen, oder Beziehungen werden erst gar nicht eingegangen.

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6.3.3 Soziale Behinderungen in der Sexualität Therapeutische Maßnahmen wie z. B. Krankengymnastik sind teilweise notwendig, um Verbesserungen im körperlichen Erleben herbeizuführen. Bei allem muss aber immer bedacht werden, dass diese keinen zu großen Stellenwert im Leben der Heranwachsenden einnehmen sollten. So positiv sich diese unterstützenden Hilfestellungen auf das Körpergefühl auswirken können, so gilt es gleichfalls zu beachten, dass im Leben des Kindes möglichst viel „Normalität“ passieren sollte. Jegliche Formen von zusätzlicher Begleitung signalisieren den Heranwachsenden immer wieder „dein Körper ist nicht in Ordnung“, und das Interesse der anderen richtet sich nicht auf das Kind als gesamte Persönlichkeit, sondern kreist um den Bereich, der als „behandlungsbedürftig“ betrachtet wird. Dieses Erleben der Körperlichkeit löst oft ein Befremdungsgefühl mit dem eigenen Körper aus und erschwert es den betroffenen Personen, ein gutes Identitäts- und Zufriedenheitsgefühl zu entwickeln, indem die Beeinträchtigung lediglich als ein kleiner Teil des Körpers gewertet wird. Sinnvolle therapeutische Maßnahmen versuchen ein Gleichgewicht herzustellen, wägen Nutzen und negative Auswirkungen ab und beziehen die vorhandenen Ressourcen in die Förderung des Kindes mit ein. Dabei richten sie ihr Augenmerk auf das Kind als Ganzes in seiner Wahrnehmung und seinen Lebenszusammenhängen und achten darauf, dass die betroffenen Kinder möglichst wenig „Sonderbehandlung“ erfahren. Die Haltung der Familienangehörigen und des sozialen Umfelds tragen wesentlich dazu bei, ob ein Kind sich mit all seinen Möglichkeiten entfalten kann oder sich stets nur als „defizitär“ erlebt. Inklusive oder integrative Einrichtungen wirken unterstützend, indem Berührungsängste und Vorurteile minimiert werden. Altersangemessene Sexualerziehung hilft Heranwachsenden, sich als sexuelles Wesen mit einer geschlechtlichen und sexuellen Identität wahrzunehmen. Im Vor- und Grundschulalter geht es dabei besonders um das Begreifen der körperlichen Vorgänge und die Unterscheidungsmerkmale zwischen den Geschlechtern. Während das Zusammenspiel zwischen Kindern mit oder ohne eine körperliche Beeinträchtigung in jungen Jahren oft noch gelingt, ändert sich dieses meistens dann, wenn sie älter werden, besonders während der pubertären Phase. Die Auseinandersetzung mit dem veränderten Körper, die Ablösung vom Elternhaus sowie die Frage nach Normalität beschäftigen alle Jugendlichen in dieser Phase in unterschiedlicher Art und Weise, sodass Verschiedenheit deutlich sichtbar wird. Jugendliche beschäftigen sich mehr mit sich selbst, sind zunehmend durch eigene Probleme und Fragestellungen irritiert, sodass die Gleichaltrigen mit einer körperlichen Behinderung schnell aus dem Blickfeld und leicht in eine Außenseiterrolle geraten können. Viele Erwachsene berichten in Beratungen davon, dass ihnen gerade in der Phase der Pubertät ihr „Anderssein“ besonders schmerzlich verdeutlicht wurde. Dieses Bewusstsein kann nicht ohne Folgen auf das Verhalten und das eigene Körpererleben bzw. Selbstwertgefühl bleiben. Besonders Mädchen versuchen dann eine gute Zuhörerin für andere zu sein und sich als Freundin und Ratgeberin zu verorten. Dabei wird ein

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bedeutsamer Strang der pubertären Entwicklung vernachlässigt oder gar nicht gelebt, nämlich die Suche nach der eigenen Lust, nach intimer Nähe und einer passenden Partnerschaft. Da im Jugendalter auch gemeinsame Unternehmungen wie Ausgehen oder sportliche Aktivitäten mehr Raum einnehmen als bislang, werden auch hier die Einschränkungen der körperlichen Möglichkeiten hautnah und alltäglich spürbar. Aus Angst vor Isolation versuchen viele Jugendliche dann, sich vermehrt an andere anzupassen und eigene Wünsche zu verdrängen. Als Folge davon könnten sie sich ein Verhalten antrainieren, bei dem sie sich als minderwertig oder ihre Bedürfnisse als nicht wichtig erleben und verlernen ihre eigenen sexuellen, partnerschaftlichen und freundschaftlichen Wünsche wahrzunehmen bzw. einzufordern. Im Hinblick auf prägende psychosexuelle Entwicklungsschritte sind das in der Regel schlechte Bedingungen, wenn es im Jugend- und Erwachsenenalter darum geht, eine Partnerschaft auf Augenhöhe zu gestalten. Da Status und Anerkennung innerhalb der Peergruppe von hoher Bedeutung für die Jugendlichen sind, gelingt es den Heranwachsenden aufgrund ihrer Erkrankung seltener bis gar nicht, sich selbst in ihrer Persönlichkeit und in ihrem eigenen Körper wertzuschätzen. Zudem orientiert sich das Denken während der pubertären Entwicklungsphase meist an geschlechtsbezogenen Merkmalen. Die immer noch vorhandenen Rollenbilder haben hier einen erheblichen Einfluss. Auch wenn diese anders als in den vergangenen Jahrzehnten zunehmend aufgeweicht sind, bestehen Vorstellungen von Männlichkeit und Weiblichkeit, die sich mit einer körperlichen Beeinträchtigung nicht gut vereinbaren lassen. Während sich Mädchen in der Pubertät besonders mit ihrem Aussehen auseinandersetzen und zunehmend unter den bestehenden Schönheits- bzw. Schlankheitsidealen leiden, dreht sich die Beschäftigung der Jungen in Bezug auf männliche Sexualität oft um die Beschaffenheit und die Funktion des Penis. Bei einem Mann mit einer Spina bifida, bei dem die körperliche Funktion der Sexualorgane beeinträchtigt sein kann, besteht die Gefahr, Minderwertigkeitsgefühle in Bezug auf die männliche Geschlechtsidentität und die eigenen sexuellen Möglichkeiten zu entwickeln. Mädchen versuchen den Blick auf ein vorhandenes Schönheitsideal eher zu umgehen, indem sie sich weniger sexuell inszenieren, sondern wie zuvor bereits skizziert, eher auf ein „kumpelhaftes Verhalten“ im Umgang mit Gleichaltrigen setzen. Die hier genannten Einschränkungen sind mögliche Muster von Beeinträchtigungen, die immer individuell geprägt sind. Keinesfalls sind diese für alle Jugendlichen, die mit einer Spina bifida leben, als zutreffend anzusehen. Normal ist es verschieden zu sein. Alle Heranwachsenden sind unterschiedlichen Einflussfaktoren ausgesetzt und jede einzelne Person hat eigene biografische Erfahrungen und individuelle Verknüpfungsmuster. Auch deshalb ist es empfehlenswert, von Kindheit an über sexuelle und körperliche Themen zu sprechen. Die betroffenen Personen erhalten so die Möglichkeit, frühzeitig einen inneren Prozess des Umdenkens in Bezug auf die eigene Körperlichkeit und Sexualität zu vollziehen.

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6.3.4 Sexualität ist mehr als … Sexualität ganzheitlich betrachtet, findet nicht nur in den Sexualorganen statt und beschränkt sich keinesfalls auf den Geschlechtsverkehr. Auch wenn sich diese Mythen hartnäckig in den Gedanken verankern, Orgasmen können auch an anderen Stellen im Körper wahrgenommen werden. Da diese Denkweise aber nicht der Meinung des Mainstreams entspricht, ist es im Hinblick auf die eigene Geschlechtlichkeit und und die körperlichen sexuellen Reaktionsweisen besonders notwendig, altersangemessene und kontinuierliche Aufklärung zu etablieren. Denken und Fühlen wird nicht nur individuell wahrgenommen, sondern auch sozial geprägt. Dazu ein Beispiel aus der Sexualberatung eines jungen Erwachsenen mit einer stark ausgeprägten Form der Spina bifida: „Wenn ich mich im Genitalbereich berühre, dann spüre ich nichts, aber wenn jemand mein Gesicht streichelt oder küsst, habe ich das Gefühl von elektrischen Spannungsgefühlen im ganzen Körper. Ich denke, so fühlt sich ein Orgasmus an und somit habe ich gelernt meine Behinderung zu akzeptieren und mich dennoch als ein ganzer Mann zu fühlen.“ Auch wenn dieser Mann im Erwachsenenalter ein anderes Bild von Männlichkeit als allgemein assoziiert verkörpert, kann er inzwischen selbstbewusst eine Partnerschaft gestalten. Möglicherweise findet er einen Partner/eine Partnerin, der/die gleichfalls andere Formen der sexuellen Lust bevorzugt. In Beratungen könnte zudem thematisiert werden, dass es auch unabhängig von körperlichen Einschränkungen Paarbeziehungen und Beziehungsmodelle gibt, bei denen die Sexualität eine untergeordnete Rolle einnimmt.

6.3.5 Die gesellschaftliche Dimension Sexualität ist allgegenwärtig. Aber sind die die Ausdrucksformen von Sexualität, die sich die Menschen wünschen, die sie glücklich und zufrieden machen, auch so, wie die mediale und öffentliche Verbreitung es ihnen glaubhaft machen will? Aus Befragungen und aus der Themenfokussierung in der Sexual- und Onlineberatung lassen sich eindeutig Rückschlüsse ziehen und Widersprüche zwischen einerseits öffentlichen Inszenierungen und andererseits privaten Bedürfnissen und Lebensumständen aufzeigen. Die meisten Jugendlichen und Erwachsenen wünschen sich eine Beziehung, in der sie Geborgenheit, Nähe und ein Gefühl von Heimat und Zugehörigkeit finden. Sexualität spielt eine wichtige Rolle, aber sie ist ein integrativer Teil eines sehr viel umfassenderen Lebenskonzepts. Sexualität ohne Liebe, Liebe ohne Sexualität ist möglich, aber für die meisten Menschen ein vorübergehender Zustand, ein eher kurzzeitiges Glück. Ohne weder das eine noch das andere Erleben zu bewerten, sind die Wünsche vieler Menschen in Bezug auf Partnerschaft und Sexualität eher durch traditionelles und konservatives Denken geprägt. Aus meiner Sicht sind in der Sexualbegleitung von Menschen mit einer Spina bifida vier wesentliche Faktoren zu berücksichtigen:

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Mythen, Realität und Illusion auch in Bezug auf Partnerschaft und Sexualität müssen ein integratives Thema im Alltag sein. Methodisch empfehlen sich Gespräche, Kommunikation über Normen, Haltungen, Bedürfnisse und Lebensvorstellungen sowie die kritische Auseinandersetzung mit medialen und öffentlichen Inszenierungen von Sexualität und Schönheitsidealen. Die Frage nach Normalität, aber auch die realistische Betrachtung der eigenen Möglichkeiten sollten hierbei fokussiert werden. 2. Heranwachsende und Erwachsene müssen je nach Form der Beeinträchtigung, des Kenntnisstandes und der eigenen Gesprächswünsche Angebote von sexueller Bildung erhalten, die es ihnen ermöglichen, sich auch mit sexuellen Themen auseinanderzusetzen. Ob es sich dabei um Sexualaufklärung, Paarbegleitung, Sexualassistenz, Kriseninterventionen, Kontaktaufnahme oder um die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechtsidentität, der sexuellen Orientierung bzw. um allgemeine Informationen rund um Sexualität handelt, muss im Einzelfall geprüft und abgeklärt werden. Oftmals wird es hier notwendig sein, mit externen Beratungsstellen zusammenzuarbeiten und sich frühzeitig zu vernetzen, um zeitnahe Hilfestellung anbieten zu können. Es zählt nicht zu den primären Aufgaben der begleitenden Personen oder Angehörigen, sich in jedem Themenbereich auszukennen, um selber Angebote entwickeln zu können. Vielmehr geht es hier darum, Ansprechpartner/Ansprechpartnerin zu sein und eine Idee zu haben, wo sich in der Nähe die richtige Anlaufstelle befindet, die kompetent, professionell und beratend unterstützen kann. Manchmal kann es notwendig sein, einen weiteren Schritt zu gehen und bei der Kontaktaufnahme zu helfen bzw. die erforderliche Mobilität zu organisieren. 3. Auch heikle Themen sollten nicht ignoriert, sondern angesprochen werden können. Der Umgang mit sexueller Gewalt, konkreten sexuellen Hilfestellungen, tabuisierten Themen wie z. B. Selbstbefriedigung, sexuelle Reaktionsweisen oder Kinderwunsch stellt für viele Angehörige oder Begleitpersonen eine besonders hohe Herausforderung dar. Aber auch hier gilt der Grundsatz: Hinschauen, wahrnehmen und nach angemessenen Hilfestellungen suchen und diese dann vermitteln. Bisweilen kann es notwendig sein, sich zunächst selbst zu informieren bzw. beraten zu lassen, um dann eine passende Intervention oder Hilfestellung einleiten zu können. 4. Die schwierigeren Lebensbedingungen sind in die sexualitäts- und partnerschaftsbezogene Begleitung mit einzubeziehen. Eine lebenslange vollständige oder teilweise vorhandene Abhängigkeit beeinträchtigt die Selbstständigkeit und das eigene Autonomiegefühl sowie die Inanspruchnahme des Rechts auf sexuelle Selbstbestimmung. Das Wohnen in einer betreuten Einrichtung schränkt die Gestaltung, die Spontaneität und den Wechsel der Lebensweise massiv ein. Mangelnde Mobilität und ein geringes Einkommen behindern die Lebensplanung, das Ausleben der sexuellen Wünsche, die Kontaktaufnahme und die Partnerschaft.

1.

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6.3.6 Besondere Herausforderungen in Bezug auf Sexualität 6.3.6.1 Pflege und Sexualität Menschen mit einer klinisch relevanten Spina bifida sind mehr oder weniger ihr ganzes Leben auf medizinische oder lebenspraktische Hilfe angewiesen. Das muss auch in Bezug auf Sexualitätsbegleitung beachtet werden. Vor allem im Kindesalter stehen orthopädische und urologische Rehabilitationsmaßnahmen an, die vonseiten des Kindes und der Familienangehörigen eine Bereitschaft zur Mitarbeit erfordern. Wenn Kinder es gewohnt sind, dass pflegerische und medizinische Maßnahmen an ihrem Körper durchgeführt werden, fällt es ihnen schwer, ein Gespür für Unterschiede zwischen Pflege, Versorgung und sexuellen Gefühlen zu entwickeln. Daraus kann die Fremdheit des eigenen Körpers resultieren, die dann eine Ursache für verminderte sexuelle Erlebnisfähigkeit sein kann. Die Wahrnehmung der menschlichen Ganzheit (die innere Verbindung von Körper, Geist und Gefühlen) kann bei Menschen mit einer Spina bifida durch den Mangel an Intimität und das Gewohntsein von Pflege erschwert sein. Diese Situationen können dazu beitragen, dass es ihnen nicht leichtfällt, sexuelle Gefühle in intimen Situationen wahrzunehmen und den eigenen Körper selbstbewusst anzunehmen. Das Angewiesensein auf Unterstützung auch in intimen Situationen, sei es durch den Partner/die Partnerin oder durch helfend, pflegerisch agierende Personen, beeinträchtigt die auf Pflege angewiesenen Personen insbesondere im Jugend- und Erwachsenenalter im Ausleben ihrer sexuellen Bedürfnisse. Pflegerische Handlungen können durchaus sexuelle Gefühle hervorrufen, und in sexuellen Situationen kann es passieren, dass lustvolle, erregende Empfindungen ausbleiben. Häufig können zufriedenstellende Lösungen nur durch Kommunikation, Planung und durch die Einbeziehung von anderen Personen gefunden werden. Auch wenn pflegerische und versorgende Maßnahmen sinnvoll und notwendig sind, stören sie die Intimität, das Autonomiegefühl und die Privatsphäre. Das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung kann dann nur bedingt ausgelebt werden, denn die betroffenen Personen können womöglich ohne Vorbereitung oder konkrete sexualitätsbezogene Hilfe ihre Bedürfnisse nicht ausleben.

6.3.6.2 Inkontinenz Wenn aufgrund einer Spina bifida Inkontinenz vorliegt, was bei einem Teil der betroffenen Menschen der Fall ist, muss diese Kenntnis beim Ausleben der sexuellen Wünsche bedacht und in die sexuellen Handlungen integriert werden. Dazu ist es zunächst notwendig, ein Gespür dafür zu entwickeln, wie sich die Blase oder der Darm bei aktiven sexuellen Handlungen verhalten und ob bei sexueller Erregung bzw. beim Orgasmus Urin oder Kot verloren gehen. Wenn die betroffenen Personen wissen, wie ihr Körper auf Erregung reagiert, können sie im Vorfeld entsprechende Maßnahmen bedenken, besprechen und einleiten. Auch hier hilft frühzeitige, kontinuierliche Sexualerziehung, ein natürliches Gefühl für Körperflüssigkeiten zu behalten und keinen

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Ekel vor den eigenen Ausscheidungen zu entwickeln. Kinder lernen sich und ihren Körper in der frühen Phase der psychosexuellen Entwicklung auch durch das „Spiel mit Kot und Urin“ kennen. Diese Erlebnisse sind bei ihnen durchaus lustbesetzt. Das Spiel des Loslassens und Festhaltens kann auch das Streben nach Autonomie fördern und Machtgefühle über den eigenen Körper auslösen. Fehlt diese Erfahrung bei einer dauerhaften Inkontinenz, ist es notwendig, kreative Ideen zu entwickeln, wie diese mangelnden Erfahrungen ausgeglichen werden können. Die meisten Jugendlichen und Erwachsenen sehen eine möglichst gute Kontrolle über die Inkontinenz, die temporär für viele erreichbar ist, als Voraussetzung für partnerschaftliche Sexualität an. Deshalb kann es erleichternd für sie sein, zu wissen, dass nicht alle Erwachsenen Ekel bei Körperflüssigkeiten empfinden. Für viele in pflegenden oder medizinischen Arbeitsfeldern Beschäftigte zählt der Umgang damit zur alltäglichen Routine. Vielleicht fällt es den Erwachsenen mit einer Inkontinenz dann leichter, ihre eigene Scham und Peinlichkeit zu überwinden und sie in der partnerschaftlichen Sexualität zu thematisieren, wenn sie den Stuhl oder Urin bei ihrer sexuellen Aktivität nicht kontrollieren können. Vorsorglich können natürlich auch Unterlagen oder Handtücher benutzt werden bzw. Papiertaschentücher in greifbarer Nähe liegen. Unterstützend kann es hilfreich sein, wenn die Blase vor den sexuellen Aktivitäten geleert wird. Wenn ein Abgang von Kot vermieden werden soll, ist es gut, wenn der Enddarm zuvor geleert wird und bis zur nächsten Abführzeit 12 Stunden liegen. Das Sprechen über solche intimen Vorgänge muss zu einer alltäglichen Selbstverständlichkeit werden, damit es gelingt, diese dann auch in einer Partnerschaft besprechbar zu machen.

6.3.6.3 Kinderwunsch, Verhütung, Schwangerschaft und Geburt Je nachdem welche Sexualpraktiken bevorzugt werden, kann es bei einer heterosexuellen, partnerschaftlichen Sexualität sinnvoll sein, sich mit der eigenen Fruchtbarkeit auseinanderzusetzen. Liegt kein Kinderwunsch vor, müssen je nach Ausprägung der Spina bifida und im Zusammenspiel von Medikamenten, die ggf. regelmäßig eingenommen werden müssen, die Männer und Frauen ein für sie passendes Verhütungsmittel finden und auswählen. In der Partnerschaft sollte gemeinsam geklärt werden, welche Verhütungsmethode bevorzugt wird und welche Methoden einem Paar zur Verfügung stehen. Zu einem sicheren Verhütungsschutz für Männer zählen bislang Kondome, während die Frauen zwischen einer Reihe von hormonellen, mechanischen und natürlichen Verhütungsmitteln wählen können. Frauen, Männer und Paare sollten sich auf jeden Fall ausgiebig beraten und untersuchen lassen, um die für sie geeignete Methode herauszufinden. Insbesondere die Familienplanungsberatungsstellen und die Ärztinnen/Ärzte von „pro familia“ verfügen über viele Detailkenntnisse und über ein größeres zeitliches Budget, um eine fachlich und zeitlich angemessene Beratung durchführen zu können. Hormonelle Verhütungsmittel haben Nebenwirkungen, die bedacht werden müssen und bei der regelmäßigen Einnahme von anderen Medikamenten kann die Wirkung ausgesetzt werden. Natürliche Verhütung bedarf

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einer hohen Disziplin bei der Ermittlung der fruchtbaren und unfruchtbaren Tage und setzt ein gutes Körpergefühl voraus. Das könnte je nach Ausprägung der Spina-bifidaErkrankung für einige Frauen eine zusätzliche Erschwernis bei der Entscheidung für ein sicheres Verhütungsmittel sein. Da Menschen mit Spina bifida überdurchschnittlich häufig allergisch auf Latex reagieren, müssen die betroffenen Männer in diesen Fällen auf die deutlich teureren latexfreien Kondome zurückgreifen. Die Sterilisation sollte nach wie vor nur dann vorgenommen werden, wenn die Frau, der Mann oder das Paar sicher sind, dass sie keine eigenen Kinder bekommen möchten. Hier empfiehlt sich eine Sterilisationsberatung im Vorfeld, um sich mit den Beweggründen, den medizinischen Fakten und den Folgen auseinanderzusetzen. Nur selten gelingt es, eine Sterilisation rückgängig zu machen. Sie sollte also immer als endgültige Entscheidung gegen eigene Kinder betrachtet werden. Für viele Ratsuchende kann der grundsätzliche Hinweis wichtig sein, dass es möglich ist, auch bei einer vollständigen Querschnittslähmung ohne ein wahrnehmbares Gespür für den Körper und Gefühle im Genitalbereich, Kinder zu bekommen. In der Regel gibt es keine Einschränkung in Bezug auf die Fertilität einer Frau mit Spina bifida, während die Fertilität bei Männern in unterschiedlicher Weise eingeschränkt sein kann. Da es inzwischen etliche Erfahrungen mit den Risiken in der Schwangerschaft und in Bezug auf Elternschaft gibt, wird empfohlen, sich im Vorfeld mit dem Kinderwunsch auseinanderzusetzen und sowohl urologische als auch gynäkologische Untersuchungen mit ggf. genetischen Tests durchzuführen. Die Schwangerschaft sollte so früh wie möglich festgestellt werden, um notwendige Risikominimierungsmaßnahmen schnell einleiten zu können. Eine engmaschige Begleitung ist für die gesamte Dauer der Schwangerschaft sinnvoll. Auch wenn es bei einigen Frauen mit Spina bifida möglich ist, das Kind durch die Vagina zu gebären, wird am häufigsten ein Kaiserschnitt durchgeführt. Wenn regelmäßig Medikamente eingenommen werden müssen (z. B. bei den Frauen, die zusätzlich eine Epilepsie haben), sollte gut abgewägt werden, wie hoch das Risiko für das Kind während der Schwangerschaft ist. Das Gleiche gilt für das Stillen des Neugeborenen. Muttermilch bietet nach wie vor eine optimale Nahrung für das Kind, wenn die Qualität durch gute Ernährung und möglichst wenige Belastungsfaktoren gesichert ist. Wenn einmal in der Familie eine Spina bifida aufgetreten ist, besteht ein erhöhtes Risiko für das Kind, die Erkrankung zu bekommen. Das Risiko des Auftretens einer Spina bifida bei einem Neugeborenen ist gegenüber dem Durchschnitt erhöht und steigt nochmals, wenn Vater und Mutter betroffen sind (s. Kap. 6.2.3.1).

6.3.6.4 Sexuelle Gewalt Verschiedene Gesetze schützen alle Bürgerinnen und Bürger vor sexueller Gewalt. Im Vordergrund steht dabei das Grundgesetz, das das Recht auf körperliche Unversehrtheit betont. Die Ausübung von sexueller Gewalt wird, wenn sie bekannt bzw. angezeigt wird, administrativ verfolgt und bestraft. Schätzungen zufolge ist die Dun-

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kelziffer, wie viele Menschen in Deutschland sowohl im Kindes- als auch im Jugendund Erwachsenenalter durch die Ausübung von sexueller Gewalt betroffen sind, sehr hoch. Es gibt aber mittlerweile einige Untersuchungen, die anhand von Befragungen und der Auswertung von vorliegendem Datenmaterial davon ausgehen, dass Mädchen und Frauen mit einer Behinderung deutlich häufiger Opfer von sexueller Gewalt werden als andere, laut UNO-Angaben ist die Anzahl etwa doppelt so hoch. Eine ähnliche Vermutung gibt es auch in Bezug auf Jungen und Männer mit einer Behinderung, auch wenn nach dem bisherigen Kenntnisstand der männliche Teil der Bevölkerung ausgehend von den erfassten Daten zahlenmäßig seltener Opfer von sexuellen Gewalthandlungen wurde als der weibliche. Je weniger die Menschen über Kommunikationsmöglichkeiten verfügen und je mehr sie auf Hilfe und Pflege angewiesen sind, desto größer sind die Möglichkeiten, Heranwachsende und Erwachsene für die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse zu benutzen und unentdeckt von anderen, sexuelle Gewalthandlungen an ihnen vorzunehmen. Abhängigkeiten, ungleiche Machtverhältnisse, Tabuisierung von sexuellen Themen, geringe Selbstwertgefühle, mangelnde Kommunikationsstrukturen und eine fehlende Privat- und Intimsphäre bieten einen Nährboden für (sexuelle) Gewalt. Die meisten Täter/Täterinnen kommen aus der unmittelbaren, alltäglichen Umgebung der Opfer, was Chancen der Selbsthilfe und die Wirkungsweise von präventiven Maßnahmen enorm begrenzt. Auch wenn die uneingeschränkte Verankerung der sexuellen Selbstbestimmung bei Erwachsenen im institutionellen Alltag schwieriger umzusetzen ist als im familiären Umfeld, muss diese Anforderung dennoch erzielt werden. Gleichfalls bleibt eine weitere gesellschaftliche Enttabuisierung des Themas „sexuelle Gewalt“ notwendig, um ausreichend Schutz für die auf Hilfe angewiesenen Personen zu gewährleisten und um die Bevölkerung nicht aus ihrer gesellschaftlichen Verantwortung zu entlassen. Frühzeitige Sexualerziehung, kontinuierliche sexuelle Bildungsangebote für Einzelne, Paare und Gruppen, Kontaktaufbau und Vernetzung mit Beratungsstellen, Selbsthilfegruppen, die Möglichkeit der gleichgeschlechtlichen Pflege sowie Kurse zur Ich-Stärkung und Selbstbehauptung können einen Beitrag zur Förderung der sexuellen Selbstbestimmung und Selbsthilfe leisten. Über die Täterschaft von Menschen mit einer Behinderung gibt es bisher kein gesichertes Datenmaterial.

6.3.6.5 Sexuelle Hilfestellung, Sexualbegleitung und Sexualassistenz Die Nachfrage nach konkreten sexuellen Hilfestellungen an Angehörige, Pflege- und Betreuungspersonal kann im Alltag an Einzelne oder Teams gerichtet werden. Konkrete sexuelle Handlungen in direkten Betreuungsverhältnissen sind problematisch, aber nicht unmöglich. Manchmal geht es um Hilfestellungen in der Partnerschaft oder um die Kontaktaufnahme, manchmal wird Unterstützung benötigt, um ein geeignetes Hilfsmittel (z. B. Gleitcreme, Erotik- oder Pornofilm, Vibrator) zu besorgen. Je nach Ausprägung der Spina bifida können konkrete sexuelle Handlungen erforderlich

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sein, um eine befriedigende Sexualität leben zu können. Sowohl bei der Ausübung der Selbstbefriedigung als auch in der partnerbezogenen Sexualität wird dann Hilfe benötigt, um die körperlichen Beeinträchtigungen auszugleichen. Inzwischen gibt es auch Angebote von sexuellen Dienstleistungen und Partnerschaftsvermittlung, die Angehörige und Betreuungspersonen entlasten können und konkrete sexuelle Hilfen anbieten können. Die Inanspruchnahme von Sexualbegleitung oder Prostitution kann den Weg zu einer selbstbestimmten, befriedigenden Sexualität ebnen. Welche Maßnahmen nützlich sind, hängt von den Wünschen der betroffenen Personen und den kontextgebundenen Rahmenbedingungen ab. Sexuelle Assistenz kann je nach Art der Hilfestellung juristisch gesehen eine sexuelle Handlung sein. Unter Umständen kann diese dann als ein sexueller Übergriff an zu Betreuenden in Abhängigkeitsverhältnissen gewertet werden. Gesetzlich in einer Grauzone, im Alltag beispielsweise durch Probleme mit Rollenkonfusionen bleibt es schwierig, sehr körpernahe sexuelle Hilfestellungen in direkten familiären oder institutionellen Betreuungsverhältnissen zu geben. Dennoch müssen sich Angehörige und Institutionen mit der Frage auseinandersetzen, wie sie geeignete Hilfestellungen finden und geben können. Grundsätzlich gilt auch hier die Handlungsmaxime: den Einzelfall betrachten, im Gespräch, in Kontakt und in Beziehung bleiben, ohne Intimitäten zu verletzen oder grenzüberschreitend zu agieren. Diese Herausforderung anzunehmen ist nicht einfach und kann dann besonders mühselig sein, wenn die Kommunikation aufgrund der körperlichen oder kognitiven Beeinträchtigung erschwert ist. Schulungen, Fortbildungen und Konzepte geben dem Personal Sicherheit im Umgang mit sexuellen und insbesondere mit heiklen Themen.

6.3.6.6 Loslassen und Haltgeben – die Rolle der Eltern und Angehörigen Eltern übernehmen heutzutage zunehmend Verantwortung und sprechen mit ihren Kindern über Körper und Sexualität, aber es fällt ihnen nicht leicht. In der Regel setzt die elterliche Aufklärung zu spät ein. Während Eltern meistens über die Themen informieren, die sie für wichtig erachten, wie z. B. Verhütung, sparen sie andere für Heranwachsende bedeutsame Themen aus. Jungen haben nach wie vor weniger Ansprech- und Vertrauenspersonen im erwachsenen familiären Umfeld als die Mädchen. Das hängt damit zusammen, dass sich die Mütter/die weiblichen Bezugspersonen eher als die Väter/männlichen Bezugspersonen für die Sexualerziehung zuständig fühlen. Je älter die Jungen werden, desto unsicherer sind die Frauen, inwieweit sie intime, körperliche Vorgänge mit den Jungen besprechen sollten. Auch mangelt es oft an konkreten personifizierten Identifikationspersonen, wenn es um das „Einüben der männlichen Rolle“ geht. Schulische Sexualerziehung wird inzwischen in Deutschland flächendeckend durchgeführt. Sie hat eine wichtige aufklärende Funktion für die Jugendlichen, aber auch deutliche Grenzen in Bezug auf die Themen, die Nachhaltigkeit und auf den Beziehungsaspekt. Dennoch zählen nach Befragungen der BZgA die Eltern nach wie vor mit zu den präferierten Vertrauenspersonen in Bezug

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auf Aufklärungsthemen [4]. Anhand der wenigen vorhandenen Befragungen lassen sich zunächst keine signifikanten Unterschiede zwischen Jugendlichen mit und ohne (körperliche) Behinderungen feststellen. Dennoch bestätigen die Erfahrungen in den unterschiedlichen Praxisfeldern, dass Heranwachsende mit einer Beeinträchtigung benachteiligt sind. Tendenziell fühlen sie sich zu spät oder gar nicht aufgeklärt und nicht ausreichend von Familie und Schule zu diesen Themenkomplexen begleitet. Einige Eltern blenden das Thema angesichts der Behinderung aus Unsicherheit und Angst aus, weil sie davon ausgehen, dass sexuelles Erleben nicht möglich oder „unpassend“ ist. Andere Eltern scheuen es, mit ihren Kindern über Sexualität zu sprechen, weil sie diese entweder entsexualisieren oder nicht wissen, welche Botschaften sie ihnen mit auf den Weg geben sollen. Sie beschäftigt die Frage, ob ihr Kind jemals sexuelle oder partnerschaftliche Beziehungen eingehen kann und wie sich die körperliche Einschränkung auf das Sexualleben auswirkt. Je schwerer die Beeinträchtigung ist, je mehr die Heranwachsenden auf Hilfe angewiesen sind, desto weniger kommen sie in den Genuss von (frühzeitiger) aktiver Sexualerziehung vonseiten der Erwachsenen. Eine eindimensionale Vorstellung von Sexualität und Partnerschaft und die Auseinandersetzung mit der Beeinträchtigung und deren Folgen für das gesamte Familiensystem, erschwert es den Eltern, eine aktive Rolle einzunehmen und mit dem Kind über Sexualität und körperliche Veränderungen offen zu sprechen. Aber mehr noch als das Reden über sexuelle und körperbezogene Themen wirkt der alltägliche Umgang auf das spätere Beziehungs- und Sexualleben. Die Herausforderung des Loslassens und gleichzeitigen Haltgebens betrifft die Eltern von Kindern mit einer Spina bifida deutlich stärker als andere Eltern. Pubertäre physische und psychische Veränderungen bringen Probleme in das familiäre und soziale Beziehungsgefüge. Ablösung, Geschmacksverirrungen, Eigensinn und Widerspruchsgeist sind nur einige Stichpunkte, die das gemeinsame Miteinander in dieser Entwicklungsphase entscheidend belasten. Eltern haben oft mehr Probleme damit, ihr Kind zunehmend „eigene Wege gehen zu lassen“ als die Heranwachsenden. Bei Eltern von Jugendlichen mit einer Beeinträchtigung verstärkt sich die skizzierte Problematik in der Regel. Je mehr das Angewiesensein auf Hilfe vorhanden ist, desto schwieriger gestaltet sich der zum Erwachsenwerden dazugehörige Ablösungsprozess. Das Verhalten der Eltern in dieser Zeit, nämlich fördernd oder hemmend zu wirken, übt einen sehr großen Einfluss auf das Kind aus. Angemessene Begleitung im Sinne von „Loslassen“ (Kinder müssen eigene Erfahrungen machen, um daraus lernen zu können), aber gleichzeitigem Haltgeben (z. B. Gesprächsbedarf beim Kind erkennen, Unterstützung bei Problemen in der Gleichaltrigengruppe, aktive Sexualerziehung) tragen entscheidend dazu bei, ob Heranwachsende ihre Möglichkeiten erkennen, Zugänge zum öffentlichen Leben erhalten, körperliche Wohlgefühle erleben und bereit sind, sich mit ihrer Sexualität auseinanderzusetzen und Liebesbeziehungen einzugehen. Auch Eltern und Angehörige benötigen hierbei Unterstützung. Deshalb bieten Familienplanungsberatungsstellen (z. B. pro familia) Elternabende und Fort-

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bildungen in Institutionen an und stehen für Aufklärungsgespräche und Beratungen für alle Personengruppen zur Verfügung. Neben der Aufgabe eine angemessene Sexualaufklärung zu ermöglichen, fällt es Eltern und Angehörigen schwer, ein stimmiges Verhältnis zwischen Nähe und Distanz zwischen ihnen und den betroffenen Heranwachsenden herzustellen. Verständlich, weil der alltägliche Umgang miteinander auch immer routiniertes Verhalten mit sich bringt. Hier bedarf es zunehmender Aufklärung von diesem Personenkreis und eine stärkere Sensibilisierung für alltägliche Vorgänge und sich verändernde Prozesse. Mag es im Kindesalter, auch über das übliche „Wickelalter“ hinaus, stimmig sein, dass Angehörige ihre Kinder auch in pflegerischen Bereichen versorgen, müssen später andere Wege gefunden, zumindest angedacht werden. Einige Eltern sind es gewohnt, bei ihrem Kind von Geburt an die Blase zu katheterisieren. Zwangsläufig entsteht eine routinierte Situation, die dann unbewusst bzw. unreflektiert, stetig fortgeführt wird, solange diese Maßnahmen notwendig sind. Hier ist eine Bewusstseinsschärfung für Angehörige, gleichfalls für die betroffenen Jugendlichen vonnöten, um auch in dieser Beziehung ein gelungenes Verhältnis zwischen Intimität und (Halb-)Öffentlichkeit, Nähe und Distanz, Abhängigkeit und Unabhängigkeit zu verankern. Jugendliche benötigen diese Unterstützung vonseiten der Angehörigen und Eltern, um den notwendigen Prozess der Ablösung, des Erwachsenwerdens und der sexuellen Selbstbestimmung gehen zu können.

6.3.7 Sexuelles Schicksal? – Ein Resümee Laut einer Definition der WHO ist sexuelle Gesundheit untrennbar mit Gesundheit insgesamt, mit Wohlbefinden und Lebensqualität verbunden. Sie ist ein Zustand des körperlichen, emotionalen, mentalen und sozialen Wohlbefindens in Bezug auf die Sexualität und nicht nur das Fehlen von Krankheit, Funktionsstörungen oder Gebrechen. Sexuelle Gesundheit setzt eine positive und respektvolle Haltung zu Sexualität und sexuellen Beziehungen voraus sowie die Möglichkeit, angenehme und sichere sexuelle Erfahrungen zu machen, und zwar frei von Zwang, Diskriminierung und Gewalt [5].

Ohne die auftretenden Probleme im Leben eines Menschen mit einer dauerhaften Beeinträchtigung zu verleugnen, ist ein Prozess des Umdenkens in der Begegnung mit ihnen erforderlich. Kein Körper ist von Natur aus vollkommen, aber natürlich ist, dass jeder Mensch sexuelle Gefühle hat und jeder Körper in der Lage ist, sexuelles Glück zu spüren. Helfende Personen und Angehörige können wesentlich dazu beitragen, dass Minderwertigkeitsgefühle geschmälert und sexuelle Zufriedenheit erlangt werden kann. Dazu gehört, so trivial es auch klingen mag, ein offenes „aufeinander zugehen“, miteinander über Probleme und offene Fragestellungen zu sprechen, die Anwartschaft in Bezug auf die Einhaltung der sexuellen Rechte, die Förderung der (sexuellen) Selbstbestimmung beginnend im Kindesalter und die Unterstützung in Bezug

6.3 Spannungsfeld Sexualität

|

269

auf sexuelle Hilfestellungen sowie barrierefreie Zugänge zu Bildungs- und Beratungsangeboten oder therapeutischen Maßnahmen. Sexualität als Ressource spendet Energie und Lebendigkeit, aber sie kennt auch die negativen Auswirkungen, die sich beispielsweise im Schmerz oder in unerfüllten Wünschen wiederfinden können. Das Recht auf eigene, auch schmerzliche Erfahrung ist ein Bestandteil der sexuellen und reproduktiven Rechte, die nicht ausgeblendet werden dürfen. Die Sinnaspekte von Sexualität Identität, Lust, Beziehung und Fruchtbarkeit haben für jeden Menschen im Lebenszyklus eine unterschiedliche Bedeutung, die nur bedingt von außen gelenkt werden kann. Sie gehören zum Leben dazu und müssen im alltäglichen Geschehen mit bedacht werden. Jeder Mensch hat die Möglichkeit, Sexualität zu leben und individuelle Formen sexuellen Glücks zu erfahren sowie körperliche Befriedigung zu erlangen. Erschwerende soziale Behinderungen durch Betreuende und Angehörige müssen aktiv thematisiert und vermieden werden. Dazu gehört auch die Gestaltung von sinnlichen, gewaltfreien und sexualfreundlichen Rahmenbedingungen z. B. in Institutionen. Die sexuellen Aspekte oder die Wünsche nach Beziehungen und Partnerschaft auszublenden, würde den Menschen, die mit einer Spina bifida leben, tatsächlich ein sexuelles Schicksal auferlegen, das fremdbestimmt und von Menschenhand geprägt wäre und nicht aufgrund der bestehenden Behinderung vorhanden ist.

Literatur [1]

[2]

[3] [4] [5]

Martin B. Sexuelle Bildung als Menschenrecht. Gedanken über angemessene Sexualitätsbegleitung und notwendige Qualifizierungsmaßnahmen. In: Clausen J, Herrath F. (Hrsg.). Sexualität leben ohne Behinderung. Stuttgart: Kohlhammer; 2013: 204. Bude H. Was für eine Gesellschaft wäre eine „inklusive Gesellschaft“? In: Heinrich-BöllStiftung (Hrsg.). Inklusion: Wege in die Teilhabegesellschaft. Frankfurt am Main und New York: Campus; 2015: 37. Schmidt, G.: Das grosse DER, DIE, DAS über das Sexuelle. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt; 1993: 81. Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) (Hrsg.). Jugendsexualität. Repräsentative Wiederholungsbefragung. Die Perspektive der 14- bis 25-Jährigen. Köln: 2015 http://www.euro.who.int/de/health-topics/Life-stages/sexual-and-reproductive-health/ news/news/2011/06/sexual-health-throughout-life/definition; Zugriff am 27.04.2018.

Weiterführende Informationen Organisationen Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), Maarweg 149–161, 50825 Köln, Tel. 0221/89920, www.bzga.de. pro familia – Deutsche Gesellschaft für Familienplanung, Sexualpädagogik und Sexualberatung, Stresemannallee 3, 60596 Frankfurt/Main, Tel. 069/26957790, www.profamilia.de.

270 | 6 Sexualität

Institut für Sexualpädagogik (isp), Friedrich-Ebert-Ring 37, 56068 Koblenz, Tel. 0261/1330637, www. isp-dortmund.de. Institut zur Selbst-Bestimmung Behinderter (ISBB), 29494 Trebel, Dipl.-Psych. Lothar Sandfort, www.isbbtrebel.de. Weibernetz e. V. – Bundesnetzwerk von FrauenLesben und Mädchen mit Beeinträchtigung, Kölnische Straße 99, 34119 Kassel, Tel. 0561/72885-85, Fax 0561/72885-53, www.weibernetz.de.

Publikationen Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2012): Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland. http:// www.bmfsfj.de/BMFSFJ/Service/Publikationen/publikationen,did=186150.html. Fürll-Riede, C./Hausmann, R./Schneider, W. (2001): Sexualität trotz(t) Handicap. Stuttgart. Dieses Buch zeigt anschaulich den Zusammenhang zwischen Sexualität und körperlichen Beeinträchtigungen auf. Begleitpersonen und Berater*innen erhalten Informationen und Tipps über Möglichkeiten den betroffenen Menschen Hilfestellungen geben zu können. pro familia Bundesverband (Hrsg.): Expertise Sexuelle Assistenz für Frauen und Männer mit Behinderung. Frankfurt 2005. http://www.profamilia.de/fileadmin/publikationen/ Fachpublikationen/expertise_sexuelle_assistenz.pdf. pro familia Bundesverband (Hrsg.): Sexualität und körperliche Behinderung, Frankfurt/M. 1997, http://www.profamilia.de/erwachsene/rechte/sexualitaet-und-koerperliche-behinderung. html. pro familia LV NRW: kommentierte Literaturliste, http://www.profamilia.de/fileadmin/ landesverband/lv_nordrhein-westfalen/nrw-sexualpaedagogik/2015-08_Litl._Behinderung_ kommentiert__1_.pdf.

Sabine Ruschpler

6.4 Behinderung und Sexualität – rechtliche Grundlagen und persönliche Erfahrungen 6.4.1 Einleitung Das Recht eines Menschen mit Behinderung auf Selbstbestimmung und Teilhabe ist ein umfassendes Recht, das sich auf alle Altersstufen und Lebensbereiche bezieht. Das beginnt mit der Kindheit, erstreckt sich über die Jugend und Pubertät bis hin zum Erwachsenwerden. Dabei bleibt kein Lebensbereich ausgeschlossen. Die Behinderung hat Einfluss auf Freundschaften, die Gestaltung der Freizeit und darauf, welchen Weg man hinsichtlich Schule, Ausbildung und Ausübung eines Berufs geht. Ganz zu schweigen von selbstständigem Wohnen, der Gründung einer eigenen Familie und einer erfüllten Sexualität und Partnerschaft. Grundgesetz (GG), Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) und Allgemeines Gleichstellungsgesetz (AGG), auch Antidiskriminierungsgesetz genannt, stellen in Deutschland die gesetzlichen Grundlagen dar, die Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen beseitigen oder verhindern sollen.

6.4 Behinderung und Sexualität – rechtliche Grundlagen und persönliche Erfahrungen |

271

Wesentlich umfassender als in diesen Gesetzen sind die Rechte von Menschen mit Behinderungen niedergelegt in der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen, der Deutschland am 26.3.2009 beigetreten ist.

6.4.2 Definition von Behinderung Die Definition von Behinderung im BGG und § 2 Abs. 1 SGB IX (gleicher Wortlaut) sieht die Bedingungen, die zu einer Beeinträchtigung der Teilhabe führen, ausschließlich aufseiten des behinderten Menschen: Menschen sind behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist.

Eine umfassendere Sichtweise findet sich dagegen in der Behindertenrechtskonvention der UN. Die Konvention enthält keine eigenständige Definition davon, was Behinderung ist. In Artikel 1 ist aber die Erläuterung enthalten, was auf jeden Fall als Behinderung zu verstehen ist. Dort heißt es: Zu den Menschen mit Behinderungen zählen Menschen, die langfristige körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, welche sie in Wechselwirkung mit verschiedenen Barrieren an der vollen, wirksamen und gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft hindern können.

Wichtig ist der Hinweis auf die Wechselwirkung mit unterschiedlichen Barrieren, d. h. auf Bedingungen, die unabhängig vom behinderten Menschen vorhanden sind.

6.4.3 Grundsätze der Behindertenrechtskonvention der UN – – – – – – – –

Achtung der Menschenwürde sowie der individuellen Autonomie und Unabhängigkeit, Nichtdiskriminierung, volle und wirksame Teilhabe an der Gesellschaft und Einbeziehung in die Gesellschaft („inclusion in society“), Achtung vor der Unterschiedlichkeit von Menschen mit Behinderungen und Akzeptanz dieser Menschen als Teil der menschlichen Vielfalt, Chancengleichheit, Barrierefreiheit, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Achtung vor den sich entwickelnden Fähigkeiten von Kindern mit Behinderungen und die Achtung ihres Rechts auf Wahrung ihrer Identität.

272 | 6 Sexualität

6.4.4 Wie Behinderung in unserer Gesellschaft wahrgenommen wird Eine Behinderung wird je nach Erfahrungen und Sichtweise von jedem Menschen anders gesehen. Aus unterschiedlichen Standpunkten entstehen Definitionen und Schlussfolgerungen, die die Entwicklung, Lebensqualität und Integration eines behinderten Menschen entscheidend beeinflussen können. Wer sich noch nie mit dem Thema Behinderung auseinandergesetzt hat, kann sich oft nicht vorstellen, wie man so leben kann. Noch weniger kann man sich vorstellen, mit so einem Menschen zusammen zu leben oder zu arbeiten. Um den Betroffenen nicht zu verletzen, traut man sich nicht, ihn anzusprechen. Störende Dinge werden nicht offen ausdiskutiert. Oft wird nur Mitleid signalisiert. Angst und eigene Unsicherheit blockieren den offenen und ehrlichen Umgang mit einem behinderten Menschen. Wenn wir nicht gerade in unserem direkten Umfeld betroffen sind, lernen wir nicht den Umgang mit Behinderung. Durch Unverständnis und fehlende Auseinandersetzung wird Behinderung als etwas Störendes, nicht Gewolltes empfunden. Erst wenn die Situation einer Behinderung eintritt, beginnt die Auseinandersetzung mit diesem Thema. Umso wichtiger ist es, immer wieder für die Verbesserung der Lebensbedingungen von Menschen mit Behinderung einzutreten.

6.4.5 Meine persönlichen Erfahrungen 6.4.5.1 Meine Ausgangssituation 6.4.5.1.1 Mein eigenes Bewusstsein über die Behinderung Die Behinderung ist angeboren. Wir lernen den Unterschied zwischen „behindert“ und „nichtbehindert“ nie kennen. So wie wir die Dinge aufgrund unserer Voraussetzungen lernen und ausführen, ist es für uns normal. Schwierigkeiten und Umwege werden zur Normalität. Die Beweglichkeit und die Gehfähigkeit sind stark eingeschränkt bzw. nicht vorhanden. Schmerzen, ein erhöhter Zeitaufwand und vor allem Inkontinenz beeinflussen wesentlich den Alltag der gesamten Familie. Ich bin auf zahlreiche Hilfen angewiesen wie Barrierefreiheit, einen Rollstuhl, eine rollstuhlgerechte Wohnung, ein an die Behinderung angepasstes Auto. Gleiches gilt für meinen Arbeitsplatz. Um sozial integriert werden zu können, muss ich Kontinenz schaffen durch ableitende und aufsaugende Systeme. Trotz aller Widrigkeiten und Probleme ist auch in mir der Wunsch nach Wärme, Nähe und Zärtlichkeit.

6.4 Behinderung und Sexualität – rechtliche Grundlagen und persönliche Erfahrungen |

273

6.4.5.1.2 Inkontinenz als Hauptschwierigkeit für eine erfüllte Sexualität Gerade durch die Inkontinenz entstehen zahlreiche Konflikte.

– – – – – –

Auf sozialer Ebene führt sie zu eingeschränkten Aktivitäten, hat Einfluss auf zwischenmenschliche Beziehungen. Vor sehr große Probleme und Hürden stellt sie eine Partnerschaft. Sie beeinflusst wesentlich die Psyche, führt oft zu Angst und Unsicherheit. Die nicht vorhandene Kontrolle über die Funktion von Blase und Darm führt zu Wut, Ärger und löst Schamgefühle aus. Nicht ungenannt lassen will ich den finanziellen und zeitlichen Mehraufwand für Körperpflege und Wäsche. Der größere Zeitaufwand und die Schaffung der notwendigen Voraussetzungen für die Entleerung von Blase und Darm sind nicht immer leicht zu akzeptieren.

6.4.5.1.3 Urogenital- und Analbereich gehören zum Intimbereich eines Menschen – Unfreiwilliger Verlust von Urin oder Stuhl führen zu Wut und Ärger über den Kontrollverlust. Man hat Angst und schämt sich, das Problem anzusprechen. – Es führt zur Unsicherheit gegenüber dem Partner. – Oft erfolgt der Rückzug aufgrund von Scham und zur Wahrung der eigenen Intimität.

6.4.5.2 Meine Lösungsansätze 6.4.5.2.1 Auseinandersetzung mit der eigenen Behinderung – Auch ich habe meine Zeit gebraucht, um mich mit dem Ausmaß der vorhandenen Einschränkungen auseinanderzusetzen. – Ich hatte keine Kenntnis von Lähmungshöhen und deren Auswirkungen. – In meiner Wahrnehmung war ich gehbehindert mit einem schlechten Gangbild. – Auf jeden Fall hatte ich die Vorstellung von fehlender Attraktivität, fühlte mich nicht als Frau.

6.4.5.2.2 Die Bedeutung von geeigneten Hilfsmitteln – Mein Hauptproblem war die Inkontinenz. Ich nutzte die falschen Hilfsmittel. Die richtigen aufsaugenden und ableitenden Systeme waren mir lange Zeit nicht bekannt und standen mir auch nicht zur Verfügung. Aus Angst vor unkontrolliertem Urinverlust habe ich weniger getrunken. Dadurch war der Urin stark konzentriert. – Durch die falsche Entleerung und geringes Blasenempfinden hatte ich ständig Restharn. Die Inkontinenz wurde von mir verheimlicht, verleugnet und verdrängt.

274 | 6 Sexualität

– – –

Erfüllte Sexualität war für mich kaum vorstellbar. Angst und Panik vor ungewollten Ausscheidungen führten zum Verlust der Freude und des Spaßes am Sex. Sie verhinderten die freie Hingabe gegenüber dem Partner. Das Ausprobieren von Stellungen, Techniken war unvorstellbar.

6.4.5.3 Meine heutige Situation 6.4.5.3.1 Offenheit und Gesprächsbereitschaft – Ich habe mir in meinem Umfeld die Basis für das Verständnis meiner Behinderung geschaffen. Wer mich fragt, was ich habe, bekommt eine Antwort. – Ich kann auch verstehen, wenn jemand sagt, damit kann ich nicht umgehen. – Daraus sind schon viele Gespräche entstanden, in denen dem anderen klar wurde, wodurch und wie schnell er selbst in eine solche Situation kommen kann.

6.4.5.3.2 Erfahrungen beim Umgang mit einem Partner – Ich spreche meine Probleme von Anfang an offen an, werbe für Verständnis. – Wichtig ist für mich, Lösungswege aufzuzeigen, denn der Partner ist noch hilfloser als ich. – Ich treffe ausreichend Vorsorge, wie Zeit für den ISK oder die Möglichkeit für die Dusche danach. – Ich kann heute Schwierigkeiten annehmen und versuche sie auch zu akzeptieren. Auf keinen Fall führen sie zum Abbruch der sexuellen Handlungen. – Ich kenne und nutze heute die richtigen Hilfsmittel, beherrsche problemlos den ISK, nutze die richtigen aufsaugenden Einlagen und schützende Unterlagen.

6.4.5.4 Schlussgedanken Die Behinderung ist keine Charaktereigenschaft, sie darf weder zu einer Benachteiligung führen noch als Vorteil in der Gesellschaft genutzt werden. Jeder muss sich entsprechend seinen Fähigkeiten integrieren. Dabei hat jeder einzelne Mensch, ob mit oder ohne Behinderung, seine eigenen Wünsche, Ziele und Vorstellungen. Je mehr ich mich mit meiner eigenen Situation auseinandersetze und nach Lösungswegen und Hilfsangeboten schaue, umso eher und leichter lassen sich Ziele realisieren und Probleme gemeinsam lösen. So wie ich auf das Verständnis der Umwelt angewiesen bin, benötigt die Umwelt die deutliche Signalisierung meiner Wünsche und Bedürfnisse. Ich wünsche mir, dass die UN-Behindertenrechtskonvention dazu beiträgt, dass Menschen mit einer Behinderung in unserer Gesellschaft tatsächlich „als Teil der menschlichen Vielfalt“ wahrgenommen werden.

6.4 Behinderung und Sexualität – rechtliche Grundlagen und persönliche Erfahrungen |

275

Weiterführende Literatur Gesetz zu dem Übereinkommen der Vereinten Nationen vom 13. Dezember 2006 über die Rechte von Menschen mit Behinderungen. Bundesgesetzblatt Jahrgang 2008 Teil II Nr. 35, ausgegeben zu Bonn am 31. Dezember 2008 http:// www.un.org/Depts/german/uebereinkommen/ar61106-dbgbl.pdf.

Paula Lapilover, Katharina Blümchen und Reinhold Cremer

7 Naturlatexsensibilisierung und -allergie 7.1 Latexallergie Naturlatex ist der Saft des Kautschukbaumes Hevea brasiliensis (deshalb werden die Latexallergene nach der internationalen Nomenklatur als Hev b bezeichnet und durchnummeriert), der durch Vulkanisation elastisch gemacht wird und aus dem z. B. Operations- und Umgebungshandschuhe, Luftballons, Sportutensilien, Schnuller und Matratzen hergestellt werden. 1927 wurde erstmals von Greta Stern von einer allergischen Reaktion gegen Latex berichtet, die rückblickend als klassisch allergische Reaktion vom Soforttyp eingeordnet werden kann [1]: Eine ihrer Patientinnen litt an generalisierter Urtikaria und intermittierend an einem Quincke-Ödem, sobald sie ihre Zahnspange mit aus Naturlatex (damals Kautschuk genannt) bestehenden Gummibändern trug. In den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts gewann die Latexallergie (Tab. 7.1) zunehmend an Bedeutung, sowohl für medizinisches Personal, das je nach Exposition bis zu 10 % sensibilisiert war, als auch für Patienten, bei denen schwere allergische Reaktionen intraoperativ oder bei diagnostischen Maßnahmen unter Verwendung latexhaltiger Materialien auftraten. Als Ursachen dafür wurden damals ein vermehrter Verbrauch von Latexhandschuhen zur Vermeidung der Übertragung infektiöser Erkrankungen (vor allem HIV) und ein Bias durch verbesserte Diagnostik diskutiert. Damals kam es auch unter ökonomischem Druck zu Änderungen der Tab. 7.1: Definitionen. Allergie

Überschießende Reaktion des Immunsystems auf normalerweise harmlose Umwelteiweiße (Allergene) mit Ausbildung von allergischen Symptomen in Form von z. B. atopischer Dermatitis, allergischer Rhinokonjunktivitis oder allergischem Asthma.

Latexsensibilisierung

Ausbildung von Latexallergie-Antikörpern = Latex-IgE-Antikörper, die im Serum oder mittels Haut-Prick-Test bestimmt werden können. Dies ist nicht gleichzusetzen mit einer Latexallergie, weil viele Patienten Latexallergie-Antikörper aufweisen ohne jemals allergische Symptome bei Latexkontakt zu haben.

Latexallergie

Ausbildung von klinisch manifesten allergischen Symptomen bei Latexkontakt. Die Diagnose wird über einen spezifischen Latex-IgE-Antikörper oder einen positiven Haut-Prick-Test und einen positiven Latexprovokationstest gestellt.

Latexprovokation

= Latexhandschuhprovokationstest. Die Patienten tragen dabei für 20 Minuten einen Latexhandschuh unter ärztlicher Aufsicht. Bei Auftreten allergischer Symptome wird der Test als positiv gewertet.

https://doi.org/10.1515/9783110228748-010

278 | 7 Naturlatexsensibilisierung und -allergie

Produktionsbedingungen für Latexprodukte z. B. durch seltenere Waschvorgänge und damit zu geringerer Elimination allergener Eiweiße. Patienten mit einer atopischen Disposition, medizinisches Personal und Kinder mit einer hohen Anzahl frühkindlicher Operationen, wie z. B. Kinder mit Spina bifida, sind auch heute noch die Risikogruppen, die eine Latexallergie entwickeln können. Eine Reaktion auf Latex kann in drei Formen unterteilt werden, die sich vor allem im Hinblick auf die Pathophysiologie unterscheiden: die Allergie vom Soforttyp (Typ 1 nach Coombs und Gell) durch allergene Eiweiße im Naturlatex, die Allergie vom verzögerten Typ (Typ 4 nach Coombs und Gell) durch Zusatzstoffe wie Antioxidantien und die nichtallergische irritative Kontaktdermatitis, deren Grundlage die Schädigung der Hautbarriere ist. Die allergenen Eiweiße sind entweder an die Latexpartikel gebunden (z. B. Hev b 1) und werden durch direkten Kontakt mit dem Latexprodukt an Haut und Schleimhäuten wirksam oder finden sich gebunden an volatile Stäube. Die Maisstärke als Puder von Handschuhen (Hev b 6) ist inzwischen von der Berufsgenossenschaft verboten. Vor dem Verbot war eine Raumluftbelastung mit Latexallergenen in Krankenhäusern und Arztpraxen gegeben. Die meisten der bisher charakterisierten 13 allergenen Eiweiße im Naturlatex liegen inzwischen in rekombinanter Form vor und können so leichter für diagnostische Zwecke standardisiert werden als bei Verwendung von Extrakten aus dem Naturprodukt Latex, bei denen die Konzentrationen der einzelnen Allergene je nach Herkunftsland, Ernte- und Lagerungsbedingungen stark schwanken können. Bei Spina-bifida-Betroffenen ist in erster Linie die Allergie vom Soforttyp klinisch relevant, die durch spezifisches Latex-IgE vermittelt ist. Es kann innerhalb von Minuten nach der Naturlatexexposition an Haut und Schleimhäuten oder über die Atemluft zu einer lokalen Reaktion wie Erythem, Juckreiz, Angioödem, lokale Urtikaria oder allergische Rhinokonjunktivitis kommen, manchmal kann es aber auch zu einer systemischen, anaphylaktischen Reaktion kommen. Die schwerste Form der allergischen Reaktion ist der anaphylaktische Schock, der mit Hypotension, Tachykardie, Bronchokonstriktion, Dyspnoe oder einem Glottisödem einhergeht und bis zum Atem- und Kreislaufstillstand führen kann. Diese manchmal letalen Verläufe sind vorwiegend intraoperativ oder bei sonstigen medizinischen Maßnahmen mit erheblichem Latex-Schleimhautkontakt beschrieben worden [2, 3]. Grundlage der Diagnostik der Latexallergie ist die Durchführung einer sorgfältigen Anamnese, in der auf die Auslöser, die genaue Symptomatik, die Intensität und die Häufigkeit der Symptome bei Latexkontakt eingegangen wird [4–6]. Zusätzlich sollten Risikofaktoren wie eine atopische Diathese (allergische Rhinokonjunktivitis, allergisches Asthma und atopische Dermatitis), ein vermehrter Kontakt mit Latex und die Anzahl der Operationen erfragt werden. Um eine Latexsensibilisierung (Tab. 7.1) zu diagnostizieren, sollte entweder ein Haut-Prick-Test (HPT) oder eine Messung des spezifischen IgE gegen Naturlatex im Serum erfolgen. Grundsätzlich sind diese beiden Methoden als gleichwertig anzuse-

7.2 Latexallergie bei Spina-bifida-Betroffenen |

279

hen, wobei beide stark von der Qualität der benutzten Allergene abhängig sind. Es sollte sichergestellt sein, dass die kommerziell erhältlichen Tests zumindest die MajorAllergene des Naturlatex enthalten. Patienten mit Spina bifida sind vornehmlich gegen Hev b 1 und Hev b 3 sensibilisiert, im Gegensatz dazu ist Krankenhauspersonal eher gegen Hev b 2, Hev b 5, Hev b 6 und Hev b 7 sensibilisiert [5]. Eine Messung des spezifischen IgE gegen Einzelallergene im Naturlatex ist wissenschaftlichen Fragestellungen vorbehalten. Die Sensitivität und Spezifität beider Untersuchungsmethoden sind populationsabhängig und sehr variabel. Der Goldstandard zur Diagnostik der klinisch manifesten Latexallergie ist ein Latexprovokationstest. Der Handschuhprovokationstest ist ein einfacher Blindversuch, bei dem der Proband nicht zwischen dem Latexhandschuh und dem latexfreien Handschuh unterscheiden kann. Niggemann et al. zeigten, wie relevant die Latexprovokation ist: Nur 64,4 % der latexsensibilisierten Kinder mit Spina bifida reagierten positiv während der Latexprovokation [7] (Tab. 7.1).

7.2 Latexallergie bei Spina-bifida-Betroffenen Patienten mit Spina bifida haben unter Kindern mit anderen multiplen Operationen das höchste Risiko für eine Naturlatexallergie und somit auch das höchste Risiko, eine latexinduzierte anaphylaktische Reaktion im Laufe des Lebens zu entwickeln. In der Literatur wurden immer wieder Fälle berichtet, bei denen Patienten mit Spina bifida intraoperativ anaphylaktische Reaktionen aufwiesen [6, 7]. Einen Zusammenhang zwischen intraoperativer Anaphylaxie und Naturlatex vermutete man erstmals im Jahr 1991, als bei 15 Kindern, die alle entweder eine Spina bifida oder eine urogenitale Fehlbildung aufwiesen, insgesamt 19 anaphylaktische Reaktionen auftraten und bei allen spezifische IgE-Antikörper gegen Latex im Serum (Latexsensibilisierung) gemessen werden konnten [8]. Die Prävalenz der Naturlatexsensibilisierung bei Spina-bifida-Betroffenen vor der Einführung von Präventionsmaßnahmen zur Latexvermeidung lag in den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts je nach Studie und Untersuchungsmethode zwischen 29 % und 72 % [9–12]. Als Folge dieser Erkenntnis begann man verschiedene Präventionsmaßnahmen zur Meidung von Latexallergenen bei Kindern mit Spina bifida einzuführen, um so eine Latexallergie zu verhindern. Zu diesen latexfreien Präventionsmaßnahmen bei Kindern mit Spina bifida gehören auch heute noch in erster Linie das Durchführen von strikt latexfreien Operationen, aber auch eine Vermeidung von Latexprodukten im Alltag. Naturlatex wurde als Gefahrstoff eingestuft und damit wurden Maßnahmen zur Minderung des Allergengehalts (z. B. in Operationshandschuhen) möglich gemacht. Unter anderen bewirkte das Verbot von gepuderten Handschuhen im medizinischen Bereich einen deutlichen Rückgang der Raumluftbelastung mit Latexallergenen in Krankenhäusern und Arztpraxen.

280 | 7 Naturlatexsensibilisierung und -allergie

Verschiedene Studien zeigten, dass diese latexfreien Präventionsmaßnahmen zu einer niedrigeren Prävalenz der Latexsensibilisierung bei Kindern mit Spina bifida führten [13–16]: In einer dieser Studien, einer multizentrischen Studie, konnten 2005 eine große Anzahl Kinder mit Spina bifida (n = 120) aus fünf verschiedenen Zentren innerhalb Deutschlands untersucht werden, die nach der Einführung der latexfreien Präventionsmaßnahmen geboren und unter latexfreien Bedingungen operiert wurden [16]. Diese Studiengruppe wurde mit einer historischen Vergleichsgruppe (n = 87) verglichen, die aus einer nicht latexfrei operierten Gruppe von Spina-bifida-Patienten bestand, bei der keine Präventionsmaßnahmen durchgeführt wurden und die 1997 ähnliche Untersuchungen erhielt. Diese beiden Studienpopulationen wurden jeweils auf die Prävalenz der Latexsensibilisierung, Latexallergie, Sensibilisierung auf Nahrungsmittel- und Inhalationsallergene sowie allergische Erkrankungen (allergische Rhinokonjunktivitis, allergisches Asthma, atopische Dermatitis) hin untersucht. Im Vergleich zur nicht latexfrei operierten historischen Vergleichsgruppe war die Sensibilisierung gegenüber Latex (55 % vs. 5 %) als auch die Latexallergie (36,5 % vs. 0,8 %) in der latexfrei operierten Studiengruppe signifikant niedriger (Abb. 7.1).

Spina bifida-Patienten (Prozent)

70 60

* *

50 *

40 30 20 10

latexfrei nicht latexfrei

0 Latexspezifisches-IgE

Latex HPT +

Latexallergie

Abb. 7.1: Vergleich der Prävalenz der Latexsensibilisierung und Latexallergie bei latexfrei und nicht latexfrei operierten Patienten mit Spina bifida. HPT = Haut-Prick-Test, * = p < 0,001. Chi-QuadratTest.

Ursächlich für das damalige hohe Risiko einer Latexsensibilisierung und -allergie scheinen Art und Zeitpunkt der Latexexposition gewesen zu sein: Kinder mit Spina bifida wurden zu einem sehr frühen Zeitpunkt neurochirurgisch operiert. Während dieser Operationen wurden damals insbesondere die Meningen durch die latexhaltigen Handschuhe des Operateurs großen Mengen an Latexallergen ausgesetzt. Postoperativ verbliebene Latexallergene im Operationsareal und weitere Folgeoperationen

7.4 Präventionsmaßnahmen zur Verhinderung einer Latexallergie bei Kindern | 281

verursachten außerdem einen Booster-Effekt für die bereits bestehende Latexsensibilisierung oder Latexallergie.

7.3 Atopie und Allergie bei Patienten mit Spina bifida Auch die Prävalenz der Atopie (Sensibilisierung gegen Inhalations- oder Nahrungsmittelallergene) bei Patienten mit Spina bifida war damals mit 35,6–46 % vor Einführung der Präventionsmaßnahmen im Vergleich zur Normalbevölkerung deutlich erhöht [11, 17]. In einer vergleichbaren Altersgruppe der Allgemeinbevölkerung betrug sie damals nur 25 %. Mit der Einführung der latexfreien Präventionsmaßnahmen bei Patienten mit Spina bifida sank auch die Prävalenz der Atopie signifikant [16]: So konnte in der bereits oben erwähnten Studie nachgewiesen werden, dass latexfrei operierte Kinder mit Spina bifida signifikant weniger Sensibilisierungen gegen Inhalationsallergene aufwiesen (20,8 %) als nicht latexfrei operierte Patienten der historischen Vergleichsgruppe (41,4 %). Die Prävalenz allergischer Erkrankungen wie allergisches Asthma, atopische Dermatitis und allergische Rhinitis war auch signifikant gesunken (15 % in der latexfrei operierten Gruppe vs. 35 % in der historischen Vergleichsgruppe). Außerdem zeigte sich, dass Kinder mit Spina bifida, die latexfrei operiert wurden, eine vergleichbare Prävalenz von Sensibilisierung gegenüber Inhalationsallergenen (24,6 %) und von allergischen Erkrankungen (15,4 %) aufwiesen wie Kinder aus einer bevölkerungsrepräsentativen Querschnittsstudie (KiGGS-Studie, Daten erhoben zwischen 2003 und 2006: Prävalenz der Sensibilisierung gegenüber Inhalationsallergenen 25,1 %, Prävalenz der allergischen Erkrankungen: 18,7 %) [16]. Mit einer primären Latexprävention kann somit nicht nur die Prävalenz der Latexallergie, sondern auch die Prävalenz anderer atopischer Erkrankungen gesenkt werden. Kinder mit Spina bifida, die latexfrei operiert werden, haben somit kein höheres Risiko, allergische Erkrankungen zu entwickeln als andere Kinder.

7.4 Präventionsmaßnahmen zur Verhinderung einer Latexallergie bei Kindern mit Spina bifida Bei Patienten mit Spina bifida sollten alle Operationen strikt latexfrei durchgeführt werden. Das Risiko scheint bei neurochirurgischen Operationen besonders hoch zu sein. Wir empfehlen darum, alle Operationen latexfrei durchzuführen. Die Umsetzung erfordert eine intensive Durchsicht der für Anästhesie und Operation notwendigen Materialien und Austausch gegen latexfreie Alternativen. Dazu sind Austauschlisten für Materialien verfügbar (s. www.spinabifidaassociation.org, www.latexallergyresources.org). Aus den publizierten Daten zur Prävention von

282 | 7 Naturlatexsensibilisierung und -allergie

Latexallergie bei Patienten mit Spina bifida kann nicht ganz eindeutig herausgefiltert werden, welcher Faktor (latexfreie Operation vs. Meidung von Latex im Alltag wie z. B. Benutzen latexfreier Schnuller) der Hauptfaktor ist, der zu diesem deutlichen Rückgang der Latexallergie führt. Somit ist aus unserer Sicht nicht nur das Meiden von Latex bei Operationen, sondern auch das Meiden von Latex im Alltag mit Einschränkungen gegeben (Tab. 7.2). Aus allergologischer Sicht sollte ein Schleimhautkontakt mit Latex während der ersten Lebensjahre vermieden werden. Es sollten latexfreie Schnuller, Blasenkatheter und Einmalkatheter verwendet werden. Falls Handschuhe, z. B. zum rektalen Ausräumen, benötigt werden, sollten latexfreie Handschuhe dafür benutzt werden. Im Gegensatz dazu hat das Meiden anderer latexhaltiger Materialien oder Gegenstände (wie z. B. Latexmatratze und Schuheinlagen) vermutlich keinen Einfluss auf die Entwicklung einer Latexallergie (Tab. 7.3). Eltern von Kindern mit Spina bifida sollten außerdem über das erhöhte Risiko einer Latexallergie und deren Manifestationsformen aufgeklärt werden. In der oben erwähnten Studie konnte nach Befragung der Eltern von Kindern mit Spina bifida Tab. 7.2: Primärprävention einer Latexallergie bei Patienten mit Spina bifida. 1.

Alle Operationen, einschließlich orthopädischer und urologischer Operationen sollten unabhängig von einer vorliegenden Latexsensibilisierung/-allergie strikt latexfrei durchgeführt werden.

2.

Die Patienten sollten über das erhöhte Risiko an einer Latexallergie zu erkranken und deren Manifestationsformen aufgeklärt werden, um eine Früherkennung allergischer Symptome und die Selbstbestimmung des Einhaltens von Präventionsmaßnahmen zu gewährleisten.

3.

Im Umgang mit Patienten mit Spina bifida sollten generell latexfreie Handschuhe verwendet werden.

4.

Schleimhautkontakte mit Latex sollten in den ersten Lebensjahren vermieden werden.

Tab. 7.3: Unnötige Maßnahmen zur Vermeidung einer Latexallergie bei Kindern mit Spina bifida. Vermeiden folgender latexhaltiger Materialien/Gegenstände ist nicht notwendig

Latexmatratze, Gummi in Schuheinlagen, Textilien mit Stretchgummi, Angelzeug, Faschingsmasken, Dispersionsfarben, Gummibälle, Gummigriffe, Gummikabel, Gummiringe, Kompressionsstrümpfe, Reifen, Schlauchboote, Spielzeug, Stiefel, Tauchartikel, Turnschuhe, Verpackungsmaterial, Wärmflasche, Gummiunterlagen, EKG-Saugelektroden, Pflaster, Gummistopfen in Infusionsflaschen, elastische Binden, Latexfarbe, Windeln

Vermeiden folgender Kreuzallergene ist nicht notwendig

z. B. Banane, Avocado, Kiwi, Esskastanien

7.5 Vorgehen bei einer klinisch manifesten Latexallergie bei Kindern mit Spina bifida |

283

festgestellt werden, dass zwar insgesamt drei Viertel der Patienten bzw. der Eltern über das Risiko einer Latexallergie informiert waren, dass dies allerdings nur bei einem Drittel der Familien der Fall war, deren Muttersprache nicht deutsch war. Die Prävalenz der Sensibilisierung gegen Kreuzallergene von Naturlatex (Banane, Avocado, Kiwi, Esskastanie und weitere tropische Früchte) bei latexsensibilisierten Patienten mit und ohne Spina bifida erscheint erhöht [10]. Dies ist bei der Homologie der Abwehr- oder Strukturproteine verschiedener Pflanzen leicht nachvollziehbar. Es konnte jedoch nie eine erhöhte Prävalenz klinisch manifester Nahrungsmittelallergien bei Patienten mit Spina bifida gezeigt werden, wenn auch einige naturlatexsensibilisierte Patienten nach Genuss der kreuzreagierenden Früchte über Brennen im Mund oder Urtikaria im Sinne eines oralen Allergiesyndroms berichteten. Außer in einem einzelnen publizierten Fall konnte auch keine primäre Sensibilisierung gegen ein Fruchtallergen nachgewiesen werden, der eine Naturlatexsensibilisierung folgte. In der überwiegenden Anzahl von Fällen folgt die Fruchtsensibilisierung der Naturlatexsensibilisierung [17]. Ein primäres Meiden von Kreuzallergenen ist daher nicht sinnvoll. Besteht bei einem Patienten dennoch der Verdacht auf eine entsprechende Nahrungsmittelallergie, sollte die Sicherung der Diagnose mittels oraler Provokation erfolgen.

7.5 Vorgehen bei einer klinisch manifesten Latexallergie bei Kindern mit Spina bifida Ist ein Kind gegen Naturlatex klinisch manifest allergisch, so ist es zwingend erforderlich, dass alle Operationen, einschließlich der orthopädischen und urologischen Operationen unter strikt latexfreien Bedingungen durchgeführt werden. Wird dies berücksichtigt, so ist das Risiko einer intraoperativen allergischen oder gar anaphylaktischen Reaktion nicht erhöht [18]. Eine präoperative antiallergische Therapie ist dann nicht nötig [19]. Zur Vermeidung einer allergischen Reaktion empfehlen wir außerdem, dass eine weitestgehend latexfreie Umgebung eingehalten wird (Tab. 7.4). Latexfreie Handschuhe sollten insbesondere auf Reisen immer mitgeführt werden. Zudem sollte ein Schleimhautkontakt mit Latex vermieden werden. Besondere Gefahr besteht bei der Inhalation von Latexpartikeln, beispielsweise beim Aufblasen von Luftballons. Bei bekannten schweren allergischen Reaktionen auf Latex wird das Mitführen eines Allergiepasses und eines Notfallsets einschließlich Adrenalin-Autoinjektor empfohlen. Die Patienten bzw. deren Eltern sollten ausführlich in die Handhabung des AdrenalinAutoinjektors eingewiesen werden. Untersuchungen zeigten, dass bei Latexallergenvermeidung die Bildung von spezifischem Latex-IgE zurückgeht [20]. Es kann sich wahrscheinlich auch eine spontane Toleranz entwickeln, sodass die Kinder gegenüber Latex nicht mehr allergisch reagieren. So kann nach einer langen Allergenkarenz eine neue Diagnostik im Sinne einer Latexprovokation erforderlich werden. Auch im Falle einer klinisch manifesten Late-

284 | 7 Naturlatexsensibilisierung und -allergie

xallergie sollte immer wieder zwischen notwendigen und unnötigen Maßnahmen unterschieden werden. Empfehlungen zur Latexallergenvermeidung sollten immer unter Berücksichtigung der Lebensqualität und Schwere der allergischen Reaktion gegeben werden. Tab. 7.4: Empfehlungen bei gesicherter Latexallergie – zu meidende Produkte und Ersatz (ausführliche, aktualisierte Liste unter www.spinabifidaassociation.org). Produkte, die bei gesicherter Latexallergie gemieden werden sollten

Latexfreie Ersatzprodukte

Latexhandschuhe

Z. B. Untersuchungshandschuhe aus PVC, Vinyl, Steryl-Butadien usw.

Latexhaltige Blasenkatheter

Blasenkatheter aus PVC oder Silikon

Latexhaltiges Diaphragma

Latexfreies Diaphragma

Latexhaltige Kondome

Latexfreie Kondome aus Polyurethran

Latexschnuller

Schnuller/Sauger aus Silikon

Luftballons

Folienballons

Radiergummi

Plastikradierer

7.6 Vorschlag eines diagnostischen Vorgehens bei Patienten mit Spina bifida Prinzipiell muss zwischen einer Diagnostik bei einer vorhandenen Symptomatik und einer Routinediagnostik bei Patienten mit Spina bifida, die keinen Verdacht auf eine Latexallergie haben, unterschieden werden. Sollten bei einem Patienten klinische Symptome aufgetreten sein, z. B. allergische Symptome wie Urtikaria, Erythem, Rhinokonjunktivitis, Atemnot oder eine unklare Bewusstlosigkeit nach Latexkontakt, sollte eine Latexallergiediagnostik durchgeführt werden (Latex-IgE im Serum und/oder Haut-Prick-Test). Hat ein Patient eine klinische Symptomatik und bildet spezifische IgE-Antikörper, sollte zur Diagnosesicherung eine Latexprovokation durchgeführt werden. Falls keine spezifischen Antikörper gebildet werden, ist eine IgE-vermittelte Latexallergie unwahrscheinlich [7]. Eine routinemäßige IgE-Diagnostik bei Kindern mit Spina bifida ohne vorangegangene Symptomatik ist dann sinnvoll, wenn das Kind erstmals in eine Kindertagesstätte oder in die Schule kommt (3. bzw. 6. Lebensjahr). Eine erneute Bestimmung von latexspezifischem IgE und ggf. anschließender Provokation sollte vor der Berufswahl (z. B. 15. Lebensjahr) durchgeführt werden.

Literatur

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8 Bewegungsapparat und Mobilität Theodor Michael

8.1 Einleitung: Das Behandlungskonzept nach A. Ferrari 8.1.1 Grundlagen Adriano Ferrari – Physiater und Rehabilitationsarzt in Reggio Emilia (Italien) – steht in der Tradition von A. Milani-Comparetti. Neben Behandlungskonzepten für Patienten mit neuromuskulären Erkrankungen und Patienten mit infantilen Zerebralparesen hat er 1985 erstmals ein Konzept für die Behandlung von Kindern mit Spina bifida entwickelt. Es beinhaltet folgende Bestandteile: – Analyse der Faktoren, die zum „Handicap“ (Abb. 8.1) beitragen, – Prognose der motorischen Entwicklung, – Hilfsmittel, Physiotherapie und orthopädisch-chirurgische Maßnahmen, die notwendig sind, um das individuelle Rehabilitationsziel zu erreichen.

periphere sensible und motorische Lähmung

erworbene Mißbildungen des Lokomotionsapparates Unfähigkeit

angeborene Fehlbildungen des Lokomotionsapparates

zentrale Lähmung -CP mentale Retardierung Perzeptionsstörungen Dyspraxie

Abb. 8.1: Analyse nach Boccardi [1].

Grundlage des Konzepts ist das Modell der natürlichen Bewegungsentwicklung des gelähmten Kindes mit den verbliebenen und fehlenden motorischen Aktivitäten. Es baut darauf auf, wie die fehlenden Muskelkräfte durch Hilfsmittel ersetzt und die verbliebenen unterstützt werden können. Für die neurologischen Läsionsniveaus S3–L1 zeigt Ferrari den Rehabilitationsweg zum aufrechten Stehen und Gehen. Dieses theoretische Modell wurde an über 400 Patienten am Institut für Bioingenieure in Mailand belegt. Für höhere Läsionen wurde das Konzept später ergänzt [2]. Um das Konzept in seinen Grundzügen besser darstellen zu können, ist es sinnvoll, zunächst nur die isolierte periphere Läsion zu betrachten, ohne die meist vorhandenen anderen zentralen Störungen zu berücksichtigen.

https://doi.org/10.1515/9783110228748-011

288 | 8 Bewegungsapparat und Mobilität

Die orthopädischen Hilfsmittel spielen im Rahmen des Behandlungskonzepts neben der Physiotherapie und den orthopädisch-chirurgischen Maßnahmen eine wichtige Rolle. Sie werden mit dem Ziel eingesetzt, die primären Fehlbildungen am Gelenkund Stützapparat einzuschränken und zu korrigieren. Sekundären Schäden können sie vorbeugen, indem sie den deformierenden Kräften der Muskelimbalance entgegenwirken. Dies ist überwiegend durch Lagerungs- oder „statische“ Orthesen möglich. Die „dynamischen“ Hilfsmittel kompensieren den funktionellen Verlust von Muskelkraft, wenn die Hilfsmittel rechtzeitig und läsionsspezifisch zum Einsatz kommen. Deshalb muss von Beginn an am Segment, der Bewegung und am Gangschema mit und ohne Hilfsmittel gearbeitet werden. Dabei muss man die primären und sekundären Deformitäten im Auge behalten, die das Erreichen des geplanten Bewegungsschemas stören könnten [3]. Im Folgenden werden die neurologischen Läsionen mit ihren primären und zu erwartenden sekundären Fehlstellungen, Defiziten und Kompensationsmechanismen sowie den nötigen Hilfsmitteln dargestellt. Die Physiotherapie und orthopädischchirurgische Eingriffe werden in eigenen Kapiteln dargestellt. Die Lähmungsniveaus werden in Übereinstimmung mit Stark und Menelaus [4] festgelegt (Tab. 8.1 und 8.2) [5].

8.1.2 Lähmungsniveau S3 8.1.2.1 Defizite Geschwächt ist die innere Fußmuskulatur (Tab. 8.1 [5]).

8.1.2.2 Statische Hilfsmittel Als statisches Hilfsmittel kann für die Nacht eine Antivarus-Sandalette mit einem Federmechanismus zur Korrektur der Fußachse eingesetzt werden.

