Spielformen der Intermedialität im spanischen und lateinamerikanischen Surrealismus [1. Aufl.] 9783839401842

Die historischen und die aktuellen Varianten des Surrealismus entwickeln besonders in Spanien und Lateinamerika - im Rüc

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Spielformen der Intermedialität im spanischen und lateinamerikanischen Surrealismus [1. Aufl.]
 9783839401842

Table of contents :
INHALT
Vorwort
Metamorphosen des Surrealismus in Spanien und Lateinamerika. Medienästhetische Aspekte
Entre lo visible y lo invisible. La autonomía de los objetos en la poesía de García Lorca y en el cine de Luis Buñuel
Sobre esencias y presencias (Una sesión del Cineclub Español)
Valle-Inclán als Vorreiter des surrealistischen Films: Visionäre Sichtweise, kinematographische Techniken, Adaptationen
Das surrealistische Auge: Inszenierungen der Schaulust bei Buñuel, Dalí und Almodóvar
Denken von Differenz und Ähnlichkeit: Das Siglo de oro als zweifelhaftes Vorbild für Buñuels Spätwerk
Abre los ojos: Surrealistische Reflektoren bei Alejandro Amenábar
El amante menguante. Surrealität und Intermedialität in Pedro Almodóvars Hable con ella
„El oro que no lo es: la rosa de cobre“ – Großstadt, Technik und Kino als intermediale Parameter in den Texten von Roberto Arlt
Monstrorum artifex (Borges, Santiago y la teratología urbana de Invasión)
…combatir la razón con la sin-razón. Vom Antisurrealismus zum Metasurrealismus (Carpentiers und Sábatos Replik auf den französischen Surrealismus)
Das Labyrinth des Bewusstseins: Julio Cortázars cuento fantástico „Las babas del diablo“ und Michelangelo Antonionis Film Blow Up
„Éste, que ves, engaño colorido“ – Intermedialität und hybride Diskurspraxis in der mexikanischen Literatur- und Mediengeschichte
Hundert Jahre Karneval. Groteske Komik und karnevaleske Schreibweise in Gabriel García Márquez’ Cien años de soledad
La vida es silbar zwischen Surrealismen und real maravilloso
‚Hyperspektakularität‘/‚Hyperrealität‘/‚veristischer Surrealismus‘. Verkörperungen/Entkörperungen: Transmediales und hybrides Prothesen-Theater: „Periférico de Objetos“: Monteverdi método bélico
Autorenverzeichnis

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Uta Felten, Volker Roloff (Hrsg.) Spielformen der Intermedialität im spanischen und lateinamerikanischen Surrealismus

Die Reihe »Medienumbrüche« wird herausgegeben von Ralf Schnell.

Uta Felten, Volker Roloff (Hrsg.)

Spielformen der Intermedialität im spanischen und lateinamerikanischen Surrealismus

Medienumbrüche | Band 4

Diese Arbeit ist im Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg 615 der Universität Siegen entstanden und wurde auf seine Veranlassung unter Verwendung der von der Deutschen Forschungsgemeinschaft zur Verfügung gestellten Mittel gedruckt.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

© 2004 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Susanne Pütz, Siegen; Kordula Röckenhaus, Bielefeld; Umschlagabbildung inspiriert von dem argentinischen Regisseur Daniel Veronese (Periférico de objetos, Buenos Aires) Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 3-89942-184-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

INHALT Uta Felten/Volker Roloff

Vorwort .......................................................................................................... 7 Volker Roloff

Metamorphosen des Surrealismus in Spanien und Lateinamerika. Medienästhetische Aspekte.......................................................................... 13 Vittoria Borsò

Entre lo visible y lo invisible. La autonomía de los objetos en la poesía de García Lorca y en el cine de Luis Buñuel ........................... 35 Juan José Sánchez

Sobre esencias y presencias (Una sesión del Cineclub Español)................. 57 Ana María Pilar Koch

Valle-Inclán als Vorreiter des surrealistischen Films: Visionäre Sichtweise, kinematographische Techniken, Adaptationen ........ 75 Scarlett Winter

Das surrealistische Auge: Inszenierungen der Schaulust bei Buñuel, Dalí und Almodóvar................................................................................... 101 Nanette Rißler-Pipka

Denken von Differenz und Ähnlichkeit: Das Siglo de oro als zweifelhaftes Vorbild für Buñuels Spätwerk........................................ 125 Kirsten von Hagen

Abre los ojos: Surrealistische Reflektoren bei Alejandro Amenábar ........ 141 Gregor Schuhen

El amante menguante. Surrealität und Intermedialität in Pedro Almodóvars Hable con ella ......................................................... 159 Wolfgang Bongers

„El oro que no lo es: la rosa de cobre“ – Großstadt, Technik und Kino als intermediale Parameter in den Texten von Roberto Arlt...................... 177 David Oubiña

Monstrorum artifex (Borges, Santiago y la teratología urbana de Invasión) ............................. 199

Gerhard Wild

…combatir la razón con la sin-razón. Vom Antisurrealismus zum Metasurrealismus (Carpentiers und Sábatos Replik auf den französischen Surrealismus)........................................................................ 213 Marijana Erstiü

Das Labyrinth des Bewusstseins: Julio Cortázars cuento fantástico „Las babas del diablo“ und Michelangelo Antonionis Film Blow Up ....... 237 Uta Felten

„Éste, que ves, engaño colorido“ – Intermedialität und hybride Diskurspraxis in der mexikanischen Literatur- und Mediengeschichte..... 253 Catrin Kersten

Hundert Jahre Karneval. Groteske Komik und karnevaleske Schreibweise in Gabriel García Márquez’ Cien años de soledad.............. 273 Isabel Maurer Queipo

La vida es silbar zwischen Surrealismen und real maravilloso ................ 295 Alfonso de Toro

‚Hyperspektakularität‘/‚Hyperrealität‘/‚veristischer Surrealismus‘. Verkörperungen/Entkörperungen: Transmediales und hybrides Prothesen-Theater: „Periférico de Objetos“: Monteverdi método bélico... 317 Autorenverzeichnis .................................................................................... 357

UTA FELTEN/VOLKER ROLOFF

VORWORT Man kann den Surrealismus, der in den 20er und 30er Jahren besonders in Frankreich und Spanien in Erscheinung tritt, als Musterbeispiel der Medienumbrüche des 20. Jahrhunderts und damit der Entwicklung neuer Konzepte der Intermedialität und Hybridisierung ansehen. Die „wesentlichen Kategorien des Surrealismus – Collage, Zerbrechen, Formauflösung –“ sind, so Werner Spies, die „symbolischen Formen, die das 20. Jahrhundert geprägt haben“1 – wobei die Surrealisten mit ihren Experimenten nicht nur den Bruch mit Traditionen, sondern den Wahrnehmungsgewohnheiten selbst veranschaulichen: im Sinne einer ars combinatoria und mit der Neigung zu intermedialen Spielformen, die als solche durch Brüche, Passagen, Zwischenformen und Interferenzen zwischen verschiedenen Künsten und Medien gekennzeichnet sind und die vor allem den Film als neues faszinierendes Medium ins Spiel bringen. Dass die Materialität der neuen Medien und wahrnehmungsästhetische Veränderungen eng verbunden sind, dass Medienumbrüche ohne Medienästhetik, begriffen als „Wahrnehmungsform der Medien“2 gar nicht zu erfassen sind, gehört zu den Leitgedanken des Siegener Forschungskollegs Medienumbrüche, in dem der vorliegende Band entstanden ist. Mit dem Versuch, die Spielformen der Intermedialität im spanischen und lateinamerikanischen Surrealismus zu analysieren, geht es vor allem darum, das bisherige, auch in den aktuellen Diskussionen noch zu enge Spektrum des Surrealismus zu erweitern, d.h. die Metamorphosen, Grenzüberschreitungen und Aktualisierungen des Surrealismus in Spanien und Lateinamerika aufzuzeigen und deren Relevanz für die aktuelle Medienästhetik anzudeuten. Wenn der Surrealismus, auch im Vergleich mit anderen, eng verwandten Avantgardebewegungen des 20. Jahrhunderts (wie z.B. der Futurismus), in der Gegenwart die stärkste Resonanz 1 Spies, Werner: „Vorwort“, in: ders. (Hrsg.): Surrealismus 1919-1944. Katalog der Ausstellung, Düsseldorf 2002. 2 Schnell, Ralf: Medienästhetik. Zu Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrnehmungformen, Stuttgart/Weimar 2000, S. 11.

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hat, so liegt dies nicht zuletzt daran, dass spanische und lateinamerikanische Künstler die intermedialen und interkulturellen Grenzüberschreitungen und Hybridisierungen, die schon in einer frühen Phase des Surrealismus eine Rolle spielen und die Subversivität des Surrealismus begründen, besonders intensiv weiterführen und mit neuen Perspektiven verbinden. Die folgenden Beispiele zeigen, in welchem Maße besonders Buñuel, Dalí, Lorca, Gómez de la Serna, Picasso und im Blick auf Lateinamerika z.B. Borges, Carpentier, Cortazár, Arlt, Octavio Paz, Frida Kahlo daran beteiligt sind und wie sehr gerade der Surrealismus in der hispanischen Welt in immer neuen Gestaltungen, Konfigurationen und Metamorphosen lebendig ist. Zu den Leitgedanken dieses Bandes, der an eine Reihe wichtiger, in jüngster Zeit verstärkter Forschungsaktivitäten und Publikationen anknüpfen kann,3 gehört eine doppelte, die bisherige Surrealismusforschung erweiternde Perspektive: Es geht auf der einen Seite um die für den spanischen und lateinamerikanischen Surrealismus wichtigen Rückbezüge zu prämodernen Traditionen des europäischen Mittelalters und des Siglo de oro (aber auch zu indigenen Traditionen), die, mit der Vorliebe für groteske, satirische und karnevaleske Darstellungsweisen und Bildwelten, von Anfang an (schon seit Valle-Inclán, Buñuel, Dalí, Borges) den spanischen Surrealismus prägen – und auf der anderen Seite um die in Spanien und besonders auch in Lateinamerika wirksamen, neuen Spielformen eines postmodernen und zugleich diskurskritischen Surrealismus, der vor allem durch den kreativen Umgang 3 Vgl. das Saarbrücker Kolloquium 2003 Vanguardia española e intermedialidad. Artes escénicas, cine y radio, Leitung Mechtild Albert (Publikation in Vorb.); die Sektion des Regensburger Hispanistentags 2003 Intermedialidad e hispanistíca, Leitung Angelica Rieger und die Publikation der Akten, Frankfurt a.M. 2004; die Publikationen von Wentzlaff-Eggebert, Harald (Hrsg.): Nuevos caminos en la investigacíon de los años 20 en España, Tübingen 1998; ders.: Las vanguardias literarias en España. Bibliografía y antología crítica, Madrid/Frankfurt a.M. 1999; Teuber, Bernhard/Weich, Horst (Hrsg.): Iberische Körperbilder im Dialog der Medien und Kulturen, Frankfurt a.M. 2002; Ehrlicher, Hanno: Die Kunst der Zerstörung. Gewaltphantasien und Manifestationspratiken europäischer Avantgarden, Berlin 2001; Scheunemann, Dietrich (Hrsg.): European Avant-Garde. New Perspectives, Amsterdam 2000; vgl. auch die Siegener Publikationen von Felten, Uta: Traum und Körper bei Federico García Lorca. Intermediale Inszenierungen, Tübingen 1998; Bongers, Wolfgang: Schrift/Figuren. Julio Cortázars transtextuelle Ästhetik, Tübingen 2000; Wild, Gerhard: Paraphrasen der Alten Welt. Interkulturelle Ästhetik im Werk von Alejo Carpentier, Tübingen 2004; Maurer Queipo, Isabel: Intermediale, interkulturelle und genderspezifische Untersuchungen zum Werk von Pedro Almodóvar (Manuskript der Dissertation Siegen 2003, im Druck).

VORWORT

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mit den neuesten Medien in Erscheinung tritt; durch neue Formen der Surrealisierung bis hin zur Farcierung und Dekonstruktion konventioneller Text- und Bildtraditionen. In allen Beiträgen dieses Bandes wird, wenn auch mit unterschiedlichen Schwerpunkten und Akzentuierungen, die Faszination und Tragweite dieser doppelten Perspektive deutlich: eine Ambiguität, die auch die gewohnten Spielräume der französischen Avantgarden erweitert und neue spektakuläre Spielformen der Aktualisierung des Surrealismus erkennen lässt. Erst vor dem Hintergrund spanischer Bild- und Texttraditionen, durch die spanische Faszination des theatrum mundi, der Theatralität und Schaulust und der damit verbundenen Tabuisierungen, der Vorliebe für Traumfantasien und Visionen gewinnen die Avantgarden der hispanischen Welt ihr Profil, ihre Inspiration, ihre Brisanz und Subversivität – so dass erst von daher die spanischen und lateinamerikanischen Metamorphosen des Surrealismus durchschaubar werden. Verschiedene Beiträge dieses Bandes versuchen, diese Metamorphosen durch neue Begriffe und Kategorien genauer zu erfassen und weitere Unterscheidungen zu treffen: z.B., im Blick auf die lateinamerikanischen Variationen, zwischen einem ‚veristischen‘ Surrealismus4 und einem postmodernen Surrealismus (bei Borges und Carpentier), einer figuralen und interstitiellen Ästhetik (bei Cortazár) oder einem Metasurrealismus (bei Sábato) – bis hin zu dem Versuch, den Surrealismus überhaupt als ein quasi-barockes Verfahren der „Codierungspraxis“5 zu sehen. Wichtig sind dabei auch die Bezüge zu dem Konzept des real maravilloso oder zu aktuellen Formen einer sogenannten „Hyperrealität“6. Der Begriff der Metamorphosen, der die Grenzen von Zeit und Ort, aber auch des Körpers, der Sinne, der Identität der Geschlechter relativiert, erscheint geeignet, die verschiedenen Differenzierungsmöglichkeiten und neuen Surrealismen zusammenzuführen: aufgrund seiner mythisch-archaischen, aber auch bei Ovid schon ironischen Herkunft, seiner Relevanz schon in der frühen Phase des Surrealismus, und vor allem aufgrund seiner intermedialen, grenzüberschreitenden Spannweite, die reale und imaginäre Inszenierungen, Alltagserfahrungen, Theatralität und Rollenspiele verbindet und so, ganz im Sinne des Surrealismus, die Dichotomien von Leben und Traum, Realität und Virtualität, Authentizität und Maskierung, Vernunft und Wahn in Frage stellt. 4 Vgl. die Beiträge von Isabel Maurer Queipo und Alfonso de Toro in diesem Band. 5 Vgl. den Beitrag von Uta Felten. 6 Vgl. den Beitrag von Alfonso de Toro.

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Darin liegt das wahrnehmungs- und medienästhetische Reflexionspotential, das in allen hier behandelten surrealistischen Spielformen und Experimenten zu erkennen ist, und, wie im einzelnen gezeigt wird, vor allem bei Borges, Buñuel, Lorca, Cortazár, Carpentier, Octavio Paz zu Einsichten führt, die inzwischen zum Repertoire der modernen Medienästhetik gehören und von Foucault, Barthes, Lyotard, Deleuze und anderen weiterentwickelt wurden. Dazu gehören u.a. die Reflexionen der Grenzen der Rationalität und Logik, des Sichtbaren und Sagbaren, die Darstellung und Analyse der Zwischenräume (interstices) zwischen Bildern und Texten, der Heterotopien, der Konfusion realer und imaginärer Bilder, der intermedialen Spielformen der Fragmentierung, Virtualisierung, Hybridisierung, sowie die Beobachtungen der Kontingenz und Alogik des Traums, des Gleitens und Entgleitens der Bilder, der Auflösung der Bedeutungen, des Trügerischen der Wahrnehmung. Dabei werden Bretonsche Formeln etwa zur écriture automatique aufgenommen, aber in den neuen Kontexten, den Konfigurationen und labyrinthischen Strukturen der neuen Medien revidiert. Besonders für den spanischen und lateinamerikanischen Surrealismus werden – schon bei Valle-Inclán und Borges – die Erfahrung der Träume, die Rätselhaftigkeit und Fantastik der Träume und Tagträume, ihre grotesken und farcenhaften Elemente (und damit auch die Fragwürdigkeit der noch rationalistischen freudschen Traumhermeneutik) zum Angelpunkt intermedialer Reflexion und ästhetischer Praxis – und von daher wird der Film zu dem vielleicht wichtigsten Medium der Darstellung und Reflexion der Träume, zum Intermedium der Traumfantasie par excellence. Der Film bietet, auch gegenüber dem Theater, erweiterte Spielräume und Inszenierungsmöglichkeiten: er wird zum bevorzugten Medium der Metamorphosen, der Schaulust, der Darstellung des Imaginären, der Überschreitung der Sehverbote, zum ‚obskuren Objekt der Begierde‘. Nicht nur die frühen surrealistischen Filmexperimente und Inszenierungen des Madrider Cineclub,7 sondern auch – mutatis mutandis – die späten Filme Buñuels, und nicht zuletzt die Filme von Almodóvar, Amenábar, Pérez (aber auch schon Antonioni und Regisseure der Nouvelle Vague) sind, wie im Folgenden gezeigt wird, spektakuläre Beispiele der Kontinuitäten, Aktualisierungen und Verwandlungen des Surrealismus. Ein weiterer intermedialer Zusammenhang wird deutlich, wenn man, wie in einigen Beiträgen, die Surrealisierung und damit groteske Verfremdung des barocken theatrum mundi-Konzeptes im Theater, im Film und in Romanen verfolgt und dabei die Wechselbeziehungen 7 Vgl. den Beitrag von Juan José Sánchez.

VORWORT

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von Theater und Film, die Dimension der Meta-Theatralität im Film, aber auch die filmischen Mittel gegenwärtiger Theaterexperimente hervorhebt: Die Linie führt hier vom Siglo de oro über Valle-Inclán, Buñuel, Lorca bis hin zu den Theaterfilmen von Almodóvar und dem argentinischen „Prothesen-Theater“ der Gruppe Periférico de objetos; und ähnliches gilt für den Roman, insofern er karnevaleske und satirische Traditionen des Siglo de oro aufgreift und, wie z.B. bei Valle-Inclán, Arlt, Cortazár, Carpentier, García Márquez, mit surrealistischen Darstellungsweisen verbindet. Miteinbezogen werden in diesem Band auch die Wechselbeziehungen von Malerei und Literatur, die im spanischen Surrealismus besonders wichtig sind, und die, wie auch die späteren Werke von Dalí, Picasso, aber auch F. Kahlo, W. Lam zeigen, dem intermedialen Komplex der Metamorphosen des Surrealismus zuzuordnen sind. Unsere Vorbemerkungen haben das Ziel, eine erste Vorstellung der Konzeption und Leitgedanken des vorliegenden Bandes zu vermitteln, nicht aber die besonderen Ergebnisse, die vielfältigen Zusammenhänge und Verschachtelungen der einzelnen Beiträge durch Resümees vorwegzunehmen. Die Beiträge sind, auch mit ihren Bildbeispielen, darauf angelegt, die Neugierde und Leselust zu inspirieren und über die Aktualität und Intermedialität des Surrealismus neu nachzudenken. Die Herausgeber danken allen Beiträgern für ihr Engagement, dem Forschungskolleg Medienumbrüche und der DFG für die Unterstützung der Publikation – und für die redaktionelle Mitarbeit besonders Andrea Stahl, Ina-Maria Simon, Catrin Kersten.

Uta Felten

Volker Roloff

VOLKER ROLOFF

METAMORPHOSEN DES SURREALISMUS IN SPANIEN UND LATEINAMERIKA. MEDIENÄSTHETISCHE ASPEKTE 1.

Vorbemerkung

Unter den Avantgardebewegungen, die am Anfang des 20. Jahrhunderts zu grundlegenden Veränderungen im Umgang mit den Künsten und Medien, zum Bruch nicht nur mit den Traditionen, sondern den Wahrnehmungsgewohnheiten selbst geführt haben, spielt der Surrealismus eine entscheidende Rolle; nicht zuletzt auch bei der Frage, welche ästhetischen Konzepte und Denkfiguren der Moderne bei der Analyse der aktuellen Medienumbrüche als Modelle und Bezugspunkte noch relevant sind. Man kann daher den europäischen Surrealismus, der in den 20er Jahren in Frankreich und Spanien seine spektakulärsten Wirkungen erreicht, als Paradigma der Medienumbrüche des 20. Jahrhunderts und der Entwicklung neuer Konzepte der Intermedialität und Hybridisierung ansehen: „Die wesentlichen Kategorien des Surrealismus – Collage, Zerbrechen, Formauflösung – waren“, so Werner Spies, „die symbolischen Formen, die das 20. Jahrhunderts geprägt haben“1. Der Surrealismus ist – viel mehr als viele traditionelle, auf einzelne Künsten, Medien und Länder fixierte Untersuchungen bisher zeigen konnten – in seiner Programmatik als ars combinatoria zu begreifen2, als ein Spiel zwischen den Medien und vor allem mit den neuen Medien, als ein Wechselspiel zwischen Literatur, Bildenden Künsten, Theater, Musik, Fotografie, Radio und vor allem mit dem wichtigsten neuen Medium, dem Film. Die ästhetische und damit immer auch politische Praxis der Surrealisten erscheint als Versuch, den Bruch mit europäischen kulturellen Traditionen, und damit 1 Spies, Werner: „Der vorauseilende Triumph der Postmoderne“, in: Süddeutsche Zeitung, (11. Juli 2002). 2 Vgl. Holländer, Hans: „Ars inveniendi et investigandi: zur surrealistischen Methode“, in: Peter Bürger (Hrsg.): Surrealismus, Darmstadt 1982, S. 252ff.

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die Bruchstellen zwischen den Medien zu erfassen, und von daher die etablierten Institutionen der Kunst und Gesellschaft in Frage zu stellen und so neue Zwischenräume und Passagen zu entdecken. Die Dynamik und Relevanz, die der Surrealismus auch nach dem Zweiten Weltkrieg, besonders in Lateinamerika und den USA, gewonnen hat,3 beruht möglicherweise darauf, dass er prinzipiell durch solche intermedialen und interkulturellen Grenzüberschreitungen, Transgressionen geprägt ist, vor allem durch variable Spielformen der Theatralität, Schaulust und Traumfantasie, die immer neue Konfigurationen und Metamorphosen schaffen. Dabei geht es nicht um Nachahmungen oder gar Musealisierungen surrealistischer Konzepte und Verfahrensweisen, die als solche Paradoxien wären, sondern um den Surrealismus und das Prinzip der Surrealisierung als Katalysator neuer Spielformen – im Rahmen einer Ästhetik des Surrealen, die jeweils neue, weiterreichende Kombinationsmöglichkeiten sucht und entdeckt, Heterotopien jenseits der Utopien der historischen Avantgarden. So überrascht es nicht, dass der Surrealismus vor allem in der hispanischen und hispano-amerikanischen Welt – mit deutlichen Rückgriffen auf spanische Mythen und Bilderwelten, barocke Traditionen des theatrum mundi, der Groteske und Satire – neue Formen der ars combinatoria, der intermedialen Inszenierung entwickelt, die heute unter dem Aspekt der Postmoderne neu reflektiert werden: Karnevaleske Spielformen, die besonders in Lateinamerika mit dem Zweifel an dem Rationalismus europäischer Provenienz verbunden sind. In dem Maße, in dem z.B. Valle-Inclán, Buñuel, Dalí, Lorca, Borges und Carpentier die Inszenierbarkeit der Traumfantasien als ästhetisches Prinzip hervorheben und dies literarisch, visuell und oft auch filmisch veranschaulichen, geht es immer um Spielformen der Lebenswelt und Gesellschaft, und damit um das Imaginäre als ein Element des Alltags selbst. Wie schon im Siglo de oro gehören die besonderen spanischen Traditionen und Spielformen nicht nur zu einer Welt der Literatur und Künste, sondern schaffen – als Formen der Theatralisierung des Alltags und der Inszenierung sozialer Repräsentation – kulturelle Bedingungen und Topoi, die im Surrealismus in einer karnevalesken Verkehrung und Verfremdung wieder auftauchen: Gleichsam als groteske, farcenhafte Korrelate der Theatermythen und Bildwelten des Siglo de oro, ohne die die besonderen Inszenierungen und 3 Vgl. Klengel, Susanne: Amerika-Diskurse der Surrealisten. Amerika als Vision und als Feld heterogener Erfahrungen, Stuttgart 1994; WentzlaffEggebert, Harald (Hrsg.): Europäische Avantgarde im lateinamerikanischen Kontext, Frankfurt a.M. 1991.

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Experimente des spanischen und lateinamerikanischen Surrealismus nicht durchschaubar sind. Die Analyse des spanischen und amerikanischen Surrealismus würde daher viel zu kurz greifen, wenn man, wie es oft geschieht, die Anfänge und das angebliche Ende der surrealistischen Bewegung ausschließlich auf die begrenzte Phase der Wirkung französischer Autoren (insbesondere Bretons und seines Umkreises) bezieht, also auf einen Zeitraum eingrenzt, der etwa von den ersten Übersetzungen französischer surrealistischer Texte ins Katalanische über die Aktivitäten der Madrider Residencia de Estudiantes bis zur Mitte jener 30er Jahre führt, die dann die Rückkehr zu traditionellen, konservativen Kunst- und Dichtungsformen im Spanien Francos ankündigen. Solche Abgrenzungen sind problematisch,4 die interkulturellen und intermedialen Wechselbeziehungen und Verwandlungen des Surrealismus sind viel komplexer und nachhaltiger; vor allem der Blick auf Lateinamerika und die Karibik zeigt, dass die Kreise und Umkreise des Surrealismus weiterreichen und prinzipiell nicht geschlossen werden können. Es gilt vielmehr, den Spielraum, in dem sich die spanischen und lateinamerikanischen Surrealisten bewegen, sowohl vor dem Hintergrund der europäischen Avantgarden als auch der besonderen spanischen und lateinamerikanischen Traditionen neu zu bestimmen und dabei die Zusammenhänge zwischen den Medienumbrüchen zu Beginn des 20. Jahrhunderts und in der Gegenwart zu erkennen.

2.

Zur Aktualität des Surrealismus

In der Reihe programmatischer Bezeichnungen, die die spanischen Avantgardebewegungen für sich selbst ausgesucht haben: Ultraísmo, Creacionismo, Postismo usw. ist der Begriff des Surrealismus relativ früh von Frankreich her bekannt und besonders in Katalonien, im übrigen ohne strenge Abgrenzung zum Futurismus und Dadaismus, vermittelt worden; aber der Begriff Surrealismus wird – zunächst auch in den Varianten sobrerealismo, superrealismo – erst relativ spät Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre in Spanien wirksam, um dann als europäischer Import vom spanischen Nationalismus bald wieder verdrängt, aus-

4 Vgl. Albert, Mechthild: Avantgarde und Faschismus. Spanische Erzählprosa 1925-1940, Tübingen 1996; Ehrlicher, Hanno: Die Kunst der Zerstörung. Gewaltphantasien und Manifestationspraktiken europäischer Avantgarden, Berlin 2001.

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gegrenzt und marginalisiert zu werden;5 obwohl einige der international berühmtesten Künstler des Surrealismus, wie z.B. Picasso, Lorca, Gómez de la Serna, Alberti, Buñuel, Dalí, Miró, Vicente Aleixandre, Cernuda, Spanier sind. Inzwischen hat sich die Situation nicht nur terminologisch, sondern konzeptuell radikal verändert: Der Surrealismus hat unter allen vergleichbaren Avantgardebewegungen des frühen 20. Jahrhunderts die stärkste Wirkung und Aktualität, wenn man z.B. die erstaunliche Resonanz der jüngsten großen Ausstellungen in Paris, London, Zürich, Düsseldorf, Hamburg und Madrid als Maßstab nimmt. Er hat auch im Vergleich zu allen anderen, eng verwandten historischen Avantgarden eine Faszination und neue Popularität, die zum Nachdenken anregt und im Folgenden diskutiert werden soll. Meine These lautet, dass vor allem die spanischen und lateinamerikanischen Elemente des Surrealismus bei diesen Aktualisierungen eine Rolle spielen und mit ihnen Themen, Figuren und Verfahrensweisen, die in der Gegenwart unter dem Aspekt der Intermedialität, d.h. als Formen und Zwischenformen des kreativen Umgangs mit älteren und neuen Medien durchschaubar sind.6 Der Surrealismus gewinnt vor allem deshalb eine neue Dynamik und Aktualität, weil er prinzipiell durch Transgressionen, Inszenierungen, Konfusionen, Subversionen und Überlagerungen geprägt ist – insbesondere Spielformen der Theatralität und Schaulust, die immer neue Gestaltungen und Figuren schaffen und mit den alten und neuen Medien Tabus überschreiten. Der Surrealismus entwickelt besonders in Spanien Formen der Hybridisierung und ars combinatoria, d.h. intermediale Spielformen, die, wie bereits angedeutet, auf ältere Medien und Künste der Theatralität, Schaulust, Satire und Ironie zurückgreifen und damit zugleich einen engen Zusammenhang zwischen dem Surrealismus der 20er und 30er Jahre und aktuellen Medienszenarien und Medienumbrüchen herstellen. Für Werner Spies, den Organisator der großen Pariser und Düsseldorfer Ausstellung, liegt ein möglicher Grund für die Aktualität des Surrealismus darin, dass die Surrealisten die Wirklichkeit reflektieren und verrätseln [...], sie in Vexierbilder verwandeln, das Biomorphe mit dem Anthropomorphen verschmelzen und so insgesamt alle schlüssigen Konfigurationen von Sinn und Rationalität unterlaufen, […]

5 Wentzlaff-Eggebert, Harald: Las vanguardias literarias en España. Bibliografía y antología crítica, Madrid/Frankfurt a.M. 1999, S. 455ff. 6 Vgl. Paech, Joachim: „Intermedialität“, in: Medienwissenschaft, Bd. 1 (1997), S. 12ff.; Rajewsky, Irina O.: Intermedialität, Tübingen 2002.

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und dass sie gerade unter dieser Vorraussetzung für die Gegenwart wieder wichtig sind: Auch in heutigen Bildwelten [...] scheint die Realität einer ständigen Metamorphose unterworfen, die alle Identität sprengt und Abgründe aufreißt: Die Wirklichkeit wird grundsätzlich als veränder7 bar und doppeldeutig, bzw. mehrdeutig empfunden.

Die durch die Medien und Werbung geprägte Wirklichkeit ist, wie ich hinzufügen würde, prinzipiell inszenierbar, konstruierbar, theatral. Die Versuche einer Unterscheidung zwischen realen, sinnlich erfassbaren, virtuellen, medialen, geträumten und imaginären Wirklichkeiten erscheinen nicht nur zweifelhaft, sondern letztlich vergeblich. Werner Spies betont darüber hinaus den durch die Surrealisten geschärften Blick für die „Brüchigkeit jener Codes, die das soziale Gefüge Europas geprägt hatten“, den neuen, „nobilitierenden Blick auf das Fremde“8, die schon früh erkannte Problematik der zu engen eurozentrischen Perspektive, das Interesse an der Umkehrung der Blickrichtungen. Dies hat u.a. dazu geführt, dass sich der Surrealismus, besonders auch in Lateinamerika, in vielen Medien und Künsten ausbreitet und ständig neue Impulse erhält: Von Borges, Huidobro, Girondo, Guillermo de Torre, Asturias bis hin zu Neruda, Cortázar, Octavio Paz, Carpentier, Sábato, von Frida Kahlo, Wifredo Lam, Matta, Buñuel bis zu den Künstlern und Filmregisseuren der Gegenwart. Darin liegt ein großes Forschungsfeld, das – trotz verschiedener Ansätze – offen ist; der vorliegende Band versucht daher, das Spektrum für solche Kombinationen vor allem unter medienästhetischen Aspekten zu erweitern und neue Perspektiven anzudeuten. Hervorzuheben ist das Reflexionspotential, mit dem die surrealistischen Künstler auch für aktuelle Medientheorie und intermediale künstlerische Praxis wichtig werden, so dass viele medienästhetische Einsichten von Benjamin, Barthes, Foucault, Lacan, Deleuze bis hin zu Belting, Böhme oder Paech ohne den Blick auf den Surrealismus kaum möglich wären.

7 Vgl. Spies, Werner: „Vorwort“, in: ders. (Hrsg.): Surrealismus 1919-1944. Katalog der Ausstellung, Düsseldorf 2002. 8 Ebd.

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3.

VOLKER ROLOFF

Medienästhetische Aspekte: Theatralität und Schaulust

Wenn man Medienästhetik als Theorie und Analyse audiovisueller Wahrnehmungsformen begreift,9 so bieten die Medienumbrüche zu Beginn des 20. Jahrhunderts (die vor allem mit dem Film verbunden sind) die besten Anschauungsbeispiele für jene grundlegenden Veränderungen der Wahrnehmung und der Sinne, die z.B. Aumont mit dem Begriff des variablen Auges zu erfassen sucht,10 und die man auch als Dekonstruktion eines einheitlichen Blickpunktes, als Verflüchtigung visueller Codierungen und damit als Beschleunigung, Fragmentierung, Zerstreuung und Brechung der Wahrnehmungsvorgänge erfahren und definieren kann. Dass die von Menschen geschaffenen medialen Wahrnehmungsformen auf die natürliche Wahrnehmungsfähigkeit, Sinnlichkeit und Körpersprache des Menschen zurückwirken, gilt seit Benjamin und McLuhan als medienästhetischer Leitgedanke; um so wichtiger wird damit die Frage, wie weit die neuen Wahrnehmungsformen anthropologische Residuen aufnehmen, verändern oder umstrukturieren. Genau in dieser Hinsicht sind die intermedialen Experimente der Surrealisten aufschlussreich; es handelt sich um Experimente, die darauf angelegt sind, jeweils die Grenzen der Wahrnehmungsfähigkeit, die Gewohnheiten und Grenzen des Sehens, Hörens und Fühlens abzutasten, aufs Spiel zu setzen, neu zu prüfen und zwar jeweils an den Bruchstellen kultureller, gesellschaftlicher, künstlerischer Traditionen und Konventionen. Das Maß der Veränderungen ist nur in dem Zwischenraum, der Spannung und den Wechselbeziehungen zwischen kulturellen Traditionen und anthropologischen Konstanten erkennbar, zwischen dem, wie Karl Ludwig Pfeiffer es nennt, Medialen und Imaginären.11 Man kann dies am Beispiel medienästhetisch zentraler Kategorien verdeutlichen: Z.B. an den Kategorien der Schaulust und der Theatralität, mit dem Versuch einer Kombination von anthropologischen und historischen Aspekten, hier im besonderen Blick auf spanische Traditionen, die dabei mit im Spiel sind. Ich verwende den Begriff der Schaulust – in kritischer Abgrenzung zu Freud, der mit dem Begriff des Voyeurismus das Triebhafte, wenn nicht sogar das Pathologische betont – als eine figure des Begehrens im Sinne von Barthes12, eine 9 Vgl. Schnell, Ralf: Medienästhetik. Zur Geschichte und Theorie audiovisueller Wahrnehmungsformen, Stuttgart 2000. 10 Vgl. Aumont, Jacques: L’œil interminable. Cinéma et peinture, Paris 1999. 11 Pfeiffer, Karl Ludwig: Das Mediale und das Imaginäre. Dimensionen kulturanthropologischer Medientheorie, Frankfurt a.M. 1999. 12 Barthes, Roland: Fragments d’un discours amoureux, Paris 1977, S. 7ff.

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Faszination der Sinne, die den besonders von den Surrealisten erkannten, kreativen Zusammenhang von ästhetischer und erotischer Imagination zum Ausdruck bringen. Die Schaulust ist daher keineswegs als ‚Ersatzbefriedigung‘ definierbar, sondern nicht mehr und nicht weniger als ein Ursprung jeder künstlerischen Aktivität und Sensibilität. In dem Versuch, anthropologische und wahrnehmungsästhetische Fragestellungen zu verbinden, entwickelt Pfeiffer den Begriff der „protoästhetischen Formen“13, definiert als Inszenierungsbedürfnisse, die aber weder natur- noch triebbedingt sind, sondern nur durch die Medien (und ihren Wandel) erfahrbar werden, d.h. in der Form, die sie durch Medien aller Art erhalten. So entstehen intermediale Spielformen, Szenarios der Schaulust und Spielfreude, bzw. intermediär kulturelle Zonen, die die gewohnten Oppositionen von Realität und Imagination, Authentizität und Rollenspiel, Wahrheit und Simulation unterlaufen: „Es gibt keine Realität, an der das Spielerische gemessen werden könnte, weil es selbst als wirklich erfahren wird“14. Dies gilt im Prinzip für die Spiel- und Repräsentationsformen der spanischen höfischen Gesellschaft, der Lebensformen des Siglo de oro ebenso wie für die gegenwärtige Mediengesellschaft, die schon von Debord sogenannte „Gesellschaft des Spektakels“15. In beiden Fällen sind die Übergänge von Leben und Theater fließend, dominieren intermediale Spielformen. Der genuine Ort einer Ästhetik der Inszenierung war und ist, wie auch Früchtl und Zimmermann notieren, der Bereich der Kunst und hier wieder primär „der Bereich des Theaters“16. Alle Erweiterungen, Modifikationen und metaphorischen Übertragungen des Begriffs bis hin zu dem Verdacht, dass im Grunde alles Inszenierung sei, gehen letztlich auf das Paradigma der theatralischen Aufführung zurück. Der Topos des theatrum mundi, der besonders in Spanien mit der Spannung von Sein und Schein, engaño und desengaño verbunden ist, hat daher seinen Ort in eben jener von Pfeiffer so genannten „intermediären kulturellen Zone“17, einer Spiel- und Schaulust, die als reale und zugleich imaginäre Figur wirksam ist. Wenn man von einer solchen Realität und Wirkung des Imaginären als Voraussetzung intermedialer Spielformen und Inszenierungen ausgeht, so kann man, im Rahmen der Aktualisierung traditioneller Theorien des Spiels und der Theatralität, verschiedene medienästhetische Konzepte zusam13 14 15 16

Pfeiffer 1999, S. 164ff. Ebd., S. 165. Debord, Guy: La société du spectacle, Paris 1967. Früchtl, Josef/Zimmermann, Jörg (Hrsg.): Ästhetik der Inszenierung, Frankfurt a.M. 2000, S. 30. 17 Pfeiffer 1999, S. 78ff.

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menführen: Barthes’ figurale Ästhetik, in der figure, wie auch schon bei Auerbach, nicht mehr bloß als rhetorisches Mittel, sondern als intermediale Kategorie der ästhetischen Wahrnehmung verstanden wird, an der die Sinne ebenso wie der Körper beteiligt sind.18 Roland Barthes konzentriert sich auf intermediale Figuren, die je nach Bedürfnissen und Lüsten das Imaginäre aktualisieren und er spricht von einem begrenzten Repertoire solcher Figuren und Szenarien bzw. Spielformen des Imaginären. Auch Erika Fischer-Lichte geht es dabei (im Anschluss an Iser) um die ästhetische und anthropologische Dimension der Begriffe Theatralität und Inszenierung: Zwar müsse jeder Inszenierung „etwas vorausliegen, welches durch sie zur Erscheinung kommt“, aber in der gegenwärtigen „Kultur der Inszenierung“ bzw. „Inszenierung der Kultur“ werde Wirklichkeit als Darstellung und Inszenierung erlebt;19 Theatralität erscheint daher als Wahrnehmungsmodus, der es Zuschauenden, also den Schaulustigen überlässt, ob eine Situation bzw. Szene als theatral oder nichttheatral empfunden wird. Eine solche rezeptions- und medienästhetische Prämisse verbindet Schaulust und Theatralität und erinnert damit an die alte Definition des Theaters als ‚Raum des Schauens‘. Dem entspricht auch Foucaults Begriff der Heterotopie als dem zugleich realen und virtuellen Raum unserer ersten Wahrnehmung, Träume und Leidenschaften,20 ebenso wie Beltings Überlegungen zum Ort der Bilder und der Wechselbeziehung von Bild, Körper und Medien.21 Belting betont im Unterschied zu älteren Theorien des Bildes die Wirksamkeit mentaler, innerer Bilder und damit des audiovisuellen Repertoires der Einbildungen, des imaginären Museums der Bilder, Träume, Mythen, Visionen und Szenarien, das in einer ständigen Mischung kollektive und individuelle Figuren unserer Wahrnehmung steuert. Für Belting gehören vor allem Träume zu den Bildern, „die der Körper ohne unseren Willen und ohne unser Bewußtsein in je18 Barthes 1977, S. 8ff; dazu auch Vf.: „Intermediale Figuren in der spanischen (und lateinamerikanischen) Avantgarde und Post-Avantgarde“, in: Vittoria Borsò/Björn Goldhammer (Hrsg.): Moderne(n) der Jahrhundertwenden, Baden-Baden 2000, S. 385-401. 19 Fischer-Lichte, Erika: „Theatralität und Inszenierung“, in: dies./Isabel Pflug (Hrsg.): Inszenierung von Authentizität, Tübingen/Basel 2000, S. 23; Iser, Wolfgang: Das Fiktive und das Imaginäre. Perspektiven literarischer Anthropologie, Frankfurt a.M. 1999, S. 504. 20 Vgl. Foucault, Michel: „Andere Räume“, in: Karheinz Barck (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1991, S. 37ff. 21 Belting, Hans: Bild-Anthropologie: Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, S. 71ff.

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nem Automatismus produziert, dem wir im Schlafe ausgeliefert sind“22; aber zu diesen „Theater und Kino in unserem Kopf“23 gehören auch jene Tagträume und Schauspiele, die im Zwischenraum zwischen bewussten und unbewussten, individuellen und kollektiven Bildern und Erinnerungen inszeniert werden und dabei – wie z.B. die visiones in der spanischen Literatur und Kunst – gattungs- und stereotypische Formen annehmen können – und so immer neue figures hervorbringen.

4.

Traumfantasie und Intermedialität

Mit der Korrespondenz der Sinne geht es auch um die Reflexion der Brüche und Grenzen der Sinneswahrnehmung: Die Ohnmacht der Sinne wird zur Bedingung der ästhetischen und künstlerischen Inspiration, von daher ist nicht die romantische Idee eines Gesamtkunstwerks Leitfigur des Surrealismus, sondern eine ars combinatoria, in der die Interferenzen, Spannungen und Kontraste zwischen Bild und Text, Sprache und Musik ausgespielt werden, z.B. durch die chaotische Mischung und Konfusion der Sinne, analog zum Traum. Belting hätte bei den Überlegungen zur Rätselhaftigkeit der Traumbilder und ihrer Analogien zu den Filmbildern neben Marc Augé auch auf Foucault zurückgreifen können, der in seinem Vorwort zu Binswangers Traum und Existenz von den „bildhaften Formen des Traums spricht, die der Sinn nicht einholen kann“, wobei Foucault die freudsche Hermeneutik der Traumbilder zurückweist.24 Es geht bei Belting – ebenso wie auch schon z.B. bei Borges, Foucault und Lenk – um die intermediale und theatrale Struktur der Träume und damit um die Brüche und Widersprüche zwischen Bild und Bedeutung sowie um die Faszination, Proliferation und Analyse innerer Bilder, die für die intermediale synästhetische Praxis konstitutiv sind – und damit insbesondere für den Surrealismus und seine frühen Filmexperimente. „Das Medium Bild erzeugt“, so Belting, „im Betrachter den Eindruck, die flüchtigen und fließenden Bilder vor seinen Augen seien nichts anderes als seine eigenen Bilder, die er in der Vorstellung und im Traum erlebt“25 und mit dieser Halluzination erscheint der Film, wie Buñuel erkennt,

22 Belting 2001, S. 71. 23 Vgl. Felten, Uta/Schlünder, Susanne/Winter, Scarlett (Hrsg.): Schauspiele des Begehrens. Das Kino in unseren Köpfen, Siegen 2000. 24 Vgl. Vf.: „Zum Traumdiskurs in surrealistischen Filmen, Texten und Bildern“, in: Bernd Dieterle (Hrsg.): Träumungen. Traumerzählung in Film und Literatur, St. Augustin 1998, S. 145-156. 25 Belting 2001, S. 75.

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nicht nur wie eine Imitation der Träume, sondern er fungiert zugleich als Katalysator und Generator jener Bilder, die der Filmzuschauer aus seinem eigenen Imaginären, seinem Bildrepertoire erinnert, vermischt, fragmentiert, überlagert. In diesem Szenario der Repräsentationen des Begehrens werden ständig Bilder ausgetauscht, supplementiert, substituiert, ohne aber das Begehren, die Schaulust befriedigen zu können. Vor allem die filmische Montage entspricht, wie die Surrealisten erkennen, der Diskontinuität und Kontingenz des menschlichen Bewusstseins und seiner Imaginationen. Ähnlich wie Borges und auch Cocteau ist Buñuel schon in einer frühen Phase des Surrealismus auf dem Wege, die ästhetischen Spielräume der Traumfantasie und das unheimliche Gleiten und Entgleiten der Bilder für literarische und filmische Experimente zu nutzen: Miles y miles de millones de imágenes surgen, pues, cada noche, para disiparse casi en seguida, envolviendo la Tierra en un manto de sueños perdidos. Todo, absolutamente todo, es imaginado una u 26 otra noche por uno u otro cerebro, y olvidado.

Die Entdeckung besonders der karnevalesken und grotesken Elemente der Traumfantasie ist eine Domäne des spanischen und lateinamerikanischen Surrealismus. Es ist kein Zufall, dass Foucault in seinen Studien zur Schaulust und Repräsentation unter anderem auf Velázquez zurückgreift und damit auf die Darstellung des spanischen Hofes des Siglo de oro als Modell einer durch Repräsentation, Inszenierung und engaño bestimmten Gesellschaft. Foucault zeigt in seiner Analyse der Meninas das ironische Spiel der Verwandlungen, die Beweglichkeit des scheinbar starren Bildes, das komplexe Wechselspiel zwischen dem Blick des Malers und dem Zuschauer: Die dunkle Gestalt und das helle Gesicht des Künstlers bildet die Mitte zwischen Sichtbarem und Unsichtbarem und verweist damit auf den Zusammenhang von Bild, Schaulust und Schauspiel.27 Die Schaulust ist, wie Foucault auch am Beispiel der Tentation de Saint Antoine zeigt, nicht nur ein äußerer Sinn, sondern immer zugleich nach innen und außen gerichtet, ein imaginärer und intermediärer Grenzbereich zwischen dem Sichtbaren und Unsichtbaren, zwischen Aktualität und Virtualität. Subjekt und Objekt der Schaulust sind letztlich nicht unterscheidbar. Von daher sind die gerade in der spanisch-katholischen Kultur und Erziehung 26 Buñuel, Luis: Mi último suspiro, Barcelona 1982, S. 112. 27 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M. 1980, S. 31ff.

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besonders wichtigen Versuche, die Schaulust und das Begehren durch Regelungen des Blicks, durch Tabus einzuschränken, vergeblich und paradox, da das ästhetische und erotische Begehren als Figur des Imaginären nicht kontrollierbar ist und durch Sehverbote eher gesteigert wird. Wenn man unter Intermedialität die Wechselbeziehung zwischen den Medien und Künsten, die Transformationsprozesse zwischen Bild, Ton und Text versteht und damit die Zwischenräume, Brüche und Passagen zwischen den Medien und Künsten betont, so kann man Traumfantasie und Schaulust geradezu als Modell für die Analyse intermedialer Prozesse ansehen. So sind Schaulust, Redelust, die Sinne des Sehens, Hörens und Fühlens nicht zu trennen, jeder einzelne Sinn wird erst durch das Zusammenspiel aller Sinne deutlich und abgrenzbar, durch die synästhetische Korrespondenz und Kombinatorik: Die ständige Produktion, Konfusion und Diffusion innerer Bilder, Bildsequenzen und Szenarios entspricht – in ihrer Surrealität – dem Prinzip des Begehrens selbst. Vor allem die erotische Phantasie ist ohne die Substitution der Bilder, ohne Virtualisierung nicht denkbar; so wie jedes Bild – in der Welt unserer eigenen Imaginationen ebenso wie im ‚wirklichen‘ Kino – nicht einfach etwas zeigt, sondern immer zugleich andere Bilder zum Verschwinden bringt, entgleiten lässt und überlagert, so tendiert die Schaulust als dynamische und theatrale Form des Begehrens zur Repräsentation und Simulation, zur Kreation von Ikonen und Fetischen.28 Vor allem Octavio Paz hat diese Zusammenhänge schon in den 50er Jahren – im engen Kontakt mit Buñuel – hervorgehoben. Im Surrealismus, so Paz, gehe es darum, die „Phantasmen des Verlangens und damit die Welt der Träume und Tagträume der Roboter-Welt der heutigen Gesellschaft gegenüberzustellen“, d.h. „imaginación“ und „deseo“ als Grundlagen der menschlichen Existenz zu begreifen: El hombre es un ser que imagina y su razón misma no es sino una de las formas de ese continuo imaginar. En su esencia, imaginar es ir más allá de sí mismo, proyectarse, continuo trascenderse. Ser que imagina porque desea, el hombre es el ser capaz de transformar el universo entero en imagen de su deseo. Y por esto es un ser amoroso, sediento de una presencia que es la viva imagen, la encarnación de su sueño. Movido por el deseo, aspira a fundirse con esa imagen y, a su vez, convertise en imagen. Juego de espejos, juego de ecos, cuerpos que se deshacen y recrean infatigablemente bajo el sol inmóvil del amor. La máxima de Novalis: „el hombre es 28 Wetzel, Michael: „Verführerische Bilder. Zur Intermedialität von Gender, Fetischismus und Feminismus“, in: ders./Herta Wolf (Hrsg.): Der Entzug der Bilder. Visuelle Realitäten, München 1994, S. 335, 337.

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VOLKER ROLOFF imagen“, la hace ya suya el surrealismo. Pero la recíproca también 29 es verdadera: la imagen encarna en el hombre.

5.

Surrealisierung der Mythen

In der Geschichte der Medien und Künste sind die Versuche, die synästhetische Wahrnehmung zu harmonisieren und im Sinne der Idee eines ‚Gesamtkunstwerks‘ zu idealisieren, künstlerisch weniger eindrucksvoll als die ständigen Versuche, die Grenzen der Sinne aufzuzeigen, die Ohnmacht der einzelnen Sinne, sei es die Vergeblichkeit des Redens und Schreibens wie die Unmöglichkeit, das zu sehen, was man zu sehen wünscht. Es gehört zu den Topoi aller Theorien der Schaulust, dass der Voyeur niemals das sehen kann, was er sehen möchte; aber es ist offensichtlich, dass das Unsichtbare, Unsagbare, Unerhörte die künstlerische Praxis inspiriert – wobei gerade Spanien eine lange, faszinierende Tradition aufweist: Von dem ineffabile der Mystiker, den karnevalesken, mehrdeutigen Bildern des Begehrens von Bosch über Goya bis zu Picasso und Dalí und schließlich zu den surrealistischen Text-, Bild-, Theater- und Filmexperimenten des 20. Jahrhunderts. Aber auch schon in der antiken Mythologie und in Märchentraditionen, in Erzählungen, Theaterstücken und Bildern, finden sich zahlreiche Beispiele, die die Faszination und Irritation des Unsichtbaren, des nicht mehr Sichtbaren und des Unsagbaren, des Schweigens gestalten: Die Objekte der Begierde werden wie Eurydike dem Blick entzogen und können durch die Substitution eines anderen Mediums, einer anderen Kunst wie z.B. der Musik, wieder auftauchen, wieder lebendig werden; der verbotene begehrliche Blick (Orpheus und Eurydike, Ödipus, Gyges) wird bestraft, kann aber auch, wie im Falle Pygmalions, den Künstler zur höchsten Gestaltungskunst verführen. Die Rolle der alten Mythen und neuen Medien reizt zu intermedialen Fallstudien, vor allem im Blick auf die spanischen Avantgarden. Es ist auffällig und bisher nur an einzelnen Beispielen untersucht, dass die Surrealisten ihr Spiel mit den Mythen und die Suche nach einer neuen Mythologie mit den neuesten Medien, besonders dem Film, verbinden, und so neue Figuren und Inszenierungsformen der Schaulust kreieren.30

29 Paz, Octavio: „El surrealismo“, in: ders: Las peras del olmo, Barcelona 1986, S. 137. 30 In dem Sammelband von Chénieux-Gendron, Jacqueline/Vadé, Yves (Hrsg.): Pensée mythique et surréalisme, Arles 1996 fehlen diese Bezüge zu den neuesten Medien.

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Es wäre eine eigene Aufgabe, die Mythen, die von den Surrealisten mit besonderer Vorliebe aktualisiert werden, wie z.B. neben Ödipus, Orpheus, Narziss vor allem Hermes, der Minotaurus (und das Labyrinth), Dionysos, der Hermaphrodit, Sphinx, Echo, Prometheus, Medusa, Phönix, in ihren Beziehungen zu den intermedialen Fragestellungen, und damit in ihrer Medialität, Theatralität und Synästhesie genauer zu untersuchen. Die bisher vorliegenden Arbeiten zeigen, dass dabei wiederum die spanischen Surrealisten eine wichtige Rolle spielen. So erscheint z.B., wie Mechtild Albert zeigt, Hermes als ein „Gott des Zeitgeistes“31 in der spanischen Avantgarde, oder Dionysos, wie Uta Felten erläutert, in neuen Kombinationen bei Lorca und Dalí, „als Signifikat sadomasochistischer Rollenspiele“32. Die Surrealisten konzentrieren sich auf die mythischen Figuren der Rätselhaftigkeit und Mehrdeutigkeit (das Labyrinth, Orakel, Sphinx und Chimäre), Figuren des Rauschs, der Erotik und Ekstase (Dionysos, die Bacchantinen, Sirenen), der Doppelgeschlechtigkeit (Hermaphrodit), der Transgression und der verbotenen, tödlichen Blicke (Orpheus, Medusa, Amor und Psyche, Melusine), aber auch der Geschwindigkeit und Mobilität (Hermes) und der Virtualisierung (Pygmalion). Hinzu kommen die später entstandenen, zum Teil schon mittelalterlichen, biblischen oder profanen Mythen, die dann besonders in Spanien wirksam sind: Der heilige Antonius33, der Cid, die Celestina, Don Juan, Don Quijote: Mythen, die von den Surrealisten aufgenommen, ironisiert und dekonstruiert werden – in einem Prozess der Surrealisierung der Mythen, die bis in die Gegenwart immer neue Spielformen und Metamorphosen hervorbringt. Mit dem Versuch, die alten Mythen neu zu denken und zu reflektieren, entstehen besonders im Film neue zeittypische Mythen; oder genauer: Verändert sich die Definition der Mythologie selbst: Die Surrealisten entdecken in ihrer künstlerischen Praxis (noch vor den Theorien von Lévi-Strauss, Eliade oder Roland Barthes) die Traumanalogie der Mythen, Strukturen des mythischen Denkens und nicht zuletzt die von Barthes sogenannten Mythen des Alltags, der technischen Welt und ihrer 31 Albert, Mechthild: „Ein Gott des Zeitgeistes. Hermes in der spanischen Avantgarde“, in: Karl Hölz/Siegfried Jüttner/Rainer Stillers/Christoph Strosetzki (Hrsg.): Sinn und Sinnverständnis. Festschrift für Ludwig Schrader, Berlin 1997, S. 111ff. 32 Felten, Uta: Traum und Körper bei Federico García Lorca. Intermediale Inszenierungen, Tübingen 1998, S. 52ff. 33 Vgl. Gendolla, Peter: Phantasien der Askese. Über die Entstehung innerer Bilder am Beispiel der ‚Versuchung des heiligen Antonius‘, Heidelberg 1991.

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Medien. Diese Beobachtung ist nicht neu, aber es gibt bisher erstaunlich wenig Versuche, das neue Repertoire der Avantgarde-Mythen genauer zu analysieren.34 Mit dem Hinweis auf die Theatralität und Schaulust der Träume, ihre karnevaleske und mimetische Struktur eröffnet sich die Möglichkeit, von der Skizze aktueller intermedialer Ansätze zu den historischen Voraussetzungen und besonderen Spielformen des spanischen Surrealismus überzuleiten, in denen anthropologische und kulturgeschichtliche Aspekte verbunden sind. Zu bedenken bleibt dabei immer, dass die Grenze zwischen dem sogenannten kollektiven Imaginären und epochenspezifischen kulturellen Codierungen nicht leicht zu ziehen ist; wir bewegen uns dabei auch methodisch in einem intermediären Zwischenbereich. Vor allem die spanischen Surrealisten nehmen zwar Freuds Methode der Traumdeutung zur Kenntnis, aber sie folgen ihr nicht, „sie wollen nicht wie Freud das Unbewußte wieder dem Bewußtsein unterwerfen“35. So ist z.B. Sade, als Maestro der literarischen Inszenierung der Schaulust und imaginären Sexualität, mit seinen Schriften für die Surrealisten wichtiger als Freuds Definition der pathologischen Formen des Sadismus – und die antiken und modernen Theaterstücke und Filme zu Ödipus sind weitaus attraktiver als die freudsche Analyse des sogenannten Ödipus-Komplexes; wie im übrigen auch die fantastischen Visionen des Antonius (von Hieronymus Bosch, Breughel bis hin zu Dalí, Max Ernst) in den Bildern und Texten viel mehr faszinieren als die theologischen Grundlagen der Legende. Das gleiche gilt für die homoerotische Fantasie, z.B. die erotische Faszination und Androgynie des hl. Sebastian, die eine lange intermediale Geschichte hat und besonders bei Lorca, Dalí und Cocteau zu surrealen Metamorphosen reizt. Der Traum bietet vor allem für die spanischen Surrealisten, mehr noch als für Breton, ein willkommenes Modell für die Konfusion der inneren und äußeren Sinne, für die Spielformen der Dramatisierung, Verrätselung und Visualisierung, für eine in Spanien seit langem vertraute Neigung zum Grotesken und Absurden, für die karnevaleske Polyphonie. Wenn man unter Traumdiskurs – im Anschluss an Foucault – die diskursive Gestalt versteht, welche im 34 Ansätze finden sich z.B. bei Gumbrecht, Hans Ulrich: 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit, Frankfurt a.M. 2001; Wagner, Birgit: Technik und Literatur im Zeitalter der Avantgarden. Ein Beitrag zur Geschichte des Imaginären, München 1996. 35 Neumeister, Sebastian: „Le fantôme de la liberté – oder Buñuels vergeblicher Kampf gegen die Bedeutung“, in: Ursula Link-Heer/Vf. (Hrsg.): Luis Buñuel. Film – Literatur – Intermedialität, Darmstadt 1994, S. 216-229, hier S. 222.

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Wissen einer Gesellschaft der Traum und seine Interpretation einnimmt36, so sind vom Traumdiskurs auch die jeweiligen Spielräume abhängig, die in einer Gesellschaft für die Entfaltung der Ästhetik des Traums zugestanden werden. Auffällig ist dabei, dass die wichtigsten spanischen und lateinamerikanischen Autoren des 20. Jahrhunderts das zentrale Thema einer Diskurskritik der Moderne, die Zweifel an dem Rationalismus und Fortschrittsglauben, immer wieder – lange vor Foucault und mit zunehmender Intensität – auf die Literatur und Kunst des europäischen Surrealismus, insbesondere die Traumästhetik des Surrealismus beziehen. Vor allem der spanische und lateinamerikanische Surrealismus gewinnt in diesem Zusammenhang eine Schlüsselposition, die in ihrer Distanz und Differenz zum französischen Surrealismus neu zu definieren wäre. In dem Maße, in dem z.B. Buñuel, Dalí, Lorca, Borges, Arrabal und jetzt Almodóvar und Amenábar die Theatralität der Traumphantasie und der Schaulust als ästhetische Prinzipien hervorheben, geht es immer auch um Spielformen, Spielregeln und Rituale der jeweiligen Lebenswelt und Gesellschaft. Wie schon im Siglo de oro sind die speziellen spanischen Traditionen des theatrum mundi nicht nur literarhistorisch wichtig, sondern sie schaffen als intermediale Formen der Theatralisierung des Alltags und der sozialen Repräsentation kulturelle Bedingungen und Topoi, die besonders im Surrealismus in einer karnevalesken, farcenhaften, ironischen und parodistischen Imitation, Verkehrung und Verfremdung wieder auftauchen – bis hin zu den tertulias z.B. bei Ramón Gómez de la Serna, die als Spielformen der Lebenswelt und der Kunst ein prägnantes Beispiel für die von Pfeiffer so gennante protoästhetischen Formen darstellen, für die Surrealisierung, Farcierung und Theatralisierung des Alltags, der ‚mythes de tous les jours‘. Die theatralen, intermedialen Formen der Inszenierung einer Gruppe und die teils ironischen, teils pathetischen Selbstinszenierungen der Künstler liegen schon bei Breton eng beieinander: Die spanischen Beispiele führen von Valle-Inclán, Gómez de la Serna über Dalí und Picasso bis hin zu Arrabal und Almodóvar. Solche Spielformen des spanischen Surrealismus erscheinen gleichsam als farcenhaftes und groteskes Korrelat der Theatermythen, Inszenierungen und Rituale des Siglo de oro, ohne die viele Theaterstücke, Filme, Bild- und Textexperimente der Avantgarde nicht durchschaubar sind. Theatralität und Subversivität der surrealistischen Traumspiele sind 36 Vgl. Teuber, Bernhard: Sprache – Körper – Traum. Zur karnevaslesken Tradition in der romanischen Literatur aus früher Neuzeit, Tübingen 1989, S. 228ff.

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z.B. in L’ÂGE D’OR oder in Lorcas El público als eine Art Meta-Theatralität zu begreifen, als eine Form der Reflexion des Spiels im Spiel, die in der barocken Vorstellung des theatrum mundi im Sinne einer ernsten religiösen Intention schon angelegt ist, aber schon bei Bosch, Quevedo, Cervantes oder später bei Goya in eine karnevaleske Ambiguität geraten kann.37 In dieser Beziehung – als Beispiel für eine solche groteske und ironische Surrealisierung spanischer Bild- und Texttraditionen – wird Valle-Incláns Theater und Metatheater vor allem in den Esperpentos zum Vorbild sowohl für Buñuel, Dalí und Lorca als auch für die spanischen Surrealisten der Gegenwart. Dieser spielerische, subversive, ironische und dekonstruktive Umgang der Surrealisten mit den Traditionen betrifft alle kulturellen Bereiche, von dem traditionellen spanischen Theater- und Bildrepertoire, den Ritualen und Diskursen der katholischen Kirche oder des Militärs, bis hin zur psychoanalytischen Hermeneutik Freuds.

6.

Transformationen und Metamorphosen des Surrealismus

Es ist offensichtlich, dass der Surrealismus – trotz der Brüche, die der Faschismus, das Exil und die Erfahrung des spanischen Bürgerkriegs und des Zweiten Weltkriegs für viele Surrealisten mit sich bringen – keineswegs als eine abgeschlossene Phase angesehen werden kann, sondern als ein Potential, das immer wieder aktualisierbar ist, vor allem in Spanien und Lateinamerika. Es liegt an den spanischen Prätexten, an der Faszination bestimmter Bild-, Text- und Theatertraditionen, insbesondere an der Neigung zur grotesken Komik und absurden Farce, dass bestimmte Elemente des Surrealismus als intermediale Spielformen zur Neugestaltung reizen, und zwar gerade auch nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und in den Grenzsituationen des Exils, also jenen Situationen, die den Zusammenbruch der europäischen Diskurse der Moderne mit sich bringen. Für Hans Holländer ist Surrealismus „kein Stil im traditionellen Sinne der Kunstgeschichte“, „sondern mehr als das, eine Methode“. Der Begriff Surrealismus sei daher „vor allem an den formulierbaren Spielregeln zu messen und an ihren Möglichkeiten, ein Maximum an Freiheit der Kombination, der Erfindung zu sichern“38. Zu diesen Freiheiten der 37 Vgl. zu Goya besonders Schlünder, Susanne: Karnevaleske Körperwelten Francisco Goyas. Zur Intermedialität der Caprichos, Tübingen 2001; zu Quevedo und Cervantes vgl. Teuber 1989. 38 Holländer 1982, S. 258.

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Kombination und Erfindung gehören aber, wie schon angedeutet, die Transformationen und Verwandlungen, die den Surrealismus insbesondere auch neben und nach Breton kennzeichnen. Dabei geht es um rhizomatische Erweiterungen, neue intermediale und interkulturelle Spielformen, die sich z.T. von den älteren surrealistischen Spielregeln lösen und insbesondere mit den Prämissen und Definitionen Bretons und seiner Gruppe nicht zu erfassen sind. Es erscheint daher sinnvoll, den engen Rahmen des historischen Surrealismus französischer Prägung von einer weiterreichenden ‚Ästhetik des Surrealen‘ zu unterscheiden, die bis in die Gegenwart wirksam ist und, wie angedeutet, vor allem in Spanien und Lateinamerika eine erstaunliche Dynamik entwickelt. Der vorliegende Band versucht, zusammen mit vergleichbaren Arbeiten, einige dieser Spielformen der Aktualisierung des Surrealismus aufzuzeigen; u.a. auch mit begrifflichen Differenzierungen, die, besonders im Blick auf die lateinamerikanischen Variationen, zwischen einem ‚post-modernen‘ Surrealismus (bei Borges und auch Carpentier), einer figuralen, interstitiellen Ästhetik bei Cortázar39 oder einem ‚Metasurrealismus‘ bei Sábato unterscheiden. Trotz der unverkennbaren Besonderheit sowohl der Amerika-Diskurse der europäischen Surrealisten40 als auch der lateinamerikanischen Interpretationen und Modifikationen des europäischen Surrealismus (z.B. bei Octavio Paz, Frida Kahlo oder im Theater von Veronese) gibt es Angelpunkte und Bezugspunkte, die immer wieder eine Rolle spielen und hier vor allem in einer medienästhetischen Perspektive näher behandelt werden: Das Prinzip der Surrealisierung ist, besonders in der spanischen und hispanoamerikanischen Welt, um so spektakulärer und faszinierender, je mehr dabei die Rückbezüge zu europäischen Traditionen deutlich werden – sei es zur antiken Mythologie, zum europäischen Mittelalter, zur karnevalesken Kultur und nicht zuletzt zum Siglo de oro. Besonders Octavio Paz und Alejo Carpentier betonen darüber hinaus die Zusammenhänge zwischen dem surrealistischen Prinzip der Hybridisierung und dem Synkretismus der lateinamerikanischen Kulturen, der mestizaje mit den präkolumbianischen Traditionen. Beispiele dafür finden sich aber auch schon in einer frühen Phase des lateinamerikanischen Surrealismus, bei Borges ebenso wie 39 Vgl. zu Cortázars Surrealismus Bongers, Wolfgang: Schrift/Figuren. Julio Cortázars transtextuelle Ästhetik, Tübingen 2000, S. 45ff.; Vf.: „Labyrinthe der Lektüre. Figuren der Intermedialität bei Borges, Cortázar und Carpentier“, in: Monika Bosse/André Stoll (Hrsg.): Theatrum mundi. Figuren der Barockästhetik in Spanien und Hispano-Amerika. Literatur – Kunst – Bildmedien, Bielefeld 1997, S. 253-274, hier S. 253ff. 40 Vgl. Klengel 1994.

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z.B. bei Guillermo de Torre, Girondo, Huidobro, Mário de Andrade oder Asturias.41 Ein gutes Beispiel für die Kontinuität und die Metamorphosen einer surrealistischen (und damit immer auch subversiven) Bildästhetik bietet Buñuel, wie Scarlett Winter und Nanette Rißler-Pipka zeigen – Buñuel vor allem in seinen späteren mexikanischen, spanischen und französischen Filmen, die geradezu als Paradigma einer reflektierten Intermedialität und surrealistischen Traumästhetik gelten können. In dem Maße, in dem diese Filme verstärkt auf narrative Strukturen und z.T. auch auf konventionelle Filmgenres zurückgreifen, können sie um so besser das Prinzip der Surrealisierung spanischer Traditionen veranschaulichen: Die Neigung zur karnevalesken Tabuüberschreitung, zur Satire, Ironie und Blasphemie im Umgang mit spanisch-katholischen Prinzipien und Normen, z.B. in TRISTANA, NAZARÍN, VIRIDIANA, SIMÓN DEL DESIERTO sowie in CET OBSCUR OBJET DU DÉSIR oder LE FANTÔME DE LA LIBERTÉ. Buñuel verwandelt die Romane von Galdós und Pierre Louÿs in filmische Inszenierungen der Schaulust, in intermediale Heterotopien, die als solche die traumanalogen Elemente der Filmfantasie reflektieren: So entsteht eine, wie Scarlett Winter ausführt, ‚obskure Augenlust‘, die die imaginären Schauspiele des Begehrens selbst, aber damit auch zeittypische Rituale der Gesellschaft in ihrem Umgang mit Sexualität zum Ausdruck bringt. Eine solche Erzählfreude führt nicht zu einer Abschwächung, sondern, wie Buñuel im Gespräch mit Max Aub andeutet, zu einer Verdeutlichung des Surrealismus: ¿cómo te explicas que películas como Nazarín, Viridiana o El sean tenidas también por surrealistas cuando tienen, por lo menos, un hilo conductor, una lógica narrativa que nada tiene que ver con lo 42 que definió Breton? – La línea moral es surrealista.

Der Anschein einer Kontinuität und Logik der Handlung ist dabei meist trügerisch, Vorwand für verschiedene Spielformen der Surrealisierung, die bei Buñuel am besten als eine Form der Farcierung, im doppelten Sinne des Wortes, d.h. als Vortäuschung (engaño) und karnevaleske Umkehrung der tradierten gesellschaftlichen Konventionen und Werte erfasst werden kann. Vor allem spanische und lateinamerikanische Regisseure und Theaterautoren haben die Raffinesse dieses Verfahrens erkannt und weiterentwickelt, insbesondere das diskurskritische und anarchistische Potential der Farcierung genutzt, auch in dem ironischen Umgang mit faschistischen Traditionen, z.B. Arrabal, Saura und zuletzt Al41 Vgl. Wentzlaff-Eggebert (Anm. 3). 42 Aub, Max: Conversaciones con Buñuel, Madrid 1985, S. 67.

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modóvar. Man kann diesen neuen Typ der Surrealisierung aber auch in Romanen finden, die, scheinbar konventionell erzählt, auf ihre Weise einer solchen Ästhetik des Surrealen entsprechen. In der zunächst – z.B. bei Breton – programmatischen Ablehnung des Romans (vor allem des realistischen Romans des 19. Jahrhunderts) steckt nämlich eine ironische Kehrseite, eine verdrängte, aber im Surrealismus von Anfang an vorhandene Freude an der Narrativität, die schon in vielen Erzählungen von Borges,43 aber auch in langen, episch ausschweifenden Romanen zum Ausdruck kommt. Es handelt sich um eine Narrativität, die vorzugsweise auf prämoderne Erzählweisen zurückgreift, von Rabelais über die pikaresken Romane bis zu Cervantes. Vor allem lateinamerikanische Romane sind Beispiele dafür, wie sich das Repertoire surrealistischer Figuren und Spielformen neu entfaltet und neue Spielräume einer surrealistischen und intermedialen ars combinatoria erschließt. Die Linie führt von dem ersten Diktatorenroman, dem Tirano Banderas (1926), in dem Valle-Inclán die karnevalesken und satirischen, aber auch mystisch-visionären Elemente des Siglo de oro als Paradigmen der lateinamerikanischen Diktaturen kritisch und ironisch ins Spiel bringt44, von Mário de Andrades surrealistischen Märchenroman Macunaíma als einer modernen Variante der pikaresken Satire bis hin zu den großen Romanen von Cortazár, García Márquez, Carpentier, Cabrera Infante und auch Fuentes, deren surrealistische Elemente und Verfahrensweisen bisher viel zu wenig in den Blick gerückt wurden. Ähnliche Tendenzen finden sich – mutatis mutandis – auch in den Bildenden Künsten, der Welt des Theaters, der Performance, des Films und Fernsehens und ihren vielfältigen surrealistischen und post-surrealistischen Varianten; besonders prägnant und spektakulär in den späteren Werken von Dalí und Picasso, aber z.B. auch bei Frida Kahlo, Matta oder Wifredo Lam. In diesem Zusammenhang können nur einige Stichpunkte genannt werden: Den narrativen Prätexten, die z.B. in den lateinamerikanischen Romanen als Vorwand der Surrealisierung und Farcierung dienen, entsprechen bei Picasso die Rückgriffe auf antike Mythologie sowie spanische Traditionen und Mythen. Gerade die Spätwerke, die Serien erotischer Bilder und Zeichnungen sind für Picasso – mit den 43 Vgl. Vf.: „Vom Surrealismus zur postmodernen Erzählfreude. Lateinamerikanische Kombinationen und Beispiele“, in: Ulrich Schulz-Buschhaus/Karlheinz Stierle (Hrsg.): Projekte des Romans nach der Moderne, München 1997, zu Borges S. 290ff. 44 Vgl. Wentzlaff-Eggebert, Harald: „Ramón del Valle-Inclán, Tirano Banderas“, in: Vf./ders.: Der spanische Roman. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Stuttgart/Weimar 1995, S. 342-366.

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Leitfiguren des Minotaurus, des Centaure, der Celestina, der grotesken Figur des voyeuristischen Papstes – Anlass zu neuen Formen der Surrealisierung und Farcierung, zu einer, wie Lyotard anmerkt, Suche nach der ‚figure‘, „derrière celle du couple taureau-jument, vieillesse-jouvence, peintre-modèle, pénis-vagin“45. Die Vielfalt und Serialität dieser Metamorphosen zeigt, wie sehr die Spielformen der surrealistischen ars combinatoria – die intermediale Reflexion der Schaulust, Theatralität, Erotik und Gewalt, die spanischen Traditionen und insbesondere auch die literarischen Bezüge, z.B. zu den Texten von Bataille oder Leiris – im Spätwerk Picassos präsent sind. Ähnliches gilt auch für viele Bilder, Filme, Filmszenarios, Buchillustrationen und literarische Texte, die Dalís Spätwerk als Variationen einer genuin surrealistischen Selbstinszenierung kennzeichnen. Es scheint daher auch zu einseitig und verkürzend, Dalís spätere Werke nur unter dem Aspekt einer Musealisierung und Merkantilisierung der historischen Avantgarde zu sehen, als „persönliche Version einer nachavantgardistischen postmodernen Ästhetik“46. Umso lohnender wäre es aber, Dalís ironisch-pathetische Selbstinszenierung und Selbstmythisierung in ihrem Zusammenhang mit den Besonderheiten des spanischen Surrealismus, aber auch den vielfältigen Inszenierungen der postmodernen Mediengesellschaft genauer zu untersuchen. Abbildung 1: Wilfredo Lam: Umbral (1950) (Ausschnitt)

45 Delpierre, Jean-Christophe (Hrsg.): Picasso érotique, Paris 2001, S. 8. 46 Ehrlicher 2001, S. 10.

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Abbildungen 2 und 3: Salvador Dalí: Illustrationen zu François Rabelais’ Gargantua et Pantagruel (1973) (Ausschnitte)

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ENTRE LO VISIBLE Y LO INVISIBLE. LA AUTONOMÍA DE LOS OBJETOS EN LA POESÍA DE GARCÍA LORCA Y EN EL CINE DE LUIS BUÑUEL En su artículo titulado „Film-arte. Film-antiartístico“, Salvador Dalí, partiendo de un estudio cuidadoso sobre la obra de Vermeer opina: „Precisamente, las posibilidades de la fotografía y del cine están en la ilimitada fantasía que nace de las cosas mismas.“1 De hecho, a partir de Walter Benjamin es sabido que la fotografía y el cine, así la tesis central de mi ponencia, contribuyen a un cambio fundamental en la percepción de la realidad. Este cambio en la percepción y, en consecuencia, la nueva relación entre el sujeto y los objetos, son un motivo central de la modernidad – un motivo que, a mi modo de ver, es común en la labor poética de los tres amigos que, de 1917 a 1925, comparten su formación estética y epistemológica en la Residencia de Estudiantes de Madrid:2 García Lorca, Buñuel y Dalí. De hecho, Buñuel mismo opina que, aún en la literatura, la nueva percepción de la realidad corresponde a la imagen cinematográfica, surge de este clima y existe en la literatura desde la primera vanguardia. Según Buñuel, Ramón Gómez de la Serna, en sus Greguerías, mira los objetos como a través del gran plano cinematográfico, posteriormente descubierto por Griffith; así que, propone Buñuel, Griffith descubrió tal vez el gran plano al conocer las primeras Greguerías, que Gómez de la Serna había escrito ante de 1913.3

1 Aranda, Francisco: El surrealismo español, Barcelona 1981, p. 76. 2 Véase Sánchez Vidal, Agustín: „Eine kulturelle Genealogie“, en: Yasha David (ed.): ¿Buñuel! Auge des Jahrhunderts, Bonn 1994, pp. 39-48. Véase también Monegal, Antonio: Luis Buñuel de la literatura al cine. Una poética del objeto, Barcelona 1993, pp. 31s. 3 Buñuel, Luis: „Del plano fotogénico“, en: La Gaceta Literaria, no. 7 (1927), citado por Sánchez Vidal 1994, p. 43.

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Ya a partir de estos breves comentarios se observa que las relaciones intermediales entre literatura y cine son complejas y van más allá de simples argumentos de mera influencia.4 Existen más bien varios factores que, generalmente, debido a la emergencia de los nuevos medios, producen cambios en la postura misma del artista ante la realidad. En este contexto, es sabido que, por ejemplo, la temporalidad, es decir, el descubrimiento del tiempo interior por Henri Bergson es un momento básico de la estética moderna.5 Bergson tanto como Marcel Proust fueron de hecho leídos en la Residencia de Estudiantes. Propiamente, la experiencia de la memoria involuntaria de Marcel Proust deja huellas en la formación del sujeto. Los autores españoles descubren una sujetividad entregada a la alteridad del mundo y del tiempo. Propiamente, la alteridad del mundo lleva a nuevas formas de visualidad de los objetos. Veremos con Buñuel que, de hecho, la nueva visualidad produce también una equivalencia estructural entre las imágenes de la vanguardia literaria y cinematográfica.6 Antes de acercarme a las imágenes vanguardistas quisiera ubicar la vanguardia española, cuya modernidad, en la opinión del resto de Europa – especialmente con respecto al surrealismo –, sufre la carencia de una ‚verdadera revolución‘, repitiéndose el veredicto político en el contexto estético. Ahora bien, bajo la denominación de „vanguardia española“ se suele pensar – tanto en los artistas arriba mencionados, como también en Ramón Gómez de la Serna, Pablo Picasso, Manuel de Falla, Eugenio 4 Para la teoría de la intermedialidad véanse, entre otros, Paech, Joachim: „Intermedialität“, en: Medienwissenschaft, 1 (1997), pp. 12-30; Roloff, Volker: „Film und Literatur. Zur Theorie und Praxis der intermedialen Analyse am Beispiel von Buñuel, Truffaut, Godard und Antonioni“, en: Peter Zima (ed.): Literatur intermedial, Darmstadt 1995, pp. 269-309. 5 La temporalidad, esencial en la estética de la modernidad, es un elemento complejo. Apollinaire, Reverdy y Huidobro creen, por ejemplo, en la posibilidad de traducir a literatura la simultaneidad de los planos temporales, llevada a cabo por el cubismo. La transformación de la filosofía del fluir del tiempo por Gilles Deleuze es el telón de fondo de su lúcida teoría acerca de la fenomenología de la imagen cinematográfica. Deleuze, Gilles: L’imagemouvement. Cinéma 1, Paris 1983; idem: L’image-temps. Cinéma 2, Paris 1985. 6 Véase también Antonio Monegal con respecto a UN PERRO ANDALUZ: „Baste señalar que esta película, realizada antes de la afiliación de Buñuel al surrealismo, no es tanto una muestra de la aportación de dicho movimiento al cine como de una poética de origen literario, compartida por Buñuel y Dalí, cuya proximidad con la de los surrealistas determinó, consecuentemente, su posterior integración al grupo.“ (Monegal 1993, p. 70.)

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d’Ors y otros. Sin embargo, es la estética de la llamada generación de 1914, entre cuyos representantes destacan José Ortega y Gasset, Manuel Azaña o Américo Castro – futuro enemigo del surrealismo –, la que prepara la vanguardia española. Es la generación que introduce en España a Kafka, Spengler y Freud7, así como la teoría de la relatividad de Einstein.8 Propiamente, por el peso de esta herencia de la generación del 1914, la vanguardia española, representada por García Lorca y la llamada generación del 27, suscita sospechas en los críticos europeos. De hecho, todavía en 1981, Francisco Aranda tenía la necesidad de demostrar la existencia del surrealismo en España, demostración que, ciertamente, no carece de acentos apologéticos acerca de la prioridad de un surrealismo de matiz local, andaluz o madrileño, con respecto al surrealismo francés. También Agustín Sánchez Vidal, en su artículo acerca de la vanguardia española, opina, con razón, que cuando Buñuel en 1925 va por primera vez a París, no es un provinciano cualquiera, puesto que conoce ya todas las referencias teóricas de los surrealistas. Más allá de las apologías acerca de la ‚prioridad‘ o de la independencia del surrealismo español, el estudio de Aranda sugiere una importante crítica de la visión exótica, propuesta por quienes niegan la existencia de una „vanguardia española“ por carecer de una idea de revolución social e izquierdista, o la limitan a algunos de sus protagonistas que se inclinaron hacia la política después de la crisis de 1929. Son Buñuel y Dalí, los artistas que, asimilados por el francocentrismo, fueron considerados por la crítica tradicionalista española como „traidores andaluces“. Además de ciertas valoraciones, ya un tanto anecdóticas, acerca del imperialismo cultural francés y del tradicionalismo español, las observaciones de Aranda son interesantes porque ponen el acento sobre la existencia de dos vanguardias – una „ortodoxa“ y otra „disidente“ – que se encuentran, en cierta forma, en el interior mismo del surrealismo francés. Claro está que el dogma de la vanguardia revolucionaria es el dogma de André Breton, un dogma político que impone el propagandismo izquierdista y un dogma estético, vinculado a la escritura automática. Ambos dogmas son rechazados por la vanguardia española. En vez de proclamar la revolución, la vanguardia española se basa en la continuidad de un desarrollo estético, que no solamente participa en los cambios de la modernidad, sino que, además, representa 7 La primera traducción de las obras de Freud fue al español. 8 El mismo Ortega y Gasset hace de traductor, en una conferencia de Einstein en la Residencia de Estudiantes. También Bergson es un autor muy leído en la Residencia de Estudiantes.

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aquella modernidad que no se extingue con los fracasos de las vanguardias revolucionarias, como el futurismo o el surrealismo ortodoxo de André Breton. Con razón, Aranda subraya una herencia popular en el llamado surrealismo andaluz protagonizado por Federico García Lorca, Gerardo Diego, Rafael Alberti, Luis Cernuda, Juan Larrea y otros. „Las virtudes“ de la poesía popular andaluza son también las virtudes del surrealismo español: orgia de sonidos y flashes de imágenes surrealistas.9 En vez de adoptar la escritura automática, que se encuentra excepcionalmente en la singular obra de Buñuel, La Girafa, el surrealismo español se basa, de hecho, en fuentes populares, creaciones atávicas, pueblos primitivos, visiones de niños y de locos, esoterismo y, sobre todo, en imágenes oníricas obsesivas cuya figuración, dice Aranda, ha sido malentendida por los críticos franceses, interesados en la búsqueda de una interpretación simbólica. Las imágenes oníricas sacadas de fuentes y géneros populares son la característica de obras cercanas al surrealismo, un surrealismo disidente, contrario al surrealismo ortodoxo de Breton. Me refiero, entre otros, al Romancero gitano de García Lorca escrito entre 1926-1929.10 Ahora bien, aquí tenemos, propiamente, un aspecto esencial de la diferencia fundamental existente no solamente entre el surrealismo ortodoxo francés y las imágenes vanguardistas españolas, sino también entre dos tipos de vanguardia, a los que corresponden también dos vertientes opuestas dentro del surrealismo francés. Se trata, por un lado, del surrealismo ortodoxo de Montparnasse, con Breton, Eluard etc.; y por el otro, del surrealismo de los disidentes de la rue Blomet, con Miró, Cocteau, Crevel, Bataille, Artaud, Leiris, los hermanos de Quirico y Savinio. El surrealismo español comparte muchos aspectos con los últimos. El punto de unión más evidente se encuentra en la ya mencionada interpretación de las imágenes oníricas, eje de la estética surrealista, y en el concepto de la sujetividad implícito a ella. La revolución surrealista de Breton busca la verdad del subconsciente haciendo hincapié en la fe en el simbolismo de los sueños y en la escritura automática, por lo que supone en cuanto a dar riendas sueltas al subconsciente. Ahora bien, Georges Bataille y Antonin Artaud son críticos feroces de la creencia en el simbolismo onírico. La escritura automática es, según ellos, un romanticismo tardío y es también una falsa respuesta a lo sublime, es decir al colapso de la imaginación y al fracaso de la razón. Es una falsa respuesta porque, al creer subvertir la razón, 9 Cf. Aranda 1981, pp. 16, 68. 10 García Lorca, Federico: „Romancero gitano“, en: idem: Obras completas, Buenos Aires 1961, vol. 4, pp. 11-47.

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queda dentro de las reglas de su propio sistema. Michel Foucault interpretó dicha crítica a partir del concepto de „transgresión“ – desarrollado por Georges Batailles en L’érotisme –,11 pues, el erotismo es un movimiento de transgresión cuya ambivalencia está ya marcada por la etimología de lo sagrado: „sacer“, un concepto que implica el mal y el bien a la vez. Ahora bien, dicha ambivalencia, muy cercana a lo grotesco, es un principio que la vanguardia española encuentra en la tradición que va de Goya al esperpento de Valle-Inclán.

La visualidad en las imágenes oníricas Michel Foucault y Jean François Lyotard nos proponen un análisis de las imágenes oníricas cuyo objetivo es el de captar las energías implícitas en la materialidad del sueño, más allá de los significados simbólicos y lingüísticos. Me refiero a dos de los primeros estudios de los autores mencionados: la tesis doctoral de Lyotard, Discours, figure (1971) y la introducción de Foucault a la teoría existencialista del sueño, publicada por Binswanger.12 Me limito a Lyotard. Éste rechaza la interpretación lingüística aportada por Lacan para ilustrar la importancia de la materialidad de la metáfora onírica en referencia a una pintura de Magritte, La reconnaissance infinie. Es un cuerpo cósmico poblado por montañas desiertas, envueltas en una luz oscura. Sentado sobre el planeta, un hombre mira al infinito. La imagen se puede entender simbólicamente como el reconocimiento del infinito o como el reconocimiento de la búsqueda infinita de un más allá inalcanzable, de algo que queda indefinido. En el primer caso la imagen representa el infinito; en el segundo, la oscuridad de la materialización transmite la experiencia de la búsqueda. Otro ejemplo sería la conocida imagen de Buñuel en UN PERRO ANDALUZ: las hormigas que salen de la mano. Es la materialización de la metáfora „avoir les formis dans la main“, es decir, tener la mano entorpecida. Ahora bien, dicha materialización, al romper con las reglas miméticas, 11 Foucault, Michel: „Vorrede zur Überschreitung“, en: Walter Seitter (ed.): Michel Foucault. Von der Subversion des Wissens, München 1974, pp. 3253. 12 Foucault, Michel: „Einleitung“, en: Ludwig Binswanger: Traum und Existenz. Übersetzung und Nachwort von Walter Seitter, Bern/Berlin 1992, pp. 7-93. Véase mi análisis de la teoría de la imagen onírica desarrollada por Foucault en la introducción a Binswanger: Borsò, Vittoria: „Foucault und Binswanger – der Traum, der Tod und der Andere“, en: Rudolf Heinz/Wolfgang Tress (eds.): Traumdeutung. Zur Aktualität der deutschen Traumtheorie, Wien 2001, pp. 117-128.

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pone en escena el realismo de las cosas y la perturbación producida en el sujeto. De las imágenes cotidianas segmentadas, ambivalentes, surge, de hecho, el misterio. Aquí tenemos el dinamismo de una continua oscilación entre visibilidad e invisibilidad, caractéristico del surrealismo heterodoxo francés y del surrealismo español. Para entender el „suprarealismo“ de las imágenes oníricas literarias tenemos que acudir al cine. De hecho, en sus consideraciones acerca de la importancia del „découpage“ Buñuel comenta: „Por la segmentación, el escenario o conjunto de ideas visuales escritas, deja de ser literatura, para convertirse en cinema.“13

Surrealismo y cine: un nuevo realismo Es sabido que uno de los principios que inspira a las vanguardias es la metáfora de Lautréamont acerca de la unión de una máquina de coser y un paraguas sobre la mesa de un quirófano. Lautréamont es leído en España, en donde la traducción de Champs de Maldoror llega muy pronto.14 La unión de los objetos mencionados en esta metáfora no encuentra una correspondencia en el orden de los discursos; los objetos quedan más bien aislados, irritando la síntaxis entre las palabras y las cosas, como enseñó Michel Foucault con respecto a las llamadas heterotopías. Aislar los objetos conlleva una crítica del orden lógico que los integra a un contexto, aparentemente, de manera natural. Como en el trabajo sobre la manifestación onírica, el hecho de aislar los objetos produce, pues, una crítica a la totalidad orgánica, desvirtuando el efecto simbólico y mimético de la imagen. Dicha estética, que busca la superación del simbolismo mimético en favor de la aparición de las cosas, es congénita al medio cinematográfico, como fue subrayado por varios teóricos del cine a partir de las películas surrealistas de Buñuel/Dalí (L’ÂGE D’OR, UN CHIEN ANDALOU), y, sobre todo, con respecto a LAS HURDES – TIERRA SIN PAN (1932), el documental – sólo en apariencia – de Buñuel. Pierre Kast, el cineasta y crítico francés de los años 30 subraya que la „fonction de constat“ es un nuevo elemento realista, que vincula las películas vanguardistas a LAS HURDES, y que, a la vez, pone en evidencia la mentira del realismo tradicional e ilusionista, un realismo que se in-

13 Buñuel, Luis: „Über die Großaufnahme“, en: idem: Die Flecken der Giraffe. Ein- und Überfälle, Berlin 1991, p. 269 (parecido en La Gaceta Literaria, no. 43, 1927). 14 Cf. Aranda 1981, p. 16.

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clina a justificar mitologías ideológicas.15 Es un realismo debido, por ejemplo, al gran plano, un realismo nuevo que presenta un mundo que se impone a la mirada del espectador: Ce monde que nous regardons de nos yeux bien ouverts, le réalisme breveté est impuissant à le reproduire. Davantage, il devient une mystification parmi d’autres. Enfin, le cinéma est aussi peu doué que possible pour „l’objectivité“; ce qu’il montre, et qui a été choisi en vue d’une preuve ou d’un effet, devient vrai pour le spec16 tateur, par définition [...].

Debido a la posibilidad de nuevas combinaciones, los objetos se aislan de los contextos naturales y se vuelven autónomos. Es una estética que, dentro del surrealismo, llevará a lo fantástico, al animismo y a lo que – a partir de Kafka – se denomina „realismo mágico“. Con respecto a este principio, Magritte había comentado su propia pintura apuntando que, aún tratándose de objetos conocidos, sin embargo las combinaciones, desconocidas, dejan vislumbrar lo extraño („das Unheimliche“) dentro de lo familiar („das Heimliche“). Ahora bien, a partir de la vanguardia histórica, el problema de la visibilidad y del nuevo realismo ha sido un tema ampliamente tratado. El cine fue considerado como el arte de la visibilidad, un arte que, como afirmó Béla Balázs, más que cualquier otro arte, saca a luz la fisionomía latente de los objetos.17 Para Buñuel dicho efecto es un efecto de „fotogenia“, un término derivado de Jean Epstein quien consideró el cine como la escuela de la mirada. La „fotogenia“ es, según Buñuel, un elemento del gran plano que,

15 Cf. Kast, Pierre: „Une fonction de constat“, en: Cahiers du cinéma, (1951), pp. 6-16. 16 Kast 1951, p. 10. 17 Cf. Balázs, Béla: Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films, Wien 1924, citado según Paech, Joachim: Literatur und Film, Stuttgart 1988, p. 161. Balázs opta por la concreción del cine en contra de la abstracción de la literatura. Paech ve en dicha posición de Balázs una prefiguración de las teorías del realismo ontológico del cine según Kracauer y Bazin (Paech 1988, p. 161). La tesis de „realismo ontológico“ es discutible, como lo ilustró claramente Deleuze rechazando la crítica de los semiólogos del cine (Metz) contra la tesis (fenomenológica) de la prioridad de las cosas frente a la cámara, propuesta por Pier Paolo con el concepto de los „imsegno“, es decir del lenguaje puro de la realidad. Véase Borsò, Vittoria: „Pasolinis ‚Decamerone‘ oder eine kinematographische ‚Divina Mimesis‘ – Mediale Schwellen zwischen Malerei und Film“, en: Jochen Mecke/Volker Roloff (eds.): Kino-/(Ro)Mania. Intermedialität zwischen Film und Literatur, Tübingen 1999, pp. 355-374.

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en la historia del cine, emerge con Griffith. Hablando de arte fotogénico, Buñuel se refiere al ejemplo de los pies o de la cara del corredor que, de pronto, aparecen de un trasfondo de paisaje en movimiento.18 La relación con el surrealismo está en la función desnaturalizante de dichas imágenes.19 El gran plano es inherente al ‚ojo‘ de la camara, a la mirada extraña de la máquina, y no es el efecto de la intervención posterior del artista, debida al montaje. En términos de Buñuel, el gran plano es un efecto del „découpage“, es decir, de una operación mental anterior, un efecto del encuadre de los objetos, de la perspectiva, de la postura del sujeto frente al mundo, alterados en el momento mismo en que la mirada pasa a ser la mirada del objetivo de la máquina.20 Buñuel denomina el „découpage“ – es decir, segmentación, re-organización y movimiento – el embrión fotogénico. Es una creación a través de la segmentación y de la fragmentación.21 La segmentación y fragmentación de los objetos corresponden al principio vanguardista que busca la destrucción de la unidad clásica y de las relaciones naturales entre las cosas. En los intersticios entre los objetos, separados entre sí, emerge algo que está más allá de lo empíricamente visible. De hecho, Buñuel subraya que el objetivo de la cámara es un ojo sin tradición, sin moral, sin prejuicios, capaz de interpretar las cosas de manera autónoma, denaturalizada. Además, por su relación al „off“, es decir, a las otras imágenes y a los otros segmentos temporales,22 la imagen es un momento huidizo e instable en el fluir del tiempo, idea particularmente importante para las vanguardias, pues en el intersticio entre lo visible y lo invisible emerge lo extraño, lo que no solamente es autónomo con respecto a la soberanía del ojo, sino que, además, sirve de irritación y de obstáculo para un posicionamiento del sujeto en la

18 Paradójicamente es el montaje paralelo y orgánico de Griffith, el que, llevando a la autonomía de la imagen con respecto al contexto ‚natural‘, supera la función mimética del cine. 19 La imagen fotogénica es lo contrario de la producción de imágenes por medio del montaje de atracción de Eisenstein, una estética más abstracta, simbólica. Cf. Buñuel, Luis: Die Flecken der Giraffe. Ein- und Überfälle, Berlin 1991. 20 Es una de las tesis centrales en el ensayo de Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, en: idem: Illuminationen. Ausgewählte Schriften, Frankfurt a.M. 1980, pp. 136-169. 21 Cf. Buñuel 1991, p. 122. 22 Cf. Bonitzer, Pascal: Décadrage. Peinture et cinéma, Paris 1985 y Deleuze 1985.

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perspectiva central.23 La inestabilidad con respecto al „off“ produce una oscilación entre las categorías lógicas y sus polarizaciones: lo humano y lo no-humano, es decir, lo humano y la máquina, lo natural y lo artificial, la muerte y la vitalidad etc. Pierre Kast define adecuadamente el efecto de constatación de cierto fenómeno, que hace aparecer en la pantalla, repentinamente, una realidad independiente del ojo humano, un efecto a través del cual los objetos se muestran como autónomos respecto al ojo del espectador. Según Pierre Kast, más allá de los diferentes estilos y formas, éste es el momento común de las imágenes de vanguardia, inspiradas por el cine.24 Se trata de una insistencia en mostrar sin crear símbolos, mostrar, disfrutando de toda la ambivalencia del término, algo que, por ejemplo, en el contexto del barroco, implicaba la monstruosidad de combinaciones grotescas. Pierre Kast no se refiere al montaje como principio estético del extrañamiento como estrategia, sino más bien al hiperrealismo de imágenes concebidas a partir del gran plano, imágenes que producen irritación visual, que marcan un límite a la creación infinita del poeta, del cineasta, del director. Dicho principio es común a toda la producción cinematográfica de Buñuel, desde UN PERRO ANDALUZ hasta el cine mexicano y las películas, aparantemente realistas, de los años 70.25 Tanto en la fase surrealista como en las posteriores se trata de una nueva manera de ver, un rasgo compartido, por cierto, con el neorealismo italiano, acertadamente estudiado por Gilles Deleuze.26 El „découpage“, en fin, otorga importancia a los objetos prefílmicos que, también según Pasolini, representan la estética del cinema de la poesía.

23 Dicho análisis subraya el carácter contingente de una imagen cinematográfica dentro de la serie temporal, así como la contingencia del momento dentro de la serie de los momentos; cf. Deleuze 1983, p. 13. 24 Cf. Kast 1951, p. 14. 25 Véase, por ejemplo, mi análisis de TRISTANA en Borsò, Vittoria: „Interdiskurs und Intermedialität in der Filmästhetik Buñuels“, en: Ursula LinkHeer/Volker Roloff (eds.): Buñuel. Film – Literatur – Intermedialität, Darmstadt 1994, pp. 159-179. 26 Deleuze va más allá del mero debate sobre la visibilidad de la imagen en el cine como arte (Balázs) o como lenguaje simbólico (Eisenstein). Pues dicho debate se inscribe dentro de la necesidad de autodefinición y de legitimación del cine al comienzo del siglo. Véase Paech 1988, pp. 160s.

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Modernidades españolas y genealogía de la otra vanguardia. La visibilidad: un desafío al sujeto moderno El enfoque de la visibilidad está sacando a la luz un motivo hasta ahora soterrado: la crítica del sujeto fuerte. Es una crítica implícita ya en el simbolismo francés y alemán – también en el modernismo español –, cuyo sujeto había afirmado ser capaz de marcar el ritmo del mundo, al compás de sus poemas. Así, por ejemplo, en el incipit de „A mi alma“, uno de los poemas más citados de la fase modernista de Juan Ramón Jiménez (Sonetos Espirituales, 1914-1915): Siempre tienes la rama preparada para la rosa justa; andas alerta siempre, el oído cálido en la puerta de tu cuerpo, a la flecha inesperada.27

Es, pues, el Narciso modernista, un Narciso débil. Para construir el mundo a su propia imagen, la mirada de Narciso se mezcla con los otros sentidos. Aunque la intuición poética, con su hincapié en la transición entre cuerpo y alma – es decir: en los sentidos –, intenta poner un „signo indeleble a las cosas“, el sujeto, sin embargo, resultará conmocionado en la medida en que busque su propia imagen en el mundo o que, bajo el ritmo de la temporalidad, los objetos estén fluyendo de sus ojos.28 Por el ritmo de la temporalidad las cosas se hacen autónomas y devuelven a Narciso una mirada oblicua, disfrazada, un espejo que le refleja su propia sombra grotesca, la sombra que Luigi Pirandello había percibido en la reflexión humorística. La visibilidad es, de hecho, el problema del arte moderno que, sensible a la temporalidad, transforma en instrumento ambiguo la mirada, ese antiguo y potente eje de la hegemonía epistemológica del yo sobre el mundo. En la vanguardia, de hecho, la visibilidad se transforma en un desafío al sujeto, minando la base de su soberanía sobre el mundo: la visibilidad de las cosas. Como es sabido, la problematización de la visibilidad surge en la filosofía sólo al comienzo del siglo XX, cuando la fenomenología comienza a reflexionar sobre el carácter medial del 27 Ramón Jiménez, Juan: Libros de poesía, Madrid 1967, p. 56. 28 Véase mi análisis del sujeto del modernismo en Borsò, Vittoria: „Grenze und Entgrenzung. Konvergenzen der Moderne bei Giuseppe Ungaretti“, en: Anja Bandau/Andreas Gelz/Susanne Kleinert/Sabine Zangenfeind (eds.): Korrespondenzen. Literarische Imagination und kultureller Dialog in der Romania. Festschrift für Helene Harth zum 60. Geburtstag, Tübingen 2000, pp. 81-108.

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cuerpo, de su química, de su materialidad. Y será esa reflexión la que ponga en cuestión la supremacía del sujeto frente a las cosas. Husserl se enfrenta a este respecto, en la V Meditación Cartesiana, al momento crucial del descubrimiento de la alteridad, ilustrado por el sorprendente dibujo de Ernst Mach titulado Analyse der Empfindungen. El cuerpo vivido („Leib“) es extraño al sujeto que habla.29 El espacio del sujeto y el del objeto ya no son homogéneos, un principio que Heidegger desarrollará como fundamento de la alteridad. Husserl dejará de lado la huella de la visibilidad, de la alteridad del cuerpo y de su temporalidad, tratada, desde un ángulo opuesto, por Maurice Merleau-Ponty en Le visible et l’invisible.30 El cuerpo material, vivido, temporal, corresponde a un espacio antropológico, heterogéneo, extraño a la razón y a sus espacios geométricos, algo ausente del orden real de las imágenes, y algo que sólo aparece en la expresividad de la imagen. Roland Barthes llamó a esta expresividad „el tercer sentido“ o sea el „sensus obtusus“.31 Es un sentido que se substrae a la razón y que, también con respecto a la imagen fotográfica, no cabe en el dominio del saber, lo que Roland Barthes, en La chambre claire denomina, „studium“.32 Más bien, la alteridad corresponde al „punctum“, a la diferencia que hiere al sujeto cuando, al regresar la expresión de lo incontenible al ojo del espectador – como si fuera un espectro – irrita la percepción visual de las cosas. Y será a partir del límite de la visibilidad del cuerpo, donde „la historia del ojo“ encuentre la aventura moderna de la mirada, tal como se muestra también en la lección de Georges Batailles.33 Ahora bien, la visibilidad es, por tanto, el espacio primordial de escenificación del sujeto con respecto a su propia alteridad, de tal forma, que la interpretación de la visibilidad está estrechamente vinculada a la concepción del sujeto, tanto si – como el sujeto idealista – prescinde de su cuerpo, como si – en la fenomenología – la sujetividad radica sobre su propia corporeidad. Si bien el antiguo sujeto fuerte, decimonónico, sigue intacto hasta el siglo XXI, basando su fuerza en la tecnología y en el 29 Véase Waldenfels, Bernhard: „Nähe und Ferne des Leibes“, en: Roland Behrens/Roland Galle (eds.): Menschengestalten. Zur Kodierung des Kreatürlichen im modernen Roman, Würzburg 1995, pp. 11-24. 30 Merleau-Ponty, Maurice: Le visible et l’invisible, Paris 1964. 31 Barthes, Roland: „Le troisième sens“, en: Cahier du Cinéma, no. 222 (1970), pp. 12-19. 32 Barthes, Roland: La chambre claire, Paris 1989. 33 Véanse Borsò, Vittoria: „La invisibilidad de lo real y la expresión de la escritura“, en: Sileno, no. 10 (2001), pp. 50-60 e idem: „La escritura. ‚Mise en scène‘ del terror y crítica del terror en la literatura“, en: Sileno, no. 13 (2002), pp. 95-104.