8.1.2.3 Dynamische Hilfsmittel Korrekturschuhe oder knöchelübergreifende Schuhe mit verbreiterter Sohle, weichem Vorfuß und weichen Einlagen zur Aufrichtung der Ferse und Stabilisierung des medialen Fußgewölbes sind Hilfsmittel zur Stabilisierung des Fußes beim Gehen.

8.1.3 Lähmungsniveau S2 8.1.3.1 Defizite Es treten Schwächen in den Hüftstreckern, Kniebeugern sowie den Plantarflexoren auf. (Tab. 8.1) [5].

Defizit

kleine Fußmuskulatur

teilweise: – Hüftstrecker – Kniebeuger – Plantarflexion (M. triceps surae)

stark betroffen: – Hüftstrecker – Kniebeuger – Plantarflexoren

Niveau

S3

S2

S1

dorsaler Unterschenkel bis zum dorsalen Fußaußenrand

– Hüft- und Kniebeugekontrakturen – Adduktorenverkürzung

Hüftbeuger Hüftadduktoren Hüftadduktoren Reste von Kniebeugern und Dorsalflexoren

– Spitzfuß – Hackenfuß – Tibiainnentorsion

– – – –

– Gesäßbereich – dorsaler Oberschenkel

– Talusluxation – Spitzfuß – Valgopronation des Fußes – Varosupination – Schaukelfuß – Tibiaaußentorsion – Kniebeugekontrakturen

– Hackenfuß – Hohlfuß

– perianal – genital

Sensibilitätsverlust

Dorsalflexoren

– Plattfuß – Valgopronation

sekundäre Deformität

Metatarsus varus

primäre Deformität

Plantarflexoren des Fußes

erhalten

Tab. 8.1: Lähmungsniveaus bei sakralen Läsionen (nach A. Ferrari/W. Voss) [5].

8.1 Einleitung: Das Behandlungskonzept nach A. Ferrari |

289

– Kniestrecker – teilweise Hüftbeuger

Hüftbeuger

M. quadratus lumborum

L3

L2

L1

M. quadratus lumborum (Beckenelevation)

– Reste Kniestrecker – teilweise Hüftbeuger

– angeborene Hüftluxation – Klumpfuß – Skoliose

– angeborene Hüftluxation – Klumpfuß – Skoliose

– dorsaler Oberschenkel komplett – ventraler Oberschenkel bis Mitte, außen ansteigend

Skoliose

– Leistenbereich – gesamtes Bein

– Flexions-, Abduktions-, Au- – Fuß ßenrotationskontrakturen – Unterschenkel – Oberschenkel bis auf der Hüfte Ansatz – Kniebeugekontrakturen – supinierter Spitzfuß – Skoliose – Frakturen!

– Flexions-, Abduktions-, Außenrotationskontrakturen der Hüfte – Kniebeugekontrakturen – supinierter Spitzfuß – Skoliose – Frakturen!

seltener erworbene – angeborene Hüftluxation – teilweise Adduktoren – Hüftbeuger – teilweise Kniestrecker – teilweise Adduktoren – gebeugte adduzierte Hüfte Hüftluxation – teilweise Kniestrecker – Genu recurvatum mit Flexionseinschränkung – Klumpfuß

L4

– Unterschenkel und Fuß – Gluteal- und Genitalbereich – Hinterseite Oberschenkel

Unterschenkelaußenseite

– Hüftluxation – Lordose

– varosupinierter steifer Spitzfuß – Tibiatorsion

– Hüftbeuger – Hüftadduktoren – Kniestrecker

– – – –

L5

Hüftstrecker Hüftabduktoren Kniebeuger Bein- und Fußmuskulatur

Sensibilitätsverlust

sekundäre Deformität

primäre Deformität

erhalten

Niveau Defizit

Tab. 8.2: Lähmungsniveaus bei lumbalen Läsionen (nach A. Ferrari/W. Voss)[5].

290 | 8 Bewegungsapparat und Mobilität

8.1 Einleitung: Das Behandlungskonzept nach A. Ferrari

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291

8.1.3.2 Stehen Durch die Schwäche der Plantarflexoren droht der Patient nach vorn zu fallen; deshalb beugt er die Knie, bringt den Rumpf mit den Armen hinter das Becken und streckt die Knie wieder; um nicht nach hinten zu fallen, beugt er jetzt Hüfte und Knie (Abb. 8.2) [5])

Abb. 8.2: Balance bei Läsion S2 (Quelle: [2]).

Dieser Vorgang ist stark ermüdend. Um den aufrechten Stand zu erhalten, muss der Patient – ständig die Knie beugen und strecken, – auf der Stelle treten, – einen Stock benutzen, – die Knie in starker Beugung bei antevertierten Hüften aneinanderdrücken.

8.1.3.3 Gehen Das Gehen wird verspätet erlernt, aber noch bevor der Patient stehen bleiben kann. Wegen der fehlenden Plantarflexoren fehlt die Stoßphase, die Knie können deshalb beim Schrittwechsel nicht völlig gestreckt werden. Die Füße geben in der Standbeinphase in Valgopronation nach.

8.1.3.4 Statische Hilfsmittel Als statische Hilfsmittel kommen zur Anwendung: – Unterschenkelorthese zur Fixierung des Fußes in Normalstellung (Abb. 8.3), – Oberschenkelorthese: bei Rotationsproblemen zwischen Fuß- und Knieachse muss das Knie in leichter Beugung gehalten werden (Abb. 8.4), – Denis-Browne-Steg: zur Beeinflussung der Rotation beider Extremitäten (Abb. 8.5).

292 | 8 Bewegungsapparat und Mobilität

Abb. 8.3: AF-Lagerungsorthese (Foto: Gottinger).

Abb. 8.4: Oberschenkellagerungsorthese (Foto: Gottinger).

Abb. 8.5: Unterschenkelorthese mit DenisBrowne-Steg (Foto: Gottinger).

8.1 Einleitung: Das Behandlungskonzept nach A. Ferrari

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293

8.1.3.5 Dynamische Hilfsmittel Als dynamische Orthese kommt die Unterschenkelorthese zur Anwendung (Abb. 8.6(a)). Sie hat ein Gelenk am oberen Sprunggelenk (OSG) für einen dosierbaren Anschlag in der Dorsal- und Plantarflexion. Da das aufrechte Stehen immer eine gestreckte Hüfte und ein leicht gebeugtes Knie verlangt, muss der Anschlag für die Dorsalextension immer < 90° gehalten werden, optimal ist eine Einstellung bei 82–84°. Je kleiner der Winkel im OSG gehalten wird, desto sicherer steht und geht der Patient, der antigravitätische Einsatz des M. quadriceps femoris wird aber im selben Ausmaß höher. Üblicherweise empfiehlt sich ein Bewegungsspiel im OSG von maximal 20–25° um den rechten Winkel (Abb. 8.6(b)). Als Alternative kommt beim älteren Kind die Carbonfederorthese in Betracht. Sie ermöglicht es, Energie aus der Stoppphase zu speichern und für eine Stoßphase wieder freizugeben (Abb. 8.7). Die Carbonfeder wirkt als energiespeicherndes Element



(a)

(b)



Abb. 8.6: (a) Unterschenkelorthese mit unilateralem OSG (Foto: Gottinger); (b) Bewegungsbereich des OSG in einer Unterschenkelgehorthese (Foto: Gottinger).

Abb. 8.7: AFO-Orthese mit Carbonfeder (Foto: Gottinger).

294 | 8 Bewegungsapparat und Mobilität

wie im Prothesenbau und kompensiert die Aktivität des M. gastrocnemius. Sie führt zu einem wesentlich dynamischeren und flüssigeren Gangbild, bei dem der Frontalpendel durch die Kompensation der Schwäche des M. gastrocnemius deutlich in den Hintergrund tritt [6, 7].

8.1.4 Lähmungsniveau S1 8.1.4.1 Defizite Stark betroffen sind bei dieser Läsion die Hüftstrecker (M. gluteus maximus und medius), die Kniebeuger und Plantarflexoren.

8.1.4.2 Stehen Die Probleme bei der Aufrichtung werden durch die ausgeprägtere Schwäche der Hüftstrecker deutlicher. Um sich aufrecht zu halten, verlagert der Patient den Rumpf und die Arme mithilfe der Hyperlordose hinter die quere Hüftachse zur passiven Hüftstreckung (Abb. 8.8) [2].

Abb. 8.8: Kompensation des Standes bei Läsion S1 (Quelle: [2]).

8.1.4.3 Gehen Der Patient geht, indem er ohne Stoßphase auf das gebeugte Knie nach vorn fällt, sich während der Standphase im Knie wieder aufrichtet und auf das andere Knie vorfällt usw. Um wegen der geschwächten Gluteen das Abfallen des Beckens zu vermeiden und das Anheben des Schwungbeins zu erleichtern, beugt er den Rumpf seitwärts über das Standbein. Der M. quadratus lumborum auf der Schwungbeinseite hebt das Becken an. Die Schwerkraft und die Hüftbeuger bringen das Schrittbein nach vorn. Dieses Gangschema wird im Folgenden als Frontalpendel bezeichnet.

8.1 Einleitung: Das Behandlungskonzept nach A. Ferrari

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295

8.1.4.4 Kompensation Am Hüftgelenk liegt der Körperschwerpunkt hinter der Hüftbeugeachse und wirkt so als Streck- und Aufrichtehilfe. Die erhaltenen Hüftbeuger können die Hüftstreckung aktiv einschränken oder vermindern. Am Kniegelenk bringt die Masse oberhalb der Knieachse das Knie in Beugung, der M. quadriceps femoris ist noch gut in der Lage, gegen die Schwerkraft die Knie zu strecken. Am OSG provoziert das Körpergewicht in der Standphase eine Dorsalextension, in der Schwungphase führt sie der M. tibialis anterior durch. Dagegen ist eine mechanische Begrenzung der Dorsalextension nötig.

8.1.4.5 Erworbene Deformitäten Fuß: Die Valgopronation wird durch das Körpergewicht und die Muskelimbalance erzeugt. Die Tibia dreht sich nach außen. Knie: Flexions- und Valgusfehlstellung wird von der Basis her durch die Fußdeformität und von oben durch Flexion und Adduktion der Oberschenkel und den Frontalpendel erzeugt. Als Zeichen einer Insuffizienz des M. quadriceps femoris sieht man häufig eine hochstehende Patella. Hüfte: Die Flexions- und Adduktionsfehlstellung wird durch – Überwiegen der Adduktoren und Flexoren, – verspätete Vertikalisierung und langes Sitzen, – zu intensives Üben des Vierfüßlers und – falsche Hilfsmittel mit 90°-Winkel im OSG und Kniestreckung provoziert.

8.1.4.6 Statische Hilfsmittel Es werden Oberschenkelorthesen zur Korrektur der Valgusfehlstellung im Knie und der Position des Fußes angewendet (Abb. 8.4).

8.1.4.7 Dynamische Hilfsmittel Es wird eine Oberschenkelorthese (Abb. 8.9) mit einem OSG wie bei der Läsion S2 eingesetzt. Das Oberschenkelteil ist im Kniegelenk für Flexion und Extension frei beweglich. Es dient nur als Valgusprophylaxe. Die Position des Kniegelenks der Orthese soll im hinteren Drittel des Knies und ca. 1,5 cm oberhalb des Gelenkspalts liegen. Nach dem sicheren Erlernen des Gehens im Frontalpendel kann auf eine Oberschenkelgehorthese mit einer Carbonfeder im OSG übergegangen werden. Das ermöglicht ein dynamischeres und flüssigeres Gangbild (Abb. 8.10). Sobald das Gehen und Stehen sicher erlernt sind und die Kniegelenksbandapparate stabil sind, kann jeweils geprüft werden, ob auf das Oberschenkelteil verzichtet werden kann. Es muss an der Unterschenkelorthese eine stabile Abstützung unter der Patella und an den Condylen angebracht sein (Abb. 8.6(a)). Später kann auf eine Car-

296 | 8 Bewegungsapparat und Mobilität

Abb. 8.9: Oberschenkelgehorthese mit unilateralen Gelenken (Foto: Gottinger).

Abb. 8.10: Oberschenkelgehorthese mit unilateralem Kniegelenk und Carbonfeder im OSG (Foto: Gottinger).

bonfederorthese übergegangen werden (Abb. 8.7). Wichtig ist vor allem, das Kind möglichst rechtzeitig zum Stehen und Gehen in Orthesen zu bringen, um die schwersten Defizite zu ersetzen und sekundäre Deformitäten zu verhindern, die sich entwickeln, wenn sich das Kind ohne Orthesen in Fehlstellungen und -belastungen aufrichtet oder wegen fehlender Standsicherheit lange krabbelt.

8.1.5 Lähmungsniveau L5 8.1.5.1 Defizit Erhalten sind die Hüftbeuger und -adduktoren sowie die Kniestrecker. Geschwächt sind die Hüftstrecker, -abduktoren, die Kniebeuger und alle Fuß- und Beinmus-

8.1 Einleitung: Das Behandlungskonzept nach A. Ferrari

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297

keln (Tab. 8.2) [5]. Im Vergleich zu S1 ist hier die Instabilität des Beckens beim Schrittwechsel noch größer. Die Muskelimbalance zwischen Adduktoren und Abduktoren sowie zwischen Hüftflexoren und -extensoren ist bei dieser Läsionshöhe am größten. Durch die Aktivität der Adduktoren, die sich bei jeder Aktion der Hüftflexoren mitkontrahieren, verringert sich die Wirksamkeit des Frontalpendels beim Schrittwechsel. Dies beeinträchtigt die Schrittlänge. Das Risiko der erworbenen Hüftluxation ist hier am höchsten, besonders, wenn das Kind wegen fehlender Orthesen viel krabbelt oder sitzt.

8.1.5.2 Stehen Es werden die gleichen Mechanismen wie bei S1 benutzt, aber die Lordose als Streckhilfe ist noch betonter (Abb. 8.11) [2]. Die Arme werden nach hinten genommen und die Knie in Beugung zusammengedrückt. Dies führt zu Valgusstress und Beugekontrakturen im Knie, Außentorsion der Tibiaachse und zu einem valgopronierten Fuß. Bei Beugekontrakturen über 25° braucht der Patient einen Stock (Abb. 8.12) [2].

Abb. 8.11: Lordose als Streckhilfe der Hüften (Quelle: [2]).

Abb. 8.12: Gehen und Stehen bei Läsion L4 (Quelle: [2]).

298 | 8 Bewegungsapparat und Mobilität

8.1.5.3 Gehen Das Gehen gleicht dem bei der Läsion S1. Um die Co-Kontraktion der Adduktoren mit den Hüftflexoren beim Schrittwechsel auszugleichen, muss die Seitneigung des Rumpfes zur Standbeinseite noch mehr betont werden – das Frontalpendel nimmt zu. Dabei dreht der Patient mit dem Standbein sowohl in der Hüfte als auch auf der Unterlage und schwingt das Spielbein z. T. mit der Schwerkraft nach vorn. Mit Gehstützen nehmen das Frontalpendel ab und die Schrittlänge zu. An der Hüfte und am Knie sind es dieselben Mechanismen wie bei S1. Am OSG fällt durch die Schwäche der Fußheber der Fuß beim Schrittwechsel in die Plantarflexion und verlängert so das Schrittbein funktionell. Es muss noch weiter angehoben werden. Die Arbeit der Gluteen an den Hüften übernehmen die Arme mit Stützen. Dadurch werden auch die Kniestrecker entlastet und nicht voll genutzt. Die Füße entwickeln sich zu Plattfüßen.

8.1.5.4 Angeborene und erworbene Deformitäten Für die Hüftbeugekontraktur und erworbene Hüftluxation sind folgende Faktoren verantwortlich (Tab. 8.2) [5]: – verspätete Vertikalisierung, – zu intensives Üben des Krabbelns und des Vierfüßlers, – zu langes Sitzen, – keine richtige Posturalerziehung.

8.1.5.5 Statische Hilfsmittel Oberschenkelspreizschienen, wie z. B. in der Abb. 8.5, zur Zentrierung der Hüften sollten nur in Extension der Hüften angewendet werden, um lagerungsbedingte Hüftbeugekontrakturen zu verhindern.

8.1.5.6 Dynamische Hilfsmittel Die Orthese ist dieselbe wie bei S1. Das OSG blockiert die Dorsalextension in 82–84°, die Plantarflexion in ca. 100°.

8.1.6 Lähmungsniveau L4 8.1.6.1 Defizite Im Vergleich zu L5 sind zusätzlich die Hüftadduktoren und die Kniestrecker geschwächt (Tab. 8.1) [5].

8.1 Einleitung: Das Behandlungskonzept nach A. Ferrari

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299

8.1.6.2 Stehen Bei dieser Läsion werden zum Stehen unbedingt Stützen benötigt. Nur wenige Patienten, die keinerlei zentrale Störung haben, erlernen das freie Stehen durch Rückverlagerung des Rumpfes hinter die quere Hüftachse als Hüftstrecker und vor die Knieund Sprunggelenkachse. Meist wird das Knie passiv durch Rekurvation stabilisiert bei gleichzeitiger Hüftbeugung (Abb. 8.12) [2].

8.1.6.3 Gehen Die Schwäche des M. quadriceps femoris erfordert häufig eine Blockierung des Kniegelenks in einem Beugungswinkel, der dem der Hüftbeugung entspricht. Mit dieser Stellung kann die Stützarbeit der Arme reduziert werden. Das OSG muss entsprechend zur Knie- und Hüftbeugung in Dorsalextension eingestellt sein. Wenn das Gelenk dies nicht zulässt, muss eine entsprechende Fersenerhöhung angebracht werden. Der Patient geht im Frontalpendel, der durch die Schwäche der Adduktoren leichter fällt als bei der Läsion L5. Es wird der 2- oder 4-Phasen-Gang benutzt.

8.1.6.4 Kompensation Die Hüftstreckung wird durch die Armkraft an Stützen verbessert (Abb. 8.12) [2]; mit Seitneigung des Rumpfes beim Frontalpendel auf die Standbeinseite und Elevation des Beckens auf der Schrittseite mit Verkürzung des Schrittbeins wird ein Schritt ausgelöst. Ist der M. quadriceps zu schwach, muss das Kniegelenk der Orthese gesperrt werden. Im OSG muss die Beweglichkeit auf 20° um den rechten Winkel herum eingeschränkt bleiben.

8.1.6.5 Statische Hilfsmittel Es kommen die gleichen statischen Hilfsmittel wie bei L5 zur Anwendung.

8.1.6.6 Dynamische Hilfsmittel Bei ausreichender Funktion des M. quadriceps femoris kommen Oberschenkelorthesen mit hinterer Oberschenkelhülse und rückverlagertem, frei beweglichem Kniegelenk zur Anwendung. Andernfalls muss das Kniegelenk der Orthese gesperrt bleiben. Bei Rotationsproblemen kann zusätzlich ein Beckengurt mit elastischen Zügen angewendet werden. Bei angeborener Luxation der Hüfte und Instabilität des Beckens wird meist eine Orthese mit Beckenring und 3D-Hüftgelenken (Abb. 8.13(a)–(d)) eingesetzt.

300 | 8 Bewegungsapparat und Mobilität

(a)

(c)

(b)

(d)

Abb. 8.13: (a) Schema 3D-Hüftgelenk (Quelle: Gottinger); (b) 3D-Hüftgelenk (Quelle: Gottinger); (c) Salera-Gehorthese (Foto: Gottinger); (d) Kind mit Salera-Gehorthese (Foto: Th. Michael).

8.1.7 Lähmungsniveau L3 8.1.7.1 Defizite Im Vergleich zur Läsion L4 sind zusätzlich die Kniestrecker geschwächt, evtl. auch die Hüftbeuger (Tab. 8.2) [5].

8.1.7.2 Stehen Armstützen sind Voraussetzung. Das Knie und das OSG müssen gesperrt werden, die Hüfte kann u. U. noch durch eine Rückverlagerung des Rumpfes hinter die quere Hüftachse gestreckt gehalten werden.

8.1 Einleitung: Das Behandlungskonzept nach A. Ferrari

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8.1.7.3 Gehen Der Patient kann nur in langen Orthesen mit einem Aufsitz für das Tuber ischiadicum und Stützen gehen. 1. Wenn die Orthese im Hüftgelenk drei Bewegungsrichtungen zulässt, nutzt der Patient die Rumpfneigung zum Standbein und Drehung des Standbeins und Elevation des Beckens mit dem M. quadratus lumborum auf der Gegenseite und Beugung des Standbeins in der Hüfte. Es ist ein 4-Phasen-Gang möglich. 2. Wenn im Hüftgelenk zwei Bewegungsrichtungen möglich sind (Flexion-Extension, Adduktion-Abduktion), muss der Patient das Bein am Boden unter hoher Friktion drehen, weil er wegen des hohen Ansatzpunkts der Orthesen am Becken das Bein in der Hüfte nicht rotieren kann. Er nutzt dann einen 2-Phasen-Gang. 3. Wenn nur Flexion und Extension in der Hüfte zugelassen werden, muss der Patient im Durch- oder Zuschwunggang gehen. Da der Patient bei dieser Läsion keine Sensibilität in den Füßen und den Knien hat, erreicht er nie einen harmonischen und schnellen Gang wie z. B. ein Patient mit Poliomyelitis.

8.1.7.4 Kompensation Stützen zur Hüftstreckung sind Voraussetzung. Die Seitneigung des Rumpfes, eine kontralaterale Elevation des Beckens zur Verkürzung des Schrittbeins und eine Beckenstütze stabilisieren die Oberschenkel in Bezug auf das Becken. Die Kniegelenke müssen mechanisch gesperrt werden. Das OSG muss in einer Orthese 20° Bewegung um den rechten Winkel zulassen.

8.1.7.5 Erworbene Deformitäten Als sekundäre Deformitäten entwickeln sich meist Hüftbeugeabduktions- und Außenrotationskontrakturen bei gleichzeitig supinierten Spitzfüßen. Diese Deformität ist lagerungsbedingt (Abb. 8.2) [5].

8.1.7.6 Statische Hilfsmittel Wie bei L4. Zur Prophylaxe der Hüftbeugeabduktions- und Außenrotationskontrakturen und supinierten Spitzfüßen kommen auch Becken-Bein-Fuß-Lagerungsorthesen ohne Abduktion und ohne Rotation der Beinachse zur Anwendung (Abb. 8.15).

8.1.7.7 Dynamische Hilfsmittel Es ist eine beckenübergreifende Orthese (Salera: Abb. 8.13(c), (d)) mit einem starren Beckenring und mit einem mechanischen Hüftgelenk mit einem Kugelgelenk nötig, das eine dosierte Beweglichkeit in drei Richtungen (3D) zum Gehen zulässt und eine vollständige Flexion zum Sitzen ermöglicht (Abb. 8.13(a), (b)).

302 | 8 Bewegungsapparat und Mobilität

Die Knie werden in der Regel in Extension fixiert. Bei einer Beugekontraktur der Hüften wird die entsprechende Beugestellung für die Knie übernommen. Das OSG erhält 15–20° Bewegungsspiel um den rechten Winkel herum, wenn keine Bewegungseinschränkung der Hüften und Knie vorliegt. Bei einer Beugekontraktur wird das OSG in entsprechender Dorsalextension fixiert, d. h., um dem Patienten das freie aufrechte Stehen zu ermöglichen, muss der Winkel des Gelenks mit der meisten Bewegungseinschränkung auf die angrenzenden Gelenke übernommen werden. Eine Alternative stellt der Twister dar, der gleichzeitig eine reziprok gesteuerte Beugung, Extension und Rotation der Hüften zulässt (Abb. 8.16, s. auch Kap. 8.3.3).

8.1.8 Lähmungsniveau L2 8.1.8.1 Defizite Bei dieser Läsion sind auch die Hüftbeuger schwer betroffen (Tab. 8.2) [5].

8.1.8.2 Stehen Der Patient braucht zur Stabilisierung aller drei Gelenke (Hüfte, Knie und OSG) Schienen mit Beckenteil und Armstützen.

8.1.8.3 Gehen Das Fehlen der Hüftbeuger erschwert das Gangschema mit dem Frontalpendel sehr, wodurch die Schritte kürzer werden. Der Zu- oder Durchschwunggang wird deshalb lieber verwendet. Es reicht daher meist ein Hüftgelenk mit der Möglichkeit der Flexion und Extension. Im OSG bleiben 20–25° Bewegung um den rechten Winkel. Die Knie bleiben gesperrt. Nur bei Restaktivität der Hüftbeuger kann ein Hüftgelenk mit drei Bewegungsrichtungen verwendet werden. Beim Frontalpendel wird das Schrittbein nicht mehr durch Hüftbeugung nach vorn gebracht, sondern durch das Gewicht des Beines.

8.1.8.4 Kompensation Hüfte: – durch Armstützen, – das Körpergewicht beim Frontalpendel, – das Gewicht der Beine beim Zuschwunggang, – ein lumbo-pelvisches Beckenteil. – Die Knie müssen gesperrt bleiben, und im OSG muss ein Bewegungsausmaß von 20–25° um den rechten Winkel zugelassen werden.

8.1 Einleitung: Das Behandlungskonzept nach A. Ferrari |

303

8.1.8.5 Statische Hilfsmittel Die statischen Hilfsmittel sind dieselben wie bei der Läsion L3. Beim Sitzen muss die Rumpfstabilität beobachtet werden. Gegebenenfalls muss ein Korsett mit Sitzkante (Abb. 8.14) oder ein Sitzkorsett mit Beinteil (Abb. 8.15) verwendet werden, um ein stabiles Sitzen zu ermöglichen.

Abb. 8.14: Korsett mit Sitzkante (Foto: Gottinger).

Abb. 8.15: Sitzkorsett mit Beinteil (Foto: Th. Michael).

8.1.8.6 Dynamische Hilfsmittel Hier stehen mehrere technische Alternativen zur Verfügung: das R2GO-Hüftgelenk „Twister“ der Fa. Gottinger (Abb. 8.16) oder die isozentrische RGO (Abb. 8.17 und Abb. 8.34 in Kap. 8.3.3.2.2).

304 | 8 Bewegungsapparat und Mobilität

Abb. 8.16: 2D-Hüftgelenk im „Twister“ der Fa. Gottinger (Foto: Gottinger).

Abb. 8.17: 2D-Hüftgelenk im „Twister“ der Fa. Gottinger (Foto: Gottinger).

8.1.9 Lähmungsniveau L1 8.1.9.1 Defizite Alle beckenübergreifenden Muskeln und die darüber liegenden Muskeln einschließlich des M. quadratus lumborum sind gelähmt. Eine Beckenelevation ist somit nicht möglich.

8.1.9.2 Stehen Wie bei L2, aber mit einem Korsett bis zur Brust.

8.1.9.3 Gehen Es ist nur noch der Zu- oder Durchschwunggang möglich, d. h. der Schwung im Sagittalpendel bis an die Stützen heran oder auch über die Stützen hinaus. Schrittweises

8.1 Einleitung: Das Behandlungskonzept nach A. Ferrari

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Gehen bzw. reziprokes Gehen ist bei dieser Läsion und höher nur noch mit reziproken Orthesen möglich (L2).

8.1.9.4 Kompensation Die Kompensation erfolgt durch Armstützen, das Gewicht der Beine beim Sagittalpendel und ein Korsett, das thorako-lumbo-pelvisch stützt.

8.1.9.5 Erworbene Deformitäten Das größte Problem stellt die posturale Skoliose aufgrund der ungenügenden Stabilität zwischen Rumpf und Becken dar.

8.1.9.6 Statische Hilfsmittel Sinnvoll ist das Sitzkorsett (Abb. 8.14 oder 8.15), wenn keine Gehorthese mit hohem Beckenteil getragen wird (L2) und die Becken-Bein-Fuß-Lagerungsorthese zur Prophylaxe von Hüftbeugeabduktions- und Außenrotationskontrakturen, Kniebeugekontrakturen und supinierten Spitzfüßen (Abb. 8.18).

Abb. 8.18: Becken-Bein-Fuß-Lagerungsorthese.

8.1.9.7 Dynamische Hilfsmittel Die erste Aufrichtung erfolgt häufig über eine Schwenklaufhilfe mit Becken-BeinFuß(BBF)-Schale Go-LiTE® (Abb. 8.19). Bei guter Adaptation an die aufrechte Fortbewegung kann auf eine der oben erwähnten reziproken Orthesen gewechselt werden. Die Entscheidung hängt von den Wahrnehmungsproblemen, von Intelligenz und Mo-

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Abb. 8.19: Schwenklaufhilfe mit BBF-Schale Go-LiTE® (Foto: Gottinger).

tivation/Interesse des Patienten ab. Meist kommt die RGO (Abb. 8.17) zur Anwendung oder bei stabilem Gangbild der „Twister“ (Abb. 8.16), sofern keine schwerwiegende Skoliose vorliegt. 8.1.10 Thorakale Läsionen Höhere Läsionen sind wie die L1-Läsion zu sehen und zu behandeln. Die Instabilität des Rumpfes steht bei diesen Läsionen noch mehr im Vordergrund. Zur Prophylaxe der posturalen Skoliose ist insbesondere beim Sitzen schon früh darauf zu achten, dass sich die Patienten ohne Hilfsmittel zur Stabilisierung nicht mit einer Hand abstützen. Es entwickelt sich so neben einem erhöhten Skolioserisiko eine Stützhand. Das beeinträchtigt die Entwicklung des beidhändigen Spielens. Für die dynamischen Orthesen gelten die gleichen Grundsätze wie für L1. Je höher die Läsion, desto schwieriger wird das Gehen zu realisieren sein. Als Orthesen kommen die RGO-Orthese oder der Go-LiTE® (Abb. 8.17 und 8.18) in Kombination mit einem Sitzkorsett beim längeren Sitzen (Abb. 8.14 und 8.15) in Betracht.

8.1.11 Zusammenfassung Ziel des Behandlungskonzepts ist es, in den ersten 6 Monaten einen Behandlungsplan zu erstellen, der folgende Fragen zu beantworten versucht: – Ausmaß der peripheren und zentralen Störung, – Ausmaß der angeborenen Deformität. – Welche sekundären Deformitäten sind in welcher Entwicklungsphase zu erwarten?

8.1 Einleitung: Das Behandlungskonzept nach A. Ferrari

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Mit welchen konservativen oder operativen Maßnahmen sollte die Deformität verhindert oder behandelt werden? Wann und mit welchen Hilfsmitteln und mit welchem Therapieaufwand kann das Kind sein individuelles Habilitationsziel erreichen? Wann ist die Therapie zu Ende und was folgt dann?

Entscheidend bei der Durchführung des Habilitationsprojekts ist es, die Entwicklungsschritte des Kindes zu seiner Zeit mit den geeigneten Hilfsmitteln zu unterstützen. Sind kompensatorische Fortbewegungsmöglichkeiten entwickelt, die eine schnellere Fortbewegung als das Gehen in Orthesen erlauben, wird die Orthese nicht mehr in das Körperschema und den Alltag integriert, sondern meist bald abgelehnt. Die Aufrichtung des Kindes orientiert sich nicht am kalendarischen Alter, sondern an den Interessen des einzelnen Kindes und seinem Entwicklungsstand. Im Vordergrund stehen die entwicklungsgerechte Unterstützung des Kindes, sein Gehen zu realisieren und die Prophylaxe von voraussehbaren sekundären Deformitäten. Dadurch kann einerseits die Zahl der operativen Eingriffe gesenkt und andererseits die individuelle läsionsspezifische Mobilität der Kinder entscheidend gesteigert werden. Dies konnte in retrospektiven vergleichenden Untersuchungen eindrucksvoll belegt werden [3]. Sicher ist es dringend nötig, zu untersuchen, ob und wie Kinder mit MMC durch das Tragen von Orthesen bezüglich ihrer Aktivität und Teilhabe unterstützt werden. Bisher liegen nur Untersuchungen über die Verbesserungen von Körperstruktur und -funktion vor. Entsprechende Untersuchungskonzepte für die ICF-CY-Kriterien liegen vor [8].

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8.2 Orthopädie Bernd Doll und Susanne Lebek 8.2.1 Primäre und sekundäre Fußdeformitäten und ihre konservative und operative Behandlung Vor der Planung des orthopädischen Vorgehens muss eine neuromuskuläre Funktionsdiagnostik erfolgen. Außer der Lähmungshöhe muss der Lähmungstyp bestimmt werden. Handelt es sich um eine schlaffe Lähmung (Typ 1), sind die daraus resultierenden Folgen nach Ausschöpfen aller konservativen Maßnahmen von orthopädischoperativer Seite aus anzugehen. Wechselt der Lähmungstyp in eine spastische Form (Typ 2) oder treten subläsionale Reflexmechanismen, z. B. im Rahmen eines Tetheredcord-Syndroms (TCS) auf, ist ein neurochirurgischer Eingriff erforderlich und primäres orthopädisches operatives Vorgehen kontraindiziert. Bleiben trotz neurochirurgischer Intervention funktionell störende Kontrakturen erhalten, ist sekundäres orthopädisches Vorgehen notwendig. Das Ausmaß primärer Fehlbildungen oder sekundärer Deformierungen im Laufe des Wachstums muss regelmäßig untersucht und dokumentiert werden. Funktionelle Kontrakturen müssen von strukturellen unterschieden werden. Die Entscheidung bezüglich operativer Maßnahmen ist letztendlich vom Ausmaß der Kontrakturen und dem angestrebten Operationsziel abhängig. Die Maßnahmen müssen auf Funktionsgewinn und/oder Funktionserhalt ausgerichtet sein. Dann besteht die Möglichkeit einer langjährigen oder sogar dauerhaften Nutzung im Alltag. Die Entscheidung Kontrakturen zu korrigieren, ist nicht nur von deren Ausmaß, sondern auch von den individuellen Kompensationsmöglichkeiten abhängig. Hierzu gehören u. a. Orthesenversorgung, Kraftpotential und Aktivitätsinteresse. Da zur aufrechten Haltung alle Gelenkpositionen gehören, ist die Evaluation aller Skelettabschnitte in jede Operationsentscheidung mit einzubeziehen und wenn nötig in einer Sitzung zu korrigieren. Mit zunehmendem Alter der Kinder verschiebt sich die Problemlösung von konservativer und primärer Weichteilkorrektur hin zu knöchernen Eingriffen. Immer muss im Einzelfall nach Ausmaß von Flexibilität oder Rigidität entschieden werden. Den Eltern ein „je früher, desto besser“ zu vermitteln, ist häufig schwierig, erspart aber spätere aufwendigere Eingriffe am Fußskelett. Sind knöcherne Eingriffe notwendig, kann jede die Deformität beseitigende Knochenoperation angewendet werden. Winkelstabile Osteosyntheseverfahren und Orthesenversorgung geben uns die Möglichkeit der frühfunktionellen Nachbehandlung mit kurzzeitiger Immobilisation.

8.2 Orthopädie | 309

Das Konzept der Muskelimbalance bei der Entstehung der Fußdeformitäten wird häufig überschätzt, weshalb auch die Möglichkeiten der Weichteilkorrektur begrenzt sind [1, 2]. Knöcherne Deformierungen sind nicht durch Weichteilinterventionen korrigierbar. Fußdeformitäten wie Klump-, Hackenfuß oder Talus verticalis können entweder angeboren sein oder wie Spitz-, Knickfuß oder Metatarsus adductus sekundär entstehen. Infolge neurologischer Änderungen wie z. B. TCS können sich auch Änderungen der Deformitäten beim selben Patienten entwickeln. Die Inzidenz der genannten Fußdeformitäten in den verschiedenen Läsionshöhen liegt zwischen 50 und 75 % der Patienten [1–4]. Die meisten Autoren berichten in den vorliegenden retrospektiven Auswertungen, dass bei höheren Läsionen häufiger Fußdeformitäten auftreten als bei niedrigeren und dass die Inzidenz für Klump- und Spitzfuß bei höheren Läsionen höher ist, während bei niedrigem Läsionsniveau Hacken- und Ballenhohlfuß häufiger auftreten [1–4]. Dabei ist es schwierig die Arbeiten zu vergleichen, weil die untersuchten Gruppen unterschiedlich zusammengestellt wurden: Hacken- und Hohlfüße zusammen oder Spitz- und Klumpfüße in unterschiedlichen Lebensaltern [1–4]. Die häufigste angeborene Deformität ist der Klumpfuß, der mit der PonsetiMethode gut behandelt werden kann [5, 6]. Der wesentlich seltenere angeborene Talus verticalis kann mit der sog. umgekehrten Ponseti-Methode [6, 7] ebenfalls gut konservativ und minimal-invasiv korrigiert werden. Fußdeformitäten bei Spina bifida sind rigider und rezidivieren häufiger, weshalb es auch Autoren gibt, die frühzeitige ausgedehntere chirurgische Interventionen wie posteromediales oder peritalares Release bzw. knöcherne Verlängerungen der medialen Säule empfehlen [6, 8–10]. Spitzfüße werden abhängig vom Ausmaß weichteilig mit Sehnenverlängerungen, -versetzungen oder -transfers oder knöchern korrigiert. Die Immobilisation im Gips sollte so kurz wie möglich sein. 20 % der Spitzfüße sind durch eine sich entwickelnde Spastik verursacht, der bei der Wahl der Therapie unbedingt Beachtung geschenkt werden muss [11]. Reicht die Kraft im Triceps-surae-Komplex zur Sprunggelenkstabilisierung nicht aus, resultiert ein Hackenfuß. Die primäre Maßnahme besteht in einer die pathologische Dorsalextension einschränkenden Orthesenbehandlung. Sollten im Verlauf zusätzliche Probleme wie zunehmende Steilstellung des Calcaneus oder Druckstellen im Verlauf der Fußhebersehnen auftreten, besteht operativer Behandlungsbedarf. Hierbei hat sich der Transfer eines kräftigen Tibialis anterior auf die Achillessehne oder anderer kräftig agierender Fußmuskeln wie z. B. Peroneus brevis und Peroneus longus, Zehenextensoren, Flexor hallucis longus und Flexor digitorum longus bewährt. Sich entwickelnde Rückfußdeformitäten müssen, um Druckstellen zu vermeiden, knöchern mit Calcaneusosteotomien zur Dorsalverschiebung oder Arthrodesen behandelt werden. Alternativ können Talektomien durchgeführt werden, bei denen auf die vollständige Entfernung des Talus Wert gelegt werden muss [6]. Allerdings sollte bedacht werden, dass meist weitere Operationen notwendig werden und sich rasch Arthrosen und Tibiatorsionsdeformitäten entwickeln [12].

310 | 8 Bewegungsapparat und Mobilität

Ballenhohlfüße können nur knöchern korrigiert werden, weil deren Entwicklung die Orthesenfähigkeit massiv beeinträchtigt [13]. Man kann versuchen, durch multiple Osteotomien Arthrodesen zu vermeiden [14]. Besteht eine Dominanz der Pronatoren bei schwachen oder paretischen Supinatoren oder Spastik, ist die Entwicklung eines Knickfußes zu erwarten. Frühzeitige umfassende orthetische Versorgung und Physiotherapie können die Progredienz aufhalten, jedoch nicht verhindern. Es kann auch eine Schwächung der Peronealmuskeln mit Botulinumtoxininjektion oder eine Sehnenverlängerung durchgeführt werden. Dies ist ein Verfahren, das für dauerhaften Erfolg Aktivitäten der Supinatoren voraussetzt. Sind diese nicht gegeben oder nur schwach, empfiehlt sich ein hälftiger oder vollständiger Transfer der Peronealsehnen auf die Sehne des Musculus tibialis posterior. In jedem Fall ist eine ausgewogene Situation zwischen Pro- und Supination anzustreben. Ist nach Durchführung dieser Maßnahme ein spontaner Ausgleich der Valgusstellung nicht zu erreichen, sind Kapsulotomien erforderlich. Primär sollten Operationsverfahren angestrebt werden, die eine Gehgipsversorgung ermöglichen. Nach der Gipsphase muss sich nahtlos eine Orthesenversorgung anschließen. Bleibt ein versorgungsfreies Intervall zwischen Gips- und Orthesenphase, ist die Rezidivgefahr immens. Im Regelfall sollte möglichst früh, d. h. nach eindeutiger Feststellung der Muskelimbalance operiert werden. Für die hoch lumbalen und thorakalen Lähmungen empfiehlt sich die Durchführung von Tenotomien. Hiermit sind Rezidive, wie sie im Rahmen von symptomatischen TCS auftreten können, häufig zu vermeiden. Supinationsfehlstellung oder Metatarsus adductus werden häufig als eine Vorstufe des Klumpfußes aufgefasst oder zusammengefasst. Im Regelfall ist die Achil-

(a)

(b)

(c)

(d)

Abb. 8.20: 6-jähriger Patient mit S1-Läsion und neurogenem Klumpfuß links präoperativ. (a) und (b) klinisch, (c) und (d) röntgenologisch.

8.2 Orthopädie

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Abb. 8.21: 6 Monate nach Calcaneusosteotomie, Kuboidkeilresektion und additiver Kuneiformeosteotomie links. (a) und (b) klinisch, (c) und (d) röntgenologisch.

lessehne nicht mitbetroffen und es dominieren Tibialis-anterior- und/oder Tibialisposterior-Aktivitäten. Eine Beteiligung des M. abductor hallucis ist bei den tief sakralen Läsionen möglich. Die Schwächung der dominanten Supinatoren erfolgt über Verlängerung, teilweisen oder vollständigen Sehnentransfer des M. tibialis anterior und/oder M. tibialis posterior und bei Bedarf Ablösung des Ursprungs des M. abductor hallucis. Erweitert werden kann der Eingriff durch Kapsulotomien (partiell oder subtotal) im Sinne einer medialen Fußrandentflechtung. Bei älteren und unbehandelten Kindern stellt sich als sekundäre Deformität eine Hypoplasie des medialen knöchernen Fußrandes ein, sodass neben umfassenden Kapsulotomien des medialen Fußrandes auch eine Reduktion der relativen Hyperplasie des lateralen Fußrandes mittels Kuboidkeilresektion erfolgen kann (Abb. 8.20, 8.21). Das durch orthopädische Maßnahmen zu erreichende funktionelle Ziel ist ein flexibler, stabiler, plantigrad einzustellender Fuß für eine druckstellenfreie Orthesenversorgung.

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Susanne Lebek und Bernd Doll 8.2.2 Behandlung primärer und sekundärer Kniedeformitäten Deformitäten des Kniegelenks bei Spina bifida kommen in allen drei Ebenen vor: Extensions- und Flexionsdeformität in der Sagittal-, Valgusfehlstellung in der Frontalund Torsionsfehlstellungen in der Transversalebene. Ihnen gemeinsam ist, dass es immer eine Anzahl von Ursachen bei der Entstehung gibt und deshalb auch meist mehrere Erklärungen dafür, ohne dass in jedem Fall konservative oder operative Lösungen der Probleme gefunden werden. Zur Entstehung primärer Deformitäten werden als Ursachen Muskelimbalancen am Kniegelenk, die durch Quadrizepsschwäche oder abnormen Tonus verursacht sein können, angegeben. Die meisten Kinder mit Spina bifida werden mit Kniebeugekontrakturen geboren, die sich innerhalb der ersten 9 Lebensmonate „zurückbilden“, aber bei höheren Läsionslevels wieder zunehmen [1]. Sekundäre Deformitäten resultieren aus Pathologien proximal oder distal des Kniegelenks.

8.2 Orthopädie | 313

8.2.2.1 Sagittalebene Eine Muskelimbalance scheint – obwohl oft in der Literatur erwähnt – selten Grund für die Entstehung einer Kniebeugekontraktur zu sein, weil die Kniebeuger meistens schwächer sind als der M. quadriceps. In einer Multicenterstudie [1] wurde Spastik als Ursache nur in 9 % der Kinder mit Flexionsdeformität > 20° gefunden, was also auch nicht das Gros der Kniebeugekontrakturen erklärt. Unstrittig ist ein Zusammenhang zwischen Läsionshöhe sowie Verlust der Gehfähigkeit und Kniestreckdefizit [1], wobei unklar ist, was zuerst entsteht. Hört man auf zu laufen, weil das Kniestreckdefizit > 20° beträgt oder verstärkt sich das Kniestreckdefizit, weil man nicht mehr läuft? Eine zunehmende Flexionsdeformität kann durch Quadrizeps- und vor allem Plantarflexorenschwäche (knee-extension-plantar-flexion-couple) bei erhaltener Kniebeugeaktivität beim Läufer oder zunehmende Hüftbeugekontraktur bei Kindern mit hohen Läsionen verursacht sein. Das funktionelle Behandlungsziel bei Quadrizeps- und vor allem Plantarflexorenschwäche bei erhaltener Kniebeugeaktivität beim Läufer ist der Erhalt des Stehens und Laufens durch Orthesen (DAFO, KAFO). Zur Behandlung von Kniebeugekontrakturen bei jüngeren Kindern stehen uns Redressionsgipse und Dehnung [2] zur Verfügung. Des Weiteren können Operationen wie Weichteilreleases, temporäre anteriore Epiphyseodesen oder Femurextensionsosteotomien zur Korrektur von Kniestreckdefiziten von mehr als 20° durchgeführt werden [3–7]. Spiro et al. [3] untersuchten 10 Kinder mit Spina bifida nach anteriorer Epiphyseodese und stellten bei insgesamt guten Ergebnissen fest, dass bei Kindern, die älter als 12 Jahre waren, die Korrektur geringer war und bei 1 Patienten (Nichtläufer) keine Korrektur erreicht werden konnte. Hinsichtlich der Durchführung distaler Femurex-

(a)

(b)

(c)

Abb. 8.22: 15-jähriger Junge mit sakraler Spina bifida, bei dem wegen des Kniestreckdefizits (a) eine Femurextensionsosteotomie (b) durchgeführt wurde, (c) 1 Jahr postoperativ.

314 | 8 Bewegungsapparat und Mobilität

tensionsosteotomien (Abb. 8.22) wird wegen der Rezidivgefahr empfohlen, den Operationszeitpunkt nahe dem Wachstumsabschluss zu wählen [5]. In ganganalytischen Untersuchungen wurde eine erhebliche Differenz zwischen dem klinisch untersuchten und dem bei Fersenkontakt (initial contact) vorliegenden Kniestreckdefizit bei Kindern mit Spina bifida festgestellt. Deshalb sind Ganganalysen vor der Entscheidung zur operativen Intervention empfehlenswert [6]. Extensionsdeformitäten infolge einer aktiven Quadricepsmuskulatur und schwacher oder fehlender Kniebeugeaktivität sind wesentlich seltener, aber schwierig zu behandeln. Eine eingeschränkte Kniebeugung kann auch nach Physenverletzungen oder kniegelenknahen Frakturen entstehen. Bei therapeutischen oder Nichtläufern muss die Sitzfähigkeit im Rollstuhl erhalten werden, was mit gestreckten Beinen erschwert würde. Um dieses Ziel zu erreichen, kann ein Quadricepsrelease oder eine Durchtrennung des Ligamentum patellae zum Ziel führen.

8.2.2.2 Koronalebene/Frontalebene Außer der zunehmenden Flexionsdeformität gibt die Valgusabweichung des Kniegelenks Anlass zur Sorge. Es kann versucht werden, diese Achsabweichung mit KAFO zu behandeln, aber auch da zeigen Ganganalysedaten betroffener Patienten multiple Ursachen, was Empfehlungen zur Therapie erschwert [8, 9]. Nur in einem Viertel der untersuchten Patienten konnten abnorme Valgusmomente im Kniegelenk festgestellt werden [8].

8.2.2.3 Transversalebene Viel häufiger ist die sichtbare Valgusabweichung in der Frontalebene durch eine Tibiarotation verursacht [8, 10, 11]. Dunteman et al. [10] konnten in einer retrospektiven Studie bei 8 Patienten mit sakraler MMC, die wegen einer Valgusabweichung einer Tibiaderotationsosteotomie unterzogen wurden (Durchschnittsalter 12 Jahre, durchschnittliche Torsion 34°), 1 Jahr postoperativ eine signifikante Verbesserung der Kniestreckung in der Standphase (Sagittalebene) und eine Verbesserung der Valgusabweichung (Koronalebene) nachweisen. Diese Ergebnisse wurden in einer ähnlichen Studie von Vankoski et al. [11] bestätigt und erweitert durch die Untersuchung des Einflusses von DAFO. Deren Funktion kann nur erfüllt werden, wenn das Alignment des Beines korrekt ist; bei Tibiarotation kann es in DAFO zur Verschiebung der Bodenreaktionskraft nach posterolateral kommen, was die Kniestreckung in der Standphase beeinflusst. Behandlungsoptionen sind Unterarmstützen, höhere Orthesen und Tibiarotationsosteotomien bei Torsionen von mehr als 20° [11, 12]. Die Langzeitauswirkungen abnormer Knierotation in Knieflexion und einige der anderen in der Ganganalyse beobachteten Auffälligkeiten sind noch unklar. Veröffent-

8.2 Orthopädie |

315

lichungen zu systematischen Untersuchungen der Entwicklung des Gangbildes bei Spina bifida gibt es bisher nicht. Schon 1993 berichteten Williams et al. [13], dass 24 % der untersuchten Patienten (Durchschnittsalter 28 Jahre) mit sakralem und lumbalem Lähmungsniveau über Knieschmerzen klagten. Die radiologischen Degenerationen waren ihrer Meinung nach eher mit Instabilitäten als neuropathischen Veränderungen assoziiert. Über die Versorgung von Gonarthrosen mit Knieendoprothesen gibt es nur einzelne Berichte [14] mit Kurzzeitergebnissen.

8.2.2.4 Zusammenfassung Um die frühe Versorgung mit Orthesen zu ermöglichen, kann es notwendig werden, störende Hüft- und Kniebeugekontrakturen operativ zu korrigieren. Kniebeugekontrakturen werden weichteilig korrigiert. Postoperativ erfolgt die Lagerung in einer Schale mit gestreckten Hüften und Knien oder in Bauchlage. Bei Kniebeugekontrakturen > 30° und Tibiarotation > 20° ist die Geh- und Stehfähigkeit auch mit Orthesenversorgung gefährdet und es ergibt sich – nach gründlicher Analyse und abhängig von funktionellem Ziel und der Prognose – die Indikation zur operativen Korrektur. In Zukunft werden die Diagnostik und Therapie der durch die beschriebenen Deformitäten verursachten Arthrosen eine größere Rolle für Orthopäden spielen.

Literatur [1] [2]

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Julia Funk 8.2.3 Primäre und sekundäre Hüftdeformierungen und ihre konservative und operative Behandlung 8.2.3.1 Einleitung Das Muskelungleichgewicht bei Spina bifida führt bei nahezu allen Patienten zu Veränderungen der Hüftgelenke. Die Entwicklung des Hüftgelenks hängt ganz wesentlich von der Belastung des Gelenks ab. Folglich sind die bei Spina bifida auftretenden Veränderungen abhängig von Alter und Lähmungsniveau. In diesem Kapitel werden die aktuellen Behandlungskonzepte entsprechend der Entwicklung des Hüftgelenks anhand gewisser Lebensaltersabschnitte geordnet.

8.2.3.2 Therapie im Säuglings- und Kleinkindalter Obwohl angenommen wird, dass Hüftdysplasie und konsekutive Luxation sekundär entstehen [1, 2], können bei den meisten Säuglingen mit Spina bifida bereits im Ultraschallscreening Veränderungen festgestellt werden. Prinzipiell ist hier eine Nachreifungsbehandlung möglich und führt auch zur initialen Korrektur der Dysplasie. Eine Zunahme der angeborenen und im Säuglingsalter physiologischen Hüftbeugekontraktur tritt durch diese Behandlung nicht auf. Da die Abduktoren als stärkste Hüftzentrierer ab einem Level von L4 abwärts gelähmt sind, die ohnehin kräftigere Gruppe der dezentrierenden Adduktoren jedoch zum großen Teil durch kranial L4 gelegene Nerven innerviert wird, hat eine Beugespreizbehandlung zur Nachreifung in der Regel keinen langfristigen Effekt. Allein eine im Säuglingsalter festgestellte Dysplasie bei sakralen Läsionen mag von einer frühen Behandlung profitieren. Ähnliches gilt für die angeborenen Hüftluxationen. Prinzipiell ist hier eine geschlossene Reposition und folgende Nachreifung ebenfalls möglich, aber in der Regel

8.2 Orthopädie

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ohne nachhaltigen Effekt. Zu überlegen ist diese Behandlung bei einseitig luxierten Hüften zum mittelfristigen Erhalt der Symmetrie und damit eines möglichst wenig asymmetrischen Beckens. Dieses ist von funktionellem Vorteil sowohl beim Gehen als auch beim Sitzen. Beidseitige angeborene oder frühzeitig auftretende Hüftluxationen sind bezüglich der Funktion deutlich weniger problematisch als einseitige [3, 4]. Mit einer Therapie sollte man deshalb sehr zurückhaltend sein. Obwohl anhand radiologischer Kriterien auch offene Repositionen kurzfristig erfolgreich sein können, sind diese bei langfristig immer unbefriedigenden Ergebnissen selten indiziert [3, 5–7]. Seit Anfang der 90er-Jahre wird deshalb empfohlen, Hüftluxationen im Säuglingsalter bei Patienten mit Spina bifida nicht offen zu reponieren. Säuglinge und Kleinkinder mit ausgeprägten Beuge- und Abduktionskontrakturen sollten frühzeitig mit Lagerungsorthesen versorgt werden [8] (s. Kap. 8.1, 8.3). Die wichtigste funktionelle Therapie für die Hüften von Patienten mit Spina bifida ist das Stehen und Gehen. Daher sollte dieses bereits im üblichen Lauflernalter bei allen Patienten unabhängig vom Lähmungsniveau gefördert werden. Dafür müssen die Patienten mit funktionellen lähmungsniveauadaptierten Orthesen versorgt (s. Kap. 8.1, 8.3) und entsprechend motiviert werden.

8.2.3.3 Therapie im Kindes- und Jugendalter Die läsionshöhenunabhängige Vertikalisierung im Kindes- und Jugendalter ist deshalb so wichtig, weil wir wissen, dass Patienten, die in diesem Alter – mit welchen Hilfsmitteln auch immer – das Gehen erlernt haben, im Erwachsenenalter unabhängiger sind [9]. Treten bei der Versorgung mit Geh- und Stehapparaten störende Kontrakturen auf, sollten diese frühzeitig operativ gelöst werden. Beuge- und Abduktionskontrakturen schränken die Orthesenversorgung stärker ein als die wesentlich selteneren Adduktionskontrakturen. Jede Therapie sollte darauf ausgerichtet sein, die größtmögliche Symmetrie des Beckens zu erreichen. Die beckenaufrichtende Wirkung der Ischiokruralmuskulatur ist dabei ebenfalls zu beachten. Ein gerades Becken erleichtert die Mobilität sowohl im Sitzen als auch in der Vertikalen beträchtlich. Es gibt eine Vielzahl von Muskeltransferoperationen, die mit der Intention, das gestörte Muskelgleichgewicht wiederherzustellen, durchgeführt wurden [10– 13]. Die klinischen Verlaufskontrollen zeigten, dass keine dieser Operationen tatsächlich zu einer Verbesserung der Muskelbalancierung und damit Funktionsverbesserung führte. EMG-Untersuchungen bestätigten den klinischen Eindruck, dass die erwünschte Funktion vom transferierten Muskel nicht übernommen wird. Eine langfristige Funktionsverbesserung ließ sich durch keine der verschiedenen Muskeltransferoperationen erzielen, weshalb diese seit geraumer Zeit bei Patienten mit Spina bifida nicht mehr zur Anwendung kommen [14].

318 | 8 Bewegungsapparat und Mobilität

Das gesamte orthopädische Spektrum von knöchernen Eingriffen zur Behandlung der sekundären Hüftdysplasie und -luxation findet Anwendung in der Therapie bei Patienten mit Spina bifida (Abb. 8.23 und 8.24).

(a)

(d)

(b)

(c)

(e)

Abb. 8.23: Röntgenologischer Verlauf nach operativer Rekonstruktion der Hüftluxation rechts bei lumbalem Lähmungsniveau im Alter von 7 Jahren (a) vor und (b) nach Operation, (c) mit 9 Jahren sowie mit 13 Jahren (d) vor und (e) nach Spondylodese .

Da grundsätzlich bei der Behandlung funktionelle Aspekte im Vordergrund stehen, stellt sich die Frage, ob es sinnvoll ist, eine Hüftdysplasie bzw. -luxation operativ zu behandeln. Menelaus [5] betonte schon 1976, dass die Behandlung des Hüftgelenks bei Kindern mit Spina bifida lediglich der Verbesserung der Funktion dienen sollte und eine diesbezüglich gewählte Behandlungsmethode eher zufällig auch eine Behandlung von Subluxation oder Luxation darstellt. Knöcherne Korrekturen dysplastischer Hüftgelenke sind bei Patienten mit Spina bifida primär nicht indiziert. Einigkeit besteht weiterhin darüber, beidseitige Luxationen nicht zu rezentrieren [4–7, 15–18]. Besteht eine einseitige Hüftluxation, wird darüber diskutiert, ob mit einer Reposition die Beckensymmetrie wiederhergestellt und erhalten werden kann [6, 19]. Evidenzbasierte Empfehlungen zur operativen Therapie sind der aktuellen Literatur allerdings nicht zu entnehmen [7]. Sowohl Acetabuloplastik und Beckenosteotomie (Salter, Chiari etc.) als auch Eingriffe am proximalen Femur im Sinne von Varisierungen und Derotationen führen

8.2 Orthopädie | 319

nicht zu einer Verbesserung der Funktion, sondern in der Mehrzahl der Fälle eher zu einer Einschränkung des Bewegungsausmaßes mit konsekutiv eingeschränkter Funktion. Des Weiteren ist bei der persistierenden Lähmung im Laufe des Wachstums mit einer erneuten Verschlechterung des radiologischen Befunds zu rechnen. Aus dem gleichen Grund lässt sich auch keine dauerhafte knöcherne Symmetrie herstellen. Langfristverläufe zeigen, dass nichtoperierte Patienten im Verlauf eine bessere Funktion und weniger Beschwerden haben als im Kindes- und Jugendalter operierte Patienten und dass der Zustand der Hüften keinen Einfluss auf die Funktion der Patienten hat [4, 20–24]. Unabhängig von rein biomechanischen Faktoren wird die Funktion von Komorbiditäten wie Shuntdysfunktionen und -infekten, urologischen Problemen und Skoliosen beeinträchtigt. Jede an der Hüfte durchgeführte Operation – abgesehen von Kontrakturlösungen – sollte dementsprechend nur nach äußerst strenger Indikationsstellung durchgeführt werden. Dabei sind langfristige Ruhigstellungen weitestgehend zu vermeiden und eine Frühmobilisation in Orthesen anzustreben.

8.2.3.4 Therapie im Erwachsenenalter Obwohl eine luxierte oder dysplastische Hüfte keinen Einfluss auf die Funktion hat und die Literatur zeigt, dass wir mit den uns bekannten operativen Verfahren im Kindes- und Jugendalter selten funktionelle Verbesserungen herbeiführen können, treten im weiteren Verlauf ggf. Veränderungen auf, die zu Schmerzen und damit Einschränkung der Funktion führen können. Diese können bis zum Verlust der bis ins Erwachsenenalter erhaltenen Gehfähigkeit reichen. Die sensible Gelenkinnervation ist häufig erhalten, wenn die gelenkumgreifende Muskulatur bereits von Lähmungen betroffen ist. Die Afferenzen der Hüftgelenke reichen bis L1. Häufig finden sich zunehmende Beugekontrakturen. Diese lassen sich wie oben beschrieben behandeln. Da es sich bei der operativen Behandlung im Erwachsenenalter oft um Rezidiveingriffe handelt, ist mit einer höheren Komplikationsrate zu rechnen. Bei dysplastischen Hüften mit tiefem Lähmungsniveau finden sich bei erhaltener sensibler Gelenkinnervation oft typische Impingementzeichen, die auf Veränderungen des Labrums hinweisen. Abhängig vom Funktionsstatus und vom Erfolg konservativer physiotherapeutischer Behandlung kann hier eine arthroskopische oder auch mini-offene Resektion der einklemmenden Anteile hilfreich sein. Von einer Refixation sollte bei vorhandener Lähmung mit resultierendem Muskelungleichgewicht abgesehen werden, weil bei persistierender pathologischer Belastung nicht von einer dauerhaften Stabilität ausgegangen werden kann. Literatur zu dieser bei Patienten mit Spina bifida sehr selten durchgeführten Therapie existiert bisher nicht.

320 | 8 Bewegungsapparat und Mobilität

In äußerst seltenen Fällen können auch knöcherne Eingriffe zum Erhalt der Funktion führen. So kann eine bessere Überdachung des Hüftkopfes durch eine periacetabuläre Osteotomie beispielsweise die rezidivierende und bei manchen gehfähigen Patienten schmerzhafte Subluxation vermeiden (Abb. 8.24). Bei der Durchführung dieser Operation ist eine übermäßige ventrale Überdachung unbedingt zu vermeiden, weil diese wiederum zu Einklemmungsbeschwerden beim Sitzen führen kann.

(a)

(b)

(c) Abb. 8.24: (a) Beckenübersicht eines 22-jährigen in Oberschenkelorthesen gehfähigen Patienten mit tiefer Lähmung mit belastungsabhängigen Beschwerden in der linken Leiste. (b) und (c) Bei hoher Motivation und sehr guter Funktion wurde eine periacetabuläre Beckenosteotomie durchgeführt.

Besteht eine schmerzhafte Dysplasiearthrose, so ist auch die Implantation einer Totalendoprothese möglich. Bei fehlender muskulärer Zentrierung muss diese intraoperativ z. B. durch spezielle Inlays und Schlauchanbindung erfolgen, um rezidivierende Luxationen zu vermeiden. Literatur zur Implantation von Hüftgelenktotalendoprothesen – insbesondere zu den speziell erforderlichen Modifikationen der Operationstechnik bei bestehenden Lähmungen – ist rar. Im Vorfeld eines Gelenkersatzes ist unbedingt zu beachten, dass dadurch Bewegungseinschränkungen entstehen. Werden durch diese wichtige Funktionen beim Transfer und der Körperpflege unmöglich, muss man von einem Gelenkersatz abraten.

8.2 Orthopädie | 321

Vollständig luxierte Hüften verursachen meist keine Beschwerden. Dies mag am höheren Lähmungsniveau liegen. Möglicherweise ist auch die sensible Innervation im Hüft- und Beckenbereich und damit das Schmerzempfinden eingeschränkt. Weiterhin ist bei höherem Lähmungsniveau die Gehfähigkeit im Erwachsenenalter meist aufgehoben. Bei einseitiger Luxation ist insbesondere auch beim Sitzen auf eine symmetrische Einstellung des Beckens zu achten. Bei anders nicht beherrschbaren Beschwerden kann auch über eine subtrochantäre valgisierende und derotierende Osteotomie (z. B. nach Schanz) nachgedacht werden. Ist die Anzahl aktueller Publikationen zur funktionsorientierten Behandlung der Hüftdeformitäten bei Kindern mit Spina bifida schon gering, so gibt es für die Behandlung im Erwachsenenalter nahezu keine Literatur. Allen Operationen im Erwachsenenalter ist eine prolongierte Rehabilitationsphase gemeinsam. Die Operationen müssen in Zentren durchgeführt werden, in denen sowohl ein erfahrener Neuroorthopäde als auch in der speziellen Hüftchirurgie versierte Kollegen gemeinsam arbeiten.

8.2.3.5 Zusammenfassung Pathologische Veränderungen der Hüften bestehen bei Menschen mit Spina bifida z. T. schon von Geburt an. In den meisten Fällen entwickeln sie sich im Verlauf aufgrund des lähmungsbedingt bestehenden muskulären Ungleichgewichts. Mit der operativen Behandlung sollte man in jedem Lebensalter läsionshöhenunabhängig sehr zurückhaltend sein, weil bisher keine Funktionsverbesserung durch operatives Vorgehen, abgesehen von frühzeitigen Kontrakturlösungen, gezeigt werden konnte und postoperativ persistierende Bewegungs- und damit Funktionseinschränkungen häufig sind.

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Susanne Lebek und Julia Funk 8.2.4 Frakturen und Fugenverletzungen und ihre Behandlung 8.2.4.1 Einleitung Pathologische Frakturen und Epiphysenlösungen bedürfen wegen der Schwierigkeiten bei Erkennung und Behandlung besonderer Beachtung. Eine eindeutige Identifizierung gefährdeter Kinder ist bisher nicht möglich.

8.2 Orthopädie | 323

Die Häufigkeit der Frakturen bei Spina bifida korreliert mit der Läsionshöhe: bei thorakalen Lähmungen kommen Frakturen häufiger vor als bei sakralen [1–3]. Die Angaben zur Inzidenz der Frakturen bei Patienten mit Spina bifida schwanken zwischen 9 und 30 % [2–9]. Der Häufigkeitsgipfel liegt sowohl für Frakturen als auch für Fugenverletzungen zwischen 10 und 12 Jahren [7, 8]. Frakturen treten am häufigsten nach längeren Phasen der Immobilisation, z. B. nach Operationen des Skelettsystems mit Gipsruhigstellung (Hyperkalziurie), nach Physiotherapie und bei Kindern mit ausgeprägten Kontrakturen und vor allem an der unteren Extremität auf; sehr selten sind direkte Traumen die Ursache [4, 7, 10]. Der Femurschaft, das distale Femur und die proximale Tibia frakturieren am häufigsten [2, 3, 11]. Fugenverletzungen sind seltener und betreffen meistens Kinder und Jugendliche, die mit Orthesen gehfähig sind, also mit niedrigem Lähmungsniveau [3, 8, 12]. Auch Epiphysenfugenverletzungen kommen vor allem an der unteren Extremität vor und betreffen mehrheitlich die distale Tibiafuge [2, 3, 11]. Bei Patienten mit Spina bifida ist die Knochendichte generell vermindert [9, 13–17]. Dabei haben Kinder mit thorakalem Lähmungsniveau eine geringere Knochendichte als Kinder mit niedrigerem Lähmungsniveau [9, 18]. Allerdings gibt es bezüglich der Korrelation von Knochendichte und Knochenstoffwechselparametern im Blut mit dem Auftreten von Frakturen widersprüchliche Angaben in der Literatur [9, 13, 18–20]. Schon bei Geburt sind die Kortikalisdicke, die Anzahl der Havers’schen Kanäle und der Resorptionshöhlen auf der endostalen Seite reduziert [21]. Obwohl Patienten mit Spina bifida heute in der Regel frühzeitig vertikalisiert werden, nimmt die Knochendichte trotz Mobilität in Orthesen weiter ab [16]. Ursächlich dafür sind die bei Lähmungen ausbleibende Aktivierung des Knochenumbaus durch muskuläre Kraftübertragung, die auf gestörter Sensibilität beruhende Osteopathie und die veränderten molekularen Mechanismen des Knochenstoffwechsels [22]. Auch bei Epiphysenfugenverletzungen werden die andauernden mechanischen Belastungen als pathogenetisch angesehen. Auf die veränderten Fugen und neuropathischen Gelenke treffen Mikrotraumata, die zur Fugenverletzung führen [23]. Die Epiphysenfugen bei Kindern mit Spina bifida zeigen ein typisches histologisches Bild: normale Proliferationszone, verdickte und hypozelluläre Hypertrophiezone und eine fibröse Zone mit ungeordneter Kapillarisierung an der Grenze zwischen Metaphyse und Fuge [11]. Diese Zone ist ein Locus minoris resistentiae und ähnelt den Fugenveränderungen bei Epiphysiolysis capitis femoris. Die fehlende afferente sensorische Information verursacht die Arthropathie und resultiert in mangelndem Schutz vor mechanischer Überlastung [1].

324 | 8 Bewegungsapparat und Mobilität

8.2.4.2 Diagnostik und Klinik Die Vorstellung der Patienten erfolgt fast immer wegen Schwellung über der betroffenen Extremität sowie Rötung, Überwärmung und Fehlstellung über Knochen oder Gelenken. Ein Trauma wird nicht angegeben. Der erste Arztkontakt findet oft Tage bis Wochen nach Auftreten der Symptome statt. Manchmal klagen die Kinder über Unwohlsein und haben Fieber. Je nach Zeitpunkt der klinischen Untersuchung findet man mehr oder weniger deutliche Entzündungszeichen. Unter Umständen ist die Erhöhung der paraklinischen Entzündungsparameter nachweisbar. Die üblichen Frakturzeichen sind wenig ausgeprägt. Nach der klinischen Untersuchung sollte immer eine Röntgenuntersuchung erfolgen. Wird die Fraktur mit Verzögerung erkannt, sieht man oft eine exzessive Kallusbildung (Abb. 8.25). Zusammen mit der – aufgrund bestehender Sensibilitätsstörung – trotz Fraktur fortgesetzter Bewegung im Frakturspalt kommt es zur raschen ausgedehnten Kallusbildung und Konsolidierung der Fraktur (Abb. 8.26) [2, 24, 25]. Die Remodellierung des Kallus kann aber mehrere Jahre dauern, was an der lähmungsbedingt mangelnden Aktivität der Muskulatur liegt.

(a)

(b)

Abb. 8.25: 17 Jahre, L5-Läsion, Fraktur MT V rechts, Erstvorstellung nach 6 Wochen, Diagnostik wegen Tumorverdachts.

(a)

(b)

Abb. 8.26: Konsolidierung nach 6 Wochen Ruhigstellung.

8.2 Orthopädie | 325

Epiphysenfugenverletzungen sind in konventionellen Röntgenbildern leicht zu übersehen. Werden die Kinder wegen Schwellung, Rötung und Überwärmung zügig vorgestellt, können röntgenologisch nur minimale Veränderungen festgestellt werden. Weite Fugen mit irregulären Grenzen zur Metaphyse (Abb. 8.27) und Kalzifikationen sind Hinweise auf Epiphysenfugenverletzungen [26]. Eine Wiederholung der Röntgenuntersuchung im Verlauf zeigt dann Kallus als Zeichen einer stattgehabten Fugenverletzung (Abb. 8.28). Manchmal werden Fugenverletzungen erst an der metaphysären Kallusbildung röntgenologisch sichtbar. Die MRT zeigt typische Veränderungen an der Fuge [11, 27]: Lücken im zentralen Anteil der Fuge mit Enhancement in der Metaphyse, aber unauffälliger Signalgebung zur Epiphyse, gelegentlich Verdickung des Fugenknorpels und Kalzifikationen.

(a)

(b)

Abb. 8.27: (a, b) 11-jähriges Mädchen mit S1-Läsion, weite Epiphysenfuge distale Tibia.

Diese radiologischen Veränderungen zusammen mit den auf eine Osteomyelitis oder Tumor hinweisenden klinischen Symptomen haben wegen der Behandlung der vermuteten Infektion oder gar Tumordiagnostik oft eine Verzögerung der Diagnose zur Folge. Kinder mit Spina bifida sollten deshalb bei entsprechender Symptomatik kurzfristig dort vorgestellt werden, wo das interdisziplinäre Team mit der Behandlung des Krankheitsbildes vertraut ist.

326 | 8 Bewegungsapparat und Mobilität

(a)

(b)

Abb. 8.28: (a, b) Befund nach 3 Monaten konservativer Therapie.

8.2.4.3 Therapie und Komplikationen Sowohl Frakturen als auch Fugenverletzungen werden konservativ behandelt. Ausnahmsweise müssen Schenkelhalsfrakturen und nichtheilende Fugenverletzungen operativ behandelt werden. Die konservative Behandlung besteht in Ruhigstellung und Entlastung des Beines im Gipsverband oder in der Orthese unter Beachtung der Achsverhältnisse bis zur klinischen und röntgenologischen Konsolidierung [6, 7, 28, 29]. Die Heilung dauert länger als bei neurologisch gesunden Kindern. Wenn eine Gipsbehandlung gewählt wird, sind Geh- und Stehgipse den Liegegipsen unbedingt vorzuziehen. Es sollte so zeitig wie möglich auf Orthesenruhigstellung umgestellt werden, weil damit die Vertikalisierung und Mobilisierung besser durchgeführt werden kann. Dadurch können auch die weitere Demineralisierung des Knochens und Druckstellen vermieden werden. Bei Epiphysenfugenverletzungen divergieren die Empfehlungen zur Therapie zwischen Abwarten der klinischen Heilung [28] und 8 Wochen Ruhigstellung [6, 29]. Bei ausbleibender Konsolidierung nach 6 Monaten wird die operative Fixierung mit Kirschner-Drähten empfohlen. Das Abschwellen der betroffenen Extremität erfolgt langsam oder bleibt u. U. ganz aus, sodass die Anpassung der Orthesen an den veränderten Umfang des Beines erforderlich ist.

8.2 Orthopädie | 327

Patienten und deren Eltern müssen über einen vorzeitigen Fugenschluss mit evtl. resultierender Beinverkürzung oder Achsfehlstellung aufgeklärt werden. In der Literatur wird die Häufigkeit persistierender Fugenschädigungen mit dauerhaften Veränderungen bei Patienten mit Spina bifida mit 20–45 % angegeben [7, 11].

8.2.4.4 Prophylaxe Die Definition der Osteoporose bei Kindern orientiert sich an der der Erwachsenen (International Society for Clinical Densitometry – ISCD). Eine generelle Empfehlung zur Prophylaxe der Osteoporose bei Spina bifida gibt es noch nicht. Ein Zusammenhang zwischen gemessener verminderter Knochendichte und einem Frakturrisiko konnte nicht nachgewiesen werden. Die regelmäßige Erhebung bekannter Risikofaktoren wie Antiepileptika- oder Steroideinnahme, Dauer der Sonnenexposition, Defizite bei der Kalzium- und Vitamin-D-Aufnahme sollte ebenso erfolgen wie eine regelmäßige Kontrolle der Kalzium- und Vitamin-D-Spiegel im Blut [13, 18, 19, 22], um ggf. eine Substitutionsbehandlung zu beginnen. Auch für diese und andere medikamentöse Therapien (Bisphosphonate, Parathormon, Calcitonin) gibt es bisher keine generellen Empfehlungen [22]. In praxi besteht die Prävention in frühzeitiger Vertikalisierung in Orthesen oder Gehapparaten unabhängig vom Lähmungsniveau. Auch andere nichtmedikamentöse Behandlungen wie Sport-, Physio- und Ergotherapie oder Ganzkörpervibration [30, 31] zur Prophylaxe der Knochendichteabnahme müssen weiterhin angewendet werden, ohne dass bisher eine Evidenz dafür nachgewiesen werden konnte. Die wichtigste bisher nachgewiesene prophylaktische Maßnahme ist die Abwägung notwendiger chirurgischer Maßnahmen und anschließend erforderlicher Immobilisierung. Die postoperative Gipsruhigstellung muss so kurz wie möglich sein.

8.2.4.5 Zusammenfassung Bei Kindern mit einer Spina bifida, die wegen Schwellungen über Gelenken oder Knochen vorgestellt werden, besteht meist eine Fraktur oder Epiphysenlösung, die konservativ behandelt werden sollte. Eltern und Betreuer sollten über das Auftreten dieser pathologischen Knochenbrüche und Fugenverletzungen aufgeklärt sein. Studien zur Erkennung von Frakturen gefährdeter Kinder und zum Erstellen von Empfehlungen zur Prävention sind unbedingt notwendig.

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8.2 Orthopädie |

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Matthias Pumberger, Susanne Lebek 8.2.5 Operative Behandlung der Wirbelsäule 8.2.5.1 Fehlbildungsskoliosen Die im Kleinkindalter entstehenden Fehlbildungsskoliosen können durch konservative Maßnahmen nicht beeinflusst werden. Die Korsetttherapie dient lediglich der Verbesserung der Sitzbalance. Die Entstehung von Skoliosen ist umso wahrscheinlicher, je höher der letzte intakte Bogen und das Läsionsniveau sind [1]. Das therapeutische Vorgehen bei der MMC entspricht dem Vorgehen bei allen sekundären Skoliosen: Die Fehlbildung muss bilddiagnostisch identifiziert, ihre Progredienz abgeschätzt und ein zeitgerechtes operatives Vorgehen bei entsprechender Ausprägung festgelegt werden. Grundsätzlich sollten halbjährliche klinische und einmal jährliche Röntgenkontrollen durchgeführt werden. Erschwert wird das beschriebene Vorgehen manchmal durch zusätzliche spinale Fehlbildungen, die postoperativ zu neurologischen Verschlechterungen führen können.

8.2.5.2 Kyphosen Gerade bei hohem Läsionsniveau kommen ausgeprägte Kyphosen häufiger vor. Diese müssen, trotz hoher Komplikationsraten, z. T. frühzeitig operiert werden, wenn es zu Sitzproblemen, der Unfähigkeit auf dem Rücken zu liegen, Dyspnoe, ausgedehnten Druckstellen oder Infektionen kommt [2, 3]. Die Korrektur erreicht man durch Keilkolumnotomien und anschließender Repositionsspondylodese [4]. Weniger ausgeprägte

330 | 8 Bewegungsapparat und Mobilität

Hyperkyphosen können meist im Rahmen der Repositionsspondylodese korrigiert werden.

8.2.5.3 Wachstumsbedingte (entwicklungsbedingte) Skoliosen im Vorschulalter Die Prävalenz der Skoliose bei MMC wird zwischen 50 und 80 % angegeben [5]. Der Zeitpunkt des Auftretens und das Ausmaß der Progredienz sind läsionshöhenabhängig. Die Indikationen zur operativen Therapie sind neben dem Erhalt der Gehfähigkeit auch der Erhalt der Sitzbalance und die Vermeidung von Druckstellen [6]. Bei jungen Kindern mit ausreichender Wachstumsprognose und progredienter Spina-bifida-assoziierter Skoliose wird ein wachstumslenkendes Implantat eingesetzt. Sogenannte mitwachsende Implantatsysteme (VEPTR® – Fa. Synthes, Shilla® – Fa. Medtronic, Magec® – Fa. NuVasive) ermöglichen im nichtinstrumentierten Bereich der Wirbelsäule ein weiteres Wachstum bzw. werden magnetisch distrahiert. Die Indikation zur Versorgung der Skoliosen mit diesen Implantaten wird von den meisten Autoren bei MMC ab einem Cobb-Winkel von 50° bei progressiver, flexibler Kurve und noch ausreichendem Wachstum angegeben. Trotz unbestreitbarer Fortschritte auf dem Gebiet sind Komplikationen wie Infektionen, Implantatversagen, Verlust der Distraktionsstrecke häufig und mehrfache Revisionsoperationen oder eine Spondylodese notwendig [7–12].

8.2.5.4 Wachstumsbedingte (entwicklungsbedingte) Skoliosen im Schulalter In diesem Alter kommt es am häufigsten zur Progredienz der Skoliose und konsekutiv der Kyphose, die sich negativ auf die Gehfähigkeit auswirken [5, 13, 14]. Bei progredienten Skoliosen ab 30° Cobb-Winkel kann die Indikation zur Korrekturspondylodese gestellt werden, weil dann die Möglichkeiten der Reposition vorhanden und das Operationsrisiko gering ist (Abb. 8.29). Außerdem ist der Beckenschiefstand noch nicht ausgeprägt und es kann auf die Beckenfixierung verzichtet werden [15]. Wegen der hohen Komplikationsrate sehr ausgeprägter Deformitäten und des u. U. geringen funktionellen Gewinns ist hier die Operationsindikation besonders eng zu stellen [7, 14]. Wachstumsbedingte Spina-bifida-assoziierte Skoliosen werden in der Regel langstreckig von dorsal fusioniert [16]. Ein Pedikelschrauben-basiertes System hat sich zur Reposition im Bereich der BWS und LWS bewährt [17, 18]. Postoperativ kann dadurch die Lungenfunktion verbessert werden, der Korrekturverlust und die Anzahl der Revisionen sind gering [19–21]. Der Erhalt der lumbosakralen Beweglichkeit ist aufgrund der spinopelvinen Kompensationsfähigkeit zur Mobilisation und Lagerung von besonderer Bedeutung. Deshalb ist eine Fusion des lumbosakralen Übergangs, wenn möglich, zu vermeiden. Es gibt Untersuchungen, die bei Instrumentation bis zum Sakrum oder Becken eine bessere Korrektur und Stabilität nachwiesen [22, 23], aber auch Untersuchungen, die keine

8.2 Orthopädie | 331

Abb. 8.29: Prä- (COBB-Winkel 45°) und postoperative Röntgenaufnahmen eines 13-jährigen Mädchens mit einer MMC-Skoliose.

Vorteile fanden [24, 25]. Bei Skoliosen > 40° Cobb, gleichsinnigem Beckenschiefstand > 15°, Hüftbeugekontrakturen und mangelnder Sitzbalance wird meist bis zum Sakrum fusioniert [21, 26, 27]. Um die Vorteile der lumbosakralen Beweglichkeit zu erhalten, kann zunächst bis L5 instrumentiert werden. Das Sakrum kann dann, falls es notwendig wird, theoretisch auch erst sekundär in die Spondylodese eingeschlossen werden. Die immer entstehenden Hüftbeugekontrakturen werden durch lumbale Hyperlordose kompensiert. Abhängig vom funktionellen und operativen Ziel kann also die operative Korrektur dieser Kontraktur parallel zur Wirbelsäulenkorrektur notwendig werden, um das Sagittalprofil zu verbessern (s. Kap. 8.2.3). Über die Notwendigkeit eines operativen Untetherings vor Skolioseaufrichtung wird insbesondere bei fehlender Symptomatik kontrovers diskutiert [13]. In jedem Fall ist präoperativ eine MRT der Wirbelsäule notwendig, um Fehlbildungen oder das Ausmaß des Tethered cords darzustellen und ggf. kinderneurochirurgisch zu intervenieren. Infektionen nach Spondylodesen sind sehr häufig. Mögliche Ursachen sind asymptomatische Harnwegsinfekte mit positiver Urinkultur und ein geringer Hämatokrit [28] und VP-Shunts [29]. Eine präoperative Kontrolle und ggf. Behandlung dieser Ursachen wird empfohlen. Bisher wurde ein Nachweis funktioneller Vorteile der Skolioseaufrichtung nach EBM-Kriterien nicht erbracht [7]. Die meisten Studien berichten über Kurzzeitergeb-

332 | 8 Bewegungsapparat und Mobilität

nisse in kleinen Kohorten ohne Kontrollgruppen. Deshalb sollten künftige Studien nicht nur zur weiteren Verbesserung der Implantate, sondern auch zur Erhebung von Langzeitergebnissen nach Skolioseoperationen oder zum natürlichen Verlauf bei nichtoperierten Skoliosen genutzt werden, um noch gezieltere Empfehlungen zu notwendigen Operationen im Kindesalter geben zu können.