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exceso de imágenes de los massmedia audiovisuales,34 para los vanguardistas ‚heterodoxos‘, el arte es un desafío a la pantalla del ojo.35 Lo real, pues, no está en un sentido profundo que el ojo puede desvelar. A partir del arte vanguardista, lo real se encuentra más bien en la expresividad de las imágenes, en la ambigüedad del gran plano o en la rapidez de las imágenes que irritan la mirada y ponen en evidencia el desajuste en la relación entre el yo que mira y lo otro, a lo que la mirada se dirige. Mientras que lo invisible de los surrealistas ‚ortodoxos‘ representa una extensión del espacio del espectador, lo invisible en el arte ‚disidente‘ es el límite del sujeto.36 El sujeto de la ‚otra vanguardia‘, la vanguardia heterodoxa arriba mencionada, la vanguardia que en París se separará de Breton, busca obstáculos para los ojos. Para dicha vanguardia, la pintura de Goya y la mirada alucinada de individuos irreconocibles en medio de las masas representa una fuerte reminiscencia.37 Es la mirada que da testimonio de la visión del horror, de algo acontecido fuera de la pintura,38 el cuerpo y la cara grotesca son figuraciones monstruosas de las huellas de la violencia ejecutada sobre los cuerpos. Es una huella cuya representación, imposible, se expresa, sin

34 Roland Barthes denominó a las imágenes de la comunicación mediática, que autentifican la evidencia de la realidad, una forma de „servicio militar social“. Cf. Barthes, Roland: „Visualisation et langage“, en: idem: Œuvres complètes, Paris 1994, vol. 2, pp. 112-116. 35 Me refiero al análisis llevado a cabo por Lacan, Jacques: Die Spaltung von Augen und Blick. Das Seminar von Jacques Lacan, Weinheim/Berlin 1980, vol. 11, pp. 73-126. Que las vanguardias atacan a la „pantalla“ del ojo lo demuestra no solamente la famosa imagen de UN PERRO ANDALUZ, sino también una serie de imágenes de la vanguardia cinematográfica, reproducidas también en el catálogo de Buñuel 1994, entre otros El hombre en la cámara de Vertov. Véase también la pintura de Magritte El falso espejo. 36 Para la diferencia entre estos dos espacios, véanse el análisis de la „exterioridad“ por Lévinas, Emmanuel: Totalität und Unendlichkeit. Versuch über die Exteriorität, München 1987 y Borsò, Vittoria: „Grenzen, Schwellen und andere Orte“, en: Vittoria Borsò/Reinhold Görling: Kulturelle Topographien, Stuttgart 2004 (en prensa). 37 Con respecto a la pintura de Maruja Mallo recuerda Aranda: „maniquíes decapitados (recuerdo de Ramón, de Solana, etc.), ojos arrancados y manos cortadas (Lorca, Buñuel: uno de los cuadros se llama Los ojos de Buñuel sobre la mesa, 1928).“ (Aranda 1981, p. 96.) 38 Para dicha interpretación de Goya: „Yo lo vi“, cf. el artículo de Görling, Reinhold: „‚Yo lo ví‘. – Trauma und Übertragung“, en: Vittoria Borsò/Björn Goldammer (eds.): Moderne(n) der Jahrhundertwenden. Spuren der Moderne(n) in Kunst, Literatur und Philosophie auf dem Weg ins 21. Jahrhundert, Baden-Baden 2000, pp. 111-127.

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embargo, a través del „fard“,39 de los movimientos y las formas ambiguas, doloridas, chocantes, irritantes a la vista. La subjetividad que se constituye a través de semejantes imágenes, es una subjetividad ‚débil‘ que sobrevivirá a las derrotas de las revoluciones vanguardistas. El realismo que corresponde a dichas imágenes ha sido malentendido, tomado como realismo objetivo. Contrariamente a la mirada olímpica y ordenadora del realismo objetivo propiamente, el „effet de constat“, la fórmula de Pierre Kast mencionada anteriormente, pone de relieve la autonomía de las cosas que deterioran la ilusión referencial del realismo. Dicha problematización es fenomenológica, como observó muy claramente Gilles Deleuze a partir de la imagen en el cine neorealista italiano,40 en el que el cine, en vez de representar el mundo, expresa la indignación del sujeto frente a los espantos de la Segunda Guerra Mundial. Es el testimonio de algo invisible, de una alteridad inherente a la expresión, y sin embargo ausente en la representación. En lugar de la mímesis de conceptos abstractos de la realidad, es la expresión material de la obra que impresiona la vista. En ella encontramos la inscripción de lo irrepresentable, las huellas de lo que queda invisible en las redes discursivas. Son rupturas, hetereogeneidades, intensidades, síntomas de una irritación ocasionada por la experiencia de la alteridad.

Elipsis, segmentación y movimiento: estética cinematográfica en las imágenes oníricas literarias de García Lorca La manifestación material de las imágenes oníricas es síntoma de un sujeto que ya no es ‚el amo de su casa‘.41 Por esto, también las imágenes oníricas en la poesía de García Lorca son la traducción del horror frente a la violencia y la muerte. De hecho, el observador que no subordina la materialidad de las imágenes oníricas a la lógica discursiva de un sentido 39 Véase Barthes 1970, con respecto al sensus obtusus. „Fard“ quiere decir „colorete“, „chillón“, „afeite“. 40 Cf. Deleuze 1985. Se trata, por ejemplo, de las „liaisons sensori-motrices relâchées“, de los „paysages deshumanisés“ y de „la méthode du constat“, es decir, de la no explicación de las cosas (Deleuze 1985, pp. 10, 12, 14). La estética del objeto de Buñuel no está lejos de dicha interpretación del neorealismo por Deleuze, a pesar del hecho de que Buñuel interpreta el neorealismo en el sentido del realismo objetivo. Véanse mi análisis de Buñuel (Borsò 1994) y Monegal 1993, p. 98. 41 Véase la interpretación de Freud por la teoría del sueño de Foucault 1992, pp. 7-93, p.78.

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reglamentado por la razón, percibe una irritación ante la manifestación material de las imágenes. La incorporación del lugar común, de un trozo de vida cotidiana, a estos escenarios fantásticos origina relaciones chocantes. Dichas imágenes no sirven ni a la mímesis ni a la pedagogía visual de la propaganda social. La figuración onírica es más bien el silencio del pensamiento discursivo.42 El silencio no es una deficiencia, una carencia, sino más bien la huella material, la herida que el mundo deja sobre el espectador. El observador o el lector se transforman en testigos de algo inefable que aconteció. Son imágenes ambivalentes, por elipsis („Leerstelle“) o por exceso de significación. Son imágenes que marcan espacios imposibles, frente a los que el discurso se rompe (elipsis) o se deteriora. „El grito“ del Poema del cante jondo (1921) es un ejemplo de dicha estética: La elipse de un grito, va de monte a monte. Desde los olivos, será un arco iris negro sobre la noche azul. ¡Ay! Como un arco de viola el grito ha hecho vibrar largas cuerdas del viento. ¡Ay! (Las gentes de las cuevas asoman sus velones). 43

Ay!

En este famoso poema la elipse es a la vez un imagen sinestética – un sonido que produce fuertes sensaciones visuales – y la materialización de una experiencia cuya representación es imposible. Sólo el „fard“, la expresividad de la herida producida, se hace visible; se oye el ímpetu de las 42 Cf. Lyotard, Jean-François: Discours, figure, Paris 1971 y Roloff, Volker: „Intermediale Figuren in der spanischen (und lateinamerikanischen) Avantgarde und Post-Avantgarde“, en: Vittoria Borsò/Björn Goldammer (eds.): Moderne(n) der Jahrhundertwenden. Spuren der Moderne(n) in Kunst, Literatur und Philosophie auf dem Weg ins 21. Jahrhundert, Baden-Baden 2000, pp. 385-401. 43 García Lorca, Federico: „El grito“, en: idem: Obras completas, Buenos Aires 1961, vol. 4, p.71.

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palabras frente a la imposibilidad del discurso, que se muestra, apenas, como un murmullo, entre paréntesis, semejante a una reacción ancestral. La imagen es, pues, testimonio de algo invisible en el orden del discurso. Es el testimonio de una existencia que sigue estando fuera del libro y sólo se presenta en los síntomas de las heridas. Visible es la fragilidad del ser humano frente a los horrores de la violencia, los fracasos de la técnica o del progreso hacia el futuro. Aquí encontramos también la función del neopopulismo folclórico de García Lorca, en Romancero gitano, en Poema del cante jondo o en las topografías de Nueva York: los testimonios de redenciones imposibles. Bajo esta perspectiva, el aparente tradicionalismo folclórico y las imágenes surrealistas de Poeta en Nueva York forman parte de una misma estética: una estética que muestra las fracturas de las mitologías burguesas. „Ciudad sin sueño (Nocturno del Brooklyn Bridge)“ No duerme nadie por el cielo. Nadie, nadie. No duerme nadie. Las criaturas de la luna huelen y rondan sus cabañas. Vendrán las iguanas vivas a morder a los hombres que no sueñan. [...] Un día los caballos vivirán en las tabernas y las hormigas furiosas atacarán los cielos amarillos que se refugian en los ojos de las vacas. Otro día veremos la resurrección de las mariposas disecatas [...] veremos brillas nuestro anillo y manar rosas de nuestra lengua. ¡Alerta! ¡Alerta! ¡Alerta! [...] Haya un panorama de ojos abiertos y amargas llagas encendidas. No duerme nadie por el mundo. Nadie, nadie. Ya lo he dicho. No duerme nadie. Pero si alguien tiene por la noche exceso de musgo en las sienes, abrid los escotillones para que vea bajo la luna 44 las copas falsas, el veneno y la calavera de los teatros.

44 García Lorca, Federico: „Ciudad sin sueño (Nocturno del Brooklyn Bridge)“, en: idem: Obras completas, Buenos Aires 1962, vol. 7, pp. 36s.

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En el poema, como en toda la colección, se hace evidente un surrealismo de intervención (engagé), llevado a cabo a través de frecuentes visiones de lo repugnante y del horror de la ciudad. Es, pues, el surrealismo de una llamada a la conciencia mundial, un libro político aunque no contaminado de propaganda. El poema ofrece el espejo de un urbanismo irracional y de las previsibles rebeliones de las minorías negras. Sin embargo, las minorías del Nueva York de 1930, vienen a ocupar el lugar de los gitanos andaluces. Los poemas de Nueva York son la otra cara de las exaltaciones granadinas. De hecho, además de la exhortación social, que García Lorca trajo como la experiencia más lúcida de su viaje a Nueva York, este poema contiene en sí, también, el programa de una rebelión que brota de los sueños. El poema no es el simple mediador de una crítica social patente, una crítica representada simbólicamente por las imágenes oníricas. Como en los, así llamados, vanguardistas ‚heterodoxos‘, tampoco en este poema, el sueño es la visualización simbólica del sentido del subconsciente. La manifestación material del sueño marca, más bien, un límite a la interpretación de las imágenes, un lugar, a medio camino, entre el deseo de visualizar y la imposibilidad de hacerlo, entre la vigilia y el sueño. Desde este intersticio el poema desemboca, en su última estrofa, en el desengaño de la realidad – como Goya lo propone en el famoso Capricho 43. Las metáforas de este poema recuerdan las metáforas de UN PERRO ANDALUZ, que Buñuel estrenó en Paris (1929) en colaboración con Dalí, una película que, además de ser la mise-en-scène de un complejo de castración, es también una mise en abyme de la estética de figuración surrealista. Pues, como en los poemas de Nueva York, también las imágenes de la película de Buñuel/Dalí expresan la crisis provocada en un joven poeta por los horrores de la cultura burguesa. Roland Barthes define el sensus obtusus „le passage du langage a la signifiance“ (en el sentido de Kristeva), es decir, el paso del discurso al proceso de significación, por la mediación de la subjetividad y del cuerpo. Además, según él, el sensus obtusus es „L’acte fondateur du filmique même“45. Recuerdo, otra vez, que el procedimiento que engendra dicha expresividad, según Buñuel, es la segmentación, el gran plano; una tesis a la que se inclina también el cineasta y crítico francés Pascal Bonitzer.46 Ahora bien, en el Romancero hay una serie de flashes de

45 Barthes 1970, p. 18. 46 Cf. Bonitzer 1985.

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imágenes, que dentro del ritmo de la narración del romance, acercan la imagen al gran plano: Así, por ejemplo, las escenas de varios romances: „Romance sonámbulo“ Verde que te quiero verde. Verde viento. Verde ramas. El barco sobre la mar y el caballo en la montaña. Con la sombra en la cintura, ella sueña en su baranda verde carne, pelo verde, con ojos de fría plata. Verde que te quiero verde. Bajo la luna gitana, las cosas la están mirando y ella no puede mirarlas. [...] Ya suben los dos compadres hacia las altas barandas. Dejando un rastro de sangre. Dejando un rastro de lágrimas. Temblaban en los tejados farolillos de hojalata. Mil panderos de cristal, 47 herían la madrugada. „San Miguel (Granada)“ Se ven desde las barandas, por el monte, monte, monte, mulos y sombras de mulos cargados de girasoles. Sus ojos en las umbrías se empañan de inmensa noche. En los recodos del aire, 48 cruje la aurora salobre. „San Gabriel (Sevilla)“ Un bello niño de junco, anchos hombros, fino talle, piel de nocturna manzana, boca triste y ojos grandes, 47 Tomado de García Lorca, Federico: „Romancero gitano“, en: idem: Obras completas, Buenos Aires 1961, vol. 4, pp. 18-21. 48 Tomado de ibid., pp. 28-30.

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VITTORIA BORSÒ nervio de plata caliente, ronda la desierta calle. Sus zapatos de charol rompen las dalias del aire, con los dos ritmos que cantan breves lutos celestiales. En la ribera del mar no hay palma que se le iguale, ni emperador coronado 49 ni lucero caminante.

Las imágenes son guiones para películas. Como en el neorealismo italiano, la intensidad de las imágenes se debe a la expresividad de fragmentos de cuerpo en gran plano, de juegos de luz-sombra, de combinaciones inusuales, de intensidad sensual. La imaginación no crea a rienda suelta, más bien se deja impresionar por las cosas y por el espacio antropológico en el que el cuerpo del observador encuentra otros cuerpos. Releyendo la famosa conmemoración de Góngora en 1927 y otros ensayos estéticos encontramos argumentos que, a la luz de nuestra propuesta, van más allá de una mera interpretación de la estética gongorina. García Lorca aborda, en el ensayo sobre Góngora, los principios de una estética vanguardista propia.

La „imagen poética de Don Luis de Góngora“ – El angel de tiniebla frente a las cosas del mundo Es conocida la tesis principal del ensayo sobre Góngora,50 según la cual el poema depende de la calidad de sus metáforas. Góngora, dice Lorca, inventa un nuevo método para cazar y plasmar las metáforas,51 buscando la transformación de las imágenes populares para encontrar una nueva manera de ver;52 una manera de ver que la sensibilidad del poeta posibilita poniendo „un microscopio en las pupilas“53. Es el microscopio, que, leyendo a Virgilio, transformó sus imágenes en imágenes castellanas. Depurada de „congojas comunicables“54, la belleza del verso de Góngora brota de los cinco sentidos corporales, de la superposición de

49 Tomado de ibid., pp. 34-36. 50 García Lorca, Federico: „La imagen poética de Don Luis de Góngora“, en: idem: Obras completas, Madrid 1989, vol. 3, pp. 62-84. 51 Cf. ibid, p. 66. 52 Cf. ibid, p. 63. 53 Ibid, p. 67. 54 Ibid.

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sensaciones. Además del dictamen de la sinestesia, Lorca subraya la función paradójica de la vista dentro de los momentos centrales de la metáfora, es decir, la forma y el radio de acción de la imagen. La metáfora, dice él, está bajo el régimen de la vista, pero es ésta, a su vez, la que pone límites a la imaginación y confiere a la imagen su concreción. El límite concreto al que se enfrenta la mirada dirigida a los objetos que se ofrecen a la vista, y la plasticidad de éstos, salvan a la imaginación del poeta del peligroso mundo poético de las visiones: „la vista no deja que la sombra enturbie el contorno de la imagen que se ha dibujado delante de ella [de la vista]“55. Como si fuese un escultor, para empezar su poema, el poeta se pone delante del mundo, „ata su propia imaginación y le pone bridas“. Si bien la metáfora, como el mito, permite unir mundos antagónicos por medio de un salto ecuestre – Lorca hace referencia al cine de Jean Epstein –,56 también consigue focalizar formas y objetos de pequeño tamaño, penetrando en aquello que se puede denominar el mundo de cada día.57 Los mitos se transforman por la observación, poniéndolos „de perfil“, como dice Lorca. En otra conferencia de 1928 – „Imaginación, inspiración, evasión“58 – define García Lorca la imaginación como sinónimo de „descubrimiento“ del mundo. La imaginación, cuya hija directa es la metáfora, está limitada por la realidad: no se puede imaginar lo que no existe; la imaginación necesita objetos concretos, paisajes, números, planetas, para que se hagan precisas las relaciones entre ellos dentro 59 de la lógica más pura [...].

Si bien la imaginación es una fuerza transformadora, siempre emerge, sin embargo, frente a los hechos de la realidad más neta y precisa. Su manera especial de crear necesita el orden y el límite de las cosas. Tomando posición frente al debate sobre la realidad científica y el mito imaginativo, Lorca concluye que la imaginación es más comparable a la ciencia que al mito.60 En muchos aspectos Lorca recalca el debate entre forma y creación, que había ya encontrado una fórmula dialéctica en varios poetas ‚modernos‘ y vanguardistas, cuya modernidad – como en el 55 56 57 58

Ibid., p. 68. Cf. ibid., p. 69. Cf. ibid., p. 71. García Lorca, Federico: „Imaginación, inspiración, evasión“, en: idem: Obras completas, Madrid 1989, vol. 3, pp. 85-91. 59 Ibid., p. 86. 60 Cf. ibid., p. 87.

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caso de García Lorca – hace hincapié en la transformación de la poesía barroca61 por la fenomenología del mundo concreto como límite de la visión del espectador. Dicha idea conduce hacia nuevas maneras de ver. Pues, ahora, en el contexto de la vanguardia, el mundo es el límite de una visión mediatizada por nuevas técnicas que, al mismo tiempo, refuerzan y debilitan la omnipotencia del sujeto.62 Así se expresa García Lorca en su „Oda a Salvador Dalí“, de la que cito, a modo de conclusión, las siguientes estrofas: Alma higiénica, vives sobre mármoles nuevos. Huyes la oscura selva de formas increíbles. Tu fantasía llega donde llegan tus manos, y gozas el soneto del mar en tu ventana. 61 Así define Octavio Paz la poetología del mexicano Gorostiza en Muerte sin fin: huella de Góngora sotomisa a operación de „cámara de vacío“. (Paz, Octavio: „Variaciones sobre la muerte“, en: Octavio Paz/Mario-Luis Schneider (eds.): México en la obra de Octavio Paz. 3 vols., México, D.F. 1987, vol. 2, pp.105-118, p.116.) Véase Borsò, Vittoria: „De la soledad a la pluralidad de las voces – ‚Modernidad‘ en ‚Muerte sin fin‘ de José Gorostiza“, en: Inke Niemeyer/Katharina Schlickers/Sabine Paschen/Hans Gunia (eds.): La modernidad revis(it)ada. Literatura y cultura latinoamericana de los siglos XIX y XX, Berlin 2000, pp. 319-334. 62 Mi análisis tiene variados puntos en común con el interesante estudio de la „poética de los objectos“ dentro de la estética surrealista de Luis Buñuel llevado a cabo por Monegal 1993. Los momentos en común son los siguientes: también Monegal parte de la relación entre las Greguerías de Gómez de la Serna y el „découpage“ de Buñuel, estudia los paralelos entre la poesía de Benjamin Peret, la poesía temprana de Buñuel y el cine, distingue entre el realismo y „la poética de los objetos“ en base a las teorías de Béla Balázs, especialmente de Jean Epstein, desembocando en la distinción entre figuración (Monegal 1993, p. 154) y mímesis. En esta base estudia Monegal en la segunda parte del libro acertadamente titulada „Poesía del objeto y silencio del signo“ los procesos de „adopción y desplazamiento“ de los textos literarios al cine. Debido a la preferencia de Buñuel por las transposiciones (18 de las 32 películas), el análisis de Monegal, de hecho, se concentra en las transposiciones literarias al cine. A pesar de las coincidencias, el intento de mis breves reflexiones es, en contra, demostrar una estructura paralela entre la poética de los objetos en literatura (García Lorca) y en cine (Buñuel). Mientras el estudio de Monegal sufre, a mi modo de ver, de un residuo metodológico que quiere integrar la obra de Buñuel a la estética del surrealismo francés, mi fundamento teórico es, pues, la fenomenología y la tesis de Walter Benjamin acerca del cambio de la percepción debida a los nuevos medios. A partir de la equivalencia estructural aquí observada con respecto a la visualidad de los objetos quedan para estudiar, obviamente, las diferencias que se dan al expresar con distintos medios (cine o literatura) la perturbación que los objetos provocan sobre el vidente. (Cf. nota 28.)

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El mundo tiene sordas penumbras y desorden, en los primeros términos que el humano frecuenta. Pero ya las estrellas, ocultando paisajes, 63 señalan el esquema perfecto de sus órbitas.

63 García Lorca, Federico: „Oda a Salvador Dalí“, en: idem: Obras completas, Buenos Aires 1962, vol. 7, pp. 89-93.

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SOBRE ESENCIAS Y PRESENCIAS (UNA SESIÓN DEL CINECLUB ESPAÑOL) 1. El 29 de noviembre de 1930, en el cine Palacio de la Prensa de Madrid, se inauguró la tercera temporada del Cineclub Español (CCE), se trataba de la decimoquinta sesión desde su inauguración el 23 de diciembre de 1928. La programación prevista pudo inducir a pensar que se trataba de una sesión ‚menor‘, dado que unicamente ofrecía la proyección de cuatro documentales, pero el desarrollo de la misma y la crítica que suscitó permiten presentarla como un espacio de singular interés para poder reconstruir los niveles de institucionalización y penetración social alcanzadas por una cultura cinematográfica, emergente, en el marco de los movimientos de vanguardia de los años veinte.1 El movimiento de promoción de cineclubs había surgido en Francia tras la Primera Guerra Mundial. En España este espacio de representación y debate, que aportaba la experiencia de los cineclubs franceses, sirvió para conformar una plataforma idónea, bien aprovechada por círculos de artístas e intelectuales, para proseguir el empeño de aportar una impronta de modernidad y de talante vanguardista – en los años de la fascinación por el deporte y el cine – a una cultura, la española, marcada por una ostensible desorientación. 1 Gubern, Román: Proyector de luna. La generación del 27 y el cine, Barcelona 1999, una lectura indispensable para trabajar sobre el tema. Para una contextualización más diferenciada Barck, Karlheinz: „Avantgarde“, en: Karheinz Barck (ed.): Ästhetische Grundbegriffe, vol. 1, Stuttgart/Weimar 2000, pp. 544-577; Carnero, Guillermo: Las armas abisinias. Ensayo sobre literatura y arte del siglo XX, Barcelona 1989; Gumbrecht, Hans Ulrich: Eine Geschichte der spanischen Literatur, Frankfurt a.M. 1990 e idem: 1926. Ein Jahr am Rand der Zeit, Frankfurt a.M. 2001; Mainer, José Carlos: La Edad de Plata (1902-1939). Ensayo de interpretación de un proceso cultural, Madrid 1981; Wagner, Birgit: Technik und Literatur im Zeitalter der Avantgarden, München 1996.

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El Cineclub Español supuso la extensión cinematográfica de La Gaceta Literaria (LGL), un periódico quincenal que nació con los ‚apellidos‘ de ibérica:americana:internacional. letras – arte – ciencia.2 La Gaceta Literaria había iniciado su andadura, el 1 de enero de 1927, apadrinada por Jose Ortega y Gasset con un artículo en primera plana, „Sobre un periódico de las letras“, en el que tematizaba las diferencias mediales entre el libro – „siempre abstracción y fragmento“ – , la revista – „centón de pequeños libros dispares“ – y el periódico. Esta especie de proemio de Ortega arrastraba, explícita e implícitamente, un diagnóstico y un programa de urgencia: En otros tiempos pudo ser menos urgente un periódico de las letras porque la vida literaria era menos numerosa, menos varia de direcciones, entrelazamiento y heterogeneidades. Hoy el público y los mismos escritores andan perdidos en medio de la selva impresa ejercitando un vago robinsonismo. [...] Es preciso, pues, objetivar la vida de las letras, dotarla de presencia y perfil notorio [...] y contribuir a la mayor y más urgente de las empresas que es: curar definitivamente a las letras españolas de su pertinaz provincia3 lismo.

Fundada por Ernesto Giménez Caballero, muy en la línea de otras revistas europeas de vanguardia, LGL mostró desde sus comienzos una ostensible curiosidad intelectual por el ‚nuevo medio‘: con una referencia acentuada al cinematógrafo como expresión de actualización europea a la vez que síntoma de ‚avance‘ y juventud;4 con un número monográfico dedicado al cinema;5 con una atención especial a la presencia de una crítica específicamente cinematográfica y a cargo de unos críticos con experiencia ‚europea‘: Luis Buñuel, Juan Piqueras y Luis Gómez Mesa.6 2 Cf. Mainer, José Carlos: „Notas sobre ‚La Gaceta Literaria‘“, en: Anthropos, no. 84 (1988), pp. 40-44. También Selva Roca de Togores, Enrique (ed.): „Documentación: La Gaceta Literaria“, en: AnthroposSuplementos, (1988); y Trapiello, Andrés: Las armas y las letras. Literatura y guerra civil (1936-1939), Barcelona 1994. 3 Ortega y Gasset, Jose: „Sobre un periódico de las letras“, en: La Gaceta Literaria. ibérica:americana:internacional. letras – arte – ciencia, no. 1 (1927), p. 1. 4 „Unas palabras de justificación“, en: La Gaceta Literaria, no. 43 (1928), p. 1: „Es un arte que avanza. Hay que tener mucho cuidado en no perderle de vista... Todos los jóvenes sentimos el cinema. Es nuestro. El, es un poco nosotros.“ 5 „El séptimo arte. Cinema 1928“, en: La Gaceta Literaria, no. 43 (1928). 6 Cf. Larraz, Emmanuel: Le cinéma espagnol des origines à nos jours, París 1986, pp. 47ss. y Torres, Augusto M. (ed.): Cine español 1896-1983, Madrid 1984.

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Con la creación del Cineclub Español, LGL continuaba la experiencia, efímera – únicamente tres sesiones, entre mayo de 1927 y diciembre de 1928 –, llevada a cabo en la Residencia de Estudiantes bajo la dirección de Luis Buñuel. La Gaceta Literaria había informado, en mayo de 1927, que la Sociedad de Cursos y Conferencias había organizado una sección de ‚cinema moderno‘ en la Residencia de Estudiantes.7 Había descrito el proyecto – tanto desde los imperativos de la evolución histórica como desde la fascinación por un talante espiritual de nuevo cuño – como la presentación de „un conjunto de films escogidos, que permitan al espectador darse cuenta exacta de la evolución y transformación experimentada en pocos años por el septimo arte“, reconociendo en Luis Buñuel, su organizador, el talante „de uno de los espíritus jóvenes que poseen mayor intimidad espiritual y técnica con el cinema“8. Desde la covocatoria fundacional del Cineclub Español – en la primera página del número monográfico El séptimo arte. Cinema 1928 – el proyecto se inscribe en el horizonte concreto de las tareas, de alcance minoritario, llevadas a cabo por LGL en su interés por encauzar corrientes del mundo nuevo en nuestro país [...] para minorías, para cineastas, para todo aquel público que, no pudiendo viajar por los estudios y sociedades extranjeras de Cinema, desearía contemplar films superiores, de estricto circuito o de rápido tránsito 9 por el mercado mundial.

El proyecto reconocerá, explícitamente, una especie de obsesión por los imperativos de esa evolución, indicada, que afecta tanto a las pautas de producción como a las exigencias de la recepción: algunos de estos films, muy pocos, fueron proyectados ya en España; sin embargo, creemos se impone una revisión, porque el público no podía contemplarlos hace unos años, como hoy los contemplaría; además de que algunos de ellos marcan momentos definitivos en la evolución del cinema. Esta revisión no hará más que 10 completar y explicar los grados de aquella evolución.

7 Cf. La Gaceta Literaria, no. 10 (1927). 8 Gubern 1999, pp. 260ss. También Armida Sotillo, José: „Luis Buñuel, Giménez Caballero y el Cineclub de ‚La Gaceta Literaria‘“, en: Turia, no. 20 (1992), pp. 161-179. 9 „Convocatoria a los cineastas. Cineclub Español“, en: La Gaceta Literaria, no. 43 (1928), p. 1. 10 Ibid.

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La iniciativa comenzó sus sesiones el 23 de diciembre de 1928 y después de 21 sesiones acabó su andadura el 9 de mayo de 1931, recién nacida la II República. Durante sus años de funcionamiento se mantuvo fiel – la excepción confirma la regla – a su esquema originario de programación: los programas se compondrán ordinariamente de: a) un film documental, b) un film de repertorio, c) un film nuevo, pero que por exigencias del mercado no llegue a las salas de producción, y – eventualmente – d) conferencia breve por un técnico o escritor de van11 guardia.

La historia del CCE ha quedado documentada en las páginas de La Gaceta Literaria, en las que los Boletines del Cineclub marcan una rúbrica complementaria a las sesiones. Ellas forman un documento de consulta imprescindible para reconstruir el desarrollo de la crítica cinematográfica y el debate público en torno al nuevo medio.

2. La Gaceta Literaria, en su número 96 (15.12.1930), publicó el Boletín del Cineclub correspondiente a la sesión decimoquinta: una crónica extensa, firmada por Luis Gómez Mesa, uno de los críticos cinematográficos del periódico y asiduo participante en la tertulia de Ramón Gómez de la Serna en el Café Pombo. Ramón, a su vez, en un artículo titulado „Resumen de mi intervención“, comenta su propia actuación, su protagonismo más bien, en la sesión. Estos dos testigos: la crónica de Gómez Mesa y el artículo de Ramón configuran la referencia central de estos comentarios. En primer lugar, por la detallada densidad con que describen momentos y protagonismos de este espacio de la cultura cinematográfica; pero también, y sobre todo, porque se intuye en ellos – especialmente en el artículo de Ramón – un modo nuevo de relación entre el espacio de las vivencias personales – su presencia – y la materialidad de la representación cinematográfica (pantalla, micrófono y altavoces; voz, gestos, ruidos; imagen y palabra), aproveché el círculo de experiencias que es el Cineclub para hacer dos experiencias peligrosas; pero la emoción de arte y lanzamiento

11 „Convocatoria a los cineastas. Cineclub Español“, en: La Gaceta Literaria, no. 43 (1928), p. 1.

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tiene que estar hecha de temeridad y temblor a la vista del público, 12 y en todo acto de éstos debe quemarse uno a sí mismo.

Desde una lectura actual, la rúbrica „Cinema“ del número 96 de La Gaceta Literaria (la crónica de Gómez Mesa y el artículo de Ramón) sigue resultando interesante en su condición de plataforma para un cierto seguimiento de la dinámica cultural de los años veinte. En torno a esta rúbrica giran los comentarios siguientes, articulados en cuatro momentos, paralelos a los cuatro documentales presentados en esta sesión. Antes de los comentarios, dos apuntes de índole paratextual: el primero en torno al título mismo de la crónica de Gómez Mesa, „Exaltación de lo documental“, por el hecho mismo de acentuar una diferencia – lo documental – como tipo de escenificación – „Inszenierungstyp“13 –, aunque no todos los filmes de la sesión se pudieran denominar así; el segundo en torno a una referencia a París, como la „atalaya“ desde la que el crítico Juan Piqueras – asesorado por León Moussinac – propuso el programa para esta sesión inaugural de la tercera temporada del CCE. Una u otra vez será París la referencia obligada – mental y geográficamente –14 y la garantía de una „mirada siempre alerta para cuanto significa interés o novedad“15. El primer comentario se centra en torno a la primera proyección (que por cierto no se trata de un documental), la película soviética LOS TÁR16 TAROS. Un film con un tema histórico: en Ucrania, bajo el dominio de Polonia, se suceden la invasiones de los tártaros hasta que surge Tarass

12 Gómez de la Serna, Ramón: „Resumen de mi intervención“, en: La Gaceta Literaria, no. 96 (1930), p. 10. 13 Se trata de un concepto propuesto por Hugo Kuhn („Inszenierungstyp/Faszinationstyp“). Su contexto de aplicación es historicamente distinto: Kuhn hace referencia a textos de la Baja Edad Media, que no encajarían en la funcionalidad inherente a un sistema de géneros literarios ni responden a una estable clasificación en temas específicos y articulaciones lingüísticas. (Kuhn, Hugo: „Versuch über das 15. Jahrhundert in der deutschen Literatur“, en: Hans UIrich Gumbrecht (ed.): Literatur und Gesellschaft des Spätmittelalters, Heidelberg 1980, pp. 19-38. También Spangenberg, Peter: Maria ist immer und überall. Die Alltagswelten des spätmittelalterlichen Mirakels, Frankfurt a.M. 1987, p. 56.) 14 Cf. Gubern 1999, pp. 11-13. 15 Gómez Mesa, Luis: „Boletín del ‚Cineclub‘. 15 sesión. Exaltación de lo documental“, en: La Gaceta Literaria, no. 96 (1930), p. 10. 16 Gubern explica con detalle su ficha técnica y las razones de Piqueras para su elección (Gubern 1999, pp. 349ss.)

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Tarassylo, ‚un modesto hijo del pueblo‘, el héroe asesinado ‚por la mano de una mujer‘. El interés en torno al comentario de Gómez Mesa sobre LOS TÁRTAROS se centra, sobre todo, en la formulación de ciertas premisas a partir de la cuales argumenta su crítica: por un lado, una referencia ‚substancialista‘ (en este caso: su autenticidad como film soviético, su espíritu, el valor documental de la exactitud sin mixtificaciones, el retrato de tipos sociales, su ejemplaridad como su base de justificación histórica); y, por otro, el imperativo de una atención – imprecisa en parte – a la materialidad específicamente medial (en este caso: film de „anticuada simplicidad“17: defectos de técnica, falta de conocimiento profesional, ausencia de audacia en el procedimiento – fotografía, enfoque, iluminación – y desarrollo ingenuo en la interpretación, con excesiva vehemencia). El segundo comentario se centra en la segunda proyección de la sesión: un monólogo de Ramón Gómez de la Serna, de tres minutos y medio de duración: una „breve película parlante [...] acerca de la oratoria y sus cultivadores“18, rodada por Feliciano Vitores a principios de 1928 („uno o dos años de delantera a la transformación del cinema en hablado y sonoro“19), con un sistema sonoro defectuoso que provocó una representación accidentada, pero de una irrepetible mise-en-scène en la que se juega cuidadosamente, tanto con las implicaciones, posiblidades y contingencia de una nueva condición estética, postulada por la creciente posibilidad „de reproductibilidad técnica“20, como con su cadena de implicaciones en torno a los conceptos de original y copia, autenticidad y falsificación. Suele citarse con el título de EL ORADOR, y su proyección en la sesión del CCE es inseparable de la actuación de Ramón al presentar el film („presentaba una película hablada que me hicieron en 1928 y di mi imagen con palabra de improvisación“): en su papel de médium entre la imagen y la palabra aprovecha los mecanismos de suplantación que la pantalla le ofrecía para ensayar formas extrateatrales de representación.21 17 18 19 20

Gómez Mesa 1930, p. 10. Ibid. Ibid. Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M. 1996, pp. 14-18. 21 Mainer, José Carlos: „Ramón. La literatura como vida“, en: Turia, no. 41 (1997), p. 116. Walter Benjamin publicó una reseña sobre la edición francesa de El circo de Ramón Gómez de la Serna. En ella alude a ciertas formas de escenificación extrateatral: „Die Krisis des europäischen Theaters

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En Madrid, al aire libre, en un plano medio frontal y estático, Ramón manipula palabras („siempre estuvo hecho de palabras“) y manipula objetos:22 un par de monóculos, uno de ellos sin cristal („con el cual veo las cosas de relieve“) y otro con cristal („monóculo de nuevo rico“), „con estos dos objetos voy siguiendo la ruta de las cosas [...] toda esta observación de la realidad unida a mi monóculo sin cristal dan la base sincera de mi estética“23. A la semántica del monóculo unirá Ramón la de la mano postiza gigantesca („elemento que lleva tras de mí las multitudes [...] la mano convincente [...] la multitud va detrás de esta mano“24), potenciando una de las metáforas más recurrentes en la teoría de los medios de comunicación: la prótesis. La proyección resultó accidentada, en parte por la imperfección de la nueva tecnología sonora, y se llevó a cabo en tres tiempos o intentos: Primer intento: la imagen de Ramón en la pantalla – con movimiento de labios, pero con los altavoces obstruidos – y la „palabra improvisada“, original, de Ramón que repite, en vivo y siguiendo los gestos con la mayor exactitud posible pero con pérdida de palabras, „lo que dijo por el micrófono para ser conservado“25. Segundo intento: la pantalla en blanco, como esquela mortuoria, sin los rayos proyectores de „vidas y ensoñaciones peliculeras“, pero con Ramón en persona ante la pantalla, gesticulando y „simulando seguir con gestos y movimientos de expresión el valor de las palabras“, aunque conformándose, al fin, con acompañar el eco de las mismas „estruendosamente lanzado por los altavoces“.26 Tercer intento: „la manera usual y normal, en la pantalla su imagen que se mueve y habla a la vez“27.

22 23 24 25 26 27

rückt außertheatralische Formen des Schauspiels in neue Beleuchtung“. (Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften III: Kritiken und Rezensionen, Frankfurt a.M. 1980, p. 70.) R. Gubern ha recogido el film en su documentación filmada EL OJO Y LA PALABRA. También le dedica un capítulo en Proyector de luna, pp. 351-352. Citado por Gubern 1999, pp. 351-352. Ibid. Gómez Mesa 1930, p. 10. Ibid. Ibid.

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Por motivos técnicos o por un prurito de experimentación, la actuación de Ramón supuso la escenificación excepcional de un movimiento, medidamente oscilante, entre las palabras y los gestos, entre la contingencia del ‚sentido‘ y la afirmación de la presencia, entre la densidad de los artefactos y la precisión de la velocidad, del ritmo, del eco y de los ruidos, marcando una sucesión buscada – y encontrada – de repeticiones y diferencias.28 Algo así podría ser – o quizás no – el horizonte mental de esta cita de Ramón: Quería yo hacer visible de este modo un caso de desdoblamiento activo, salto mortal en dos espacios, en medio de la música callada, yo y mi suplantador, encarándose frente a frente, saltando de fuera a dentro la barrera la cenefa enlutada de la pantalla y vuelta a saltar 29 de nuevo de dentro a fuera, en cinemática torera y expuestísima.

El tercer comentario viene sugerido por un film de Ernesto Giménez Caballero, ESENCIA DE VERBENA.30 Una versión o visión, muy peculiar, de la ciudad como mito – no ya como escenario de la historia – tal como se deja sentir en la literatura, pintura y fotografía europeas de la modernidad o en la exaltación de lo urbano del Futurismo.31 La crónica de Gómez Mesa habla de ella como „la nota de mayor y mejor valor documental“, que pretende reflejar „no a Madrid, sino a una fiesta típica y castizamente popular matritense“32. Según el crítico, se trata de un film con un buen trabajo por parte del operador, pero con deficiencias en el montaje (desentrenamiento, rapidez excesiva, sin el ritmo uniforme que facilita la atención a los detalles). El film ofrece, en doce capítulos, imágenes de artefactos, atracciones y personajes verbeneros, en permanente movimiento y

28 Cf. Gumbrecht, Hans Ulrich: „La fascinación del pasado (Diálogo con Alfonso Mendiola)“, en: Historia y grafia, no. 19 (2002), pp. 195-217. Para los conceptos de „repetición“ y „diferencia“ cf. Deleuze, Gilles: Diferencia y Repetición, Gijón 1988, pp. 15-28. También Balke, Friedrich: Gilles Deleuze, Frankfurt a.M. 1998. 29 Gómez de la Serna 1930, pp. 10-11. 30 Cf. Gubern 1999, pp. 430ss. También sobre Giménez Caballero cf. Utrera, Rafael: „Cuatro secuencias sobre el cineasta Ernesto Giménez Caballero“, en: Anthropos, no. 84 (1988), pp. 46-50. 31 Cf. Bohrer, Karl Heinz: „Benjamins Phantasma-Stadt: Labyrinth zwischen ‚Ereignis‘ und ‚Interieur‘“, en: Klaus Garber/Ludger Rehm (eds.): global benjamin, München 1999, p. 478. 32 Gómez Mesa 1930, p. 10.

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bullicio, en permante repetición y circularidad; ofrece también citas de pinturas – de Goya, Picabia, Picasso, Maruja Mallo –, y muestras de „pura composición cinética“33 en el sentido moderno del oficio. Y una vez más, con el omnipresente Ramón, por partida doble: como intérprete accidental – autor transeúnte, muñeco de pim-pam-pum, torero – y como „estupendo explicador de la cinta“: Abandonando mi papel de fantasma y entrando en función de explicador fui enhebrando imágenes y palabra en las imágenes de luz y sombra de la película, admirablemente realizada por Giménez Caballero, Esencia de verbena, como se llamó al principio; Poema 34 de Madrid, como se ha llamado después [...].

ESENCIA DE VERBENA, el film y su crítica, no deja de moverse en el ámbito de una circunstancia que puede despistar y desorientar – o quizás no – por ciertos motivos: por ese pretendido juego de volver a la vieja representación de un cierto casticismo, heredado de la mística del ‚noventayocho‘, con esencias nacionales e identidad popular, pero, ahora, en un espacio medial nuevo, que pretende empalmar con ciertos códigos del cosmopolitismo vanguardista; desorienta también, por cierta impronta de estética futurista (asociaciones visuales: collages icónicos, dinámica circular – la omnipresencia de la rueda –, las citas pictóricas), pero con la exaltación de un mundo urbano de modernidad ‚tradicional‘; y porque en definitiva, su nivel técnico, con efectos expresivos de corte vanguardista, poco aporta para lograr que la película sea ese film, definitivamente vanguardista, que pretendió ser. Explicada por Ramón y aromatizada35 por un ingeniero químico, la película escenificó entonces, de forma espectacular, un ‚juego de palabras‘ – posibilitado semánticamente – que recorre el espacio entre una determinada pretensión ontológica (esencia como autenticidad-identidad) y una presencia accidental (esencia como aroma). Un juego que podría sugerir, hoy, la evocación de un tiempo de dramática concurrencia hermenéutica. 33 Gómez Mesa 1930, p. 10. 34 Gómez de la Serna 1930, pp. 10-11. 35 Merecería la pena destacar el tema del ‚olor‘ y sus implicaciones y contextualización. Giménez Caballero en el número 122 de La Gaceta Literaria (15.2.1932), p. 13., publicó un artículo „Esencial-Club“ en el que alude a „la cultura nasal que el mundo moderno ha descuidado brutalmente“. Y después comenta: „Cuando proyecté mi film ‚Esencia de Verbena‘ este gran amigo compuso en mi honor un pomo de auténtica esencia de flor de verbena, como quien compone un poema, una sinfonía o un menú, en ofrenda holocaustal“.

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El cuarto comentario hace referencia al último film que se proyectó en la sesión: un documental sonoro, de Walter Ruttman, que marca una orientación a seguir en el camino del nuevo cinema. La vida en sus múltiples y opuestos ruidos, retratada de un modo estilizado, artísticamente; [...] su autor domina en sus menores secretos y reconditeces el cinema, igual el mudo que el de ahora: el hablado y sonoro; [...] el espectador contempla ciudades y oye sus ruidos, su animación, su respirar, su vida. [...] Máquinas de ingeniería, trenes, tranvías, autos, transbordadores, barcos, las fieras del famoso parque de Hamburgo, etc..., todo sugiere en la pantalla realidad vista y escuchada desde cómoda butaca. 36 ¡Maravilloso!

Con tal entusiasmo venía a concluir Gómez Mesa su crónica de la sesión y su comentario sobre T.S.F. (Deutscher Rundfunk, 1928). El film tiene una referencia central, la radio, y utiliza el sonido „con criterios estríctamente naturalistas y no como vector de sentido“37. La radio venía configurando, hacía algunos años, un espacio de convergencia para la investigación técnica, la producción industrial y la participación del oyente.38 El documental fue presentado por Ricardo Urgoiti con un „comentario hablado sin ser visto, ni en imagen ni en persona, y sí oido a través de los altavoces“39, lo que suponía una estrategia retórica, a partir de una forma de telepresencia (presencia-en-ausencia), síntoma de cierta atmósfera de fascinación, quizás un cierto optimismo también, ante las innovaciones en las técnicas de comunicación. El sonido que se extendía por la sala buscaba, probablemente, aportar nuevas formas de experiencia – el conocido discurso de la modernidad – a las rutinas habituales, sin excluir repercusiones en los mecanismos cognitivos y emocionales.40 Ricardo Urgoiti (nacido en 1900), hijo del fundador de la editorial Espasa-Calpe y de los diarios El Sol y La Voz, fue un empresario interesado en las nuevas tecnologías de la información y el impulsor de empresas intelectuales de comunicación audiovisual. Integrante activo de la „generación del cine y los deportes“, cineasta, deportista e Ingeniero de Caminos, puso en marcha la primera empresa nacional de radiodifusión, un sello discográfico, un sistema pionero de sonorización de películas, un cine36 37 38 39 40

Gómez Mesa 1930, p. 10. Gubern 1999, p. 353. Cf. Gumbrecht 2001, p. 90. Gómez Mesa 1930, p. 10. Cf. Gumbrecht 2001, p. 92.

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club para exhibir cines de vanguardia o una emblemática pro41 ductora y distribuidora cinematográfica [...].

Fue promotor de Filmófono (productora y distribuidora cinematográfica) y de Unión Radio (la primera emisora en Madrid, inaugurada en 1925 y gérmen de una amplia red de emisoras). Ramón Gómez de la Serna – de nuevo Ramón – había actuado en Unión Radio desde su fundación, pero en 1930 sucedío algo insólito, que él mismo ha narrado en el segundo volúmen de Automoribundia: la emisora colocó un micrófono en su despacho, y „por primera vez tiene un micrófono privado en funciones de universalidad“42. Ramón ha dejado unas páginas sobre la radio y sobre su presencia en ella, que iluminan la referencia a la radio en la sesión de Cineclub que estamos comentando. Tras citar una nota del periódico El Sol, „Ramón y su micrófono“ („Ramón podía dictar desde su mesa, y sin salir de su aire casero, entre diez y doce y media de la noche, el ‚Parte del día‘, una breve improvisación en que radiará lo más destacado de la última hora“43), Ramón pasa a describir su propia experiencia: Obliga a mucho el tener este micrófono personal e intransferible, que soy el primer escritor que posee, y por el que ya me preguntan todos como por el hijo predilecto de mis soledades. [...] Soy radiofónico, aunque me esté mal el decirlo, y tengo vocación para el micrófono y me desvivo por él y paladeo y castellanizo las ondas como un místico de este sacramento. [...] Para mí la radio es el mayor teatro del espíritu que se conoce [...]. Todo lo he practicado 44 por la radio.

3. El protagonismo de la sesión decimoquinta del Cineclub Español, corrió a cargo de Ramón Gómez de la Serna y, en menor medida, de Ernesto Giménez Caballero. El caso de ambos, juntos o por separado, sugieren algunas observaciones finales en torno a ciertas premisas habituales en el discurso sobre las ‚vanguardias‘ de la primera mitad del siglo XX. Una de estas premisas se caracteriza por una exigencia de ruptura y de oposición a la estética anterior, reclamada desde la propuesta, articulada 41 Fernández Colorado, Luis: „Ricardo Urgoiti ¿semblanza de una época?“, en: El País, 14.09.2000, p. 42. 42 Gómez de la Serna, Ramón: Automoribundia 1888-1948, vol. 2, Madrid 1974, pp. 502ss. 43 El Sol, 28.09.1930 (tomado de Gómez de la Serna 1974, p. 502). 44 Gómez de la Serna 1974, pp. 502ss.

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en manifiestos, de nuevas concepciones de la literatura y del arte; una reacción que, por un lado, denuncia la creciente mercantilización en el arte y que, por otro lado, constata la aporía latente en la respuesta del recurso a l’art pour l’art o la poésie pure.45 Esta premisa de ruptura no elimina, no obstante, la complejidad implícita en las relaciones entre vanguardia y modernidad.46 Otra de las premisas sería aquella que se relaciona con un determinado tipo y una determinada tipología del ‚vanguardista‘ (tipología que no logra desprenderse de un cierto caracter híbrido, cuyo Sitz im Leben viene cargado de ambigüedades e incongruencias). Ramón Gómez de la Serna asumió, desde muy pronto, el papel del vanguardista profesional, valedor de la radio y del cine sonoro.47 Su revista Prometeo (1908-1912), su tertulia en el Café Pombo, sus relaciones con el movimiento futurista – culto al maquinismo y a los iconos de la cultura urbana –, sus intereses y sus formas extrateatrales de representación,48 contribuyeron a la imagen del introductor y ‚traductor‘ de rupturas y protestas. Pero todo ello, sin dejar de alimentar formas y ecos de un pasado identificable. Lo sugiere así J.C. Mainer: „la esencia de Ra-

45 Cf. Wagner 1996, p. 45. También Jover Zamora, José María/Gómez-Ferrer Morant, Guadalupe/Fusi Aizpúrua, Juan Pablo: España: sociedad, política y civilizacíon (Siglos XIX-XX), Madrid 2001, p. 605. 46 La discusión en torno a las relaciones entre vanguardia y modernidad encierra más complejidad de la que me sería posible desarrollar aquí. Sólo anoto dos sugerencias: Benjamin, Walter: „Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz“, en: Walter Benjamin: Angelus Novus, Frankfurt a.M. 1966, pp. 200-215. Y una cita de Giorgio Agamben, que recojo, precisamente, por la exigencia de matizaciones que reclama: „Nicht einmal dem Surrealismus, der ohne Zweifel zum rechten Zeitpunkt es unternahm, die Karte der Gefühle des Zeitalters neu zu vermessen, ist sein Vorhaben geglückt: der surrealistischen Atmosphäre, mit ihrer Rimbaudschen Pakotille und den verworrenen Assoziationen, eignet heute der ein wenig frivole Beigeschmack des Spröden, Veralteten, den Benjamin an den Pariser Passagen beschwor, und wenn er gleichwohl von wert bleibt, so wenig darum, weil er den Geschmack einer Epoche geprägt hätte, sondern weil er den wesentlich utopischen Charakter der Sensibilität der Moderne herausgestellt hat.“ (Agamben, Giorgio: Idee der Prosa, Frankfurt a.M. 2003, p. 84.) A estas sugerencias añado un texto de Octavio Paz en el que reflexiona sobre poesía y modernidad, me refiero al capítulo „Ruptura y convergencia“ en Paz, Octavio: La otra voz. Poesía y fin de siglo, Barcelona 1990, pp. 31-54. 47 Cf. Gubern 1999, pp. 13ss. 48 Cf. Benjamin, Walter: „Ramón Gómez de la Serna. Le cirque“, en: idem: Gesammelte Schriften III: Kritiken und Rezensionen, Frankfurt a.M. 1972, p. 70.

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món es la desazón“ – como si se tratara de un epígono romántico – „último náufrago de la seguridad burguesa“, procedente de la gran capital del siglo XIX y afín al exceso barroco y romántico de lo ‚cursi‘ („contra el exceso racionalista de la vanguardia“); hijo de un tiempo en que los objetos se transforman en mercancías de valor aleatorio, sus opciones estéticas se mueven a partir de tres perspectivas complementarias: la del Rastro (universo peculiar de objetos despojados de su uso convencional), la de la falsificación (con la caducidad del valor originario, en una época del sucedáneo) y el del circo (con su espacio de mundo de la irrealidad, „el azar de un mundo en vertiginosa crisis de realidad“).49 Ambos acentos, el vanguardista sin condiciones y el heredero de códigos con impronta de modernidad europea, conjugados en la personalidad de Ramón, podrían leerse como síntoma de un momento en el que la modernidad, postulada desde distintas instancias en España a comienzos del siglo XX, se ofrece como una opción oscilante entre la nostalgia y el rechazo (algo hay de patología histórica en la relación de España con la modernidad europea: el siglo de la Aufklärung se había traducido en un ‚despotismo ilustrado‘ de marcadas limitaciones, y la revolución industrial de los países centroeuropeos había encontrado su versión española, aproximada, en la ‚ilusión de modernidad‘ alimentada desde el sistema de la Restauración).50 Dos citas, entre las muchas posibles, pueden asociarse a este clima mental de opciones y rechazos. La primera, de tono emblemático, se articula en el moto de Ortega y Gasset, tan concluyente como engañoso: „Nada moderno, pero ‚muy siglo XX‘“, su conjuro contra el siglo XIX, contra el positivismo, contra su modernidad autoatribuida.51 La segunda, un poco forzada y sin el ánimo de que se vea como concluyente – ninguna cita lo es –, podría ser leída como la signatura de un eco casi agotado por lo innecesario de sus actualizaciones; está tomada de un texto de Juan Benet, de su novela En la penumbra: Hubo (un tiempo) con todos los carácteres del despertar: el cine, la revolución bolchevique y la aerodinámica. Algo completamente distinto a la secuela de la revolución francesa, ese insoportable siglo XIX convencido de que todo, salvo el amor, sería resuelto por la ciencia y el progreso. Qué enorme equivocación, justamente lo contrario de lo que ha sucedido. Porque nuestro siglo empezó mal y al tiempo que se convenció de que sus males eran incurables des49 Cf. Mainer 1997, p. 111ss. 50 Cf. Gumbrecht, Hans Ulrich: Eine Geschichte der spanischen Literatur, Frankfurt a.M. 1990, pp. 691ss. 51 Ortega y Gasset, Jose: Obras completas, vol. 2, Madrid 1983, p. 22.

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JUAN JOSÉ SÁNCHEZ cubrió que los bienes eran multiplicables; el cine, la revolución 52 bolchevique y la aerodinámica.

Ernesto Giménez Caballero es un personaje incómodo, probablemente menos brillante de lo que pudo parecer, pero clave, sin duda, en la dinámica cultural de los años veinte. Su singular Periódico de las letras (sin entrar en valoraciones sobre su última fase como El Robinson Literario de España) conforma, junto a La Revista de Occidente53 – el espacio público de recepción y debate de ‚lo nuevo‘ creado por Jose Ortega y Gasset –, uno de los proyectos culturales más significativos de la historia de la cultura española en el siglo XX. Giménez Caballero, el impenitente vanguardista que revolucionó la crítica con sus „carteles literarios“, „el inspector de alcantarillas“, el fundador de La Gaceta y del cineclub más influyente, patrocinador de exposiciones, promotor de encuestas y corredor de fronteras poco precisas en su momento, es también un fascista temprano que comparte programas y empresas de vanguardia desde impulsos totalizantes,54 y que aportará al falangismo español un obligatorio marco de escenificación ‚moderna‘, imprescincible para estar a ‚la altura de las circunstancias‘. Su biografía – dicho muy de pasada – encierra, más o menos, esa retahíla de estaciones que marcaron, también, otras biografías empeñadas en adornar con retórica vanguardista los negros proyectos de un fascismo ‚de sucursal‘: una juventud intensamente vivida y en cercanía estrecha a la literatura (la poesía, con frecuencia) y a los medios de comunicación; una iniciación en la experiencia del orden y de la jerarquía (a veces de la mano de la tradición literaria); actividad profesional; relación imprescindible con Italia (el mito que no cesa); afirmación nostálgica de un cierto paraíso perdido; fascinación por el poeta y por el héroe; referencia a la guerra como el tiempo de estos héroes y de estos poetas; culto a la juventud, la belleza y el coraje físico; importancia de la retórica, del

52 Benet, Juan: En la penumbra, Madrid 1989, p. 169. 53 „La recepción de lo nuevo. Antología de la Revista de Occidente (19231936)“, en: Revista de Occidente, vols. 146-147 (1993). 54 Selva Roca de Togores, Enrique: „Giménez Caballero entre la vanguardia y la tradición. Su autobiografía intelectual a través de una entrevista“, en: Anthropos, no. 84 (1988), p. 24; „E. Giménez Caballero. Prosista del 27 (Antología). Selección de textos de Enrique Selva Roca de Tagores“, en: Anthropos-Suplementos (1988).

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ritual, de los símbolos; confusionismo ideológico, actividad política como estilo de vida; sugestión de modernidad y hostilidad real.55 Sin pretender volver a las pautas de esa „perversa inclinación por condenas y amnistías, olvidos y rescates“56, esta mirada hacia fragmentos de una referencia cultural importante para la cultura española del siglo XX sirve, una vez más, de repaso a ese contingente de precariedad y ambigüedad, ni necesariamente negativo ni históricamente injustificable, que conforma el concepto de ‚vanguardia‘ y la tipología del ‚vanguardista‘. Y la crítica revisada puede tomarse como un testimonio más de la densidad material, corporal y ambiental, y sobre todo, como la escenificación no conceptual – con sus efectos clave de presencia – desarrollada en la decimoquinta del Cineclub de La Gaceta.57

55 He recogido (y ‚manipulado‘) la novela de Cercas, Javier: Soldados de Salamina, Barcelona 2002, su narración sobre la trayectoria de Rafael Sánchez Maza, aplicandola a Giménez Caballero. 56 Mainer, José Carlos: „El desván de los malditos. Literatura y fascismo en España“, en: Lateral, (1995), p. 26. 57 Para los conceptos de „efectos de presencia“ vs. „efectos de sentido“ cf. Gumbrecht 2002, pp. 195-217.

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JUAN JOSÉ SÁNCHEZ

Ilustración 1: La Gaceta Literaria, no. 43 (1.10.1928)

SOBRE ESENCIAS Y PRESENCIAS

Ilustración 2: La Gaceta Literaria, no. 96 (15.12.1930)

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VALLE-INCLÁN ALS VORREITER DES SURREALISTISCHEN FILMS: VISIONÄRE SICHTWEISE, KINEMATOGRAPHISCHE TECHNIKEN, ADAPTATIONEN 1. Die Anfänge des spanischen Films fallen mit dem Beginn der Schaffensperiode der 98er Generation zusammen. Die Einstellung dieser Literaten sowie der Modernisten gegenüber dem neuen Medium ist teilweise sehr unversöhnlich,1 positiver ist die Gesinnung vieler Dramatiker, die auf der Popularität des neuen Mediums und auf der Notwendigkeit beruht, sich mit dem Film zu beschäftigen, um Erfolge zu erzielen. Ramón María del Valle-Inclán steht im Schnittpunkt dieser Polarisation. Wie die Literaten der 98er Generation und die Lyriker des Modernismus findet er noch nicht den direkten Zugang zum neuen Medium. Mit den Dramatikern jedoch verbindet ihn die Absicht, das Theater zu erneuern, wozu der Film eine Möglichkeit bietet. Valle-Inclán ist zunächst als bekennender Ästhet dem Modernismus zugetan. Er versucht, es im wahren Leben seinem Alter Ego, dem Marqués de Bradomín, gleichzutun und die eigene Biographie ebenso phantasievoll auszuschmücken. Ab 1915 vollzieht er einen politisch motivierten Wandel, indem er eine revolutionäre Haltung kultiviert, die er ab 1920 auch deutlich in seinen Werken (Luces de bohemia, 1920/24) vertritt. Sie spiegeln fortan seine veränderte innere Sichtweise und seinen Ästhetizismus wider. Von einem eleganten und nostalgischen Moder1 Vgl. dazu Utrera Macías, Rafael: „Entre el rechazo y la fascinación. Los escritores del 98 ante el cinematógrafo“, in: Carlos F. Heredero (Hrsg.): La imprenta dinámica: Literatura española en el cine español, Madrid 2002 und Porro Herrera, María José (Hrsg.): Actas del Congreso Internacional sobre OTROS’98: Literatura y Cine, Córdoba 2000.

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nismus geht er über zu einer kritischen Literatur, die auf einer Verzerrung der Realität beruht. Dieser gibt er den Namen esperpento. Obwohl die ‚esperpentische‘ Missbildung und Verzerrung bereits in Werken wie Farsa y licencia de la reina castiza (1920) und Divinas palabras (1920) vorhanden ist, gibt er erst Luces de bohemia den Untertitel Esperpento. Valle-Inclán wählt für seine Werke, in denen sich das Tragische mit dem Burlesken und das Hässliche mit dem Lächerlichen vermischen, diesen Ausdruck, der bereits im Volksmund vorhanden war und etwas Komisches oder Absurdes oder einen unbesonnenen Menschen beschreibt. Lange Zeit werden seine Stücke, insbesondere die Comedias bárbaras (1907/22) und die Esperpentos, für novelas dialogadas gehalten, statt für Theaterstücke. Deshalb galten sie als nicht inszenierbar. Valle-Inclán hat sich nicht den vorhandenen Konventionen der Aufführungstechniken gebeugt, obwohl sein Theater als Lesedrama gesehen wurde, und er ist damit weit über die szenischen Möglichkeiten des damaligen Theaters hinausgegangen. Das szenische Spiel in seinen Stücken, das in einem statischen Szenarium – wie es damals üblich war – undenkbar ist, lässt viele Kritiker an eine Antizipation des Films denken. So weist auch Valle-Inclán auf die Möglichkeiten des Films für die Inszenierung seiner Stücke hin. Die Inszenierungsschwierigkeiten der Stücke Valle-Incláns sind auf seine Werkkonzeption zurückzuführen, die in seinen allgemeinen ästhetischen Prämissen deutlich wird, besonders in den Schriften La lámpara maravillosa. Ejercicios espirituales (1916 erschienen, jedoch früher konzipiert) und La media noche. Visión estelar de un momento de guerra (1916/17). Beide beinhalten die Grundzüge seiner Kunstauffassung und sind Schlüsselwerke zur Ästhetik seines Frühwerks, jedoch auch schon auf die späteren Esperpentos ausgerichtet. In La lámpara maravillosa hebt er zwei Sinne hervor, die für den Dichter, der einen langen Weg durchlaufen muss, von großer Bedeutung sind: Das Gehör, das uns die Musikalität der Sprache preisgibt, und die Sicht, mit der wir die Künste, die vom Licht bestimmt werden, wahrnehmen können. Ton und Licht, Bewegung und Rhythmus sind Elemente, die nicht nur den Tanz bestimmen (der von Valle-Inclán hier als der höchste und vollkommenste ästhetische Ausdruck angesehen wird2), sondern gleichermaßen auch den Film. Auch wenn diese Assoziation für Valle-Inclán während der Entstehungszeit von La lámpara maravillosa noch etwas verfrüht ist, so ist er viele Jahre vor dem Tonfilm durch diese

2 Vgl. Valle-Inclán, Ramón del: La Lámpara Maravillosa. Ejercicios espirituales. Francisco Javier Blasco Pascual (Hrsg.), Madrid 1995, S. 104f.

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Gedanken empfänglicher für die Möglichkeiten des neuen Mediums.3 Er legt nachdrücklich viel mehr Gewicht auf den Blick respektive auf das erst durch das Licht entstehende Visionäre. Dabei kommt es aber nicht darauf an, was wir sehen, sondern wie das Gesehene hinterher in der Erinnerung wahrgenommen wird. Die Vision der Dinge im (durch die Erinnerung hervorgerufenen) Bewusstsein ist ausschlaggebend für ihr Erfassen, weil sie dann unabhängig von Zeit und Raum stehen.4 Dieses dem Visionsprinzip entspringende Prinzip, das Valle-Inclán erst in La lámpara maravillosa ästhetisch thematisiert, wird im Kern bereits 1902 von August Strindberg im Prolog zu seinem Traumspiel theoretisiert.5 Die Traumdarstellung ruft eine diskontinuierliche Handlung hervor. Strindberg verwendet bereits in seinem Stationendrama Techniken wie die epische Distanz und die Vogelperspektive, die immer wieder bei

3 Andererseits können genau diese Elemente, die in vielen seiner Werke so ausschlaggebend sind, ebensogut auf den Tanz zurückzuführen sein, der sehr viele Analogien zum Film aufweist. Dass es sich nicht immer um direkte Anlehnungen an den Film handeln muss, sondern dass diese Anlehnungen auch kausale Parallelitäten untereinander aufzeigen können, da es zu dem Film parallele Strömungen auch in der Malerei, in Musik, Tanz und Theater gab, untersucht mit einem kritischen Abriss der Sekundärliteratur meine Magisterarbeit. Vgl. Verf.: Valle-Inclán im Medienwechsel. Der Film bei Valle-Inclán – Valle-Inclán im Film, Bonn 1998, die aktualisiert und – im zweiten Teil um mehrere Filmanalysen erweitert – veröffentlicht wird. Diese Studie betrachtet Valle-Inclán in doppelter Hinsicht intermedial, um die Bedeutung des Mediums Film in seinem Werk aufzuzeigen: Auf der Ebene der ‚filmischen Literatur‘, die seine kinematographischen Techniken aufspürt, und auf der Ebene des ‚literarischen Films‘, wo der Frage nachgegangen wird, ob denn seine angeblich so filmische Schreibweise tatsächlich für die Leinwand geeignet sei. 4 Vgl. Valle-Inclán 1995, S. 137. Diese Vision, der Blick aus der Vogelperspektive, die den besonderen Blick für das Gestische entwickelt, ist nicht weit vom filmischen Blick entfernt. 5 „Zeit und Raum existieren nicht; vor dem belanglosen Hintergrund der Wirklichkeit spinnt die Einbildungskraft ihre Fäden und webt an neuen Mustern: eine Mischung aus Erinnerung, Erlebtem, frei Erfundenem, Ungereimtheiten und Improvisationen.“ (Zit. nach Roloff, Volker: „Vom Traumspiel zum surrealistischen Film: Spanische Beispiele“, in: Hispanorama, Nr. 69 (1992), S. 12.) Vgl. dazu auch Wentzlaff-Eggebert, Harald: „Las Comedias bárbaras y el expresionismo dramático alemán“, in: John P. Gabriele (Hrsg.): Suma valleinclaniana, Barcelona 1992, S. 266. Strindbergs Darstellungsweise zeigt bereits mit seiner Dramentrilogie Nach Damaskus (1898) deutliche expressionistische und teilweise auch surrealistische und realistisch-mystische Züge, die die moderne Dramatik in bedeutendem Maße beeinflusst haben.

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Valle-Inclán auftauchen und typische filmische Verfahrensweisen sind.6 Volker Roloff führt die Bedeutung des Traums besonders im spanischen Kontext auf verschiedene Beispiele wie die Sueños von Francisco de Quevedo und La vida es sueño von Pedro Calderón de la Barca sowie in der Malerei auf die Caprichos von Francisco Goya zurück. Er setzt somit Valle-Incláns Traumvisionen in eine spanische Tradition. Außerdem ist seine Feststellung wichtig, in den surrealistischen Filmen fände eine Weiterentwicklung der Traumvisionen Valle-Incláns statt: In dieser Hinsicht sind Buñuel und Dalí, die von Valle-Inclán fasziniert waren, seine wirklichen Schüler: sie inszenieren in ihren surrealistischen Filmen und Bildern im Grunde die Traumvisionen Valle-Incláns; das neue Medium des Films schafft oder suggeriert die groteske, anarchistische Gegenwelt einer nicht rationalisierbaren Traumphantasie, die Valle-Inclán schon andeutet, aber selbst nur mit Einschränkungen auf der Theaterbühne zeigen konnte [...]. Von daher ist schon für Valle-Inclán, aber dann besonders für die Surrealisten klar, dass der Film mit seinen neuen Möglichkeiten der Suggestion als ein gutes Mittel einer solchen Ästhetisierung der Traumform angesehen werden kann. Die Entwicklung führt also sehr konsequent vom Traumspiel des Theaters zur Traumdarstel7 lung (und dann auch Traumfabrik) des Films.

Es stellt sich aber die Frage, ob Valle-Inclán seine bei den Traumvisionen angewandten Techniken tatsächlich vom Film übernommen hat, oder ob diese nicht doch schon im expressionistischen Theater vorhanden sind. Dann nämlich müssen diese Techniken als Analogien verstanden werden. Die in La media noche beschriebene Kriegserfahrung ist Auslöser einer ästhetischen Sichtverschiebung. Diese Änderung der Perspektive, die in ihrem Vollzug den Paradigmenwechsel vom Optimistischen zum Pessimistischen kennzeichnet, ist die Prämisse für die spätere Theorie der Esperpentos. Ein weiteres Kriterium ist die von ihm bereits im zweiten Teil von La media noche, in En la luz del día, gewählte Dialogform, die er für seine visionären Beobachtungen geeigneter hält, weil er sie später in den Stücken und Esperpentos immer wieder wählt. ValleIncláns Aussage, dass er sich während des Schreibens nicht um die spä6 Viele Aspekte des Traumspiels scheinen eine Antizipation der Farsas und Esperpentos zu sein. Vgl. Roloff 1992, S. 12: „die Verbindung von Mythos und grotesker Farce, die Form einer ironisch-spielerischen Mythisierung, die Distanz schafft, um die menschliche Wirklichkeit ad absurdum zu führen, d.h. in ihrer Widersprüchlichkeit aufzuzeigen, um das Groteske und Absurde der Akteure und Ereignisse zu verdeutlichen.“ 7 Ebd., S. 15.

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tere Inszenierung seiner Werke kümmert, ist mehr Beachtung zu schenken, um dem „Organisationsprinzip einer Visionsschilderung“8 gerecht zu werden. Damit bietet sich eine Interpretationsmöglichkeit für ValleIncláns Werk, welche im Gegensatz zu der gängigen Deutung einer möglichen Nähe zur filmischen Sprache oder der schon gedachten filmischen Drehbücher steht, die als Ursache des Inszenierungsproblems gelten. Vielmehr ergibt sich das Inszenierungsproblem aus einem willkürlichen Gebrauch der Gattungen und ihrer Techniken, um einer vollkommenen Visionsschilderung möglichst gerecht zu werden. Für diesen Umgang mit den Gattungen ist die demiurgische Perspektive verantwortlich, die in Valle-Incláns Werk durchgehend vorherrscht.9 Mit dem Nichteinhalten der Gattungsregeln sieht sich Valle-Inclán in der Nachfolge eines Cervantes und eines Quevedo mit ihren Traumvisionen, deren Anliegen es ebenso war, durch die distanzierte Perspektive eine optimale Visionsschilderung zu erreichen. Valle-Inclán steht in einer weiteren spanischen Tradition, wenn er aus dieser extrem distanzierten Perspektive die Tragödie Spaniens betrachtet. Neu ist die Form, in der er es tut, nämlich das Esperpento. Seitdem er eines seiner Werke, Luces de bohemia, als Esperpento bezeichnet, kann man von seiner „visión esperpéntica“ sprechen.10 Hier lässt er seine Figuren die Theorie des Esperpento aussprechen. Die Enttäuschung und Bitterkeit über die eigene gescheiterte Existenz wie über die soziale und politische Situation Spaniens wird deutlich. Die wichtigste Figur im Stück, der visionäre und bezeichnenderweise erblindete Seher Max Estrella, unterstreicht die Wichtigkeit der verzerrten 8 Wentzlaff-Eggebert, Harald: „Zur Ästhetik Valle-Incláns – Am Beispiel von Divinas Palabras“, in: Iberoromania, Nr. 13 (1981) S. 93. Er betont hier, dass die Dialogform bei Valle-Inclán primär im Dienste der visionären Betrachtungsweise steht. Siehe dazu auch Valle-Inclán zit. nach Dougherty, Dru: Un Valle-Inclán olvidado: entrevistas y conferencias, Madrid 1983, S. 190. 9 Vgl. hierzu Risco, Antonio: El demiurgo y su mundo: Hacia un nuevo enfoque de la obra de Valle-Inclán, Madrid 1977. Nur die demiurgische Perspektive – von Valle-Inclán als typisch spanisch gezeichnet – kann die Figuren mit der nötigen Distanz betrachten, um sie zu entlarven und mit der nötigen Ironie nach eigenem Ermessen zu manipulieren und so als Marionetten zu behandeln. Diese Definition seiner neuen verzerrten Sichtweise stellt Valle-Inclán in einem Gespräch mit Gregorio Martínez Sierra auf. Vgl. Martínez Sierra, Gregorio: „Hablando con Valle-Inclán“, in: ABC, Madrid (7.12.1928), S. 3-4, erneut abgedruckt in Valle-Inclán, Ramón del: Entrevistas, conferencias y cartas. Joaquín del Valle-Inclán/Javier del Valle-Inclán (Hrsg.), Valencia 1995, S. 395. 10 Vgl. Rubia Barcia, José: „El esperpento. Su signo universal“, in: John P. Gabriele (Hrsg.): Suma valleinclaniana, Barcelona 1992, S. 143f.

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Vision, gesehen durch einen konkaven Spiegel. So entsteht die eigene Karikatur. Der Spiegel ist das intellektuelle Ergebnis einer introspektiven Vision des Dichters.11 Im gleichen Zusammenhang sind Valle-Incláns vielseitige Beziehungen zur bildenden Kunst zu beachten. Aufgrund seiner vielen Besuche in Museen und Galerien und seines intensiven Umgangs mit den Künstlern seiner Zeit ist Valle-Inclán ein guter Kenner der Malerei. Die wenigen offiziellen Ämter, die er übernimmt, stehen in Bezug zur Kunst.12 Sein Werk erscheint durch seine visionäre Sichtweise zusätzlich zu der bildhaften Zusammensetzung seiner Stücke tatsächlich sehr malerisch. Viele Maler wollen in ihrer Kunst einen Einfluss der Ästhetik Valle-Incláns sehen, so z.B. Julio Romero de Torres, mit dem ihn gegenseitige Bewunderung verbindet.13 Tatsächlich finden sich einige Parallelen in Romero de Torres’ Bildern und Valle-Incláns Werken. Kritiker sehen darin eine Konvergenz, die aus der gleichen Quelle stammt, nämlich der Tradition der Präraffaeliten. Die Malerei der 1848 in England gegründeten ‚Brüderschaft‘ ist ein Ausdruck von Empfindungen. Das Gefühl wird in den Bildern überbetont. Ihre Bilder stellen unbewusst eine zweite Wirklichkeit dar, die nur in der Kunst existieren kann; ein Streben nach Wirklichkeit mit gleichzeitigem Realitätsentzug, dem später die Expressionisten und insbesondere die Surrealisten nacheifern werden. Dieses Bestreben haben mit den gleichen Resultaten auch Romero de Torres und Valle-Inclán gemeinsam.14 Valle-Incláns Vorliebe für das Mystische, Spirituelle und Symbolische verbindet ihn mit den zeitgenössischen Malern Julio Romero de Torres, José Gutiérrez Solana und Ignacio Zuloaga ebenso wie mit Raffael, der Florentiner Schule und auch El Greco. Seine Vorliebe jedoch für das Düstere, das Tragikomische und das Groteske verbindet ihn insbesondere mit Goya. Sein Spätwerk lässt aber auch Parallelen zu den Frühwerken Picassos erkennen. In Tirano

11 Vgl. Valle-Inclán, Ramón del: Luces de bohemia. Esperpento. Alonso Zamora Vicente (Hrsg.), Madrid 1992, S. 162f. 12 Professor für Ästhetik an der Escuela de Bellas Artes de Madrid, Kustos des Nationalen Kunstschatzes, Direktor des Museums von Aranjuez, Direktor der Spanischen Akademie der Schönen Künste in Rom. 13 Vgl. dazu Romero de Torres zit. nach Rubio Jiménez, Jesús: „Ediciones teatrales modernistas y puesta en escena“, in: Revista de literatura, LIII, Nr. 105 (1991) S. 118. 14 Vgl. dazu Stempert, Rodolphe: „Don Ramón del Valle-Inclán y la pintura (Fragmentos)“, in: Juan Antonio Hormigón Blánquez (Hrsg.): Valle-Inclán y su tiempo hoy, Madrid 1986, S. 49f.

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Banderas sind die Parallelen zur kubistischen Malerei auffallend.15 Ein Problem sind die Beziehungen zum Expressionismus im Werk ValleIncláns. Der deutsche Expressionismus hat wohl keine Wirkung auf Spanien gehabt, so dass nicht auf einen direkten Einfluss des expressionistischen Stils auf Valle-Inclán geschlossen werden kann.16 Wie Valle-Incláns knappe Äußerungen über den Film ab Anfang der 20er Jahre zeigen, ist der Film – als Stummfilm betrachtet – für ihn nicht perfekt, da es sich um eine rein visuelle Kunst handelt, und damit die anderen ästhetischen Sinne nicht anspricht.17 Das Hören wird im Stummfilm verdrängt, so dass dem Film von Valle-Inclán a priori die Möglichkeit der Adaptation literarischer Werke abgesprochen wird. Diese sprechen in erster Linie den Gehörsinn an, sofern sie vorgelesen werden. Es ist bemerkenswert, wie frühzeitig und deutlich Valle-Inclán den ‚wunden Punkt‘ des Films erkennt und sich kritisch zur Literaturverfilmung äußert. Zu diesem Zeitpunkt erfährt der Kinematograph von Valle-Inclán insofern eine Wertschätzung, als er sich nur auf die eigene Plastizität, den Augenschein konzentriert, und sich nicht mit literarischen Drehbüchern befasst, die eine ‚gehörte Sprache‘ voraussetzen. Somit favorisiert er die dokumentarische Dimension des Mediums Film. Etwas später erweitert Valle-Inclán sein Meinungsspektrum über den Film, denn er betrachtet nun die ‚auditive‘ Kunst des Theaters und die Literatur in Beziehung zum Film.18 1928 schenkt er dem neuen Me15 Vgl. Llorens, Eva: Valle-Inclán y la plástica, Madrid 1975, S. 251. Vgl. zum Bezug zur Malerei Bonet, Laureano: „El Greco como tópico literario en La lámpara maravillosa“, in: John P. Gabriele (Hrsg.): Genio y virtuosismo de Valle-Inclán, Madrid 1987, S. 139-150 sowie Klein, Peter K.: „,El esperpento lo ha inventado Goya‘. Valle-Inclán und die GoyaRezeption seiner Zeit“, in: Harald Wentzlaff-Eggebert (Hrsg.): Ramón del Valle-Inclán (1866-1936). Akten des Bamberger Kolloquiums vom 6.-8. November 1986, Tübingen 1988 und McMahon, Donna Marie: La influencia de las artes visuales en la obra de Valle-Inclán y Rafael Alberti (1900-1936), Michigan 1990, S. 260-264. Auch lassen sich Parallelen zu Peter Breughel finden. Vgl. dazu Stempert 1986, S. 44f. 16 Vgl. Matilla Rivas, Alfredo: Las ,Comedias bárbaras‘: Historicismo y expresionismo dramático, Madrid 1972, S. 74 und S. 160f. sowie Wentzlaff-Eggebert 1992, S. 256 und Barbeito, Clara Luisa: Épica y tragedia en la obra de Valle-Inclán, Madrid 1985, S. 121f. 17 Vgl. den Artikel „Don Ramón del Valle-Inclán y el cine“, in: El Cine, Madrid (4.2.1922), S. 4; erneut abgedruckt in Valle-Inclán 1995, S. 219221. 18 „Hay que luchar con el cine: Esa lucha es el teatro moderno. Tanto transformación en la mecánica de candilejas como en la técnica literaria“;

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dium insofern Beachtung, als er sich über die Filmstars äußert. Diese sind für ihn der Inbegriff des bourgeoisen Egomanen. Seine Kommentare zu Chaplin und Valentino sind sehr scharf.19 Gerade das, was seine Esperpentos auszeichnet, nämlich die übertriebene Gestikulation der Figuren, hat er an den Schauspielern auszusetzen. Dies steht im Widerspruch zu seinen eigenen literarischen Figuren. Gerade die Ausdrucksstärke von Gesichtern ist das Typische in seinen Esperpentos, nämlich das, was er den Figuren übertrieben beimisst, Gesichter in ständiger Bewegung, Grimassenschneiderei – sprich eine verzerrte Mimik, die er mittels Nah- und Großaufnahmen hervorhebt. Ob nun diese Aussage von Valle-Inclán eindeutig ist oder ob er hier seine berühmte Übertriebenheit zum Ausdruck bringt, kann nicht geklärt werden. Nicht alles, was ValleInclán in dem Artikel von 1928 über den Film aussagt, ist so negativ. Zwar kritisiert er auf ironische Weise den amerikanischen Film, der überwiegend melodramatisch sei, aber er glaubt, dass unter der Obhut fähigerer Leute und in einem phantasievollen Kontext der Film die Möglichkeit hat, seine ästhetischen Ziele zu erreichen. Damit propagiert er schon den Kunstfilm der Avantgarde, kurz bevor Luis Buñuels und Salvador Dalís UN CHIEN ANDALOU in den Kinos zu sehen war.20 Nur der Film als Kunstfilm genießt bei Valle-Inclán die gleiche Stellung wie Literatur und Theater. Wird der Film jedoch als Adaptation von Literatur benutzt, wird diese verunstaltet. Valle-Inclán ist im Jahre 1928 sehr zuversichtlich über die Möglichkeiten des Mediums Film, die er visionär antizipiert. Allein sein Erfassen der vom Film eingeführten narrativen und dramatischen Struktur beweist, dass der Kinematograph Valle-Inclán nicht unbedingt fremd war. In einer im gleichen Jahr von Federico Navas geführten Umfrage über die Krise des Theaters äußert er sich zu seinen Kinobesuchen und seinen Kenntnissen über die von ihm sogenannte ‚neue Kunst‘ und propagiert eine zukünftige Einheit von Theater und Film.21 Anfang der 30er aus einem Brief an Cipriano de Rivas Cherif vom 11.12.1922, veröffentlicht in Insula, Nr. 398 (1980), S. 10, zit. nach Dougherty, Dru: „Valle-Inclán ante el cine“, in: Juan Antonio Hormigón (Hrsg.): Valle-Inclán y el cine, Madrid 1986, S. 8. 19 Vgl. Valle-Inclán, Ramón del: „La importancia artística del cinematógrafo“, in: ABC, Madrid (19.12.1928), S. 10; erneut abgedruckt in Valle-Inclán 1992, S. 399f. 20 Vgl. ebd. 21 Vgl. Navas, Federico: „¡No dice nada Don Ramón del Valle-Inclán!“, in: Imp. del Real Monasterio de El Escorial (Hrsg.): Las esfinges de Talía o encuesta sobre la crisis del teatro, El Escorial 1928; erneut abgedruckt in Valle-Inclán 1995, S. 402.

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Jahre kann man aus Zeitungsartikeln und Fotos entnehmen, dass ValleInclán durchaus in Betracht gezogen hat, mit dem noch zwei Jahre zuvor verhassten Hollywood zusammenzuarbeiten.22 Dies ist ein Indiz dafür, dass Valle-Inclán doch mit dem Gedanken gespielt haben muss, seine Werke verfilmt sehen zu wollen, das aber erst in der Epoche des Tonfilms. 1933 spricht er selber einem seiner Werke – Divinas palabras – filmischen Charakter zu.23 Somit deutet sich eine Revision seiner Meinung über den Film an. War die Bewertung des Stummfilms zur Darstellung von Literatur negativ ausgefallen, so bewirkt der Tonfilm bei Valle-Inclán die Meinungsänderung, Literatur und Theater könnten nun im neuen Medium quasi synthetisch darzustellen sein. In einem weiteren Artikel beschwört er wieder das „Theater der Zukunft“, das zwar ein Schauspiel bleiben soll, sich aber von den Konventionen des realistischen Theaters befreit und sich von der neuen kinematographischen Kunst inspiriert, dabei aber immer noch an den Film als primär visuelle Kunst denkt.24 Valle-Inclán hatte hier eine Zukunftsvision, die das Theater als Film und den Film als Theater ansieht. Die Fusion beider Medien hat Valle-Inclán jedoch nicht miterlebt. Die surrealistischen Experimente, z.B. die Traumsequenzen Buñuels, entsprechen voll und ganz den Vorstellungen Valle-Incláns über das „Theater der Zukunft“. So sind auch des Öfteren Parallelen – nicht nur bezüglich der Traumvisionen – zu Buñuel und Dalí gezogen worden, die das Makabre in ihren Filmen mit dem gleichen Sarkasmus und der Grausamkeit Valle-Incláns behandeln.25 Den fachkundigen Äußerungen Valle-Incláns über den Film folgen auch solche, die das bereits Gesagte widerrufen und teilweise die Ungenauigkeiten seiner Aussagen unterstreichen.26 Buñuel erzählt in seinen

22 Vgl. ebd., S. 441 und Anhang. 23 Vgl. ebd., S. 561. 24 Vgl. den Artikel „Don Ramón habla de teatro a sus contertulios“, in: Luz, Madrid (23.11.1933), S. 10; erneut abgedruckt in Valle-Inclán 1995, S. 585f. 25 Vgl. Llorens 1975, S. 189, 191, 196, wobei Llorens einen Einfluss seitens der surrealistischen Kunst ausschließt. Vgl. auch ebd., S. 63, Anmerkung 60, wo Llorens Valle-Incláns Technik mit der Buñuels vergleicht und María del Rosario aus den Sonatas und Viridiana gemeinsame Charakterzüge zuspricht. 26 Vgl. Valle-Inclán in Pizarro, José: „Don Ramón, ‚Charlot’ y la tempestad con barbas al desgaire“, in: El Sol, Madrid (23.12.1934); erneut abgedruckt in Valle-Inclán 1995, S. 624.

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Memoiren, dass Valle-Inclán im Jahre 1928 an einem Film über das Leben Goyas arbeitete.27 Als letztes muss noch erwähnt werden, dass Valle-Inclán in dem Dokudrama LA MALCASADA von Francisco Gómez Hidalgo aus dem Jahr 1926 in einer winzigen Sequenz als Schauspieler agiert haben soll. Aber wieder einmal ist auch diese Annahme nicht genügend abgesichert.28 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass außer Zweifel steht, dass ValleInclán sehr gut über das neue Medium informiert war, zumindest was das Wesen dieser Kunst angeht, wie seine Aussage in dem oben erwähnten Artikel „La importancia artística del cinematógrafo“ vom 19.12.1928 beweist. Dieser Artikel kann zugleich ein Beweis dafür sein, dass ValleInclán sich vom Film nicht hat beeinflussen lassen. Er beklagt darin die übertriebene Gestikulation und Mimik, die vom Melodram, dem sainete und der Komödie, also von szenischen Subgattungen übernommen worden sind, die in dieser Zeit in Spanien florieren. Aber dabei sind es gerade die Gestikulation und szenischen Bewegungen, die auch einen Großteil seiner Stücke auszeichnen, insbesondere die Esperpentos. Hinzu kommen noch die Schrei-Dialoge, die Valle-Inclán mit dem ‚modischen‘ Theater gemein hat.29 Bei diesen ist eine Übernahme aus dem Film der damaligen Zeit von vornherein ausgeschlossen. Der Einsatz der theatralischen Gebärden gehört zu seinem ‚Esperpentisierungs-Prozess‘, der al-

27 Vgl. Buñuel, Luis: Mi último suspiro, Barcelona 1992, S. 123 und Sánchez Vidal, Agustín: Buñuel, Lorca, Dalí: El enigma sin fin, Barcelona 1996, S. 144f. Buñuel muss Valle-Inclán schon vor 1925 während seiner Studentenzeit in der Residencia de Estudiantes gekannt haben. Auch der Direktor der ‚Resi‘ Alberto Jiménez Fraud erinnert sich daran, dass Valle-Inclán sehr oft diese Institution besuchte. Das ist insofern wichtig, weil Valle-Inclán damals sehr leicht für kinematographische Einflüsse hätte empfänglich sein können, da dort regelmäßig Filme gezeigt wurden. Dennoch darf die Bedeutung des Cine Club und auch die der Gaceta Literaria, die viel zur spanischen Filmpresse beitrug, nicht überschätzt werden. Da diese erst 1927 entstand und der Cine Club nur von 1929-1931/32 funktionierte, haben sie auf Valle-Incláns Werk nicht viel Einfluss nehmen können, und wenn, dann in den späteren Werken. Der damals mögliche Kontakt zu Buñuel – außer dem Goya-Projekt – ist auch nicht zu überschätzen, weil dieser vor seinem Paris-Aufenthalt in den Jahren 1925-1929 noch gar nicht beabsichtigte, Cineast zu werden. 28 Vgl. Utrera, Rafael: Modernismo y 98 frente a Cinematógrafo, Sevilla 1981, S. 159f. und Lara, Fernando: „Valle-Inclán en el cine español“, in: Juan Antonio Hormigón (Hrsg.): Valle-Inclán y el cine, Madrid 1986, S. 22. 29 Vgl. Aznar Soler, Manuel: Guía de lectura de ‚Martes de carnaval‘, Barcelona 1992, S. 71f., 144f., 202f.

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les Bestehende ins Lächerliche zieht. Im Film möchte er jedoch diese theatralischen Züge nicht sehen, weil er in den kinematographischen Techniken andere Möglichkeiten erkennt. Beim Hinzuziehen der Tragödie zielt er auf genau das, was nach ihm wichtige Filmtheoretiker tun werden, auf die Proklamation einer natürlichen Schauspielkunst, die sich auch bald nach Valle-Inclán bewahrheitet.30 Wenn dennoch Valle-Inclán gewisse Gebärden fokussiert, dann um genau auf diese Theatralik – die sich auch im Stummfilm ausbreitete – hinzuweisen und sich über sie lustig zu machen. Valle-Incláns Wiedergabe der Realität basiert auf Unnatürlichkeit und Übertreibung. Auch der Stummfilm hat von der mimetischen Darstellungsweise Gebrauch gemacht. Dies hat Valle-Inclán bemerkt und beklagt. Auch wenn ihm die Gebärdensprache vom Stummfilm vermittelt wurde, hat er indirekt an deren Darstellung im Theater denken müssen. Zu berücksichtigen bleibt, dass auch die verschiedensten Darbietungsformen (Variété, Music-Hall, Melodram u.a.) und Narrationsformen zum Entstehen und zur Weiterentwicklung des neuen Mediums Film beigetragen haben. So müssen die Schriftsteller auch nicht unbedingt eine neue Sprache, die filmische Sprache, in Anspruch nehmen, wenn sie doch ebenso gut auf bereits bestehende literarische und dramatische Traditionen zurückgreifen können. Genau dies hat Alejo Carpentier wohl bedacht, wenn er schreibt: Quien relee actualmente a Valle Inclán se sorprenderá al hablar, en sus novelas, con bastante anterioridad a la teoría de una influencia del cine en la literatura, todo lo que a esa supuesta influencia atribuyeron algunos críticos: rapidez de acción, esquematización de diálogo y situaciones, perpetua mutación de planos – cuando nadie 31 usaba aún los términos de „montage“, ni de contrapunto [...].

Darin liegt gerade das Problem. Eine kritische Untersuchung der Sekundärliteratur ergibt, dass die meisten kinematographischen Techniken (wie z.B. Manipulation der Bewegung, Behandlung des Blickwinkels, spezielle Kameratricks) bei Valle-Inclán noch nicht im damaligen Film gängig waren. Handelt es sich dann doch eher um narrative Techniken, die erst allmählich ihre filmische Umsetzung fanden? Das Beispiel von Valle-Inclán trägt sehr wohl zu dieser Annahme bei.

30 Vgl. dazu Kracauer, Siegfried: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit. Karsten Witte (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1993, S. 136f. 31 Carpentier, Alejo: Letra y solfa, Madrid 1990, S. 196.

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Auch wenn viele Kritiker zu nennen sind, die einen direkten filmischen Einfluss bei Valle-Inclán sehen,32 finden sich doch auch Stimmen, die diese Tendenzen relativieren und auch der Bedeutung des Wortes gegenüber der viel besprochenen Visualität mehr Gewicht zukommen lassen: Pero si es verdad que hay un estilo de acotaciones, y de que existe un movimiento de planos, el relieve de los primerísimos planos (un ojo, una boca, unas zancas) tiene más ampliación que en el cine, salvo en la etapa expresimista [sic!], y también que los efectos se corrigen como veremos mucho más por la fuerza y la dinámica 33 internas de la palabra que por una mera visualización.

Selbstverständlich kann Valle-Inclán tatsächlich an den Film als das am besten geeignete Inszenierungsmittel für seine komplizierten Szenenanweisungen gedacht haben, dies hat er ja auch in einem Interview zugegeben,34 aber das ist noch lange kein Beweis dafür, dass er seine Techniken vom bestehenden Film übernommen haben muss. Vielmehr kann ValleInclán – wie Carlos Álvarez Sánchez behauptet – die filmischen Techni-

32 Vgl. u.a. Zamora Vicente, Alonso: „Del teatro al cine“, in: ders.: La realidad esperpéntica. (Aproximación a ‚Luces de bohemi‘), Madrid 1974; Bermejo Marcos, Manuel: „Valle-Inclán, único. Notas para un acercamiento al autor de los ‚esperpentos‘“, in: Cuadernos del Idioma, II, Nr. 6 (1966), S. 60-63; Osuna, Rafael: „El cine en el teatro último de ValleInclán“, in: John P. Gabriele (Hrsg.): Suma valleinclaniana, Barcelona 1992, S. 497-505 (dieser Artikel erschien ursprünglich in Cuadernos Americanos, Nr. 222 (1979), S. 177-184) sowie ders.: „Un ‚guión cinematográfico’ de Valle-Inclán: Luces de bohemia“, in: Bulletin of Hispanic Studies, Nr. 59 (1982), S. 120-128. Vgl. außerdem Jerez Farrán, Carlos: El expresionismo en Valle-Inclán: Una reinterpretación de su visión esperpéntica, Coruña 1989, S. 228, S. 251f., der auf einen Einfluss seitens des expressionistischen Films hin argumentiert sowie McMahon 1990, die in ihrer Dissertation zehn verschiedene kinematographische Techniken bei Valle-Inclán behandelt, die gleichzeitig die wichtigsten Aspekte seiner kinematographischen Orientierung darstellen sollen. Diese Studie widmet sich am umfangreichsten den kinematographischen Techniken bei Valle-Inclán. 33 Muñoz Cortés, Manuel: „Algunos indicios estilísticos del último ValleInclán (Palabra y motivo)“, in: Cuadernos Hispanoamericanos, Nr. 199200 (1966), S. 123, Anm. 9. 34 Vgl. Navas 1928, S. 401-404. Dazu Jerez Farrán 1898, S. 247: „Por muy presente que Valle-Inclán tuviera los adelantos técnicos del teatro más moderno, no es difícil ver que los efectismos que buscaba crear tenían mayor cabida en la pantalla que en el escenario, siendo el cine el único medio de representación que podía ser fiel a la visualidad expresiva que le es innata a estas obras.“

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ken in seinem Theater vorweggenommen und so die filmische Vorstellung, die er vom „Theater der Zukunft“ hatte, bereits umgesetzt haben: Pienso que la teatralidad en el lenguaje cinematográfico, puede ser considerada como un factor que lo desvirtúa, disminuyendo su valor, en cuanto que suele significar incapacidad, desconocimiento de unos determinados medios: el situar, ante unos actores y un decorado, una cámara fija y limitarse a esto, evidentemente no es muy cinematográfico; los recursos que la técnica ofrece en este lenguaje son complejos, y su utilización requiere, aparte de otros factores, un largo aprendizaje. Pero demos la vuelta a la moneda: si el teatro, limitado en la concreción del espacio escénico, en sus líneas de visual únicas, en su imposibilidad de zooms y primeros planos, en la mayor dificultad de trucajes... Si, a pesar de todo esto, logra ser cinematográfico, ¿no sería un valor muy estimable a considerar, en vez de una objeción a oponer? Podrían recordarse aquí, de nuevo, las palabras de Valle-Inclán [...]: ,Habrá que hacer 35 un teatro que siga el ejemplo del cine actual‘.

Martin Bernhofer beharrt darauf, dass Valle-Incláns Werke nicht ausschließlich als Filmvorlagen – durch den oft gemachten Vergleich mit Drehbüchern – gesehen werden können, sondern ebenso als Theatervorlagen.36 Nach einer Untersuchung der kinematographischen Techniken bei Valle-Inclán lässt sich feststellen, dass – von einem positivistischen Einflusskonzept ausgehend – ein Einfluss des Films auf seine Dramaturgie nicht mit Sicherheit festgestellt werden kann, weil weder die Texte noch seine Aussagen genauere Indizien hierzu geben. Dass er das neue Medium relativ gut gekannt haben muss, lässt sich aus seinen Aussagen sehr wohl schließen. Und so wie das Einsetzen dieser neuen Kunst in das Schreiben vieler Autoren eingewirkt hat, steht außer Zweifel, dass ein filmisches Einwirken bei Valle-Inclán ebenso vorhanden ist. Es lässt sich 35 Álvarez Sánchez, Carlos: Sondeo en ‚Luces de Bohemia‘, primer esperpento de Valle-Inclán, Sevilla 1976, S. 65f. Auch Osuna 1992, S. 498, denkt an die Verbindung von Theater und Film bei Valle-Inclán: „Tampoco ese lenguaje cinematográfico valleinclanesco debe encontrar obstáculos en el hecho de que el cine fuera mudo o el color no se hubiera inventado, porque Valle-Inclán no piensa en puro cine al redactar sus piezas, sino en una mezcla de cine y teatro“. Vgl. dazu auch Albersmeier, Franz-Josef: Theater, Film und Literatur in Spanien: Literaturgeschichte als integrierte Mediengeschichte, Berlin 2001, S. 111, der wie folgt zusammenfasst: „Das Ergebnis ist eine Mischästhetik aus genuin theatralischen und theatralisch nicht mehr umsetzbaren, an den Kinematographen appellierenden Elementen.“ 36 Vgl. Bernhofer, Martin: Valle-Inclán und die spanische Kultur im Silbernen Zeitalter, Darmstadt 1992, S. 147.

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jedoch schlecht bestimmen, in welchem Maße dies der Fall ist. Dass Valle-Incláns Techniken dem Film verblüffend ähnlich sind, kann mit seiner ästhetischen Sichtweise erklärt werden. So ergibt sich, dass es sich bei den filmischen Techniken um Koinzidenzen und Parallelerscheinungen handeln muss, da viele filmisch anmutende Techniken bereits in den traditionellen Künsten vorhanden sind, und sich erst nach Valle-Inclán im Film behaupteten. Die trotz der vorliegenden Ergebnisse weiterhin – verstärkt durch die eigene Beeinflussung, die wir von der suggestivsten Kunst, dem Film, erhalten – filmisch erscheinende und den insbesondere surrealistischen Film antizipierende Schreibweise Valle-Incláns, soll nun im Folgenden in ihrer filmischen Transformation betrachtet werden,37 um so auch dem umgekehrten Einfluss, nämlich dem valleinclanesken Einfluss auf den Film Beachtung zu schenken.

2. Die erste filmische Adaptation eines Werkes von Valle-Inclán ist die im Jahre 1959 von Juan Antonio Bardem in spanisch-mexikanischer Koproduktion gedrehte SONATAS. Der eine Teil des Films entsteht in Spanien (SONATA DE OTOÑO) und der andere in Mexiko (SONATA DE ESTÍO). Bardem verleiht seinem Film eine historische Komponente, die es in der Vorlage nicht gibt: Die Handlung in Spanien spielt genau ein Jahr nach Wiederherstellung des Absolutismus durch die französische Invasion im Jahre 1823. Der immerwährende Verfassungskampf steht im Mittelpunkt der politischen und sozialen Unruhen, in denen sich die Liberalen und Absolutisten konstant bekriegen. Die Verbindung zu der in Mexiko spielenden Handlung wird durch das Exil vieler spanischer Liberaler in Mexiko hergestellt. In diesem Kontext erhält der Marqués de Bradomín aus den Sonatas, der in der Literaturvorlage seinen individuellen Aristokratismus und seine Indifferenz gegenüber dem politischen und auch dem sozialen Verlangen des Volkes offen zur Schau stellt, nun eine Spur von Gewissen und kämpft schließlich für die ‚gerechte Sache‘. Der gewählte historische Hintergrund ist ein Vorwand, um etwas zu vermitteln, was in diesen Jahren nicht mit aller Deutlichkeit im Film ausgedrückt werden konnte:38 37 Wobei nur Adaptationen für das Kino berücksichtigt werden. 38 Vgl. Lara 1986, S. 15: „Bardem busca hablar de la España del franquismo al público de su tiempo.“

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me daba cuenta de que dada la rígida censura política de la dictadura, yo tenía que utilizar un lenguaje simbólico, críptico, aunque dijera verdades para la comprensión, cuando el cine necesita un lenguaje muy directo y muy claro. [...] me di cuenta de que se podía retrotraer, digamos, una situación actual a una situación anterior [...]. Yo quería hacer Tirano Banderas, porque eso sí se podía hacer en cine. [...] A mí no me gustaba en absoluto, porque estaban [las sonatas] muy lejos de mi horizonte de 39 intenciones todo aquel mundo de decadentes.

Es scheint, als hielte sich Bardem mehr an seinen Vorstellungen fest als an der literarischen Vorlage. Auch bei der Wahl der Schauplätze hat er bereits eine feste Vorstellung, die mit der Vorgabe Valle-Incláns nicht übereinstimmt. Er lässt sich mehr von anderen Regisseuren und Filmgenres inspirieren als von dem in den Sonatas vermittelten Ambiente.40 Das Einzige, das Bardem von Valle-Inclán direkt übernimmt, ist die Liebe Bradomíns zu seiner Cousine Concha und zur Niña Chole, jedoch stehen diese beiden Liebesgeschichten im Film in einem unterschiedlichen Kontext. Bardem beginnt im Film mit der Herbstepisode, die auch in Galicien handelt, und setzt im Anschluss daran die Sommerepisode, die sechs Jahre später in Mexiko spielt. Hierin liegt bereits der erste Bruch mit der Vorlage. Bei Valle-Inclán haben die Jahreszeiten eine symbolische Bedeutung; sie werden mit dem Alter des Protagonisten in Verbindung gebracht, so dass die Sonata de otoño der Sonata de estío folgt. Der Film setzt bereits zu Beginn Javier de Bradomín in einen politisch-historischen Kontext, indem er ihn von den Liberalen verhaften lässt, während er auf dem Weg zu Concha ist. Um diese zu sehen, hilft er den Liberalen und sympathisiert besonders mit dem Kapitän Casares, einer erfundenen Figur, die aber hier sehr wichtig ist, weil sie indirekt fortwährend an das Gewissen Bradomíns appelliert. Ebenso neu hinzugekommen – neben weiteren Figuren – ist der Ehemann Conchas, der im

39 Bardem zit. nach dem Artikel „Con Valle-Inclán en el Café Colón“, in: Cuadernos El Público, Nr. 3 (1995), S. 49. Bei der Absicht, die bestehenden politischen Probleme auf die Leinwand zu bringen, ist Bardems Wunsch verständlich, Tirano Banderas, wo eine Diktatur im Mittelpunkt steht, zu verfilmen. 40 Vgl. dazu die Aussage Bardems „Yo buscaba el México de Eisenstein“; aus Bardem, Juan Antonio: „Meigallo“, in: Juan Antonio Hormigón (Hrsg.): Valle-Inclán y el cine, Madrid 1986, S. 30. Vgl. auch Heredero, Carlos F.: Las huellas del tiempo. Cine español 1951-1961, Valencia/Madrid 1993, S. 344f. sowie Gómez Mesa, Luis: La literatura española en el cine nacional 1907-1977 (Documentación y crítica), Madrid 1978, S. 269.

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Kurzroman nur beiläufig erwähnt wird, hier aber den ‚Bösen‘ des Films spielt und das Filmgeschehen stark dominiert. Er ist der Präsident der „Junta de Purificación de Galicia“, am Ende tötet er sogar Concha, bevor sie mit Bradomín fliehen kann. In der Vorlage stirbt sie eines natürlichen Todes. Beide Episoden werden verknüpft durch die Flucht vor den Absolutisten auf der englischen Fregatte La Dalila, die nach Mexiko segelt und in der sich Bradomín und Casares befinden. Sechs Jahre später in Mexiko sehen wir einen Bradomín, der als professioneller Spieler charakterisiert wird und zunächst von der politischen Situation im Lande Abstand hält, bis er wieder inhaftiert wird und stark unter den Gräueltaten der mexikanischen Gefängnisse zu leiden hat. Dies und der Tod Casares’ am Ende des Films überzeugen Bradomín, für die Revolution zu kämpfen. Die weibliche Hauptfigur dieser Episode ist La Niña Chole, die Tochter und gleichzeitig Geliebte des Generals Diego Bermúdez. Sie setzt sich für die Armen ein und entschließt sich am Ende, gegen die Unterdrückung Bermúdez’ zu rebellieren. Die inzestuöse Beziehung der beiden wird im Film nicht verdeutlicht, höchstens angedeutet, wenn sie zu Bradomín sagt, dass sie ihm ihre Geschichte nicht erzählen wird, weil er, Bradomín, sie dann hassen würde. Lara vermutet, dass dieser in der Vorlage wichtige Punkt aus Zensurgründen übergangen wurde.41 Er behauptet weiterhin – was mit den Aussagen des Regisseurs durchaus übereinstimmt –, dass die Hauptaussage des Films die Rückkehr der Bürgerkriegsexilanten nach Spanien ist. Getragen wird dieser Gedanke von dem Wunsch Casares’, wieder mit allen Spaniern zusammen in Spanien zu leben.42 Ein Wunsch, den wohl viele Exilspanier nach dem noch lange nicht überwundenen Bürgerkrieg haben. Genau diesen Versöhnungsgedanken, neben der angedeuteten Anprangerung des Franco-Regimes, verfolgt Bardem bei dem Transformationsprozess, und nicht die getreue Wiedergabe der literarischen Vorlage, in der der Individualismus eines Aristokraten im Mittelpunkt steht, der sich vollkommen dem Ästhetizismus verpflichtet fühlt, sogar in seinen politischen Anschauungen, wie in Sonata de invierno (1905) thematisiert. Eine moralische Komponente im Charakter Bradomíns ist in der Literaturvorlage anders als im Film nicht festzustellen. Der valleinclaneske Bradomín ist 41 Vgl. Lara 1986, S. 13. 42 Nachdem ihn Bradomín fragt, ob er nicht nach Spanien zurückkehren möchte, antwortet er: „Es lo que más deseo, estar allí, viviendo todos juntos.“

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ein treuer und traditionsbewusster Karlist, der sich im Gegensatz zu dem Bradomín im Film nicht für das Volk einsetzt. Er ist weit davon entfernt. Bardem hat somit an Bradomín starke charaktertypische Veränderungen vollzogen und der Transformation eine politisch-historische Dimension verliehen. Valle-Incláns Sonatas sind – abgesehen von wenigen inhaltlichen Elementen, die auch nur als Vorwand dienen – in dieser eigenmächtigen Transformationsleistung kaum wiederzuerkennen. Die nächste Verfilmung eines Werkes von Valle-Inclán erfolgt erst 13 Jahre später. Adolfo Marsillach dreht 1972 FLOR DE SANTIDAD, basierend auf der gleichnamigen Erzählung von 1904. Marsillach verleiht ebenso wie Bardem der Vorlage eine politischhistorische Dimension: Das Prosagedicht Flor de santidad ist als leyenda milenaria nicht epochenspezifisch. Wieder werden die Konflikte zwischen Liberalen und Absolutisten bemüht. Dieses Mal spielt die Handlung im Jahre 1853, einem Jahr, in dem in Spanien als späte Folge des letzten Krieges – 1846 bis 1848 war der zweite Karlistische Bürgerkrieg – Hungersnot herrscht. Mit diesem Hinzufügen greift Marsillach stark in das Raum-Zeit-Geflecht der literarischen Vorlage ein, weil er damit den erzählten Zeitraum deutlich dehnt. Hinter dieser Konfliktsituation verbirgt sich ein weiteres Mal der im 19. Jahrhundert stattfindende Bürgerkrieg und eine Anspielung auf den Bürgerkrieg des 20. Jahrhunderts. Wie Bardem vermischt Marsillach praktisch die sozialkritische Einstellung des späteren Valle-Inclán mit dem Valle-Inclán der frühen Epoche, der sich gegenüber sozialen Problemen eher indifferent zeigt und sich mehr um einen – auch stilistischen – Individualismus bemüht. Ein weiterer Eingriff in die Originalhandlung ist die charakterliche Veränderung, die an Ádega, der Protagonistin, vorgenommen wird. Sie wird von den beiden sich bekämpfenden Parteien zum Sensationsobjekt gemacht, um das Volk an sich zu reißen, das sie als santiña verehrt, weil sie angeblich ein Kind des Herrn erwartet. Am Ende wird sie deswegen von der Inquisition vor Gericht gestellt und zum Tode durch Ertränken im Meer verurteilt. Dies wird mit einem Netz durchgeführt, in dem Ádega zusammen mit anderen angeblich vom Teufel Besessenen gefangen ist. Als das Netz wieder aus dem Wasser herausgeholt wird, ist Ádega verschwunden. Im Prosagedicht wird Ádega zur Teufelsaustreibung ans Meer gebracht, und erst als sie aus dem Wasser kommt, erfährt man, dass sie schwanger ist. Außerdem verleiht Marsillach der Figur eine charismatische Komponente, die sie bei Valle-Inclán nicht erfährt. Auch

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an anderen Figuren führt Marsillach charakterliche Veränderungen durch. Andere Rollen werden hinzugefügt, da sie für die Verknüpfung mit der historischen Ebene wichtig sind. Marsillach nimmt sich außerdem die Freiheit, zusätzliche Übernahmen aus weiteren Werken ValleIncláns der Handlung hinzuzufügen, so z.B. Fragmente aus Farsa y licencia de la reina castiza, die zwar den gleichen historischen Hintergrund enthält, deren historische Komponente jedoch kaum von inhaltlicher Bedeutung ist.43 Was den valleinclanesken Stil angeht, der in Flor de santidad noch sehr modernistisch geprägt ist, bemüht sich Marsillach, diesen bei der Transformation beizubehalten. Das Barocke im Film macht sich vor allem in der Üppigkeit der Herbsttöne bemerkbar. Die dunklen Farben, besonders Brauntöne, sind ein tragendes Element der Bildspur. Dieser Farbe wird eine symbolische Bedeutung zuteil, sie steht für die Vergänglichkeit, die in der literarischen Handlung zusammen mit der Legendenhaftigkeit das Hauptanliegen ist, so dass mit diesem Bildmotiv – trotz der hinzugefügten historischen Dimension – die valleinclaneske Atmosphäre in der Transformation nicht verloren geht. 1976 dreht Gonzalo Suárez BEATRIZ nach den Märchen Beatriz (1901) und Mi hermana Antonia (1909). Valle-Inclán ist in diesem Film nur oberflächlich präsent: Aus Beatriz übernimmt Suárez die zentrale Filmsituation: Ein junges Mädchen, das vom Teufel besessen zu sein scheint, tatsächlich aber einem Mönch verfällt, der auf demselben Landgut eine Unterkunft hat. In der Vorlage glaubt das Mädchen, vom Teufel besessen zu sein, weil sie vom Mönch vergewaltigt wurde und sie sich an dieser Tat mitschuldig fühlt. Im Filmgeschehen ist die Titelfigur weniger passiv und möchte, nachdem sie das unschuldige Opfer eines Fluches wurde, sich dem Mönch hingeben, der sie begehrt, aber letztendlich seinem Gelübde standhaft bleibt. Von Mi hermana Antonia werden einige Züge der Satansbeschwörung übernommen sowie auch die Figur des kommentierenden auktorialen Erzählers, der nun als Erwachsener die Filmhandlung, in der er als jüngerer Bruder der Titelheldin unmittelbar involviert ist, in Rückblende erzählt. Zu den übernommenen Zügen und Elementen der Vorlage zählen die schwarze Katze, das verhexte Ohr und die verstümmelte Hand der Mutter, an der Finger fehlen und die sie immer unter ei-

43 Vgl. Marsillach, Adolfo: „Sobre ‚Flor de Santidad‘ y otras historias“, in: Juan Antonio Hormigón (Hrsg.): Valle-Inclán y el cine, Madrid 1986, S. 38.

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nem schwarzen Handschuh versteckt. In Mi hermana Antonia ist die Mutter das Opfer der Satansbeschwörung. Der eigenmächtigste Eingriff in die Vorlage Mi hermana Antonia ist die Übernahme der Schlüsselfigur, des Theologiestudenten Máximo Bretal, die im Film eine komplette Umformung erfährt. Der literarische Máximo Bretal ist derjenige, der seine Seele dem Teufel verkauft hat, um die Liebe Antonias zu gewinnen. Diese Konnotation erhält mit kleinen Veränderungen der Mönch im Film. Der filmische Theologiestudent zeigt sich dagegen rationalistisch und antiklerikal. Eine weitere, wesentlich veränderte Figur ist Basilisa, die in der Vorlage (Mi hermana Antonia) die einzige realistische Gestalt zu sein scheint, nämlich die alte Amme der Mutter. Im Film hingegen stellt sie sich als sinnliche Dienerin dar, die die Teufelsbeschwörung verantwortet. Um ihren kranken Sohn zu retten, muss eine unschuldige Person geopfert werden, und sie sucht sich dafür Beatriz aus. Außerdem verführt sie den jungen Erzähler der Filmhandlung. Ebenfalls starke Veränderungen erfährt die Figur des Mönchs, der die mysteriöse Komponente der Handlung steuert. Die furchtbeladene Antipathie, die in der Vorlage der junge Erzähler gegen Máximo Bretal verspürt, richtet sich im Film gegen den geheimnisvollen Mönch. Der Filmhandlung neu hinzugefügt ist die Räuberbande von Lorenzo el Quinto, die zu Beginn den Mönch, später die Frauen angreift, wodurch die Filmhandlung mit Bildern wollüstiger Ausschweifungen ausgeschmückt wird. Bei dieser hinzugefügten Räuberbande handelt es sich übrigens um eine Entlehnung aus anderen Werken Valle-Incláns. 1985 dreht Miguel Ángel Díez LUCES DE BOHEMIA. Mario Camus schreibt das Drehbuch. Die Adaptation von Luces de bohemia leidet vor allem unter der Umstrukturierung, die an ihr vorgenommen wurde, um die Antiklimax am Ende des Stückes zu vermeiden. Es erscheint jedoch fraglich, ob dieses von Valle-Inclán gewählte Ende in Bezug auf Gesamtaufbau und Aussage des Stückes tatsächlich störend ist. Damit der Film mit dem Tode von Max endet, sind die letzten drei Szenen in Auszügen als Prolog an den Anfang gestellt worden. Eine neue Figur wird dabei hinzugefügt, der kommentierende Erzähler Ramón, der die Geschichte rückschauend erzählt. So ist die letzte Nacht von Max und Don Latino eine einzige Rückblende. Jedoch fehlt so der distanzierte Blick, den der Leser/Zuschauer durch die visionäre Sicht des blinden Max erfährt. Der mit der Kamera erzielte Effekt eines leichten Nebelschleiers reicht als Mittel der Entfremdung nicht aus. Die Intention von

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Díez/Camus, Valle-Incláns Aussage seines Esperpento auf die Leinwand zu transponieren, ist damit fehlgeschlagen, denn gerade durch die hinzugefügte Erzählperspektive, die Sentimentalismus und Mitleid für die Figur durchscheinen lässt, wird die Sicht auf eine groteske Darbietung zerstört, und somit verliert die esperpentische Ästhetik an Bedeutung:44 El esperpento, ya sea en el teatro o en una película, proyecta sucesos seleccionados de la historia como si fuesen un espectáculo grotesco. Pero para que el espectáculo grotesco sea un esperpento, debe depender de la distancia y del efecto alienador de lo inquietante. [...] Al aplicar la estética mimética a un esperpento concebido como espectáculo grotesco, la película se convirtió en el retrato sentimental de un talento desperdiciado. [...] un buen montaje o una buena producción fílmica de los esperpentos debe hacer hincapié precisamente en esta posibilidad de alterar las relaciones funcionales entre escena y público, texto y autor, autor y personajes; debe recrear, estrictamente en términos de su público, el mismo proceso de distanciamiento de los espectadores frente a la desastrosa última noche del trágico poeta que Valle-Inclán utilizó para alienar y perturbar a los lectores españoles de sus esperpen45 tos.

Da die letzten drei Szenen an den Anfang gestellt werden, bekommen wir den Hauptdarsteller erst nach 18 Minuten zu sehen; der leitmotivische Faden des Lotteriescheins, der in der Vorlage erst am Schluss eingelöst wird, fehlt sogar ganz. Außerdem wird der Zuschauer mit einer bereits laufenden Geschichte konfrontiert, was ihm erschwert, den kontextuellen Sinn der noch fremden Figuren zu verstehen. Neben diesem eigenmächtigen Eingriff in das Raum-Zeit-Kontinuum der Vorlage durch die Umstrukturierung der Szenen sind einige Auslassungen zu erwähnen, beispielsweise die Reduktion einiger Sprechsituationen oder episodischer Figuren wie z.B. die kommentierenden Nachbarn in der elften Szene. Weitere Veränderungen sind das hinzugefügte Gespräch zwischen der erfundenen Figur des Ramón und Rubén Darío sowie die Form, in der der Tod von Mutter und Tochter bekannt wird. Diese Ergänzungen dienen dazu, dem Erzähler Ramón eine 44 Nicht von ungefähr ist Ramón der Name des Erzählers, um die Beziehung zu Valle-Inclán herzustellen, doch ist dies genau die Erzählperspektive, die Valle-Inclán vermeiden wollte. 45 Cardona, Rodolfo/Zahareas, Anthony N.: ,,El esperpento valleinclanesco: La función histórica del espectáculo“, in: John P. Gabriele (Hrsg.): Suma valleinclaniana, Barcelona 1992, S. 161-163. Beide werfen ebd., S. 164, der filmischen Transformation Unverständnis gegenüber der Vorlage vor: „que sean conscientes de los elementos contradictorios que están en juego en este tipo de teatro dialéctico“.

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Bedeutung zu geben. Andere kleine Veränderungen bewirken die Umgestaltung des Schauplatzes und der Perspektive. Gemeint sind die Szenen mit dem katalanischen Gefangenen und die Integration einiger Fragmente von Alejandro Sawa und Rubén Darío in die ansonsten nur mit Valle-Incláns Worten besetzte Tonspur. Trotz dieser Auslassungen, Umstellungen und Ergänzungen haftet der filmischen Transformation eine rigorose Werktreue an, und dies nicht nur in der Tonspur. Beim Zuschauen hat man das Gefühl, den Originaltext mit den dazugehörigen Illustrationen vorgelesen zu bekommen, einzig das Typische der valleinclanesken Schreibweise fehlt, nämlich das Vergnügen, das uns jedes Werk dieses Autors bereitet, insbesondere Luces de bohemia. Während die zuvor untersuchten Transformationen für die große Leinwand unter der allzu starken Eigenmächtigkeit der Regisseure leiden, so ist dieser Transformation ihre nahezu unterwürfige Werktreue vorzuwerfen. Zwei Jahre später wird die auf dem Land spielende Tragikomödie Divinas palabras von José Luis García Sánchez auf die Leinwand adaptiert.46 García Sánchez übernimmt für seinen Film weitgehend die literarische Dramenvorlage, doch wird der Charakter der aneinandergereihten Szenen nicht gewahrt. Er nimmt Veränderungen in der Szenenfolge vor und fügt insbesondere weitere Szenen hinzu, so dass das Geschehen besser nachzuvollziehen ist. Eine wichtige Episode – Mari-Gailas Ritt auf einem Geist – innerhalb einer Szene wird vollkommen ausgelassen; eine magische Episode, die geradezu nach einer filmischen Umsetzung verlangt, jedoch die vom Regisseur gewählte realistische Erzählperspektive auch eindeutig verfehlen würde. Die realistische Darstellungsweise führt dazu, dass weniger auf die Psychologie der handelnden Personen eingegangen wird – wie es beim szenischen Medium der Fall wäre –, sondern vielmehr die soziologische Komponente einer abnormen Gesellschaft in den Mittelpunkt rückt.47 Auch in der Personenkonstellation treten Veränderungen auf. Die Rolle des Pfarrers wird völlig neu erfunden und dient im Film zur Erklärung des Fehlens eines Geistlichen in der Gemeinde. Daneben bietet dies dem Regisseur die Gelegenheit, eine deutlich antiklerikale Haltung ans Licht zu bringen. Die im großen Finale im ersten Moment unscheinbare Veränderung bei der filmischen Umsetzung stellt sich am Ende als großes Missver46 Bereits 1977 wird in Mexiko DIVINAS PALABRAS von Juan Ibáñez gedreht. 47 Vgl. Urrutia, Jorge: „Sobre el carácter cinematográfico del teatro de ValleInclán (A propósito de Divinas palabras)“, in: Insula, Nr. 491 (1987), S. 18.

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ständnis gegenüber der literarischen Vorlage heraus: Die filmisch anmutende ‚Verfolgungsjagd‘ wird einfach ausgelassen, woraus am Ende ein gravierender Fehler resultiert, nämlich dass Mari-Gaila ihr Hemd erst fallen lässt, als sie vor der Kirche steht. In diesem Moment hören die Nachbarn auf, sie mit Steinen zu bewerfen, und nicht erst als Pedro Gailo das Bibelzitat auf Lateinisch vorliest und die Leute auf die göttlichen Worte – die divinas palabras – so ergriffen reagieren. Hätte Mari-Gaila (die Schauspielerin Ana Belén) nicht alle Hüllen fallen lassen, wäre die Intention Valle-Incláns wenigstens wiederzuerkennen gewesen. ValleIncláns ästhetische Sichtweise kulminiert in der Vorlage am Ende mit einem so genannten Aha-Effekt in den divinas palabras des Bibelzitats und kann damit als Visionsschilderung interpretiert werden. Darin und in der Ausgestaltung dieses Ausgangs, die durch ihre Anschaulichkeit das Filmische assoziiert, liegt Valle-Incláns Eigenart. Wenn sich ein Regisseur mit dem Vorhaben „sin alejarnos del espíritu del autor“48, an dieses Werk wagt, sollte er bei der Transformation den Kern der Autorenaussage doch mindestens berücksichtigen. García Sánchez – bei dem die Handlung insbesondere mit der Gestaltung der Motive verknüpft ist – versucht zwar den beiden Medien Theater und Film bei seiner Transformation gerecht zu werden, um eine theatralisch-kinematographische Mischform zu kreieren, dabei wird er jedoch dem Autor nicht gerecht. Der Regisseur will einerseits die Dialogkraft, die den theatralischen Film bestimmt, in den Mittelpunkt stellen, andererseits will er dem filmischen Bildmaterial gerecht werden. Hierfür verknüpft er das Wort mit der Bewegung. Dabei geraten aber die tragenden Elemente der Bildspur zu oft mit denen der Tonspur in Konflikt. Bei Valle-Inclán hingegen wird eine Kongruenz zwischen den Regieanweisungen und den Dialogen erreicht, was gerade den Reiz der Lektüre ausmacht. Der Regisseur von DIVINAS PALABRAS, José Luis García Sánchez, dreht 1993 TIRANO BANDERAS, eine spanisch-kubanische Koproduktion. García Sánchez hält sich insgesamt sehr an die Vorlage, wenn er sich auch hin und wieder einige inhaltliche Verschiebungen erlaubt, die aber bei der allgemein nötigen Raffung des umfangreichen Textes für die logische Folge der Ereignisse erforderlich sind. Aufgrund der Auslassungen verliert der Film einen Teil der eigentlichen Bedeutung des Romans. Ande48 Zit. nach Caparrós Lera, José María: El cine español de la democracia. De la muerte de Franco al ,cambio‘ socialista (1975-1989), Barcelona 1992, S. 313.

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rerseits erhalten einige Episoden durch ihre einmalige, aber dafür sehr ausführliche Erwähnung viel mehr Bedeutung als im Roman, wie z.B. die Episode mit dem Jungen, der von den Schweinen getötet und aufgefressen wird. Es handelt sich hierbei um ein beliebtes Motiv bei Valle-Inclán. Schon in Divinas palabras fressen Schweine eine Leiche an. Dort ist dies nur eine eher unbedeutende Nebenhandlung, dagegen erscheint das Geschehen in Tirano Banderas (1926) zwar nicht unbedingt die Handlung zu bestimmen, aber doch Einfluss auf sie zu nehmen. Der Film übernimmt ganz genau die Stelle, wo im Buch zum zweiten Mal diese Episode Erwähnung findet (4. Teil, 6. Buch). Im Roman jedoch wirkt sie wie ein Déjà-vu-Erlebnis, weil das Bild schon im Prolog vorkommt. Im Film hingegen findet sie zuvor keine Erwähnung, und so wirkt sie viel schockierender im Bewusstsein des Zuschauers. García Sánchez macht quasi aus einer im Prinzip filmisch dargestellten Episode – dadurch, dass sie zuerst im Prolog Erwähnung findet, erscheint sie bei der zweiten späteren Erwähnung als Rückblende – eine linear erzählte Handlung. Gerade das, was Tirano Banderas als filmisch auszeichnet,49 bleibt in seiner filmischen Transformation eher unbeachtet. García Sánchez sucht sich dagegen bestimmte Textstellen aus, die er dann Wort für Wort übernimmt. Der Roman wirkt fast filmischer als sein filmisches Äquivalent. Insgesamt ist festzustellen, dass theatralische Verhaltensmuster in LUCES und TIRANO BANDERAS durch die übertriebene Gestik der Schauspieler zu sehr überhandnehmen, die in der Vorlage selbst so nicht vorhanden sind. Die theatralischen Verhaltensmuster gewinnen außerdem an Gewicht durch die dramatische Dialogform, die als Ausgangspunkt der Transformation insbesondere in DIVINAS PALABRAS und LUCES DE BOHEMIA, aber auch in TIRANO BANDERAS dient und eine Übernahme darstellt. Während mit den zuletzt erwähnten drei Transformationen teilweise regelrechte Illustrationen der jeweiligen literarischen Vorlage geDE BOHEMIA

49 Vgl. Zamora Vicente, Alonso: „Lengua y estilo en Tirano Banderas“, in: Ramón del Valle-Inclán: Tirano Banderas. Novela de tierra caliente. Alonso Zamora Vicente (Hrsg.), Madrid 1995, S. 22: „Una larga serie de coincidencias en los acaeceres desparramados, unidos en el tiempo no lineal, equivale con gran precisión a la expresión cinematográfica de dicho recurso. Tirano Banderas es novela donde el rigor deslumbrante de los flases nos somete a una falaz ilación, mucho más viva y seguida que la normal narrativa: la simultaneidad y la inversión del tiempo son los factores esenciales en que los asendereados personajes del libro se desviven.“

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boten werden, wird in den ersten beiden Verfilmungen, SONATAS und FLOR DE SANTIDAD, der Inhalt nur zum Vorwand genommen, tatsächlich verbirgt sich darin ein politisches Interesse der Regisseure. Allen Kinoproduktionen liegen inhaltliche Verschiebungen zwischen Vorlage und Film zugrunde. In zwei Verfilmungen, FLOR DE SANTIDAD und BEATRIZ, sind Übernahmen aus mehreren Werken gleichzeitig festzustellen. Die eigenmächtigsten Eingriffe seitens der Regisseure erfolgen bei der Transformation der Figuren, die oftmals charaktertypische Veränderungen nach sich zieht, wie der Vergleich mit der Vorlage beweist. Da die Figuren wichtigste Handlungsträger im Film sind, führen ihre Veränderungen zu einer teilweise starken Abwandlung der literarischen Vorlage. Selbst die inhaltlichen Übereinstimmungen wörtlich übernommener Sprechsituationen treffen den Kern der valleinclanesken Aussage meist nicht mehr. Der Eingriff in das Raum-Zeit-Geflecht der Vorlage, der manchmal filmisch nötig erscheint (DIVINAS PALABRAS), andere Male sich als Fehlgriff erweist (LUCES DE BOHEMIA), bewirkt eine unterschiedliche Rhythmisierung, ja sogar eine Entdynamisierung des beschleunigten Erzähltempos der Vorlage. So wird der erzählte Zeitraum im Vergleich zur Vorlage deutlich gedehnt (DIVINAS PALABRAS). Insgesamt zeigen die Transformationsleistungen wenig Gespür für die literarische Vorlage. Der valleinclaneske Stil bleibt entweder völlig unbeachtet oder wird für eigene Zwecke missbraucht. Valle-Incláns Verfremdungseffekt, der das wichtigste Merkmal seiner Ästhetik bildet, wird in sein Gegenteil verkehrt, nämlich in die Nähe zu den filmischen Figuren und teilweise sogar in eine Identifikation mit ihnen. Valle-Incláns viel diskutierte filmische Schreibweise erhält seitens der Regisseure keine spezielle Beachtung. Finden sich seine kinematographischen Techniken im filmischen Äquivalent wieder, so handelt es sich meistens um selbstverständliche filmische Darstellungsformen wie Montage, Kamerabewegung etc. Eine bewusste Übernahme der in der Sekundärliteratur vielgepriesenen Techniken ist in keiner Transformation festzustellen. Nach den gescheiterten Versuchen, Valle-Inclán zu verfilmen, gestehen die Regisseure, dass Valle-Inclán nicht adaptierbar sei.50 Die 50 Vgl. den Artikel „Con Valle-Inclán en el Café Colón“, in: Cuadernos El Público, Nr. 3 (1995), S. 50 sowie Suárez, Gonzalo: ,,,Beatriz’, una reflexión ni cóncava ni convexa“, in: Juan Antonio Hormigón (Hrsg.): ValleInclán y el cine, Madrid 1986, S. 44 und ebenso Viloria, Natalia: „Valle-

VALLE-INCLÁN ALS VORREITER DES SURREALISTISCHEN FILMS

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Sprache Valle-Incláns ist das Manko, was selbst einen genialen Regisseur wie Buñuel auf die filmische Annäherung an sein Werk verzichten lässt: „El [teatro] de Valle-Inclán es más interesante, pero tampoco pasa bien al cine, todo está en el lenguaje, en la vida retorcida y violenta que le da a las palabras“51. Die empirischen Auffassungen der Regisseure rücken alle von der angeblichen Drehbuchkonzeption seines Werks ab und unterstützen gleichsam die Auffassung der valleinclanesken Schreibweise als einer von der Sprache gesteuerten ‚Visionsschilderung‘. Es darf nicht vergessen werden, dass auch wenn unsere Visionen in der Traumfabrik des Kinos eine ideale Umsetzung finden mögen, das modernere Medium sich das Reich der Träume unweigerlich mit der Literatur teilen muss. Diese hatte, noch bevor an eine Entdeckung der Traummaschine überhaupt gedacht wurde, die außerordentliche Fähigkeit, Bilder in unsere Vorstellung zaubern zu können. Valle-Inclán beherrscht diese Zauberkunst und versetzt uns allein mit seiner visionären Sprache in eine bisweilen märchenhafte und auch surrealistisch anmutende Traumwelt, die gelegentlich eine unbarmherzige esperpentische Realität durchscheinen lässt.

Inclán, la difícil adaptabilidad de un genio“, in: Gonzalo Muinelo/Antonio Santos/Natalia Viloria/Jesús Cueto-Vallejo (Hrsg.): Los escritores del 98 y el cine, Valladolid 1999, S. 99-133. 51 Interview mit José de la Colina: „Agon o el canto del cine según Luis Buñuel“, in: Contracampo, Nr. 1 (1979), S. 7; zit. nach Sánchez Vidal 1996, S. 327.

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DAS SURREALISTISCHE AUGE: INSZENIERUNGEN DER SCHAULUST BEI BUÑUEL, DALÍ UND ALMODÓVAR 1.

„Dangereux de se pencher en dedans“: Bilder zwischen Lust und Schrecken

Der Blick und das Sehen geraten in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts zunehmend in ein Spielfeld surrealistischer Bild-Text-Experimente, die sich der schaulustigen, ungeschützten Wahrnehmung und grausamen Augen- und Körperspielen widmen. Es handelt sich um eine Neubestimmung visueller Eindrücke im Spielraum neuer bildmedialer Darstellungsformen, die seit Ende des 19. Jahrhunderts einsetzt und das Auge bzw. die Prozesse der Wahrnehmung in provokativen Schaubildern anordnet, vergrößert, verfremdet und irrealisiert. Die Grenzüberschreitungen und Paradoxien des Sehens als ein Abtasten der Spielräume ästhetischer Darstellungsweisen prägen die hohe Frequenz der surrealistischen Augen- und Blickdarstellungen in Spanien und Frankreich. In der Literatur, in der Photographie, der bildenden Kunst und vor allem im neuen Medium Film entstehen Blickexperimente, die das Auge und das Sehen nicht nur leitmotivisch und ästhetisch fokussieren, sondern in den Brüchen einer übersteigerten Schauund Imaginationslust ausstellen und reflektieren. Damit werden Dispositive der Wahrnehmung zutage gefördert, die zum einen die standardisierten Blick- und Erwartungsmuster des Rezipienten desillusionieren und verweigern, zum anderen traumanaloge Reizbilder freisetzen, die den Leser bzw. Zuschauer in ein Wechselspiel von Faszination und Schrecken versetzen. Erscheint das medialisierte Auge einerseits als Ausdruck von Lust und Neugier, wird es andererseits zur Zielscheibe der Zerstörung und des Grauens. Als isoliertes Körperorgan in abstrakten Kontexten vielfach vergrößert, verfremdet oder multipliziert, dominiert es nicht selten  wie in zahlreichen Bildern von Max Ernst, Magritte,

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Miró oder Picabia 1 die Gesamtkomposition des Bildes und drängt sich auf als Symbol der Macht, des Wissens oder auch des Wahns. Gerade diese Vorherrschaft und Unheimlichkeit des Auges ist es dann auch, die, im Gestus der Revolte und des Protestes, übersteigerte Gedanken- und Traumspiele der Grausamkeit auslöst. Das Auge gerät zum Objekt der Zerstörung, das (wie Bilder und Szenen u.a. bei Man Ray, Max Ernst, Buñuel, Dalí oder Eisenstein dokumentieren) durchfädelt, zerschnitten oder zerschossen wird.2 Aufgeladen mit den Reizen der Schaulust und Neugier, dekuvriert das Augenmotiv die Kehrseite der Angst, des Grauens und des Todes. „Nichts an den Körpern der Tiere und des Menschen ist verlockender“ als das Auge, so Georges Bataille 1929 in Documents, „doch liegt die äußerste Verlockung möglicherweise gerade an der Grenze zum Schrecken“3. Das surrealistische Auge, als Medium der Grenzüberschreitung und des Experiments, spielt genau mit jenen Ambivalenzen und Pervertierungen einer Blickästhetik, deren Schockbilder und Blickfallen sich zunächst allzu gern im Schein der voyeuristischen Verführung und Lust verpuppen. So funktionieren der verschnürte Jutesack oder das kleine versiegelte Kästchen, diese wiederkehrenden Schlüsselmotive in den Texten und Filmen Buñuels, als Brennpunkte eines heimlichen begehrlichen Blicks, der immer wieder neu entflammt wird, dessen Erfüllung sich jedoch  zumindest dem Zuschauer  weitgehend entzieht. Glücklicherweise, so könnte man hinzufügen, denn die Eingeweihten, die das Geheimnis des Kästchens erspähen, erwartet  ganz im Sinne des ironisch verdrehten Titels „Dangereux de se pencher en dedans“4  Erschrecken, Schock und Tod. So fällt nicht nur das Mädchen, wie Buñuel in einem seiner filmischen Gags skizziert,5 beim Blick in das geheimnisvolle 1 Vgl. z.B. René Magritte: Le monde poétique (1926) oder Le faux miroir (1928); Max Ernst: Das Lichtrad (1924) oder Das Auge ohne Auge. Die hundertköpfige Frau hütet ihr Geheimnis (1929); Francis Picabia: L’homme nouveau (1924-28) oder Optophone II (1922). 2 Vgl. Man Ray: Objet à détruire (1924); Max Ernst: Répétitions (1922); Luis Buñuel/Salvador Dalí, UN CHIEN ANDALOU (1928) und L’ÂGE D’OR (1930); Sergej M. Eisenstein: PANZERKREUZER POTEMKIN (1925); vgl. auch Dalí, Salvador: „Meine Geliebte und der Strand“, zit. nach David, Yasha: ¿Buñuel! Das Auge des Jahrhunderts, Bonn 1994, S. 131: „Meiner Geliebten gefallen die Weichheit der Waschbecken und die Sanftheit der haarfeinen Seziermesserschnitte in der gekrümmten Pupille“. 3 Zit. nach David 1994, S. 134. 4 So der ursprüngliche Titel des Films UN CHIEN ANDALOU. 5 Buñuel, Luis: „Gags“, in: ders.: Die Flecken der Giraffe. Ein- und Überfälle, Berlin 1991, S. 138.

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Kästchen in Ohnmacht, auch seinem Liebhaber steht das blanke Entsetzen in den Augen. Als dieser das Kästchen schließt, werden beide Personen (z.B. durch ein plötzlich ausbrechendes Feuer) vernichtet. Was das Kästchen enthielt, ist nicht mehr zu erfahren, und so bleibt es weiterhin  von UN CHIEN ANDALOU bis zu BELLE DE JOUR  Reizobjekt und Rätselmotiv innerhalb einer Ästhetik der erdachten Bilder, geträumten und gefilmten Phantasien. Die Macht und die Lust des Sehens  symbolisiert im weit geöffneten Auge, im Blick in das Kästchen, durch die Kamera oder durch das Schlüsselloch  paart sich im surrealistischen Spiel mit dem Schrecken des Anblicks und der körperlichen Qual. Der Voyeur wird, wenn er den siebzehnten Flecken der von Buñuel und Giacometti entworfenen Giraffe öffnet, von einem Dampfstrahl mit Blindheit geschlagen,6 ebenso wie das Auge des vermeintlichen Eindringlings in Buñuels Film EL (1952) in dem Augenblick, da es durch das Schlüsselloch schaut, von einer Stricknadel zerstochen wird.7 Was in phantasmatischen Bildern der Grausamkeit angedeutet bzw. als Blickimagination vorgestellt ist, lösen Buñuel und Dalí in UN CHIEN ANDALOU filmszenisch auf radikale Weise ein: Für den Zuschauer wird hier ein surrealistischer Schock als Augen-Attacke erfahrbar, der sich über die Unvermitteltheit und Detailaufnahme der visuellen Darstellung ‚realisiert‘. Es ist der Versuch, die Realität und Surrealität des Sehens neu zu erfassen und damit der Irrationalität einer Schaulust Raum zu geben, die  im Spannungsfeld der Film- und Traumbilder, der Einbildungen auf der Leinwand und im Kopf des Zuschauers  Ausdrucksformen einer neuen Wahrnehmungslogik entwirft. Betrachten wir das berühmte Schockbild des ‚zerschnittenen Auges‘ als Schlüsselbild der surrealistischen Wahrnehmungsstrategien und ihrer Wirklichkeitsmodelle etwas genauer: Annonciert der märchenhafte Titel „Il était une fois...“, mit dem der Film UN CHIEN ANDALOU eingeleitet ist, zunächst einen poetisch romantischen Charakter, wird dieser durch die folgende Prologszene des ‚zerschnittenen Auges‘ anarchistisch zersprengt. Wir sehen einen Mann (Luis Buñuel selbst), der, eine Zigarette im Mundwinkel, mit konzentrierter Miene und präzisen Bewegungen sein Rasiermesser schärft. Durch 6 Buñuel, Luis: „Una Jirafa“, in: ders.: Obra literaria. Introducción y notas de Agustín Sánchez Vidal, Zaragoza 1982, S. 145-148, hier S. 147. 7 An dieser Stelle sei sowohl auf die gleiche Motivik und Szenerie in dem 1905 von Cecil Hepworth gedrehten Film THE INQUISITIVE BOOTS hingewiesen als auch auf die zahlreichen Voyeurbilder und -szenen bei Alain Robbe-Grillet, vor allem in Projet pour une révolution à New York, Paris 1970.

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die mit Gardinen verhängten Glastüren seines Zimmers hindurch, betritt er den Balkon und schaut nachdenklich in den nächtlichen Himmel. Es ist Vollmond. Wolken ziehen am Himmel, das Gesicht des Mannes ist von Zigarettenwolken eingehüllt. Dann das Gesicht einer jungen Frau in Großaufnahme, deren linkes Auge von zwei Fingern geöffnet wird. Die Klinge des Rasiermessers nähert sich horizontal dem Auge. Nachdem ein schmaler Wolkenstreifen am Himmel messergleich durch den Mond zieht, fährt auch das Rasiermesser durch das Auge der Frau, um es in sekundenlanger Einstellung brutal zu zerschneiden. Ende des Prologs. Dieser aggressive Sehakt, der den Zuschauer unwillkürlich zwingt, die Augen zu schließen, um der Gewalt der visuellen Bilder auszuweichen, hat bis heute nichts an seiner Schockwirkung verloren. Es ist ein Ansturm auf die habitualisierten Wahrnehmungsweisen des Zuschauers, dessen (Leinwand-)Auge hier provokativ in eine Sehnot, gleichsam in einen Sehzwang manövriert wird. In der suggestiven Folge kurzer alternierender Einstellungen und Perspektiven gerät der Zuschauer in ein surreales Netzwerk irrationaler Bild- und Bedeutungsmuster, das ihm immer wieder neu einen Platz in der Ökonomie der Blicke zuweist und ihn dergestalt Beobachter, Opfer und Täter werden läßt, ihn aus seiner kritischen Distanz zerrt und gleichzeitig aufspaltet in seine Angst und seine Lust wie in sein Bewußtes und Unbewußtes.8

Wird der Zuschauer einerseits in die halluzinierende Wirkung der Schaubilder hineingezogen, setzt andererseits gerade diese Bildcollage des durch den Blick gelenkten Cut seiner Schaulust ein abruptes Ende. Im Spiegel der Leinwand wird der Zuschauer mit der Ambivalenz (der ‚Zweischneidigkeit‘) seiner Rolle als Sehender und Gesehener konfrontiert und in einen Perspektivwechsel von Innen und Außen, dem eigenen und dem anderen Auge geworfen.9 Die Auflösung bzw. die Reversibilität dieser vermeintlichen Sehordnungen und Grenzen ist dabei integraler Bestandteil der, wie Philippe Dubois erkenntnisreich präzisiert, theatralisch komponierten Filmszene selbst: „en passant de la ‚scène‘ au ‚bal-

8 Schaub, Martin: „Das Messer im Auge“, in: Cinéma 41. Blickführung, (1996), S. 46-54, hier S. 50. 9 Dieses Reflexionsspiel des Sehens inszeniert Buñuel auch mit dem zweiten Flecken der „Jirafa“, in dem sich der Betrachter in einem erscheinenden Kuhauge gespiegelt sieht; auch hier wird der voyeuristische Sehakt abrupt unterbrochen, indem das Lid des Auges herunterklappt; der Betrachter ist mit den Bedingungen und der Medialität seines Sehens konfrontiert. Vgl. Buñuel 1982, S. 145.

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con‘, comme on glisse d’une image à son revers, Buñuel (en personne) ne fait que retourner le dispositif de la représentation et nous introduire dans l’univers des spectateurs.“10 In jenem Moment der Passage, da sich der Akteur (Buñuel) durch die Fenstertüren seines Zimmers wie durch einen Theatervorhang nach draußen auf den Balkon begibt  jenem intermediären und doppeldeutigen Raum (zwischen Innen und Außen)  gelangt er in die Position des, bezeichnenderweise nicht verborgenen, sondern exponierten Zuschauers. Der Orts- und Blickwechsel vom szenischen Innenraum zum Außenraum markiert die Umkehr bzw. die Verschachtelungen sowohl der Rollenzuschreibungen (acteur/agent/spectateur) als auch der verschiedenen Bildebenen und Blickdispositive. Damit werden die Strategien eines metafilmischen surrealistischen Spiels offenbar, das dieser Prologszene innewohnt und welches Buñuel bereits 1928 in seinen Aufsatz „,Découpage‘ o segmentación cinegráfica“ filmtheoretisch aufgeschlüsselt hat: Segmentación. Creación. Escisión de una cosa para convertirse en otra. Lo que antes no era, ahora es. Manera, la más simple, la más complicada de reproducirse, de crear. Momento auténtico en el film de creación por segmentación. […] El objetivo  ,ese ojo sin tradición, sin moral, sin prejuicios, capaz, sin embargo, de interpretar por sí mismo‘  ve el mundo. El cineasta, después, lo ordena. Máquina y hombre. Expresión purísima de nuestra época, arte nuestro, el auténtico arte nuestro de todos los días. […] La idea directriz, el desfile silencioso de las imágenes, concretas, determinantes, valoradas, en el espacio y en el tiempo; en una palabra, el film se proyectó por primera vez en el cerebro del cineasta.11

Die authentische und kreative Bedeutung, die Buñuel hier der filmischen Segmentierung zuschreibt, realisiert er zusammen mit Dalí im metaphorischen Spiel des Cut, der in UN CHIEN ANDALOU durch das sehende Auge zieht. Damit ist eine reflektierte Ästhetik der Schaulust und der Schnitte angesprochen, die mit dem fragmentarischen und sezierenden Charakter unseres Sehens zugleich eine visuelle Kreativität hervorkehrt, die immer auch über die Grenzen des Sehens und des Sichtbaren hinaus-

10 Dubois, Philippe: „Au fil du film I  Le prologue (la coup del’œil-lune)“, in: Revue belge du Cinéma 33-35. Un chien andalou. Lectures et relectures, (1993), S. 23-42, hier S. 33. 11 Buñuel, Luis: „,Découpage‘ o segmentación cinegráfica“, in: ders.: Obra literaria. Introducción y notas de Agustín Sánchez Vidal, Zaragoza 1982, S. 171-174.

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weist.12 Die Leerstellen und Sprünge zwischen den Bildern unterbrechen nicht nur den Bilder- und Sehfluss, sie setzen zugleich ein Schauspiel innerfilmischer Visionen und Imaginationen in Gang. Der Akt der Segmentierung und der Montage korrespondiert auf diese Weise mit der Realisierung einer Projektion oder auch Surrealität, die zunächst im Kopf des Filmemachers stattfindet, um sich alsdann auf das Auge des Zuschauers zu übertragen. Die Blendung (oder Schließung) des äußeren Auges funktioniert hierbei als Reizung des inneren Auges, das nun sein eigenes, subjektiv gesteuertes Filmszenarium entwirft. Diese wahrnehmungsästhetische Strategie hebt auch Dalí hervor, wenn er 1927 in seinen Ausführungen zum „Film-arte. Film-antiartístico“ die Idee des inneren filmischen Blicks proklamiert: „Cinema mudo. Sordo, ciego, diría aún yo, ya que el mejor cine es aquel que puede percibirse con los ojos cerrados.“13 Die surrealistische Inszenierung im Sinne Buñuels oder Dalís ist an eine Ästhetik des inneren Auges gebunden, die zum einen die mediale Verfasstheit unseres Wahrnehmungsbewusstseins spiegelt (seinen fragmentarischen, assoziativen, auch collagierenden Charakter), zum anderen den Blick des Zuschauers der (zumeist verblendeten) Komplexität (s)einer inneren Erfahrungswelt aussetzt: D.h. einer Welt der Träume und Phantasien, der Ängste, Grausamkeiten und irrationalen Bezüge. Innen und Außen, Realität und Surrealität der filmischen Bilder geraten hierbei wie in UN CHIEN ANDALOU in ein unauflösbares Wechselspiel, das bewusst mit der Schaulust, der Imaginations- und Assoziationskraft des Zuschauers spielt und Verwirrung stiftet. Erschließt sich die Augenszene einerseits als intermediale Schaltstelle, die Bilder, Szenen und Motive u.a. von Bataille (L’histoire de l’œil), Peret (Les odeurs de l’amour), Eisenstein (PANZERKREUZER POTEMKIN), Vertow (Der Mann in der Kamera), Segundo de Chamón (REISE ZU JUPITER) oder Max Ernst (Répétitions) verknüpft, lädt sie andererseits zu einer metaphorischen Lesart der Motive (Mond  Auge/Wolke  Messer)14 ein, mit der sich die 12 Vgl. auch Roloff, Volker: „Fragmentierung und Montage: Intermediale Aspekte (am Beispiel surrealistischer Texte, Bilder, Filme)“, in: Arlette Camion/Wolfgang Drost/Geraldi Leroy/ders. (Hrsg.): Über das Fragment. Du fragment, Heidelberg 1999, S. 239-259, hier S. 247ff. 13 Dalí, Salvador: „Film-arte. Film-antiartístico“, in: La Gaceta Literaria, Nr. 24 (1927). 14 Vgl. z.B. die Analyse von Marie, Michel: „Le rasoir et la lune“, in: Revue belge du Cinéma 33-35. Un chien andalou. Lectures et relectures, (1993), S. 43-46 oder Williams, Linda: „La rhétorique de l’inconscient“, in: ebd., S. 47-60.

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Prologsequenz in der Polyvalenz ihrer Perspektivwechsel als Phantasie und träumerischer Akt der darstellenden Figur bzw. des Filmemachers Buñuel entlarvt, ja des attackierten Zuschauers selbst, dessen Auge sich reflexartig schließt.15 Doch nicht zufällig lässt Buñuel die Deutung dieses Metaphern- und Symbolspiels als Indiz einer traumanalogen Wahrnehmung und Erzählerhaltung offen.16 Das surrealistische Auge als Medium der Überschreitung und des Durchgangs öffnet den Blick nach Innen, um ihn gleichzeitig nach außen zu stülpen (und umgekehrt). Es inszeniert ein Vexierspiel der Verschiebungen und Verschachtelungen, eine Konfusion der Traumbilder, der Film- und Realbilder, zwischen denen das Auge des Zuschauers hin und her wandert, neue Verknüpfungen sucht, sich immer wieder angeblickt und reflektiert sieht, zu träumen beginnt und sich träumend erkennt. Die Technik der Rätselstrukturen und des vexierenden Blicks, mit der Dalí seine Bilder (wie z.B. Metamorphose de Narzisse, 1937, oder Marché d’esclaves avec apparition du buste invisible de Voltaire, 1940) doppeldeutig auflädt und in eine kinetische Spannung setzt, realisiert sich auf diese Weise mit den in Bewegung gebrachten Bildern in neuen Steigerungen imaginationsästhetischer Prozesse.

2.

Spielformen einer reflektierten Traumästhetik

Wenden die Regisseure einerseits mit der spontanen Verquickung und Verschachtelung unbewusster Bilder und disparater Bildsequenzen die von den Surrealisten proklamierten irrationalen Spielformen der écriture automatique an, offenbart die aufmerksame Lektüre ihrer Filme andererseits die Konstruktion und Artifizialität einer Bildästhetik, die den ‚reinen Automatismus‘ des Schreibens (und Sehens) zugunsten eines ‚bewussten‘, d.h. ‚kontrollierten Automatismus‘ zurückdrängt.17 Der von 15 Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang auch die inszenierte Mehrdeutigkeit der handelnden Figur bzw. die temporale Verschiebung, die Buñuel in der Abfolge der einzelnen Bildeinstellungen suggeriert (vgl. hier die auffallend unterschiedliche Kleidung der im Bildausschnitt sichtbaren Person Buñuel). 16 Vgl. z.B. Buñuel, Luis: Wenn es einen Gott gibt, soll mich auf der Stelle der Blitz treffen. Carlos Rincón (Hrsg.), Berlin 1994, S. 26. 17 Vgl. Buñuel, Luis: Mi último suspiro (memorias), Barcelona 1982, S. 104: „Así también, Dalí y yo, cuando trabajábamos en el guión de ‚Un chien andalou‘, practicábamos una especie de escritura automática, éramos surrealistas sin etiqueta.“; vgl. hier auch das von Breton, André: Le surrealisme et la peinture, Paris 1928, geprägte Konzept des „objektiven Zufalls“, der auf eine bewusste Weise nach der zufälligen Erfahrung mit dem Rätselhaften des Alltäglichen sucht.

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Buñuel proklamierte amour fou zum Traum,18 diese Schaulust an den Traumbildern als Indiz der surrealistischen Denk- und Schreibweise, realisiert sich im Medium der Filmbilder nicht in reiner Zufälligkeit und Unvermitteltheit, sondern im Spielraum einer reflektierten Strukturform und Ästhetik. Die Rekonstruktion und Rezeption der Traumphantasien gründen auf bestimmten filmischen bzw. bildmedialen Techniken und ihrer kalkulierten Wirkung. Buñuel erschließt in seiner Filmpraxis als einer der ersten, wie Volker Roloff betont, „die grundlegende Differenz zwischen der Spontaneität der Traumproduktion und der bewußten Konstruktion der ‚rêve artificiel‘ der Filme selbst.“19 Der filmisch realisierte Traumdiskurs steht im Zeichen einer künstlerischen Kreativität und Komplexität, die auf dem Zusammenspiel verschiedener Medien und Diskurse basiert. Bilder und Techniken aus Literatur, Malerei und Film werden neu miteinander kombiniert. Neben Zitaten und Verfremdungen verschiedener Formen des europäischen Avantgardetheaters und des Avantgardefilms sowie dem Rekurs auf prämoderne Traditionen der Farcenkomik, der Burleske, Groteske und Parodie,20 dominieren (in UN CHIEN ANDALOU und L’ÂGE D’OR) Motive, Denkfiguren und Verfahren vor allem aus den künstlerischen Werken von Dalí, Magritte, Buñuel und Lorca. Augen und Spiegel, Konzertflügel, Eselkadaver, Ameisen, zerstückelte Gliedmaße, Totenköpfe etc.,  diese Objekte und Reihungen funktionieren als intermediale Einschreibungen und Einbildungen in einem filmischen Assoziationsgeflecht, das nach dem Vorbild der surrealistischen Vexierstruktur gebildet ist und eine Fülle mehrdeutiger Perspektiven und intermedialer Bildverschachtelungen provoziert.21 Die Sinndeutungen, die sich dem Zuschauer anbieten, entpuppen sich hierbei als falsche Fährten, sie „entlassen ihn immer wieder ins Leere oder vielmehr in die unabwägbare Weite persönlicher Assoziationen“, mit denen

18 Vgl. besonders das Kapitel „Sueños y ensueños“ in Buñuel 1982, S. 92-99. 19 Roloff, Volker: „Vom Traumspiel zum surrealistischen Film: Spanische Beispiele“, in: Hispanorama, Nr. 62 (1994), S. 12-21, hier S. 16. 20 Vgl. hierzu die Ausführungen ebd., S. 16f. 21 Lange Zeit wurde in der Forschung die Konstruktion der Traumbilder und der Ansatz einer reflektierten Intermedialität im filmischen Werk Buñuels nicht hinreichend erkannt; vgl. z.B. Nau, Peter: „Das goldene Zeitalter des Tonfilms“, in: Filmkritik, (1971), S. 272-308, hier S. 276: „Die rein visuelle Sprache des Films wendet sich gegen alle verbalen Auslegungen, nichts in dem Film hat mit Literatur, Schauspiel, Bildkunst zu tun“. Dagegen stehen die Interpretationen, die den Film unter den Prämissen freudscher Traumsymbolik auf ein psychoanalytisches Exempel verkürzen, vgl. z.B. Durgnar, Raymond: Luis Buñuel, London 1967.

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er „im Labyrinth der Deutungen kreist und alle rationalen Erklärungsmuster als dürftig und unzureichend verwerfen muß.“22 Es ist gerade die Mischung und Brechung verschiedener literarischer, theatralischer, künstlerischer oder musikalischer Traditionen, Genres und Verfahren, mit der der unbegrenzte ästhetische Spielraum der Träume und Traumimaginationen zur Darstellung gebracht wird und eine neue Visualität und Komplementarität der Filmbilder in Erscheinung tritt. Die intermediale Praxis des filmischen Sehens erscheint als Spielraum bzw. wird zur Spiegelfolie für die Verschachtelungen und Verrätselungen von Traumerinnerungen und Phantasien, die sich als „unmittelbare Spuren des Begehrens“ jenseits der diskursiven Formen und Denksysteme artikulieren. Die filmischen Traumbilder Buñuels funktionieren in diesem Sinne (im Anschluss an Foucault) als Artikulationen eines begehrlichen Sehens, das sich nicht in Sprache übersetzen lässt und allein in „einer Rapsodie der Bilder“, im Wechselspiel der Bilder und Augenblicke, seinen adäquaten Ausdruck findet.23 Film und Filmlektüre geraten auf diese Weise zum bewusst vieldeutigen und sinnlichen Schauspiel. Es ist der begehrliche Blick, der die Bilder imaginiert und erinnert und ein Szenarium der Emotionen und Überraschungen entwirft. Der Blick lenkt das filmische Geschehen und fügt schockartig und fröhlich Bilder zusammen, die Ängste, Aggressionen, Leidenschaften und sexuelle Lüste vermitteln. Nicht zufällig zeigt uns in UN CHIEN ANDALOU die erste Überblendungssequenz (Fahrradfahrer auf der Straße  Frau im Zimmer) das Bild einer Frau, die in die Betrachtung einer Reproduktion von Vermeers La dentellière versunken ist. Dieses (im filmischen Werk Buñuels wiederkehrende) Schlüsselbild,24 symbolisiert die von Paul Claudel treffend bemerkte Spannung des Auges auf einen Punkt, die Kraft des konzentrierten gelenkten Blicks.25 22 Kuchenbuch, Thomas: „Künstlerische Avantgarde und der Film: Un chien andalou 1928“, in: Werner Faulstich/Helmut Korte (Hrsg.): Fischer Filmgeschichte, Bd. 2, Frankfurt a.M. 1991, S. 92-109, hier S. 105. 23 Vgl. hier vor allem die Ausführungen von Borsò, Vittoria: „Film, Intermedialität und Moderne“, in: Ursula Link-Heer/Volker Roloff (Hrsg.): Luis Buñuel. Film – Literatur – Intermedialität, Darmstadt 1994, S. 166f., die in kritischer Auseinandersetzung mit der freudschen Hermeneutik und im Anschluss an die Traumkonzeption Foucaults Strategien für eine neue Visualität der surrealistischen Bilder entwickelt. 24 Leitmotivisch taucht Vermeers La dentellière u.a. auf in TRISTANA, 1969, und CET OBSCUR OBJET DU PLAISIR, 1977. 25 Paul Claudel, zit. nach Leutrat, Louis: „Liberté grande“, in: Revue belge du Cinéma 33-35. Un chien andalou. Lectures et relectures, (1993), S. 93-98, hier S. 94: „Voyez cette dentellière (au Louvre) appliquée à son tambour,

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Eben diese Konzentration richtet die Protagonistin wenig später auf diverse Objekte, die sie mit ritueller Geste auf ihrem Bett arrangiert: Eine Haube, eine Schürze, ein gestreiftes Kästchen, eine gestreifte Krawatte  Erinnerungsstücke an einen Fahrradfahrer, dessen tödlichen Sturz die Frau kurz zuvor von ihrem Fenster aus beobachtet hatte. Als könne ihr Blick den nicht sichtbaren Körper wiederbeleben, nimmt sie vor dem Bett Platz, die Augen starr fixiert auf die Fetischobjekte ihres Begehrens. Dann unvermittelt ein Blickwechsel, der die Logik der szenischen Folge sprengt und eine phantastische Bilderreihe stimuliert: Als die Frau ihren Kopf dreht, sieht sie hinter sich den Fahrradfahrer, dessen Blick erschrocken und fasziniert auf seine Hand gerichtet ist.26 Die Großaufnahme dieser Hand, auf der unzählige Ameisen hin und her krabbeln, gleitet über in eine Einstellung, die die Achselhaare einer Frau zeigt, verwandelt sich dann in das Bild eines Seeigels, um schließlich in einer Irisblende den Blick auf eine junge Frau zu fokussieren, die mit einem Stock eine auf dem Boden liegende abgetrennte Hand herumschiebt. Die Kamera variiert verschiedene Blickdispositive (der Frau/des Mannes/des Zuschauers) und zeigt die Bilder auf der Leinwand als spielerische Konstruktionen im Auge des jeweiligen Betrachters an. UN CHIEN ANDALOU und L’ÂGE D’OR erproben auf diese Weise ein ästhetisches Spiel der Collage und der Unterbrechungen, in dem die Filmbilder durch Wunschphantasien und Traumbilder fortwährend geschnitten und umgelenkt werden. Der dekonstruktive Schnitt der Bilder, als unvermittelter Einblick auf die imaginäre Kehrseite unserer Wahrnehmung, fördert hierbei schließlich jene Verunsicherung und jenen Verdacht zutage, mit dem sich der filmische Diskurs nur noch als Schauspiel und Traumtheater assoziativer, phantastischer Reihungen und poetischer Konstruktionen lesen lässt. Das einzelne Bild, die einzelne Bildsequenz, funktioniert nicht mehr als sinntragende Handlungseinheit, sondern löst sich auf im Wechselspiel bzw. in der Verschachtelung mit einem anderen Bild, das die Wahrnehmung des vorhergehenden fragwürdig und kontingent setzt: Der Nachtfalter in UN CHIEN ANDALOU wandelt sich in einen Totenkopf, die schöne Geliebte in L’ÂGE D’OR wird im Blick des Mannes zur Greisin, seine liebevoll streichelnde Hand auf ihrem verzückten Gesicht schreckt im nächsten Bild durch Verstümmeoù les épaules, la tête, les mains avec leur double atelier de doigts, tout vient aboutir à cette pointe d’aiguille: ou cette pupilleau centre d’un œil bleu qui est la convergence de tout un visage, de tout d’un être, une espèce de coordonnée spirituelle, un éclair décoché par l’âme.“ 26 Vgl. hier auch das Bild René Magrittes, Le soupçon mystérieux (1928), auf dem ein Mann in gleicher Positur auf seine Hand starrt.

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lung. Leben und Tod, Schönheit und Hässlichkeit spiegeln sich in vexierenden Strukturen. Besonders aufschlussreich sind in diesem Zusammenhang die langen Doppelbelichtungen, die den Zuschauer gleichzeitig mit zwei verschiedenen Bildeinheiten konfrontieren und die irritierende Konstruktion des Vexier- und Doppelbildes exemplarisch zur Schau stellen.27 Die Verrätselung und das Ineinandergleiten der disparaten Bilder und Bildsequenzen entspricht auf diese Weise, wie Deleuze mit Blick auf Filme von René Clair, Buster Keaton und Buñuel präzisiert, der Funktionsweise des Traums, der sich als eine Serialisierung von Anamorphosen, als ein variabler virtueller Bildertausch ad infinitum artikuliert: Le cas du rêve fait apparaître deux différences importantes. D’une part les perceptions du dormeur subsistent, mais à l’état diffus d’une poussière de sensations actuelles, extérieures et intérieures, qui ne sont pas saisies pour elles-mêmes, échappant à la conscience. D’autre part l’image virtuelle qui s’actualise ne le fait pas directement, mais s’actualise dans une autre image, qui joue elle-même le rôle d’image virtuelle s’actualisant dans une troisième, à l’infini.28

Signifikant erscheint in diesem Zusammenhang die, vor allem in UN vorherrschende Kreisform (das Auge, der Mond, der kreisförmige Haarkranz, der Kreis der schaulustigen Passanten, der Suchscheinwerfer, die Irisblende, etc.), die nicht allein als Signal für die Bedeutung und Funktion des Sehens zu deuten ist, sondern eben auch auf das traumästhetische Prinzip des Kreisens und des virtuellen Kreislaufs hinweist, in dem jedes Bild als Aktualisierung des vorherigen erscheint bzw. virtuelle Funktion übernimmt, um sich in einem nachfolgenden dritten zu aktualisieren. Das Prinzip der Kausalität weicht einem Mechanismus der Variation oder der Wiederholung, die auf bestimmten Formen, Figuren, Objekten oder Körperteilen basiert. Der Status der Unterscheidbarkeit zwischen Realem und Imaginärem, Erinnerung und Traum, weicht dabei einem Triumph der Einbildungskraft, die sich in den Cuts, Überblendungen und Zwischenräumen der Bilder auflädt und eine Surrealität des Sehens entwirft, die die Ambivalenz, die Rätselhaftigkeit und

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27 Vgl. z.B. in UN CHIEN ANDALOU die Überblendung bzw. Überlagerung zweier Räume in dem Moment, als der Protagonist von seinem Alter Ego erschossen wird; während er zusammenbricht, sehen wir ihn im Zimmer des Hauses und zugleich in der freien Natur. Seine Hände gleiten am nackten Rücken einer Frau entlang, die mit der nächsten Einstellung verschwunden ist. 28 Deleuze, Gilles: Cinéma 2. L’image-temps, Paris 1985, S. 77f.

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den instantanen Charakter der Bilder unterstreicht. Es ist gerade die Unordnung der Assoziationsbilder, die absurde Kombination verschiedener, auf den ersten Blick scheinbar wesensfremder Figuren und Objekte, mit der eine halluzinatorische Kraft des Sehens zutage tritt, die an die Visionen des Halbschlafs bzw. an die Dramatisierungen unserer Tagträume erinnern. Buñuel und Dalí bieten mit UN CHIEN ANDALOU und L’ÂGE D’OR eine Lektüre filmischer Traumtexte, die sich nicht auf eine Thematisierung und Darstellung unterschiedlicher Träume und Traumerfahrungen reduzieren, sondern den komplexen Prozess ihrer ästhetischen Konstruktion und Rezeption aufschlüsseln und durchschaubar machen. Der Film bzw. die Anordnung des Sehens, die der Kinoraum gestaltet, erweist sich, wie Buñuel betont hat, als das Medium, mit dem die Kreativität des menschlichen Geistes, vor allem seine traumanaloge Wahrnehmungsstruktur, besonders anschaulich in Erscheinung tritt: Es [el cine] el mejor instrumento para expresar el mundo de los sueños, de las emociones, del instinto. El mecanismo productor de imágenes cinematográficas, por su manera de funcionar, es, entre todos los medios de expresión humana, el que más se parece al de la mente del hombre, o mejor aún, el que mejor imita el funcionamiento de la mente en estado de sueño.29

Damit gewinnt auch die anarchistische Struktur, die den Bildern und Verfahrensweisen der Träume innewohnt, eine neue Dimension. Sie markiert sowohl das subversive Potential menschlichen Denkens als auch die ästhetische Form des Mediums Film, der über die Macht der Bilder zur „gefährlichen Waffe“ („un arma maravillosa y peligrosa“30) wird. Besonders in L’ÂGE D’OR (so wie auch später in LOS OLVIDADOS, 1950, oder VIRIDIANA, 1961) kreiert Buñuel im Spielraum traumästhetischer Imaginationen eine blasphemische Verkehrung christlich moralischer Werte und Konventionen, eine radikale Auflösung habitualisierter Wahrnehmungsmuster und gesellschaftlicher Ordnungsprinzipien, die den Skandal und die Zensur des Filmes nach sich ziehen. Darstellungen wie die Verwandlung der in einer Felslandschaft das dies irae singenden Bischöfe in Skelette, die willkürliche Erschießung eines kleinen Jungen oder die analoge Setzung der Erscheinung und des Leiden Christi mit der Figur des Comte de Blangis, der nach einer verbrecherischen Orgie à la Marquis de Sade das Château de Selliny verlässt, funktionieren als scho-

29 Buñuel, Luis: „El cine, instrumento de poesia“, in: ders. 1982, S. 185. 30 Ebd.

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ckierende Provokationen und radikale Angriffe gegen die Traditionen der katholischen Kirche, die Prinzipien der staatlichen Macht und Vernunft. Diese suggestive, gleichermaßen subversive Kraft einer assoziativen Bildästhetik, die Buñuel und Dalí in UN CHIEN ANDALOU und L’ÂGE D’OR kreieren, setzt sich in den mexikanischen Filmen Buñuels der 50er Jahre bis hin zu den spanischen und französischen Filmen der 60er und 70er Jahre (VIRIDIANA, 1961, LE CHARME DISCRET DE LA BOURGEOISIE, 1972, BELLE DE JOUR, 1966, u.a.) mit unterschiedlichen Akzentuierungen fort und markiert damit jene Fortführung und Weiterentwicklung intermedialer und traumästhetischer Schreibweisen, mit der sich eine konsequente Zusammenschau der frühen surrealistischen und späten sogenannten postsurrealistischen Werke abzeichnet. Sowohl die auf den ersten Blick realistisch anmutenden Filme wie LAS HURDES (1932) oder LOS OLVIDADOS (1950)  als Ausschnitte der spanischen und mexikanischen Wirklichkeit  als auch tendenziell kommerziell ausgerichtete Filme wie EL (1952), LA ILUSIÓN VIAJA EN TRANVÍA (1953) oder ENSAYO DE UN CRIMEN (1955) sind von einer Ästhetik verschachtelter Bildebenen, von Träumen und Halluzinationen überzogen, die den filmischen Diskurs immer wieder aufbrechen und in seinem Genrespiel, seinen Mehrdeutigkeiten und medialen Konstruktionen ausstellen und reflektieren. Filmgattungen wie der Dokumentarfilm, der Liebesfilm, das Melodrama oder die Hollywoodkomödie werden hierbei ebenso demontiert und ad absurdum geführt wie die Darstellungen soziokultureller, psychologischer oder religiöser Diskurse, literarischer oder mythischer Prätexte, die parodistisch aufgebrochen, verfremdet und ins Groteske überzogen werden. Der surrealistische Filmdiskurs Buñuels entwickelt damit ein umfangreiches Repertoire experimenteller Schreib- und Sehweisen, deren Wirkungen weit über die ersten Werke der 20er und 30er Jahre hinausreichen und maßgeblich beteiligt sind an einem Projekt der Moderne, das neue Paradigmen des Sehens und der Wirklichkeit setzt.

3.

‚Wenn der Blick den Tiger streift...‘  Das Auge Buñuels und Dalís bei Almodóvar

Nach wie vor zeigt sich, dass die Bedeutung, die surrealistische Filmund Mediendiskurse für die Entwicklung moderner und postmoderner Texte und Denkfiguren einnehmen, wenig Beachtung findet. Gerade mit der künstlerischen Praxis des frühen Surrealismus tritt eine spektakuläre Ästhetik des Auges in Erscheinung, die für eine Reihe von französischen, spanischen und lateinamerikanischen Autoren als Spiegelfolie und Inspi-

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rationsquelle zu werten ist.31 Neben Autoren und Regisseuren wie z.B. Robbe-Grillet, Resnais, Carpentier, Borges, Cortázar oder Arrabal, lädt vor allem Pedro Almodóvar, einer der bedeutendsten Regisseure der aktuellen spanischen Kinokunst, zu einer vergleichenden Lektüre seiner Filmtexte ein, die unter den Vorzeichen einer surrealistischen, buñuelesken Ästhetik neue intermediale Spielräume des Sehens eröffnet.32 Das surrealistische Auge mit seinen spezifischen Themen, Techniken und Spielregeln des Sehens  so die These  aktualisiert sich im Kino Almodóvars auf vielfältig spielerische, heitere postmoderne Weise. Überall im Kino Almodóvars begegnen wir schauenden und angeschauten Augen, auch geschlossenen Augen, vergrößerten und stilisierten Augenpaaren, heimlichen voyeuristischen Schauspielen, Augenblicken, Augenschnitten und Augenmultiplikationen. Der Kreis, das Rund, das Auge oder das O zeigt sich nicht nur als dominantes Muster im filmischen Dekor (auf Tapeten, Möbeln oder Kleidern), es strukturiert und perspektiviert zugleich die Bildeinstellungen und signalisiert die Präsenz des Kameraauges, das die filmischen Bilder aufnimmt und in Szene setzt. Im Verweisspiel auf die Inszenierungsmuster und die unterschiedlichen Wahrnehmungskonfigurationen innerhalb des filmischen Geschehens wirft Almodóvar immer wieder einen selbstreflexiven Blick auf das eigene Kino, das die Strategien der Traumfabrik ebenso wie die voyeuristische Schaulust des Zuschauers parodistisch in Szene setzt.33 Auffallend ist in diesem Zusammenhang die Reihe der Voyeurszenen, die den heimlichen lustvollen Blick verraten, der nicht immer sieht, was er zu sehen wünscht, oder etwas sieht, das sich ihm im nächsten Augenblick als Täuschung und Trugbild verrät. Man denke zum Beispiel an 31 Vgl. hier z.B. Roloff, Volker: „Vom Surrealismus zur postmodernen Erzählfreude. Lateinamerikanische Kombinationen und Beispiele (Borges, Mário de Andrade, Carpentier)“, in: Ulrich Schulz-Buschhaus/Karlheinz Stierle (Hrsg.): Projekte des Romans nach der Moderne, München 1997, S. 289-310, der den europäischen Surrealismus als Modell postmoderner Erzähltraditionen und Denkfiguren skizziert. 32 Vgl. z.B. Holguín, Antonio: Pedro Almodóvar, Madrid 1999, S. 57f., der die Bedeutung Buñuels für das Werk Almodóvars hervorhebt: „Los surrealistas y Buñuel planean, pues, continuamente sobre su cine, siendo la obra del aragonés un ‚anticipo‘ de la obra del manchego, existiendo, sin embargo, entre ambos una diferencia de clase social, entorno histórico, y un gusto sexual diferente. Son personajes netamente españoles que acentúan sus raíces, perviviendo en ellos la esencia del surrealismo español.“ 33 Vgl. hier z.B. die Analyse von Felten, Uta: „Schaurige Schaulust: RealityTV, Sehmaschinen und Voyeure in Pedro Almodóvars Film ‚Kika‘“, in: Volker Roloff/Helmut Schanze/Dietrich Scheunemann (Hrsg.): Europäische Kinokunst im Zeitalter des Fernsehens, München 1998, S. 363-370.

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die surreale Dekonstruktion des Blicks in ENTRE TINIEBLAS (1983), in dem die Kamera das voyeuristische Wahrnehmungsdispositiv zunächst minutiös zitiert und aufbaut  wir sehen in Detailaufnahme den heimlichen Blick der Nonne, die durch das Schlüsselloch in das Zimmer der Oberin späht  um es dann auf ironische Weise jäh zu unterlaufen: Rien à voir. Der voyeuristische Blick streift an der Oberfläche der alltäglichen Bilder ab. Das Geheimnis, das die Kamera uns verrät, ist kein homoerotisches Schauspiel zwischen Yolanda und der Oberin, sondern der Blick des Voyeurs selbst  hier der Voyeuse , deren Schau provoziert, inszeniert und zugleich verweigert wird. Auf sehr raffinierte Weise lenkt und verführt Almodóvar unseren Blick, um ihn in seiner Begehrensstruktur und seinen Wunschprojektionen zu entlarven, so auch in der Anfangseinstellung von KIKA (1993), die den Blick durch ein Schlüsselloch freigibt, das eine junge Frau zeigt, die sich soeben die Bluse über den Kopf steift. Doch auch hier folgt der Verführung des Blicks die Desillusionierung, denn im nächsten Bild entpuppt sich die Szene als inszenierte Augentäuschung. Das Schlüsselloch ist in Wirklichkeit ein in schwarze Pappe geschnittener Ausschnitt, vor dem der Photograph mit seiner Kamera sitzt und Aufnahmen für einen imaginierten Voyeur schießt. Während wir das Klicken des Photoapparates hören, ziehen verschiedene Popart-Zeichnungen durchs Bild, eine rote Rose, ein weibliches Model und schließlich als die definitive Verriegelung des voyeuristischen Auges: Ein moderner Türknauf. Der Film führt eine Lust an den Bildern vor, um diese sogleich als Verlust zu markieren. Die Technik des trompe l’œil, die der Vorspann exponiert, annonciert die Spielregeln einer Medialisierung des Sehens, die der Film autothematisch vorspielt und als ästhetische Provokation inszeniert. Hier spiegelt sich die postmoderne Spielfreude an der spektakulären Schau, der artifiziellen Oberfläche der Dinge, den künstlichen Verdoppelungen, Spiegelungen und Täuschungen, die die Verfahrensweisen ihrer Konstruktion nicht verbergen, sondern lustvoll ausstellen. So wie Hitchcock beispielsweise in REAR WINDOW (1954) die bildnerische Konstruktion und Kulissenhaftigkeit seiner Filme durchschaubar macht,34 entwickelt Almodóvar ein besonderes Interesse an den Fabrikationen des Künstlichen und den Möglichkeiten der visuellen

34 Vgl. Strauss, Frédéric: Conversaciones con Pedro Almodóvar, Madrid 1995, S. 127.

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Schreibweise.35 Mit dem Blick auf die artifizielle und reflektierte Gestaltung filmischer Räume und Personen formuliert er das gemalte Bild, das Kunstbild oder die Kunstfigur als die neuen Wahrnehmungssignaturen des vermeintlich Realen. ‚Richtiger Regen‘ oder ‚wahre Gefühle‘ scheinen nur noch wahrnehmbar in der Inszenierung, der Stilisierung oder auch der Übertreibung ihrer Darstellung: „Eso es precisamente lo que me interesa en el cine: algo que habla de la realidad, que es verdadero, pero que tiene que convertirse en una representación de la realidad para que pueda percibirse.“36 Anstelle der Wirklichkeitsillusion tritt bei Almodóvar die Geste der Unterbrechung, der Reflexion, der intermedialen Referenz. Das Medium Kino geht weit über die ihm eigenen Möglichkeiten des rein Kinematographischen hinaus, indem es einerseits verschiedene Blickdispositive (des Theaters, der Photographie, des Fernsehens) kombiniert, andererseits mediale und künstlerische Bilder aneinanderreiht, miteinander vernetzt und gegeneinander setzt. Dazu gehören das Zitat, die Verfremdung oder Ironisierung literarischer, theatralischer, filmischer Bilder und Verfahren ebenso wie das parodistische Spiel mit Werbespots oder die Collagetechnik mit Versatzstücken der Comic- und Popästhetik. Es sind gerade die Brüche, Schnitte und Fragmente, die das Auge des Zuschauers permanent reizen und neue intermediale Spielräume für ein lustvolles und auch zerstreutes Sehen gestalten. In diesem Sinn erscheint vor allem der von Juan Gatti entworfene, berühmte Vorspann des Films MUJERES AL BORDE DE UN ATAQUE DE NERVIOS (1988) als Lektüreanleitung des Films bzw. als Paradigma des filmischen Sehens bei Almodóvar, das die Ästhetik der Unterbrechung, des Fragments und der Collage erprobt. Der Vorspann präsentiert dem Zuschauer eine Reihe von Bildern in eleganter Popästhetik, die uns in die Welt der Mode, der Künstlichkeit und der weiblichen Klischees führen. Frauenbeine in Seidenstrümpfen und schwarzen Pumps, rote Lippen und geschminkte Augen, eine Frauenhand mit langen rotlackierten Fingernägeln, sind collageartig und lose zusammengefügt. Wir sehen Detailaufnahmen, die den Blick auf das Ganze verweigern, fraktale Einzelbilder des weiblichen Körpers, die zum Teil aneinandergereiht, zum Teil aber auch ineinander und übereinander montiert sind. Immer wieder Schnipsel isolierter Au-

35 Besonders deutlich wird dies in dem Film KIKA, der die Stadt Madrid wiederholt als Bild bzw. als Modell repräsentiert, über dem der Scheinwerfer bzw. das Kameraobjektiv als künstlicher Mond aufgeht. 36 Strauss 1995, S. 27.

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gen, Reduplikationen desselben als Referenz auf Dalí37 und schließlich das Collagebild „Montaje“  als Schlüsselbild und unmittelbares Zitat Buñuels und Dalís , in dem das Bild einer Schere ins Auge greift.38 Hier manifestiert sich nicht nur die Vorliebe Almodóvars für das filmische Zitat, sondern vor allem für die Technik des Schnitts, als Moment der Unterbrechung und der ästhetischen Provokation, mit der die Kontinuität und die Seherwartungen des Zuschauers zerschnitten und die Surrealität des filmischen Sehens als Collage disparater Einzelteile zum Vorschein kommt. Statt eines geschlossenen kontinuierlichen Ganzen erschließt sich die Wahrnehmung als buntes Zusammenspiel unterschiedlicher Bildfragmente, die, losgelöst von definierten Sinnhorizonten und Identitäten, eine Ästhetik der Unordnung, der Spaltungen und der Gegensätze zulassen.39 Die Technik des surrealen Cut, als Indiz für die Zusammenbrüche logischer Ordnungen, für den lustvollen Wahrnehmungsschock und die Vermischung heterogener Elemente löst Almodóvar auf humoreske und karnevaleske Spielart ein. Er entwickelt eine besondere Freude an grotesken Verkehrungen und monströsen Übertreibungen  man denke zum Beispiel an die karnevaleske Namensgebung der Nonnen in ENTRE TINIEBLAS, die aidskranke Nonne in TODO SOBRE MI MADRE (1999), die einen Transsexuellen liebt oder die Vergewaltigung Kikas, die über drei Stunden dauert , mit denen er geheime Begierden und gesellschaftliche Tabus zur Schau stellt. Schockbilder, die das Publikum treffen (Vergewaltigungen, Morde vor laufender Kamera, skatologische Schauspiele), werden hierbei durch Übertreibungen und Fiktionsironie immer wieder ins Komische gelenkt und im Gestus ihrer Inszenierung als Imaginationsund Schaubilder entschärft.

37 Siehe hier das von Dalí 1976 entworfene Bild Projet d’architecture, das collageartig Redublikationen eines Auges aneinanderreiht, und das als Werbebild im International Herald Tribune erschien. 38 Interessanterweise nimmt Almodóvar dieses Zitat in KIKA erneut auf, wenn die Kamera unseren Blick während Kikas Vergewaltigung auf den Nachttisch lenkt, auf dem ein Messer quer über einer Zeichnung liegt, die ein übergroßes Auge darstellt. 39 Hier greift die von Paul Virilio prononcierte Idee des Bewusstseins als Montageeffekt, das filmanalog durch die Kunst der Unterbrechung und des Fragments strukturiert ist; vgl. Virilio, Paul: „Technik und Fragmentierung“, in: Karlheinz Barck (Hrsg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1993, S. 71-82, hier S. 75: „Unser Bewußtsein ist ein Montageeffekt. Es gibt kein kontinuierliches Bewußtsein, nur ein zusammengesetztes.“

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Auf der Grundlage der Collage und des Fragments verquickt Almodóvar unterschiedliche Medien, Genres und Stile zu einem kaleidoskopischen Mosaikspiel der Variationen und Spiegelungen. Farben, Formen und Objekte funktionieren hierbei als générateurs für ein sinnliches Wahrnehmungsspiel komplex verschachtelter Bilder- und Figurenreihen, die sich, analog der surrealistischen Verrätselung und Traumtechnik, aneinanderreihen, aufeinander beziehen, ineinander gleiten. Als ironische Replik auf das zerschnittene Auge und assoziative Metaphernspiel in UN CHIEN ANDALOU lässt sich beispielsweise eine lose Bilderfolge von Kreisen in KIKA lesen: Wir sehen die Moderatorin Andrea Caracortada auf dem Balkon eines Wohnblocks, deren auf dem Kopf installierte Videokamera über die gemalte Silhouette von Madrid gleitet. Das Videoauge fixiert (zusammen mit dem leuchtenden Werbezug SONY) den am nächtlichen Himmel aufziehenden Vollmond. Dieser, zunächst im Panoramabild, dann fokussiert in der Großaufnahme, stiftet einen suspenseEffekt, der sich auf komische Weise entlädt, verwandelt sich doch der Mond allmählich in das Bullauge einer Waschmaschine, durch das wir verschwommen rotweiße Wäsche sehen, die im Schleudergang hin und her schaukelt. Die nächste Einstellung zeigt die Hausangestellte Juana mit gebanntem Blick, der suggeriert, sie sehe, wie so oft, fern. Almodóvar inszeniert ein assoziatives Schauspiel, in dem er die Spielregeln einer traum- und medienanalogen Wahrnehmung zusammenschließt. Die Kreisform funktioniert als Indikator eines Sehens und Träumens, in dem unterschiedliche Bilder, Zeiten und Räume  wie die Wäschestücke in der Waschtrommel  übereinandergelagert und vermischt werden. Die in UN CHIEN ANDALOU erzielte Schockwirkung des Metaphernspiels verkehrt sich in KIKA in eine ironische Demaskierung der Schaulust, die sich als Assoziationsspiel unseres Geistes, aber auch als Inzenierung eines omnipräsenten Medienblicks entpuppt. Was wir sehen und was wir träumen, so ließe sich behaupten, (ent-)steht vor dem Objektiv eines Kamerablicks, der diese Bilder rezipiert, aber auch vorbildet und fabriziert. Das Kino (wie auch das Fernsehen) reflektiert Traumbilder und Illusionen, schaurige Geschichten und künstliche Geschöpfe, die es zugleich erzeugt, beobachtet und als inszenierte Realität wiederholt. Dies führt zu einer progressiven Verunsicherung und Zerstreuung unseres Blicks, der in die Konfusion realer, geträumter und inszenierter Bilder hineingezogen wird. Dabei geht es Almodóvar im postmodernen Zeitalter des Hyperrealismus und der genetischen Reduplikation nicht mehr um die (unmöglich gewordene) Differenzierung zwischen Wirklichkeit und Fiktion, sondern im Gegenteil um die Anzeichen ihrer fortschreitenden

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Austauschbarkeit, Verdoppelung und Vermischung.40 Im Rückgriff auf die surrealen Techniken der Spiegelung, Verrätselung und Verkehrung spielt Almodóvar mit den Sehgewohnheiten des Zuschauers und den Sichtbarkeiten einer wahrnehmbaren Welt, die sich nicht auf die vermeintlichen Ordnungen einer rationalen Logik reduziert, sondern im Entwurf ihrer geheimen Begierden und irrationalen Züge entgleitet. Nicht zufällig setzt Almodóvar in ENTRE TINIEBLAS das Bild des Tigers als Blickfang und surrealistisches Element in Szene.41 Dieser Tiger (el niño), der im verwilderten Klostergarten, aber auch in den Tagund Nachtträumen der Nonnen umherstreift, visualisiert ein Begehren, das auf das Irrationale, das Ungezähmte, das Verbotene zielt. Im Verweisspiel auf das groteske Bild der im Bett liegenden Kuh in L’ÂGE D’OR und Dalís berühmtes Traumbild Rêve causé par le vol d’une abeille autour d’une seconde avant l’éveil (1944) markiert Almodóvar die Strategien eines surrealistischen und intermedialen Sehens, mit denen traditionelle Wirklichkeitsmodelle und Sinnzuschreibungen lustvoll gesprengt werden. So wie das Traumbild Dalís die Gesetze der Schwerkraft und der Logik außer Kraft setzt und ein alptraumartiges Szenario entwirft  zwei fauchende Tiger im gefährlichen Sprung auf die schlafende Geliebte (Gala)  setzt auch ENTRE TINIEBLAS eine surreale Bilder- und Traumsprache in Szene, mit der geheime Leidenschaften, Laster und Obsessionen ans Licht treten.

40 Vgl. zur Definition postmoderner Paradigmen z.B. Baudrillard, Jean: „Videowelt und fraktales Subjekt“, in: Barck 1993, S. 252-264 oder ders.: Agonie des Realen, Berlin 1978. 41 Vgl. hierzu den Kommentar Almodóvars in Strauss 1995, S. 48: „El tigre de ‚Entre tinieblas‘ no es sólo un objeto plástico. Para mí representa lo irracional en la película. Además de que su imagen asociada a la de la monja produce un efecto visual que me gusta mucho, el tigre es un elemento esencialmente surrealista.“ Besonders aufschlussreich ist die Analyse von Maurer Queipo, Isabel: Intermediale, interkulturelle und genderspezifische Untersuchungen zum Werk von Pedro Almodóvar (Manuskript der Dissertation Siegen 2003), die den surrealistischen Diskurs als Modell des Films analysiert; vgl. hier besonders das Kapitel „Der almodóvarianische Tiger im Klostergarten als grotesk-surreales Pendant zur buñuelesken Kuh auf dem Bett“, S. 120-130.

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Abbildung 1: Salvador Dalí: Rêve causé par le vol d’une abeille autour d’une seconde avant l’éveil (1944) (Ausschnitt)

Der Tiger, der in den ungewöhnlichen Kontext des Klostergartens gesetzt ist, stiftet eine Atmosphäre der Rätselhaftigkeit und des Unheimlichen, aber auch der Komik, Spielfreude und karnevalesken Heiterkeit. Als die Sängerin Yolanda ihn vom Fenster aus das erste Mal entdeckt, stößt sie entsetzt einen lauten Schrei aus. Doch dem Bild des Tigers kommt nicht so sehr die Bedeutung eines Schock- und Spannungseffekts zu. Wie der kleine, mit Kokain gefüllte Koalabär auf dem Tisch der Oberin weist er auf eine lustvolle Dekontextualisierung der Dinge und die groteske Verschiebung definierter Bezüglichkeiten. Als surrealistisches Objekt wird er zum Prüfstand eines irrationalen Diskurses, eines Schauspiels der Welt, in dem Traum und Realität miteinander verschmelzen und vexieren. Taucht der Tiger einerseits in den halluzinierenden Traumbildern Yolandas als erinnertes Erlebnis und Alltagsobjekt auf, fällt ihm gleichzeitig und vor allem der Status eines Traumobjekts zu  wird er zum Pendant Dalís Tigre halluzinogène42 , mit dem die alltäglichen Zusam42 Leicht lässt sich an dieser Stelle der Bezug zu Dalís Tigre halluzinogène (1963) herstellen. Die Verschachtelung der verschiedenen Bildfragmente in den Halluzinationen Yolandas (der Tigerkopf im Großformat, Heiligenbilder und gefesselte Madonnenstatuen) korresponieren mit der Mehrdeutigkeit in Dalís Komposition, die darauf beruht, daß 50 abstrakte Bildquadrate

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menhänge irrealisiert und die phantasmagorischen Wahrnehmungsräume eines begehrlichen Blicks gesteigert werden, die das Klosterleben der Nonnen bestimmen. Abbildung 2: Screenshot aus ENTRE TINIEBLAS

Abbildung 3: Salvador Dalí: Le petit tigre hallucinogène ou 50 peintures abstraites qui vues de 3 mètres, se transforment en trois félins déguisés en chinois, et vues de neuf mètres apparaît la tête (1963) (Ausschnitt)

auf eine solche Weise mosaikartig aneinandergelegt sind, dass der Betrachter entweder aus der Nähe das Bild Lenins als verkleideter Chinese erkennt oder aus der Ferne den Kopf eines Königstigers.

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Immer wieder dekuvriert sich die filmische Handlung als buntes synästhetisches Assoziationsgefüge, komponiert aus subjektiven Einbildun gen, Wunschprojektionen und Visionen. Die schwarz-weiße Schatten welt der Nonnen ist aufs engste verwoben mit halluzinierenden Traumbildern in grell bunter Popästhetik, den rotleuchtenden oder goldglitzernden Kleidern der Sängerin Yolanda und dem Brüllen des Tigers, das die Nonnen spielerisch aufgreifen und scheinheilig imitieren. „Das Surreale, das Unbewusste“ wird in ENTRE TINIEBLAS, wie Isabel Maurer Queipo ausführt, „in den Bereich des Normalen überführt, gilt als Bestandteil eines jeden Individuums, als ‚innerer Garten‘“43. Aus diesem ‚inneren Garten‘ der unbewussten Begierden, Lüste und Assoziationen speisen sich die Bilder des Films und kreieren doppeldeutige visionäre Räume, Figuren und Handlungsmomente. Das Filmplakat von ENTRE TINIEBLAS, das einen Tiger im Nonnengewand respektive eine Nonne mit Tigermaske und Tigerkrallen zeigt, veranschaulicht jene Überlagerung von inneren und äußeren Bildern, die Demaskierung des Begehrens und die Verschachtelung der Welten, mit der sich die heterotopische Wahrnehmungsstruktur des Films entschlüsselt. Das Kloster erscheint in diesem Sinn als realer und zugleich irrealer Ort, als besonderer Schauplatz, an dem sich Innen- und Außenwelt, Sein und Schein ineinander verkehren. Almodóvar entwickelt das Verfahren der ästhetischen Überschreitung und Verkehrung in engem Anschluss an Buñuels subversives Spiel mit den traditionellen Ikonen des spanischen Katholizismus und greift damit nicht nur die ästhetische, sondern auch die anarchistische Seite des surrealistischen Filmdiskurses auf. Reiht sich ENTRE TINIEBLAS einerseits in den Kontext der sogenannten Nonnen- und Klosterfilme ein (vgl. z.B. Jacques Rivettes LA RÉLIGIEUSE, 1965, oder Alain Robbe-Grillets GLISSEMENTS PROGRESSIFS DU PLAISIR, 1974), liest er sich vor allem als postmoderne Fortsetzung und Variante von Buñuel-Filmen wie L’ÂGE D’OR, NAZARÍN (1959), SIMÓN DEL DESIERTO (1965) oder VIRIDIANA (1961), in denen christliche Diskurse profanisiert und parodistisch zur Schau gestellt werden. So entwirft der Film ein Schauspiel von Religiosität, das die etablierten Werte und Ordnungen auf humorvoll groteske Weise persifliert. Die Nonnen, die Almodóvar in Szene setzt, zeichnen sich durch menschliche Schwächen und Laster aus, sie pflegen heteround homosexuelle Lieben, sind eifersüchtig, putzsüchtig und verführbar und besonders die Madre Superiora verkörpert eine Faszination für das 43 Maurer Queipo, Isabel, Die Ästhetik des Zwitters – intermediale, -kulturelle und genderspezifische Untersuchungen im filmischen Werk Pedro Almodóvars; (Diss. Universität Siegen 2003), [2004], S. 120.

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Böse und Sündhafte, das sie in die Nähe von Sartres Saint Genet. Comédien et martyr (1952) rückt. Diese Faszination, so unterstreicht Almodóvar, ist durchaus religiös und geht mit einer bestimmten Auffassung von Barmherzigkeit und Religiosität einher.44 Das Religionsverständnis Almodóvars zeigt sich ähnlich ambivalent wie das Buñuels, der trotz der blasphemischen Provokationen in seinen Filmen und Texten einem Gefühl für Religiosität verbunden bleibt.45 Die Widersprüchlichkeiten und Dissonanzen, die die scheinheiligen Faszinationsmuster christlicher Ordnung bieten, setzt Almodóvar in seinem Film mit blasphemischer Heiterkeit um. So sind beispielsweise im Zimmer der Oberin die weltlichen Sünderinnen (Marilyn Monroe, Ava Gardner, Brigitte Bardot u.a.) als moderne Heiligenbilder ausgestellt, die drogenabhängige Sängerin Yolanda wird als göttliche Erscheinung stilisiert und das Abendessen im Refektorium ist wie in Buñuels VIRIDIANA (im Verweis auf Leonardo da Vinci) als groteskes Abendmahl inszeniert. Der Film setzt eine fortschreitende „Hybridisierung säkularer und sakraler Elemente“46 in Szene. Die Provokation basiert hierbei nicht so sehr auf dem Konflikt und der Divergenz christlicher und weltlicher Ordnung, sondern auf „der schockierenden Kongruenz des Lebens diesseits und jenseits der Klostermauer“47. Im ironischen Rekurs auf den Topos des theatrum mundi entwickelt Alomdóvar mit der Kameraführung in leichter Aufsicht eine göttliche Perspektive, die die Darstellung des klösterlichen Lebens verfremdet und surrealisiert. Die Nonnen in ihren schwarz-weißen Gewändern mutieren, wie Almodóvar beschreibt, zu kleinen flinken Insekten: las escenas picadas clavan a las religiosas en el suelo, como si fueran bichos furtivos y trepadores. Ellas se convierten en insectos, y el hábito negro es perfecto para sugerir esta idea; están más cerca del mundo subterráneo que del universo celestial.48

Das göttliche Spiel, fokussiert durch das Auge der Kamera, suggeriert eine Austauschbarkeit und Verkehrung der Welten innerhalb und außer44 Vgl. Strauss 1995, S. 42ff. 45 Vgl. z.B. Luis Buñuel zit. nach Schwarze, Michael: Luis Buñuel, Hamburg 1981, S. 76: „Ich kann mein Gefühl für das Religiöse nicht einfach beiseite schieben. Ich befinde mich in einem Konflikt zwischen der Anziehung, die religiöse Probleme auf mich ausüben, und meinem Gewissen, meiner Vernunft, die mir das Gegenteil sagen.“ 46 Maurer Queipo 2003, S. 136. 47 Haas, Christoph: Almodóvar. Kino der Leidenschaften, Hamburg 2001, S. 48. 48 Strauss 1995, S. 43.

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halb des Klosters ebenso wie vor und hinter dem Kameraobjektiv. ENTRE macht in diesem Sinne als Theaterfilm (ebenso wie MUJERES AL BORDE DE UN ATAQUE DE NERVIOS, TODO SOBRE MI MADRE oder TACONES LEJANOS) die Prozesse der Theatralisierung und Medialisierung unserer gegenwärtigen Gesellschaft durchschaubar und zwar entlarvend, surrealistisch und absurd. Die Religion, die Almodóvar in Szene setzt, ist sinnlich und theatralisch erfahrbar. So wie die Jungfrau Maria oder Christus durch ein anderes Liebesobjekt (hier die Sünderin Yolanda) substituierbar werden, erscheint die Liebe wie das Leben überhaupt als theatrum mundi, als ein Spiel wechselnder Rollen, Masken und Szenen. „La vida es una comedia“, singt Yolanda und bietet damit am Ende des Films die Formel für einen Zugriff auf die Welt als Schauspiel und Traumfabrik, in der sich Sein und Schein, Wahrheit und Lüge, Authentizität und Simulation soweit ineinander auflösen, bis  wie La Agrado in TODO SOBRE MI MADRE dem Publikum verrät  das Authentische nur noch durch das Imaginäre vorstellbar ist: „Una es más auténtica cuanto más se parece a lo que ha soñado de sí misma.“ TINIEBLAS

NANETTE RISSLER-PIPKA

DENKEN VON DIFFERENZ UND ÄHNLICHKEIT: DAS SIGLO DE ORO ALS ZWEIFELHAFTES VORBILD FÜR BUÑUELS SPÄTWERK Foucault legt in Les mots et les choses den Bruch zwischen einem Denken auf Basis von Ähnlichkeiten und demjenigen auf der Basis von Differenz in der Mitte des 17. Jahrhunderts im spanischen Siglo de oro fest. Paradebeispiel für diese fundamentale Veränderung in der Epistemologie ist Cervantes’ Don Quijote, der als „Heros des Gleichen“1 noch in der alten Welt der Ähnlichkeiten lebt und damit schmerzhaft seinen Illusionen zum Opfer fällt. Es wird wie im spanischen Ehrendrama ein Unterschied zwischen engaño und desengaño festgelegt, der zuvor keine Rolle spielte. Die Vorstellung vom theatrum mundi wird besonders eindringlich in Calderóns La vida es sueño und El gran teatro del mundo reflektiert, aber auch beschädigt. Denn die Zuschauer erkennen im Gegensatz zu Segismundo in La vida es sueño den Unterschied zwischen Leben und Traum, der auf diese Weise unterstrichen wird und zum desengaño führt. Es spielt zwar im christlichen Denken Calderóns noch keine Rolle, ob wir uns im Traum oder Leben befinden, da die Handlungsmaxime „obrar bien“ für beide Wirklichkeitsebenen gleich ist – also auf einer Ähnlichkeit fußt –, aber durch die von ihm gewählte Form des Theaters im Theater wird die Reflexion des Unterschieds zwischen Theater und Realität unumgänglich. Die Ähnlichkeiten werden nur noch benutzt, um ein pädagogisches Ziel zu erreichen. Teuber beschreibt dies in Bezug auf Calderóns La vida es sueño entsprechend: „Der Appell an die Ähnlichkeiten entlarvt sich auch im folgenden immer wieder als eine hohle rhetorische Übung“2. 1 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge, Frankfurt a.M. 1974, S. 78. 2 Teuber, Bernhard: „Pedro Calderón de la Barca. La vida es sueño – comedia“, in: Volker Roloff/Harald Wentzlaff-Eggebert (Hrsg.): Das spanische Theater. Vom Mittelalter bis zur Gegenwart, Düsseldorf 1988, S. 146-162, hier S. 156.

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Buñuel schlüpft weniger in die Rolle des Autors Cervantes, als vielmehr in diejenige Don Quijotes, indem er versucht, dieses Denken in Differenz, das bis heute unsere Epistemologie beherrscht, wieder in die Episteme der Ähnlichkeit zurückzuführen.3 Bei Buñuel dient das Metatheater, die Thematisierung der Theatralität des Lebens eben nicht dem pädagogischen Zweck, einen Unterschied zwischen Traum und Realität zu schaffen, sondern dazu, diesen aufzulösen. So ist das Siglo de oro für Buñuel nicht uneingeschränktes Vorbild, aber dennoch ein starker Bezugspunkt. Denn es geht ihm auch um den von Foucault im Siglo de oro verorteten Bruch in der Epistemologie, aber eher um einen Rückbezug auf die Ähnlichkeiten, als um eine Aufklärung oder Erziehung der Zuschauer. Damit steht Buñuel auch mit seinen drei letzten Filmen LE CHARME DISCRET DE LA BOUGEOISIE (1972), LE FANTÔME DE LA LIBERTÉ (1974) und CET OBSCUR OBJET DU DÉSIR (1977),4 um die es hier gehen wird, in der Tradition des Surrealismus. Denn Roger Vitrac betonte beispielsweise schon 1923: Pourquoi tirer un drame du RÊVE authentique que je viens de vous raconter? Pour montrer que la vie et le théâtre sont deux? N’allez 5 pas au spectacle. Couchez-vous.

Die Aussage „La vida es sueño“ wird hier ganz anders verstanden als in Calderóns Stück. Die Ähnlichkeit zwischen Leben und Traum bedeutet im Surrealismus nicht, dass beide Wirklichkeitsebenen dem gleichen göttlichen Gesetz unterworfen sind, sondern beschreibt die Schwierigkeit, zwischen beiden zu unterscheiden. Die Täuschung, die Traumwelt für real gehalten zu haben, wird bei Buñuel und den Surrealisten generell nicht im desengaño aufgelöst. Im Gegenteil wird der Traum als wirkli3 Dieser Rückbezug auf die Ähnlichkeiten wird auch als generelles Merkmal der Surrealisten und z.B. auch der Symbolisten wie Baudelaire und Mallarmé angesehen, vgl. Funk, Gerald/Mattenklott, Gert/Plauen, Michael (Hrsg.): Ästhetik des Ähnlichen. Zur Poetik und Kunstphilosophie der Moderne, Frankfurt a.M. 2000. (Vgl. in diesem Sammelband vor allem die Artikel von Markus Bauer, Gerald Funk und Michael Plauen.) 4 Es kann hier leider nicht näher darauf eingegangen werden, dass es sich im Fall von CET OBSCUR OBJET DU DÉSIR um eine Literaturverfilmung des Carmen-Stoffes von Pierre Loüys La femme et le pantin (1898) handelt, vgl. dazu Albersmeier, Franz-Josef: „Der Film als Gegendarstellung. Pierre Loüys’ La femme et le pantin aus Sicht von Luis Buñuels Cet obscur objet du désir“, in: Ursula Link-Heer/Volker Roloff (Hrsg.): Luis Buñuel. Film – Literatur – Intermedialität, Darmstadt 1994, S. 247-260. 5 Zit. nach Béhar, Henri: Le théatre dada et surréaliste, Paris 1979, S. 307.

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cher als die Realität angesehen. Statt das Leben als einen Traum zu maskieren, um den Prinzen zu erziehen wie bei Calderón, brechen bei Buñuel surrealistische Traumphantasien immer wieder unbemerkt in die Normalität des Lebens ein. In einem entscheidenden Punkt greift der Surrealismus aber dennoch auf das Theater des Siglo de oro zurück. Es handelt sich um das Konzept des theatrum mundi, insofern als Theater und Leben eben nicht zwei sind, wie Vitrac betont, sondern zusammengehören. Zumindest die höfische Gesellschaft im Spanien des 17. Jahrhunderts lebt im Theater Calderóns und im Ehrendrama des Siglo de oro generell nach klaren theatralen Rollenmustern. Das Leben hat sich diesen Rollenvorgaben zu unterwerfen. Es wird ein Theater des Lebens gespielt und der Schein ist gleich der Wahrheit, ist ihr ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen. Doch in Calderóns El médico de su honra zeichnet sich bereits die von Foucault beschriebene Veränderung ab. Es wird ein Unterschied zwischen dem scheinbaren Fehltritt der Doña Mencía und ihrer für die Zuschauer sichtbaren Unschuld eingeführt. Nach den Regeln der Ehre wird sie gerichtet, weil der Schein gleich der Wahrheit ist. Dies wird zwar von ihr selbst und wahrscheinlich auch von den zeitgenössischen Zuschauern als gerecht empfunden, aber allein die Markierung eines Unterschieds zwischen Schein und Wahrheit setzt Calderón von den Epistemen der Ähnlichkeit ab. Das surrealistische Konzept des theatrum mundi – das nicht nur der Surrealismus für sich in Anspruch nehmen kann – kennzeichnet sich allerdings durch eine gegenläufige Bewegung, indem versucht wird, die Ähnlichkeit zwischen Theater und Leben erneut zu betonen. Gerade der Film bietet die Möglichkeit, die wahrnehmungstheoretische Frage nach dem Unterschied zwischen Theater und Leben, zwischen Traum und Realität neu zu stellen und zu reflektieren. Das bedeutet nicht, dass Buñuel ein Gegenkonzept zum Siglo de oro in seinen Filmen aufstellen würde. Diese Epoche fasziniert ihn, weil in der Umbruchsphase vom Denken in Ähnlichkeiten zum Denken in Differenz beides miteinander konkurriert und nebeneinander sichtbar ist.