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8.3 Orthopädietechnik Udo Herde 8.3.1 Biomechanische Aspekte und deren orthopädietechnische Umsetzung für den Orthesenbau 8.3.1.1 Einleitung Grundlage für die Gestaltung von Orthesen ist ein über das Wachstum mindestens einmal jährlich stattfindender Muskelfunktionstest der unteren Extremität. Dieser legt das Lähmungsniveau fest und gibt somit die Konzeption der Orthesen vor. Dabei kommen ab dem 2. Lebensmonat korrigierende Orthesen bei bereits bestehenden Gelenkeinschränkungen und wachstumslenkende Orthesen zur Prävention der je nach Lähmungsniveau zu erwartenden Kontrakturen zum Einsatz. Ab dem 1. Lebensjahr erfolgt eine zusätzliche funktionale Orthesenversorgung zur Vertikalisierung und zum Laufen. Diese Orthesen haben in der Regel keine quen-

334 | 8 Bewegungsapparat und Mobilität

gelnden Eigenschaften, um einen bestmöglichen Gelenkausschlag in der Funktion zu gewährleisten. Führend dabei ist immer das Gelenk mit der größten Bewegungseinschränkung. Sowohl die Lagerungsorthesen als auch die Gehorthesen haben bei diesen Patienten die Funktion, als Gegenspieler zu den besser innervierten Muskelgruppen zu wirken, um so die Gesamtfunktionalität wiederherzustellen. Orthesensysteme, die zur Vertikalisierung und zum Laufen dienen, müssen den Körper zusätzlich auch gegen die Schwerkraft stabilisieren. Die Notwendigkeit und das sich aus dem jeweiligen Lähmungsniveau ableitende Orthesendesign, vor allem bei Kindern mit lumbalem Lähmungsniveau, leiten sich aus Tab. 8.3 ab. Besonders große Unterschiede zwischen Beuge- und Streckmuskulatur sind in der Tabelle gekennzeichnet.

8.3.1.2 Biomechanische Aspekte Bei der Konzeption von Steh- und Gehorthesen ist die Betrachtung des gesamten Bewegungsapparates unumgänglich, um eine maximale Funktionalität erreichen zu können. So stellt sich bereits bei einem Lähmungsniveau L5 ein muskuläres Ungleichgewicht der Hüftflexoren und Hüftextensoren ein, das sich bei falschem Aufbau der Orthesen in einer geringen Laufleistung widerspiegelt. Eine mangelnde Akzeptanz der Orthesen kann dagegen durch einen unzureichenden Funktionsgewinn begründet sein. Die Ursache für beide Aspekte ist häufig ein zu geringer Beugewinkel im OSG. Es ist daher notwendig, den Körperschwerpunkt „g“ hinter der queren Hüftgelenkachse, der Kniegelenkachse und vor der oberen Sprunggelenkachse zu postieren, um einen labilen Gleichgewichtszustand des Patienten zu erreichen. Liegt „g“ hinter der queren Hüftgelenkachse, erzeugt dieser ein hüftstreckendes Moment und initiiert somit ein Gangmuster mit Frontalpendel. Dies führt auch bei Kindern mit tieflumbalem und sakralem Lähmungsniveau zu einer deutlich erweiterten Laufleistung. Liegt „g“ vor der Hüftgelenkachse, so erzeugt dieser ein hüftbeugendes Moment. Ein Beugemoment kann aufgrund der zu schwachen Hüftstreckmuskulatur nicht oder nur unzureichend kompensiert werden. Dies bedeutet eine mangelnde Stabilisierung des Beckens mit hyperlordotischer Einstellung der unteren LWS. Der Patient „fällt“ nach vorn; langsames und sicheres Gehen sind erschwert; freies Stehen ist nur eingeschränkt möglich; häufig ist eine Verwendung von Gehstützen erforderlich (Abb. 8.30(a)). Für den Orthesenbau bedeutet dies in Abhängigkeit vom Alter des Patienten einen Anschlag im oberen Sprunggelenks bei 8° und 3° Dorsalextension und 10° Plantarflexion, bezogen auf die Neutralstellung im OSG (Abb. 8.30(b)). Die mechanische Drehachse des OSG verläuft dabei horizontal durch die Spitze des distal gelegenen Fibulakopfes und parallel zur Frontalebene. Je größer der dorsale Anschlagswinkel im oberen Sprunggelenk wird, umso mehr muss dies vom Patienten durch eine Hyperlordose und über eine Hüftextension

2–0 2–0 2–0

2–0 2–0 2–0

2–0 2–0 3–4

3–4 2–0 4–5 4–5 2–0 4–5

4–5 2–0 4–5

5 5 5

TH12 und höher

L1

L2

L3

L5

S1 und tiefer

L4

Kraftgrad

Niveau

Flexoren/Adduktoren Extensoren/Abduktoren Quadratus lumborum

Flexoren/Adduktoren Extensoren/Abduktoren Quadratus lumborum

Flexoren/Adduktoren Extensoren/Abduktoren Quadratus lumborum Flexoren/Adduktoren Extensoren/Abduktoren Quadratus lumborum

Flexoren/Adduktoren Extensoren/Abduktoren Quadratus lumborum

Flexoren/Adduktoren Extensoren/Abduktoren Quadratus lumborum

Flexoren/Adduktoren Extensoren/Abduktoren Quadratus lumborum

Hüfte

5 5

3–4 4–5

2–0 3–4

2–0 3–4

2–0 2–0

2–0 2–0

2–0 2–0

Kraftgrad

Beuger Strecker

Beuger Strecker

Beuger Strecker

Beuger Strecker

Beuger Strecker

Beuger Strecker

Beuger Strecker

Knie

Tab. 8.3: Einteilung des Lähmungsniveaus ermittelt über Bewegungsmuster oder Muskelfunktionstest.

3–4 3–4

3–4 2–0

2–0 2–0

2–0 2–0

2–0 2–0

2–0 2–0

2–0 2–0

Kraftgrad

Dorsal Extensoren Plantar Flexoren

Dorsal Extensoren Plantar Flexoren

Dorsal Extensoren Plantar Flexoren

Dorsal Extensoren Plantar Flexoren

Dorsal Extensoren Plantar Flexoren

Dorsal Extensoren Plantar Flexoren

Dorsal Extensoren Plantar Flexoren

Fuß

8.3 Orthopädietechnik | 335

336 | 8 Bewegungsapparat und Mobilität

Körperschwerpunkt g FL Vorfußhebel FG Gewichtskraft G (Schwerelinie) FL (a)

FG

(b) FG

Abb. 8.30: (a) Körperschwerpunkt „g“ vor der Hüftgelenkachse. (b) Körperschwerpunkt „g“ in der Hüftgelenkachse.

kompensiert werden. Eine Winkelstellung unter 8° Dorsalextension sollte darum grundsätzlich vermieden werden. Positiv dagegen wirkt sich dieser große dorsale Anschlagswinkel bei kleinen Kindern durch das damit erzeugte große Maß an Sicherheit aus. Auf diese Art erreicht der Patient bei der Erstvertikalisierung über die Kniestreckung und die therapeutisch angebahnte Hüftstreckung sein Gleichgewicht. Dieses stabile statische Muster ist die optimale Voraussetzung zu einer beginnenden Mobilität. Bei zunehmender Laufleistung wird mit wachsender Sicherheit des Kindes der dorsale Anschlagswinkel dann auf 3–5° reduziert und nach plantar um 10° freigegeben. Dies ermöglicht bei der Einleitung in die Stemmphase einen frühzeitigen, plantigraden Bodenkontakt, mit maximaler Standphasensicherheit und bestmöglicher Kontrolle der Gangrichtung. Einen Anhalt für die Gelenkeinstellungen der Gehorthesen in Abhängigkeit von Alter und Lähmungsniveau des Patienten bietet Tab. 8.4. Die Fußaußenrotation wird bei den Gehorthesen zwischen 0° und 5° eingestellt, um eine mediale Stabilisierung des Kniegelenks zu erreichen und einer Valgusfehlstellung bei zunehmender Körpergröße und steigendem Gewicht des Patienten vorzubeugen. Der Vorfußhebel FL, Steifigkeit der Orthesensohle, erstreckt sich dabei über die gesamte Fußlänge. Ist dieser zu kurz wird der Abrollvorgang des Fußes und damit die Beugung im Kniegelenk verfrüht eingeleitet. Die Sicherheit beim Stehen wird er-

8.3 Orthopädietechnik | 337

Tab. 8.4: Orthesengestaltung nach Alter und Niveau. Alter in Jahren

Niveau

Gelenk

Winkelstellung: Beugung/Streckung in Grad

Orthesengelenk

OSG

3/0/0

gesperrt

> 1,5

TH5–C6

KG HG OSG

0 0 3/0/0

gesperrt gesperrt gesperrt

>4

TH5–L2

KG HG OSG

0 0/0/10 3/0/0

gesperrt teilgesperrt teilgesperrt

1,5–4

TH5–L2

KG HG

0 0/0/10

gesperrt teilgesperrt

OSG

8/0/0

gesperrt

KG HG

0 0/0/10

gesperrt teilgesperrt

OSG

3/0/10

teilgesperrt

> 1,5

TH5–L2

2,5 >

L3–L5

KG HG OSG

0 0/0/10 5/0/10

gesperrt/frei teilgesperrt/frei teilgesperrt

1,5–2,5

L3–L5

KG HG OSG

0 0/0/10 8/0/0

gesperrt/frei teilgesperrt gesperrt

> 1,5

L3–L5

KG

0

gesperrt

HG OSG

0/0/10 3/0/10

teilgesperrt teilgesperrt

8/0/10

frei frei teilgesperrt

1,5 >

> 1,5

L5 und tiefer

L5 und tiefer

KG HG OSG KG HG

frei frei

schwert, der Patient fällt nach vorn, und die Ganggeschwindigkeit erhöht sich. Langsames, sicheres und freies Gehen ist nur schwer oder gar nicht möglich. Ist dagegen der Vorfußhebel zu lang, dann kann das Abrollen gar nicht oder nur erschwert eingeleitet werden; der Patient kann die Schrittphase nur über ein übermäßiges Frontalpendel und durch aktive Hüftbeugung einleiten. Diese aktive Muskelarbeit führt aufgrund der fehlenden Antagonisten jedoch frühzeitig zu Hüftbeugekontrakturen, weshalb das Gangmuster über das Frontalpendel mit Pendelgang bereits bei Beginn des Laufens therapeutisch trainiert werden muss.

338 | 8 Bewegungsapparat und Mobilität

Der mechanische Kniedrehpunkt befindet sich – je nach Muskelstatus der kniestreckenden Muskulatur – auf oder hinter der Schwerelinie FG. Bei einem Muskelstatus der Kniestrecker (Kraftgrad ≤ 4) wird der mechanische Drehpunkt der Orthese bereits rückverlagert. Dabei sind mechanischer und anatomischer Drehpunkt nicht mehr kongruent. Der mechanische Drehpunkt wird dabei um die gleiche Strecke nach distal verschoben, um die er vom anatomischen Drehpunkt aus nach dorsal hinter die Schwerelinie verschoben wurde. Findet keine Diagonalverschiebung des mechanischen Drehpunkts statt, dann kommt es zu einer übermäßigen Verschiebung der Orthese bei der Kniebeugung. Der anatomische Drehpunkt befindet sich dabei abhängig von der Größe des Patienten zwischen 10 und 25 mm oberhalb des Kniegelenkspalts in einem Verhältis von 60 : 40 % des anterior-posterioren Maßes. Versorgungen mit gesperrtem Kniegelenk sind nach Möglichkeit zu vermeiden, um den Patienten ein hohes Maß an Mobilität im Umgang mit ihren Orthesen zu ermöglichen (Krabbeln, Sitzen, Laufen). Sollte dennoch eine Versorgung mit gesperrten Kniegelenken erforderlich sein, dann ist der Sperrmechanismus so zu konstruieren, dass dieser vom Patienten selbst geöffnet und geschlossen werden kann. Der mechanische Hüftdrehpunkt bei beckenübergreifenden Orthesen befindet sich ca. 20 mm vor dem anatomischen Drehpunkt, um auch hier das hüftstreckende Moment zu unterstützen. Auch hier muss darauf geachtet werden, dass die Gelenke von mobilen Kindern spätestens mit beginnender Einschulung selbstständig geöffnet und wieder verriegelt werden können. Ebenso kommt bei diesen hohen Orthesenversorgungen dem Musculus quadratus lumborum besondere Bedeutung zu. Ist dieser vom Kraftgrad ≥ 4, sollte die Orthese im dorsalen Bereich bis auf Sakrumhöhe freie Beweglichkeit bieten, um den Kindern eine möglichst gute Beckenhebung in der Schrittphase und freie Rumpfrotation zu ermöglichen. Die Schrittlänge wird dabei größer und das Gangbild deutlich flüssiger und harmonischer. Bei der Materialauswahl zur Fertigung von Lagerungsorthesen ist im Besonderen auf geringes spezifisches Gewicht, Hautverträglichkeit und gute Nachformbarkeit zu achten. Hier kommen vor allem thermoplastische Kunststoffe zum Einsatz, die in verschiedenen Steifigkeiten, je nach Anforderung an die Orthese, auszuwählen sind. Bei der Fertigung von dynamischen Orthesen ist auf geringes Gewicht, hohe Torsionssteifigkeit und hohen Tragekomfort zu achten. Hier kommen für aktive Kinder – zum Erreichen einer bestmöglichen Funktionalität – Carbonorthesen in Verbindung mit dynamischen Carbonfedern im Bereich des OSG und hochwertigen Aluminiumoder Titangelenken für die Knie- und Hüftgelenke zum Einsatz.

8.3 Orthopädietechnik | 339

8.3.1.3 Zusammenfassung Unter Berücksichtigung aller biomechanischen Aspekte und Materialanforderungen müssen die Orthesen folgende Voraussetzungen erfüllen: – Die freie Stehfähigkeit muss mit allen Gehorthesen, auch mit beckenübergreifenden Orthesen, möglich sein. – Es dürfen keine Verschiebungen der Orthese bei flektierten Gelenken auftreten. – Es dürfen weder beim Krabbeln noch beim Sitzen Weichteilquetschungen auftreten. – Ein symmetrisches Frontalpendel bei der Lokomotion muss erreicht werden.

Weiterführende Literatur Hohmann D, Uhlig R. Orthopädische Technik. Stuttgart: Enke-Verlag; 1982.

Claudia Kitzeder 8.3.2 Unterschenkel- und Oberschenkelorthesen 8.3.2.1 Einleitung In Zusammenarbeit mit einem interdisziplinären Team aus Neuropädiatern und Physiotherapeuten wurde in Anlehnung an das Habilitationskonzept von A. Ferrari ein läsionsabhängiges Versorgungssystem erarbeitet. Das Augenmerk richtet sich auf dynamische und statische Orthesen, die in diesem System Anwendung finden (Abb. 8.31).

8.3.2.2 Wahl des Orthesensystems Vor Beginn der Versorgung sind die funktionellen Voraussetzungen und Ausschlusskriterien mithilfe des folgenden Fragenkataloges abzuklären: – Welche Läsionshöhe liegt vor? – Liegen pathologische Gelenkdeformitäten vor? – Welche Gelenkfunktionen sind durch die verbleibenden Muskeln noch aktiv, wie hoch ist deren Muskelkraft und welche Bewegungseinschränkungen liegen vor? – Beeinflussen weitere begleitende Schädigungen den Aktivitätsgrad? – Liegt ein Sensibilitätsverlust vor? – In welchen Bereichen und über welchen Zeitraum soll die Orthese getragen werden? Anhand der Ergebnisse erfolgt die Konzipierung der individuellen Orthesenversorgung. Dabei sind folgende Gesichtspunkte zu berücksichtigen: – Anpassbarkeit der Orthese an das Wachstum des Kindes, – einfache Handhabung in Bezug auf das An- und Ausziehen, – einfache hygienische Reinigung der Orthese,

340 | 8 Bewegungsapparat und Mobilität

Go-LiTE (Kipp-SchwungPlatte) in Kombination mit einer Stehschale (= BBF) Twister (HKAFO) Gehorthese mit reziprok

RGO (HKAFO) Gehorthese mit reziprok geführter

Salera (HKAFO) Gehorthese mit z. T. ungesteuertem, aber eingegrenzt aktivem standphasengesichertem

Knöchelgelenken US-Orthesen US-CF-Orthesen (AFO) (AFO) Gehorthese mit Gehorthese mit teilbegrenztem Carbonfeder Knöchelgelenk (5)

OS-Orthesen (KAFO) Gehorthesen mit

OS-Orthesen (KAFO) Gehorthesen mit

sengesichertem oder gesperrtem

standphasengesichertem oder gesperrtem

und teilbegrenztem und Carbonfeder

Abb. 8.31: Gelenkorthesen-Varianten: (1) Das Twister-2D-Hüftgelenk der Gottinger Handelshaus OHG ist eine Weiterentwicklung des R2GO-Gelenks von A. Ferrari/Office Orthopedichi Rizzoli S.p.A. (2) Isocentrit, RGO-1D-Hüftgelenk Wally’ Modloch von Center for Orthotics Design Inc. Californien, USA. (3) Das Salera-3D-Hüftgelenk der Gottinger Handelshaus OHG ist eine Weiterentwicklung des 3D-Gelenks von A. Ferrari/B. Bassi, Centro Orthopedico, Emiliano S.rl. (4) Offenes unilaterales Mono-Kniegelenk der Gottinger Handelshaus OHG. (5) Unilaterales Knöchelgelenk der Gottinger Handelshaus OHG. (6) Unilaterales, gesperrtes Mono-Kniegelenk der Gottinger Handelshaus OHG oder gesperrtes Kniegelenk der Fa. USMC, Kalifornien, USA.

8.3 Orthopädietechnik | 341

– – –

möglichst kindgerechtes Design, einfache Bedienbarkeit, Anpassung an die individuellen Anforderungen des Kindes.

Trotz eines möglichst geringen Gewichts muss die Orthese stabil gebaut sein, sodass die Formstabilität und Verwindungssteifigkeit während der gesamten Tragezeit sichergestellt ist. Während des Gehens treten unterschiedliche Belastungssituationen auf, deren Kräfte durch eine seitlich flexible Verformbarkeit der tragenden Komponenten aufgenommen werden müssen. Sonst kann es zu Verformungen oder sogar zum Bruch der Orthese kommen. Die unteren Extremitäten müssen rotationsstabil in orthograder Stellung gehalten werden. Neben dem Auflegen von thermoplastischen Plattenmaterialien wie Polypropylen (PP) und Polyethylen (PE) zählt das Gießen aus Acrylharz zu den meistgenutzten Fertigungsmethoden in Deutschland. In den letzten Jahren kommt es außerdem vermehrt zur Verwendung von Prepreg. Dabei handelt es sich um Carbonfasern, die bereits mit Epoxydharz vorimprägniert sind und unter Vakuum und Hitze vollständig aushärten. Der Faser- und Harzanteil des Prepregs ist genau aufeinander abgestimmt, wodurch sich in Kombination mit den besseren Eigenschaften des Epoxydharzes im Vergleich zum Acrylharz ein großer Vorteil ergibt. Orthesen mit einem Prepreg-Rahmen weisen bei einem geringeren Gewicht eine höhere Steifigkeit und Stabilität auf. Aus hygienischen Gründen sollten offenliegende Metallteile sowie Leder- oder Filzfütterungen vermieden werden. Bei der Auswahl von Gelenkpassteilen mit einer Sperre ist darauf zu achten, dass diese vom Patienten selbst einfach zu öffnen und zu schließen ist, um dessen Selbstständigkeit nicht einzuschränken.

8.3.2.3 Einlagen und dynamische Sprunggelenkorthesen Die Versorgung mit Einlagen (DFO) oder dynamischen Sprunggelenkorthesen (DAFO) erfolgt bei der Läsionshöhe S3. Ziele sind dabei die Stabilisierung des medialen Fußgewölbes, die Aufrichtung der Ferse und die Korrektur der vorhandenen Deformitäten. Hergestellt werden die Einlagen bzw. DAFO aufgrund der vorteilhaften Materialeigenschaften aus PP. Zur Erhaltung des natürlichen Fersenpolsters wird diese nicht abgeflacht gebettet. Der Vorfuß wird ausgerichtet und eine Unterstützung der Zehenbeeren eingearbeitet, um Zehenkrallen zu vermeiden. Diese Form der Fußbettung ist Grundlage für alle Orthesen, wobei die eingeschränkte Sensibilität zu beachten ist. Aufgrund atrophierter Muskulatur kommt es zu ausgeprägten Knochenvorsprüngen, die besonders sorgfältig zu betten sind, um keine Druckulzera zu provozieren. Bei einer reversiblen Knickfußstellung können sog. Talus-Reposition-Ringorthesen (Fa. Pohlig) zum Einsatz kommen. Diese arbeiten nach dem Minimalversorgungsprinzip und lassen trotz externer Stabilisation des unteren Sprunggelenks und des Chopart-Gelenks die physiologischen Eversions- und Inversionsbewegungen des Fußes zu.

342 | 8 Bewegungsapparat und Mobilität

8.3.2.4 Unterschenkelorthesen (AFO) Um ein sicheres Gehen und Stehen bei den Läsionshöhen S2 und S1 zu ermöglichen, kommen dynamische Orthesen mit bi- oder monolateral eingebauten konventionellen Knöchelgelenken zum Einsatz. Die Orthese muss dabei über die Fußbettung haltungskontrollierend wie auch über die Kondylenfassung stützend auf das Bein einwirken. Im Knöchelgelenk ist das Bewegungsausmaß in der Plantarflexion auf 7° und in der Dorsalextension auf 8° einzuschränken. Dies ist die Grundlage für den Aufbau der Orthesen in allen Versorgungshöhen. Bei einem schlaffen Fuß muss die fußhebende Funktion im Übergang von der Initial swing zur Mid swing über das mechanische Knöchelgelenk ermöglicht werden (Abb. 8.32).

Abb. 8.32: Unterschenkelorthesen (Quelle: Gottinger Bildarchiv).

Die in der konventionellen Bauweise verwendeten Gelenke haben einen ungedämpften, harten Anschlag für die Dorsalextension. Außerdem kann die fehlende Pre-swing nicht mit technischen Mitteln ersetzt werden. Aus diesem Anlass wurde 1998 die „Spring® Carbonfeder“ als eine Alternative zu den konventionellen Knöchelgelenken entwickelt. Aufgrund ihrer Bauweise ist es ihr möglich, Energie während des Initial contact bis zur Mid stance aufzunehmen und einen Teil der aufgenommen Energie in der Preswing-Phase wieder freizugegeben. Patienten mit einer guten Koordination ist es mit einer Carbonfeder-Versorgung sogar möglich zu laufen und zu springen. Die Carbonfeder wirkt aufgrund ihrer besonderen Eigenschaften sowie des eingebauten Dorsalanschlags kniegelenksichernd. Im Vergleich zu konventionellen Versorgungen ermöglichen die funktionellen und dynamischen Eigenschaften der Feder dem Patienten ein harmonisches, energiesparendes und physiologischeres Gehen [1–3]. Dies gilt auch für Spina-bifida-Patienten. Durch die Weiterentwicklung der Spring® Carbonfeder entstand die Split Spring® Carbonfeder. Von der Seite aus gesehen ist diese im Fersenbereich mittig geteilt. Im Gegensatz zur Standard Spring® ist dadurch auch eine Plantarflexion möglich und es kommt zur Reduzierung des Rückfußhebels. Beim Initial contact mit einer Split Spring® Carbonfederorthese

8.3 Orthopädietechnik | 343

kommt es aufgrund des Fußgewichts und der Bodenreaktionskräfte zu einem schnellen Aufsetzen des kompletten Fußes. Ein erhöhtes Dorsalextensionsmoment im Sprunggelenk wird wie bei einem plantar flektierten Orthesenaufbau mit einer Standard Spring® verhindert. Das Gangbild der Patienten mit einer Split Spring® Carbonfeder wird dadurch noch flüssiger, energiesparender und physiologischer. Die Split Spring® passt sich allen Untergründen an und erleichtert das Gehen auf schiefen Ebenen. Erfahrungen bei der Versorgung von Patienten mit einer starken Torsion im Unterschenkel (> 20°) beim Stehen und Gehen haben gezeigt, dass eine Verwendung der Split Spring® Carbonfeder in diesen Fällen nicht zu empfehlen ist. Die stark auf die Carbonfeder wirkenden Rotationskräfte können in diesem Fall zu einer Delamination oder zum Bruch der Feder führen. Aufbauend auf diese Erfahrung wurden die Split Spring® active und Spring® active Carbonfedern konzipiert. Diese sind breiter gestaltet und können dadurch auftretende Rotationskräfte besser auffangen. Eine Machbarkeitsstudie über die Herstellung einer Spring® Carbonfederorthese im additiven Fertigungsverfahren ermöglichte die Erstellung einer Unterschenkelorthese am Rechner und deren Produktion im Laser-Sinterverfahren (3D-Druckverfahren) [4]. Die Herstellung von Orthesen im additiven Fertigungsverfahren bringt einige Vorteile mit sich. Einzelne Hülsen mit integrierten Laschen lassen sich in einem Arbeitsgang erstellen. Durch exakte Berechnungen der auftretenden Kräfte am PC ist eine Bestimmung der entsprechenden Materialdicke und notwendigen Steifigkeit möglich. Verschiedenste Varianten und Muster einer Perforierung zur Luftzirkulation können eingearbeitet werden. Zur Vermeidung von Druckstellen können Öffnungen an verschiedenen Stellen größer oder kleiner gestaltet werden. Orthesen, die im additiven Fertigungsverfahren hergestellt werden, sind deutlich leichter als Standardorthesen.

Abb. 8.33: Spring® Carbonfederorthese im additiven Fertigungsverfahren hergestellt (Quelle: Gottinger Bildarchiv).

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Allerdings ist dieses Verfahren noch sehr komplex und derzeit nicht für die Serienfertigung geeignet. Ziel ist es, eine Art Baukastensystem zu entwickeln, bei dem einzelne Bestandteile der Orthesen flexibel nach Bedarf erneuert und ausgetauscht werden können. Dadurch soll flexibel auf das Wachstum und die zunehmende Aktivität der Kinder reagiert werden können, ohne dass eine komplett neue Orthese gefertigt werden muss (Abb. 8.33). Das Tragen von Unterschenkelorthesen erfordert einen Pendelgang (s. Kap. 8.1).

8.3.2.5 Oberschenkelgelenkorthesen (KAFO) Bei einer Erstversorgung und bei Gehanfängern wird bei der Läsionshöhe S1 mit oberschenkelhohen Orthesen versorgt. Unter Berücksichtigung von Gangbildbeobachtungen (Filmaufnahmen) im Frontalpendel und nach Feststellung einer ausreichenden Kniefestigkeit anhand eines Bandstabilitätstests ist bei Kindern im Alter von ca. 4 Jahren ein Abbau auf Unterschenkelorthesen mit Kondylenanstützung möglich. Aufgrund der betroffenen Muskelgruppen ist bei einer Läsion auf Höhe L5/L4 eine Versorgung mit oberschenkelhohen Orthesen notwendig. Ein freies Gehen und Stehen kann nur selten erreicht werden.

8.3.2.6 Orthetische Versorgung Der Grundaufbau erfolgt nach den bereits im Abschnitt 8.3.24 – Unterschenkelorthesen – beschriebenen Vorgaben [5]. Deformitäts- und aktivitätsabhängig kann im Knöchelgelenk ein Bewegungsfreiraum von 0–15° Plantar- und Dorsalflexion freigegeben werden. Die Passteilauswahl ist abhängig von dem Aktivitätsgrad, den vorhandenen Kontrakturen und der Muskelrestfunktion. Als Knöchelgelenk kann ein konventionelles Gelenk oder eine Carbonfeder eingesetzt werden. Das Knöchelgelenk muss im Übergang von der Initial swing zur Mid swing eine fußhebende Funktion besitzen, wenn ein Bewegungsausschlag freigegeben wurde. Ist in den Knieextensoren eine ausreichende Restkraft vorhanden und liegen keine Beugekontrakturen über 15° vor, kann ein freibewegliches Kniegelenk verwendet werden. Durch eine Rückverlagerung des Drehpunkts kann die fehlende Kraft der kniestreckenden Muskulatur kompensiert und die Restkraft des M. quadriceps besser genutzt werden. Zur Unterstützung von geschwächten Knieextensoren ist der Anbau einer Gasdruckfeder an das Kniegelenk möglich, etwa durch den Anbau einer MonoSupport-Einheit. Dabei handelt es sich um einen Bausatz zur Ergänzung des MonoKniegelenks mit einer Gasdruckfeder. Die Stärke der dabei eingesetzten Feder ist abhängig von Körpergewicht, Aktivität und vorhandenen Kontrakturen.

8.3 Orthopädietechnik | 345

Sperrbare Kniegelenke werden eingesetzt, wenn im Kniegelenk Kontrakturen über 15° vorliegen oder wenn es sich um eine postoperative Versorgung handelt. Folgende drei Systeme stehen zur Auswahl: Kniegelenke mit Fallschloss, Gelenke mit Seilzugsperren und standphasengesicherte Kniegelenke. Kniegelenke mit Fallschloss sind einfache Einachskniegelenke. Sobald das Kniegelenk gestreckt wird fällt das Fallschloss von selbst über das Gelenk, so sperrt es sicher beim Gehen und Stehen. Bei vorhandenen Kontrakturen kann die gewünschte Stellung fixiert werden. Durch das aktive Nach-oben-Ziehen des Fallschlosses wird eine passive Flexions- und Extensionsbewegung ermöglicht, was z. B. zum Hinsetzen notwendig ist. Ein weiteres sperrbares Einachskniegelenk ist das rückverlagerte, sperrbare Mono Lock. Als Grundlage zur Konstruktion diente das Mono-Kniegelenk. Bei Extension des Kniegelenks drückt eine Feder den Sperrbolzen in die Nut des Wechselkeils im Gelenkunterteil, wodurch sich das Gelenk sperrt. Über das Ziehen am Seilzug wird das Gelenk entsperrt und eine Flexion (Hinsetzen) ist möglich. Durch die Rückverlagerung des Drehpunkts besitzt es im entsperrten Zustand alle Eigenschaften eines freien, rückverlagerten Kniegelenks. Eine temporäre Freigabe des Gelenks zu Therapiezwecken sowie zum Radfahren oder Krabbeln ist möglich. Die eingesetzten Wechselkeile stellen einen weiteren Vorteil des Mono-LockKniegelenks dar. Diese sind in unterschiedlichen Varianten erhältlich und können angepasst an die vorliegende Flexionskontraktur eingesetzt und bei einer Verbesserung entsprechend ausgetauscht werden. Für präoperative Versorgungen und den Einsatz bei nichtfixierten Kontrakturen von 5–20° ist das Mono Lock besonders geeignet. Standphasengesicherte Kniegelenke gibt es in verschiedenen Ausführungen auf dem Markt, das Grundprinzip ist bei allen Varianten gleich. Durch eine mechanisch oder elektronisch gesteuerte Mechanik entriegelt sich das Gelenk nach der Mid stance und ist dann frei beweglich. Während der Schwungphase ist eine Knieflexion möglich. Beim Fersenauftritt sperrt es sich und ist während der Standphase ein steifes, gesperrtes Kniegelenk. Meist sind sie mit einem Schalter ausgestattet, durch den es möglich ist, das Gelenk auch komplett zu sperren oder zu entsperren. Aufgrund des aufwendigen Mechanismus sind die standphasengesicherten Kniegelenke meist sehr groß und nur bedingt für die Kinderversorgung geeignet. Die Beurteilung des Gangbildes mit Oberschenkelorthesen sollte in der sagittalen und frontalen Ebene erfolgen. Auch beim Tragen von Oberschenkelorthesen erfolgt die Schritteinleitung über einen Pendelgang. Zu Beginn der Versorgung mit oberschenkelhohen Orthesen sind meist zusätzliche Gehhilfen wie Rollator oder Gehstützen notwendig.

346 | 8 Bewegungsapparat und Mobilität

8.3.2.7 Aufbau von Oberschenkelorthesen Der korrekte Orthesenaufbau erfolgt über die Ermittlung der individuellen Belastungslinie und der exakten Platzierung der Kniegelenke auf den ermittelten Kniekompromissdrehpunkten. Grundlage für die Festlegung des mechanischen Drehpunkts ist der Kompromissdrehpunkt nach Nietert. Bei Verwendung eines rückverlagerten Kniegelenks muss dies bereits beim Einbau beachtet werden, weil in der Sagittalansicht die Bodenreaktionskraft im Ruhezustand vor den rückverlagerten Kniedrehpunkt fallen muss. In der Frontalansicht sind die Kniegelenke so auszurichten, dass sie parallel zur Bodenreaktionskraft und senkrecht zum Boden stehen. Bei vorliegenden Kontrakturen im Kniegelenk ist der Anschlag entsprechend anzupassen. Die zirkulär umfassende Oberschenkelhülse ist bei Verwendung eines rückverlagerten Kniegelenks so zu gestalten, dass sie dorsal zu öffnen ist. Dadurch wird eine Abschnürung des noch funktionierenden M. quadriceps femoris vermieden. Zur Anprobe wird die Orthese in der Neutralstellung aufgebaut. Der Sohlenausgleich auf der Oberschenkelorthese wird so geschliffen, dass der Verlauf der Tibia von sagittal aus gesehen im Schuh zum Boden in 90° und von frontal aus gesehen in 0° steht. Bei der anschließenden dynamischen Anprobe müssen die Orthesensohlen und die zugehörigen Orthesenschuhe entsprechend der im Gangbild vorhandenen Innenoder Außenrotation und Vor- oder Rücklage zur Lenkung der Bodenreaktionskräfte angepasst werden. Ziel der Zurichtung ist ein gleichmäßiges, energiesparendes Gangbild.

8.3.2.8 Statische Oberschenkelorthesen Um Kontrakturen vorzubeugen oder Operationsergebnisse zu halten werden Nachtlagerungsschienen eingesetzt. Nachtlagerungsschienen bestehen vorwiegend aus einer PE-Schale, die innen mit einer Polsterung ausgestattet werden. In besonderen Fällen kann auch eine Produktion aus Acrylharz erfolgen. Zur Korrektur von Kontrakuren werden Quengelgelenke verwendet. Mit statischen Quengelgelenken erfolgt die Behandlung von Gelenkkontrakturen durch die statische Anwendung einer hohen Kraft über einen kurzen Zeitraum. Hierbei kommen häufig Orthesen mit Schneckentriebgelenken zum Einsatz. Erfolgt die Quengelung zu schnell, besteht die Gefahr, dass es bei der Anwendung zu einer massiven Erhöhung der Druckbelastung der Haut und zu einer intraartikulären Knorpelschädigung kommen kann. Mit dynamischen Quengelgelenken (z. B. UltraFlex® -, Multimotion-Gelenke, Fa. Basko) erfolgt die Streckung/Aufdehnung nach dem LLPS-Prinzip (Behandlung von Gelenkkontrakturen über einen langen Zeitraum mit wenig Krafteinsatz) und dem T.E.R.T (Total End Range Time), dies bedeutet Intensität (maximal vom Patienten ge-

8.3 Orthopädietechnik | 347

duldete Tragezeit im Endbereich des Bewegungsumfangs) × Dauer (die optimale Gesamtdauer) × Frequenz (tägliche Durchführung). Eine Feder übt bei langer Anwendungsdauer leichten Druck bzw. Zug unterhalb des Kontrakturreflexes auf das Gelenk aus, was die Geweberekonstruktion gewährleistet und die Streckung der Sehnen und Bänder fördert. Die Einstellung der Federspannung erfolgt in mehreren Phasen und sollte ausschließlich durch Fachpersonal durchgeführt werden (Fa. Basko). Eine weitere Möglichkeit eine Quengelung zu erreichen ist der Anbau von Gasdruckfedern. Diese sind in unterschiedlichen Stärken erhältlich und können nach Bedarf ausgetauscht werden.

8.3.3 Beckenübergreifende Orthesen Beckenübergreifende Orthesen führen und stabilisieren die Fuß-, Knie- und Hüftgelenke. Die Übertragung und Kontrolle der Bewegung erfolgt dabei über die Orthese und deren Gelenkkette. Im beckenhohen Bereich werden zur Herstellung dynamischer Orthesen drei Hauptgelenke verwendet: RGO (1D-Hüftgelenk), Twister (2DHüftgelenk) und Salera (3D-Hüftgelenk). Aus der Läsionshöhe ergibt sich der Einsatz der Gelenke. Diese werden im Folgenden näher erläutert.

8.3.3.1 Salera-Gelenkorthese 8.3.3.1.1 Läsionshöhe L5/L4 – Versorgungsumstellung Zu Versorgungsbeginn wird bei der Läsionshöhe L5/L4 beckenübergreifend mit einem Salera-3D-Hüftgelenk gearbeitet. Kommt es im Laufe der Zeit zu einer Steigerung der Teilaktivität des M. gluteus medius und minimus besteht die Möglichkeit einer Versorgungsumstellung auf Oberschenkelorthesen mit T-Stücken nach A. Ferrari. Oberschenkelorthesen mit T-Stücken enthalten einfache Hüftgelenke ohne Flexions- und Extensionsbegrenzung, eine Kreuzbeinpelotte und kreuzende Gluteenzüge zur Unterstützung der außenrotierenden Hüftmuskulatur. Auf hüftstützende Oberschenkelorthesen kann in dieser Läsionshöhe nur selten verzichtet werden.

8.3.3.1.2 Läsionshöhe L3/L2 Bei einem Läsionsniveau L3/L2 ist ein freies Stehen und Gehen ohne orthetische Hilfsmittel nicht mehr möglich. Eine zusätzliche Abstützung durch die obere Extremität ist zur Hüftextension notwendig. Bei ausreichender Kraft in den Knieextensoren und Kontrakturen unter 15° kann ein freibewegliches Kniegelenk verwendet werden. Der mechanische Drehpunkt des Kniegelenks ist zur Unterstützung der Restfunktion des M. quadriceps und zum Ausgleich der fehlenden Kraft der Knieextensoren rückverlagert. Gesperrte Gelenke

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werden verwendet, sobald eine Flexionskontraktur über 15° vorhanden ist sowie zur postoperativen Versorgung. Bei Kontrakturen im Kniegelenk unter 20° kann auf die Oberschenkelhülsen verzichtet werden. Als mechanisches Hüftgelenk kommt das Salera-3D-Hüftgelenk zum Einsatz. Es lässt den Zirkelgang eingegrenzt aktiv zu, und die fehlende hüftstreckende Muskulatur wird über einen Beugeanschlag bei einem Schrittwinkel von 30° kompensiert. Zur Schritteinleitung kommt es über die Schwerpunktverlagerung auf das Standbein bei gleichzeitiger Hüftextension, weil die Seitneigung des Rumpfes auf die Standbeinseite es dem noch funktionierenden M. quadratus lumborum ermöglicht, durch die Adduktionssperre und mit Unterstützung der Beckenkammprofilierung das Spielbein anzuheben und dieses nach vorn zu setzen. Zum Hinsetzen ist ein Lösen der Sperre im Hüftgelenk notwendig. Dies erfolgt beim Salera über das Hochziehen des Sperrhebels. Wird dieser bei Streckung losgelassen, fällt die Sperre automatisch nach unten und sperrt das Gelenk. Das Salera preselect dagegen ist mit einer Sperre mit Preselect-Funktion ausgestattet. Bei dieser muss zum Hinsetzen der Entriegelungsknopf gedrückt werden und erst nach einer vollständigen Extension in der Hüfte, entsperrt sich das Gelenk. Zum Sperren des Gelenks muss der Verriegelungsknopf aktiv gedrückt werden, im Anschluss sperrt das Gelenk bei Streckung.

8.3.3.2 Twister- und RGO-Gelenkorthesen Bei Läsionshöhe L1 sowie bei Th12–Th5 ist nur mit orthetischen Hilfsmitteln ein Stehen und Gehen zu erreichen. Zusätzlich ist für die Hüftextension und Seitneigung eine Abstützung über die obere Extremität notwendig. Aufgrund der fehlenden Kraft in der Rumpfmuskulatur ist ein aufrechtes Sitzen nur mit Zuhilfenahme der Arme möglich. Die orthetische Versorgung erfolgt mit einem reziprok gesteuerten Hüftgelenk, dieses ersetzt die fehlende Kraft der Hüftextensoren und -flexoren. Über eine Beckenwippe, die beweglich am dorsalen Beckenbügel gelagert ist, kommt es bei Twister und RGO zur reziproken Übertragung der Bewegung. Die Enden der Beckenwippe sind über Gelenkköpfe mit Kugelgelenk an die Orthesenhüftgelenke gekoppelt und geben so die Bewegung weiter. Die Drehachse der Wippe liegt parallel zur Sagittalebene. Aufgrund der fehlenden Kraft der Kniemuskulatur kommt nur ein gesperrtes Kniegelenk infrage. Die Oberschenkelhülsen können weggelassen werden, wenn im Kniegelenk keine Kontraktur über 20° vorliegt. Deformitäts- und perzeptionsabhängig kann im Knöchelgelenk eine Bewegung von 0–10° freigegeben werden. Ein freies Sitzen, ohne Abstützung mit den Armen, ist nur über eine Sitzkante am Rumpfteil möglich. Zusätzlich kann eine Flexionsbegrenzung zum Sitzen bei thorakalen Läsionen und ein Korsettteil zur Aufrichtung der Skoliose oder zur Stützung des Gibbus notwendig sein.

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8.3.3.2.1 Twister-2D-Hüftgelenk mit reziprok geführtem Zirkelgang Das Twister-2D-Hüftgelenk hat eine horizontal stehende Sitzachse, diese schwenkt im gesperrten Zustand mit der um 30° geneigten Gehachse mit. Zum Hinsetzen wird die Sperre gelöst, die Sitzachse ist ausgekoppelt und eine Flexion der Hüfte ist so möglich. Aufgrund der schräggestellten Gelenkachse erlaubt das Beckenteil den Beinschienen eine Beinrotation von insgesamt 25°. Die reziproke Führung der Flexion zur Rotation erfolgt dabei in einem Verhältnis von 1,8 : 1. Die möglichen 12,5° Innen- und 12,5° Außenrotation beziehen sich auf die maximale Bewegung des Rumpfes zur unteren Extremität. Dabei bleiben die Füße in der zuvor gewählten Laufrichtung ausgerichtet. Dem Patienten wird so, unter maximaler Ausnutzung der Beweglichkeit im Rumpf (Schrittlänge bis zu 30°), ein energiesparendes Gehen bzw. schnelles Vorankommen ermöglicht, weil er weder sein Körpergewicht gegen die Schwerkraft anheben noch die Schuhsohle gegen den Boden rotieren muss. Voraussetzung zur Nutzung des Twister-Hüftgelenks ist ein gutes Raum- und Gleichgewichtsgefühl des Patienten. Weiter muss eine gute Rumpfbeweglichkeit in der Frontal- und Sagitalebene sowie Geherfahrung mit RGO-Orthesen, Swivelwalker oder Parawalker vorhanden sein. Kontraindikationen zur Versorgung sind motorische Perzeptionsstörungen oder Aufmerksamkeitsstörungen. Zu starke Beeinträchtigungen des Ganges, durch Skelett- oder Gelenkdeformitäten wie starke Skoliosen, Beugekontrakturen der Hüfte und Torsionsdeformitäten der Beine können zur Undurchführbarkeit einer Versorgung mit Twister-Hüftgelenken führen. 2D- sowie 3D-Hüftgelenke ermöglichen einen Zirkelgang. Aufgrund der Beckenrotation kommt es zur Reduzierung der Rotation zwischen Boden und Orthesenschuhsohle. Zusammen mit der Nutzung der vorhandenen Muskelkraft zur Einleitung eines Schrittes, kommt es zur Minderung des Energieaufwands beim Gehen. Dies fördert die Akzeptanz zum Tragen der Orthesen. Zur Verlagerung des Körperschwerpunkts sind zusätzliche Gehhilfen wie Rollator oder Gehstützen notwendig.

8.3.3.2.2 RGO-1D-Hüftgelenk mit reziprok geführtem Einachsgang Im Gegensatz zum Twister besitzt das RGO-Gelenk nur eine Achse. Es ermöglicht eine reziprok geführte isozentrische Bewegung (Flexion/Extension) der Beine. Während des kompletten Gangzyklus bleibt das Gelenk parallel zur Laufrichtung und den Beinen ausgerichtet. Zum Hinsetzen kann das RGO-Gelenk ausgekoppelt werden (Abb. 8.34). Zu den Indikationen für den Einsatz eines RGO-Gelenks zählen ein schlechtes Raum- und Gleichgewichtsgefühl sowie Aufmerksamkeitsstörungen, motorische Perzeptionsstörungen oder fehlende Geherfahrung.

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Abb. 8.34: RGO-1D-Hüftgelenk (Quelle: Gottinger Bildarchiv).

8.3.3.3 Richtlinien zur Einstellung von beckenhohen Orthesen Ausgangspunkt eines sicheren und effektiven Schrittes ist ein korrekter Aufbau mit Ermittlung der Belastungslinie und die Übertragung der Messdaten auf die Bauelemente der Orthese. Die Position der Achsen zum Körperschwerpunkt beeinflusst die Funktion der Gehorthese. In der Standphase muss sich die sagittale Körperschwerelinie vor dem Hüftdrehpunkt und in frontaler Sicht horizontal zum Boden zwischen den Hüftgelenken befinden, wodurch ein sicheres Stehen und eventuelles Öffnen der Sitzachse ermöglicht wird. Voraussetzung für ein freihändiges Stehen mit beckenhohen Orthesen ist ein symmetrischer Aufbau. Oberschenkelverkürzungen, die durch eine luxierte Hüfte entstanden sind, müssen ausgeglichen werden. Das Bewegungsausmaß im Sinne der Beugung und Streckung richtet sich nach dem Aktivitätsgrad des Patienten (Schrittlänge) oder muss vorhandenen anatomischen Gelenkeinschränkungen angepasst werden. Bei der Bewegung des Hüftgelenks in der Frontalansicht sollte der Adduktionsanschlag einen Fußabstand von etwa einem Fünftel der Körpergröße nicht unterschreiten (gemessen von Fersenmitte zu Fersenmitte). Die Bewegung nach außen sollte bei L2/L1-Läsionen 15° Abduktion nicht übersteigen. Der Streckanschlag des Kniegelenks unter Einhaltung des dynamischen und statischen Aufbaus der Gelenkkette dient zur Sicherung der Standphase. Unter Berücksichtigung anatomischer Gegebenheiten kann das Sprunggelenk ein Bewegungsausmaß von 5° Dorsalflexion erhalten. Unter anderem ist zu beachten, dass bewegliche Gelenke auch bei evtl. Stürzen nicht zu Quetschungen der Weichteile führen dürfen. Das Beckenteil muss biege- und verwindungssteif gearbeitet sein. Die Orthesensohlen und die zugehörigen Orthesenschuhe müssen bei einer dynamischen Anprobe angepasst werden, um ein gleichmäßiges, energiesparendes Gangbild zu erreichen [5, 6].

8.3 Orthopädietechnik | 351

8.3.3.4 Versorgung mit beckenhohen statischen Orthesen Zur Vorbeugung und Korrektur von Außenrotationsfehlstellungen („Froschhaltung“) oder Beugekontrakturen in der Hüfte werden beckenübergreifende Nachtlagerungsschalen (Becken-Bein-Fuß[BBF]-Schale) verwendet. Gefertigt werden diese aus PE oder Acrylharz mit einer Polsterung. Als Alternative für einen Stehständer erhalten Kleinkinder mit einem hohen Lähmungsniveau zur ersten Vertikalisierung eine BBF mit angebrachter Fußplatte. Zur weiteren Steigerung der Mobilität wird die BBF im nächsten Schritt auf ein Rollbrett gesetzt. Für die Kinder stellt dies die erste Möglichkeit dar, sich im senkrechten Zustand, in einem sehr begrenzten Raum mit Hilfe fortzubewegen. Bei ausreichender Koordination und gesteigerter Aktivität erfolgt die Versorgung mit einem Go-LiTE, um die Mobilität der Kinder weiter zu fördern und den Fortbewegungsradius zu vergrößern. Die Kinder können sich damit im begrenzten Raum selbstständig fortbewegen. Der Go-LiTE ist eine Weiterentwicklung der vorhandenen Swivelwalker-Systeme. Aufgrund der kompletten Fertigung aus Carbonfasern konnte das Gewicht im Vergleich zu ähnlichen Produkten deutlich reduziert werden. Zur Erhöhung der Stabilitätssicherheit wurde der Schwerpunkt möglichst tief gesetzt.

8.3.3.5 Gang mit dem Go-LiTE Die Fortbewegung mit dem Go-LiTE erfolgt über die Körperschwerpunktverlagerung durch Seitwärtsbewegungen im Schulter- und Kopfbereich. Aufgrund der Schwerpunktverlagerung kommt es zur seitlichen Kippung des Go-LiTEs. Die nun nicht mehr belastete Laufplatte (auf der sog. Spielbeinseite) bewegt sich durch die schräggelagerte Achse nach vorn. Zur Reduzierung der Schrittlänge ist im Lager ein Anschlag integriert. Im weiteren Verlauf wird der Körperschwerpunkt durch die oben beschriebene Bewegung auf die Spielbeinseite geführt. Das Spielbein wird zum Standbein und der nächste Schrittzyklus wird eingeleitet. Bleibt das Gewicht im Schrittzyklus auf dem Standbein, dreht sich aufgrund der Wirkungsweise der C-Feder das Spielbein und die gesamte Go-LiTE-Konstruktion gegen das Standbein nach innen. Der Go-LiTE macht eine Kurve. Sobald das Spielbein zum Standbein wird und das vorherige Standbein wieder zum Spielbein, dreht das neue Spielbein in die neue Laufrichtung. Durch mehrmaliges Wiederholen kann so eine Kurve oder eine Drehung ausgeführt werden. Da zur Fortbewegung nur kleine Bewegungen nötig sind und diese aus dem Schulter- und Kopfbereich ausgeführt werden, benötigen die Kinder keine zusätzlichen Gehhilfen. Dies hat den Vorteil, dass sie sich nicht festhalten müssen und beispielsweise die Hände zum Spielen frei haben (Abb. 8.35).

352 | 8 Bewegungsapparat und Mobilität

Abb. 8.35: Go-LiTE (Quelle: Gottinger Bildarchiv).

8.3.3.6 Fazit Aufgrund des beschriebenen läsionsabhängigen und individuell an die Bedürfnisse der Kinder angepassten Versorgungssystems kann eine frühe Mobilität erreicht werden. In Zusammenarbeit mit Ärzten und Physiotherapeuten werden künftige Probleme frühzeitig erkannt und diesen entgegengewirkt, sodass die Anzahl von Operationen an sekundären Deformitäten reduziert wird. Ein kindgerechtes Design der Orthesen fördert die Akzeptanz und die Motivation der Kinder die Orthesen regelmäßig zu tragen.

Literatur [1] Bartonek A, Eriksson M, Gutierrez-Farewik EM. Effects of carbon fibre spring ortheses on gait in ambulatory children with motor disorders and plantarflexor weakness. Dev Med Child Neurol. 2007; 49: 615–620. [2] Knie I. Funktionelle Auswirkungen des Einsatzes von Carbonfedern bei Unterschenkelorthesen. URL: http://digdok.bib.thm.de/volltexte/2005/3348 (abgerufen am 16.01.2011). [3] Alimusaj M, Knie I, Wolf S, Fuchs A, Braatz F, Döderlein L. Funktionelle Auswirkungen des Einsatzes von Karbonfedern bei Unterschenkelorthesen. Orthopäde. 2007; 36: 752–756. [4] Pröbsting J, Günther N. Generative Fertigungsverfahren in der Orthopädie-Technik. Orthopädie Technik. 2014; 65: 1–4. [5] Cochran G Van B. Orthopädische Biomechanik. Bücherei des Orthopäden. Stuttgart: Ferdinand Enke Verlag; 1988: 10–194. [6] Farmer SE, Woollam PJ, Patrick JH, Roberts AP, Bromwich W. Dynamic orthoses in the management of joint contracture. J Bone Joint Surg Br. 2005; 87: 291–295.

8.3 Orthopädietechnik | 353

Udo Herde 8.3.4 Orthopädietechnische Versorgung von Skoliosen bei Kindern mit Spina bifida 8.3.4.1 Einleitung Neben den asymmetrischen Hüftgelenkseinstellungen, der häufig auftretenden Anteversion des Beckens, den knöchernen Fehlbildungen, die sowohl die Wirbelkörper als auch die Rippen betreffen, und der muskulären Imbalance haben auch Faktoren wie Gehfähigkeit und Läsionshöhe entscheidenden Einfluss auf das Ausmaß und das Auftreten der Skoliose. In Abhängigkeit vom Lähmungsniveau können diese Skoliosen bereits bei Kleinkindern auftreten und unterscheiden sich dadurch grundlegend in der Form und der konservativen Behandlung sowohl von den idiopathischen Skoliosen als auch von den Skoliosen bei Patienten mit anderen neuromuskulären Erkrankungen.

8.3.4.2 Voraussetzung für eine Korsettbehandlung Eine korrigierende Korsettbehandlung kann selten angestrebt werden, weil meist eine Chiari-II-Malformation und/oder ein Tethered cord einer korrigierenden und aufrichtenden Versorgung entgegensteht. Ziel ist deshalb meist eine stabilisierende Versorgung, um eine Progredienz des Skoliosewinkels zu bremsen und Zeit bis zu einer Spondylodese bis nahe an den Abschluss des Wachstums erreichen zu können.

8.3.4.3 Funktionalität und Korsett Aufgrund der Vielschichtigkeit der Probleme dieser Kinder ist das Management der Wirbelsäule immer im Gesamtkontext des jeweiligen Patienten zu sehen. So sollte – ein selbstständiges Katheterisieren, sofern bereits möglich, auch weiterhin möglich sein. – das Wechseln von Windeln mit geringem Mehraufwand auch im Korsett möglich sein. – der axilläre Gegenhalt zur Stabilisierung der Skoliose das Rollstuhlfahren nicht beeinträchtigen. – das Sagittalpendeln beim Rollstuhlfahren weiterhin uneingeschränkt möglich sein. Unterstützende Aufrichthilfen mit Federgelenk („Sitzkorsett mit Gelenk“) können hier die Funktionalität erhöhen. – die Gehfähigkeit durch das Korsett nicht beeinträchtigt werden. Hier muss die supratrochantäre Beckenfassung so gestaltet sein, dass das Frontalpendeln beim Laufen weiterhin uneingeschränkt möglich ist. Abhängig vom Lähmungsniveau, L4 und tiefer, kann es zum Erhalt des Frontalpendelns ebenso erforderlich sein, dass das proximale Femur im Korsett komplett freigelegt werden muss.

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das Korsett in beckenübergreifenden Orthesen getragen werden können, um den Mehraufwand beim Anlegen der Orthesen nicht zu erhöhen. auch mit Korsett eine Steh- oder Gehleistung von mindestens 2 h/Tag erreicht werden. durch das Korsett eine freie ausbalancierte Sitzfähigkeit erreicht werden. eine permanente Tragedauer während der Wachzeit der Kinder erreicht werden.

8.3.4.4 Korrekturmöglichkeiten bei Lagerungsorthesen und bei der Korsettbehandlung Je nach Ausmaß und Anzahl der Segmente, über die sich die Bogenspalten ausbreiten, kommt es in diesem Bereich oftmals auch frühzeitig zur Bildung von Knochenbrücken zwischen den Wirbelkörpern. Sind diese Kompartimente fixiert, darf die Korrektur und Stützung der mobilen Segmente den Patienten nicht aus dem Sitzlot bringen. Zu viel Aufrichtung initiiert aufgrund der Versteifung eine Verkippung des Beckens in der frontalen Ebene und ist somit zu vermeiden. Solange die Wirbelsäule im Zelengebiet bei hochlumbalem und thorakalem Lähmungsniveau noch nicht fixiert ist, muss auch schon bei der Erstversorgung mit einer rumpfhohen Nachtlagerungsorthese auf eine adäquate und korrigierende Führung der Wirbelsäule geachtet werden. Wichtig ist hierbei die paravertebrale Abstützung im Zelengebiet mit einer bestmöglichen Annäherung des Sagittalprofils an die physiologische Wirbelsäulenstellung im Stand. Die Korrekturmöglichkeiten sollten bei diesen Versorgungen spätestens alle 3 Monate überprüft und ggf. angepasst werden. Auch beim Sitzen sollte eine kyphotische Positionierung der LWS im Korsett vermieden werden, um eine ausreichend stabile Positionierung des Kopfes ohne übermäßige muskuläre Haltearbeit zu erreichen. Bei unzureichender Führung in der sagittalen Ebene klagen die Patienten im jungen Erwachsenenalter, häufig auch bedingt durch die Fehlstatik und die damit verbundene übermäßige Beanspruchung der Haltemuskulatur, über Verspannungen im Bereich der HWS mit einhergehenden Kopfschmerzen. Ferner kann die kyphotische Einstellung der LWS zu einer Retroversion des Beckens mit Verkürzung der ischiokruralen Muskulatur führen. Dies wiederum bewirkt beim Rollstuhlfahren einen erhöhten Anpressdruck der BWS an die Rückenlehne mit einer daraus resultierenden eingeschränkten Antriebsmöglichkeit. Diese Kinder liegen entspannt im Rollstuhl, anstatt aktiv zu sitzen. Auch eine Anteversion des Beckens im Korsett sollte verhindert werden, um einer vorzeitigen Verkürzung der ventralen Spinamuskulatur entgegenzuwirken. Aus diesem Grund sollte auch die Sitzneigung bei korsettversorgten Kindern im Rollstuhl um nicht mehr als 2 cm nach hinten abfallen. Bei einseitiger Hüftluxation mit Beckentilt kommt es nachfolgend zu Verkürzungen im Bereich des Bandapparates, der Gelenkkapseln und der beckenübergreifenden

8.3 Orthopädietechnik | 355

Muskelgruppen, sodass ein lotrechtes Sitzen mit gleichmäßiger Belastung beider Tuber ossis ischii nicht mehr möglich ist. Eine Aufrichtung des Beckens in der frontalen Ebene über die Sitzfläche ist dann nicht mehr möglich, und das lotrechte Sitzen muss über eine Sitzkante am Korsett gewährleistet werden. In diesen Fällen formt sich die Wirbelsäule meistens konvex auf die abgesenkte Beckenseite aus. Hautirritationen und Verformungen der Rippenbögen schränken dabei eine Distraktionsbehandlung im Korsett oftmals ein. Auch hier stehen das lotrechte Sitzen, das Halten der Krümmung, das Verhindern eines Rippenimpingements auf der Konkavseite sowie das Vermeiden von Ulzerationen im Sitzbereich im Vordergrund. Die Korrektur dieser Fehlstellungen sollte soweit möglich über einen Lateralshift der Wirbelsäule Richtung Konkavseite und ein Bending bis in die Lotlinie erfolgen. Eine ausschließlich großflächige Unterstützung der Konkavseite mit dem Ziel, eine weitere Progredienz der Fehlstellung zu verhindern, erreicht bei diesen Patienten oftmals nicht das gewünschte Ergebnis.

8.3.4.5 Gipstechnik und Maßnehmen Wegen der letalen Gefahr bei Distraktion der Wirbelsäule bei bestehender Chiari-IIMalformation sollte von einem Gipsabdruck mit Glissonschlinge bei diesen Kindern grundsätzlich Abstand genommen werden. Der Gipsabdruck wird in der Regel im Liegen, zirkulär, bei bestmöglicher Korrektur der Fehlstellung durch Lateralshift der LWS und Bending der BWS ausgeführt. Dabei ist eine permanente, fixierte Positionierung des Beckens und Lotkontrolle (Nase/Schambein) erforderlich. Patienten mit thorakalem Lähmungsniveau, die das Korsett primär im Sitzen nutzen, können beim Abbinden des Gipses in die Sitzposition gebracht werden, um so, durch ein leichtes Einsinken in den Gips, eine verbesserte Druckverteilung im thorakalen Bereich des Korsett zu bekommen. Bei der Maßnahme werden die Weiten- und Umfangmaße auf Höhe der Trochanter, der Beckenkämme, der Taille, der Unterbrust und der Achsel genommen. Die anterior-posterioren Maße werden auf Unterbrusthöhe sowohl von der Konvexals auch von der Konkavseite genommen. In der Regel ist das konvexseitige anterior-posteriore Maß größer als das konkavseitige Maß, sodass dieses bereits beim Gipsen leicht komprimierend in der frontalen Ebene korrigiert wird. Rotierende Korsettelemente finden sich dabei oftmals erst im Schulterbereich.

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8.3.4.6 Aufgaben und Funktion des Korsetts in Abhängigkeit vom Lähmungsniveau L5 aufsteigend und Alter des Patienten 8.3.4.6.1 Niveau L5 Beginn der Korsettbehandlung ab einem Cobb-Winkel größer 20° bis zum Abschluss des Wachstums. Die Orthese wird während der Wachzeiten permanent getragen. Da die Kinder oftmals bis zum Beginn der Korsettbehandlung das Laufen bereits erlernt haben, steht diese Funktionalität weiterhin im Vordergrund und sollte auch weiterhin uneingeschränkt möglich sein. Zu beachten ist dabei, dass das Frontalpendeln beim Gehen weiterhin möglich ist, und dass das Korsett im Beckenbereich so gestaltet wird, dass es mit den Oberschenkelorthesen gemeinsam getragen werden kann. Bei guter Compliance der Familie bleibt das Ausmaß der Skoliose nach den Erfahrungen des Autors mit Kindern in einer großen Spina-bifida-Ambulanz bis zum Abschluss des Wachstums bei ca. 40° nach Cobb. Um ein lotrechtes Sitzen und ausreichende Stabilität der LWS auch nach Wachstumsabschluss zu erreichen, kann ca. 2 Jahre nach der Menarche auf eine kurze Korsettversorgung bis auf Unterbrusthöhe zurückgegangen werden. Freies Gehen mit Korsett sollte ohne Stützen grundsätzlich möglich sein; der Gebrauch von Gehstützen oder eines Rollators ist für ein sicheres Gangbild aber zu empfehlen. Für weitere Strecken muss das selbstständige Antreiben eines Aktivrollstuhls möglich sein, der bei einer Korsettversorgung in der Sitzhöhe angepasst werden muss, um nach wie vor eine ideale Greif- und Antriebsposition zu erreichen.

8.3.4.6.2 Niveau L4–L3 Beginn der Korsettbehandlung ab einem Cobb-Winkel größer 20° bis zum Abschluss des Wachstums. Die Orthese wird während der Wachzeiten permanent getragen, wenn nicht die Gehorthese mit Beckenteil getragen wird. Das Korsett kann hierbei als stabilisierendes Beckenteil in die beckenübergreifende Orthese integriert sein. Das Gehen und Stehen sollte über den Tag verteilt, auch um die Progredienz der Wirbelsäulenverkrümmung zu verlangsamen, mindestens 2 Stunden am Tag betragen. Bei Hüftluxationen und unzureichender Sitzstabilität wird das Korsett mit Sitzkante ausgestattet. Freies Sitzen im Korsett muss in Abhängigkeit von der Sitzfläche möglich sein. Die Möglichkeit des Windelwechselns und des Katheterisierens sollte nicht zu sehr eingeschränkt werden, um die Akzeptanz bei den Eltern, den Angehörigen und den betreuenden Einrichtungen zu steigern. Häufig lässt sich im Bereich der Blase und des Abdomens das Korsett mit einem abnehmbaren Segment gestalten, um das Handling zu erleichtern. Beim Katheterisieren über ein Stoma in der Bauchwand kann dieses komplett ausgespart werden. Ein Öffnen des Korsetts ist dann nicht mehr nötig.

8.3 Orthopädietechnik | 357

Nach Wachstumsabschluss kann auch bei diesen Kindern im Bereich des Schultergürtels weitestgehend auf führende Elemente am Korsett verzichtet werden; oft wird dann die Wirbelsäule auch operativ stabilisiert werden.

8.3.4.6.3 Niveau L2 – thorakal Die Korsettbehandlung zur Führung und Stabilisierung der Wirbelsäule beginnt ab einem Cobb-Winkel größer 20° oder ab dem Alter einer geforderten Sitzfähigkeit. Aufgrund häufig auftretender Wirbelkörperfehlbildungen sind Korrekturen oftmals nur bedingt möglich, die Stabilisierung steht im Vordergrund. Der Aufrichtung der Wirbelsäule und des Beckens in der sagittalen Ebene kommt bei diesen Kindern besondere Bedeutungen zu. Die Orthese wird während der Wachzeiten permanent getragen. Bei Kindern mit geringer Sitzleistung, die noch nicht im Kindergartenalter sind, besteht die Möglichkeit einer Korsettversorgung ohne Sitzkante aus 4 mm starkem PE-LD. Diese semirigiden Orthesen eignen sich besonders zur Erstversorgung, weil weiche Drücke das Anschulen der Orthese erleichtern und die Kinder mehr Bewegungsmöglichkeiten der oberen Extremitäten haben als in PE-HD-Orthesen. Das Sitzkorsett mit Sitzplatte für das sichere Sitzen und Spielen mit beiden Händen hat für kurze Phasen des Tages zu Hause (beim Essen und Spielen) und in der Kita und Schule eine wichtige Funktion. Es sollte nur auf diese kurzen Phasen beschränkt genutzt werden, um der Entwicklung einer Stützhand und einer früh beginnenden Skoliose vorzubeugen. Ab dem Kindergartenalter sind diese Materialien meist jedoch nicht mehr ausreichend formstabil, weil bei zunehmender Sitzleistung, steigendem Lähmungsniveau und größer werdendem Patientengewicht das Korsett auch tragfähige Eigenschaften aufweisen muss. Hier muss das Korsett so viel Haltearbeit ermöglichen, dass die Arme frei zum Spielen, zur Fortbewegung und zum Essen eingesetzt werden können. Eine Stabilisierung der Sitzfunktion über die Arme sollte aus genannten Gründen nicht stattfinden und nicht toleriert werden. Um eine ausreichende Variabilität im Alltag zu erhalten, können diese Korsette mit Sitzkorsetten kombiniert werden. Dies ermöglicht ein einfaches Handling bei der Pflege und stellt eine maximale Funktionalität der Arme sicher. Die Versorgung mit Sitzschalen schränkt die Kinder in der Regel übermäßig beim Gebrauch des Rollstuhls ein, fördert die Passivität der Kinder und bietet keine ausreichende Korrekturmöglichkeit der Wirbelsäule.

8.3.4.7 Zusammenfassung Aufgrund der unterschiedlichen Lähmungshöhen, der unterschiedlichen Ausprägungen und Dimensionen der Wirbelkörperfehlbildungen, der komplexen anderweitigen Erkrankungen dieser Patienten sowie der unterschiedlichen Anforderungen der Orthesen an das jeweilige Alter und den Entwicklungsstand muss für jede Korsettversorgung im interdisziplinären Team ein genaues Anforderungsprofil erstellt werden.

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Die Umsetzung und der Erfolg werden dabei regelmäßig überprüft und die Hilfsmittel u. U. den neuen Gegebenheiten angepasst. Diese Korsette stabilisieren in der Regel passiv, dreidimensional und konvexseitig als Halbschale im Vollkontakt, haben aber dennoch genügend Freiräume im Bereich der konkavseitigen LWS, der BWS und des Abdomens, um die Atmung nicht zu beeinträchtigen.

Weiterführende Literatur Carstens C, Wiederspohn J. Vertebral and rib abnormalities in myelomeningocele. Z Orthop Ihre Grenzgeb. 1989; 127: 653–660. Fiedler A, Göhlich-Ratmann G, Panteliadis C. Aktuelle Themen der pädiatrischen Neurologie. Basel, Thessaloniki: Karger Verlag; 1994. Hohmann D, Uhlig R. Orthopädische Technik. Stuttgart: Enke-Verlag: 1982.

Pasquale Incoronato 8.3.5 Anpassungskriterien bei Kinderrollstühlen Der Rollstuhl ist für Kinder mit Spina bifida ein positiv wirkender Umweltfaktor, der Ausgleich für den teilweisen oder vollständigen Verlust des Ganges und die beeinträchtigte Kontrolle der Körperhaltung sowie eine verbesserte Teilnahme des Individuums am familiären und sozialen Leben schafft.

8.3.5.1 Wann ist ein Rollstuhl indiziert? So bald wie möglich. In der psychomotorischen Entwicklung des Kindes wird das freie Laufen zwischen dem 1. und 2. Lebensjahr erreicht. Ein Kind mit Spina bifida, das zwischen 2 und 3 Jahren das freie Gehen nicht erreicht hat, ist in seiner Fortbewegung eingeschränkt und wird von allen damit zusammenhängenden Erfahrungen ferngehalten [1]. Das Kind mit Spina bifida hat bereits die horizontale Ebene durch das Rollen erobert, ist in Rücken- und Bauchlage gekreiselt, ist gerobbt und gekrabbelt oder hat, wie bei den schweren thorakalen Formen, den Wunsch geäußert, seinen Platz zu wechseln. Jetzt möchte es seinen Lebensraum erweitern und braucht ein Hilfsmittel. Der Rollstuhl ist das Hilfsmittel, das mehr als alle anderen positiv vom Kind erlebt wird. Auf dem Rollstuhl hat das Kind eine höhere Position, es kann sich nähern und entfernen, es kann sich als mutiges oder vorsichtiges zeigen und wiedererkennen [2].

8.3 Orthopädietechnik | 359

8.3.5.2 Besteht die Gefahr, das Kind zu demotivieren, selbstständig mit Orthesen zu gehen? Nein. Die geeignete Anwendung des Rollstuhls verhindert das nicht, sie fördert sogar das Erreichen und den aktiven Gebrauch des Gehens. Es kann Jahre dauern bis das Kind mithilfe von Orthesen ein sicheres selbstständiges Gehen erreicht. Das ist ein Prozess, der eine ständige Schulung erfordert. Die Prävention von Schädigungen an Gelenken und Muskeln ist für das Kind kein unmittelbarer Vorteil. Durch die Anwendung eines Rollstuhls wächst das Selbstwertgefühl des Kindes. Ein Kind ist sozial reifer im Rollstuhl als in einem Kinderwagen oder am Boden krabbelnd. Das Kind im Rollstuhl bewegt sich zügig und mit niedrigen Energiekosten, kann sich einfacher vom Sitz als vom Boden hinstellen und gehen. Das Kind wird den Rollstuhl fahren oder das Gehen bevorzugen, je nachdem wie der eigene Bedarf ist, wie gefordert und gefördert wird. Normalerweise laufen die Kinder in Innenräumen, zu Hause und im Klassenraum, während auf offenem Gelände und beim Sport mit dem Rollstuhl gefahren wird. Der Rollstuhl kann als die Voraussetzung für einen Gewinn oder als Folge eines Verlustes erlebt werden. Wird der Rollstuhl als Verlust des gewünschten oder von Therapien versprochenen Gehens gesehen, wird sich die Familie der Anerkennung dieses Verlustes widersetzen und die Notwendigkeit eines Rollstuhls minimieren oder bestreiten.

8.3.5.3 Wie bekommt man einen Rollstuhl? Sanitätshäuser mit Fachpersonal beraten über verschiedene Produkte. Eine ärztliche Verordnung, am besten von einer sozialmedizinischen Begründung begleitet, ist die Voraussetzung für die Kostenübernahme seitens der Krankenkasse. Eine zufriedenstellende Versorgung mit einem Hilfsmittel wird garantiert, wenn die ärztliche Verordnung auf transparenten und protokollierten Arbeitsvorgängen basiert. Dafür ist ein interdisziplinäres Team wie in sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) und Rehabilitationseinrichtungen nötig. Die Erprobung verschiedener Rollstühle ist notwendig, um zwischen mehreren Grundmodellen, Zubehör und Einstellungen zu wählen. Interessengemeinschaften, Versicherungen und Kostenträger stellen die notwendigen Bögen für die Protokollierung der Anprobe zu Verfügung.

8.3.5.4 Welchen Rollstuhl wählt man? Die Auswahl ist von der motorischen Leistung des Kindes, von individuellen, familiären und umweltbedingten Faktoren abhängig. Die endgültige Gestaltung des Roll-

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stuhls ist das Ergebnis des bestmöglichen erreichten Kompromisses bei Aufbau und Einstellung gemäß den Prioritäten des Kindes, seiner Familie und Betreuer. Bei Spina bifida sind viele Kriterien bei der Auswahl des Rollstuhls zu berücksichtigen: Alter, Läsionshöhe, Muskelkraft, Inkontinenz, Verlust der Hautsensibilität, Kontrakturen, Störungen von Muskeltonus und Koordination, kognitive Fähigkeiten, Anwendung von Gehorthesen und anderen Hilfsmitteln, persönliche, familiäre und soziale Faktoren sowie der Einsatzort des Rollstuhls. Der Rollstuhl ist für Kinder mit einer Läsion des lumbalen oder thorako-lumbalen Rückenmarks das privilegierte Fortbewegungsmittel. In den ersten Lebensjahren wird ein Kompromiss zwischen verschiedenen Fortbewegungsformen – Robben, Rutschen im Sitzen, Hopsen, Krabbeln mit und ohne Orthesen, das Gehen mit Gehwagen und das Rollstuhlfahren – notwendig sein. Sie benutzen beckenumfassende Orthesen und brauchen längere Zeit, um drinnen und draußen das Gehen zu erlernen. Deshalb brauchen sie zwei Rollstühle, einen für Innenräume, gemessen am Kind mit Orthesen, mit vergrößerter Sitzbreite und -tiefe, mit Abduktion im vorderen Rahmenbereich, und einen für den Sport oder für draußen, gemessen an den Körpermaßen des Kindes ohne Orthesen, mit Adduktion im vorderen Rahmenbereich, mit umfassender Unterstützung von Becken und Rumpf (Abb. 8.36).

(a)

(b)

Abb. 8.36: Ansicht von oben. Zwei schematisierte Rollstühle (a) mit Abduktion und (b) mit Adduktion des Vorderrahmens. Im Rollstuhl mit Adduktion gewinnt das Kind an Wendigkeit, weil der Rollstuhl kompakt wird. Mit der Abduktion des Vorderrahmens hat das Kind mehr Platz für Orthesen im Sitzen und bei Transfer.

Der Rollstuhl von Kindern mit einer Läsion des thorakalen Rückenmarks wird an die stark eingeschränkte Bewegungsfähigkeit des Kindes angepasst. Die Kinder benutzen Lagerungsorthesen. Je nach Bedarf brauchen sie einen Rollstuhl mit anatomisch geformter Polsterung für Sitz und Rückenlehne, mit integrierter Sitzschale, mit Rumpfpelotten oder weiteren Mitteln für die Rumpfaufrichtung. Wenn die Anwendung von Orthesen die Leistung des Kindes im Rollstuhl negativ beeinflusst, muss ein Mittelweg

8.3 Orthopädietechnik | 361

zwischen dem Verzicht auf Korrekturen von pathologischer Körperhaltung und dem Gewinn an besserer Leistung im Rollstuhl gefunden werden. Die Anwendung von Elektrorollstühlen mit Joystick-Steuerung ist in Deutschland bei Kindern mit Spina bifida selten. Bei Erwachsenen ist er auf Formen mit schwerem Muskelkraftdefizit begrenzt. Alternativ können Hinterräder mit Servomotoren montiert werden. In besonderen Umwelt- und Gesellschaftssituationen wird der Rollstuhl an einen vom Elektromotor- oder Hand-getriebenem Fahrradansatz (Handbike) oder ans Fahrrad des Begleiters gekuppelt. Rollstühle in Sonderausführungen für den Sport und die Freizeit erlauben den Menschen mit Spina bifida eine bessere Teilnahme am Sozialleben.

8.3.5.5 Woraus besteht ein Rollstuhl? Das ist grundsätzlich ein Rahmen auf vier Rädern, gebaut mit einem Sitz, einer Rückenlehne, einem Fußbrett, einer Achse für die Hinterräder, lenkbarer Gabel für die Vorderräder und verschiedenem Zubehör. Der Rohrrahmen eines Rollstuhls, aus Aluminium oder Stahllegierung, kann starr oder faltbar sein. Er kann nach Maß oder Standardgröße gebaut werden. Das Rahmenvorderteil kann die Fortsetzung des Hinterteils sein, nach außen (mit Abduktion) oder nach innen (mit Adduktion) abweichen (Abb. 8.36), sodass die Breite der Fußbank und der Abstand zwischen den Vorderröhren entsprechend breiter oder schmaler wird. Manche Rahmen können vergrößert werden, um den Rollstuhl dem wachsenden Kind anzupassen. Der Sitz und die Rückenlehne eines Rollstuhls sind aus Stoffgewebe oder aus festem Material und werden gepolstert, damit sie sich dem Körper besser anpassen können. Sitzkissen und Rückenpolsterung sind für Reinigungs- und Transportzwecke abnehmbar. Die Polsterung besteht normalerweise aus ein- oder mehrschichtigem Weichschaumkern mit unterschiedlichem Elastizitätsgrad je nach Höhe des aufgesetzten Druckes. Die Nutzung von potentiellen allergischen Materialien wie Latex muss unbedingt vermieden werden. Die Oberfläche der Sitzeinheit kann flach oder anatomisch geformt sein (Abb. 8.37). Die Anwendung einer gepolsterten Sitzschale nach Maß mit Rumpfpelotten ist notwendig für Kinder mit schweren Asymmetrien des Rumpfes, des Beckens und der unteren Extremitäten. Mit der Gewichtszunahme und der reduzierten Mobilität erhöht sich das Risiko von Hautläsionen, die präventiv oder kurativ durch die Anwendung von Antidekubituskissen behandelt werden können. Die Form der gepolsterten Rückenlehne aus Stoffgewebe wird durch Klettverbände so geändert, dass sie sich der Kontur des Rumpfes anpassen kann. Die Höhe der Rückenlehne ist von der Fähigkeit des Kindes abhängig, die Rumpf- und Kopfposition zu kontrollieren. Die Fußbank hält im Sitzen das Gewicht von Unterschenkeln und

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Abb. 8.37: Ansicht von oben. Die Polsterung des Sitzes ist anatomisch geformt mit einer Vertiefung für die Einbettung des Sitzbeins und der Oberschenkel. Die Rückenlehne ist rumpfumfassend, bietet eine seitliche Stützfläche, verhindert aber nicht die Bewegung der oberen Extremitäten beim Rollstuhlfahren.

Füßen, aber beim Transfer vom und in den Rollstuhl wird das ganze Körpergewicht getragen. Sie kann abklappbar oder sehr klein sein, um den Schuhkontakt mit dem Boden zu fördern. Die Hinterradgröße hängt von der Körper- und Rahmengröße ab. Die Räder können, je nach Gebrauchsort, verschiedene Radmäntel haben: breite für unbündigen Boden, schmale für eine bessere Kraftumsetzung, mit weniger oder starkem Profil, mit Vollgummi- oder Luftschläuchen. Die Neigung der Hinterräder auf der frontalen Ebene bestimmt die Breite des Rollstuhls und macht ihn stabil und wendig. Eine leichte Radneigung ist immer zu empfehlen, weil sie die Hände vor Stößen und Verletzungen an Wänden und Mobiliar schützt. Die Vorderradgröße variiert je nach Bodenverhältnissen: Die Räder sind groß und breit auf unebenem Boden, klein und schmal auf guten Bodenverhältnissen wie es in Innenräumen der Fall ist. Die Vordergabeln sind lenkbar und deren Höhe beeinflusst die Neigung des Rollstuhls auf der sagittalen Ebene. Umfangreiches Zubehör dient der Sicherheit und verringert die Risiken beim Gebrauch, unterstützt die „bestmögliche“ Körperhaltung bei Aktivitäten und beim Fahren, kompensiert das Kraftdefizit, hilft bei der Überwindung von baulichen Barrieren und gestaltet den Rollstuhl nach den persönlichen Bedürfnissen und der Ästhetik des Menschen. Zur Grundausstattung gehören: Hebelbremsen, Speichenschutzscheiben für die Hinterräder, abklappbarer Kippschutz, Kopfstütze, Beckengurt, höhenverstellbare Schiebegriffe und Kippbügel für die Begleitperson, abnehmbarer Seiten- und Spritzschutz, Ellbogenstütze, Transportgriff, Tasche mit Gebrauchsanweisungen und Werkzeugen, eine begrenzte Farbauswahl für Rollstuhlrahmen und Bezugsstoff.

8.3.5.6 Wie wird ein Rollstuhl bemessen? Der Hilfsmitteltechniker arbeitet mit dem Versorgungsteam bei der Messung des Patienten, bei der Auswahl und Einstellung des Rollstuhls, um ihn sicher, komfortabel und leistungsstark zu gestalten.

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Für jeden Rollstuhl gibt es einen Anpassbogen für Patient und Rollstuhl. Dieser Bogen wird bei der Rollstuhlanprobe vom Techniker und Therapeuten ausgefüllt. Physio- oder Ergotherapeuten untersuchen und bewerten: die Sitzposition beim Fahren, beim Transfer und beim Spielen oder Arbeiten am Tisch, die Körperteile in Kontakt mit dem Rollstuhl, die Hilfen für die posturale Kontrolle, das Zubehör und die Vereinbarkeit mit anderen Hilfsmitteln. Es werden auch alle engen Räume, Unebenheiten, Stufen, Aufzüge oder andere architektonische Elemente im Haus, in der Schule γ

S

S

G

G α

ε

β

d

d1

Seitenansicht δ

Rückenlehnenhöhe

Sitzbreite

Unterschenkelhöhe

Sitztiefe

Sitzhöhe VA Gabelhöhe

Vorderansicht

Ansicht von oben

Abb. 8.38: Schematische Darstellung der Grundmaße eines Rollstuhls. Die Projektion der Schulter am Boden (S) sollte fast auf die Hinterradachse fallen. Ist der Abstand (d) des Körpermittelschwerpunkts (G) von der Hinterachse groß, wird das Rollstuhlgewicht auf die Vorderräder stark verteilt, der Fahrwiderstand erhöht, das Kippen des Rollstuhls nach hinten erschwert und das Risiko des Kippens nach vorn erhöht. Durch die Änderung des Winkels zwischen Rückenlehne und Sitz (α), zwischen Boden und Sitz (β), zwischen Rückenlehne und der Senkrechten am Boden (γ), durch die Verschiebung des Sitzes nach vorn oder hinten und durch die Höhe der Vordergabel (VA) verändert sich der Abstand (d¹) zwischen der Projektion am Boden des Körpermittelschwerpunkts und der Hinterachse. Die Neigung (δ) der Hinterräder auf der frontalen Ebene nähert die Greifringe an die Hände und verbreitert den Rollstuhl. Der Winkel (ε) erlaubt die Kniebeugung zwischen 80 und 100°.

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oder auf der Arbeit notiert, die das endgültige Ausmaß des Rollstuhls beeinflussen könnten. Letztendlich werden alle Risikofaktoren infolge des Verlustes von Muskelkraft, Wahrnehmungsvermögen, Koordination und Gefahreneinschätzung aufgelistet. Die Grundmaße eines Rollstuhls sind: die Sitztiefe und -breite, die Höhe der Rückenlehne, der Abstand zwischen vorderer Sitzkante und Fußbank, der Winkel zwischen Sitz und Rückenlehne, die Neigung der Fußbank, die Höhe und Neigung des Sitzes, der Abstand zwischen den Projektionen am Boden des Körperschwerpunkts und der Hinterradachse, die Radgröße und die Neigung der Hinterräder auf der frontalen Ebene (Abb. 8.38). Das Kind wird im Sitzen gemessen und muss vor der medizinischen Verordnung in der Lage sein, den Rollstuhl in einer optimalen Konfiguration zu testen.