Buñuels „Archäologie des Wissens“ Buñuel trägt seine mexikanische und spanische Heimat wie eine Geschichte der Umbrüche und Revolutionen in seine späten französischen Filme hinein. Denn neben der geistesgeschichtlichen Veränderung, die das Siglo de oro mit sich brachte, verweist Buñuel auf den spanisch-fran-

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zösischen Krieg von 1808, den er mit Goyas El tres de Mayo 1808 (1814) und einem tableau vivant dazu in LE FANTÔME DE LA LIBERTÉ (1974) anspricht. Außerdem sollte man nicht die zahlreichen Bezüge zu lateinamerikanischen Guerilla-Terroristen vergessen, die in allen seinen drei letzten Filmen zu finden sind. In kühner Weise zeichnet Buñuel damit eine Umbruchsbewegung, die von spanischen und lateinamerikanischen Traditionen ausgeht und in Frankreich weitergeschrieben wird. Zwei Jahre nach Calderóns La vida es sueño (1635) und mehr als fünfzehn Jahre nach Cervantes’ Don Quijote (1605/1615) veröffentlicht René Descartes seinen Discours de la méthode (1637), der, wie Foucault betont, eine Ordnung durch Differenz statt Ähnlichkeit endgültig festschreibt.6 Durch die Aufklärung und französische Revolution dreht sich das Blatt danach im 18. Jahrhundert und Spanien gerät ins Hintertreffen, in die Position des zurückgebliebenen Nachbarn.7 Diese Zeit überspringt daher Buñuel auch gekonnt und wendet sich mit dem Motiv der Hinrichtung der spanischen Rebellen durch die Soldaten Napoleons 1808 wieder einem düsteren Kapitel der französischen Geschichte zu. Obwohl auch in Frankreich mit Napoleon die Zeit der Restauration angebrochen ist, kommen die Soldaten, um Spanien das Wohl der Revolution zu bringen und sie zu befreien, notfalls eben auch mit Gewalt. Statt nach der Freiheit rufen die Rebellen in LE FANTÔME DE LA LIBERTÉ aber nach den Ketten: „¡Vivan las cadenas!“ oder nach der Hölle: „¡Viva la caína!“. Wie Monika Bosse in einer detaillierten Analyse dieses Ausspruchs nachweist, verknüpft Buñuel damit „die künstlerischen und poetischen Problematisierungen der gesellschaftlichen Freiheitsdiskurse in der spanischen Geschichte“ sowie „die politischen und kulturellen Mythensysteme der Moderne, insbesondere die durch den Franquismus […] in Umlauf gebrachten nationalistischen Heroismus-, Freiheits-, und Glücksdiskurse“ mit den „Freiheits-, und

6 Vgl. Foucault 1974, S. 83. Während Calderón und Cervantes aber auch die Episteme der Ähnlichkeit und ihre Wirkungsweise vorführen, verteufelt Descartes diese zugunsten der Vernunft. Gerade aus diesem Grund interessiert sich Buñuel für das Siglo de oro statt für Descartes. Zum Spannungsverhältnis zwischen Calderón und Descartes vgl. auch Teuber 1988, S. 159. 7 Die Ansicht, Spanien habe die Aufklärung verpasst und müsse sich daher am französischen Vorbild ausrichten, bestimmte nicht nur das 19. Jahrhundert und führte in Frankreich zu einem Spanien-Exotismus (vgl. z.B. Merimées Carmen), sondern setzt sich auch in der kulturwissenschaftlichen Debatte bis heute fort. Vgl. z.B. Klein, Wolfgang/Sändig, Brigitte (Hrsg.): Die Rezeption der Aufklärung in der Romania im 19. und 20. Jahrhundert, Rheinfelden 1994.

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Glücksdiskursen der französischen Moderne“8. Daran zeigt sich bereits, dass sich Buñuel keineswegs auf die Seite Spaniens stellt, sondern Zusammenhänge – Ähnlichkeiten, wenn man es so nennen möchte – herausstellt, die eine gemeinsame Form von Wahrnehmen, Denken und medialer Verarbeitung in der spanischen und französischen Kulturgeschichte zeigen. Daher ironisiert Buñuel auch nicht Foucault, wie Bosse vorschlägt, sondern er führt nur mit den eigenen filmischen Mitteln seine „Archäologie des Wissens“ vor.9 Abbildung 1: Screenshot aus LE FANTÔME DE LA LIBERTÉ

8 Bosse, Monika: „Zeichen-Setzung in Buñuels Spätwerk“, in: Christoph Strosetzki/André Stoll (Hrsg.): Spanische Bilderwelten, Frankfurt a.M. 1993, S. 118-137, hier S. 134. 9 Vgl. ebd., S. 121: „Hier soll im Gegenteil ein Film [LE FANTÔME DE LA LIBERTÉ] erläutert werden, der in ironisierender, zum Vorgehen Foucaults gegenläufiger Mimikry ebenfalls im Zeichen eines populären und weithin anerkannten Kunstwerks sowie einer absichtlich vage gehaltenen literarischen Referenz beginnt.“ Man kann auch nicht von „Foucaults Moderne“ (ebd.) sprechen, da Foucault die Entwicklungen der Epistemologie nur beschreibt, sich aber nicht eine Epoche aneignet oder sich mit ihr identifizieren ließe.

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Abbildung 2: Francisco de Goya: El tres de Mayo 1808 (1814)

Die Geschichte der Umbruchssituationen und Revolutionen lässt Buñuel auch mit Goyas El tres de Mayo 1808 (vgl. Abb. 2) erneut zwischen Spanien und Frankreich hin und her pendeln. Denn Goya war zahlreichen französischen Malern und Autoren bis hin zu den Surrealisten ein Vorbild. Edouard Manet greift beispielsweise das Exekutionsmotiv Goyas wieder auf, um es mit weiteren Umbruchssituationen in Verbindung zu bringen. Sein von der französischen Zensur verbotenes Bild L’Exécution de Maximilian (1868/69, vgl. Abb. 3)10 übernimmt die Komposition des Goya-Bildes und zeigt die Erschießung des von Frankreich eingesetzten mexikanischen Kaisers Maximilian und seiner Getreuen. Es ist meines Wissens nicht bekannt, ob Buñuel dieses Gemälde Manets kannte, aber es liegt nahe, dass er in LE FANTÔME DE LA LIBERTÉ neben Goya auch Manet zitiert. Immerhin fügt sich das Thema, die Befreiung Mexikos von der französischen Besetzung, nahtlos in Buñuels Reflexion der Freiheitsphantome ein. Denn auch in diesem Fall ist die wiedergewonnene Freiheit durch den Tod des ‚Unterdrückers‘ nur ein Phantom, da Napoleon III. bereits seine Truppen abgezogen hatte und damit den von ihm eingesetzten Kaiser zum Bauernopfer machte. Außerdem waren auch die Franzosen 1861 als angebliche Befreier Mexikos dort eingerückt. Das

10 Manet zeichnete unmittelbar nach der Erschießung des Kaisers am 19. Juni 1867 Skizzen und mehrere Vorstudien in Öl für das großformatige Ölgemälde von 1868/69. Vgl. Fath, Manfred/Germer, Stefan (Hrsg.): Edouard Manet. Augenblicke der Geschichte, München 1992; vgl. auch Conzen, Ina (Hrsg.): Edouard Manet und die Impressionisten, Ostfildern-Ruit 2002, S. 51ff.

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brisante Thema der Exécution de Maximilian, das Manet wählte, passt zu den unterschiedlichen Freiheitsdiskursen, auf die Buñuel Bezug nimmt,11 die aber zu ganz unterschiedlichen und höchst zweifelhaften Zwecken auf spanischer, französischer und lateinamerikanischer Seite genutzt werden.12 Abbildung 3: Edouard Manet: L’Exécution de Maximilian (1868/69)

Endgültig vermischt werden die Seiten durch Buñuels Motiv des Terrorismus der 1970er Jahre. Wie eine störende Nebenhandlung sprengen sich wahlweise lateinamerikanische Guerilla-Kämpfer in LE CHARME 11 Buñuel behauptet zwar, LE FANTÔME DE LA LIBERTÉ habe wie alle seine Filme keine Verbindung zwischen Titel und Inhalt, doch bezieht sich das eher auf die Verwirrung der Zuschauer und Kritiker. Der Film erzählt keine stringente Geschichte und kann dennoch oder gerade deshalb von sich entziehenden Freiheitsphantomen sprechen. Vgl. Buñuel-Interview mit Roxane Saint-Jean von 1974 in Jansen, Peter W./Schütte, Wolfram (Hrsg.): Luis Buñuel, München 1980, S. 53. 12 Manet selbst wendet das Motiv auch auf eine französische Umbruchssituation an, indem er wiederum in der Goya-Komposition die Hinrichtung von Kämpfern der Pariser commune 1871 durch französische Soldaten in La Barricade (1871) darstellt. Hier ist wieder ein Paradox der Freiheit gezeigt, indem Franzosen auf Franzosen schießen, weil sich die einen schon den Preußen geschlagen gegeben haben und die anderen ihre Freiheit bis zuletzt verteidigen wollen – wenn es sein muss eben auch gegen die eigenen Bürger. Im gleichen Kontext verweist Manet mit La guerre civile (1871) wieder auf die spanischen Vorbilder, da er den Toten in eben jener Position zeigt, wie er auch schon den toten Torero (1863/64) malte.

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DISCRET DE LA BOURGEOISIE,

fundamentalistische Katholiken in CET oder „¡Viva la caína!“-rufende Demonstranten in LE FANTÔME DE LA LIBERTÉ in Buñuels Filme. Im letzteren Fall sieht man keine Rebellen, Demonstranten oder Terroristen, sondern hört lediglich den schon zu Beginn des Films vernommenen Schlachtruf der spanischen Monarchisten von 1808. Diesmal befinden wir uns allerdings in der Gegenwart um 1970, in einem Pariser Zoo, in dem das Doppel der Polizeipräfekten offenbar auf Widerstand stößt – den man nur hört, aber nicht sieht – und daraufhin den Befehl zum Angriff erteilt. Es fallen die gleichen Schüsse, es läuten die gleichen Glocken wie in der einleitenden Exekutionsszene im spanischen Toledo von 1808. Sicher ist der Zoo ebenfalls ein Ort des Freiheitsphantoms und es könnte sich auch um einen Aufstand der gezeigten Tiere handeln, aber die Konfrontation von französischer Polizei und einer lautstarken Menge erinnert doch eher an eine Demonstration. Diese Schlussszene gehört auch zu den surrealistischen Elementen im Film, da die ohnehin episodenhafte Handlung hier von vorn beginnen könnte und so eine narrative Struktur durchkreuzt, wie Sebastian Neumeister herausstellt.13 Von allen drei letzten Filmen Buñuels ist in LE FANTÔME DE LA LIBERTÉ der Terror oder die Rebellion am wenigsten verständlich oder durchschaubar, aber das Motiv ist neben der Anfangs- und Schlusssequenz auch in dem Heckenschützen repräsentiert, der (einem amerikanischen sniper ähnlich) von einer Hochhausbaustelle aus wahllos auf Passanten und Vögel schießt. Damit zitiert Buñuel Bretons berühmten Ausspruch, der einfachste surrealistische Akt sei der Schuss in die Menge.14 Doch handelt es sich in diesem Fall ebenso wenig wie damals bei Breton um eine gewaltverherrlichende Geste. Im Gegenteil wirkt die unmotivierte Gewalt hier nicht mehr als eine ästhetisierte surrealistische Schockmontage wie das aufgeschnittene Auge in LE CHIEN ANDALOU oder wie der gewalttätige Modot in L’ÂGE 15 D’OR. Der Heckenschütze hat seine Funktion als Schock oder Übergang in eine surrealistische Traumphantasie, in der alles möglich scheint, verOBSCUR OBJET DU DÉSIR

13 Vgl. Neumeister, Sebastian: „Le fantôme de la liberté – oder Buñuels vergeblicher Kampf gegen die Bedeutung“, in: Ursula Link-Heer/Volker Roloff (Hrsg.): Luis Buñuel. Film – Literatur – Intermedialität, Darmstadt 1994, S. 216-229. 14 „L’acte surréaliste le plus simple consiste, revolvers aux poings, à descendre dans la rue et à tirer au hasard, tant qu’on peut, dans la foule.“ (Breton, André: „Second Manifeste du surréalisme“, in: ders.: Manifestes du surréalisme, Paris 2003, S. 74.) 15 Bosse bezweifelt, dass Buñuel in seinem Spätwerk überhaupt noch auf die surrealistische Schockmontage seiner Anfangstage zurückgreife, wie viele andere Kritiker meinen; vgl. Bosse 1993, S. 122f.

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loren, weil er zu sehr in der Realität verankert ist. Die Realität hat die Phantasie längst eingeholt, spätestens seit dem Kennedy-Attentat von 1963 werden Amokläufer fast alltäglich und haben damit zumindest diesen Bereich des Surrealismus zunichte gemacht, wie Buñuel selbst betonte.16 So haben auch in den anderen beiden hier betrachteten Filmen die Terrorakte keinen oder nur sehr entfernten Bezug zur Handlung. Man wird beispielsweise immer weiter rätseln, ob Conchita und ihre verdächtigen Freunde in CET OBSCUR OBJET DU DÉSIR zu der fundamentalistischen Terrorgruppe gehören, die für die zahlreichen Explosionen verantwortlich ist und immer dann auftaucht, wenn Mathieu glaubt, sein Begehren endlich erfüllen zu können. Am einfachsten fügt sich noch die lateinamerikanische Guerilla-Truppe in das Geschehen von LE CHARME DISCRET DE LA BOURGEOISIE ein. In diesem Film kann man nachvollziehen, dass die Freiheitskämpfer einer fiktiven ‚Bananenrepublik‘ dem heroin-dealenden Botschafter ihres Landes nach dem Leben trachten. Letzterer ist zunächst als grapschender Bourgeois weitaus unsympathischer dargestellt ist als die junge, hübsche Rebellin, die ihn verfolgt. Doch am Ende des Films wendet sich das Blatt, als die Gruppe der Bourgeois kaltblütig beim Abendessen hingemetzelt wird. Ob die Täter gewöhnliche Einbrecher, Konkurrenten aus dem Drogengeschäft waren oder zu der Guerilla-Truppe gehörten, bleibt allerdings offen.17 Auch in diesem Fall bestimmen die Ähnlichkeiten die Logik des Films und nicht die Differenz. Während die Zuschauer und Kritiker gar nicht anders können, als Bedeutung über Unterschiede zu suchen, verweigert sich Buñuel dieser Ordnung der Vernunft und stellt Ähnlichkeiten heraus, die den gewohnten Unterschied von z.B. Bourgeois vs. Terrorist zerstören. Der Traum und das Leben fließen übergangslos ineinander und die Filmzuschauer wissen im Gegensatz zu den Theaterzuschauern von Calderóns La vida es sueño nicht, wann das Leben als Traum maskiert wird und wann es sich tatsächlich nur um einen gefilmten Traum

16 Vgl. Buñuel-Interview mit Roxane Saint-Jean von 1974 in Jansen/Schütte 1980, S. 54: „Der Surrealismus ist ins Leben übergegangen. Heute ist Gewalttätigkeit überall. Es gibt Kriege, Revolutionen, Terrorismus. Die Gewalttätigkeit ist zu nichts mehr gut. Nichts skandalisiert mehr. Die Kunst brauchte Waffen. Heute sind Waffen zu nichts mehr gut. Ich bin ein theoretischer Terrorist gewesen. Heute verabscheue ich den Terrorismus, selbst den theoretischen.“ 17 Ein weiterer Hinweis auf Lateinamerika ist allerdings, dass die Schützen genau in dem Moment ins Haus stürzen, als von argentinischem Corned Beef die Rede ist.

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handelt. Wenn in LE FANTÔME DE LA LIBERTÉ ein Mann im Bett liegt und einen Strauß oder Postboten durch sein Schlafzimmer laufen sieht, oder wenn in LE CHARME DISCRET DE LA BOURGEOISIE Träume wie in einer Praxis Freuds erzählt werden, erscheinen die Träume noch leicht als solche identifizierbar. Doch am nächsten Tag hält der Mann den vom Postboten im Traum zugestellten Brief tatsächlich in Händen und die Essenseinladung des Colonel löst in LE CHARME DISCRET DE LA BOURGEOISIE eine surreale Traumphantasie aus, die mit einem öffentlichen Mahl auf einer Theaterbühne endet – dass es sich jedoch um einen Traum handelt, können die Zuschauer erst im Nachhinein mutmaßen. Die oben beschriebene Sequenz aus LE FANTÔME DE LA LIBERTÉ zitiert auch Neumeister, um Buñuels alogische „Logik des Traums“ darzustellen, die aber dennoch nicht einer surrealistischen écriture automatique entspreche, sondern in ihrer Anarchie geplant sei.18 So ist auch das Prinzip des Zufalls, nach dem sich Buñuel nach eigenen Aussagen richtet, mehr als Motiv oder Symbol zu betrachten denn als Vorgehensweise.

Der Zufall und andere Ähnlichkeiten Über LE FANTÔME DE LA LIBERTÉ behauptet Buñuel: „Die Konstruktion des Films basiert auf dem Zufall.“19 Gleiches hätte er auch über LE CHARME DISCRET DE LA BOURGEOISIE und CET OBSCUR OBJET DU DÉSIR und viele seiner anderen Filme sagen können. Der Zufall bestimmt dabei jedoch nicht die Entstehung der Filme, wie etwa die écriture automatique es vorgeben würde, sondern kennzeichnet ihre Struktur und Handlung. Warum kann man aber vom Zufall als einer Ähnlichkeit sprechen? Wenn man überlegt, was eigentlich den Zufall ausmacht, kann man anführen, dass etwas Ähnliches zusammengeführt wird, ohne dass man dafür eine logische Erklärung hat, ohne dass es eine logische Verbindung zwischen den beiden Elementen gibt. Sogar nur durch den Zufall kommt die Ähnlichkeit von zwei im Grunde verschiedenen Elementen zum Vorschein. So wie der Traum in Buñuels Filmen eine Ähnlichkeit zwischen der fantastischen Welt des Traums und der Realität herstellt bzw. im Gegenzug die Differenz zwischen diesen beiden auflöst, so hat der Zufall eine vergleichbare Funktion. Buñuels Leitmotive wie Traum, Zufall,

18 Vgl. Neumeister 1994, S. 219, 223. 19 Luis Buñuel in Jansen/Schütte 1980, S. 54.

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Fortbewegungsmittel (Auto, Zug20), die Herberge in LE FANTÔME DE LA 21 LIBERTÉ oder das Essen in LE CHARME DISCRET DE LA BOURGEOISIE geben gleichzeitig den Filmen eine Struktur und zerstören diese Ordnung wieder. Es ist ein schier unmöglich erscheinender Zufall in CET OBSCUR OBJET DU DÉSIR, dass sich im Zug von Sevilla über Madrid nach Paris in einem kleinen Sechs-Personen-Abteil alle Anwesenden bereits zuvor schon einmal getroffen haben oder sogar in Paris Nachbarn sind. Ein solcher Zufall widerspricht jeder Wahrscheinlichkeitsrechnung und scheint ebenso wie der Traum einer anderen Ordnung anzugehören. Dies stört die Personen im Zug allerdings nicht. Der Zufall ist zwar sowohl in der Literatur als auch im Kino ein beliebtes Mittel, um eine Geschichte auszulösen, um ihr einen Anfang oder Anlass zu geben, aber in diesem Fall haben die Personen, die sich zufällig treffen, etwas gemeinsam, ohne jedoch etwas mit der erzählten Geschichte zu tun zu haben. Außer dem Erzähler Mathieu bilden sie stattdessen die Zuhörerschaft für die Filmhandlung, die parallel zur Zugfahrt erzählt wird. Es wird nur der Schein einer ordnungsstiftenden Struktur durch den Zufall im Film vorgeführt, denn der Zufall entzieht hier den Sinn, statt den Film leitmotivisch zu strukturieren. Wenn der im Zugabteil als Zuhörer anwesende Professor für Psychologie – der sicherlich eine FreudKarikatur ist – behauptet, den Zufall gebe es nicht, dann öffnet er dem Widersinn die Tür, da er sich selbst in einer vom Zufall geschaffenen Situation befindet. Während der Psychologe also versucht, den Zufall in eine Ordnung der Differenz zurückzuführen, indem er erklärt, alles scheinbar Zufällige habe man durch unbewusste Wünsche provoziert ohne es zu wissen, zeigt der Film genau das Gegenteil, nämlich eine Ordnung der Ähnlichkeiten. Selbst der Versuch dieser Filmfigur des Psychologieprofessors, das engaño des Zufalls in ein belehrendes desengaño für die Zuschauer zu überführen, wird unterbunden. Ob Mathieu in CET OBSCUR OBJET DU DÉSIR zufällig seine Conchita in Sevilla wiedertrifft oder ob er, seinen unbewussten Wünschen folgend, sie dort suchte, spielt keine Rolle. Selbst wenn er sie gesucht hätte, hat doch nur der Zu20 Vgl. zum Motiv des Zuges in CET OBSCUR OBJET DU DÉSIR und seiner medientheoretischen Implikationen Winter, Scarlett: „Obskure Augen-Lust. Vom Aufschub des Begehrens in Buñuels Cet obscur objet du désir“, in: Felten, Uta/Schlünder, Susanne/dies. (Hrsg.): Schaupiele des Begehrens. Das Kino in unseren Köpfen, Siegen 2000, S. 57-71, hier S. 58-63. 21 Vgl. zum Motiv der Herberge in LE FANTÔME DE LA LIBERTÉ Neumeister 1994, S. 219f. Auch dieses Motiv lässt eine Verbindung zum Siglo de oro und konkret zu Cervantes’ Don Quijote erkennen, wie Neumeister erklärt.

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fall die beiden tatsächlich wieder zusammengeführt. Zusammen mit der katholischen Mystik, für die Conchitas Mutter und die nächtliche Prozession in Sevilla stehen, und mit den handlesenden Zigeunerinnen in Sevilla wirkt der Zufall des Zusammentreffens des getrennten Paares wie aus einer fremden, vergangenen, spezifisch spanischen Welt der Ähnlichkeiten. Doch im Gegensatz zu seinen frühen surrealistischen Filmen wie L’ÂGE D’OR oder LE CHIEN ANDALOU, die mit ihrer ‚Schockmontage‘ und Assoziationsketten insgesamt wie ein langer gefilmter Traum wirken und sich nur mit Mühe in die zeitgenössische Realität einordnen lassen, wendet sich Buñuel in seinem Spätwerk scheinbar von dieser surrealistischen Ästhetik ab und gibt seinen Filmen über weite Strecken die Illusion des ‚wirklichen‘ Lebens. Sicherlich bricht er die Illusion auch in diesen Filmen durch surrealistische Zwischenspiele wie die Mäuse- und Fliegenjagd in CET OBSCUR OBJET DU DÉSIR, die Vertauschung von Essens- und Toilettenritual in LE FANTÔME DE LA LIBERTÉ und die zahlreichen Erschießungen in LE CHARME DISCRET DE LA BOURGEOISIE. Die Verbindung von surrealistischer Traumwelt und Realität ist in den drei letzten Filmen, in denen die Zuschauer den Bourgeois, die Sprechstundenhilfe, das Kindermädchen und selbst die Terroristin von ‚nebenan‘ wiedererkennen, aber wesentlich enger als in den frühen Filmen Buñuels. Damit kehrt er dem Surrealismus jedoch nicht den Rücken zu, sondern im Gegenteil wirkt die Verstörung des Zuschauers, das Aufzeigen einer Surrealität inmitten der Realität bzw. der Realität als Surrealität erst recht, wenn sich die Zuschauer in die gezeigte Welt einfühlen und sich mit ihr identifizieren können.22 Der surrealistische Traum, den man auch das Delirium der Unvernunft nennen könnte, wenn man ihn mit Foucault auf Diderots Le neveu de Rameau zurückführt, trägt dann wie die Unvernunft „nicht mehr jene fremden Gesichter, in denen das Mittelalter sie zu erkennen liebte, sondern die unwahrnehmbare Maske des Vertrauten und Identischen.“23 So stellen der Traum, der Wahnsinn ebenso wie die sexuellen Perversionen in Buñuels Spätwerk zwar eine verstörende, fremde und zumeist spanische oder lateinamerikanische Welt dar, der er aber nicht mehr das fremde Gesicht eines zerschnittenen Auges oder einer abgeschlagenen Hand gibt und damit ein Denken von Differenz ermöglicht, 22 Dazu passt auch Buñuels Zitat des Breton-Ausspruchs, auf das auch Neumeister hinweist: „Lo más admirable de lo fantástico es que lo fantástico no existe, todo es real.“ (Zit. nach Neumeister 1994, S. 221.) 23 Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1973, S. 356.

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sondern die Ähnlichkeit zur vernunftgesteuerten Normalität des französischen Bourgeois aufzeigt. Während die Zuschauer die frühen surrealistischen Filme Buñuels noch für das Werk eines Verrückten halten können, das sie vielleicht schockiert, aber im Grunde nichts angeht, zwingt Buñuel sie in seinen letzten drei Filmen dazu, die Unvernunft als Teil der von ihnen beanspruchten Vernunft anzusehen, sie als einander ähnlich zu betrachten. Der Botschafter des fiktiven lateinamerikanischen Landes aus LE CHARME DISCRET DE LA BOURGEOISIE unterscheidet sich nicht von seinen französischen Bourgeoisie-Freunden, mit denen er vergeblich versucht, zu Abend zu essen – mit denen er allerdings auch einen lukrativen Drogenhandel betreibt. Dennoch ergreift er vor ihren Augen das Gewehr, um auf die Plüschtiere der Terroristin vor seinem Haus zu schießen und verschuldet seinen eigenen Tod, indem er bei der Überfall- oder Hinrichtungsszene sein Versteck unter dem Tisch preisgibt, um ein Stück Fleisch vom Teller zu sichern.24 Auch der Bischof im gleichen Film ähnelt einem ganz gewöhnlichen Bischof, bis auf die Tatsache, dass er als Gärtner anheuert, eine verdächtige Vorliebe für Gartengeräte hat und einen Sterbenden, dem er soeben die letzte Ölung erteilte, aus Rache erschießt. Auch die französischen Gastgeber und Dienstherren des Gärtner-Bischofs fallen aus der Reihe der Normalität und behalten dennoch die ganze Zeit über die „Maske des Vertrauten“ an, wenn sie beispielsweise ihre eingeladenen Gäste nicht begrüßen können, weil sie sich gerade im Garten lieben, dann aber entrüstet darüber sind, dass die Gäste einfach wieder abgefahren sind. Auch in der vielzitierten Szene aus LE FANTÔME DE LA LIBERTÉ, in der ein Paar der französischen Bourgeoisie sich über die obszönen Postkarten aufregt, die ein Mann der Tochter auf dem Spielplatz schenkte, erweist sich die ‚vernünftige‘ Reaktion der besorgten Eltern als Unvernunft: Es handelt sich um gewöhnliche Ansichtskarten. Buñuel bringt hier nicht nur auf recht plumpe Weise seine Kritik an der Bourgeoisie zum Ausdruck, sondern zeigt den Siegeszug des Traumes, des Deliriums, des Wahnsinns inmitten der von Rationalismus und Normalität strotzenden besseren Gesellschaft im Frankreich der 1970er Jahre. Vielleicht drückt auch der ungewöhnliche Anzug des sehr seriös und bourgeois erscheinenden Herrn aus LE FANTÔME DE LA LIBERTÉ den 24 Auch bei dieser finalen Erschießungsszene handelt es sich um eine Traumsequenz, wie sich im Nachhinein herausstellt. Nachdem der Botschafter erschreckt aufwacht, geht er erstmal zum Kühlschrank, um tatsächlich ein Stück Fleisch gierig zu verspeisen.

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ganz alltäglichen Wahnsinn in Buñuels Spätwerk aus: Der Herr lädt alle Gäste der Herberge zu sich und seiner Begleiterin zu einem Glas aufs Zimmer ein, um den ‚Zufall‘ zu feiern, der die bunte Gesellschaft in einer stürmischen Nacht dort zusammengeführt hat. Während sich alle bekannt machen, ziehen er und seine ‚Mitarbeiterin‘ sich unbemerkt im Bad um. Erst als sie beginnt, ihn auszupeitschen, bemerken die Gäste, dass sie Zuschauer eines sadomasochistischen Spiels werden sollen und erst jetzt sehen sie auch, dass der seriöse Herr einen Anzug trägt, der seinen Hintern entblößt. Von vorn ist es immer noch ein ganz normaler Anzug, so wie auch alle anderen Gäste in der Herberge ganz vernünftige Leute sind, die aber alle ihren persönlichen Wahnsinn mit sich und in sich tragen. Zufall, Wahnsinn, Traum, Sexualität, Essen, Tod und Körperliches ganz allgemein gehören zu einer Seite des Menschen, die bis zum 17. Jahrhundert, wie Foucault zeigt, mit dem Bereich des Geistes, des Göttlichen, der Wahrheit durch Ähnlichkeiten verbunden ist, aber vor allem mit dem menschlichen Leben selbst. Stark vereinfacht ausgedrückt, stellten die einzige Verbindung zu dem Göttlichen und Wahren die Kirche und der König dar. Seit dieses Monopol fiel, und mit ihm auch die Episteme der Ähnlichkeit in diejenigen der Differenz überführt wurden, ist es notwendig, das Erbe der Ähnlichkeiten abzuspalten. Durch die Ausgrenzung und Tabuisierung des Körperlichen wird zum einen ein Unterschied geschaffen und zum anderen ein Bereich unsichtbar gemacht, der die Ordnung dieser Differenz gefährden könnte. Foucault weist jedoch zu Recht darauf hin, dass bereits Diderot in Le neveu de Rameau die untrennbare Verbindung – und damit Ähnlichkeit – zwischen Wahnsinn und Gesellschaft, Traum und Realität aufzeigt.25 Es handelt sich um ein ganz ähnliches Paradox, wie Derrida es mit dem Begriff der „différance“ beschreibt.26 Auf der einen Seite ist der Unterschied für die gedankliche Ordnung und die Epistemologie existentiell, auf der anderen Seite muss versucht werden, einen Teil der Dichotomie zu verschleiern, um eine unterschiedsgefährdende Ähnlichkeit zwischen beiden Teilen zu vermeiden. Auf Buñuels Filme bezogen, lässt sich feststellen, dass die Gesellschaft zwar den Wahnsinn, den Traum und die Perversion braucht, um sich von dieser ‚fremden‘, aus französischer Perspektive zurückgebliebenen, spanischen Welt zu distanzieren und abzugrenzen, aber sich dennoch inmitten dieser Welt bewegt und ihr ähnlich ist. Der französische 25 Vgl. Foucault 1973, S. 349ff. 26 Vgl. Derrida, Jacques: Marges de la philosophie, Paris 1972, S. 3-29.

DENKEN VON DIFFERENZ UND ÄHNLICHKEIT

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Bourgeois Mathieu grenzt sich ganz explizit in CET OBSCUR OBJET DU DÉSIR von dieser ‚fremden‘ Welt ab, indem er gegenüber seinen Mitreisenden beteuert, er sei nicht verrückt und die Verantwortung für sein Handeln entsprechend der literarischen Vorlage ganz der Frau („die schlechteste aller Frauen“) übergibt. In der Filmhandlung wird jedoch deutlich, dass sich Mathieu und Conchita in ihren Verrücktheiten sehr ähnlich sind. Da die verrückte, verkehrte Welt der selbstzerstörerischen Liebe der beiden Protagonisten von den Zuhörern im Zug aber zu keiner Reaktion führt, wird aus Wahnsinn Normalität. Es findet eine Angleichung statt. Die Ordnung mittels Differenz ist darauf angewiesen, dass die Unterschiede von allen immer wieder bestätigt werden. Bezüglich CET OBSCUR OBJET DU DÉSIR würde das bedeuten, dass sich die Zuhörer als Repräsentanten der Zuschauer von Mathieu abgrenzen müssten, nachdem sie sehen, wie er Conchita einen Eimer Wasser über den Kopf schüttet, nachdem sie hören, dass er immer einen ominösen Sack auf den Reisen mit Conchita dabei hat und seine Geliebte brutal verprügelt hat. Doch entweder geben sich die Zuhörer mit Mathieus fadenscheinigen Begründungen für sein Handeln zufrieden oder sie nehmen das A-Logische, das Nicht-Normale als Normalität wahr. Für Letzteres spricht auch, dass sich auch Mathieu nicht an den surrealen Momenten in seiner Erzählung stört, obwohl er doch den Eindruck des Normalen aufrechterhalten möchte. Sein Diener jagt Mäuse, ein Restaurantkellner fischt eine Fliege aus seinem Glas und behauptet, er jage genau diese Fliege nun schon eine Woche – und zum Motiv des rätselhaften Sackes passt auch der Kommentar des misogynen Dieners, Frauen seien Säcke voller Exkremente.27 Am Ende des Films gießt Conchita Mathieu einen Eimer Wasser über den Kopf und sie steigen gemeinsam aus dem Zug – die Kamera zeigt uns erneut Säcke, die auf dem Bahnsteig verladen werden – und das Paar fährt im Taxi davon. Die Geschichte kann also endlos weitergehen. Buñuel verweigert damit seinen Zuschauern und den Zuhörern im Zug sogar die letzte rettende Differenz, die der Tod (Conchitas oder Mathieus) oder eben das Ende einer Geschichte markieren würde. Ob es Buñuel jedoch gelungen ist, die Surrealität des Traumes als festen, wahrgenommen Teil unserer Realität zu etablieren, sei dahingestellt. Festhalten kann man allerdings, dass Buñuel in seinen letzten drei Filmen zwar scheinbar in die sicheren Sphären der nachvollziehbaren Film27 Auch hier zeigt sich Buñuels mannigfaltiges Verwirrspiel: Mathieus Diener war ebenfalls früher einmal Kellner und äußert seinen Frauenhass immer indirekt, indem er von einem angeblichen Freund erzählt, der entweder Schopenhauer zitiert oder die oben genannten Sprüche zum Besten gibt.

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handlung zurückkehrt, aber damit gerade die untrennbare Verankerung des Surrealistischen in der scheinbar vertrauten Realität verdeutlichen kann.28

28 Vgl. dazu auch in diesem Band Roloff, Volker: „Metamorphosen des Surrealismus in Spanien und Lateinamerika. Medienästhetische Aspekte“: „In dieser Hinsicht sind die Werke von Dalí, Arrabal, Carpentier besonders aufschlussreich, aber auch […] die späteren Werke von Buñuel gerade dadurch, dass sie mehr als früher, zumindest dem Anschein nach, auf die gewohnten narrativen Strukturen und Genres des Films zurückgreifen, aber dabei um so mehr die surrealistischen Spielformen spanischer Herkunft verdeutlichen, wie z.B. die Neigung zum Anarchismus, zur Ironie und zur Blasphemie in SIMÓN DEL DESIERTO, LE FANTÔME DE LA LIBERTÉ oder CET OBSCUR OBJET DU DÉSIR, seinem letzten Film, der mit der Ironisierung des Begehrens und der Schaulust zentrale Themen des spanischen Surrealismus aktualisiert und so schon die Affinität von Surrealismus und Postmoderne vorwegnimmt.“ Vgl. auch ders.: „Vom Surrealismus zur postmodernen Erzählfreude“, in: Ulrich Schulz-Buschhaus/Karlheinz Stierle (Hrsg.): Projekte des Romans nach der Moderne, München 1997, S. 299.

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ABRE LOS OJOS: SURREALISTISCHE REFLEKTOREN BEI ALEJANDRO AMENÁBAR Es ist der Vorzug des Filmtheaters, dass es sehr vielen Menschen ermöglicht, gemeinsam den gleichen Traum zu träumen, und dass es uns mit der Strenge des Realismus die Phantasien des Irrealen zeigt, kurz: Es ist ein wunderbares Mittel der Poesie. (Jean Cocteau)

Aus dem Dunkel eine Stimme. „Abre los ojos, abre los ojos“, flüstert die Frauenstimme eindringlich. Wir erkennen einen Schläfer, der uns den Rücken zuwendet. Der Mann erwacht, blickt auf die digitale Anzeige des sprechenden Weckers, die 9:00 Uhr anzeigt. Geht ins Bad. Wir sehen ihn mit geschlossenen Augen vor dem Spiegel stehen. Er öffnet die Augen und wischt sich den Schlaf aus dem rechten Auge. Duscht. Nach dem Duschen ein prüfender Blick in den Spiegel.1 Um sich zu sehen, muss er zunächst den sich wie kleine Tropfen auf dem Spiegel kondensierten Dampf wegwischen. Er fährt sich mit der Hand durchs Haar. Danach sehen wir ihn vor einem größeren Spiegel im Schlafzimmer, wie er sich ein weißes Hemd anzieht. Er läuft die Treppe hinunter und verlässt das Haus. Ein Garagentor öffnet sich, wie sich zuvor seine Augen geöffnet haben, und gibt den Blick auf ein weißes VW-Cabriolet frei. Wir fahren mit dem Mann durch die Straßen. Durch menschenleere Straßen. Prüfend blickt der Mann auf seine Armbanduhr, die ihm 10:04 Uhr anzeigt. Der Mann lässt sein Auto auf der Straße stehen, steigt aus, schaut sich um. Er geht und beginnt dann zu laufen. Auf der Tonspur

1 Da sich dieser Blick in den Spiegel leitmotivisch wiederholt, möchte ich an dieser Stelle mögliche Konnotation andeuten. Assoziationsketten führen von Narziss’ Blick auf die Spiegeloberfläche, über Alices Through the looking glass bis hin zu Filmen von Jean Cocteau. So tritt der Protagonist in LE SANG D’UN POÈTE durch den Spiegel in eine neue, traumähnliche Welt.

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setzt eine dramatisch klingende Musik ein. Wir betrachten den Mann von hinten in der Totale, wie er eine sehr breite, menschenleere Straße hinunterläuft. Langsam zunächst, beherrscht, dann immer schneller. Rechts im Bild ist eine Ampel zu sehen, die grün, dann gelb, schließlich rot wird. Er rennt. Schreit. Panik breitet sich in ihm aus. Dann wieder die Frauenstimme. Beruhigend. „Abre los ojos.“ Derselbe Schläfer wie zu Beginn. Derselbe prüfende Blick zum Wecker, der erneut 9:00 Uhr anzeigt. Alles nur ein Traum. Nur ein Traum? Eine zentrale Frage, die der Film immer wieder stellen wird, ist: Wo hört die Realität auf und wo beginnt der Traum? Wir hören, wie er mit einem anderen Mann spricht: ¿Porqué me cuenta este sueño? – Me ha dicho que podía contarle lo que quisera, ¿no? – Está bien. Hay algo más que debes contarme antes de empezar? – Nada que usted ya no sepa. Que iba a cumplir 25 años. Que me gustaba comer, dormir y hacer el amor como a todo el mundo. Y ya sabe usted lo que hace todo el mundo cuando se levanta.

Später werden wir erfahren: Dieser Mann ist sein Psychiater. Der junge Mann, nennen wir in César, ist wegen Mordes angeklagt. Doch noch wissen wir davon nichts. Der Mann erwacht zum zweiten Mal. Blickt in den Spiegel. Duscht. Blickt erneut in den Spiegel. Wieder gerät er in den Blick, als er sich im Schlafzimmer vor einem Spiegel ankleidet. Nur dass die Aufnahme diesmal seitenverkehrt ist und wir im Hintergrund eine Frau erkennen können, die sich im Bett räkelt und sich mit César unterhält: „¿Adónde vas? – A la calle. Oye, no me grabes más mensajes en el despertador. – ¿Porqué? – Porque no.“ César verlässt erneut das Haus. Im Auto murmelt er: „Que me toque los huevos.“ Erneut fährt das Garagentor hoch. César, diesmal mit einer Sonnenbrille, die seine Augen verdeckt, fährt durch Straßen, die nunmehr voller Menschen sind. Erst jetzt beginnt der Vorspann des Films. César sieht ein Filmteam. Eine junge Frau im Harlekinkostüm. Später werden wir erfahren: Diese Frau ist Sofía. Oder Nuria. Er habe, erklärt Amenábar in dem auf der DVD2 veröffentlichten Interview mit Mateo Gil, einen Film über einen Mann drehen wollen, der träumt, er renne durch menschenleere Straßen. Doch gehorcht nur die erste Sequenz der Logik des Traums? Tatsächlich fungiert die Anfangsszene als Prolog. Danach setzt der tatsächliche Film ein. Und doch: Insgesamt vier Mal hören wir

2 Amenábar, Alejandro: Abre los ojos, Madrid 1997.

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den Satz „Abre los ojos“. Und in jedem dieser Momente könnte der Film von neuem beginnen. Der Film – oder das Leben. Die einzelnen Szenen und Bilder sind bei Amenábar wie die Schalen einer Zwiebel, die nur immer wieder eine neue Traumschicht enthüllen. Wie die Maske von César nur eine andere Maske – die seines defigurierten Gesichts, das er ironisch die Maske des Phantoms der Oper nennt – preisgibt. Realität und Fiktion, Wirklichkeit und Traum, analoge und digitale Bilder, Realität und Virtualität überlappen. „Manchmal träumen Sie […]. Sie sehen Ihren Vater, der verwandelt sich in Ihre Mutter, dann in einen Zeitungsverkäufer. Träume sind so“, wird der Psychiater gegen Ende des Films zu César sagen. Und César weist dann auch direkt auf die Ähnlichkeit von Antonio mit seinem Vater hin. Doppelgänger sind – wie die mit dem Blick in den Spiegel stets auch verbundene Frage nach der Identität – ein zentrales Motiv des Films. Ich werde im Folgenden versuchen, aufzuzeigen, wie sich Amenábar surreale Strukturen zu eigen macht. Sur-real im Sinne eines Übersteigens der Dimensionen des Realen, oder wie Oliver Fahle es formuliert hat: Die Wahrnehmung verliert ihre stabilen Koordinaten und versetzt die Welt in einen entregelten Zustand, erweitert damit aber nur die Kenntnis über die wirkliche Wirklichkeit, denn psychische Zustände, wie etwa der Traum oder sonstige Äußerungsformen des Unbewussten, ergänzen die (sichtbaren) Vorstellungen der Welt und versuchen nicht einfach, sie zu ersetzen. Der Film […] bringt durch seine apparativen Bedingungen die Voraussetzungen mit, diese Entgrenzung der Erscheinungen der äußeren Welt in bewegte Bilder zu übersetzen: das Wirkliche und das Fantastische überlagern sich, der Blick auf die sichtbare Welt bleibt flüchtig, stets of3 fen für eine im Augenblick verdeckte Seite.

In Anlehnung an Fahle geht es auf einer Metaebene in dem Film auch um die „Inszenierung des Sichtbarwerdens des Sichtbaren“4. Damit aber wäre das Sur-Reale zugleich eine Qualität des Filmischen selbst. Es geht um die Wechselwirkung filmisch-technischer und erzählerischer Mittel, um vermeintliche Wirklichkeit und Simulation. Dies versuche ich im Folgenden anhand der Figur dessen, was ich surreale Reflektoren nennen möchte, nachzuweisen. Der Film gehorcht den von Uta Felten herausgearbeiteten Merkmalen einer Trauminszenierung: Mehrdeutigkeit, Multiplizität des Ichs, 3 Fahle, Oliver: Jenseits des Bildes: Poetik des französischen Films der zwanziger Jahre, Mainz 2000, S. 64. 4 Ebd., S. 51.

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Polyphonie, Künstlichkeit, Diskontinuität, Serialität, Verschachtelung und Silmultaneität des Raumes und der Zeit.5 Die Handlung des Films ist – sieht man einmal von dem erklärenden Schluss ab, der jedoch, wie ich zu zeigen versuche, wiederum mit einer Traumlogik korrespondiert – aus einer Fülle von Einzelszenen zusammengesetzt, die durch rekurrente Themen, Motive und auch Bilder zusammengehalten werden. Die Frage, was Traum, was Realität sei, ist hier eng verschachtelt mit der Frage nach Wahnsinn und ‚Normalität‘. Der zweite Komplex ist das Thema der Liebe, das hier als générateur fungiert. Es ist zugleich Auslöser einer ganzen Reihe von verbalen und auch physischen Verwandlungen, in denen sich die Liebe in diversen karnevalesk anmutenden Spielarten darstellt; Poesie und Gewalt, Lust und eine fast sakral anmutende Suche nach der einen wahren Frau, Körperlichkeit und Spiritualität sind eng verbunden. Der Körper wird bei Amenábar vor allem in seiner Lust an der Verwandlung dargestellt. Zentral ist eine Lust am „Verwischen der Konturen, an der Auflösung der Figuren“6. Wie in einer Subsequenz ingeniös die Bleistiftzeichnung der als Harlekin verkleideten Sofia in ihr Filmbild übergeht, so überlappen auch die Identitäten der einzelnen Figuren und die Bilder. Amenábar setzt diverse Reflektoren ein, die einer surrealistischen Ästhetik folgen und immer wieder deutlich machen, dass Traum und Realität in diesem Film eben nicht klar voneinander unterschieden werden können – auch wenn das Filmende dies in einer scheinbar alles erklärenden Auflösung insinuiert. Interessant ist, dass der Schluss nah legt, César habe nach dem sein Gesicht defigurierenden Unfall beschlossen, sich einfrieren zu lassen, um danach seine vida real gegen seinen sueño einzutauschen (wobei sich beide für eine kurze Zeit überschneiden, um gewissermaßen einen Anschluss zu garantieren). Er selbst sei dabei – so stellt es der geheimnisvolle Leiter der „Lebensextension“, Serge Duvernois, dar – der meneur de jeu dieses gelebten Traums, in dem er wie ein Regisseur die Figuren seiner Umgebung nicht nur leite, ihnen Leben einhauche, sondern sie auch erfinde. „Que gran tipo“ bemerkt Duvernois anerkennend und weist auf den Psychiater Antonio. Und zu Antonio, der immer wieder hervorstößt „No es un sueño – es real“: „Todo lo que existe está en la mente de ese caballero. Eres un gran tipo y un personaje muy importante para César.“ Und auf Sofia und Pelayo weisend: „Sólo son imágenes.“ 5 Vgl. Felten, Uta: Traum und Körper bei Frederico García Lorca. Intermediale Inszenierungen, Tübingen 1998, S. 9ff. 6 Lenk, Elisabeth: Die unbewusste Gesellschaft: Über die mimetische Struktur in der Literatur und im Traum, München 1983, S. 393.

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Auf die Analogie von traumästhetischer Selbstinszenierung und einer Theaterinszenierung verweist schon Jorge Luis Borges, der in seinem Libro de sueños schreibt: „El alma humana, cuando sueña, desembarazada del cuerpo, es a la vez el teatro, los actores y el auditorio“7. Elisabeth Lenk greift diesen Gedanken wieder auf: „Der Traum ist ein Theater, ein Theater im Inneren des Körpers. Der Träumer ist niemals er selbst. Er ist Mime.“8 Dies zeigt sich unter anderem an den zahlreichen durch Theaterrequisiten verstärkten Verhüllungen Césars, die später noch im Einzelnen thematisiert werden. Darüber hinaus lässt er in einigen Sequenzen eine frappante Ähnlichkeit zu Pelayo oder gar zu Antonio erkennen. Diese Überlappungen der Identitäten verweisen aber auch zugleich auf die filmische Materialität, den Film, der als „Schnittstelle zwischen verschiedenen Momenten des Sehens“ fungiert: „Es setzt sich nicht einfach eine Wahrnehmung an die Stelle der anderen […], sondern gerade im Übergang zwischen den Zuständen zeigt sich die Relativität des Sehens.“9 Schon Elisabeth Lenk hat auf die Affinität der Logik des Traums mit dem Motiv des Doppelgängers verwiesen. In Die unbewußte Gesellschaft führt sie aus: „Eine sehr merkwürdige Erscheinung in meinen Träumen ist das Vervielfachungsmotiv. […] Immer wieder treten Personen mit Doppelgängern auf […]. Das unheimliche Gefühl der Vervielfachung des Ich – das Ich ist ein Serienprodukt – wird mir, so scheint es, als Vervielfachungen der Anderen zurückgespielt.“10 Gleich zu Beginn des Films wird insinuiert, dass es sich bei Pelayo auch um die andere Seite von César handeln könnte. Pelayo ist nach Nuria die erste Person, der César nach seinem ersten Traum begegnet. Auffällig ist zunächst einmal die physische Ähnlichkeit der beiden Charaktere. Während sie Tennis spielen, führen beide einen Diskurs über innere und äußere Schönheit. Pelayo erklärt César, dass Frauen nur scheinbar auf innere Werte achten, wenn sie über Männer sprechen, tatsächlich jedoch nur an äußerer Schönheit interessiert seien, weshalb er keine Chance bei Frauen habe, solange César in seiner Nähe sei. „César: Ya estamos. Pero si tú no eres feo. Mucha gente cambiaría su cara por la tuya. Eres completamente normal. – Pelayo: Ahi está. Soy normal, lo cual no quiere decir que sea guapo. – César: Eres guapo. – Pelayo: Soy acceptable cuando no estás tú

7 8 9 10

Borges, Jorge Luis: Libro de sueños, Madrid 1976, S. 9. Lenk 1983, S. 95. Fahle 2000, S. 134. Lenk 1983, S. 360.

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al lado.“ Verbunden wird dieser Diskurs mit einer Rede über die ideale Frau, die für César nicht, für Pelayo sehr wohl existiert. Beide stellen eine Seite eines über Schönheit geführten Diskurses dar, die sich immer wieder verschiebt. Mal ist der Eine der Unversehrte, mal der Andere. Auf Césars Geburtstagsfeier bezeichnet César Pelayo als seinen Ehrengast: Pelayo ist es, der Sofía als Mädchen seiner Träume einführt. Beide Männer umarmen sich und betonen gegenseitig, wie viel ihnen ihre Freundschaft bedeutet. In dieser Einstellung, in der beide Männer für einen Moment zu einer Figur verschmelzen, lässt sich durchaus auch ein homoerotisches Mythem erkennen, das noch dadurch verstärkt wird, dass beide Männer immer wieder um dieselbe Frau, Sofía, buhlen. Gleichzeitig könnte man hier aber auch mit dem Motiv des Doppelgängers argumentieren. Hierfür spricht, dass beide Männerfiguren an entscheidenden Stellen des Films – so am Anfang, in der zentralen Diskothek-Sequenz, in der Subsequenz, als César Serge Duvernois, den mysteriösen Leiter der Lebensextension zum ersten Mal nicht nur auf dem Bildschirm, sondern im Café sieht, und in der Auflösungssequenz am Schluss – zusammen auftreten und dabei häufig entgegengesetzte Rollen spielen. So ist César am Anfang der unwiderstehliche Verführer und Pelayo der nur geduldete Dritte. Später kehren sich diese Rollen um. Nach Césars Unfall ist César der ungeliebte, eingeschlossen-ausgeschlossene Dritte, während Pelayo in der Gunst Sofías an erster Stelle steht. Dies ändert sich nach Césars ‚Tod‘, seinem Wiedererwachen auf dem Straßenpflaster nach der entscheidenden Nacht in der Diskothek, erneut. Sofía entscheidet sich für César, und nachdem dessen Gesicht durch die Schönheits-Operation wieder in seinen ursprünglichen Zustand versetzt wurde, kommt es erneut zu einem Gespräch zwischen den Freunden, währenddessen Pelayo, der hier signifikanterweise César nicht nur filmt, sondern ihn auch mit seinem operierten Gesicht aufzieht, den unterlegenen Anderen spielt. Signifikant ist, dass an dieser Stelle Duvernois die Bühne betritt und César bedeutet, alles sei nur sein Traum, die Anderen seine Imaginationen oder Emanationen – Pelayo eingeschlossen. Pelayo sagt ihm nach dem Besuch auf der Polizeiwache, dass die Frau, die er für Nuria hält, in Wahrheit Sofía ist und dass Nuria bei dem Unfall umgekommen sei. Er bezichtigt ihn, seit dem Unfall nicht mehr derselbe zu sein und spricht dabei erstmals offen die Möglichkeit aus, der andere könne wahnsinnig geworden sein. Als César am Ende den Franzosen bei der L.E., der Life-Extension-Corporation, aufsucht, fragt er Sofia „¿Quién es ese tipo?“ und deutet auf Pelayo, was auch als Hinweis darauf verstanden werden könnte, dass Pelayo als Doppelgänger ausge-

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spielt hat. Unterstützt wird dieser Eindruck durch die Tatsache, dass Antonio seine Rolle als Vertrauter und Gegenspieler Césars teilweise übernommen hat. Der Diskurs über die Bedeutung der Schönheit, den Pelayo und César zu Beginn beim Tennisspiel führen, wiederholt sich fast wortwörtlich, nachdem César und Antonio von einem Angestellten der Corporation über die Möglichkeit informiert wurden, nach einer Phase der Kryonisation das reale Leben gegen einen gelebten Traum zu vertauschen. In der entscheidenden Schlusssequenz auf dem Dach der Life-Extension-Corporation, in der César erneut wählen kann zwischen seinem realen Leben und einem gelebten Traum, steht Pelayo in einer Fluchtlinie der Traumfiguren, hinter Antonio und Sofía. Das Spiel, die Überlappung der Identitäten, geht jedoch noch weiter. So figuriert Antonio nicht nur als Alter Ego von César, sondern auch von dessen Vater. César selbst weist auf die Ähnlichkeit hin, die sein Psychiater mit seinem bei einem Unfall ums Leben gekommenen Vater aufweist. Die anderen werden zu bloßen Spielfiguren degradiert, die César – wie in einem Tagtraum – zum Schweigen bringen kann, sowie dazu, sich zu bewegen oder sich nicht zu bewegen. Wie jeder Traum folgt jedoch auch dieser seiner eigenen Logik. So kommt es zu der gefährlichen Vertauschung der Identitäten Nuria-Sofía, die im Zentrum des Films steht und zusammen mit dem damit verknüpften Thema der Liebe als générateur fungiert. Zu Beginn wacht César neben Nuria auf. Es ist das erste Mal, so erfahren wir später, dass César zweimal mit derselben Frau geschlafen hat, weshalb ihn Pelayo irritiert auf diese Tatsache anspricht. Wenn man bedenkt, dass Pelayo hier die Funktion des Doppelgängers, des Alter Ego von César übernimmt, ist besonders auffällig, dass César zu Beginn vehement bestreitet, die Nacht mit Nuria verbracht zu haben. Später führen beide dann ein Gespräch darüber, ob es die Idealfrau, die „chica de tu vida“ tatsächlich gibt. Während Pelayo darauf beharrt, weist César, der zu Beginn als donjuaneske Figur eingeführt wird, diese Möglichkeit von sich. Dies ändert sich erst, als Pelayo – signifikanterweise auf Césars Geburtstagsfeier – Sofía einführt. Bereits das Theater der Blicke macht deutlich, dass César in Sofía mehr als nur ein weiteres Opfer seiner Verführungskünste erkennt. Als César seine Party für einen Moment verlässt und sein Schlafzimmer betritt, muss er feststellen, dass Nuria sehr zu seinem Ärger immer noch da ist. Sie ist diejenige, die zuerst ausspricht, was der Zuschauer doch bereits ahnt: Dass Sofía genau den Frauentypus verkörpert, der César gefährlich werden könnte. Bezeichnenderweise findet die eigentliche Zusammenkunft César-Sofía in einem

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separaten Raum außerhalb des eigentlichen Partygeschehens statt, in den die beiden flüchten, nachdem César Sofía darauf aufmerksam gemacht hat, dass er von einer Frau, Nuria, verfolgt werde. Beide kommen sich näher, während sich Pelayo und Nuria betrinken, ein Zeichen ihres Ausgeschlossenseins. Pelayo spricht dies offen an. Er beschließt, die Party vorzeitig zu verlassen, da er betrunken ist, macht César jedoch Vorwürfe, dass er, der so viel Erfolg bei Frauen hat, sich ausgerechnet Sofía aussuche: „Pelayo: Estoy pedo pero te voy a decir una cosa. A mí Sofía me gusta mucho. Me gusta un huevo tío. Es más. Podría ser la chica de mi vida. Pero si yo supiera que iba joder nuestra amistad la mandaría ahora mismo a hacer puñetas.” Pelayo verlässt die Party ohne Sofía. Und César verbringt eine Nacht in der Wohnung von Sofía: Er bewundert fotografische Momentaufnahmen aus Sofías Leben. Er zeichnet ein Idealbild von ihr, während sie eine Karikatur von ihm anfertigt, die einen Mann mit einem übergroßen Sportwagen zeigt. Sie nickt auf dem Sofa ein, während er durch das Fernsehprogramm zappt. Was wie eine Aneinanderreihung zufällig angeordneter Einzelmomente wirkt, stellt sich später als symbolhafte Struktur heraus. So erblicken wir in dieser Sequenz zum ersten Mal Serge Duvernois, der davon berichtet, wie sich die durchschnittliche Lebenserwartung in den letzten 2000 Jahren verdreifacht hat. Erst später wird dem Zuschauer die Bedeutung dieser Worte bewusst. Des Weiteren betrachten wir einen kurzen Ausschnitt aus einem Comic-Film, der ein Thema des Anfangs wieder aufgreift. Zu Beginn des Films sehen wir César nach dem Tennisspiel mit Pelayo plötzlich in einer Zelle. Er spricht mit seinem Psychiater, Antonio, der ihn auffordert, sich doch wenigstens vom Boden zu erheben, damit er besser mit ihm reden könne. Doch César weigert sich, mit dem Hinweis, nur der Boden scheine real zu sein: „Me gusta el suelo. Es lo único que parece real. [...] Todo esto me parece una mentira. Incluído usted.“ Worauf hier angespielt wird, ist der Boden der Tatsachen, den César doch längst verlassen hat. Signifikant ist nun, dass César während dieser Nacht einen Animationsfilm sieht, in dem Jugendliche in dem Glauben, sie beträten festen Boden, in einen Abgrund stürzen: „No es peligroso. Es tierra firme y muy sólida.“ Tatsächlich wird er selbst kurze Zeit darauf in einen Abgrund stürzen. Als er das Haus Sofías am Morgen verlässt, wartet Nuria in ihrem Auto auf ihn. Sie fordert ihn auf, einzusteigen. Im Auto zwingt sie eine Aussprache herbei. Nuria wirft ihm vor, sie nur als ‚Sexobjekt‘ zu betrachten, sich jedoch nie für sie als Person interessiert zu haben. Nach der Frage, ob er an Gott

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glaube, die ihm nach dem ersten Erwachen auch Antonio stellt, rast sie mit César auf eine Mauer zu, die Leinwand wird schwarz. Als nächstes sehen wir eine schon unwirklich wirkende, da eindeutig idealisierte Szenerie. César spaziert durch den Park und trifft dort auf Sofía. Beide unterhalten sich. Er berichtet ihr, dass er einen schrecklichen Traum hatte. Er habe geträumt, dass Nuria in ihrem Auto auf ihn gewartet habe. Er sei mit ihr gefahren, sie sei in den Tod gerast, sein Gesicht sei nach dem Unfall völlig entstellt gewesen, wie das des Phantoms der Oper. Er habe nicht aufwachen können. Ein monströser Traum. Bis dahin glauben wir, dass die vorherige Szene ein Traum war. Die erste Irritation entsteht erst, als ihn Sofía seine Geburtstagsparty anspricht und César sich nicht mehr daran erinnern kann. Die Zeit- und Raumebene wird erneut gewechselt. Jetzt erzählt César Antonio: „Soñar es una mierda“, woraufhin der Psychiater entgegnet, dass aber doch dieser Traum sehr schön gewesen sei: mit dem Park, den spielenden Kindern und einer Frau, die ihn liebt. Im Folgenden erfahren wir, dass César nach dem Unfall mit Nuria drei Wochen im Koma gelegen hat. Sein Gesicht sei inoperabel gewesen, die Ärzte hätten ihm nur mit einer Maske dienen können, die er über sein versehrtes Gesicht stülpen kann. César erlebt nun diese Szene im Park ein zweites Mal. Diesmal geht er mit seinem nunmehr entstellten Gesicht auf Sofía im Harlekinkostüm zu, die nur mit Mühe ihre Fassung bewahrt. Am Schluss führen beide signifikanterweise erneut ein Gespräch über die Logik von Träumen: „César: A veces he soñado con […] el momento en que nos volveríamos a ver. En mis sueños estábamos igual que ahora. Aquí en el parque. Aunque bueno. Había una cosa distinta. [...] En mi sueño no llueve.“ Was hier wie ein Scherz klingt, ist in Wahrheit genau das irritierende Moment, das immer wieder die Logik des Traums durchbricht. Tatsächlich offeriert uns Amenábar im Laufe des Films eine Vielzahl unterschiedlicher Lesarten, die alle eine zwingende Logik besitzen und jeweils auf verschiedenen Ebenen der hier konstruierten Zeit/Bewegungsräume anzusiedeln sind. Einige der möglichen Szenarien sind:  César träumt den gesamten Film.  César ist wahnsinnig, er redet mit Antonio, der Rest sind Imaginationen.  César hat nach der Nacht in der Diskothek sein wahres Leben gegen ein Geträumtes eingetauscht. Eine Frage, die dabei wiederholt aufgerufen wird, ist, inwieweit Sofía nicht nur Idealbild, Traumbild, imágen ist. Hierfür scheinen mehrere In-

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dizien zu sprechen. Zunächst gibt es einen Hinweis auf der inszenatorisch-karnevalesken Ebene. Als César nach der gelungenen Schönheitsoperation mit Sofía schläft, hört diese unvermittelt auf, sich zu bewegen. Sie, die Schauspielerin, fordert César auf, eine Münze einzuwerfen – vorher könne sie sich nicht bewegen: Sofía als Automat, eine künstliche Frau. Plötzlich scheint es einen Fehler in der Matrix, der geträumten Welt zu geben. César liegt neben Sofía, wacht auf, sieht sein zerstörtes Gesicht im Spiegel, schreit, schläft weiter: „Odio sueños“. Er kommt zurück ins Zimmer, schlüpft zu Sofía unter das Laken, das hier zugleich als Schleier oder als Vorhang fungiert. César streichelt sie zärtlich und sieht plötzlich ihr kurzgeschnittenes Haar. Das Haar von Nuria. Es beginnt ein erster Ausbruch von Gewalt, als César Nuria mit einem Kabel ans Bett fesselt, während sie unaufhörlich zu seiner und der Irritation des Zuschauers beteuert „Soy Sofía“. Als er sie später auf die Polizeiwache bringt, um zu erfahren, was sie mit Sofía gemacht hat, wird der ihn verhörende Kriminalbeamte sagen: „La chica existe sólo en su imaginación.“ Die Verwirrung des Zuschauers ist perfekt, als er nach der bereits erwähnten Auseinandersetzung mit Pelayo die Wohnung Sofías betritt und gleichzeitig mit César bemerkt, dass Nurias Gesicht nicht nur auf den Fotos zu sehen ist, sondern auch auf der Zeichnung, die César in der Nacht vor dem Unfall von Sofía angefertigt und mit seinem Namen unterzeichnet hat. An diesen Stellen wird deutlich, dass wir den Bildern nicht trauen können, dass das Sichtbare immer das Nicht-Sichtbare verbirgt. Ist das erste Bild eine Wunschvorstellung gewesen, ist dies nun die Realität? Die Kommunikation in diesen Bildern ist rein visuell. Die Bilder geben keinen Aufschluss über ihre Herkunft. Ein virtuelles Bild scheint ein aktuelles nach sich gezogen zu haben. Wir vermögen nicht länger zu unterscheiden zwischen den Bildern, die dem Kopftheater Césars entspringen, und denen einer wie auch immer gearteten ‚neutralen‘ Handlung. Als Nuria wenig später ihre Wohnung betritt, hält sie César zunächst für einen Einbrecher und schlägt ihn mit einer Flasche nieder. Als er erwacht, betritt plötzlich Sofía, in gleißendes Licht getaucht, den Raum. Er habe, so Amenábar im Interview mit Mateo Gil, hier eine bewusste Parallele zu Hitchcocks Vertigo herstellen wollen. Dies ist signifikant, als Alfred Hitchcock einen Mann ins Zentrum seines Films stellt, der sich nach seinem Idealbild eine Frau formt. Interessant ist, dass die so von ihm geschaffene Phantasie tatsächlich die Frau ist, die er glaubt, durch einen tragischen Unfall verloren zu haben, hatte sich die Schauspielerin doch zuvor für die andere Frau ausgegeben. Auch bei Amenábar überlappen

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die Identitäten beider Frauen, vermögen wir bald nicht mehr zu sagen, wer Sofía, wer Nuria ist, und ob Sofía überhaupt real ist oder nun nicht ganz buchstäblich „das Mädchen seiner Träume“. „Wenn die virtuellen Bilder“, so Gilles Deleuze, „sich derart vermehren, wird die ganze Aktualität der Person von ihnen absorbiert, während die Person nur noch eine Virtualität unter anderen ist.“11 Die Subsequenz eskaliert schließlich in einer Szene der Gewalt. César schläft mit Sofía, die sich unter seinem Körper in Nuria verwandelt. Lust und Gewalt vermischen sich, als er sie zunächst mit immer heftiger werdenden Körperbewegungen traktiert und schließlich mit einem Kopfkissen erstickt. Hier handelt es sich nicht um die karnevaleske Freude der Surrealisten an der Zerstückelung des Körpers und an vertauschten Körperteilen, sondern um eine Lust der vertauschten Körper.12 Ein ironisches Spiel mit Lust und Angst, Tabu und Tabuübertretung, Gewalt und Sexualität, wie es typisch ist für die Bilder der Surrealisten. Surrealistische générateurs markieren einen Raum, in dem Traum und Realität nicht länger voneinander unterschieden werden. Nachdem César Nuria getötet hat und er im Spiegel des Treppenhauses erkennen muss, dass sein Gesicht nun wieder entstellt ist (und es bis zum Schluss bleiben wird), zertritt er den Spiegel – auch dies ein Hinweis auf das traumanaloge Prinzip der Multiplikation und Spaltung des Ich, an der Verunsicherung, der Auflösung der Figuren.13 Verstärkt wird dieser Eindruck durch das vielfältige Spiel mit Masken und Maskeraden. Wir sehen Césars Gesicht, das sich hinter der Sonnenbrille verbirgt. Nach dem tragischen Unfall mit Nuria/Sofía bleibt César defiguriert zurück. Sein vorher so perfektes Gesicht, das er selbstgefällig wie Narziss im Spiegel betrachten konnte,14 bleibt wie der Körper von Frankenstein Stückwerk, mühsam zusammengeflickt und wiederhergestellt. Später wird von dem Psychiater immer wieder darauf hingewiesen, dass sein Gesicht in Wahrheit gar nicht entstellt sei – also auch die Defiguration eine Form der Maskerade ist. Verdoppelt wird diese schließlich 11 12 13 14

Deleuze, Gilles: Kino 2. Das Zeit-Bild, Frankfurt a.M. 1991, S. 97. Vgl. Felten 1998, S. 48. Vgl. Lenk 1983, S. 393. Sinnfällig ist dabei die Tatsache, dass, wie Ivo Kranzfelder schreibt, Narzissmus „einseitige, einschichtige Reflexion“ bedeutet, „die an der Oberfläche, eben dem Spiegel kleben bleibt. Als Spiegel kann auch das geliebte, das mit Libido besetzte Objekt dienen.“ Kranzfelder, Ivo: Zur Utopie eines ästhetischen Hedonismus oder Die Ambivalenz des Lustprinzips. Surrealismus und neuere Modefotografie, München 1993, S. 117.

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durch die Maske seines unversehrten Gesichts, die er trägt, um die vermeintliche Entstellung zu kaschieren. Ganz deutlich wird diese doppelte Maskerade in der zentralen Sequenz in der Diskothek, als sich uns César plötzlich janusköpfig – sein zerstörtes Gesicht vorne, die Maske auf dem Hinterkopf – präsentiert, was mit der bereits angesprochenen Vervielfältigung der Figuren korrespondiert. Nach der erfolgreichen Gesichtsoperation trägt César zunächst eine Plastilinmaske, aus der ihn Sofía liebevoll herausschält, was an den Prozess der Verpuppung und schließlich der Verwandlung bei Schmetterlingen erinnert. Bei Sofía hingegen ist zunächst einmal die Tatsache interessant, dass sie uns gleich zu Beginn als Schauspielerin vorgestellt wird und wir sie bereits am Anfang des Films, nach dem prologähnlichen Traum, kurz als Harlekin sehen. Später wird Sofía wiederholt in diesem Harlekinkostüm erscheinen und wechselt auch sonst ihre Erscheinungsformen, die häufig inszenatorisch, wie auf der Bühne, vorbereitet werden. Traumphantasien von zerstückelten oder durchbohrten Körpern sind in surrealistischen Texten, Bildern und Filmen von García Lorca, Dalí bis Luis Buñuel allgegenwärtig.15 Man denke nur an die falsch zusammengesetzten, monströs deformierten Puppenkörper des Surrealisten Hans Bellmer. Amenábar initiiert vor allem ein Spiel mit Verwandlung und Vertauschung, das für eine zunehmende Verwischung und Überlappung der Realitäten und Identitäten sorgt. Die Maske Sofías als Harlekin, zahlreiche Anspielungen auf monströse Deformationen, das Phantom der Oper, die Zeichnung – César versucht sich an Sofía zu erinnern, malt sie im Harlekinkostüm, aus dem Gesicht entsteht dann die wahre Sofía (das Filmbild legt sich über die Zeichnung): Auch hier geht es zentral um die Frage der Sichtbarkeit. César, der wie Frankenstein in die Röhre geschoben und tiefgefroren wird – diese Motive werden immer wieder auch ironisch gebrochen, so wenn Sofia ihm als Schauspielerin ein Monster vorspielt oder wenn sie sich als Automat ausgibt. Das fantastische Element des Films, das immer wieder ironisch gebrochen wird, verweist auf eine „Beweglichkeit des Sichtbaren“, das „immer eine enge Beziehung zu dem unterhält, was im Augenblick nicht sichtbar ist, aber gewissermaßen als virtuelle Sichtbarkeit auf seine Realisierung im Visuellen wartet.“16 Die zentrale Sequenz, die im Mittelpunkt des Films steht (man könnte auch sagen, die als Spiegelungsachse fungiert), ist die Sequenz in der Diskothek: César – Pelayo, sein zerstörtes Gesicht als Maske, die tat15 Vgl. Felten 1998, S. 39. 16 Fahle 2000, S. 137.

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sächliche Maske, der wiederholte Blick in den Spiegel, der als Erinnerung an das erste Gespräch wieder aufgeführte Kennenlern-Dialog, Sofía-César, César wie zu Beginn am Boden – dies sind bekannte Konstellationen, die diese Sequenz mit anderen Bildern des Films vernetzen. Sofía beugt sich wie zu Beginn über ihn und sagt: „Abre los ojos”. Elisabeth Lenk konstatiert: „In den Theaterträumen spielen meine Bekannten sich selber. Sie werden mit allerlei Flitter behängt, und schon figurieren sie als etwas anderes. Sie verkleiden sich, spielen Rollen. Szenen, die niemals und nirgendwo stattgefunden haben, werden in immer neuer Besetzung aufgeführt.“17 Die Artifizialität der Figur Sofía, die verschiedenen Masken Césars korrespondieren mit der von Elisabeth Lenk betonten Nähe des Traums zum „Künstlichen, zu Masken, Kleidern“.18 Die scheinbare Auflösung erfolgt, wie bereits zuvor angedeutet, als Césars Blick, während er mit Sofia und Pelayo im Café sitzt, plötzlich auf Serge Duvernois fällt. Aufmerksame Zuschauer haben schon vorher die zahlreichen Einblendungen dieser Figur im Fernsehen, die Hinweise auf L.E., wahrgenommen. Nun kommt es zu einem Gespräch zwischen César und dem geheimnisvollen Dritten: „Serge Duvernois: Claro que no estás loco. ¿Pero qué pasaría si te dijera que estás soñando? – César: No. – Serge Duvernois: ¿Porqué no? – César: Mire. Yo sé lo que es real. Y esto es real. – Serge Duvernois: Y tú, ¿cómo lo sabes? Los sueños no se descubren hasta que uno despierta. – César: Lo sé y basta. Los sueños son mucho más simples que todo esto. – Serge Duvernois: No hay ningún sueño simple. Mira esta gente.“ Im Folgenden präsentiert Serge Duvernois die anderen als Traumbilder, die César nach Belieben manipulieren, anordnen, wie Schauspieler führen kann. Als César ihnen bedeutet, zu schweigen, bleiben sie wie bewegungslose Puppen auf einer Bühne zurück. Wir sind in diesem zentralen Moment ganz nah bei César, sehen die anderen durch seine Augen, durch seine Maske. Erneut verdoppelt wird diese Subsequenz, als Antonio ihm wenig später ein Beruhigungsmittel gibt und ihn in Hypnose versetzt – auch dies ist sicher als Anspielung auf Theoreme der Surrealisten zu verstehen, durch solche Praxen das subliminale Ich hervortreten zu lassen. César soll sich daran erinnern, was L.E. bedeutet. Auch hier wird Antonio am Ende sagen: „Ich möchte, dass du aufwachst.“ Später wird César erneut das Gesicht Serge Duvernois’ sehen, diesmal im Fernsehen, wird Antonio bitten, mit ihm zur Life-ExtensionCorporation zu fahren, wo es dann zum surreal anmutenden Showdown 17 Lenk 1983, S. 357. 18 Ebd., S. 364.

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kommt. Das Thema der Kryonisation, des Einfrierens von Menschen zwecks Verlängerung des Lebens, erinnert nicht nur an literarische Utopien des künstlichen Menschen oder der Zeitreise, sondern entspricht auch der traumanalogen Verknüpfung von Tod und Leben. „Der Traum“, so schreibt Uta Felten, „verändert die Wahrnehmung von Raum und Zeit und schafft imaginäre Räume, Heterotopien, Orte ohne Orte, Zwischenbereiche, in denen […] Leben und Tod sich vermischen, überlagern, simultan existieren.“19 Der Schluss wirkt nicht nur irreal, weil er eine bislang nur als Utopie vorhandene Möglichkeit verheißt, sondern auch, weil er dementsprechend inszeniert wird. Zum einen gemahnt das in gleißendes Licht getauchte Schlusstableau an Werbeästhetik, zum anderen setzt es aber auch ein deutliches Signal für die Traumanalogie der Szene. In diesem Theater des Lebens, das den Tod überwinden will, wird ihm sein Traumspiel von der imaginären und schließlich verlorenen Liebe noch einmal anhand der zentralen imágenes seines Traums vergegenwärtigt: Sofía, Antonio, Pelayo. Das Spiel mit Bewusstem und Unbewusstem, Verdecktem und Sichtbarem strukturiert den gesamten Film. Sichtbarkeiten treten nur hervor, um zu betonen, dass darunter eine Schicht des Unsichtbaren liegt. Es geht immer wieder um Verdeckungen: Césars Augen, die hinter einer Sonnenbrille verborgen sind, sein Gesicht, das sich hinter diversen Masken verbirgt, eine Figur, die immer hinter einer anderen zurücktritt. Der Spiegel, der immer wieder an zentralen Stellen des Films ins Bild rückt, fungiert gleichsam auch als Reflektor des Prozesses des Sichtbarmachens. Das zentrale Titelthema der geschlossenen Augen verweist zugleich auf die Ikonographie der Surrealisten, die sich häufig mit geschlossenen Augen darstellten, gleichsam im Trancezustand, um deutlich zu machen, dass das, was sich im Inneren abspielt, genauso wirklich ist wie die äußere Realität.20 Bei Deleuze ist das Spiegelbild virtuell in Bezug auf die gespiegelte Person, zeigt aber selbst auch ein aktuelles Bild, das jedoch die Person im Virtuellen belässt.21 Oliver Fahle schreibt mit Deleuze: „So bedingen die Figuren einander, das Sichtbare verweist immer schon auf ein Verdecktes, das sichtbar werden kann. Anders gesagt: das Aktuelle verweist stets auf das Virtuelle, das seinerseits jederzeit aktualisiert werden kann.“22 19 20 21 22

Felten 1998, S. 138. Vgl. Kranzfelder 1993, S. 109. Deleuze 1991, S. 97. Fahle 2000, S. 150.

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In der Schlusssequenz erfährt César von Serge Duvernois, dass er nunmehr im Jahr 2145 lebe und folglich zwei Möglichkeiten habe: Weiter seinen Traum zu leben oder sich einer Gesichtsoperation zu unterziehen und ein normales Leben zu führen. Interessant ist in dem Zusammenhang, was Michel Foucault über das Träumen gesagt hat: Dass jeder Akt des Imaginierens auf das Träumen verweise, mithin das Träumen nicht eine Modalität der Imagination sei, sondern deren erste Möglichkeitsbedingung.23 Der Schluss nimmt im Dialog Césars mit dem Psychiater Teile des Dialogs vom Anfang wieder auf (Dialog Pelayo – César). Am Schluss, wie am Anfang des Films, sehen wir keine Menschen. Dies deutet bereits darauf hin, dass wir es hier nicht mit einer chronomatisch messbaren Zeit, sondern mit einer traumanalogen inneren Zeitbewegung zu tun haben. Zentral ist das Überlappen der Zeit, von Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, eng verbunden mit dem zentralen Thema der Erinnerung. Wenn wir davon ausgehen, dass Sofía in dem Unfallwagen gesessen hat, so können wir den Film auch als obsessive Erinnerung an eine Frau deuten. Oder als Tagtraum Césars, in dem Sofía all seine Vorstellungen und Wünsche zur idealen Frau in sich vereint, die analog zum Chimärenhaften des Traums verschiedene Erscheinungsformen annehmen kann. Henri Bergson hat den Prozess des Sich-Erinnerns mit einem probierenden „Herumtasten in Regionen der Vergangenheit, ähnlich wie beim Einstellen eines photographischen Apparates“24 verglichen. In einer in diesem Kontext signifikanten Subsequenz, die im Park spielt, fragt César Sofía: „¿No te parece a veces [...] haber vivido ya un momento?“ Sofía antwortet, dies sei auf eine Fehlschaltung des Gehirns zurückzuführen. Signifikant ist, dass dieser Dialogteil überleitet zu einem Interview des Psychiaters. Dieser fragt César, was er träume, woraufhin er antwortet: „Solo recuerdo fragmentos.“ Er berichtet, dass er von einem Ort geträumt habe, an dem er niemals zuvor gewesen sei. Das ganze Geschehen sei surreal gewesen: Ärzte, die ihn in eine Röhre geschoben haben und bei 180 Grad eingefroren haben. Er kommentiert: „en menos de una semana mi vida a dado un giro de 180 grados. Una vez me quedo tirado en el suelo borracho, deseando morirme y la mañana siguiente mis deseos empiezan a cumplirse. Como en las películas. [...] Lo único que puedo hacer es 23 Foucault, Michel: „Einleitung“, in: Ludwig Binswanger: Traum und Existenz, Berlin 1992, S. 78. 24 Bergson, Henri: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Jena 1914, S. 127.

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comer, cagar, dormir y soñar con mis recuerdos.“ Dies ist insofern interessant, als dass dieser Dialog gleichsam auf einer Metaebene die zentralen Themen des Films reflektiert. Zum einen gleicht der Film tatsächlich einem Film, in dem man sehr schnell Räume und Zeiten durchschreiten kann. Die Darstellung der Zeit, das Überlappen von Gegenwart und Vergangenheit ist dem Medium Film selbst inhärent. Zum anderen einem Traum, der dies in ähnlicher Weise ermöglicht, einem Traum, der sich aus Fragmenten der Erinnerung zusammensetzt. Das Konservieren eines bestimmten glücklichen Moments führt zu Störungen und Verzerrungen. Die Konturen der Geliebten verwischen, es schleichen sich Fehler im Erinnerungsbild ein. Die Erinnerung „ist keine abgerundete Sache, die Aufschluss über die Wirklichkeit gibt, sondern sie errichtet flüchtige und nebensächliche Beziehungen, welche die aktuellen Bilder in virtuelle Kreisläufe einspeisen, die sich immer tiefer in die Zeit hineinwinden.“25 Was als Movens hinter diesen Bemerkungen Césars steht, ist aber vor allem die Angst, wahnsinnig geworden zu sein, angesichts der Tatsache, dass sich die einzelnen Realitätsebenen immer stärker überlagern. Gilles Deleuze hat im Anschluss an Bergson solche Fehleinstellungen des photographischen Apparats, des menschlichen Gedächtnisses beschrieben, die die Wahrnehmung für virtuelle Elemente öffne: Lorsqu’on n’arrive pas à se rappeler, le prolongement sensori-moteur reste suspendu, et l’image actuelle, la perception optique présente, ne s’enchaîne ni avec une image motrice, ni même avec une image souvenir qui rétablirait le contact. Elle entre plutôt avec des éléments authentiquement virtuels, sentiments de déjà-vu ou de 26 passé […] images de rêve.

Wenn Oliver Fahle die Inszenierung von Sichtbarkeiten, der bewegten Sichtbarkeit im Sinne des Photogénie des französischen Films der 20er Jahre, der Zeit des Umbruchs vom Stumm- zum Tonfilm in den Blick nimmt, so thematisiert Amenábar gleichsam auf einer Metaebene auch die Problematik der Sichtbarkeit im Medienumbruch analog-digital. Die digitale Bilderzeugung ermöglichte einen völlig neuen Umgang mit dem Filmmaterial, von der Entstehung des Rohmaterials, das nicht mehr nur aus „eingefangener Wirklichkeit“ bestehen muss, über die Nachbearbeitung, bis hin zu neuen Montagemöglichkeiten. Fahle bemerkt zum Ende seiner Untersuchung:

25 Fahle 2000, S. 157. 26 Deleuze, Gilles: Cinéma 2. L’image-temps, Paris 1985, S. 75.

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Vielleicht stellen sich gegenwärtig im sich abzeichnenden Zugriff des Rechners neue Herausforderungen an den Film […]. Indem der Rechner als gigantischer Speicher von Daten nun unzählige Bilderketten zur freien Verfügung stellt (und sie in den Massenmedien auch zirkulieren lässt), kommt dem Film vielleicht die Stellung zu, die Bilder zu neuen Bilderketten zu verweben oder anders gesagt: Ordnungen von Bilderketten zu schaffen, die sich der schnellen 27 Konsumierbarkeit entziehen.

César geht davon aus, Nuria habe sich töten wollen, sein Gesicht und damit gleichsam sein Leben zerstört. Im Verlaufe der Handlung muss er feststellen: Die Frau, die er für das Mädchen seiner Träume, für Sofía hielt ist in ‚Wahrheit‘ Nuria und ist bei dem Autounfall ums Leben gekommen. Nuria wiederum lebt als die von ihm scheinbar ungeliebte Nuria-Sofía. Später wird sich herausstellen, dass wir es hier nicht mit realen, sondern mit onirischen Körpern zu tun haben, die im tabufreien Reich des Traums ihre Lust an der Verwandlung ausleben. Am Ende kommt es dann schließlich zu der bereits geschilderten Gewalt gegen Nuria, Lust und Aggression vermischen sich. Auch hier gilt, was Karl Heinz Bohrer über „Surrealismus und Terror“ schreibt: Surrealistische Bilder terrorisieren so die Einbildungskraft, indem sie den schönen Schrecken hinter einer Maske verbergen, die zu lüften dem gereizten Zuschauer nicht gelingt. Weil hier das Reale nur um Weniges zugedeckt bleibt oder verändert erscheint, wird 28 der Betrachter immer zum Voyeur, der ein Rätsel lösen will.

Wenn César in der finalen Sequenz mehrfach mit einer Waffe auf einen Wachmann schießt – begleitet von den Worten „Quiero despertar“ –, bis dieser blutüberströmt liegenbleibt, nur um dann später ebenso wie alle anderen Menschen aus dieser Realitätsebene zu verschwinden, dann wird das surreale Spiel zum virtuellen Computerspiel, werden surreale Welten zur bloßen computergenerierten Simulation. Der Schluss auf dem Dach, das Auflösen der imágenes, reflektiert gleichsam auf einer Metaebene die Realität von Träumen, bei der sich Stimmen zunehmend verdichten, bis sie sich langsam auflösen. Traum wird hier durchaus in Analogie zu Elisabeth Lenk und Uta Felten als ästhetischer Diskurs begriffen.29 Ästhetische Verfahrensweisen wie Visua27 Fahle 2000, S. 206. 28 Bohrer, Karl Heinz: „Surrealismus und Terror oder die Aporien des JuseMilieu“, in: Peter Bürger (Hrsg.): Surrealismus, Darmstadt 1982, S. 51-66, hier S. 51f. 29 Vgl. Felten 1998, S. 116.

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lität, karnevaleske Inszenierungen, Verwandlungslust und Verrätselung werden in ABRE LOS OJOS immer wieder neu reflektiert. Man könnte demnach konstatieren, dass die Augen in dem Film entgegen dem programmatischen Titel30 immer geschlossenen bleiben, weil wir hier den Traum eines Schläfers miterleben. Und dass dieser den Ort bezeichnet, an dem „la vie et la mort, le réel et l’imaginaire, le passé et le futur, le communicable et l’incommunicable, le haut et le bas“31 im Sinne einer Sur-Realité überlappen. Der Schluss des Films, der das zuvor inszenierte surreale Spiel scheinbar in einer Utopie auflöst, sorgt nicht dafür, dass die zuvor indizierten Möglichkeiten einer immer wieder neu kombinierbaren Überlappung von Realität und Surrealität, Traum und Wirklichkeit, Simulation und Produktion dadurch aufgehoben würden. Wie Andreas Kilb resümierte: „Der Digitalzauber überrumpelt das Auge, indem er den Unterschied zwischen echten und computergenerierten Wesen tilgt; das reality cinema verwischt die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fiktion.“32 Der Schluss dreht das zuvor initiierte Spiel nur noch eine Schraube weiter. Wie es an einer Stelle in Jean Cocteaus Film ORPHÉE (Frankreich 1949) heißt: Tod: Stehen Sie nicht so da! Schlafen Sie etwa? – Orphée: Ich glaube fast. – Tod: Folgen Sie mir, Monsieur. Sie schlafen wirklich, Monsieur. – Orphee: Ja, ich scheine zu schlafen. Geben Sie mir nicht endlich eine Erklärung? – Tod: Nein. Wenn Sie schlafen, wenn Sie träumen, heißen Sie ihre Träume willkommen. Das ist die Rolle des Träumers. – Orphée: Ich habe ein Recht auf eine Erklärung. – Tod: Sie haben alle Rechte und ich habe alle Rechte. Wir sind uns nichts schuldig.

Der Film kann von neuem beginnen: „Abre los ojos“.

30 Der Titel ist demnach durchaus in einem der surrealen Ästhetik verpflichteten ludischen Prinzip zu verstehen. Vgl. Schuh, Hans-Manfred: „Surrealistische Literaturtheorie und moderne Erzählpoetik“, in: Marie-Christine Barillaud/Elisabeth Lange (Hrsg.): Spuren – Entwürfe: Akten des deutschfranzösischen Surrealismus-Kolloquiums in Bonn, Essen 1991, S. 13-34, hier S. 26. 31 Breton, André: Manifestes du surréalisme, Paris 1995, S. 72f. 32 Kilb, Andreas: „Echt im Wald. ‚the blair witch project’ und andere KinoPurismen“, in: Die Zeit, Nr. 34 (1999).

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EL AMANTE MENGUANTE. SURREALITÄT UND INTERMEDIALITÄT IN PEDRO ALMODÓVARS HABLE CON ELLA Para Isa Von Krisen zu erzählen ist viel interessanter, wenn es um Frauen geht, die keine Heranwachsenden mehr sind; sie stehen dem Leben bewusster gegenüber, das macht alles intensiver. Es ist ärgerlich zu sehen, wie im amerikanischen Kino Frauenfiguren gänzlich verschwinden. (Pedro Almodóvar)

Der spanische Filmemacher Pedro Almodóvar, der bekanntlich lange Zeit als das enfant terrible des spanischen Kinos galt, hat sich im Laufe seiner Karriere die Reputation des ‚Frauenfilmers‘ erarbeitet. Das nicht zuletzt durch TODO SOBRE MI MADRE (ALLES ÜBER MEINE MUTTER, 1999), in dem uns Almodóvar eine theatrale Welt vorführt, in der eine Reihe von sowohl wahren als auch falschen Frauen sich in nahezu konspirativer Weise gegen sowohl ‚wahre‘ als auch ‚falsche‘ Männer verbünden. Gleichgültig ob wahr oder falsch, worauf es Almodóvar in seinen Filmen anzukommen scheint, ist die Darstellung starker Frauen; er tut dies vor allem, indem er die hegemonialen Geschlechtergrenzen nahezu durchgängig in seinem Werk in Frage stellt1 und seine starken Frauen nicht selten mit genuin männlich konnotierten Eigenschaften ausstaffiert. Umso verwunderlicher mutet es daher an, dass Almodóvar in seinem jüngsten Werk HABLE CON ELLA (SPRICH MIT IHR, 2002) gleich 1 Vgl. zur genderspezifischen Analyse des almodóvarschen Kinos vor allem: Maurer Queipo, Isabel: Intermediale, interkulturelle und genderspezifische Untersuchungen zum Werk Pedro Almodóvars, (Manuskript der Dissertation) Siegen 2003.

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beide seiner Protagonistinnen ins Koma schickt, jenen pathologischen Schwebe-Zustand im unheimlichen Limbus von Schlaf und Traum, irgendwo zwischen Leben und Tod. Die beiden Frauen, Alicia und Lydia, werden somit, so scheint es zumindest, über weite Strecken des Films als Inbegriffe weiblicher Passivität und insofern als übersteigerte normkonforme Konstrukte abendländischer Weiblichkeit dargestellt. Folglich müsste man die beiden Frauen im nachgerade topischen Sinne als erotische Projektionsflächen ihrer männlichen Liebhaber auffassen, deren begehrliche Phantasmen sich wiederum im Rahmen dieses Schauspiels unmöglicher Liebschaften in die Körper ihrer komatösen Geliebten einschreiben. So könnte man durchaus die Geschichten lesen, die Almodóvar in seinem Film auf raffinierte Weise miteinander verstrickt. Doch damit wäre dem gesamten narrativen Netzwerk nur äußerst unzureichend Rechnung getragen. Die beiden Hauptaspekte, die mir im Hinblick auf Almodóvars filmische Poetik in HABLE CON ELLA am sinnfälligsten erscheinen, sind zum einen die intermediale Spielfreude, die in gewisser Weise allen Filmen Almodóvars zueigen ist,2 und zum anderen die dadurch evozierte Surrealisierung der Narration. Denn nur durch die collagenhaften, intermedialen Spielformen innerhalb seiner mise-en-scène, so meine These, lässt sich von einer filmischen Surrealisierung des Plots in HABLE CON ELLA überhaupt erst reden.

1. HABLE CON ELLA weist eine äußerst komplexe narrative Struktur auf: Die Geschichte wird durchsetzt mit Flashbacks, blancs sowie intermedialen Anleihen aus (Tanz-)Theater, Literatur und (Stumm-)Film und verweigert sich somit jeglicher Linearität. Der Anfang des Films setzt dort an, wo Almodóvars letztes Werk TODO SOBRE MI MADRE aufhörte, nämlich im Theater. Derselbe Vorhang hebt sich zu Beginn von SPRICH MIT IHR, auf dem am Ende von ALLES ÜBER MEINE MUTTER die paratextuelle Widmung des Regisseurs geschrieben stand, die so stark an ein Epigraph erinnerte. Hinter dem Vorhang in HABLE CON ELLA erwartet den Zuschauer ein Ausschnitt aus dem Stück Café Müller von und mit Pina Bausch. Die Sequenz zeigt zwei schlafwandelnde Frauen, die über die Bühne taumeln und einen verzweifelten Mann, der ihnen hektisch Stühle und Tische aus dem Weg räumt. Dann folgt ein Schnitt auf die Großauf-

2 Vgl. ebd.

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nahme zweier Zuschauer: Zwei Männer, die nebeneinander sitzen, von denen der eine voller Ergriffenheit weint (Abb. 1). Abbildung 1: Screenshot aus HABLE CON ELLA

Es wird zunächst nicht deutlich, ob die beiden Männer zusammen im Theater sitzen oder ob die Macht des Zufalls sie nebeneinander sitzen lässt. Feststeht, dass in jener theatralischen Anfangssequenz en miniature bereits die großen Themen des Films präfiguriert sind. Die beiden Schlafwandlerinnen, deren expressive Gesten so stark an die photographierten, unter Hypnose stehenden Patientinnen aus Jean-Martin Charcots Laboratorium der Hysterie erinnern,3 antizipieren auf intermediale Weise das Schicksal der beiden Protagonistinnen des Films. Deren nicht (be)greifbarer Hybridzustand in den unergründlichen Sphären des menschlichen Unbewusstseins überflutet ihre Umwelt mit unheimlichen Zeichen, die im Grunde vom Rezipienten nicht dechiffriert werden können. Die einzige unmittelbare Reaktion, die durch jenen Zustand augenscheinlicher Ohnmacht hervorgerufen und in dieser Sequenz vorgeführt wird, ist das Gefühl, helfen zu müssen. Der Mann, der den beiden Frauen alle Hindernisse aus ihrem Weg räumt, wird in der nächsten Szene durch den Krankenpfleger Benigno (Javier Cámara) ersetzt, der einer der beiden Zuschauer war und der sich um die Komapatientin Alicia kümmert. Infolgedessen erhält die Vorgeschichte aus Pina Bauschs Tanztheater, die uns Almodóvar zu Beginn seines Films präsentiert, die Bedeutung einer alles bestimmenden Schicksalschoreographie. Der Zustand des Schlafens und die Ästhetik des Traums werden durch das Zitat Pina Bauschs gleich zu Beginn ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt. Alicia (Leonor Watling) war vor ihrem schweren Autounfall, der für ihren Zustand verantwortlich ist, eine vielversprechende Ballerina. Zum Zeitpunkt der Erzählung liegt dieser Unfall bereits vier Jahre zu3 Vgl. dazu Didi-Hubermann, Georges: Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot, München 1997.

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rück, d.h. Alicia befindet sich seit vier Jahren im Koma; der Name ‚Alicia‘ dürfte hierbei auf ihren langjährigen Aufenthalt im Wunderland des Unterbewusstseins rekurrieren. Ein Flashback erzählt die Geschichte des coup de foudre, dem Benigno augenblicklich erliegt und sich sofort in Alicia verliebt. Er wohnt in der Wohnung gegenüber der Tanzschule, in der Alicia unter der strengen, aber gleichwohl liebevollen Hand von Katerina (Geraldine Chaplin) jeden Tag ihre Tanzstunden nimmt. Durch ein verlorenes Portemonnaie kommt es zur einzigen bewussten Begegnung der beiden. Benigno erfährt in ihrem einzigen kurzen Gespräch, dass der Tanz und das Anschauen alter Stummfilme Alicias größte Leidenschaften sind. Nachdem Benigno über seine Geliebte detektivische Nachforschungen anstellt und sich sogar unter einem fadenscheinigen Vorwand Zugang zu ihrer Wohnung verschafft, erfährt er nur wenige Tage später von dem tragischen Autounfall. Schließlich landet er als Krankenpfleger an ihrem Bett. In ihrer unmittelbaren Nähe, und hier erst nimmt die eigentliche, unheilvolle Liebesgeschichte zwischen den beiden ihren Lauf. Nachdem Benigno bisher sein ganzes Leben lang im Dienste seiner Mutter stand, d.h. sie aufopferungsvoll gepflegt hat,4 geht seine Lebensaufgabe praktisch von einer geliebten Frau zur nächsten über, nämlich zu Alicia. Im Mittelpunkt seiner Pflege steht neben den herkömmlichen, beruflichen Verpflichtungen wie Körperpflege, Dokumentation und Medikation vor allem das Reden mit seiner geliebten Patientin. Seit Alicia sich in seiner Obhut befindet, lebt Benigno nur noch, um seiner schlafenden Geliebten davon zu erzählen. Er lebt dabei praktisch das abgebrochene Leben weiter, das sie bis zu ihrem Unfall geführt hatte, d.h. er besucht Ballett-Aufführungen, er geht in die Kinemathek, um sich alte Stummfilme anzuschauen, aber er tut dies nur, um es anschließend Alicia zu erzählen oder mit den Worten von García Márquez: „Nicht was wir gelebt haben, ist das Leben, sondern das, was wir erinnern und wie wir es erinnern, um davon zu erzählen.“5 Genauso wie Márquez’ Autobiographie ist auch HABLE CON ELLA in gewissem Sinne ein Loblied an die Kunst des mündlichen Erzählens und gliedert den Film geradezu in das narrative Erbe der Geschichten aus Tausendundeiner Nacht ein, in denen gleichermaßen das Erzählen von Geschichten als lebenserhaltendes Mittel fungiert. Die Erzählungen Benignos, die ganz im Dienste seiner

4 Den Tod von Benignos Mutter, die im Film niemals zu sehen ist, sondern lediglich zu hören, evoziert Almodóvar in Form einer kurzen Schwarzblende, der filmischen Variante des blanc. Nach jener Blende ist die Stimme der Mutter verstummt und Benigno zunächst allein. 5 García Márquez, Gabriel: Leben, um davon zu erzählen, Köln 2002, S. 7.

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Geliebten stehen und seinen skurrilen Charakter anfänglich so anrührend erscheinen lassen, sind freilich als Ausdruck seines Liebesbegehrens, als Liebescode zu verstehen, denn wie Robert Musil konstatierte, ist die „Liebe [...] das gesprächigste aller Gefühle und besteht zum großen Teil ganz aus Gesprächigkeit.“6 Von einer ‚Liebes‘-Beziehung im klassischen Sinne lässt sich hier freilich nur unter größten Vorbehalten reden, da es sich im Fall von Benigno und Alicia um eine äußerst einseitige und vollkommen unerwiderte Leidenschaft handelt. Anders gesagt, es handelt sich um eine im Sinne Luhmanns gesteigerte Form der asymmetrischen Liebeskommunikation. In Liebe als Passion lautet es in Bezug auf jene postulierte Asymmetrie: Der Liebende, der idiosynkratisch Selektionen bestätigen soll, muß handeln, weil er sich mit einer Wahl konfrontiert sieht; der Geliebte hatte dagegen nur erlebt und Identifikation mit seinem Erleben erwartet. Der eine muß sich engagieren, der andere [...] hatte 7 nur projektiert.

Dieses Alter-Ego-Modell, das uns Luhmann in seinem grundlegenden Werk „zur Codierung von Intimität“ vorschlägt, findet sich nun bei Almodóvar in einer höchst extremen Ausprägung wieder: Zwar handelt der Liebende entsprechend seines Liebesbegehrens, doch kann auf der Seite der geliebten Frau keineswegs von irgendeinem Erleben die Rede sein, da ihre Sinne angesichts ihres Zustands blockiert, ja verschlüsselt sind. Folglich erscheint die Liebe in HABLE CON ELLA nicht mehr als „symbolisch generalisiertes Kommunikationsmedium“8, sondern vielmehr als Inbegriff von „Inkommunikation“, wie es Almodóvar selbst ausdrückt. Diese Art der Decodierung von Intimität ist indes nicht neu – wir kennen diese extrem gesteigerte Form des buchstäblich ego-zentrischen Liebesentwurfs bereits aus der französischen Literatur des 20. Jahrhundert, namentlich von Marcel Proust. Auch bei Proust ist die zwischenmenschliche Liebe im Grunde nichts als eine „One-Man-Show“9, wie es Roland Barthes einst formulierte, d.h. das geliebte Objekt – Objekt hier im besten Sinne des Wortes – wird solcherart zum imaginären, idealisierten

6 Vgl. das Kapitel „Gespräche über Liebe“, in: Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften, Reinbek bei Hamburg 1968, S. 1130. 7 Luhmann, Niklas: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität, Frankfurt a.M. 1999, S. 26. 8 Ebd., S. 21. 9 Göttler, Fritz: „Vom Philosophieren in den Propyläen. Play it again, Roland Barthes: Ein Streifzug durch internationale Journale“, in: Süddeutsche Zeitung, 27.03.2000. (Für diesen Hinweis danke ich Uta Felten.)

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Phantasma des Subjekts, gewissermaßen zu seiner ‚inneren Puppe‘. Dass auch Alicia im Leben von Benigno jene Rolle der idealen und objekthaften Geliebten zukommt, zeigt sich spätestens in seinem verzagten Wunsch, Alicia trotz ihres Zustands (oder womöglich gerade deswegen) zu heiraten. Diejenige Stelle aus Prousts Recherche, die man sozusagen als Prätext von Almodóvars Darstellung der Liebe in HABLE CON ELLA lesen kann, ist eine prominente Sequenz aus dem fünften Band La Prisonnière, in der der Erzähler Marcel, der seine Geliebte Albertine aufgrund seiner paranoischen Eifersucht zu seiner eigenen ‚Gefangenen‘ gemacht hat, einen Moment höchsten Liebesglücks erlebt, als er seine Freundin im Schlaf beobachtet. Im Zustand des Schlafens nämlich kann sich Albertine, die er selbst bekanntlich als „être de fuite“ imaginiert, ihm nicht durch vermeintliche Lügen, unkeusche Gedanken oder gar homoerotische Begierden entgleiten. Diese Szene, in der Proust seine zugrunde liegende Konzeption des subjektzentrierten Liebesdiskurses auf die Spitze treibt, wurde in Form eines Prosagedichts siebzehn Tage vor dem Tod des Autors in der Nouvelle Revue française unter dem vielsagenden Titel „La regarder dormir“ vorabgedruckt.10 In jener Szene wird Albertine, deren Geist ähnlich dem Alicias in einem außersinnlichen Ruhezustand weilt, von Marcel auf ihre „pure und greifbare Körperlichkeit reduziert“11, was letztlich das Begehren des Liebenden als ein autoreferentielles entlarvt, das sich zwar am geliebten Objekt realisiert, ohne aber „auf seine [tatsächliche, G.S.] Präsenz angewiesen zu sein.“12 Es handelt sich demnach streng genommen um ein skopophiles Begehren, „das sich solipsistisch im Kopf des Voyeurs abspielt.“13 Der Seh-Sinn jedoch, der in der früheren Kulturgeschichte immer wieder mit der intellektuellen Erkenntnis in Verbindung gebracht wird, arbeitet sich indes am Objekt der Begierde ab, ohne jemals eine Einsicht über die Geliebte zutage zu fördern. In beiden Fällen, sowohl bei Proust als auch bei Almodóvar, kann der Seh-Sinn nichts als verkennende, im Grunde genommen autoerotisch

10 Vgl. dazu Hülk, Walburga: „Verschlüsselte Sinne. Voyeurismus und Eifersucht in La Princesse de Clèves und La Prisonnière“, in: RZLG, Nr. 19 (1995), S. 334-350, hier S. 343. 11 Ebd., S. 345. 12 Vgl. dazu Felten, Uta: „Erdbeereis und Knieberührung. Zur Aktualisierung des proustschen Liebesthesaurus bei Eric Rohmer“, in: Friedrich Balke/Volker Roloff (Hrsg.): Erotische Recherchen. Zur Decodierung von Intimität bei Marcel Proust, München 2003, S. 175-183, hier S. 183. 13 Hülk 1995, S. 346.

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motivierte Projektionen seiner selbst in der Geliebten entdecken, da ihre Sinne schließlich – wie bereits gesagt – verschlüsselt sind. Diesen Prozess der subjektzentrierten Liebe bei Proust bezeichnet Uta Felten zurecht als „autoerotische Ästhetik“14; im Falle von Almodóvar kommt noch hinzu, dass das Begehren des selbstverliebten Voyeurs zu einer unendlichen Folge von Erzählungen bzw. Geschichten führt, also als Stimulus seiner „poetischen Kreativität“15 fungiert und somit als générateur einer autoerotischen Poetik, die sich letztlich in einer „solitären Sprache der Liebe“16 realisiert. Benigno aber ist nicht nur Erzähler und Betrachter, sondern zudem Abtaster seiner Geliebten. In unzähligen Szenen wird der Zuschauer Zeuge von ritualisierten Handlungsabläufen, die vordergründig den beruflichen Ablauf eines Krankenpflegers widerspiegeln: Benigno massiert, wäscht, schminkt den leblosen Körper nahezu ohne Unterlass, doch er tut das mit inbrünstiger Hingabe, nahezu obsessionell. Als ob er sich permanent der körperlichen Wärme Alicias, also dem letzten Funken organischen Lebens, der noch in ihr wohnt, versichern möchte, kreisen seine Hände wie die eines Bildhauers über die körperliche Oberfläche seiner Geliebten. An dieser Stelle verlässt Almodóvar den proustschen Liebesparcours, ist doch die Liebe bei Proust ein eher körperfernes Konstrukt autoerotischer Imagination, wie es Walter Benjamin bereits sehr früh in dieser Deutlichkeit erkannt hat: „die Berührung. Diese Geste ist keinem fremder als Proust.“17 Die im besten Sinne modellierenden Hände Benignos aktualisieren hingegen Mytheme und Theoreme lebensstiftender Berührungen des vor Liebe blinden Liebhabers, wie wir es im Pygmalion-Mythos vorfinden (Abb. 2).

14 15 16 17

Felten 2003, S. 183. Ebd. Hülk 1995, S. 347. Benjamin, Walter: „Zum Bilde Prousts“, in: ders.: Medienästhetische Schriften, Frankfurt a.M. 2002, S. 9-21, hier S. 18.

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Abbildung 2: Screenshot aus HABLE CON ELLA

2. Vordergründig scheint es bei Almodóvar die Sprache zu sein, d.h. Benignos Erzählungen, die Alicia am Leben erhalten. Dieses Vorhaben wird deutlich in einer Szene, der auch der Film seinen Titel verdankt, in der Benigno seinen neuen Freund Marco dazu ermuntert, mit seiner Geliebten Lydia zu reden, die ebenfalls aufgrund eines tragischen Unfalls beim Stierkampf im Koma liegt. Marco ist im Film das rationale Gegenstück von Benigno, voller Skepsis und Ängste. Er schafft es nicht, mit seiner Geliebten zu reden, ja nicht einmal sie zu berühren. Benigno aber erläutert seinem neuen Freund gegenüber die (Lebens-)Wichtigkeit gerade jener beiden Kommunikationsformen: Reden Sie mit ihr! Erzählen Sie ihr alles! [...] Das weibliche Gehirn ist ein Mysterium, erst recht in diesem Zustand. Man muss den Frauen Aufmerksamkeit schenken, mit ihnen reden und sie auch 18 mal streicheln; man muss ihnen zeigen, dass sie leben.

Die scheinbar pflegerischen Aufgaben des Redens und des Streichelns werden in Benignos Monolog über das Wesen der Frau als Inbegriffe des zwischenmenschlichen Lebens schlechthin dargestellt. Der Film jedoch, der seinen Zuschauern die Inkommunikation zwischen den allesamt einsamen Menschen vorführt, die gewissermaßen ihre Worte als Waffe gegen die Einsamkeit einsetzen, zeigt dergestalt gleichermaßen die natürlichen Grenzen der Sprache als Medium der Kommunikation auf, die schon Diderot in seiner Lettre sur les aveugles erkannt hatte.19 Benigno 18 Zitat aus SPRICH MIT IHR, der deutschen Version von HABLE CON ELLA, DVD 2003. 19 Diderot, Denis: Lettre sur les aveugles à l’usage de ceux qui voient, Paris 1999. Der Skeptiker Diderot, der seinen „Brief über die Blinden“ aufgrund angeblicher Blasphemie mit Gefängnisstrafe bezahlen musste, schätzt den Tastsinn („voir par la peau“) bezeichnenderweise lebendiger ein als den

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schafft es zwar zunächst, seine Geliebte durch seine Geschichten und Pflege am Leben zu halten, doch sie bleibt in diesem Grenzzustand menschlicher Existenz, d.h. Alicia bleibt sozusagen die Geliebte im Standby-Modus. Die Sprache allein vermag es demnach nicht, sie wieder vollständig dem Leben zurückzuführen, was vermutlich auch nicht Benignos Ansinnen sein dürfte, da eine wache Alicia ohne Zweifel nicht in Kongruenz zu Benignos imaginären Phantasmen steht. Es ist indessen eine überaus pikante Berührung, ein wundersames Skandalon, das Alicia nach vier Jahren wieder aus dem Koma erwachen lässt: Benigno vergewaltigt Alicia im Schlaf, woraufhin sie schwanger wird, ihr Kind jedoch verliert, aber dennoch durch die Fehlgeburt wieder zum Leben erweckt wird. Das Motiv, dass eine Frau im Schlaf oder in der Ohnmacht unwissend empfängt, ist durchaus verbreitet in der Weltliteratur. Wir finden es beispielsweise bei Montaigne in seinem „Essay über die Trunksucht“ („De l’Yvrognerie“, 1588), in der eine Bauersfrau im Alkoholrausch von einem ihrer Knechte geschwängert wird, ohne dass dieser es ihr zunächst kundgetan hätte. Das prominenteste Beispiel jedoch ist zweifelsohne Heinrich von Kleists Erzählung über Die Marquise von O... (1808), jene halluzinatorische Geschichte voller Ohnmächte, Raserei und unerhörter Leidenschaften. Die Erzählung beginnt bekanntlich mit folgendem kuriosen Satz: In M..., einer bedeutenden Stadt im oberen Italien, ließ die verwitwete Marquise von O..., eine Dame von vortrefflichem Ruf, und Mutter von mehreren wohlerzogenen Kindern, durch die Zeitungen bekannt machen: daß sie, ohne ihr Wissen, in andre Umstände gekommen sei, daß der Vater zu dem Kinde, das sie gebären würde, sich melden solle; und daß sie, aus Familienrücksichten, entschlos20 sen wäre, ihn zu heiraten.

Kleist beginnt seine Erzählung in medias res, mit einem ungewöhnlichen Paukenschlag gleich am Anfang, bevor er in Form einer Retrospektive die Vorgeschichte jener ‚andren Umstände‘ erzählt. Die Vergewaltigung durch den Grafen F... wird auf mehrfache Weise beschrieben bzw. nicht beschrieben: Zum einen durch ein leitmotivisches, ironisches Spiel mit

Sehsinn: „Je ne doute pas même que le sentiment qu’ils [les aveugles] éprouvent à toucher les statues ne fût beaucoup plus vif que celui que nous avons à les voir.“ (Ebd., S. 72) 20 Kleist, Heinrich von: „Die Marquise von O...“, in: ders.: Werke in einem Band. Helmut Sembdner (Hrsg.), München/Wien 1999, S. 658-687, hier S. 658.

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der Doppeldeutigkeit des Wortes ‚Umstand‘, wodurch Kleist der moralischen Problematik jenes skandalösen viol einiges an Schärfe nimmt.21 Somit werden in gewisser Weise die ‚andren Umstände‘ zum Resultat jener anderen Szene, die Kleist mit einem vielsagenden Bindestrich beschreibt („Hier – “22), mit dem zweifellos phallischsten aller Satzzeichen oder aber dem „degré zéro des sprachlichen Zeichens.“23 Der rätselhafte Ursprung der anderen Umstände wird dergestalt in Form eines unsagbaren blanc erzählt. Auch bei Almodóvar wird der Zuschauer keineswegs zum unmittelbaren Zeugen von Alicias Vergewaltigung durch Benigno; auch in HABLE CON ELLA findet eine Verlagerung der eigentlichen Szene in einen ‚anderen Schauplatz‘ statt, nämlich in die traumanaloge Sequenz eines Stummfilms. Wie anfangs bei Pina Bausch wird auch hier das intermediale Spiel Almodóvars zur Illustration traumanaloger Ästhetik und somit zum Zwecke einer augenfälligen Surrrealisierung skandalöser Geschehnisse eingesetzt. Der eigentliche Akt der Vergewaltigung findet demnach verborgen vor den Augen des Zuschauers statt, was freilich die Obszönität der gesamten Sequenz erhöht. Der intermediale Kunstgriff, dessen sich Almodóvar hierbei bedient, wird zunächst noch auf eher harmlose Weise eröffnet: Benigno, der durch sein Weiterführen von Alicias Leben einmal mehr in der Kinemathek war, um sich dort einen alten Stummfilm anzuschauen, erzählt wie gewöhnlich anschließend seiner Geliebten davon. Dieses Mal war es ein Film, der offenkundig einen starken Eindruck bei ihm hinterlassen hat, was an der merkwürdigen Veränderung in Benignos Mimik abzulesen ist. Es handelt sich dabei um einen Film mit dem Titel „El amante menguante“ („Der schrumpfende Liebhaber“), der während Benignos Erzählung tatsächlich vor den Augen des Zuschauers ablaufen wird. Jener von Almodóvar selbst inszenierte Film erinnert im Kern an den Film THE INCREDIBLE SHRINKING MAN von Jack Arnold aus dem Jahr 1957. Allerdings wandelt Almodóvar die 21 Nicht weniger als dreizehn (!) Mal tauchen die „Umstände“ in Kleists kurzer Erzählung auf: „andre Umstände“ (Kleist 1999, S. 658), „unter diesen Umständen“ (ebd., S. 661), „den näheren Umständen dieses Vorfalls (ebd., S. 661), „in gesegneten Leibesumständen“ (ebd., S. 662), „unter anderen Umständen“ (ebd., S. 663), „Obschon die Umstände so außerordentlich sind“ (ebd., S. 671), „in gesegneten Leibesumständen“ (ebd., S. 672), „unter den obwaltenden Umständen“ (ebd., S. 673), „es möchten fremde Umstände eintreten“ (ebd., S. 675), „unter solchen Umständen“ (S. 676), „unter so unerhörten Umständen“ (ebd., S. 681), „ein Umstand“ (ebd., S. 684). 22 Ebd., S. 659. 23 Hülk, Walburga: „Hysterisches Theater. Zur Marquise von O... Heinrich von Kleists und Eric Rohmers“, in: Volker Roloff/Scarlett Winter (Hrsg.): Theater und Kino in der Zeit der Nouvelle Vague, Tübingen 2000, S. 75-89.

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Handlung in dem Maße ab, dass der Zuschauer eine Vorstellung davon erhält, was sich in Wirklichkeit während Benignos Erzählung abspielt. Die Handlung von „El amante menguante“ ist schnell erzählt, da der Zuschauer lediglich die erste und die bedeutende letzte Szene jenes fiktionalen Stummfilms zu sehen bekommt.24 Die junge Naturwissenschaftlerin Amparo entwickelt eine infernalische Tinktur, die bei ihrem Konsumenten einen unwiderrufbaren Schrumpfungsprozess in Gang setzt. Ihr Liebhaber Alfredo erklärt sich als Testperson bereit, woraufhin er zum ‚schrumpfenden Liebhaber’ wird. Am Ende des Films treffen sich die beiden nach langjähriger Trennung wieder, als Alfredo schließlich noch die Größe eines Däumlings hat. Beide gehen ins Bett, und während Amparo schläft, wandelt der geschrumpfte Liebhaber auf deren nacktem Körper wie ein Promeneur entlang. Zum Schluss zieht er sich aus und verschwindet in der überlebensgroßen Vulva der Frau, während ihr ein lustvolles Seufzen entweicht. Ende des Films (Abb. 3-4). Was bei Kleist noch als gleichsam verlorene wie „rätselhafte Ur-Szene des Begehrens“25 am Anfang seiner Erzählung fungiert, stellt bei Almodóvar in Form einer filmischen Deckerinnerung den Wendepunkt des gesamten Films dar. Abbildungen 3 und 4: Screenshots aus HABLE CON ELLA

Jene symbolisch-metaphorische Stummfilmsequenz birgt in sich ausreichend Potential für zahlreiche Interpretationsmuster, angefangen von der Psychoanalyse bis hin zur Intermedialität. In Anlehnung an die PhallusKonzeption Jacques Lacans ließe sich beispielsweise augenzwinkernd resümieren, dass Almodóvar Lacans Modell, welches bekanntermaßen postuliert, dass der Mann den Phallus hat, während die Frau der Phallus

24 Almodóvar informiert im Audiokommentar, dass er in Wirklichkeit einen kompletten Stummfilm gedreht hat, in dem auch der Mittelbau des Plots erzählt wird. 25 Hülk 2000, S. 89.

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ist, einer buchstäblichen Inversion unterzogen hat.26 Entscheidend ist auch hier die Darstellung der Frau, die ebenso buchstäblich und folglich ironisch-subversiv den Topos der Frau als Natur/Landschaft in Szene setzt, der uns bereits in Prousts Episode der „Albertine endormie“ begegnet ist. Der spazierende Liebhaber lustwandelt auf der körperlichen Oberfläche seiner Geliebten, im Hintergrund hängt ein leuchtender Spiegel an der Wand, der im Rahmen dieses Tableaus eher an den scheinenden Vollmond erinnert (Abb. 3). Der Frauenkörper wird in dieser Szene durch den gewählten Bildausschnitt fragmentiert, indem vor allem Amparos Kopf durch die Kameraeinstellung geradezu guillotiniert wird. Diese kameratechnische Ausblendung ihres Kopfes – und somit letztlich ihres Geistes – erinnert an die Einstellungen Alicias in vielen Szenen, in denen die Kameraeinstellung aus der Vogelperspektive ihren Körper ähnlich fragmentarisch darstellt. Die Frauendarstellung evoziert so geartet skulpturale Assoziationen, die an die Überreste antiker griechischer Figuren erinnern – ähnliche Motive finden wir in zahlreichen Gemälden von René Magritte. Die Perfektion der weiblichen Formen, die unbestritten sowohl Alicias als auch Amparos Körper kennzeichnen, verstärkt jene Assoziation. Es erübrigt sich von daher zu sagen, dass Amparo als intermediales Alter Ego Alicias zu verstehen ist, während sich Benigno gleich zu Beginn seiner Erzählung expressis verbis mit Alfredo identifiziert. Die thematische Überlagerung, d.h. der intermediale Dialog zwischen beiden Ebenen, der den Akt der Penetration auf spielerische Weise inszeniert, substituiert und ästhetiziert, führt einen Alfredo vor, der am Ende seines Lebens zu seinem Ursprung zurückkehrt (Abb. 4). Die Anspielung auf das Gemälde L’origine zu monde von Gustave Courbet ist in jener Szene unübersehbar (Abb. 5) ebenso wie auf den Mythos der bedrohlichen Vagina dentata.

26 Vgl. Lacan, Jacques: „La signification du phallus“, in: ders.: Ecrits, Paris 1966, S. 685-695.

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Abbildung 5: Gustave Courbet: L’origine du monde (1866)

Was jedoch mit Benigno in jener obszönen Szene passiert, entlarvt ihn nach seiner identifikatorischen Lektüre des Stummfilms einmal mehr als unheilvollen Nachfolger Pygmalions. Nachdem er Alicia in unzähligen Szenen geschminkt, frisiert, massiert, angekleidet hat und sie dergestalt in sein eigenes Kunstwerk bzw. seine Puppe transformiert hat, findet durch die Penetration selbst ein Akt der Signierung statt. Durch die aufgezwungene Empfängnis lässt Benigno nicht nur seine körperlichen Spuren in Alicia zurück, sondern setzt in Form einer zirkulären, sich wiederholenden Struktur die Handlung an jenem Ort wieder in Gang, an dem sie in „El amante menguante“ zum vorläufigen Abschluss gebracht wurde: Am symbolischen Ursprung der Welt. Gleichzeitig inauguriert jener nekrophile Geschlechtsakt eine Dynamik, die die Pole Leben und Tod spiegelbildlich verkehrt. Benigno landet nach der Offenlegung seines Verbrechens im Gefängnis, wo er sich aufgrund seiner Trennung von Alicia mit Schlaftabletten das Leben nimmt. Alicia hingegen wird durch die Fehlgeburt aus ihrem Dornröschenschlaf geweckt. Ich versage mir an dieser Stelle jegliche moralische Bewertung dieser Vergewaltigung, die ja immerhin durch das Wiedererwachen Alicias nahezu legitimiert wird. Misogynie und Kunstfertigkeit des Regisseurs liegen in diesem Fall nur einen Fingerbreit auseinander – jene prekäre Gratwanderung erweist sich insgesamt als gelungen, obwohl in der Kritik immer wieder vereinzelte misogyne Vorwürfe laut wurden. Schließlich geht es Almodóvar nicht primär um das Thema eines Krankenpflegers, der sich an seiner Schutzbefohlenen vergreift, sondern es handelt sich bei HABLE CON ELLA vielmehr um ein komplett durchgedachtes Konstrukt, in dem Benigno weniger Täter, Retter oder Opfer ist als Teil eines künstlerischen Netzwerks. Das zweite Paar des Films – Marco und Lydia – dient vor allem auf formaler Ebene der symmetrischen Struktur des Films. Im Grunde genommen entpuppen sich deren Darstellungen in beiden Fällen als Kon-

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trapunkte zu Alicia und Benigno. Wie ich bereits angedeutet habe, ist Marco in vielerlei Hinsicht das rationale Gegenstück von Benigno. Während Benigno immer mehr dem Wahnsinn anheim fällt, in den ihn sein buchstäblicher amour fou zu Alicia getrieben hat, ist Marco der Skeptiker, der Ernüchterte, der durch seine ständige körperliche Bewegung den emotionalen Stillstand in seinem Leben zu kompensieren sucht. Benigno hingegen ist trotz seiner Leidenschaft immer die Ruhe selbst. Zu einem Zeitpunkt, als Benigno bereits im Gefängnis sitzt, entsteht jedoch der Eindruck, als ob ihre beiden Wesen miteinander verschmelzen. Marco zieht in Benignos Wohnung, fängt an, die Tanzschule gegenüber zu beobachten (wo er auch schließlich die lebende Alicia wiedersieht) und beginnt, den Ratschlag von Benigno umzusetzen, wenn Marco schließlich an dessen Grab steht und beginnt, mit Benigno zu reden. Es gibt kurz vor Benignos Freitod eine Einstellung der beiden im Gefängnis, die jenen Prozess der Verschmelzung von Alter und Ego visualisiert. Abbildung 6: Screenshot aus HABLE CON ELLA

Die beiden Freunde treffen sich nach langer Zeit im Gefängnis wieder und reden miteinander. Die Glasscheibe, welche die beiden trennt, fungiert in jener Einstellung als Spiegel und lässt beide Gesichter in der Projektion miteinander verschmelzen (Abb. 6). Es ist ebenso im Gefängnis, wo Benigno kurz vor dem Ende des Gesprächs zu weinen beginnt – eine Geste, die bislang im Film in zahlreichen Szenen lediglich Marco vorbehalten war. Was in der Liebe offensichtlich nicht möglich war, geschieht am Ende zumindest in der Freundschaft: Alter und Ego vereinigen sich für einen flüchtigen Augenblick in einem Spiegelbild, das gleichermaßen Nähe und Distanz auszudrücken vermag; aus zwei Männern wird einer. Auch die beiden Frauen sind zunächst so unterschiedlich, wie es extremer kaum sein kann: Während Alicia durchgängig als die reine, unnahbare Schönheit in Szene gesetzt wird, deren Berufung als Ballerina dem weiblichen Klischee noch sein übriges hinzufügt, ist Lydia die

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scheinbar starke Frau, die sich nicht scheut, in ihrem Männerberuf als Torera sechs Stieren gleichzeitig die Stirn zu bieten, was ihr jedoch zum Verhängnis wird. In den Komaeinstellungen wird Alicia aufgrund ihrer tadellosen Körperpflege immer in vollendeter weiblicher Perfektion gezeigt, während das Gesicht von Lydia von Wunden übersät und verunstaltet ist. Es ist dann am Ende die scheinbar stärkere von beiden, die ihrem Kampf gegen den Tod erliegt: Aus zwei Frauen wird eine – es lebe die gewaltsame Ökonomie der Symmetrie! Benigno will durch das Schlucken von Schlaftabletten in den gleichen todesähnlichen Zustand versetzt werden wie seine Geliebte, von deren Erwachen er bis zum Schluss nichts weiß. Auf diese Weise jedoch folgt er Lydia in den Tod, während Marco nun gewissermaßen zum voyeuristischen Nachbarn von Alicia wird. Die Strukturformel, derer sich Almodóvar in HABLE CON ELLA bedient, ist somit das chassé-croisé. Die letzte Szene von SPRICH MIT IHR treibt jene symmetrische Struktur, jenen filmischen Chiasmus auf die Spitze, da der Film dort endet, wo er begonnen hat: Im Theater mit einer Aufführung von Pina Bausch. In dieser Aufführung trifft der erneut weinende Marco schließlich in der Pause auf Alicia, die ihn jedoch nicht kennt. Sie sitzt neben ihrer ehemaligen Tanzlehrerin Katerina, die ein Gespräch zwischen den beiden argwöhnisch unterbricht. Sie informiert Marco hinter vorgehaltener Hand, dass Alicia von den ‚Umständen‘ ihrer wundersamen Heilung nichts weiß. Während die Marquise bei Kleist ausruft: „Ich will nichts wissen“27, lautet das Credo von Katerina: „Sie darf nichts wissen.“ Katerinas letzte Worte, die gleichzeitig die letzten des Films sind, erinnern geradezu an den letzten Satz von Billy Wilders SOME LIKE IT HOT (NOBODY’S PERFECT!): „Nichts ist einfach!“ Almodóvar aber liefert seinen Zuschauern indes ein angedeutetes Happy End, indem er Marco und Alicia in einer letzten Einstellung gemeinsam zeigt und ein eingeblendetes Insert „Marco und Alicia“ ihre mögliche zukünftige Beziehung paratextuell umschreibt (Abb. 7).

27 Kleist 1999, S. 677.

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Abbildung 7: Screenshot aus HABLE CON ELLA

Zum ersten Mal im Film treffen sich in dieser Einstellung die Blicke zweier Liebender, obschon sich zwischen den beiden ein leerer Sitz befindet, der eventuelle Hindernisse suggeriert, die es für die beiden noch zu überwinden gilt. Auf dem Sessel könnte Alicias Vater sitzen, Lydia oder Benigno oder aber Almodóvar selbst, denn nur er entscheidet letztlich über Leben und Tod, Liebe und Freundschaft sowie Geburt und Wiedergeburt seiner Figuren.

3. Wie lässt sich nun abschließend Almodóvars letzter Film im Hinblick auf sein Gesamtœuvre bewerten? Zunächst fällt auf, dass die ansonsten vordergründige Darstellung von Frauen einem deutlichen Wandel unterzogen wurde. Bei HABLE CON ELLA handelt es sich im Grunde genommen um einen ‚Männerfilm‘, in dem die Geschichte einer kurzen, aber intensiven (von homoerotischen Elementen nicht freien) Männerfreundschaft erzählt wird. Diese wird jedoch nur ermöglicht durch das gemeinsame Schicksal ihrer beiden Geliebten und letzten Endes dadurch auch wieder beendet. Den Frauen in SPRICH MIT IHR kommt demnach vor allem eine stark mediale Funktion zu: Sie fungieren gleichsam als Vermittlerinnen zwischen Benigno und Marco, Wahn und Vernunft, Traum und Realität sowie letztlich zwischen Leben und Tod. Jene dichotomischen Paare werden durch die hybride Art ihrer Inszenierung miteinander vermischt. Es ist das Schweigen der Frauen, das eben nicht (nur) der Illustration weiblicher Passivität dient, sondern darüber hinaus das Verhalten der beiden Männer über weite Strecken des Films bestimmt. Ihre leblosen Körper dienen solchermaßen als Anlass zum Sprechen und senden unaufhörlich rätselhafte Zeichen aus, die von den Rezipienten auf unterschiedliche Weise gedeutet bzw. absorbiert werden. Somit werden die

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Frauen nicht nur – wie in der Albertine-Episode – auf ihre reine, greifbare Körperlichkeit reduziert, sondern mit einer Form von performativer Macht ausgestattet, die von jenem ‚anderen Ort‘ des Unbewussten ausgeht, dort, wo alle Schwingungen, auch außerhalb der sichtbaren menschlichen Wahrnehmung, registriert werden. Auch sind es die beiden Frauen, die den größten Anteil an der Struktur des Films tragen: Sowohl der zirkulären Struktur des Plots als auch der symmetrischen Konfiguration der Charaktere. Das Schicksal von Lydia und Alicia setzt jene unendlich zirkulierende Dynamik in Gang, die stets, sowohl in der Liebe als auch im Leben, zu ihren Ursprüngen zurückkehrt: Leben – Verlieben – Tod – Leben – Verlieben, etc. So wie der Film am Ende zu seinem Anfang zurückkehrt, so wie der Anfang auf das Ende des letzten Films verweist, so wie der Tod dem Leben und der Liebe vorausgehen kann, so wie der schrumpfende Liebhaber im Tod zu seinem Ursprung zurückkehrt – so wirken auch die scheintoten Frauen in HABLE CON ELLA aufgrund von Almodóvars unbestrittener Kunstfertigkeit durchaus sehr lebendig. Daneben bleibt Almodóvar jedoch seiner poetologischen Tradition früherer Filme treu, indem er dezidiert auf intermediale Anleihen aus den verschiedensten Medien Bezug nimmt. Auch HABLE CON ELLA zeichnet sich wie nahezu alle seiner Vorgänger durch eine collagenhafte Art der Montage aus, wobei dieses Mal der Akzent deutlich auf die Medien Tanztheater und Stummfilm gelegt wird, während intermediale Bezüge aus dem Bereich Literatur (Proust, Kleist) eher unter der Oberfläche verhandelt werden. Die Funktion der intermedialen Spielformen in SPRICH MIT IHR dient vor allem der Repräsentation des Unsagbaren, des Undarstellbaren und des Skandalösen. Das Tanztheater von Pina Bausch visualisiert spielerisch auf ingeniöse Weise den Zustand des Schlafwandels, des Wahns und somit letztlich den anderen Schauplatz des menschlichen Unbewusstseins, einen Zustand also, der eine menschliche Grenzsituation darstellt, die sich im Grunde jeglicher unmittelbarer Repräsentation durch Text oder Bild entzieht. Insofern erzeugt Bauschs tänzerische Visualisierung den Eindruck einer intermedial generierten Traumsequenz, die den Film gewissermaßen von Beginn an um die vierte Dimension des Surrealen erweitert. Das Stummfilm-Pastiche, das recht deutlich den Wendepunkt des Films markiert, führt jene surreale Entgrenzung der filmischen Mimesis auf konsequente Weise fort, indem Almodóvar das Skandalon der Vergewaltigung vermittels eines intermedialen Platzhalters erzählt. Somit wird das moralisch Unsägliche sowie das diegetisch Unsagbare in eine

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‚andere Szene‘ transponiert, die insbesondere aus gendertheoretischer Perspektive die Frage nach der Schuldhaftigkeit unbeantwortet lässt. Das befremdliche Bild der alles verschlingenden Vagina dentata und dessen stark ödipales Potential stehen zu der innerdiegetischen, nicht gezeigten Vergewaltigung in klarem Widerspruch. Spätestens hier wird deutlich, dass sich Almodóvar – wie bereits angedeutet – für moralische Aspekte nicht interessiert. Auch dieses offensichtliche moralische Desinteresse begünstigt auf gewisse Weise die Surrealisierung der Darstellung in HABLE CON ELLA. Dass die intermedialen Versatzstücke innerhalb des Films an äußerst prominenten Stellen auftauchen, d.h. zu Beginn, in der Mitte und am Ende, unterstreicht meine These, dass die dadurch verursachte Surrealität ein maßgebliches Kennzeichen des gesamten Films ausmacht. Der Zuschauer verlässt den Saal nicht mit den Bildern eines neuen Liebespaares oder aber mit dem unguten Gefühl einer soeben erfolgten Vergewaltigung. Es sind vielmehr die Bilder von Pina Bauschs bizarrtraumhaften Tänzen sowie des amante menguante, der für immer in Amparos Vagina verschwindet, die der Zuschauer verinnerlicht. Es ist demnach vor allem die Intensität des Surrealen, die Macht der Bilder und des Traumes, die letztlich für die Faszinationskraft von Almodóvars HABLE CON ELLA verantwortlich zu machen ist.

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„EL ORO QUE NO LO ES: LA ROSA DE COBRE“ – GROßSTADT, TECHNIK UND KINO ALS INTERMEDIALE PARAMETER IN DEN TEXTEN VON ROBERTO ARLT 1. Abbildung 1: Guillermo Facio Hebequer: Tu historia compañero

Julio Cortázar fasziniert in seinen Apuntes de relectura die „obsesión científica“1 Roberto Arlts. Dieser betrieb in einem Vorort von Buenos Aires ein kleines Laboratorium, in dem er unter anderem vulkanisierte, laufmaschenfreie Strumpfhosen herstellte. Arlt war Erfinder aller möglichen Apparaturen und Artefakte, die ihm allerdings nie Geld einbrachten. Als Sohn deutsch-österreichischer Immigranten – sein Vater war Glasbläser aus Posen (Poznan, Polen), seine Mutter lebte vor der Emigration in Triest – kam er 1900 in kleinbürgerlichen und finanziell prekären Verhältnissen in Flores zur Welt, einem bei Einwanderern und wohlhabenderen criollos gleichermaßen beliebten barrio porteño.2 Arlt fing 1 Cortázar, Julio: Obra crítica, Bd. 3, Madrid 1994, S. 256. 2 Über Arlts Leben und die autobiografisch-fiktionalen Konstruktionen über sich selbst als gedemütigte und gescheiterte Figur schreibt demystifizierend Saítta, Sylvia: El escritor en el bosque de ladrillos. Una biografía de Roberto Arlt, Buenos Aires 2000. Ebenfalls mit vielen Details zum 100. Geburtstag Arlts erschien Borré, Omar: Roberto Arlt. Su vida y su obra, Buenos Aires 2000.

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neben seinem Erfinderdasein früh an zu schreiben und veröffentlichte mit 16 seine erste Kurzgeschichte, mit 20 eine kleine Abhandlung über Las Ciencias ocultas en la ciudad de Buenos Aires – ein Thema, das in vielen seiner Texte eine Rolle spielen wird. Den Unterhalt für sich und seine Familie verdiente er sich bald mit Kolumnen und Kurzgeschichten für mehrere Tageszeitungen und Zeitschriften, ab 1928 in erster Linie mit seinen nahezu täglich erscheinenden „Aguafuertes porteñas“ in der neu gegründeten Tageszeitung El Mundo.3 El juguete rabioso (1926) ist der erste von drei Romanen und wird von einflussreichen Avantgardisten wie Borges, Güiraldes und Mariani positiv aufgenommen. Ihm folgen die zwei zusammengehörenden Romanteile Los siete locos (1929) und Los lanzallamas (1930), mit denen sich Arlt endgültig als Romancier behauptet; als letzter Roman erscheint El amor brujo (1932). Ab 1932 bis zu seinem Tod 1942 folgen mehrere Theaterstücke, zwei Sammlungen von Kurzgeschichten – El jorobadito (1933) und El criador de gorilas (1941) – und die Novelle Un viaje terrible (1941). Schon aus der bloßen Aufzählung geht hervor, wie sich Arlt in die avantgardistische Kulturproduktion in Buenos Aires einschreibt: Er widmet sich von Anfang an konstant dem Journalismus, publiziert nebenher zunächst Prosa, später hauptsächlich Theaterstücke. Sieben Monate nach der spektakulären Lumière-Aufführung im Pariser Café des Capucines am 28.12.1895 kommt es im Teatro Odeón von Buenos Aires zur ersten Filmvorführung. Noch in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts entstehen die ersten argentinischen Filmproduktionen.4 Das Kino wird am Río de La Plata bald zu einem Massenphänomen, das das öffentliche Leben mitbestimmt. Der 1900 geborene Arlt gehört zu den Künstlern und Schriftstellern, die das Phänomen des Kinos früh für sich entdecken und thematisch in ihre literarische und journalistische Textproduktion einbauen.5 Im Zuge weltweit sich ereignender Verschiebungen und Veränderungen der kulturellen Formationen, die in erster Li3 Eine erste, von Arlt selbst erstellte Auswahl aus den 1500 Texten erschien 1933. Zwischen 1935 und 1936 schrieb Arlt für El Mundo auch Reiseberichte aus Spanien und Afrika, die als Aguafuertes españolas 1936 erschienen. Eine neuere und umfangreiche Auswahl der Texte mit einer einleitenden Studie von David Viñas erschien bei Losada; vgl. Arlt, Roberto: Obras II. David Viñas (Hrsg.), Buenos Aires 1998. 4 Vgl. Rivera, Jorge: „Prólogo“, in: Roberto Arlt: Notas sobre el cinematógrafo, Buenos Aires 1997, S. 7. 5 Kinokritiken schreiben neben Arlt bekanntlich auch Jorge Luis Borges und Horacio Quiroga, die in einigen ihrer Kurzgeschichten mit kinematographischen Effekten arbeiten. Viele Texte von Nicolás Olivari, Oliverio Girondo und den González Tuñón-Brüdern sind ohne das Kino nicht zu denken.

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nie das Leben in den Großstädten betreffen, differenzieren sich in den 20er und 30er Jahren des 20. Jahrhunderts in Buenos Aires im Sinne einer „modernidad periférica“6 neue Schriftfiguren und eine alle gesellschaftlichen Sphären erfassende Medienkultur aus. David Viñas vergleicht die Regierungszeit der Unión Cívica Radical unter Yrigoyen und Alvear zwischen 1916 und 1930 mit den europäischen vorfaschistischen Republiken in Deutschland (1919-1932) und in Spanien (1930-1936/9).7 Zum ersten Mal in der Geschichte Argentiniens kommt eine bürgerliche Partei über demokratisch durchgeführte Wahlen an die Regierung und löst die oligarchisch-autoritative Machtstruktur der vorausgehenden Regierungen auf. Für die Umwälzung war vor allem die breite Masse der Stadtbewohner verantwortlich, die mittlerweile eine zwar sehr heterogene, doch insgesamt über gemeinsame Minimalinteressen verbundene Mittelschicht bildet.8 Trotz vieler Kontinuitäten im politischen Machtgefüge erlebt Argentinien in der Regierungszeit der Radikalen eine kulturelle Revolution, die in Lateinamerika einzigartig ist.9 Während in Europa der späte Expressionismus und der Surrealismus die tonangebenden Avantgarden der Zwischenkriegszeit sind, erscheinen in Argentinien im Jahr 1926 so paradigmatische Texte wie Arlts El juguete rabioso, Don Segundo Sombra von Ricardo Güiraldes, La musa de la mala pata von Nicolás Olivari und El violín del diablo von Raúl González Tuñón, die europäische Tendenzen integrieren, reflektieren und variieren. Für die Vielfalt der ästhetischen Programme verschaffen sich Intellektuelle und Literaten in neu gegründeten Literaturzeitschriften wie Proa, Martín Fierro und Sur, und neuformatigen, oft illustrierten Zeitungen wie Caras y caretas, Crítica, Claridad, El Mundo und El Hogar eine ausdrucksstarke Plattform. Diese Foren sind neben den Theatern, den Cafés, den 6 Sarlo, Beatriz: Una modernidad periférica: Buenos Aires 1920 y 1930, Buenos Aires 1988. 7 Viñas, David: Literatura argentina y política II. De Lugones a Walsh, Buenos Aires 1996. 8 Einige Zahlen zur Bevölkerungsentwicklung mögen in diesem Zusammenhang an die demographische Umwälzung im Land erinnern: 1870 leben keine 2 Millionen Menschen in Argentinien, 1910 sind es über 6 Millionen, ein Drittel davon Einwanderer aus Italien und Spanien. 1914 hat Buenos Aires 1,5 Millionen Einwohner, davon 1 Million Immigranten. Sie bringen Sprachen und Traditionen mit, die eine neue Alltagswelt konstruieren. Und sie leben größtenteils in Immigrantenhotels und conventillos, in den arrabales und barrios, die bei steigender Kriminalität von Gestalten des bajo fondo bevölkert werden. Vgl. Sarlo 1988, S. 17ff. 9 Vgl. Montaldo, Graciela: „El origen de la historia“, in: David Viñas (Hrsg.): Historia social de la literatura argentina, Bd. 7: Yrigoyen entre Borges y Arlt (1916-1930), Buenos Aires 1989, S. 23-30.

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Straßen der Großstadt und ihrer Peripherien Szenarien eines Prozesses der Ausdifferenzierung und Professionalisierung von Künstlern, Schriftstellern und Journalisten, die mit ihren Produktionen die alte Generation der gentlemen-escritores in Folge des modernismo und des Spätromantizismus eines Darío oder Lugones ablösen.10 1930 markiert den Hiatus: General Uriburu nutzt die verheerenden Konsequenzen der Weltwirtschaftskrise und des Börsencrashs in New York vom Oktober 1929, um in Yrigoyens zweiter Amtsszeit zu putschen. Mit der sogenannten década infame der 30er Jahre wird eine Zeit der politischen Instabilität in Argentinien eingeleitet, die bis 1983 keine genuin demokratische Staatsstruktur mehr zulassen wird. Arlt ist als Immigrantensohn, Journalist, Literat und Dramaturg akribischer Beobachter der medialen, sozialen und politischen Umbrüche seiner Zeit. Technik, Kino und Großstadt sind intermediale Parameter der Romane, Theaterstücke und Aguafuertes, die sensibel auf ihre gesellschaftlichen Umwelten reagieren. In Literatur, Theater und Musik markieren zunächst das cocoliche, ein stark italienisch gefärbter Dialekt, und dann immer massiver das lunfardo im Klima antitraditionalistischer Ästhetiken11 eine kulturelle und sprachliche Differenz, die im Kontext massenmedialer und technologischer Formationen neue Identitäten konstruieren. Arlt bewegt sich auf dieser epochalen Schnittstelle zwischen den Medien. Seine Schriftfiguren kreisen thematisch um die existentiellen Erfahrungen des Scheiterns, der Beklemmung und der Demütigung, denen die Antihelden der Romane innerhalb ihres sozialen Milieus ausgesetzt sind. Ein Ausbruch ist ihnen nur über mentale und soziale Ausnahmezustände möglich, von denen verschiedene Formen in den Texten durchgespielt werden. Neben den von Arlt selbst intendierten Bezügen zu Dostojewski rücken der existentialistische Gestus und die schonungslose, anarchische Zivilisationskritik – vor allem in Los siete locos/Los lanzallamas – die Texte in die Nähe von Célines frühen Romanen Voyage au bout de la nuit (1932) und Mort a crédit (1936). Wie diese können Arlts Romane im Sinne einer absurden condition humaine auch als Vorläufer einiger

10 Vgl. Viñas 1996, S. 9-46. 11 Boedo (Peripherie, Sozialengagement) und florida (Zentrum, europäisch ausgerichtete Avantgarde) sind Signaturen für die Wahrnehmung zweier entgegengesetzter Paradigmen der argentinischen Kunst der 20er Jahre, die allerdings gerade an Figuren wie Arlt immer wieder kollabieren.

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Texte Genets und Camus’ gelesen werden.12 Die existentialistische Grundeinstellung der Texte führte in der argentinischen Kritik vor allem zu ideologiekritischen Lektüren. Sie deuten die existentiellen Nöte als Klassenkonflikte und machen in zu schematisch ausfallenden Analysen die pequeña burguesía Arlts und seiner Figuren dafür verantwortlich.13 Auf einer ganz anderen Ebene sind die Erfindungen Arlts und seiner fiktionalen Doppelgänger einerseits einem futuristischen und technologischen Utopismus zu verdanken, der das Monströse der imaginären Welten seiner Epoche anzeigt. Andererseits scheinen sie einer surrealistischen Lust und Spielfreude an Unmöglichkeiten und objets trouvés verschrieben, an Dingen, die utilitaristischen Prinzipien entzogen sind. Es gibt weitere Motive bei Arlt, die einer surrealistischen Ästhetik nahe sind: Die oft surreale Grundstimmung in Los siete locos und Los lanzallamas, die durch einen in Fußnoten auftretenden Kommentator der Geschichte noch gesteigert wird; die skurrilen Romanfiguren mit Namen wie „El Rufián Melancólico“, „El Buscador de Oro“ oder „El Hombre que vió a la Partera“, und die Figur des kastrierten, ominösen Astrologen; die ereignisreichen flâneries der Hauptfiguren durch die arrabales und das Zentrum von Buenos Aires, die denen der Hauptfigur in Aragons Le paysan de Paris – erschienen im selben Jahr wie El juguete rabioso – durch die längst nicht mehr zeitgemäße Passage de l´Opéra kurz vor ihrem Abriss ähneln; die Thematik der Suche nach der absoluten, unmöglichen Liebe in El amor brujo (1932), Arlts letztem Roman, den er zwischen Bretons Nadja (1928) und L’amour fou (1937) schreibt. Cortázars Rayuela (1963) variiert wiederum einige Motive Arlts und Bretons. Auch für diesen Roman sind Großstadt, Technik und Medien intermediale Parameter auf der Folie von Oliveiras existentieller Su12 Vorbehaltlich der vom europäischen (Erster Weltkrieg, Zwischenkriegszeit) und argentinischen (Immigration und ihr Scheitern) Kontext abhängigen thematischen Differenzen. 13 Vgl. aus marxistischer Perspektive besonders Masotta, Óscar: Sexo y traición en Roberto Arlt, Buenos Aires 1982 und Guerrero, Diana: Roberto Arlt, el habitante solitario, Buenos Aires 1986. Viñas argumentiert differenzierter; vgl. Viñas, David: „El escritor vacilante: Arlt, Boedo y Discépolo“, in: ders.: Literatura argentina y realidad política. De Sarmiento a Cortázar, Buenos Aires 1971, S. 67-73. Ausgehend vom Zustand des chronischen Geldmangels und der sozialen Misere um 1930 oszillieren nach Viñas die Figuren Arlts und Discépolos zwischen einem „trabajo humillante“ des Angestellten einerseits und einer „magia seductora“ des Abenteurers andererseits. Doch bei Arlt findet sich immer die Angst vor dem Fall, die die Figuren charakterisiert und die Texte thematisch strukturiert: „Humillación desde arriba, seducción hacia abajo y Arlt en medio padeciendo un permanente tironeo.“ (Ebd., S. 72.)

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che nach Selbstverwirklichung im Marginalen und Außergewöhnlichen. Für Cortázars Texte können eindeutige Zuschreibungen kaum geltend gemacht werden. Am Anfang seiner schriftstellerischen Tätigkeit hat er mit Blick auf Artaud ein ästhetisches Programm entworfen, das zwischen Existentialismus und Surrealismus für einen surrealismo als „cosmovisión“ optiert: la razón del surrealismo excede toda literatura, todo arte, todo método localizado y todo producto resultante. Surrealismo es cosmovisión, no escuela o ismo; una empresa de conquista de la realidad, que es la realidad, que es la realidad cierta en vez de la otra de cartón piedra y por siempre ámbar; una reconquista de lo mal conquistado (lo conquistado a medias: con la parcelación de una ciencia, una razón razonante, una estética, una moral, una teleología) y no la mera prosecución, dialécticamente antitética, del viejo orden supuestamente progresivo.14

In dieses Programm könnten auch Arlts Texte eingeschrieben sein. Die folgende Lektüre möchte in diesem Rahmen intermediale Konstellationen und diskursive Mechanismen in Arlts Schriftfiguren beobachten. Ausgangsmaterial sind die drei Romane und einige, dem Kino gewidmeten Aguafuertes.15

14 Cortázar, Julio: „Muerte de Antonin Artaud“, in: ders.: Obra crítica, Bd. 2, Madrid 1994, S. 151-165. Vgl. Vf.: Schrift/Figuren. Julio Cortázars transtextuelle Ästhetik, Tübingen 2000, S. 47-56. 15 Auch wenn die Kurzgeschichten und Theaterstücke durchaus interessante Aspekte für die Fragestellung aufweisen, variieren sie hauptsächlich die in den Romanen und Aguafuertes entworfenen Konzepte.

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2. Abbildung 2: Guillermo Facio Hebequer: Calle Corrientes

¡Oh, ironía!, ¡y era yo el que había soñado en ser un bandido grande como Rocambole y un poeta genial como Baudelaire! (Roberto Arlt: El juguete rabioso)

In El juguete rabioso sind die Straßen, Cafés, Pensionen, Bordelle und Geschäfte des Zentrums und der arrabales Schauplätze der Abenteuer und Begegnungen Silvio Astiers auf seinen Streif- und Raubzügen durch Buenos Aires. Silvio ist ein fünfzehnjähriger vivillo, der sich mit Erfindungen, Diebstählen und Gelegenheitsarbeiten durchs Leben schlägt.16 Aus medientheoretischer Sicht ist zunächst auffällig, dass es im Verlauf des Romans auch immer wieder um Literatur geht: Cuando tenía catorce años me inició en los deleites y afanes de la literatura bandoleresca un viejo zapatero andaluz que tenía su comercio de remendón junto a una ferretería de fachada verde y

16 Literarische Vorbilder für Arlts Debüt sind neben Dostojewskis Dämonen sicher auch die spanischen novelas picarescas (Lazarillo, Guzmán de Alfarache). Neben den grundsätzlichen, epochenbedingten Differenzen in Bezug auf Literaturproduktion und -rezeption und deren Diskursformationen gibt es viele Passagen, die an die Schilderung der verheerenden Zustände und die damit verbundene Sozialkritik dieser Texte erinnern. Struggle for life ist auch für Arlts Antihelden das Grundprinzip (wörtlich z.B. auf vier aufeinander folgenden Seiten in El juguete, S. 117ff.). Zeitlich naheliegendere Bezüge gibt es auch zum ersten deutschen Großstadtroman. Im drei Jahre später erschienenen Berlin Alexanderplatz geht es ebenfalls um Gauner, Gaunereien und neue soziale Verhältnisse, mit denen Franz Biberkopf zu kämpfen hat. Die Großstadt ist hier wie dort nun nicht mehr nur Szenerie, sie wird selbst zum Protagonisten der Geschichten. Eine weitere Parallele wäre die Einführung der Gassen- und Gaunersprache in die Texte. Döblin baut sie in die erlebte Rede seines Helden und die Dialoge ein, Arlt verwendet konsequent das lunfardo.

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WOLFGANG BONGERS blanca, en el zaguán de una casa antigua en la calle Rivadavia entre 17 Sud América y Bolivia.

Gleich im ersten Satz verweben sich die Leitmotive Arlts: Der Heroismus des Marginalen und die Szenerie des trostlosen Lebens der spanischund italienischstämmigen Immigranten in Buenos Aires. Beides sind Welten, zwischen denen sich Silvio bewegt. Seine Initiation ist daher eine doppelte: Sowohl in die Literatur wie auch in das Gaunerleben; und diese Verdoppelung fällt in der bandolero-Literatur zusammen, die Silvio als existentieller Fluchtpunkt aus dem alltäglichen Grauen dient.18 Deshalb ist nach der Gründung des „Club de los Caballeros de la Media Noche“, mit dem sich Silvio und zwei Kumpanen zur jugendlichen Gaunerbande stilisieren, das wichtigste Ereignis im ersten Kapitel auch der Einbruch in eine Schulbibliothek. Beim Raub von Büchern und Glühbirnen stößt Silvio auf die Biografie seines zukünftigen Vorbilds, Charles Baudelaire, in dessen Figur des poète maudit der Heroismus des modernen Großstadtlebens und literarischer Erfolg zusammenfällt.19 Im zweiten Kapitel arbeitet Silvio in der Buchhandlung Don Gaetanos, eines napolitanischen Einwanderers.20 Die unerträglichen Situationen, denen er dort ausgesetzt ist, lassen in ihm den Wunsch keimen, den Laden niederzubrennen. Tatsächlich nutzt er irgendwann einen unbeobachteten Moment beim Verlassen des Hauses, um mit einem Glutrest die Bücherregale in Brand zu setzen. Doch bald kommt die Ernüchterung. Mit dem Scheitern des Attentats auf die Literatur endet Silvios Anstellung und das 17 Arlt, Roberto, El juguete rabioso, Bogotá 1994, S. 11. 18 Immer wieder von Silvio erwähnt werden die Gaunergeschichten von Rocambole – eine im Paris des 19. Jahrhunderts von Victor-Alexis Ponson du Terrail (1829-1871) erfundene Seriengestalt für Groschenromane, die über Comic-Formate und Verfilmungen in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts weltberühmt wurde. 19 Baudelaire wird damit auch zum poetischen Doppelgänger Rocamboles. Auf die damit verbundene autobiografische Dimension und die Initiation Arlts in die Literaturszene der Stadt verweist neben den Kommentaren der Kritiker auch der Autor selbst in seinen Zeitungskolumnen. Vgl. zur Rezeptionsgeschichte Borré, Omar: Arlt y la crítica (1926-1990), Buenos Aires 1996. 20 Die Passagen, in denen Arlt das Leben Don Gaetanos und seiner Frau schildert, sind den Szenen gescheiterter Immigrantenschicksale im grotesco criollo sehr ähnlich, ein Genre mit expressionistischen Zügen, das zur gleichen Zeit Armando Discépolo ins argentinische Theater einführt. Vgl. Pelettieri, Osvaldo: Obra dramática de Armando Discépolo, Buenos Aires 1987 und Viñas, David: „Armando Discépolo: Grotesco, inmigración y fracaso“, in: ders. (Hrsg.): Literatura argentina y política II. De Lugones a Walsh, Buenos Aires 1996, S. 99-143.

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Kapitel. Nur am Rande, doch auf insistente Weise, kündigt hier jedoch das Kino schon bei Silvios Eintritt in die „caverna“21 sich selbst und das Verschwinden der Literatur an: Gegenüber Don Gaetanos Laden strömt eine Menschentraube ins Kino und „[i]ncesantemente repiqueteaba la campanilla del biógrafo [Synonym für cinematógrafo, W.B.], y un rayo de sol, adentrado entre dos altos muros, iluminaba la fachada oscura del edificio de Dardo Rocha.“22 Der Chiasmus dieser medienrivalisierenden Urszene23 weist auf Arlts Einschätzung des Kinos in den Kolumnen von El Mundo: Hier quellen die Bücher in der dunklen Höhle – dem Dispositiv des Kinos par excellence – überall hervor, ohne von irgendwem beachtet zu werden. Das Licht – das Urmedium für kinematografische Erscheinungen seit Platons Höhlengleichnis – fällt hingegen auf den Eingang zum neuen Massenmedium, dem Kino. Im nächsten Kapitel steht die Technik der Literatur gegenüber. Silvio erfindet und konstruiert abstruse Dinge wie Kanonen, einen Kometenanzeiger, ein an aktuelle Technologien erinnerndes Diktierschreibgerät. Aufgrund dieser Fähigkeiten und seiner Belesenheit wird er zunächst in eine Militärschule aufgenommen, bald darauf vom Direktor jedoch mit folgenden Worten wieder entlassen: „Vea, amigo [...]. Su puesto está en la escuela industrial. Aquí no necesitamos personas inteligentes, sino brutos para el trabajo.“24 Silvio, der von seiner Mutter zum Geldverdienen losgeschickt wurde, könnte Karriere als Erfinder machen, doch zur rohen Arbeit taugt er nicht. Nach dieser Enttäuschung vagabundiert er verzweifelt durch die Stadt und erwirbt einen Revolver, um sich umzu-

21 Arlt 1994, S. 51. 22 Ebd., S. 52. 23 Also der klassischen Medienrivalität um 1900, die eine umfangreiche Diskursformation darstellt (dazu grundlegend Kittler, Friedrich: Aufschreibesysteme 1800/1900, München 1995), und die Benjamin 1936 im Kontext der technischen Reproduzierbarkeit richtungsweisend mit den neuen Wahrnehmungsbedingungen in Verbindung bringt: „So ist die filmische Darstellung der Realität für den heutigen Menschen darum die unvergleichlich bedeutungsvollere [hier im Vergleich zur Malerei, W.B.], weil sie den apparatfreien Aspekt der Wirklichkeit, den er vom Kunstwerk zu fordern berechtigt ist, gerade auf Grund ihrer intensivsten Durchdringung mit der Apparatur gewährt.“ „Es wird eine der revolutionären Funktionen des Films sein, die künstlerische und die wissenschaftliche Verwertung der Photographie, die vordem meist auseinander fielen, als identisch erkennbar zu machen.“ (Benjamin, Walter: „Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“, in: ders.: Illuminationen, Frankfurt 1977, S. 136-169, hier S. 158f., 161.) 24 Arlt 1994, S. 97.

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bringen. Am Ende des Kapitels steht Silvios gescheiterter Selbstmordversuch. Einsamkeit, Lebensekel, Scheitern und Demütigungen in allen Lebensbereichen sind die Grunderfahrungen der Romanfiguren Arlts. Um der „vida puerca“25 etwas entgegenzusetzen, suchen und denken sie Kategorien für eine imaginäre „vida fuerte“ gegen die „vida espesa“ des trostlosen Alltags. Silvio ist der erste, noch recht emphatisch agierende Antiheld, der eine radikale Kommunikationsform wählt: Den unmotivierten Verrat des Kumpanen Rengo, der ihn an einem lukrativen Diebstahl beteiligen will. Doch zunächst schildert Kapitel vier, wie Silvio sich als Papierverkäufer verdingt. Statt beschriebenen Papiers sind es nun leere Bögen, die er in Geschäften und auf Märkten feilbietet, sich mit Kunden rumschlägt und dafür lächerliche Kommissionen einstreicht. Die Verwandlung der literarischen Materialität in bloßes Papier geht einher mit der Geste der Selbsterniedrigung und Niedertracht am Ende des Romans. Rengo tritt als der im bajo fondo erfolgreiche vivillo auf, ein Gaunerheld, der als Fahrzeugwächter auch einer legalen Beschäftigung nachgeht. Nebenher erfindet er Methoden, den Leuten das Geld abzunehmen und braucht dafür Silvio, den Erfinder. Doch während die beiden den Diebstahl planen, fragt sich Silvio: „¿Y si lo delatara?“26 Der infame Gedanke nimmt immer deutlichere Formen an: Si hago eso me condeno para siempre. Y estaré solo, y estaré como Judas Iscariote. Toda la vida llevaré una pena […], mi perversidad encontraba interesante la infamia. ¿Por qué no?... Entonces yo guardaré un secreto, un secreto salado, un secreto repugnante, que 27 me impulsará a investigar cuál es el origen de mis raíces oscuras.

Die Niedertracht als moralischer Ausnahmezustand stilisiert Silvio zum Medium der Selbsterkenntnis. Die Befreiung aus gesellschaftlichen Zwängen ist hier gleichzeitig eine Verurteilung auf das Leben. Silvio positioniert sich mit dieser Entscheidung zwischen bürgerlichem Leben und Delinquenz. Im abschließenden Gespräch mit dem Ingenieur, dessen Vermögen er durch seinen Akt gerettet hat, zeigt sich noch einmal Silvios Dilemma:

25 „La vida puerca“ war der ursprünglich von Arlt gewählte und von den Herausgebern dann abgeänderte Romantitel, der noch als Kapitelüberschrift fungiert. 26 Arlt 1994, S. 141. 27 Ebd., S. 142.

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Hay momentos en nuestra vida en que tenemos necesidad de ser canallas, de ensuciarnos hasta adentro, de hacer alguna infamia, yo qué sé... de destrozar para siempre la vida de un hombre… y 28 después de hecho eso podremos volver a caminar tranquilos.

Der Ingenieur, Repräsentant der wohlhabenden Mittelschicht, wird im Dialog nun zum Komplizen und spricht selbst vom „ley brutal que está dentro de uno, [...] la ley de la ferocidad.“29 Der erste Roman Arlts endet fast schon glücklich mit dem Versprechen des Ingenieurs, Silvio einen Posten in Patagonien zu besorgen. Technik und Großstadt, Literatur und Kino bleiben vorerst auf der Strecke.

3. Abbildung 3: Guillermo Facio Hebequer: Todo amarrete muere de…

¿Quiénes van a hacer la revolución social, sino los estafadores, los desdichados, los asesinos, los fraudulentos, toda la canalla que sufre sin esperanza alguna? (Roberto Arlt: Los siete locos)

Die Schonungslosigkeit, mit der in El juguete rabioso die Wut Silvios und seine Grenzerfahrungen geschildert werden, findet in Los siete locos/Los lanzallamas ihre literarisch ausgereiftere und differenziertere Fortsetzung. Hier löst ein ganzes diskursives Szenario die eine Stimme des Antihelden ab. Die Erzählung setzt mit einer Reihe von Demütigungen ein, denen die Hauptfigur Remo Erdosain, Angestellter eines Zuckerexportunternehmens, ausgesetzt ist: Seine Firma entdeckt, dass er Geld unterschlägt und verlangt die Rückzahlung; seine Frau verlässt ihn mit einem Offi28 Arlt 1994, S. 151. 29 Ebd., S. 152.

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zier; er wird von Barsut, ihrem Vetter, geohrfeigt, der Erdosains Betrug auch noch verraten hat. Danach vagabundiert er gequält durch die Straßen von Buenos Aires und fragt sich – wie vor ihm Silvio Astier – nach dem Weg aus dieser „vida puerca“, die ihm – wie man durch Andeutungen erfährt – auch schon vor den im Roman geschilderten Ereignissen übel mitgespielt haben muss. Die Lösung: „,Ser‘ a través de un crimen“30, wie leitmotivisch ein Kapitel betitelt ist, „para tener conciencia de mi existencia, para afirmarla“31, oder, wie es später heißt: „violar el sentido común“32. Erdosain plant die Entführung und den Mord an eben jenem Barsut, der ihn geschlagen und verraten hat und auch noch über recht viel Geld verfügt. Er unterbreitet seinem Freund, dem Astrologen, den Plan des Verbrechens. Mit dem Geld Barsuts soll in erster Linie der Betrieb von Bordells im ganzen Land finanziert werden, mit deren Einkünften die „sociedad secreta“ der sieben Verrückten die Zerstörung der Gesellschaft und die Weltrevolution organisieren kann. Viel mehr passiert auf der Ebene der story in diesem Roman nicht. Barsut wird tatsächlich ins Haus des Astrologen verschleppt und sein Geld eingelöst, doch die Umsetzung der Pläne der Geheimgesellschaft steht bis zum Ende von Los lanzallamas in den Sternen. Und selbst der Mord an Barsut wird nach Absprache zwischen dem Astrologen und dem ‚Opfer‘ vor den Augen Erdosains lediglich theatralisch fingiert, damit dessen Leben sich entsprechend seiner existentiellen Forderung tatsächlich verändern kann. Infamie in Form von Betrug, Verrat, Mord und Selbstmord werden zu Akten, die angesichts der Befindlichkeit der gedemütigten und gescheiterten Figuren in den Horizont von Handlungs- bzw. Kommunikationsmöglichkeiten rücken.33 Nachdem Erdosain in Los lanzallamas im acte gratuit seine Geliebte La Bizca umgebracht hat, begeht er im Nahverkehrszug Selbstmord. Die anderen Mitglieder der Geheimgesellschaft kommen um oder wandern ins Gefängnis; der Astrologe kann mit Hipólita, eine dem Club angehörige Prostituierte, und dem Geld Barsuts fliehen. Barsut wird mit dem gefälschten Geld erwischt, das ihm der Astrologe als vermeintliche Rückzahlung seines Vermögens untergejubelt hat.

30 31 32 33

Arlt, Roberto: Los siete locos, Buenos Aires 2001, S. 68. Ebd., S. 69. Ebd., S. 82. Auch an dieser Stelle ist ein Verweis auf die grotescos criollos Discépolos, vor allem Mateo (1923) und Stéfano (1928), angebracht, die das Thema der Infamie, den moralischen Verfall der Figuren aus ihrer Ausweglosigkeit heraus, in Szene setzen.

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Die beiden Romanteile können jenseits der story als Seismograph gelesen werden, der politische und soziale Diskurse seiner Zeit aus der Sicht von ‚Degenerierten‘, Ausgestoßenen bzw. Verrückten aufzeichnet, die sich mit profundem Zynismus und ihren utopischen Plänen jenseits von Gut und Böse, jenseits jeder gesellschaftlich legitimierten Moral positionieren und gerade deshalb die ethische Grundeinstellung aus El juguete rabioso übernehmen. Die Mittel, mit denen die logia die Welt verändern will, sind diktatorischen und terroristischen Modellen entlehnt.34 Vor allem die Reden und Gedanken des Astrologen, des „Rufián Melancólico“ und des „Buscador de Oro“ sind mit theosophischem, anarchistischem, sozialistischem und faschistischem Gedankengut aufgeladen, was in der Kritik entsprechend funktionalisiert wird.35 Doch auch christliche Mystik – in der Stimme des bekehrten Apothekers Ergueta – und Hollywood – im Werdegang Barsuts als Filmschauspieler am Ende von Los lanzallamas – sind Varianten zur Überwindung des existentiellen Dilemmas, das die Romanfiguren durchleben. Arlt spielt diese Möglichkeiten in den Diskursen seiner Verrückten durch. Wie sieht es im Roman nun mit den technischen Erfindungen Erdosains und mit der Rolle des Kinos aus? Wenn intensive Träume Erdosain nicht in Gegenwelten seiner „vida puerca“ versetzen, widmet er sich dem Studium von Betastrahlen und kabelloser Energieübertragung, der Entwicklung von elektromagnetischen Dampfmaschinen und denkt an eine tintorería de perros, que lanzaría al mercado canes de pelambre teñido de azul eléctrico, bull-dogs verdes, lebreles violetas, fox34 Der erste Teil des Romans entstand 1928/29, der zweite im Putschjahr 1930. Arlt weist in späteren Editionen in Fußnoten selbst auf die „prophetische“ Leistung des Romans hin – wobei die Pläne des Militärs auch schon in den Jahren zuvor in Umlauf und aufgrund der sozialen Krise absehbar waren. 35 Lenin und Mussolini werden explizit genannt, z.B. Arlt 2001, S. 108, aber auch die Kategorie des „superhombre“ (ebd., S. 112) und die „mentira metafísica“ (ebd., S. 114) im Sinne Nietzsches spielen eine Rolle. Ein Zitat soll die disparaten Ansichten des Astrologen veranschaulichen: „Seremos bolcheviques, católicos, fascistas, ateos, militaristas, en diversos grados de iniciación.“ (ebd., S. 119). Raúl Larra ist es in der ersten Biografie über Arlt wichtig, diesen gegen andere Auslegungen als kommunistischen Autor zu lesen; vgl. Larra, Raúl: Roberto Arlt, el torturado, Buenos Aires 1950. Auch die Arlt gewidmete, im Intellektuellenmilieu der 50er und 60er Jahre einflussreiche Zeitschrift Contornos (Mai 1954, Nr. 2) beschäftigt sich vornehmlich mit der Frage nach dem sozialpolitischen Stellenwert der Texte. Diese Tradition, erweitert um philosophisch-existentialistisch motivierte Analysen, bricht auch in den nächsten Jahrzehnten nicht ab.

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WOLFGANG BONGERS terriers lilias, falderos con fotografías de crepúsculos a tres tintas 36 en el lomo, perritas con arabescos como tapices persas.

Doch neben dieser wahnwitzigen Idee ist sein ehrgeizigstes Projekt sicher die in einem Metallbad gewonnene „rosa de cobre“, die als surreales Objekt durch beide Romanteile geistert. Sie wird von den Espilas, einer aus äußerst skurrilen Mitgliedern bestehenden und in die Armut abgeglittenen Immigrantenfamilie, in einer hauseigenen Werkstatt hergestellt: para levantar el espíritu de esa gente era necesario injertarles una esperanza, y con parte del dinero robado en la Azucarera compró un acumulador usado, un amperímetro y los diversos elementos 37 para instalar un primitivo taller de galvanoplastia.

Die Kupferrose hat kaum eine andere Funktion als die eines absurden Hoffnungsträgers für die Gescheiterten, in die sie die (Un-)Möglichkeit von Wohlstand und Glück projizieren: „Hasta la anciana participó en los experimentos y nadie dudó, cuando consiguieron cobrear una chapa de estaño, que en breve tiempo se enriquecerían si la rosa de cobre no fracasaba.“38 Mit den Apparaturen, imaginiert Erdosain, ließen sich zusätzlich noch Goldspitzen, Silbergardinen, Kupfergazen, Metallkrawatten und Metallhemden herstellen. Doch schon bald plagen ihn, der um die Absurdität der Projekte weiß, Gewissensbisse, da die Familie fest an ihr Glück glaubt. Und tatsächlich präsentieren sie Erdosain schließlich das noch recht unvollkommene Meisterwerk: „En el miserable cuchitril la maravillosa flor metálica esfoleaba sus pétalos bermejos.“39 Nach einer kurzen Begutachtung verabschiedet der Erfinder sich jedoch überstürzt und lässt die fassungslosen Espilas zurück, so als ob die Materialisierung seiner Imaginationen ihn übermäßig beunruhigen würde. Für das gemeinsame Projekt der Weltzerstörung soll Erdosain ganz andere Dinge erfinden. Neben verschiedenen Kanonenarten träumt er davon, einen „Rayo de la Muerte“ herzustellen, un siniestro relámpago violeta cuyos millones de amperios fundirían el acero de los dreadnoughts, como un horno funde una lenteja de cera, y haría saltar en cascajos las ciudades de portland, como si 40 las soliviantaran volcanes de trinitrotolueno.

36 37 38 39 40

Arlt 2001, S. 85. Ebd., S. 163. Ebd. Ebd., S. 164. Arlt 2001, S. 211.

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Und vor allem ist er verantwortlich für den Aufbau einer Phosgen-Fabrik, um mit dem Gas die großstädtische Weltbevölkerung auszurotten. Dieses Projekt beschäftigt ihn im Verlauf von Los lanzallamas, und kurz vor seinem Selbstmord liefert er dem Astrologen den Bauplan mit Beschreibungen zur Herstellung und Wirkung des Gases.41 Die Technologien der Transport- und Verbreitungsmedien spielen für den Erfolg der von der Geheimgesellschaft geplanten Revolution eine entscheidende Rolle.42 Den Astrologen begeistert die „posibilidad de crear un ejército revolucionario dentro del país, que se sublevaría mediante una señal radiotelefónica. ¿Por qué no? Acero, cromo, níquel. Como un sortilegio la palabra hiende su imaginación.“43 Und weiter: „Cada célula inmediata a la capital cortará los rieles del ferrocarril. No dejaremos entrar ni salir trenes. Dominada la cabeza, suprimido el telégrafo, fusilados los jefes, el poder es nuestro.“44 Darüber hinaus scheinen sich im Denkmechanismus des Astrologen selbst die Ideen medialisieren zu wollen: „Necesitaba expresar sus ideas en un sistema telegráfico, vibrante, interrumpido, como si todo él tuviera que acompasar el ritmo del pensamiento a una misteriosa trepidación de entusiasmo.“45 Das Kino nimmt dabei im Rhythmus des Telegrammstils eine besondere Rolle ein: „Cinematógrafo elemento importante. Ojo. Ver cinematógrafo. Erdosain que estudie ramo. Cinematógrafo aplicado a la propaganda revolucionaria. Eso es.“46 Schon einige Seiten zuvor kommt es bezüglich zweier Zeitmodi, in denen der Astrologe seinen Gedanken zum Mord an Barsut nachgeht, zum Vergleich mit dem Film: Y el Astrólogo, retenido dentro del tiempo del reloj, sentía deslizarse en su cerebro el otro tiempo rapidísimo e interminable que como una película cinematográfica, al deslizarse vertiginosamente, hería con las imágenes que aparejaba, su sensibilidad, de un modo

41 Vgl. Arlt, Roberto: Los lanzallamas, Buenos Aires 2003, S. 251-261. Im Kontext der geplanten Gasfabrik ist noch der surreale Traum Erdosains erwähnenswert, in dem ihn ein mit Gas verseuchter und entsprechend entstellter Soldat besucht. Mit diesem tauscht er Details über die verschiedenen Gase aus, die zur Vernichtung geeignet sind (vgl. ebd., S. 171-184). 42 Womit ein Topos der Mediengeschichte vorausgedacht ist, den unter anderen Virilio und Kittler in ihren Texten immer wieder betonen: Die Verzahnung von Kriegs- und Medientechnologie. 43 Arlt 2003, S. 197. 44 Ebd., S. 198. 45 Ebd., S. 195. 46 Ebd., S. 195f.

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WOLFGANG BONGERS impreciso y fatigante, ya que antes de percibir con claridad una 47 idea ésta había desaparecido para ser substituida por otra.

Die mechanische Zeitvorstellung wird im Hirn des Astrologen durch kinematographische Bilderfolgen abgelöst, die ein klares Denken verwischen. Er nimmt sich als Doppel wahr, das in diese zwei Zeitvorstellungen aufgeteilt ist, eine Erfahrung, die ihn tief beunruhigt.48 Die Macht, die das Kino auf die menschlichen Wahrnehmungsund Denkprozesse ausübt, soll zur Verbreitung der neuen Religion dienen, die nach der Revolution scheinbar Glück und Freiheit über die Welt bringt. So imaginiert der Astrologe im Gespräch mit Erdosain und Barsut eine höchst pathetische Filmszene à la Hollywood, die die Massen zur Arbeit in Goldminen der Geheimgesellschaft bekehren soll: Podemos imprimir una cinta cinematográfica con el templo de cartón en el fondo del bosque, el dios conversando con el espíritu de la Tierra. […] y elegiremos un término medio entre Krisnamurti y Rodolfo Valentino […]. Nuestras cintas se exhibirán en los barrios pobres, en el arrabal. ¿Se imagina usted la impresión que causará al populacho el espectáculo del dios pálido resucitando a un muerto, el de los lavaderos de oro con un arcángel como Gabriel custodiando las barcas de metal y prostitutas deliciosamente ataviadas dispuestas a ser las esposas del primer desdichado que 49 llegue?

In diesen grotesken Bildern und den zynischen Kommentaren des Astrologen wird das Kino, ganz im Sinne seiner Kritiker um 1900, zum Massenköder, das falsche Glücksmodelle verbreitet. Und doch gibt es auch die andere Seite bei Arlt, die „perfecta soltura de las composiciones cinematográficas“, die auf ambivalente Weise die „vida fuerte“50 ausmachen und die Erdosain als flüchtigen Glücksmoment wahrnimmt: Vor Hipólita sitzend und mit seinem Kopf auf ihren Knien, bekommt das Leben „ese aspecto cinematográfico que siempre había perseguido.“51 47 Arlt 2003, S. 189. 48 Ein anderer Vergleich mit Kino-Effekten wird bei dem im Sterben liegenden „Rufián Melancólico“ eingesetzt: „Como en un film, en el que la máquina hace marchar demasiado despacio la película alargándose perpendicularmente todas las palabras, esta vez la palabra ‚mujer‘ se alarga en su tímpano, extraordinariamente.“ (Ebd., S. 108.) Und nach dem Mord an der Bizca hat Erdosain kinematographische Visionen in den Straßen der Stadt: „Las luces de las bocacalles resbalan por la superficie de sus ojos con imágenes de un filme acelerado.“ (Ebd., S. 271.) 49 Ebd., S. 118. 50 Arlt 2003, S. 149. 51 Ebd., S. 179.

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Deshalb ist auch der im Als-ob-Modus umgebrachte Barsut als Gegenfigur Erdosains die in Bezug auf das Kino interessanteste Figur in Los lanzallamas. In einem Gespräch mit Ergueta – mit dem klischeebeladenen Titel „El alma al desnudo“ – findet er sich selbst „extraordinariamente hermoso“ und fragt den gleichgültig reagierenden Mystiker: „¿No le parece que puedo ser actor de cine?“52 Barsut sieht sich als Zyniker, „comediante“ und „simulador“ in allen Lebenslagen, der einzig in der Fiktion des Schauspiels lebt: „Lo único que me interesa son las comedias.“53 Wenn er dann von einem vierzehnjährigen Mädchen erzählt, von dem er betrogen wurde, fühlt er sich gezwungen, auf die Wahrhaftigkeit seiner Geschichte hinzuweisen: „No crea que le hablo en personaje cinematográfico.“ Doch die Begründung ist lediglich, dass das Gespräch im Dunkeln stattfindet, denn ansonsten „no podría resistir al impulso de creerme frente a la máquina fotográfica.“54 Und die Motivation, ein berühmter Hollywood-Schauspieler zu werden, wächst in dem Wunsch, das Mädchen damit zu demütigen: Pasaré, acuérdese, algún día frente a su casa levantando tierra con mi Rolls-Royce: impasible como un Dios. La gente me señalará con la mano diciendo: ¡Ese es Barsut, el artista Barsut; viene de 55 Hollywood, es el amante de Greta Garbo!

Der Text wird nun bizarrer, denn einerseits kann man den Worten und Widersprüchen Barsuts nicht mehr über den Weg trauen, andererseits beginnt Ergueta, sich mit allegorischen Bibelzitaten und merkwürdigen Kommentaren aktiv in die Unterhaltung einzuschalten. Auf die von ihm eingeworfene und Buddah zugeschriebene Maxime gegen die Heirat: „Todo hogar es un rincón de basura“, antwortet Barsut: Los sucesos humanos no se pueden arreglar con frases. No son como las películas, que un técnico revisa y deja de ellas lo que está estrictamente bien. Yo soy un hombre de carne y hueso. Con nece56 sidades y principios.

Die einzige Möglichkeit, sich zu verwirklichen, sieht Barsut trotzdem nur in Hollywood: „¿Qué me queda de hacer? Irme a Norteamérica. Enro-

52 53 54 55 56

Ebd., S. 237. Ebd., S. 238. Ebd., 241. Ebd. Ebd., S. 243.

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larme en el cine. Estoy seguro que en el cine parlante tendría éxito; porque mi voz está bien timbrada.“57 Barsut bekommt am Ende einen Vertrag für eine Kinoproduktion: Man will die Geschichte der Geheimgesellschaft und den Doppelmord Erdosains verfilmen... Nachdem der Schauspieler schon im Text ein doppeltes Spiel gespielt hat, läuft am Ende der Roman mit ihm ins Kino aus.58

4. El cine ha suplantado al teatro en su función de Escuela Práctica de Vida.59

Barsut ist in seinem Schauspielerdasein auch ein Doppelgänger des in Los siete locos erwähnten Rodolfo Valentino. Der aus Italien stammende und mythisch verehrte Hollywood-Star starb 1926. Als erfolgreicher Emigrant ist er das Gegenbild zu Arlts Figuren der gescheiterten Einwanderer in Argentinien.60 Deshalb ist es interessant, dass gerade er in El amor brujo und in den Aguafuertes als Exponent eines Gesellschaftsmodells dient, das die Traumfabrik Hollywood im imaginario popular aller Kontinente zu implementieren scheint: El cine, deliberadamente ñoño con los argumentos de sus películas, y depravado hasta fomentar la masturbación de ambos sexos, dos contradicciones hábilmente dosificadas, planteaba como única finalidad de la existencia y cúspide de la felicidad, el automóvil americano, la cancha de tenis americana, una radio con mueble americano, y un chalet standard americano, con heladera eléctrica también americana. De manera que cualquier mecanógrafa, en vez de pensar en agremiarse para defender sus derechos, pensaba en engatusar con artes de vampiresa a un cretino adinerado que la pavoneara en una voiturette. No concebían el derecho social, se prostituían en cierta medida, y en determinados casos asombraban sus

57 Arlt 2003, S. 244. 58 Tatsächlich wird Los siete locos 1973 von Torre Nilson verfilmt, 1984 auch El jueguete rabioso von Paolantonio. 59 Arlt, Roberto: „Roberto Arlt escribe sobre cine“, in: ders.: Notas sobre el cinematógrafo, Buenos Aires 1997, S. 20. 60 Glaubt man den Gerüchten, hat sich der homosexuelle Valentino einen Wunsch im Leben nicht erfüllen können: Ein Verhältnis mit Carlos Gardel, dem argentinischen Tangohelden und Filmstar. Eine 2003 erschienene Biographie eines der ersten Hollywood-Stars: Leider, Emily: Dark Lover: The Life and Death of Rudolph Valentino, New York 2003.

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gerentes del lujo que gastaban, incompatible con el escaso sueldo ganado. Los muchachos no eran menos estúpidos que estas hembras. Se trajeaban y dejaban bigotillo, plagiando escrupulosamente las modas de dos o tres eximios pederastas de la pantalla, a quienes las chicas del continente africano y sudamericano enviaban profusas declaraciones. Un día cualquiera, estas muchachas manoseadas en interminables sesiones de cine, masturbadas por sí mismas y los distintos novios que tuvieron, „contraían enlace“ con un imbécil. Éste a su vez había engañado, manoseado, y masturbado a distintas jovencitas, idénticas a la que ahora se casaba con él. De hecho estas „demi-vierges“, que empocaran de líquidos seminales las butacas de los cines de toda la ciudad, se convertían en señoras respetables. Y también de hecho, estos cretinos trasmutábanse en graves señores, que disertaban sobre „la respetabilidad del hogar y la necesidad de proteger las buenas costumbres de la contaminación del comunismo“.61

Zielscheibe der zynischen Kritik in diesem als Roman verkleideten gesellschaftskritischen Traktat sind zunächst die nordamerikanischen Filmproduktionen, die die Kinos und die Köpfe der Welt mit ihren ‚falschen‘ Glücksmodellen überschwemmen. Dabei gerät die argentinische Gesellschaft ins Kreuzfeuer, da sie einerseits die extravagante Lebensweise der Stars imitiert und andererseits sich nicht einmal bewusst ist, dass sie gleichzeitig die Ideale eines heuchlerischen Ehe- und Familienlebens übernimmt. Entsprechende Verhaltensweisen werden dann in einigen Aguafuertes porteñas persifliert. „Soy fotogénico“ zum Beispiel: El fotogénico es por regla general un admirador de Rodolfo Valentino. Yo concibo perfectamente que Rodolfo les guste a las mujeres. Para eso son mujeres. […] Pero que un hombre se pase los días y las noches frente a un espejo frunciendo los labios y las cejas para parecerse a Rodolfo… ¡hágame el favor!62

Neben der grotesken Imitation des amerikanischen star system – Greta Garbo und Rodolfo Valentino tauchen in den Texten immer wieder auf – im verlogenen Alltag des argentinischen Immigrantenlebens greift Arlt

61 Arlt, Roberto, El amor brujo, Buenos Aires 2001, S. 63f. 62 Arlt, Roberto: „Soy fotogénico“, in: ders.: Notas sobre el cinematógrafo, Buenos Aires 1997, S. 40.

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auch die „Academias cinematográficas“ an, die den Hollywood-Süchtigen das Geld aus der Tasche ziehen.63 Zwei Beiträge schreiben dem Kino ganz andere Funktionen zu. In „El cine y los cesantes“64 sehen die Arbeitslosen der Stadt in den billigen Kinovorstellungen die einzige Möglichkeit, ihre miserable Lebenslage zu vergessen. In „Calamidades del cine“65 schreibt der verärgerte Kinogänger Arlt über seine Erlebnisse in den Sälen, die sich mit brüllenden Kleinkindern und Picknick-Gästen bevölkern. Hier verliert das Kino seine Funktion als Filmvorführungsort und wird zum sozialen Treffpunkt. In der Provinz hat das Kino wiederum einen zweifelhaften emanzipatorischen Wert: El cine está realizando una tarea revolucionaria en estos pueblos atrasados, donde un comerciante en libros se moriría de hambre. Por otra parte, hay poco dinero para comprar libros, y la lectura requiere una imaginación cultivada, innecesaria ante el espectáculo cinematográfico.66

Zum einen ist das Hollywood-Kino der Literatur unterlegen, zum anderen bringt es Bewegung in das monotone Leben der Landbevölkerung, das Arlt verabscheut. Die Revolution des Kinos ist also eher zweifelhaft, da es kulturell nicht so viel bietet wie die Literatur, und weil die in den Filmen heraufbeschworenen Wünsche in der Provinz – anders als in der Großstadt Buenos Aires – kaum realisiert werden können. Und dennoch: „De lo que no me queda ninguna duda es que el cine está creando las modalidades de una nueva psicología en el interior.“67 Das Thema der Rivalität von Literatur und Kino wird um die Funktion des Kinos als Ersatzreligion erweitert. In einem erneuten Angriff auf die Frauen der Stadt denkt Balder, die Hauptfigur in El amor brujo:

63 Ebd., S. 68-73. Auffällig ist in diesem Text die vehemente Frauenfeindlichkeit. Sie findet sich auch in anderen Aguafuertes, z.B. in „Mamá, quiero ser artista“, „Se vamos a ‚Jolibud‘“ und „Parecidos con artistas de cine“, außerdem in mehreren Romanpassagen. Frauen scheinen bei Arlt anfälliger für Hollywood-Plagiate zu sein als Männer, auch wenn diese seiner Kritik nicht entkommen. 64 Arlt, Roberto: „El cine y los cesantes“, in: ders.: Notas sobre el cinematógrafo, Buenos Aires 1997, S. 89-93. 65 Arlt, Roberto: „Calamidades del cine“, in: ders.: Notas sobre el cinematógrafo, Buenos Aires 1997, S. 100-105. 66 Arlt, Roberto: „El cine y estos pueblitos“, in: ders.: Notas sobre el cinematógrafo, Buenos Aires 1997, S. 106-111, hier S. 109. 67 Arlt, Roberto: „El cine y estos pueblitos“, in: ders.: Notas sobre el cinematógrafo, Buenos Aires 1997, S. 111.

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Para subsistir la ausencia de vida espiritual (el religiosismo en su forma de culto es olvidado por las mujeres en cuanto éstas se casan) iban al cine. Leían escasas novelas fáciles, mas se interesaban por las intrigas de actrices de la pantalla, y cavilaban sus escándalos y los de sus galanes, cuyos adulterios ofrecían a estas imagina68 ciones reducidas pero hambrientas, un mundo extraordinario.

Literatur, und auch das Theater, verlieren in Arlts Texten ihren Stellenwert als „Escuela Práctica de Vida“ im Gegensatz zum Kino, dessen gesellschaftsbedrohende Gefahr er immer wieder im Hollywood-Kino lokalisiert. Gegenbeispiele nennt er jedoch ebenfalls: Emil Jannings, Charles Chaplin und Marlene Dietrich treten als Antagonisten von Garbo und Valentino auf, sie sind „la negación de la vulgaridad cinematográfica“69. Doch ist bezeichnend, dass der angehende Dramaturg vor allem die schauspielerischen Leistungen hervorhebt und das Kino Jannings mit der Literatur Andrejews und Dostojewskis vergleicht. Auch sonst nennt er in seinen Kritiken keine Regisseure oder kinematographischen Besonderheiten. Die großen Stummfilme der 20er Jahre in Europa und den USA, darunter auch die wirklich großen Filme mit Jannings und Dietrich, bleiben unberücksichtigt. Auch das argentinische Kino wird kaum beachtet, obwohl es mit den vielen Tangofilmen zumindest erwähnenswerte Variationen des Modells Hollywood bietet. Insgesamt ist Arlts journalistischer Blick auf das Kino fragmentarisch und lediglich ein kleiner Teil der Impressionen des Flaneurs und Korrespondenten der ethnologischen und geographischen „enciclopedia municipal“70, die die Aguafuertes darstellen. Die eindruckvollsten kinematographischen Visionen entwickelt Arlt ohne Zweifel in seinen Romanen. In ihnen werden Großstadt, Technik, Kino und Literatur zu intermedialen Schriftfiguren verwoben, die die Straßen von Buenos Aires zum Szenario haben, „porque la calle da la sensación de distancia, de camino, vaya a saber hacia qué país mejor.“71

68 Arlt 2001 [El amor brujo], S. 58. 69 Arlt, Roberto: „Viendo actuar a Emil Jannings”, in: ders.: Notas sobre el cinematógrafo, Buenos Aires 1997, S. 50-55, hier S. 52. Vgl. auch Arlt, Roberto: „Apoteosis de Charles Chaplin“, in: ders.: Notas sobre el cinematógrafo, Buenos Aires 1997, S. 44-49. 70 So Viñas im Vorwort zur Textauswahl von Arlt 1998, S. 7. 71 Arlt, Roberto: „En las calles de la noche“, in: ders.: Notas sobre el cinematógrafo, Buenos Aires 1997, S. 240.

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MONSTRORUM ARTIFEX (BORGES, SANTIAGO Y LA TERATOLOGÍA URBANA DE

INVASIÓN)

Teatro de operaciones Como Jaromir Hladík, el protagonista de „El milagro secreto“, Borges piensa que la irrealidad „es condición del arte“1: la creación depende del imaginativo artificio, no del registro y la reproducción; es la distancia y no la pretendida fidelidad de la representación lo que promueve la emoción estética. En una reseña cinematográfica de 1937, escribió: Entrar a un cinematógrafo de la calle Lavalle y encontrarme (no sin sorpresa) en el Golfo de Bengala o en Wabash Avenue me parece muy preferible a entrar en ese mismo cinematógrafo y encontrarme 2 (no sin sorpresa) en la calle Lavalle.

Si Borges comenzaba así su reseña sobre LA FUGA era, justamente, para reivindicar en ese film argentino la ausencia de color local y de las tautologías en que suele incurrir el realismo cinematográfico: Buenos Aires, pero Saslavsky nos perdona el Congreso, el puerto del Riachuelo y el Obelisco; una estancia entrerriana, pero Saslavsky nos perdona las domas de potros, las yerras, las carreras cuadreras, las payadas de contrapunto y los muy previsibles 3 gauchos ladinos a cargo de italianos auténticos.

Igual que LA FUGA, INVASIÓN (1969, Hugo Santiago)4 dedica una particular atención al tratamiento distanciado de un espacio demasiado fa1 Borges, Jorge Luis: Obras completas. 4 vols., Barcelona 1989-1996, vol. 1, p. 510. 2 Borges, Jorge Luis: „La Fuga“, en: Edgardo Cozarinsky: Borges en/y/sobre cine, Madrid 1981, p. 57. 3 Ibid., p. 57. 4 INVASIÓN, ópera prima de Hugo Santiago, se basa en un guión del propio realizador y Jorge Luis Borges, a partir de un argumento firmado por este

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miliar. Indudablemente, en contra de las exigencias del verosímil realista, influyó en el film el estilo artificioso y estilizado que a Borges le gustaba descubrir en el primer Joseph von Sternberg y en los films negros de la década del ’30.5 En un momento clave del film, Don Porfirio – el viejo jefe de los resistentes, que atesora la sabiduría de un filósofo o de un malevo – afirma: „La ciudad es más que la gente“. Nunca se explica en qué consiste esa superioridad que interpela a estos hombres de un modo irresistible como para que mueran en su defensa; pero es evidente que no se trata de un fácil patriotismo: si la ciudad (como un Moloch devorador) se nutre con el sacrificio de los suyos es porque allí se condensan los esfuerzos individuales y alcanzan la dimensión de un lacónico heroísmo. Dijo Bioy Casares: Invasión renueva el tema de la Ilíada, pero no canta la astucia ni la eficacia del vencedor, sino el coraje de unos pocos defensores de una Troya muy parecida a Buenos Aires. Allí no faltan la barra de amigos ni los tangos o milongas. Homero me disculpe: el corazón 6 está siempre de parte de los defensores.

Quizá podría decirse: de parte de los derrotados. Aunque para el caso es lo mismo. Porque la ciudad de INVASIÓN es un emblema: antes que un espacio urbano se trata de un teatro de operaciones, un escenario simbólico en donde se despliegan las estrategias poéticas del film.

La estilizada maquinaria Según Edgardo Cozarinsky, cierto imaginario cinematográfico resulta fundante en la concepción borgesiana de la narración: Hay un momento, que podría situarse entre Evaristo Carriego y la composición de „Hombre de la esquina rosada“, en que Stevenson y Von Sternberg suscitan por igual la atención de Borges, en que parece posible someter a los guapos del 900 y a Palermo a un trataúltimo y Adolfo Bioy Casares. Santiago volvería a colaborar con ambos escritores en su segundo film, LES AUTRES (LOS OTROS, 1974). 5 Aunque aquí voy a concentrarme en la relación entre Hugo Santiago y Borges, también resulta evidente en el film la influencia de Robert Bresson, con quien Santiago había trabajado en Europa. El estilo de Bresson se apoya sobre un depurado ascetismo y una marcada estilización. Gran parte del mérito de la ópera prima de Santiago proviene de su inteligencia para encontrar puntos de síntesis entre tradiciones estéticas tan disímiles como la de Bresson y la de Borges. Sin duda el común denominador entre ambas es el rechazo del realismo entendido como ideología estética de reproducción. 6 Citado en Cozarinsky 1981, p. 125.

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miento verbal equivalente al que Underworld aplica a Chicago y a 7 sus gangsters.

Joseph von Sternberg, Ernst Lubitsch, King Vidor: fines del período mudo y comienzos del sonoro, el apogeo de Hollywood. El universo cinematográfico de Borges parece restringirse a esos años en que da forma a su concepción de la narración literaria y que hacia 1935, con Historia universal de la infamia, está ya nítidamente configurada. Es indudable, entonces, que sus preferencias cinematográficas se hallan en consonancia con su poética de la escritura: Borges encuentra en el cine un dispositivo de resonancia en donde amplificar sus ideas generales sobre la narración. En su análisis de Borges como crítico literario, Ricardo Piglia sostiene que todo autor practica siempre „una lectura estratégica, que consiste en la creación de un espacio de lectura para sus propios textos [...] escribe sobre otros textos para hacer posible una mejor lectura de los textos que va a escribir o ha escrito.“8 Esta „lectura estratégica“ o interesada articula las críticas cinematográficas que Borges escribe por esos años. ¿Qué ve Borges en los films que reseña? Por un lado, estima los argumentos logrados (lo cual le permite rescatar un film como MARRUECOS, que sin embargo lo ha decepcionado), los momentos significativos en donde se produce la revelación de una verdad estética (como ciertas escenas de EL DELATOR o de STREET SCENE) y la coherencia dramática en la construcción de los personajes (lo cual no excluye las contradicciones psicológicas, como lo demuestra su admiración hacia la brutalidad del héroe en PRISIONEROS DE LA TIERRA y su rechazo a la versión de DR. JEKYLL Y MR. HYDE que reduce el enfrentamiento a una polarización entre el Bien y el Mal). Por otro lado, desconfía de los clisés del nacionalismo (así, se queja de la falta de autenticidad de Dublín en EL DELATOR) y repudia el color local (sobre LOS MUCHACHOS DE ANTES NO USABAN GOMINA opina: „es indudablemente uno de los mejores films argentinos que he visto: vale decir, uno de los peores del mundo“9). Es posible constatar esas mismas preocupaciones y preferencias en los guiones que Borges y Bioy Casares escribieron juntos. Los orilleros vuelve sobre el arrabal, las historias de guapos y el mito oral del coraje tal como aparecen en diversos relatos de Borges. Julio Morales es un compadrito que se interna en el Sur, a modo de viaje iniciático, buscando 7 Cozarinsky 1981, p. 24. 8 Piglia, Ricardo: „Los usos de Borges (entrevista realizada por Sergio Pastormelo)“, en: Variaciones Borges, 3 (1997) p. 19. 9 Borges, Jorge Luis: „Dos films“, en: Cozarinsky 1981, p. 55.

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probar su valor y así resarcirse de una acción cobarde. „Buscar un hombre de coraje y de temple, si es que los hay – dice antes de partir –; desafiarlo y averiguar tal vez quién es uno.“10 El paraíso de los creyentes, en cambio, explora (a la manera de ciertos films de Fritz Lang o de von Sternberg) el submundo exótico e inesperado de una Buenos Aires de chinoiserie, pleno de aventuras fantasiosas y malvados folletinescos, como en los primeros seriales cinematográficos. Al principio del relato, Raúl Anselmi e Irene Cruz salen del cine luego de ver un film de gangsters. Ignorando que en seguida se verá entreverado en una intriga semejante, el joven reconoce que esas películas son „inmorales y falsas“ pero que de todos modos lo atraen porque le recuerdan las historias fantásticas de su infancia animadas por Morgan, un jefe de pistoleros, que para él „fue como un héroe legendario“11. La estilización, el trabajo sobre los géneros, los personajes arquetípicos, la obsesión de una trama perfecta que gire sobre sí misma como un puro mecanismo son el marco de esos relatos para el cine. En el prólogo al volumen que incluye ambos guiones, Borges y Bioy Casares reconocen que no han pretendido innovar en las convenciones genéricas y consignan que „ambos films son románticos, en el sentido en que lo son los relatos de Stevenson. Los informa la pasión de la aventura y, acaso, un lejano eco de epopeya.“12 Años después, INVASIÓN recupera elementos de esos textos previos: la misma idealización crispada, la misma pulsión de heroísmo y el mismo espíritu épico.

Aquilea, 1957 La sinopsis que escribieron Borges y Bioy Casares dice lacónicamente: Invasión es la leyenda de una ciudad, imaginaria o real, sitiada por fuertes enemigos y defendida por unos pocos hombres, que acaso no son héroes. Luchan hasta el fin, sin sospechar que su batalla es 13 infinita.

Ahí está ya toda la información necesaria: el tono, los personajes y el espacio. Por un lado, en su indefinición, en su desinterés por adscribir la historia a un determinado registro, la síntesis argumental impone un 10 Borges, Jorge Luis/Bioy Casares, Adolfo: Los orilleros. El paraíso de los creyentes, Buenos Aires 1983, p. 26. 11 Ibid., pp. 83s. 12 Ibid., p. 8. 13 Reproducida en Cozarinsky 1981, p. 86.

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régimen narrativo ambiguo, propicio para la oscilación de lo fantástico. Por otro lado, la modalización con que define a los personajes determina su carácter paradójico: su verdadero heroísmo consiste, precisamente, en actuar con valentía sobreponiéndose al miedo. No intentan conquistar una hazaña; pretenden, en cambio, enfrentarse a su destino con cierta melancólica dignidad. Pero sobre todo, está la ciudad como topos trágico, como tarea interminable. Porque Aquilea no es cualquier ciudad; es un emplazamiento definido por el asedio, un espacio cerrado, sin puntos de fuga. Llevada al límite – se sabe – ninguna ciudad podría hacer frente a un sitio prolongado; y todo sitio pretende eso: extremar las condiciones más alla de las cuales no hay supervivencia posible. En el largo plazo, el aislamiento se convierte en condena. Una muerte segura. No se trata, entonces, de vencer o ser derrotado. El enfrentamiento se plantea en otros términos; es un ejercicio de resistencia, una prueba de valor. Y si esto es así, lo verdaderamente trágico del argumento no es el resultado del combate sino la constatación de que no tiene fin. INVASIÓN es, ante todo, un espacio y un tiempo legendarios donde es posible escenificar una trama de aventuras sobre el mito del coraje: su máquina narrativa es un compuesto de criollismo y fantástico; de ese contraste el film extrae su mayor productividad estética. Por eso, la distancia entre los términos puestos en contacto no intenta ser suturada por una intriga coherente. El film preserva cuidadosamente la heterogeneidad de sus materiales y destina su mayor atención a la formulación de un mecanismo fluido. El éxito de una trama así entendida no radica en la pobre verosimilitud realista sino en la pericia de un estilo donde poner a funcionar de manera eficiente un juego de elementos formales que en ningún momento renuncian a su diferencia. Hay un prólogo, en el que se presenta a los bandos enfrentados y se enuncian todos sus elementos visuales y sonoros. Luego de los títulos, Don Porfirio le anuncia a Herrera la inminente invasión: – Tantos años sin salir de las vísperas. Ahora ellos están por entrar. Ese día es hoy. – Mejor así. Uno se cansa de esperar.

La defensa se organiza en dos relatos: el relato de los viejos y el de los jóvenes avanzan paralelamente, como ignorándose mutuamente. El primero narra la sucesión de muertes que diezma a los resistentes: constituye la línea principal de la trama, es el más visible y ocupa el cuerpo central del film. El segundo describe las operaciones clandestinas de los jóvenes que se aprestan a la resistencia: es más fragmentario y pro-

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gresa de manera subterránea, insinuándose entre las vetas del relato principal. En el primer grupo milita Herrera, el protagonista; en el segundo, Irene, su novia. Tomando a la pareja como pivote, las dos líneas narrativas se entrecruzan en el mismo espacio para eludirse minuciosamente. Sólo al final se revela que ambos grupos estaban comandados por el mismo Don Porfirio. Hay un epílogo que trabaja sobre los mismos núcleos formales que el prólogo: eliminados los viejos, la nueva generación de resistentes ocupa la escena. Allí vuelven a enumerarse los principales elementos visuales y sonoros. Mientras reparte las armas entre los jóvenes, Don Porfirio anuncia: – Tantos años estuve preparándolos. Ellos ya están adentro. Ahora la resistencia empieza. Ahora les toca a ustedes. – Ahora nos toca a nosotros. Pero tendrá que ser de otra manera.

La trama posee un diseño perfectamente simétrico; es decir, una forma cerrada dentro de la cual es posible desarrollar un tema (cierta relación con el coraje y con la muerte) y la espiral de sus variaciones.14 Beatriz Sarlo ha analizado la predilección de Borges por las tramas perfectas de la literatura fantástica en la construcción de sus propias ficciones: la literatura fantástica construye mundos hipotéticos basados en la potencia de la imaginación libre de los límites impuestos por las estéticas representativas o miméticas. Lo fantástico es un modo que sólo responde a sus propias leyes internas [...]. Borges siempre expuso su argumento teniendo como enemigo a la novela realista como si ésta fuera no sólo una forma del género sino una ideología 15 cuya expansión sobre el resto de la literatura había que controlar.

En INVASIÓN, el recurso a una trama fantástica habilita la construcción de un objeto autónomo que gira sobre sí mismo y que desmiente el supuesto carácter subordinado de la representación. En lugar de apoyarse en la 14 Santiago recuperará la noción de una trama simétrica en LES AUTRES. También allí hay una obertura que contiene todos los elementos visuales y sonoros del film: se trata de una pura forma que „al ponerse en movimiento genera todo el film“; Santiago, Hugo: „Introducción“, en: Borges, Jorge Luis/Bioy Casares, Adolfo/Santiago, Hugo: Les autres, Paris 1974, p. 16. En ÉCOUTE, VOIR (EL JUEGO DEL PODER, 1979), a su vez, desarrollará con mayor complejidad la idea de un film estructurado en dos planos que se responden como voces en contrapunto. En Santiago, el concepto de estructura – en tanto sistema de combinaciones, variaciones y restricciones – parece responder menos a un patrón narrativo que musical. 15 Sarlo, Beatriz: Borges, un escritor en las orillas, Buenos Aires 1995, p. 126.

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fácil referencialidad de la imagen cinematográfica para simular una imitación del mundo real, el film se construye contra toda transparencia: en la organización perfecta de sus componentes, evidencia su voluntad de artefacto estético. La película se abre sobre un gran plano general de una ciudad que podría ser Buenos Aires a finales de los años 60; sin embargo, en seguida se imprime en la imagen un nombre y una fecha que desmienten esa presunción inicial: „Aquilea, 1957“. Según Santiago, la elección del toponímico fue determinada por su mera belleza fonética. (La decisión, no obstante, está lejos de ser caprichosa: Aquilea fue una ciudad romana destruida por Atila en el año 452, después de un sitio de tres meses. Se ve, entonces, que la moderna Aquilea no desdeña las resonancias trágicas que marcaron el destino histórico de su antecesora.) Por su parte, los guionistas dijeron haber elegido esa fecha precisamente por su insignificancia, porque no proporcionaba ningún dato en especial, porque suponía una temporalidad absolutamente contingente: si por un lado permitía conferir verosimilitud al relato, por otro lado eludía tanto la referencia simbólica de una efemérides como la suspicacia interpretativa que provocaría la ausencia de un tiempo preciso. Gracias al carácter analógico de la imagen fílmica, el cine ha sido particularmente sensible al realismo. Desde que David Griffith adoptó como modelo de representación la narrativa de Dickens, el realismo decimonónico ha sido una presencia tan constante en el cine que terminó por asumirse como su gramática natural.16 La operación de Santiago no intenta contradecir la referencialidad, sino – apoyándose en ella – subvertirla. No se trata de ocultar la materia con que se ha construido esa pura forma ficcional que es la película; INVASIÓN no intenta en ningún momento borrar las huellas del referente sino que todo su esfuerzo apunta a desrealizarlo.17 Aquilea es y no es Buenos Aires. O mejor: Aquilea podría ser Buenos Aires despojada del color local que le im16 Para un análisis detallado sobre la constitución del modelo de representación griffithiano, véase Burch, Nöel: El tragaluz del infinito, Madrid 1987. 17 LAS VEREDAS DE SATURNO (1985) es, tal vez, el film en donde puede percibirse con mayor claridad la manera en que Hugo Santiago se aprovecha de esa aparente inscripción realista de la imagen cinematográfica, extremándola hasta desmontarla y transformarla en un territorio contiguo a la alucinación. Si INVASIÓN plasma la particular visión de Santiago sobre Buenos Aires y LES AUTRES sobre París, LAS VEREDAS DE SATURNO nivela ambos espacios en la misma dimensión de lo imaginario. Una doble ausencia: en la pesadilla del exiliado, París se desrealiza y se vuelve tan fantasmal como Aquilea.

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primió la estética realista. Lo que resulta claro es que, en vez de contextualizar la acción futura del film, esa mención incial de un espacio y un tiempo ciertos pretende ostensiblemente sustraer a la trama de toda adscripción fija a un referente. En todo caso, INVASIÓN parecería buscar, desde el comienzo, una forma de nombrar que escape a esa inmovilidad sustantiva que impone siempre la nominación. Como en los idiomas de „Tlön, Uqbar, Orbis Tertius“, donde las formas verbales o la acumulación de adjetivos evitan nombrar directamente, también en el film de Santiago se trata de un desplazamiento; es decir: encontrar una forma de la representación que no detenga el vértigo de la percepción, que no la congele en una imagen fija.18 En este sentido, el uso de la literatura que se rescata en INVASIÓN, elude el tipo de relación parasitaria que los films más convencionales suelen establecer: se trata, aquí, de una mutua desterritorialización. Santiago no adapta; no va hacia la literatura sino en la misma medida en que exige a los escritores con los que colabora salirse de ella: No intentar confundir el relato por un procedimiento (instrumento) literario y reproducir esa confusión en cine, sino – actitud opuesta – enfrentar el relato en cuanto objeto natural (como un rostro, una

18 Es posible expandir la genealogía borgesiana del procedimiento. Además de los idiomas sustantivos de Tlön, pueden encontrarse en su obra numerosas descripciones de lenguajes no convencionales que se niegan a reducir la complejidad del mundo (véase, por ejemplo, el lenguaje de los Yahoos en „El informe de Brodie“) y sistemas de clasificación contradictorios o paradójicos (como los de „El idioma analítico de John Wilkins“). Por otra parte, los absurdos esfuerzos de Ireneo Funes fracasan precisamente en su pretensión de hallar una palabra justa y transparente, en su convicción de que es posible traducir la singularidad de la experiencia a un sistema que la fije y la preserve. También abundan los ejemplos en donde la percepción atesora una vivacidad que la representación traicionaría al intentar fijarla en una imagen. En „La busca de Averroes“, por ejemplo, se lee: „La memoria de Abulcásim era un espejo de íntimas cobardías. ¿Qué podía referir? Además, le exigían maravillas y la maravilla es acaso incomunicable; la luna de Bengala no es igual a la luna de Yemen, pero se deja describir con las mismas voces“ (Borges 1989-1996, vol. 1, pp. 584s.). Y en „El inmortal“: „Pensé que Argos y yo participábamos de universos distintos; pensé que nuestras percepciones eran iguales, pero que Argos las combinaba de otra manera y construía con ellas otros objetos; pensé que acaso no había objetos para él, sino un vertiginoso y continuo juego de impresiones brevísimas“ (Borges 1989-1996, vol. 1, p. 539).

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calle, un ruido) y tratarlo y modificarlo por medios cinematográfi19 cos, para hacerlo materia cinematográfica.

La literatura (cierta literatura; e incluso: cierto uso de cierta literatura) no es aquí la mera garantía de una armazón argumental sino la piedra de toque de una poética que cuestiona el carácter asertivo y tautológico de la imagen cinematográfica. Los planos, podría decir Santiago, deben ser extraídos de la escena y no posados o tendidos sobre ella. Escapar del registro hacia la modulación formal. La cámara captura los objetos y los procesa para dotarlos de una nueva forma. El procedimiento – se notará – conserva las huellas de la concepción bressoniana sobre el cinematógrafo, que se resiste a toda representación en beneficio de la estilización: „Mira tu película como si fuera una combinación de líneas y volúmenes en movimiento al margen de lo que representa y significa.“20 Las imágenes devienen materia volátil: formas inapresables, se han librado del oprobioso estatuto referencial de la óptica. Poner todo en oscilación, en estado de trance. De eso se trata.21

Una teratología urbana „Para Invasión hice un mapa – el que se ve en el film – que no es el mapa de Buenos Aires pero que allí se inspira“, ha dicho Hugo Santiago.