8.3.5.7 Welche Risiken entstehen bei der Anwendung eines Rollstuhls? Eine gute Pflege und das Bewusstsein über den eigenen Körper verhindern die Risiken von längerem Sitzen. Kleine Zwischenfälle in geschützten und bewachten Umgebungen schützen vor schweren Unfällen, wenn das Kind unbeaufsichtigt und selbstständig agiert. Das Risiko von Stürzen aus dem Rollstuhl während des Transfers, von Überschlägen bei der Überwindung von Hindernissen und Steigungen, von Zusammenstößen mit Menschen und Objekten ist normal bei Aktivitäten des täglichen Lebens. Um diese Risiken zu minimieren, müssen wir dem Kind helfen, bewusst zu handeln, ohne es zu ängstigen. Durch Spiele, Sport und Therapie wird es gefordert, vereinbarte Hindernisse zu überwinden und erwartete oder unerwartete Rückschläge zu akzeptieren [3–5].

8.3.5.8 Wie lernt man Rollstuhlfahren? Das kleine Kind erlebt den Rollstuhl als Spielzeug. Es schaut ihn an, berührt ihn, bewegt ihn und lernt durch Ausprobieren. Ein Kind kann mit dem Rollstuhl in geschützten Innenräumen sofort fahren. Nur Kinder mit schwerem Koordinations- und Intelligenzdefizit brauchen am Anfang Hilfe, um fahren zu lernen. In der Therapie sind verschiedene Spiele möglich, mit denen das Kind schrittweise die Kontrolle von Fahrtrichtung und -geschwindigkeit, das Überwinden von Treppen und Schrägen, das Hinfallen, Aktivitäten und Transfers in den und aus dem Rollstuhl trainieren kann. Der Austausch von Erfahrungen mit anderen Kindern und Erwachsenen mit Spina bifida, spezielle Kurse für Kinder und ihre Familien, Sport, Fahrpraxis von Eltern und Betreuern, therapeutische und technische Beratung für das Schulpersonal erleichtern dieses Lernen [6, 7].

8.4 Physiotherapie |

365

Literatur [1]

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[3]

[4]

[5] [6] [7]

Comparetti AM. Von der „Medizin der Krankheit“ zu einer „Medizin der Gesundheit“. In: Comparetti AM. (Hrsg.). Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um Gesundheit – Konzept einer am Kind orientierten Gesundheitsförderung. 2. Aufl. Heidelberg: Mattes Verlag; 1985: 16–27. von Lüpke H. Die vielfältigen Dimensionen des Dialogs. In: Comparetti AM. (Hrsg.). Von der Behandlung der Krankheit zur Sorge um Gesundheit – Konzept einer am Kind orientierten Gesundheitsförderung. 2. Aufl. Heidelberg: Mattes Verlag; 1985: 65–71. Müller-Godeffroy E, Michael T, Poster M, Seidel U, Schwarke D, Thyen U. Self-reported healthrelated quality of life in children and adolescents with myelomeningocele. Dev Med Child Neurol. 2008; 50: 456–461. Rousseau-Harrison K, Rochette A, Routhier F, Dessureault D, Thibault F, Côté O. Impact of wheelchair acquisition on social participation. Disabil Rehab Assist Technol. 2009; 4: 344–352. Sawatzky B, Rushton PW, Denison I, McDonald R. Wheelchair skills training programme for children: A pilot study. Austr Occup Ther J. 2012; 59: 2–9. Rousseau-Harrison K, Rochette A. Impacts of wheelchair acquisition on children from a personoccupation-environment interactional perspective. Disabil Rehab Assist Technol. 2013; 8: 1–10. Bartonek Å, Saraste H, Danielsson A. Health-related quality of life and ambulation in children with myelomeningocele in a Swedish population. Acta Paediatr. 2012; 101: 953–956.

8.4 Physiotherapie Elrike Singendonk 8.4.1 Die Behandlung im 1. Lebensjahr 8.4.1.1 Erste Kontakte mit Kind und Familie Nach der Geburt eines Kindes mit einer Myelomeningozele folgt in der Regel ein längerer Klinikaufenthalt, verbunden mit Unsicherheiten, Sorgen und Ängsten der Eltern. In dieser emotional womöglich sehr belasteten Zeit bleibt wenig Privatsphäre für die Familie. Eine Möglichkeit sich zurückzuziehen und in der neuen Konstellation ein familiäres Gleichgewicht zu entwickeln besteht viel später als nach der Geburt eines gesunden Kindes. Etwa zu der Zeit, wenn ein wenig Alltag eintreten kann, beginnt meist die Physiotherapie. Der Familienalltag ist weiterhin gekennzeichnet von einer Vielzahl von Untersuchungsterminen des Kindes. Unter anderem deshalb ist es hilfreich, wenn die Therapie, besonders in den ersten Lebensmonaten, in Form von Hausbesuchen angeboten werden kann, um so wenig wie möglich den Rhythmus im Tagesablauf zu stören. Wenn sich die Eltern im Umgang mit ihrem Kind unsicher fühlen, kann die Physiotherapie in der Anfangszeit öfter stattfinden, als es die körperliche Situation des Kindes erfordern würde.

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8.4.1.2 Umgang und Pflege Es ist möglich, dass die Eltern nicht sicher sind, wie sie die Operationsnarbe in die Pflege mit einbeziehen können. Ist die Narbe trocken und sind die Stichkanäle verheilt, darf das Kind gebadet werden. Dies ist etwa 1–2 Tage nach dem Entfernen des Nahtmaterials der Fall. Das Kind kann dann auch auf den Rücken gelegt und ebenso gehalten und getragen werden wie andere Neugeborene. In den ersten 3 Wochen nach der Verschlussoperation sollte allerdings aufmerksam beobachtet werden, ob das Kind Druck und Berührung im evtl. noch geschwollenen Narbenbereich toleriert. Manche Kinder haben sich in der Klinik so an die Bauchlage gewöhnt, dass sie nur langsam oder zeitweilig die Rückenlage akzeptieren. In den ersten Monaten sehen wir regelmäßig nach, ob sich die Narbe verändert, ob sie gut verschieblich ist. 3 Wochen nach der Operation kann man dies sonst durch vorsichtiges Mobilisieren des verklebten Gewebes in Richtung zur Narbe unterstützen. Was die reine Körperpflege betrifft ist keine Differenzierung zwischen den Läsionshöhen nötig. Der Umgang mit den Beinen eines hoch-lumbal oder thorakal gelähmten Kindes sollte jedoch besonders vorsichtig sein, weil hier durch die verminderte Mineralisierung der Knochen und den fehlenden Muskelmantel eine erhöhte Frakturgefahr bestehen kann. Vorsichtig auch, weil einige Kinder später dazu neigen, ihre Beine, die sie nicht oder nur wenig spüren können, achtlos oder grob zu behandeln. Dabei ist es wichtig, dass die Angehörigen keine Berührungsängste mit den gelähmten Beinen bekommen. Behandeln sie sie behutsam und berühren sie genauso liebevoll wie den übrigen Körper, wird es das Kind später ebenso machen. Wenn es spürt, dass sein Körper akzeptiert und gemocht wird, kann es eher mit einer positiven Einstellung dazu aufwachsen. Manche Kinder haben, ebenso wie nichtbehinderte Säuglinge, eine „Lieblingsseite“, drehen den Kopf bevorzugt in diese Richtung. Handelt es sich bei Kindern mit Hydrocephalusableitung um die Seite, auf der nicht der Schlauch verläuft, machen sich Eltern evtl. Sorgen, ob beides miteinander zusammenhängt. Tatsächlich gibt es Kinder, die nach Verlegen des Drainageschlauches den Kopf vorübergehend nicht auf diese Seite drehen. Aus der Tatsache, dass ein wenige Wochen oder Monate altes Kind den Kopf lieber zu einer Seite legt und hierdurch eine lagebedingte Körperasymmetrie entsteht ergibt sich nicht per se eine Indikation zur Physiotherapie, solange Kopf und Halswirbelsäule frei beweglich sind. Beobachtet man die Kinder regelmäßig über einen längeren Zeitraum, drehen sie den Kopf oft ebenso in die andere Richtung, und sei es auch nur im Schlaf. Manchmal reicht es aus, das Kinderbett zu drehen, das Kind ans Fußende des Bettes zu legen oder auf dem anderen Arm zu tragen, und es wechselt seine Blickrichtung. Wir zeigen den Eltern, wie die tägliche Pflege, der tägliche Umgang gestaltet werden kann, damit ihr Kind angeregt wird, den Blick zu wenden, insbesondere auch mit dem Ziel, Schädelasymmetrien vorzubeugen.

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8.4.1.3 Therapie Ein Ziel der Therapie ist die dem Alter entsprechende Unterstützung und Förderung der Selbstständigkeit des Kindes. Dies beinhaltet, die körperlichen Voraussetzungen und deren Kompensationsmöglichkeiten einzuschätzen und damit umgehen zu lernen sowie die Integration des Kindes in sein soziales Umfeld – innerhalb und zunehmend auch außerhalb der Familie. Die Therapieplanung beruht auf der individuellen Prognose und der Sicherheit, dass Kinder mit Spina bifida, ebenso wie andere Kinder, ein genetisch determiniertes Entwicklungspotential haben, dass auch ein thorakal gelähmtes Kind nicht zwangsläufig in seiner Bewegungsentwicklung gefördert werden muss. Die individuelle Prognose eines Kindes ist, sofern die Eltern dies wünschten, in der Regel mit ihnen in der Spezialsprechstunde besprochen worden, sodass Eltern und Therapeuten kurz- und längerfristige Ziele der Therapie, im Verlauf vielleicht auch entwicklungsbedingte Veränderungen der Therapieschwerpunkte, miteinander vereinbaren können. Die Hauptaktivität eines Kindes ist Bewegung. Die Motivation dazu entspringt daraus, bestimmte Ziele erreichen zu wollen. „So geht z. B. ihre Bewegungsentwicklung nicht von der Hilflosigkeit zur Selbständigkeit vor sich, sondern die Kinder sind in gewisser Hinsicht in jeder Phase ihrer Entwicklung zu selbständigen Bewegungsaktivitäten fähig. Sie sind in der Lage, neue Positionen, neue Fortbewegungsarten aus eigener Initiative selbständig auszuprobieren und ohne direkte Hilfe der Erwachsenen zu lernen, sich darin zu bewegen, … die Freude der Kinder, der Wunsch, die Initiative zu ergreifen, bleibt unverändert.“ [1]. Das Bewegen gegen die Schwerkraft differenziert sich vom Kopf aus abwärts, d. h., auch ein Kind mit Querschnittslähmung beginnt dort, wo die motorischen Funktionen in der Regel intakt sind. Je nachdem auf welcher Höhe das Rückenmark geschädigt ist, wird es aber auf Schwierigkeiten, Hindernisse oder Grenzen seiner autonomen Bewegungsmöglichkeiten stoßen. Adäquate therapeutische Angebote zum richtigen Zeitpunkt sollen ihm Entwicklungskontinuität ermöglichen. Wenn man dem Kind Zeit lässt, gibt es in der Regel selbst das Signal für den nächsten Schritt. Ein Forcieren dieser Entwicklung kann eher verunsichern, wenn dabei Leistungen auf einem Niveau initiiert werden sollen, das ein Kind noch nicht erreicht hat. Das macht abhängig von Hilfe, ungeschickt und vielleicht sogar mutlos. Manche Kinder mit Spina bifida brauchen, wie auch andere Kinder, viel Zeit und sind dann, versehen mit dem Attribut „entwicklungsverzögert“, schnell unseren „Förderungsmaßnahmen“ ausgesetzt. Es ist nicht so sehr von Bedeutung, wann ein Kind eine Position erlernt, sondern in welcher Qualität; und wenn die Qualität wegen des fehlenden Muskelgleichgewichts, der Sensibilitäts- oder Wahrnehmungsstörungen nicht ausreicht um darauf aufzubauen, bekommt es unsere Unterstützung. Ausgehend von diesen Überlegungen ist das Spiel- und Bewegungsangebot so gestaltet, dass das Kind einerseits seine Ge-

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schicklichkeit erweitern und andererseits im nächsten Schritt neue Fähigkeiten ausprobieren kann, sobald es Interesse zeigt und sich sicher genug dafür fühlt. Das Neugeborene, das zunächst mehr oder weniger eins ist mit seiner Umgebung, differenziert sich zunehmend davon. In der ersten Zeit macht es überwiegend Bewegungen, die uns zufällig und ziellos erscheinen. Später entdeckt es seine Hände und entwickelt allmählich ein Bewusstsein davon, dass sie zu ihm gehören. Das Kind kann sich ein halbes Jahr oder länger mit den immer neuen Möglichkeiten seiner Hände beschäftigen, lernt die Bewegungen seines Körpers kennen sowie deren Koordination mit den Sinnesorganen. Es beginnt die Orientierung im Raum. Das Kind berührt Gegenstände, ergreift und untersucht sie. Um einen Gegenstand von einer Hand in die andere geben zu können, ist eine komplexe, gegenläufige Bewegung notwendig: Wenn sich die eine Hand schließt, öffnet sich die andere. Schon Neugeborene haben eine gut ausgebildete Berührungsempfindung, die taktilen Sinnesorgane bekamen intrauterin viele Informationen. Es ist deshalb wichtig, wie man das Kind anfasst, ob man seine Bereitschaft und beginnende Kooperation abwartet, um ihm das Vertrauen in seine Umgebung zu erleichtern. Den in ihren Empfindungsmöglichkeiten reduzierten Körperpartien kann man deutliche Reize geben – sie druckvoll berühren, massieren und die Füße und Beine später, falls das Kind nicht selbst dazu in der Lage ist, auch in der Therapie immer wieder in sein Blickfeld bringen, damit es sie als Teil seiner selbst erfahren kann (Abb. 8.39). Neugeborene reagieren von Anfang an auf Geräusche und die menschliche Stimme, die neben der Berührung eine Möglichkeit ist, mit dem Kind in Kontakt

Abb. 8.39: Aufmerksamkeit des thorakal gelähmten Kindes wird auf die Füße gelenkt.

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zu treten. Wenn man seine Handlungen verbal begleitet, das Kind z. B. nicht wortlos an- und auszieht, ist dies ein kommunikativer Akt, der auch dem sehr kleinen Kind eine weitere Möglichkeit bieten kann, Tätigkeiten wiederzuerkennen. Manche Säuglinge mit Spina bifida sind extrem schreckhaft und reagieren irritiert auf kleinste Bewegungen, die nur Nuancen zu schnell ausgeführt werden oder auf minimale Lageveränderungen mit Weinen. Ein wiederkehrender Ablauf bei der täglichen Pflege kann diesen wie auch weniger schnell aus der Ruhe zu bringenden Kindern Möglichkeiten zur Orientierung und somit mehr Sicherheit verschaffen. Lernen ist am besten in einer angenehmen Umgebung möglich. In Abwehrhaltung, die sich beim Säugling meist in Weinen und Schreien ausdrückt, sind die Kinder unserer Therapie nicht zugänglich, die motivationsorientiert angelegt ist. So wird das Weinen des Kindes in der Therapie nicht einfach übergangen oder zugunsten physiotherapeutischer Ziele in Kauf genommen. Therapeutische Ziele sind im Kontext maßgeblich beeinflusst durch Vorgaben der Gesellschaft und des sozialen Umfelds, konkrete Ziele und Vorgehensweise sind geprägt durch das Behandlungskonzept in Kommunikation mit den Eltern und die individuelle inhaltliche Gestaltung seitens der Therapeuten. Wenn das Kind zeigt, dass es unser Therapieangebot nicht annehmen will, kann dies bedeuten, dass es keine entsprechende Motivation hat oder es überfordert ist und ein anderes (Bewegungs-)Angebot erhalten muss. Das ist sicher das eigentlich Schwierige: Die therapeutischen Notwendigkeiten auf der einen Seite und die Individualität eines Kindes und seine Signale auf der anderen Seite zu erkennen, um eine Synthese daraus zu entwickeln. Es ist wichtig, immer wieder mit den Eltern über das, was das Kind kann und über die Beweggründe bei der Gestaltung der Therapie zu sprechen. Zeiten abwartender Beobachtung sind für sie nicht immer leicht mitzutragen. Dies vor allem dann nicht, wenn sich die Phase, in der das Kind „nur“ in Rücken- oder Seitenlage mit seinen Händen und Gegenständen spielt oder seine Umgebung beobachtet und „nichts macht“ in Richtung Fortbewegung und Aufrichtung bis weit ins 2. Lebenshalbjahr hinzieht. Manche Eltern können vielleicht eher Vertrauen in das Entwicklungspotential ihres Kindes fassen wenn man sie bittet, eine Art Protokoll anzufertigen über die Dinge, auch die kleinen Dinge, die ihr Kind macht und hinzugelernt hat.

8.4.1.4 Untersuchung und Prognose Während der ersten Lebensmonate kann sich der anfängliche Befund ändern, weil sich nach dem Abklingen operationsbedingter Folgeerscheinungen die Ausgangssituation noch verbessern kann. Zu Beginn der physiotherapeutischen Behandlung wird zunächst die psychomotorische Ausgangssituation des Kindes untersucht und dokumentiert, d. h. der Gesamteindruck, den das Kind macht, seine sensorischen, vegetativen und muskulären Funktionen und auftretenden Pathologien, Beweglichkeit, Stellung sowie Fehl-

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stellungen der Gelenke, Auffälligkeiten, Asymmetrien und seine individuellen Anpassungsmöglichkeiten. Als Basis dieser Diagnostik und Therapieplanung dient die „Internationale Klassifikation der Funktionalität, Behinderung und Gesundheit“ der WHO (ICF-CY 2011), in der Körperfunktionen (psychische und psychologische Funktionen), Körperstruktur (Anatomie), Aktivitäten (Handlungsdurchführung), Partizipation (Lebenssituation), Umweltfaktoren (sozial, Hilfsmittel, Therapien), personenbezogene Faktoren (Alter, Geschlecht, Gewohnheiten, Erziehung, Charakter) sowie Ziele und Fördermodule einer Therapie erfasst werden und für die Planungen der Therapie gewichtet werden können [2]. In Absprache mit zuständigem Arzt und Eltern sollte der behandelnde Therapeut die Möglichkeiten, Grenzen und in etwa den zeitlichen Rahmen benennen können, in dem man mit dem Erreichen der Therapieziele rechnen kann, um zu vermeiden, dass es zu sehr unterschiedlichen Erwartungen und Sichtweisen der Professionellen auf der einen und der Bezugspersonen des Kindes auf der anderen Seite kommt. Aus der Kenntnis des Lähmungsniveaus und entsprechender zu erwartender Prozesse lässt sich eine Prognose für die weitere motorische Entwicklung herleiten. Nur kurze Zeit nach der Geburt können wir also mit den Eltern darüber sprechen, was voraussichtlich für ihr Kind bezüglich Mobilität möglich sein, welche Art von Hilfen es dazu benötigen wird und ob und in welchen Abständen Physiotherapie sinnvoll erscheint. Dies konkretisieren zu können, insbesondere was die Prognose für das Gehen betrifft, wird von den Eltern meist eher als Hilfe empfunden, denn für die Vorstellungen über die motorische Zukunft ihres Kindes gibt es jetzt Informationen und Hinweise.

8.4.1.5 Kontrakturbehandlung, Dehnung und Orthesen Wurde das Kind mit starken primären Deformitäten der Füße oder Beine geboren, bekommt es die ersten redressierenden Gipse, Schalen oder Schienen häufig bereits in der Klinik. Diese Schienen werden in den Therapiestunden regelmäßig hinsichtlich Passform und Funktionalität überprüft, sie dürfen keine Druckstellen und keine Zirkulationsstörungen verursachen. Um die aktuelle Position zu erhalten bzw. sekundären Deformitäten und Fehlstellungen entgegenzuwirken, erhalten die Kinder in Abhängigkeit von Lähmungsniveau und Gelenkbefund z. B. oberschenkelhohe Lagerungsschienen oder eine beckenübergreifende Lagerungsschale, die sie während der Schlafphasen tragen. In den Wachzeiten sind die Kinder in der Regel ohne diese Schienen, um nicht in ihrer Bewegungsfreiheit behindert zu sein. Bestehen bereits bei der Geburt Kontrakturen, beginnen wir zusätzlich zur Behandlung mit Lagerungsschienen in der Regel früh mit einer Dehnbehandlung. Bei einer Muskelimbalance, z. B. einer deutlichen Schwäche der Glutealmuskulatur, ist es wichtig, regelmäßig die Hüftgelenke daraufhin zu untersuchen, ob eine Dehnbehandlung erforderlich ist. Einen Muskel durch Dehnung zu verlängern, ist nur möglich,

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wenn noch elastische Muskelfasern vorhanden sind, d. h. wenn der Muskel noch ausreichend innerviert ist. Gelähmte Muskulatur verliert ihre Elastizität durch Umbau in Bindegewebe. Das Gleiche gilt für die elastischen Fasern funktionierender Muskeln, wenn keine physiologischen Gegenspieler vorhanden sind und sie somit nie gedehnt werden. Die Dehnung elastischer Fasern ist am besten an einem erwärmten Muskel möglich. Günstig ist es daher, die Behandlung unter einer Wärmelampe, nach einem Bad von 34–36° C Wassertemperatur oder nach dem Auflegen feuchtwarmer Tücher durchzuführen, was im Therapiealltag schwierig zu gewährleisten sein könnte. Ersatzweise ist das Erwärmen der Muskulatur durch manuelle Manipulationen möglich. Die Dehnung sollte langsam eingeleitet und etwa zehnmal 10–20 Sekunden lang gehalten werden. Wird ein Muskel sehr viel länger gedehnt, kann es zu einer Ischämie kommen, die bei gestörter Sensibilität nicht unbedingt schmerzhaft ist. Kontraindiziert ist jegliches Gegenspannen, weil Muskeln sich dann nicht verlängern, sondern kontrahieren, und man einen unerwünschten Trainingseffekt erzielt. Man muss also die Zeit abpassen, in der das Kind entspannt ist. Bei der Behandlung nichtinnervierter Muskulatur liegt der Schwerpunkt mehr auf einer Mobilisation der Gelenke. Ziel ist die Vermeidung von Bewegungseinschränkungen durch kapsuläre Kontrakturen, um möglichst günstige Voraussetzungen z. B. für die spätere Aufrichtung und die Pflege zu erhalten. Beim Hüftgelenk gibt es zwei Dinge zu beachten: – eine Dehnung des M. tensor fasciae latae über die Null-Stellung hinaus provoziert eine Lateralisierung des Hüftkopfes, – die medialen Kniebeuger können ebenfalls eine luxierende Wirkung haben, wenn bei der Behandlung zur Vorbeugung einer Kniebeugekontraktur die ischiokrurale Muskulatur nicht in Abduktionsstellung des Hüftgelenks gedehnt wird. Es ist günstig, die Dehnbehandlung in den Ablauf des regelmäßigen Fütterns, Wickelns und Badens einzubeziehen. Sie gehört dann zu diesem Kind und ist Teil seiner täglichen Pflege. Dehnbehandlung und Schienenversorgung erfolgen in der Absicht, einen Zustand zu erhalten, auch postoperativ, oder zu verbessern. Je nachdem wie stark das Muskelungleichgewicht ist, lassen sich häufig spätere Operationen dennoch nicht verhindern.

8.4.1.6 Motorische Entwicklung, Orthesen- bzw. Hilfsmittelversorgung 8.4.1.6.1 Bauchlage/Rückenlage Ein zentrales Thema des 1. Halbjahres ist die Frage, wie das Kind liegen sollte, wach und im Schlaf, in Rückenlage oder auf dem Bauch. Es spricht vieles dafür, Kinder, die sich noch nicht allein drehen, von Ausnahmen (z. B. Untersuchung) abgesehen, auch in der Therapie zunächst auf den Rücken auf eine gerade, feste Unterlage zu legen. Auf dem Rücken liegend kann das Kind dank der sicheren Auflage den Kopf frei bewegen. Es hat eine günstige Ausgangsstellung, um zunehmend länger Gesichter, seine Hände

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oder Gegenstände wahrzunehmen und ihnen mit den Augen und dem Kopf zu folgen. Die Rückenlage bietet Möglichkeiten, Hände und Arme in jedem Gelenk zu bewegen, das Kind kann mit Rumpf und Extremitäten in beinahe alle Richtungen und auf allen Bewegungsebenen aktiv sein. Es kann, wenn ihm die entsprechende Muskulatur geblieben ist, strampeln und seine Füße anfassen. Auf dem Rücken liegend kräftigt es seine Rumpfmuskulatur, die Wirbelsäule wird bewegt, sowohl durch die ausgreifender werdenden Bewegungen der Arme und, wenn möglich, der Beine, als auch durch Gleichgewichtsreaktionen, die das Kind ausführt. Ein früh in Bauchlage gebrachtes Kind braucht einen Großteil seiner Energie, um sich in dieser Lage zu stabilisieren, seinen Kopf abzuheben und zu halten. Aber auch Kinder, die sich bereits in die Bauchlage begeben oder am Boden fortbewegen können, drehen sich gerne auf den Rücken zurück, wenn sie einen Gegenstand ausgiebiger, intensiver begutachten möchten.

8.4.1.6.2 Robben oder Kriechen Häufig lernen die Kinder im 2. Lebenshalbjahr, jeweils einen Gegenstand in jede Hand zu nehmen, Spielzeuge fallen zu lassen, um sie sich wieder zu holen und auch Blickkonstanz mit einem Spielzeug zu halten, das sie nicht mehr berühren. Um den 1. Geburtstag herum können viele Kinder zwei oder mehrere Gegenstände zueinander stellen und z. B. Bausteine in Kisten oder Kästen legen. Sie beginnen zu abstrahieren und mehr und mehr den Raum zu begreifen. Das Interesse des Kindes geht jetzt zunehmend in Richtung Fortbewegung und Vertikalisierung. Es lernt, sich auf den Bauch zu drehen, beginnt sich in Bauchlage von der Stelle zu bewegen, meist zuerst um die eigene Achse, oft schiebt es sich rückwärts, später zieht es sich nach vorn. Bald kann es größere Entfernungen zurücklegen, wobei besonders thorakal gelähmte Kinder sich oft rollend vorwärts bewegen. Jetzt könnte eine Aufgabe sein, gemeinsam mit den Eltern zu überlegen, wie das Kind sein Zuhause gefahrlos und ohne unnötige Hindernisse entdecken kann. Hat es ausreichend Platz zur Verfügung, findet es ein ihm entsprechendes Bewegungsangebot und altersgerechtes, unterschiedliches Spielmaterial vor, so bekommt es im Alltag vielfältige Anregungen, kräftigt die vorhandene Muskulatur und entwickelt Bewegungs- und Handlungsstrategien, auch außerhalb der Therapiestunden. Als Ausgangspunkt der Fortbewegung kann man häufig das Robben und Kriechen beobachten. Manche Kinder ziehen sich nicht symmetrisch vorwärts, sondern verkürzen stets dieselbe Rumpfseite und/oder ziehen die Beine nicht gestreckt hinterher, sondern bringen ein Bein in Abduktion. Dies kann besonders bei asymmetrischen Läsionen der Fall sein. Mithilfe eines, je nach vorhandenem Material, entsprechend zusammengestellten Spiel- und Bewegungsangebots und einer korrigierenden Nachtlagerungsschiene, die die gefährdeten Gelenke umfasst, versuchen wir, Tendenzen zur Muskelverkürzung entgegenzuwirken.

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Wenn Kinder mit Sensibilitätsstörungen in der unteren Körperhälfte über den Boden kriechen oder krabbeln, kann es leicht zu Hautabschürfungen kommen oder, besonders bei Teppichboden, durch die Reibung zu Brandverletzungen. Ausreichender Schutz, z. B. in Form einer Strumpfhose, ist u. U. auch im Sommer vonnöten. An Öfen, Heizungen, Wärmflaschen oder im heißen Sand können sich die Kinder sehr schnell und unbemerkt schwere Verbrennungen zuziehen. Eine andere kritische Situation ist z. B. Krabbeln oder Laufen auf steinigem Untergrund. Geraten Fremdkörper zwischen Fuß und Schiene, kann es zu Drucknekrosen kommen, deren Heilung wegen der gestörten Trophik mitunter sehr langwierig ist. Es ist wichtig, die Eltern jetzt auf diese Dinge aufmerksam zu machen.

8.4.1.6.3 Krabbeln Kinder, deren Hüftbeuger ausreichend funktionieren, erforschen bald mithilfe des Krabbelns ihre weitere Umgebung, was jetzt auch in Richtung „nach oben“ interessant und möglich zu werden beginnt. Die Mobilität findet ihren Ausdruck in vielfältigen Positions- und Lageveränderungen im dreidimensionalen Raum. Das Nervensystem wird dabei verschiedenartig stimuliert; mithilfe der taktilen, propriozeptiven und vestibulären Wahrnehmungen entwickelt das Kind adäquate Anpassungsreaktionen an die Schwerkraft. Kinder mit Chiari-Malformation haben diskrete oder ganz augenscheinliche Probleme, ihre Haltung zu ändern oder beizubehalten oder mit der Feinabstimmung von Gleichgewicht und Zielmotorik. Außerdem sind alle Kinder mit einer Spina bifida läsionsabhängig beeinträchtigt in ihrer Oberflächen- und Tiefensensibilität. Wenn ein Kind nicht spüren kann, wie hoch eine Stufe ist, weil zwischen unten und oben in seinem Körper keine Kommunikation stattfindet, wird von ihm beim Überwinden der Stufe eine Abstraktionsleistung verlangt, zu der es zunächst nicht in der Lage ist. Aus diesem Grund ist es wichtig, krabbelnd räumliche Erfahrungen zu sammeln, z. B. das Abschätzen von Höhen zu lernen und dies auf sich bzw. seinen Körper zu beziehen. Das Kind kann versuchen, die Informationslücken zu schließen, wenn wir ihm Möglichkeiten bieten, den Abstand zwischen den Stufen über verschiedene Sinne zu erfahren (Abb. 8.40 und 8.41).

Abb. 8.40: Lumbal gelähmtes Kind transportiert beim Klettern Bausteine über die Stufen.

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Abb. 8.41: Visuelles Erleben des Raumes, von „Oben und Unten“, Verfolgen von Gegenständen.

Wenn Kinder beim Klettern über Stufen ihre Beine nicht bewegen können, ziehen sie sie hinterher. Sie verändern deren Position mit den Händen oder mithilfe der Schwerkraft. Lässt ein Kind mit hoher Läsion beim Herunterklettern seine Beine auf die nächste Stufe fallen, ist es bei erhöhter Frakturneigung wichtig das Kind daran zu erinnern, den Aufprall der Beine beim Abstieg durch Tempoverminderung oder entsprechende Bewegungen zu bremsen. Dies kann in der Therapie gemeinsam erprobt werden. Es ist hilfreich, vor dem Klettern etwas zu tun, um die Beine ins Blickfeld und Bewusstsein zu bringen, z. B. ein Spiel oder eine Massage. Dieses AufmerksamMachen auf die Beine kann bis weit ins 4. Lebensjahr nötig sein. Bereits im 1. Lebensjahr jedoch beginnt das Kind, sein Körperschema und sein Selbstbild zu entwickeln. Bei anderen Kindern zeigen sich Schwierigkeiten sich im Raum zu orientieren, sodass sie sich immer wieder den Kopf stoßen, wenn sie z. B. zwischen oder unter Möbeln krabbeln. Diese Kinder brauchen die Gelegenheit, Erfahrungen durch (häufige) Wiederholung zu vertiefen, evtl. leicht oder stärker abgewandelt und möglichst so, dass die Neugier erhalten bleibt. So wichtig auf der einen Seite das Krabbeln für die Raum- und die Selbstwahrnehmung ist, so problematisch ist es auf der anderen Seite aus einem anderen Blickwinkel. Ab Läsionshöhe S2 sind die Hüftstrecker teilweise geschwächt oder ganz gelähmt. Beim Krabbeln kräftigt das Kind die Hüftbeugemuskulatur, sodass das Ungleichgewicht zwischen Hüftbeugern und -streckern zunimmt, es droht eine Kontraktur. Besteht ein Ungleichgewicht zwischen Abduktoren und Adduktoren, steigt außerdem die Gefahr einer Hüftluxation, weil das Becken beim Krabbeln wegen der fehlenden Abduktoren instabil ist und bei jedem „Schritt“ abkippt. Aus diesen Gründen sehen wir es als gerechtfertigt an, als Vorbeugemaßnahme jetzt der Bewegungsentwicklung des Kindes vorzugreifen mit dem Ziel, möglichst günstige Voraussetzungen für das Stehen und Laufen zu erhalten. Unsere Intention und Hoffnung dabei ist, dem Kind Bewegungseinschränkungen zu ersparen, die nur durch Operationen wieder korrigiert werden können. Alternativ zum Krabbeln wird für eine gewisse Zeit des Tages das Stehen mit Orthesen angeboten, wobei jetzt aus Sicherheitsgründen vorübergehend ein Stehständer hilfreich und sinnvoll sein kann. Das Gleiche gilt für den Fall, dass ein Kind Interesse am Stehen zeigt, dies aber aufgrund der Paresen nicht selbst in die Tat umsetzen kann.

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Ist eine Operation nötig, z. B. zur Lösung von Kontrakturen, wählt man einerseits den Zeitpunkt günstigerweise so frühzeitig, dass das Kind nicht operationsbedingt am Stehen gehindert wird, und dass andererseits das jetzt mögliche korrigierte Stehen hilft, das Operationsergebnis zu erhalten.

8.4.1.6.4 Sitzen Kinder mit hohen Lähmungen kommen häufig erst weit nach dem 1. Geburtstag zum Sitzen, aber die Mehrzahl auch der thorakal gelähmten Kinder schafft dies früher oder später allein. Vorher, im 1. Lebensjahr, setzen wir die Kinder in der Therapie in der Regel nicht ohne Unterstützung hin, sondern arbeiten eher in vom Kind selbstständig einnehmbaren Ausgangsstellungen, bieten Therapiematerial zum Erlernen des Hinsetzens an. Oder wir arbeiten mit dem Kind in gehaltenen, gestützten Positionen, wenn es selbstständig auf dem Weg zum aktiven Hinsetzen nicht in einem tolerablen Zeitrahmen vorankommt und sein Interesse am Sitzen geweckt ist (Abb. 8.42).

Abb. 8.42: Im sicheren Sitz räumt das Kind unter Einsatz der Rumpfrotation Bälle von einer Seite zur anderen.

Wir beraten Eltern, was die Sitzposition beim Füttern, bei längeren Fahrten im Kinderwagen oder Auto betrifft, wobei der Rücken, auch durch den Einsatz entsprechender Hilfsmittel, immer gut gestützt sein soll. Der Druck, der auf Eltern lastet, bis ihr Kind sich endlich hinsetzen kann, ist mitunter sehr groß. Einige Eltern, auch die von Kindern mit niedrigeren lumbalen oder sakralen Lähmungen, äußern immer wieder Zweifel, ob es wohl je der Fall sein wird, ganz von allein. Dieser Druck ist gut verständlich, ist doch das Sitzen eine Entwicklungsleistung ihres Kindes, die von großer Bedeutung ist, wenn man in die Zukunft denkt, nach der von vielen Seiten gefragt und mit Kindern ähnlichen Alters verglichen wird. Ein Kind, das sich nicht allein hinsetzen kann, kann von hier aus auch keine Positionsveränderungen vornehmen. Es muss erneut hingesetzt werden, wenn es umkippt und wird so, überflüssigerweise, noch abhängiger von Hilfe. Außerdem birgt frühes passives Hinsetzen die Gefahr der Begünstigung weiterer Wirbelsäulenfehlhaltungen, wenn die Rumpfmuskulatur noch nicht genügend Stabilität bietet.

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Unsicherheit im Sitzen wird dazu führen, dass ein Kind sich über die ihm zur Verfügung stehende Muskulatur zu stabilisieren versucht. Spannt es dabei die Hüftbeuger und Adduktoren an bei geschwächten und nichtaktiven Antagonisten, fördert dies die Dezentrierung der Hüftköpfe. Thorakal gelähmte Kinder lernen nur in Einzelfällen ganz frei zu sitzen. Sie brauchen eine Hand zum Stützen, die dann u. U. schnell als „Stützhand“ verinnerlicht wird und nicht mehr zum beidhändigen Hantieren zur Verfügung steht. Manche schaffen sich eine kombinierte „Stütz-Spielhand“, indem sie sich mit dorsaler Handwurzel und Handgelenk auf einen Oberschenkel stützen und so die Finger auch dieser Hand zum Greifen frei haben, oder sie legen den Rumpf nach vorn auf den Oberschenkeln ab. Das Kind kann die Hand-Augen-Koordination, die es beidhändig begonnen hat und die kognitive Entwicklung aber nur dann beidhändig fortsetzen, wenn es keine Stützhand braucht. Zu Beginn des Sitzens oder des Interesses daran schlagen wir deshalb ein nach Gipsabdruck gefertigtes Sitzkorsett vor. Wenn bei einem Kind eine deutliche Diskrepanz vorliegt zwischen seinem Interesse an der Aufrichtung und seinen eigenen Fähigkeiten, dies umzusetzen, bekommt es eine Sitzmöglichkeit zur Verfügung gestellt, beispielsweise bietet eine Sitzschale mit höhenverstellbarem Untergestell variable Sitz- oder evtl. Liegepositionen. Wichtig ist, dass es nicht zu einem Konflikt zwischen Stabilität und Mobilität kommt; die Hilfsmittel sind für zeitlich begrenzte Situationen (Essen, Spielen am Tisch usw.) gedacht.

8.4.1.6.5 Stehen Je mehr das Kind in die Senkrechte strebt, desto deutlicher treten die Folgen des muskulären Ungleichgewichts zutage. Wenn es kann, wird es versuchen, sich zum Stehen hochzuziehen. Die Belastung führt, in Abhängigkeit von der Höhe der Lähmungen, zu unphysiologischen und u. U. auch deformierenden Beinachsen- oder Gelenkstellungen. Um dies zu verhindern, und einen physiologischen Wachstumsreiz auf die Knochen zu geben, werden entsprechende Orthesen angepasst. Es ist wichtig, hierfür den richtigen Zeitpunkt zu wählen. Wie schon angeführt gibt es gute Gründe, das Kind frühzeitig mit Stehorthesen zu versorgen (Abb. 8.43). Man muss jedoch bedenken, dass ein zu frühes Hinstellen, bevor es seinem Interesse entspricht und bevor es mit und in dieser Position etwas Sinnvolles anfängt, das Kind verunsichern kann. Bekommt es andererseits keine Orthesen und schafft deshalb den Entwicklungsschritt zum Stand nicht, erlebt es dieses Scheitern zu einem Zeitpunkt, an dem Interesse und Neugier in Richtung Vertikalisation am stärksten ausgeprägt sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass die Schienen nicht mehr gut akzeptiert und als hinderlich, als Fremdkörper empfunden werden, ist sehr hoch, wenn die Erstversorgung lange nach dieser Phase stattfindet, in der also wiederum aufmerksames

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Abb. 8.43: Erstanprobe einer Salera-Gehorthese bei gesichertem Stand zwischen Kästen.

Beobachten der kindlichen Entwicklung wichtig ist, ebenso wie eine gute Kommunikation zwischen den beteiligten professionellen Disziplinen. Beckenhohe Orthesen sind anfänglich meist ohne Kniegelenke konzipiert. Bei ausreichender Kraft des M. quadriceps femoris können Oberschenkelschienen gleich mit freien Kniegelenken versehen sein und haben den Vorteil, dass sie auch beim Krabbeln getragen werden können (s. Kap. 8.3). Im Stehtisch oder auch in der Schwenklaufhilfe ist eine gute Hüftstreckung angestrebt. Die Beine und Füße sollten achsengerecht stehen, allerdings in leichter Abduktionsstellung der Hüftgelenke. Kopf, Arme und Hände sind auf diese Weise entspannt und frei beweglich. Der Rumpf ist auch in Richtung Rotation mobil. Ein Therapieschwerpunkt könnte sein, dem Kind den Abstand zum Boden nachvollziehbar zu machen, vor allem, wenn es keinen langsamen, stufenweisen Übergang zum Stand hatte. Wir sehen, wie und womit das Kind im Stand spielt, wie es sich bewegt und kommuniziert und wann der richtige Zeitpunkt gekommen ist, den Stehtisch nach und nach zu verlassen und mit dem Stehen am Tisch, Kasten oder an der Couch zu beginnen.

Literatur [1] [2]

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Antje Niemeyer 8.4.2 Behandlung vom 2. bis 4. Lebensjahr 8.4.2.1 Grundfragen, Therapieplanung und Therapieziele Zwischen dem 1. und 2. Lebensjahr kann keine klare Trennung gemacht werden, weil es individuell sehr unterschiedlich ist, wie die Entwicklung verläuft. Um sicherzugehen, Veränderungen der Bedürfnisse zeitgerecht einbeziehen zu können, wird im Verlauf immer wieder die Gesamtsituation des Kindes analysiert und überprüft. Gemäß ICF [1] ergeben sich einige konkrete Grundfragen für die Therapie.

8.4.2.1.1 Grundfragen Da in der Therapie motivationsorientiert vorgegangen wird, ist es wichtig, die Antworten auf die folgenden Grundfragen durch genaues Beobachten und durch das Gespräch mit den Eltern zu finden. – In welcher Entwicklungsphase befindet sich das Kind gerade? – Was kann das Kind? – Welche Interessen sind ersichtlich? – Wie könnte der nächste Entwicklungsschritt aussehen? – Welche Unterstützung braucht das Kind? So entsteht mithilfe der Verlaufsbefunde die Basis für die Therapieplanung und die Möglichkeit, dem Kind die entsprechende Unterstützung zum richtigen Zeitpunkt anbieten zu können, d. h. auch den nächsten Entwicklungsschritt gedanklich im Kopf zu haben und dem Kind adäquate Angebote in Spiel und Bewegung zu machen.

8.4.2.1.2 Therapieplanung Für die Persönlichkeitsentwicklung ist es von großer Bedeutung, dass das Kind nicht ständig gemaßregelt und unter Druck gesetzt wird. In der Therapiestunde wird deshalb sehr darauf geachtet, die natürliche Entwicklung nicht durch eingreifende Maßnahmen zu stören. Aufgabe des Therapeuten ist es vielmehr, das Kind einfühlsam durch altersgerechte Aufgaben zu fördern und die Lust an Bewegung zu stimulieren ohne zu überfordern (s. Kap. 8.4.1). Die eigentliche „Übungsarbeit“ leistet das Kind allein im Alltag. In der Regel haben die Eltern inzwischen mehr Vertrauen in die selbstständige Bewegungsentwicklung ihres Kindes als in seinem 1. Lebensjahr. Sie werden kontinuierlich mit in die Planung einbezogen, sie können Fragen stellen und bekommen so die Möglichkeit, die für Laien oft schwer verständlichen Therapieschritte nachzuvollziehen und ihre Bedürfnisse einzubringen. Sie werden darauf aufmerksam gemacht, was ihr Kind bereits selbstständig gelernt hat. Mit zunehmendem Alter des Kindes ist es sinnvoll, Therapie und Elterngespräche zu trennen. In der Therapiestunde werden dann nur Gespräche geführt, in die das Kind einbezogen wird und die es verstehen kann. Es

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soll sich nicht als Untersuchungs- oder Therapieobjekt erleben, sondern als Person, die Respekt erfährt.

8.4.2.1.3 Therapieziele Während der gesamten Physiotherapiezeit spielen folgende Therapiehauptziele eine wegweisende Rolle: – Kennenlernen und Ausschöpfen der Bewegungsmöglichkeiten und Kompensationen, – Selbstständigkeit im Alltag und – soziale Integration. In der regelmäßigen interdisziplinären Sprechstunde und in der Therapie werden Verlaufsbefunde erhoben und dann weitere Schritte geplant. Gemeinsam wird geklärt, welche Hilfe und Unterstützung das Kind in Bezug auf seine individuellen Bedürfnisse in der nächsten Zeit braucht. Es wird festgestellt, ob die zuvor festgelegten Therapieziele noch zutreffen oder ob sie evtl. verändert werden müssen. Überprüft wird, wie viel Therapie momentan nötig und zumutbar ist. In bestimmten Phasen ist evtl. ein intensiveres Intervall ratsam. Anlass hierfür könnte z. B. die Zeit des Laufenlernens mit Orthesen, eine postoperative Phase oder auch eine Änderung an der Orthese sein. Es ist aber auch möglich, dass die Abstände zwischen den Therapieeinheiten vergrößert werden können. Dies trifft dann zu, wenn das Kind gut versorgt ist, wenig therapeutische Unterstützung braucht und weitgehend selbstständig in dem gemeinsam geschaffenen Rahmen das ausprobieren kann, was es für den nächsten Entwicklungsschritt braucht. Dann ist Beobachtung und Kontrolle in größeren Abständen meist auch ausreichend.

8.4.2.2 Therapieschwerpunkte 8.4.2.2.1 Raumerfahrung In der Zeit vom 2. bis zum 4. Lebensjahr liegt der entwicklungsneurologisch günstigste Zeitpunkt, um das Stehen und Gehen zu erlernen, weil Interesse und Motivation daran in dieser Zeit besonders ausgeprägt sind. Das Vorwärtskommen in der Vertikalen und die kognitive Entwicklung stehen zunehmend im Vordergrund. Das Kind beginnt, Dinge zu sammeln und eine logische Planung mehr und mehr mit ins Spiel einzubauen [2]. Hieraus und aus dem Drang, den Raum in horizontaler und vertikaler Ebene zu erforschen, ergibt sich die Motivation als Motor für die weitere Bewegungsentwicklung und als Leitfaden der Physiotherapie [3].

8.4.2.2.2 Muskelimbalance, Sensibilitätsstörungen und mögliche Kompensationen Die Muskelimbalance tritt mehr in den Vordergrund. Dies zeigt sich z. B. in Balanceschwierigkeiten beim Klettern, Aufrichten, Stehen und Laufen. Schwierig für das Kind

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ist die Zeit, in der es lernen soll, mit Orthesen zu krabbeln und zu klettern, um sie in das Körperschema zu integrieren. In dieser Phase ist es möglich, dass die Orthesen, anders als zum Stehen und Laufen, zunächst als hinderlich empfunden werden. Wenn Mobilität und Art der Orthesen es zulassen, ist es wichtig, dass das Kind so früh wie möglich den Umgang mit ihnen beim Krabbeln und Klettern erlernt, weil es sich damit neue Möglichkeiten im Alltag eröffnet und die Schienen nicht ständig an- und ausziehen muss. Mittels gezielter Raumgestaltung wie z. B. unterschiedlichen Kletterangeboten kann das Kind in der Physiotherapie lernen, an Gegenstände zu gelangen, die es interessieren und die sich in verschiedenen erreichbaren Höhen befinden. Es lernt, ihm gestellte Aufgaben selbstständig zu lösen. Dabei sammelt es elementare Erfahrungen im Raum mit Balance, Gewichtsverlagerung und dem Einschätzen von Entfernungen, Höhen und Tiefen. Es entsteht ein Prozess über mehrere Jahre, in dem gelernt wird, mit Unsicherheiten umzugehen und Defizite zu kompensieren. Kinder mit lumbalen und thorakalen Lähmungen brauchen am Anfang beim Klettern Unterstützung, weil sie aufgrund von fehlenden Hüftstreckern, Übergewicht von Kopf und Rumpf und Störungen in Oberflächen- und Tiefensensibilität häufiger stürzen können [4]. Sie krabbeln oft bis ins 4./5. Lebensjahr vorzugsweise vorwärts Stufen hinunter, um auch visuelle Sicherheit zu bekommen. Manche Kinder klettern zunächst nur so hoch, wie sie ihren Körper spüren können.

8.4.2.2.3 Prophylaxe von Kontrakturen, Skoliose und anderen Fehlstellungen Weitere Bestandteile der Physiotherapie sind die Prophylaxe, das Beobachten und Behandeln von sich entwickelnden sekundären Deformitäten, Fehlstellungen, Muskelund Gelenkkontrakturen und Wirbelsäulenveränderungen. Je nachdem wie lange die Kinder ihre dynamischen oder auch Lagerungsschienen täglich tragen, konnten wir feststellen, dass die Schienen im Zusammenhang mit der Aufrichtung oft effektiver sind als eine manuelle Dehnung. Dies ist besonders im Fuß- und Hüftgelenksbereich der Fall. Es ist ratsam, auch auf geringste Muskelverkürzungen das Augenmerk zu richten und zu versuchen, sie im Zweifel zusätzlich mit manuellen Dehnungen zu beeinflussen. Wenn es trotz verschiedenster Maßnahmen zur Verschlechterung kommt, wird mit Kinderarzt und Orthopäde überlegt, ob eine operative Maßnahme indiziert ist. Insbesondere die Entwicklung von asymmetrischen Kontrakturen und Fehlstellungen können Auswirkungen auf Becken und Wirbelsäule haben.

8.4.2.2.4 Skolioseprophylaxe Der Entwicklung lähmungsbedingter Skoliosen wird versucht prophylaktisch entgegenzuwirken. Es wird zwischen Kindern unterschieden, die frei gehen können, nicht zum freien Gehen oder gar nicht zum Gehen kommen. Bei Kindern, die gehen, ist das symmetrische Frontalpendel von Bedeutung. Dieses kann bei der Orthesenanpassung und beim Gehtraining beeinflusst werden. Wenn die lähmungsbedingten Aus-

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fälle und damit oft auch die Orthesenversorgung asymmetrisch sind, ist es schwieriger, ein symmetrisches Frontalpendel zu erlernen. Besonders die schwächere Seite sollte ausreichend stabilisiert werden. Die meisten Kinder, die nicht zum freien Laufen kommen, werden durch das Becken- oder Korsettteil der Orthese stabilisiert. Für alle drei Gruppen ist es wichtig, eine gute Sitzposition zu erreichen. Das heißt, Stuhl, Rollstuhl, Buggy, Kindersportwagen, Autositz usw. sollten möglichst in Breite, Sitztiefe und Höhe passgerecht und nicht auf Zuwachs ausgerichtet sein. Außerdem ist eine feste Sitzplatte günstig (s. Kap. 8.3.5). Bei den beiden Gruppen, die nicht zum freien Gehen oder gar nicht zum Gehen kommen, werden auch equilibrierende Korsette (nichtkorrigierende Korsette) mit oder ohne Sitzteil zur Stabilisierung verwendet (s. Kap. 8.3.4). Bei Kindern, die mit beckenübergreifenden Orthesen versorgt worden sind und diese auch zum Sitzen benutzen, erübrigt sich die Korsettversorgung. Autositze oder sog. Babywippen eignen sich für bestimmte Situationen, aber nicht zur Dauerlagerung, weil die Kinder sich nur sehr begrenzt bewegen können und in eine Fehlhaltung sinken. Ein weiteres Risiko ist das zu frühe Hinsetzen der Kinder und der zu frühe Gebrauch von Tragesitzen, weil die Rumpfmuskulatur noch nicht genügend stabilisiert ist. Wenn diese Punkte berücksichtigt werden und eine normale Bewegungsmotivation vorhanden ist, reicht in der Regel die Arbeit der Rumpfmuskulatur im Rahmen der täglichen Aktivitäten zur Kräftigung aus. Zusätzliche therapeutische Maßnahmen zur Kräftigung und Mobilisation bringen dann erfahrungsgemäß in diesem Alter keinen entscheidenden Gewinn. Wenn knöcherne Fehlbildungen oder neurologische Probleme als Ursache hinzukommen, kann meist, wenn überhaupt, nur operativ eine Progredienz verhindert werden [5] (s. Kap. 8.2.5).

8.4.2.2.5 Orthesen- und Hilfsmittelhandhabung, Anpassung, Kontrolle und Beratung Ein weiterer Schwerpunkt ist die Orthesen- und Hilfsmittelhandhabung. Im Hinblick auf das wachsende Selbstständigkeitsbedürfnis und die Übernahme von Eigenverantwortung ist es sinnvoll, das Kind von Anfang an nicht nur bei der Pflege, sondern auch beim An- und Ausziehen der Kleidung und An- und Ablegen der Orthesen einzubeziehen. Dies geschieht zunächst über begleitende Kommunikation. Auch die Wiederholungen der Abläufe geben dem Kind früh die Chance, durch zunehmendes Verständnis aktiv mitzuwirken und die Orthesen als Teil seiner selbst wahrzunehmen und zu akzeptieren. Es gibt Kinder mit thorakalen Lähmungen, die im Schulalter dann in Lage sind, ihre reziproke Gehorthese selbstständig anzulegen. Als Voraussetzung für das anschließende Gehtraining und das Üben der Orthesenhandhabung ist es erforderlich, über Funktion und Passform der Orthese informiert zu sein. Physiotherapeuten sehen das Kind meist am häufigsten und sind deshalb in der Lage, Veränderungen wie Wachstum oder Defekte an der Orthese so früh wie möglich zu registrieren und

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weiterzuleiten sowie Eltern und Kinder darin anzuleiten worauf sie achten müssen. Die in der Tab. 8.5 angeführten Fragen können dabei als Anhaltspunkte dienen. Tab. 8.5: Fragen zur Orthesenversorgung. Frage

Hinweis

Frage 1: Ist die Passform korrekt?

Es darf keine Druckstellen geben. Beim beckenhohen Apparat darf kein Druck auf dem Beckenkamm lasten, auch nicht im Sitzen.

Frage 2: Stimmen die Positionen der Gelenkachsen und das Gelenkspiel? Frage 3: Lassen sich die mechanischen Gelenke ggf. gut öffnen und schließen? Frage 4: Sind Kontrakturen und Deformitäten berücksichtigt?

Mit dynamischen Schienen kann keine Korrektur von Kontrakturen durchgeführt werden! Die Schiene muss sich nach den anatomischen Gegebenheiten richten, d. h., der Gelenkaufbau richtet sich nach dem Gelenk mit der größten Bewegungseinschränkung.

Frage 5: Kann das Kind mit der Orthese gut sitzen? Frage 6: Ist ein freies Stehen und Stehenbleiben möglich?

In jeder dynamischen Orthese sollte das Kind frei stehen können. Man kann überprüfen, ob der Körperschwerpunkt im Lot liegt. Das Lot läuft vom Trochanter major hinter der Kniegelenkachse entlang bis dicht vor das obere Sprunggelenk.

Frage 7: Wie sieht das Gangbild aus?

Das Frontalpendel sollte möglichst symmetrisch sein!

8.4.2.2.6 Hilfsmittel Aufgabe der Physiotherapie ist sicherzustellen, dass benötigte Hilfsmittel zeitgerecht zur Verfügung stehen und der Umgang mit ihnen vermittelt wird. Wartezeiten für Kostenübernahmen und Bestellungen sollten so weit wie möglich für den Zeitpunkt der Antragstellung einkalkuliert werden. Weitere Hilfsmittel, die beim Laufen Verwendung finden, sind Rollatoren, Vierpunkt- und Handstützen in den verschiedensten Varianten. Die Stützen sollten einen anatomischen Handgriff haben und höhenverstellbar sein. Einpunktstützen mit Unterarmführung sind in der Regel ungeeignet, weil die Kinder nicht mehr im Frontalpendel laufen können und somit gezwungen sind, in Hüftbeugung (Kontrakturgefahr) und einem Gangbild zu laufen, bei dem sehr viel Gewicht auf die Arme gegeben wird. Die Aktivität der Rumpfmuskulatur, insbesondere die Beckenelevation durch den M. quadratus lumborum wird blockiert. Die Höheneinstellung der Gehhilfen sollte mit Ausnahme bei reziproken Apparaten (dort um 80°) immer einen Winkel von etwa 90° im Ellbogen ergeben, damit sich das Kind nur festzuhalten braucht. Bei zu niedriger Einstellung stützt es sich zu sehr auf die Gehhilfe, bei zu hoher Einstellung zieht es sich über die Arme vorwärts. Es gilt, das Stützgewicht der Arme so gering wie möglich zu halten, um eventuelle spätere Überlastungsschäden der oberen Extremitäten

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zu vermeiden. Manche Kinder schieben auch gern einen Holzschiebewagen. Er ist kippstabil und eignet sich auch als Puppenwagen oder um ein anderes Kind zu schieben.

8.4.2.2.7 Laufen lernen mit Orthesen Ziel ist es, dem Kind die Kompetenz zu vermitteln, die es ihm langfristig ermöglicht selbst zu entscheiden, ob es laufen möchte. Dafür müssen wir ihm rechtzeitig die Möglichkeit anbieten, sich mit dem Stehen und Gehen auseinanderzusetzen. Ob es Gefallen oder Gewinn daraus zieht, zeigt es uns meist sofort. Auch Kinder, die hingestellt werden, geben eindeutige Signale, ob und wann sie diesen Weg beschreiten wollen. Hier beginnt das „Gehtraining“. Eigentlich trainiert das Kind sich selbst. Wir sind ihm behilflich durch Anleitung, Motivation und Unterstützung. Kinder mit Lähmungshöhen S2–L3 laufen im Frontalpendelgang. Durch Verkürzung des M. quadriceps und Seitneigung des Rumpfes auf der Standbeinseite wird das Spielbein bei Anhebung des Beckens durch den M. quadratus lumborum und den M. iliopsoas zum Schritt nach vorn geschwungen.

8.4.2.2.8 Laufen lernen mit Unterschenkelschienen Kinder mit S2/S3-Lähmungen sind, wenn sie mit orthopädischen Schuhen oder Unterschenkelschienen versorgt werden, meist in der Lage, den Schritt der Vertikalisierung und des Laufens selbstständig ohne viel Hilfe zu beschreiten. Die Aufgabe der Physiotherapie besteht darin, das Kind zu begleiten und ihm ggf. durch räumliche Anpassung der Umgebung Bewegungsmöglichkeiten und Sicherheit zu geben. Wenn es seine Möglichkeiten der Kompensation nicht selbst entdeckt und ausschöpft, leiten wir es z. B. bei der Rückverlagerung des Rumpfes oder beim Erlernen des Frontalpendelganges an.

8.4.2.2.9 Laufen lernen mit Oberschenkelschienen und beckenhohem 3D-Apparat Oberschenkelhoch oder beckenhoch versorgte Kinder brauchen meist mehr Anleitung und Unterstützung. Es sind Kinder mit Lähmungen oberhalb S1–L2. Die Kinder mit Lähmungen ab L4 benötigen einen Rollator oder Gehstützen zum Laufen. Kinder mit S1- und L5-Lähmungen und Beugekontrakturen an Knien und Hüften brauchen ebenfalls einen Rollator oder Stützen.

8.4.2.2.10 Aufbau des Gehtrainings Der Aufbau des Gehtrainings ist bei Kindern mit Oberschenkelschienen und beckenhohen Orthesen mit 3D-Gelenk weitgehend identisch. Es besteht aus mehreren Phasen, in deren Verlauf die Dynamik immer mehr an Bedeutung gewinnt. Hilfsmittel, die zum Einsatz kommen sind z. B. Stehtisch, Barren und Möbel in passender Höhe, Rollatoren und Gehstützen (Tab. 8.6).

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Tab. 8.6: Beispiel für den Aufbau der Gangschule. 1. Phase

Stehen am Stehtisch (evtl. fixiert)

2. Phase

Stehen im begrenzten Raum

3. Phase

Stehen mit reduzierter Raumbegrenzung

4. Phase

seitliche Schritte an Möbeln entlang

5. Phase

Vorwärtsgehen im seitlich begrenzten Raum

6. Phase

7. Phase 8. Phase

S1- bis L5-Lähmungen

L4- bis L2-Lähmungen

freies Laufen von Stützpunkt zu Stützpunkt

Schieben von Gehhilfen

freies Laufen

Schieben von beweglichen Gehhilfen Laufen mit Stützen

Das Gehtraining richtet sich nach Lähmungsniveau bzw. motorischen Voraussetzungen und Art der Orthese. In der 1. Phase, wenn das Kind am Stehtisch steht und mit Gurten fixiert ist, kann es sich zunächst an die neue Ebene gewöhnen, was besonders für Kinder wichtig ist, die sich nicht selbstständig aufrichten können. Beide Hände sind hier zum Spielen frei und der neue Blickwinkel kann mit einem sicheren Gefühl erforscht werden. Sobald sich das Kind an das Stehen gewöhnt hat und sich dabei wohlfühlt, kann man zur 2. Phase, dem freien Stehen im begrenzten Raum, übergehen. Der begrenzte Raum kann z. B. mit Möbeln gestaltet werden, die rings um das Kind postiert werden (Abb. 8.44). Hier finden die ersten, noch statischen Balanceübungen statt. Das Kind lernt, seinen Körperschwerpunkt im Stand zu finden und die Rumpfrotation einzusetzen, um wahrzunehmen, was sich neben und hinter ihm befindet. Es kann spielen und alles

Abb. 8.44: Im sicheren Stand zwischen den Kästen probiert das Kind beim Spiel seine Bewegungsmöglichkeiten aus.

8.4 Physiotherapie |

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ausprobieren, was im Stand möglich ist. Auch die ersten Schritte können erfolgen. Parallel zum Stand finden in dieser Phase schon Fallübungen nach vorn und zur Seite auf eine weiche Matte statt, damit ein Verhältnis zum Bodenabstand entstehen kann. Dies gilt vor allem für Kinder, die sich nicht selbstständig aufrichten können. Sobald das Kind sicherer wirkt, kann man zur 3. Phase übergehen, dem freien Stehen mit reduzierter Raumbegrenzung. Das kann z. B. ein einzelner Tisch sein. In der folgenden 4. Phase (die aber nicht für reziproke Apparate gilt) wird das seitliche Gehen an festen Möbeln geübt. Sie sollten die richtige Höhe haben (90° Ellbogenbeuge). Durch die Seitwärtsschritte wird der Einsatz des M. quadratus lumborum geübt. Das Üben der Seitwärtsschritte dient als Vorbereitung auf das Frontalpendel beim Vorwärtslaufen. Viele Kinder brauchen hierbei die passive Führung durch die Therapeutin, den Therapeuten und die Eltern, bis sie den Ablauf der Bewegung aufgenommen haben. Wenn es trotzdem nicht möglich ist, kann dennoch in die nächste Phase übergegangen werden, indem das Kind beim Vorwärtsgehen geführt wird. Die 5. Phase, das Vorwärtsgehen, wird wieder in einem begrenzten Raum begonnen (Abb. 8.45). Hierzu kann z. B. ein Gang aus Holzkästen dienen, der so schmal ist, dass das Kind mit den Händen beide Seiten gut erreichen kann, um sich festzuhalten. Jetzt übt es auch das Kombinieren von Vorwärts-, Rückwärts- und Seitwärtsschritten im Spiel. Das Kind lernt selbstständig seinen Körperschwerpunkt beim Vorwärtslaufen zu finden und sich umzudrehen, um auch einmal in eine andere Richtung zu laufen. Auch diese Phase wird ins Spiel integriert. In der Regel zeigt uns das Kind, wenn es bereit ist, diesen begrenzten Raum zu verlassen. Vorher sollte es auf jeden Fall mit der Funktion der jeweiligen Orthese und der damit verbundenen Schritttechnik vertraut sein. Es möchte nun Dinge erreichen, die neu in sein Blickfeld gerückt sind.

Abb. 8.45: Im Kastengang können die ersten Schritte erfolgen.

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In der 6. Phase trennen sich die Aufbauten für die Gangschule. Kinder mit S1- bis L5-Lähmungen lernen die ersten freien Schritte von Stützpunkt zu Stützpunkt. Wir versuchen, ohne Hilfsmittel auszukommen, wenn freies Laufen prognostiziert ist. Mit einem Rollator verlagert sich der Körperschwerpunkt nach vorn. Später ist es beim freien Laufen schwierig, den richtigen Körperschwerpunkt wieder zu finden. Die Wegstrecken zwischen den Stützpunkten werden immer länger, bis die Kinder dann in der 7. Phase gelernt haben, frei zu laufen. In der 6. Phase steht bei Kindern mit L4- bis L2-Lähmungen das Schieben von Gehhilfen (Abb. 8.46) im Vordergrund. Man kann z. B. auch einen Stuhl zum Schieben anbieten. Eine Steigerung wäre dann der Holzschiebewagen mit angezogenen Bremsen. Dann folgt ein Rollator mit vier Rädern. Günstig ist es wenn er höhenverstellbar ist und über einstellbare Schleifbremsen sowie vorn feststellbare Lenkräder verfügt, damit er den Fähigkeiten und Bedürfnissen des Kindes angepasst werden kann. Bei Retrorollatoren ist zusätzlich eine Breitenverstellbarkeit sinnvoll, damit genügend Platz für die seitliche Gewichtsverlagerung vorhanden ist. Interessant ist es, wenn ein Körbchen an den Rollator angebracht und die Möglichkeit gegeben ist, Spielzeug zu transportieren. Tische mit Spielzeug können als Anlaufstationen dienen. Für Kinder mit einer beckenhohen Versorgung ist das Bücken zu diesem Zeitpunkt nur sehr begrenzt möglich, ebenso für Kinder mit oberschenkelhohen Orthesen, die keine frei beweglichen Kniegelenke an der Orthese haben.

Abb. 8.46: Integration des Rollators in spielerische Aktivitäten.

In der 7. Phase ist das Kind schon in der Lage, beweglichere Gehhilfen zu schieben. Der vorhandene Rollator kann durch Entriegeln der Lenkräder angepasst werden. Manchmal ist es sinnvoll, zunächst die Schleifbremsen weiter zu nutzen, damit der Rollator nicht nach vorn wegrollt. Die Ausdauer erhöht sich beträchtlich, wenn das Kind es schafft, ohne Schleifbremsen und mit frei beweglichen Lenkrädern mit reduziertem Kraftaufwand zu gehen. Sehr bald kann auch eine Erweiterung des Aktionsradius durch das Laufen auf unebenem Boden im Freien erfolgen. Im Alter von 4–5 Jahren können die Kinder versuchen, im Kreuzgang an Stützen zu laufen. Man beginnt zunächst mit Vierpunkt- oder Dreipunkt-Handstützen. Eine Steigerung wären dann die Einpunkt-Handstützen. Manche Kinder benutzen die Stüt-

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zen nur für bestimmte Situationen, weil sie z. B. den Vorteil haben, dass sie leichter mit dem Rollstuhl transportiert werden können. Die Hilfsmittel sollten immer zur Verfügung stehen, damit sie zu Hause, im Kindergarten oder unterwegs selbstständig eingesetzt werden können.

8.4.2.2.11 Gehtraining mit reziprokem Gehapparat Das Gehtraining mit reziproken Orthesen (RGO/Twister) gestaltet sich im Aufbau ähnlich wie mit der beckenhohen 3D-Orthese und den Oberschenkelorthesen, unterscheidet sich aber in einigen wesentlichen Punkten durch Funktion und Einsatzbereich. Da bei Lähmungsniveau L2 und höher mit dieser Orthese die Arme nicht nur zum Festhalten, sondern auch zum Stützen bzw. Hochdrücken des Rumpfes und damit zum Regulieren der Schrittlänge eingesetzt werden müssen, ist eine ausreichende Armkraft und der Einsatz des M. latissimus dorsi erforderlich. Dies ist auch der Grund, warum Hilfsmittel wie Gehgestelle, Rollatoren, Stützen etc. in einem Ellbogenwinkel von 80° eingestellt werden müssen. Das Kind wird vor dem Gehtraining gut auf die Vertikalisierung und die ungewohnte Bewegung in der Diagonalen mit der Orthese vorbereitet. Manche Kinder mit hohen Läsionen und weiteren neurologischen Problemen werden den Apparat u. U. für längere Zeit nur zum Stehen einsetzen. Die reziproke Orthese kann zum Stehen, Laufen, Robben, Kniestand und nach Entriegelung auch zum Sitzen genutzt werden, nicht aber zum Krabbeln und Klettern. Außer der diagonalen Gewichtsverlagerung laufen die Kinder mit dem Sagittalpendel. Das Rückwärtslaufen ist möglich, Seitwärtsschritte dagegen nicht. Es hat sich als günstig erwiesen, das Gehtraining mit diesem Apparat nach dem Stehen im Barren weiter durchzuführen, weil dort gute Möglichkeiten zum Festhalten sind.

8.4.2.2.12 Handhabung der Orthese im Alltag Zusätzlich zum Gehtraining werden gemeinsam Bewegungsübergänge ausprobiert und geübt, die situationsabhängig im Alltag gebraucht werden. Die Kinder lernen, wie sie Hilfsmittel, Rollatoren und Stützen auch für diese Situationen nutzen und Übergänge vom Liegen zum Knien, Sitzen, Stehen sowie das Aufheben von Gegenständen am Boden und Treppensteigen möglichst ohne helfende Hand durchführen können. Es spielen neben motorischen und technischen Möglichkeiten vor allem auch Mut und Erfindungsreichtum eine Rolle. Mit beckenhohen Apparaten versorgte Kinder lernen das Öffnen und Schließen der Gelenke in dafür geeigneten sicheren Positionen (z. B. Hüftgelenke mit Preselect-Funktion). Eine Lösung wäre beispielsweise, den Rollator beim Aufstehen vor eine Wand zu schieben oder die Bremsen festzustellen. Bordsteine, Türschwellen und Treppenstufen zu überwinden gehört zum Programm. Obwohl ökonomisch mit wenig Kraftaufwand vorgegangen wird, sind eine gute Armkraft und Rumpfstabilität immer günstig. Bei aller Konzentration auf die Gelenkpflege der unteren Extremitäten sollten auch die Gelenke der oberen

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Extremitäten so ökonomisch wie möglich belastet werden, damit sie der dauerhaften Belastung standhalten. Zugunsten der Grobmotorik gerät manchmal die Feinmotorik der Hände aus dem Blickwinkel. Kinder, die einen Rollstuhl fahren, können lernen diesen in Kombination mit den Orthesen zu nutzen (Abb. 8.47). Das An- und Ablegen der Orthese wird, wenn möglich, selbstständig übernommen, sobald die Kinder beginnen, sich an- und auszuziehen. Sie werden von Beginn an aktiv daran beteiligt. Je früher diese Handhabung erlernt wird, desto selbstverständlicher ist sie, und der Nutzen der Orthese wird größer.

Abb. 8.47: Das selbstständige Ein- und Aussteigen aus dem Rollstuhl kann auch mit beckenhohen Orthesen erlernt werden.

8.4.2.2.13 Umgang mit Rollstuhl und alternativen Fortbewegungsmitteln Es ist sinnvoll, den Rollstuhl bei Kindern mit Spina bifida früh anzubieten. Der Zeitpunkt kann bei Kindern mit thorakalen Lähmungen etwa parallel zur Versorgung mit dem Gehapparat liegen oder wie bei den anderen Kindern, wenn sie den sicheren Umgang mit den Orthesen gelernt haben und das Gangbild gut entwickelt ist. Manchmal wird von Eltern oder Erziehern entgegengesetzt, dass das Kind „bequem“ oder in der Bewegungsmotivation und Beweglichkeit eingeschränkt werde. Ratsam ist, klare Absprachen zu treffen, wo der Rollstuhl eingesetzt werden soll. Das kann je nach Lähmungsniveau unterschiedlich sein. Ziemlich bald ist das Kind schon in der Lage zu entscheiden, wann es laufen möchte und wann es den Rollstuhl benutzen möchte, weil es die jeweiligen Vor- und Nachteile schnell erkennt. Im Hinblick auf die Inklusion kann ein Rollstuhl den Aktionsradius des Kindes und die Unabhängigkeit von anderen Personen erweitern. Das Kind kann auch auf längeren Strecken selbst entscheiden, wo, wie und mit wem es fahren möchte. Viele Sportarten und Bewegungsspiele werden erst durch den Rollstuhl zugänglich. Ungünstig ist es, die Rollstuhlversorgung erst dann vorzunehmen, wenn das Kind auf längeren Strecken zu Fuß nicht mehr zurechtkommt. Das Gefühl könnte entstehen, gescheitert zu sein, was sich sehr negativ auf das Selbstwertgefühl und die Bewegungsmotivation auswirken kann. Der Rollstuhl kann dann als Strafe empfunden werden.

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Ein weiteres Hilfsmittel, das neben Gehapparat und Rollstuhl insbesondere für Kinder mit hohen lumbalen und thorakalen Lähmungen attraktiv ist, ist das Rollbrett. Es ermöglicht dem Kind in Innenräumen wie im Freien eine andere Perspektive in der Fortbewegung und beim Spielen am Boden auch in postoperativen Phasen. Manche Kinder entdecken auch schon früh das Laufrad oder Fahrrad für sich und genießen die Geschwindigkeit.

8.4.2.2.14 Kita, Hausbesuche, Beratung und Integration Bei Haus- und Kindergartenbesuchen wird überlegt, wie die häusliche Umgebung ein wenig auf die persönlichen Bedürfnisse des Kindes angepasst werden kann, ohne eine Therapielandschaft daraus zu machen. Manchmal kann das Beseitigen kleiner Hindernisse wie z. B. einer Teppichbrücke, an deren Rand das laufenlernende Kind hängenbleibt, die Selbstständigkeit schon erweitern. Wenn Eltern und Erzieher einen Blick dafür bekommen, welche Gegebenheiten zu einer Hürde werden könnten, erleichtert es den Kinderalltag und den Weg in die Inklusion. Die Inhalte der Therapiestunden richten sich in dieser Phase u. a. nach konkreten Alltagssituationen des Kindes. Wenn Kinder im Kindergarten mit Hilfsmitteln versorgt werden, findet eine gemeinsame Beratung mit einem Hilfsmittelberater und den Erziehern statt. Nicht immer ist eine Hilfsmittelversorgung, die aus der Sicht der Physiotherapeuten notwendig ist, auch aus Sicht der Erzieher sinnvoll. Bei einem Kind, das sich selbstständig fortbewegen kann, wird z. B. abgewägt, ob es eine besondere Sitzversorgung braucht oder ob nicht auch ein normaler Stuhl mit beweglichem Fußbänkchen ausreicht. Das Kind könnte sich dann wie alle anderen Kinder seinen Platznachbarn ohne Hilfe selbst wählen und ist nicht an seinen Stuhl gebunden.

8.4.2.3 Ende der Therapie Vor der Zeit, in der die eigentliche Therapie in eine andere Form der Begleitung übergeht, gibt es in der Regel eine Phase mit reduzierten Therapieeinheiten. Die regelmäßige Therapie kann beendet werden, wenn das Kind ohne entscheidende physiotherapeutische Hilfe mit seinen Möglichkeiten den Alltag meistern kann und in sein Umfeld integriert ist. Die Entscheidung für diesen Schritt wird in einer Teambesprechung mit allen getroffen, die die Familie gut kennen. Ein großes Ziel ist erreicht, wenn die Eltern inzwischen so viel Vertrauen in ihr Kind haben, dass sie ihm zugestehen können, die erworbenen Kompetenzen in Bezug auf Selbstständigkeit und Unabhängigkeit im Alltag zu nutzen. Dies beinhaltet „auszuhalten“, dass ihr Kind Zeit braucht, aus Fehlern lernen und sich auch mal weh tun darf. Wie seine Altersgenossen möchte es vertraute überschaubare Wege vielleicht mal allein zurücklegen und eigene Geheimnisse sammeln. Hierbei spielen aber auch gesellschaftliche und kulturelle Aspekte eine Rolle. Wenn das Kind in der Lage ist, seine Bewegungsmög-

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lichkeiten auszuschöpfen bzw. mit seinen Unsicherheiten umzugehen, im Hinblick auf die Unabhängigkeit, reichen regelmäßige Kontrollen oder Beratungen, um neue Bedürfnisse und Veränderungen aufzugreifen. Bei Bedarf können begrenzte Therapieeinheiten angeboten werden.

Literatur [1]

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Claudia Langer 8.4.3 Physiotherapeutische Begleitung der Kinder nach Therapieende In den ersten Lebensjahren eines Kindes mit Spina bifida gehört die regelmäßige physiotherapeutische Behandlung zum Alltag. Die Therapie findet statt bis die Kinder ihre ersten selbstständigen Schritte mit Orthesen meistern. Haben Kinder und Eltern den Umgang mit Orthesen und anderen Hilfsmitteln erlernt, ist ein wesentliches Ziel der Physiotherapie erreicht: die selbstständige Mobilität im Alltag. Das An- und Ausziehen der Orthesen, die Kontrolle der Füße nach eventuellen Druckstellen gehört zur täglichen Körperpflege wie Waschen und Zähneputzen. Dies setzt voraus, dass ein gutes Körpergefühl und Verantwortungsbewusstsein vorhanden sind. Alter- und Entwicklungsstand des Kindes müssen berücksichtigt werden, ebenso wie Aspekte der Überbehütung und Verwöhnung. Mit dem Schulalter beginnt in der Regel die Phase der therapeutischen Begleitung. Der Kontakt zur Physiotherapeutin findet in größeren Abständen (alle 6 Wochen) statt. Meist wünschen sich die Eltern einen fachlichen Blick auf die Passform der Orthesen oder den Rollstuhl. Zudem kann in der Schule eine Beratung der Lehrer erforderlich sein. In dieser Phase werden die Familien zu Freizeitaktivitäten ermuntert, die die Bewegungsfreude und die Körperwahrnehmung ihrer Kinder fördern. In einer Gruppe mit Gleichaltrigen aktiv zu sein, ist gerade für Kinder mit einer bleibenden Bewegungsstörung von großer Bedeutung. Spaß und Erfolg erleben, ohne Leistungsdruck und ohne korrigiert zu werden! Dies stärkt das Selbstwertgefühl.

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8.4.3.1 Bewegungsangebote – Vorschulalter: Familienturnen, Schwimmen; – Alltagsaktivitäten: Wege selbstständig zurücklegen, Treppensteigen, Gehen, Laufen, Fahrradfahren (Therapiedreirad), Laufradfahren; – Körperhygiene: Assistieren beim Katheterisieren, An- und Ausziehen der Orthesen; – Teilnahme am Mobilitätskurs der Arbeitsgemeinschaft Spina Bifida und Hydrocephalus e. V. (ASBH, www.asbh.de). Schulalter: – Sportliche Aktivitäten: Rollstuhlbasketball, Wheelsoccer, Rollstuhltennis, Sledgehockey, Skifahren, Rollstuhltanz, Bogenschießen, Segeln, Reiten (Deutscher Rollstuhl-Sportverband e. V. www.drs.org); – Körperhygiene: Selbstständiges Waschen und Katheterisieren; – Alltagsmotorik: Gehen, Treppensteigen, Fahrradfahren, Handbikefahren; – Alle 10–20 Minuten aus dem Rollstuhl heben als Druckentlastung zur Dekubitusprophylaxe, Positionswechsel vornehmen. Mit dem Übergang ins Jugendalter ist Achtsamkeit und Akzeptanz für den eigenen Körper eine wichtige Basis für Mobilität und Aktivität und somit auch für soziale Kontakte. Jugendliche stehen oftmals im Konflikt zwischen „wohltuendem Müßiggang“ und der behinderungsspezifischen Notwendigkeit, auf Prozeduren wie Katheterisieren, Darmentleeren und Kontrolle der Hautsituation zu achten. Oft nimmt die Körperpflege täglich 1–2 Stunden in Anspruch. Kommen noch Physiotherapietermine hinzu, so muss der Jugendliche noch mehr Zeit und Energie für seine Gesundheit investieren. Oft kommt es spätestens dann zu einer Therapiemüdigkeit. Die Notwendigkeit einer kontinuierlich stattfindenden Physiotherapie wird deshalb gemeinsam mit dem Arzt und dem betroffenen Jugendlichen oder jungen Erwachsenen immer wieder neu, im Hinblick auf ein funktionell relevantes Therapieziel, vereinbart. Der Jugendliche muss in erster Linie bestärkt werden, unabhängig von anderen für seine Gesundheit und Beweglichkeit sorgen zu können. Dies erfordert ein hohes Maß an Eigenverantwortung und Disziplin. Wie kann ich mit meiner Zeit und mit meinen Kräften am besten haushalten?

8.4.3.2 Wie achte ich auf genügend Entlastung für Gesäß und Wirbelsäule? Wer Druckstellen hat, kann keine Orthesen tragen und deshalb nicht gehen oder nicht lange im Rollstuhl sitzen. Ist dies im Alltag gegeben, ist eine regelmäßige Physiotherapie überflüssig, regelmäßige Bewegung jedoch nicht. Ein Bewegungsangebot sollte sich nach den Interessen und Neigungen des Kindes oder Jugendlichen richten. Rollstuhlbasketball oder Rollstuhltanz können für die Rumpfstabilität genauso effektiv

392 | 8 Bewegungsapparat und Mobilität

sein wie 1 Stunde Physiotherapie. Entscheidend ist die Offenheit des Kindes oder Jugendlichen für das Bewegungsangebot und eine Aufgabenstellung, die ihm Zeit und Raum lässt, den eigenen Körper dabei zu spüren, auszuprobieren und zu erfahren. Das Entdecken der individuellen körperlichen Fähigkeiten hilft dem Kind und Jugendlichen seinen Körper zu akzeptieren, zu schätzen und Freude an ihm zu gewinnen. Akzeptanz und Freude sind zudem Voraussetzungen für die Entwicklung einer positiven Sexualität. Ein wichtiger Aspekt, der auch in der physiotherapeutischen Arbeit mit Kindern und Jugendlichen nicht vergessen werden darf [1].

8.4.3.3 Ein Leben ohne Physiotherapie? Ohne Frage müssen Menschen mit einer Körperbehinderung bewusster auf regelmäßige Bewegung achten. Abhängig von Spina-bifida-Typ, Lähmungsniveau und Kognition kommt es zu Beeinträchtigungen des körperlichen Allgemeinzustands. Bewegungseinschränkungen, asymmetrische Fehlbelastungen und Adipositas können vielfältige Beschwerdebilder produzieren. Es besteht das erhöhte Risiko eines inaktiven Lebensstils. Studien haben gezeigt, dass die körperliche Fitness (Herzkreislaufsituation, Ausdauer, Muskelkraft, Körperbau und Beweglichkeit) bei Menschen mit Spina bifida reduziert ist im Vergleich zu gesunden Gleichaltrigen [1–4]. Adipositas und Herzkreislauferkrankungen sind die Folge. Es scheint, dass Aerobic und Krafttraining das Herzkreislaufsystem, somit die Kondition und Muskelkraft verbessert [5]. Fitnesstraining ist daraus folgend ein wichtiger Aspekt für ein gesundes Leben. Eine Gewichtsreduktion konnte jedoch nicht nachgewiesen werden. Diese kann nur über eine konsequente Diät erreicht werden. Bei Rollstuhlfahrern kann es durch Überlastung zu Schmerzen in den Schultergelenken kommen (Periarthritis), bei Fußgängern im LWS-Bereich, bedingt durch Hyperlordose und muskuläre Dysbalancen. Hier können Intervalle von gezielter Physiotherapie Schmerzen lindern und einen notwendigen präventiv wirkenden Input geben. Doch sollte man sich überlegen, ob dies nicht auch in einem nichtmedizinischen Rahmen genauso effektiv ist und mehr Normalität bedeutet, wie der regelmäßige Besuch eines Fitnessstudios oder die Teilnahme am Rehabilitationssport. Entsteht nach langer Pause wieder der Wunsch mit Orthesen zu gehen, ist eine intensive Phase der Gangschulung in der Physiotherapie indiziert. Ebenso nach chirurgisch-orthopädischen Operationen. Ein Mensch mit Spina bifida muss bewusster auf seine Bewegung, Aktivität und Entlastung achten. Dies bedeutet nicht, lebenslange Physiotherapie zu betreiben. Therapie sollte immer mit einer spezifischen Fragestellung und einem bestimmten Ziel stattfinden, z. B. bei Rücken- oder Gelenkschmerzen oder postoperativ. Fühlt man sich nicht aktiver, wenn man in einer Gruppe Sport macht, als allein mit einem Therapeuten an Kraft und Ausdauer zu arbeiten?

8.4 Physiotherapie |

393

Es gibt Sportarten wie Judo, Yoga, Aikido, bei denen man sich gegenseitig beim Dehnen unterstützt und in Auseinandersetzung mit einem Gegenüber Gleichgewicht und Koordination schult. Jeder Mensch achtet auf seine Gesundheit und sein Wohlbefinden individuell. In den frühen Kindheitsjahren sind es die Eltern oder Betreuer, die immer mehr Kompetenz und Gefühl für die Muskel-, Haut- und Gelenksituation ihrer Kinder bekommen. In der erwachsenen Lebensphase liegt die Verantwortung und auch die Freiheit über die eigene Gesundheit zu bestimmen bei jedem selbst.

Literatur [1] [2]

[3]

[4]

[5]

Hengstenberg E. Entfaltungen. Bilder und Schilderungen aus meiner Arbeit mit Kindern. Freiamt im Schwarzwald: Arbor Verlag; 2002: 94–102. Buffart LM, van den Berg-Emons RJ, Burdorf A, Janssen WG, Stam HJ, Roebroeck ME. Cardiovascular disease risk factors and the relationships with physical activity, aerobic fitness, and body fat in adolescents and young adults with myelomeningocele. Arch Phys Med Rehabil. 2008; 89: 2167–2173. Buffart LM, van der Ploeg HP, Bauman AE, et al. Sports participation in adolescents and young adults with myelomeningocele and its role in total physical activity behaviour and fitness. J Rehabil Med. 2008; 40: 702–708. Roebroeck ME, Jahnsen R, Carona C, Kent RM, Chamberlain MA. Adult outcomes and lifespan issues for people with childhood-onset physical disability. Dev Med Child Neurol. 2009; 51: 670–678. Oliveira A, Jácome A, Marques A. Physical fitness and exercise training on individuals with spina bifida: A systematic review. Res Dev Dis. 2014; 5: 1119–1136.

9 Entwicklungsneurologische und psychologische Aspekte Helmuth Peters

9.1 Entwicklung und Entwicklungsdiagnostik – Möglichkeiten und Grenzen therapeutischer Interventionen bei Kindern mit Spina bifida Beim komplexen Krankheitsbild der Spina bifida ist in den meisten Fällen eine Fehlbildung des zentralen Nervensystems vorhanden. Aufgrund dieser ZNS-Läsionen werden von den Angehörigen neben den konsekutiven Lähmungen vor allem Beeinträchtigungen der kindlichen Entwicklung befürchtet. Diese können in folgenden Formen vorliegen: – Störungen der kognitiven und motorischen Entwicklung, – Verhaltensauffälligkeiten, – Aufmerksamkeitsstörungen, – verringerte Arbeitsgeschwindigkeit, – Störungen der Gedächtnisleistung, – Auffälligkeiten der Sprachentwicklung, – psychische und ggf. psychiatrische Probleme insbesondere Depressionen, verringerte Belastbarkeit. Ferner kann bei diesen heranwachsenden Patienten aufgrund der erhöhten Abhängigkeit von anderen Personen deren Persönlichkeitsentwicklung hinsichtlich Eigenständigkeit und Selbstbewusstsein erschwert sein. Gleichgültig wie massiv und komplex die vorliegende Fehlbildung des Nervensystems ist, entscheidend ist letztlich die Leistungsfähigkeit des Patienten in den o. g. Belangen. Dabei drohen von Geburt an bis in hohe Alter aufgrund von Komplikationen wie Hirndruck, Tethered cord, Chiari-Malformation Typ II weitere Verschlechterungen, die dem Entwicklungspotential des Patienten entgegenstehen. Eltern sind sich dieser Entwicklungsstörungen bewusst und suchen nach therapeutischen Möglichkeiten, um ihnen entgegenzuwirken. Sie sind in Sorge über die kommende Entwicklungsbeeinträchtigung ihres Kindes und machen sich Gedanken über die Lebenserwartung. Die Sorgen der Angehörigen um die Gesundheit ihres Kindes [2] sind oft an folgenden vorgetragenen Themen und Fragen zu erkennen: Wird unser Kind laufen lernen? Wie wird es sich im Kindergarten, in der Schule behaupten können? Wie selbstständig wird es werden können? Was hat es von seinem Leben?

https://doi.org/10.1515/9783110228748-012

396 | 9 Entwicklungsneurologische und psychologische Aspekte

Von besonderer Bedeutung ist ihre Besorgnis im Hinblick auf die spätere Einschulung, weil sich ihr Kind mit seiner ZNS-Veränderung in seiner Leistungsfähigkeit hinsichtlich der erforderlichen schulischen Fertigkeiten bewähren muss. Kann die Zeit bis zur Einschulung dahin gehend genutzt werden, ggf. sogar präventiv die Situation des sich entwickelnden Kindes günstig durch Therapie- und Fördermaßnahmen zu beeinflussen? Können bereits bestehende Funktionsdefizite therapeutisch kompensiert werden? Wegen der Komplexität und der Variabilität der kindlichen Entwicklung hat sich die Entwicklungsneurologie, in der Schweiz als Entwicklungspädiatrie, etabliert, die sich mit der kindlichen Normalentwicklung, ihren Varianten und Störungen befasst. Sie ist in Deutschland ein zentrales Arbeitsgebiet der Sozialpädiatrie. Es sind in den letzten 40 Jahren flächendeckend über 150 sozialpädiatrische Zentren entstanden, die diagnostisch wie therapeutisch entwicklungsgestörte Kinder betreuen. Da Patienten mit Spina bifida regelhaft Entwicklungsauffälligkeiten aufweisen, haben sich mehrere dieser Zentren wie beispielsweise in Berlin, Erlangen, Hamburg, Hannover, Mainz und Regensburg auf deren Betreuung spezialisiert. Erklärtes Ziel ist es, die Patienten vom Neugeborenen- bis ins Erwachsenenalter zu betreuen und zu begleiten, damit sie möglichst frei von vermeidbaren Komplikationen ein Leben mit großer gesellschaftlicher Teilhabe und in hoher Lebensqualität führen können. Dazu ist es erforderlich, einerseits die Entwicklung der Patienten in den Bereichen – Motorik, – Kognition, – Sprache, – emotionale und soziale Entwicklung differenziert zu betrachten, sie andererseits immer im Hinblick auf die persönliche Gesamtentwicklung zu bewerten und durch Förderung wie therapeutische Maßnahmen günstig zu beeinflussen. Für die Bewertung der Entwicklung in den einzelnen Bereichen gibt es mittlerweile zahlreiche Testverfahren, die einen guten Überblick zumindest über den gegenwärtigen Entwicklungsstand zu geben vermögen [4]. Bei früh vorgenommenen Testungen ist allerdings hinsichtlich der Aussage über die spätere Leistungsfähigkeit des Patienten in kognitiven Belangen Zurückhaltung geboten [8]. Ein eigenes Thema ist dabei die unterschiedliche Bewertung der festgestellten Entwicklungsabweichungen durch Angehörige. Zum Teil erhebliche Entwicklungsstörungen werden durch gute Abhilfemöglichkeiten vergleichsweise als gering beeinträchtigend erlebt (z. B. gute Mobilitätshilfen bei starker motorischer Beeinträchtigung). Umgekehrt kann sich eine relativ geringe Beeinträchtigung sozial erheblich schwerer auswirken (z. B. Geruchsentwicklung bei nicht gut behandelter Inkontinenz). Früherkennung, Frühtherapie und Frühförderung werden schon seit langem für die Betreuung von Kindern mit Behinderung angeboten. Wegen der oben dargestellten Sorgen der Angehörigen wird dies von ihnen auch gewünscht. Familien, die diese

9.1 Entwicklungsdiagnostik und therapeutische Interventionen | 397

Hilfen früh in Anspruch nehmen, bewerten dies zu einem sehr hohen Anteil (82 %) als hilfreich [3]. Nun ist es ohnehin schwierig und unsicher, bei der Beurteilung jüngerer Kinder aufgrund der Ergebnisse von Entwicklungsbeurteilungen eine prognostische Aussage über die spätere intellektuelle Leistungsfähigkeit zu treffen [8, 18]. Außerdem ist damit nicht belegt, dass frühe Hilfen in der Lage sind, klinische Auffälligkeiten zu reduzieren. Beispielsweise wurde schon versucht, Risikofrühgeborenen eine entwicklungsfördernde Pflege (Developmental Care) zukommen zu lassen; in einer randomisierten Studie ließ sich aber kein Effekt auf eine günstigere entwicklungsneurologische Situation im Vergleich zur Kontrollgruppe zeigen [12]. Mechanistische Behandlungskonzepte, die den Patienten nicht motivierend einbeziehen, entfalten kaum therapeutische Wirkung. In dieser Vorstellung werden immer noch die seit langem bekannten klassischen Behandlungsverfahren z. B. der Physiotherapie eingesetzt mit dem Ziel, pathologische Muster zu hemmen und normale Muster zu bahnen (Bobath-Konzept) bzw. repetitiv ausgelöste Reflexmuster (Umdrehen, Kriechen) in die kindliche Bewegungsentwicklung gewinnbringend zu implementieren (Vojta-Prinzip). Die dahinterstehende mechanistische Vorstellung, mittels z. T. intensiver Übungsbehandlung morphologisch verursachte Defizite kompensatorisch normalisieren zu wollen, ist Wunschvorstellung und hat sich nicht bestätigt [9]. Ziel ist nicht mehr die Normalisierung im Sinne der Beseitigung von Funktionsdefiziten und pathologischen Bewegungsmustern, sondern das Verbessern der gesellschaftlichen Teilhabe, wobei in motorischen Belangen durchaus auch pathologische Muster akzeptiert werden, wenn es der verbesserten Mobilität dient. Bei Patienten mit Spina bifida besteht eine von den Kindern mit zerebralen Bewegungsstörungen abweichende Situation: Bei häufig pränatal diagnostizierten Patienten mit MMC, die dann per Sektio schonend entbunden werden, liegen meist keine zentralnervös läsionell verursachten neurologischen Auffälligkeiten vor, für die diese „neurophysiologisch“ basierten Therapieverfahren konzipiert sind. Sie weisen vorwiegend extrakraniell relevante, fehlbildungsbedingte Läsionen auf, sodass diese Therapien mit ihren theoretisch auf Zerebralparesen ausgerichteten Grundlagen (die ohnehin nicht wissenschaftlich belegt sind) nicht zum Störungsbild der MMC passen. Dass trotzdem so viele Patienten diese Physiotherapieverfahren bis heute erhalten, lässt sich möglicherweise damit erklären, dass keine fundierte und verbindliche Therapieforschung existiert, die die Nichtwirksamkeit belegt. So wird oft in der Vorstellung und nicht im gesicherten Wissen über eine Wirkung behandelt. Ziel wäre, Therapieverfahren sorgfältig und wirkungsorientiert zu indizieren und Patienten wie Kostenträger vor unwirksamen und finanziell ressourcenverbrauchenden „Behandlungen“ zu schützen. Die Therapieforschung ist in diesem Themenfeld aus mehreren wissenschaftstheoretischen Aspekten bis zum heutigen Tage so wenig entwickelt. Sie ist extrem komplex und problematisch:

398 | 9 Entwicklungsneurologische und psychologische Aspekte

– –





Die Patienten sind hinsichtlich ihrer Symptome auch in ihrer Ausprägung hochindividuell und nicht miteinander vergleichbar. Sie erhalten oft mehrere Therapieverfahren z. T. parallel und z. T. sequentiell. Dies erschwert, Entwicklungsfortschritte einer Behandlungskomponente in ihrer ursächlichen Wirksamkeit am sich ohnehin entwickelnden Kind zuzuordnen. Selbst bei kausal klar und eindeutig zuzuordnenden Entwicklungsstörungen wie beispielsweise die Trisomie 21 ist die individuelle Ausprägung hochvariabel und erschwert die Aussage, inwieweit Entwicklungsfortschritte der Spontanentwicklung oder dem Behandlungsangebot zugerechnet werden dürfen. Dies ist bei Patienten mit Spina bifida ebenfalls gegeben. Der prädiktive Wert von Untersuchungsergebnissen wie Entwicklungsbeurteilungen ist nicht ausreichend, insbesondere, wenn es darum geht, feinere (Therapie?) Effekte auch langfristig zu belegen. Es kann sogar sein, dass die Entwicklungsbesonderheiten erst in Langzeituntersuchungen sichtbar werden und in frühzeitig vorgenommenen Evaluationen nicht erkennbar sind [8].

Aussagekräftig wären also lediglich prospektive, randomisierte Langzeitstudien, die oft multizentrisch angelegt werden müssen, um auf aussagekräftige Fallzahlen zu kommen. Sie sind im gegenwärtigen universitären Wissenschaftsbetrieb nur sehr schwer durchführbar. Darüber hinaus ist keine Gegenüberstellung von Behandlung und Nichtbehandlung möglich, die eine klare Aussage über die therapeutische Wirksamkeit zu geben vermag. Es ist ethisch inakzeptabel, auffällige Kinder aus wissenschaftlichen Gründen unbehandelt zu lassen [6]. Randomisierte evidenzbasierte Studien werden also auf einen Methodenvergleich angewiesen sein, wie es beispielhaft in der Palmer-Studie [14] vorgeführt wurde. Ungeachtet dieses Problems sind Eltern von Kindern mit Spina bifida darüber hinaus oft bereit, alternative Behandlungen einzusetzen, auch wenn erkennbar kein Wirkungsnachweis vorliegt [16]. Bevor therapeutische Maßnahmen verordnet und durchgeführt werden, ist zu klären, was man wie überhaupt behandeln möchte. Unter entwicklungsneurologischen Aspekten sind folgende Entwicklungsfelder diagnostisch zu bewerten und auf Behandelbarkeit zu prüfen: – motorische Entwicklung (Bewegungsentwicklung, Körperhaltung, Feinmotorik), – mentale Entwicklung in Relation zum kognitiven Niveau, – seelische Entwicklung (Verhalten, Emotion, Persönlichkeit), – soziale Entwicklung unter besonderer Berücksichtigung der gesellschaftlichen Teilhabe. Diese Entwicklungsfelder stehen miteinander in enger Wechselwirkung, weshalb sich die darauf abgestellten Behandlungsverfahren ebenfalls überlappen. Aus diesem Grunde sind teamorientierte Versorgungsmodelle, wie sie in den sozialpädiatrischen Zentren stattfinden, so wichtig, damit sich die Therapeuten einerseits auf

9.1 Entwicklungsdiagnostik und therapeutische Interventionen | 399

ihre fachliche Professionalität besser konzentrieren können und andererseits in Wechselwirkung mit anderen Berufsfeldern befinden. Die Behandlungsmethoden lassen sich auch nicht immer einem Entwicklungsbereich zuordnen. Beispielsweise ist die Logopädie mit ihren therapeutischen Ziel je nach Auffälligkeit bei Artikulationsstörungen auf motorische Symptome, bei Sprachentwicklungsverzögerungen oder Sprachentwicklungsstörungen auf mentale Entwicklungsbelange und bei kommunikativen Auffälligkeiten wie Mutismus auf seelische Entwicklungsauffälligkeiten orientiert; oder sie behandelt in mehreren Feldern gleichzeitig wie bei Redeflussstörungen (Balbuties, Poltern). Im Falle von festgestellten Auffälligkeiten können zahlreiche, in unserem Gesundheitswesen etablierte Behandlungsverfahren (Heilmittel) verordnet werden. Voraussetzung ist dazu eine gute inhaltliche Kenntnis, damit eine gute patientenbezogene Indikation gestellt werden kann [5]: – Physiotherapie, – Ergotherapie, – Logopädie, – Heil-, Sprachheil-, Sonder-, Sozialpädagogik, – Psychotherapie in unterschiedlichen Verfahren (zurzeit nur finanziert: Verhaltenstherapie, tiefenpsychologische Verfahren; nicht finanziert: systemische Psychotherapie/Familientherapie, Gesprächstherapie, Psychodrama usw.). In der vom Sozialhilfeträger finanzierten nichtmedizinischen Frühförderung arbeiten die Therapeuten oft spieltherapeutisch (z. B. nondirektive Spieltherapie). Zusätzlich zu diesen seit Jahrzehnten etablierten Heilmittelbehandlungen sind bei allen Verfahren ergänzende Maßnahmen wichtig: Hilfsmittelversorgung, medikamentöse Behandlungen (Botulinumtoxin, Stimulantien usw.), Constraint Induced Movement Therapy (CIMT), orthopädische und neurochirurgische Behandlungen, die an anderer Stelle ausgiebig dargestellt werden. Von herausragender Bedeutung hinsichtlich einer Behandlungswirksamkeit ist die Elternberatung und -begleitung, weil die psychosozialen Aspekte von Interventionen am besten respondieren. Dagegen sind neurologische, organisch bedingte Auffälligkeiten umso weniger therapeutisch beeinflussbar, je intensiver sie ausgeprägt sind [7, 17]. Bei Kindern mit Zerebralparesen sind die Behandlungseffekte im 2. Lebensjahr am günstigsten, wenn auch insgesamt nur moderat nachweisbar [1]. So ist es gut verständlich, dass diese vergleichsweise wirksamen psychosozialen Aspekte auch von den klassischen Heilmittelverfahren in den letzten Jahren verstärkt aufgenommen wurden, um die so behandelten Kinder emotional zu motivieren, sich ihre zur Verfügung stehenden Fähigkeiten im Laufe der Entwicklung zu erschließen. Bei psychosozial intendierten Maßnahmen zeigt sich, dass einerseits sozial schwache und arme Familien die Behandlungsangebote nur erschwert wahrnehmen können, andererseits diese Kinder davon aber am meisten profitieren würden [3]. Eine gute Frühförderung bzw. Frühpädagogik in Form von vorschulischen Maßnah-

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men lässt sich in ihrer Auswirkung in der Schule belegen; ferner wurde dabei eine beträchtliche volkswirtschaftliche Kostenersparnis ermittelt [10, 11]. Entwicklungsdiagnostik und Entwicklungsförderung sind Teil eines umfassenden interdisziplinären Therapiekonzepts, das dank der diagnostischen und therapeutischen Fortschritte der letzten Jahrzehnte insgesamt zu einer deutlichen Erhöhung der Lebenserwartung [13] und Verbesserung der Lebensqualität geführt hat. Über den Gesamterfolg entscheidet nicht eine einzelne Maßnahme, sondern das Zusammenwirken erfahrener Spezialisten, die voneinander in ihren Möglichkeiten [15] wissen und sich aufeinander abgestimmt mit ihren therapeutischen Möglichkeiten einbringen.

Literatur [1]

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9.2 Kognitive Entwicklung bei Kindern mit einer Spina bifida und einem Hydrocephalus |

401

[12] Maguire CM, Veen S, Sprij AJ, Le Cessie S, Wit JM,Walther FJ. Effects of Basic Developmental Care on Neonatal Morbidity, Neuromotor Development, and Growth at Term Age of Infants Who Were Born at < 32 Weeks and on behalf of the Leiden Developmental Care Project. Pediatrics. 2008; 121 (2): e239–245. doi: 10.1542/peds.2007-1189. [13] Mikyong ShinFirst World Congress on Spina bifida Survival of infants with Spina bifida in ten regions of the unites states. 2009. http://medicalconference.spinabifidaassociation.org/atf/ cf/%7B10221c89-6b69-45bd-81bf-3194b0be6fa5%7D/EPID15.PDF. [14] Palmer FB, Shapiro BK, Wachtel RC, Allen MC, Hiller JE, Harryman SE, Mosher BS, Meinert CL, Capute AJ. The Effects of Physical Therapy on Cerebral Palsy. A Controlled Trial in Infants with Spastic Diplegia. N Engl J Med. 1988; 318 (13): 803–808. [15] Peters H, Ermert A, Langenhorst W, Seidenstücker K. Leben mit Spina bifida. Ratgeber Nr. 21. ASBH; 2009. [16] Sanders H, Davis MF, Duncan B, Meaney FJ, Haynes J, Barton LJ. Use of Complementary and Alternative Medical Therapies Among Children With Special Health Care Needs in Southern Arizona. Pediatrics. 2003; 111: 584–587. [17] Schlack HG. Interventionen bei Entwicklungsstörungen. Monatsschr. Kinderheilkd. 1994; 142: 180–184; Springer-Verlag; 1994. [18] Shonkoff JP. A Promising Opportunity for Developmental and Behavioral Pediatrics at the Interface of Neuroscience, Psychology, and Social Policy: Remarks on Receiving the 2005 C. Anderson Aldrich Award. Pediatrics. 2006; 118: 2187–2191.

Antje Blume-Werry

9.2 Forschungsergebnisse zur kognitiven Entwicklung bei Kindern mit einer Spina bifida und einem Hydrocephalus 9.2.1 Einleitung Mit einer Behinderung aufzuwachsen bedeutet für das Kind eine Entwicklung unter erschwerten Bedingungen. So haben Kinder mit Spina bifida neben den Krankenhausaufenthalten eine Vielzahl an Untersuchungen und Therapien zu bewältigen, die zulasten von Freizeit und Spiel und einer unbeschwerten Kindesentwicklung gehen. Dennoch kann die kognitive Entwicklung eines Kindes mit einer Spina bifida und einem Hydrocephalus völlig unbeeinträchtigt verlaufen. Dies trifft auf eine Vielzahl dieser Kinder zu, denen mittlere und hohe Bildungsabschlüsse gelingen. Andere erreichen aber nur ein unterdurchschnittliches Intelligenzniveau. Viele Studien zeigen uns, welch große Varianz die Intelligenzentwicklung der Kinder mit Spina bifida und Hydrocephalus aufweist. So sind dann auch die Unterschiede unter den Kindern mit einer Spina bifida größer als die Unterschiede unter den weiteren Kindern dieser Familien [1]. Die unauffällige Entwicklung vieler Kinder führt allerdings dazu, dass diese kognitiv gut entwickelten Kinder im Bewusstsein vieler Fachleute weniger Raum einnehmen als jene Kinder, die Lernschwierigkeiten entwickeln. In Kenntnis dieser großen Varianz in der Entwicklung der Kinder sollte aus der persönlichen Erfahrung mit Kindern mit einer Spina bifida und ihren Entwicklungs-

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auffälligkeiten nicht verallgemeinernd auf die gesamte Patientengruppe geschlossen werden. Im Folgenden soll nun ein Überblick über wesentliche Forschungsergebnisse von Studien vor allem aus den USA, aus Kanada, Großbritannien und Schweden zur kognitiven Entwicklung bei Kindern mit Spina bifida und Hydrocephalus gegeben werden. Studien aus Deutschland zur kognitiven Entwicklung von Kindern mit Spina bifida finden sich kaum.

9.2.2 Grundlegende relevante Faktoren der kognitiven Entwicklung Für die kognitive Entwicklung eines Kindes mit einer Spina bifida und einem Hydrocephalus ist es entscheidend, – ob und in welcher Ausprägung zusätzlich zur Chiari-II-Malformation weitere Hirnfehlbildungen mit Hydrocephalus vorliegen, – in welchem Ausmaß sich der Hydrocephalus schon pränatal ausgebildet hat, und vor allem, – ob schon einmal eine Entzündung der Ventrikel abgelaufen ist [2]. In mehreren Studien wird aufgezeigt, dass keine direkte Korrelation zwischen der Zahl der Revisionen und einer allgemeinen Entwicklungsbeeinträchtigung besteht [3]. Allerdings werden sowohl die Zahl der Revisionen als auch eine Epilepsie als Prädiktor für Schwächen in einem wichtigen Bereich der Intelligenz, in dem der Exekutivfunktionen, gesehen [4]. Zwei Prädiktoren, die sich auch wechselseitig beeinflussen, denn häufige Ventilrevisionen können die Manifestation einer Epilepsie begünstigen, die die kognitive Entwicklung negativ beeinflussen kann. Kinder mit einer Spina bifida haben oft einen Hydrocephalus infolge der ChiariII-Malformation. Auf der Suche nach dem Grund möglicher kognitiver Beeinträchtigungen stellt sich die Frage, ob die Chiari-II-Malformation selbst oder der zum Hydrocephalus führende erhöhte intrakranielle Druck als ursächlich anzusehen sind. Diese Frage ist nicht abschließend zu klären, aber da auch Kinder mit einem Hydrocephalus anderer Ätiologie (z. B. Kinder mit einem posthämorrhagischen Hydrocephalus, Kinder mit einem Hydrocephalus aufgrund von Zysten) ähnliche Lernerschwernisse zeigen, geht die heutige Forschung von einem Einfluss des Hydrocephalus bzw. des intrakraniellen Drucks auf die Kognition aus. Allerdings bestehen bei Kindern mit einem posthämorrhagischen Hydrocephalus potentiell noch Hirnschädigungen durch die vorausgegangene Blutung und den Sauerstoffmangel. Die Annahme eines Einflusses des Hydrocephalus auf die kognitive Entwicklung unterstreichen Vergleichsstudien, die Kinder mit einer Spina bifida ohne einen Hydrocephalus sowohl mit Kindern vergleichen, die eine Spina bifida mit einem Hydrocephalus haben als auch mit Kindern vergleichen, die keine Behinderung haben. Danach zeigen Kinder mit einer Spina bifida ohne begleitenden Hydrocephalus eine

9.2 Kognitive Entwicklung bei Kindern mit einer Spina bifida und einem Hydrocephalus |

403

relativ unbeeinträchtigte geistige Entwicklung und erreichen ein Intelligenzniveau wie nichtbehinderte Kinder [5–7]. Damit reduzieren die Vergleichsstudien auch die Bedeutung der Lauffähigkeit für die kognitive Entwicklung, wobei allerdings auch wiederum jene Kinder mit Spina Bifida, die keinen Hydrocephalus entwickeln, vor allem Kinder mit tiefen Lähmungen sind, denen ein Stehen und ein – meist entwicklungsverzögertes – Laufen möglich ist.

9.2.2.1 Einfluss des Hydrocephalus Der erhöhte intrakranielle Druck, der einen behandlungsbedürftigen Hydrocephalus zur Folge hat, führt zu sichtbaren morphologischen Änderungen wie einer Verschmälerung des Kortex und Änderungen an der weißen Substanz. Obwohl die graue Hirnsubstanz für die Kognition eine größere Bedeutung hat als die weiße Substanz, wird den Veränderungen an der weißen Substanz mehr Relevanz beigemessen: Die modernen bildgebenden Verfahren (fMRT, DTI) zeigen langgestreckte Axone und eine verzögerte und mangelhafte Myelinisierung der Axone, was als „white matter disease“ bezeichnet wird. Die reduzierte Myelinisierung wirkt sich dann auch auf die großen Faserbündel und Faserzüge im Hirn aus, die teilweise nur deutlich verdünnt zu erkennen sind und deren Aktivität beeinträchtigt ist. Von besonderer Bedeutung ist hierbei der Balken. Diese Kommissur verbindet die beiden Hemisphären des Großhirns und ist darum für die kognitiven Leistungen des Menschen besonders wichtig. Bei Kindern mit einem Hydrocephalus findet sich oft eine Verdünnung des posterioren Teils des Balkens. Es wird angenommen, dass diese Verdünnungen an den Faserzügen beim Hydrocephalus durch den Einfluss des intrakraniellen Drucks zustande kommen, wobei nicht geklärt werden kann, inwieweit verdünnte Faserzüge für Beeinträchtigungen in der Kognition verantwortlich sind. Neben dem intrakraniellen Druck könnten auch die beim Hydrocephalus beobachteten Veränderungen am Blutfluss und am Hirnstoffwechsel Auswirkungen auf den Prozess der Myelinisierung haben. Letztlich bleibt es derzeit noch bei Vermutungen, welchen Einfluss raumfordernde Prozesse, intrakranieller Druck, Blutzirkulation und Hirnstoffwechsel auf die Kognition haben.

9.2.3 Intelligenz Die Annahme eines – wie auch immer gearteten – Einflusses des intrakraniellen Drucks oder der veränderten Hirnmorphologie auf die kognitive Entwicklung des Kindes wird auch dadurch genährt, dass bei Kindern mit einer Spina bifida und einem Hydrocephalus trotz großer Varianzen sich in den Intelligenztestungen häufig eine ähnliche Intelligenzstruktur findet, sodass auch von einem kognitiven Phänotyp

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gesprochen wird [8]. Dieser kognitive Phänotyp ist im Wesentlichen auch bei Kindern mit einem Hydrocephalus anderer Ätiologie zu beobachten [9, 10]. In der Neuropsychologie wird bei der Beschreibung des Intelligenzquotienten von einem Durchschnitt von 100 Punkten ausgegangen und unter Zugrundelegung einer Normalverteilung wird der Bereich zwischen 85 und 115 Punkten als der Bereich definiert, in dem sich ca. 67 % der Bevölkerung befinden. Ein Intelligenzquotient unter 85 Punkten entspräche demnach einer Minderbegabung. In der Praxis wird aber erst von einem Intelligenzquotienten unter 70 Punkten von einer leichten Intelligenzminderung gesprochen. Nach einer schwedischen Studie aus dem Jahr 2006 liegen 84 % der Kinder mit einer Spina bifida und einem Hydrocephalus über 70 Punkten. Auch den Kindern an der unteren Grenze dieses Bereichs gelingt Lesen, Schreiben und Rechnen, wenn auch nur in vereinfachter Form, und ein einfaches Verständnis von Zusammenhängen. Zusammengefasst ist zu sagen, dass 80 % der Kinder mit einer Spina bifida und einem Hydrocephalus normalintelligent sind [2] bzw. dass sie zu fast 70 % einen Intelligenzquotienten von über 80 Punkten oder auch zu 60 % einen Intelligenzquotienten von über 90 Punkten erreichen [11]. Dazu passt, dass trotz sehr unterschiedlicher Schulsysteme Studien aus verschiedenen Ländern zu dem Ergebnis kommen, dass 80 % der Kinder eine Regelschule besuchen [11]. Selbst für Deutschland, das bezüglich der schulischen Inklusion behinderter Kinder im UN-Vergleich bisher einen unteren Rang einnimmt, werden nach Elternangaben 73 % der Kinder mit Spina bifida und Hydrocephalus nach dem Lehrplan der Regelschule unterrichtet [12]. Kinder mit lumbalen und sakralen Lähmungen erzielen bessere Ergebnisse in den Intelligenztestungen als jene mit thorakalen Lähmungen [2]. Der Grund liegt darin, dass hohe Lähmungen häufiger mit schwereren Hirnfehlbildungen assoziiert sind als tiefe Lähmungen [13]. So ist die Prognose nicht nur hinsichtlich der körperlichen, sondern auch hinsichtlich der geistigen Entwicklung ungünstiger, wenn eine hohe Lähmung vorliegt, wenn es sich um eine große offene Zele mit fehlendem Schluss über mehrere Wirbelbögen handelt und wenn weitere Hirnfehlbildungen wie z. B. ein Balkenmangel vorliegen. Und schließlich stellen Kinder mit sakralen Läsionen den Großteil der Gruppe, die keinen Hydrocephalus entwickelt und damit auch keinen erhöhten Hirndruck erfahren hat. Bei der Übernahme dieser Zahlen und Aussagen sind die Schwächen und Grenzen der Intelligenztestung bei Kindern mit Spina bifida und Hydrocephalus zu bedenken: Einschränkungen der Kinder im Sehen und in der Bewegung, dann auch häufig in der Auge-Hand-Koordination, führen zu falsch-niedrigen Ergebnissen. Viele Tests arbeiten mit Zeitvorgaben, die von Kindern mit einer Verlangsamung nur schwer einzuhalten sind. Des Weiteren zeigen viele Kinder mit Spina bifida und Hydrocephalus eine verringerte Belastbarkeit, die sie in der Testsituation blockieren kann. Es kann auch sein, dass in vielen Studien Kinder mit einem unauffälligen Entwicklungsverlauf unterrepräsentiert sind, weil sie seltener als andere Kinder mit Spina bifida die Behandlungszentren aufsuchen und die meisten Studien auf diese sog. Inanspruch-

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nahmepopulationen zurückgreifen. Unter Berücksichtigung dieser Einwände ist anzunehmen, dass sich in manchen Studien mehr Schwächen der Kinder abbilden als sich im Alltag wiederfinden lassen. In diesem Zusammenhang ist ein weiterer Aspekt relevant: Die Studien der vergangenen Jahrzehnte belegen, dass die kognitive Entwicklung bzw. die Testergebnisse der Kinder mit Spina bifida und Hydrocephalus besser werden. Dies kann in mehreren Ursachen begründet sein, so in der Berücksichtigung der erwähnten Probleme in der Testung, in einer besseren neurochirurgischen Versorgung der Kinder, in einer besseren pädagogischen Förderung der Kinder und in der Möglichkeit, dass durch die Folsäureprophylaxe [14] und evtl. auch durch Schwangerschaftsabbrüche weniger Kinder mit thorakalen Lähmungen und begleitenden Hirnfehlbildungen geboren werden.

9.2.4 Intelligenzstruktur Zu dem in der Literatur beschriebenen kognitiven Phänotyp bei Kindern mit Spina bifida und Hydrocephalus gehört vor allem, dass sich viele Kinder durch eine gute Verbalintelligenz auszeichnen, die deutlich niedrigeren Werten in den nonverbalen Teilen des Intelligenztests gegenübersteht [6, 9]. Die guten verbalen Fähigkeiten bedeuten, dass die Kenntnis der Sprache und der Umgang mit Sprache gut entwickelt sind, und zwar deutlich besser als beispielsweise die Fähigkeiten zum logischen und räumlichen Denken oder zur Abstraktion. Auch wenn nicht alle Studien diese Auffassung stützen und diesen als typisch beschriebenen Unterschied nicht zeigen [15], so ist doch auffallend, dass fast alle Kinder in ihren sprachlichen Fähigkeiten ähnlich gut sind, aber in den nonverbalen Tests eine große Varianz aufweisen. Unklar sind die Ursachen hinsichtlich der Schwächen in den nonverbalen Leistungen. Es können entwicklungspsychologische oder neurobiologische Ursachen zugrunde liegen. Es kann ebenso an den Problemen der Kinder in mehreren wichtigen Intelligenzbereichen liegen, nämlich an ihren Schwächen in der Aufmerksamkeit, in der Prozessgeschwindigkeit, in dem Gedächtnis, in den Exekutivfunktionen oder in der Feinmotorik [15]. Zahlreiche Forschungsarbeiten kommen zusammengefasst zu folgenden Ergebnissen:

9.2.4.1 Sprachgebrauch und Sprachverständnis Eltern berichten meist von einem frühen und guten Spracherwerb ihrer Kinder. Aber leider liegen zum Spracherwerb offenbar keine Forschungsergebnisse vor. Dagegen gehören die verschiedenen Ebenen des aktiven Gebrauchs und des Verständnisses von Wort, Satz und Sprache (Syntax, Pragmatik und Semantik im Sinne der Linguistik) zu den bevorzugten Forschungsgebieten bei Kindern mit Spina bifida und Hydrocephalus.

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Die Testergebnisse zeigen durchgängig gute verbale Fähigkeiten und eine Überlegenheit der verbalen gegenüber den nonverbalen Fähigkeiten. Die besonderen sprachlichen Stärken sind ein guter Wortschatz, eine gut artikulierte Sprache und ein korrekter grammatikalischer Gebrauch der Sprache. Auch das Klangbild der Sprache wird gut verstanden und reproduziert und verhilft zu guten Fähigkeiten im Lesen und Schreiben [8]. Aber insgesamt von einem besonderen sprachlichen Talent zu sprechen, erweist sich als vorschnelle Vermutung, denn andere Studien weisen auf deutliche Schwächen hin. Diese beziehen sich auf eher geringe Fähigkeiten auf einem höheren Sprachniveau, und zwar sowohl auf geringe Fähigkeiten im sprachlichen Ausdruck (Pragmatik) als auch in der freien Rede, insbesondere wenn gehörte oder gelesene Inhalte frei wiedergegeben werden sollen, und weiter auf geringe Fähigkeiten, den gesamten Inhalt des Gehörten oder Gelesenen zu verstehen [8, 10, 16]. Hierbei geht es insbesondere um die Fähigkeit, inhaltliche und bildliche Bezüge in einem Text oder einer Aussage im Kontext zu verstehen, obwohl das Textverständnis gut ist. Es scheint schwerzufallen, Unwichtiges im Text zu unterdrücken. Diese Schwächen in der weiterreichenden Pragmatik und Semantik finden sich auch bei Kindern mit mittlerer und höherer Intelligenz (Intelligenzquotient ≥ 90 Punkte). Einschränkend muss gesagt werden, dass genau betrachtet es den Kindern nicht gut gelingt, den Inhalt des Gehörten oder Gelesenen in einer Testsituation ausreichend zu reproduzieren. Dies kann auch eine Folge mangelhafter Gedächtnisstrategien sein [5]. Wenn die pragmatischen Fähigkeiten deutlich besser sind als das semantische Verständnis des Kindes über den komplexen Zusammenhang, wirken die gut artikulierte Sprache und die korrekte Wortwahl als deutliche Differenz zum Inhalt des Gesagten. Dieses Phänomen einer eloquenten, aber manchmal inhaltsarmen Sprache nimmt mit dem Alter ab [16]. Das kann bedeuten, dass die Kinder mit dem Alter ein größeres semantisches Verständnis entwickeln oder auch, dass sie an Wortgewandtheit in Relation zu anderen Jugendlichen verloren haben, also andere Jugendliche diesen Vorsprung eingeholt haben. Hier ist entwicklungspsychologisch zu beachten, dass Kinder mit einer schweren Körperbehinderung mehr als andere Kinder mit Erwachsenen kommunizieren und sich der Kontakt zu anderen Menschen weniger über Körperlichkeit als vielmehr über Sprache vollzieht und ihre Sprachentwicklung dadurch in jungen Jahren sehr gefördert wird. Diese entwicklungspsychologische Sicht wird gestützt durch die Beobachtung, dass sich auch bei Kindern mit Zerebralparesen und/oder bei frühgeborenen Kindern diese ungleiche Verteilung der neuropsychologischen Fähigkeiten zeigt. Bei Kindern mit einem Hydrocephalus finden sich allerdings die besser ausgebildeten sprachlichen Fähigkeiten sowohl bei Kindern mit Spina bifida als auch bei Kindern mit einem isolierten Hydrocephalus. Deshalb stellen einige Studien den Bezug her zu den häufig morphologisch auffälligen Hirnstrukturen als Folge des intrakraniellen Drucks und negativen Einflusses auf die kognitiven Fähigkeiten [17], oder sie sehen die Ursache dieser Schwierigkeiten, den Kontext heranziehen zu können, in der bei

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Spina bifida manchmal vorkommenden mangelhaften Ausbildung des Balkens, die die interhemisphärische Kommunikation beeinträchtigt und dann zu Problemen in der konfiguralen und weniger in der kompositorischen Sprache führt [18]. Die sprachlichen Stärken der Kinder bergen die Gefahr eines weitreichenden Missverständnisses, denn es kommt zu Fehleinschätzungen seitens der Lehrer, wenn diese von den guten verbalen Leistungen des Schülers mit einem Hydrocephalus auf insgesamt gute intellektuelle Leistungen schließen. Eine andere Fehleinschätzung, unter der Eltern und Schüler leiden, betreffen die Leistungsschwankungen, wenn die schwachen Leistungen nicht als Tief einer Leistungsschwankung akzeptiert werden und ausgehend von den Leistungshochs der Kinder regelmäßig gute Leistungen erwartet werden. Die Leistungsschwankungen stehen bei Kindern mit Hydrocephalus im engen Zusammenhang mit den Aufmerksamkeitsschwierigkeiten und treten gemeinsam auf [12].

9.2.4.2 Aufmerksamkeit Aufmerksamkeit ist eine elementare Hirnleistung und eine grundlegende Voraussetzung für das Lernen. In der Neuropsychologie wird die Aufmerksamkeit in die Komponenten – selektive Aufmerksamkeit (Fähigkeit den Bereich zu erkennen, der die Aufmerksamkeit benötigt und sich auf diese eine Aktivität zu konzentrieren), – geteilte Aufmerksamkeit (Fähigkeit gleichzeitig mehrere Informationen zu beachten), – Daueraufmerksamkeit (Fähigkeit die Aufmerksamkeit lange aufrechtzuhalten) und in die Komponente der kognitiven Verarbeitungsgeschwindigkeit unterteilt [19]. Die Schwierigkeiten der Kinder mit Spina bifida und Hydrocephalus in der Aufmerksamkeit wurden schon früh und vielfach beobachtet [5, 6, 20, 21] und gehören zu den Aspekten, die von Eltern, Lehrern und auch erwachsenen Betroffenen häufig als Problem benannt werden. Selbst Kinder mit einer guten Intelligenz (≥ 90 Punkte) erreichen häufig nur eine Leistung in der Aufmerksamkeit im unteren Level [6]. Die Probleme in der Aufmerksamkeit auf alle äußeren Reize wird als einer der wesentlichen „core-deficits“ benannt [8]. Eine andere sog. Kernschwäche ist die Wahrnehmung und das Einschätzen von Zeit und Rhythmus [8]. Bei schwachen Leistungen in der Aufmerksamkeit stellt sich die Frage, inwieweit ein Aufmerksamkeitsdefizit-Syndrom bei Kindern mit Spina bifida und Hydrocephalus vorliegt. Die Arbeit von Brewer und Fletcher [22] kommt zu dem Ergebnis, dass bei diesen Kindern andere Teilaspekte der Aufmerksamkeit beeinträchtig sind als bei Kindern mit einem Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätssyndrom (ADHS) und ihr Aufmerksamkeitsproblem dem sog. stillen Typ entspräche. Während Kinder mit ADHS vor allem Probleme mit dem Wechseln und der Daueraufmerksamkeit haben, sind

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es bei den Kindern mit Hydrocephalus plus Spina bifida neben dem Wechseln der Aufmerksamkeit vor allem die Schwierigkeiten in der selektiven Aufmerksamkeit, also den Fokus zu finden, ihre Aufmerksamkeit überhaupt auf den wichtigen Punkt zu lenken und ihn dort trotz Störungen zu halten. Auch eine Elternbefragung ergab, dass fast ein Viertel der Eltern bei ihren Kindern den unaufmerksamen Typ eines Aufmerksamkeitsdefizit-Syndroms sehen, der stärker durch erhöhte Unaufmerksamkeit als durch Impulsivität und Hyperaktivität auffällt [23]. Die Auswirkungen der medikamentösen Therapie sind darum begrenzt [8]. Wenn Eltern sich über die Konzentrationsschwächen ihres Kindes mit Spina bifida und Hydrocephalus sorgen, ist es also weniger eine Schwäche in der Daueraufmerksamkeit, sondern eine Schwäche in der selektiven Aufmerksamkeit. Die Kinder sind leicht ablenkbar und wirken daher unkonzentriert, obwohl eine Konzentrationsfähigkeit vorliegt. Es ist sogar so, dass sich die Daueraufmerksamkeit als relative Stärke zeigt [24]. Das Potential der Daueraufmerksamkeit kann allerdings vom Kind nur genutzt werden, wenn es nicht durch seine Schwäche in der selektiven Aufmerksamkeit überlagert wird. Als Schüler brauchen die hiervon betroffenen Kinder Ruhe und Reizarmut zum Arbeiten. Bei den Forschungsergebnissen zur Aufmerksamkeitsschwäche lässt sich eine Verbindung zu der bei einem Hydrocephalus veränderten Hirnsituation ziehen: Vor allem beim Verschlusshydrocephalus wie er bei einer Chiari-II-Malformation besteht, erfolgt die Erweiterung der Seitenventrikel ausgehend von den hinteren (posterioren) Teilen des Ventrikels und erfasst danach die vorderen (anterioren) Teile [16], wobei sich die Seitenventrikel stärker weiten als andere Bereiche des Ventrikelsystems. Ein lange anhaltender intrakranieller Druck führt weiter zu einer Reduktion von weißer und grauer Hirnsubstanz, vor allem in den seitlichen und hinteren Regionen [22]. Diese posterioren Regionen regulieren die selektive Aufmerksamkeit und könnten durch den intrakraniellen Druck in dieser Funktion beeinträchtigt sein [5, 22]. Bei Kindern mit Spina bifida findet sich zugleich oft eine mangelhafte Ausbildung der posterior gelegenen Bereiche des Balkens. Da das posteriore Aufmerksamkeitssystem diesen Transfer zwischen den Parietallappen benötigt [5], besteht die begründete Vermutung, dass Kinder mit einem Hydrocephalus und einer Spina bifida eine selektive Aufmerksamkeitsstörung aufgrund der posterioren Erweiterung ihrer Seitenventrikel und aufgrund beeinträchtigter posteriorer Balkenbereiche (Corpus callosum splenium) haben. Es wird daher auch von einem „posterior attention system problem“ gesprochen [4]. Die geringere Hirnaktivität in den posterioren Regionen (vor allem im Lobulus parietalis superior) bei Tests, die die selektive Aufmerksamkeit prüfen, ist mit den modernen bildgebenden Verfahren nachweisbar [25]. Im Unterschied dazu wird die Daueraufmerksamkeit, die bei Kindern mit einem ADHS beeinträchtigt ist, von anterioren Regionen des Hirns gesteuert. Die zu beobachtende geringe Hirnaktivität im Lobulus parietalis superior kann auch die Defizite in der räumlichen Wahrnehmung erklären [25], weil einer der beiden Verarbeitungswege von visuell-räumlichen Eindrücken über diese Region verläuft.

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Darüber hinaus sind geringere Hirnaktivität im Frontallappen in Übereinstimmung mit Schwächen in den Exekutivfunktionen festzustellen [25]. Der Aufmerksamkeitsschwäche bei Kindern mit Spina bifida und Hydrocephalus wird auch eine zentrale Rolle für Einbußen in den Exekutivfunktionen zugeschrieben [4, 16] und sie kann weiter Ursache der Gedächtnisprobleme der Kinder mit Hydrocephalus und Spina bifida sein [26].

9.2.4.3 Kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit (Prozessgeschwindigkeit) Teil des Aufmerksamkeitssystems ist die kognitive Verarbeitungsgeschwindigkeit. Mit der Schwäche in der selektiven Aufmerksamkeit scheint bei Kindern und Jugendlichen mit Spina bifida und Hydrocephalus eine langsame Verarbeitungsgeschwindigkeit kombiniert zu sein [22, 27]. Mehrere Studien finden in der Verarbeitungsgeschwindigkeit und auch in der unmittelbaren Informationsaufnahme deutliche Defizite. Zwei Studien [15, 28] sprechen gar von einer spezifischen Schwäche, die sich von den anderen Schwächen nochmals abhebt. Auch hier wird zur Erklärung die Verbindung zu den durch den Hydrocephalus veränderten Hirnstrukturen gesucht. Viele Studien sehen in der verzögerten Myelinisierung der Axone und einer verzögerten Formation der synaptischen Verbindungen die Ursache für die Verlangsamungen [15]. Andere sehen die Ursache in der Chiari-II-Malformation [29], was aber umstritten ist [24].

9.2.4.4 Lernen und Erinnern Die Neuropsychologie zeigt eine Vielfalt an Gedächtnisleistungen auf, die unterschiedlich klassifiziert werden [19, 30]. Eine gängige Klassifikation ist die Differenzierung der Gedächtnisleistungen entlang der Behaltenszeitspanne. Also in Stufen vom unmittelbaren Behalten bis zum Langzeitgedächtnis zu unterscheiden und erst beim Langzeitgedächtnis gemäß verschiedener Inhalte (deklaratives/explizites und prozedurales/implizites Gedächtnis) zu differenzieren. Zahlreiche Studien beschäftigen sich mit den Gedächtnisleistungen bei Kindern mit Spina bifida und Hydrocephalus, vielleicht auch, weil viele Eltern und Betroffene Schwächen in den Gedächtnisleistungen beklagen [4]. Die Forschungen zeigen, dass viele der Kinder vor allem eine ineffektive Strategie beim Lernen und Erinnern haben. Die ineffiziente Lernstrategie bedeutet, dass die Kinder versuchen, sich alle Informationen zu merken und nicht die übergeordneten Begriffe oder die höher bewerteten Begriffe. Sie nehmen Informationen schlechter auf und haben erhebliche Schwächen metakognitive Strategien anzuwenden. Ihnen stehen die für den Schulerfolg wesentlichen Fähigkeiten, wichtige von unwichtigen Informationen zu unterscheiden, selektiv wichtige Fakten abzurufen und unwichtige Informationen zu ignorieren, nicht zur Verfügung. Darüber hinaus haben sie nicht nur Schwierigkeiten im Abspeichern und Abrufen, sondern auch eine schlechte Ge-

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dächtnisspanne [17, 31]. Und angesichts dieser geringen Gedächtnisspanne erweist sich die Lernstrategie, nur möglichst viel abzuspeichern als besonders ineffizient. Das ineffiziente Abrufen kann auch zu den Schwierigkeiten im Verständnis des gelesenen Textes führen [10, 15, 17], obwohl die Kinder über eine gute Worterkennung verfügen. Ihre guten phonologischen Kenntnisse und ihre adäquate Kenntnis der Klangstruktur der Sprache erleichtertes im Prinzip zwar, geschriebene Texte zu lesen, aber ihr ineffizientes Abrufen der phonologischen Informationen aus dem Langzeitgedächtnis, verbunden mit der Schwäche in der Prozessgeschwindigkeit, erschwert ihnen die Wortidentifikation [32]. Und es erschwert das Lernen von neuen geschriebenen und gesprochenen Vokabeln. Zudem behindert diese ineffiziente Abrufstrategie die kognitiven Ressourcen, um einen geschriebenen Text zügig zu verstehen [32]. Neben der ineffektiven Strategie beim Abrufen wird diskutiert, ob bei dem kurzfristigen Behalten, dem Arbeitsgedächtnis, nicht vielmehr ein anderes Problem besteht. Die Leistungen des Hirns sind wie alle neurologischen Vorgänge im Körper dem Zusammenspiel von Hemmung und Bahnung unterworfen. Das Arbeitsgedächtnis kann nur neu speichern und neu abrufen, wenn zugleich das Speichern und Abrufen anderer Inhalte gehemmt wird. Die häufig von Eltern beklagten und im Test nachgewiesenen Mängel im Arbeitsgedächtnis können auch an fehlender Hemmung vorher abgespeicherter Inhalte liegen [33]. Mangelnde neurologische Hemmung dürfte auch bei den Problemen in der selektiven Aufmerksamkeit eine entscheidende Rolle spielen. Dagegen klappt das einfache Auswendiglernen gut, und die Kinder zeigen bei einfachen Lernaufgaben keine schlechteren Resultate als die Kontrollgruppen, aber sobald höhere Anforderungen hinzukommen, macht sich die ineffiziente Lernstrategie bemerkbar [15, 31, 32, 34]. Das implizite Gedächtnis, das Fertigkeiten und Verhaltensweisen speichert, ist dabei nicht beeinträchtigt, wohl aber das explizite Gedächtnis, das Erfahrungen und Wissen speichert. Es besteht die Vermutung, dass das implizite Gedächtnis an weniger spezialisierte und weniger verletzbare Hirnstrukturen gebunden ist und deshalb in seiner Funktion weniger beeinträchtigt ist als das explizite Gedächtnis [27, 31, 35]. Je älter die Kinder waren und je höher der Intelligenzquotient der untersuchten Kinder lag, desto besser zeigte sich das explizite Lernen und Erinnern [35]. So ist zu schlussfolgern, dass viele Lernschwierigkeiten der Kinder mit Spina bifida und Hydrocephalus begründet sind in einer Kombination aus Aufmerksamkeitsschwäche, mangelhaften Gedächtnisstrategien, langsamen Prozessen und Schwächen in den Exekutivfunktionen.

9.2.4.5 Exekutivfunktionen Als Exekutivfunktionen werden die metakognitiven Prozesse und die Fähigkeiten in der kognitiven Strategiebildung, Planung und Ausführung komplexer, nichtroutinierter Handlungen bezeichnet. Sie werden vom präfrontalen Kortex gesteuert [36].

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Bezüglich der Fähigkeiten in den exekutiven Funktionen bei Kindern mit Hydrocephalus und Spina bifida zeigen die Forschungen wiederholt Probleme in den Exekutivfunktionen [4], vor allem in den nonverbal problemlösenden Aufgaben [6, 10, 21]. Es ist aber nicht die Aussage zu treffen, dass Kinder mit Spina bifida durch schwache Exekutivfunktionen charakterisiert sind, denn sie verfügen über die Grundausstattung an Metakognition, Planung, Arbeitsgedächtnis und dem Aufrechterhalten der Aufmerksamkeit [8]. Bei vielen Kindern bestehen erhebliche Schwierigkeiten in der Planung, der Organisation, der Abstraktion, im differenzierten Erinnern und besonders bei der Bewältigung komplexer, wenig strukturierter Aufgaben [8, 15]. Ihnen scheint die gedankliche Bearbeitung, die gedankliche Vorwegnahme, das gedankliche Spiel mit Varianten sehr schwerzufallen. Die größte Barriere bei der Bewältigung höherer kognitiver Aufgaben scheint hierbei der Prozess der Trennung relevanter von irrelevanten neuen Informationen zu sein. Damit fehlt den Kindern die Strategie komplexe Leistungen gedanklich zu bearbeiten, insbesondere wenn es sich um neue Aufgaben handelt, weil neu aufzunehmende Informationen für sie schwer zu begrenzen sind [15]. Die Abstände in den exekutiven Fähigkeiten zu den nichtbehinderten Kindern sind zwar bei den normalintelligenten Kindern mit Hydrocephalus wesentlich geringer als bei den minderbegabten Kindern, aber immer noch statistisch auffällig [4, 6, 10, 37]. Je älter die Kinder werden und je mehr Anforderungen in Schule und Alltag an ein eigenständiges Arbeiten gestellt werden, desto stärker fällt die Schwäche in den Exekutivfunktionen ins Gewicht und wirkt wie ein Abfall der Leistungen [15]. Den Kindern hilft es, wenn mit ihnen Strategien zum Lösen komplexer Aufgaben entwickelt werden. Die Schwächen in den Exekutivfunktionen bewirken auch, dass Jugendliche mit Spina bifida und Hydrocephalus weniger Zeit mit zielgerichteten Aufgaben und Aktivitäten verbringen als andere Jugendliche [27], was in der Kombination mit den Aufmerksamkeitsschwächen zu sozialen Schwierigkeiten in der Familie und im Freundeskreis führen kann [21]. Das Ausmaß der Beeinträchtigungen in den Leistungsaspekten der Aufmerksamkeit und der exekutiven Funktionen wird somit als ein Prädiktor für das Gelingen der sozialen Anpassung angesehen. Gering ausgebildeten Exekutivfunktionen wird weiter eine Schlüsselrolle bei internalisierten Problemen und Depressionen [37] und bei dem Erreichen von Autonomie [38] gegeben. Nicht nur bei den Exekutivfunktionen, sondern auch insgesamt in der Messung der kognitiven Fähigkeiten gibt es Hinweise, dass sich bei Kindern und Jugendlichen mit Spina bifida und Hydrocephalus die kognitiven Fähigkeiten mit zunehmendem Alter weniger gut fortentwickeln als bei nichtbehinderten Kindern und Jugendlichen [15]. Viele der Kinder, die in der Kindergarten- und Grundschulzeit in der Intelligenzmessung durchschnittliche Werte erreichen, erreichen im Jugendalter nur noch unterdurchschnittliche Werte. Dies kann ein Grund für den in der Praxis zu beobachtenden Schulwechsel von der Regel- auf die Sonderschule sein, der aber ebenso gut in den

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mit dem Jugendalter zunehmenden sozialen Schwierigkeiten in einer Schulkasse begründet sein kann.

9.2.4.6 Mathematische Fähigkeiten Eltern beklagen häufig schlechte Schulnoten in Mathematik. Eine Übersichtsarbeit [33] gibt an, das 45 % der Kinder mit Spina bifida und Hydrocephalus eine „math learning disability“ haben, knapp die Hälfte von ihnen in Kombination mit einer LeseRechtschreib-Schwäche. Und auch die Kinder ohne weitere Lernschwächen sind in der Arithmetik signifikant schwächer als gleichaltrige nichtbehinderte Kinder. Dagegen findet sich nur bei 3 % der Kinder mit Spina bifida und Hydrocephalus eine isolierte Lese-Rechtschreib-Schwäche. Im Unterschied dazu wird der Anteil von Schülern mit Lese-Rechtschreib-Schwäche als auch der Anteil von Schülern mit Rechenschwäche in der Normalpopulation mit je maximal 8 % eines Jahrgangs vermutet. Trotz der Schwierigkeiten in der Arithmetik sind bei den Kindern mit Spina bifida und Hydrocephalus die grundlegenden Rechenfähigkeiten besser entwickelt als andere mathematische Anforderungen wie Geometrie, Schätzen und Textaufgaben [33]. Da das Zählen und das Basisrechnen gut erlernt werden, ist sogar die einfache Arithmetik als relative Stärke innerhalb der Mathematik zu sehen [8]. Die Probleme beginnen beim Kopfrechnen und nehmen zu bei allen Aufgaben, die mathematisches Problemlösen erfordern. Die Schwächen sind persistent bis in das Erwachsenenalter [8, 33], teilweise wird mit zunehmendem Alter ein größer werdender Abstand zwischen den Jugendlichen mit Hydrocephalus und Spina bifida gegenüber den Kontrollgruppen nichtbehinderter Jugendlicher festgestellt, während die Jugendlichen beim Lesen und Buchstabieren mithalten können. Diese Kinder und Jugendlichen profitieren aber dann von Lösungsstrategien, die sie sich angeeignet haben. Viele wissen, wie sie zu einer Lösung kommen können, auch wenn die Strategie unausgereift ist [8]. Es werden unterschiedliche Ursachen für die Schwächen in den mathematischen Fähigkeiten diskutiert. Einige Autoren (z. B. [39]) sehen es als verzögerte Entwicklung des impliziten Gedächtnisses, das für das Einüben und Behalten von Funktionsabläufen und somit auch für wiederkehrende Rechenprozesse verantwortlich ist. Allerdings sehen die Studien zum Behalten und Erinnern bei Kindern mit Spina bifida und Hydrocephalus im impliziten Gedächtnis eine relative Stärke gegenüber dem expliziten Gedächtnis, in dem vornehmlich Faktenwissen gespeichert wird. Andere Studien erklären die Schwächen in der Mathematik vor allem durch die schwachen Leistungen der Kinder in der Prozessgeschwindigkeit, dem Arbeitsgedächtnis, dem expliziten Erinnern und den Planungsfähigkeiten oder auch, dass im Arbeitsgedächtnis das Wechselspiel zwischen neuronaler Bahnung und Hemmung beeinträchtigt ist (Geary nach [33]). Die Schwächen in Geometrie und im Schätzen und die Kenntnis über die Entwicklung mathematischer Fähigkeiten legen die Vermutung nahe, dass bei diesen Kindern eine Schwäche in den visuell-räumlichen Fähigkeiten vorliegt. English et al. [33] spre-

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chen von einer Assoziation. Gute visuell-räumliche Fähigkeiten sind eine notwendige Voraussetzung für alle Schätzaufgaben und alle konstruktiven Aufgaben. So versagen Kinder mit einer Rechenschwäche aufgrund visuell-räumlicher Schwächen u. U. völlig bei der Einschätzung von Mengen, Größen und Verhältnissen und in der Geometrie, sie können aber durchaus gut im Rechnen sein [40]. Dies entspräche der Schilderung vieler Eltern. Hier ist zu erwähnen, dass eine Rechenschwäche verschiedene Ursachen haben kann und eine Schwäche in den visuell-räumlichen Fähigkeiten nur eine dieser möglichen Ursachen sein kann, allerdings eine mit sehr gravierenden Folgen, weil auch die Ausbildung der Vorstellung eines inneren Zahlenstrahls und die gedankliche Vorstellung von Raum und Zeit beeinträchtigt sein können.

9.2.4.7 Visuell-räumliche Fähigkeiten und räumliches Denken Neben den Schwierigkeiten in Mathematik bei vielen Kindern weisen die häufig schwachen Ergebnisse in den nonverbalen Tests auf Beeinträchtigungen im räumlichen Denken hin, denn die Fähigkeit zum räumlichen Denken bildet einen zentralen Bereich der nonverbalen Intelligenz. Da Beeinträchtigungen in diesem Bereich darüber hinaus zu weiteren Schwierigkeiten im Schulalltag führen, werden die „visuellräumlichen Fähigkeiten“ näher beschrieben. Für die Wahrnehmung von Distanzen und Positionen, für die gedanklichen Vorstellungen von Lageveränderungen von Personen oder Objekten, für sein Verhalten und seine Orientierung im Raum benötigt der Mensch räumliche, vor allem visuellräumliche Wahrnehmungsfähigkeiten. Ohne die Fähigkeit zur räumlichen Orientierung könnten Dinge nicht benutzt oder wiedergefunden, könnte nicht auf Menschen zugegangen und sich nicht zielgerichtet im Raum bewegt werden. Dabei unterteilt die Neuropsychologie die visuell-räumlichen Fähigkeiten in vier Teilleistungen, in die – visuell-räumlich-perzeptiven Fähigkeiten, – visuell-räumlich-kognitiven Fähigkeiten, – visuell-räumlich-konstruktiven und – visuell-räumlich-topografischen Fähigkeiten [41]. Die Basis bilden die visuell-räumlich-perzeptiven Fähigkeiten mit dem richtigen Erkennen der Objekte und visuellen Abschätzungen. Die visuell-räumlich-kognitiven Fähigkeiten umfassen vor allem die mentalen Drehungen und Perspektivenwechsel und die visuell-räumlich-konstruktive Fähigkeit bezieht sich darauf, anschließend auch die korrekte Tätigkeit vollziehen zu können [36]. Diese Leistungen sind aufeinander aufbauend, denn die notwendige Handlung ist ohne das vorhergehende richtige Erkennen des Gegenstandes und ohne gedankliches Bearbeiten nicht zu leisten. So ist z. B. der konstruierende Akt eine Schleife zu binden nur möglich, wenn vorher die Lage der Bänder erkannt wird und sich gedanklich die Schleife vorgestellt werden kann. Relativ unabhängig zu diesen Teilleistungen ist die visuell-räumlich-

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topografische Fähigkeit, aber die Orientierung im Raum ist eindeutig ebenfalls eine visuell-räumliche Fähigkeit. Die visuell-räumlichen Fähigkeiten sind von der Fähigkeit des Sehens zu unterscheiden. Mit ihnen wird der Prozess der visuellen Verarbeitung des vom Auge übermittelten Sinneseindrucks bezeichnet [42]. Auch bei voller Funktionalität von Auge und Sehnervenbahn werden vom Gehirn nicht immer alle Objekte in ihren Farben, Formen und Positionen richtig erkannt. Wobei bei Kindern mit Hydrocephalus sehr wohl schon die Schwierigkeiten im Prozess des visuellen Wahrnehmens bei der Sinnesleistung des Sehens beginnen können, denn der intrakranielle Druck kann sich auf die Augenmuskeln und den Sehnerv auswirken (z. B. Beeinträchtigungen in den Augenbewegungen und in der Sehschärfe). Die hier beschriebene neuropsychologische Fähigkeit der visuellen Wahrnehmung umfasst aber nicht nur den physiologischen Prozess des Sehens vom Auge bis zum primären Sehfeld im Hinterhaupthirn, sondern auch die neuropsychologische Weiterverarbeitung. Zu den visuell-räumlich-perzeptiven Leistungen gehört nicht nur das Erkennen der Objekte, ihrer Größen und Formen, sondern auch die Wahrnehmung von Winkeln und Abständen, von Positionen und Entfernungen. Auf der Ebene der visuellräumlich-perzeptiven Fähigkeit gelingt das richtige Erkennen von Objekten, Gesichtern und Lokalisationen (z. B. auf, neben, rechts, links). Obwohl auch Schwächen in der Figur-Grund-Unterscheidung beschrieben werden [10], bestehen sie vor allem bei allen räumlichen Relationen [8]. Den Eltern fallen die Kinder auf, wenn sie nur schwer die analoge Uhr lernen. Aufgrund ihrer eingeschränkten visuell-räumlich-perzeptiven Fähigkeit gelingt es ihnen nicht, die Winkel und Abstände korrekt wahrzunehmen. Es fällt ihnen schwer, die Zeigerstellung der analogen Uhr zu verstehen und sie erlernen die digitale Uhr leichter als die analoge Uhr. Diese und andere Kinder zeigen dann auch Schwierigkeiten in den ebenfalls den visuell-räumlich-perzeptiven Fähigkeiten zugeordneten Leistungen im Schätzen von beispielsweise Längen, Entfernungen und Mengen. Viele Kinder mit Spina bifida und Hydrocephalus zeigen in den visuell-räumlichkognitiven Fähigkeiten Einbußen. Schwierigkeiten in der kognitiven Verarbeitung des visuell-räumlich-kognitiven Eindrucks führen zu Problemen bei allen Formen von mentalen Rotationen, beispielsweise wenn gedanklich ein Gegenstand umgesetzt oder gedreht werden soll, in der Vorstellung ein Wasserhahn gedreht wird, die Stühle anders angeordnet werden sollen oder sich anhand eines Grundrisses eine Wohnung vorgestellt werden soll [8]. Auch die Schwierigkeit, sich gedanklich in die Position des Gegenübers versetzen zu können und seine Sicht der Dinge nachzuvollziehen, zählt hierzu. Besonders auffallend sind aber die Schwächen in den visuell-räumlich-konstruktiven Leistungen, auch bei kognitiv relativ guten Kindern [10, 29]. Visuell-räumlichkonstruktive Leistungen beziehen sich auf den handelnden Akt, auf die motorische Leistung unter visueller Kontrolle. Also Geräte, Sachen oder Spielzeug richtig zusammenzubauen, anzuordnen, zu konstruieren. Einbußen hierin führen dazu, dass die

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Kinder ungern in der dritten Dimension bauen und es ihnen schwerfällt, ein Spielzeug nach Plan aufzubauen. Die signifikant häufigen Schwierigkeiten in den visuellräumlich-konstruktiven Leistungen von Kindern mit Hydrocephalus, und hierunter insbesondere die Kinder mit Spina bifida und Hydrocephalus, belegt auch eine Studie aus Deutschland [12]. Über Schwierigkeiten in den visuell-räumlich-topografischen Fähigkeiten wird vielfach von Betroffenen und Eltern berichtet. Sie scheinen aber bei den betroffenen Kindern unabhängig von möglichen Einbußen in den anderen visuell-räumlichen Leistungen vorzukommen [12]. Die Kinder mit visuell-räumlich-konstruktiven Schwächen fallen auch nicht durch Orientierungsprobleme auf. Die niedrigen Werte in den Testungen zu visuell-räumlichen Fähigkeiten von vielen Kindern mit Spina bifida und Hydrocephalus werden üblicherweise mit ihrer mangelnden Raumerfahrung aufgrund ihrer Körperbehinderung begründet. Dies ist eine nachvollziehbare Begründung, aber bisher mangelt es an wissenschaftlichen Belegen, welche Relevanz die Eigenlokomotion zur Herausbildung visuell-räumlicher Fähigkeiten hat. Dagegen bietet sich die neuropsychologische Erklärung an, dass von den beiden wesentlichen Wegen der Verarbeitung von visuellen Eindrücken im Gehirn der Pfad der Raumwahrnehmung (Positionen, Raumachsen, Orientierung) vulnerabler ist als der Pfad der Objektwahrnehmung (Formen, Farben, Gesichter).

9.2.5 Auswirkungen auf schulische Leistungen Die Einschränkungen in visuell-räumlichen Leistungen, insbesondere visuell-räumlich-konstruktiven Leistungen, wie sie bei Kindern mit Spina bifida und Hydrocephalus beobachtet werden, haben erhebliche Auswirkungen auf das schulische Lernen. Diese Kinder finden nur schwer die nächste Zeile beim Lesen im Heft, im Buch und bei Tabellen und Plänen. Sie vertauschen sich ähnelnde Buchstaben beim Schreiben, weniger beim Lesen, und haben Probleme beim Untereinanderschreiben von Zahlen. Sie haben Probleme die Uhr zu lesen und im Zeitempfinden. Alle Formen von Schätzaufgaben bilden Hürden und diese finden sich in vielen Unterrichtsfächern. Auch die Verbalisierungen von Wegen und Entfernungen gelingen häufig nicht. Schon die mentalen Vorstellungen von Entfernungen, Richtungen und Drehbewegungen fallen schwer. Große Schwierigkeiten entstehen, wenn die visuell-räumliche Konstruktion verlangt wird: Falten, Ausschneiden, Abzeichnen, Teilen, Anlegen und alles Konstruieren in der dritten Dimension. Es findet sich also ein Schüler, der große Schwierigkeiten im visuell-räumlichen Handeln hat, der darum viel Anstrengung und Konzentration im Schulalltag benötigt für das richtige Wahrnehmen und Reproduzieren der Zahlen, Buchstaben, Bilder, Tabellen, Pläne, Landkarten, Zeichnungen, Umrisse und Bildreihenfolgen, für das gedankliche Übertragen von Zahlen, Größenverhältnissen, Textaufgaben und schließlich für das korrekte Platzieren und Malen der Buchstaben, Zahlen, Tabellen.

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Manche vermeintlich feinmotorische Schwäche dürfte vielmehr eine Schwäche in der visuell-räumlich-konstruktiven Fähigkeit sein. Es ist vorstellbar, dass die von Eltern festgestellte schnelle Ermüdung ihrer Kinder und der Bedarf an Ruhe auch in der Anstrengung begründet ist, die die Bewältigung der visuell-räumlich-konstruktiven Anforderungen von ihnen verlangt. Die Schwierigkeiten wirken sich auf alle Schulfächer aus, einschließlich des Sportunterrichts. Im Sportunterricht fallen den Kindern wegen der Schwierigkeiten im Schätzen von Entfernungen und Positionen die Ballspiele schwer, und der egozentrische Weg des Kindes mit dem Ball zum Tor kann eine Folge seiner visuellräumlich-konstruktiven Schwäche sein. Sekundärfolgen sind die Angst vor dem Ball und womöglich eine Ablehnung aufgrund des nicht mannschaftsförderlichen Verhaltens. Über die Probleme in den Schulfächern hinaus, können Probleme im sozialen Bereich entstehen, weil vielen Kindern ein mentaler Perspektivenwechsel nicht gelingt und sie sich weder in den Protagonisten einer Geschichte im Deutschunterricht noch in den Mitschüler oder Lehrer hineinversetzen können.

9.2.6 Stärken und Kompensationen Visuell-räumlich-konstruktive Schwächen haben gute Therapiechancen, insbesondere bei jüngeren Kindern. Älteren Kindern sollten Kompensationsmöglichkeiten angeboten werden, auch in der Schule. Dies können die Finger zum Abzählen und in der Geometrie zum Abmessen sein, vergrößerte Abbildungen und große Rechenkästchen, Hefte mit weißem Rand, klar strukturierte Arbeitsblätter und Bücher. Da bei vielen Kindern die verbalen Fähigkeiten gut ausgebildet sind, ist es diesen Kindern eine Hilfe, wenn sie die Aufgabe und Antwort verbalisieren dürfen. Das können Beschreibungen statt Landkarten, Tabellen oder Zeichnungen sein. Kinder mit visuell-räumlich-konstruktiven Störungen, denen ein sauberes Schreiben von Zahlen und Buchstaben nur mit großer Anstrengung gelingt, können einen Computer benutzen. Textaufgaben sollten ohne räumliche Komponenten sein, d. h. auch ohne Präpositionen mit räumlichem Bezug. Wenn der Kunst- und Werkunterricht Abzeichnen und Bauen in der dritten Dimension erfordert, sollte über Möglichkeiten der alternativen Leistungserbringung durch den Schüler nachgedacht werden, was auch für andere Fächer genutzt werden kann. Kinder mit entwicklungsbedingten neuropsychologischen Schwächen entwickeln früh eigene Kompensationsstrategien, die oft von ihrem Umfeld nicht als Kompensation wahrgenommen werden, wie beispielsweise sich Wege und Verbindungen zu erfragen, statt sich mit einem Plan zu orientieren. Zu den Kompensationsmöglichkeiten der Kinder gehören neben ihren guten sprachlichen Fähigkeiten ihre guten Fähigkeiten im Lernen von auditiv vermitteltem Material und die guten Fähigkeiten im Auswendiglernen [6, 12]. Diese Möglichkeiten

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sollten genutzt werden. Die verbalen Fähigkeiten und eine gute Kommunikationsfähigkeit bilden bei vielen Kindern und Jugendlichen mit Spina bifida eine Kompetenz, mit deren Hilfe eine Kompensation mancher kognitiver Schwächen möglich ist.

9.2.7 Förderung Jede Förderung setzt eine gute Diagnostik und Beobachtung voraus. Hier sind die Eltern die wichtigsten Ratgeber und sollten differenziert befragt werden. Es besteht oft eine hohe Übereinstimmung zwischen elterlicher Beobachtung und Testergebnissen [4, 12]. Die differenzierte und präzise Betrachtung ist bei diesen Kindern besonders wichtig, weil sie zwar in jedem der üblicherweise getesteten neuropsychologischen Bereiche für sie typische Schwächen zeigen, es aber nicht sinnvoll ist, beispielsweise von einem Defizit in der Wahrnehmung oder in der Mathematik zu sprechen. Denn sie zeigen eben auch Stärken, an die angeknüpft werden kann: – Kopfrechnen und mathematisches Problemlösen fällt ihnen zwar schwer, aber sie können oft gut rechnen, – sie stocken vielleicht bei der Wiedergabe eines Textinhalts, aber sie haben eine gut entwickelte Sprache, – es misslingen ihnen häufig die gedanklichen Drehungen und Änderungen des visuell Wahrgenommenen, aber sie haben eine gute visuelle Wahrnehmung von Objekten, – sie haben oft ein schlecht entwickeltes Zeitgefühl, welches Ereignis zu welcher Zeit erfolgen wird, aber sie haben eine gut entwickelte Vorstellung von Abfolgen, – sie können nicht gut die Entfernungen oder Himmelsrichtungen angeben oder eine Wegbeschreibung geben, aber sie haben eine gute räumliche Orientierung anhand von Landmarken. Dies erfordert eine maßgeschneiderte, individuelle Testung und ebenso eine maßgeschneiderte Förderung. Und viele therapeutische Standardprogramme wie z. B. die Aufmerksamkeit zu schulen, erweisen sich als ineffektiv [8]. Bei der räumlichen Wahrnehmung sollten gezielt die visuell-räumlich-kognitiven und visuell-räumlichkonstruktiven Bereiche gefördert werden. Die Entdeckung der Stärken und der Kompensation von Schwächen bilden wichtige Bausteine in der Entwicklungsförderung bei Kindern mit Spina bifida und Hydrocephalus. Darüber hinaus können Eltern und das das Kind begleitende Fachteam dem Kind in seiner Entwicklung helfen. Die heutige Entwicklungspsychologie geht davon aus, dass die kognitive Entwicklung eines Kindes gefördert wird, wenn Kindern mit motorischen Beeinträchtigungen die Chance gegeben wird, analog den Entwicklungsschritten einer unbehinderten Entwicklung, sich aufrichten und sich fortbewegen zu können. Mit der Aufrichtung erlebt das Kind eine neue Perspektive und mit der selbstständigen Fortbewegung eröffnet

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sich ihm eine Welt gänzlich neuer Erfahrungen. Eine frühe Hilfsmittelversorgung trägt zur Förderung der Entwicklung bei und bereitet dem Kind Freude. Kinder mit und ohne Behinderung lernen gern und erfolgreich, wenn ihre Talente und Interessen aufgegriffen werden und sie Bestätigung für ihren Lernerfolg erhalten. Dies bedeutet, dass nicht die von Eltern und Fachleuten wahrgenommenen Schwächen im Zentrum der Förderung stehen sollten, sondern die Entwicklungsangebote, die das Kind signalisiert. Daneben kann auf eine differenzierte neuropsychologische Diagnostik zurückgegriffen werden, weil sie eine Vielzahl der Fähigkeiten und möglichen Schwächen des Kindes feststellen kann, und für manche Schwächen gibt es therapeutische Möglichkeiten, sodass die neuropsychologische Schwäche nicht zu einer Lernerschwernis in der Schule werden muss. Für alle Interventionen gilt der Grundsatz, dass sie auf einer differenzierten Diagnostik basieren müssen, ein genau beschriebenes Therapieziel haben müssen und deshalb gezielt und begrenzt eingesetzt werden sollten. Und auch wenn allgemeine Schulungen der Körperwahrnehmung, der Basissinne oder der Psychomotorik die Kindesentwicklung allgemein unterstützen, so ist einzuschränken, dass sie keine Verbesserung der Rechenfähigkeit [43] oder anderer schulischer Fertigkeiten bewirken. Rechnen und Lesen verbessern sich nur durch Unterrichtung von Rechnen und Lesen [33]. Gute sensomotorische Basisfunktionen schaffen eine Voraussetzung für Entwicklungsfortschritte, aber eine hinreichende Intervention zur Förderung kognitiver Fähigkeiten leisten sie nicht. Zur Entwicklungsförderung sind, neben dem Ausgleich der motorischen Einschränkungen und den (wenigen) zielgerichteten Interventionen, dem Kind jene förderlichen Bedingungen wie emotionale Stabilität und Nähe, Förderung der Talente und Würdigung seiner individuellen Fortschritte und Persönlichkeit zu geben, wie sie jedem Kind für seine Entwicklungsförderung gegeben werden sollten. Kinder wachsen, wenn sie spüren, dass ihre Eltern Freude an ihnen haben und stolz auf sie sind.

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9.3 Psychologische Aspekte der Langzeitbegleitung und Krisenintervention

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Tipps ASBH (Hrsg.) Ihr Kind mit Hydrocephalus. Ein praktischer Ratgeber für Familien. Dortmund: ASBH; 2006. (Online zu bestellen über die ASBH – Homepage unter „Ratgeber“). ASBH (Hrsg.) Hydrocephalus bei Schülern. Hilfen bei Schwierigkeiten im Schulalltag. Dortmund: ASBH; 2008. (Online zu bestellen über die ASBH – Homepage unter „Ratgeber“). Blume-Werry A. Entwicklung von Selbstständigkeit. In: ASBH. (Hrsg.). Leben mit Spina bifida und Hydrocephalus. ASBH-Ratgeber 21. Dortmund: ASBH; 2009.

Andreas Frenzel

9.3 Psychologische Aspekte der Langzeitbegleitung und Krisenintervention 9.3.1 Einleitung Behinderte und/oder chronisch kranke Kinder, Jugendliche und Erwachsene sind mehr als gesunde Personen auf die Unterstützung durch ein soziales Netzwerk (Familie, Freunde, fördernde Institutionen, Wohn- und Lebensgemeinschaft, Arbeitsumfeld) angewiesen. Gerade die oft notwendige Vielzahl das gesamte Leben begleitender diagnostischer oder therapeutischer Maßnahmen, aber auch die Auswirkungen der Erkrankung/Behinderung prägen den Alltag des Menschen mit, und damit auch den der sozialen Gemeinschaft, in der er lebt. Der Prozess der immer wieder notwendigen Auseinandersetzung mit der Erkrankung/Behinderung kann dabei nach Tröster [1] im Rahmen eines Modells zur Krankheitsverarbeitung beschrieben werden. Demnach interagieren potentielle Stressoren (Bedingungen der Behinderung selbst, Verhaltens- und Entwicklungsauffälligkeiten im Zusammenhang mit der Behinderung, natürlicherweise gegebene Entwicklungsübergänge und kritische Lebensereignisse) und moderierende sowie vermittelnde Prozesse (individuelle, familiäre und soziale Ressourcen) miteinander und gestalten so die psychosoziale Anpassung. Der Gesundheitsstatus des Menschen mit Behinderung, seine gesundheitsbezogene Lebensqualität, die Qualität des Miteinanders innerhalb der sozialen Gemeinschaft und die erreichte soziale Integration sind somit von der Qualität dieses Abstimmungsgeschehens bestimmt. Diese interaktive Sichtweise deckt sich mit dem alters- und behinderungsunabhängigen Blickwinkel der Internationalen Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF), vgl. Bruyère [2]. Dieser geht davon aus, dass Behinderung ein universelles menschliches Ereignis ist, das aus der Interaktion zwischen dem Gesundheitsstatus einer Person, ihren persönlichen Ressourcen und gesellschaftlich-sozialen Bedingungen und Umweltfaktoren entsteht. Ziel aller Maßnahmen und Unterstützung ist dabei die Partizipation des behinderten Menschen, d. h. seine vollständige Integration und Teilhabe in und an allen Bereichen des sozialen und gesellschaftlichen Lebens.

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Diese primär konzeptuelle Annahme bietet somit auch bei einer komplexen Behinderung bzw. chronischen Erkrankung wie Spina bifida mit physischen, neuropsychologischen, emotionalen und psychosozialen Auswirkungen ein Modell, psychologische bzw. rehabilitationspsychologische Ziele zu formulieren. Darauf aufbauend lassen sich in einem nächsten Schritt individuelle und auf die soziale Gemeinschaft abgestimmte Interventionen ableiten und durchführen [3]. Vor diesem Hintergrund ergeben sich Themen möglicher, am aktuellen individuellen Bedarf und an dem o. g. Ziel der Teilhabe orientierter psychologischer Interventionen über das gesamte Leben eines durch Spina bifida behinderten Menschen bzw. des sozialen Systems, in dem er lebt: – Anpassung einer Familie – aller Mitglieder – an das Thema Behinderung und an das Leben mit einem behinderten Kind, – Bindungsentwicklung bei Behinderung, – Anpassung des behinderten Menschen an körperliche Bedingungen und Notwendigkeiten sowie an den sozialen Kontext, in dem er lebt, – Lern- und Leistungsmöglichkeiten sowie schulische Integration des Kindes und Jugendlichen, – Berufsfindung des Heranwachsenden, – Beziehungsfähigkeit, Partnerschaft und Sexualität, – Lösung von Erlebens- und Verhaltensstörungen (z. B. Essstörungen oder Aufmerksamkeitsdefizit-Probleme), – Auseinandersetzung des sozialen Systems mit krisenhaften Phasen. Mit der Diagnosestellung und der Perspektive, Spina bifida besonders auch als neuropsychologische Behinderung zu verstehen, sollen zuerst zwei Aspekte aufgegriffen werden, die immer wieder im Zentrum psychologischer Überlegungen und Interventionen stehen. Im Weiteren werden Aspekte zur Selbstkonzeptentwicklung und der Umgang des behinderten Menschen und seines sozialen Systems mit Krisen Gegenstand der Diskussion sein. Abschließend werden familienorientierte Ansätze zur Unterstützung von Familien mit einem behinderten Kind kurz die rehabilitationspsychologische Perspektive ergänzen.