19 Santiago 1974, p. 13. Cuando Santiago explica por qué no adapta textos literarios aunque insiste en trabajar con escritores, se refiere a la necesidad de que cada film desarrolle su propio sistema expresivo. No se trata de apoyarse en la eficacia de un relato literario sino de utilizar el estilo de un escritor en beneficio de un proyecto cinematográfico preciso; véase Santiago, Hugo: „Partituras“, en: David Oubiña/Gonzalo Aguilar (eds.): El guión cinematográfico, Buenos Aires 1997, pp. 121-130. Esto es así tanto en el caso de Borges y Bioy Casares para INVASION y LES AUTRES, como en el de Juan José Saer para LAS VEREDAS DE SATURNO o Claude Ollier para ÉCOUTE, VOIR. 20 Bresson, Robert: Notes on cinematography, New York 1997, p. 44. 21 Esta misma concepción puede observarse en los films de teatro y en los films de música, que Santiago ha rodado paralelamente a sus films argumentales (ELECTRE, 1986; LA GESTE GIBELLINE, 1988; ÉNUMERATIONS, 1989; LA VIE DE GALILEE, 1991 o LA FABLE DES CONTINENTS, 1992). Más recientemente, los teóricos del neoformalismo cinematográfico han desarrollado una propuesta en algunos aspectos semejante a la posición sustentada por Santiago. Véase por ejemplo la introducción de Thompson, Kristin: Breaking the Glass Armour. Neoformalist Film Analysis, New Jersey 1988.

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DAVID OUBIÑA El mapa está extremadamente trabajado y fue realizado por un urbanista. Es una ciudad más pequeña que Buenos Aires; imaginamos una ciudad de doscientos o trescientos mil habitantes, 22 con los diferentes barrios y los diferentes espacios del film.

El mapa de Aquilea (sobre el que se formulan y reformulan las estrategias de defensa en la casa de Don Porfirio) muestra un compuesto urbano, un espacio sintético. En los dos sentidos: una ciudad que es una amalgama de elementos dispares; pero también una ciudad artificial, derivada. Lo inquietante de ese espacio otro no surge entonces de una alteridad absoluta sino, justamente, de su cercanía con lo que convencionalmente se considera real.23 Aquilea es un hrönir. No es un mundo completamente otro; es casi nuestro mundo, apenas diferente, una leve desviación. Se trata de un espacio de diseño, un diagrama sinóptico. Pero ese mínimo desplazamiento de la representación es como una consummatio mundi que de pronto inaugurará una serie nueva.24 La ciudad de INVASIÓN no es una mera repetición de una ciudad conocida; como en los retratos de Galton, la superposición responde a una combinación selectiva que es, a la vez, la consecuencia de los diferentes fragmentos y su principio de organización. Espacio atiborrado, barroco, Aquilea aparece como un lugar reconocible y extraño; Hugo Santiago desarma la ciudad y luego vuelve a armarla con los mismos fragmentos, pero dándoles una configuración completamente nueva. El resultado es una ciudad inquietante y familiar, como un déjà-vu. 22 Citado en Baudou, Jacques/Calame, Alain/Gayot, Paul (eds.): Borges et le cinéma, Reims 1989, p. 47. 23 En esto Aquilea difere completamente de lo que Pierre Jourde denomina „geografías imaginarias“: creaciones ex nihilo, mundos autónomos, distantes, al margen del nuestro. En los personajes de LES AUTRES, como en el tratamiento espacial de INVASIÓN, la alteridad es un proceso; no es una negación sino una transformación. En ese segundo film, el suicidio de un hijo coloca al padre ante la evidencia de que nunca lo conoció. En su búsqueda por conocer las razones de esa muerte abrupta, el hombre es arrastrado hacia un proceso de extrañas metamorfosis: como si la pesquisa invirtiera de manera perversa el progresivo ascenso hacia la claridad de „El acercamiento a Almotásim“, el hombre deja de ser él mismo y se convierte en muchos otros hasta que finalmente ya no sabe quién es. 24 En su enconada autonomía estética, la operación juega sin embargo su apuesta ideológica. En LAS VEREDAS DE SATURNO, por ejemplo, imágenes documentales de la represión ilustran el informe de un noticiero ficticio sobre ese lugar llamado Aquilea que no es Argentina pero que se le parece demasiado. El discurso desnaturaliza la imagen: ese leve corrimiento produce un choque violento que, en un mismo movimiento, produce lo fantástico y su modulación como discurso político.

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Las exigencias del policial hacen que el relato circule de un muerto a otro; pero en INVASIÓN eso no supone un desarrollo del conflicto hacia su resolución. Como en „La muerte y la brújula“, donde cada asesinato es parte de una serie organizada según los puntos cardinales, en el film de Santiago los cadáveres se disponen como piezas en el diseño de una figura. Pero a diferencia del cuento de Borges, no hay aquí una trama secreta que de pronto cobre sentido; la única constelación que se vislumbra es una topografía perversa y el rostro callado de la derrota. Siguiendo los enfrentamientos entre invasores y defensores, la narración salta de una frontera a otra, de un punto cardinal a otro. Hace coexistir paisajes excluyentes en una continuidad y una vecindad improbables. La frontera Sur es un descampado, posiblemente cercano al puerto; la frontera Norte es una zona de depósitos fabriles y vías muertas; la frontera Suroeste es un suburbio de casas bajas; la frontera Noroeste se adentra en las sierras; la frontera Noreste es una isla en el delta. Esa disposición del espacio es aquí estructural, organiza la narración. El relato como enumeración topográfica: no hay desplazamientos entre esos diferentes puntos; la mínima intriga les ahorra a los personajes la tarea de trasladarse para cumplir con la acción. La ciudad de Aquilea está hecha de sitios emblemáticos, no de trayectos. En el espacio pleno de INVASIÓN lo obturado son las conexiones entre los fragmentos, los espacios intermedios, los blancos. El film no narra sino que circula a través de las situaciones aisladas con que debería haber articulado su relato. En todo caso, no narra en el sentido tradicional de encadenar una serie de acciones dentro de una causalidad dramática. Muestra episodios aislados, como microrrelatos. Y no los entrelaza sino que los pone en contacto prescindiendo de mediaciones. El montaje, que hace posible la configuración de la ciudad, rige también las inflexiones de la trama. Podría decirse, entonces, que la elipsis es la operación básica del film. En ese sentido, el tipo de ruptura que produce Santiago sobre los modos convencionales de representación se asemeja a la de Resnais más que a la de Godard, aun cuando en los tres casos se trata de una unidad conflictiva que nunca se resuelve. Pero mientras que Godard trabaja sobre la confrontación y la fricción de elementos contradictorios para descubrir una impensada lógica entre lo disímil, Resnais opera por continuidad de lo diferente, sobre la imposible articulación de lo irreductible. Santiago, como Resnais, produce una inquietante fluidez. En una escena, Lebendiger y Moon se dirigen a la frontera Noroeste para encargarse del envío de las armas para la defensa. Las sierras de la provincia de Córdoba prestaron el modelo para el paisaje de ese confín, pero el interior

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del hotel está construido con fragmentos de edificios pertenecientes a tres lugares diferentes. De manera tal que tanto el paisaje como el decorado son espacios que sólo existen en (por) la composición del montaje. Los ejemplos podrían multiplicarse; pero lo que interesa aquí de esa operación es su carácter perversamente combinatorio: cuanto más perfecta, cuanto más racional resulta la continuidad lograda por el montaje, más evidente se revela su discontinuidad profunda. Es lo que sucede con muchos de los animales fantásticos descritos en El libro de los seres imaginarios: compuestos con partes de otros animales, no es la ausencia de armonía lo que los vuelve asombrosos sino aquello que se advierte en ellos como formación contra natura. (Habría que pensar, claro, que tal vez la percepción reduce toda diferencia conflictiva a lo monstruoso porque pretende apresarla con las categorías insuficientes de lo conocido.) De la misma manera, si INVASIÓN pertenece al género fantástico, eso se debe – ante todo – a su singular teratología urbana. Aquilea es una ciudad monstruosa. Pero en todo caso, lo monstruoso sólo pretende consignar aquí ese desacomodamiento de las heterotopías que provocaban la risa incómoda de Foucault.25 Al respecto, Sylvia Molloy escribe: Ni las series heteróclitas, ni la concepción – aparentemente aislada – de disjecta membra son ajenas al discurso borgesiano. Lo que sí parecería evitar ese discurso, en cambio, es la coordinacion y la combinación de esos elementos sueltos en una sola imagen 26 coherente.

El juicio podría aplicarse a la ciudad de INVASIÓN. Construido en el cruce de estéticas y tradiciones heterogéneas, el film extrae del conflicto su mayor potencia estética. Aquilea es el signo de una inadecuación. La ciudad acosada no es otra cosa que eso: el locus desgarrado de un enfrentamiento interminable.

Lo trágico cinematográfico Así planteada, INVASIÓN es en cierto modo una colección de diferentes modos de enfrentarse a la muerte. No se trata de una excepción, ya que esa idea reaparece como una constante en otros films del realizador: en LES AUTRES, por ejemplo (cuya trama se pone en funcionamiento por un 25 Para la definición del concepto de heterotopía en Foucault, véase la introducción de Foucault, Michel: Las palabras y las cosas, Buenos Aires 1985. 26 Molloy, Sylvia: Las letras de Borges, Buenos Aires 1979, p. 193.

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suicidio), o en LAS VEREDAS DE SATURNO (cuyo régimen visual parece responder a la pregunta „¿cómo mira un cadáver?“). En todo caso, podría señalarse como un rasgo singular de INVASIÓN cierto apuro de los personajes por acabar con todo. Como si la certeza de un fin constituyera un refugio mayor que la interminable incertidumbre de la espera. Tal vez por eso, Irala – el más timorato – se ofrece como voluntario para una misión suicida: „Si alguien ha de morir, el más indicado soy yo. Ustedes pueden ofrecer su valentía y su destreza; yo, sólo mi muerte“. Lebendiger, engañado por una mujer que lo entrega a sus asesinos, dirá con calma antes de la ejecución: La verdad es que yo esperaba otra cosa. Otra cosa más agradable, pero que hubiera sido una mera repetición. En cambio ahora puedo satisfacer una curiosidad que siempre me inquietó: la de saber si soy valiente. Parece que sí. Que no la ofenda lo que dije.

Poco antes, frente a su torturador, Herrera – indudablemente el más cercano al ideal apolíneo del héroe – confesará que tiene miedo aunque se niega a revelar en dónde tienen escondidas las armas. Y cuando, contra todo consejo, acuda al estadio de fútbol para el enfrentamiento final, Irene sabrá que se dirige a una muerte segura porque – tal como se lo reprocha a Don Porfirio – „él necesita ser valiente“. En esa nostalgia de un destino épico, INVASIÓN descubre una forma moderna de lo trágico. Y habrá que reconocer, entre los aportes estéticos de Hugo Santiago, su empecinamiento en recuperar para el cine una dimensión trágica. Todos, en el film, contribuyen a escribir ese destino que les está asignado y que los excede. Como en „Tema del traidor y del héroe“, los personajes parecen actuar para cumplir con ese fatum irremediable. Pero al hacerlo, descubren la belleza irresistible de entregarse a una pasión. Y eso los redime de la condena al silencio.

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…COMBATIR LA RAZÓN CON LA SIN-RAZÓN. VOM ANTISURREALISMUS ZUM M E T A S U R R E A L I S M U S ( CARPENTIERS UND SÁBATOS REPLIK AUF DEN FRANZÖSISCHEN SURREALISMUS) Für Walburga Hülk No es causalidad ninguna que haya sido en los países más dominados por la razón abstracta donde los artistas hayan ido en busca del paraíso perdido: el arte de los niños o de los negros o de los polinesios. (Ernesto Sábato: El rescate del mundo mágico)

1.

Souvenir de Belgrano: Nachrichten von einem wunderbaren Kontinent

Als ich im August 1994 während eines dreijährigen Südamerikaaufenthalts auf einer estancia in der Sierra de la Ventana am südlichen Rand der Provinz von Buenos Aires zu Gast war, berichtete uns der dortige Gutsverwalter eine Begebenheit aus seinen Jugendjahren in Brasilien zu Beginn der 50er Jahre: Einmal im Jahr sei ein Wanderpriester auf eine damals von unserem Gastgeber betreute fazenda gekommen und habe dort den Landarbeitern eine Messe gelesen, die Beichte abgenommen und gelegentlich auch Trauungen vollzogen. Unter Umständen konnten diese Feste zu Open-Air-Veranstaltungen mit einigen Dutzenden zu verheiratender Paare entarten. Indes erhielt die Geschichte unseres Gewährsmannes dadurch eine groteske Pointe, dass einer der campesinos – wohl weniger von dem Ritus als von dem darauffolgenden allgemeinen Besäufnis – so angetan war, dass er sich in aufeinanderfolgenden Jahren

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immer wieder dem Heiratszeremoniell unterzog, bis sich der Priester schließlich dessen nach einigen Jahren gewahr wurde und halb entsetzt, halb überrascht ausrief: „Du warst doch schon einmal da!“ – „Ja, Hochwürden, aber heiraten ist doch so schön.“ Eine Beispielsammlung ähnlich ‚außergewöhnlicher‘ Begebenheiten ließe sich ad infinitum verlängern, – etwa mit der Anekdote über die mehrmalige Exhumierung eines estanciero in der argentinischen Provinz oder aber auch mit der allen Buenos Aires-Touristen aufgetischten ‚Erklärung‘, die hellrote Farbe des argentinischen Präsidentenpalastes beruhe auf der Mixtur von Kalktünche und Stierblut, – eine Ursprungsmythologie, die übrigens auch dadurch nicht glaubwürdiger wird, dass Alejo Carpentier sie in die Baubeschreibung der Citadelle La Ferrière in seinem Roman El reino de este mundo aufgenommen hat. Indes exemplifiziert die lebensweltliche Anekdote über die mehrmalige Heirat ebenso wie der Herkunftsmythos der Casa Rosada nicht nur, wie weitgehend eine letztlich romantisierende Lateinamerikawahrnehmung durch Europäer auf Selbstwahrnehmung und Selbstdefinition Lateinamerikas wirken, sondern auch, welche Mechanismen hierbei wirken. Die Vervielfachung des an sich singulären Zeremoniells, das nach abendländischem Verständnis die soziale Institution Familie begründet, erzeugt in der Anekdote des brasilianischen fazendeiro eine groteske Grenzüberschreitung, die dem Europäer als Inbegriff einer jenseits okzidentaler Rationalität situierten Lebenspraxis erscheinen muss. Anderssein wird hier als gegen abendländische Kulturnormen inszenierte willkürliche Setzung begriffen. Die argentinische Ursprungsmythe wiederum bezieht sich auf ein in animistischen Kulten gründendes Ritual – die im brasilianischen Macumba bzw. dem karibischen Vodú geübte Praktik des Verschmierens von Tierblut – zurück: Das Blut jener Rinder, die den Reichtum des Landes begründen, dient im Sinne des Animismus nunmehr der magischen ‚Fortifikation‘ eines Bauwerks, das als Amtssitz eines demokratisch gewählten Präsidenten eigentlich Ausdruck des gestaltenden Waltens aufklärerischer Vernunft sein sollte. Beide Beispiele handeln insofern letztlich von Deformationen, die Diskursen, Medien und Institutionen bei der Versetzung in den lateinamerikanischen Kontext widerfahren. In beiden Beispielen wird direkt oder indirekt auf Rechtsinstitute – Ehe und Präsidentialherrschaft – rekurriert, um diese auf eine vor- oder antirationale Lesart hin zu öffnen. So können in analoger Weise letztlich auch ästhetische und kulturelle Institute wie Mythen, Stilkonfigurationen, Gattungen und Diskurse, wo sie in der lateinamerikanischen Kultur her-

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vortreten, als Figuren transkultureller Versetzung aufgefasst werden, deren spezifische Wertigkeit erst durch ihre ambivalente Teilhabe an der Alten Welt zu lesen wäre.1

2.

Europhobien zwischen Fontenay-aux-Roses und Neuschwanstein

Indes wird zumal aus lateinamerikanischer Sicht im Kontext der Versetzung der Avantgardeästhetiken immer wieder die Frage einer Authentizität hervorgehoben, die als von der nacharistotelischen Rationalität frei gedacht werden soll. Gabriel García Márquez, der sich zumal im Umfeld der Nobelpreisverleihung polemisch vom Aristotelismus distanzieren zu müssen glaubte,2 war keineswegs der erste, der eine Kritik der Aufklärung als genuinen Standpunkt Lateinamerikas reklamieren wollte, erweist sich doch letzten Endes dieser europakritische Impetus ebenso als einer der genuin okzidentalen Diskurse, nämlich als jener philosophische Diskurs, der die abendländische Moderne erst hervorbringt. Auch das gegen die europäische Rationalität gesetzte Plädoyer für ein der Vernunft nicht zugängliches Anderes, das mit Begriffen wie dem Carpentierschen real maravilloso mittlerweile zum philologischen und ideologischen Klischee geworden ist, entstammt insofern einer europäischen Selbstlektüre. In diesem Kontext sind zahlreiche Äußerungen prominenter lateinamerikanischer Autoren als polemische Abblendungen durchaus hinterfragenswert. So erweist sich etwa Alejo Carpentiers viel diskutiertes und doch beständig missverstandenes Vorwort zu dem frühen Roman El reino de este mundo (1949), das im Zuge einer von den französischen Surrealisten selbst initiierten Europakritik3 der als intellektualisiert diffamierten nachaufklärerischen Phantastik ein in naiver Ursprünglichkeit gedachtes lateinamerikanisches Wunderbares gegenüberstellt: la sensación de lo maravilloso presupone una fe. Los que no creen en santos no pueden curarse con milagros de santos, ni los que no son Quijotes pueden meterse, en cuerpo, alma y bienes, en el 1 Vgl. Vf.: Paraphrasen der Alten Welt: Interkulturelle Ästhetik im Werk von Alejo Carpentier, Tübingen 2004, zum Folgenden besonders S. 51ff. 2 So etwa García Márquez im Gespräch mit Beate Pinkerneil in einem ZDFInterview anlässlich des Nobelpreises: „Das einzige, was uns die Europäer gebracht haben, ist der Aristotelismus und den brauchen wir nicht.“ (Erstsendung ZDF, Oktober 1982). 3 Vgl. hierzu Klengel, Susanne: Amerika-Diskurse der Surrealisten. „Amerika“ als Vision und als Feld heterogener Erfahrung, Stuttgart/Weimar 1994.

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GERHARD WILD mundo de Amadís de Gaula o Tirante el Blanco. Prodigiosamente fidedignas resultan ciertas frases de Rutilio en Los Trabajos de Persiles y Sigismunda, acerca de hombres transformados en lobos, porque en tiempos de Cervantes se creía en gentes aquejados de manía lupina. Asimismo el viaje del personaje, desde Toscana a 4 Noruega, sobre el manto de una bruja.

Bereits Michael Rössner hat in seinen Überlegungen zum frühen Carpentier5 darauf hingewiesen, dass in einer Welt, die das Wunder als normal akzeptiert, das Spezifikum des Wunderbaren verloren gehe, und weist den Terminus der „wunderbaren Wirklichkeit“ in den Bereich des abendländischen Diskurses vom „verlorenen Paradies“,6 wodurch eine magische Wirklichkeitsauffassung, wie sie zeitweise neben Carpentier auch Asturias, García Márquez, Amado und Arenas vertraten, einer Autoreflexion der europäischen Kulturphilosophie entspringt: Nicht erst Jean-Jacques Rousseau oder gar Paul Gauguin und Oswald Spengler sind die Apologeten des ‚Anderen‘, vielmehr lässt sich die Reihe der eurozentrischen Exotismen bis in eine Antike zurückverfolgen, welche die bereits geographisch durchaus relative Dichotomie von Abendland und Morgenland ebenso begründet, wie in der Moderne die vermeintliche Differenz von Alter und Neuer Welt.7 Bemerkenswert ist im Hinblick auf die deutlich europapolemischen Tendenzen freilich auch, dass im abendländischen Diskurs rationale und wunderbare Wirklichkeitsauffassung von vornherein in wesentlich komplexerer Abhängigkeit zu denken sind als in Carpentiers real maravilloso-Theorem, da rationalistisch begründete Entzauberung und ein sich gleichsam naiv selbst hervorbringendes Wunderbares in der abendländischen Ästhetikgeschichte bereits in der Antike, aber ebenso in Vormoderne und Moderne nebeneinander existieren, einander womöglich bedingen konnten,8 wie die aus der seit

4 Carpentier, Alejo: „Prólogo [El reino de este mundo]“, in: ders.: Obras completas, Bd. 2, Mexiko/Madrid/Caracas/Buenos Aires 1985, S. 15. 5 Rössner, Michael: „Europäische Avantgarde und Ethnologie im Kontext der Suche nach nationaler Identität: Gedanken zum frühen Asturias und zum frühen Carpentier“, in: Iberoamericana, 31/32 (1985), S. 23-38. 6 Rössner, Michael: Auf der Suche nach dem verlorenen Paradies, Frankfurt a.M. 1988. 7 Vgl. Vf.: „...durch einsame Landstriche auf der Suche nach Abenteuern...: Überlegungen zu einer welthistorischen Dimension des Fiktiven“, in: Wissenschaft und Forschen, 9 (1992), S. 408-413, sowie Vf. 2003, passim. 8 Vgl. Vf.: „Verba vana non loqui: Banalisierung und Politisierung des Wunderbaren in der Iberoromania“, in: Friedrich Wolfzettel (Hrsg.): Das Wunderbare in der Artusliteratur, Tübingen 2003, S. 363-379.

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Horkheimer/Adorno vielbeschworenen „Dialektik“ des Rationalismus hervorgegangene romantische Weltauffassung belegt. An anderer Stelle9 habe ich eingehend dafür plädiert, Carpentiers gleichsam zum Kanontext eines sich letztlich unhinterfragbar gerierenden Lateinamerikaverständnisses degenerierten Prologtext durch eine konsequent poetologische Lektüre neu lesbar zu machen, wodurch Carpentiers Anteil an jenen antirationalistischen europäischen Diskursen erst evident wird, deren Ausbeutung der Roman El reino de este mundo Seite für Seite stillschweigend betreibt. Davon ausgehend ließe sich postulieren, dass im Bereich der Lateinamerikanistik gerade jene Studien ein Desiderat bleiben, die frei von dem Dogmatismus einer exotisch apriorisierten Ursprünglichkeit die Interdiskursivität der lateinamerikanischen Kultur in ihrer bislang eher verleugneten Handwerklichkeit herausstellen. Erweisen sich doch nicht nur die von Carpentier in dem Prolog angeführten Beispiele, sondern auch zahlreiche Details des sich anschließenden Romans El reino de este mundo als jener Operationalisierung verpflichtet, die zumal okzidentales Kunstwollen begründet, wenngleich Carpentier – und mit ihm auch Asturias und García Márquez – diese als Mechanisierung und Rationalisierung der Vernunft diskreditieren: „Pero, a fuerza de querer suscitar lo maravilloso a todo trance, los taumaturgos se hacen burócratas.“10 Letztlich lassen sich alle Gegenbeispiele, die in Carpentiers Frühwerk den Mythos der „wunderbaren“ Wirklichkeit dokumentieren sollen, als Reflexe jener surrealistischen Poetik deuten, die im Dienste der Definition amerikanischer Identität verworfen wird und zu der sich der Autor auch in späteren Jahren kritisch äußert: ¿Qué iba yo, latinoamericano, a añadir al surrealismo? Nada. Es decir, pensé que iba a incurrir en ese pecado de exotismo en que habían incurrido tantos escritores que, viviendo en América Latina, trataban de ajustarse a los movimientos parisienses… Me dije: No debo seguir ese camino. Ser surrealista sería, para mí, latinoamericano, ser exótico, y entonces por un proceso diríamos de reacción mental, volví, los ojos hacia América, y puedo decir que pasé alrededor de quince años estudiando ese inmenso y prodigioso continente, en su historia, su literatura, sus orígines, su 11 folklore, su literatura indígena […].

Ungeachtet der lebensweltlichen Situierung etwa der Ruine von Henri Christophes Schlösschen Sans Souci, das nach französischem Muster in 9 Vgl. Vf. 2003, v.a. S. 70-129. 10 Carpentier 1985, S. 14. 11 Carpentier 1976 in einem Interview mit Rosalba Campra, zitiert in Campra, Rosalba: América Latina. La identidad y la máscara, Mexiko 1987, S. 141f.

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der Karibik entstand, handelt es sich, sobald es ein poetisches Detail in Carpentiers Text wird, um ein Reflex jenes surrealistischen Versetzungsschemas, das Carpentier im Prolog mit psychopathologischer Hartnäckigkeit tilgen will. Man ist an dieser Stelle des Prologs zu fragen geneigt, ob das surreale dépaysement, dem Ludwig II. von Bayern im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts in seinen Architekturphantasien steinernen Ausdruck verlieh, womöglich Carpentiers Theorem avant la lettre überboten hat: Bereits Zeitgenossen wie Mallarmé, Verlaine, Lorrain, Barrès, Péladan, Montesquiou, Mendès und noch Proust haben auf die eigentümliche Stellung des königlichen Künstlers hingewiesen, dessen Medienphantasie die fiktive Welt der mittelalterlichen Epen und der Opern Wagners in der oberbayerischen Bergwelt verwirklichte.12 Der Spur, die von der dekadenten Weltflucht einerseits zur Sammel-, Bauund Dekorationsleidenschaft, zur Errichtung künstlicher Landschaften, mithin zur konkret intermedialen oder fingierten Konstruktion wunderbarer Teilwirklichkeiten innerhalb der Lebenswelt führt, wäre andernorts nachzugehen. Ebenso wäre zu dokumentieren, dass die französischen Surrealisten nicht nur mit Lautréamonts Metapher „schön wie die Begegnung einer Nähmaschine und eines Regenschirms auf einem Seziertisch“ das Prinzip des dépaysement, d.h. des verfremdenden Über-Setzens von Objekten als die originär surrealistische Operation auf das Fin de siècle zurückweisen. Übersehen wurde bisher, dass der periphere Bereich der französischen Fin de siècle-Literatur offenbar eine sehr viel wesentlichere Rolle bei der Genese gerade des Surrealismus – aber auch anderer Avantgardeströmungen – eingenommen hat, als ihm seitens der Forschung13 bislang zuerkannt wurde,14 wenngleich die Surrealisten 12 Koppen, Erwin: Dekadenter Wagnerismus. Studien zur europäischen Literatur des Fin de Siècle, Berlin/New York 1973, S. 297ff. Zum Zusammenhang von Intermedialität, décadence, Surrealismus vgl. Vf.: „Die Bilder einer Aus=Stellung: Paralipomena zur Protogenese des Surrealismus aus dem Geiste des Museums“ (in Vorbereitung). 13 Bürger, Peter: Der französische Surrealismus. Studien zur avantgardistischen Literatur. Um Neue Studien erweiterte Ausgabe, Frankfurt a.M. 1996, S. 101ff., verweist insbesondere in seiner Darstellung von Louis Aragons Paysan de Paris auf Konvergenzen der sozialen Verhaltensweisen des Surrealismus zu den Lebensformen des Fin de siècle, die sich aber auf Motivanalogien wie dandysme, flanerie, vie factice etc. beschränkt. Die aus den Lebenshaltungen resultierenden Wahrnehmungmodalitäten und ihre medialen Konsequenzen für den literarischen Diskurs – Fragmentierung, Abstraktion, allegorisches glissement – werden indes ausgespart. 14 Vgl. die im Druck befindliche Studie von Hofmann, Britta: Experimentelle Poetik – Poetik des Experiments (an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt, angenommen im Januar 2003), die am Beispiel von Auto-

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selbst bei ihrer literarischen Standortbestimmung in mehrfacher Hinsicht auf die Autoren des ausgehenden 19. Jahrhunderts verwiesen haben.15 Durchaus ketzerisch sei angemerkt, dass bei zahlreichen neueren lateinamerikanischen Autoren die „wunderbaren“ Effekte letztlich auf der Ästhetisierung und Mystifikation von literarisch gestifteten oder lebensweltlich verortbaren Inkonsistenzen dargestellter Wirklichkeiten beruhen, die auf Transformationsprozesse zurückweisen, welche sich auf Verfahren, Diskurse und Gattungsmuster vormoderner, romantischer oder surrealistischer Herkunft zurückbeziehen. Nicht nur die vorgebliche Unmöglichkeit eines rationalen Zugangs zu Asturias’ Leyendas de Guatemala (1930) oder Carpentiers El milagro de anaquillé (1927) und El reino de este mundo – beide Autoren waren in der Blütezeit des französischen Surrealismus in Paris mit den Protagonisten der Bewegung zusammengetroffen – verweist auf ihre Herkunft aus dem Fundus surrealistischer Verfahren. Auch die in ihrer prononcierten Fiktionalität schockierenden oder überraschenden Transfigurationen und Wunder in García Márquez’ Cien años de soledad (1967) oder noch Vargas Llosas La guerra del fin del mundo (1981) weisen ihrer Genese nach auf ein literarisches Repertoire zurück, das aus dem zeitgenössischen Lektürekanon gelöscht wurde.16

ren wie Joris Carl Huysmans, Pierre Loti, Rémy de Gourmont, Marcel Schwob, Octave Mirbeau und dem frühen André Gide die Bedeutung der Prosa des Fin de siècle als prä-avantgardistische Experimentalliteratur beschreibt. Vgl. hierzu auch den umfangreichen, vielfältige Perspektiven eröffnenden, m.E. ersten Versuch einer Standortbestimmung des finisäkulären Romans unter dem Blickwinkel einer prämodernen experimentellen Poetik der selbstbezüglichen und zugleich fragmentarischen Wahrnehmung von Friedrich Wolfzettel, „Der deambulatorische Roman. Überlegungen zu einer spezifischen Modernität des Romans im Fin de Siècle“, in: Rainer Warning/Winfried Wehle (Hrsg.), Fin de Siècle, München 2002, S. 429-488. Zur Prähistorie des surrealistischen Romans vgl. bes. Abschnitt 2, S. 437442. 15 Vgl. insbesondere die ‚Vorreiter‘ des Surrealismus im Ersten Surrealistischen Manifest, in Breton, André: Manifestes du surréalisme, Paris 1990, S. 36ff. sowie die Bemerkungen zur Ahnreihe der surrealistischen Ästhetik in Waldberg, Patrick: Der Surrealismus, Köln 1978, S. 9ff. 16 Vgl. Roloff, Volker: „Cien años de soledad als Märchenroman“, in: Axel Schönberger/Klaus Zimmermann (Hrsg.): De orbis hispani linguis litteris historia moribus. Festschrift für Dietrich Briesemeister, Frankfurt a.M. 1994 und Vf.: „Merlinus poeta. Der schreibende Zauberer auf dem Weg in die Mancha und nach Macondo: Das Abenteuer der Fiktionalität in den libros de caballerías, im Don Quijote und in Cien años de soledad“, in: Brigitte Schlieben-Lange/Axel Schönberger (Hrsg.): Polyglotte Romania.

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Die rezeptionsästhetische Pointe dieser Einsicht bestünde darin, dass eurozentrische Literaturtheorie an europäischen Kunstwerken mit größerer Selbstverständlichkeit die okzidentalen Kategorien anzuwenden bereit ist als bei den a priori ‚exotischen‘ Texten des lateinamerikanischen Boom, um sich stattdessen auf deren vorgeblichen Anti-Aristotelismus einzulassen. Wunderbares und Entkontextualisierungstechnik (dépaysement) stellen das Bindeglied zwischen der Alterität zahlreicher lateinamerikanischer Texte und der surrealistischen Ästhetik dar, will man nicht von a priori Alterität – im Sinne älterer Lesarten des real maravilloso-Prologs – als eine im magischen Denken verankerte Wirklichkeitsauffassung definieren, die sich den okzidentalen Postulaten der Stabilität, Berechenbarkeit und exaktwissenschaftlichen Erklärbarkeit entzieht – oder vielleicht: bewusst widersetzt. So vermeintlich einsinnige Texte wie Carpentiers real maravillosoProlog haben bislang also auf einer Selbstlektüre lateinamerikanischer Kunst als Effekt einer ‚extraokzidentalen‘ Wirklichkeitsauffassung beharrt. Dadurch wurde indes nicht nur verschleiert, inwieweit der Surrealismus erst zur Bedingungen der Möglichkeit zahlreicher Werke der Nachkriegsära werden konnte. Vielmehr wurde damit gerade die Frage nach dem je spezifischen Import einzelner Konstituenten des surrealistischen Paradigmas von vornherein abgewehrt. Eine unideologische Sichtung gerade von Carpentiers literarischem Schaffen ‚gegen den Strich‘ seiner Selbstauslegung macht evident, dass er gerade jene im Rahmen seiner real maravilloso-Polemik als bürokratisch, mechanisch und unkreativ diffamierte poetische Praxis des Surrealismus – zumal die Momente der literarisch fingierten Intermedialität, interkulturellen Transgression und stilistischen Hybridie – ironisch aufgreift oder gar zu überbieten versucht. Carpentiers bislang kaum gerecht beurteiltes Spätwerk nähert sich somit einem wertfreien Kombinationsspiel der Diskurse, Mythen, Genres und ästhetischen Figuren, die die europäischen Avantgarden unter Rückgriff auf die künstlerische Praxis der älteren Epochen überholt und sich so jener spielerisch unverbindlichen Kombinationskunst der zeitgenössischen Postavantgardeströmungen einschreibt. Während Carpentier schließlich produziert, was er selbst in späteren Texten der 70er Jahre über Amerikas ‚barocke‘ Seinsweise zu negieren nicht müde wird, rückten zumal Texte wie Concierto barroco oder El arpa y la sombra in die Nähe surrealistischer Spielwelten. Eine derartige Annäherung an die geschmähte surrealistische Ästhetik wird Festschrift für Tilbert Dídac Stegmann, Frankfurt a.M. 1991, Bd. 2, S. 559627.

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vor dem Hintergrund ihrer Neubewertung im vergangenen Jahrzehnt durchaus plausibel: „Der Surrealismus wäre dann nicht eine anti-moderne Bewegung, sondern eine Überbietung der Moderne durch Rückgriff auf die Kräfte der Vormoderne.“17

3.

Die Stadt, die Wunder und der Wahn

Auffällig ist nun, dass die lateinamerikanische Surrealismuskritik gerne dem französischen Surrealismus die Befähigung zur Produktion eines Wunderbaren abspricht, zugleich aber stillschweigend dessen Produktionsmechanismen auf lateinamerikanische Verhältnisse überträgt, während die diese begründenden ideengeschichtlichen Prämissen der surrealistischen Ästhetik nahezu ausnahmslos negiert werden. Bei allen Ansätzen eines ‚Amero-Surrealismus‘ handelt es sich also auch stets um Formen interkultureller Löschung, insofern die avantgardistischen Stilkonfigurationen entweder als struktural-technisches Inventar adaptiert werden – wie etwa in Carpentiers Reino de este mundo – oder aber das Wunderbare, wie unser Eingangsbeispiel belegen sollte, in einem vordergründigen, prononcierte Fiktionalität propagierenden Sinne – wie etwa in den Romanen von Reinaldo Arenas, Severo Sarduys oder Márcio Souzas – ‚gehandhabt‘ wird. Die Verzauberung okzidentaler Leser durch lateinamerikanische Wirklichkeiten (die sich bis zu den ersten Chroniken der ‚Neuen‘ Welt zurückverfolgen ließe) beharrt auf dem faszinatorischen Moment, an dem sich die surreale Ästhetik – letztlich unter stillschweigendem Rückbezug auf den Irrealismus der Romantik – entzündet, und das mit dem semiotisch-strukturalen Terminus des dépaysement eine mentale Haltung befördern soll, die das aus der Medizingeschichte entliehene Konzept der aliénation – Entfremdung – spielerisch aufwertet, wie dem hochgelehrten, aber konservativen Kunstwissenschaftler Walter Sedlmayr nicht entgangen ist: „Was ist ein surrealistisches Objekt? Jedes aus seiner ursprünglichen Verbindung herausgerissene Objekt... herausgefallen aus seinem gewöhnlichen Rahmen, in anderem Gebrauch als zu dem es 17 Bürger, Peter: „Das Ich, das Du und der Text“, in: ders.: Der französische Surrealismus. Studien zur avantgardistischen Literatur. Um neue Studien erweiterte Ausgabe, Frankfurt a.M. 1996, S. 213. Die strukturgeschichtlichen Verbindungslinien zwischen Surrealismus und Vormoderne haben zunächst vor allem die Kunstgeschichte beschäftigt. Vgl. Hocke, Gustav René: Die Welt als Labyrinth, Reinbek bei Hamburg 1956.

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GERHARD WILD bestimmt war, oder in einem Gebrauch, den man nicht kennt“, also jedes außer seiner Sphäre „ver-rückte“ Objekt. Entfremdung ist die Absage an die vertraute Wirklichkeit. [...] Dieses Fremdwerden tritt bezeichnenderweise in gewissen Formen und Stadien des werdenden Wahnsinns auf. So wie durch monotones Vorsagen ein Wort seinen gewohnten Sinn abstreift und sonderbar neu und magisch bezaubernd erklingt (Cocteau), so kann man auch die sichtbare Welt entfremden – „dépayser“. Als Weg dazu empfehlen die Surrealisten ein Verfahren, das sie „crétinisation“ nennen. Es konnte nicht ausbleiben, dass von hier aus der Wahnsinn als „Sinn“ entdeckt wurde: Dalis „paranoia-critique“. Die Schätzung des Wahn18 sinns hat bei den Surrealisten durchaus Methode.

Das hier kritisierte Moment einer – vom Surrealisten bewusst anvisierten – poetisch wirkmächtigen Entfremdung, also eine ästhetischen Haltung, die der Stabilität von Realität in der Nachfolge der Romantik die Möglichkeit der Erschaffung einer begrenzt gültigen Teilwirklichkeit entgegensetzt, soll im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen stehen. Wie mir scheint, ist diese Komponente der surrealistischen Ästhetik in lateinamerikanischen Texten – anders als das Moment der „wunderbaren Wirklichkeit“ und das mechanisch-strukturelle Verfahren der Entkontextualisierung – nur mehr in ‚Ableitungsformen‘ fassbar, die sich in der seitens der Forschung hinlänglich beschriebenen, zeitweiligen Hinwendung prominenter Vertreter wie Carpentier und Sábato zum frühen französischen Existentialismus äußert.19 Inwieweit das Motiv der gesellschaftlichen Entfremdung über das Menschenbild des Existentialismus zurück auf die surrealistische Ästhetik – und womöglich auf die weiter oben formulierte Verbindung zur Ideenwelt des späten 19. Jahrhunderts – greift, blieb dabei unberücksichtigt. Das Moment des „AußerSich-Seins“, die dem Surrealismus inhärente „Affinität zum Irrationalismus“20, die Problematisierung einer individualästhetischen Abwehrhaltung gegen äußere Zweckrationalität und die daraus abzuleitende Alienation sowie deren Bedeutung für die Produktion eines nicht als vorrational und magisch ausgewiesenen Wunderbaren sollen im Folgenden skizziert werden, wobei die Ausgangshypothese auf die vom Surrealis18 Sedlmayr, Walter: „Über Sous- und Surrealismus“, in: ders.: Der Tod des Lichts, Salzburg 1964, S. 40-62, hier S. 51f. 19 Vgl. Ingenschay, Dieter: „Amero-Existentialismus? Überlegungen zur diskursiven Praxis Sábatos, Onettis, Cortázars“, in: Helene Harth/Volker Roloff (Hrsg.): Diskurse des Existentialismus, Tübingen 1986, S. 225-236 sowie Roloff, Volker: „Der Mörder als Erzähler: Existentialismus und Intertextualität“, in: Romanistische Zeitschrift für Literaturgeschichte, 10 (1986), S. 197-218. 20 Bürger 1996, S. 69.

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mus geforderte Einheit von Lebenspraxis und Kunst zurückgreift, d.h. die Löschung des medialen Aspekts künstlerischer Produktion. Wie Carpentiers Polemik gegen den Surrealismus, so unterschlug auch unsere Skizze über die Echos, die europäische Rationalität in der ihr zugeordneten Widerrede über Anderes, Exotisches und Wunderbares hervorruft, bislang eine grundlegende anthropologische Rahmenbedingung, die mit einem seit Descartes angenommenen Subjektbegriff korreliert: Dieser wiederum impliziert, dass die erfahrbare Wirklichkeit von dem sie erfahrenden Subjekt als Objekt gedacht wird, d.h. als eine von diesem getrennte, aber auf es beziehbare Konfiguration. Eben diesen anthropologischen Status, der gerade den Stellenwert der Kunst bis an den Beginn der Avantgarden bestimmt, negiert bzw. destruiert der Surrealismus: Die ersten Gesten des Surrealisten sind der refus und die attente: Weigerung, sich als Subjekt zu setzen und die Welt zum Objekt seines Tuns zu machen, und Ausbildung einer unbestimmten Erwartungshaltung, die die Lebenswelt der modernen Großstadt in den Wald des Märchens verwandelt, wo jeden Augenblick das 21 Wunder Wirklichkeit werden kann.

Da Breton ein Konzept von Wahrnehmung als Aufhebung der Spannung zwischen Subjekt und wahrgenommener Welt propagiert, fragt sich, wo sich der Ort des daraus womöglich resultierenden Werks befindet. Macht man ernst mit der Löschung der Subjekt-Objekt-Differenz im Sinne Bretons, so gerät der mediale Status der Kunst mit der Kongruenz der Komponenten Schöpfer-Werk-Rezipient ins Wanken, da der Unterschied von ‚produktiver‘ und ‚reproduktiver‘ Wahrnehmung aufgehoben ist. Wenn auch Breton sich der Scheidung von Kunst und Lebenswelt vehement widersetzt hätte –22 ein Genre wie die écriture automatique dokumentiert die Vorherrschaft des Materialbegriff über die Verfahrensorientiertheit und setzt mithin das vom Dadaismus überkommene Konzept der Nicht-Kunst oder Anti-Kunst fort – so spricht letztlich die Existenz surrealistischer Texte, Bilder und Filme dafür, dass es sich doch wieder um Kunst handelt. Diesen Widerspruch hat Ernesto Sábato in mehreren Texten ebenso kritisiert wie die von Breton so vehement propagierte Materialorientiertheit und die Mechanik der surrealistischen Poetologie:

21 Bürger 1996 (wie Anm. 17), S. 209. 22 Bürger, Peter: Nachwort zu Das Denken des Herrn, Frankfurt a.M. 1992, S. 168 und passim.

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GERHARD WILD Lo malo es que la intención de este poeta [d.h. Breton] es realmente lograr un documento teórico, un fundamento serio para el 23 surrealismo, no más de su temperamento poético. André Breton, por ejemplo, piensa que el automatismo, al introducirnos en la subconsciencia, nos introduce en el mundo de lo maravilloso y por lo tanto de lo bello, paralogismo optimista, pues falta24 ría demostrar que lo maravilloso es bello. Para Breton, la imagen vale tanto más cuanto más absurda es: de ahí la invocación al automatismo, a la imaginación liberada de to25 das sus trabas racionales.

Im Anschluss an Sábato lässt sich fragen, ob die Überhöhung des psychischen Automatismus nicht lediglich ein weiteres (vielleicht noch nicht einmal das ‚allermodernste‘) Inzitationsmoment poetischer Kreativität ist, das der neuerlichen Stiftung eines Fiktionskontrakts dient, indem man durch die Kongruenz der Wahrnehmungs-, Produktions- und Kommunikationsbedingungen den Schreibakt emphatisch als Nicht-Fiktion vorstellt. Wie schon Sábatos explizite Kritik an Bretons Poetologie andeutet, modifiziert der Romancier Sábato die Positionen des Surrealismus, den er während seiner Studienjahre in Paris aus erster Hand kennen lernte.26 Bereits hinsichtlich der Kommunikationssituation stellen die frühen Romane Sábatos ganz oder in Teilen parasurrealistische Ego-Dokumente dar, in denen die mediale Hypothese, der Surrealismus kaschiere emphatisch seine Literarizität, in verschiedener Hinsicht bestätigt wird. Während sich diese Texte als Seelenprotokolle authentifizieren, unterlaufen sie ihren Dokumentcharakter durch eine prätentiöse Reliterarisierung. Wenn sich der erste Roman El túnel als Monolog eines inhaftierten Mörders, des argentinischen Malers Juan Pablo Castel, ausgibt („Bastará decir que soy Juan Pablo Castel, el pintor que mató a María Iribarne“27), so beharrt der Ich-Ezähler im weiteren Verlauf zwar auf der Erzählung ‚seiner‘ Geschichte, die den Roman zwischen einer modernen Tragödie 23 Sábato, Ernesto: „Transcendencia y limitación del surrealismo“, in: ders.: Hombres y engranajes, Madrid 1953, S. 78-84, hier S. 79. 24 Sábato, Ernesto: „Surrealismo“, in: ders.: Uno y el universo, Barcelona 1982, S. 136-144, hier S. 137f. 25 Sábato, Ernesto: „El surrealismo“, in: ders.: El escritor y sus fantasmas, Barcelona 1979, S. 119. 26 Vgl. Verf.: „Ernesto Sábato“, in: Kritisches Lexikon der fremdsprachigen Gegenwartsliteraturen. Heinz Ludwig Arnold (Hrsg.), München 1996, 39. Lfg., S. 1 und passim. 27 Sábato, Ernesto: El túnel. Angel Leiva (Hrsg.), Barcelona 1983, S. 61.

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und einer Mördergeschichte ansiedelt: Anders als die Begeisterung der Surrealisten für die Trivialität zeitgenössischer Kolportagegeschichten – um eine solche handelt es sich schließlich bei der Liebesgeschichte von Castel und María – gründet Sábatos Interesse am Kriminalgenre weniger in der Lust am Trivialen, aus dem das merveilleux als groteske Differenz zur Alltagsbanalität hervorgeht, als vielmehr in dem Interesse an der Absurdität logischer Abfolgen als einem bestimmenden Element der conditio humana. Ähnlich wie die automatischen Schreibexperimente Aragons und der semiautobiographischen Texte Bretons rahmt auch Castels Ego-Protokoll in ein scheinbar präzises Raum-Zeit-Konzept (Buenos Aires, Frühjahr 1946) und verweist beiläufig auf Pressenachrichten über seine Tat. Ähnlich wie die frühen Romanexperimente Aragons und Bretons gibt sich El túnel als document im Sinne der surrealistischen Poetik aus. Doch die vermeintliche Welthaltigkeit weicht immer stärker einem erzählerischen Egotismus, der rasch den Vorwand einer Konfession („estas páginas de confesión“28) im herkömmlichen Sinne als literarische Inszenierung dekonstruiert („no relato esta historia por vanidad“29). Immer deutlicher stoßen fortan zwei rivalisierende Fiktionen aufeinander, der Authentifizierungswille Castels und die Authentifizierungsstrategien Sábatos, der Castels ‚Weg nach Innen‘ mit ständigen Rückbezügen auf Vertextungsverfahren und Erzählmotive der surrealistischen Stadtliteratur auflädt. So dominiert Castels Handeln das zentrale surrealistische Motiv des amour fou zu einer unbekannten Schönen, die ihm in einer Ausstellung wohl vor allem deshalb auffiel, weil sie sein Werk – in seinen Augen ‚autorgerecht‘ – betrachtete. Immer wieder weist Castel fortan darauf hin, dass der Ursprung seines Interesses an María Iribarne ihre Hinwendung zu seinem Bild war („Existió una persona que podría entenderme: Pero fue, precisamente, la persona que maté.“30). Die schöne Unbekannte wird als vermeintlich ‚ideale‘ Rezipientin seines Werks zum zentralen Gegenstand in Castels Ideenwelt („sólo pensé en ella“31). Damit erscheint sie als Kontrafaktur zu Nadja, der Muse in Bretons gleichnamigen Roman von 1928. Wie der Ich-Erzähler in Bretons semiautobiographischem Roman ist auch Castel fortan auf der Suche nach seiner

28 29 30 31

Ebd., S. 64. Ebd., S. 63. Ebd., S. 64. Ebd., S. 65.

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„passante“32 – „perdida entre los millones de habitantes anónimas de Buenos Aires“33 – und entwickelt ganz in der Nachfolge des Programms surrealistischer Selbstvergewisserung Strategien, um María wiederzufinden: „Durante los meses que siguieron, sólo pensé en ella, en la posibilidad de volver a verla.“34 Verweist Sábato mit Castels Bestreben, fortan mit allen Mitteln der Dialektik die Schicksalhaftigkeit des ersten Zusammentreffens zu begründen, auf die Kategorie des hasard, bzw. das wechselseitige Verlangen der Hauptfiguren („Yo también pensé en usted“35) auf den zugrundeliegenden désir, so verweigert sich die erzählte Geschichte mit allen folgenden Handlungen so dezidiert der Hinordnung auf surrealistische Lebensformen, dass man darin Anhaltspunkte für eine bewusst gegenläufige Inszenierung surrealistischer Textmuster vermuten muss. In seinen wie Tagträume inszenierten imaginären Begegnungen plant Castel minutiös, wie er sich der Unbekannten nähern werde, um letztlich aber beim Wiedersehen kläglich zu scheitern: Pensé tanto en ella, durante esos meses, imaginé tantas cosas, que al verla no supe qué hacer. [...] Conozco mi naturaleza y sé que las situaciones imprevistas y repentinas me hacen perder todo sentido, a fuerza de atolondramiento y de timidez.36

Als wolle Sábato die surreale Verherrlichung intellektueller Ziellosigkeit dekonstruieren, bestimmt künftig der amour fou Castels inneren Monolog mit einer Konsequenz, dass von der zweckfreien attente des ästhetischen Stadtstreichers kaum noch die Rede ist. Die Opposition eines Begehrens und der Intentionalität, diesem zur Erfüllung zu verhelfen, begründen den dualistischen Fragmentarismus seines Diskurses. Anders als die diskursive Durchlässigkeit originär surrealer Welterfahrung gründet dieser Fragmentarismus nicht in der Fülle auf das wahrnehmende Subjekt einstürmender Welterfahrung, sondern in dem Versuch eines solipsisti32 Nur am Rande sei auf diese intertextuelle Wurzel des Motivs in der französischen Romantik aufmerksam gemacht, das auch Bretons Nadja in Gang setzt. Vgl. Warning, Rainer: „Imitation und Intertextualität: Zur Geschichte lyrischer Dekonstruktion der Amor-Theologie. Dante, Petrarca, Baudelaire“, in: Klaus W. Hempfer/Gerhard Regn (Hrsg.): Interpretationen. Festschrift für Alfred Noyer-Weidner, Wiesbaden 1983, S. 228-317 und Häufle, Heinrich: „Nervals und Baudelaires ‚Schöne Unbekannte‘: Une allée du Luxembourg und À une passante“, in: Die Neueren Sprachen, 88 (1989), S. 590-609. 33 Sábato 1983, S. 65. 34 Ebd., S. 66. 35 Ebd., S. 95. 36 Ebd., S. 66.

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schen Ichs, je mögliche Erfahrung auf das eigene Selbst hinzuordnen. Nicht Erfahrung ist das iterierende Moment des kurzen Romans, sondern die Unfähigkeit eines übersteigerten Egos, angesichts von Zweifel und Eifersucht die Spuren und Zeichen von Wirklichkeit als solche zu lesen. Als Castel María Iribarnes Ehemann kennenlernt, ist entscheidender als die Tatsache, dass nun eine bürgerliche Moral seinem Begehren dezidierte Schranken setzen müsste, der durchaus unmoralische Umstand, dass er sich dem blinden Ehemann überlegen fühlt und daraus seinen Anspruch auf die Geliebte begründet: „entonces era inevitable una conclusión: María deseaba que yo fuera a la casa y me enfrentase con el marido.“37 Wenn in Bretons Roman Nadja die schwärmerische Suche nach Nadja im Irrenhaus endet, so äußert sich darin, mit den Worten Peter Bürgers, die Aporie des surrealistischen Projekts „in einer Welt, die tendenziell Erfahrung eliminiert, die Möglichkeit von Erfahrung wiederherzustellen“38. Anders Nadja, für deren Selbstentäußerung der Erzähler Kategorien wie liberté und légèreté findet, wurzelt das Scheitern Castels und das Ende Marías in ihrer von Sábato wohl bewusst gegen den surrealistischen Freiheits- und Erfahrungsanspruch gesetzten Selbstvergewisserung. Denn während Sábatos Protagonisten wie Nadja ihr eigenes Scheitern aufgrund der mutwilligen Setzung der eigenen Autonomie begründen, ist die Aporie Castels und Marías der Effekt einer von durchaus konventionellen Ängsten und Egoismen bestimmten Liebschaft. Indem Sábato dem surrealistischen Spiel von Wahrnehmung des Anderen und Selbsterfahrung ihren Romantizismus entzieht, spekuliert er mittels des amour fou die Determinanten der surrealistischen Ästhetik aus. Die theoretische Begeisterung für das Moment der folie geht hier in ihrer Kritik durch eine ‚lebenspraktische‘ Vernunft auf, über die das surrealistische Aktionskonzept hinterfragbar wird: El error consiste en creer que basta con esa primera fase, de pura destrucción y de puro irracionalismo, ya que el hombre es también, y fundamentalmente, superación del yo y sus instintos hacia el no39 sotros, la comunidad y el diálogo.

In seinem folgenden Roman Sobre héroes y tumbas (1961) spitzt Sábato die Frage nach der Lebbarkeit des Wahns in einer zweckrational strukturierten Gesellschaft erneut zu, wobei er über das diskurskritische Kon37 Ebd., S. 97. 38 Bürger 1996, S. 133. 39 Sábato 1979, S. 121.

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zept von El túnel insofern hinausgeht, als die Problematik einer emphatisch zur Schau getragenen Unsicherheit der Wirklichkeit in den vier Teilen des Werks von mindestens drei narrativen Stimmen aus abweichenden Blickwinkeln und mit durchaus fragwürdigem Objektivitätsanspruch vorgetragen wird. In Sábatos durchaus auch gesellschaftskritischem und geschichtsphilosophischen Roman tritt – wie Castel in El túnel – in Gestalt von Fernando Vidal Olmos ein Protagonist von tragischer Größe auf, der jedoch erst im dritten Teil des Romans zu Wort kommt. Während er in den vorangegangenen Abschnitten nur indirekt, durch die Erwähnung anderer Romanfiguren, präsent war, spricht bzw. schreibt er der Romanfiktion zufolge den von ihm selbst verfassten Informe sobre ciegos – der aber immerhin über ein Drittel des voluminösen Romans ausmacht und insofern einen ‚Roman im Roman‘ darstellt. Wie in der frühen surrealistischen Prosa handelt es sich bei dem Informe um ein jenseits der intersubjektiv fassbaren Realität liegendes Selbsterfahrungsdokument. Insofern scheint Sábato sich also auf surrealistische Diskurspraktiken zu beziehen, jedoch wiederum um diese zu dekonstruieren. Fernando Vidal, Spross der argentinischen Oligarchie, vereinigt in seiner komplexen Persönlichkeit Charaktermerkmale, die ihn einerseits als Nachfahren der Antihelden der Fin de siècle-Literatur ausweisen, auf deren Vorläuferrolle für den Surrealismus bislang kaum ausführlich eingegangen wurde. In der Tat lassen sich, wie Sábatos Blick auf seinen neodekadenten Helden zeigt, Konvergenzen zwischen Surrealismus und den literarischen Tendenzen der frühen Moderne Europas, aber auch Lateinamerikas aufweisen. Sábatos Leistung besteht hier (unter anderem) in der literarisch konsequenten Spurensuche spätromantisch-dekadenter Verhaltensmuster und ihrer Weiterführung in die Wahrnehmungspsychologie eines Helden, der so die ästhetischen und ideologischen Positionen des Pariser Surrealismus verwirklicht und mit bedrohlicher Folgerichtigkeit überholt. Der Informe sobre ciegos wird damit, mehr noch als El túnel, zum Dokument von Sábatos diskursarchäologischer Wirkungsabsicht. Wie im Folgenden skizziert werden soll, entwickelt Sábato hier metaliterarische Strategien, über die das inhumane, weil für Individuum und Gesellschaft zerstörerische Potential des Surrealismus als Effekt einer perpetuierten Fin de Siècle-Ideologie lesbar wird. Peter Bürger führt aus, dass der gemeinsame Ausgangspunkt im gesellschaftlichen Gefüge der beiden Strömungen zu sehen sei: Das bürgerliche Individuum, das sich als autonomes, selbstverantwortliches Subjekt entwirft, erfährt die Gesellschaft, in die es hin-

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eingeboren ist, als eine Welt, die seine Möglichkeiten der Entfaltung überall behindert, aber zugleich das Resultat des Handelns der Menschen und damit seines Handelns ist. Wo der Trost auf ein besseres Jenseits entfällt, bleibt nur die Kunst, um die Kluft zu schlie40 ßen und das Subjekt zu versöhnen mit der Welt.

Anders als die Baudelaire-, Nietzsche- und Wagnerepigonen des späten 19. Jahrhunderts, aber in Einklang mit dem ästhetisch-gesellschaftlichen Programm der surrealistischen Manifeste, geht Fernando Vidal konsequent seinen ‚Weg nach innen‘, ohne das tröstende Angebot der Kunst als supplementäre Wirklichkeit anzunehmen. Vielmehr erfährt Vidals Wirklichkeitsauffassung im Laufe der 38 Kapitel des Informe eine schrittweise Transformation: De pronto sentía que empezaba el deslizamiento y luego la disgregación, pero como ya conocía los síntomas no me dejaba estar, tal como me había sucedido la primera vez, y de inmediato comenzaba a trabajar con toda mi energía. La gente no comprendía lo que me pasaba, me veía concentrarme, con mi mirada fija y ajena, y creía que me estaba volviendo loco, sin comprender que era al revés, precisamente al revés, puesto que merced a aquel esfuerzo lograba mantener a la realidad en su sitio y en su forma. Pero a veces, por más intensos que fueran mis esfuerzos, la realidad empezaba a disgregarse poco a poco, a deformarse, como si fuera de gaucho y enormes tensiones la solicitaran desde los extremos (desde Sirio, desde el centro de la Tierra, desde todas partes): una cara empezaba a hincharse, de un lado se inflaba un globo, los ojos se juntaban poco, la boca se agrandaba hasta que reventaba, mientras una mueca horrible iba desfigurando el 41 rostro.

Das an die Verzerrungen der surrealistischen Malerei erinnernde metaphorische Konstrukt einer sich aufblähenden Realität korrespondiert mit der ‚Erweiterung’ des Bewusstseins, die, in Abweichung zum genuin surrealistischen Konzept der Wirklichkeitserfahrung von Vidal, anfangs als durchaus bedrohlich empfunden wird („aquellos momentos me asustaban“42), jedoch mit wachsender Akzeptanz durch das sich selbst verstärkt wahrnehmende Subjekt in der totalen Auflösung der Außenwelt zu Gunsten der emphatisch affirmierten Imaginationskraft endet: Siempre me ha hecho reír la falta de imaginación de esos señores que creen que para acertar con una verdad hay que darle a los hechos „las debidas proporciones“. Esos enanos imaginan (también 40 Sábato 1953, S. 79. 41 Sábato, Ernesto: Sobre héroes y tumbas, Barcelona 1981, S. 306f. 42 Ebd., S. 307.

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GERHARD WILD ellos tienen imaginación, claro, pero una imaginación enana) que la realidad sobrepasa su estatura, ni tiene más complejidad que su cerebro de mosca. Esos individuos se califican „realistas“, porque no son capaces de ver más allá de sus narices, confundiendo la Realidad con un Círculo-de-Dos-Metros-de-Diámetro con centro en su 43 modesta cabeza.

Wie in dem vorangegangenen Beispiel zeigt sich auch hier die Herrschaft eines Diskurses, der sich an die surrealistische Rhetorik anlehnt. Charakteristisch ist dafür vor allem Vidals Operieren mit der Ambivalenz, die aus der Unmittelbarkeit von konkreten und übertragenen Bedeutungen herrührt. Wenn Vidals sprachliche Wirklichkeitsbewältigung insofern – wie das surrealistische dépaysement – ein Effekt autonomer Zeichen-Setzung ist, so begründet sich damit aber auch die Setzung des die Zeichen produzierenden und decodierenden Subjekts selbst als eines Individuums, das den Zeichenvorrat einer „Welt, die seine Möglichkeiten der Entfaltung überall behindert“, unkonventionell neu setzt. Selbstsetzung aber bedeutet für den Surrealisten Freisetzung, die nicht in den Freiheiten des Anderen beschränkt wird. Breton zufolge besteht folglich der schlichteste surrealistische Akt darin, auf die Straße zu gehen und wahllos in die Menge zu schießen.44 Ebenso wie sich die surrealistische Freiheitsauffassung und die Verklärung des hasard inmitten einer von der Zweckrationalität beherrschten bürgerlichen Umgebung hier in ihr Gegenteil verkehrt, münden auch Vidals Versuche radikaler Autonomie in menschenverachtenden Aktionen: Bereits als Jüngling ist er Mitglied einer Anarchistengruppe und Kopf einer banda de asaltantes45, was er selbst unter dem Blickwinkel der experiencia46 rechtfertigt. Die von Sade, Baudelaire und den décadents vorgezeichnete, von den Surrealisten propagierte Eliminierung einer bürgerlichen Ethik als Korrektiv menschlichen Handelns kulminiert bei Vidal in dem Projekt der Selbsterforschung: „cómo podría investigar el Mal sin hundirse hasta el cuello en la basura“47. Am Beginn dieser sadistischen Erfahrungen stehen Experimente an Tieren und Menschen,48 schließlich der – im Roman metaphorisch verschlüsselte – Inzest mit der eigenen Tochter Alejandra. 43 Ebd., S. 398. 44 Breton 1990, S. 78: „L’acte surréaliste le plus simple consiste, revolvers aux poings, à descendre dans la rue et à tirer au hasard, tant qu’on peut, dans la foule.“ 45 Sábato 1981, S. 209, 306, 462. 46 Ebd., S. 306. 47 Ebd., S. 340. 48 Ebd., S. 299, 431, 338f., 401f., 408f.

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Der Akt willkürlicher Setzung von Wirklichkeitsinterpretation mündet schließlich im unheilbaren Delirium, das Sábato im Informe sobre ciegos durch die dämonische Katabasis des ‚Helden‘ Vidal in die unteriridische Welt der U-Bahn-Tunnel und des Kanalisationsnetzes von Buenos Aires metaphorisiert. Bereits Breton weist im ersten Manifest49 phantastischen Lokalitäten des Schauerromans bestimmte seelische Zustände zu. Um eine derartige Extension der menschlichen Psyche handelt es sich bei Vidals descensus in ein fiktives Unterreich, das als „Raum unterhalb der Zivilisation“ a priori den Anspruch des Wunderbaren in sich trägt. Auf etwa zwanzig Textseiten belebt Sábato den aus den antiken mittelalterlichen Literaturen überkommenen Topos der Katabasis, der bereits in den klassischen Referenztexten mit dem rhetorischen Verfahren der Ekphrasis zur Veranschaulichung magischer Räume semantisch überformt wurde. Das von Sábatos Protagonisten durchmessene magische Reich der eigenen Seele wird nunmehr durch die topische Struktur und deren rhetorische Überformung dergestalt dämonisiert, dass der traditionell wunderbare Ort, der auch in den literarischen Vorläufertexten bereits die Möglichkeit gesteigerter Wahrnehmung und überwirklicher Erkenntnis versprach, zu einem locus terribilis von unheimlicher Eindringlichkeit wird. Gerade hier ist Sábatos Werk am deutlichsten von Verfahrensweisen affiziert, die zumal der Film und die Malerei des Surrealismus bereitgestellt haben. Denn anstelle der Euphorie der Erweiterung des menschlichen Bewusstseins setzt er die Dysphorie totalen Weltverlusts. So schöpfen die Kapitel 34 bis 38 einmal aus dem Fundus surrealistischer Bildmotive wie phantastischen Landschaften („comarca de melancolía“50), Gegenstände in ungewohnter Umgebung oder unüblichen atmosphärischen Effekten bzw. Objekten aus atypischen Materialen oder solche mit unüblichen Dimensionen: „como si una grandiosa tempestad hubiese sido cristalizada, por un signo, contra un cielo de nubes que parecían desgarrados y dehilachados algodones empapados en sangre“; „El Ojo Fosforecente parecía llamarme.“ Hinzu kommen Objekte von unheimlichem oder abstoßendem Charakter: „Esqueletos de altas hayas, cuyas espectrales siluetas cenicientas contrastaban sobre el rojo de sangre de aquellas nubes“; „sobresalían cráteres que también recordaban los circos lunares.“ Auch groteske Metamorphosen, wie sie für Buñuels und Cocteaus Bildwelt typisch sind, und tabuisierte Bildbereiche werden nicht ausgespart: „mi cuerpo se iba convertiendo en el cuerpo de un pez. 49 Breton 1990, S. 24ff. 50 Ebd., S. 434. Alle weiteren Belege vgl. S. 433-440.

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Mis extremidades se transformaban repugnantemente en aletas y sentí que mi piel se cubría de duras escamas“; „sombrios prostíbulos, [...] mujeres que mostraban lúbricamente su sexo abierto“. Einen Ruhepunkt erreicht Vidals traumartiger Zustand am Ende des Kapitels 36, wo der Leser die Szenerie zunächst im filmischen Raffertempo erlebt. „Todo aquello, supongo yo, pasó en segundos. Luego perdí el conocimiento y sentí que me asfixiaba.“ Der Satzrhythmus wird dergestalt akzeleriert, dass die Fülle disparater Bilder sich zu überlagern scheint, um vorläufig in sich zusammenzustürzen: Ignoro el tiempo que permanecí sin sentido. Sólo sé que, cuando lo recobré, tuve la impresión de haber atravesado eras zoológicas y haber descendido hasta los abismos de algún océano profundísimo 51 arcaico y desconocido.

Es würde zu weit führen, die unterirdische Welt Vidals in allen Details vorzustellen und zu analysieren. Hervorhebenswert scheint vielmehr die bewusste Heterogenität der Bestandteile dieser fiktiven Unter-/Innenwelt. Dabei bemüht sich der Träumer, einen plastischen Eindruck von der Erhabenheit der geschauten Vision zu geben, die ihrerseits nicht ohne literarische (und kunsthistorische) Vorbilder besteht: Unübersehbar sind zahlreiche Textreferenzen auf jenes ‚schreckhaft Erhabene‘ der Schauerliteratur, das bereits in Kants Schriften als Gegenbegriff zum ‚Schönen‘ theoretisiert wird, und das die Ästhetik von Romantik, Surrealismus und noch der Spätavantgarde beeinflusst. Seine Merkmale sind Größe, Unbestimmbarkeit und die Ambivalenz seiner Wirkung zwischen Faszination und Dysphorie. Andere Anspielungen weisen bis auf antike Quellen wie den Corpus Hermeticum und die orphischen Mysterien zurück. Überdies usurpiert der phantastische Diskurs des Textes das gesamte Repertoire der optischen Rhetorik des Surrealismus. Die Phantastik der beschriebenen Szenerie beruht auf traumanalogen Assoziationen, Vergleichen und Metaphern („La cordillera parecía la espina dorsal de un monstruoso dragón petrificado“52). Wie in der manieristischen ars combinatoria können kontradiktorische Elemente im fiktiven Medienverbund zusammengespannt werden, um synästhetische Effekte hervorzurufen: „El Ojo Fosforescente parecía llamarme“. Alltagsweltliche Kategorien wie die raumzeitliche Verbindlichkeit von Subjekt und Objekt scheint aufgehoben in der hypothetischen Allheit eines sich ständig wandelnden Kontinuums:

51 Ebd., S. 441. 52 Ebd., S. 435.

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Como un unicornio lúbrico corrí por los arenales ardientes hacia la mujer negra, que me esperaba aullando a la luna. Atravesé lagunas y pantanos fétidos, cuervos negros se levantaron chillando a mi paso y entré finalmente en la deidad. Nuevamente sentí que era un volcán de carne que me devoraba, y todavía estaban sus fauces chorreando sangre cuando esperaban, aullando, el nuevo ataque. Entonces fui una serpiente que atravesaba las arenas sibilantes y eléctricas. De nuevo espanté a fieras y pájaros y entré con salvaje furia en su cavidad. Una vez más sentí el volcán de carne, que se hundía hasta el centro de la tierra. Luego fui pez-espada. Después, pulpo, con ocho tentáculos que entraron sucesivamente en la deidad, y sucesivamente fueron devorados por el volcán carne. La 53 deidad volvía a aullar y volvía a esperar mis ataques.

Will man sich auf das Experiment einer psychoanalytischen Lesart einlassen, so verliert der Bericht seine Ambivalenz, insofern gerade die Schlusspartie des Kapitels 37 nur die pragmatische Deutung zulässt, dass es sich bei dieser Phantasmagorie um Vidals Versuch handelt, den zugrundeliegenden Handlungsnukleus zu verschlüsseln, der letztlich auch das ‚Geheimnis‘ der Romanhandlung bildet: Fernandos Beischlaf mit der eigenen Tochter, die darauf – der dem Werk vorangestellten, fingierten Pressenotiz zufolge – den Vater erschießt und sich und seinen Leichnam selbst verbrennt. Anamorphotische Transformationen, semiotisches shifting und dépaysement, die hier vorübergehend zum Vertextungsprinzip erhoben werden, um Vidals seelische Abgründe als Seelenlandschaften zugleich zu konkretisieren und zu verbergen, gehorchen hier also bereits auf der Handlungsebene nicht jener von den Surrealisten herbeigewünschten universellen Befreiung. Denn in Sábatos Text führt der fingierte surrealistische Bericht nicht einmal zu einer fiktiven Freisetzung von den Schranken der Zensur, sondern zu einer Rücktransformation der Psychoanalyse in Kunst. Anders als die Surrealisten, die ihre Aktionen als autonom verstanden wissen wollen, beharrt also der Surrealismuskritiker Sábato in dieser Darstellung surreal codierter Selbstwahrnehmung weiterhin auf seiner diskurskritischen Intention, die wahrnehmendes Subjekt und das zu deutende Objekt von einander getrennt hält. Für diese These spricht schließlich die narratologische Gesamtkonzeption des Romans, der sich als ein Spiel widersprechender Medien zu erkennen gibt, wenn im Schlussteil „Un dios desconocido“ Vidals interdiskursives Patchwork aus schwarzer Romantik, décadence, Surrealismus und Psychoanalyse durch eine externe narrative Stimme eine Ob53 Ebd., S. 445.

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jektivierung erfährt, die alle bisherigen Sprechhandlungen als Ausdruck eines genialen Wahnsinnigen relativiert. Bezeichnenderweise fallen in diesem Schlussteil, der Glanz und Elend des Hauses Olmos schildert, kontinuierlich Begriffe wie alienación und delirio. Hatte Sábato bereits in El túnel diese Selbstsetzung des Subjekts in der sich steigernden Paranoia Castels problematisiert, so setzt sich die ursprünglich bereits surrealismuskritische Haltung nunmehr in der multiperspektivischen Darstellung durch die objektive Korrektur des außenstehenden Beobachters fort. Die „höher entwickelte Vorstellungskraft“, die das Wunderbare seines Berichts begründet, erscheint nunmehr schlichtweg als Effekt seiner allmählichen Entfremdung von der Realität. Diese gleicht in manchen Punkten auch in der ‚objektiveren‘ und durchaus kritischen Darstellung des Erzählers dem Rückzug der Fin de siècle-Helden aus der bourgeoisen Welt. Von diesen trennt den Verfasser des Informe sobre ciegos lediglich ein Aktionswille, der die Flucht in die Paradiese der Kunst ebenso ausschließt, wie dies bei den Surrealisten der Fall war, und der in der zerstörerischen Erforschung und Entgrenzung des eigenen Ichs durch Eros und Thanatos mündet.

4.

Unzufällige Begegnung Bretons mit der conditio humana auf einem argentinischen Schreibtisch

Ernesto Sábato war bei seinen Besuchen in den Pariser Surrealistenzirkeln nicht entgangen, dass die neoromantische Forderung des Einswerdens von Kunst und Lebenspraxis immer wieder lediglich auf Kosten einer der beiden Komponenten möglich sei: „era más bien una actitud general ante la vida.“54 Bretons Versuch einer kollektiv verordneten aisthesis mündet in Sábatos Sicht in einem „Konservatismus, dem alle erfolgreichen Revolutionäre erliegen“, und der die (auch von Asturias, Carpentier, García Márquez und Cortázar bemerkte) Verordnung der poiesis nach sich ziehen muss: „Pero al cristalizarse en manifiestos y recetas, comienza la decadencia [...]. De la búsqueda salvaje se desembocó en un nuevo academismo“55. Die ästhetische Utopie einer poetischen Schrankenlosigkeit war bekanntlich bereits von Freud, einem der vermeintlichen Vordenker des Surrealismus in Zweifel gezogen worden, als Salvador Dalí diesen kurz vor seinem Tod in London aufsuchte: „Was mich an Ihrem Werk interessiert, ist nicht das Unbewußte, sondern das

54 Sábato 1979, S. 119. 55 Ebd.

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Bewußte.“56 Die damit notwendig einhergehende Rückführung des Wahns in diskursive Vernunft situiert Sábatos Projekt am Rande des Surrealismus, dessen Antirationalismus im Totalitarismus münden konnte: No bastaba con preconizar la simple irracionalidad, que después de todo la Gestapo la había practicado mejor que ellos [d.h. los surrealistas]: era menester darse cuenta de que si el hombre no era pura racionalidad, como pretendió una civilización maquinista, tampoco era pura irracionalidad; y que si el hombre era irreductible 57 a la simple razón también era irreductible al puro instinto.

Wo Breton Politik und Kunst zu vereinen versucht, kehrt Sábato zur Position des Künstlers und Ästheten zurück, der politische Wirkung und künstlerisches Tun trennt. Anders als etwa Walter Benjamin, der am „Sürrealismus“ vor allem die Bündelung antibourgeoiser Kräfte begrüßte,58 konvergiert Sábatos Wertung des Surrealismus mit der von so unterschiedlichen Surrealismuskritikern wie Sedlmayr und noch Adorno, insofern sie sich gegen das „Chaos des totalen Abfalls“59 oder die „unsublimierte Stofflichkeit“60, also gegen einen unkontrollierten künstlerischen Automatismus wenden: „Zweierlei ist es, Irrationales – die Irrationalität der Ordnung wie der Psyche – künstlerisch zu manifestieren, zu formen und damit gewissermaßen rational zu machen.“61 Sábatos Antwort auf die Herrschaft des Irrationalen ist die radikale Kontrolle des Werks, die sich nicht zuletzt in dem Umstand äußert, dass er mehr Manuskripte verbrannt als zum Druck befördert hat. So betreibt Sábato das surrealistische Projekt der Erforschung des Imaginären in seinen ersten Romanen gegen den ideologischen Strich der Wegbereiter, indem er sich nicht nur gegen die Automatismen der surrealistischen Poetologie, sondern auch gegen die Verabsolutierung der ‚höheren Wirklichkeit‘ äußert. Die romantische Hypertrophie, mit der die Surrealisten die Banalität moderner Großstadtwirklichkeiten als locus mirabilis beschwören wollten, geht bei Sábato in der diskursiven Erforschung mentaler Grenzsituationen auf. Mit dieser Schwundstufe eines nicht ironisierbaren merveilleux öffnen sich auch die Basiskomponenten surrealer Fremd- und Selbstwahrnehmung – amour fou, hasard, désir, li56 Thrall Soby, James: Salvador Dalí, New York 1946, S. 24. 57 Sábato 1979, S. 122. 58 Benjamin, Walter: „Der Sürrealismus. Die letzte Momentaufnahme der europäischen Intelligenz“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II/1, Frankfurt a.M., S. 295-310. 59 Sedlmayr 1964, S. 51. 60 Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie, Frankfurt a.M. 1977, S. 340. 61 Ebd., S. 89.

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berté – einem ‚unsurrealen‘ Skeptizismus. Anders als im surrealistischen Idealismus kann die Frage nach der Gültigkeit und Seinsweise von Geschlechterbeziehungen nicht durch das Plädoyer für Libertinage oder Promiskuität, oder die wohl eher theoretische Begeisterung für die freudsche Theorie und die nicht nur fiktiven Exzesse des ‚göttlichen‘ Marquis de Sade beantwortet werden. Wie in Sartres Huis clos, wo unter den idealtypischen Bedingungen eines immerhin noch mythologisch begründeten wunderbaren Spielraums die Möglichkeiten utopischer Wirklichkeitsund Wahrnehmungkonstrukte wie des Begehrens, der Liebe und des Fatums problematisiert und schließlich verworfen werden, finden in Sábatos entmythologisierter Metropole Buenos Aires die Menschen bei dem Versuch, die Spielräume ihres Begehrens auszuspekulieren, ihre Grenzen, sei es in den bürgerlichen Normen, sei es in dem pervertierten Begehren ihres Liebesobjekts. Wo Sábato die Kategorien surrealistischer Welterfahrung mit den zeitgenössischen Alltagswirklichkeiten konfrontiert, kann er diese anders als Carpentier nicht mehr als interkulturelles Missverstehen ironisieren, wie Asturias als extraokzidentalen Primitivismus überhöhen, oder wie García Márquez als prämodernen Exotismus romantisieren: In Sábatos Buenos Aires erscheint der surrealistische Freiheitsanspruch und die Hingabe seiner Helden an die Kategorien Liebe, Zufall und Begehren dämonisiert, sobald er sich dem Antirationalismus ausliefert. Der Anteil Sábatos mit den Konzepten des Surrealismus besteht also in einer ‚metasurrealistischen‘ Praxis, die stärker auf die narrativen als die diskursiven Nuklei surrealer Prosa zugreift. Wo Sábato diese mit einer außerhalb des spätbürgerlichen Erfahrungshorizonts liegenden, spezifisch amerikanischen Lebenswirklichkeit konfrontiert, tilgt er aus dem surrealistischen Konzept jenen grenzenlosen Transzendentalismus, auf dem Bretons Zusammenführung von Kunst und Leben beruht. Gerade der Informe sobre ciegos fingiert in diesem Zusammenhang die mechanische Praxis des in Grenzbereiche vorangetriebenen Irrationalismus, der seinen ‚Sitz im Leben‘ nur als Roman im Roman, und somit in der Brechung durch einen distanzierenden Metadiskurs beanspruchen kann. Das dépaysement in Sábatos Werk wäre insofern die Entheimatung des französischen Surrealismus selbst, der seine Tauglichkeit in der unzufälligen Begegnung mit der conditio humana auf einem Schreibtisch als Frage nach dem Verhältnis von Vernunft und Imagination erweisen muss.

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DAS LABYRINTH DES BEWUSSTSEINS: JULIO CORTÁZARS CUENTO FANTÁSTICO „LAS BABAS DEL DIABLO“ UND MICHELANGELO ANTONIONIS FILM BLOW UP qué palabra, ahora, qué estúpida mentira (Julio Cortázar)

1. Morgenaufbruch im swinging London. Ein offener Jeep mit einem Dutzend Jugendlicher kurvt durch die Stadt, um schließlich vor einem Wohnblock stehen zu bleiben. Die Jugendlichen – ausgelassen, grell und karnevalesk – springen aus dem Auto, bewegen sich jetzt zu Fuß und nicht weniger dröhnend durch die Straßen. Gleichzeitig verlässt vor den Toren eines nahegelegenen Obdachlosenheims eine Menschenmenge den Übernachtungshort. In der wenig kohärenten Gruppe fällt beim Ausgang aus dem Heimgelände ein junger, blonder Mann auf. Nach einem Schnitt führt er zunächst ein Kurzgespräch, biegt daraufhin, gegen den Bewegungsrhythmus, nach links ab. Endlich steigt er in einen Rolls Royce ein, jedoch nicht ohne sich vorher vergewissert zu haben, dass niemand zusieht. Dieser blonde Mann, die Hauptfigur des im Jahr 1966 entstandenen Spielfilms BLOW UP von Michelangelo Antonioni, ist in (der diegetischen) Wirklichkeit ein begehrter Modephotograph, der sich auf der Suche nach authentischem Ausdruck auf eine nunmehr beendete Mission in die gesellschaftlichen Randgruppen begeben hat. Jetzt, anscheinend „jenseits aller Klasseninteressen“1 im Auto sitzend, wird er von der lärmenden Jugendgruppe aus den ersten Filmeinstellungen umkreist, spendiert ihnen Geld, um schließlich loszufahren. 1 Sontag, Susan: „Objekte der Melancholie“, in: dies.: Über Fotografie, Frankfurt a.M. 2003, S. 53-83, hier S. 57.

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Die Autofahrt in den Filmraum hinein, jenes bekannte Motiv der Kinogeschichte, das immer wieder den Filmauftakt markiert, steht auch in Antonionis Film für den Eintritt in eine spezifisch filmische Wirklichkeitssphäre. Wir haben es hier allerdings weniger mit einer in sich konsistenten Realität zu tun, als vielmehr mit einem Zerfall der Wirklichkeitsebenen. So erinnerte der Film aufgrund der Aufnahmen der Obdachlosen an ein vom neorealismo deutlich beeinflusstes Werk, wäre nicht bereits zu Beginn ein erzähltechnischer Bruch mit der découpage classique erkennbar. Die schrillen Rufe und die laute Popmusik aus dem Jeep unterminieren den vermeintlichen Sinngehalt der filmischen Diegese, harmonieren weder mit der Morgenstimmung, noch mit dem Cabriolet des Protagonisten. Am allerwenigsten korrespondiert der Lärm der Jugendlichen mit ihrer Aufmachung, ihren von Stille kündenden Pantomime-Kostümen. Aber auch formale Brüche werden innerhalb der ersten Filmsequenz deutlich. Im Verlauf der Fahrt, mit der die Eingangssequenz abschließt und das Tagesgeschehen des bloß mit einem Vornamen ausgestatteten Protagonisten eingeleitet wird, erfolgt keineswegs wie gewohnt ein perspektivisches Ins-Visier-Nehmen des morgendlichen London. An einer Kreuzung wird Thomas von zwei die Leinwand entlangfahrenden Lastwagen – der erste blau (Abb.1), der zweite gelb (Abb. 2) – aufgehalten. Aus extremer Nähe gefilmt und im weiteren Verlauf des Films mehrfach zitiert und modifiziert (Abb. 3), bilden sie in dieser Einstellung zwei bandartig sich bewegende Flächen glänzender Grundfarbe, die an das colour field painting amerikanischer Maler der 60er und 70er Jahre erinnern (Abb. 4 und 5). Dabei ist die den Eindruck von Endlosigkeit und Bewegung vermittelnde Großformatigkeit der Farbfeldmalerei selbst vom Kinodispositiv beeinflusst.2 Auch bezieht sich die der Malerei innewohnende Bewegung weniger auf das Medium als auf den Betrachter. Er ist es, der dazu aufgefordert wird, an der Leinwand mit dem Blick (Abb. 5), mitunter auch real entlang zu schreiten, wodurch das colour field painting dieses Faktum der allgemeinen Malereirezeption, gleichsam das Lessingsche Vorurteil der Zeitlosigkeit des Bildes3 demaskierend, zu ihrem eigentlichen Thema erhebt. Während sich sodann die Malerei der 2 Vgl. hierzu Dobbe, Martina: Querelle des anciens, des modernes et des postmodernes. Exemplarische Untersuchungen zur Medienästhetik der Malerei im Anschluß an Positionen von Nicolas Poussin und Cy Twombly, München 1999. 3 Vgl. Lessing, Gotthold Ephraim: „Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie“, in: ders.: Werke 1766-1769. Werke und Briefe in zwölf Bänden. Wilfried Barner (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1990, Bd. 5.2.

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Neoavantgarden auf ihre Grundgegebenheiten – die Anordnung und potenzielle Verzeitlichung der Linien und Farben auf einer zweidimensionalen Fläche – besinnt, bietet das Medium ‚Film‘ in der besagten Szene primär eine Fläche intermedialer Reflexionen, die ihre Kraft aus dem gegenseitigen Ausspielen der bewegten und unbewegten visuellen Elemente sowie der optischen und der akustischen Ebenen speisen. Mithin schleudert die Geräuschkulisse dank des Lärms der Straße die dargestellte Wirklichkeit umso eindringlicher ins Bewusstsein hinein, da sie gerade in dem Moment des Vorbeifahrens der beiden Lastwagen einsetzt – dort also, wo das referentielle Bild durch den extremen Close Up zusehends desemantisiert wird. Abbildungen 1-3: Screenshots aus BLOW UP

Links Abbildung 4: Willem de Looper: Blue (1973) Rechts Abbildung 5: Barnet Newmann: Who's Afraid of Red, Yellow and Blue IV (1969-70)

Münden soll dieses modifiziert fortgesetzte, ambivalente Spiel mit der Referentialität, so der regista selbst, in einem Nachdenken über das „reale presente“4. Dabei handelt es sich weniger um eine Gesellschaftskritik als um die Inszenierung dieses reale presente im Sinne eines

4 Antonioni, Michelangelo: Fare un film è per me vivere. Scritti sul cinema, Venezia 1994, S. 85.

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„régime d’échange“5, um eine diegetische wie intermediale Hybridisierung und gleichzeitige Unvereinbarkeit des Realen und des Imaginären. Doch welche Bedeutung kommt der besagten augenblicklichen Realität in BLOW UP genau zu? Und wenn es sich tatsächlich um das Phänomen einer im Zerfall befindlichen Wirklichkeit handelt, wo genau zeichnen sich Risse, Facetten und Unvereinbarkeit, wo Hybridisierungen ab? Sind sie auf der Ebene einzelner Handlungsaspekte des Films zu beobachten, in den akustischen und optischen Dissonanzen und Asynchronien? Oder stellen sie vielmehr die Folge der Reflexion einer spezifisch filmischen ‚Intermedialität‘6 dar, die das Problem einer „gegenseitigen Erhellung der Künste“7 gleichsam als dichotom, als eines der Erhellung miteinander nicht zu vermengender Gattungen ansieht, wie in der oben angesprochenen Szene angedeutet? Letztlich, um wessen reale presente handelt es sich denn? Das des Mediums oder das der Figuren?

2. Es scheint, als ob eine erste Antwort auf diese Fragen die literarische Vorlage des Films liefern könnte, die erstmalig 1959 im Erzählband Las armas secretas erschienene Kurzgeschichte „Las babas del diablo“ (dt.: „Teufelsgeifer“) des argentinischen Schriftstellers Julio Cortázar.8 Ähnlich wie in den visuellen und akustischen Irritationen der filmischen reécriture Michelangelo Antonionis wird auch zu Beginn dieser Kurzgeschichte deutlich, dass die Handlung – das Mordgeschehen und die vermeintlich an die Kriminalerzählung angelehnte Struktur – ihren Rang zugunsten einer Reflexion über das Thema des Erzählens einbüßen wird: Nunca se sabrá cómo hay que contar esto, si en primera persona o en segunda, usando la tercera del plural o inventando continua-

5 Deleuze, Gilles: Das Zeit-Bild. Kino 2, Frankfurt a.M. 1997, S. 21. 6 Vgl. Paech, Joachim: „Intermedialität“, in: Franz-Josef Albersmeier (Hrsg.): Texte zur Theorie des Films, Stuttgart 2001; Müller, Jürgen E.: Intermedialität. Formen moderner kultureller Kommunikation, Münster 1996. 7 Zum Konzept Oskar Walzels vgl. Zima, Peter: „Ästhetik, Wissenschaft und ‚wechselseitige Erhellung der Künste‘“, in: ders. (Hrsg.): Literatur intermedial. Musik, Malerei, Photographie, Film, Darmstadt 1995, S. 1-28, insbes. 18f. 8 Cortázar, Julio: „Las babas del diablo“, in: ders.: Las armas secretas, Madrid 1982, S. 67-84. Die deutsche Übersetzung „Teufelsgeifer“ befindet sich in Cortázar, Julio: Die geheimen Waffen. Erzählungen, Frankfurt a.M. 1981, S. 65-83.

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mente formas que no servirán de nada. Si se pudiera decir: yo vieron subir la luna, o: nos me duele el fondo de los ojos, y sobre todo así: tú la mujer rubia eran las nubes que siguen corriendo delante de mis tus sus nuestros vuestros sus rostros. Qué diablos.9

Wie eine literarische Weiterführung des paradigmatischen Autor-Essays von Michel Foucault10 löst die zwischen der ersten und der dritten Person changierende Narration in „Las babas del diablo“ eine eindeutige Erzählinstanz zugunsten der Metareflexion eigener Gattungsmerkmale auf.11 Sodann steht im Zentrum dieses narrativen Kurztextes weniger ein augenscheinlich sich mit dem Gegenstand – einer fiktionalen Figur – stark identifizierender und gleichzeitig auch sein Handeln reflektierender Autor. Durch die Brechung der Perspektiven, die sich ‚aliterarisch‘ gegen den narrativen Realismus und Rationalismus wendet, erhält die Kurzerzählung einen distanzierten, bisweilen ironischen Charakter. Ihren eigentlichen Gegenstand jedoch scheint primär jene Gegenüberstellung des Realen und Irrealen, Erwartbaren und Unerwarteten zu bilden, welche die phantastische Literatur im Allgemeinen kennzeichnet.12 Hiermit ist auch dieser Text in die Reihe der cortázarschen cuentos fantásticos einzugliedern, deren Handlung stets innerhalb eines paradox-labyrinthischen Universums stattfindet.13 Die ambivalente Welt der absurden, gleichwohl mimetischen Elemente der „Babas del diablo“ schöpft sodann ihre Kraft nicht nur aus einem, von den klassischen Avantgarden beeinflussten Spiel mit den Erzählhaltungen und der Grammatik. Vergleichbar fulminant resultiert die Phantastik aus der Tatsache, dass sich eine der Erzählinstanzen – die des Ich-Erzählers – bereits zu Beginn als tot bezeichnet. Verblüffenderweise jedoch erweist sich für diese mortifizierte Erzählergröße gerade das Er-

9 Cortázar 1982, S. 67. Im Folgenden beziehen sich die Seitenangaben im Fließtext auf diese Ausgabe. 10 Vgl. Foucault, Michel: „Was ist ein Autor?“, in: ders: Schriften zur Literatur, Frankfurt a.M. 1988, S. 7-31. 11 Vgl. Bongers, Wolfgang: Schrift/Figuren. Julio Cortázars transtextuelle Ästhetik, Tübingen 2000, S. 130. 12 Vgl. Caillois, Roger: Au coeur du fantastique, Paris 1965; Todorov, Tzvetan: Introduction à la littérature fantastique, Paris 1970; Durst, Uwe: Theorie der phantastischen Literatur, Tübingen/Basel 2001; Lachmann, Renate: Erzählte Phantastik. Zur Phantasiegeschichte und Semantik phantastischer Texte, Frankfurt a.M. 2001. 13 Vgl. Bongers 2000.

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zählen als die geeignete Antwort auf das Nichts (des Todes?).14 Der IchErzähler stattet sein erzähltes Ego zunächst mit den sozialen Insignien aus: Dem Namen – Roberto Michel –, dem Beruf – Übersetzer und Amateurphotograph –, der Abstammung – Franzose chilenischer Herkunft – und dem Wohnort – Paris.15 Im Folgenden dann wird es ein Mord sein, welchem er, bewaffnet mit einer Photokamera, an einem 7. November beigewohnt zu haben glaubt. In einem Pariser Park erweckt am besagten Tag ein ungleiches Paar von geradezu beunruhigender Aura (vgl. S. 74) – ein Junge mit einer etwas älteren, blonden Frau – Michels voyeuristisches Interesse. In libidinöser Erwartung, einen pittoresken, ja ‚fruchtbaren‘ Augenblick zu erhaschen, drückt er endlich, nach mehreren Einschüben einer weiteren narrativen Instanz, den Auslöser seines Photoapparats. Das Paar bemerkt es, die Frau ist erzürnt und verlangt nach dem Film. Angeregt durch das Beharren der Frau lösen die Parkphotographien bei dem Spaziergänger eine regelrechte Obsession aus: Je eindringlicher die Frau den Film einfordert, desto entschlossener ist Michel in seiner Verweigerung. Vielleicht ist es eine literarisch-masochistische Note der suspense,16 dass er die versteinerte, photographische Erinnerung erst Tage später entwickelt, vielleicht bloß eine Unachtsamkeit. Das zum Plakat vergrößerte Photo jedoch wird anschließend durch die Verzögerung nur umso deutlicher zum, so Volker Roloff, „Auslöser einer absurden, sich gleichsam wie von selbst generierenden, manisch-erotischen Phantasie“, die vom Prinzip des Erzählens „nicht zu trennen ist“17. Michel glaubt mitunter, durch seine Photographie einer tödlichen Verführung des Jungen zuvorgekommen zu sein, tatsächlich jedoch scheint er, vom Photo inspiriert, einen vermeintlichen Mordplan zu imaginieren. Das photographisch Starre wird in eine bewegte Wirklichkeit transponiert, die Personen auf dem Photo entledigen 14 Vgl. Barthes, Roland: „Der Tod des Autors“, in: Fotis Jannidis/Gerhard Lauer/Matias Martinez/Simone Winko (Hrsg.): Texte zur Theorie der Autorschaft, Stuttgart 2000, S. 185-197. 15 Wodurch die Figur autobiographische Züge erhält. Zur Pariser Übersetzertätigkeit von Cortázar vgl. Berg, Walter Bruno: Grenz-Zeichen Cortázar. Leben und Werk eines argentinischen Schriftstellers der Gegenwart, Frankfurt a.M. 1991, S. 83-90. 16 Vgl. Deleuze, Gilles: „Sade, Masoch und ihre Sprache“, in: Leopold von Sacher-Masoch: Venus im Pelz, Frankfurt a.M. 1980, S. 171-278, hier S. 188. 17 Roloff, Volker: „Film und Literatur. Zur Theorie und Praxis der intermedialen Analyse am Beispiel von Buñuel, Truffaut, Godard und Antonioni“, in: Peter W. Zima (Hrsg.): Literatur intermedial, Darmstadt 1995, S. 269-309, hier S. 301.

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sich ihrer Unbeweglichkeit, agieren, verweisen auf ein Danach des Ereignisses, das augenblicklich stattfindet: De pronto el orden se invertía, ellos estaban vivos, moviéndose, decidían y eran decididos, iban a su futuro; y yo desde este lado, prisionero de otro tiempo, de una habitación en un quinto piso, de no saber quiénes eran esa mujer y ese hombre y ese niño, de ser nada más que la lente de mi cámara, algo rígido, incapaz de intervención. (S. 82)

Nicht nur das Photographierte wird sodann mortifiziert, zum Gefangenen des Bildes und der eingefrorenen Zeit, vielmehr werden die Zeit- und Selbst-Erfahrung des Photographen und Betrachters Michel in Frage gestellt. Beide Instanzen – das ‚Ich‘ und die ‚Zeit‘ – stellen Reflexionen der Photographie dar und immer deutlicher erhält die Photographie für Michel die Bedeutung eines Spiegels. Im Gegensatz zu einem „Objekt des Mangels“ jedoch, das auf der fortwährenden Suche nach dem eigenen Ich aus den Spiegelbildern die trügerische Substanz des Ich generiert,18 glaubt Michel in den Photographien nicht nur die Anderen erkennen zu können, sondern ist sich darüber im Klaren, dass er selbst das Fixativ der Szene, das fixierte Vergangene konstituiert: Desde mi silla, con la máquina de escribir por delante, miraba la foto ahí a tres metros, y entonces se me ocurrió que me había instalado exactamente en el punto de mira del objetivo. (S. 79)

Die Bedeutung der Kamera erschöpft sich hierbei keineswegs in der Erkundung einer externen Wirklichkeit, vielmehr wird dem Apparat die Rolle einer Waffe zugewiesen, die den Gegenstand wie auch den Betrachter mortifiziert. Einschneidender als das das Objekt einfrierende, photographische Verfahren, wird die Photographie selbst zu einem subjektgenerierenden, in der Phantastik der voyeuristischen Szene auch entlarvenden, mithin gefährlichen Instrument, das Strahlen aussendet und auch den Photographen und Betrachter punktiert, verletzt, tötet.19 Gleichwohl: Eine endgültige Antwort auf die Rätsel des Todes, der Narration und der Zeit verweigert der Text entschieden, sorgen doch die phantastischen Elemente der Erzählung wiederholt für Verwirrung. Diese können motivisch bedingt sein, wie die als eine arma, eine Mordwaffe in18 Vgl. Lacan, Jacques: „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint“, in: ders.: Schriften. Norbert Haas (Hrsg.), Weinheim/Berlin 1991, Bd.1, S. 61-70. 19 Hierdurch antizipiert der Text die Überlegungen Roland Barthes’ in ders.: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie, Frankfurt a.M. 1989.

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szenierte Linse des Photoapparats, oder narrativ, so die dissonanten Erzählerstimmen, die dem Text bisweilen eine ironische Metaebene verleihen. Indem die Motive und die narrative Struktur einander bedingend Orte medialer Hybridisierungen bilden, dokumentiert der Schnappschuss auch eine Einheit von technischem Bilder-Schießen und Bilder-Sehen, dem Erzählen und Erzählt-Werden. Die spezifische cortázarsche Verknüpfung des Phantastisch-Formalen mit der existentiellen Erfahrung des Todes20 findet sodann ihr Symbol in dem Tod durch die Kameralinse, aber auch demjenigen, augenzwinkernd präsentierten Tod des Erzählers und Voyeurs Michel. Es ist die Photographie, die sich innerhalb dieses danse macabre als ein äußerst ambivalentes, intermediales Motiv erweist. Ihr werden geradezu ontologische Qualitäten zugesprochen, gewährleistet sie doch, so der Hobbyphotograph Michel, „disciplina, educación estética, buen ojo y dedos seguros“ (S. 70). Seinen anschließenden, medientheoretischen Grübeleien zufolge bewirke sie auch eine apparative Erweiterung und Einrahmung der Wirklichkeit, die Verschärfung und Reduktion des Blicks. Hier bereits mischt sich in die enthusiastische Stimme eine skeptische Haltung hinein, wird doch die vermutete Extension sogleich in der Annahme einer Reduktion aufgehoben. Diese zweifelnde Position wird im weiteren Verlauf gesteigert: Die Photographie, so die höchst rätselhafte, geradezu auktoriale Gegenstimme des Textes, zerstückele und vernichte den ephemeren Zeitpunkt (S. 74), anstatt ihn aufzubewahren, sie stoppe den Fluss des Lebens, mortifiziere und mumifiziere das Geschehen wie die Erinnerung. In „Las babas del diablo“ werden somit zwei konträre Positionen der Reflexionen über die Photographie als mediale Form angeboten. Die erste ist euphorisch: Die Photographie erscheint hier als ein Verfahren, das den Blick erfrischt und verschärft, eine jungfräuliche Wirklichkeit entstehen lässt. Die zweite Stimme dagegen ist durchaus skeptisch und scheint mitunter auf die Reflexionen über die Todes-Affinität der Photographie zu rekurrieren, die innerhalb eines philosophischen Diskurses des zwanzigsten Jahrhunderts von Henri Bergson21 über Walter Benjamin22 bis hin zu Roland Barthes23 fortwährend variiert werden. Der Photogra-

20 Vgl. Berg 1991, S. 94. 21 Bergson, Henri: Die schöpferische Entwicklung, Zürich 1967. 22 Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Frankfurt a.M. 1974. 23 Vgl. Barthes 1989.

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phie bei Cortázar wohnt die Rolle einer Membran und einer Spiegelfläche inne, die – indem sie die Verschärfung des Sehsinns gleichermaßen wie eine Überführung des Ich aus einer ‚realen‘ in eine gespiegelte, weder das Begehren noch den Tod ausschließende Traum-Wirklichkeit ermöglicht – die Grenze der enthusiastischen und der kritischen Position markiert. Die Bekämpfung der nada und des horror vacui mithilfe der Bilder und Zeichen endet so in der Konfiguration einer heterotopen Welt, lösen doch der Zufall des Photographieaktes wie auch sein Ergebnis neben der Starre und dem Tod auch die erotische wie traumähnliche Handlung aus. Das Arbiträre des Schnappschusses erhält sodann den Charakter der surrealen Wirklichkeit sui generis. Der cortázarsche Text knüpft hierdurch an die medientheoretischen Analysen des so genannten „fotografischen Faktums“ von Salvador Dalí an,24 gleichsam die Überlegungen Susan Sontags antizipierend.25 Dalí wie Sontag zufolge ist die photographische Umwandlung – jene Wechselwirkungen einfangend, die sich zwischen dem Realen und Surrealen ergeben – durchweg mit dem Streben des Surrealismus nach dem Arbiträren und Unerwarteten vergleichbar. Hier wie dort ist diese ‚neue‘, technisch-medial transponierte Wirklichkeit fragmentarischer, aber auch dramatischer als die von unseren Augen wahrgenommene Realität. Bei beiden, bei Dalí wie bei Sontag, erscheint die Photographie – da sie eine Wirklichkeit zweiten Grades erzeugt – als das surrealistische Medium par excellence.26 Gleichwohl sucht Susan Sontag weniger, wie Dalí, im technischen Verfahren oder in den Arbeiten beispielsweise von Man Ray das Surreale,27 sondern in der Photographie als einem spezifischen, medialen Zeit-Phänomen,28 schöpfe diese doch ihre Kraft aus der unwiderstehlichen Rührung, die sie als Botschaft aus vergangener Zeit auslöst, und der konkreten Aussage über eine Gesellschaftsschicht. Gleichsam ist sie der Zeit der Lebenswirklichkeit durch die Aktualisierung des 24 Vgl. Dalí, Salvador: „Das fotografische Faktum“, in: ders.: Unabhängigkeitserklärung der Phantasie und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit, Gesammelte Schriften. Axel Matthes/Tilbert Diego Stegmann (Hrsg.), München 1974, S. 28f. 25 Sontag 2003; dies: „In Platons Höhle“, in: dies.: Über Fotografie, S. 9-30, insbes. S. 19. 26 Vgl. ebd. sowie Sontag 2003, S. 54. 27 Vgl. Dalí, Salvador: „Die Fotografie, reine Schöpfung des Geistes“, in: ders.: Unabhängigkeitserklärung der Phantasie und Erklärung der Rechte des Menschen auf seine Verrücktheit, München 1974, S. 26-28. 28 Vgl. Sayag, Alain: „Surrealistische Fotografie: Eine anonyme Kunst?“ in: Spies, Werner (Hrsg.): Surrealismus 1919-1944. Katalog der Ausstellung, Düsseldorf 2002, S. 398-400.

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Vergangenen diametral entgegengesetzt: „Im Leben geht es nicht“, so Sonntag, „um bedeutsame Details – einmal kurz belichtet und für immer festgehalten. Auf Fotografien geht es um nichts anderes“29. Nachhaltiger vielleicht als Salvador Dalí im „Fotografischen Faktum“ war sich Julio Cortázar dieses, die Surrealisierung auslösenden Potenzials der Zeit bewusst. In seinem cuento fantástico entlarvt er das Problem der Zeit als eine Lüge, als eben jene „estúpida mentira“30, von der die Photographie in ihrer Konfrontation mit der Lebenswirklichkeit ein Zeugnis abliefert. Mehr noch, das Erstarren des Photographierten fungiert nicht nur als Symbol sondern als Todes-Katalysator einer flüchtigen, sich fortwährend verändernden, mithin auch stets sterbenden Wirklichkeit, der nur ein sich selbst zurücknehmendes Erzählen gerecht werden kann. Mithin bildet weniger das als Motor und intermediale Metaperspektive fungierende „Fotografische Faktum“ den Kern der Kurzerzählung als eine gleichzeitige Auf- und Verdeckung des literarischen Erzählens. Das zentrale Moment des cuento ist die labyrinthische, mehrdeutige, einen Sinn entbehrende Struktur des zeitlich motivierten und die Zeit verschleiernden Beobachtens und Erinnerns im Akt des Erzählens, führt doch die Surrealisierung in „Las babas del diablo“ zu einer ambivalenten, zwischen mehreren Zeit-, Realitäts- und Erzählebenen changierenden Narration.

3. Wurden das Sehen und die Sprache bzw. die Photographie und die Kurzgeschichte31 in „Las babas del diablo“ als teils dichotome Modi der Wirklichkeitsbewältigung verstanden, um schließlich zu einer Selbstreflexion der eigenen medialen Wirklichkeit zu führen, so ist die auf das Verhältnis Film-Photographie verlagerte Problematik des Films BLOW UP vom Thema ‚Sehen‘ dominiert. Die Hauptfigur des Films, Thomas, haben wir bei seiner Rückkehr aus dem Londoner Nachtasyl verlassen. Was sich im Folgenden ereignet, sind zunächst einmal 24 Stunden aus dem Leben eines von der Mode- und Konsumwelt angewiderten, dieser sich dennoch nicht bewusst entziehenden Photographen, der Objekte und Menschen – Frauen wie Männer – vor allem durch die optischen Hilfsmitteln, die Linsen der Kamera oder der Lupe zu erobern trachtet (Abb.

29 Sontag 2003, S. 56 und 82f. 30 Cortázar 1982. 31 Vgl. hierzu Cortázar selbst in Obra Crítica, Bd. 2, Madrid 1994, S. 371.

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6-8). Ob als substituierter petite mort des Liebesaktes32 (Abb. 6), das Anfokussieren einer friedlichen Parklandschaft (Abb. 7) oder die detektivische Spurensuche (Abb. 8) in Szene gesetzt, sein Blick wirkt erst dann interessiert, wenn er durch optische Apparate geschärft wird. Abbildungen 6-8: Screenshots aus BLOW UP

Dem mortifizierenden Charakter des apparativ vermittelten Blickes entsprechend ist auch der Gestus des Photographen aggressiv. Aus dem mit der Kamera bewaffneten, literarischen Voyeur Julio Cortázars ist ein Kämpfer geworden, der das Bilder-Schießen zur Berufung erhebt. Gleichwohl widerfährt wie bereits dort so auch hier der Hauptfigur – bei der Suche nach den, der Modephotographie entgegengesetzten, ‚authentischen‘ Motiven für eine Photo-Dokumentation – eine „unerhörte Gegebenheit“33. In einem Park nach einem lyrischen Ausklang seines geplanten Obdachlosen-Bilderbuchs suchend, beobachtet und photographiert er das Liebesspiel eines älteren Mannes mit einer, von Vanessa Redgrave dargestellten, noch jungen Frau. Der von der Frau, zunächst im Park, dann auch in Thomas’ Wohnung krampfhaft verlangte Film steigert sich für Thomas wie bereits für Michel zur Passion. Allein im cuento und im Film mündet der erotisch-voyeuristische Ausgangspunkt in divergierende Wege der Spurensicherung: Fungieren in „Las babas del diablo“ das Erzählen und das Schreiben als Motoren der Geschichte, ja Michel habe sich, so der ‚auktoriale‘ Erzähler, primär der Literatur schuldig gemacht (S. 76), ist Thomas’ Passion nicht nur eine optisch motivierte sondern auch weiterentwickelte.34 Zwar endet auch in BLOW UP der abrupt abgebrochene Besuch der nach dem Film verlangenden Frau aus dem Park mit dem der literarischen Vorlage entnommenen Glauben des Protagonisten Thomas, er hätte einen Mord verhindert. Nach einer ménage à 32 Vgl. auch Sontag 2003, S. 19. 33 Goethe, Johann Wolfgang von: „Gespräche mit Eckermann (29. Januar 1827)“, in: ders.: Gedenkenausgabe der Werke. Briefe und Gespräche. Ernst Beutler (Hrsg.), Zürich 1989, S. 225. 34 Vgl. Deleuze 1997, S. 21f.

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trois mit zwei Möchtegern-Models in seinem mit den Parkphotos beklebten Wohnzimmer, fällt Thomas’ gebannter Blick jedoch auf eine der Photographien, auf der er ein wichtiges Indiz entdeckt zu haben scheint. Während die Figuren auf dem Photo Michels, indem dieser den ersten Satz des Textes zu schreiben beginnt, ihre Autonomie zu verlieren scheinen, wird die Kriminalgeschichte im Falle von Thomas ausschließlich durch das Sehen ausgelöst und weitergeführt. Michel setzt seine (Mord-) Geschichte durch das Schreiben, also literarisch fort, Thomas dagegen collagiert – manisch das ‚Beweisstück‘ im Blow-Up-Verfahren vergrößernd, bis er auf dem Photo eine Leiche erkennen zu können glaubt (Abb. 9) und akustisch von absoluter Stille umgeben – einen Photoroman. Es gehört zu den rätselhaften Raffinessen des Films, dass er nachts im besagten Park die Leiche auch tatsächlich findet (Abb. 11). Wenngleich sich die Story des Films scheinbar noch mehr als das cortázarsche cuento der Muster des Kriminalromans bedient,35 die Bedeutung der detektivischen Auflösung eines Kriminalfalls kommt diesem Fund keineswegs zu. Vielmehr ist das Geschehen bereits in dem anfänglichen Duktus der Hybridisierung der Wirklichkeitsebenen intoniert. Die durch das Sehen figurierten, unterschiedlichen Facetten des Realen symbolisieren immer deutlicher das Bewusstseins-Labyrinth der Hauptfigur,36 welches sich im Verlauf des Films in den alogischen, traumhaften Strukturen seines Handelns zusehends widerspiegelt: So benachrichtigt Thomas nach dem Fund der Leiche nicht die Polizei, sondern versucht zunächst seinen Nachbarn Bill – einen Maler – vom Ereignis zu unterrichten, wohnt dort allerdings einem urszene-ähnlichen Coitus bei. Thomas’ Blick, dargestellt mithilfe der subjektiven Kamera gleitet dabei über das kopulierende Paar, um schließlich auf einem abstrakt-divisionistischen Gemälde Bobs stehen zu bleiben. Die Kamerabewegung vom Liebesakt zur abstrakten Bildfläche perpetuiert die gesamte Filmstory und fungiert 35 Zur Poetik, Geschichte und Theorie des Kriminalromans vgl. Nusser, Peter: Der Kriminalroman, Stuttgart 2003; Vogt, Jochen (Hrsg.): Der Kriminalroman. Poetik, Theorie, Geschichte, 2 Bde., München 1998 hier insbes. Bloch, Ernst: „Philosophische Ansicht des Detektivromans“, in: ebd. Bd. 2, S. 322-343; Kracauer, Siegfried: Der Detektivroman: Ein philosophischer Traktat, Frankfurt a.M. 1979; Schulz-Buschhaus, Ulrich: Formen und Ideologien des Kriminalromans. Ein gattungsgeschichtlicher Essay, Frankfurt a.M. 1975; Žmegaþ, Viktor: Der wohltemperierte Mord. Zur Theorie und Geschichte des Kriminalromans, Frankfurt a.M. 1971. 36 Vgl. hierzu Felten, Uta: „Ariadnes Faden ist gerissen: Variationen des Labyrinthmythos bei Antonioni“, in: Walburga Hülk et al. (Hrsg.): Alte Mythen – neue Medien (in Vorbereitung).

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sodann als ein weiterer Verweis auf die Unsicherheiten der sinnlichen wie der technisch generierten Wahrnehmung, auf das Changieren beider zwischen Traum und Wirklichkeit. Abbildungen 9-11: Screenshots aus BLOW UP

Es ist dann nur umso konsequenter, dass die am nächsten Morgen verschwundene Leiche schließlich die Bedeutung eines nicht von der Linse des Photoapparats festgehaltenen sondern vom ver-rückten Bewusstsein generierten objet trouvé erhält. Denn während der liegende Körper auf der Blow-Up-Vergrößerung eines der Parkphotos eine geradezu identische Position einnimmt, wie die abgemagerte, nackte Figur eines älteren Mannes auf der ‚gesellschaftskritischen‘ Studie Thomas’ (Abb. 10), wirkt die eigentliche Leiche als genau spiegelbildlich positioniert. Ist sodann in dem dokumentarischen Vorhaben Thomas’ der Grund des unerhörten Geschehens zu finden? Wurde die Surrealisierung auch hier, wie Susan Sontag es formuliert, aus dem Affekt generiert, den die Photographie auslöst? Der Film verweigert eine Auflösung dieses Rätsels. Die einzige Antwort, die explizit ausgesprochen wird, ist jene, die Bills Frau kurz nach der traumähnlichen Coitusszene entschlüpft. Nach Thomas Ausführungen über das unerhörte Tagesgeschehen vergleicht sie das vergrößerte „Beweisstück“ mit den pointilistisch-abstrakten Gemälden ihres Gatten, in denen sich, wie es zuvor im Film hieß, auch „irgendwann mal alles zusammenfügt“. Referentiell jedoch ist an diesen Gemälden, wie auch in dem die Makrostruktur photographischer Bilder vorführenden Beweisstück Thomas’, außer der Analyse und Zurschaustellung eigener medialer Bedingungen nichts. Wie bereits am Anfang des Films in der Einstellung der beiden vorbeifahrenden Autos vorweggenommen, durchläuft die gesamte, durchgängig aus der Perspektive Thomas’ erzählte und dennoch distanzierte Handlung des Films eine ähnliche, von der Desemantisierung zur Umcodierung verlaufende Entwicklung. Hier wie dort erfolgt die Desemantisierung durch die Vergrößerung. Hier wie dort erweist sich die

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Vergrößerung, die augenscheinlich auf das Elementare (dort der Kunst, hier des Geschehens) verweisen sollte, als nicht greifbar, trügerisch. So wie Michel aus dem Sehen und der Photographie eine Kurzgeschichte entwickelt, so setzt Thomas die vergrößerten Parkphotographien zu einem bewegten Photoroman, zu einem Film zusammen. Die anscheinend unbewegte Wirklichkeit der Photographie wird von ihm verlebendigt, rhythmisiert, dynamisiert. Abbildungen 12-14: Screenshots aus BLOW UP

Dass die einzelnen Facetten des Bildes mitunter gleichzeitig als bewegt und unbewegt, transparent und undurchlässig erscheinen (Abb. 12-13), bildet in der Ununterscheidbarkeit und der gleichzeitigen paradoxen Unvereinbarkeit der Bildebenen das eigentliche Thema des Films, das unversöhnliche Nebeneinander des Realen und des Imaginären. Wie in einer durch die Tür gefilmten Einstellung, die zunächst als eine Spiegelung erscheint (Abb.14), werden im Film häufig zwei Pole ein und derselben Situation gezeigt, zwei Perspektiven, die, wenngleich in einem Bild subsumiert, dennoch völlig divergierende Wirklichkeiten präsentieren. Die bewegte Farbfläche, zu der der Lastwagen am Anfang des Films abstrahiert wird, ist somit symptomatisch nicht nur für das selbstreflexive filmische Spiel zwischen der Referentialität und der gleichzeitigen Desemantisierung. Sie enthält bereits, neben dem Übergang von der cadrage in die décadrage37, das Moment einer versperrten Wirklichkeits-Passage. Denn eine Synthetisierung der differenten Wirklichkeiten verweigert der jeder rationalen Motivierung spottende Film entschieden. Mehr als um eine logisch aufgebaute Diegese geht es auch hier um die labyrinthische Struktur der Bilder und Geräusche, die durch ein apparatives Zeigen und Sehen bzw. Vorspielen und Hören nur rätselhafter, antagonistischer wird. Die Spiegel-Spiele und Spuren-Striche nehmen in BLOW UP den Platz der verwirrenden Erzählhaltungen im cortázarschen cuento ein, fungieren 37 Bonitzer, Pascal: Décadrages. Peinture et cinéma, Paris 1995, insbes. S. 83ff.

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als das Substitut einer narrativen zeitlichen Verrätselung des Erzählten, um letztendlich auf sich selbst als eine höhere Wahrheit, die es zu entdecken gilt, zu verweisen. Das Resultat der Auflösung und Neucodierung des Referentiellen ist eben keine ‚Wahrheit‘, sondern eine Facettierung und Verrätselung des visuellen Ausdrucks und der wahrgenommenen Wirklichkeit, die sich immer nur als eine des eigenen Mediums entpuppt. Wie bereits zu Beginn des Films vollzieht sich der entscheidende Bruch auch an seinem Ende nicht auf der visuellen, sondern auf der akustischen Ebene. Im Park, wo sich die besagte Leiche in Nichts aufgelöst zu haben scheint, begegnet Thomas am darauf folgenden Morgen abermals den clownesken Jugendlichen. Sie spielen Tennis als Pantomime. Thomas schaut dem Spiel zu, als der imaginäre Ball vor ihm landet, bückt er sich verblüffenderweise, um ihn aufzuheben. Von nun an verfolgt er das Spiel mit Interesse: Der Blick des Photographen – der erste des Films, der aufmerksam ist und sich dabei nicht einer Photographie, sondern der ‚Wirklichkeit‘ zuwendet – wird begleitet vom Aufprall des imaginären Tennisballs auf dem Boden des Spielplatzes. Langsam wendet sich Thomas ab, entfernt sich vom Spielplatz, die Kamera fährt hoch, bis er zu einer kaum noch zu identifizierenden Gestalt auf der grünen Wiesenfläche wird. Es ist fraglich, ob das das Sehen ersetzende Hören hierdurch als die einzige sichere Instanz der Wahrnehmung charakterisiert wird. Sicher ist, dass in BLOW UP in dem Moment, in dem sich die visuellen Zeichen auf ein abstraktes ‚Nichts‘ beziehen, die akustischen die Wirklichkeit restaurieren. Doch während am Anfang des Films durch die Geräusche die Wirklichkeit der Straße ins Bewusstsein drang, wird hier ein imaginäres Spiel akustisch als vermeintlich real bestätigt. Endlich restauriert das Geräusch nicht mehr eine anscheinend reale, sondern vielmehr eine surreale, schizophrene Wirklichkeit. Sodann soll das Rätsel, das der Film am Anfang aufgibt, weder auf der visuellen noch auf der akustischen Ebene gelöst werden. Vielmehr soll es zu einer Reflexion, oder mit Antonioni, zu einer Diskussion führen,38 die sich um das Reale und Imaginäre, um den realen Wert der Gegenstände und ihre subjektive Bedeutung gruppiert – eine Diskussion, die ohne Antagonismen und Surrealisierungen nicht auskommen kann. Und dass der Film mehr noch als die Photographie den Raum der Surrealisierungen eröffnet, ist, wie wir wissen, eine grundlegende medientheoretische Prämisse.

38 Antonioni 1995.

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„ÉSTE, QUE VES, ENGAÑO COLORIDO“ – INTERMEDIALITÄT UND HYBRIDE DISKURSPRAXIS IN DER MEXIKANISCHEN LITERATUR- UND MEDIENGESCHICHTE Als Produkte eines Dialogs zwischen verschiedenen Medien und Kulturen nehmen die im Kontext des mexikanischen Barock und des Surrealismus entstandenen Bild-Text-Kombinationen – wie ich an exemplarischen Fallstudien zu Frida Kahlo und Octavio Paz erläutern möchte – eine Schlüsselposition ein. Die forschungsleitenden Fragen, die sich zu Beginn meiner Fallstudie ergeben, sind folgende: Wie und mit welchen methodischen Voraussetzungen kann eine Geschichte des mexikanischen Literatur- und Mediensystems geschrieben werden? Geschichte im Allgemeinen und Literatur- und Mediengeschichte im Besonderen lässt sich – um an Theoreme von Michel Foucault anzuknüpfen – nicht als Kontinuität beschreiben, sondern ist immer als Diskontinuität, das heißt als Geschichte von Rissen, Sprüngen, Umbrüchen, Zäsuren zu begreifen. Nach Foucault gibt es nicht „die eine gleiche Geschichte, die hier und dort erzählt wird“1 und sich folglich aus der Retrospektive ohne weiteres als eine kohärente Einheit beschreiben ließe. Infolgedessen geht es, so Foucault, nicht um „die Frage, auf welchem Wege Kontinuitäten sich haben errichten können, auf welche Weise ein und derselbe Entwurf sich hat erhalten und für so viele verschiedene Geister zeitlich nacheinander einen einheitlichen Horizont hat bilden können“, sondern um den Versuch, ein „Denken der Diskontinuität“ zu initiieren, das historische und mediale Phänomene in den Kategorien der Schwelle, des Bruchs, des Einschnitts, des Wechsels und der Transformation zu fassen versucht und mit bedenkt, dass Analysen sich 1 Foucault, Michel: Archäologie des Wissens, Frankfurt a.M. 1992, S. 11.

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notwendig nach der Aktualität des Wissens ordnen und nicht aufhören, mit sich selbst zu brechen.2 Octavio Paz’ Konzept einer „historia plural“3 und seine in Los hijos de limo formulierte Kritik an einer von den Leitkategorien der Kontinuität, Linearität und Progression dominierten hegemonialen Geschichts4 schreibung, können als weitere methodische Prämissen für das Projekt einer pluralistischen Geschichte des mexikanischen Literatur- und Mediensystems genutzt werden. Es gilt noch eine weitere methodische Vorraussetzung zu bedenken. Literatur- und Mediengeschichte lassen sich nicht mehr aus der Perspektive der Einzelmedien und auch nicht aus einer ausschließlich auf eine isolierte Nation ausgerichtete Perspektive schreiben. Wir verfügen mittlerweile über zahlreiche national ausgerichtete Geschichten von Einzelmedien, Geschichten des Theaters, des Films, der Lyrik etc., nicht aber, von einigen Ansätzen abgesehen – und dies wäre ein wichtiges Desiderat –, über Geschichten der hispanoamerikanischen Literaturen und Medien aus der Perspektive der zunehmenden Vermischungen, Vernetzungen, Überlagerungen, Hybridisierungen der verschiedenen Medien, das heißt aus einer intermedialen und transnationalen Perspektive. Der mexikanische Surrealismus der 30er und 40er Jahre kann beschrieben werden als Werkstatt einer intermedialen Theorie und Praxis, als Forum des Dialogs zwischen verschiedenen Medien: Literatur, Malerei, Photographie und Film, als plurikultureller Ort der Begegnung zwischen französischen, spanischen und mexikanischen Künstlern des Surrealismus und als Moment der Konfrontation der Blicke auf das Eigene und das Fremde, der von Verstehen und Missverstehen, von versuchter Vereinahmung und kreativem Austausch gleichermaßen geprägt wird und zur Selbstaffirmation eines mexikanischen Surrealismus führt. Die pikturalen und literarischen Texte des mexikanischen Surrealismus können somit im Anschluss an Theoreme von Vittoria Borsò als „Orte bestimmter heterogener diskursiver Praktiken“ verstanden werden, die „widerstreitende und resistente Kräfte ausbauen“5 und Brüche und diskursive Kollisionen offenlegen. 2 Ebd., S. 12. 3 Paz, Octavio: Los hijos del limo. Del romanticismo a la vanguardia, Barcelona 1981, S. 41. 4 Ebd., S. 53. 5 Borsò, Vittoria: Mexiko jenseits der Einsamkeit. Versuch einer interkulturellen Analyse: Kritischer Rückblick auf die Diskurse des Magischen Realismus, Frankfurt a.M. 1994, S. 38.

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Die Text-Bild-Beziehungen bei André Breton, Frida Kahlo und Octavio Paz bilden m.E. ein für die aktuellen Theoriediskussionen über Alterität, Hybridität und Intermedialität relevantes Untersuchungsobjekt und sind besonders geeignet, die Fruchtbarkeit intermedialer und diskursanalytischer Forschungsansätze für eine modifizierte Literatur- und Mediengeschichtsschreibung Mexikos unter Beweis zu stellen. Zielsetzung meines intermedialen Forschungsansatzes ist es, am paradigmatischen Beispiel der Beziehungen zwischen literarischen und pikturalen Diskursen bei Octavio Paz und Frida Kahlo zu zeigen, wie Bilder als Orte eines literarischen und Texte als Orte eines visuellen Gedächtnisses fungieren, dessen Körperbilder und Mythenkonstruktionen durch kulturelle Hybridität geprägt sind. Auf der Grundlage der Literarisierung von André Bretons Mexikoreise in seinem „Souvenir de Méxique“ soll zunächst ein Einblick in die ambivalente Geschichte europäischer Diskursproduktion über Alterität gegeben werden. Im Anschluss an Vittoria Borsòs an Foucault anknüpfende Positionen soll Alterität nicht als „Objekt der Erkenntnis, sondern als ein auf Episteme gerichtetes […] Prinzip“6, als ein Produkt diskursiver Operationen verstanden werden. Bretons Mexikoreise im Jahre 1938, die er in seinem „Souvenir de Méxique“7 in Form einer spannungsreichen Bild-Text-Kombination aus Reiseimpressionen, Traum- und Lektürephantasien und Photographien des mexikanischen Künstlers Manuel Álvarez Bravo fiktionalisiert hat, bildet den Ausgangspunkt für eine Öffnung des europäischen Kunstkanons auf der einen und für eine ungewollte Reproduktion exotistischer Diskurse und Wahrnehmungsmuster von Alterität auf der anderen Seite.8 Bei seiner von europäischen Lektürephantasien und heterotopischen Sehnsüchten nach dem Anderen geleiteten Mexikoreise im Jahre 1938, bei der ihm die mexikanische Landschaft als „paysage mental“9 und als materielle Verkörperung der écriture automatique erscheint, trifft 6 Ebd., S. 39. 7 Breton, André: „Souvenir de Méxique“, in: Minotaure, Nr. 12/13 (1939), S. 31-48. 8 Vgl. in diesem Zusammenhang die Untersuchungen von M. Rössner zur Rezeption Mexikos als „lieu privilégié du paradis“ bei den französischen Avantgardisten; Rössner, Michael: „La fable du Méxique – oder vom Zusammenbruch der Utopien. Über die Konfrontation europäischer Paradiesprojektionen mit dem Selbstverständnis des ,indigenen‘ Mexiko in den 20er und 30er Jahren“, in: Karl Hölz (Hrsg.): Literarische Vermittlungen. Geschichte und Identität in der mexikanischen Literatur, Tübingen 1988, S. 47-60. 9 Breton 1939, S. 41.

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André Breton die mexikanischen Maler Frida Kahlo, Diego Rivera und den Photographen Manuel Álvarez Bravo, entdeckt in deren künstlerischen Produktionen den eigenen surrealistischen Blick wieder und nimmt die mexikanischen Künstler in seine Genealogie surrealistischer Kunst auf. In Bezug auf seine Entdeckung der Malerei Frida Kahlos bemerkt Breton: Quelles n’ont pas été ma surprise et ma joie à découvrir [...] que son œuvre, conçue en toute ignorance des raisons qui, mes amis et moi, ont pu nous faire agir, s’épanouissait avec ses dernières toiles 10 en plein surréalisme. Wie groß waren meine Überraschung und meine Freude, bei meiner Ankunft in Mexiko plötzlich zu sehen, dass ihr Werk, obwohl sie die Gründe, die meine Freunde und mich dorthin gebracht hat11 ten, gar nicht kannte [...] mitten im Surrealismus aufblühte.

Bretons Blick auf das Andere schreibt sich, das wird hier implizit deutlich, in einen hegemonialen Diskurs ein, der von einer Überlegenheit der eigenen Diskurspraxis ausgeht. Es ist jener sich im westlichen Blick auf das Andere häufig manifestierende hegemoniale Gestus, den Octavio Paz in Los hijos del limo einst ironisch kommentiert hat: Cada vez que los europeos y sus descendientes de la América del Norte han tropezado con otras culturas y civilizaciones, las han llamado invariablemente atrasadas. Occidente se ha identificado 12 con el tiempo y no hay otra modernidad que la del Occidente. Jedes Mal, wenn die Europäer und ihre nordamerikanischen Nachfahren anderen Kulturen begegnen, bezeichnen sie diese als unterentwickelt. Der Westen identifiziert sich mit der Zeit und es gibt keine andere Modernität als die des Westens.

Bretons Metadiskurs über den mexikanischen Surrealismus, der auf einem exotisierenden Blick auf das Andere bzw. auf die Andere basiert,

10 Breton, André: „Frida Kahlo de Rivera“, in: ders: Le surréalisme et la peinture, Paris 1979, S. 144. 11 Hier wie auch im Folgenden stammen die deutschen Übersetzungen, sofern nicht anders ausgewiesen, von Vf. 12 Paz 1981, S. 41f. Vgl. in diesem Kontext Schulz-Buschhaus, Ulrich: „Europäische Avantgarde und mexikanisches Bewusstsein“, in: Karl Hölz (Hrsg.): Literarische Vermittlungen. Geschichte und Identität in der mexikanischen Literatur, Tübingen 1988, S. 137-151.

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kann im Anschluss an Riffaterre als „lyrische Ekphrasis“ und als ritualisiertes – von einem spezifischen Weiblichkeitsmodell gelenktes – Blickdispositiv bezeichnet werden, das keine Analysekategorie darstellt, sondern selbst ein Element einer Diskursgeschichte europäischer Aisthesis bildet. Fragwürdig ist vor allem die von Breton inspirierte Verquickung von „la femme et l’œuvre“, die dazu führt, dass die polyvalenten Selbstinszenierungen der Kahlo in ihren autoretratos auf das Signifikat einer „exotischen Märchenprinzessin“, einer mexikanischen Nadja oder einer Schmerzensfrau reduziert werden. Paradigmatisch für eine solche exotisierende Lesart der Malerei Frida Kahlos, die die in den Bildern präsente Mehrfachcodierung zurückdrängt, sind die bekannten Äußerungen Bretons in Le surréalisme et la peinture, in der er die hybriden Selbstinszenierungen Frida Kahlos mit den topischen Etikettierungen der ,Reinheit‘ und ,Sündhaftigkeit‘ belegt: J’ai été amené à dire, au Mexique, qu’il n’était pas, dans le temps et dans l’espace, de peinture [...] qu’il n’en est pas de plus exclusivement féminine au sens, où pour être la plus tentante, elle consent 14 volontiers à se faire tour à tour la plus pure et la plus pernicieuse.

Aus einer pragmatischen Perspektive betrachtet ist Bretons misreading dennoch fruchtbar, führt es doch immerhin zur Öffnung des bisherigen Kunstkanons und zur Popularisierung Frida Kahlos auf dem europäischen Kunstmarkt. Im Januar 1939 organisieren Breton und Duchamp eine Ausstellung mit dem Motto „Méxique“, die in der Galérie Pierre Colle in Paris inauguriert wird. Nur zwei Exponate aus dem Œuvre Frida Kahlos werden hier zum ersten Mal in Europa ausgestellt. In der Korrespondenz mit Nickolas Muray äußert Frida Kahlo immer wieder ihre kritische Distanz gegenüber der exotistischen Einverleibung ihrer Bilder durch Breton, der ihre Bilder als ,archäologische Fundstücke‘ gemeinsam mit allerlei auf mexikanischen Märkten erstandenen Kuriositäten und Reisesouvenirs ausstellen möchte: „Ahora Breton quiere exhibir, junto con mis cuadros [...] muchos objetos populares que compró en los mercados de México, pura basura, es el colmo!“15

13 Riffaterre, Michel: „Exphrasis lyrique“, in: Jaqueline Chenier-Gendron (Hrsg.): Lire le regard. André Breton et la peinture, Arles 1993, S. 179-198. 14 Breton 1979, S. 144. 15 Herrera, Hayden: Frida. Una biografía de Frida Kahlo, Barcelona 2002, S. 308.

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Im März des gleichen Jahres organisiert Breton für sie eine Einzelausstellung und schreibt ein Vorwort für den Katalog zu ihrer New Yorker Exposition in der Julien Lévy Gallery; am 17. Januar 1940 stellen die französischen Surrealisten gemeinsam mit Frida Kahlo und Diego Rivera in der Galería de Arte Mexicano in Mexico City aus. Abbildung 1: Plakat der Exposición internacional del surrealismo, Mexico City 1940

Die Begegnung Frida Kahlos mit dem französischen Surrealismus führt bei dieser zur Abgrenzung und zum Gestus der Selbstaffirmation: „Me tomaron por una surrealista. Esto no es correcto, nunca pinté mis sueños.“16 „Man hielt mich für eine Surrealistin. Das ist nicht richtig, ich habe niemals Träume gemalt.“ Wenn ich im Folgenden dennoch auf den Begriff Surrealismus als eine mögliche Beschreibungskategorie für die sich im pikturalen Diskurs 16 Ebd.

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der Frida Kahlo manifestierenden ästhetischen Verfahren rekurriere, dann geschieht das primär unter Prämissen einer transnational argumentierenden Forschungsdiskussion, die Berührungspunkte, Analogien und Differenzen zwischen spanischen, französischen, deutschen und lateinamerikanischen Produktionen des Surrealismus betont. Im Anschluss an Positionen von Hans Holländer17 und Gustav René Hocke18 soll ‚Surrealismus‘ als wahrnehmungsästhetische Kategorie verstanden werden, die neue spannungsreiche Bild-Text-Kombinationen ermöglicht, die sich einer vereindeutigenden sinnsuchenden Hermeneutik entziehen. Aus einer produktionsästhetischen Perspektive kann der Begriff des surrealismo als spezifische Codierungspraxis verstanden werden, die auf barocke Verfahren der ars combinatoria und der ars inveniendi et investigandi zurückgreift, eine Vorliebe für prämoderne und indigene Körperdiskurse eines desintegrierten, fragmentierten oder verwesten Leibes aufweist und häufig auf eine Aktualisierung barocker Dispositive des Traums und der Selbstbespiegelung zielt. Auch Octavio Paz definiert surrealismo als wahrnehmungsästhetische Kategorie, die „die Tradition der ars combinatoria in Erinnerung ruft“ und als „figurale Ästhetik“, die „die Fähigkeit hat, Imagination und Begehren zusammen zu führen“.19 Die Erzählung „Los ramos azules“20 von Octavio Paz ist ein paradigmatisches Beispiel für die Aktualisierung barocker Techniken der ars combinatoria und für den Rekurs des ‚mexikanischen Surrealismus‘ auf barocke und indigene Körperbilder. Die nach dem Verfahren der Traumanalogie konzipierte Erzählung konstruiert den folgenden Fall: Ein Ich-Erzähler, der die Nacht in einem einsam gelegenen Gasthaus in einem mexikanischen Dorf verbringt, wird mitten in der Nacht wach und beschließt trotz der Warnung des Besitzers spazieren zu gehen. Während seines Spaziergangs wird er von einem mysteriösen Mann angehalten, der darauf besteht, ihm in die Augen zu schauen: No se mueva, señor, o se lo entierro. Rühren Sie sich nicht, Herr, oder ich steche zu.

17 Holländer, Hans: „Ars inveniendi et investigandi. Zur surrealistischen Methode“, in: Peter Bürger (Hrsg.): Surrealismus, Darmstadt 1982, S. 244-312. 18 Hocke, Gustave René: Die Welt als Labyrinth. Manierismus in der europäischen Kunst und Literatur, Hamburg 1987. 19 Paz, Octavio: „El surrealismo“, in: ders: Las peras de olmo, Barcelona 1986, S. 137. 20 Paz, Octavio, „El ramo azul“, in: Erna Brandenberger (Hrsg.): Cuentos hispanoamericanos: México, München 2001, S. 18-21.

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UTA FELTEN [...] ¿Qué quieres? […] Was willst Du? Sus ojos, señor. Ihre Augen, Herr. ¿Mis ojos? ¿Para qué te servirán mis ojos? Meine Augen? Was nützen dir meine Augen? [...] No tenga miedo, señor. No lo mataré. Nada más voy a sacarle 21 los ojos. […] Haben Sie keine Angst, Herr. Ich will sie nicht töten. Ich will Ihnen nur Ihre Augen herausreißen.

Eine intermediale Lektüre der zitierten Traumerzählung kann nicht nur das Verweisungspotential des Textes auf das im iberischen Surrealismus bei Buñuel und García Lorca beliebte Ikon des herausgerissenen oder zerschnittenen Auges aufzeigen, sondern darüber hinaus das Ikon des herausgerissenen Auges als Element eines Gedächtnisspeichers barocker und indigener Körperbilder lesen. Stellt doch das ojo sacado eine literarische Aktualisierung jenes bekannten, vom spanischen Barockmaler Francisco de Zurbarán inszenierten Martyriums der Heiligen Lucía dar, die ihre ausgestochenen Augen auf einem Tablett zur Schau stellt. Ganz im Sinne einer hybriden kulturellen Palimpseststruktur verbirgt das christliche Verweisungspotential des Motivs des herausgerissenen Auges gleichzeitig unmarkierte Verweise auf Mythologeme der Schöpfungsgeschichte der Maya und Quichés-Kulturen, die sich im Popol Wuj, jener berühmten indianischen – im 17. Jahrhundert von Fray Francisco Ximénez ins Spanische übersetzten – Mythensammlung manifestieren. Tritt doch sowohl in den Codices der präkolumbianischen Schöpfungsgeschichte der Mayas, als auch in den Legenden der Quichés-Indianer das Mythologem des herausgerissenen Auges an prominenter Stelle auf. Als Strafe für die Missachtung des Schöpferpaares werden die ersten Menschen Opfer einer Zerstückelung durch den Cotcowatch-Vogel, der ihnen die Augen herausreißt: „Vino el pájaro Cotcowatch y les sacó los ojos; otro que se llamaba Camalotz les cortó la cabeza […]. Todo esto fue en castigo y pena de haberse olvidado de sus Madres y Padres.“22 „Da kam der Cotcowatch und riss ihnen die Augen heraus; ein anderer Vogel, der Camalotz hieß, enthauptete sie […]. All das geschah 21 Ebd., S. 18. 22 Saracina, Albertina (Hrsg.): Popol Wuj. Antiguas historias de los indios quichés de Guatemala. Ilustrados con dibujos de los códices Mayas, México, D.F. 1995, S. 13.

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als Strafe dafür, dass sie die Mütter und Väter ihrer Schöpfung vergessen hatten.“ Abbildung 2: Abbildung aus dem Popol Wuj

Über diese reescritura barocker und indigener Körperdiskurse hinausgehend, liefert die Erzählung zahlreiche Signale für eine hybride Konstruktion des Textes auf der Basis weiterer präkolumbianischer und abendländischer Mythologeme. Die nächtliche Welt, in die sich der Erzähler begibt, ist eine traumanaloge und mythologisch belebte Welt; die Nacht gleicht einem Garten aus lauter Augen, der Besitzer des Gasthauses ist eine einäugige Kreatur, der nächtliche Raum ein unermessliches Gefüge von Zeichen, ein Gespräch von riesenhaften Wesen: „el universo era un vasto sistema de señales, una conversación entre seres inmensos. [...] La 23 noche era un jardín de ojos.“ Im Kontext einer mythologischen Lektüre erweist sich der einäugige Gasthausbesitzer als reescritura des einäugigen Cyklopen Polyphemos, dem Odysseus das Augenlicht nahm: da lag er [Polyphemos], dreht zur Seite den feisten Hals […]. Und Wein schoss aus seinem Schlunde hervor mit Brocken von Menschenfleisch; er brach es aus in dem Weinrausch. Und da schob ich den Pfahl in den großen Haufen von Asche, […] die anderen fassen von beiden Seiten den Riemen […] so […] wirbelten wir den Pfahl mit der glühenden Spitze ihm im Auge herum, und Blut über24 strömte den Heißen.

23 Paz 2001, S. 18. 24 Homer: Odyssee, Stuttgart 1979, S. 147.

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Auf Grund seiner Rolle des sich in Gefahr begebenden Reisenden kann der Erzähler als reescritura des Odysseus gelesen werden, die ironische Pointe der Erzählung besteht indes in einer re-volución, einer Umkehrung der Odysseus-Mytheme: Ist doch bei Paz der reisende Erzähler kein souveräner Odysseus, der die Gefahr der Anthropophagie abzuwehren weiß, sondern jemand, der selbst zum Opfer eines Übergriffs auf seinen Körper wird und sein Augenlicht zu verlieren droht. Octavio Paz’ Freude an der Umkehrung abendländischer Mythologeme und an der Recodifizierung derselben durch indigene Diskurse der präkolumbianischen Mythologie wird auch in der ambivalenten Bedeutung der nächtlichen Konversation unter Riesen, die der Erzähler in der Nacht zu hören glaubt, manifest. Rufen jene „seres inmensos“, jene riesenhaften Wesen doch nicht nur Reminiszenzen an die Riesengemeinde des Cyklopen aus der Odyssee wach, sondern können gleichzeitig als Aktualisierung jener Riesen aus der Schöpfungsgeschichte der Olmeken gelesen werden, in der von der Herrschaft einer alle Zerstörungen der drei Zeitalter überlebenden Gruppe von Riesen erzählt wird, die die Olmeken besiegt hätten, und an die Alejo Carpentier in seiner Geschichte der präkolumbianischen Kulturen erinnert (vgl. Abb. 2).25 Abbildung 3: Olmekenkopf

Paz’ Erzählung „Los ramos azules“ lässt sich – das zeigen die Ergebnisse der intermedialen Lektüre – als konstruierter Traumdiskurs aus den Versatzstücken barocker Bildtraditionen und hybrider Mythologeme indigener, christlicher und antiker Provenienz decodieren und als ein Beispiel für kulturelle Mehrfachcodierung und hybride Identitätskonstruktion lesen. 25 Vgl. Carpentier, Alejo: Visión de América. Fragmentos de una crónica de viajes, Havanna 1984.

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Im Zeichen einer kulturellen Mehrfachcodierung, die auf indigene und christlich-barocke Körperbilder gleichermaßen rekurriert, steht auch die Malerei Frida Kahlos. Es lässt sich unschwer zeigen, dass die literarischen und mythologischen Rekurse im Œuvre Frida Kahlos, die sich aus dem Fundus der literarischen Tradition des Barock und aus dem Arsenal präkolumbianischer Diskurse gleichermaßen speisen, auf die Konstruktion einer hybriden Identität zielen, die sich im Anschluss an Homi Bhaba als „in-between“, als Interstitium zwischen christlicher und indi26 gener, zwischen mexikanischer und hispanischer Kultur ansiedelt. Abbildung 4: Frida Kahlo: Mi enfermera y yo (Ausschnitt)

Das Bild Mi enfermera y yo, das als aztekische Recodifizierung christlicher Ikonographien der Pietà gelesen werden kann (vgl. Abb.3), liefert einen Schlüssel zum Verständnis spannungsreicher hybrider Identitätskonstruktion bei Kahlo: Verweist doch der doppeldeutige Gestus der mit einer aztekischen Totenmaske ausgestatten Amme sowohl auf die Möglichkeit der Aneignung und Konstruktion von indigener Identität, als auch auf die Lust an der Übermalung der christlichen Ikonographien der

26 Bhaba, Homi: The location of culture, London/New York 1994.

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Pietà durch indigene Mythologeme des präkolumbianischen Totenkults (vgl. Abb. 4). Abbildung 5: Präkolumbianische Totenmaske

Es ist das Verfahren der Aneignung und Umschreibung, das Frida Kahlos Umgang mit den literarischen Körperdiskursen des spanischen und des mexikanischen Barock auszeichnet, wie ich am Beispiel einer literarischen Lektüre der Bilder El recuerdo o el corazón (Die Erinnerung oder Das Herz) und Pensamientos en la muerte (Gedanken an den Tod) erläutern möchte. Das in der Forschungsliteratur gerne biographisch kommentierte Bild El recuerdo o el corazón zeigt im Bildvordergrund das übergroße Blut verströmende, dem Köper entrissene Herz der sich als Märtyrerin präsentierenden Frida Kahlo, die mit einem defizienten Körper ohne Arme auftritt, die Körpermitte von einer Eisenstange, auf dessen Enden zwei Engel sitzen, durchbohrt (vgl. Abb. 5).

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Abbildung 6: Frida Kahlo: Recuerdo o el corazón (Ausschnitt)

Der sich in El recuerdo o el corazón manifestierende Körperdiskurs im Zeichen der Zerteilung lässt sich weder auf eine Arbeit am Trauma des Liebesbetrugs durch Diego Rivera noch auf eine therapeutische Arbeit am Trauma des Unfalls der jungen Frida Kahlo reduzieren, bei der ihr Körper von einer Eisenstange durchbohrt wurde, sondern erweist sich unter intermedialen Prämissen als komplexe Recodifizierung des biographischen Körperdramas der Zerteilung und als Einschreibung in die literarische Tradition mystischer Körpererfahrung, wie sie sich in den Traumvisionen der Heiligen Theresa von Ávila präsentiert. Aus diesem intermedialen Verweisungszusammenhang betrachtet, signifiziert die Inszenierung des durchbohrten Körpers jene „dolorosa voluptuosidad“, jene schmerzliche Wollust der mystischen Erfahrung, die Santa Teresa de Ávila in ihren biographischen Schriften narrativ modelliert hat. Im Libro de su vida berichtet Teresa de Ávila von ihrer Traumvision, in der ihr ein Engel mit einem Pfeil erscheint:

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UTA FELTEN no era grande sino pequeño, hermoso mucho [...]. Veíale en las manos un dardo de oro largo, y al fin del hierro me parecía tener un poco de fuego. Ese me parecía meter con el corazón algunas veces [...]. Era tan grande el dolor, que me hacía dar aquellos quejidos, y tan excesiva la suavidad que me pone este grandísimo dolor, que 27 no hay desear que se quite [...]. [der Engel] war nicht sehr groß, aber sehr schön [...]. Ich sah in seinen Händen einen goldenen Pfeil, an dessen Spitze ein wenig Feuer war. Diesen schien er mir einige Male ins Herz zu stechen [...]. Die Süße des mir zugefügten Schmerzes war so groß, dass ich mir wünschte, dass er niemals enden soll.

Die sich im Bild El recuerdo o el corazón manifestierende visuelle escritura des durchbohrten, herausgerissenen, Blut triefenden Herzens verweist noch auf weitere im Bild verborgene, unmarkierte literarische Reminiszenzen, nämlich an barocke und an indigene Diskurse, die die mystische Sprache der Selbstauslöschung bei der mexikanischen Barocklyrikerin Sor Juana Inés de la Cruz und die indigenen Opferrituale der präkolumbianischen Kulturen wachrufen. In diesem Zusammenhang lässt sich Frida Kahlos Verwendung des Motivs des „corazón deshecho“, des zerteilten Herzens als unmarkiertes literarisches Zitat aus Sor Juanas mystischem Liebessonett „Esta tarde mi bien cuando te hablaba“ („Liebster, als ich heute zu Dir sprach“) lesen, in dem das Motiv an prominenter Stelle auftaucht: „ya líquido humor viste y tocaste/ mi corazón deshecho entre tus manos“ – „Zerfließen sahest du mein Herz, gebrochen hieltst du es in deinen Händen.“28 In der Wiederaufnahme des barocken Motivs des zerteilten Herzens zitiert Frida Kahlo nicht nur ein zentrales Signum indigener und barocker Diskursivität, das die so genannte essbare Materialität des Fleisches zur Schau stellt, sondern setzt gleichzeitig paradigmatische Signale einer sakralen Erotik, in der die Diskurse eines religiösen Opferkults indigener Provenienz mit denen des profanen Liebesopfers in einen Dialog treten. Der aus Schmerz gewebte Innenraum biographischer Erfahrung wird in der Malerei Frida Kahlos – das wird hier besonders deutlich – in einen heterotopischen Raum hybrider kultureller ,Ein-Bildungen‘ verwandelt, die sich aus dem Imaginarium barocker Text- und Bildtraditionen speisen, das wiederum in eine palimpsestartige Struktur eingeflochten wird, in der sich biographische, christliche und aztekische Diskurse überlagern. 27 Santa Teresa de Jesús: Obras completas. Luis Santullano (Hrsg.), Madrid 1957, S. 180. 28 Sor Juana Inés de la Cruz: Poesía Lírica. José Carlos Gonzáles Boixo (Hrsg.), Madrid 2000, S. 112.

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Als Palimpsest, in dem die Spuren barocker Vanitasdiskurse ebenso durchscheinen wie die indigenen Todesdiskurse eines spezifisch mexikanischen „culto a la muerte“, lässt sich auch das Selbstbildnis Pensamientos en la muerte (Gedanken an den Tod) (vgl. Abb. 6) lesen, in dem die makellose Erscheinung der belleza durch den in die Stirn eingebrannten Totenkopf, der das memento mori in Erinnerung ruft, gestört wird. Abbildung 7: Frida Kahlo: Pensamientos en la muerte (Ausschnitt)

Sowohl das Dispositiv der Selbstbetrachtung als auch die mit dieser korrelierende Vanitasthematik verweisen auf die narrative Situation des lyrischen Ichs im berühmten Sonett „Éste, que ves, engaño colorido“ der mexikanischen Barocklyrikerin Sor Juana Inés de la Cruz.

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Hier ist die Selbstbetrachtung – das lyrische Ich betrachtet ein gemaltes Selbstporträt – Ausgangspunkt für die Erkenntnis einer Sinnestäuschung, die in der Erkenntnis der Vergänglichkeit des Körpers gipfelt, die die sich Betrachtende den intakten als verwesten, in Staub und Asche zerfallenen, fragmentierten Körper imaginieren lässt: Éste, que ves, engaño colorido,/ que del arte ostentando los primores,/ con falsos silogismos de colores/ es cauteloso engaño del sentido [...] es una necia diligencia errada, es un afán caduco, y bien 29 mirado/ es cadáver, es polvo, es sombra, es nada. Was du hier siehst: Nur Farbentrug/ Schauglanz höchster Kunst,/ arglist’ger Sinnentrug ist’s nur./ [...] ist törricht-irriges Treiben, ist vergebliches Tun, und fürwahr, ist Tod, ist Staub, ist Schatten, ist 30 Nichts.

Die literarische Lektüre von Kahlos Selbstportrait im Verweisungsrekurs auf Sor Juana Inés de la Cruz zeigt die intermediale Codierungspraxis des mexikanischen Surrealismus bei Frida Kahlo, dessen hybride palimpsestartige Struktur noch deutlicher zu Tage tritt, wenn man kulturgeschichtliche Betrachtungen hinzuzieht. Ein Exkurs zur mexikanischen Kulturgeschichte des Todes führt zu einer erweiterten Perspektivierung der Vanitasthematik bei Kahlo, die sich eben nicht nur als Einschreibung in christliche Codices, sondern auch als Recodifizierung derselben lesen lässt. Kann doch der in der mexikanischen Alltags- und Festkultur omnipräsente Todeskult – wie er zum Beispiel in den Photographien von Alvarez Bravo und Ubac in Szene gesetzt wird – Aufschluss geben über eine hybride diskursive Praxis im Umgang mit dem Tod, die sich im Denken der Komplementarität von Leben und Tod und in der Verabschiedung eines linearen Zeitverständnisses okzidentaler Prägung zugunsten einer Apologie der Gegenwart manifestiert: Sólo ante la muerte nuestra vida es realmente vida. En el ahora nuestra muerte no está separada de nuestra vida […]. Nur im Angesicht des Todes ist unser Leben wirklich Leben. Im Moment des Jetzt sind Tod und Leben nicht getrennt [...]. Nuestro culto a la muerte es culto a la vida [...]. Unser Todeskult ist Lebenskult [...].

31

29 Ebd., S. 253. 30 Felten, Hans/Valcárcel, Agustín (Hrsg.): Spanische Lyrik von der Renaissance bis zum späten 19. Jahrhundert, Stuttgart 1990. 31 Paz, Octavio: El laberinto de la soledad, Barcelona 1989, S. 21.

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Abbildung 8: Manuel Alvarez Bravo: Día de todos los muertos (1933)

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Abbildung 9: Raoul Ubac: Mexikanischer Zuckerschädel (1939)

Pensamientos en la muerte (Gedanken an den Tod) stellt noch einmal die These einer hybriden Identitätskonstruktion bei Frida Kahlo unter Beweis, indem es dem Betrachter zwei konkurrierende Lektüren anbietet, eine christlich-barocke, die den in den Körper eingebrannten Totenschädel als Erinnerung an das memento mori liest, und eine anti-christliche, die das Signum des Totenschädels als Apologie des ahora, des ‚Jetzt‘

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decodiert und den „culto a la muerte“ als „culto a la vida“ deutet.32 Die Bilder Frida Kahlos können ebenso wie die literarischen Texte von Octavio Paz als hybride Speicherorte eines pikturalen und literarischen Gedächtnisses gelesen werden und bilden auf Grund ihres Verweisungspotentials auf die literarischen Diskurse des Barock und die Mythologeme indigener Kultur mögliche Ansatzpunkte für eine intermediale Literaturund Mediengeschichtsschreibung Mexikos im Zeichen spannungsreicher diskursiver Brüche und Kollisionen.

32 Ebd.

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HUNDERT JAHRE KARNEVAL. GROTESKE KOMIK UND KARNEVALESKE SCHREIBWEISE IN GABRIEL GARCÍA MÁRQUEZ’ CIEN AÑOS DE SOLEDAD Mit seinen barock-überbordenden Schilderungen des Urwalds und den nicht weniger bilderreichen Figurenbeschreibungen, die selten einer gewissen Derbheit und Obszönität entbehren, mag Gabriel García Márquez’ Roman Cien años de soledad gleichsam als Musterbeispiel für ‚magischen Realismus‘ und eine besondere, lateinamerikanische Exotik erscheinen. Dabei darf man jedoch nicht übersehen, in welchem Maße der kolumbianische Autor prämodernen europäischen Erzählformen verpflichtet bleibt, wie etwa spätmittelalterlicher karnevalesker Literatur und grotesk-burlesker Komik. Als Leitmodell wird häufig das Werk François Rabelais’ herangezogen, beziehungsweise – wie von Tzvetan Todorov – Michail Bachtins Studien zur mittelalterlichen Volkskultur: „se tiene a veces la impresión de que Márquez, antes de escribir su novela, había leído el libro de Bakhtine sobre Rabelais: de tal modo su obra parece conforme a la descripción que el primero hace del segundo.“1 Rabelais’ Riese Gargantua dient dabei als direktes Vorbild für den Erstgeborenen José Arcadio und seinen gefräßigen Nachfolger Aureliano Segundo;2 mit Carlos Rincóns Verweis auf die „Karnevalisierung des Erzählten bei García Márquez“3 bietet sich Bachtins Konzeption des Karnevalesken als weiterer Bezugspunkt von Cien años de soledad an.

1 Todorov, Tzvetan: „Macondo en París“, in: Peter G. Earle (Hrsg.): Gabriel García Márquez, Madrid 1981, S. 104-113, hier S. 105. 2 Vgl. Rincón, Carlos: „Gabriel García Márquez – Mythologe und Wundertäter“, in: Tom Königs (Hrsg.): Mythos und Wirklichkeit. Materialien zum Werk von Gabriel García Márquez, Köln 1985, S. 249-292, hier S. 285 und Gullón, Ricardo: „García Márquez o el olvidado arte de contar“, in: Peter G. Earle (Hrsg.): Gabriel García Márquez, Madrid 1981, S. 139-150. 3 Rincón 1985, S. 281.

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Gleichzeitig muss – im Anschluss an Volker Roloff4 – dieser Rückgriff auf mittelalterliche, populäre Erzählgattungen in der Tradition des europäischen Surrealismus gesehen werden; besonders in seiner spanischen und lateinamerikanischen Ausprägung zeigt sich, wie stark die Schriftsteller in ihren eigenen Verfahrensweisen „an die grotesken, karnevalesken Erzähltraditionen der mittelalterlichen und barocken Literatur anknüpfen.“5 Im Mittelpunkt steht dabei häufig – bei den Surrealisten ebenso wie in Cien años de soledad – der von Bachtin beschriebene ‚groteske Leib‘, seine Auswüchse und Ausscheidungen, sein Über-sichHinaustreten und seine Zerstückelung.6 Hinzu kommt die karnevaleske, parodistische Aktualisierung von Mythen und Erzähltraditionen, deren Neukombination und Vermischung vielfältige Möglichkeiten des kritischen Umgangs mit tradierten Abgrenzungen und (besonders im Falle des lateinamerikanischen Schriftstellers) Ansatzpunkte für ein literarisches Spiel mit hegemonialen, eurozentristischen Diskursen bietet. Es wird zu zeigen sein, inwieweit Gabriel García Márquez in Cien años de soledad auf prämoderne Körperbilder und Vorstellungswelten der Groteske und des Karnevals – und das heißt auch: auf surrealistische Verfahrensweisen – zurückgreift, und wie er mit den verschiedenen Perspektiven der Diskurskritik umgeht, die sich ihm durch den Bezug auf mittelalterliche, europäische Formen der Lach- und Volkskultur eröffnen.

Groteske Körperbilder Das körperliche Leben, und besonders das des grotesken Körpers, spielt bei dem kolumbianischen Autor eine herausragende Rolle; sein erzählter Mikrokosmos Macondo ist bevölkert von hyperbolischen Gestalten, die 4 Vgl. Roloff, Volker: „Traumdiskurs und Körper. Beispiele der lateinamerikanischen Literatur“, in: Rudolf Behrens/Roland Galle (Hrsg.): Menschengestalten. Zur Kodierung des Kreatürlichen im modernen Roman, Würzburg 1995, S. 269-283 und ders.: „Vom Surrealismus zur postmodernen Erzählfreude. Lateinamerikanische Kombinationen und Beispiele (Borges, Mário de Andrade, Carpentier)“, in: Ulrich Schulz-Buschhaus/ Karlheinz Stierle (Hrsg.): Projekte des Romans nach der Moderne, München 1997, S. 289-310. 5 Roloff 1997, S. 309. 6 Zur surrealistischen Freude am fragmentierten Körper im Rückbezug auf prämoderne Körperbilder vgl. Felten, Uta: „Zerstückelte Körper bei García Lorca und den Surrealisten im intermedialen Rekurs auf prämoderne Textund Bildtraditionen“, in: Bernhard Teuber/Horst Weich (Hrsg.): Iberische Körperbilder im Dialog der Medien und Kulturen, Frankfurt a.M. 2002, S. 93-104.

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sich leicht in das bachtinsche Schema der grotesken Körperkonzeption einfügen lassen: „für [die Groteske] ist alles interessant, was hervorspringt, vom Körper absteht, alle Auswüchse und Verzweigungen, alles, was über die Körpergrenzen hinausstrebt und den Körper mit anderen Körpern oder der Außenwelt verbindet.“7 Ein besonderes Augenmerk gilt hierbei den Akten des Körperdramas als „Hauptereignisse im Leben des grotesken Körpers“, das heißt „Essen, Trinken, die Verdauung […], Beischlaf, Schwangerschaft, Entbindung, Wachstum, Alter, Krankheiten, Tod, Verwesung“8; die Beschreibung geht ins Übermäßige, vor allem bei Extremsituationen des Lebens wie Geburt und Tod. Fragt man nach den einzelnen Körperteilen, die für die Groteske am interessantesten sind, wie Phallus, Bauch, Mund und Hintern – und deren Verstümmelung –,9 so darf natürlich der Themenkomplex des Inzests nicht unerwähnt bleiben, der mit Úrsulas Angst „de engendrar iguanas“10 Tierformen mit lächerlichen Leibesformen kombiniert und sich als groteskes Detail durch den gesamten Roman zieht – der Zusammenhang mit Sexualität und Fortpflanzung, sowie die Festlegung der körperlichen Entstellung auf das Geschlechtsteil sind dabei, im Sinne der bachtinschen Definition des Grotesken, programmatisch. Der Ahne mit dem Schweineschwanz ist der erste und einer der komischsten Fälle anormaler Körperlichkeit und deren Verstümmelung in der Familie: pasó toda la vida con unos pantalones englobados y flojos, y […] murió desangrado después de haber vivido cuarenta y dos años en el más puro estado de virginidad, porque nació y creció con una cola cartilaginosa en forma de tirabuzón y con una escobilla de pelos en la punta. Una cola de cerdo que no se dejó ver nunca de ninguna mujer, y que le costó la vida cuando un carnicero amigo le hizo el favor de cortársela con una hachuela de destazar. (S. 105f.)

Bedeutender als die zahlreichen vereinzelten, über den gesamten Text verteilten Bruchstücke des Grotesken sind jedoch diejenigen der Hauptfiguren von Cien años de soledad, für deren Charakterisierung der groteske Leib als wesentlicher Bezugspunkt dient und in denen sich die einzelnen Aspekte der grotesken Leiblichkeit – Hyperbolik, Einbeziehung von Tierischem und Sexualität, fokussiert auf bestimmte Körperteile – 7 Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt. Volkskultur als Gegenkultur, Frankfurt a.M. 1995, S. 358. 8 Ebd., S. 359. 9 Vgl. ebd., S. 358f. 10 García Márquez, Gabriel: Cien años de soledad. Jacques Joset (Hrsg.), Madrid 2001, S. 105. Die Seitenzahlen im Fließtext beziehen sich auf diese Ausgabe.

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vereinen. Die Verkörperung des Grotesken schlechthin ist so José Arcadio, der älteste Sohn von Úrsula Iguarán und José Arcadio Buendía; in seiner Beschreibung liegt die Betonung stets auf dem Materiell-Körperlichen. Úrsula erscheint der für sein Alter zu groß Gewachsene „tan bien equipado para la vida, que le pareció anormal“ (S. 111); sein überproportioniertes Glied bleibt denn auch später eines seiner Hauptmerkmale – in der Beschreibung als „magnífico animal en reposo“ (S. 120) löst es sich vom Körper und wird zu einem eigenständigen Lebewesen,11 nicht zuletzt ist es immer wieder Anlass von Staunen und Bewunderung. Markant ist die Szene seiner Rückkehr nach Macondo nach Jahren der Wanderschaft mit den Zigeunern: Llegaba un hombre descomunal. Sus espaldas cuadradas apenas si cabían por las puertas. Tenía […] los brazos y el pecho completamente bordados de tatuajes crípticos […]. Tenía un cinturón dos veces más grueso que la cincha de un caballo […] y su presencia daba la impresión trepidatoria de un sacudimiento sísmico. (S. 184f.)

Dem monumentalen Drachenbezwinger mit dem fast übermenschlichen Appetit wird eine Verbindung mit der Welt und der Erde zugewiesen: José Arcadio lässt durch sein bloßes Erscheinen die Erde erbeben, sein grotesker Körper „ist unmittelbar mit der Sonne und den Sternen verbunden, er […] spiegelt die kosmische Hierarchie wider; er kann mit der Natur verschmelzen […]; er kann die ganze Welt füllen.“12 Ebenso übersteigert und im Wortsinne weltumfassend ist der Katalog seiner unzähligen Abenteuer auf der Reise fünfundsechzigmal rund um die Erde. Sein Erbe hinsichtlich überbordender Körperformen tritt, mit seinen Sauf- und Fressgelagen, Aureliano Segundo an. Mit dieser Figur wird der Zusammenhang von grotesker Leiblichkeit und mittelalterlichen Festmahlmotiven in den Roman einbezogen; der groteske Körper verschlingt hier Speisen in unermesslicher Fülle, materiell-leibliche Motive des Essens und Ausscheidens verbinden sich mit Tanz, Musik und Lachen, blutrünstiger Tod mit Fruchtbarkeit und Vermehrung.13 Aureliano Segundos „obesidad absurda que ya no le permitía amarrarse los cordones de los zapatos“ (S. 385) ist ein Musterbeispiel hyperbolisch-grotesker Körperbeschreibung, wie die bereits zitierten Beschreibungen von José Arcadios Gestalt. Der Körper und seine Materialität werden dabei in den Mittelpunkt gerückt, es vereinen sich die 11 Vgl. auch Bachtin 1995, S. 358. 12 Ebd., S. 360. 13 Zu mittelalterlichen Festmahlmotiven vgl. ebd., S. 320-344.

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Hauptthemen der Groteske: „Leitthema in all diesen Motiven des materiell-leiblichen Lebens ist Fruchtbarkeit, Wachstum, grenzenloser Überfluß.“14 Die zahlreichen Festmahlmotive bilden einige der komischsten Szenen von Cien años de soledad; an ihnen wird deutlich, „wie eng die Motive vom Essen und vom Körper mit den Motiven der Zeugungskraft (Fruchtbarkeit, Wachstum, Geburt) verknüpft sind“15 – und wie sie sich so in ein Gesamtbild grotesker Leiblichkeit in García Márquez’ Roman fügen. Die „Tendenz zum Überfluß und zur Teilhabe des ganzen Volkes“16 zeigt sich an allen von Aureliano Segundo veranstalteten Feiern – ihren Höhepunkt erreicht seine Gastfreundlichkeit schließlich den Fremden gegenüber, die mit der Bananengesellschaft nach Macondo kommen: „… las cocineras tropezaban entre sí con las enormes ollas de sopa, los calderos de carnes, las bangañas de legumbres, las bateas de arroz, y repartían con cucharones inagotables los toneles de limonada.“ (S. 339f.) Diese Übertreibung bei der Aufzählung der Speisen steigert sich in der hervorstechendsten Gastmahlszene: Aureliano Segundos karnevaleskes Wettessen mit Camila Sagastume, „una hembra totémica conocida en el país entero con el buen nombre de La Elefanta“ (S. 368), unterstreicht – auch durch den Namen seiner Herausfordererin – die Bedeutung des Festmahlmotivs im Rahmen grotesker Motive. Es verbindet auf exemplarische Weise Hyperbolik und Überfluss, den blutig-makaberen Tod der geschlachteten Tiere und das Entstehen des neuen, werdenden Körpers, „der Körper geht hier über seine Grenzen hinaus, er schluckt, verschlingt, zerteilt die Welt, nimmt sie in sich auf, bereichert sich und wächst auf ihre Kosten“17: Nunca tuvo mejor semblante, […] ni fue más desaforado el paritorio de sus animales. Se sacrificaban tantas reses, tantos cerdos y gallinas en las interminables parrandas, que la tierra del patio se volvió negra y lodosa de tanta sangre. Aquello era un eterno tiradero de huesos y tripas […]. Aureliano Segundo se volvió gordo, violáceo, atortugado, a consecuencia de un apetito apenas comparable al de José Arcadio cuando regresó de la vuelta al mundo. (S. 368)

Und nicht zuletzt spielen an dieser Stelle auch Erotik und Sexualität eine wesentliche Rolle und werden so mit dem grotesken Körper, aber auch 14 15 16 17

Bachtin 1995, S. 69. Ebd., S. 321. Ebd., S. 320. Ebd., S. 323.

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mit Sterben und Entstehung neuen Lebens in Beziehung gesetzt: „cuando Aureliano Segundo la vió entrar a la casa comentó en voz baja que hubiera preferido no hacer el torneo en la mesa sino en la cama.“ (S. 369) In einer Reihe mit José Arcadio und Aureliano Segundo schließlich steht der letzte Nachkomme der Buendías, der beinahe völlig aus dem Bereich des Normalen und Menschlichen herausfällt. Wie bei José Arcadio, so steht auch bei Aureliano Babilonia das Geschlechtsteil im Mittelpunkt. Sein „impresionante sexo de moco de pavo“ (S. 406f.) wird im Erwachsenenalter zur „masculinidad inconcebible“ (S. 515), auf der er im Bordell eine Bierflasche balanciert. Anhand der Linie José Arcadio – Aureliano Segundo – Aureliano Babilonia lassen sich in Cien años de soledad groteske Körperbilder über die Buendía-Generationen hinweg verfolgen; das Gleiche gilt für Sexualität und Fruchtbarkeit, die mit der Groteske in engem Zusammenhang stehen. Hier zeigt sich das Über-sich-Hinaustreten eines Körpers, seine Zweileibigkeit und schließlich Teilung; es manifestieren sich die Leitthemen der Groteske: Werden und Wachstum.18 Die Bedeutung der Sexualität José Arcadios wurde oben in Bezug auf die groteske Form seines Glieds bereits herausgestellt. Auch der Geschlechtsakt wird mit grotesken und hyperbolischen Zügen dargestellt: Den Orgasmus beschreibt er als Erdbeben – wenn auch seine Ankunft in Macondo einem Erdbeben gleichgesetzt wird, so ist letztlich seine sexuelle Extase sein bedeutendstes Charaktermerkmal, durch das allein der Mann beschrieben und dem er gleichgesetzt wird. Er wird überwältigt vom Sexualakt und erlebt diesen als das Einswerden zweier Körper, die über ihre Grenzen treten und miteinander verschmelzen, in einer karnevalesken Umkehrung von Oben und Unten, Hinten und Vorne: „no sabía dónde estaban los pies y dónde la cabeza, ni los pies de quién ni la cabeza de quién.“ (S. 113) Seine sexuelle Beziehung zu Rebeca ist gekennzeichnet durch Unbändigkeit und Maßlosigkeit. In ihrem „placer inconcebible de aquel dolor insoportable“, der „explosión de su sangre“, ihrer „pasión tan desaforada“ erschrecken José Arcadio und Rebeca mit ihren Schreien die Nachbarn „hasta ocho veces en una noche, y hasta tres veces en la siesta“ (S. 188-190) – während jedoch bei diesem Paar die Zügellosigkeit keine Früchte trägt, so steht sie bei Aureliano Segundo und seiner Konkubine Petra Cotes in direkter Verbindung mit der unermesslichen Vermehrung ihrer Tiere. 18 Vgl. ebd., S. 358-360.

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Ebenso wie José Arcadio und Rebeca sind Aureliano Segundo und Petra „una pareja frívola, sin más preocupaciones que la de acostarse todas las noches, aun en las fechas prohibidas, y retozar en la cama hasta el amanecer.“ (S. 298) An ihrem haltlosen Körperleben zeigt sich wiederum die Beziehung zur ganzen Welt, zum Werden und Vergehen, zur Entstehung neuen Lebens und zum Tod: Aureliano Segundos Wunsch ist es „[de] morirse con ella, sobre ella y debajo de ella, en una noche de desafuero febril.“ (S. 298) Den Höhepunkt schließlich erreicht die sexuelle Verbindung zwischen Amaranta Úrsula und Aureliano Babilonia, dem letzten BuendíaPaar. Bereits ihr erster Liebesakt wird beschrieben als Todeskampf zweier „amantes enemigos tratando de reconciliarse en el fondo de un estanque diáfano“ (S. 524). Der Tod ist hier – ganz im Sinne Bachtins19 – auch die Rückkehr zum Ursprung: ihre Sexualität führt sie zurück zum „río de aguas diáfanas“ (S. 81) aus den Anfängen Macondos (und des Romans); ihre „extremos de virtuosismo“ und ihr „delirio“ verweisen auf vorzivilisatorische Zustände, in ihrer animalischen Liebe überlassen sie das Haus den Ameisen, „saciando su hambre prehistórica en las maderas de la casa“ (S. 533f.). So nimmt es nicht wunder, dass in der grundlegenden Ambivalenz der Sexualität das Kind dieser Liebe zwar ein Neuanfang zu sein scheint, tatsächlich jedoch das Ende der Buendía-Sippe besiegelt. Die Zweileibigkeit des grotesken Körpers, seine gleichzeitige Verbindung mit dem Ende eines Körpers und der Entstehung eines neuen spiegelt sich in der Sexualität, besonders aber in Geburt und Tod.20 In Cien años de soledad hat Gabriel García Márquez auch diesen Aspekt der Groteske verarbeitet: Der deformierte Körper der schwangeren Úrsula („la hinchazón le desfiguró las piernas, y las varices se le reventaban como burbujas“, S. 109) verdeutlicht, wie ein unabgeschlossener, seine Grenzen überschreitender Körper einem zweiten, werdenden Körper neues Leben schenkt. Die Einbeziehung komischer Elemente in den Tod, seine Darstellung als „heiterer Tod“21 ist grundlegend in den Todes- und Begräbnisszenen von José Arcadio und Aureliano Segundo: Als beispielhaft groteske Gestalten bleiben sie auch im und nach dem Tod Objekte des La19 „In allen Ereignissen des Körperdramas sind Anfang und Ende des Lebens miteinander verflochten.“ (Ebd., S. 359.) 20 Vgl. ebd., S. 359f. 21 Vgl. ebd., S. 102.

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chens. Der mysteriöse, tragische Tod von José Arcadio wird kombiniert mit der empirisch genauen, detailgetreuen Beschreibung des Weges, den der Blutfaden durch Macondo nimmt, um an Úrsula und der profanen Alltäglichkeit ihrer Beschäftigung des Brotbackens vorbei schließlich auf demselben akkuraten Weg wieder zum Leichnam zurück zu fließen. Auch die postume Behandlung seines Körpers lässt weniger an die Trauer eines Begräbnisses, als vielmehr an einen reichhaltigen Leichenschmaus denken: wegen des penetranten Geruchs nach Schießpulver (als Körperausscheidung auch noch nach dem Tode) wird er verschiedenen Prozeduren unterworfen, und schließlich gewürzt und gekocht. Ebenso ‚unpassende‘, der Tragik des Todes entgegengesetzte Elemente finden sich bei Aureliano Segundo, dem die Kumpanen seiner früheren Ausschweifungen einen Kranz mit der Aufschrift „Apártense vacas que la vida es corta“ (S. 476), seinem früheren ‚Schlachtruf‘, widmen – der dann auch als in die fröhlichen Feiern eingebettete Antizipation seines eigenen Todes gelesen werden kann. Schließlich vertauschen die betrunkenen Totengräber seinen Sarg mit dem seines (exakt zur gleichen Zeit verstorbenen) Bruders José Arcadio Segundo, und machen mit dieser Verwechslung den früheren Namenstausch der Zwillinge wieder rückgängig. So ist in beiden Fällen der Tod auch eine Rückkehr zum Ursprung: Zum ursprünglichen Namen bei Aureliano Segundo, zur Mutter und damit letztlich zur Geburt bei José Arcadio. Auch das Altern und der Tod von Úrsula führen zurück zur Geburt; das groteske Motiv der Zweileibigkeit, hier als die Kombination zweier extremer Altersphasen in einem Leib, macht noch einmal die Beziehung von Groteske und Zeit – als Werden, Entstehen und Vergehen – deutlich: „Poco a poco se fue reduciendo, fetizándose, momificándose en vida, hasta el punto de que en sus últimos meses era una ciruela pasa perdida dentro del camisón […]. Parecía una anciana recién nacida.“ (S. 461) Unterstrichen wird dies durch das Begräbnis im „Babykörbchen“: „La enterraron en una cajita que era apenas más grande que la canastilla en que fue llevado Aureliano.“ (S. 462) Die Rückkehr zum Anfang – sowohl Macondos als auch der Zivilisation schlechthin – zeigte sich bereits im Hinblick auf die Sexualität zwischen dem letzten Aureliano und seiner Tante Amaranta Úrsula. Die Gleichzeitigkeit beider Pole des Werdens – Anfang und Ende, Geburt und Tod –, die sich in diesem Paar manifestiert, ist hier auch in dem übergeordneten Zusammenhang mit dem Ende des Romans und der Buendía-Sippe zu sehen. Nach der Geburt des „varón formidable“ (S. 540), der sich als grotesk entstellte Frucht des Inzests entpuppt, verblutet

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Amaranta Úrsula – der Leichnam bleibt im Haus, gemeinsam mit den Überresten der Geburt, die wie das Ergebnis eines makaberen Blutvergießens wirken: […] el cadáver era un promontorio de piedras bajo la manta. […] [Aureliano] se asomó al comedor, donde estaban los escombros del parto: la olla grande, las sábanas ensangrentadas, los tiestos de ceniza, y el retorcido ombligo del niño en un pañal abierto sobre la mesa, junto a las tijeras y el sedal. (S. 544)

Der erhoffte Neuanfang für die Familie Buendía mit dem Neugeborenen ist so schließlich ihr Tod: Das Kind mit dem Schweineschwänzchen als Fleischwerdung der Inzestängste Úrsulas zieht den Schlussstrich unter die Familiengeschichte; die komische Abweichung von der körperlichen Norm mit ihrem „algo más que el resto de los hombres“ (S. 541) geht mit dem tragischen Ende einer Familie einher. Der Tod des Kindes ist grotesk, das heißt er vermittelt „keine Trauer, sondern jene philosophische Einsicht der Ambiguität, die sogar im Anblick des Todes eine karnevaleske Freude an dem Wechsel verrät“22. Gabriel García Márquez entwirft seine grotesken Gestalten im Rekurs auf das materiell-leibliche Lebensprinzip, das heißt auf „Motive des Körpers, Essens, Trinkens, Ausscheidens und des Sexuallebens, und zwar in exaltierter, hyperbolisierter Form“23. Das besondere Interesse am Körper und seinen Ereignissen zeigt sich so in Cien años de soledad nicht nur in der Beschreibung einiger Gestalten, sondern auch und besonders in übertriebenen Darstellungen von Extremsituationen ihres Lebens, wie dem Geschlechtsakt, aber auch Geburt und Tod. Effekt dieser überraschenden Maßlosigkeit und Betonung der Materialität von Körper und körperlichem Leben ist die Komik, die große Teile des Romans auszeichnet: Überraschend, weil ungewohnt und dem neuzeitlichen Körperkanon, seinen Normen und Tabus entgegengesetzt. Die über ihre Grenzen hinauswachsenden, unfertigen Körper aus García Márquez’ Feder brechen mit der Regel der Begrenztheit und Verschlossenheit moderner Körperbilder, als deren vehemente Vertreterin Aureliano Segundos Frau Fernanda del Carpio auftritt.24 Ihre Schwierigkeiten mit der Benennung des Konkret-Sinnlichen und Materiell-Leiblichen verdeutlichen das Spannungsverhältnis zwischen prämodernen und neuzeitlichen Formen

22 Roloff 1995, S. 281. 23 Bachtin 1995, S. 68. 24 Zum Körperkanon der Neuzeit vgl. ebd., S. 361-364.

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des Umgangs mit körperlichen Vorgängen. Fernanda flüchtet sich in Euphemismen und wird von den anderen Familienmitgliedern auf den Boden der Tatsachen, der „mierda física“ (S. 441) zurückgeholt – und verfällt aus Schamhaftigkeit schließlich selbst in karnevaleske Verkehrung und Vertauschung von Gegensätzlichem, Oben und Unten, Hinten und Vorne: Pero la tortuosa costumbre de no llamar las cosas por su nombre la llevó a poner lo anterior en lo posterior, y a sustituir lo parido por lo expulsado, y a cambiar flujos por ardores para que todo fuera menos vergonzoso, de manera que Úrsula concluyó razonablemente que los trastornos no eran uterinos, sino intestinales [...]. (S. 435)

Die Einbindung des Karnevals in Thematik und Aufbau von Cien años de soledad ergänzt die Vorstellungswelt grotesker Körperlichkeit; auch im Kontext des Karnevalesken werden diese Regelbrüche sowie die Betonung des Leiblichen und Sinnlichen im Mittelpunkt stehen.

Karnevaleskes Motivrepertoire Karnevaleske Festlichkeit bestimmt an einigen Stellen wesentlich die Handlung von Cien años de soledad; hier müssen vor allem die Beschreibungen der Jahrmarktsatmosphäre, die die Zigeuner nach Macondo bringen, und nicht zuletzt die beiden Karnevalsfeste in der zweiten Hälfte des Romans Beachtung finden. Die Kirmes der Zigeuner steht ganz unter dem Zeichen des Konkret-Sinnlichen als ein Hauptmerkmal karnevalistischer Erfahrung; der emotionale Effekt des ohrenbetäubenden Lärms und ihrer farbenfrohen Attraktionen wird in der anschaulichen Beschreibung dieser „pesadilla fabulosa“ (S. 101) mehr als deutlich: se quedó fascinado, […] oyendo a la distancia los pífanos y tambores y sonajas de los gitanos […]. Hombres y mujeres jóvenes que sólo conocían su propia lengua, ejemplares hermosos de piel aceitada y manos inteligentes, cuyos bailes y músicas sembraron en las calles un pánico de alborotada alegría […]. Los habitantes de Macondo se encontraron de pronto perdidos en sus propias calles, aturdidos por la feria multitudinaria. (S. 100f.)

Das sinnliche Erleben steht auch bei der ‚Entdeckung‘ des Eises durch José Arcadio Buendía im Vordergrund: Die Erfahrung ist im Wesentlichen eine körperliche, sie erschließt sich ihm durch die Berührung des Eisblocks: „puso la mano sobre el hielo, y la mantuvo puesta por varios

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minutos, mientras el corazón se le hinchaba de temor y de júbilo.“ (S. 102) Die Erfahrung ist ambivalent: Sie oszilliert zwischen Angst und Begeisterung – das karnevalistische Weltempfinden ist lebendig: José Arcadio Buendía eignet sich im Karneval ‚wissenschaftliche‘ Erkenntnis auf spielerische und sinnliche Art und Weise an, statt (wie an späteren Stellen) durch Nachdenken in der Zurückgezogenheit. „Der Karneval ist die umgestülpte Welt. […] Benehmen, Geste und Wort […] werden exzentrisch und deplaziert vom Standpunkt der Logik des gewöhnlichen Lebens“25, die hierarchische Ordnung, die das ‚normale‘ Leben, das Leben außerhalb des Karnevals bestimmt, wird aufgehoben: So auch auf dem fahrenden Markt, wo wissenschaftliche Errungenschaften (wie etwa das Eis) als bloße Vergnügungen präsentiert werden; völlig verunsichert wird der Leser, für den schon das Eis keine wirkliche Neuigkeit war und José Arcadio Buendías Sprachlosigkeit unverständlich, wenn schließlich auch tatsächliche Phantasieprodukte – die schon als Kirmesunterhaltungen unvorstellbar sind – unter die Kategorie des Fortschritts fallen: „llevaban una estera voladora. Pero no la ofrecieron como un aporte fundamental al desarrollo del transporte, sino como un objeto de recreo.“ (S. 117) Im Rahmen der Karnevalslogik ist diese Argumentation nachvollziehbar, entzieht sich aber fast auf doppelte Weise der alltäglichen Welterfahrung. Die Neuerungen, die die Zigeuner in das isolierte Macondo bringen, will José Arcadio Buendía nutzen, um im Dorf Wechsel und Veränderung zu bewirken – als ein weiteres Strukturmerkmal des Karnevals. Dass er in seiner eigenständigen Umsetzung der Mirabilia in Nützliches scheitert und nicht akzeptiert, dass sie nur während des Karnevals funktionieren, liegt auch an der Notwendigkeit des Karnevals als abgeschlossener Zeitraum, außerhalb dessen die Dinge wieder ihren gewöhnlichen Gang gehen und zeitweise umgestürzte Normen und Abgrenzungen erneut wirksam werden. Zunächst sind die karnevalistischen Feierlichkeiten „nur in der Zeit, nicht im Raum beschränkt“26, sie erfassen die Straßen des gesamten Dorfes. Doch schon sehr früh zeigen sich Versuche der Ausgrenzung, so zum Beispiel durch Úrsulas Boykottaufruf, der allerdings wenig Anklang findet. Später erreicht sie jedoch das Verbot des Jahrmarkts, als „mensajeros de la concupiscencia y la perversión“ (S. 127) werden die Zigeuner aus dem Dorf ausgeschlossen. Der Landrichter Apolinar Moscote ver25 Bachtin, Michail: Literatur und Karneval. Zur Romantheorie und Lachkultur, München 1969, S. 48. 26 Bachtin 1969, S. 56.

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bannt schließlich im Namen des Pfarrers das Bordell und „varios lugares de escándalo“ in eine „calle apartada“, es entsteht ein eigenes, abgegrenztes „barrio de tolerancia“ (S. 183-186). Die Macht und der steigende Einfluss von Politik und Kirche zerstören den Karneval wegen seines subversiven Charakters und weisen ihm einen eigenen, abgeschlossenen Raum zu. In diesem Sinne können dann auch die Karnevalsfeste, die Aureliano Segundo organisiert, nur noch ein flacher Abklatsch der farbenfrohen und lauten Jahrmarktsspektakel sein.27 Der Karneval wird ausgegrenzt und geht eine Verbindung mit der Macht ein – zwar bleibt er weiterhin eine „bulliciosa explosión de alegría“ (S. 308), das Festvolk verkleidet sich, Remedios, die Schöne und Fernanda werden zu Karnevalsköniginnen gekrönt, doch steht er in beiden Fällen in Zusammenhang mit Macht und Gewalt: Der erste Karneval kann nur stattfinden, weil es Aureliano Segundo mit Hilfe des Pfarrers gelingt, Úrsula davon zu überzeugen, dass er eine katholische Tradition ist. Beendet wird er durch ein blutiges Massaker; am Aschermittwoch der zweiten Fastnacht werden die 17 Söhne des Oberst Aureliano Buendía mit dem nicht abwaschbaren Kreuz auf der Stirn markiert, das zum Erkennungszeichen für ihre Mörder werden soll. Zusätzliche Ironie gegenüber dem Umgang der Machthaber mit dem Karneval entsteht, wenn die Macht selbst mit karnevalesken Zügen ausgestattet wird. Der Bürgerkrieg und die von José Arcadio Segundo organisierten Arbeiterstreiks enthalten zahlreiche karnevaleske Elemente, im Rahmen des Krieges finden regelrechte Fastnachtsumzüge statt, die allerdings der Komik entbehren, stehen sie doch unter dem Vorzeichen brutaler und blutiger Kämpfe. Die Maskerade ist zunächst eine der grundlegendsten karnevalesken Formen im Krieg – Arcadios erfundene Uniform, die er sich als Ortsvorsteher schneidern lässt, erinnert die Bewohner Macondos eher an ein Soldatenkostüm, an die Träume eines kleinen Jungen: „Al principio nadie lo tomó en serio. Eran, al fin de cuentas, los muchachos de la escuela jugando a gente mayor.“ (S. 201) Mit Hilfe der Verkleidung bietet sich ihm jedoch die Möglichkeit, sich von der Last des Nachnamens zu befreien und (wenn auch nur für kurze Zeit) eine andere Person zu sein –

27 Michail Bachtin beschreibt den Verfall des Karnevals ab dem 17. Jahrhundert: Er „umfaßt nicht mehr das ganze Volk, auch seine Bedeutung im Leben der einzelnen Menschen läßt nach. Seine Formen verkümmern und werden simpel. […] Das Ergebnis dieses Prozesses war eine Verflachung und Zerstäubung des Karnevals und seines Weltempfindens.“ (Ebd., S. 58f.)

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das heißt zu spielen: „el poder, con sus bandos terminantes y su uniforme de gloria, lo [liberó] del peso de una antigua amargura.“ (S. 210) Name und Titel dienen Oberst Aureliano Buendía als Maske: Für ihn bedeutet der Krieg auch Namenswechsel; zu seinem Schwiegervater Apolinar Moscote sagt er vor seinem ersten Feldzug: „Y no me vuelva a decir Aurelito, que ya soy el coronel Aureliano Buendía.“ (S. 199) Vor seiner Hinrichtung – gewissermaßen seinem Sturz als ‚König auf Zeit‘ – wird er wieder zum „señor Aureliano Buendía“ (S. 223). Der Hauptmann Roque Carnicero schließlich wechselt seinen Namen zwar nicht, doch verweist dieser „nombre que era mucho más que una casualidad“ (S. 219) ebenso auf sein Handeln wie Arcadios Uniform.28 Auch das Motiv der umgestülpten Welt findet sich in der Darstellung des Krieges in Cien años de soledad. Die konservativen Militärs als eigentliche Verteidiger des christlichen Glaubens verprügeln den Pater Nicanor; der Pater äußert sein Erstaunen gegenüber den Handlungen der Konservativen – und den Reaktionen der Liberalen: „Esto es un disparate: los defensores de la fe de Cristo destruyen el templo y los masones lo mandan componer.“ (S. 235) Diese Umkehrung als Eigengesetzlichkeit des Krieges thematisiert Amaranta, als ihr ihr liberaler Verehrer Gerineldo Márquez ein Gebetsbuch schenkt: „Qué raros son los hombres […]. Se pasan la vida peleando contra los curas y regalan libros de oraciones.“ (S. 265) Die Thematik der Verkehrung spiegelt sich im karnevalesken Motiv von Wahl und Sturz des Karnevalskönigs; sie geht hier mit Erhöhung und anschließender Erniedrigung einher.29 ‚Verkehrt‘ ist die Welt im Krieg, wenn Teófilo Vargas, „un indio puro, montaraz, analfabeto“ (S. 269) zum General aufsteigen kann – karnevalesk ist sein Sturz: Für kurze Zeit wurde der ‚Knecht‘ zum Herrscher, bis die alltägliche Ordnung wiederhergestellt ist. Arcadio wird von Úrsula entthront, die hernach wieder in gewohnter Manier das Ruder im Dorf übernimmt und das Leben in seine alten Bahnen zurückführt. Auch die Profanation und degradierende Rede tauchen im Zusammenhang mit dem Krieg auf – und hier durchaus auf komische Weise. Karnevalesk-parodistisch tritt Úrsula vor dem Revolutionsgericht auf: Frei und ungeniert erhebt sie das Wort gegen die Machthaber und verweist sie wie spielende Kinder in ihre Schranken: „Pero no olviden que 28 Gleichzeitig erinnert sein Name – als direkter Verweis auf einen mittelalterlichen Text – an Don Carnal aus dem Libro de Buen Amor, der einen blutigkarnevalesken Krieg gegen Doña Cuaresma führt. 29 Vgl. Bachtin 1969, S. 50.

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mientras Dios nos dé vida, nosotras seguiremos siendo madres, y por muy revolucionarios que sean tenemos derecho de bajarles los pantalones y darles una cueriza a la primera falta de respeto.“ (S. 261) Die Paraden im Krieg haben ebenfalls den Charakter karnevalesker Feierlichkeiten; so gleicht der Menschenauflauf bei der Rückkehr des Oberst Aureliano Buendía anlässlich seiner öffentlichen Hinrichtung – die in diesem Zusammenhang dann auch als (versuchter) Sturz eines weiteren Karnevalskönigs gelesen werden kann – einem Karnevalsumzug (S. 221f.). Deutlicher jedoch und auch in Verbindung mit anderen Karnevalsmotiven zeigt sich der karnevaleske Charakter politischer Handlungen an den Arbeiterstreiks, die José Arcadio Segundo anführt. Über dreitausend Menschen finden sich am Bahnhof zusammen, Kirmesatmosphäre bricht aus: Aquello parecía entonces, más que una recepción, una feria jubilosa. Habían trasladado los puestos de fritangas y las tiendas de bebidas de la Calle de los Turcos, y la gente soportaba con muy buen ánimo el fastidio de la espera y el sol abrasante. (S. 419)

Der bislang eher unscheinbare José Arcadio Segundo schwingt sich nach der Ankunft der Soldaten zum Anführer der „muchedumbre pasmada por la fascinación de la muerte“ (S. 420) auf: Mit seinem „¡Cabrones!“ beginnt das Feuer – oder das Feuerwerk als gelungener Abschluss eines Jahrmarkts: „todo parecía una farsa. Era como si las ametralladoras hubieran estado cargadas con engañifas de pirotecnia“ (S. 421). Bezeichnenderweise wird seine Version des Massakers später als pure Einbildung abgetan und der Fiktion zugewiesen. Mit einem „Seguro que fue un sueño […]. Este es un pueblo feliz“ (S. 426) wird der kurzzeitige König wieder gestürzt und als weltfremder Träumer abgestempelt: Seine Erfahrungen während des Karnevals haben im Alltag keinerlei Relevanz. Schließlich lassen auch die zahlreichen Figurenpaare in Gabriel García Márquez’ Roman an karnevaleskes Motivrepertoire denken: „Sehr bezeichnend für das karnevalistische Denken sind Gestaltenpaare, die nach dem Kontrastprinzip […] oder nach dem Prinzip der Identität […] ausgewählt werden.“30 Die Doppelgängerthematik findet sich häufig in Cien años de soledad, viele Figuren scheinen Wiederholungen von Vorfahren zu sein. Auf die Parallelen zwischen José Arcadio und Aureliano Segundo wurde oben bereits eingegangen; besonders auffallend – auch weil von verschiedenen Familienmitgliedern immer wieder betont – ist die 30 Ebd., S. 53.

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Ähnlichkeit zwischen dem Oberst Aureliano Buendía und Aureliano Babilonia. Die Namen fungieren in der Familie Buendía gewissermaßen als Masken; Úrsula hat die längste Erfahrung mit den sich immer wiederholenden Namen und den Eigenschaften ihrer Träger, so dass sie daraus schlussfolgern kann: „Mientras los Aurelianos eran retraídos, pero de mentalidad lúcida, los José Arcadio eran impulsivos y emprendedores, pero estaban marcados por un signo trágico.“ (S. 287) Der Name bestimmt hier den Charakter, wie auch die Maske das Verhalten ihres Trägers festlegt – und mit Ausnahme der Zwillinge Aureliano Segundo und José Arcadio Segundo trifft Úrsulas Beschreibung auf die Nachkommenschaft zu; umso erstaunlicher ist es, dass sie einen José Arcadio zum Papst erziehen will – und umso weniger wundert das Scheitern des Vorhabens. Die Zwillinge Aureliano Segundo und José Arcadio Segundo fügen dem Motiv karnevalesk-komische Züge hinzu. In der Kindheit erscheinen sie zunächst als eine einzige, verdoppelte Person: „Era tan precisa la coordinación de sus movimientos que no parecían dos hermanos sentados el uno frente al otro, sino un artificio de espejos.“ (S. 277) Mit der Pubertät stellt sich die Ambivalenz dieser ‚einen Gestalt‘ heraus:31 Sie spaltet sich auf in zwei Personen unterschiedlichen Charakters, jedoch in einer karnevalesken Umkehrung der Erbgesetze der Buendía. Spielerisch vertauschen sie die eigentlich zu den jeweiligen Namen gehörigen Pole und widersetzen sich damit den Regeln der wiederkehrenden Zeit: Úrsula seguía preguntándose si ellos mismos no habrían cometido un error en algún momento de su intrincado juego de confusiones, y habían quedado cambiados para siempre. […] El que en los juegos de confusión se quedó con el nombre de Aureliano Segundo se volvió monumental como el abuelo, y el que se quedó con el nombre de José Arcadio Segundo se volvió óseo como el coronel, y lo único que conservaron en común fue el aire solitario de la familia. (S. 288)

Tatsächlich ähnelt auch ihr Verhalten im Folgenden demjenigen der Vorfahren mit dem jeweils anderen Namen – erst im Tode erhalten sie durch die Vertauschung der Särge ihre eigentliche Identität wieder zurück, der 31 Bachtin betont die „ambivalente Natur der karnevalistischen Gestalten“: „Sie vereinigen in sich alle Polaritäten des Wechsels und der Krise: Geburt und Tod […], Jugend und Alter, Oben und Unten, Gesicht und Gesäß, Torheit und Weisheit.“ (Ebd., S. 53.) In Cien años de soledad bestehen dementsprechend zwei Möglichkeiten, zwei Pole, zu denen die (männlichen) Gestalten tendieren können, und denen sich im Erwachsenenalter auch die Zwillinge unterordnen.

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Namenstausch wird rückgängig gemacht. Die Zwillinge haben sich mit dem Tausch der Maske einen Spaß gemacht und dem einen Karneval in der Familie einen zweiten, ihren eigenen übergestülpt – mit dem sie sich aber dennoch den Erbregeln nicht entziehen können, und der mit ihrem Tod und der Wiedererlangung des jeweils ‚korrekten‘ Namens beendet wird.

Karnevalisierung des Erzählten In den vorangegangenen Abschnitten wurde auf karnevaleske Elemente in der Familie Buendía verwiesen – inwiefern sich also der Karneval und seine Merkmale in einer allgemeineren Perspektive auf den Roman und seine Struktur übertragen lassen, soll im Folgenden erläutert werden. Deutlichen Ausdruck findet das karnevalistische Weltempfinden in der Zeitkonzeption und der Generationenabfolge in Cien años de soledad; hier zeigt sich „das Pathos des Wechsels und der Veränderung, des Todes und der Erneuerung“, der Karneval als „Fest der allvernichtenden und allerneuernden Zeit“32. Diese Vorstellung einer kreisförmigen, sich ständig erneuernden und absterbenden Zeit entspricht auch der Zeitkonzeption in Cien años de soledad; wieder ist es Úrsula, die das Gesetz ausspricht: „Es como si el tiempo diera vueltas en redondo y hubiéramos vuelto al principio“ (S. 301f.). Treffender jedoch formuliert Pilar Ternera die Eigenheiten der zyklischen Zeit in Macondo; sie bezieht die allmähliche Abnutzung, und damit auch die langsame Veränderung und den letztlichen Verfall mit ein: „la historia de la familia era un engranaje de repeticiones irreparables, una rueda giratoria que hubiera seguido dando vueltas hasta la eternidad, de no haber sido por el desgaste progresivo e irremediable del eje.“ (S. 523) Die Vorstellung einer kreisförmigen Zeit findet sich im Roman auf vielfältige Art und Weise ausgearbeitet.33 Die Formulierung „muchos años después“ ist eine der häufigsten im gesamten Text – und wird jedes Mal an späterer Stelle, eben diese „muchos años después“ entsprechend ergänzt, und so der Kreis geschlossen. Stellvertretend für zahlreiche Textstellen sei hier nur die Episode von José Arcadios Begräbnis zitiert; wegen des Gestanks der Leiche „el cementerio siguió oliendo a pólvora hasta muchos años después, cuando los ingenieros de la compañía bananera recubrieron la sepultura con una coraza de hormigón.“ (S. 234) 32 Ebd., S. 50. 33 Vgl. dazu Palencia-Roth, Michael: Gabriel García Márquez: La línea, el círculo y las metamorfosis del mito, Madrid 1984, bes. S. 80-125.

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Nach der Ankunft der Amerikaner in Macondo wird dieser Satz komplettiert – „construyeron una fortaleza de hormigón sobre la descolorida tumba de José Arcadio, para que el olor a pólvora del cadáver no contaminara las aguas“ (S. 337); gleichzeitig findet in „la descolorida tumba“ die Abnutzung ihren Ausdruck. Auch Geburt und Tod, als Ende und gleichzeitige Erneuerung, sind in Gabriel García Márquez’ Roman eng miteinander verbunden. Die Familienmitglieder kehren zum Zeitpunkt ihres Todes zu ihrem Ursprung zurück, das Ende des Romans verweist mit der Geburt des ‚Schweineschwänzchens‘ zurück auf den Anfang und den ersten Fall entstellter Leiblichkeit in der Familie.34 Nicht zufällig finden sich der Tod Amarantas und die Geburt von Amaranta Úrsula im selben Kapitel; der letzte weibliche Nachkomme vereint in sich die Eigenschaften der weiblichen Vorfahren und ist somit auch eine Fortsetzung von Amaranta. Wie Amaranta zu Aureliano José, so hat auch Amaranta Úrsula ein inzestuöses Verhältnis zu ihrem Neffen Aureliano Babilonia, welches bei dem zweiten Paar allerdings aus Unwissenheit um die Verwandtschaftsverhältnisse fatale Folgen hat: Amarantas Warnung an Aureliano José, „Es que nacen los hijos con cola de puerco“ (S. 252) – selbst schon fast wörtliche Wiederholung einer Szene zwischen José Arcadio Buendía und Úrsula – bewahrheitet sich schließlich am Ende des Romans, in der Wiederholung der Konstellation Tante/Neffe. Im Rahmen dieser Zeitkonzeption ergeben sich zahlreiche Wiederholungen von Situationen; wie im ‚Jahreszeitenrhythmus‘ kehren Personen wieder, die ihren Namensgebern zum Verwechseln ähneln und die deren Leben in der Wiederholung erneuern. Prominentes Beispiel sind die Zwillinge, deren Namenstausch dem Zyklus ein komisches Element hinzufügt; als Brüderpaar haben sie in Petra Cotes, genau wie der José Arcadio und Aureliano der ersten Generation in Pilar Ternera, ein und dieselbe Geliebte. In der Verzweiflung über seine Liebe zu Amaranta Úrsula tröstet sich Aureliano Babilonia bei Pilar – wie schon der Oberst ihr seine Liebe zu Remedios Moscote gestanden hatte; in beiden Fällen ist das Begehren ‚inzestuös‘: Amaranta Úrsula und Aureliano Babilonia sind wie Geschwister aufgewachsen, die kleine Remedios könnte beinahe die Tochter des Oberst sein. Pilar, die sich durch Aureliano Babilonia ohnehin an den Oberst erinnert fühlt, fragt ihn genau wie sie seinen Ahnen gefragt hatte: „ahora dime quién es.“ (S. 523) 34 Michael Palencia-Roth spannt den Bogen weiter als „gran círculo de selvacivilización-selva“ (ebd., S. 96).

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Die Zeit erneuert sich fortwährend, stirbt und regeneriert sich wieder; Pilar fügt den Aspekt der Abnutzung und des Verfalls hinzu – wider der Ewigkeit, das heißt der ewigen Vernichtung und Erneuerung. Die Familie Buendía und Macondo werden Opfer der allmählichen Abnutzung im Laufe der Generationen. Fernanda kämpft (zunächst) erfolgreich gegen die karnevaleske Stimmung im Haus, der sintflutartige Regen setzt den Ausschweifungen von Aureliano Segundo schließlich ein Ende: Er nimmt ab und entledigt sich so seiner grotesken Leiblichkeit, seine einst so luxuriösen Feiern kann er nur in bescheidener Form wiederholen, bis er wegen seines Knotens im Hals noch nicht einmal mehr singen kann. Das Dorf verfällt, und die von Úrsula weitergegebenen Inzestängste werden Wirklichkeit, weil mit ihrem Tod und dem aller anderen Verwandten auch die Erinnerung an den Präzedenzfall und an die Herkunft von Aureliano Babilonia und damit sein verwandtschaftliches Verhältnis zu Amaranta Úrsula verloren gegangen ist: Wegen des uneinholbaren Verfalls und der nicht aufzuhaltenden Abnutzung der Zeit ist das Neugeborene kein Anfang einer weiteren Kreisumrundung, einer weiteren Erneuerung, sondern der endgültige Tod. Ebenso wie die besondere Zeitauffassung des Karnevals lassen sich auch Bachtins Kriterien der Exzentrizität und der karnevalistischen Mesalliance auf Cien años de soledad übertragen: „Die Gesetze, Verbote und Beschränkungen, die die gewöhnliche Lebensordnung bestimmen, werden für die Dauer des Karnevals außer Kraft gesetzt.“35 An die Stelle der alltäglichen Logik und der von ihr geregelten Ordnung tritt eine neue, spezifisch karnevaleske Logik des freien Kontakts zwischen Menschen, aber auch von Dingen und Anschauungen untereinander, die ‚normalerweise‘ nicht zusammenpassen.36 Im Hinblick auf eine ‚karnevaleske Schreibweise‘ und Karnevalisierung des Erzählten im Roman bedeutet dies die Verbindung und Gleichzeitigkeit von ‚mythischer‘ und ‚realer‘ Realität, von wundersamen, die Grenzen der Vorstellungskraft überschreitenden Ereignissen und ihrer realistisch-logischen Erklärung – vor dem Hintergrund einer Ambivalenz, die nicht aufgelöst wird, sondern zu einer Relativierung der beiden möglichen Standpunkte, des rationalistischen ebenso wie des mythischen, führt.

35 Bachtin 1969, S. 48. 36 „Die freie familiäre Beziehung ergreift alles: alle Werte, Gedanken, Phänomene und Dinge. […] Der Karneval vereinigt, vermengt und vermählt das Geheiligte mit dem Profanen, das Hohe mit dem Niedrigen, das Große mit dem Winzigen, das Weise mit dem Törichten.“ (Ebd., S. 49.)

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José Arcadio Buendías Umgang mit wissenschaftlicher Erkenntnis und sein Versuch, die Wunderdinge der Zigeuner gewinnbringend einzusetzen, sind ein gutes Beispiel für die Relativierung europäischer Wertmaßstäbe. Wirkliche Errungenschaften, die auch vom Leser als solche akzeptiert werden können – wie beispielsweise der Magnetismus – und Schaustellerobjekte von eher zweifelhaftem wissenschaftlichen Nutzen sind für ihn gleichwertig, die Grenze zwischen Phantasieprodukten und technischem Fortschritt bleibt aufgehoben. Beide fallen unterschiedslos unter die „beneficios de la ciencia“ (S. 97) – Wohltaten allerdings, die auch als bedrohliche Krankheit gesehen werden können, als „fiebre de los imanes, […] sueños de trasmutación y […] ansias de conocer las maravillas del mundo“ (S. 92). Wissenschaft und Fortschritt werden satirisch zur Plage degradiert und damit eine der Säulen einer modernen, rationalistischen Gesellschaft demontiert. Das Gleiche geschieht mit der Religion in ihrer offiziellen, durch den Pater Nicanor vertretenen Form. Für ihn ist seine Levitation Beweis für die Existenz Gottes, José Arcadio Buendía erklärt sie als Entdeckung des vierten Zustands der Materie. Die beiden widersprüchlichen Deutungen bleiben stehen ohne weiteren Kommentar, der einer den Vorzug geben würde; weder die eine noch die andere wird absolut gesetzt – ganz abgesehen davon, dass eine für den Leser zufriedenstellende Begründung für dieses übernatürliche Ereignis ohnehin nicht zu finden wäre. José Arcadio Buendía ist im Alter ein weiser Narr, er ist ‚verrückt‘ und spricht dennoch die ‚Wahrheit‘: in seiner Person vereinen sich auf ambivalente und relativierende Weise beide Eigenschaften. Auch der Tod Remedios’, der Schönen, trägt in diesem Sinne karnevaleske Züge. Im Verlauf der Handlung geschehen zahlreiche ‚Wunder‘, das heißt Ereignisse, die zwar nicht mit der Alltagslogik des Lesers erklärt werden können, aber dennoch als völlig normal präsentiert und nicht weiter hinterfragt werden. Es entwickelt sich eine dem Roman eigene Logik – die nur begrenzt, also innerhalb seiner Narration Gültigkeit hat. So, und auch nach der ausführlichen Beschreibung ihrer außergewöhnlichen Schönheit wundert es kaum mehr, wenn sie mariengleich zwischen den Bettlaken in den Himmel auffährt. Der biblische Mythos wird hier ergänzt durch die ganz unheilige Haushaltstätigkeit des Wäschezusammenlegens – Geschehnisse, die in einer normalen Diskursordnung streng voneinander getrennt sein müssten, werden parodistisch kombiniert. Religiöse Verehrung und Furcht wird profaniert, die gefürchtete Rache Gottes wird zum Objekt des Lachens, so wie sich das grauenerregende Monster, das der Pater Antonio Isabel ankündigt, als

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malträtiertes, mitleiderregendes Wesen herausstellt. Innerhalb der Abgeschlossenheit des Romans stoßen die Wunder auf Akzeptanz beim Leser – ebenso wie bei den Einwohnern von Macondo. So kann auch Fernanda auf das Mittel der Adaption biblischer Erzählungen zurückgreifen, um die Herkunft des ungewollten Sprösslings Aureliano Babilonia zu vertuschen; im Grunde handelt sie nicht anders als der Autor – und träfe ihre Moses-Version vom Bastkörbchen tatsächlich zu, würde das wohl auch niemanden mehr erstaunen: „Si se lo creyeron a las Sagradas Escrituras […] no veo por qué no han de creérmelo a mí.“ (S. 413) Gabriel García Márquez kombiniert in Cien años de soledad unterschiedliche Erzähltraditionen, die für gewöhnlich strikt voneinander getrennt werden, er fügt Ereignisse zusammen, die außerhalb des Romans unmöglich nebeneinander stehen könnten. Die Schranken des gewöhnlichen Lebens und seine Logik werden aufgehoben: Im karnevalesken Spiel mit Mythen und Weltanschauungen wird Verabsolutierung des Einen zum Wahren ausgeschlossen, Erklärungen bleiben relativ und ambivalent.