9.3.2 Überlegungen zum Zeitpunkt der Diagnosestellung und zum Prozess der Krankheitsauseinandersetzung Der erste stresswirksame Moment im Leben einer Familie mit einem Kind, das von Spina bifida betroffen ist, ist wohl die Eröffnung der Diagnose und aller damit verbundenen pränatalen, geburtlichen oder nachgeburtlichen Implikationen [4]. Zu diesem Zeitpunkt werden die Eltern einerseits mit einer Fülle von medizinischen Informationen und Optionen für das weitere Vorgehen konfrontiert (u. a. Möglichkeit eines Abbruchs der Schwangerschaft, einer vielleicht schon vorgeburtlichen Operation zur

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Zelendeckung, einer Kaiserschnittentbindung mit Trennung von Mutter und Kind, des Vorliegens eines Hydrocephalus und damit verbundener Shuntversorgung, die zu erwartende motorische Einschränkung sowie die Blasen- und Darmlähmung). Andererseits sehen sie sich zuallererst der Ahnung oder schon der Erkenntnis ausgesetzt, dass ihr Leben ab dem Diagnosezeitpunkt anders, ganz anders verlaufen wird. Auf diesen Moment bereiten sich werdende Eltern nicht vor, sondern vielmehr auf die Annahme und die damit einhergehende Zukunftsperspektive, ein gesundes Kind zur Welt zu bringen, die sich in positiven vorgeburtlichen Phantasien widerspiegelt [5]. Die Bedrohung des eigenen Lebensentwurfs im Rahmen eines Diagnosegesprächs kann zu Reaktionen aufseiten der Eltern führen, die auch als posttraumatische Belastungsreaktionen beschrieben werden können [6]. Neben verschiedenen in der Literatur zur Krisenintervention beschriebenen Variablen, die auf den Prozess der Auseinandersetzung mit der Diagnoseeröffnung Einfluss haben können, kommt besonders der personalen Unterstützung durch den diagnostizierenden und mitteilenden Arzt entscheidende Bedeutung zu. Die Ehrlichkeit, mit der Informationen vermittelt werden, die wertschätzende und respektierende Einstellung gegenüber den emotionalen Reaktionen und Bedürfnissen der Eltern und eine Hoffnung vermittelnde, Ressourcen und Perspektiven öffnende Haltung, wird es Eltern leichter machen, sich mit dieser Herausforderung auseinanderzusetzen – und hoffentlich wieder relative Stabilität zu erreichen [7, 8]. So kann ein Prozess entstehen, bei dem einerseits die intensive und schmerzhafte Wahrnehmung von Verlustgefühlen, Trauer, Hilflosigkeit und Aggression im Vordergrund stehen darf. Andererseits können immer wieder die Gegenwarts- und Zukunftsorientierung und die konkreten Bedürfnisse der Eltern und des Kindes Mittelpunkt der Gespräche sein. Es ist somit das Schwanken zwischen dem Erspüren einerseits der emotionalen Bedeutung, die die Geburt eines behinderten Kindes für die Eltern haben wird, und andererseits der Alltags- und Realitätsorientierung der Eltern, das diesen Auseinandersetzungsprozess kennzeichnen wird [9]. Nicht nur unserer Erfahrung nach kann die frühe Einbeziehung psychosozialer Mitarbeiter – am besten schon im Rahmen des Diagnosegesprächs – helfen, individuelle Belastungen und Ressourcen zu erkennen, diese zu benennen und in die Beratung einzubeziehen [3, 10]. Der darauf folgende nachgeburtliche Zeitraum erweist sich als intensive Herausforderung an die individuellen und sozialen Ressourcen des Elternpaares bzw. des möglicherweise alleinerziehenden Elternteils. Der meist geplante Termin des Kaiserschnitts, die in der Regel zügig danach folgenden Operationen des Kindes – Deckung der Läsion und meist auch Shuntanlage –, die damit oft verbundene räumliche Trennung des Kindes von seinen Eltern und die Mittlerrolle des Partners sind Anforderungen, die den Beziehungsaufbau zum Kind erschweren können. Da schwere geistige Behinderungen im Zusammenhang mit einer Spina bifida glücklicherweise eher selten sind [11], können die Eltern und das behandelnde Team in dieser frühen Zeit sehr darauf bauen, dass die natürliche Kontaktaufnahme und Interaktion mit dem Kind selbst als Ressource wirken kann [12].

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Was bringt das konkrete Kind neben den Einschränkungen an Besonderheiten mit auf die Welt? Wie stark muss dieses Kind sein, wenn es jetzt schon so viele Belastungen übersteht? Wie nimmt es zur Mutter und zum Vater Kontakt auf? Wem sieht es ähnlich und welche Eigenschaften verbinden das Kind mit dem von den Eltern gewählten Namen? Dies sind Fragen, die Eltern neben den relevanten medizinischen Gesprächsinhalten helfen können, eine zu sehr an den somatischen Voraussetzungen orientierte Sichtweise zu ergänzen und eine tragfähige elterliche Beziehung zum Kind aufzubauen.

9.3.3 Neuropsychologisches Verständnis der Behinderung Spina bifida Die Familienstresstheorie [1] geht davon aus, dass durch behinderungsbedingte Aspekte (u. a. die Unsicherheit und Vulnerabilität der weiteren kindlichen Entwicklung, der Umfang der ZNS-Beteiligung, die eingeschränkte kindliche Mobilität und der Umfang der Hilfsmittelversorgung und letztlich die Perspektive einer langjährigen Pflegebedürftigkeit des Kindes) die Auseinandersetzung mit entwicklungsbezogenen Anforderungen erschwert werden kann. Als besonders einflussreich erweist sich dabei immer wieder – und das über verschiedene Erkrankungs- und Behinderungsgruppen hinweg – das Ausmaß der Beeinträchtigung des zentralen Nervensystems und der damit einhergehenden Folgen [13]. Versucht man nun diese Erkenntnis auf Kinder und Jugendliche mit Spina bifida zu übertragen, so stößt man schnell an Grenzen, weil die Heterogenität der ZNS-Beteiligung bei Kindern mit Spina bifida äußerst groß ist: Besteht eine Anlagestörung im Sinne einer Chiari-II-Malformation? Besteht ein Hydrocephalus? Und wenn ja, welchen damit zusammenhängenden Belastungen wurde das Kind ausgesetzt (z. B. Anzahl der bisherigen Shuntrevisionen)? Bestehen zerebrale Anfälle? Und: Wie ist das nun mit der elterlichen Erfahrung in Einklang zu bringen, dass gerade Kinder und Jugendliche mit einer augenscheinlich nur moderaten Einschränkung und geringer ZNS-Beteiligung im familiären Lebens- und Erziehungsalltag als besonders anstrengend erlebt werden? Möglicherweise hilft dabei die Perspektive, nicht nur das Ausmaß der körperlichen Einschränkung und der ZNS-Beeinträchtigung einzubeziehen, sondern vielmehr davon auszugehen, dass die Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitung bei Kindern mit Spina bifida qualitativ verändert ist – und somit die Behinderung auch als eine die gesamte Lebensspanne umfassende und beeinflussende neuropsychologische Behinderung zu verstehen ist [14–18]. Die Integration in die jeweilige soziale Gruppe, die Entwicklung einer altersentsprechenden Selbstständigkeit und die Übernahme von Verantwortung (besonders im Bereich der medizinischen Eigenversorgung und Selbstständigkeit) oder Erfolge im Bereich des schulischen Lernens und der beruflichen Ausbildung sind komplexe Entwicklungsaufgaben, die jedoch immer wieder Kindern und Jugendlichen mit Spina bifida besonders schwerfallen – auch wenn

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die individuelle ZNS-Beteiligung als eher gering eingeschätzt wird. Die genannten Entwicklungsprozesse gelingen umso erfolgreicher, je mehr dem Kind dabei altersentsprechend entwickelte Exekutivfunktionen zur Verfügung stehen. Mit Exekutivfunktionen wird dabei eine heterogene Gruppe höherer kognitiver Funktionen wie Selbstregulation, Hemmung bzw. Initiierung von Handlungsimpulsen, kognitive Gewandtheit, Verhaltens-, Handlungsorganisation und -planung, Initiative und metakognitive Kontrolle verstanden [19]. Und gerade diese für die stimmige, effiziente und zufriedenstellende Lebensführung unabhängig vom Lebensalter wichtigen kognitiven Fähigkeiten können durch den neuronalen Phänotyp (d. h. die primären und daraus folgenden Schädigungen des ZNS) bei Menschen mit Spina bifida beeinträchtigt sein. Rose et al. [19] gehen zudem davon aus, dass schon eine moderate Beeinträchtigung der Exekutivfunktionen dazu führt, dass die o. g. Aufgaben nicht angemessen gelöst werden können. Auftretende Verhaltensprobleme sollten somit auch als ein Ergebnis der Interaktion von behinderungsbedingten neurokognitiven Defiziten und Stärken, der beeinflussenden sozialen Umwelt sowie der an das Kind gestellten Anforderungen verstanden werden und nicht ausschließlich als ein fehlgeschlagenes psychodynamisches Bindungs- oder Interaktionsgeschehen. Unserer Erfahrung nach zeigt sich immer wieder, dass dieser Zusammenhang von Bezugspersonen umso leichter übersehen und Verhalten missverstanden wird, je mehr das Kind oder der Jugendliche über fast normale sprachlich-kognitive und schulische Fähigkeiten verfügt. Diese Fehleinschätzung trägt aber zu einer erhöhten Vulnerabilität für Lernstörungen und weiteren kognitiven und sekundär emotionalen Störungen bei [19]. Auch in der elterlichen Einschätzung der metakognitiven und verhaltensregulierenden Fähigkeiten ihrer Kinder lässt sich dieser Gedanke wiederfinden [20]. Im Gegensatz zu gesunden Kindern und Jugendlichen, von denen die Eltern über eine Zunahme der metakognitiven Fähigkeiten berichten, zeigen Kinder mit Spina bifida und Hydrocephalus im elterlichen Erleben ein deutlich weniger ausgeprägtes Entwicklungspotential. Zusätzlich scheinen sich wiederholte Shuntrevisionen und eine womöglich behandlungsbedürftige Epilepsie nachteilig auf dieses komplexe Zusammenspiel auszuwirken [21]. Wie stark neuropsychologische Defizite auf soziale Beziehungen und die Entwicklung von Verhaltensschwierigkeiten Einfluss nehmen, zeigen auch folgende Überlegungen von Heubrock et al. [22]: Raumanalytische und räumlich-konstruktive Fähigkeiten sind ein Baustein der komplexen kindlichen Anpassungsleistung an alltägliche Anforderungen. Gerade bei Kindern mit Spina bifida sind jedoch Störungen dieser Basisfähigkeiten gut belegt [22], ebenso auch die damit verbundenen Folgeprobleme wie Dyskalkulie, topografische Orientierungsprobleme, Schwierigkeiten in der Körperorientierung oder Schwierigkeiten bei der korrekten Abbildung von Objekten. Aber auch im direkten sozialen Miteinander und Bewegen im „sozialen Raum“ lassen sich Auswirkungen festhalten: Interaktionen werden von den Kindern mit Spina bifida häufiger ohne Bezug zur sozialen Situation und zum Kommunikationspartner begonnen und ebenso wieder rasch beendet. Oder der Jugendliche wird immer wieder in

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Konflikte verwickelt, ohne dass ein generell erhöhtes Konfliktpotential bei ihm selbst vorliegen würde. Die reduzierte Analysefähigkeit der Direktionalität und Reziprozität im Verlauf einer konkreten Interaktion führt hier anscheinend dazu, dass Einschätzungen im Kommunikationsprozess – wer richtet welche Nachricht, mit welcher Absicht, mit welchem Appell, an welchen Partner – unangemessen getroffen werden (zur Komplexität dieses Prozesses s. [23]). Besonders in lauten, unübersichtlichen und emotional aufgeladenen Situationen – z. B. bei Konflikten oder raschen Kontextwechseln innerhalb einer Kindergruppe – kann es somit dazu kommen, dass ablaufende Prozesse und Interaktionen vom behinderten Kind nicht angemessen erfasst werden und reaktiv unangepasst gehandelt wird. Die beteiligten Interaktionspartner können nun aber diese andersartige Wahrnehmungs- und Informationsverarbeitung von sozialen Situationen und das darauf aufbauende Verhalten nicht nachvollziehen, sondern schreiben die Reaktion des Kindes schnell – besonders vor dem Hintergrund einer langjährigen Lerngeschichte mit immer wieder gleichen oder ähnlich gelagerten Situationen – anderen, im Kind begründeten negativen Anteilen zu: „Sie ist halt bequem und will einfach nicht!“, „Wenn er sich nur anstrengen würde, dann könnte er es auch begreifen!“ oder „Sie kann ihre Behinderung nicht akzeptieren“. Solche Aussagen spiegeln dieses Missverstehen wider und werden häufig als Erklärung für die fehlende Mitarbeitsbereitschaft bei Therapien oder bei der Verweigerung des Kindes herangezogen. Dieser die Entwicklung zusätzlich behindernde Kommunikationskreislauf kann wiederum Ausgangspunkt für kompensatorische Prozesse sein (s. Thema Selbstbild), durch die eine Spirale negativer Lernerfahrungen für alle Interaktionsteilnehmer angestoßen und aufrechterhalten wird. Die beschriebenen neuropsychologischen Defizite werden nicht mit dem Erreichen eines bestimmten Lebensalters „verschwunden“ sein, sondern weiterhin soziale Beziehungen beeinflussen. Anders jedoch als noch im Kindesalter, in dem primär Entwicklungs- und Erziehungsdefizite – von Fachleuten gern auch die Überbehütung der Eltern – für dieses Verhalten verantwortlich gemacht werden [24], finden die Kommunikationspartner im Erwachsenenalter verstärkt die Ursachen der entstehenden Probleme in negativen Persönlichkeitsmerkmalen der Person mit Spina bifida: Motivations- und Interesselosigkeit, Streitlust, Unzuverlässigkeit, Verantwortungslosigkeit und fehlende Akzeptanz der Behinderung. Meist werden aber die mit zugrunde liegenden neuropsychologischen Fähigkeits- und Fertigkeitsdefizite in ihrer komplexen sozialen Auswirkung unbeachtet gelassen und leider oft erst spät in den Mittelpunkt beraterischer oder therapeutischer Bemühungen gestellt [22]. Auch die Aufmerksamkeitssteuerung als eine kognitive Fähigkeit zeigt die oben beschriebene Wechselwirkung zwischen teils moderaten neurokognitiven Defiziten und der Fehleinschätzung bzw. Fehlinterpretation des kindlichen Verhaltens durch die Umwelt. Aufmerksamkeitsdefizit-Störungen werden bei fast einem Drittel der Kinder mit Spina bifida diagnostiziert, weit abweichend von der Prävalenz in der Vergleichspopulation. Dabei wird mehr der unaufmerksame – die fokussierende visuelle Aufmerksamkeit betreffende – als der impulsive, hyperaktive Subtyp beobachtet [25].

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Gerade dieser Subtyp wird besonders in Zusammenhang mit Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten, mit Schwierigkeiten beim Aufbau sozialer Beziehungen, mit der unzureichenden Entwicklung einer altersangemessenen Autonomie sowie mit internalisierenden Störungen bei Kindern mit Spina bifida gebracht [19]. Auch hier passiert es im familiären und schulischen Alltag immer wieder, dass die beobachteten neurokognitiven Probleme eher persönlichkeitsbezogenen Aspekten zugeschrieben werden, als den Einfluss neurokognitiver Defizite auf das konkrete Verhalten und Handeln des Kindes zu beziehen. Schon etwas ältere Überlegungen von West et al. [26] versuchen, die beschriebenen neuropsychologischen Besonderheiten von Menschen mit Spina bifida mit konkreten Unterstützungsmöglichkeiten in Lern- und Leistungssituationen (Schule, Ausbildung und Beruf), aber auch bei sozialen Beziehungen in Verbindung zu bringen. Es entsteht so ein Handlungsrahmen für die Förderung und Gestaltung des Umgebungskontextes, der in sechs Prinzipien zusammengefasst wird (den sechs „S“, abgeleitet von sechs englischsprachigen Begriffen, die mit „S“ beginnen). Die Autoren gehen davon aus, dass effizienteres Lernen und zufriedenstellendes Kommunizieren für alle Kommunikationsteilnehmer wahrscheinlicher wird, wenn – Struktur in der Lernumgebung hilft, die Aufmerksamkeit zu fokussieren (structure), – eine personale Begleitung hilft, sich nur einer Tätigkeit zuzuwenden (supervision), – Ruhe und Übersichtlichkeit in Lern- und Kommunikationssituationen hilft, Ablenkungen zu minimieren (silence), – ausreichend (evtl. zusätzliche) Zeit zum Aufnehmen, Verstehen und Erledigen des Wesentlichen gewährt wird, um Handlungen auch abzuschließen zu können (sliding time limits), – die Zerlegung der Arbeit in Schritte, besonders der motorischen Inhalte (simple hand movements) und – die langsame und mehrfache Präsentation des Lernstoffs und der zu vermittelnden Zusammenhänge dabei den Prozess des Behaltens und Verstehens unterstützt (slow presentation of information).

9.3.4 Die Behinderung und deren Auswirkung auf die Entwicklung des Selbstkonzepts Neben den beschriebenen neuropsychologischen Aspekten spielt die durch die komplexe Behinderung beeinflusste Entwicklung des Selbstkonzepts eine wichtige Rolle für das konkrete Handeln und dürfte immer wieder für Verhaltensprobleme verantwortlich sein, die bei Menschen mit Spina bifida beschrieben sind. Das Selbstkonzept wird dabei als ein Konstrukt aus verschiedenen Dimensionen verstanden, denen der Einzelne unterschiedliche Bewertung beimisst und in dem er

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seine Fähigkeiten in spezifischen Bereichen mit einer gewählten Bezugsgruppe vergleicht. Entscheidend dabei ist, welches Verhältnis zwischen beigemessener Bedeutung und eingeschätzter Fähigkeit besteht [27]. Wenn sich also der Einzelne in einem Bereich als kompetent erachtet und diesem Bereich auch hohe Bedeutung beimisst, so kann davon ausgegangen werden, dass dies eine stärkende Wirkung auf das Selbstkonzept haben wird (und umgekehrt). Die eigenen Fähigkeiten werden in den Mittelpunkt der persönlichen Einschätzung gestellt, und durch den Bewertungsprozess kann Veränderungsmotivation entstehen oder blockiert werden. Unabhängig von Alter und Fähigkeiten stehen Menschen mit Spina bifida somit einer schwierigen Aufgabe gegenüber: Sie identifizieren sich natürlicherweise auch mit nichtbehinderten Altersgenossen, erleben und empfinden sich aber häufig als weniger fähig und sozial akzeptiert, als dies in der Selbstbeurteilung von nichtbehinderten Menschen der Fall ist. Für das pädagogische und psychologische Verständnis ist es nun wichtig, wie das Kind, der Jugendliche oder Erwachsene mit den potentiell stresserzeugenden negativen Resultaten dieses Bewertungsprozesses zwischen eingeschränkten Fähigkeiten und beigemessener Bedeutung umgeht. Hier beschreibt Appleton [27] drei wesentliche, die Entwicklung von Handlungsmotivation und Veränderungsanstrengung beeinflussende – schlimmstenfalls blockierende – Mechanismen: – Die Relativierung der Bedeutung, die einem Bereich zugemessen wird („Rechnen ist doch nicht wichtig!“ als Beispiel für den Umgang eines Schülers mit Spina bifida mit einem kognitiven Problem). Dieser innere Vorgang kann mit Appleton als „Discounting“ bezeichnet werden. – Möglich wäre aber auch die Überschätzung der eigenen Fähigkeiten als kompensatorischer Vorgang („Ich kann sowieso besser rechnen als alle anderen Kinder mit Spina bifida!“). – Eine weitere Strategie im Umgang mit der empfundenen Dissonanz stellt die Wahl einer anderen – nämlich der richtigen – Bezugsgruppe dar („Andere Kinder mit Spina bifida haben auch Schwierigkeiten beim Rechnen!“). Diese Lösung wird meiner Erfahrung nach häufig vom sozialen Umfeld des behinderten Menschen erwartet: „Du darfst nicht auf die gesunden Kinder schauen!“ oder „An den Rollstuhl wirst Du Dich schon gewöhnen!“ Das sind Aussagen, die oft außer Acht lassen, dass es ein langer adaptiver Prozess ist, die eigene Behinderung nicht immer vor dem Hintergrund der Nichtbehinderung zu bewerten. Appleton [27] zeigt weiterhin, dass für Jugendliche und Erwachsene mit Spina bifida nicht nur schulische oder ausbildungsbezogene, sondern auch körperliche Aspekte in der erlebten Diskrepanz zwischen beigemessener Bedeutung und erlebten Fähigkeiten von hoher Bedeutung sind. Die körperliche Erscheinung und Attraktivität sowie die eigene Sportlichkeit werden hier zum Inhalt intensiver Selbstbewertungen. Gerade Mädchen und heranwachsende Frauen mit Spina bifida weisen dieser körperlichen Dimension hohe Wichtigkeit zu – bei gleichzeitig niedrig eingeschätzter Kompetenz für diesen Bereich – mit negativen Auswirkungen auf die Selbstkonzeptaus-

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bildung. Möglicherweise lassen sich hier auch Erklärungsansätze für die immer wieder als Non-Compliance beschriebene geringe Verantwortungsübernahme bei Spina-bifida-Patienten in der Sorge um den eigenen Körper finden. Zusätzlich könnte dies auch ein weiterer Einflussfaktor für das erhöhte Risiko weiblicher Spina-bifida-Patienten sein, eine klinisch relevante depressive Störung zu entwickeln [27, 28]. Depressive Verhaltensmuster – grüblerisches und vergangenheitsgerichtetes Lösungsverhalten, geringe Suche nach sozialer Einbindung und das Gefühl, wenig Unterstützung zu erhalten – wirken sich eher negativ auf die subjektive Lebenszufriedenheit der Patienten und damit auch auf deren Umgang mit der chronischen Erkrankung aus [29]. Im Zusammenhang mit depressiven Entwicklungen dürfen dabei jedoch nicht die immer wieder stattgefundenen Belastungen – teils mit traumatisierendem Charakter – unbeachtet bleiben (häufige und defizitorientierte körperliche Untersuchungen oder größere Operationen). Für die psychologische Betreuung von Patienten mit Spina bifida haben diese Erkenntnisse insofern Bedeutung, da zwei Ansatzpunkte für Unterstützung – unabhängig vom Lebensalter – nahegelegt werden: Auf der einen Seite ist die angemessene frühe therapeutische Behandlung einer depressiven Symptomatik natürlich angebracht. Auf der anderen Seite müssen die Ausgangspunkte dieser Entwicklung in den Fokus der Beratung gestellt werden. Dabei sollten Interventionen, die auf eine Verbesserung der Behinderungsauseinandersetzung und -bewertung sowie auf die Veränderung sozialer Kompetenzen abzielen [29], besonders die oben beschriebenen neurokognitiven Bedingungen einer Motivations- und Verhaltensänderung berücksichtigen, wenn sie effizient sein sollen. Im familiären Rahmen kann die Bildung eines stimmigen Selbstkonzepts unterstützt werden, indem Leistungen und Entwicklungen des Kindes nicht nur interindividuell bewertet werden, sondern besonders auch intraindividuelle Fortschritte berücksichtigt werden. Zudem sollte für das Kind immer wieder die angemessene Vergleichsgruppe benannt werden, ohne dabei die eigenen Bemühungen des Kindes und seine Erwartungen an sich selbst zu entwerten.

9.3.5 Krisen und Krisenintervention Es ist trivial, aber jeder Mensch – ob mit Behinderung oder nicht – wird Krisen erleben und eine emotionale und handlungsmäßige Anpassung daran finden müssen. Aber es gibt unterschiedliche Krisen und Auseinandersetzungsmechanismen, die den Verlauf einer Krise beeinflussen. Entscheidend ist dabei die Qualität und Intensität der subjektiv erfahrenen Belastung im Vergleich zu den erlebten Bewältigungsmöglichkeiten [30]. Die Phase der Krise ist damit nach Dross kein statischer Zustand des Aushaltens und Ertragens, sondern immer ein in der Intensität wechselnder Dialog auf der Suche nach Lösungen zwischen der subjektiven Bedeutsamkeit, der erlebten Bedrohung und den zu Verfügung stehenden Bewältigungsmöglichkeiten. Oft sind die psychoemotio-

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nalen Folgen einer Krise erst eine gewisse Zeit nach dem krisenauslösenden Ereignis spürbar. Im Rahmen dieses Artikels kann nicht differenziert auf allgemeine Krisenkonzepte eingegangen werden. Betont werden soll aber, dass in der Auseinandersetzung mit dem krisenhaften Geschehen mit einer großen Individualität hinsichtlich der Bewältigungsmuster und der gefundenen neuen Anpassung gerechnet werden kann. Hier spielen nach Dross [30] Aspekte der Disposition und Erfahrungen mit Krisen eine wichtige Rolle. Und letztlich auch, wie stark die Krise in das alltägliche Leben eingreift und dessen Neuorganisation bzw. möglicherweise die von Beziehungen notwendig macht. Überträgt man diese Gedanken auf das Thema Spina bifida, dann lassen sich rasch mögliche krisenauslösende Momente für Eltern, aber natürlich auch für den Menschen mit Behinderung selbst benennen [10], die als Verlust bzw. Schädigung im Sinne eines irreversiblen Ereignisses oder als eine empfundene bzw. reale existenzielle Bedrohung und Überforderung gewertet werden können [30]: – bei den Eltern – wie schon anfänglich beschrieben – die Phase der Diagnosestellung, – weitere diagnostische Mitteilungen (z. B. notwendige Shuntanlage oder der Beginn des Katheterisierens), – eine akute, möglicherweise lebensbedrohliche Shuntinsuffizienz, – notwendige, teils komplexe operative Eingriffe (z. B. orthopädische Behandlungen), – Thematisierung einer möglichen Rollstuhlnutzung, – alterstypische Entwicklungsschritte oder gerade das Nichtgelingen solcher Veränderungen aufgrund von Entwicklungsdefiziten (z. B. Übergang des Kindes in eine neue, womöglich intensivere Betreuungsform oder die Loslösung eines erwachsenen Kindes mit Behinderung vom Elternhaus [31], – der Verlust an Lebensperspektiven (z. B. eintretende Arbeitslosigkeit trotz erfolgreich abgeschlossener Ausbildung oder die immer wieder vergebliche Suche nach einer befriedigenden Partnerschaft). In der Literatur finden sich immer wieder einerseits die stabilisierende zwischenmenschliche Beziehung – es muss nicht die psychologisch-therapeutische sein – und andererseits die angemessene Information als zentrale Wirkfaktoren für das produktive Durchleben einer Krise [32]. In der Beratung ist dabei zuerst der Erarbeitung von entlastenden konkreten Lösungen Vorrang zu geben gegenüber der differenzierten Frage nach dem „Warum“ der Krise. Die Würdigung der Krise und der damit verbundenen Verluste und Schädigungen muss Platz in den gemeinsamen Gesprächen finden. Lösungen, die diesen emotionalen Teil einer erlebten Krise ausklammern, wirken hier eher als Bagatellisierung des Geschehenen bzw. des zu Erwartenden, denn als Hilfe. Der vorsichtigen und behutsamen Einbeziehung und Verstärkung von Ressourcen des sozialen Umfelds und der Förderung der Kommuni-

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kation zwischen den Beteiligten kommt somit hohe Bedeutung zu. Besonders eine in der Langzeitversorgung entstandene belastbare Beziehung zwischen dem Arzt und anderen unterstützenden Professionen einerseits und der Familie bzw. dem Menschen mit Behinderung andererseits, kann sich als protektiver Faktor erweisen. Nach Dross [30] sollte die Belastungs- und Krisenverarbeitung für den behinderten Menschen selbst wesentliche Ziele – angepasst an die spezifische Behinderung – verfolgen: – die kontinuierliche Auseinandersetzung mit im Alltag erfahrbaren Grenzen und davon ausgehend, kompensatorische und erleichternde Lösungen zu finden, – Förderung der Akzeptanz den Einschränkungen gegenüber (Mobilität, Inkontinenz, neurokognitive Voraussetzungen, schulische und berufliche Lebenssituation), – immer wieder die Auseinandersetzung mit notwendigen medizinischen und pflegerischen Behandlungen, um die Mitwirkung an notwendigen Maßnahmen zu erhöhen (z. B. des Katheterisierens), – Thematisierung der im Zusammenhang mit Entwicklungsschritten auftretenden Zukunftsängste, – Schaffung größtmöglicher Autonomie und Selbstständigkeit (z. B. beim Thema Wohnmöglichkeiten), – Aufrechterhaltung von wichtigen sozialen Beziehungen bzw. deren Neuschaffung (Familie, Selbsthilfegruppen, betreute Wohnformen). Mehr noch als bei der Krisenintervention bei nichtbehinderten Menschen sollte dabei davon ausgegangen werden, dass es keine Regel für die Dauer und Intensität der Intervention gibt. Sicher sind mit Dross [30] auch Kriterien für die Beendigung einer konkreten Unterstützung formulierbar (fehlende Gefährdung, wiedererlangte Kontrolle über wesentliche Lebensbedingungen und emotionale Stabilität). Aber gerade bei Menschen, die in der Regel schon vor der Krisensituation von einem Betreuungsnetz unterstützt wurden, kommt es meiner Erfahrung nach zu fließenden Übergängen zwischen den einzelnen Interventionsformen (Krisenintervention, Kurzzeittherapie, sozialpädagogische Beratung oder intensive Sozialbetreuung). Dies beinhaltet aber auch die Gefahr, dass der Mensch mit Behinderung zwischen schon begonnenen und noch möglichen Unterstützungsangeboten „hin- und hergeschoben“ wird, ohne dass jeweils eine eindeutige Indikationsstellung benannt wird – und somit allein die Tatsache des Eintretens einer Krise für sich schon weitere Interventionen rechtfertigt. Hier muss – mehr noch als bei nichtbehinderten Menschen – immer wieder überprüft werden, welche Maßnahme mit welchem Zielen und in welchem Umfang notwendig ist, um wieder die befriedigende Teilhabe am Alltag zu ermöglichen. Auch die Thematisierung von möglichen Ursachen und Wirkungszusammenhängen bei der Entstehung individueller Krisen im weiteren Verlauf gibt die Möglichkeit, Kriterien zu erarbeiten, die sowohl dem behinderten Menschen als auch den Beziehungspersonen helfen, erneute krisenhafte Zuspitzungen zu erkennen und diesen möglicherweise

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vorzubeugen. Bei der Beratung des Patienten mit Behinderung dürfen somit auch „schwierige“ Themen nicht ausgeklammert werden, so etwa die Aufgabe eines Teilbereichs der persönlichen Autonomie durch die Bereitschaft, Teile der Lebensführung unter Betreuung zu stellen (z. B. bei immer wieder auftretenden finanziellen Krisen durch scheinbar unüberlegte wirtschaftliche Entscheidungen).

9.3.6 Familiäre Lebensqualität Zum Abschluss des Beitrages sollen noch kurz Aspekte der familiären Auseinandersetzung und Lebensqualität aufgegriffen und mit Überlegungen zur Unterstützung von Familien verknüpft werden. Spina bifida als heterogene kongenitale Behinderung mit komplexen Auswirkungen auf das betroffene Individuum beeinflusst notwendigerweise auch das Zusammenleben der Familie, in der das Kind bzw. der Jugendliche aufwächst und unterstützt wird [33]. Dabei kann die Frage, ob die Geburt eines Kindes mit Spina bifida den Zusammenhalt einer Familie stärkt oder nachhaltig stört – also zwangsläufig zu einer Verunsicherung über einen langen Zeitraum hinweg führt – nicht im Sinne eines Entweder-Oder beantwortet werden. Durch die Behinderung bzw. deren Verlauf bedingte Stressoren (z. B. epileptische Anfälle, Shuntrevisionen, aktuelle Operationsbedürftigkeit oder Entwicklungs- und Verhaltensstörungen) können zu einer zeitlich beschränkten Anpassungskrise in der Familie führen. Das behandelnde Team sollte aber immer davon ausgehen, dass die Anpassung der einzelnen Familienmitglieder dabei unterschiedlich sein kann und somit auch unterschiedlich im Fokus der Unterstützung stehen sollte. Unserer Einschätzung nach können sich auch in Phasen einer vermeintlich ruhigen Anpassung an die Behinderung rasch krisenhafte Zuspitzungen bei einzelnen Familienmitgliedern entwickeln, mit den damit verbundenen stressgeprägten Coping-Mechanismen. Dies gilt umso mehr, wenn z. B. die Mutter in der Versorgerrolle des Kindes über lange Zeit weitgehend allein bleibt. Kommt es hier zu einer gesundheitlichen Krise oder zu überdauernden Verhaltensproblemen des Kindes, kann das Familiensystem rasch mit ausgeprägter Instabilität reagieren [34]. Es erweist sich auch in unserer Arbeit immer wieder, dass es nicht nur der „objektive“ Schweregrad der Behinderung und der damit verbundene konkrete Pflege- und Versorgungsaufwand des Kindes ist, der allein die Belastung und Lebensqualität einer Familie determiniert. Vielmehr haben die Qualität der direkten familiären Beziehungen und die wahrgenommene Unterstützung sowie persönliche Merkmale des CopingVerhaltens – z. B. die Zuversicht in die eigenen Bewältigungskräfte – entscheidende Auswirkungen auf die Belastbarkeit der einzelnen Familienmitglieder. Und letztlich sind es auch die o. g., mit der Behinderung verbundenen metakognitiven Fähigkeiten und die daraus resultierende Ausprägung der Regulations- und Verhaltensstörungen des Kindes, die immer wieder entscheidend das Leben einer Familie bestimmen [33].

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Im Rahmen der langfristigen psychologischen Unterstützung von Familien sollte deshalb die Qualität familiärer Beziehungen (Eltern-Kind, Partnerbeziehung, Geschwister, Großeltern) und gegenseitiger Unterstützung immer wieder thematisiert werden, um einerseits frühzeitig belastende Veränderungen erkennen zu können und andererseits aber auch die vorhandenen sozialen Ressourcen in die Unterstützung der Familie mit einbeziehen zu können [35].

9.3.7 Professionelle Unterstützungsansätze Ergänzend soll kurz auf die in der Rehabilitationspsychologie zur Verfügung stehenden familienorientierten Ansätze zur Unterstützung von Familien mit einem behinderten Kind eingegangen werden. Diese Überlegungen stellen sowohl die strukturierte Familienberatung, die Patientenschulung, aber auch verhaltensmedizinische Methoden zur Reduktion von problematischem kindlichen Verhalten in den Mittelpunkt von Interventionen (s. umfassend dazu [36]). Sicher lassen sich Erfahrungen, die bei anderen chronischen Krankheiten und Behinderungen (Asthma und Diabetes) gewonnen wurden, dabei nicht unreflektiert auf Spina bifida als Behinderung übertragen. Zumal umfassende Erfahrungen über ähnlich strukturierte verhaltensmedizinische Ansätze zur Unterstützung von Familien mit Spina-bifida-behinderten Kindern im deutschsprachigen Raum meines Wissens nur begrenzt vorliegen [37]. Sie können jedoch wesentliche Fragen und Themen vorgeben und so ein strukturiertes und an familiären Bedürfnissen orientiertes Vorgehen leiten. Petermann [36] unterscheidet dabei zwei Wege: Der erste Ansatzpunkt sollte dabei die Schulung des behinderten Menschen selbst, außerdem aber auch die von relevanten Beziehungspersonen sein. Auch unserer Erfahrung nach basieren viele Probleme, die sich im Umgang mit der Erkrankung ergeben, auf ungenügendem Wissen über die krankheitsrelevante Bedingungen und die sich daraus ableitenden medizinischen und pflegerischen Maßnahmen. Im Rahmen der Langzeitversorgung von Patienten sollte nicht irrigerweise davon ausgegangen werden, dass die Kinder bzw. Jugendlichen die wesentlichen Inhalte durch passive Teilnahme an den Sprechstunden aufnehmen und diese auch verinnerlichen. Ebenso sollte nicht grundsätzlich angenommen werden, dass Eltern allein die krankheitsbezogene Schulung ihres Kindes übernehmen können. Sowohl Petermann [36] als auch Noeker und Petermann [38] empfehlen deshalb, Kinder ab dem Schulalter unabhängig von den Eltern in ihrem Krankheitswissen und -verständnis zu schulen und sie immer wieder alters- und entwicklungsentsprechend in die Sprechstunde einzubeziehen. Nur so können die Kinder in die Übernahme von Verantwortung hineinwachsen. Und nur so kann erwartet werden, dass dadurch die langfristige motivierte Mitarbeit des Kindes und des Jugendlichen eher positiv beeinflusst wird [36]. Die sich am Alter und am Verständnis der Kinder und Jugendlichen orientierende Wissensvermittlung kann zudem helfen, be-

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stehende Verhaltensprobleme und ungünstige familiäre Kommunikationsmuster zu verändern. Auf der Ebene der Symptome können verhaltenstherapeutische Interventionen, z. B. Training räumlich konstruktiver Fähigkeiten [37], entsprechende Veränderungen anstoßen (z. B. Verbesserung der schulischen Fertigkeiten). Oder ein Training sozialer Kompetenzen kann zu einer Veränderung des Beziehungskontextes und zum Abbau innerfamiliärer Konflikte beitragen. Ergänzend – aber wieder nur indikationsbezogen – könnte hier dann die eingehende Beratung der Familie bzw. des Beziehungssystems hinsichtlich ungünstiger Beziehungs- und Kommunikationsmuster Unterstützung schaffen. Ein besonderer Schwerpunkt psychologischer Beratung sollte dabei meines Erachtens immer wieder auf der Mobilisierung persönlicher und innerfamiliärer Ressourcen liegen [39, 40] bzw. darauf, außerfamiliäre konkrete Unterstützung zu verwirklichen (z. B. „Frühe Hilfen“-Programme von Jugendämtern, entwicklungsorientierte Förder- und Beratungsangebote, Inanspruchnahme von Selbstständigkeitstrainings der Selbsthilfeorganisation „Arbeitsgemeinschaft Spina bifida und Hydrocephalus“, Nutzung familienentlastender Dienste oder Vermittlung von Aufenthalten in entsprechenden Rehabilitationseinrichtungen). Unserer Erfahrung nach erfährt die Familie dabei eine wesentliche Unterstützung auch durch eine fundierte sozialrechtliche Beratung im Rahmen eines multiprofessionellen Versorgungsangebots. So kann zu einer langfristig positiven Veränderung der psychosozialen Anpassung aller Familienmitglieder beigetragen werden. Immer mehr in den Mittelpunkt der multidisziplinären Versorgung von Kindern und Jugendlichen mit chronischen Erkrankungen rückt deren Übergang in die Erwachsenenmedizin [41]. Hierfür gibt es noch wenig Forschung zu umfassenderen Programmen, die schon in der frühen Zusammenarbeit mit der Familie bzw. dem Kind spezifische Transitionsbarrieren für Spina bifida aufseiten der Betroffenen als auch aufseiten der Betreuer thematisieren und Lösungen dafür formulieren [42–44]. Zudem etablieren sich in Deutschland gerade erst Strukturen („Medizinische Behandlungszentren für Erwachsene mit Behinderung“), die Transition in ein multidisziplinäres Behandlungssetting für Erwachsene münden lassen. Eine langfristige psychologische Unterstützung von Spina-bifida-Patienten sollte immer ergänzend zu der auf das Individuum bezogenen Intervention das konkrete Beziehungssystem des behinderten Menschen im Blick haben. Dabei muss der Schwerpunkt auf frühen, angemessenen und – wenn möglich – auch Mitglieder des sozialen Lebensumfelds einbeziehenden Interventionen liegen. Eine begleitende Beratung, die die Reduzierung der psychosozialen Belastung aller Familienmitglieder im Fokus hat, kann wesentlich dazu beitragen, dass diese den hohen Anforderungen an das Krankheitsmanagement besser gerecht werden können. Die Indikation für psychologische Interventionen sollte immer wieder kritisch hinterfragt werden, um der Gefahr einer sekundären „Pathologisierung“ durch Hilfsangebote, die ohne eindeutige Indikationsstellung begonnen werden, entgegenzuwirken.

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Letztlich sollten alle Mitglieder des behandelnden Teams Interventionen gemeinsam mit den Betroffenen in der Haltung „Ein Mensch mit einer Behinderung ist vor allem ein Mensch und nicht vor allem behindert“ planen und durchführen [45].

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Sabine Streeck

9.4 Elterliche Überbehütung als Hindernis auf dem Weg in die kindliche Autonomie? 9.4.1 Einleitung Es gibt eine Vielzahl von Untersuchungen und Studien zum Thema des elterlichen Umgangs mit der Behinderung ihrer Kinder (als neuere Arbeiten sind Schlack, Thyen, von Kriess [1] und Bode et al. [2] zu nennen). Viele Untersuchungen befassen sich mit Diagnoseeröffnungen und den von Eltern und Betroffenen genutzten oder aktivierten Ressourcen sowie mit Coping-Strategien. Grundsätzlich ist der elterliche Umgang mit einem behinderten Kind eine schwierige Thematik. Er berührt viele komplizierte und komplexe Aspekte elterlicher Liebe, die sich in der gesamten Haltung zum Kind zeigen (Literaturangaben zum „Coping als lebenslanger Prozeß“ [2–5]). Darunter sind u. a. enttäuschte Erwartungen und Wünsche wie auch Kränkungen zu fassen, die in Verbindung mit Verarbeitung und Umgang mit der Behinderung stehen. Diese erzeugen oftmals Scham- und Schuldgefühle – und um diese schwierigen und belastenden Erfahrungen wird es gehen. Scham und Schuld haben einen erheblichen Anteil an der Überbehütung, die häufig von den Müttern ausgeht, weil sie die Primärversorgung innehaben. Ist Überbehütung mit einem Zurückdrängen des Vaters assoziiert, hat das wiederum eine verstärkte Dyadenbildung bzw. Mutter-Kind-Symbiose zur Folge. Je tiefer die Analyse an der seelischen Auseinandersetzung und dem elterlichen Coping ansetzt – so meine These –, umso mehr werden auch gemeinhin sorgfältig verhüllte Gefühle wie Scham und Schuld sichtbar, die z. T. unbewusst in der Eltern-KindInteraktion zum Tragen kommen. Wie sehr diese Affekte miteinander verschränkt sind, wie sie auf die Beziehung wirken und welche Signale an das Kind gehen, soll dieser Artikel explizieren. Dabei möchte ich zeigen, wie stark die (unbewussten) elterlichen Affekte der Liebe, Scham und Schuld vom 1. Tag an auf das Kind wirken, implizit aufgenommen und verarbeitet werden und welche Konsequenzen sie für das sozio-

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emotionale Verhalten des Kindes haben. Gleichzeitig möchte ich auf die immense Bedeutung einer familiär wie auch der Gesellschaft gegenüber offenen und transparenten Haltung gegenüber der Behinderung wie der Kommunikation hinweisen. Ich beziehe mich in diesem Aufsatz (vor allem) auf die neueren Erkenntnisse der Säuglingsforschung und Psychoanalyse, auf die Bindungstheorie sowie auf das Konzept der Feinfühligkeit [6, 7]. Dornes [8] fasst diese Ansätze übersichtlich zusammen, zu neueren Überlegungen bzw. der Einordnung psychodynamischer Modelle sei auf Mentzos [9, S. 51 ff.] verwiesen. Die genannten Ansätze skizziere ich nur kurz, weil mein Anliegen letztendlich ein praktisches ist: Menschen mit einer Behinderung haben ein signifikant höheres Risiko, an psychischen Störungen zu erkranken. Indes zeigt die Forschung zur Krankheitsverarbeitung, dass ein aktiver Umgang mit der Erkrankung bzw. die Nutzung von Ressourcen und das Knüpfen sozialer Netze positive Bewältigungsstrategien sind, die der familiären Stabilität und Individuierung des Kindes dienen. In der klinischen Praxis ist es daher von großer Bedeutung, dieses Wissen in die Beratungssituation mit Eltern hineinzunehmen und in der Arbeit zu implementieren. Anderenfalls führt die hohe elterliche Verwöhnung zu psychischen Deformationen; die Kinder erlernen oftmals keinen realitätsgerechten Umgang mit sich und anderen, und benötigen später u. U. langfristig psychologische Unterstützung. Auch der Umgang mit dem Körper und damit der Sexualität ist bedeutsam. Er schließt elterliches Körperbild, Selbstbild und sexuelles Selbstverständnis ein, die auf das Kind projiziert werden. Wenn das Erleben eines mangelhaften Körperbildes im Kind intrapsychisch abgebildet wird, gehen hieraus sexualpädagogische wie auch psychologisch für die Beratung relevante Folgerungen hervor [10]. Die hier vorliegenden Überlegungen sind durch meine psychologisch-beraterische wie psychotherapeutische Tätigkeit in der Sozialpädiatrie mit betroffenen Familien ebenso geprägt wie durch die theoretische Auseinandersetzung mit psychologischen und psychoanalytischen Ansätzen. Meine psychotherapeutischen Erfahrungen beziehen sich sowohl auf die Betroffenen selbst (Kinder, Jugendliche und Erwachsene) wie auch auf die Eltern. Um meine Thesen zu illustrieren, werde ich zwei Fallvignetten ausführlicher darstellen und Beispiele von anderen Familien erwähnen. Ich beziehe mich dabei auf alle Diagnosen, die chronische Erkrankung bzw. Behinderung umfassen und in der Neuropädiatrie zu finden sind. Auf die mangelnde definitorische Abgrenzung bei chronischer Erkrankung aufgrund der multifaktoriellen Ätiologie weisen u. a. Mehnert und Koch hin: „Charakteristisch sind das Fehlen einer kausalen medizinischen Therapie und die Begrenztheit einer vollständigen Heilung, (…)“ [11, S. 191]; [12, S. 654]. Abschließend möchte ich betonen, dass die hier skizzierten Prozesse als Störungen bei allen Familien auftreten können.

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9.4.2 Entwicklungspsychologische Aspekte Es gehört mittlerweile zum gesellschaftlichen Grundwissen, vom Ansatz der frühen elterlichen Prägung und deren Auswirkung auf die soziale und emotionale Entwicklung auszugehen. Der elterliche Erziehungsstil wirkt sich ebenso auf das Verhalten und die Persönlichkeit des Kindes aus wie auf die Geschlechtsrollenübernahme. In diesem Kontext wird auch Sexualität als allgemeine Lebensenergie erfahren und erlernt. Ich möchte zunächst die Grundvoraussetzungen und Entstehungsbedingungen von Bindung beschreiben, bevor ich mich auf die neueren Studien beziehe, die stark von der Hirnforschung bestimmt sind, und welche die feineren Facetten der Beziehungsarchitektur herausgearbeitet haben (s. Kap. 9.4.2.2).

9.4.2.1 Bindungstheorie Soziale Entwicklung beginnt mit dem engen Aufbau einer emotionalen Beziehung, diese Beziehung wird als Bindung (attachment) bezeichnet. Die Möglichkeit eine Bindung zu entwickeln, basiert auf einer ausreichenden Ausreifung der sensorischen Fähigkeiten und eines Verhaltensrepertoires; diese Voraussetzung gilt beiderseits für Eltern wie für das Kind. Dies kann nur geschehen, wenn im 1. Lebensjahr ein enger Kontakt zur Mutter oder einer anderen Person vorhanden ist. Und dieser Kontakt sollte komplex gestaltet sein, er schließt das Gehalten- und Angeschaut-Werden genauso ein wie Hautkontakt, Streicheln, Wiegen und die Fähigkeit, Signale aufzunehmen, zu interpretieren und zu beantworten. Wie wir von den Studien von Spitz [13], aber auch von Bowlby [6] und anderen wissen, sind Säuglinge, denen dies verwehrt ist, zur Deprivation verurteilt, d. h. seelischer und körperlicher Verkümmerung ausgesetzt, wenn nicht gar dem Tod. Dabei wird von Zimbardo [14] beschrieben, dass bei Kindern, die in Familien mit großer Feindseligkeit und emotionaler Distanz aufwuchsen, nicht nur Untergewicht auftrat, sondern auch das Knochenwachstum verzögert war. Das Knochenwachstum veränderte sich positiv bei Herausnahme aus der Familie und stellte sich als Verzögerung wieder ein bei Rückkehr in die Familie („psychosoziale Wachstumsschwäche“ [14]). Dieser kurzen Beschreibung ist bereits zu entnehmen, in welch entscheidender Wechselwirkung sich der Säugling bzw. das heranwachsende Kind zur Familie befindet. Die Art des Bindungsverhaltens, die zwischen dem 1. und 2. Lebensjahr deutlich wird, zeigt dann, wie sicher das Kleinkind sich fühlt, ob es sich lösen und wegbewegen kann mit dem Vertrauen auf Rückkehr in eine sichere Basis oder sich anklammern und festhalten muss, weil es anderenfalls befürchten muss, seinen Platz zu verlieren. Die Art des Bindungsverhaltens (sichere, unsicher vermeidende, ambivalent unsichere und desorganisierte Bindung) scheint eine relativ stabile Variable zu sein, die sich im Erwachsenenalter im Beziehungsverhalten nachweisen lässt.

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9.4.2.2 Konzept der Feinfühligkeit In der Regel ist der Einfluss der Mutter auf die Qualität der Bindung größer, der väterliche Einfluss ist schwächer [8, S. 55]. Für die Entwicklung eines Bindungsverhaltens im 1. Lebensjahr ist die entscheidende Determinante die mütterliche Feinfühligkeit [7]. Diese bezeichnet eine Reihe von Fähigkeiten; werden diese nicht ausreichend zur Verfügung gestellt, entwickelt das Baby eine Vielzahl von Auffälligkeiten wie Fütter- und Schlafstörungen, Überaktivität u. a. m. [15, S. 12 ff.]. Wie Grawe [16] ausführt, attribuieren kleine Kinder bei primären Bezugspersonen, die sich wenig feinfühlig verhalten, grundsätzlich negativ auf sich (im Sinne von „ich bin nicht gut genug“), dies hat neben einer „Erklärung“ den Vorteil, dass hierin eine Kontrollfähigkeit und Möglichkeit zum aktiven Handeln für das Kind selbst enthalten ist („wenn ich mich bessere, ist die Mama wieder lieb“). Vier Merkmale scheinen für Feinfühligkeit entscheidend zu sein: 1. Wahrnehmung der Verhaltensweise des Säuglings, 2. zutreffende Interpretation seiner Äußerungen, 3. prompte Reaktion, 4. Angemessenheit der Reaktion. Für unseren Zusammenhang bedeutungsvoll ist, dass (beim 2. wie 4. Merkmal) bei übertriebener elterlicher Zuwendung, d. h. wenn zu schnell oder überzogen auf das Kind reagiert wird bzw. wenn „(…) die Feinabstimmung von kindlichen Signalen und mütterlichen Antworten nicht gegeben ist.“ (Grossmann et al. [17], zitiert von [8, S. 53]), weniger von Feinfühligkeit gesprochen werden kann, vielmehr von Überbehütung. Kinder, auf die nicht konsistent und angemessen reagiert wird, sondern überbehütend, können keine sichere Bindung entwickeln, sondern reagieren ambivalent in fremden Situationen, dies bereits im Alter von 1 Jahr. Das heißt, es kommt zu einem gegenteiligen Verhalten als jenem, welches von den Bezugspersonen intendiert war. Calvet-Kruppa [18] erklärt dies so: Oftmals ist der elterliche Schock nach der Geburt bei Vorliegen einer Behinderung groß, und damit auch die Verunsicherung. Die Sorge um die Entwicklung des Kindes lässt die Eltern nicht adäquat reagieren. Eltern neigen dann zur Unter- bzw. Überstimulierung, nehmen ihr Kind in der individuellen Bedürfniswelt nicht angemessen wahr und hemmen damit die Interaktion und weitere Entwicklung. Dabei sind Kinder mit Behinderung sehr früh in der Lage, die Emotionen wahrzunehmen, einmal mehr, weil sie bei eingeschränkter Motorik sich unweigerlich kompensatorisch stärker psychisch als kognitiv ausrichten. Wird eine blockierte Eltern-Kind-Interaktion nicht erkannt bzw. aufgelöst, ist die Gefahr der Chronifizierung psychischer Mechanismen wie Vermeidung, Abwehr oder aggressiver Reaktionen immens groß. Relevante kindliche Entwicklungsprozesse enthalten Erfahrung von Nähe, Bildung von Objektbeziehungen und sollten der Herausbildung von Autonomie und Identität [15] dienen. Wenn jedoch die elterliche Beziehungsaufnahme wegen Be-

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hinderung des Kindes initial durch Kränkung und Enttäuschung geprägt und die Autonomieentwicklung des Kindes durch körperliche Einschränkung begrenzt ist, hat dies Auswirkungen auf die Identitätsentwicklung des Kindes und Ausgestaltung der Objektbeziehungen [19] – darauf verweist auch Erikson [20, S. 246], „wenn der Verlust des Urvertrauens durch elterliches Vorenthalten der Autonomie erfolgt, gibt es einen frühen Zusammenhang von Selbstzweifel und Scham beim Kind“.

9.4.2.3 Intersubjektivität Der in den letzten Dekaden des 20. Jahrhunderts innerhalb der Psychoanalyse eingeleitete Paradigmenwechsel, der vom primären Narzissmus-Konzept Freuds über die Ich-Psychologie führte, ist nicht zuletzt von der Säuglingsforschung stark beeinflusst worden: Schulenübergreifend wird nunmehr die frühe Herausbildung der Intersubjektivität als konstitutiv für die menschliche Entwicklung angesehen. Intersubjektivität bedeutet, „dass der Mensch sich von Geburt an mit anderen Menschen verbunden fühlt und dass sich diese Verbundenheit in seiner psychischen Struktur niederschlägt: Innen und außen sind miteinander aufs Engste vernetzt.“ (Altmeyer, Thomä [21], zitiert nach Mentzos [9, S. 56]). Der Begriff der primären Intersubjektivität stammt ursprünglich von Trevarthen [22] (zitiert nach Fuchs [23, S. 184]). Fuchs bevorzugt den Begriff der „Zwischenleiblichkeit“, der die Phase nach der pränatalen Zeit der Geburt verdeutlicht, weil der Säugling sich selbst als Subjekt bzw. den anderen noch nicht als Subjekt bereits erfassen könne, vielmehr dies in einem präreflexiven Rahmen geschehe [23, S. 184]. Konsens besteht darin, dass der Säugling vom 1. Tag an interagiert, hierbei vor allem von affektiven wie intuitiven Zuständen bestimmt ist, die gerade weil sie lange vor der symbolischen und verbalen Phase liegen, eine große Macht im Erleben ausüben und sich im impliziten Gedächtnis des Kindes niederschlagen. Die Imitation des elterlichen Gesichtsausdrucks ist vom 1. Tag an möglich, so haben Babys – wie wir heute wissen – eine angeborene Ausdrucksresonanz. Das bedeutet, dass der Säugling nicht nur die Mutter oder andere Bezugspersonen von Geburt an individuell wahrnimmt, sondern deren Gesichtsausdruck mimetisch nachbildet – s. dazu die in Fuchs [23, S. 185] gezeigten beeindruckenden Fotos von Imitationen Neugeborener. Dadurch gerät der Säugling auf der physiologischen wie neurophysiologischen Ebene in den gleichen Affektzustand wie die Bezugsperson. Eine Vielzahl psychobiologischer Untersuchungen werden von Dornes [8, S. 198 ff.] vorgestellt. Aus der psychoanalytischen Sicht introjiziert der Säugling die Bedeutungen, die die Mutter seinen Äußerungen zuschreibt. Hierdurch wird ein spezifischer Interaktionszyklus kreiert, „ein privater Raum in der Zeit“ [8, S. 26], in dem das Kind subjektiv zwar Wahlmöglichkeiten hat, indes emotional aus der Interaktion schöpft und sich entsprechend nach den elterlichen Vorgaben ausrichtet. So zeigen bereits 3 Monate alte Säuglinge die gleichen linkshemisphärisch betonten EEG-Aktivitäten wie ihre depressiven Mütter. In der Umkehrung dieser Affektre-

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gulation bedeutet dies: Erlebt sich der Säugling gespiegelt, erfährt er sich selbst aber auch als wirkmächtig und kontrollausübend, nämlich dann, wenn analog die Eltern auf ihn und seine Affektausdrücke reagieren und diese imitieren. Schore [24, S. 27] beschreibt dies wie folgt „Die hormonellen Reaktionen und Muster der neuronalen Verbindungen im kindlichen Gehirn sind im weitesten Sinne ein Spiegelbild der mütterlichen Gefühlsregulation. Also beeinflusst die Bindungsbeziehung nicht nur, wie früher gedacht wurde, Verhalten und Kognition des heranreifenden Babys, sondern auch dessen Gehirnverschaltungen – ob im Guten oder im Schlechten.“ Die Erwartung gespiegelt zu werden bzw. zu spiegeln, entsteht bereits zwischen dem 9. und 12. Lebensmonat (affect containment). Gegen Ende des 1. Lebensjahres bildet sich die sog. sekundäre Intersubjektivität heraus, wenn der Säugling mit dem Erwachsenen gemeinsam den Fokus der Aufmerksamkeit auf ein Drittes lenken kann. Das Verstehen des Anderen, und damit der jeweiligen Bezugsperson, ist wiederum essentiell für die Entwicklung eines kohärenten Selbsterlebens. Dass die Mutter-Kind-Beziehung von Beginn an nicht nur eine biologische, vielmehr eine personale Beziehung ist, erscheint mir wesentlich für unser Verständnis von Bindung – „Würde die Mutter das Kind nicht immer schon als eine ‚kleine Person‘ ansehen und ansprechen, könnte es seine spezifisch personalen Vermögen nicht entfalten.“ [23, S. 192, Zitat 188]. Die Entwicklung des Selbst ist dann nachvollziehbar an folgenden Entwicklungsphasen: mit 8 Monaten entsteht Objektpermanenz, ca. im 2. Lebensjahr selbstreferentielle Emotionen 1. Ordnung wie Verlegenheit, Empathie und Neidgefühle sowie die uns besonders interessierenden Emotionen 2. Ordnung von Scham und Schuldgefühlen [25, S. 47 ff.]. Die Entstehung eines reflexiven Ich-Bewusstseins vollzieht sich mit ca. 1½ Jahren, und damit entstehen Empathie und Scham als Fähigkeit und Grundemotionen. Diese Entwicklung ist immer auf der Folie der Intersubjektivität zu sehen und bildet entsprechend reflexhaft die Beziehung ab.

9.4.2.4 Schamentwicklung Bei meiner Beschäftigung mit Scham habe ich mich vor allem von Wurmser [26] profunder Auseinandersetzung mit diesem Thema inspirieren lassen, aber auch von neueren Erkenntnissen durch Psychoanalytiker wie Dornes, Hilgers, Weiss und Schüttauf. Hier kann nur Raum für eine skizzenhafte Darstellung sein, es soll vor allem um Scham als verdrängten und abgespaltenen Affekt gehen, der sich – so meine These – womöglich sekundär in der parentalen Leugnung unbewusst ein unheilvolles Ventil in der Verwöhnung sucht. Was ist Scham eigentlich? Scham ist eine primäre Erfahrung, die zeitlich (zwischen dem 18. und 24. Lebensmonat) der Schuld vorgelagert ist. Scham ist ein komplexer Affekt, der – das ist wesentlich, wenn wir uns über Körperlichkeit Gedanken machen – über den Blick des anderen aufgenommen wird. Scham wird in der psychoanalytischen Literatur zumeist mit Nacktheit, Bloßstellung und Demütigung gleich-

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gesetzt. Demgegenüber steht der Stolz als Gefühlsäquivalent: Stolz und Scham regulieren das Selbstwertgefühl und sind wesentlich mit dem Gesichtssinn verknüpft [27, S. 19]; [28]. Scham als Erfahrung des Sehens und Gesehenwerdens enthält eine komplexe sinnliche und tiefenpsychologische Komponente, die Mutter ist schließlich nicht nur die Beobachtende, sondern auch die beobachtete Figur. Für das Kind bedeutet diese Erfahrung das Erleben von Reziprozität, „die Erfahrung des Gesehenwerdens ist auf diese Weise unvermeidlich mit dem Erleben von Selbst bzw. Verlegenheit und Scham verknüpft …“ [28, S. 874], es schließt die Wahrnehmung der ganzen Person mit guten sowie schlechten Eigenschaften ein. Nach Winnicott [29] erblickt das Kind, das der Mutter ins Gesicht schaut, „im Allgemeinen das, was es in sich selbst erblickt.“ (zitiert von Weiss [28], Fußnote S. 873). Das heißt, auch der „tiefste und archaistische Aspekt der Scham ist mit dem Gesicht der Primärperson verknüpft.“ [30, S. 834]. Der klassisch gewordene Satz Kohut’s [31] vom „Glanz in den Augen der Mutter“, wenn sie auf ihr Kind blickt, ergänzt dieses dadurch, dass das Kind eine narzisstische Bestätigung durch die Mutter erfährt und diese durch den freudigen Blick das Selbstwertgefühl des Kindes stimuliert. Bleibt dieser „Glanz“ aus oder – wie manche Patienten aus der Erinnerung berichten – ist der Blick hart oder gleichgültig, erzeugt dies Angst oder Resignation und Gefühle der Wertlosigkeit beim Kind. Die erniedrigende Erfahrung ist dann: Das Kind sieht sich einem Objekt gegenüber, was es beobachtet und auf es herabblickt – und fühlt sich beschämt. Anders ausgedrückt: „Sehen“ kann Interaktion regulieren und in diesem Kontext als Machtinstrument betrachtet werden (im Sinne der Herablassung). Diesen Aspekt behandelt Weiss [28] sehr anschaulich in seiner Abhandlung. Manche erwachsenen Patienten erinnern sich in der Therapie an dieses Erleben. Auch viele Eltern beklagen sich über Menschen in der Öffentlichkeit, die ihr behindertes Kind wie ein „Alien“ anstarren und erleben dieses als Kränkung der elterlichen Rolle und stellvertretend für ihr Kind als sehr belastend. Freud hat sich nie konsistent mit Scham und Gewissen als theoretischem Modell auseinandergesetzt [32]. Wie Lansky weiter ausführt, geht die psychoanalytische Theorie aktuell davon aus, „dass wir nun das Ich-Ideal als Ort der Scham und das eigentliche Über-Ich als Ort der Schuld ansehen.“ [32, S. 925]. Das heißt: Scham als intersubjektiver Prozess entsteht als Spannungszustand zwischen Ich und Ich-Ideal. „Scham entsteht danach, wenn das Ich wahrnimmt, dass es dem Ich-Ideal nicht entspricht …“ [33, S. 840] Dieses Argument bezieht sich auf das innere subjektive Erleben, in einem späteren Entwicklungsschritt kann sich der Affekt von ego nach alter, d. h. von sich auf den anderen als „Fremdscham“ verlagern [26]. Dabei ist Scham, so Hilgers, nicht primär pathologisch oder an eine bestimmte Lebensphase gebunden. Keine menschliche Kultur kommt – soweit bekannt – ohne Schamentwicklung oder Stolz als Affekt aus. Freud haben wir in den Ausführungen zur Veränderung der Sexualenergie infolge der Sesshaftwerdung des Menschen folgende originelle Anmerkung zu verdanken: Die Entwicklung der Scham sei im Zusammenhang mit der Zurückdrängung der Geruchsreize zu sehen und dies habe wiederum

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mit dem Entschluss zum aufrechten Gang zu tun, „der nun die bisher gedeckten Genitalien sichtbar und schutzbedürftig macht und so das Schämen hervor ruft. Am Beginn des verhängnisvollen Kulturprozesses stünde also die Aufrichtung des Menschen.“ [34, S. 229]. Scham zeigt sich oftmals in Verbindung mit Schuld, gleichwohl dies nicht notwendigerweise miteinander verknüpft ist: Beide Affekte sind wesentliche Regulationsmechanismen innerhalb einer Gesellschaft. Auf Wurmser ist die Anmerkung zurückzuführen, Scham beziehe sich mehr auf das „Sein“, während die Schuld bzw. das Schuldgefühl mehr aus dem „Tun“ erfolge (zitiert nach [35, S. 134]). Der Hinweis Hilgers, Scham sei eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen einer Psychotherapie, weil Menschen in der Regel durch Schamerleben einen Anreiz zur Veränderung spüren, erscheint ebenfalls wesentlich. Ich glaube in der Tat, dass viele Eltern aus diesem Grund den Kontakt zur Beratung abbrechen: Sie wollen nicht mit der Scham konfrontiert werden – sei es mit ihrer eigenen Scham oder die über das Kind [10]. Aber „… nicht nur das Sichtbarwerden des innerpsychischen Erlebens, sondern die Aufhebung der körperlichen Intimitätsschranke (mit der eventuellen Offenbarung von Makeln und Behinderungen) ist schamauslösend.“ [27, S. 113]. Auch die Mitteilung einer Diagnose kann schamauslösend sein, nicht nur werden eigene Ängste und Verleugnungen sichtbar, auch zeigt sich der Arzt als Wissender gegenüber dem Patienten als Unwissender. Auch hier wird etwas „gesehen“, was der Patient nicht „sehen“ kann oder womöglich nicht wissen wollte. Wie traumatisierend solche Mitteilungen für die Beteiligten, insbesondere auf die Eltern wirken können, ist in vielen Untersuchungen problematisiert [5, 36]. Und hier setzt meine These und damit mein Ansatz zur Verbesserung der klinischen Versorgung an: Wir brauchen einen bewussteren Zugang zu unserer Scham und den „Masken der Scham“ [26], dieser sollte zunächst als Eigenwahrnehmung bei uns selbst individuell beginnen – und in zweiter Instanz zu einer sensitiven Annäherung an die Betroffenen (Familien) führen.

9.4.2.5 Besonderheiten der Situation bei Behinderung Schüttauf [33] hat Strukturmomente des Schamprozesses beschrieben: Diese Sequenzen implizieren Phasen des Verbergens und Täuschens, der Enthüllung und Verwerfung und des Ungeschehenmachens. In dieses Phasenmodell kann sich jeder einfühlen, der bei einem verbotenen oder unerwünschten Szenario „erwischt“ oder durch Aufdeckung blamiert wurde (wie beispielsweise bei Abschreibversuchen in der Klassenarbeit oder Klausur). Psychische wie körperliche Makel, die subjektiv als peinlich und schambesetzt erlebt und versteckt werden, sind bei jedem Menschen zu finden: Vom „Verbergen“ und „Täuschen“ leben allein große Teile der Kosmetikindustrie! Überträgt man diese Struktur auf das individuelle Erleben körperlicher Behinderung, sind gerade die sozial wichtigen Momente wie die des „Verbergens“ und „Ungeschehenmachens“ bei Behinderung nicht oder nur im eingeschränkten Maß möglich.

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Ich denke hierbei beispielsweise an einen attraktiven jungen Mann mit Spina bifida, der im Café gern die Blicke auf sich zog, spätestens aber, wenn er aufstand mit seiner auffälligen und eingeschränkten Körperhaltung und seinem Gangbild „enttäuschen“ musste, und sich in diesem „Lebensparadoxon der Behinderung oder des Behindertseins“ selbst nicht mehr zurechtfand: nämlich nach der Aufwertung die Abwertung spüren zu müssen. Gleichwohl genoss er verständlicherweise immer wieder die begehrlichen weiblichen Blicke, um dann seinerseits vom Abbruch des Flirts enttäuscht zu sein. Die Rücknahme der „Beschämung“ durch die Behinderung des Betroffenen im Sinne des „Ungeschehenmachens“ ist unmöglich, wenngleich verständlicherweise der höchste (elterliche) Wunsch. In unserer Fallvignette (s. Kap. 9.4.3.3) ist es Frau A., die die teuersten Kleider für ihre kleine Tochter kauft und hierdurch kurzfristig in Zustände höchsten Glücks gerät, weil sie ihr dazu verhelfen, sich „normal“ zu fühlen, d. h. das Schicksalhafte, nämlich den Rollstuhl ihrer Tochter bzw. deren mühsames Gehen mit Orthesen zu vergessen. Durch mütterliche Zuwendung und „Maskierungen“ erfolgen hier ähnlich kompensatorische Versuche wie die des jungen Mannes. Diese Verschleierungen sind deshalb verständlich, weil in unserer westlichen Gesellschaft Schamerleben gemeinhin nur möglich ist, wenn eine Art Aufspaltung in öffentliche „gute“ und private „schlechte“ Seiten erfolgt (der Lebenspartner, der um die individuellen Makel weiß, die gute Freundin mit intimen Kenntnissen über Unsicherheiten usw.). Entsprechend ist in unserem Kontext zu fragen, wie gehen die Eltern resp. die Mütter behinderter Kinder mit der Aufspaltung um? Der „körperliche Makel“ des Kindes ist spätestens nach Ablauf der Kleinkindphase bei starker Einschränkung sichtbar (z. B. durch den Rollstuhl) und wird dann „öffentlich“. Dies ist – wie alle Kliniker wissen – ein empfindsamer Übergang für die Beteiligten, viele Eltern versuchen den Einsatz des Rollstuhls aufzuschieben.

9.4.2.6 Fallbeispiel Mona Wie wir gesehen haben, sind Versorgung und Wertschätzung bei der Pflege des Kindes untrennbar miteinander verbunden. Dabei führen anhaltende interaktive Störungen zu Gefühlen der Wertlosigkeit, und Scham als Gefühl kann sich ausbreiten. So beschreibt Hilgers [27] mit Rückgriff auf Wurmser die sog. existentielle Scham. Das ist die grundlegende Identifikation mit einem Makel, der bereits aufgrund des intrauterinen, peri- oder postnatalen Erlebens bei ungewollten Schwangerschaften oder bei Abtreibungsversuchen entsteht, und sich im Kind und später erwachsenen Menschen als diffuse Missempfindungen festsetzen kann. Analog kann man bei Hirsch die Unterscheidung verschiedener Schuldgefühlformen finden, die sich an die Schamgefühle heften. Zum „Basisschuldgefühl“, das das Kind bei „Ungewolltsein“ bzw. bei „mangelndem Angenommenwerden“ entwickelt, folgt seitens des Kindes instinktiv

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als Reaktion die „Pflicht der Wiedergutmachung“ [35, S. 128 ff.], und damit der Einsatz verstärkter Anstrengungen. In dem nun folgenden Fallbeispiel sind die prozessuale Verknüpfung von Schuld und Scham sowie die kausalen Folgen der Vernachlässigung einer emotionalen Beziehung für Eltern wie Kind sehr gut nachvollziehbar. Mona ist jetzt Ende dreißig und hat eine thorakale Meningomyelozele mit Querschnittssymptomatik. Sie war 3 Jahre als bereits erwachsene Patientin wegen rezidivierender Depressionen bei mir in Psychotherapie. Ihr Leben hatte einen ungemein brutalen Beginn: Die Ärzte im Krankenhaus rieten – wie es damals leider häufig geschah – den von der Behinderung ihrer Tochter überraschten Eltern, keinen Kontakt zu dem Kind aufzunehmen, weil es sich nicht „lohne“; es werde ohnehin bald sterben. So liegt Mona ohne Schutz und Liebe im Krankenhaus, nur die Schwestern kümmern sich um sie. Aus den Tagen werden Wochen, aus diesen Monate. Nach 10 Monaten ruft ein Arzt die Eltern zu Hause an, ob sie nicht ihr Kind besuchen wollten. Dieser Beginn zeigt die an die Forderungen des medizinischen Apparates angepassten Eltern ebenso wie das überforderte und abwehrende Personal. Welche frühen psychischen Schäden das Baby dadurch erlitten hat, liegt auf der Hand. Das erlernte Bindungsverhalten ist ambivalent unsicher, Mona hat in der Interaktion vermutlich wenig Spiegelung, Feinfühligkeit oder Intersubjektivität erfahren, sie konnte keine Objektbeziehungen internalisieren. Vielmehr musste Mona sich gewissermaßen mit einer emotionalen Leerstelle identifizieren. Nach fast 1 Jahr kommt Mona in Kontakt mit ihrer Familie: Sie wird von ihren Eltern nach Hause genommen und erlebt ein Heim, und naheliegend eine von nun an stark überbehütete Kindheit. Die enge Verzahnung von Scham und Schuld bei Eltern wie beim Kind wird hier überdeutlich. Mona befindet sich am Ende der oralen Phase (= völlig ungenährt) zu Beginn der analen Phase, wenn sie zu den Eltern kommt. Es erscheint verständlich, dass sie keine Aggressionen oder gar Trotz und Widerstand zeigt. Mona war bis ins Erwachsenenalter froh und dankbar, „dass ich Eltern habe, die sich meiner annehmen“. Diese Haltung kommuniziert sie, immer verbunden mit dem Hinweis, wie schwer die Behinderung doch auch für die Eltern sei. Sexualität ist kein Thema, ist tabuisiert. Mona hat sich mit ihrer Lähmung so weitgehend abgefunden, dass sie nicht einmal ausprobiert, ob sie an den Genitalien etwas spürt. Hier wird gewaschen und katheterisiert und medizinisiert, und zwar übernimmt dies die Mutter so lange, bis Mona – durch die Therapie unterstützt – ihrer Mutter dies endlich untersagen kann. Mona kann gegenüber ihrer frühen Kindheit keinerlei Trauer oder Wut verspüren, sie ist vor allem dankbar und denkt immer an erster Stelle an ihre Eltern. Ihre Argumente sind immer die gleichen: Sie selbst habe ja nichts gemerkt, sie sei ja so klein gewesen damals, aber für ihre Eltern sei es schlimm gewesen! Auch bei den vielen Operationen, die sie in der Folge über sich ergehen lassen muss, argumentiert sie ähnlich. Ihr Verhalten ist angepasst und pragmatisch, sie hat logischerweise nie gelernt, „nein“ zu sagen. Dass sie dies „darf“ wie jeder andere auch – ist ihr neu! Sie leistet sich eine einzige Opposition mit ca. 16 Jahren, die eher autoaggressiven

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Charakter hat: Nach einer großen Rückenoperation, die sie zwingt, eine Reihe von Tagen und Nächten mit dem Kopf nach unten zu schlafen, ist ihre Reaktion: Trotz, d. h., sie geht heimlich genau anders herum mit einem Berg von Kissen unter dem Kopf ins Bett und schläft gewissermaßen im Sitzen. Nachdem sie dann über die Jahre ein ausgeprägt schmerzhaftes Kopfschmerzsyndrom ausgebildet hat, schafft sie es, nachdem wir die Quelle ihres Trotzes herausgefunden haben, horizontal zu schlafen und wird frei von Kopfschmerz! Im Alter von 21 Jahren lernt sie einen Mann kennen, in den sie sich verliebt. Dieser Mann, der an einer Spastik leidet, gibt ihr eine paradoxe Liebeserklärung: Er schenkt ihr einen Ring und erklärt gleichzeitig, mit ihnen könne es ja nichts werden, weil sie sexuell keine Empfindungen haben könne. Mona ist unglaublich gekränkt und verletzt und bricht die Beziehung ab, es folgt ein radikaler Rückzug von der Männerwelt. Jahre später treffen die beiden sich wieder, und nach einiger Zeit können sie eine Beziehung aufnehmen. Aber diese Beziehung ist lange Zeit von Monas Angst geprägt, als Frau „nicht richtig“ zu sein, dem Mann nicht bieten zu können, was er will und braucht. Und die Angst ist so groß, dass sie lange davor zurückschreckt, sich selbst zu berühren – geschweige denn sich berühren zu lassen. Nach knapp 1 Jahr kann sie endlich die Kränkung ansprechen, sie tut dies voller Angst und Panik – zu ihrer Überraschung reagiert ihr Freund höchst betroffen über seine mangelnde Sensibilität – dies ist dann der eigentliche Beginn ihrer Beziehung, die mit einem geplanten Zusammenzug endet. Doch Mona hat Angst, dies ihren Eltern zu sagen, aus Sorge sie zu verletzen, wenn sie sich von ihnen entfernt. Dieses Fallbeispiel steht insofern für viele andere, als hier bestimmte Themen vor dem Hintergrund einer Behinderung deutlich werden. Etliche unserer Patienten haben ähnliche Erfahrungen, sie erleben sich in der Gesamtheit als nicht wirklich angenommen. Der Begriff der malignen Schamdynamik erscheint hier als Erleben negativer Interaktionen passend [37, S. 38]; [27]. Dabei hat hier die Verwöhnung andere Folgen, weil sie gewissermaßen erst spät eingesetzt hat, sodass die Prägung des 1. Jahres, das primär von Vernachlässigung gekennzeichnet war, keine narzisstische Überhöhung produziert, vielmehr eher depressive und autoaggressive Tendenzen, die ausgelöst wurden durch: – mangelnde Erfahrung von Angenommenwerden, – unzureichenden Kontakt zum eigenen Körper und zum eigenen Erleben, – Erleben massiver Scham und infolge Minderwertigkeitsgefühle, – Erleben von Schuld, – Erfahrung von Resignation. Wohlgemerkt, diese Folgen hätten sich auch bei einer Nichtbehinderung eingestellt – jedoch sind sie durch die Behinderung noch drastischer, die Negativität gegen den Körper scheint sich zu doppeln, dieser ist ohnehin nicht „intakt“ – und darum aus Sicht der Betroffenen scheinbar noch weniger liebenswert. Bei vielen Eltern sind Gefühle der Scham und Schuld – wie auch in dieser Fallvignette deutlich wird – eng miteinander verknüpft. Die zutreffende oder irrationale

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Vorstellung etwas versäumt zu haben (medizinisch, ernährungsphysiologisch) kann offen oder verdeckt zu Aggression und Ablehnung führen. Dies scheint zunächst der Fall zu sein, indem die Eltern einwilligen, das Kind im Krankenhaus zu lassen. Und es gibt gleichsam eine Doppelung der Scham-Schuld-Dynamik im Kind selbst. In den meisten Fällen aber kommt es gewissermaßen gleich zu Überbehütung und Verwöhnung. Eine solche Erziehungshaltung nimmt offenbar – so ist zu vermuten – eine Wiedergutmachungsgeste ein; viele Eltern heben hervor, dass sie dem behinderten Kind „alles abnehmen wollen, wo das Kind es doch ohnehin nun so schwer habe.“ Der „Wiedergutmachungsfaktor“, der bei Monas Eltern sicherlich eine immense Rolle gespielt hat, führt zur Aufhebung individueller Grenzen und zu emotionaler Distanzlosigkeit. Entsprechend verhindert diese Haltung tragischerweise die Autonomieentwicklung beim Kind, weil ein Kind keine eigenen Erfahrungen machen und kein Selbstvertrauen entwickeln kann, wenn ihm alles abgenommen wird. Vielmehr wird es sich fixieren: „Statt die Welt der Dinge in Besitz zu nehmen und sie in zielbewusster Wiederholung auszuprobieren, konzentriert sich das Kind zwanghaft auf seine eigenen, sich wiederholenden Körpervorgänge.“ [20, S. 246], zitiert nach [27, S. 89]. In der Regel findet man moderatere Spielarten von Verwöhnung bzw. deren Folgen. Biografisch sind diese oft bei behinderten erwachsenen Patienten zu finden, die stark mit Gefühlen von Leere und Langweile kämpfen, dem Gefühl „falsch“ zu sein, eine inkonsistente Identität zu besitzen bzw. ein Übermaß der Selbstfixierung aufweisen, die Beziehungen zu anderen Menschen unmöglich macht. Diese Symptome sind Kennzeichen von Depression oder narzisstischer Störung, die mit Selbstkritik und Selbstzweifeln einhergehen. Denn „obwohl der Begriff des Narzissmus auf den griechischen Mythos zurückgeht, der oberflächlich verstanden Eigenliebe bedeutet, trifft für die narzisstische Persönlichkeitsstörung genau das Gegenteil zu. Der Narzisst hat den Ausdruck seines wahren Selbst aufgrund früherer Verletzungen begraben und es durch ein hochentwickeltes, kompensatorisches Selbst ersetzt.“ [38, S. 53]. Der Depressive hat in der Kindheit starke Verlustängste gehabt und hat sich nach den elterlichen Ver- und Geboten ausgerichtet, um geliebt zu werden, hat hierüber auch ein anspruchsvolles zensierendes System errichtet. Beim depressiven Muster kann das überbehütete oder pseudobehütete Kind nichts Eigenes entwickeln, es traut sich wenig zu (wie man gut bei Mona sehen kann), es wagt nicht, ein eigenes Ich zu werden, es riskiert – um den schönen Begriff von Riemann [39] zu gebrauchen – keine „Eigendrehung“, sondern geht im Zweifel in die Autoaggression oder in die Anpassung.

9.4.3 Überbehütung und Verwöhnung Wie deutlich geworden ist, spielt bei der Arbeit mit Familien mit behinderten Kindern das Gefühl der Schuld immer wieder eine große Rolle. Es ist eine Erfahrung der Praxis, dass die Konfrontation mit Behinderung für die Eltern oftmals einen traumatischen Einschnitt bedeutet ([5]; [40, S. 176]; [41]). Bei einem am Sozialpädiatrischen Zentrum

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(vormals der FU, dann HU Berlin) angesiedelten Forschungsprojekt sind Interviews mit Eltern nach dem Erhalt der Diagnose Spina bifida oder Muskelerkrankung sowie mit dem klinischen Personal geführt worden. Viele Eltern haben in den Gesprächen mit uns über ihre Schuldgefühle gesprochen. Bleiben diese Erfahrungen unbearbeitet, können die unterdrückten Gefühle eine große diffuse Macht entwickeln und die Betroffenen erst recht an die Schuldgefühle binden. Zwei Wege sieht Müller-Hohagen [42] dann für die Eltern: entweder im Dichtmachen (in der Verdrängung) oder in der Überaktivität. Entsprechend bilden sich reaktiv zwei grundsätzliche Haltungen bzw. Erziehungsstile aus, die gehäuft in Familien mit einem behinderten Kind zu finden sind: die Überforderung oder die Unterforderung im physischen wie psychischen Bereich. Für den physischen Bereich gilt eher die Entmündigung, der Körper des Kindes wird medizinisch wie hygienisch enteignet, er wird als „Arbeitsfeld“ [43] betrachtet (wie in Fallvignette 1) und nicht als Empfindungsorgan und Teil der Persönlichkeit. Überbehütung geht mit Verdrängung und oftmals mit restriktiver Sexualerziehung einher, überdies ist für viele Eltern die Vorstellung unfassbar, ihr behindertes Kind könne eine eigene Sexualität haben, gar sexuelle Erfüllung oder gar einen Partner finden. Nach Richter [44] sind es entsprechend folgende Gesichtspunkte, um die sich die Entwicklung der Sexualität bei Behinderung kristallisiert: – gestörte Beziehung zum Körperschema (Angst vor sexuellem Versagen), – sexuelle Entwicklung des Kindes wird elterlicherseits wenig gefördert, – Überbehütung, – Selbstwertprobleme und Minderwertigkeitsgefühle, – Angst und Unsicherheit gegenüber der eigenen Sexualität, – objektive körperliche Beschränkungen durch verminderte Sensibilität der Geschlechtsorgane, durch Fehlhaltungen der Gelenke, Spastizität, Inkontinenz usw. Des Weiteren entsteht durch die fortwährende Einbettung in ein Helfersystem „manchmal der Eindruck, als erhielten Sexualität und sexuelle Bedürfnisse der Behinderten den Wert einer Zweitbehinderung“ [45]: Die Umwelt versuche die Probleme von sich wegzuschieben und die Behinderten in eine Art „sexuelle Rumpelkammer“ zu drängen. Die Pubertät verschafft den Kindern allgemein die Möglichkeit, aus ihren engen familiären Bindungen herauszukommen; der Prozess der Loslösung muss hier von den Eltern wie von den Jugendlichen immer wieder durchgearbeitet werden. Natürlich gelingt dieser Prozess sehr viel schlechter beim Vorliegen einer Behinderung durch die körperlich vorgegebenen Abhängigkeiten. Wenn obendrein Versäumnisse in der Autonomieentwicklung schon aus früheren Zeiten bestehen, wird eine „Emanzipation“ immer schwieriger.

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9.4.3.1 Überbehütung und Verwöhnung als allgemeines Phänomen In der modernen Gesellschaft stehen die Eltern enorm unter Bildungsdruck; sie haben den Wunsch und den Anspruch, ihren Kindern alles mitgeben zu müssen, was diese Gesellschaft zu bieten vermag, aber auch die Erwartung, dass dieser Aufwand selbstverständlich zu besonderen Erfolgen führen müsse. Über die positiven wie negativen Folgen ist viel geschrieben worden. Von Stelzer [46] wird es wie folgt zusammengefasst: „Während diese [die Mittel- und Oberschicht] ihre Kinder verlieren, weil sie sie zu sehr vorantreiben, ersetzt in der Unterschicht die Spielkonsole oft die Verbundenheit zu den Eltern. Das Ergebnis ist gleich: Beziehungslosigkeit. Und das bedeutet immer: eingeschränkte Entfaltungsmöglichkeiten für die Kinder. Ihr Gehirn, sagt Gerald Hüther, wird zu einer Kümmerversion dessen, was daraus hätte werden können.“ (Hüther [47], Stelzer [46] im Zeitmagazin 2009). In den letzten Jahren sind darüber hinaus eine Vielzahl von Büchern zum Thema Verwöhnung von Kindern und deren Folgen für die Charakterbildung erschienen [48, 49]. Ein in den USA aktuell publiziertes Buch trägt den Titel „Wenn Eltern es zu gut meinen“. Die Autorin, eine jungianische Analytikerin, thematisiert eine auch in Europa hinlänglich bekannte Haltung, dass die Erlaubnis „normal“ zu sein, für viele Kinder nicht mehr gelte. Viele Eltern wollten sich bei ihren Kindern nicht unbeliebt machen durch Grenzsetzungen. Dabei führe die Botschaft „Du bist etwas ganz besonderes“ oft zum Gegenteil des beabsichtigten Signals, nämlich zu einem explosiven Gefühlsgemisch von Selbstbezogenheit, Überforderungsgefühlen, Versagensängsten und Selbstüberschätzung. Das „besondere Selbst“, das hier stets angesprochen werde, müsse ohne Fehler und Schwächen sein. Dieser Anspruch erzeuge dann „die Selbstwertfalle“, die den Beziehungsaufbau ebenso verhindere wie „sich selbst in der komplizierten, schwierigen Ambivalenz der Liebe anzunehmen.“ [50, S. 229]. Verwöhnung – so das Credo der im Folgenden zitierten Überlegungen – hat nichts mit Liebe zu tun, im Gegenteil; Verwöhnung schwächt überdies massiv die väterliche Position. „Wer von Überfürsorglichkeit auf mütterliche Zuneigung schließt, ist vielmehr selbst in dem gängigen Klischee eines idealisierten Mutterbildes gefangen. Eine Mutter, die ihren Sohn verzärtelt, setzt ihn gegen den Vater, wodurch er sich als der Bessere fühlt. Diese Situation provoziert von Seiten des Sohnes Phantasien, die seiner Entwicklung schaden.“ [51, S. 65]. Der im Krieg emigrierte Psychoanalytiker Arno Gruen gibt in seinen hervorragenden Ausführungen pointierte Hinweise zu einer emotional nicht auflösbaren Konfliktsituation für das Kind: Denn wenngleich auf den ersten Blick Verwöhnung danach aussieht, als bekäme das Kind viel oder sogar alles, bleibe es gerade dabei sich selbst komplett überlassen und werde – wie Gruen zeigt – zum Spielball im elterlichen Machtkampf. Dabei sind die Gefühle des Kindes paradoxerweise nicht mehr wichtig, das Kind wird für das narzisstische Bedürfnis der Mutter missbraucht, darf dies aber nicht fühlen, sondern muss vielmehr die Mutter dabei unterstützen. Da dies ein unmögliches Unterfangen ist, fühlt sich das Kind gezwungenermaßen überfordert. Im nächsten Schritt werden Aggressionen geweckt, die

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wiederum nicht gezeigt werden dürfen. Dies erzeugt dann die Quelle der Spaltung im Innenleben – die der Mutter geltende Ablehnung kann nur entweder auf sich selbst bezogen (durch innere Herabsetzung) oder auf andere projiziert werden.

9.4.3.2 Besonderheiten bei Behinderung Wenn bereits der allgemeine Trend bei vielen „normalen“ Familien zur Verwöhnung geht, wie viel schwerer muss es dann für Eltern eines behinderten Kindes sein, eine klare und strukturierte Erziehung zu praktizieren? Viele Menschen, die sehr spät Eltern werden und insbesondere solche, die ein krankes oder behindertes Kind bekommen, laufen Gefahr, das Kind zu sehr zu schützen und verhindern damit ungewollt, kindliche Frustrationserfahrungen und Toleranzentwicklungen. Die Folge kann die Fortdauer eines infantilen Narzissmus sein oder die Ausbildung eines pathologischen Narzissmus hervorrufen [52, S. 583 ff.]. Eine Mutter eines schwerst mehrfach behinderten Kindes, das sich selbst nicht artikulieren konnte, sagte einmal in der Beratung, sie „habe ihr Kind von innen bewohnt“, eine Aussage, die auf die besondere Liebe und symbiotische Verschmelzung mit dem Kind hinweist. Im Vergleich zu dem zweitgeborenen gesunden Kind konnte diese Mutter dann bewusst die Freude und Schmerzhaftigkeit der autonomen Prozesse erleben, wenn etwa das Kind sich beim Laufenlernen von ihr weg bewegte. Auf den klinischen Arbeitsalltag bezogen ist es wichtig, Eltern, die ihrem Kind keinen Wunsch abschlagen oder es im Gegenteil mit Dingen überhäufen, die es nicht braucht, verständlich zu machen, dass sie das Kind dadurch an sich binden und nicht zur Eigenständigkeit motivieren, und eine Ablösung dadurch verhindern. Überbehütender Erziehungsstil (overprotection) entwickelt sich vor allem bei nicht gesunden und/oder frühgeborenen Kindern leicht zu einer dauerhaften elterlichen Haltung und wirkt sich extrem problematisch für die Entwicklung der Kinder aus, indem – der Entwicklungsraum eingeengt wird, – durch die intensive Pflege die Eltern derart in Anspruch genommen werden, dass sie selbst die Persönlichkeit des Kindes nicht mehr sehen, – die Distanz zum Kind verloren geht, – darin enthaltene, tiefe irrationale oder archaische Ängste der Schuldhaftigkeit auf das Kind wirken, – Passivität und Hilflosigkeit beim Kind erzeugt werden (in Variation: gelernte Hilflosigkeit [53]). Die Pathogenese bedeutet: Es ist keine Eigenkontrolle erlernbar, weil problematische Situationen immer von den Eltern übernommen werden. In der Folge entstehen im Heranwachsenden Angst, Depression und Hilflosigkeit. – die Autonomieentwicklung verhindert wird. Ein weiterer bereits angedeuteter problematischer und sehr bedeutsamer Aspekt bei Familien mit einem behinderten Kind bezieht sich auf die Schwächung der Vaterrolle

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(s. o.). Erschwerend kommt hinzu, dass häufig der Vater des Kindes durch seine Berufstätigkeit stark in Anspruch genommen wird, der besonders hohe Pflegeaufwand (u. a. bei Spina bifida das Katheterisieren) wird von der Mutter übernommen, die sich hierin oftmals eine Expertise aneignet, die der Vater nicht teilt, sodass die Mutter zunehmend diesen Bereich vollständig übernimmt. Dadurch fällt der Vater scheinbar zunächst nur pflegerisch, z. T. aber vollständig in seiner Rolle als Dritter im Bunde aus, und spielt vorrangig die Rolle des Ernährers. Hiermit wird die psychologisch eminent relevante trianguläre Beziehungsstruktur geschwächt oder außer Kraft gesetzt, die von Freud als ödipal beschrieben wurde, und dem Kind dazu verhilft, die libidinösen, aber auch aggressiven Wünsche gegenüber seinen Eltern durchzusetzen und zu erleben. Das Konzept der Ödipalität schließt ein, dass das Kind die zwischen den Eltern wahrgenommene Beziehung in seiner Vorstellung sexuell phantasiert. „Auf Mädchen bezogen ist dies der Versuch die Rivalität mit der Mutter zu bewältigen, ohne sie als Person zu verlieren und zur psychischen Aufnahme bestimmter Aspekte der Mutter und der Weiblichkeit. Vice versa gilt dies für den Jungen und den Vater.“ (s. Diedrichs [54, S. 138 ff.]).

9.4.3.3 Fallbeispiel Kira Ich möchte im Folgenden versuchen, die skizzierten Hypothesen auf eine Kindesmutter zu übertragen, die innerlich stark mit Scham und Schuldgefühlen befasst ist, und deren Interaktion mit ihrem Kind dies verdeutlicht. Frau A. hat bereits einen gesunden 7-jährigen Sohn und wird erneut schwanger. Ihre kleine Tochter kommt in einer Berliner Klinik mit einer inkompletten sakralen Lähmung und Hydrocephalus zur Welt. Die Mutter trifft dieses Ereignis unerwartet, sie versinkt in einer schwarzen Welt der Trauer und des Schmerzes und verlässt am nächsten Tag ohne nachzudenken, wie sie später sagt, die Klinik und flüchtet nach Hause. Sie kann sich nicht mehr fühlen, das Leben scheint ihr sinnentleert, sie kleidet sich morgens automatisch an und funktioniert wie ein Roboter, „ich wollte unsichtbar sein“. Sie weiß, sie muss für den großen Sohn da sein, aber kann dies nur unter Aufbietung aller Kräfte gewährleisten. Der auslösende Moment ist traumatisch und eine große narzisstische Kränkung: Die Erwartung an einen unversehrten Säugling ist bitterlich enttäuscht. Das Defizit ist bald deutlich sichtbar, auch wenn Unterschenkelorthesen später das Laufen ermöglichen, was der Mutter enorm wichtig ist. Die Orthesenanpassung bei Kira ist kompliziert, sie zieht sich immer wieder die Orthesen aus bzw. lässt sie sich nicht anziehen. Dadurch hält sie ihre Mutter in ständigem Trab. Es scheint manchmal auch nicht klar zu sein, ob das „Spiel mit den Orthesen“ nicht oft auch ein Machtspiel ist, so wird der Kontakt zum größeren Bruder immer wieder durch Kiras „Orthesendrama“ unterbrochen. Mutter und Tochter gehen eine überaus enge Symbiose ein, die ein extremes Fremdeln ihrer Tochter zur Folge hat. Dies führt dazu, dass Kira nicht in einer Kita angemeldet wird mit dem Argument, die Tochter möchte bei der Mutter bleiben. Das

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weitere Geschehen ist vom Versuch beherrscht, ein Gleichgewicht wiederherzustellen. Frau A.s Regulierungsversuche zeigen sich vor allem in Kontrollbedürfnissen und -handlungen; dieses Gefühl verleiht ihr Sicherheit und steht der erlebten Ohnmacht und Verletzlichkeit diametral gegenüber. Gleichzeitig ist dieses verständliche Kontrollbedürfnis stark an äußerlichen Dingen orientiert, so entwickelt Frau A. nicht nur ein extremes bis zwanghaftes Reinlichkeitsverhalten in der Wohnung, vergisst aber jegliche Selbstfürsorge. Das Mädchen steht im Mittelpunkt ihres Fühlens und Handelns, oftmals kommt die Mutter, beherrscht von ihrem hohen Anspruch, dem Kind alles zu geben, erst am Abend nach 21 Uhr dazu, einen ersten Schluck zu trinken oder etwas zu essen, wenn die Kinder bereits schlafen. Wie in Kapitel 9.4.3.2 beschrieben, nimmt der nicht in der Familie lebende Vater eine untergeordnete und periphere Position ein. Noch Jahre später, als sie sich zu einer psychotherapeutischen Behandlung entschließt, kann Frau A. die Behinderung der kleinen Tochter nicht akzeptieren. In der Therapie vermag Frau A. die Funktion des Putzzwangs als ein unbewusstes „karthatisches Prinzip“ zu akzeptieren, den Wunsch, sie könne durch eine hohe Ordnung und Reinlichkeit das Erlittene wiedergutmachen, „wegputzen“ und dadurch zum Verschwinden bringen. Dies als wichtige Ich-Leistung in einer Notsituation zur Stabilisierung anzuerkennen, gebietet sich aus therapeutischer Perspektive dringlich. Wie sehr diese Maßnahmen beruhigen, Angst reduzieren, aber auch positive Gefühle erzeugen, weiß jeder, der in Zeiten innerer Unruhe den Schreibtisch aufräumt oder die Wohnung säubert. Auch die extreme persönliche Rücknahme, die Selbstaufgabe durch Hungern erinnern an ein Opfergebaren, als wolle sie unbewusst an einen Gott appellieren, und könne dadurch die Situation wieder ins Reine bringen. Dem „zwangsneurotischen Modus“ ist die Funktion einer Spannungsreduzierung zuzuordnen. Als Abwehrmechanismen sind hier Intellektualisierung, Affektisolierung, magisches Denken und Ungeschehenmachen zu nennen [9, S. 104]. Retzlaff [55] weist ebenfalls auf diesen Aspekt hin: Gerade in der westlichen Welt sei Kontrolle ein wichtiges Lebensprinzip, die Suche nach Schuld könne als die Bemühung aufgefasst werden, Entlastung zu erfahren und damit fänden Gefühle von Ohnmacht bzw. Unkontrollierbarkeit ein Ventil. Denn eine Schuldübernahme impliziert einen aktiven Aspekt, und einen Part (und wenn es derjenige der Schuld ist) zu übernehmen, ist für Eltern oftmals leichter zu ertragen als ein Gefühl des Ausgeliefertseins. Hier geht es den betroffenen Kindern nicht anders: Auch sie ziehen die Aktivität der Passivität vor. Im Verlauf der Therapie kann Frau A. ihre große Vorfreude auf das Mädchen beschreiben, das sie bereits pränatal in ihrer Phantasie mit schönen Kleidchen ausgestattet habe. Auch jetzt, nachdem die kleine Kira laufen gelernt hat, ist es für Frau A. die größte Freude, ihre Tochter einzukleiden und ihr die teuersten Kleider zu kaufen, „es macht mich glücklich, Kira schön gekleidet zu sehen, auch soll sie herausgehoben sein gegenüber den anderen Kindern“. Was ihr passiert sei, kann Frau A. immer noch nicht fassen, sie sei doch immer freundlich und hilfsbereit gewesen, sagt sie, und es gäbe Blicke in der Öffentlichkeit

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von neugierigen Menschen, die ihr Kind anstarren und ihr wehtun. Frau A. ist in einem asiatischen Land aufgewachsen und hat ihre Lebenshaltung vor dem Hintergrund eines buddhistischen Gesellschaftsverständnisses aufgebaut, also der Vorstellung, dass jede Handlung und jeder Gedanke, die der Mensch verübe, Rückwirkungen auf sein unmittelbares Leben habe. Dies sei an folgender Episode exemplarisch illustriert: Im Alter von 6 Jahren hat Frau A. eine alte Frau in ihrem heimatlichen Dorf gesehen, der ein Zahn durch die Haut nach außen wuchs, kindlich davon fasziniert musste sie immer wieder hinsehen – den Mahnungen ihrer Großmutter zum Trotz. Einige Zeit später tastete sie bei sich selbst einen Zahn, der sich durch das Zahnfleisch bohrte. Sie befürchtet nun, sie würde wie die alte Frau einen für alle immer sichtbaren Zahn außen am Mund herumtragen. Jede Nacht habe sie an dem Zahn herumgedreht, bis er nicht mehr da war. In dieser Fallvignette sind die vorab beschriebenen Facetten von Scham, Schuld und deren Folgen mangelnder Distanz, die in Überbehütung und Verwöhnung übergeht, angesprochen. Frau A. bindet das Kind so eng an sich, das sie für ihre eigenen Bedürfnisse kaum Platz hat. Kira nimmt den gesamten Raum ein, die Mutter verschwindet als Person und verwandelt sich in einen ausschließlich dienenden Teil. Kira erkennt dies unbewusst, beherrscht die Mutter und wird dadurch übermächtig. „Gleichzeitig erkennt jedes Kleinkind die tieferen Schwächegefühle der Eltern, da es diese ja empathisch mit erlebt. Es darf sie jedoch nicht wahrnehmen.“ [51, S. 131]. Das heißt, das Kind wiederum kann Gefühle von Scham, aber auch von Schuld, welche es durch die Eltern erfährt, kaum aushalten, aber implizit empfinden. Dieser Affekt muss abgewehrt werden, das geschieht in der Regel durch narzisstische Aufblähung, d. h. durch Projektion des eigenen Minderwertigkeitsgefühls auf die Außenwelt. Dadurch kann ein pathologisches Größenselbst bei Verleugnung vorhandener, aber beschämender Abhängigkeit entstehen [56]. Eltern, die übermäßig das Kind in seiner Grandiosität (durch Verwöhnung) bestätigen, befinden sich dann mit dem Kind in einem Teufelskreis: Wenn das Kind so mächtig gemacht wird, wird das Kind die Eltern unweigerlich als „klein“ erleben und sie in der Folge entwerten, und wird dadurch noch grandioser. Gleichzeitig ist das Kind mit diesem Größenselbst restlos überfordert, kann nicht lernen zu erkennen, was es braucht, und wird dadurch alleingelassen. Das verbindende Moment dabei ist: Beide Parteien leben in der Leugnung des Defizits, befinden sich damit gewissermaßen in einer emotionalen Sackgasse, und lassen Entwicklung nicht zu.

9.4.4 Zusammenfassung und praktische Konsequenzen Wie dargestellt, besteht in der Säuglingsforschung Einigkeit, dass Affekte durch Passung der Interaktion entstehen, die durch das Verhalten von Mutter und Kind reguliert werden. Bei fehlender Passung zwischen den kindlichen Grundbedürfnissen und den elterlichen Versorgungsmöglichkeiten kommt es zu Fehlentwicklungen beim Kind,

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und wir müssen immer davon ausgehen, dass bei Geburtsschäden der Aufbau einer intakten Beziehung erschwert ist [1, 57]. Die Sozialisationsbedingungen sind für behinderte Menschen oft erschwert und die frühen Erfahrungen sind prägend: Wird ein Kind gehalten, erlebt es ausreichend Feinfühligkeit und Spiegelung? Wie viel Verzicht müssen diese Kinder allein deshalb üben, weil sie ihre Aggressionspotentiale körperlich nicht ausreizen können bzw. dürfen? Wie viele unbewusste Botschaften bekommen sie von den Eltern, „nicht richtig zu sein“, enttäuscht zu haben? Aggression wiederum ist eine mächtige Quelle des Schuldgefühls. Das Schuldgefühl ist „ein emotionaler Indikator“ wie die Scham (sie hat eine Signalfunktion, die unter normalen Umständen als reifes Gewissen fungiert), oftmals wird es aber „(z. B. unter dem Einfluss eines strengen Über-Ich) dann subjektiv als eine unerträgliche Last empfunden.“ [9, S. 36/37]. Der Versuch einer Entlastung kann durch Verdrängung genauso wie durch Gegenhandlungen geschehen, zu denen auch Selbstschädigungen zählen. Eine literarisch höchst beeindruckende Beschreibung von Angst, und der Verzahnung mit Schuld und Autoaggression, ist in der gleichnamigen Novelle von Stefan Zweig (erschienen 1920) [58] zu finden. Mit anderen Worten: „Schuld“ kann als Folge elterlichen Versagens (kein gesundes Kind gezeugt zu haben) entstehen, die aus dem Bewusstsein verbannt werden muss oder als falsche Übernahme von Verantwortung bemäntelt wird, und sich letztendlich als (schuldhaft betonte) Verwöhnung ausagiert. Wenn Schuld leichter zu ertragen ist als Scham, gilt dies als „sinnvolle“ Konstruktion für Eltern wie Kind gleichermaßen. Die entscheidende Botschaft in diesem Zusammenhang an die Familien ist jedoch: Je normaler die Behinderung familiär wahrgenommen und innen wie nach außen als solche kommuniziert wird, um so geringer ist die Neigung zu Schuldgefühlen, Selbstvorwürfen und Scham für alle Beteiligten [55, S. 106] mit Rückgriff auf eine Studie von Patterson 1991. Im Mittelpunkt dieses Artikels steht diese spezifische Erziehungshaltung: die der Verwöhnung, die im letzten Jahrzehnt Einzug bei vielen Familien gehalten hat, und in Mittelschichtfamilien reaktiv auf die besondere Position des Einzelkindes zu sehen und auch bei vielen Migranten zu finden ist. Gleichzeitig erscheint Verwöhnung als Symptom der Hilflosigkeit moderner Kultur, die sich in einer von Konsumgütern überquellenden Gesellschaft orientierungslos zeigt und vor Grenzziehungen zurückschreckt. Ich habe versucht, die enormen Konsequenzen der Verwöhnung bei chronisch kranken bzw. behinderten Kindern zu skizzieren, denen ohnehin – bedingt durch die Begrenztheit der Motorik und die unzureichende Beweglichkeit – eine komplette Eroberung des Raumes physisch wie psychisch versagt bleibt. Bei diesen Kindern hindert stark verwöhnender Umgang sie mitunter dauerhaft daran, selbstbewusst und autark zu werden und erschwert zusätzlich eine Loslösung aus dem Elternhaus. Dabei haben die in diesem Kontext entwickelten Überlegungen weder den Anspruch auf Vollständigkeit noch beziehen sie sich verallgemeinernd auf den Umgang aller Familien. Natürlich gibt es ebenfalls eine große Anzahl von Familien, denen es gut gelingt, ihr Kind in einer normalen und damit auch fordernden und fördernden Atmosphäre groß werden zu lassen.

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Ich habe mit diesen Überlegungen versucht, mich in einen dem Bewusstsein ferneren und schmerzhaften Bereich zu begeben, der für uns alle mit heftigem Widerstand besetzt ist, weil er das Defizitäre, Schwache und Unzulängliche unseres Selbst zeigt: Anteile, die verborgen bleiben sollten. Dieses Gewahrwerden verborgener Gefühle von Scham und Schuld, die gewissermaßen den Beginn der Menschwerdung durch die Vertreibung aus dem Paradies begleiten, und die jedes Kind erlebt, ist hier angesprochen. „Wir alle haben tiefgreifende Unterdrückung und Ablehnung erlebt. In unserer Kultur ist es üblich, dass man in seinem Kindsein zurückgewiesen wird, weil man nicht den Erwartungen von Erwachsenen entspricht. Gleichzeitig darf sich ein Kind nicht als ‚Opfer‘ erleben, denn das würde dem Mythos widersprechen, dass ja alles aus Liebe und zu seinem Besten geschieht. So wird das Opfersein zur Quelle eines unbewussten Zustandes, in dem das eigene Erleben als etwas Fremdes ausgestoßen und verleugnet werden muss. Diesen Teil von sich wird der Mensch fortan suchen, ohne sich dessen bewusst zu sein. Es ist dieses Suchen, das uns zum Verhängnis wird.“ [51, S. 7]. Viele Menschen kommen dann als Eltern durch ihre Kinder nochmals mit diesen Gefühlen in Kontakt, sie können sie am Kind erleben, erfahren sie aber auch selbst, weil diese eine Begleiterscheinung von Versorgung sind: das Gefühl unzureichend zu sein (zu wenig Zeit für das Kind, mangelnde Versorgungsstruktur, falsche Erziehung, keine Kontrolle über die eigenen Affekte etc.). Tatsächlich entgeht niemand diesen ungewünschten Affekten und schmerzhaften Zuständen. Ich möchte hiermit eine Diskussion anstoßen, die sich im o. a. Sinne bemüht, diesen Kontakt zu Scham, Beschämung und Schuld im ersten Schritt bei uns Professionellen selbst zu sensibilisieren und dann in der Beratungssituation verstärkt zum Thema zu machen. Wenn wir davon ausgehen, dass Verwöhnung eine Maskierung ist, die Scham und Schuldgefühle kosmetisch überlagert, hätten wir bereits eine Vorstellung von unserer Annäherung. Mein Dank gilt Elisabeth Strehl für geduldige Kommentierung meines Manuskriptes und Reiner John für einige wichtige Hinweise.

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Christian Au

10 Sozialrechtliche Hilfen 10.1 Einleitung In der Bundesrepublik besteht aufgrund der historischen Entwicklung ein mehrgliedriges System der sozialen Sicherung. Die Grundpfeiler dieses Systems sind die Träger der Sozialversicherungen. Sie schützen die Bürger in Lebenssituationen, die sie aus eigener Kraft und eigenem Vermögen nicht selbst bewältigen können, z. B. gegen Krankheit, im Alter oder bei Arbeitslosigkeit.Das diesem System zugrunde liegende Versicherungsprinzip setzt jedoch voraus, dass eine Mitgliedschaft besteht und in Form von Beiträgen Vorleistungen erbracht wurden. Um auch diejenigen zu schützen, die aus unterschiedlichen Gründen diese Voraussetzungen nicht erfüllen, entstanden weitere staatliche Versorgungs- und Ausgleichssysteme, die aus dem Steueraufkommen finanziert werden, u. a. die Sozialhilfe und verschiedene spezielle Hilfen für behinderte Menschen.Dieses mehrgliedrige und teilweise unübersichtliche System stellt insbesondere behinderte Menschen teilweise vor Hürden bei der Durchsetzung der ihnen zustehenden Ansprüche. Mit der Einführung des Sozialgesetzbuches – Neuntes Buch – (SGB IX) wurden insbesondere die Teilhaberechte behinderter Menschen in einheitlicher Form niedergelegt. Die praktische Anwendung ist jedoch auch 15 Jahre nach Inkrafttreten des SGB IX teilweise noch sehr uneinheitlich.

10.2 Überblick Das Sozialgesetzbuch – Erstes Buch – (SGB I) begründet in § 10 den Rechtsanspruch behinderter Menschen auf Hilfen, die unabhängig von der Ursache der Behinderung notwendig sind, um eine Behinderung abzuwenden, zu beseitigen, zu bessern, ihre Folgen zu mildern und ihnen einen ihren Neigungen und Fähigkeiten entsprechenden Platz in der Gemeinschaft, insbesondere im Arbeitsleben, zu sichern. Art, Umfang und Dauer einer zu beanspruchenden Leistung werden vom jeweiligen Leistungsträger für jeden Einzelfall geprüft und festgelegt.Bei der Prüfung der Leistungsvoraussetzungen erleben die Betroffenen häufig Verzögerungen und Zuständigkeitsstreitigkeiten der Sozialleistungsträger. Sie ergeben sich aus der Schwierigkeit, nicht genau abgrenzbare Zustände und Leistungsbegriffe wie – Krankheit, die den Anspruch auf Behandlung und Krankenpflege, – Behinderung, die den Anspruch auf Rehabilitation bzw. Eingliederung oder – Pflegebedürftigkeit, die Hilfen zur Pflege begründet, unter gesetzlich genau festgelegte Leistungstypen einordnen zu müssen. Am Beispiel der Kinder mit einer Spina bifida und/oder Hydrocephalus wird das besonders deutlich, weil sie in der Regel die Voraussetzungen auf Leistungen wegen https://doi.org/10.1515/9783110228748-013

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Krankheit, Behinderung und Pflegebedürftigkeit gleichzeitig erfüllen.Für Rechtsstreitigkeiten zwischen dem Antragsteller und dem Leistungsträger steht grundsätzlich der Rechtsweg zu den Sozialgerichten offen, wenn es in einem vorausgegangenen Widerspruchsverfahren nicht zu einer Klärung gekommen ist. In bestimmten Bereichen ist der Rechtsweg abweichend davon zu den Verwaltungsgerichten eröffnet (z. B. Angelegenheiten nach dem Sozialgesetzbuch – Achtes Buch – (SGB VIII).Die folgende Darstellung der sozialrechtlichen Hilfen soll auf wesentliche Hilfen für Familien mit einem von Geburt an behinderten Kind hinweisen. Gleichzeitig ist es auch der Versuch einer Beschränkung auf die wichtigsten Rechtsgrundlagen und Prinzipien der Leistungsgewährung. Wichtige sozialrechtliche Leistungsgesetze sind: – Gesetzliche Krankenversicherung – SGB V, – Kinder- und Jugendhilfegesetz – SGB VIII, – Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen – SGB IX, – Gesetzliche Pflegeversicherung – SGB XI, – Sozialhilfe – SGB XII.

10.3 Leistungen der Krankenversicherung 10.3.1 Familienversicherung Ab der Geburt sind Kinder im Rahmen der Familienversicherung bei ihren gesetzlich krankenversicherten Eltern krankenversichert. Sollten beide Elternteile privat krankenversichert sein, kann das Kind privat oder u. U. freiwillig gesetzlich versichert werden. In beiden Fällen fallen für das Kind eigene Beiträge an. Ist ein Elternteil privat und eines gesetzlich krankenversichert, besteht unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit einer Familienversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung. Anderenfalls muss das Kind beitragspflichtig privat oder freiwillig gesetzlich versichert werden. Die Familienversicherung in der gesetzlichen Krankenversicherung für Kinder besteht nach § 10 SGB V in der Regel bis zum vollendeten 18. Lebensjahr. Darüber hinaus besteht sie bis zum vollendeten 23. Lebensjahr fort, wenn das Kind nicht erwerbstätig ist, bzw. bis zum vollendeten 25. Lebensjahr, wenn sich das Kind noch in einer Schul- oder Berufsausbildung befindet oder ein freiwilliges soziales oder ökologisches Jahr absolviert. Für körperlich, geistig oder seelisch behinderte Kinder gibt es keine Altersgrenze, wenn sie nicht in der Lage sind, sich selbst zu unterhalten. Eingeschlossen sind im Sinne des Gesetzes auch Stiefkinder, Enkel, Pflegekinder und Kinder in Adoptionspflege, wenn sie ihren Unterhalt überwiegend vom Versicherten erhalten. Kinder haben somit in der gesetzlichen Krankenversicherung einen eigenen Leistungsanspruch, der inhaltlich dem eines selbst Versicherten entspricht.

10.3 Leistungen der Krankenversicherung | 463

10.3.2 Krankenbehandlung Der Anspruch auf eine Krankenbehandlung nach § 27 SGB V entsteht, wenn sie notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Sie beinhaltet u. a. die ärztliche Behandlung, die Versorgung mit Arznei-, Verband-, Heil- und Hilfsmitteln, die Krankenhausbehandlung, die häusliche Krankenpflege und Haushaltshilfe sowie Leistungen zur Rehabilitation.Im Zusammenhang mit den von den gesetzlichen Krankenkassen zu erbringenden Leistungen wird häufig auf das sog. Wirtschaftlichkeitsgebot hingewiesen. Es bedeutet, dass die Leistungen zwar ausreichend und zweckmäßig sein müssen, jedoch das Maß des Notwendigen nicht überschreiten dürfen. In der Praxis bekommen wir in einer Zeit knapper Kassen diese Grundsätze immer häufiger zu spüren. Besondere Probleme gibt es häufig bei der Frage, für welche Heil- und Hilfsmittel die Krankenkassen leistungspflichtig sind. Um zu einer einheitlichen Leistungsgewährung zu kommen, haben sich die Spitzenverbände der gesetzlichen Krankenkassen auf einen Heil- und Hilfsmittelkatalog geeinigt, der teilweise auch Festbeträge vorsieht. Überdies treffen Richtlinien des Gemeinsamen Bundesausschusses konkretisierende Regelungen. Im Einzelfall können aber auch Hilfsmittel in die Leistungszuständigkeit der Krankenkassen fallen, die nicht in den vorbenannten Listen erfasst sind.Als Faustregel ist jedoch festzuhalten: Die Krankenkassen sind nur für solche Hilfsmittel zuständig, die im Einzelfall erforderlich sind, um den Erfolg der Krankenbehandlung zu sichern oder eine Behinderung unmittelbar auszugleichen. Das Hilfsmittel wird jedoch von den Krankenkassen nicht übernommen, wenn es lediglich dem Ausgleich sozialer Nachteile dient. Bei Kindern und Jugendlichen ist bei der Versorgung mit Hilfsmitteln allerdings auch das von der Krankenversicherung zu gewährleistende Ziel der Integration in der Gruppe Gleichaltriger zu beachten. Die Ausstattung mit Hilfsmitteln schließt auch die Änderung, Reparatur, die Ersatzbeschaffung und die Ausbildung für ihren Gebrauch mit ein. Bei einigen Hilfsmitteln müssen vom Versicherten wirtschaftliche Aufzahlungen in der Höhe geleistet werden, den auch gesunde Menschen für die Anschaffung aufwenden müssten. Dies kann z. B. bei orthopädischen Schuhen oder einem Therapiedreirad der Fall sein. Die Aufzahlung wird aber nur fällig, wenn das Hilfsmittel dem Versicherten übereignet wird. Bei nur leihweiser Überlassung darf nur ein monatliches Nutzungsentgelt verlangt werden.

10.3.3 Häusliche (Kinder-)Krankenpflege Die häusliche Krankenpflege kann für viele Familien mit einem an Spina bifida erkrankten Kind eine wichtige Hilfe sein. Auf der Grundlage des § 37 SGB V erhalten Versicherte in ihrem Haushalt, ihrer Familie oder sonst an einem geeigneten Ort, insbesondere in betreuten Wohnformen, Schulen und Kindergärten, bei besonders ho-

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hem Pflegebedarf auch in Werkstätten für behinderte Menschen neben der ärztlichen Behandlung häusliche Krankenpflege durch geeignete Pflegekräfte, wenn Krankenhausbehandlung geboten, aber nicht ausführbar ist oder dadurch vermieden oder verkürzt wird (§ 37 Abs. 1 SGB V) oder wenn sie zur Sicherung des Zieles der ärztlichen Behandlung erforderlich ist (§ 37 Abs. 2 SGB V). Sie bedarf stets einer ärztlichen Verordnung. In begründeten Einzelfällen kann die Leistung von der Krankenkasse auch über einen längeren Zeitraum erbracht werden, wenn der Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK) festgestellt hat, dass dies aus den o. g. Gründen erforderlich ist. Grundsätzlich besteht der Anspruch auf häusliche Krankenpflege jedoch nur, wenn eine andere im Haushalt lebende Person den Kranken nicht selbst pflegen kann. Die häusliche Krankenpflege wird unterteilt in Grundpflege, Behandlungspflege und hauswirtschaftliche Versorgung. Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung fallen jedoch dann nicht in den Bereich der Behandlungssicherungspflege im Sinne des Abs. 2, wenn zumindest die Pflegestufe I nach dem SGB XI vorliegt. Bestimmte Leistungen der häuslichen Krankenpflege bezeichnet der Gesetzgeber als verrichtungsbezogene krankheitsspezifische Pflegemaßnahmen. Gemäß § 15 Abs. 3 Satz 3 SGB XI handelt es sich dabei um Maßnahmen der Behandlungspflege, bei denen der behandlungspflegerische Hilfebedarf untrennbarer Bestandteil einer Verrichtung der Grundpflege ist oder mit einer solchen Verrichtung notwendig in einem unmittelbaren zeitlichen und sachlichen Zusammenhang steht. Diese Leistungen können auch dann als Leistungen der häuslichen Krankenpflege in Anspruch genommen werden, wenn sie bei der Ermittlung der Pflegebedürftigkeit im Sinne des SGB XI zeitlich berücksichtigt wurden. Ein wichtiges Beispiel stellt hier das Katheterisieren im Kindergarten oder in der Schule dar. Dieses kann bei Vorliegen einer Verordnung durch einen Pflegedienst erbracht werden, ohne dass das zu einer Kürzung des Pflegegeldes nach dem SGB XI führt.

10.3.4 Haushaltshilfe bzw. Familienpflege Ist die haushaltführende Person erkrankt und kann darum die im Haushalt lebenden Kinder vorübergehend nicht versorgen und betreuen, so löst dieses Ansprüche auf Haushaltshilfe oder Familienpflege aus, wenn auch keine andere im Haushalt lebende Person diese Aufgabe vorübergehend übernehmen kann. Beispielsweise unterstützen die Familienpflegedienste der Sozialstationen die Weiterführung eines Haushalts mit betreuungsbedürftigen Kindern, z. B. 1. bei Erkrankung des haushaltführenden Elternteils, 2. bei Krankenhausbehandlung des haushaltführenden Elternteils, 3. bei Mitaufnahme eines Elternteils bei stationärer Behandlung des Kindes und ein weiteres Kind in der Familie zu versorgen ist, 4. bei Vorsorgekuren für Mütter,

10.3 Leistungen der Krankenversicherung | 465

5. 6.

bei Müttergenesungskur, bei Schwangerschaft (nur bei Pflicht zur Bettruhe des haushaltführenden Elternteils), 7. bei Geburt und Wochenbett, 8. bei Erkrankung des Kindes (evtl. Hilfe bei der Betreuung), 9. zur Unterstützung von Familien mit chronisch kranken oder behinderten Menschen, 10. bei anderen Krisensituationen in der Familie. Die Aufgabe der Familienpflege besteht in der Überbrückung akuter Notsituationen durch Übernahme der Grundpflege der erkrankten Person bzw. des Kindes (keine häusliche Krankenpflege), der Beaufsichtigung und Betreuung der Kinder sowie in der Verrichtung der täglichen Hausarbeit.Als Kostenträger von Familienpflege im Rahmen von Haushaltshilfe kommen in Betracht: – die Krankenkasse (§ 38 SGB V, greift nur für die o. g. Nummern 1–7), – das Sozialamt (§ 70 SGB XII), – das Jugendamt (§ 20 SGB VIII). Im § 38 SGB V wird die Übernahme der Kosten für Haushaltshilfe (Familienpflege) verbindlich festgelegt. Danach erhalten Versicherte auf ärztliche Verordnung diese Hilfe, wenn ihnen in den unter den Nummern 1–7 aufgeführten Fällen die Weiterführung des Haushalts nicht möglich ist. Voraussetzung ist, dass im Haushalt ein Kind lebt, das bei Beginn der Haushaltshilfe das 12. Lebensjahr (nach oben abweichende Altersgrenze durch Satzungsregelung möglich) noch nicht vollendet hat oder das behindert und auf Hilfe angewiesen ist. Darüber hinaus erhalten Versicherte auch dann Haushaltshilfe, wenn ihnen die Weiterführung des Haushalts wegen schwerer Krankheit oder wegen akuter Verschlimmerung einer Krankheit, insbesondere nach einem Krankenhausaufenthalt, nach einer ambulanten Operation oder nach einer ambulanten Krankenhausbehandlung, nicht möglich ist, längstens jedoch für die Dauer von 4 Wochen. Wenn im Haushalt ein Kind lebt, das bei Beginn der Haushaltshilfe das 12. Lebensjahr noch nicht vollendet hat oder das behindert und auf Hilfe angewiesen ist, verlängert sich der Anspruch nach Satz 3 auf längstens 26 Wochen. Der Anspruch besteht jedoch nur, wenn eine andere im Haushalt lebende Person die Haushaltsführung nicht übernehmen kann. Die Krankenkasse kann dem Versicherten auch die Kosten für eine selbstbeschaffte Haushaltshilfe (Freunde, Nachbarn) in angemessener Höhe erstatten. Dies gilt nicht, wenn die Hilfe durch Verwandte und Verschwägerte bis zum 2. Grad geleistet wird. Sie kann dann jedoch die erforderlichen Fahrtkosten und den Verdienstausfall erstatten, wenn sie in einem angemessenen Verhältnis zu den sonst für eine Ersatzkraft entstehenden Kosten stehen.Das SGB XII ermöglicht die Kostenübernahme von familienpflegerischen Leistungen im Rahmen des § 70 – Hilfe zur

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Weiterführung des Haushalts. Die Hilfe soll ebenfalls die persönliche Betreuung von Haushaltsangehörigen umfassen sowie die sonstige zur Weiterführung des Haushalts erforderliche Tätigkeit.Das SGB VIII gewährt für die Betreuung und Versorgung von Kindern in Notsituationen ebenfalls Hilfen (§ 20) und hat Vorrang gegenüber den Leistungen des SGB XII. Im Unterschied zur Krankenversicherung, die das Alter der im Haushalt lebenden Kinder auf das vollendete 12. Lebensjahr begrenzt, gewährt das SGB VIII diese Hilfe für Familien mit Kindern bis zum 14. Lebensjahr (§ 7 Abs. 1 SGB VIII).In § 20 Abs. 1 SGB VIII heißt es:Fällt der Elternteil, der die überwiegende Betreuung des Kindes übernommen hat, für die Wahrnehmung dieser Aufgabe aus gesundheitlichen oder anderen zwingenden Gründen aus, so soll der andere Elternteil bei der Betreuung und Versorgung des im Haushalt lebenden Kindes unterstützt werden, wenn 1. er wegen berufsbedingter Abwesenheit nicht in der Lage ist, die Aufgabe wahrzunehmen, 2. die Hilfe erforderlich ist, um das Wohl des Kindes zu gewährleisten, 3. Angebote der Förderung des Kindes in Tageseinrichtungen oder in Kindertagespflege nicht ausreichen. Die Hilfe ist inhaltlich und zeitlich darauf zu begrenzen, was vom Lebenspartner, von älteren Kindern, Verwandten, Nachbarn oder ehrenamtlichen Helfern nicht in zumutbarem Umfang übernommen werden kann oder angeboten wird. Der zu unterstützende Elternteil hat einen Beitrag zu den Kosten zu leisten.Fällt ein alleinerziehender Elternteil oder fallen beide Elternteile aus gesundheitlichen oder anderen zwingenden Gründen aus, so soll unter der Voraussetzung des Abs. 1 Nr. 3 das Kind im elterlichen Haushalt versorgt und betreut werden, wenn und solange es für sein Wohl erforderlich ist (§ 20 Abs. 2 SGB VIII).

10.4 Pflegeversicherung Das Recht der Pflegeversicherung stellt sich dem erstmalig mit dieser Materie befassten Laien als äußerst komplexe Materie dar. Die Leistungen der Pflegeversicherung sind jedoch in besonderem Maße geeignet, Eltern von behinderten Kindern schon in den ersten Lebensjahren wichtige Hilfestellungen zu leisten. Diesem Themenkomplex wird daher nachfolgend der notwendige Raum gegeben. Die Änderungen des Pflegestärkungsgesetzes II, die teilweise 2016 und teilweise 2017 in Kraft getreten sind, wurden bereits berücksichtigt.

10.4 Pflegeversicherung | 467

10.4.1 Allgemeines Der Versicherungsschutz in der gesetzlichen Pflegeversicherung richtet sich nach dem Grundsatz: „Die Pflegeversicherung folgt der Krankenversicherung.“ In die soziale Pflegeversicherung werden grundsätzlich alle Personen einbezogen, die der gesetzlichen Krankenversicherung angehören. Die Familienversicherten werden analog den Regelungen der Krankenversicherung beitragsfrei versichert.Alle privat Krankenversicherten sind verpflichtet, einen adäquaten Pflegeversicherungsvertrag bei einem privaten Versicherungsunternehmen abzuschließen.

10.4.2 Begriff der Pflegebedürftigkeit Leistungsberechtigt nach dem Sozialgesetzbuch – Elftes Buch – (SGB XI) sind nur Personen, die gesundheitlich bedingte Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten aufweisen und deshalb der Hilfe durch andere bedürfen. Es muss sich um Personen handeln, die körperliche, kognitive oder psychische Beeinträchtigungen oder gesundheitlich bedingte Belastungen oder Anforderungen nicht selbstständig kompensieren oder bewältigen können. Die Pflegebedürftigkeit muss auf Dauer, voraussichtlich für mindestens 6 Monate, und mit mindestens der in § 15 festgelegten Schwere bestehen (§ 14 SGB XI). Maßgeblich für das Vorliegen von gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten sind die in den folgenden sechs Bereichen genannten pflegefachlich begründeten Kriterien: 1. Mobilität, 2. kognitive und kommunikative Fähigkeiten, 3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, 4. Selbstversorgung, 5. Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen, 6. Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte. Leistungen aus der Pflegeversicherung erhalten Versicherte auf Antrag, bei denen der Zustand der Pflegebedürftigkeit vorliegt. Die Aufzählung der in den sechs Modulen aufgeführten Kriterien ist abschließend. Die Pflegebedürftigkeit muss auf den gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten beruhen. Maßstab der Beurteilung der Pflegebedürftigkeit sind daher ausschließlich die Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit bzw. die Fähigkeiten zur Ausübung dieser Verrichtungen und nicht die Art oder Schwere vorliegender Erkrankungen (z. B. Krebs oder Aids) oder Schädigungen (z. B. Lähmung, Taubheit, Blindheit). Auch eine bereits in einem anderen Sozialleis-

468 | 10 Sozialrechtliche Hilfen

tungsbereich anerkannte Behinderung (z. B. der Grad der Behinderung) führt nicht automatisch zu einer Anerkennung eines Pflegegrades. Die Bewertung der Kriterien der meisten Module wird in selbstständig, überwiegend selbstständig, überwiegend unselbstständig und unselbstständig unterteilt. Andere werden z. B. über die Häufigkeit der Maßnahmen pro Tag oder Woche beurteilt, bei denen Hilfe einer Pflegeperson benötigt wird.

10.4.3 Besonderheiten der Beurteilung bei Kindern Bei Kindern wird der Pflegegrad durch einen Vergleich der Beeinträchtigungen ihrer Selbstständigkeit und ihrer Fähigkeitsstörungen mit altersentsprechend entwickelten Kindern ermittelt. Für pflegebedürftige Kinder im Alter von 0–18 Monaten wird eine Sonderregelung getroffen. Sie werden bei gleicher Einschränkung um einen Pflegegrad höher eingestuft als ältere Kinder bzw. Erwachsene. Dadurch sollen die Eltern der Kinder entlastet und häufige Begutachtungen in den ersten Lebensmonaten vermieden werden. Zudem sollen dadurch natürliche Entwicklungsschwankungen aufgefangen werden. Der Pflegegrad wird durch einen Vergleich der Beeinträchtigungen ihrer Selbstständigkeit und ihrer Fähigkeiten mit altersentsprechend entwickelten Kindern ermittelt. Nach der Einstufung können die Kinder in diesem Pflegegrad ohne weitere Begutachtung bis zum 18. Lebensmonat verbleiben, es sei denn, es wird ein Höherstufungsantrag gestellt oder eine Nachuntersuchung ist aus fachlicher Sicht notwendig.

10.4.4 Zuordnung zu den Pflegegraden Mit dem Pflegestärkungsgesetz II (PSG II) wurden zum 1. Januar 2017 die Pflegestufen durch fünf Pflegegrade ersetzt. Grundlage bei der Begutachtung durch den MDK sind nach wie vor die Pflegebedürftigkeits-Richtlinien, die eine einheitliche Rechtsanwendung hinsichtlich der Beurteilung der Pflegebedürftigkeit und der Abgrenzung der Pflegegrade sicherstellen sollen. Die Gutachter des MDK haben zur Erfüllung dieser Aufgaben ein umfassendes Bild vom Pflegebedürftigen in seinem Wohnbereich nach diesen verbindlichen Kriterien festzuhalten. Für die Gewährung von Leistungen sind die Pflegebedürftigen fünf Pflegegraden zuzuordnen. Die Zuordnung erfolgt über die ermittelten sog. gewichteten Punkte entsprechend der nachfolgenden Tabelle: – ab 12,5 bis unter 27 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 1 (geringe Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten), – ab 27 bis unter 47,5 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 2 (erhebliche Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten),

10.4 Pflegeversicherung | 469

– – –

ab 47,5 bis unter 70 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 3 (schwere Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten), ab 70 bis unter 90 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 4 (schwerste Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten), ab 90 bis 100 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 5 (schwerste Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten mit besonderen Anforderungen an die pflegerische Versorgung).

Für Kinder unter 18 Monaten gilt abweichend davon die nachfolgende Tabelle: – ab 12,5 bis unter 27 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 2, – ab 27 bis unter 47,5 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 3, – ab 47,5 bis unter 70 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 4, – ab 70 bis 100 Gesamtpunkten in den Pflegegrad 5.

10.4.5 Feststellung der Pflegebedürftigkeit Die Leistungen bei Pflegebedürftigkeit sind bei der Pflegekasse zu beantragen. Eine ärztliche Bescheinigung über die Notwendigkeit bestimmter Leistungen ist – anders als in der Krankenversicherung – nicht erforderlich. Die Entscheidung über das Vorliegen von Pflegebedürftigkeit und über den Pflegegrad trifft die Pflegekasse unter maßgeblicher Berücksichtigung des Gutachtens des MDK. Der Antrag wird hierfür mit allen für die Begutachtung erforderlichen Unterlagen (über Vorerkrankungen, Klinikaufenthalte, zur Hilfsmittelversorgung, zum behandelnden Arzt und zur häuslichen Krankenpflege) an den MDK weitergeleitet. Der Pflegebedürftige ist im Rahmen eines Hausbesuchs zu untersuchen. Die Begutachtung durch den MDK wird durch Ärzte, Pflegefachkräfte und andere Fachkräfte durchgeführt.Die MDK-Begutachtung von Kindern unter 18 Jahren ist in der Regel durch Kinderärzte oder Kinderkrankenschwestern/Kinderkrankenpfleger durchzuführen, § 18 Abs. 7 Satz 2 PSG II. Wird über den Antrag ohne gewichtige Gründe binnen 5 Wochen nicht entschieden, muss die Kasse pro angefangener Woche 70 EUR „Strafgeld“ zahlen, das nicht mit künftigen Leistungen verrechnet werden darf. Diese Regelung ist für das Jahr 2017 ausgesetzt. Die Untersuchung durch den MDK ist in angemessenen Zeitabständen auf der Grundlage der Empfehlung des MDK zu wiederholen, sofern der Pflegekasse nicht vorher eine Veränderung bekannt wird. Eine Wiederholungsbegutachtung ist unzulässig, wenn keinerlei Anhaltspunkte für eine wesentliche Veränderung des Pflegebedarfs vorliegen.

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10.4.6 Leistungen der Pflegeversicherung Die Pflegekassen stellen folgende Leistungen zur Verfügung: – Pflegesachleistungen, – Pflegegeld für selbstbeschaffte Pflegehilfen, – Kombination von Geld- und Sachleistung, – ambulant betreute Wohngruppen, – häusliche Pflege bei Verhinderung der Pflegeperson (Urlaubs- oder Krankheitsvertretung), – Pflegehilfsmittel und technische Hilfen, – wohnumfeldverbessernde Maßnahmen, – Tages- und Nachtpflege, – Kurzzeitpflege, – vollstationäre Pflege, – Leistungen zur sozialen Sicherung der Pflegepersonen sowie Pflegekurse für Angehörige und ehrenamtliche Pflegepersonen.

Tab. 10.1: Pflegeleistungsbeträge (in EUR) pro Monat. Leistungsart Pflegesachleistung Pflegegeld Tages-/Nachtpflege Verhinderungspflege Kurzzeitpflege Vollstationäre Pflege Angebote zur Unterstützung im Alltag

PG 1

PG 2

PG 3

PG 4

PG 5

125 125

689 316 689 1.612* 1.612* 770 125

1.298 545 1.298 1.612* 1.612* 1.262 125

1.612 728 1.612 1.612* 1.612* 1.775 125

1.995 901 1.995 1.612* 1.612* 2.005 125

(* = pro Jahr; PG = Pflegegrad) im Überblick – Stand 2017

Die Leistungen werden ab einer Vorversicherungszeit von mindestens 2 Jahren innerhalb einer Rahmenfrist von 10 Jahren vor der Antragstellung gewährt.

10.4.7 Widerspruchs- und Klageverfahren Gegen die Entscheidung der Pflegekasse kann wie auch gegen die Entscheidungen aller anderen Leistungsträger Widerspruch eingelegt werden. Ist eine erneute Begutachtung erforderlich, so hat zunächst der Erstgutachter zu beurteilen, ob er aufgrund neuer Aspekte in seinem Gutachten zu einem anderen Ergebnis kommt. Ist dies nicht der Fall, so ist ein Zweitgutachten von einem anderen Gutachter durchzuführen. Ob das Zweitgutachten auf der Grundlage einer erneuten persönlichen Begutachtung er-

10.4 Pflegeversicherung | 471

folgt, obliegt der Entscheidung des MDK. Bleibt die Pflegekasse bei ihrer mit dem Widerspruch angegriffenen Entscheidung, muss sie einen Widerspruchsbescheid erlassen, gegen den beim Sozialgericht Klage erhoben werden kann.

10.4.8 Bestandsschutz Bei Versicherten, die nach § 140 SGB XI von einer Pflegestufe in einen Pflegegrad übergeleitet wurden, werden bis zum 1. Januar 2019 keine Wiederholungsbegutachtungen nach § 18 Abs. 2 Satz 5 durchgeführt; auch dann nicht, wenn die Wiederholungsbegutachtung vor diesem Zeitpunkt vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung oder anderen unabhängigen Gutachtern empfohlen wurde. Abweichend von § 142 Satz 1 können Wiederholungsbegutachtungen durchgeführt werden, wenn eine Verbesserung der gesundheitlich bedingten Beeinträchtigungen der Selbstständigkeit oder der Fähigkeiten, insbesondere aufgrund von durchgeführten Operationen oder Rehabilitationsmaßnahmen, zu erwarten ist (vgl. § 142 Abs. 1 SGB XI). Die Zuordnung zu dem Pflegegrad, in den der Versicherte gemäß § 140 Abs. 2 übergeleitet worden ist, bleibt auch bei einer Begutachtung nach dem ab dem 1. Januar 2017 geltenden Recht erhalten, es sei denn, die Begutachtung führt zu einer Anhebung des Pflegegrades oder zu der Feststellung, dass keine Pflegebedürftigkeit im Sinne der §§ 14 und 15 in der ab dem 1. Januar 2017 geltenden Fassung mehr vorliegt. § 142 Satz 1 gilt auch bei einem Erlöschen der Mitgliedschaft im Sinne von § 35 ab dem 1. Januar 2017, wenn die neue Mitgliedschaft unmittelbar im Anschluss begründet wird. Die Pflegekasse, bei der die Mitgliedschaft beendet wird, ist verpflichtet, der Pflegekasse, bei der die neue Mitgliedschaft begründet wird, die bisherige Einstufung des Versicherten rechtzeitig schriftlich mitzuteilen. Entsprechendes gilt bei einem Wechsel zwischen privaten Krankenversicherungsunternehmen und einem Wechsel von sozialer zu privater sowie von privater zu sozialer Pflegeversicherung (vgl. § 140 Abs. 3 SGB XI).

10.4.9 Nebeneinander von Leistungen der Pflegeversicherung und der Krankenversicherung Leistungen der Pflegeversicherung und Leistungen der Krankenversicherung können nebeneinander und ergänzend in Anspruch genommen werden.

10.4.9.1 Grundpflege/häusliche Krankenpflege Die häusliche Krankenpflege umfasst nach § 37 Abs. 1 SGB V als krankenhausaufenthaltverkürzende oder -vermeidende Maßnahme neben der Behandlungspflege auch die im Einzelfall notwendige Grundpflege und hauswirtschaftliche Versorgung. Hiernach ruht der Anspruch auf häusliche Pflege durch die Pflegeversicherung.

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Wird die häusliche Krankenpflege zur Sicherung der ärztlichen Behandlung nach § 37 Abs. 2 SGB V erbracht, so sind neben den Leistungen der Pflegeversicherung Behandlungspflegemaßnahmen durch die Krankenversicherung möglich. Unter Umständen sind auch Maßnahmen durch die Krankenkasse zu finanzieren, die auch bei der Bewertung der Pflegebedürftigkeit berücksichtigt wurden.

10.4.9.2 Hilfsmittelversorgung Um die Pflege zu erleichtern, Beschwerden des Pflegebedürftigen zu lindern oder eine selbstständigere Lebensführung zu ermöglichen, haben die Pflegebedürftigen einen Anspruch auf Pflegehilfsmittel im Wert von bis zu 40 EUR monatlich, soweit die Hilfsmittel nicht wegen einer Krankheit oder Behinderung von den Krankenkassen zu erbringen sind. Eine ärztliche Verordnung ist im Rahmen der Pflegeversicherung nicht erforderlich. Ein Pflegebedürftiger hat selbstverständlich auch weiterhin Anspruch auf Versorgung mit Hilfsmitteln durch die Krankenkasse. Wird ein Hilfsmittel verordnet, prüft die Krankenkasse, ob die maßgeblichen Kriterien erfüllt sind. Dies gilt auch für Produkte, die vorrangig eine Behinderung ausgleichen oder den Erfolg der Krankenbehandlung sichern, die aber zugleich auch bei der Durchführung der Pflege Verwendung finden (z. B. Katheter oder Inkontinenzartikel, die krankheitsbedingt zur Versorgung einer Inkontinenz notwendig sind, werden weiterhin durch die Krankenkassen übernommen). Bei der Auswahl der Pflegehilfsmittel sollen die individuellen Bedürfnisse des Pflegebedürftigen berücksichtigt werden. Der MDK kann sich daher im häuslichen Umfeld informieren, um den Bedarf und die Notwendigkeit festzustellen. Mittel, die zum täglichen Lebensbedarf gehören (z. B. Elektromesser, Essbesteck) sind grundsätzlich keine Hilfsmittel/Pflegehilfsmittel.

10.4.10 Soziale Sicherung der Pflegepersonen Eines der wesentlichen Ziele der Pflegeversicherung ist es, die häusliche Pflege zu unterstützen und zu fördern. Für Personen, die sich der Pflege von Pflegebedürftigen widmen (Pflegepersonen), sieht der Gesetzgeber Leistungen zur sozialen Absicherung vor. Um eine entsprechende Alterssicherung zu bewirken, zahlen die Pflegekassen des Pflegebedürftigen unter bestimmten Voraussetzungen Rentenversicherungsbeiträge für Pflegepersonen. Die Pflegenden unterliegen auf Antrag der Rentenversicherungspflicht, wenn sie einen oder mehrere mindestens entsprechend Pflegegrad 2 hilfebedürftige Pflegebedürftige nicht erwerbsmäßig insgesamt wenigstens 10 Stunden regelmäßig in der Woche in seiner bzw. ihrer häuslichen Umgebung pflegen. Vom Fehlen der Erwerbsmäßigkeit kann so lange ausgegangen werden, wie die Pflegenden für ihre Tätigkeit nicht mehr als den Pflegegeldbetrag in der jeweiligen Pflegestufe

10.5 Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII | 473

erhalten. Die Versicherungspflicht tritt nur ein, wenn eine ggf. parallel zur Pflege ausgeübte Beschäftigung 30 Stunden in der Woche nicht übersteigt. Der zeitliche Mindestaufwand der Pflege wird durch den MDK festgestellt.Auch mehrere Pflegepersonen können rentenversichert werden, wenn sie gemeinsam ein und denselben Pflegebedürftigen wegen der Schwere der Pflegebedürftigkeit ggf. zu unterschiedlichen Zeiten pflegen. Jeder Pflegende muss jedoch einzeln betrachtet regelmäßig wöchentlich einen Mindestzeitaufwand von 10 Stunden nachweisen, den er bei einem oder mehreren Pflegebedürftigen erbringt.Ehrenamtlich pflegende Personen, die die vorstehenden Voraussetzungen erfüllen, sind während der Pflegetätigkeit und gegen Wegeunfälle gesetzlich unfallversichert. Zudem sind sie arbeitslosenversichert.Weitere Rechte der Pflegepersonen regelt das Pflegezeitengesetz. Dieses ermöglicht es Pflegepersonen unter bestimmten Voraussetzungen, eine bis zu 6-monatige (unbezahlte) Freistellung von ihrer Beschäftigung zu erhalten, um einen nahen Angehörigen in der Häuslichkeit zu pflegen. Auch eine tageweise Freistellung zur Organisation der notwendigen Maßnahmen nach dem akuten Eintritt dauerhafter Pflegebedürftigkeit eines nahen Angehörigen ermöglicht dieses Gesetz. Die Pflegekassen oder die örtlichen Pflegestützpunkte werden Sie im konkreten Fall über die mit der Pflegebedürftigkeit verbundenen Leistungen und Hilfen gern beraten.

10.5 Eingliederungshilfe und Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII 10.5.1 Eingliederungshilfe Das SGB XII hat eine besondere Bedeutung für behinderte Menschen, weil es Rehabilitationsleistungen bzw. Eingliederungshilfen für behinderte Menschen gewährt, die aufgrund fehlender Voraussetzungen von anderen Trägern keine oder nicht ausreichende Leistungen erhalten. Das SGB XII wird von drei wesentlichen Prinzipien geprägt: 1. Das Nachrangigkeitsprinzip (§ 2 SGB XII): Sozialhilfe erhält nicht, wer sich vor allem durch Einsatz seiner Arbeitskraft, seines Einkommens und seines Vermögens selbst helfen kann oder wer die erforderliche Leistung von anderen, insbesondere von Angehörigen, oder von Trägern anderer Sozialleistungen erhält. 2. Das Individualisierungsprinzip (§ 9 SGB XII): Danach sind die Art und die Form sowie das Maß der Hilfe nach den Besonderheiten des Einzelfalles auszurichten. 3. Das Bedarfsdeckungsprinzip (§ 28 Abs. 1 Satz 2 SGB XII): Sozialhilfe wird nur bei gegenwärtig vorliegendem Bedarf gewährt, d. h., sie wird nicht für die Vergangenheit geleistet; sie ist keine rentenähnliche Dauerleistung. Sie kann grundsätzlich weder übertragen noch gepfändet werden. Die Aufgabe der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen nach § 53 ff. SGB XII und der entsprechenden Eingliederungshilfeverordnung besteht darin, eine dro-

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hende Behinderung zu verhüten oder eine vorhandene Behinderung oder deren Folgen zu beseitigen, zu mildern, den behinderten Menschen in die Gesellschaft einzugliedern und darüber hinaus, ihm die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft zu ermöglichen oder zu erleichtern, ihm die Ausübung eines angemessenen Berufs oder einer sonstigen angemessenen Tätigkeit zu ermöglichen oder ihn so weit wie möglich unabhängig von Pflege zu machen (§ 53 Abs. 3 SGB XII). Diese im Vergleich mit anderen Rehabilitationsgesetzen weitgefasste Definition der Eingliederungshilfe kann man auch unter den Begriff der sozialen Rehabilitation fassen, weil sie nicht nur auf die Eingliederung in Arbeit und Beruf abzielt.Anspruchsberechtigt sind Personen, die nicht nur vorübergehend körperlich, geistig oder seelisch wesentlich behindert sind. Ihnen ist Eingliederungshilfe zu gewähren. Den behinderten Menschen stehen die von einer Behinderung bedrohten Menschen gleich. Als nicht nur vorübergehend im Sinne des Gesetzes ist ein Zeitraum von mehr als 6 Monaten anzusehen (§ 4 Eingliederungshilfe-VO).In § 54 SGB XII werden die Maßnahmen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen aufgeführt. Dieser Katalog ist jedoch nicht als abschließend zu betrachten, weil sich die erforderlichen Maßnahmen nach der Besonderheit des Einzelfalles zu richten haben. Einige sollen hier beispielhaft genannt werden: – Ambulante oder stationäre Behandlung oder sonstige ärztliche oder ärztlich verordnete Maßnahmen zur Verhütung, Beseitigung oder Milderung der Behinderung, z. B. Kuren in geeigneten Kur- oder Badeorten oder Sondereinrichtungen, Krankengymnastik, Bewegungs- oder Sprachtherapie im Rahmen der Frühförderung soweit sie keine Leistungen der Krankenkasse sind. – Versorgung mit Körperersatzstücken sowie mit orthopädischen oder anderen Hilfsmitteln. Neben den aus dem Leistungskatalog der Krankenkassen bekannten Heil- und Hilfsmitteln und deren Instandhaltung und Unterweisung in ihrem Gebrauch, gewährt das SGB XII im Rahmen der Eingliederungshilfe für behinderte Menschen ausdrücklich auch Gebrauchsgegenstände des täglichen Lebens und zur nicht beruflichen Verwendung bestimmte Hilfsgeräte, wenn der Behinderte wegen Art und Schwere der Behinderung auf diese Gegenstände angewiesen ist (z. B. Computer). – Heilpädagogische Maßnahmen für Kinder, die noch nicht im schulpflichtigen Alter sind, z. B. sozialpädagogische Einzelfallhilfe, Hilfe zum Besuch einer Integrationskindergartengruppe oder einer Sondereinrichtung einschließlich der Kosten für den Transport. – Hilfe für eine angemessene Schulbildung, z. B. durch vorbereitende oder schulunterstützende Maßnahmen im häuslichen Bereich (Schularbeitshilfe, Hilfsmittel). – Hilfe bei der Beschaffung und Erhaltung einer Wohnung, die den besonderen Bedürfnissen des behinderten Menschen entspricht, z. B. Umbauten für eine rollstuhlgerechte Nutzung der Wohnung, Einbau behindertengerechter Sanitäreinrichtungen, Treppenlift etc. Diese Hilfen können als Beihilfen oder Darlehen gewährt werden.

10.6 Sozialpädagogische Familienhilfe (§ 31 SGB VIII) | 475

Antragsstelle für Eingliederungshilfen sind die Behindertenhilfe- oder Beratungsstellen der örtlichen Sozialämter. Der Antrag auf eine bestimmte Maßnahme der Eingliederungshilfe muss in der Regel durch eine ärztliche, medizinisch begründete Stellungnahme oder Befürwortung unterstützt werden. Neben der Diagnose sollte sie Art, Umfang und Ziel der Maßnahme, die Begründung und Befürwortung sowie die Feststellung der Zugehörigkeit zum Personenkreis des § 53 SGB XII enthalten.Der Sozialhilfeträger wird vor einer Bewilligung vor allem prüfen, ob ein Anspruch auf die beantragte Hilfe besteht, der Umfang ausreichend und angemessen ist, das angestrebte Ziel mit der Maßnahme erreicht werden kann, ob ein anderer Kostenträger nicht vorrangig leistungspflichtig wäre und ob der Hilfesuchende sich an den Kosten der beantragten Maßnahme zu beteiligen hat.

10.5.2 Hilfe zur Pflege Die Leistungen der Hilfe zur Pflege greifen dann ein, wenn die bereits beschriebenen Leistungen der Pflegeversicherung nicht bedarfsdeckend sind, und der Bedarf aus eigenen finanziellen Mitteln nicht gedeckt werden kann. Voraussetzung für die Hilfe zur Pflege nach § 61 ff. SGB XII ist die Feststellung der Pflegebedürftigkeit. Als pflegebedürftig gelten danach Personen, die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens 6 Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen. In bestimmten Fällen kann auch kranken und behinderten Menschen Hilfe zur Pflege gewährt werden, die voraussichtlich für weniger als 6 Monate der Pflege bedürfen oder einen geringeren Hilfebedarf haben.Der Begriff der Pflegebedürftigkeit nach dem SGB XII fordert, anders als der des SGB XI, nicht, dass ein Hilfebedarf von mindestens 46 Minuten täglicher Grundpflege besteht.Der Inhalt der Hilfe orientiert sich an den Regelungen der Pflegeversicherung. Ihre Leistungen haben Vorrang vor der Hilfe zur Pflege nach dem SGB XII. Entsteht im Einzelfall jedoch ein höherer Pflegebedarf, der von der Pflegeversicherung nicht abgedeckt wird, kann unter Berücksichtigung der Einkommensabhängigkeit, der Sozialhilfeträger zur Übernahme des Mehrbedarfs verpflichtet sein. Außerdem ist die Sozialhilfe weiterhin zuständig für diejenigen Pflegebedürftigen, die nicht pflegeversichert sind oder die Vorversicherungszeiten nicht erfüllen.

10.6 Sozialpädagogische Familienhilfe (§ 31 SGB VIII) Unter Sozialpädagogischer Familienhilfe wird eine ambulante Hilfe zur Erziehung verstanden, die im Gegensatz zu der nach § 20 SGB VIII als kurzfristige Hilfe angelegten Betreuung und Versorgung eines Kindes in Notsituationen, auf längere Dauer gewährt

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werden soll. Sie richtet sich primär an Familien, deren Lebenssituation durch besondere Belastungen oder Krisen gekennzeichnet ist. Von der Konzeption her ist sie nicht vorrangig ein therapeutisches Angebot, sondern eher als eine konkrete, praktische Lebenshilfe zu verstehen, die in der Familie stattfindet. Sozialpädagogische Familienhilfe soll den Eltern nicht die Verantwortung für die Erziehung ihrer Kinder abnehmen, vielmehr soll sie durch modellhaftes Handeln und beratende Gespräche, mit den Eltern individuelle Lösungen für Alltagsprobleme, Konflikte und Krisen erarbeiten. Dies kann sich z. B. auf den Aufbau neuer sozialer Kontakte der Familie oder einzelner Familienmitglieder beziehen, auf die Einbindung von Verwandten, Freunden oder Nachbarn in die Betreuung der Kinder bzw. des behinderten Kindes außerhalb der Familie, auf die Inanspruchnahme örtlicher sozialer Beratungsstellen oder sonstiger sozialer Dienste sowie auf die Verbesserung der Zusammenarbeit mit dem Kindergarten, der Schule oder medizinisch-therapeutischen Versorgungseinrichtungen.

10.7 Regelungen für behinderte und von Behinderung bedrohte Menschen (SGB IX – Teil 1) Das Sozialgesetzbuch – Neuntes Buch – (SGB IX) trat 2001/2002 in Kraft. Es übernahm Regelungen des Schwerbehindertengesetzes und erschuf den Begriff der Teilhabe der Menschen mit Behinderungen. Voraussetzung für die Anwendung des SGB IX ist, dass ein Mensch behindert ist oder von einer Behinderung bedroht ist. Die Feststellung einer Behinderung erfolgt nur auf Antrag des Betroffenen. Gemäß § 2 Abs. 1 SGB IX sind Menschen behindert, wenn ihre körperliche Funktion, geistige Fähigkeit oder seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweichen und daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist. Sie sind von Behinderung bedroht, wenn die Beeinträchtigung zu erwarten ist.Das SGB IX regelt in Teil 1 bestimmte Ansprüche behinderter Menschen und der von Behinderung bedrohten Menschen gegenüber sog. Trägern der Leistungen zur Teilhabe (Rehabilitationsträger). Dieses können gemäß § 6 SGB IX die gesetzlichen Krankenkassen, die Bundesagentur für Arbeit, die Träger der gesetzlichen Unfallversicherung, die Träger der gesetzlichen Rentenversicherung, die Träger der Alterssicherung der Landwirte, die Träger der Kriegsopferversorgung und die Träger der Kriegsopferfürsorge im Rahmen des Rechts der sozialen Entschädigung bei Gesundheitsschäden, die Träger der öffentlichen Jugendhilfe sowie die Träger der Sozialhilfe sein. Teilhabeleistungen im Sinne des SGB IX sind Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, Leistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben, unterhaltssichernde und andere ergänzende Leistungen sowie Leistungen zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft, § 5 SGB IX. Die Besonderheit des SGB IX – Teil 1 besteht darin, dass es verschiedene Teilhabeansprüche normiert und Anspruchsvoraussetzungen aufstellt, es aber den verschie-

10.8 Besondere Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen (SGB IX – Teil 2)

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denen Ansprüchen keinen konkreten Leistungsträger zuordnet. Die verschiedenen Teilhabeansprüche sind daher stets in Verbindung mit den Leistungsgesetzen der einzelnen Rehabilitationsträger zu sehen. Der Gesetzgeber hat dabei erkannt, dass die Zuordnung eines Leistungsbegehrens zu einem konkreten Leistungsträger für einen Laien nicht immer eindeutig ist. Er hat daher mit § 10 ff. SGB IX konkrete Vorschriften zur Zusammenarbeit der Träger und der Weiterleitung von Leistungsanträgen an die zuständigen Träger erlassen. Bei Nichtbeachtung dieser Vorschriften, insbesondere bei Unterlassen der fristgerechten Weiterleitung eines Antrags, kann nach der Rechtsprechung des Bundessozialgerichts ein Rehabilitationsträger auch zur Erbringung von Leistungen nach den Leistungsgesetzen anderer Rehabilitationsträger zuständig sein.

10.8 Besondere Regelungen zur Teilhabe schwerbehinderter Menschen (SGB IX – Teil 2) In Teil 2 des SGB IX werden die Rechte und Nachteilsausgleiche für schwerbehinderte und ihnen gleichgestellte behinderte Menschen geregelt. Gemäß § 2 Abs. 2 SGB IX sind Menschen schwerbehindert, wenn bei ihnen ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz im Sinne des § 73 rechtmäßig im Geltungsbereich des SGB IX haben. Schwerbehinderten Menschen gleichgestellt werden sollen gemäß § 2 Abs. 3 SGB IX behinderte Menschen mit einem Grad der Behinderung von weniger als 50, aber wenigstens 30, bei denen die übrigen Voraussetzungen des Abs. 2 vorliegen, wenn sie infolge ihrer Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz nicht erlangen oder nicht behalten können.In § 68 SGB IX wird der durch den Teil 2 des SGB IX angesprochene Personenkreis näher definiert. Die Auswirkung der Funktionsbeeinträchtigung infolge einer Behinderung wird in Prozentzahlen, abgestuft in Zehnergraden von 20–100, ausgedrückt und als Grad der Behinderung (GdB) bezeichnet. Schwerbehinderte Menschen im Sinne des Gesetzes sind Personen mit einem GdB von wenigstens 50 %. Nur dieser Personenkreis hat Anspruch auf Ausstellung des Schwerbehindertenausweises, der für die Inanspruchnahme der unterschiedlichen Rechte und Nachteilsausgleiche für behinderte Menschen eine Art Schlüssel darstellt.Der Antrag auf Feststellung einer Behinderung und auf Ausstellung eines Schwerbehindertenausweises wird beim Versorgungsamt als ausführender Behörde des Teil 2 des SGB IX gestellt. Das Versorgungsamt und sein ärztlicher Dienst überprüfen die mit dem Antrag vorgelegten ärztlichen Befunde anhand der „Anhaltspunkte für die ärztliche Gutachtertätigkeit im sozialen Entschädigungsrecht und nach dem Schwerbehindertenrecht (Teil 2 SGB IX)“. Soweit bestimmte Folgen einer Behinderung vorliegen, die als Voraussetzung für die Inanspruchnahme von Rechten bedeutsam sind, werden außer der Prozentzahl auch Merkzeichen in den Ausweis eingetragenen. Prozentzahlen und Merkzeichen sind bedeutsam für steuer-

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liche Entlastungen, die sog. Steuerfreibeträge und sonstigen Vergünstigungen. Eltern eines behinderten Kindes, das noch kein eigenes Einkommen hat, können die Steuervorteile auf sich übertragen lassen. Auch Kindergeld kann aus diesem Grunde über das 25. Lebensjahr hinaus beansprucht werden.Zusammenfassend ergeben sich Entlastungen im Rahmen der Lohn- und Einkommensteuer, der Vermögen-, Grund- und Umsatzsteuer, der Grunderwerb-, Kraftfahrzeug-, Erbschaft-, Schenkung- und Hundesteuer.Darüber hinaus bestehen Vergünstigungen bei der Berechnung des Wohngeldes, bei der Vergabe von Wohnberechtigungsscheinen (Dringlichkeit) und Wohnungen für Rollstuhlfahrer sowie beim sozialen Wohnungsbau, bei der Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel, beim Erwerb eines Kraftfahrzeugs sowie Parkerleichterungen und Parkplatzreservierungen für Inhaber von Ausnahmegenehmigungen, durch Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht und der Gebührenermäßigung beim Telefonanschluss.Übersicht über die Merkzeichen und ihre gesundheitlichen Voraussetzungen: – „B“ – Berechtigung zur Mitnahme einer Begleitperson Bedeutung: unentgeltliche Beförderung der Begleitperson im öffentlichen Personenverkehr ohne Kilometerbegrenzung. – „G“ – erhebliche Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr Bedeutung: unentgeltliche Beförderung im Umkreis bis 50 km um den Wohnort bei Erwerb einer Wertmarke oder 50 % Kfz-Steuervergünstigung und andere Nachteilsausgleiche bei der Steuer. – „aG“ – außergewöhnliche Geh- und Stehbehinderung Bedeutung: wie bei „G“ sowie Parkerleichterungen und 100 % Kfz-Steuervergünstigung. – „H“ – Hilflosigkeit und/oder „BL“ – Blindheit Bedeutung: Freifahrt und kostenlose Wertmarke und 100 % Kfz-Steuervergünstigung und höchster Steuerfreibetrag. – „RF“ – Befreiung von der Rundfunkgebührenpflicht und Gebührenermäßigung beim Telefonanschluss. Breiten Raum im Teil 2 des SGB IX nehmen Sonderbestimmungen zur Regelung des Arbeits- und Berufslebens von behinderten Menschen ein, auf die an dieser Stelle nicht näher eingegangen wird.Die bereits eingangs erwähnte Unübersichtlichkeit des Systems der sozialen Sicherung für die Betroffenen begründet einen entsprechenden Informations- und Beratungsbedarf. Durch das Sozialgesetzbuch – Erstes Buch – (SGB I) werden alle Träger der Sozialleistungen zu umfassenden Beratungen verpflichtet. Darüber hinaus bieten aber auch die Sozial- und Jugendämter der Städte und Gemeinden sowie Krankenhaussozialdienste individuelle Beratungen an. Ärzte/Ärztinnen nehmen für behinderte Menschen beim Zugang zu ihren Rechten oft eine Schlüsselposition ein, weil die meisten Leistungsträger eigene ärztliche Dienste haben, auf deren Gutachten sich die Behörden bei ihren Entscheidungen stützen.

11 Selbsthilfe Elisabeth Strehl

11.1 Selbsthilfe als wesentlicher Teil des Gesundheitssystems Selbsthilfe (SH) bedeutet den selbstorganisierten, eigenverantwortlichen Zusammenschluss von Menschen, die gemeinsam von einem bestimmten Problem betroffen sind, zur gegenseitigen Hilfe und Unterstützung. Eine Selbsthilfegruppe bietet dem Einzelnen Solidarität und Rückhalt, die Möglichkeit zum Austausch von Erfahrungen und zum Erwerb von speziellem Fachwissen und eröffnet eine Möglichkeit, sich aktiv mit der eigenen Situation auseinanderzusetzen. Längst haben sich SH-Gruppen von bescheidenen, nicht immer ernst genommenen Anfängen zu einem unverzichtbaren Bestandteil unseres Gesundheitssystems entwickelt; und auch bei Fachleuten hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass bestimmte Funktionen in der Unterstützung von chronisch Kranken und Behinderten am besten oder sogar ausschließlich von der Selbsthilfe zu erfüllen sind. Dabei ist das Verhältnis zum etablierten Medizinbetrieb nicht immer unproblematisch, prinzipiell jedoch zunehmend durch Kooperationsbereitschaft auf beiden Seiten gekennzeichnet und durch die Erfahrung, dass beide Seiten von Zusammenarbeit und Austausch nur profitieren können. Selbsthilfe hat viel dazu beigetragen, Patienten zu „Experten in eigener Sache“ zu machen, die Ärzten und Therapeuten als Partner begegnen. Durch überregionale Zusammenschlüsse und die Gründung von Dachorganisationen wie der Bundesarbeitsgemeinschaft (BAG) Selbsthilfe oder der Deutschen Arbeitsgemeinschaft Selbsthilfegruppen e. V. findet darüber hinaus eine wirkungsvolle Interessenvertretung der Mitglieder in der Öffentlichkeit statt. In manchen Publikationen wird Selbsthilfe inzwischen neben der ambulanten und stationären medizinischen Versorgung und dem öffentlichen Gesundheitsdienst als „4. Säule des Gesundheitssystems“ bezeichnet. Diese zunehmende Bedeutung spiegelt sich seit 2000 auch in der Sozialgesetzgebung wider durch die Verpflichtung der gesetzlichen Krankenkassen, Selbsthilfe finanziell zu fördern (§ 20h SGB V, letzte Änderung 18.7.2017). Im Gesundheitsbericht für Deutschland des Robert Koch-Instituts – RKI – (2015) wird von derzeit 70.000 bis 100.000 Selbsthilfegruppen mit rund drei Millionen Engagierten ausgegangen. Die Arbeitsgemeinschaft Spina Bifida und Hydrocephalus e. V. (ASBH) wurde bereits 1966 gegründet und zählt damit zu den frühen Zusammenschlüssen von Betroffenen (bzw. deren Eltern) zu einer Selbsthilfegruppe in Deutschland. In 5 Jahrzehnten entwickelte sich eine Organisation mit derzeit ca. 75 regionalen Selbsthilfegruppen sowie Landesverbänden, in denen sich Eltern, Angehörige und betroffene Menschen ehrenamtlich engagieren, Beratung anbieten, informieren und Veranstaltungen durchführen. Die ASBH vertritt derzeit ca. 3.000 Mitglieder bundesweit. https://doi.org/10.1515/9783110228748-014

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Selbsthilfe lebt von den Menschen, die sich dafür engagieren. Deshalb sollen im Folgenden Menschen über ihre Erfahrungen berichten, die sie als Eltern oder selbst Betroffene mit der Selbsthilfe gemacht haben.

Links – – – –

www.bag-selbsthilfe.de www.dag-shg.de www.rki.de www.asbh.de

11.2 Persönliche Erfahrungen in der Selbsthilfe Luise und Kirsten Althaus 11.2.1 Selbsthilfearbeit in der Regionalgruppe Im Jahr 2016 feierte die Arbeitsgemeinschaft Spina Bifida und Hydrocephalus ihr 50-jähriges Bestehen. Mehr als 30 Jahre persönliche Erfahrungen und 28 Jahre ehrenamtliche Mitarbeit in einer Regionalgruppe oder dem Landesverband verbinden mich mit der ASBH Selbsthilfe. Vieles hat sich seit den Anfangsjahren verändert, dennoch ist der Grundgedanke der Selbsthilfe unverändert aktuell und hat nichts von seiner Bedeutung verloren. Als im Jahr 1982 unsere Tochter mit Spina bifida und Hydrocephalus geboren wurde, gab es die heutigen Möglichkeiten der Informationen übers Internet noch nicht. Wir haben in Lexika nachgeschlagen, um uns zu informieren und waren dann sehr dankbar, als uns ein Arzt die Adresse der „Arbeitsgemeinschaft Spina Bifida und Hydrocephalus e. V.“ (ASBH) in Dortmund in die Hände drückte. Wir wurden dort bereits Mitglied als unsere Tochter erst wenige Monate alt war und haben mit viel Interesse die jeweiligen Publikationen und Berichte über Veranstaltungen in den Selbsthilfegruppen gelesen. Im Raum Regensburg gab es damals keine Selbsthilfegruppe. Erste Treffen mit anderen Müttern ergaben sich im hiesigen sozialpädiatrischen Zentrum, während die Kinder eine gemeinsame Therapiestunde hatten. Daraus entstand die Initiative, die „Sportgemeinschaft Behinderter und Nichtbehinderter an der Uni Regensburg e. V.“ zu bewegen, eine Rollstuhlsportgruppe für Kinder zu gründen, die heute noch besteht. Als ich dann von der ASBH-Bundesgeschäftsstelle gebeten wurde, in unserem Gebiet die Selbsthilfegruppe wieder mit Leben zu füllen, habe ich zusammen mit ein paar anderen Müttern gerne zugesagt. Die Zusammenarbeit mit dem SPZ und Ärzten des Klinikums war uns von Anfang an wichtig. Etwa einmal pro Jahr gab es eine Fortbildungsveranstaltung, wobei Referenten zu den Themen Medizin, Rehabilitation, Recht, Integration usw. eingeladen

11.2 Persönliche Erfahrungen in der Selbsthilfe

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wurden. Darüber hinaus ist für die Familien Gelegenheit zum Erfahrungsaustausch wichtig. Allerdings hatten regelmäßige Stammtische in unserem ländlichen Raum weniger Erfolg. Wir sind dann bei ca. 4–5 größeren Treffen im Jahr verblieben mit viel gemeinsamer Zeit und verschiedenen Aktivitäten wie Ostereiersuchen, Sommerfest, Adventsfeier, Reitfreizeit usw. Wir stellen immer wieder fest, wie wichtig die Informationen sind, die hier weitergegeben werden. Wer gut informiert ist, kann gegenüber Ämtern oder Krankenkassen argumentieren, um sein Recht zu erhalten oder gegenüber Ärzten, um optimal versorgt zu werden. Wer gut informiert ist, kann Einfluss auf Entscheidungen nehmen und fühlt sich weniger den Experten „ausgeliefert“. Es ist schön zu sehen, wie innerhalb der Gruppe Freundschaften aufgebaut werden, die oft jahrelang halten. Jeder kann seinen Beitrag zum Erfolg der Selbsthilfegruppe leisten, denn jeder hat Erfahrungen weiterzugeben, die dem anderen nützlich sein können. Besonders hilfreich ist es für die Kinder und Jugendlichen zu sehen, wie andere Gleichbetroffene mit ihrem Handicap umgehen. Um den jungen Betroffenen einen eigenen Rahmen zum Austausch zu geben, hat meine Tochter vor einigen Jahren einen Stammtisch für Jugendliche und junge Erwachsene ins Leben gerufen.

Kirsten Althaus Ich bin jetzt 34 Jahre alt und kann mich an eine Zeit ohne Selbsthilfe-Gruppe gar nicht erinnern. Schon als kleines Kind haben mir die von meiner Mutter organisierten Treffen mit gleichgesinnten Familien und vor allem deren Kindern immer sehr viel Spaß gemacht. Gerade bei längeren gemeinsamen Ausflügen fand auch schon unter uns Kindern häufig „Selbsthilfe“ statt: „Zeigst du mir wie du ins Auto einsteigst?“ - „Wie ziehst du deine Hosen an?“. Der Erfahrungsaustausch hat mich weitergebracht und die Fitness der anderen war auf Ausflügen immer ein Ansporn, sich anzustrengen. „Ich lass mich erst schieben, wenn die anderen sich schieben lassen!“ – „Was die schafft, will ich auch schaffen!“ Und nachher war ich stolz, wenn ich als erste ankam oder als letzte noch alleine fuhr, obwohl der Waldboden uneben und das Fahren anstrengend war. Als wir älter wurden, waren die Treffen der Familien mit Kindern für uns nicht mehr interessant. Um die Jugendlichen wieder ins Boot zu holen, fing ich vor ca. 8 Jahren an, einen Stammtisch zu organisieren, zu dem viele Jugendliche und junge Erwachsene kommen, die ich vorher jahrelang nicht mehr gesehen habe. So wurden alte Freundschaften wieder aufgewärmt, für die ich sehr dankbar bin. Neben Spaß und interessanten Gesprächen kommt auch bei den Stammtischen die Selbsthilfe nicht zu kurz, da jeder seine Erfahrungen und seine eigenen Problemlösungen weitergeben und sich von anderen Tipps abschauen kann. Manche freuen sich einfach über einen schönen Abend; andere sind stolz, weil sie, um zu unseren Treffen zu kommen, gelernt haben, alleine mit dem Zug zu fahren. Ich bin stolz darauf, wenn ich höre, dass ich andere ansporne, mehr alleine zu schaffen und selbständiger zu werden.

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Inzwischen haben einige von uns auch gemeinsame Ferienreisen unternommen – eine so positive Erfahrung, dass wir immer wieder neue Pläne machen. Ich weiß nicht, wie mein Leben ohne die Unterstützung der Selbsthilfe verlaufen wäre. Sicher habe ich von vielen Informationen und Anregungen profitiert und bin froh, Menschen mit ähnlichen Fragen und Schwierigkeiten zu kennen. Besondere Freude macht es mir, gemeinsam mit anderen Menschen Herausforderungen zu meistern. Für mich ist das der wichtigste Aspekt bei der Selbsthilfe.

Luise Althaus Seit Jahren besteht ein guter Kontakt zu den anderen Selbsthilfegruppen in Bayern mit gegenseitigen Besuchen bei Informationsveranstaltungen. Um größere Veranstaltungen anbieten zu können, die eine einzelne Gruppe nicht leisten kann, und die Selbsthilfearbeit zu koordinieren, wurde der ASBH Landesverband Bayern gegründet, in dem ich von Beginn an bis jetzt im Vorstand mitarbeite. Hier werden Freizeiten für Kinder und Jugendliche, Familienseminare, Informationsveranstaltungen und Seminare zum Inkontinenzmanagement angeboten. Dank der Selbsthilfeförderung durch die gesetzlichen Krankenkassen ist es möglich, hier zu einem erschwinglichen Preis für die Familien ein qualitativ hochwertiges Programm anzubieten. Meine fast 30jährige ehrenamtliche Tätigkeit in der Selbsthilfe hat auch mir selbst gut getan; sie hat mein Selbstbewusstsein gestärkt und mir das Gefühl gegeben, selbst etwas bewirken zu können. Ich kann gegenüber Ämtern und Behörden unsere Rechte vertreten und habe das Gefühl, auch bei Ärzten und Therapeuten ernst genommen zu werden. Auch, wenn es heute dank Internet vielfältige Möglichkeiten der Informationsbeschaffung und des Austausches gibt, kann ich allen Eltern und Betroffenen nur empfehlen, sich einer Selbsthilfegruppe anzuschließen. Der persönliche Kontakt in der Gruppe und das große überregionale Angebot an Informationen und vielfältiger Unterstützung sind nicht zu ersetzen.

Maike Wolff 11.2.2 Selbsthilfearbeit regional und auf Bundesebene – persönliche Erfahrungen Ich, Maike Wolff (35), bin eine Frau mit Spina bifida und Mitglied des Bundesvorstandes der Arbeitsgemeinschaft Spina Bifida und Hydrocephalus e. V. (ASBH). Durch mein Studium wurde ich zur Wahlkölnerin und arbeite heute als Sonderpädagogin (Förderschullehrerin) an einer Förderschule mit jungen Erwachsenen. Durch diese Arbeit und meine eigene Behinderung weiß ich um einige Probleme, die sich bei der Zukunftsplanung und im Alltag ergeben können und kann diese Erfahrungen seit nunmehr ca. 18 Jahren in die Selbsthilfearbeit mit einbringen.

11.2 Persönliche Erfahrungen in der Selbsthilfe |

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Es gibt viele Beweggründe, sich in der Selbsthilfe zu engagieren. Für mich ist es vor allem die Freude daran, andere unterstützen zu können, aber auch die Tatsache, dass es ein gutes Gefühl ist, ein Teil eines solch großen Verbandes zu sein.

11.2.2.1 Organisation und Aufgaben der ASBH Die ASBH ist eine Selbsthilfeorganisation, die es sich zum Ziel gemacht hat, Menschen mit Spina bifida und/oder Hydrocephalus und ihre Angehörigen zu unterstützen, indem sie die Voraussetzungen für die ungehinderte Entfaltung der Persönlichkeit verbessern möchte. Sie ist auf unterschiedlichen Ebenen organisiert. Im gesamten Bundesgebiet agieren neben der vor einiger Zeit gegründeten ASBH Selbsthilfe gGmbH (gemeinnützige GmbH, die unter veränderter Organisationsform die Arbeit der bisherigen „Geschäftsstelle“ weiterführt) regionale Selbsthilfegruppen und Landesverbände. Diese organisieren auf ehrenamtlicher Basis Treffen für Betroffene und deren Angehörige und setzen sich auf regionaler Ebene für die Belange von Menschen mit Spina bifida und/oder Hydrocephalus ein. Der Bundesvorstand leitet und koordiniert bundesweit die Selbsthilfearbeit und arbeitet mit der gGmbH eng zusammen, die für die Umsetzung der vielfältigen Aktivitäten zuständig ist. Zum Erreichen der gesteckten Ziele hat sich die ASBH einige Aufgaben gestellt. Vor dem Hintergrund der Inklusion versucht die ASBH die Zusammenarbeit zwischen den unmittelbar und mittelbar Betroffenen zu fördern, indem sie Treffen und Tagungen organisiert. Hier können die Mitglieder Informationen über medizinische, therapeutische, berufliche, soziale und rechtliche Fragen und Möglichkeiten erhalten und Erfahrungen austauschen. In organisierten Freizeiten (Selbständigkeitstrainings, MeetingPoint etc.) bekommen junge betroffene Mitglieder zudem die Möglichkeit, ihre Mobilität, Freizeitgestaltung und Selbständigkeit weiter auszubauen, um an einer verbesserten gesellschaftlichen Inklusion und Lebensperspektive zu arbeiten. Außerdem fördert die ASBH immer wieder den fachlichen Erfahrungsaustausch in medizinisch-therapeutischen und pädagogischen Bereichen sowie auf dem Gebiet der beruflichen und sozialen Rehabilitation und unterstützt Forschungsvorhaben. Fachlich unterstützt wird diese Arbeit durch einen wissenschaftlichen Beirat. Zu den Aufgaben des Bundesvorstands gehört die Entwicklung und Mitgestaltung von Veranstaltungen wie Tagungen, Freizeiten, Kongresse etc. als Leiter oder durch eigene Vorträge. Ein weiterer Schwerpunkt liegt in den Bereichen der finanziellen Planung und der Überprüfung der Verwendung von beantragten Fördermitteln. Ein Mitglied des Bundesvorstands hat jeweils die Aufgabe, die allgemeinen Interessen der Mitglieder gegenüber gesetzgebenden Organen, Behörden, Institutionen und der Öffentlichkeit zu vertreten und mit unterschiedlichen Organisationen und Einrichtungen auf nationaler und internationaler Ebene zusammenzuarbeiten. Aber neben der ganzen Organisation und Repräsentation ist die wichtigste Aufgabe, für einzelne Mitglieder ansprechbar zu sein, ihnen zuzuhören und bei Bedarf Unterstützung zu bieten. Diese kann in einer Beratung auf der Basis persönlicher Er-

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fahrungen oder auch im Aufzeigen von geeigneten Anlaufstellen bestehen. Wichtig ist, sowohl das einzelne Mitglied als auch den gesamten Verein im Blick zu haben.

11.2.2.2 Mein Weg von der Regionalgruppe bis in den Bundesvorstand In meiner Kindheit verbrachte ich nur wenig Zeit mit anderen Kindern mit Behinderung. Ich ging in einen sogenannten Regelkindergarten und auch im schulischen Bereich war ich die einzige mit einer sichtbaren Behinderung. In meinem frühen Kindesalter gingen meine Eltern des Öfteren mit mir zu Treffen der ASBH-Ortsgruppen, um mir die Möglichkeit zu bieten, andere Kinder mit Behinderung kennen zu lernen und zu erkennen, dass ich nicht alleine mit meiner Situation war. Ich sollte nicht das Gefühl haben, mit den „nichtbehinderten“ Kindern mithalten zu müssen. Doch ich fühlte mich dort nicht zugehörig. In meinen kindlichen Augen war ich nicht „behindert“. Zu dem Zeitpunkt hatte ich nicht das Gefühl, anders zu sein als meine Freunde im Kindergarten. Das mag mit der Erziehung meiner Eltern zusammenhängen. Sie haben mich immer zu Selbständigkeit mit viel Selbstbewusstsein erzogen und mich wie jedes anderes Kind, toben, rennen, aber auch im Haushalt helfen lassen. Ich war also auch nicht anders … Mit dem Beginn der Pubertät änderte sich dies etwas. Es wurde schwieriger. Meine Freunde wandten sich teilweise ab (mit mir sanken scheinbar die Chancen einen tollen Jungen abzubekommen) und mein Selbstbewusstsein bekam Brüche. Ich nahm zum ersten Mal richtig wahr, dass es schwierig sein kann, wenn man eine Behinderung hat – zumal die Pubertät auch ohne Behinderung nicht immer leicht ist. Meine Eltern starteten somit einen neuen Versuch bei der ASBH und meldeten mich bei einer Freizeit unserer Ortsgruppe an. Zu Beginn stand ich dem Ganzen sehr skeptisch gegenüber; schließlich kannte ich dort niemanden. Wider Erwarten wurde es viel besser als gedacht. Ich konnte ganz ungezwungen mit meiner Behinderung und den damit verbundenen Schwierigkeiten umgehen. Ich wurde akzeptiert und konnte mich mit positivem Fokus mit meiner Behinderung auseinandersetzen. Von da an nahm ich regelmäßig an Freizeiten und anderen Veranstaltungen teil und habe immer mehr Aufgaben der Organisation dort übernommen. Ich konnte meine eigenen Ideen und Erfahrungen mit einbringen, was meinem Selbstbewusstsein sehr gut tat. Dies kam wiederum meiner Arbeit in der Selbsthilfe sehr zugute. Ich hatte für Probleme und Hürden aus dem Alltag ein offenes Ohr und versuchte, den anderen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Schließlich übernahm ich ein Amt im Vorstand der Ortsgruppe. Meine Aufgabe war es, mich für die Belange der Jugendlichen und jungen Erwachsenen einzusetzen. In dieser Funktion nahm ich zum ersten Mal an einer Veranstaltung des Bundesverbandes teil und bekam dort unwissentlich Kontakt zum Bundesvorstand. Nach einigen Monaten bekam ich das Angebot, als Beisitzerin dem Bundesvorstand beizutreten. Da ich gerade mit dem Studium begonnen hatte, habe ich erst nach gründlichem Abwägen zugesagt.

11.2 Persönliche Erfahrungen in der Selbsthilfe

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11.2.2.3 Warum ich mich für die Arbeit im Bundesvorstand entschieden habe Ich empfand bereits die Arbeit auf Regionalebene sehr bereichernd. Darüber hinaus wollte ich die Arbeit im Bundesvorstand nutzen, ein Netzwerk aufzubauen, das mich, aber auch andere in ihrem Leben weiterbringen konnte. Bei meiner ersten Veranstaltung (Treffen der Ansprechpartner für Jugendliche und junge Erwachsene der Regionalgruppen) habe ich neue und vor allem sehr interessante Menschen kennengelernt, die ebenfalls großes Engagement zeigten. Das hat mir imponiert und mir vor Augen geführt, was eventuell zu erreichen ist.

11.2.2.4 Meine Arbeit im Bundesvorstand Bisher habe ich in der Funktion als Beisitzerin und Protokollantin an der Vorstandsarbeit mitgewirkt. Zudem setze ich mich im Besonderen für selbstbetroffene Jugendliche und junge Erwachsene ein. Als Selbstbetroffene ist es mir in Form von einer Art Peer Counceling möglich, Gespräche und Beratung empathisch zu gestalten und den Standpunkt vor den anderen Mitgliedern im Bundesvorstand konkret zu vertreten. Hier kann ich meine eigenen Erfahrungen besonders einbringen, Rat geben und Anlaufstellen aufzeigen. Mein Beruf als Lehrerin in einer Berufspraxisstufe einer Förderschule gibt mir weitere Einblicke für die Arbeit im Bundesvorstand.

11.2.2.4.1 Voraussetzungen für die Arbeit An meinem Werdegang in der ASBH lässt sich erkennen, dass es wichtig ist, sich eigenständig für die Selbsthilfe zu entscheiden. Nur so ist es möglich, sein Potenzial einzusetzen und immer mehr zu entfalten. Dies gilt für die aktive Mitarbeit in der Selbsthilfe genauso wie für die Inanspruchnahme der Unterstützungsangebote. Wenn meine Eltern mich im Kindesalter gedrängt hätten, wäre ich wahrscheinlich nicht mit Freuden zur ASBH gegangen und hätte mich nicht auf die Arbeit im Vorstand eingelassen. Nach meiner Erfahrung sollten für diese Arbeit gewisse Voraussetzungen gegeben sein: Es braucht Visionen und die Möglichkeit diese weiterzuentwickeln, um die Arbeit im Bundesvorstand gewinnbringend mitzugestalten. Selbstbewusstsein, Selbstreflexion und die Fähigkeit, Ideen zu transportieren sind genauso wichtig wie Kompromissbereitschaft, aber auch Durchhaltevermögen. Nur so kann eine produktive Zusammenarbeit mit den anderen Vorstandsmitgliedern, die die Arbeit in der ASBH aus sehr unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten, gelingen. Nicht zu vergessen ist, dass ein Vorstandsmitglied Sprachrohr eines jeden Mitgliedes sein sollte. Wichtig ist somit, den einzelnen Mitgliedern empathisch verbunden zu sein, ihre Wünsche und Bedürfnisse aufzunehmen und weiterzutragen. Um als Schnittstelle zu professionellen Beratungsstellen fungieren zu können, bedarf es kommunikativer Kompetenzen, die weit über das Zuhören allein hinausgehen.

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11.2.2.5 Mein Fazit Selbsthilfearbeit ist eine wichtige und bedeutende Aufgabe, die Zeit und Kraft kostet, mir aber auch sehr viel Spaß, Freude und neue Erfahrungen bringt, die mir auch selbst immer wieder weiterhelfen. Im Grunde bedeutet Selbsthilfe für mich Empowerment. Das Wort bedeutet wörtlich übersetzt Befähigung, Ermächtigung bzw. Selbstbefähigung. Genau dies möchte auch die Selbsthilfe. Probleme aus eigener bzw. gemeinsamer Kraft zu bearbeiten, mit anderen Worten, sich durch Austausch und Entwicklung von Perspektiven und Visionen selbst zur Lösung zu befähigen – als bewusstes Gegenkonzept zur professionellen Fremdhilfe. Somit ist wichtig, dass sich möglichst viele Selbstbetroffene aktiv in der Selbsthilfe engagieren. Nur so ist es möglich, für sich selbst einzustehen und die eigenen Wünsche voranzutreiben, damit nicht weiter über unsere Köpfe hinweg entschieden wird und die Gesellschaft endlich dazu gebracht wird, sich von der fremdbestimmten Fürsorge zu entfernen.

Birgit Babitsch und Theodor Michael

12 Gesundheitliche Versorgung – Anforderungen und Erwartungen aus Sicht Erwachsener mit Spina bifida und an der Versorgung beteiligter Akteure Menschen mit Spina bifida differieren stark in ihrem Versorgungsbedarf und in ihren Möglichkeiten, das eigene Leben und erforderliche Unterstützungsleistungen für sich selbst zu gestalten. So organisieren manche Erwachsene mit Spina bifida ihre soziale und gesundheitliche Versorgung weitestgehend selbst, während andere in erheblichem Umfang auf die Unterstützung durch Dritte angewiesen sind. Entsprechend sind bei der Versorgungsplanung und -gestaltung nicht nur die Heterogenität des Krankheitsbildes, sondern auch die Möglichkeiten der autonomen Versorgungsgestaltung zu berücksichtigen. Ein Konsens, der sich in nationalen und internationalen Veröffentlichungen findet, besteht darin, dass eine qualitativ hochwertige medizinische Versorgung die Behandlung durch ein spezialisiertes Team verschiedener Fachdisziplinen erfordert [9, 14, 18, 32]. Ein solch komplexes Versorgungsangebot stand in Deutschland bis vor kurzem nur Kindern und Jugendlichen in sozialpädiatrischen Zentren (SPZ) nach § 119 SGB V regelhaft – mit wenigen Ausnahmen – zur Verfügung. Eine langfristige Absicherung war dementsprechend bis 2015 nicht gegeben. Politisch wurde diese Versorgungsproblematik im Sommer 2015 in einem Gesetzentwurf zum GKV-Versorgungsstärkungsgesetz aufgegriffen, der die Gründung von medizinischen Behandlungszentren für Erwachsene mit geistiger Behinderung oder schweren Mehrfachbehinderungen (MZEB) beinhaltet [12]. Das Gesetz ist in seinen wesentlichen Inhalten am 23. Juli 2015 in Kraft getreten und ermöglicht nun eine interdisziplinäre Behandlung von Erwachsenen mit Spina bifida innerhalb eines MZEB, ähnlich den komplexen Versorgungsstrukturen, die im Kindes- und Jugendalter bereits durch die SPZ bestanden [6]. Aktuell werden die gesetzlichen Möglichkeiten umgesetzt. Entsprechend bleibt offen, ob sich flächendeckend Behandlungszentren mit interdisziplinärem Versorgungsangebot herausbilden, die den komplexen Bedarfen von Erwachsenen mit Spina bifida gerecht werden.

12.1 Aktueller Forschungsstand Zur Gesundheitsversorgung von erwachsenen Menschen mit Spina bifida liegen bis dato nur wenige Studien vor, sodass viele Fragen zwar aus der Versorgungspraxis benannt werden können, diese aber noch nicht ausreichend wissenschaftlich bearhttps://doi.org/10.1515/9783110228748-015

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beitet wurden. Bei der im Rahmen des Projekts durchgeführten systematischen Recherche konnten kaum nationale und nur wenige internationale Studien ermittelt werden. Die internationalen Studien stammen mehrheitlich aus Nordamerika, Australien sowie den Niederlanden und lassen sich u. a. in folgende Themenschwerpunkte unterteilen: Versorgungsbedarf von und (komplexe) Versorgungsstrukturen für Menschen mit Spina bifida, Partizipation, Lebensqualität der Menschen mit Spina bifida und Transition. Insgesamt betrachtet, deuten die Studienergebnisse auf eine Unterund Fehlversorgung insbesondere im ambulanten Bereich hin. So zeigen mehrere internationale Studien, dass ein beträchtlicher Teil der Krankenhausaufenthalte durch Beschwerden und Erkrankungen (z. B. Harnwegsinfektionen, bakterielle Pneumonie) verursacht wird, die eigentlich mithilfe ambulanter präventiver Maßnahmen wie regelmäßige Kontrolluntersuchungen durch unterschiedliche medizinische Fachdisziplinen oder eine Anleitung zu einer besseren Selbstversorgung der Betroffenen hätten vermieden werden können [1, 19, 23, 33]. Um die Versorgung der Erwachsenen mit Spina bifida zu verbessern, werden koordinierte und multiprofessionelle Versorgungsangebote als gute Ansatzpunkte gesehen [23, 30, 32]. Diesem Anspruch werden allerdings die Versorgungsstrukturen oftmals nur unzureichend gerecht. Auch bezüglich der Partizipation am sozialen Leben weisen erwachsene Menschen mit Spina bifida in Bereichen wie Wohnsituation, Schulausbildung, Freizeitaktivitäten, Partnerschaften und Beschäftigung Einschränkungen auf, die eng mit der Ausprägung des Krankheitsbildes gekoppelt sind [3, 8, 10, 13, 15]. Die Ergebnisse zur Lebensqualität der Menschen mit Spina bifida zeigen ein insgesamt heterogenes Bild und in der Tendenz eher geringe Unterschiede zu den jeweiligen Referenzgruppen [2, 10, 26]. Im Unterschied dazu fanden Dicianno et al. [13] in ihrer systematischen Übersichtsarbeit, dass die subjektive Lebensqualität von jungen Erwachsenen mit Spina bifida niedriger ist als die einer Vergleichspopulation ohne Erkrankung bzw. Behinderung. Junge Erwachsene mit Spina bifida haben demnach ein höheres Risiko für depressive Stimmung, niedriges Selbstwertgefühl und Suizidgedanken. Die größte Unzufriedenheit besteht nach der Autorengruppe in den Bereichen Finanzen, Beziehungen und Sexualität. Die einzige identifizierte deutsche Studie zum Thema Lebensqualität bei Erwachsenen mit Spina bifida schließt vorwiegend Kinder und Jugendliche im Alter von 2–19 Jahren ein (n = 70). Hier zeigen sich keine signifikanten Unterschiede bezüglich der gesundheitsbezogenen Lebensqualität zwischen den Teilnehmern mit Spina bifida und einer Normstichprobe [17]. Die Transition von der kinderzentrierten in die erwachsenenzentrierte Versorgung von Menschen mit Spina bifida ist Gegenstand vorwiegend nordamerikanischer Untersuchungen [4, 5, 11, 16, 20, 21, 24, 25, 27, 34–36]. Übereinstimmend kommen die Autoren zu dem Ergebnis, dass die Transition als ein Prozess zu verstehen ist, der individuell auf den Patienten zugeschnitten und gemeinsam von den Versorgern, dem Patienten sowie den Angehörigen getragen werden muss. Barrieren, die eine Transition in die Erwachsenenversorgung behindern, bestehen sowohl auf Ebene der einzelnen beteiligten Personen als auch auf Ebene der beteiligten Einrichtungen und

12.2 Gesundheitliche Versorgung von Erwachsenen mit Spina bifida | 489

des Gesundheitssystems [4, 5, 11, 21, 24, 25]. Insgesamt findet demnach eine zu kurze und wenig intensive Vorbereitung auf die Transition statt. Durch eine Orientierung am biologischen Alter der Patienten kommt es zu abrupten Übergängen zwischen den Behandlungssettings [24]. Mögliche Interventionen zur Beseitigung dieser Barrieren werden aus den in den Studien genannten Erfolgsfaktoren deutlich. Wesentlich scheint hier eine frühe Vorbereitung der Transition unter Einbeziehung aller Beteiligten und unter Nutzung formaler Strukturen, Prozesse und Hilfsmittel zu sein, inklusive einer Verbesserung der Kooperation und Kommunikation zwischen Anbietern der Kinderund Erwachsenenversorgung [5, 16, 24, 27–29]. Übergreifend ist zu bemerken, dass sich hinsichtlich der in den Studien zur Verfügung stehenden Daten Einschränkungen ergeben. Die analysierten Studien verfügen meist über kein prospektives, sondern ein querschnittliches Design. Des Weiteren handelt es sich oft um relativ kleine Gelegenheitsstichproben aus einzelnen Krankenhäusern oder Versorgungszentren mit mitunter geringer Teilnahmequote. Hinsichtlich des Alters muss darauf hingewiesen werden, dass einige der genannten Studien auch Kinder oder Jugendliche in die Untersuchung mit einschlossen.

12.2 Zielsetzung der Studie zur Lebens- und Versorgungssituation von Erwachsenen mit Spina bifida Ziel der Studie war es, die aktuelle Lebens- und Versorgungssituation von erwachsenen Menschen mit Spina bifida in Deutschland zu erfassen. Dabei sollte herausgearbeitet werden, wie sich die Betroffenen in den derzeit vorhandenen Versorgungsstrukturen sowohl in medizinischer als auch in sozialer Hinsicht organisieren und welchen Versorgungbedarf sie für sich selbst im Hinblick auf ihre Gesundheit und ihre Lebensqualität sehen. Die zentralen Forschungsfragen des Forschungsvorhabens waren: 1. Wie ist die aktuelle Versorgungssituation (Bestandsaufnahme)? 2. Wie erleben Erwachsene mit Spina bifida ihre aktuelle Versorgung und welche Bedürfnisse haben sie im Hinblick auf ihre Versorgung (u. a. Gesundheit, Bildung, Wohnen)? 3. Wie müssten Versorgungsstrukturen in Zukunft aus Sicht der Experten und aus Sicht der Betroffenen gestaltet sein? Mit den Ergebnissen der Studie kann die Lebens- und Versorgungssituation von Erwachsenen mit Spina bifida erstmalig für Deutschland in ihrer Heterogenität und Komplexität abgebildet werden. Die im Rahmen der Untersuchung erhobenen Daten stellen eine umfassende Bestandsaufnahme dar, die zudem die Darstellung der Versorgungsrealität und die Identifikation von Versorgungsanforderungen ermöglicht. Auf Basis der Ergebnisse können die aus Sicht der Betroffenen und Experten wünschenswerten und notwendigen Veränderungen zur Sicherstellung einer be-

490 | 12 Gesundheitliche Versorgung von Erwachsenen mit Spina bifida

darfsgerechten Versorgungssituation abgeleitet und Versorgungskonzepte entwickelt werden.

12.3 Methodische Vorgehensweise In der Versorgungsstudie wurde ein Multi-Methoden-Ansatz gewählt, der quantitative und qualitative Methoden einschließt. Hierdurch können die Lebens- und Versorgungslagen aus der Perspektive verschiedener an der Versorgung beteiligter Akteure, der Betroffenen selbst und der Angehörigen umfassend erfasst und vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Perspektiven systematisiert werden. Die vier systematisch aufeinander aufbauenden und jeweils die vorhandenen Ergebnisse aufgreifenden Teilschritte des Projekts waren: – Systematische Literaturrecherche zur Lebens- und Versorgungssituation von Erwachsenen mit Spina bifida. – Qualitative Befragung von Experten aus der Versorgung von Menschen mit Spina bifida sowie von Betroffenen zur Beschreibung der Lebens- und Versorgungssituation der Erwachsenen und zur Entwicklung eines Fragebogens für eine Befragung der Erwachsenen in Deutschland (n = 42). – Quantitative Befragung von Erwachsenen mit Spina bifida zu ihrer Lebens- und Versorgungssituation (n = 449). – Durchführung von Fokusgruppen mit dem Ziel, neue Modelle zur gesundheitlichen Versorgung und deren Umsetzung zu diskutieren (n = 4). Die quantitative Befragung fand im Zeitraum von April bis September 2014 statt. Hierfür wurde ein in weiten Teilen neuer Fragebogen entwickelt, weil bislang bis auf wenige Ausnahmen keine validen Erhebungsinstrumente vorlagen. Dieser Fragebogen wurde auch in einem Kooperationsprojekt mit dem ASBH in einer weiteren Befragung eingesetzt. Folgende Themenbereiche wurden im quantitativen Fragebogen adressiert: aktuelle Lebenssituation, Gesundheitszustand, Aktivitäten des täglichen Lebens, Kontinenzsituation, Freizeit- und Lebensraumgestaltung, Lebensqualität, aktuelle medizinische Versorgung und zukünftige Versorgungsmodelle. Der Fragebogen enthält zwei validierte Instrumente, den „Quality of life in spina bifida questionnaire“ [22] und den „SF-Qualiveen“ [7, 31].

12.4 Ergebnisse Nachfolgend werden ausgewählte Ergebnisse zur Beurteilung der Gesundheitsversorgung dargestellt. Im Vordergrund stehen dabei die Angaben von Erwachsenen mit Spina bifida, die partiell um die Aussagen der an der Versorgung beteiligten Akteure wie z. B. Ärzte, Therapeuten aus dem qualitativen Studienteil ergänzt werden.

12.4 Ergebnisse

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12.4.1 Beschreibung der Befragungsteilnehmer An der Befragung nahmen insgesamt 449 Erwachsene mit Spina bifida teil, der prozentuale Anteil der Frauen ist mit 57,7 % etwas höher als der der Männer mit 40,3 % (Tab. 12.1). Die Verteilung nach Alter deckt ein breites Spektrum ab, wenngleich die Altersgruppe von 26–39 Jahren mit 41,2 % dominiert. Etwas mehr als die Hälfte der teilnehmenden Erwachsenen mit Spina bifida lebt in einer eigenen Wohnung und hat einen mittleren bzw. hohen Schulabschluss. Bei 80,0 % der Befragten lag eine Spina bifida aperta und bei 68,2 % der Teilnehmenden ein Hydrocephalus vor. In der Mobilität ist die Mehrzahl der Befragten eingeschränkt. Knapp die Hälfte der Erwachsenen mit Spina bifida benötigen einen Rollstuhl zur Fortbewegung. Bei Menschen mit Spina bifida treten neben den unmittelbar durch die Erkrankung hervorgerufenen Beschwerden auch gehäuft weitere Erkrankungen auf. In der vorliegenden Stichprobe gaben 167 Befragte (37,2 %) an, übergewichtig zu sein. 58 Personen (12,9 %) nannten eine Herz-Kreislauf-Erkrankung, 43 Personen (9,6 %) eine ArTab. 12.1: Soziale und gesundheitsbezogene Merkmale der Befragungsteilnehmer. Antwortkategorien

N

%

Geschlecht

Männer Frauen Fehlende Angaben

181 259 9

40,3 57,7 2,0

Alter

18–25 Jahre 26–39 Jahre 40 Jahre und älter Fehlende Angaben

116 185 126 22

25,8 41,2 28,1 4,9

Wohnsituation

Eigene Wohnung Keine eigene Wohnung

210 239

46,8 53,2

Schulabschluss

Kein Schulabschluss Hauptschulabschluss Mittlere Reife (Realschule) Abitur/Fachhochschulreife Fehlende Angaben

64 100 144 130 11

14,3 22,3 32,1 29,0 2,4

Form der Spina bifida

Spina bifida occulta Spina bifida aperta Fehlende Angaben

71 359 19

15,8 80,0 4,2

Hydrocephalus

Hydrocephalus Kein Hydrocephalus Fehlende Angaben

306 139 4

68,2 31,0 0,9

Mobilität

Fußgänger/-in Fußgänger/-in und Rollstuhlfahrer/-in Rollstuhlfahrer/-in Fehlende Angaben

104 125 216 4

23,2 27,8 48,1 0,9

492 | 12 Gesundheitliche Versorgung von Erwachsenen mit Spina bifida

throse und 33 Personen (7,3 %) eine Epilepsie. Keine der aufgeführten Erkrankungen hatten 125 Befragte (27,8 %). Bei der Mehrzahl der Befragten (86,2 %) wurde eine Operation zum Verschluss der Zele durchgeführt; eine Shuntoperation aufgrund des Hydrocephalus wurde bei 64,6 % der Teilnehmer vorgenommen. Die Teilnehmenden berichteten von weiteren Operationen, z. B. bei einer Skoliose oder einem Dekubitus. In den letzten 2 Jahren hatten die Teilnehmer durchschnittlich 1,2 stationäre Krankenhausaufenthalte (Standardabweichung = 2,0). Die Spannweite reicht hierbei von 0–20 Aufenthalten (Median = 1). Mehr als zwei Drittel der Teilnehmer hat eine Pflegestufe und nutzt im Lebensalltag oftmals mehrere Hilfsmittel.

12.4.2 Einschätzung der aktuellen gesundheitlichen Versorgung Die Befragungsteilnehmer nehmen aufgrund ihrer gesundheitlichen Beschwerden verschiedene medizinische und therapeutische Versorgungsangebote in Anspruch und nutzen unterschiedliche Hilfsmittel. Abb. 12.1 zeigt die Häufigkeiten der regelmäßigen Inanspruchnahme verschiedener medizinischer Fachdisziplinen und weiterer Gesundheitsberufe (Mehrfachantworten erlaubt). Die durchschnittliche Anzahl an involvierten Fachdisziplinen lag bei 5,6 (Standardabweichung = 2,4, Median = 6). Die von den meisten Teilnehmern in Anspruch genommenen Disziplinen sind Allgemeinmedizin, Urologie und Augenheilkunde sowie bei den Gesundheitsberufen die Physiotherapie und die Orthopädietechnik.

Al lg em ei nm ed Ne izin Ne uro lo ur oc gie hi ru rg Ur ie ol o Gy nä gie ko l Or ogi e th op De äd rm ie Ph ato l og ys io ie th er Er ap go ie th er ap Pf le ge ie d So ien st zi a Ps l yc die ns ho t th Au ge era pi nh Or e e th op ilku nd äd e ie te ch n so ik ns tig e

100 % 90 % 80 % 70 % 60 % 50 % 40 % 30 % 20 % 10 % 0%

Abb. 12.1: Relative Häufigkeiten der regelmäßig in Anspruch genommenen medizinischen Fachdisziplinen und Gesundheitsberufe (Angaben in %).

12.4 Ergebnisse

| 493

Hinsichtlich einer globalen Beurteilung der gesundheitlichen Versorgung anhand von Schulnoten stufen rund drei Viertel der Teilnehmer (n = 334, 74,4 %) ihre gesundheitliche Versorgung als insgesamt mindestens befriedigend ein. Knapp die Hälfte der Teilnehmer (n = 211, 47,0 %) beurteilt die gesundheitliche Versorgung sogar als gut oder sehr gut. Auf der anderen Seite bewertet ein gutes Fünftel der Befragten (n = 99, 22,0 %) die Versorgung als höchstens ausreichend. Bei einer differenzierten Betrachtung der aktuellen gesundheitlichen Versorgung sind ein Viertel der Teilnehmer (n = 116, 25,8 %) mit dieser weniger oder nicht zufrieden. Schwierigkeiten bereiten einem Viertel der Teilnehmer (n = 126, 28,0 %) die eigenständige Terminplanung und etwa jeder fünfte Teilnehmer (n = 92, 20,5 %) trifft auf weniger oder nicht barrierefrei gestaltete oder nicht gut erreichbare Arztpraxen. Darüber hinaus gaben zwei von fünf Befragten (n = 182, 40,5 %) an, dass den Therapeuten und Ärzten Wissen über das Krankheitsbild Spina bifida fehlt. Gleichzeitig ist es für über die Hälfte der Stichprobe (n = 243, 54,1 %) weniger einfach oder nicht einfach, bei Unzufriedenheit den Arzt zu wechseln. Wiederum über die Hälfte der Befragten (n = 238, 53,0 %) gab an, dass sie für kompetente Ansprechpartner eher weite Tab. 12.2: Beurteilung der aktuellen Versorgungssituation. Trifft zu

Trifft eher zu

Trifft weniger zu

Trifft nicht zu

Fehlende Angaben

Ich bin mit meiner aktuellen Versorgungssituation zufrieden.

181 (40,3 %)

126 (28,1 %)

88 (19,6 %)

28 (6,2 %)

26 (5,8 %)

Es fällt mir leicht, meine Termine eigenständig zu planen.

222 (49,4 %)

84 (18,7 %)

72 (16,0 %)

54 (12,0 %)

17 (3,8 %)

Bei gesundheitlichen Problemen weiß ich, an wen ich mich wenden muss.

277 (61,7 %)

88 (19,6 %)

50 (11,1 %)

17 (3,8 %)

17 (3,8 %)

Die Arztpraxen, zu denen ich gehe, sind barrierefrei gestaltet und gut erreichbar.

242 (53,9 %)

95 (21,2 %)

70 (15,6 %)

22 (4,9 %)

20 (4,5 %)

Ich habe das Gefühl, dass meinen Ärzten und Therapeuten das Wissen über das Krankheitsbild Spina bifida fehlt.

90 (20,0 %)

92 (20,5 %)

114 (25,4 %)

133 (29,6 %)

20 (4,5 %)

Es ist einfach für mich, meinen Arzt/meine Ärztin zu wechseln, wenn ich unzufrieden bin.

128 (28,5 %)

55 (12,2 %)

125 (27,8 %)

118 (26,3 %)

23 (5,1 %)

Ich muss weite Fahrten auf mich nehmen, um kompetente Ansprechpartner zu finden.

147 (32,7 %)

91 (20,3 %)

97 (21,6 %)

97 (21,6 %)

17 (3,8 %)

Weite Wege für eine gute Versorgung machen mir nichts aus.

123 (27,4 %)

71 (15,8 %)

119 (26,5 %)

122 (27,2 %)

14 (3,1 %)

494 | 12 Gesundheitliche Versorgung von Erwachsenen mit Spina bifida

Wege auf sich nehmen müssen, wobei deutlich weniger als die Hälfte der Stichprobe (n = 194, 43,2 %) der Aussage eher oder ganz zustimmte, dass weite Wege ihnen nichts ausmachten. In Tab. 12.2 ist die Beurteilung verschiedener spezifischer Aspekte der aktuellen Versorgungssituation der Erwachsenen mit Spina bifida dargestellt. Weitere Analysen haben gezeigt, dass Unterschiede in der Beurteilung der aktuellen Versorgungssituation bei Erwachsenen mit Spina bifida nach sozialen und gesundheitlichen Merkmalen bestehen. So zeigt sich beispielsweise, dass es den jüngeren Teilnehmern, Teilnehmern mit niedrigerem Schulabschluss und Erwachsenen mit Hydrocephalus schwerer fällt, Termine eigenständig zu planen.

12.4.3 Beurteilung der Behandlung durch Ärzte und andere Fachberufe Die Befragungsteilnehmer wurden um eine Beurteilung der Behandlung durch Ärzte und andere Fachberufe gebeten. Die Mehrzahl der Teilnehmenden empfindet die Behandlung durch Ärzte und andere Fachberufe als respektvoll. Ein Anteil von 12,0 % gab an, dass Ärzte und andere Fachberufe nicht ausreichend auf ihre Wünsche als Erwachsener mit Spina bifida eingehen. Etwa doppelt so viele Personen (24,2 %) beurteilten die zur Verfügung stehende Zeit bei der Behandlung durch Ärzte als nicht oder in geringerem Maße ausreichend. Bei den anderen Fachberufen traf dies auf einen geringen Anteil der Befragten zu (14,7 %). Auch bezüglich der anderen genannten Aspekte werden nichtärztliche Fachberufe (Therapeuten, Psychologen, Sozialarbeiter) leicht positiver eingeschätzt als Ärzte. Für etwas mehr als die Hälfte der Teilnehmenden (n = 228, 50,7 %) traf es nicht zu, dass die Ärzte sich untereinander austauschen. Etwa die Hälfte der Patienten (n = 232, 51,7 %) hat schon einmal erlebt, dass eine ärztliche Untersuchung wegen der übermittelten Befunde große Ängste auslöste. Eine Übersicht über die Beurteilung der Behandlung in verschiedenen Teilnehmergruppen zeigt Tab. 12.3.

12.4.4 Erwartungen an eine qualitativ hochwertige Versorgung Hinsichtlich Erwartungen und Wünschen an die gesundheitliche Versorgung sollten die Teilnehmer verschiedene Versorgungsaspekte bezüglich deren Wichtigkeit beurteilen. Dargestellt werden hier nur die Ergebnisse derjenigen Teilnehmer, welche den Fragebogen in der Papierversion ausfüllten (n = 374), weil bei der Online-Version des Bogens (n = 75 Teilnehmer) eine Antwortskala mit unterschiedlicher verbaler Verankerung verwendet wurde. Alle vorgegebenen Aspekte der Versorgung werden jeweils von der großen Mehrheit der Befragten als wichtig bzw. sehr wichtig beurteilt. Jeweils über 90 % der Befragten empfinden die folgenden Aspekte als wichtig bzw. sehr wichtig:

12.4 Ergebnisse

| 495

Tab. 12.3: Beurteilung der Behandlungen durch Ärzte und nichtärztliche Fachberufe. Trifft zu

Trifft eher zu

Trifft weniger zu

Die Ärzte behandeln mich mit Respekt.

299 (66,6 %)

104 (23,2 %)

31 (6,9 %)

1 (0,2 %)

14 (3,1 %)

Die anderen Fachberufe behandeln mich mit Respekt.

316 (70,4 %)

94 (20,9 %)

13 (2,9 %)

4 (0,9 %)

22 (4,9 %)

Die Ärzte gehen auf meine Wünsche ein.

217 (48,3 %)

164 (36,5 %)

49 (10,9 %)

4 (0,9 %)

15 (3,3 %)

Die anderen Fachberufe gehen auf meine Wünsche ein.

248 (55,2 %)

141 (31,4 %)

35 (7,8 %)

2 (0,4 %)

23 (5,1 %)

Die Ärzte nehmen sich ausreichend Zeit für mich.

193 (43,0 %)

134 (29,8 %)

87 (19,4 %)

21 (4,7 %)

14 (3,1 %)

Die anderen Fachberufe nehmen sich ausreichend Zeit für mich.

215 (47,9 %)

142 (31,6 %)

57 (12,7 %)

9 (2,0 %)

26 (5,8 %)

Meine Ärzte tauschen sich untereinander aus.

115 (25,6 %)

82 (18,3 %)

138 (30,7 %)

90 (20,0 %)

24 (5,3 %)

Ich wünsche mir, dass sich meine Ärzte und die anderen Fachrichtungen regelmäßig über meine Behandlung austauschen.

274 (61,0 %)

64 (14,3 %)

44 (9,8 %)

41 (9,1 %)

26 (5,8 %)

Ich habe schon erlebt, dass eine ärztliche Untersuchung große Ängste wegen der übermittelten Befunde bei mir ausgelöst hat.

169 (37,6 %)

63 (14,0 %)

90 (20,0 %)

108 (24,1 %)

19 (4,2 %)

– – – – –

Trifft nicht zu

Fehlende Angaben

ausreichend Zeit der medizinischen Ansprechpartner, umfangreiche Kenntnisse der medizinischen Ansprechpartner über das Krankheitsbild Spina bifida, Eingehen auf individuelle Probleme und die Lebenssituation im Rahmen der Versorgung, von den Behandlern als Mensch (und nicht nur als Patient) gesehen werden, dauerhaft die gleichen medizinischen Ansprechpartner haben.

Abb. 12.2 zeigt die relative Häufigkeit der Beurteilung einzelner Aspekte der gesundheitlichen Versorgung als wichtig oder sehr wichtig.

496 | 12 Gesundheitliche Versorgung von Erwachsenen mit Spina bifida

100 % 90 % 80 % 70 % 60 % 50 % 40 % 30 % 20 % 10 %

W oh n

or tn Ba äh rri e Ke er nn ef tn r au ei is he se sr it ei be c h zü en gl d ic W Ze h Ei ah it Sp ng rn eh in eh a en m bi un au fid g fi a a nd l s se iv M id lb en e ue sc An h lle sp S re i t ua ch pa tio rtn n An er la /uf in st ne el le n fü rN ot fa ll

0%

Abb. 12.2: Relative Häufigkeiten ausgewählter Versorgungsaspekte (Kategorie: wichtig oder sehr wichtig, Angaben in %).

12.4.5 Einschätzung zukünftiger Versorgungsmodelle Darüber hinaus wurden die Erwachsenen mit Spina bifida zu ihren Vorstellungen von einer optimalen Versorgungsform befragt. Hier wurden den Teilnehmern verschiedene Versorgungsmodelle vorgelegt, aus denen sie die am besten zutreffenden auswählen konnten (Mehrfachantworten erlaubt). Die drei am häufigsten angegebenen Optionen sind demnach die Behandlung in einem Spezialzentrum für Spina bifida (n = 251, 55,9 %), die Behandlung bei niedergelassenen Ärzten in einem Netzwerk für Spina bifida (n = 196, 43,7 %) sowie die Behandlung in einem Spezialzentrum für Erwachsene mit körperlicher Behinderung oder in einem Querschnittszentrum (n = 146, 32,5 %). Die Häufigkeiten aller im Fragebogen enthaltenen Versorgungsoptionen zeigt Abb. 12.3. Unter den Antwortenden ließen sich geringe Differenzen zwischen den Subgruppen feststellen.

12.5 Diskussion Die Studie liefert umfassende Daten zur sozialen und gesundheitlichen Lebenssituation von Erwachsenen mit Spina bifida und liefert Einsichten in die medizinische Ver-

12.5 Diskussion

|

497

70 % 60 % 50 % 40 % 30 % 20 % 10 % 0% SZ (1)

SZ (KB) (2) SPZ (3)

Ärzte, NW (4)

Ärzte, CM (5)

selbst (6)

etwas anderes

Abb. 12.3: Relative Häufigkeiten der Auswahl vorgegebener Versorgungsformen (Kategorie: optimal, Angaben in %). (1) Spezialzentrum für Spina bifida, (2) Spezialzentrum für Erwachsene mit körperlicher Behinderung oder Querschnitts¬zentrum, (3) Weiterbehandlung im sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ), (4) Behandlung bei niedergelassenen Ärzten in einem Netzwerk für Spina bifida, (5) Behandlung bei niedergelassenen Ärzten mit einem Case Manager und (6) Selbstorganisation der medizinischen Versorgung bei niedergelassenen Ärzten.

sorgung und deren Versorgungsqualität. Mit der erzielten Teilnehmerzahl stellt sie – auch im internationalen Vergleich – eine der größten Erhebungen dar. Zudem liefert sie mit dem eingesetzten, in weiten Zügen neu entwickelten Fragebogen eine Fülle von neuen Informationen zur Lebens- und Versorgungssituation und füllt damit eine bestehende Erkenntnislücke. Hervorzuheben ist, dass der Fragebogen auf Basis von Experteninterviews mit Betroffenen und Experten entwickelt und intensiv im Vorfeld der Erhebung durch unterschiedliche Akteursgruppen getestet wurde. Damit ist er ein gutes Beispiel dafür, wie in empirischen Studien eine enge Beteiligung der Nutzer (user involvement) von Versorgungsangeboten gelingen kann. Eine Abschätzung der Repräsentativität kann aufgrund der fehlenden Kenntnis zur Gesamtzahl der Erwachsenen mit Spina bifida in Deutschland (Grundgesamtheit) nicht geleistet werden. Eine Bewertung der Repräsentativität wurde mit den vorliegenden Erkenntnissen aus der Versorgungspraxis und den an der Studie beteiligten Experten vorgenommen. Die Daten der Studie sind als eingeschränkt repräsentativ zu beurteilen, weil beispielsweise überproportional Frauen und Männer mit höheren Bildungsabschlüssen erreicht werden konnten. Dies ist sicher der quantitativen Erhebung mit einem umfangreichen Fragebogen geschuldet. Um diese Problematik abzumildern, wurden alternative Beteiligungsmöglichkeiten angeboten (z. B. persönliches Interview), die jedoch selten in Anspruch genommen wurden. Durch das Multi-Methoden-Design der Studie und die qualitativen Interviews ist eine Absicherung der Aussagekraft der Daten möglich. Die vorgestellten Ergebnisse geben einen sehr guten Einblick in die Heterogenität von Erwachsenen mit Spina bifida. Diese findet sich sowohl hinsichtlich der eigenen sozialen und gesundheitlichen Situation als auch bei der Versorgungssituation, der Inanspruchnahme von Versorgungsleistungen und der Erfahrungen und Erwartun-

498 | 12 Gesundheitliche Versorgung von Erwachsenen mit Spina bifida

gen an eine gute medizinische Versorgung. Die Ergebnisse zeigen, dass Erwachsene multidisziplinär versorgt werden. Im Durchschnitt haben daran fünf bis sechs unterschiedliche medizinische Fachdisziplinen und Gesundheitsberufe Anteil. Allerdings ist damit nicht unbedingt die in der Literatur geforderte Versorgung [23, 30, 32] mit einem multidisziplinären Team gegeben. Auf diese Situation weisen auch die Experten in den Experteninterviews hin, die erhebliche Versorgungsprobleme benennen. Mit der Gesetzesänderung sind hier deutliche Verbesserungen zu erwarten; eine abschließende Bewertung ist derzeit noch nicht möglich. Die Studie zeigt Problembereiche auf, die sich stark auf die Versorgungsqualität und die Zufriedenheit mit der Versorgung auswirken. Hervorzuheben ist die aus der Sicht der Erwachsenen mit Spina bifida unzureichende Konsultationszeit, das mangelnde Wissen der Ärzte zum Krankheitsbild Spina bifida, der fehlende Austausch zwischen den an der Behandlung beteiligten Ärzten, sind die langen Anfahrtswegen und ist die Schwierigkeit, den Arzt wechseln zu können. Diese Probleme sind insbesondere in der ambulanten Versorgung vorzufinden und können auch zu Defiziten in der Versorgung (Fehl- und Unterversorgung) führen. In den internationalen Studien konnten solche Probleme beschrieben werden [1, 19, 23, 33], eine vergleichbare Auswertung liegt für Deutschland jedoch nicht vor. Die qualitativen Experteninterviews dieser Studie weisen auf solche Versorgungsprobleme hin. Die kontinuierliche Begleitung und Anleitung spielt für eine gute medizinische Versorgung eine wichtige Rolle. Die Daten zeigen, dass Hausärzte eine wichtige Rolle spielen. Entsprechend sind eine gute Kenntnis des Krankheitsbildes sowie die Vernetzung mit anderen Fachärzten entscheidend für die Versorgungsqualität der betreuten Patienten. Die Ergebnisse geben einen wichtigen Hinweis darauf, dass die Inanspruchnahme von Kontrollterminen nicht durch alle Befragten wahrgenommen wird. Jede/r siebte Teilnehmer/in gibt an, nie oder nur im Falle von Problemen zu Kontrollterminen zu gehen. Dies scheint nach Lage der Literatur ein möglicher Risikofaktor für prinzipiell vermeidbare Komplikationen wie Harnwegsinfektionen oder Geschwüre zu sein [1, 18, 19, 23]. Zur Organisation und Einhaltung von Terminen gibt etwa ein Viertel der Teilnehmer der quantitativen Befragung an, Schwierigkeiten bei der eigenständigen Terminplanung zu haben. Ein Drittel der Befragten wird nach eigenen Angaben diesbezüglich durch die Eltern unterstützt. Die Experteninterviews bestätigen diese Ergebnisse und machen deutlich, dass die betreuenden Ärzte bzw. Angehörigen der Gesundheitsberufe ein gutes Gespür für jeden Einzelnen entwickeln müssen, um mögliche Gesundheitsgefahren frühzeitig zu erkennen. Die Selbstfürsorge kann aus Expertensicht aufgrund kognitiver Einschränkungen und einer hiermit einhergehenden weniger differenzierten Selbstwahrnehmung erschwert sein und zu einer Überschätzung der eigenen Möglichkeit bzw. zu einer Unterschätzung der Gefahrensituation führen.

12.6 Fazit

| 499

12.6 Fazit Die vorgestellten Ergebnisse stellen nur einen kleinen Ausschnitt der im Rahmen der Studie zur Lebens- und Versorgungssituation von Erwachsenen mit Spina bifida erhobenen Daten dar. Einige der Versorgungsprobleme lassen sich kurzfristig, andere eher mittel- und langfristig lösen. Die vorhandenen Defizite in den Kenntnissen zum Krankheitsbild Spina bifida könnten durch Integration in die Aus-, Fort- und Weiterbildung ausgeräumt werden. Hier sollte eine enge Zusammenarbeit mit den Betroffenen und der Selbsthilfe erfolgen und sollten die Erfahrungen und Wünsche Eingang finden. Die Entwicklung von neuen spezialisierten Versorgungsformen, den MZEB, ist eine große Chance, nicht nur für die Erwachsenen mit Spina bifida eine deutliche Verbesserung der Versorgungssituation und -qualität zu erreichen. Die Studie konnte wesentliche Qualitätskriterien entwickeln, die sowohl die Sicht der Erwachsenen mit Spina bifida als auch der professionellen Akteure umfasst. Einige der Eckpunkte sind hier mit den genannten Erwartungen skizziert. Eine wesentliche Voraussetzung für das Gelingen ist, dass von der komplexen und heterogenen Lebenssituation von erwachsenen Menschen mit Behinderungen ausgegangen wird und diese in neue Versorgungsangebote konzeptionell integriert wird, indem beispielsweise weitere über die medizinische Versorgung hinausgehende Angebote, wie z. B. psychosoziale Beratung, Sexualberatung, ermöglicht werden und eine enge Zusammenarbeit mit der wohnortnahen Versorgung und anderen Versorgungsystemen erfolgt.

Förderung Die Studie wurde durch eine großzügige Privatspende einer betroffenen Mutter ermölicht und in Kooperation mit dem Sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ) der CharitéUniversitätsmedizin Berlin durchgeführt.

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Stichwortverzeichnis Symbole 4-Phasengang 299, 301 4. Ventrikel 57, 60 ff., 24 f., 59, 79 f., 100 5-Methyltetrahydrofolat siehe Folatstoffwechsel

A Adrenarche 147, 153 – prämature 153 Aggression 423, 443, 446, 450, Allgemeines Gleichstellungsgesetz 270 Alpha-Feto-Protein 26 Amniocentese 17, 26, 41, 253 Anencephalie 4 f. Anticholinergika siehe Antimuskarinika Antimuskarinika 199 ff., 203 – Nebenwirkungen 200 – Oxybutynin intravesikal 200 – Wirkstoffe 200 Aquäduktstenose 57, 59 ff., 62, 67, 79 Arbeitsgemeinschaft Spina bifida und Hydrocephalus (ASBH) 33, 434, 479 ff. – Landesverbände 483 – regionale Selbsthilfegruppen 483 Armspannweite 147 ff., 155 f. Aszension 113 – Aszensionshemmung siehe Tethered cord Atemstörung, schlafbezogene 86 ff., siehe auch Chiari II Malformation – Diagnostik 90 ff. – Epidemiologie 89 – Formen 89 – Pathophysiologie 88 f. – Therapie 93 ff. – CPAP-Versorgung 93 – Heimbeatmung 94 – Chiari-Dekompression siehe dort 95 Aufklärung, sexuelle 240, 266 f. Aufmerksamkeit 407 ff., 426 – Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom 407, 426 – Aufmerksamkeitsschwäche 408, 409 – Aufmerksamkeitssystem, posteriores 408 Aufrichtung 305, 307, 407 Autonomie 257, 271, 411, 427, 440 Autonomieentwicklung 261 ff., 441, 448, 451

B Balken, Dysgenesie 81 f., 108, 407 f. siehe auch ZNS, Fehlbildungen Banana sign siehe Sonographie, pränatal Barrierefreiheit 255, 269, 271 f., 496 Beckenboden, Funktionszustand 170 – Hyperaktivität 165 f., 201 ff., 212 – Hypoaktivität 167 f., 210, 212 – Muskelpotentiale Sphincter ani externus 172 Behaarung siehe Dysraphie, okkulte Behandlungsziel 389, 418, 421 ff. Behindertengleichstellungsgesetz (BGG) 270 Behinderung – Definition juristisch 271 – Behindertenrechts-Konvention der Vereinten Nationen 271 – Bürgerliches Gesetzbuch 271 – Sichtweise, neuropsychologisch 424 ff. Beinvenenthrombose – Symptome 249 Beratung, humangenetische 37, 250 – Wiederholungsrisiko 2, 37, 250 Beugekontraktur 295, 313 f. Bindungstheorie siehe Entwicklungspsychologie Bindungsverhalten 439 f., 446 Blake’s-Pouch-Zyste 61 Blasenaugmentation 174, 207 ff., 252 – Komplikationen 208 ff. – Risiken 208 ff. Blasencompliance 159, 188, 202, 219 Blasenhalssuspensionstechnik 211 Blasenkapazität 164 f., 167, 172, 211, 219, 251 Blasensensibilität 164, 207 Blasen-Sphinkter-Dysfunktion, neurogene 164 ff., 197 ff. – Diagnostik 169 ff. – Klassifikation 163 ff., 201 – Läsionsmuster 162 Blasentagebuch 171 f., 177 Blasenwand, Kollagenisierung 201 ff. Body-Mass-Index 147, 155 Bone age siehe Knochenalter Botulinumtoxin-Therapie 206, 310, 399 – Dosierung 207 – Indikation 206 f. – Kontraindikation 207 Bundesarbeitsgemeinschaft Selbsthilfe 479

504 | Stichwortverzeichnis

C Cauda equina 113 Chiari-II-Malformation 18, 76 ff., 97 ff. 119, 353, 395, 402 – Besonderheiten, anatomische 99 f. – Bildgebung 79 ff., 100 – Dekompression, kraniozervikale 95, 97 ff. – Indikation 100 f. – Technik, operative 101 ff. – Neurophysiologie 84 ff. – Prävention 98 f. – Symptome 77 f., 98 – Hirnstammdysfunktion 77 f., 85, 100 Cisterna magna 20 Clean intermittent catheterisation (CIC) siehe Einmalkatheterismus, sauberer Conus medullaris 113, 120, 131 f., 126 Copingverhalten 432, 437 Craniorachischisis 4 f., 7 Cystatin C 174, 190 f. D Dandy-Walker-Malformation 61 Darmentleerungsstörung, neurogene 223 ff. – Diagnostik 224 – Therapie 224 ff. Darmirrigation, retrograde (siehe auch Enddarmspülung, retrograde) 219 Darmmanagement 219, 229 Darmspülung, antegrade siehe MACE-procedure Dekubitus 231 ff., 492 – Schweregrade 236 – Therapie 237 f. – Prophylaxe 236 f. Depression 395, 411, 448, 451 Dermalsinus 5 f., 114, 113 f., 122 ff., 131 Detrusorfunktion 163 – Detrusorhyperaktivität 164 f., 166, 175, 201 ff., 210 – Detrusorhypoaktivität 164 f., 212 f. Detrusor-Leak-point pressure 172 Detrusor-Sphinkter-Dyssynergie (DSD) 164, 169, 201 f., 211 Diagnoseeröffnung 422 Diagnosegespräch 28 ff. – postnatal 36 f. – pränatal 30 ff. Diarrhö 228 – Überlaufinkontinenz 228

Diastematomyelie siehe Split cord Malformation Diplomyelie siehe Split cord Malformation DMSA-Szintigraphie 187 Drittventrikulostomie, endoskopische 62, 65, 67 Druckgeschwür siehe Dekubitus Durchlaufblase 210 Dysfunktion, erektile – Therapie 242 f. Dysfunktion, sexuelle – männliche 241 f. – Therapie 242 ff. – weibliche 244 f. – Therapie 245 Dysraphie 5 ff., 128, 132 Dysraphie, okkulte 7, 132, 169 f. – Hautveränderungen 113 f., 122 E Einmalkatheterismus, sauberer 197, 199 Einmalkatheterismus, aseptischer 199 Ejakulation 241 ff. – retrograde 242, 244 Elternberatung 399 Empowerment 486 Enddarmspülung, retrograde 226 f. – Spülflüssigkeit 227 Entwicklungsdiagnostik siehe Entwicklungsneurologie Entwicklungsneurologie 396 f. – Entwicklungsförderung 396 f., 417 f. – Behandlungsverfahren 397 ff. – Frühförderung 396, 399 – Entwicklungsstörungen 395 – Therapieforschung 397 Entwicklungspsychologie 439 ff. – Bindungstheorie 439 – Intersubjektivität 441, 446 – Konzept der Feinfühligkeit 440 – Säuglingsforschung 438, 441, 454 Enzephalocele 1, 4 Epilepsie 110 f., 264, 402, 425, 492 – Häufigkeit 110 f. – Faktoren, anfallsauslösende 111 Epiphysenfugenverletzung 322 ff. – Symptomatik 324 ff. – Therapie 326 – Ursache 323 Erektionsfähigkeit 240 f.

Stichwortverzeichnis

Ersttrimesterscreening 17 Erwachsenenversorgung 487 ff. – Lebenssituation 496 f. – Versorgung, gesundheitliche 487 ff. – Versorgung, aktuelle 489 ff. – Versorgungsqualität 497 – Versorgungsmodelle 496 Exekutivfunktionen 405, 410 f., 425 F Familienplanung 239 – Beratungsstelle 267 Familienhilfe, sozialpädagogische 475 f. Fehlbildungen, assoziierte zerebrale 107 Fehlbildungen, spinale 113 ff., siehe auch Tethered cord Fehlbildungsmonitoring 13 Fertilität 240, 246, 264 – Frau 244, 264 – Mann 264 – Sterilisation 264 Fetalchirurgie 26, 31 f., 38 ff. – Ergebnisse (siehe auch MOMS-Studie) 32, 43, 45 – Komplikationen (siehe auch MOMS-Studie) 43 – Risiken 43 Fetozid 26, 35 Filum terminale 5, 52, 131 f., 136 Folatstoffwechsel 2, 9 Folatversorgung 11 Folsäure 9 ff. – Supplementierung 10 – Anreicherung 12 – Prophylaxe , Dosisempfehlung – allgemein 11 – bei erhöhtem Risiko 12 – bei Frauen mit Spina bifida 250 Fraktur, pathologisch 322 – Knochendichte 152, 323, 327 – Symptom 324 – Therapie 326 – Ursache 323 Frontalpendel 294, 298 f., 339, 353, 382 Fußdeformität – Ballenhohlfuß 310 – Hackenfuß 308 – Klumpfuß 308 – Knickfuß 309, 310 – Metatarsus adductus 310

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– Spitzfuß 308 – Talus verticalis 309 G Gastrulation 5 Geburt 48 ff. – Bonding 49 – Geburtsmodus 48 – Geburtshindernis, zephalopelvines 48 Geburt, Frauen mit Spina bifida 254, 263 – Geburtsleitung 254 – Perinatalzentrum 254 Gedächtnis, Leistungen 409 f. – Arbeitsgedächtnis 410 – Gedächtnis, explizit 410 – Gedächtnis, implizit 410 – Langzeitgedächtnis 409 Gesundheit, sexuelle siehe Sexualität Glomeruläre Filtrationsrate (GFR) 188 ff. Glycinstoffwechsel 2 H Hairy patch siehe Dysraphie, okkulte Harnableitung, temporäre 203 f. – Blasenhautfistel 203 – Dauerkatheter, nächtlicher 203, 219 – Katheter, subrapubischer 203 Harnblase, Anatomie 160 Harninkontinenz 159, 164, 197, 211 Harntrakt, oberer 159, 186, 197 f., 202, 212 Harntrakt, radiologische Darstellung 169, 172, 174 Harntrakt, unterer 159 ff., 197 – Anatomie 160 – Physiologie 161 f. Harntransportstörung 184 Harnwegsinfekt, asymptomatischer 217 Harnwegsinfekt 202, 217 ff. – Symptome 217 – Prophylaxe 218 ff. – Therapie 218 Hautanhängsel siehe Dysraphie, okkulte Heilmittel 399 Heil- und Hilfsmittelkatalog 399, 463 Herzfehler 11 Hilfsmittel – orthopädische 287 ff., 333 ff. – Inkontinenzhilfsmittel 231 f., 273 – Pflegehilfsmittel 472

506 | Stichwortverzeichnis

Hilfsmittelversorgung 399, 414, 463 Hochdruckblase 201 f. Hodenhochstand 147 Homocystein 9 Hüftbeugekontraktur 316, 319 – Operation 317 Hüftdysplasie, angeboren – Beugespreizbehandlung 316 – Ultraschall siehe Sonographie Hüftdysplasie, sekundär – Arthrose 320 – Operation 318 ff. Hüftluxation, angeboren 316 Hüftluxation, sekundär – Operation 318 Hüftstrecker 288, 294 Human Growth Hormon 155 Hydrocephalus 54, 57 ff., 99, 140 ff., 187, 239, 252 f. – Aufmerksamkeit 405 ff. – Diagnostik, bildgebende 59 ff. – Intelligenz 401 ff. – Symptome, klinische 57, 64 – Blickparese, vertikale 57 – Sonnenuntergangsphänomen 57, 64 – Therapieverfahren 65 – White matter disease 403 Hyperlordose 294, 334 Hypertonie, arterielle 191 f., 248 Hypothalamus-Hypophysen-Achse 147

I Identität 440, 448 Identität, sexuelle 258, 269 – Identitätsentwicklung 257 Infertilität, männliche – Therapie 243 Inklusion 255, 388 f., 404, 483 Inkontinenz (allgemein) 231, 262 f., 272 f. Inkontinenzhilfsmittel siehe Hilfsmittel Inkontinenzmanagement 482 Intelligenzquotient 404 Intelligenzstruktur 405 ff. – nonverbale Intelligenz 409 – visuell-räumliche Fähigkeiten 412 ff. – Verarbeitungsgeschwindigkeit, kognitive 409 – Verbalintelligenz 405

Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF) 307, 370, 378,421,

K Katheterisierungstechnik 219 – Anleitung 232 ff. – Kathetermaterial 233 f. Katheterismus, intermittierender (IK) 198 ff., 212 – Selbstkatheterismus (ISK) 197, 233, 274 – Fremdkatheterismus 198 Kinderrollstuhl siehe Rollstuhl Kinderwunsch 244, 261, 263 Kleinwuchs siehe Längenwachstum Kniebeugekontraktur 312 – Epiphyseodese, anterior 313 – Femurextensionsosteotomie 313 Kniedeformität – Tibiarotation 314 – Valgusabweichung 295, 314 Knieschmerzen 315 Knochenalter 147 ff., 191 – Bestimmung 148 Knochendichte siehe Fraktur Kognition – Entwicklung 402 ff. – Defizit, neurokognitives 425 ff. Kontinenz – Blase 159 ff., 199, 212 – Darm 224,229 – soziale 198, 213, 228 f. Kontrazeption 247 f., 263 f., 266 – Kondom 247, 264, 284 – Ovulationshemmer 247 – Kontraindikation 248 Krankenversicherung, gesetzliche 462 ff. – Familienversicherung 462 – Haushaltshilfe bzw. Familienpflege 464 f. – Krankenpflege, häusliche 463 f. Krankheitsverarbeitung siehe auch Krisen 421 Krisen 429 ff. – Bewältigungsmöglichkeiten 429 – Ressourcen 423, 430, 433 f. – Copingverhalten 432, 437 – Krisenintervention 423, 429 ff. Kyphose 329 f.

Stichwortverzeichnis

L Längenwachstum 148 ff. – Endgröße 148, 151 – Faktoren, wachstumslimitierende 148 – Kleinwuchs 148, 155 – Wachstumsgeschwindigkeit 148 – Zielgröße, genetische 149 Lateralventrikel 18 f. Latexallergie 49, 129, 277 ff. – Allergiepass 283 – Diagnostik 277 f. – Hautpricktest 277 f. – Provokationstest 277, 279 – IgE-Bestimmung, spezifisch 277 f., 284 – Empfehlungen Produkte 282 – Prävalenz Atopie 277, 281 – Präventionsmaßnahmen 281 ff. – Primärprävention 281 – Handschuhe latexfrei 49, 226, 247, 282, 284 – Kondome, latexfrei 247, 264 Latexsensibilisierung 247, 277 ff. – Prävalenz 280 f. Lebensqualität 112, 160, 268, 432, 488 Leistung, schulische 415 f. Leistungsschwankung 407 Lemon sign siehe Sonographie, pränatal Lernen 409 ff. – Lernschwierigkeiten 401, 410 f. – Mathematik-Schwäche 412 f. – Schwäche räumlich-konstruktiv 413 ff., 425 – Lernstrategie, ineffiziente 409 f. Liquorfistel 54 f., 65, 103 f., 139, 143 Liquorpolster 55, 69 Liquorzirkulationsstörung 57,63,77 Lipom, spinales 5, 114, 124 f., – Klassifikation 135 ff. – Operation, prophylaktische 134 f. – Ergebnisse 135 – Operationstechnik 137 ff. Lipomyelomeningocele 5 f., 114, 126, 136 Lippen-Kiefer-Gaumenspalte 11, 17 M MACE-Procedure 227 MDK, Begutachtung 464, 468 f. Megakolon 225 Menarchealter 153 Meningocele 4 f. Menschenrechte 255

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Menschenwürde 271 Merkzeichen siehe Schwerbehindertenausweis Messparameter, auxologische 147 Miktionssteuerung 161 Miktionsurosonographie siehe Sonographie Miktionszyklus 160 Miktionszysturethrogramm 171, 175 Minimal invasiver fetaler MMC-Verschluss 45, siehe auch Fetalchirurgie MOMS-Studie 32, 41, 46 – Ergebnisse 32, 43, 45 – Komplikationen 43,45 MTHFR-Gen-Polymorphismus 10 Muskelimbalance 288, 309 f., 313, 370, 379 Myelinisierung siehe Hydrocephalus Myelocystocele 5 Myelomeningocele 4 f., 21 Myeloschisis 21 N Narzissmus 441, 448, 451 Neuralrohrdefekt 1 – Ätiologie 1 – Faktoren, genetische 1 f. – Faktoren, nicht genetische 1 f. – Klassifikation 4 ff. – Prävalenz 1 – Wiederholungsrisiko 2 Neuropsychologie 404, 407, 413 Neurulation, primäre 5 Neurulation, sekundäre 5 Nicht-invasive Pränatale Testung (NIPT) 21 Nierenersatztherapie 191 – Hämodialyse 192 – Nierentransplantation 192 – Peritonealdialyse 192 Nierenfunktion, Monitoring 188 f. – Filtrationsrate, glomeruläre 189 – Cystatin C 190 f. Nierenfunktionsverlust 186 ff., 192, 217 – Risikofaktoren 187 – Risikoevaluation 187 Niereninsuffizienz, terminale 186, 191 ff. Nierenparenchymnarben 187, 217 f., 220 O Obstipation 219, 223 ff. – Therapie 225 ff. Obstruktion, subvesikale 164, 166, 202

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Oligohydramnion 32, 43 Orgasmus 239, 242, 245, 262 Orthese 333 ff. – Aufbau 334 ff. – Carbonfederorthese 293, 342 f. – Denis-Browne-Steg 291 – dynamische Sprunggelenksorthese 341 – Fußaußenrotation 336 – Gehtraining 383 ff. – Hüftgelenksachse 334 – Handhabung 381 f. – Kniedrehpunkt 338 – Lagerungsorthese 338, 346 – Oberschenkelorthese 295, 340 – Sprunggelenk, Anschlagwinkel 334, 336 – Talus-Reposition-Ringorthese 341 – Unterschenkelorthese 291, 293, 342 – Vorfußhebel 336 Orthese, beckenübergreifend – Einstellung 350 – Hüftdrehpunkt 338 – RGO 348 f. – Salera 301,347 f. – Schwenklaufhilfe 304,351 – Twister 302, 348 f. – Versorgung 351 P Parasympatholytika siehe Antimuskarinika Partizipation 421, 488 Peer Councelling 485 Peergruppe 259 Pflegefachkraft, Aufgaben 231 ff. Pflegekasse siehe Pflegeversicherung Pflegepersonen 472 – Alterssicherung 472 Pflegeversicherung 466 ff. – Leistungen 470 – Pflegebedürftigkeit 467 f. – Kriterien 467 f. – Pflegegrade 468 – Pflegestärkungsgesetz II 466 Physiotherapie 365 ff. 397 – Bewegungsangebot 387 ff. – Dehnung 370 – Entwicklung, motorisch 367, 371 ff. – Kontrakturbehandlung 370 – Raumerfahrung 379 – Therapieende 390

– Therapieplanung 378 – Therapieziel 379 – Untersuchung 369 – Vojta/ Bobath 397 Plakode 42, 49, 51 ff., 115 f., 125, 136 ff., 142 f. Plantarflexoren 290, 313 Posturalerziehung 298 Pubarche 153 Pubertas praecox 148, 153, 245 – Kriterien 148 – Therapie 153 Pubertät 169, 176, 239, 258, 449 – urologische Aspekte 176, 211 Pubertätsentwicklung, Stadien 148 – frühnormale 148, 153 – vorzeitige siehe Pubertas praecox Punktionsreservoir 65 Pyelonephritis 159, 174 f.,184, 217 f. R Reflux, vesiko-uretero-renaler 164, 180, 184, 187, 205 – Antirefluxoperation 206 – endoskopische Antirefluxplastik 206 Regressionssyndrom, kaudales 6, 179 Rehabilitationspsychologie 433 – Beratung, sozialrechtliche 434 – Familienberatung 433 f. – Patientenschulung 433 f. Rehabilitationsziel 287 Rekurvation 299 Reproduktionsfähigkeit 239 Rollstuhl 358 ff. – Fortbewegung 388 Rollstuhlsportgruppe 480 Rumpfstabilität 303 S Scham 442 ff., 454 – Schamdynamik 447 f. Schuldgefühl 444 ff., 455 Schwangerschaft, Frauen mit Spina bifida 250 ff., 263 – Betreuung, interdisziplinäre 252 – Mutterschaftsvorsorge 252 – Probleme 251 – Harnwegsinfekte 251 – Shunt-Komplikationen 252

Stichwortverzeichnis

Schwangerschaftsabbruch – Straflosigkeit 33 Schwangerschaftskonfliktgesetz 33 – Beratungspflicht 33 – Mindestbedenkzeit 33 Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle 34 Schwangerschaftsverhütung siehe Kontrazeption Schwenklaufhilfe siehe Orthese, beckenübergreifend Schwerbehinderung 476 f. Schwerbehindertenausweis 477 – Grad der Behinderung 468, 477 – Merkzeichen 478 Screeningprogramme, auxologische 155 f. Sectio, primäre 49 Selbsthilfe 265, 479 ff. – Selbsthilfeförderung 482 – Selbsthilfegruppe 34, 479 ff. Selbstkonzept 427 f. Selbstwertgefühl 257 ff., 359, 388, 443, 488 Sensibilitätsstörung Haut 235 – Risiko Hautschäden 235 Sexualität 439 ff., 446, 488 – Gesundheit, sexuelle 268 – Gewalt, sexuelle 247, 264 f. – Hilfestellungen 261, 265 f., 269 – Inkontinenz 241, 262 f., 273 – Selbstbestimmung, sexuelle 255, 261 f., 265 ff. – Sexualbegleitung 260, 264 f. – Sexualberatung 260, 499 – Sexualerziehung 239 f., 258, 265 ff., 449 – soziale Behinderungen 258 f. – Übergriff, sexueller 240 – Wunsch, sexueller 238, 255, 269 Shunt 54, 65 ff., – ventrikuloperitonealer 60, 65 ff., 180, 331 – freie Flüssigkeit 180, 185 – ventrikuloatrialer 192 f. Shuntimplantation 32, 40 f., 112 Shuntinfektion 4, 65, 70 ff., 111, 193 – Vermeidung, Protokolle zur 72 Shuntkomplikationen – mechanisch 68 ff. – Schwangerschaft 251 ff. – Überdrainage 65, 67, 72 ff., 99, 106, 111 – Schlitzventrikelsyndrom 72, 111 – Unterdrainage 69, 111

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Shuntnephritis 192 f. – Differentialdiagnose 192 – Symptome 192 Shuntrevisionen 101, 424 f. Sitzkorsett 303, 305 f., 357, 376 Skoliose 77, 115, 144, 151, 305, 329 ff., 353 f., 380 – Beckenschiefstand 331 – Fusion, lumbosakral 330 f. – Korsett 329, 353 ff., 381 – Aufgabe 356 f. – Gipstechnik 355 – Operation 330 f. – Untethering 144, 327 Sonographie, Harnblase 180 f. – Blasenwand 181 f. – Miktionsurosonographie 184 – Restharn 182 Sonographie, Niere 171, 184 – Dopplersonographie 179 f., 184 Sonographie, pränatal 17, 83 – Banana sign 18 ff., 31 – fetale Wirbelsäule 20 f. – indirekte Kopfzeichen 18 – intrakranielle Transluzenz 24 – Lemon sign 19 ff., 31 Sonographie, Säuglingshüfte 316 Sonographie, Schädel – transfontanellär 70 – transkraniell 59, 64 Sonographie, spinal 126 ff. Sonographie, vesiko-uretero-renaler Reflux 180, 184 Sozialhilfe 462, 473 – Eingliederungshilfe 473 f. – Hilfe zur Pflege 472 Sozialpädiatrie 396 Sozialrecht 461 ff. – Beratung, sozialrechtliche 434 – Leistungsgesetze, sozialrechtliche 462 – Sozialleistungsträger 471 – Sozialgericht 462, 471 Spermien, Qualität 244 Sphinkter-Detrusor-Dyssynergie 188, 218 Sphinkteraktivität (Blase) 164,198 – Sphinkter, Hyperaktivität 164 f., 201 ff. – Sphinkterinkompetenz 210 – Sphinkterinsuffizienz 159, 164, 210 Sphinkterschwächung, endoskopisch 205

510 | Stichwortverzeichnis

Sphinktersystem nach Scott 211 f. SPIKES-Modell 29 Split cord Malformation 37 f., 146, 148, 157, 159, 162 Sprache 405 ff. – Sprachgebrauch 405 f. – verbale Fähigkeiten 416 – Sprachverständnis 405 f. Sterilisation siehe Fertilität Stoma, kontinentes 197 – Mitrofanoff-Ventil 212 f. – Stomastenose 213, 227 Stuhlinkontinenz 170, 223 Stuhlkontinenz (siehe auch Kontinenz) 219 Syringo-/Hydromyelie 77 f., 79, 95 T Teilhabe 255 f. , 270, 396 f., 421, 476 – Teilhabeansprüche 476 – Teilhabeleistungen 476 ff. Tethered cord 113, 115, 129 ff., 135, 141 – Bildgebung 120 ff. Tethered cord, primäres 113 – Hautauffälligkeiten 113 f. – Therapie, operative 129 ff. – Dermalsinus 131 – Filum terminale 131 f. – Lipom siehe dort – Split cord Malformation 130 – Operationsresultate 132 f. Tethered cord, sekundäres 115, 141 – Operationsindikation 141 – Operationstechnik 141 ff. – Ergebnisse 143 Tethered cord Syndrom 115 f., 119, 141 ff.,169, 308, 331 – Evozierte Potentiale 117 ff. – Symptome 115 Therapieforschung 397 f. Thromboserisiko 248 f. Transition (siehe auch Erwachsenenversorgung) 434, 488 f. Two-hit-pathogenesis 31, 39 U Überbehütung 448 ff. Überdrainage siehe Shuntkomplikationen Übergriff, sexueller siehe Sexualität

Überlaufinkontinenz 164 f., 212, 228 Überwachung, nephrourologische 169 f., 187 – Untersuchungszeitpunkte 174 ff. Ultraschall siehe Sonographie Untersuchung, urodynamische 163, 170, 172, 187 – Durchführung 171 ff. – Leakpoint-Pressure 172, 187 f. – Reflexievolumen 172 – Video-Urodynamik 171 ff. – Zystomanometrie 171 Urindiagnostik 171, 174 – Urinkultur 171, 217, 331 Urodynamik siehe Untersuchung, urodynamische Urosepsis 186, 218 V Valgusprophylaxe siehe Kniedeformität Vaterrolle 451 Ventil – Differenzdruck 66 – gravitationsassistiertes 66, 73 f., 99 – verstellbares 66 f., 99 Ventrikeldrainage, externe 65 Verhaltensauffälligkeiten 90, 395 Verhaltensstörungen 422,425, 432 – Interventionen, verhaltenstherapeutische 434 Vertikalisierung siehe Aufrichtung Verwöhnung 438, 448 ff., 454 f. W Wachstumshormonmangel 147 f., 150 f., 155 – Screeningparameter 148, 155 – Therapie 150 ff. Wahrnehmung , visuelle 414 Widerspruchsverfahren 462, 470 Wiederholungsrisiko siehe Beratung, humangenetische Z Zelenverschluss 51 ff. – Komplikationen 54 ZNS, assoziierte Fehlbildungen 108 ff. – Fehlbildungen, supratentorielle 108, siehe auch Balken, Dysgenesie – Fehlbildungen Schädel 109 Zweittrimesterscreening 17