Schlussbemerkung Gabriel García Márquez greift in Cien años de soledad Erzähl- und Lachtraditionen des europäischen Mittelalters auf, die nicht nur wesentlich zur Komik des Romans beitragen, sondern sich auch in seinem gesamten Aufbau widerspiegeln. Der Bezug zu den Gestalten Rabelais’ liegt auf der Hand, ebenso wie die Verwandtschaft zu Taktiken des europäischen Surrealismus – es stellt sich die Frage, inwiefern dieser Rückgriff auf eine archaische Vorstellungswelt und auf Verfahrensweisen der Avantgarde im lateinamerikanischen Kontext fruchtbar gemacht wird, und welche spezifischen Funktionen groteske Leibesformen und karnevaleske Elemente erfüllen können. Als Brücke besonders zum Surrealismus bietet sich Alejo Carpentiers Begriff des real maravilloso an. Die Kategorien des real maravilloso und des ‚magischen Realismus‘ müssen dabei – entsprechend der Anregung Carlos Rincóns – weniger als literaturwissenschaftliche Begriffe denn als Konzeptionen mit „Wegweiserfunktion […] und für Schriftsteller wie für Kritiker grundlegende Bewertungshilfen eines neuen Selbstverständnisses“37 verstanden werden; gleichzeitig sollen Carpentiers Abgrenzungsversuche gegenüber dem Surrealismus nicht überbewertet werden, zeigt sich doch im Konzept des 37 Rincón 1985, S. 261.

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real maravilloso und des barroco „jene Ambiguität des Grotesken, die in Europa ebenso wie in Lateinamerika weite Bereiche der Kunst und Literatur des 20. Jahrhunderts kennzeichnet.“38 Carpentiers andere, ‚wunderbare‘ Realität hat – im Rahmen der theoretischen Konzeption gewissermaßen auf einer abstrakten Ebene – groteske Form; sie behandelt die Abweichung der Wirklichkeit von der gewohnten Norm, ihre Erweiterung bis zum Hinaustreten über das alltäglich Erwartbare: lo maravilloso comienza a serlo de manera inequívoca cuando surge de una inesperada alteración de la realidad (el milagro), de una revelación privilegiada de la realidad, de una iluminación inhabitual o singularmente favorecedora de las inadvertidas riquezas de la realidad, de una ampliación de las escalas y categorías de la realidad, percibidas con particular intensidad en virtud de una exaltación del espíritu que lo conduce a un modo de ‚estado 39 límite‘.

Das ‚Wunderbare in der Wirklichkeit‘ erschließt sich als besonderer Modus der Wahrnehmung, der zwei entgegengesetzte Pole vereint: Die Wirklichkeit im real maravilloso ist nicht rational, sondern nur sinnlich erfassbar, sie ist ambivalent, das heißt real und gleichzeitig ‚wunderbar‘. In dieser Doppelwertigkeit der Realität liegt ein möglicher Bezugspunkt des real maravilloso zum Karnevalesken Bachtins: Die ‚wunderbare Wirklichkeit‘ bewegt sich im Spannungsfeld zwischen den Normen und Hierarchien einer rational begreifbaren, nach Oppositionen eingeteilten Welt und der Unberechenbarkeit einer nur irrational-sinnlich erlebbaren Realität; oder „in europäischen Begriffen: Mittelalter und Aufklärung stehen in einer Simultaneität, die nur auf einer anderen Ebene, nämlich der ‚sprachlichen‘, aufzuheben ist.“40 In der literarischen Fiktion können die beiden Extreme zusammengefasst werden, so wie sich in Cien años de soledad Alltägliches und wundersame Ereignisse verbinden. Die mehr oder weniger ‚passende‘, immer aber ‚unreine‘, ‚unklassische‘ Symbiose – im Sinne der mestizaje und der criolledad Carpentiers41 – verbindet Rassen und Kulturen, sie ermöglicht chimärenhafte Mischungen von 38 Roloff 1995, S. 272. 39 Carpentier, Alejo: „Prólogo [El reino de este mundo]“, in: ders.: Obras completas, Bd. 2, México, D.F. 1983, S. 9-18, hier S. 15. 40 Strausfeld, Mechthild: Aspekte des neuen lateinamerikanischen Romans und ein Modell: „Hundert Jahre Einsamkeit“ (Gabriel García Márquez), Frankfurt a.M. u.a. 1976, S. 106. 41 Vgl. Carpentier, Alejo: „Lo barroco y lo real maravilloso“, in: ders.: Obras completas, Bd. 13, México, D.F. 1990, S. 167-193.

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Menschlichem und Tierischem genauso wie die Kombination von Erzählweisen ungeachtet ihrer traditionellen Abgrenzungen: Sie überschreitet die Grenzen, die eine neuzeitliche, logozentristische – das heißt: europäische – Wirklichkeitsauffassung zur Verfügung stellt. Der Rückgriff auf prämoderne Erzählformen problematisiert dabei Denktraditionen der europäischen Moderne; in einer ars combinatoria, die mit spielerischer Leichtigkeit Entgegengesetztes und scheinbar Unvereinbares nebeneinanderstellt, wird es möglich, „die diskurskritischen Tendenzen des Surrealismus in einem lateinamerikanischen Kontext, insbesondere in Form der Kritik am Eurozentrismus, neu ins Spiel zu bringen.“42 Gabriel García Márquez übernimmt in Cien años de soledad die Formensprache der grotesken Leiblichkeit; dieser Rückgriff auf mittelalterliche Traditionen ist gleichzeitig Abgrenzung gegenüber neuzeitlichen europäischen Diskursen und Anknüpfen an den Surrealismus. Mit seinen hyperbolischen Gestalten bietet er einen Gegenentwurf zu neuzeitlichen Körperkonzeptionen und deren Normen an. Als gleichzeitige Präsenz entgegengesetzter Extreme – Alltägliches und Märchenhaftes, Rationalismus und Irrationalität – ermöglicht ihm die Konzeption des Karnevalesken dabei ein relativierendes Neben- und Miteinander unterschiedlicher Weltbilder und Diskurstraditionen; die Ablehnung klarer, absoluter Ab- und Ausgrenzungen im karnevalesken Spiel mit den verschiedenen Traditionen rüttelt an eurozentristischen Diskursen – wenn auch ein surrealistischer Schock zugunsten einer vergnüglichen Lektüre ausbleibt.

42 Roloff 1997, S. 300f.

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LA VIDA ES SILBAR ZWISCHEN SURREALISMEN UND REAL MARAVILLOSO Der Surrealismus in Europa, dessen historischer Anfang gängigerweise 1917 mit dem Prolog Guillaume Apollinaires1 zu seinem ‚surrealistischen Drama‘2 und entgegen zahlreicher wissenschaftlicher Stimmen eben nicht in den sechziger Jahren etwa mit dem Tode Bretons endet, sondern bis in die Gegenwart hineinragt,3 eröffnet in Bezug auf den lateinamerikanischen Kontinent ein weites Feld an ambivalenten Fragen und Diskursen. Lateinamerika befindet sich gerade am Anfang des 20. Jahrhunderts bezüglich seiner literarischen (und künstlerischen) Produktion aufgrund seines verstärkten Abnabelungsprozesses von Europa in einem Dilemma,4 das Jorge Luis Borges wie folgt beschreibt: 1 „En hommage à Guillaume Apollinaire, […] Soupault et moi nous désignâmes sous le nom de SURRÉALISME le nouveau mode d’expression pure que nous tenons à notre disposition et dont il nous tardait de fait bénéficier nos amis. […] A plus juste titre encore, sans doute aurions-nous pu nous emparer du mot SUPERNATURALISME employé par Gérad de Nerval dans la dédicace des Filles du Feu.“ (Breton, André: Manifestes du surréalisme, Paris 1994, S. 35.) 2 Apollinaire, Guillaume: Les Mamelles de Tirésias. Drame surréaliste en deux actes et un prologue. Renate Kroll (Hrsg.), Stuttgart 1987. 3 Vgl. zur zeitlichen Beschränkung des Surrealismus Bürger, Peter (Hrsg.): Surrealismus, Darmstadt 1982, hier bes. S. 26-40. Vgl. zur Weiterführung des Surrealismus Lommel, Michael/Rißler-Pipka, Nanette/Vf. (Hrsg.): Theater und Schaulust im aktuellen Film, Bielefeld 2004 sowie die anderen Beiträge in diesem Band. 4 Inwiefern Affinitäten und Differenzen zwischen Surrealismus und phantastischer Literatur bestehen, kann an dieser Stelle leider nicht diskutiert werden. Vgl. hierzu auch Borges, Jorge Luis/Bioy Casares, Adolfo/Ocampo, Victoria (Hrsg.): Antología de la literatura fantástica, Buenos Aires 1977. Gerade die Thematisierung des dort bevorzugten Traumes eben nicht mehr als romantische Weltflucht, sondern als Bestandteil der Realität, des Alltags weist andererseits auch auf eine Affinität zwischen real maravilloso und Surrealismus hin.

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ISABEL MAURER QUEIPO Also, zur Zeit gibt es ein sehr verbreitetes Vorurteil: die Idee, daß ein Schriftsteller für ein bestimmtes Publikum schreiben muß, daß dieses Publikum seine Landsleute zu sein haben, daß es ihm verboten ist, seine Phantasie über das hinausgehen zu lassen, was er persönlich kennt. Daß jeder Schriftsteller von seinem Land sprechen muß, von einer bestimmten Schicht in diesem Land... Diese 5 Ideen sind der Literatur vollkommen fremd [...].

Borges bezieht sich auf die in Lateinamerika etablierten Strömungen, auf die von Oscar Collazo später in seinem Werk subsumierte Polemik einer ‚Literatur in der Revolution‘ – einer Art ‚literatura comprometida‘ (littérature engagée), die die sozial-politischen Divergenzen des Landes besonders gegenüber dem Ausland darstellen sollte – und einer ‚Revolution in der Literatur‘.6 Dieser Literaturstreit weist pragmatisch auf die Heterogenität des Kontinents hin: Wurden auf der einen Seite die avantgardistischen Verfahrensweisen meist europäischer Provenienz propagiert, vertraten auf der anderen Seite die nationalistisch eingestellten Künstler eine landesspezifische Literatur, die insbesondere die Natur und die sozio-kulturelle Geschichte im Hinblick auf präkolumbianische und indigene Aspekte ihres Landes apologisierte. Auch etablierte sich zunehmend der spanische, von Stéphane Mallarmé beeinflusste Ultraismus. In Lateinamerika gewann diese Strömung nicht zuletzt dank Borges zunehmend an Bedeutung, für den der Ultraismus „die Synthese von Expressionismus, Futurismus, Kubismus, Dadaismus und Creacionismo“ darstellte.7 So war und ist neben den klassischen avantgardistischen Strömungen wie Futurismus, Ultraismus und Dadaismus gerade der Surrealismus als Verfahrensweise für eine ‚Revolution in der Literatur‘ in Lateinamerika von weitreichender Bedeutung. Doch trotz der Nähe vieler Intellektueller und Künstler wie Borges, Huidobro, Neruda, Cortázar,

5 Ferrari, Osvaldo/Borges, Jorge Luis: Lesen ist denken mit fremdem Gehirn. Gespräche über Bücher und Borges, Zürich 1990, S. 214. 6 Vgl. Collazo, Oscar: Literatura en la revolución y revolución en la literatura, Mexiko, D.F. 1971. Vgl. zur lateinamerikanischen Literaturdebatte besonders im Hinblick auf Borges auch Vf.: „Hybridisierungen von Traum und Realität in Jorge Luis Borges’ Erzählung ‚Emma Zunz‘“, in: Walburga Hülk (Hrsg.): Spektrum. Siegener Perspektiven einer romanischen Medien-, Kultur- und Literaturwissenschaft, Siegen 2003. 7 Vgl. Vf. 2003.

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Octavio Paz, Carpentier, Kahlo, Lam und Matta8 betonten sie selbst entscheidende Unterschiede, die insbesondere auch den Begriff des Surrealismus nicht mehr ohne weiteres auf Lateinamerika applizierbar machten.

Der historische Surrealismus im Umfeld Bretons Je crois à la résolution future de ces deux états, en apparence si contradictoires, que sont le rêve et la réalité, en une sorte de réalité absolue, de surréalité, si l’on peut ainsi dire. (André Breton)

Breton propagierte bekanntlich in seinem Manifeste du Surréalisme einen Anti-Rationalismus, die Freude an assoziativen Spielen, an ars combinatoria9 und „Automatisme psychique“10, an „folie“11 und Hybridationen von „vérité“, „superstition“, „chimère“ und „imagination“12, an der Auflösung der Grenzen zwischen Unbewusstem und Bewusstem, zwischen „rêve“ und „réalité“13. Diese, auf zahlreiche historische Quellen rekurrierenden, im Surrealismus bevorzugt verwendeten Elemente – der barocke Topos des theatrum mundi, die karnevalesken und grotesken Elemente der Traumphantasie, das ineffabile der Mystiker, die karnevalesken, mehrdeutigen Bilder des Begehrens von Bosch über Goya bis zu Picasso und Dalí und die antike Mythologie14 – sollten, so Breton, zur „résolution des questions fondamentales de la vie“ herangezogen werden: Nous vivons encore sous le règne de la logique, voilà, bien entendu, à quoi je voulais venir. Mais les procédés logiques, de nos

8 Vgl. den Beitrag von Volker Roloff in diesem Band, bes. die Relation des lateinamerikanischen Surrealismus im Hinblick auf Spanien und seine Abgrenzung zum französischen Surrealismus. 9 Eine der Hauptreferenzen zum Begriff der ars combinatoria bildet der häufig zitierte Artikel Hans Holländers, in dem er sich auf André Bretons erstes surrealistisches Manifest und auf Texte des katalanischen Philosophen Ramón Llull bezieht. Vgl. Holländer, Hans: „Ars inveniendi et investigandi: Zur surrealistischen Methode“, in: Peter Bürger (Hrsg.): Surrealismus, Darmstadt 1982, S. 244-312. 10 Breton 1994, S. 36. 11 Ebd., S. 15f. 12 Ebd., S. 20ff. 13 Ebd., S. 21f. 14 Vgl. den Beitrag von Volker Roloff.

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ISABEL MAURER QUEIPO jours, ne s’appliquent plus qu’à la résolution de problèmes d’intérêt 15 secondaire. Le rêve ne peut-il être appliqué, lui aussi, à la résolution des ques16 tions fondamentales de la vie?

Damit wird eine Zweckgerichtetheit bezeichnet, die in der gängigen Surrealismusrezeption seltener beachtet wird, wird doch der Surrealismus eher mit den Spielarten der Aleatorik wie écriture automatique, den Spielen des cadavre exquis oder den ,gesprochenen Gedanken‘ in Verbindung gebracht: un monologue de débit aussi rapide que possible, sur lequel l’esprit critique du sujet ne fasse porter aucun jugement, qui ne s’embarasse, par suite, d’aucune réticence, et qui soit aussi exactement que possible la pensée parlée. Il m’avais paru, […] que la vitesse de la pensée n’est pas supérieure à celle de la parole, et qu’elle ne défie pas forcément la langue, ni même la plume qui 17 court.

In welchem Maße sich solche traumanalogen Assoziationen als spielerische, zweckgerichtete oder eben alltägliche Elemente und Verfahrensweisen erweisen und in den aktuellen lateinamerikanischen Medien fortgeführt werden, soll anhand des Filmes LA VIDA ES SILBAR (1998) von Fernando Pérez näher betrachtet werden.

Veristischer Surrealismus Es stellt sich immer wieder die Frage, inwiefern von Surrealismus in Bezug auf Lateinamerika gesprochen werden kann. Bekanntermaßen deklarierte Breton Mexiko nach seiner Reise nach Lateinamerika als ‚die Inkarnation des surrealistischen Traumes‘. In der Zeitschrift Minotaure verwendet Breton in seinem Beitrag „Souvenir du Méxique“18 das von ihm ‚surrealisierte‘, d.h. aus seinem ursprünglichen Kontext entnommene Bild Manuel Alvarez Bravos (1931) (Abb. 1).

15 16 17 18

Breton 1994, S. 19f. Ebd., S. 22. Ebd., S. 33. Breton, André: „Souvenir de Mexique“, in: Minotaure, Nr. 12/13 (1939), S. 31-48. Vgl. dazu auch den Beitrag von Uta Felten in diesem Band.

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Abbildung 1: Fotografie von Manuel Alvarez Bravo (1931)

Das dem mexikanischen Alltag entnommene ‚authentische‘ Bild, die Photographie einer Werkstatt für Kindersärge, wurde hier dekontextualisiert, surrealistisch entfremdet – im Sinne eines in der surrealistischen Malerei so bezeichneten ‚veristischen Surrealismus‘, einem Verfahren, Alltagselemente aus ihrem habitualisierten Umfeld zu entwenden und in neue Kontexte einzubetten, so dass surreale Effekte und Atmosphären entstehen. Diesem wird der sogenannte ‚absolute Surrealismus‘ entgegengehalten, die Darstellung abstrakter Formen, visualisierte, plastisch dargestellte Produkte aus dem Unbewussten.19 In diesem Sinne können das stetig zitierte (leider immer nur verkürzt wiedergegebene) Beispiel von Lautréamont, das „zufällige Zusammentreffen einer Nähmaschine und eines Regenschirmes auf einem Seziertisch“, aber auch die anderen disparaten Bilder als Paradigmen eines veristischen Surrealismus gelten:

19 Vgl. zum veristischen und absoluten Surrealismus in der Malerei Haftmann, Werner: Malerei im 20. Jahrhundert. Eine Entwicklungsgeschichte, München 1976. Breton selbst zählt „MM. Aragon, Baron, Boiffard, Breton, Carrive, Crevel, Delteil, Desnos, Éluard, Gérard, Limbour, Malkine, Morise, Naville, Noll, Péret, Picon, Soupault, Vitrac“ zum absoluten Surrealismus (vgl. Breton 1994, S. 36f.). Vgl. in diesem Band auch den Beitrag von Gerhard Wild, in dem er für das genannte Verfahren den Begriff des „dépaysement, d.h. des verfremdenden Über-Setzens von Objekten als die originär surrealistische Operation“ verwendet.

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ISABEL MAURER QUEIPO Je me connais à lire l’âge dans les lignes physiognomoniques du front: il a seize ans et quatre mois! Il est beau comme la rétractabilité des serres des oiseaux rapaces; ou encore, comme l’incertitude des mouvements musculaires dans les plaies des parties molles de la région cervicale postérieure; ou plutôt, comme ce piège à rats perpétuel, toujours retendu par l’animal pris, qui peut prendre seul des rongeurs indéfiniment, et fonctionner même caché sous la paille; et surtout, comme la rencontre fortuite sur une table de dissection d’une machine à coudre et d’un parapluie! Mervyn, ce fils de la blonde Angleterre, vient de prendre chez son professeur une leçon d’escrime, et, enveloppé dans son tartan écossais, 20 il retourne chez ses parents.

In diesem Sinne wird auch der Eselskadaver in Buñuels Film UN CHIEN ANDALOU – filmische Ikone des Surrealismus – zunächst als surrealistisch eingestuft, müsste aber konsequenterweise als veristischer Surrealismus oder aber direkt als Requisite des damaligen spanischen Alltags verstanden werden, wie z.B. das berühmte Zerstechen des Esels durch Bienen in LAS HURDES – TIERRA SIN PAN (1932), da es – wenn man hier dem Genre des Dokumentarfilms vertrauen will – per se als schockierend gilt. Gerade Buñuel selbst demaskiert ironisch die abendländische Suche nach Sinn mit seiner spielerischen Freude an surrealen Elementen, an Häufungen von disparaten Bildern. Treffend führt Schwarze im Zusammenhang mit Buñuel die immer wieder verwirrende und paradoxale surrealistische Vermischung von Gewöhnlichem und Außergewöhnlichem an: Während sich das Ungeheuerliche bruchlos in unser Weltbild fügt, irritiert uns das Alltägliche. Warum, so grübeln wir etwa, zeigt uns Buñuel eine tote Fliege in einem Weinglas. Symbol, Metapher, purer Zufall? Dies sind die Fallgruben des Luis Buñuel. In einem Kinofilm, in dem jedes Detail etwas zu bedeuten hat, besteht der Sinn seiner Bilder darin, zu zeigen, dass es oft keinen Sinn mehr gibt. Je mehr die Bilder Buñuels sich dem Erlebnishorizont des Zuschauers nähern, desto mehr verstören sie ihn. Buñuel stellt die gängige Dramaturgie auf den Kopf. Das Gewöhnliche irritiert den Zu21 schauer, das Außergewöhnliche fügt sich in seine Erwartungen.

Auch in der folgenden Filmanalyse erweist sich nun die Unterscheidung zwischen surrealistischen, veristisch surrealistischen Elementen und dem real maravilloso und spielerischen Fallgruben im Sinne Buñuels als 20 Lautréamont, Comte de: „Chant sixième, I“, in: ders.: Les Chants de Maldoror et autres œuvres, Paris 1995, S. 236. (Hervorhebungen I.M.Q.) 21 Schwarze, Michael: Buñuel, Reinbek bei Hamburg 1993, S. 115.

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äußerst schwierig und mehrdeutig. Deutlich wird zunächst auch hier, dass ein absoluter Surrealismus im Sinne Bretons nicht mehr ohne weiteres applizierbar ist.

Veristischer Surrealismus als lateinamerikanischer real maravilloso? Die dekontextualisierenden Entfremdungsverfahren als Teil surrealistischer Kombinationsfreude verdeutlichen einmal mehr die besonders von Carpentier monierte avantgardistische Artifizialität. Dieser hält er das Konzept des real maravilloso entgegen, das als authentische Version eines veristischen Surrealismus angesehen werden kann. Wie am Beispiel des kubanischen Films LA VIDA ES SILBAR dargestellt werden soll, findet sich dieses Konzept scheinbar besonders in disparaten Assoziationen – wie das Bild eines toten Fischkopfes und krabbelnder Schnecken verdeutlicht. Die lateinamerikanischen Schriftsteller wie Alejo Carpentier, Miguel Ángel Asturias und Uslar Pietri präsentierten sich in einer Doppelrolle als Repräsentanten eines europäisch beeinflussten Intellektualismus, als auch eines lateinamerikanischen Indigenismus. Dies sollte auch die Leitidee derjenigen Schriftsteller werden, die sowohl dem Surrealismus nahestanden, sich nun jedoch von ihm distanzierten (vgl. auch Un cadavre22): Denn bald monierten sie die Unstimmigkeit surrealistischer Artefakte, die der Erfahrung ihres eigenen Kontinents nicht entsprachen und waren bemüht, sich eurozentrierter Exotisierung zu entziehen.23 Dies

22 Gegen die europazentrierten Surrealisierungstendenzen stellten sich zunächst, wie angedeutet, gerade ehemalige Anhänger des Surrealismus (Bataille, Ribbemont-Dessaignes, Prévert, Quenau, Vitrac, Limbour, Boiffard, Desnos, Moris, Baron, Carpentier), zu denen auch Carpentier zählte, unter anderem mit dem berühmten Pamphlet Un cadavre (1930), das sich sarkastisch gegen den mittlerweile als ‚despotischer Magnet’ designierten Breton richtete: „Ci-gît le boeuf Breton, le vieil esthète, faux révolutionnaire à tête de Christ.“ (Bataille, Georges: Œuvres complètes, Paris 1970, Bd. 1, S. 218.) Vgl. aber auch die Reaktion Bretons: „De même un collaborateur du Cadavre me réprimande vertement sous prétexte que j’ai écrit: ‚Je jure de ne jamais reporter l’uniforme français.‘ Je regrette, mais ce n’est pas moi“. (Breton 1994, S. 90.) 23 Mit Nachdruck sei auf den Verdienst der Surrealisten, ihrer Apologie des ‚naiven Fremden‘ hingewiesen, auf die auf das 19. Jahrhundert zurückgreifende Freude am Orientalismus und am Exotismus, der sich auch in dem bekannten Carmenboom niederschlug. Gerade die ‚primitive Kunst‘ war für

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bedeutete keineswegs eine Schmälerung ihrer avantgardistischen Affinität zum Surrealismus, zum Traum, zum Irrationalen, die sie unter einem anderen Etikett wieder aufnahmen, wenn sie das Surreale als Alltägliches, als wahrhaft Wunderbares ansahen und so zu einer Neubesinnung auf die eigene Welt gelangten.24 Der von Franz Roh 1923 initiierte, zunächst auf den abendländischen Expressionismus applizierte Begriff des ‚magischen Realismus‘ wurde dann von Carpentier in seinem Prolog zu El reino de este mundo (1948) als real maravilloso definiert und in einer späteren, kaum beachteten Fassung näher erläutert. Hierin führt Carpentier seine Skepsis und Kritik nicht nur speziell gegenüber dem Surrealismus, sondern gegenüber fremden Kulturen per se an und verdeutlicht gleichzeitig ein allgemein bestehendes kulturelles Kommunikations- und Perzeptionsdilemma: LA-BAS TOUT N’EST que luxe, calme et volupté. La invitación al viaje. Lo remoto. Lo distante, lo distinto. La langoureuse Asie et la brûllante Afrique de Baudelaire... Vengo de la República Popular China. He sido sensible a la nada ficticia belleza de Pekín, con sus casas negras, sus techos de tejas vitrificadas en un naranjo intenso, donde retoza una fabulosa fauna doméstica de dragoncillos tutelares, de grifos encrespados, de graciosos penates zoológicos cuyos nombres ignoro; me he detenido, asombrado, ante las piedras montadas en pedestales, puestas a contemplación como objetos de arte, que se ofrecen en uno de los patios del Palacio de Verano: afirmación en hechos y presencia de una noción no figurativa del arte, ignorada por las declaraciones de principio de los artistas occidentales no figurativos, magnificación del ready-made de Marcel Duchamp, cántico de las texturas, de las proporciones fortuitas, defensa del derecho de elección que tiene el artista, detector de realidades, sobre ciertas materias o materiales que, sin haber sido

die Surrealisten ein gegen die Ratio gestellter Ausdruck von Wahn und Gewalt, von Ritual und Instinkt, von Wunderbarem und Mystischem. 24 Eine andere Strömung, auf die hier nicht näher eingegangen werden soll, war die so genannte Crack-Gruppe, zu der die mexikanischen Autoren Jorge Volpi, Ricardo Chávez, Ignacio Padilla, Eloy Urroz, Pedro Ángel Palou und Vicente Herrasti zählen. Die Generación del Crack knüpft insbesondere an Schriftsteller wie Gabriel García Márquez, Carlos Fuentes, Julio Cortázar, Mario Vargas Llosa und Guillermo Cabrera Infante an, stellt sich jedoch andererseits im Anschluss an Borges gegen eine, sich insbesondere im lateinamerikanischen Boom des realismo mágico manifestierende, übermäßige Apologisierung des Wunderbaren bzw. des Folkloristischen, die allzu schnell ins Kitschige abzugleiten drohe.

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trabajados por la mano humana, surgen de su ámbito propio con 25 una belleza original que es la belleza del universo.

Carpentier führt in seinem Bericht neben China weitere Beispiele wie den Islam und Russland auf und nähert sich über das ‚mysteriöse Prag‘ einem für ihn ‚heimlicheren‘ Bereich an. Er hebt hervor, inwiefern gerade die subjektive Wahrnehmung, das für die eigene Kultur Heimliche allzu voreilig auf fremde un-heimliche Bereiche appliziert wird, wenn die Zeichen nicht gedeutet werden können. Ohne die kulturellen Codes Chinas bleiben die „klaren Worte des Drachen und der Maske“26 unverständlich. Mit dieser Studie reagiert Carpentier gleichzeitig auf die für viele so empfundene europäische Universalisierungstendenz, gegen die eigene avantgardistische Produktionen gehalten werden, die gerade der europäische Surrealismus – trotz erwähnter bemerkenswerter Freude am Fremden und Exotischen – zum Teil auch in den Schatten gestellt hatte. Auch sein venezolanischer Kollege Uslar Pietri hebt explizit die Differenzen und Umstände in seinen für diese künstlerische Debatte relevanten Beiträgen hervor: Die unzureichende Kenntnis und Wahrnehmung der europäischen Künstler in Bezug auf Lateinamerika – „aquella realidad mal conocida y no expresada“ –, die ästhetisch-artistische Produktion als Reaktion nicht nur auf den Surrealismus, sondern auch auf den anfangs erwähnten starren Literaturbetrieb im eigenen Land – „Reacción contra la literatura descriptiva e imitativa que se hacía en la América hispana, y también reacción contra la sumisión tradicional a modas y escuelas europeas“ – sowie die Freude am Surrealismus, aber nicht an seiner Imitation – Se estaba en la gran época creadora y tumultuosa del surrealismo francés, leíamos, con curiosidad, los manifiestos de Breton y la poesía de Eluard y de Desnos, e íbamos a ver El perro andaluz de 27 Buñuel, pero no para imitarlos o para hacer surrealismo.

Um diesbezüglich das ‚un-heimliche‘ Verhältnis zwischen Europa und Lateinamerika in aller Deutlichkeit zu resümieren, soll das folgende Zitat Pietris in seiner Länge angegeben werden:

25 Carpentier, Alejo: Tientos, diferencias y otros ensayos, Buenos Aires 1987, S. 66. 26 Ebd., S. 67. 27 Pietri, Uslar: Godos, insurgentes y visionarios, Barcelona 1986, bes. das Kapitel „Realismo mágico“, S. 133-140, hier S. 137.

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ISABEL MAURER QUEIPO Más tarde algunos críticos literarios han querido ver en esa nueva actitud un mero reflejo de aquellos modelos. Alguna influencia hubo, ciertamente, y no podía menos que haberla, pero es desconocer el surrealismo o desconocer esa nueva corriente de la novelística criolla pensar que son la misma cosa bajo diferentes formas y lenguaje. El surrealismo es un juego otoñal de una literatura aparentemente agotada. No sólo se quería renovar el lenguaje sino también los objetos. Se recurría a la incongruencia, a la contradicción, a lo escandaloso, a la búsqueda de lo insólito, para producir un efecto de asombro, un choque de nociones y percepciones incoherentes y un estado de trance o de sueño en el desacomodado lector. Era pintar relojes derretidos, jirafas incendiadas, ciudades sin hombres, o poner juntos las nociones y los objetos más ajenos y disparatados como el revólver de cabellos blancos, o el paraguas sobre la mesa del quirófano. En el fondo era un juego creador, pero sin duda un juego que terminaba en una fórmula artificial y fácil. Lo que se proponían aquellos escritores americanos era completamente distinto. No querían hacer juegos insólitos con los objetos y las palabras de la tribu, sino, por el contrario, revelar, descubrir, expresar, en toda su plenitud inusitada esa realidad casi desconocida y casi alucinatoria que era la de la América Latina para penetrar el gran misterio creador del mestizaje cultural. Una realidad, una sociedad, una situación peculiares que eran radicalmente distintas de las que reflejaba la narrativa europea. De manera superficial, algunos críticos han evocado a este propósito, como antecedentes válidos, las novelas de caballería, Las mil y una noches y toda la literatura fantástica. […] No se trataba de que surgiera de una botella un „efrit“, ni de que frotando una lámpara apareciera un sueño hecho realidad aparente, tampoco de una fantasía gratuita y escapista, sin personajes ni situaciones vividas, como en los libros de caballerías o en las leyendas de los románticos alemanes, sino de un realismo no menos estricto y fiel a una realidad que el que Flaubert, o Zola o Galdós usaron sobre otra muy distinta. Se proponía ver y hacer ver lo que estaba allí, en lo cotidiano, y parecía no haber sido visto ni reconocido. Las noches de la Guatemala de Estrada Cabrera, con sus personajes reales y alucinantes, el reino del Emperador Christophe, más rico en contrastes y matices que ninguna fantasía, la maravillante presencia de la más ordinaria 28 existencia y relación.

In dieser Genealogie erscheint auch Fernando Pérez’ Film LA VIDA ES (1998), in dem er wahrhaft Wunderliches und Alltägliches miteinander verschmelzen lässt und dabei die für Kuba habitualisierten Elemente – die karnevalesk anmutende Statue der Heiligen Barbara, der Pfau als Haustier (Abb. 2) – im Zuge einer (filmischen) Surrealisierung (Zeitraffer, ironische Verweise auf Freud, Schnecken, Bienen und tote SILBAR

28 Ebd., S. 137f.

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Fische, Häufung von Traumsequenzen und Visionen, aleatorische Spiele zwischen Schicksal und Zufall) neu beleuchtet. Abbildung 2: Screenshot aus LA VIDA ES SILBAR

LA VIDA ES SILBAR zwischen Surrealismen und magischem Realismus Taxifahrer: „Sehen Sie Julia, niemand entgeht seinem Schicksal“ (Fernando Pérez, LA VIDA ES SILBAR)

Die Geschichte des Filmes lässt sich aufgrund seiner an Borges29 erinnernden, komplexen labyrinthischen Erzählstrukturen schwer zusammenfassen, da es sich um mehrere ineinander verstrickte Geschichten handelt, die in La Habana spielen. Sie werden gerahmt durch die Figur Bebé, die die verschiedenen kleinen Erzählungen verklammert: Die Rahmengeschichte entführt in ein Waisenhaus, in dem ein kleines Baby abgegeben wird, das den Namen Bebé bekommt. Ein lockenköpfiger Junge bringt dem stillen Mädchen später das Pfeifen bei, 29 Vgl. Roloff, Volker: „Vom Surrealismus zur postmodernen Erzählfreude – lateinamerikanische Kombinationen und Beispiele (Borges, Mario de Andrade, Carpentier)“, in: Ulrich Schulz-Buschhaus/Karl-Heinz Stierle: Projekte des Romans nach der Moderne, München 1997, S. 289-310. Roloff hebt darin im Zusammenhang mit Borges das Prinzip der unendlichen Kombination, die Multiplizierbarkeit der Geschichten, das Prinzip der Bifurkation und der unendlichen Verzweigungen, das Bauprinzip der babylonischen Bibliothek, die Form des regressus ad infinitum, die virtuelle und labyrinthische Unendlichkeit hervor.

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das ihre einzige Kommunikationssprache bleibt. Durch das Verbot zu pfeifen, durch die ständigen Ermahnungen, wie alle anderen sprechen lernen zu müssen, wird bereits hier auf den konventionellen Sprechzwang, auf die Sprache als alleiniges Kommunikationsmittel verwiesen und damit bereits ex negativo auf die Freude der Surrealisten an unkonventionellen außersprachlichen ‚Medien‘ wie Musik und Pantomime, Bilder und Pfeifen.30 Wie in einer Inquisitionsszene – wir sehen Bebé in einer riesigen, unheimlich erscheinenden Halle alleine auf einem Stuhl sitzen (Abb. 3) – wird ihr das Verbot nahegebracht. Abbildung 3: Screenshot aus LA VIDA ES SILBAR

Die Anfangsszene am Kay von La Habana wechselt in eine Studioaufnahme. Eine junge Frau erzählt vom Glücklichsein, von drei Personen, die sie glücklich machen möchte: Die Balletttänzerin Mariana, den Lebenskünstler Elpidio und die Altenpflegerin Julia.

Die Geschichte von Julia Es folgt eine traumhafte, surreal anmutende Szene, in der während einer Rede im Altersheim die Anwesenden (Alten) gähnen, Julia wird nach vorne gebeten und verfällt bei ihrer Danksagung selbst in einen skurrilen 30 Auch das Konzept der écriture automatique kann in diesem Sinne als Befreiung von der Systemlogik der Sprache gesehen werden, das bereits die dekonstruktivistische Idee der freiflottierenden Signifikate, dem freien Spiel zwischen Bedeutung und Bedeutungsträgern vorwegnimmt. Vgl. Derrida, Jacques: L’Écriture et la différence, Paris 1967 sowie ders.: De la grammatologie, Paris 1967.

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Gähnanfall. Die Offstimme informiert den Zuschauer, dass Julia den Grund ihres Gähnens nicht kennt, ihn vielleicht erahnt, sich aber davor fürchtet. Wie sich herausstellen wird, weckt der Film durch solche spannungserzeugenden Anspielungen das detektivische Interesse des Zuschauers, das die Aufmerksamkeit auf diese Weise auf Details und Verstrickungen lenkt. In diesem Sinne verwirren auch andere surrealisierte Elemente wie der buñuelesk anmutende Pfau (Julias Haustier) und ein seltsamer Taxifahrer den Zuschauer. Taxifahrer: Ich sagte, ich glaube, Sie heißen Julia. Julia: Und woher wissen Sie das? Taxifahrer: Ich weiß es nicht, ich vermute es. Wie schon John Lennon sagte, Julia, das Leben ist das, was geschieht, während man mit anderen Dingen beschäftigt ist. Sehen Sie sich die Welt an, sehen Sie: Kriege, Fanatismus, Ungerechtigkeit, Sex.

In dem Augenblick, als das Wort Sex erklingt, fällt Julia in Ohnmacht, ohne dass der Zuschauer zunächst diese Reaktion einzuordnen vermag. Von ihrer Freundin bekommt sie später den Tipp – denn man fällt nicht aus Spass in Ohnmacht – unter einer bestimmten Nummer bei „Freud, Sigmund Freud“ anzurufen. So wie zu Beginn das Pfeifen, die Wortspielereien (Bebé – Baby) als ironische Dekonstruktion der gesellschaftlichen Zwangskommunikation (Sprache vs. Pfeifen) fungieren, ist es auch hier das Wort, das das Leben der Personen aus ihrer Ordnung bringt: – Es war ein Wort. – Er ist in Ohnmacht gefallen, weil er ein Wort gehört hat. – Angst vor dem Wort und vor neuen Ideen – ein weitverbreitetes Syndrom.

Als Grund für Julias Ohnmacht und auch die weiterer Personen des Films werden – nicht ohne sozialkritischen Hintergrund – verschiedene Begriffe wie Doppelmoral, Opportunismus und Wahrheit genannt, die einen wahren Ohnmachtsreigen auslösen, als der Arzt sie wissentlich ausruft (vgl. Abb. 4, 5):

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Abbildungen 4 und 5: Screenshots aus LA VIDA ES SILBAR

Nach einer wiederum an die surrealen Filme Buñuels erinnernden Bildabfolge von Schnecke, Brustwarze, Körper (Elpidio und Krissi beim Liebesspiel) (Abb. 6-9) wacht Julia auf, ohne dass der Zuschauer mit diesen spielerischen surrealen Vermischungen von Traum und Realität den Sinn dieser Bilder, bzw. die Bedeutung für die Geschichte(n) zu entziffern vermag.

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Abbildungen 6-9: Screenshots aus LA VIDA ES SILBAR

Die Geschichte von Mariana Währenddessen zieht die nymphomane Balletttänzerin Mariana im wahrsten Sinne des Wortes ihre männlichen Opfer der Begierde mit ihren Blicken aus (Abb. 10).

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Abbildung 10: Screenshot aus LA VIDA ES SILBAR

Und auch mit diesen Theatralisierungen entführt der Regisseur in eine surreale Phantasiewelt, die mit den filmischen Techniken – wie Parallelisierungen von Tanzpuppe, Fuß, Bohrer als sich drehende Elemente par excellence – produziert werden können. „Ein Moment des reinen und wahrhaften Glücks“ wäre es für Mariana, wenn sie im nächsten Ballettstück die Hauptrolle der Gisèle bekommen würde. Diese Entscheidung wird für ihre Zukunft eine entscheidende Rolle spielen. Nur aufgrund ihrer – von Carpentier als Voraussetzung für das real maravilloso gesetzten – fe31 ist es Mariana möglich, die Erfüllung ihres Wunsches, diesen Identitätswechsel, zu erbitten und von der Statue des gekreuzigten Christus zu erbeten. In einem ironischen Rekurs auf das un-heimliche faustsche Mythologem bietet sie statt ihrer Seele ihre Nymphomanie zum Tausch an – und wird dadurch ihren geliebten Ballettpartner Ismael ablehnen müssen.

31 „Pero es que muchos se olvidan, con disfrazarse de magos a poco costo, que lo maravilloso comienza a serlo de manera inequívoca cuando surge de una inesperada alteración de la realidad (el milagro) de una revelación privilegiada de la realidad, de una iluminación inhabitual o singularmente favorecedora de las inadvertidas riquezas de la realidad, de una ampliación de las escalas y categorías de la realidad, percibidas con particular intensidad en virtud de una exaltación del espíritu que lo conduce a un modo de ,estado límite‘. Para empezar, la sensación de lo maravilloso presupone una fe.“ (Carpentier 1987, S. 75.)

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Die Geschichte von Elpidio Der dritten Figur, die Bebé in ihrer Rolle als Fortuna beglücken möchte, hilft sie auch immer wieder, indem sie z.B., unter Wasser mit dem Zuschauer redend, für den angelnden Elpidio die Fische aufspießt (Abb. 11). Abbildung 11: Screenshot aus LA VIDA ES SILBAR

An anderer Stelle erklingt die Musik von Bola de Nieve und Winnie Moré, der in prekären Situationen als Erscheinung, als eine Art Schutzpatron, als mentale Resurrektion, Elpidio zur Seite steht. Aus einem Heißluftballon fällt ein Portemonnaie vom Himmel, das Elpidio an sich nimmt, während (der tatsächlich verstorbene) Moré ihm in einer Vision als moralischer Beistand erscheint. Wenig später lernt er Krissi, die Besitzerin der Brieftasche kennen und lieben. Die zu Beginn des Films in der Rahmenerzählung eingeführte Leiterin des Waisenhauses entpuppt sich als von Elpidio so bezeichnete Mama Cuba,32 die ihn später verlassen hatte. Während mit den Verknüpfungen zur Rahmenerzählung wichtige narrative Stränge zusammengeführt werden, finden gleichzeitig immer wieder Surrealisierungen kubanischer Koloration statt: So nimmt die karnevaleske Statue der Heiligen Barbara in Elpidios Zimmer die Figur

32 Immer wieder werden solche ambivalenten Wortspielereien – das zu Anfang erwähnte, als Bebé bezeichnete Baby, die auf das Land Kuba hinweisende Mama Cuba – benutzt, um den spielerischen Umgang mit der Sprache zu verdeutlichen und letztlich im dekonstruktivistischen Sinne ihre Arbitrarität zu entlarven.

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Bebés an und evoziert eine Mischung von Kult und Religion, Gegenwart und Zukunft, Fortuna und Schicksal, von Identifikation und Authentizität – bis nur noch ihre Hülle übrigbleibt (vgl. Abb. 12-15). Abbildungen 12-15: Screenshots aus LA VIDA ES SILBAR

Die gleichsam als Mama Cuba verehrte und gleichzeitig in der Rolle Bebés als Fortuna erscheinende Statue prophezeit Elpidio, dass Cuba ein Opfer von ihm erwartet und ihm ein Zeichen – es scheint zufälligerweise Mama Cubas eigenes Armband zu sein – schicken wird. Er verspricht im Zeichen des Kruzifix dieses zu tun. Und auch hier vollzieht sich das Ritual nur im Vertrauen auf seinen Glauben, seine fe. Im weiteren Verlauf des episodenhaften Filmplots tritt ein junger Mann in Erscheinung, dessen Glück, dessen favorisierte Aufgabe und Lebensinhalt es ist, Schnecken zu beobachten – weshalb Bebé humorvollerweise an ihm kein Interesse hat: „Für diesen jungen Mann bedeuten Schnecken das Glück. Aber an ihm habe ich kein Interesse.“ Diese groteske Eigenschaft kulminiert in dem surreal anmutenden Bild der Schnecken und des toten Fisches (Abb. 16), das wie schon das Bild Bravos oder des belgischen Surrealisten René Magritte aus einem surrealen Bildrepertoire entnommen sein könnte, jedoch zum kubanischen Alltag gehört.

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Abbildung 16: Screenshot aus LA VIDA ES SILBAR

Immer wieder spielt der Film nicht nur mit strukturellen Verstrickungen, sondern lässt auch – wie die mehrdeutige Statue – spielerisch die Identitäten verschwimmen und miteinander verschmelzen. Die Kamera schwenkt im Sinne buñuelesker Fallgruben auf einen Bienenschwarm, dann auf die schlafende Julia, so dass es wieder wie einer ihrer Träume erscheint, dann auf Bebé und fokussiert schließlich eine auf Marianas Dekolletée krabbelnde Biene (Abb. 17-20).

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Abbildungen 17-20: Screenshots aus LA VIDA ES SILBAR

Der narrative Faden scheint mit einer von Julia erzählten Geschichte aus ihrer Vergangenheit weitergeführt zu werden und Aufklärung zu versprechen, durchbricht jedoch auch hier die klassischen narratologischen Erzählstrukturen. Sie erzählt von einer Freundin, die in den Wald gefahren ist und wenig später schwanger ihr Dorf verlassen musste. Nach der Geburt setzt sie ihr Baby an einer Bahnstation aus und verschwindet. Im wegfahrenden Zug sehen wir Bebé...

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In Rekurrenz auf die bereits bei Borges angelegten Umkehrspiele, die die klassische Verbrechensaufklärung und die Erwartungen des Lesers ad absurdum führen, sieht sich der Zuschauer zwangsläufig vor verschiedene Fragen gestellt. Was ist in dem Wald passiert? Wer ist die Freundin? Wer das Baby? Ist Mariana vielleicht Julias Tochter? Welche Rolle spielt Bebé? Während der Arzt dann Julias Geschichte als ihre eigene zu entlarven meint, ringt sich Elpidio dazu durch, seine Statue bzw. sein(e) Cuba zu verlassen und bringt wieder einmal die Taktik der Parallelisierungen mit ins Spiel. Gleichzeitig wird das von den Surrealisten stetig verwendete Motiv des Doppelgängers, der Doppelungen und Spiegelungen evoziert,33 wenn die Protagonisten auf den verschiedenen Ebenen (aus Rahmen und Binnenerzählung) miteinander verschmelzen (Abb. 21, 22) und mysteriöse Taxifahrer als weitere Inkarnationen und Duplikate der Fortunafigur auftreten. Abbildungen 21 und 22: Screenshots aus LA VIDA ES SILBAR

Einer der Taxifahrer kündigt den 4. Dezember, den Feiertag der Heiligen Barbara,34 um 16.44 Uhr als schicksalsveränderndes Datum, als „ein Werkzeug des Zufalls“ an.

33 Vgl. zum Doppelgängermotiv bei Freud Bronfens Analyse; Bronfen, Elisabeth: Nur über ihre Leiche: Tod, Weiblichkeit und Ästhetik, Freiburg i.Br. 1994, S. 113f. 34 Symptomatischerweise wurde die Heilige Barbara, die gegen den Willen ihres Vaters zum Christentum konvertierte Märtyrerin, 1969 aufgrund fehlender Dokumentation aus dem Kanon der Heiligen wieder herausgenommen. Dies tat ihrer Verehrung gerade in Lateinamerika jedoch keinen Abbruch, sondern bestätigt – wie das Nebeneinander von Christentum und Voodookult – den hybriden Charakter ihrer Kulturen.

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Die letzte Geschichte: 4. Dezember, 16.44 Uhr An diesem Tag warten Krissi auf Elpidio, Ismael auf Mariana, der Doktor auf Julia – vergeblich. Auf dem Weg zum mysteriösen Treffpunkt spricht Julia im Taxi ihr schicksalhaftes Wort Sex aus, von dem sie mittlerweile geheilt wurde, mit der unerwarteten Konsequenz, dass diesmal der am Anfang zitierte Taxifahrer ohnmächtig wird und in einen Obststand fährt. Der Schneckenjunge seinerseits hält unversehens sein Fahrradtaxi an, um Schnecken zu betrachten. Beim großen Showdown entpuppt sich dann Elpidio als der Lockenjunge und Mariana als ein weiteres Mädchen aus dem Waisenhaus, Julia als die Mutter Bebés... Die aus der Zukunft erzählte Geschichte, um alle glücklich zu machen, endet mit einem kollektiven Pfeifen, denn auch das für das Jahr 2020 angekündigte Geheimnis heißt Pfeifen – weil das Leben so ist: Ein Pfeifen. Doch dann verwirrt noch einmal das Ende: Scheint doch Bebé ihr Vorhaben erfüllt zu haben, sieht man sie zu den Klängen aus dem Off von La vie en rose (in einer Version von Longuy und Edith Piaf) am Kay sitzen – doch unerwarteterweise nicht glücklich, sondern weinend.

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‚HYPERSPEKTAKULARITÄT‘/‚HYPERREALITÄT‘/‚VERISTISCHER SURREALISMUS‘. VERKÖRPERUNGEN/ ENTKÖRPERUNGEN: TRANSMEDIALES UND HYBRIDES PROTHESEN-THEATER: „PERIFÉRICO DE OBJETOS“: MONTEVERDI MÉTODO BÉLICO Klaus Pörtl zu seinem 60. Geburtstag herzlichst gewidmet

Die Gruppe „Periférico de Objetos“ Zu Beginn eine notwendige Bemerkung: Die Hauptschwierigkeit, mit der sowohl der Zuschauer einer Aufführung als auch der Wissenschaftler bei der wissenschaftlichen Beschäftigung mit Stücken der argentinischen Gruppe „Periférico de Objetos“ konfrontiert sind, ist, einen Zugang zum Gesehenen zu finden. Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Monteverdi método bélico1 und mit allen weiteren Stücken der Gruppe steht vor dem fast unüberwindbaren Hindernis, dass bisherige Beschreibungsinstrumente oder analytische Verfahren auch einer modernen Theaterwissenschaft versagen. Die Terminologie versagt und die Sprache erweist sich als unzulänglich, um diesen Stücken gerecht zu werden. So stehen wir hier vor einem doppelten Problem bzw. einer doppelten Aufgabe: Zunächst müssen wir einen eigenen Zugang zu den Stücken finden und den Gegenstand beschreibbar und zugänglich machen, dann müssen wir eine für diese Stücke geeignete Wissenschaftssprache bzw. Terminologie entwickeln, um nicht in eine herkömmliche theaterwissenschaftliche Sprache zurückzufallen. Denn Konzepte wie z.B. Schauspieler, Theater, Handlung, Theatralität, Darstellung werden obso-

1 „Periférico de Objetos“: Monteverdi método bélico, Video 2000.

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let. Diese müssen durch die von Agens und Spektakularität ersetzt werden. Die Gruppe „Periférico de Objetos“ wird 1989 von Daniel Veronese, Ana Alvarado und Emilio García Wehbi in Zusammenarbeit mit Alejandro Tantanián und Román Lama, fünf Mitgliedern des Puppentheaters des Teatro San Martín in der Calle Corrientes, gegründet.2 Sie deterritorialisieren ein Theaterkonzept für Kinder und sie reterritorialisieren dieses in einem Konzept eines Theaters der Grausamkeit, eines Prothesen- und Ver- bzw. Entkörperungs-Theaters. Dabei verwenden sie antianthropomorphe (antimimetische) Puppen, die einst bürgerliche, schöne Puppen waren, sich aber jetzt in einem erbärmlichen Zustand befinden; einigen fehlen Teile des Körpers, in der Regel sind die Kopfdecke und der Rücken offen, ihre Eingeweide werden gezeigt. Es handelt sich um wahre kleine oder überdimensionale Monster (vgl. Abb. 1 und 2). Abbildungen 1 und 2: Programmheft: Retrospektive

Die Funktion der Verwendung von ‚Objekten‘ (Puppen) ist evident: Eine Distanzierung des Zuschauers gegenüber dem Gesehenen und eine Dezentrierung von traditionellen Theaterformen wird angestrebt. Es sind Puppen als Instrumente einer neuen Spektakularität, die ein „espectáculo

2 Vgl. Tantanián, Alejandro: Un leviatán teatral. Un recorrido por la historia del „Periférico de Objetos“ en 8000 caracteres, o.O. 2002 und Veronese, Daniel: El teatro periférico, 1999/2000. Hierbei handelt es sich um das Manuskript eines Gesprächs mit Daniel Veronese, das im Dezember 1999 und im Januar 2000 stattgefunden hat.

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de objetos para adultos“ außerhalb des Standardtheaters in der Peripherie von Buenos Aires, in Babilonia, darstellt, um von dort aus einen neuen Weg einzuschlagen, eine neue Strategie zu entdecken und ein neues Territorium der Präsentation zu bewohnen. Diese experimentelle, rhizomatische und nomadische Arbeit, die zu einem Grundprinzip von „Periférico de Objetos“ gehört und auch von Pavlovsky und Kurapel seit den 70er und 80er Jahren praktiziert wurde, entspricht dem Konzept bzw. steht für die Ästhetik des ‚Peripheren‘, für das Oszillieren zwischen Aufbauen und Zerstören, Rekodifikation und Reinvention, für eine Ästhetik, die ein Netz von Elementen entfaltet, das einer ars combinatoria ähnelt, die man vom ersten Stück der Gruppe Ubu Roi bis hin zu Suicidio/Apócrifo 1 aus dem Jahre 2002 verfolgen kann, und die sich aus einem transspektakulären, intraspektakulären und autoreferenziellen Beziehungsgeflecht von Schnittstellen ergibt, was Veronese wie folgt formuliert: Esta es la forma periférica de encontrar la esencia de cualquier materia. Solemos adquirir objetos que después no nos sirven o son destrozados o transformados. Podemos trabajar durante mucho tiempo sobre ellos para solo abandonarlos después. Esta especie de ablandamiento material y mental nos permite poseer un basurero, no sólo de ideas sino también de objetos, que van formando parte de un stock permanente a los que recurrimos cuando la desesperación nos invade. En nuestros espectáculos hay muchos elementos utilizados y, creo finalmente, de manera orgánica que en realidad eran resabios de otras concepciones.3

Bei einer ehemaligen „grupo titiritero“ des San Martín ist es kein Zufall, dass ihre Arbeit im Jahre 1990 mit Ubu Roi (inspiriert von Jarry) beginnt, gefolgt von Variaciones sobre B. (bezogen auf Beckett, 1991), von El hombre de arena (ausgehend von Freuds Aufsatz „Das Unheimliche“ und E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann, von Daniel Veronese und E. García Whebi, 1992), Cámara Gesell (fußend auf den Arbeiten des Psychologen und Kinderarztes Arnold Gesell, von Daniel Veronese, 1993), Breve Vida (von Daniel Veronese, 1994), Máquina Hamlet (ausgehend von Heiner Müllers gleichnamigem Stück, von Daniel Veronese, Ana Alvarado und E. García Wehbi, 1995), Circonegro (von Daniel Veronese als Autor und Regisseur und Ana Alvarado, 1996), El Líquido Táctil (von Daniel Veronese, 1997), Zooedipous (inspiriert von Kafkas Werk, von Daniel Veronese als Autor und Regisseur, Ana Alvarado und E. García Wehbi, 1998), Monteverdi método bélico (von 3 Veronese 1999/2000.

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Veronese als Autor und Regisseur sowie Ana Alvarado und E. García Wehbi, 2000) und Suicidio/Apócrifo 1 (von Daniel Veronese als Autor und Regisseur und Ana Alvarado, in Zusammenarbeit mit Guillermo Arengo, Julieta Vallina und Alejandra Ceriani, 2002). Die Arbeiten der Gruppe „Periférico de Objetos“ befinden sich in einer Traditionslinie mit dem théâtre guignol, dem der fantoches und sonstigen bizzaren Figuren, in welcher der Körper, das Theater als Artefakt im Rahmen einer von Alfred Jarry, Artaud (théâtre de la cruauté)4 und Valle-Inclán (esperpento) gebildeten Avantgarde-Tradition zu ihrem Recht gelangen; einer Tradition, die von „Periférico de Objetos“ bis zu ihrer Unkenntlichkeit rekodifiziert und transformiert wird, so dass hier eine eigene Ästhetik zustande gebracht und über diese Tradition und jene von Adamov, Beckett und Ionesco hinausgegangen wird. Die Arbeiten von „Periférico de Objetos“ können durch folgende Verfahren beschrieben werden:  simultaner Einsatz von medialen Repräsentationsmitteln (Klang, Musik, Geräusche, verfeinerte Beleuchtung);  Tanz, Tanztheater, Oper; Madrigal;  Gegenständlichkeit, Diversifikation, Vermehrung und Vorherrschaft von Gegenständen (Puppen);  Rhizomatische Syntax, stete Wiederholung;  Mathematisierung der Bewegungen;  Distanzierungsverfahren;  Autorreferenzialität, Dekonstruktion;  Transtheatralität, Metatheatralität, Performativität, Spektakularität;  Rekodifizierung, Reinvention;  Fragmentierung, Minimalismus/Ökonomie (gestuell, körperlich, objektal, räumlich, zeitlich, szenisch, visuell);  Auflösung der Grenzen zwischen Autor, Regisseur, Schauspieler;  Obszönität, Gewalt;  Kommunikationslosigkeit;  Immobilität/Unberührtheit;  Einsamkeit/Anonymität;  Antimimesis, Antianthropomorphismus, Prothesen-Cyborg-Subjekt;

4 Artaud, Antonin: Le théâtre et son double, Paris 1964.

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 Ästhetik des Unheimlichen und der Grausamkeit;  Mikropolitik/Mikrofaschismus. All diese Elemente bilden eine neue Spektakularität, konstituiert durch unterschiedliche Konzepte eines nomadischen Theaters, eines Theaters 5 als Suche, als Prozess, in dem die tiefen Schichten des Subjekts und der Geschichte, des Lebens, der Gesellschaft, der Instinkte, der Macht, der Folter, der Liebe, des Begehrens und der Sexualität – ähnlich wie im Werk von Pavlovsky und Bacon (vgl. Abb. 3 und 4) – offenbart werden 6 und der Körper auf seine reine Materialität zurückgeführt wird.

5 Vgl. zu einer neuen Spektakularität seit den 70er Jahren und insbesondere seit den 80er Jahren Veronese 1999/2000 und Tantanián 2002. Siehe auch im Internet (www.analvarado.com/nota.htm, 28.6.2004) sowie Vf.: „Gli itinerari del teatro attuale: verso la plurimedialità postmoderna dello spettacolo o la fine del teatro mimetico-referenziale?“, in: ders./Massimo Canevaci (Hrsg.): La communicazione teatrale. Un approccio transdisciplinare, Rom 1993, S. 53-110 (Zusammenfassung und Erweiterung bereits veröffentlicher Beiträge sowie Behandlung neuerer Werke und Aspekte); Vf.: „Die Wege des zeitgenössischen Theaters: zu einem postmodernen Multimedia-Theater oder das Ende des mimetisch-referentiellen Theaters?“ in: Forum Modernes Theater, Jg. 2, Nr. 10 (1995), S. 135-183; Vf.: „Das postmoderne Theater von Eduardo Pavolovsky“, in: Maske & Kothurn, Jg. 38, Nr. 1 (1996), S. 69-94; Vf.: „Nuevas escenografías postmodernas en Alemania“, in: ders./Fernando de Toro (Hrsg.): Acercamientos al teatro actual. (1975-1995). Historia – Teoría – Práctica, Frankfurt a.M. 1998, S. 65-98; Vf.: „Überlegungen zu einer transdisziplinären, transkulturellen und transtextuellen Theaterwissenschaft im Kontext einer postmodernen und postkolonialen Kulturtheorie der Hybridität und Trans-medialität“, in: Maske und Kothurn, Jg. 45, Nr. 3-4 (2001), S. 23-69 und Vf.: „Reflexiones sobre fundamentos de investigación transdisciplinaria, transcultural y transtextual en las ciencias del teatro en el contexto de una teoría postmoderna y postcolonial de la hibridez e inter-medialidad“, in: Gestos, Nr. 32 (2001), S. 11-46. 6 Für das Verhältnis von Pavlovsky/Bacon vgl. ebd. und Vf.: „El teatro menor postmoderno de Eduardo Pavlovsky o el Borges/Bacon del teatro: de la periferia al centro“, in: Porotos, Buenos Aires 1999, S. 5-20; wiederabgedruckt in Gunia, Inke/Niemeyer, Katharina/Schlickers, Sabine/Paschen, Hans (Hrsg.): La modernidad revis(it)ada. Literatura y cultura latinoamericanas de los siglos XIX y XX. Festschrift für Klaus MeyerMinnemann, Berlin 1999, S. 506-519, und in Gestos, Jg. 16, Nr. 31 (2001), S. 99-110 und insbesondere Angehrn, Claudia: Territorium Theater, Körper, Macht, Sexualität und Begehren im dramatischen Werk von Eduardo Pavlovsky, Frankfurt a.M. 2004.

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Abbildung 3: Francis Bacon: Triptych inspired by T.S. Eliot’s poem „Sweeney Agonistes“ (1967) (Ausschnitt) Abbildung 4: Francis Bacon: Painting (1946) (Ausschnitt)

Einige Eingangsbemerkungen zu Hybridität – Transmedialität – Verkörperungen/Entkörperungen Ein bedeutender Teil des aktuellen Theaters bewegt sich innerhalb einer hybriden Spektakularität, die durch zwei zentrale kulturelle Größen der Transmedialität und des Körpers – im Sinne von Ver- und Entkörperungen – konstituiert wird, wobei gerade im Falle des Theaters der Körper als eine Handlungskartographie, als eine Projektionsfläche der Lust, der Perversion, der Folter, der Zerstückelung, als Quelle der Erinnerung, der Ausgrenzung, als postkoloniale und postmoderne Kartographie von Wissen, Macht, Sexualität und Begehren erfasst werden kann. Die Werke von Dramatikern oder Performern wie Kurapel in exiTlio in pectore – extrañamiento (1983), Mémoire 85/Olvido 86 (1986), Off-Off-Off ou sur le toit de Pablo Neruda (1986), Prometeo encadenado según Alberto Kurapel (1988), Guillermo Gómez Peña in Border Brujo (1990), Son of Border Crisis (1990), El Naftazteca (1995), Borderstasis (1998), The great mojado invasio. Part 2: The US-Mexico war (2001), Bernard-Marie Koltès in La nuit juste avant les forêts, Combat de nègres et de chiens, Eduardo Pavlovsky mit Último Match, Cámara lenta. Historia de una cara, Pablo und Paso de Dos sind gute Beispiele für die hybride Spektakularität, wo der Körper als eine Partitur, als ein Netz und Schnittstelle, als telegenes Medium fungiert und in das sich Emotionalität und Begehren einschreiben und als Ort der Konstruk-

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tion und Dekonstruktion des Subjekts funktionalisiert wird. Der Körper bietet sich als ein Laboratorium menschlicher Erfahrung und medialer Repräsentationen an.7 In besonderer Form ist die Theatergruppe „Periférico de Objetos“ aus Buenos Aires zu dieser Ästhetik und kulturtheoretischen Strategie der Hybridität in Werken wie Zooedipus, Máquina Hamlet, El hombre de arena, Cámara Gesell, Variaciones sobre B. und Monteverdi método bélico8 zu rechnen, wo Puppen, die, oft ungekleidet, teilweise beschädigt, verwendet werden, einen Blick in die innere Konstruktion ihres Körpers und ihres Gehirns zulassen, wodurch sie jegliche Anthropomorphisierung und Identitätsstiftung unterbinden. Die Puppen in „Periférico de Objetos“ stellen eine antimimetische, aufgesprengte, diskontinuierliche Verlängerung des menschlichen Körpers als eine Prothese bzw. Pseudo-Prothese dar, darin steckt kein Mimetismus. Weder der Agens noch die Puppe verstecken sich einer hinter dem anderen, wie dies im Marionettentheater üblich ist, das auf ein mimetisches Verfahren und letztlich auf eine Identifikation mit anthropomorphen Subjekten hinausläuft. Hier werden Puppe und Agens in ihrer Artifizialität offengelegt. Beide stellen sich als gegenseitige gebrochene 7 Kurapel, Alberto: exiTlio in pectore – extrañamiento, Mémoire 85/Olvido 86, Off off off ou sur le toit de Pablo Neruda, alle abgedruckt in ders.: 3 Performances Teatrales, Québec 1987; ders.: Prométhée enchaîné selon Alberto Kurapel/Prometeo Encadenado según Alberto Kurapel, Québec 1989. Gómez Peña, Guillermo: Border Brujo, Video 1990; ders.: Son of Border Crisis, Video 1990; ders.: El Naftazteca, Video 1995; ders.: Borderstasis, Video 1998; ders.: The great mojado invasion. Part 2: The USMexico war, Video 2001. Koltès, Bernard-Marie: (1988). La nuit juste avant les forêts, Paris 1988; ders.: Roberto Zucco. Suivi de Tabataba, Paris 1990; ders.: Combat de nègres et des chiens, Paris 1993; ders.: Dans la solitude des champs de coton, Paris 1994. Pavlovsky, Eduardo: Último Match, Buenos Aires 1967/1970; ders.: Cámara lenta. Historia de una cara, Buenos Aires 1978; ders.: Pablo, Buenos Aires1984/1986; ders.: Potestad. Buenos Aires 1986/1987; ders., Cerca, Buenos Aires 1988; ders.: Paso de Dos, Buenos Aires1989. 8 „Periférico de Objetos“: Ubu Roi, Video und Manuskript 1990; dies.: Variaciones sobre B., Video und Manuskript 1991; García Whebi, E./Veronese, Daniel: El hombre de arena, Video und Manuskript 1992; Veronese, Daniel: Cámara Gesell, Video und Manuskript 1993; ders.: Breve Vida, Video und Manuskript 1994; ders./Alvarado, Ana/García Wehbi, E.: Máquina Hamlet, Video und Manuskript 1995; Alvarado, Ana/Veronese, Daniel: Circonegro, Video und Manuskript 1996; dies./García Wehbi, E.: Zooedipous, Video und Manuskript 1998; dies.: Monteverdi método bélico, 2000; Alvarado, Ana/Arengo, Guillermo/Vallina, Julieta/Veronese, Daniel: Suicidio/Apócrifo 1, 2001; vgl. auch Veronese1999/2000.

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Pseudo-Prothesen, als Ausgangsmaterial für einander dar. Die Artifizialität des Agens ist doppelt, insofern dieser nicht schauspielert, nicht darstellt, er scheint für die Puppe da zu sein, diese in Bewegung zu bringen, also ihre Pseudo-Prothese zu werden. Damit verwandelt sich der Körper des Agens in Materialität und gleicht sich der Materie-Puppe an. So wird der Körper, bzw. die Materialität des Körpers, auf eine sehr absolute Art und Weise zum Material, Gegenstand und Medium in einem: Der Körper ist keine Maske, Metapher oder Sprache Dritter mehr. Diese Fähigkeit und Möglichkeit des Körpers, als reine Materialität zu agieren und sein eigenes Wissen zu produzieren, macht aus ihm ein privilegiertes Objekt der medialen Spektakularität, da es sich hier um eine Repräsentation des Körpers handelt, die einer ihm fremden (linguistischen) Sprachkonstruktion nicht untergeordnet ist. Wir haben es mit einer Körperstrategie als Spiel, Sinnlichkeit, Atem, Fleisch, Haut, Stimme (des Körpers), als ‚Körper-Schrift-Körper‘, als ‚Körper-Spektakularität-Körper‘, ‚Körper-Fleisch-Körper‘, ‚Körper-Bild-Körper‘, ‚KörperKlang-Körper‘, ‚Körper-Haupt-Körper‘, ‚Körper-Tier-Körper‘, ‚KörperPseudo-Prothese-Körper‘, Körper-Cyborg-Körper‘ zu tun. Die Verbindung ‚Körper-Tier-Körper‘ oder ‚Körper-Cyborg-Körper‘ wird evident, sei es durch das Behäuten der Puppen mit menschlicher Haut oder durch das Aufsetzen von Rattenköpfen bzw. durch die Armverlängerung des Schauspielers durch die Puppe und umgekehrt. In allen Arbeiten der Gruppe „Periférico de Objetos“ bevölkern die Objekte den Raum und bemächtigen sich seiner. Die kleinsten Bewegungen, Regungen, Emotionen werden durch die Bewegung eines Fingers oder durch die des Mundwinkels, einer Augenbraue mit mathematischer Genauigkeit zum Ausdruck gebracht. Die Objekte verwandeln den Agens in ein mediales Instrument, so verweisen Körper und Objekte stets auf sich selbst und thematisieren stets ihre Materialität und jene der Spektakularität, sie existieren für sich selbst nur im Augenblick ihrer Umsetzung und lassen sich kaum noch als metaphorische oder metonymische Artefakte verstehen - und deshalb befinden sich diese Stücke jenseits des viel diskutierten Begriffs der Theatralität.9 9 Siehe hier meine Definition von Theatralität; Vf. 2001 („Überlegungen zu einer transdisziplinären, transkulturellen und transtextuellen Theaterwissenschaft“), S. 51: „,Theatralität‘ kann daher nur relational zur Textsorte ‚Theater’ und den mit ihr verwandten Repräsentationsformen definiert werden. ‚Theatralität‘ wäre demnach eine Strategie der Produktion metonymischer bzw. metaphorischer theater-ähnlicher Situationen. Auf diesen metonymischen/metaphorischen Aspekt kommt es bei der Abgrenzung der Theatralität von anderen Repräsentionsformen an.“

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Die hybride Struktur des Körpers platziert ihn jenseits von Postmodernität und Postkolonialität und offenbart ihn als einen fragmentierten und entsemantisierten Signifikanten, als Schnittstelle der Ränder, als Performativität und Auto-Repräsentativität einer Kopie ohne Original, wo der Körper a priori nicht präfiguriert wird. Dieser stellt vielmehr einen unaufhörlichen Prozess von immer neu entstehenden Konstruktionen dar – im Sinne einer Bühne für unterschiedliche Lektüren und Kodierungen, von Flächen kultureller Narben. Die Beschreibung dieser Hybridität wird im Vordergrund des vorliegenden Beitrags am Beispiel von Monteverdi método bélico stehen, wo sich die Madrigale von Monteverdi, der Text von Torquato Tasso und die Arbeit der Gruppe „Periférico de Objetos“ an Schnittstellen treffen. An diesen Schnittstellen ereignen sich Dekonstruktionen und Konstruktionen der Begriffe Theater und Körper in ihren traditionellen Formen und Verwandlungen der Madrigale Monteverdis und des Textes von Tasso. Für das Verständnis der Analyse werden wir eine notwendige Begriffsklärung und einige theoretische Erläuterungen voranstellen, sodann eine kurze Einordnung und Beschreibung der Ästhetik der Gruppe „Peri10 férico de Objetos“ vornehmen, sowie auf Tassos Text und Monteverdis Madrigale eingehen. Der letzte Abschnitt der vorliegenden Untersuchung ist dem Stück Monteverdi método bélico vorbehalten.

Hybridität Mit dem Terminus Hybridität sind immer komplexe Systeme verbunden, die auf eine große Zahl von Modellen und Verfahren zurückgreifen. Wir haben mit den Begriffen ‚Differaenz‘ und ‚Altarität‘ versucht,11 die Strategien der Hybridität und ihre Ebenen zu beschreiben und zu unterschei10 Mit diesen theoretischen Aspekten und mit der Geschichte von „Periférico de Objetos“ habe ich mich in extenso beschäftigt in Vf.: „Corporización/Descorporización/Verkörperungen/Entkörperungen: Topografías de la hibridez: Cuerpo y Medialidad: El ‚Periférico de Objetos‘. Nuevos caminos de análisis espectacular“, in: ders. (Hrsg.): Espectacularidad: Hibridez – transmedialidad – Cuerpo, Frankfurt a.M. 2004 (im Druck), so dass ich hier nur kurz darauf eingehe. 11 Vgl. Vf. 2004 (im Druck) und ders.: „Jenseits von Postmoderne und Postkolonialität. Materialien zu einem Modell der Hybridität und des Körpers als transrelationalem, transversalem und transmedialem Wissenschaftskonzept“, in: Christoph Hamann/Cornelia Sieber (Hrsg.): Räume der Hybridität. Zur Aktualität postkolonialer Konzepte, Hildesheim/Zürich/New York 2003, S. 15-52.

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den. Im Allgemeinen können wir Hybridität als die Potenzierung der Differenz in einer Kartographie der spannungsvollen Anerkennung und Multiplizität bezeichnen, die auf mindestens sechs Ebenen zu unterscheiden ist:  Hybridität als epistemologische Kategorie;  Hybridität als wissenschaftstheoretische Kategorie, im Sinne von bzw. als Synonym zu ‚transversaler Wissenschaft’;  Hybridität als kulturtheoretische Kategorie, als Begegnung, Zusammenkunft von Kulturen, als kulturelle, ethnische, religiöse Vielfalt;  Hybridität als transmediale Kategorie, als Einsatz verschiedener Medien: Zeichensysteme (Internet, Video, Film, sonstige Kommunikationsformen, virtuelle Metropolen und Welten, Analog- und Digitaltechniken usw.), Ästhetiken (Literatur, Theater, Essay), Mischbereiche (Literatur/Internet, Theater/Video/Film/Installationen), Produkte (heterogene Gegenstände), Geschmackskulturen, Kunst (Malerei, virtuelles Design), Architektur, Wissenschaft (Naturwissenschaften, z.B. Molekularbiologie), Linguistik;  Hybridität als urbane Kategorie, als Organisationsform der Vielfalt: Städte, Unternehmen, Ökologie, Natur, Soziologisch-Gesellschaftliches, Religiöses, Politik, Lebensstil;  Hybridität als Territorium und Körper-Kategorie.

Hybridität – Theater – Transmedialität Von dieser minimalen Definition ausgehend sind das Theater oder vergleichbare Repräsentationsformen nicht ein hybrides Konstrukt per se, nur weil hier unterschiedliche mediale Systeme wie Sprache, Stimme, Bewegung, Körper, Szenographie zusammenspielen, aber höchst kohärent, effizient und funktional in einem integrierenden Konzept wirken können. Die simple Mischung von medialen Systemen innerhalb eines homogenisierenden Prozesses macht weder aus dem Theater, noch aus dem Film, noch aus dem Ballett ein hybrides Konstrukt. Denn das, was zunächst als hybrid gedacht war, geht in einem Prozess der Habitualisierung verloren. Typisch hingegen für performativ-transmediale hybride Repräsentationsformen sind Autonomie und Reibung der eingesetzten medialen Verfahren oder Systeme und eine metaspektakuläre Ebene, die mit den eingesetzten Mitteln spielt und diese bloßlegt, um eine Habitualisierung zu vermeiden. In der Theorie der Narrativik pflegte man im An-

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schluss an die russischen Formalisten solche Verfahren als „Verfremdung“ zu bezeichnen. Das Konzept von ‚Transmedialität‘ verstehen wir als die Transzendierung des eigenen habituellen medialen Standortes, als den Austausch unterschiedlicher medialer Möglichkeiten in einem Spannungsfeld. Abbildung 5: Szene aus Black Rider

Ein sicher bekanntes Beispiel dürften die Arbeiten von Robert Wilson wie etwa Cosmopolitan Greetings, Parsival auf der andern Seite des Sees, Orlando oder Black Rider (vgl. Abb. 5) sein,12 ein weiniger vertrautes Beispiel ist Kurapels Prometeo encadenado según Alberto Kurapel (vgl. Abb. 6), wo wir Film- und Diaprojektionen, Zoom-In, Fernsehmonitore, Malerei, unnatürliche und natürliche Geräusche usw. finden.

12 Wilson, Robert: Parsival auf der andern Seite des Sees, Programmheft 1987; ders.: Cosmopolitan Greetings, Programmheft 1988; ders.: Black Rider, Programmheft und Video 1990; ders.: Orlando, Programmheft und Video 1991.

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Das Präfix ‚trans-‘ weist zudem auf die Unabgeschlossenheit und auf den nomadischen Charakter des medialen Einsatzes hin. Abbildung 6: Szenen aus Prometeo encadenado según Alberto Kurapel

Die epistemologische Beziehung zwischen szenischer Repräsentation, Hybridität und Transmedialität liegt gerade in der Entgrenzung der traditionellen Theaterformen als Konsequenz einer radikalen Änderung von Konzepten wie Subjekt, Wirklichkeit, Darstellung, Schauspiel oder Schauspieler. Beide Strategien, Hybridität und Transmedialität, haben gemeinsam, dass sie an den medialen Schnittstellen operieren. Die ‚Transmedialität‘ ist nicht nur eine Instanz der Sinnproduktion, sondern sie ist auch eine Quelle der Metaspektakularität, Reflexion über das Artefakt Theater, über seine Möglichkeiten und Grenzen. Der Rekurs auf unterschiedliche mediale und autonom in Spannung bleibende Elemente macht die Autoreferentialität deutlich und betont die sinnliche Wahrnehmung des Theaters. Gerade „Periférico de Objetos“ unterstreicht das Objektale, das Gegenständliche im Theater.

Verkörperungen/Entkörperungen: Transmediales und hybrides Prothesen-Theater Die Kategorie Körper erfassen in der Komplementarität von Verkörperungen und Entkörperungen: Es handelt sich um Körperkonstruktionen

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an permeablen Grenzen zwischen Opfer und Täter (so z.B. auch im Werk von Eduardo Pavlovsky), Macht und Ohnmacht, Körperkonstruktionen und Körperauflösungen, Körper als Pseudo-Prothese oder als CyborgMachine. Der Körper erscheint als Agens und Ausgangspunkt für Sinnstiftung und -streuung, als konfliktiver Ort und als Ort des Aushandelns, der Faszination und des Terrors, wie wir in Combat de nègres et de chiens, La nuit juste avant les forêts von Koltès oder in Cámara lenta, Ultimo Match von Pavlovsky oder im bereits erwähnten Prometeo encadenado según Alberto Kurapel von Alberto Kurapel und in allen Werken von „Periférico de Objetos“ sehen können. Aufgrund der Erfahrung der Unmöglichkeit einer Erfassung der Wirklichkeit durch die Mimesis der Sprache als mediale Instanz wird der Körper zum Ausgangspunkt für die Erfassung von Wirklichkeit. Für die Analyse des Körpers als Verkörperung (Körpermaterialisierung) und Entkörperung (Körperentmaterialisierung) bieten sich die Konzepte des Unheimlichen von Freud, jenes der Figuralität und Repräsentabilität von Roland Barthes und das der Differenz und Wiederholung 13 von Gilles Deleuze an. Freud beschreibt in seinem Essay „Das Unheimliche“,14 wie das Geheimnisvolle, das Unfassbare und Unsagbare, das Nichtdarstellbare mit dem Unheimlichen und mit Angst verbunden ist. Das Unheimliche wird als das Heimliche, als etwas Gefährliches und Bedrohendes bezeichnet. Damit stehen das Unheimliche und das Heimliche nur scheinbar in Opposition, denn heimlich lebt von der Ambivalenz, vom Oszillieren zwischen Positivem und Negativem. Freud weist im Anschluss an E. Jentsch darauf hin, dass das Unheimliche sich aus der Kombination zwischen der Seele eines Menschen und der Belebung eines Objektes ergibt, also des Leblosen, wie etwa Wachsfiguren oder mechanischen Puppen, und hier verbindet er das Unheimliche mit den roboterartigen, spasmodischen und iterativen Bewegungen der Figuren, im Falle von Menschen, als Folge von Epilepsie und 13 Zu den Unterschieden zwischen meiner Verwendung von Verkörperung und jener von Katrin Kröll sowie zu einer eingehenden Behandlung dieser Themen vgl. Vf. 2004 (im Druck) und Kröll, Katrin: „Körperbegabung versus Verkörperung. Das Verhältnis von Körper und Geist im frühneuzeitlichen Jahrmarktspektakel“, in: Erika Fischer-Lichte/Christian Horn/Matthias Warstatt (Hrsg.): Verkörperung, Tübingen/Basel 2001, S. 91-110. 14 Freud, Sigmund: „Das Unheimliche“, in: ders.: Studienausgabe. Alexander Mitscherlich u.a. (Hrsg.), Frankfurt a.M. 1969-1979, Bd. 4 (1970), S. 241274.

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Wahnsinn. Bei gleichartigen Bewegungen lebloser Puppen und lebhafter Figuren (Menschen) würden die Grenzen zwischen beiden zerfließen, so dass der Betrachter nicht genau wisse, in welchem Falle es sich um eine Puppe oder um einen Menschen handele. Allerdings – so Freud weiter – bilde diese Ambivalenz nicht das Hauptinteresse des Zuschauers, dieser reflektiert nicht über den Unterschied, sondern nimmt sie betrachtend neutral hin.15 Das surrealistische Substrat wird also zu einer Hyperrealität des objektal Gegebenen. Gerade auf diesen von Freud beschriebenen Mechanismus (und weniger auf Hoffmanns Der Sandmann16) greift „Periférico de Objetos“ zurück, also auf jene Mechanismen, die sich hinter der fantastischen oder surrealistischen Repräsentation verbergen, um nicht den Wahnsinn in der Gesellschaft darzustellen, nachzuahmen oder zu interpretieren, sondern um diesen zu beschreiben, zu erschreiben, erstellen. Diese Strategie erweist sich als ein Basismerkmal im ganzen Werk von „Periférico de Objetos“ von Ubu Roi (1990) bis hin zu Suicidio/Apócrifo 1 (2002) sowie auch Alejandro Tantaniáns Carlos W. Saénz (1956- ).17 So finden wir zwei Arten von gesellschaftlichem Wahnsinn, jene, die durch die Diktaturen, durch die Korruption, Unverantwortlichkeit, Indolenz und Gleichgültigkeit sowohl der herrschenden politischen Klasse als auch der Gesellschaft insgesamt, die den Politiker tun ließ, produziert wird, wie Tantanián in einem Workshop mit dem Publikum am Freitag, den 23. Mai 2003 im Hebbel-Theater in Berlin eindrucksvoll formulierte, und jene des Einsatzes von leblosen Puppen, die die Darstellung von menschlicher Handlung ersetzen. Die Puppen zeigen in „Periférico de Objetos“ die Entfremdung, Degradierung und Verdorbenheit einer im Chaos begriffenen Gesellschaft am Rande der Apokalypse, die jegliche Mimesis und Darstellbarkeit überschreiten. Daher meint der Begriff „Periférico de Objetos“ eine Ästhetik des Unheimlichen, der Grausamkeit, des Horrors, des Ungewissen eines théâtre mineur im Sinne Deleuze’. Eng verbunden mit dieser Strategie des Unheimlichen sind vor allem jene Begriffe der figuration und représentation im Kontext von Roland Barthes’ Argumentation in Le plaisir du texte,18 der eine grundlegende

15 Vgl. ebd., S. 250f. 16 Vgl. Hoffmann, Ernst Theodor Amadeus: Nachtstücke. Der Sandmann. Mit einer Studie Anatomie des Sandmanns von Günter Hartung, Leipzig 1984. 17 Tantanián, Alejandro: Carlos W. Saenz (1956- ), Video 2003. 18 Barthes, Roland: Le plaisir du texte, Paris 1973, S. 88ff.

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Unterscheidung vornimmt, die zu unserer Unterscheidung zwischen ‚präsentationaler Spektakularität‘ (antireferentiell, antimimetisch) und ‚repräsentationaler Spektakularität‘ (referentiell, mimetisch) äquivalent ist. Erstere definiert Barthes als das Erscheinen eines (erotischen) Körpers, gleichgültig, in welcher Konkretisierung (ein Autor z.B. kann als fiktive Figur, nicht aber als biographische Persönlichkeit in seinem Text erscheinen, etwa wie Borges oder Hitchcock), wodurch sich diese Figuren als Körper der Mimesis entziehen würden, v.a. durch eine diagrammatische, also gestual-räumlich-dynamische Strukturierung der Körpergestalt. Diese Körpergestalten können z.B. als Fetische (Puppen) und an erotischen Orten vorkommen (Bordell, sexuelle und obszöne Akte), wie dies in Monteverdi método bélico der Fall ist. Die Repräsentation hingegen wird von anderen Sinnkonstellationen erdrückt, die sich jenseits von Körper und Begehren befinden, und liefert eine Art Vorwand für die Mimesis, für die Darstellung einer moralisierten Wirklichkeit, für Ähnlichkeit, Lesbarkeit und Wahrheit. Mit dem Unheimlichen und der Figuration steht die Kategorie der Verkörperung in engster Verbindung. Verkörperung meint historisch zunächst die Verkörperung einer Rolle. In der neuen Theaterforschung spricht man von einem zweiten Typus der Verkörperung. Damit wird das Zurschaustellen des Körpers des Schauspielers als Körpermaterial, als Körper-Agens gemeint. Der Schauspieler ist Träger dieses Körpers, der Körper ist der wirkliche Agens, wie etwa in Pavlovskys Paso de dos wo der Hombre und die Mujer, besser gesagt, ihre Verkörperungen sich in einem Kampf um Leben und Tod befinden, wo die fragile Nacktheit von Susana Evans mit der Massivität von Pavlovskys Verkörperung kontrastiert. Der Körper verkörpert sich selbst. Dieser Typ von Verkörperung ist antimimetisch, produziert keinen metaphorischen und keinen metonymischen Sinn mehr, sondern Verkörperungen und stellt das dar, was Artaud in seinem Théâtre et son double (1931-1938) als erster mit großer theoretischer Genauigkeit formulierte und was z.Z. völlig in Vergessenheit geraten zu sein scheint: Das Hauptmaterial des Theaters ist der Körper, dieser ist das Theater an sich. Die Verkörperung verwandelt den Körper in einen Signifikanten, der sich im Augenblick der Produktion selbst hervorbringt. Heiner Müller leitet in Hamlet Machine19 diesen zweiten Verkörperungs-Typ in Richtung des dritten Typs, als er die Darstellung von Hamlet eliminiert, wenn er sagen lässt: „Ich war Hamlet. [..] Ich bin

19 Müller, Heiner: Hamlet Machine, Köln 1977/1978

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nicht Hamlet. Ich spiele keine Rolle mehr.“20 Der Körper ist hier ‚Präsentialität‘ (pure Gegenwärtigkeit) und keine ‚Repräsentationalität‘, d.h. keine Metapher, keine Metonymie, keine Allegorie, kein Zeichen der Analogie oder Ähnlichkeit einer antropomorphen Figur. Heiner Müller zwingt uns – wie Jarry am Ende des 19. Jahrhunderts –, die Kategorie Körper umzudenken. Nach den Worten des Darstellers von Hamlet hat sich der Körper von der Rolle und vom Schauspieler gelöst und wird nicht mehr darstellbar. Damit platziert sich die Müller’sche Kategorie der Verkörperung des Körpers als Materie an der Schnittstelle zu einem Verkörperungsbegriff der sich selbst abschafft und ‚Entkörperungen‘ produziert. Wir haben hier mit einer zunächst rhetorischen konstituierten Entkörperung zu tun. Ein zweiter Typus der Verkörperung, eng verbunden mit dem der Entkörperung, ist der, den wir in „Periférico de Objetos“ vorfinden, der nichts mit dem ersten Typus gemeinsam hat und sich jenseits des zweiten Typus befindet, insofern es sich nicht um szenische, sagen wir, um wie auch immer geartete theatralische Verkörperungen handelt. In „Periférico de Objetos“ bedeutet dieses Umdenken die Verkörperung einer vollständigen Körperentmaterialisierung, also eine Entkörperung, nicht nur der Rolle zugunsten des Schauspielers, sondern die Eliminierung des Faktors Fleisch aufgrund der Unmöglichkeit seiner verkörperten Darstellbarkeit. Nun zeigt die Entkörperung den Körper als zermartert, zerstückelt, gefoltert, auseinandergerissen, und hier treten die Puppen in „Periférico de Objetos“ als Entkörperung an die Stelle der Verkörperung. An der Schnittstelle zwischen dem aufgelösten Körper des Schauspielers, der jetzt ein bloßer Agens ist, und der Puppe, der Pseudo-Prothese, entsteht eine beidseitige spektakuläre Körperprothese. Die Prothese ist hier nicht extern, sie ist inhärent, daher als Cyborg-Körper unzertrennlich, so beginnt der Körper sich selber durch unzählige differente Wiederholungen zu produzieren und zugleich ein anderes Konzept von Körper und dessen eigene Inszenierung, Transmutation sowie eine andere Epistemologie von Körper hervorzubringen,21 die mit der medialen und damit von der Wahrnehmung zunehmend geprägten postmodernen Gesellschaft zusammenhängt.

20 Ebd., S. 11, 17. 21 Vgl. Vf. 1993; Vf. 1995; Vf. 1996; Vf. 1998; Vf. 2001 („Überlegungen zu einer transdisziplinären, transkulturellen und transtextuellen Theaterwissenschaft“); Vf. 2001 („Reflexiones sobre fundamentos de investigación transdisciplinaria, transcultural y transtextual en las ciencias del teatro“) und Vf. 2004 (im Druck).

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Die hier verwendeten Konzepte der Verkörperung und Entkörperung bedeuten nicht nur etwas anderes als Körper im Sinne eines traditionellen semiotischen Zeichens oder als die Vorherrschaft des Körpers gegenüber der Rollendarstellung, sondern eine wesentliche Radikalisierung. Denn die in „Periférico de Objetos“ verwendete Verkörperung und Entkörperung bringt die Kategorie Körper an die Grenze der Repräsentation und der Körper wird zu einem Objekt, zur Materie, wie wir es etwa auch in Cámara Gesell oder in Máquina Hamlet erleben. Insofern geht das Konzept von „Periférico de Objetos“ über das théâtre de la cruauté Artauds und Heiner Müllers Hamlet weit hinaus. Zusammenfassend können wir Verkörperung und Entkörperung wie folgt näher umschreiben:  beide Konzepte sind antimimetisch, antirepräsentational und antireferentiell;  beide Konzepte sind präsentational und autoreferenziell;  Verkörperung meint die Inszenierung des Körpers als Material, als Arbeit an der Anatomie, am Fleisch, an allen Teilen, auch genitalen Teilen des Körpers und an intimen Akten;  Entkörperung meint die Entfleischung, Transformation des Körpers in Objekte und den Austausch des Körpers durch Objekte;  Cyborg-Körper meint die weitere Radikalisierung der Entkörperung und das Entstehen eines neuen Körperkonzeptes, auch in Verbindung mit neuen Technologien und mit Maschinen, wobei eine eigene ästhetische, gesellschaftliche und politische Funktionen verfolgt wird.

Ästhetik und Poetik der ‚Hyperspektakularität‘, der ‚objektalen Hyperrealität‘ und des ‚veristischen Surrealismus‘ Aus diesen Konzepten von Körper ist auch die Gruppenbezeichnung periférico abzuleiten, als Schnittstelle, als „borderland“22 von Körper-Gegenstand-Maschine-Mikrochip, von Wirklichkeit und Fiktion sowie von Kunst und Politik. Die Prothese geht in ein Cyborg-Konstrukt über, insofern Körper und Prothese trotz der Autonomie der Systeme – Technik/Fleisch/Knochen – nicht mehr trennbar sind und Teil der Identität der Agens und der Puppen werden. Die Arbeiten von „Periférico de Objetos“ als Prothesen-Cyborg-Theater stellen eine ironische und blasphemische 22 Anzaldúa, Gloria: Borderland/La Frontera: The New Mestiza, San Francisco 1987.

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Behandlung des Körpers als soziale und fiktionale Realität dar,23 die den privilegierten Status des Subjekts hinter sich lassen und dem Zuschauer erlauben, seine eigene tabuisierte, angstdurchdrungene und unaussprechbare Wirklichkeit, sein Dasein zwischen Leben und Tod zu erleben bzw. zu erfahren. Das Undarstellbare des Folterns und der Zerstückelung wird durch eine Fiktionalisierung (durch Ver- und Entkörperungen) präsentiert und wird in der emotionalen Realität des Zuschauers reterritorialisiert: Nosotros intentamos utilizar los objetos en aquellas circunstancias en las que el teatro de actores no funcionaría con la misma fuerza. Mostrar aquello que para el teatro de actores es imposible. Sucesos que tienen más que ver con un universo plástico, propio de los elementos, imposible de reproducir por el hombre, que resonaría falso con un cuerpo humano. Artificio e ilusión expuestos, sin ninguna aspiración realista. Una artificialidad que se trabaja y se exhibe sin pudor a los ojos de un público que nunca creerá que eso sucede realmente, ya que se trata de objetos, pero emocionalmente será partidaria de lo que ve. Si de por sí ver estos objetos moverse en un espectáculo produce la sensación herética de lo siniestro, agreguemos que en El hombre de arena hablábamos de la muerte. Según palabras del público el resultado era aterrador. La gente no podía soportar verlo, pero al mismo tiempo no dejaba de verlo. Como si, a pesar de la necesidad de salir corriendo de la sala, una fuerza los mantenía sujetos a la platea. Poder animar algo que no tiene vida produce esa fascinación, creo, tan difícil de igualar. Es conocer algo sobre la muerte. El público necesita ver algo sobre la muerte aunque lo rechace. Y ver esos objetos moverse es conocer algo sobre ese tema, esto es indudable. La muerte es su estado natural, no deben 24 actuarla como si debería hacerlo un actor.

Wir haben eine Ästhetik und eine Poetik der ‚Hyperspektakularität‘, der ‚objektalen Hyperrealität‘ bzw. eines ‚veristischen Surrealismus‘ (dazu später mehr), eine Ästhetik des Oszillierens zwischen Mensch, Maschine und Tier (so in Hamlet Machine, aber ganz offensichtlich in dem letzten Werk Suicidio/Apócrifo 1) vorliegen, die eine undefinierbare, unheimliche Welt der Intimitäten, Promiskuitäten, der Gewalt, Macht, Liebe,

23 Vgl. Haraway, Donna: „A Cyborg Manifesto: Science, Technology and Socialist-Feminism in the late Twentieth Century“, in: dies. (Hrsg.): Simians, Cyborgs and Women. The Reinvention of Nature, New York 1991, S. 149181, hier S. 149. Siehe auch im Internet unter http://www.stanford.edu/ dept/HPS/Haraway/CyborgManifesto.html, 01.12.2003. 24 Veronese 1999/2000.

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Erotik, des Begehrens, der Sexualität, Degradierung, Folter und des Todes schafft. Hier ist der Ort einer Multiplizität, die über bloßen Ästhetizismus hinausgeht, einer Strategie der Falte als Methode für ein Theaterkonzept der gestual-prothetischen Mikropolitik, das die Subjektkategorien in Frage stellt, zerstört und neu konzipiert auf der Grundlage der Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, zwischen Täter und Opfer, Individuum und Gesellschaft, zwischen Individuum und Staat, aber nicht, um ein neues altes Subjekt, sondern um ein hybrides Subjekt – teils Fleisch, teils Prothese – entstehen zu lassen. Beide Instanzen, hier etwa der Agens und die Puppe sind voneinander abhängig, was sich im Verfahren der Wiederholung und Differenz, der Verlängerung und Dissoziierung niederschlägt. Der Agens ist kein Schauspieler, kein Interpret (Darsteller) oder Übersetzer, auch kein Übermittelnder, er steht nicht im Dienste der Puppe; beide, Agens und Puppe, konfigurieren sich gegenseitig, treten in Aktion, wenn sie in Berührung kommen. Hier besteht keine Anpassung, Harmonie oder Äquivalenz, sondern Hybridität, permanente Spannung. Die prothetische Puppe entblößt und kehrt die Puppe aus dem théâtre guignol um, weil sie ihre Nacktheit, ihre Eingeweide, ihre Drähte und Gelenke, ihre Amputierungen zeigt. Es handelt sich um eine PseudoProthese, denn ihrerseits braucht sie eine Prothese: den Agens. Dieses ambivalente und spannungsgeladene Verhältnis zwischen Puppe und Agens im Kontext des Verhältnisses Subjekt und Politik/Staat/Gesellschaft bedeutet eine politisch geladene Spektakularität im Sinne von Foucault, Deleuze und Pavlovsky. Das Subjekt und der Andere (etwa der Staat) fungieren als gegenseitige Agens und Prothesen, die eine stete Deformation und Dissoziierung bewirken, welche wir als Entfremdung, als Verfremdung bezeichnen können und die auch einen bestimmten sozio-politischen-kulturellen-künstlerischen Augenblick enthält, der historisch einen möglichen Neuanfang für das Theater in Buenos Aires nach 1983 bedeutet. Das Hybride zeigt sich ferner darin, dass zwischen der MonsterPuppe und dem Agens-Manipulator keine Vermittlung besteht, sondern es findet ein Kampf ums Überleben statt, es geht um Herrschaft oder Niederlage in unterschiedlichen Räumen: Ein kleiner Sarg, ein Grab, ein Schrein, ein Tisch, eine Vitrine, ein Koffer fungieren als Pseudo-Prothesen der Bühne. Diese Pseudo-Bühnen sowie die Agens sind bloße Zitate, letztere eigentlich klinische Beobachter. So entsteht ein Zwischenraum, ein virtueller Raum. An der Schnittstelle, die ein syntaktisches Netz zwi-

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schen Puppen, Agens und unterschiedlichen Räumen bildet, werden die Brüche, die Widersprüche ausgedrückt. Die Grenzen zwischen Körper und Objekt, zwischen Körper und Prothese lösen sich auf und verwandeln sich in eine Cyborg-Struktur. Wir haben es mit einer Subjektivierung der Objekte und einer Objektivierung der Agens zu tun. Den Ausgangspunkt für diese Ästhetik und Poetik bildet die Frage, wie eine undurchdringbare und unsagbare Welt der Diktatur und Nachdiktatur dargestellt, also interpretiert werden kann. Diese Frage ist mit der Formulierung Adornos vergleichbar, dass in Deutschland nach Auschwitz keine Lyrik mehr geschrieben werden könne. Die Referenten stehen also nicht mehr zur Verfügung. Daher präsentiert „Periférico de Objetos“ weder metaphorisch noch metonymisch den Terror der Diktatur in Argentinien, sondern vielmehr die Unmöglichkeit ihrer Darstellbarkeit: Creo que estaba en juego de alguna manera, la actitud de jugarse la vida ya que los asesinatos aún existían, existían las amenazas a los artistas (y a los que no eran artistas por supuesto), los secuestros, los fusilamientos en la calle camuflados como enfrentamientos armados. Y así el primer „Teatro Abierto“ terminó fatalmente con una sala de teatro incendiada. Balbucear los terrores. No dejará de ser una manifestación política. 25 Toda decisión estética es una decisión política.

„Periférico de Objetos“ präsentiert uns auch die Welt der Maschine, die immer mehr unsere natürliche Welt übernimmt, gerade im Bereich der Sexualität, wie es in Cámara Gesell gezeigt wird, wo Tomás, der von Laura Yúsem verkörpert wird, Sex mit einer Puppe namens Amanda, der ‚Geliebten‘ seines Vaters, haben will. Der Körper-Prothese-Cyborg bringt den Menschen an die Grenzen des Menschseins und beginnt als Maschine einen neuen Produktionsprozess am Abgrund zur Apokalypse, womit das Scheitern der Menschheit in Auschwitz, Brasilien, Chile, Argentinien und anderswo thematisiert wird, und das Scheitern der Mimesis und der Darstellbarkeit offengelegt, jegliche identitäts- und illusionsstiftende oder naive Darstellung zunichte gemacht wird, gemacht werden muss. „Periférico de Objetos“ verabschiedet sich von einem logo- und phallozentrischen, harmonisierenden und heterosexuellen, hegemonialen und darstellenden Konzept von Kultur.

25 Veronese 1999/2000.

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Das Theaterkonzept von „Periférico de Objetos“ kann zunächst verstanden werden als radikalste Permeabilisierung der Grenze zwischen Körper und Maschine, zwischen Darstellbarkeit und Dargestellten, Realität und Fiktion – ohne die Grenze auszulöschen –, oder anders formuliert, als die Etablierung dessen, was man Fiktion zu nennen pflegt, als Wirklichkeit. Das Theater wird zur einzigen konkreten Wirklichkeit, zur Hyperrealität im Sinne Baudrillards, und steht in der Tradition von Artaud: „faire du théâtre une realité à laquelle on puisse croire, et qui contienne pour le cœur et les sens cette espèce de morsure concrète que comporte toute sensation vrai”.26 Es geht bei „Periférico de Objetos“ wie bei Artaud darum, das Theater als absolute Realität durchzusetzen: „toute création vient de la scène, trouve sa traduction et ses origines même dans une impulsion psychique secrète qui est la Parole d’avant les mots“.27 So verwandelt sich das Theater in ein Untersuchungsinstrument der Tiefe und des Verborgenen: „c’est le replacer dans son aspect religieux et métapysique, c’est le réconcilier avec l’univers“, „dans la rue“28. Was Artaud die cruauté nennt, ist das, was Freud das Unheimliche nennt, ein Hauptthema in El hombre de arena (aber immer eine Basisästhetik aller Arbeiten von „Periférico de Objetos“), das palimpsestische Substrat von E.T.A. Hoffmanns Der Sandmann und Freuds Essay „Das Unheimliche“, woraus auch das wahre Politische hervorgeht: La obra terminó representando un terrible aquelarre, un ritual de entierro y desentierro de personajes (muñecas antiguas también, manipuladas en este caso por cuatro viudas) que pugnaban por aparecer en la superficie de una gran caja de tierra que oficiaba de escenario. La lectura que producía en el público argentino era unívoca. Los muertos querían aparecer a la luz para contar su historia. Si bien había en todos nosotros una necesidad política personal de exorcizar ciertos temas relacionados con la represión militar, ésta no estuvo presente a la hora de preparar el trabajo. Pero obviamente en nuestro país la obra fue leída como una obra sobre los desaparecidos por la dictadura. Nosotros, sin habernos propuesto hablar específicamente del tema, logramos una síntesis poética, creo que imposible de lograr si la idea hubiera estado delante de la forma. Simplemente dejamos vagar nuestros fantasmas sobre lo siniestro. Y es imposible que en la Argentina determinados signos no se lean de esa manera; siendo lo siniestro

26 Artaud 1964, S. 133. 27 Ebd., S. 91 28 Ebd., S. 108, 132.

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ALFONSO DE TORO un elemento con el cual convivimos durante años. El resultado no 29 fue panfletario. Ese fue creo el mayor logro del trabajo.

„Tout ce qui agit est une cruauté. C’est sur cette idée d’action poussée à bout, et extrême que le théâtre doit se renouveler“30 schreibt Artaud, was sich bei Veronese in einer konkreten Materialität niederschlägt: Se podría decir que en muchos casos lo importante de un material es la actitud, el gesto de lo creativo. La construcción de patrones formales a partir de estilizaciones, de manipulaciones de fragmentos de la realidad tal como es. La pérdida del personaje positivo, la profundización de la visión negra del 31 mundo, la manifestación del mal en lo cotidiano.

Es ist diese „visión negra“ oder die cruauté, das Unheimliche, die sich aller Bereiche bemächtigt und den Terror plastisch offenlegt. Der Müll der Menschheitsgeschichte, der familiäre Kryptofaschismus (Pavlovsky) ist das Thema von „Periférico de Objetos“. Die Inszenierung des Unheimlichen manifestiert sich in der Unbeweglichkeit und Starrheit des Blicks, in der Kommunikationslosigkeit, in den prothetischen Cyborg-Beziehungen, in den Fragmentierungen, in den Mikroaugenblicken, in den Wiederholungen, in der Eliminierung einer Diegesis und eines Plots. Wir haben oben auf die unheimliche Beziehung Agens/Puppe verwiesen und auf eine politische, kulturelle und künstlerische Stunde Null nach 1983, aus der ein virtueller Zwischenraum entsteht, die periferia als Ausgangspunkt einer neuen Spektakularität, einer Subversion gegen den herrschenden Kanon, als Destruktion und Konstruktion eines neuen Subjekts, einer neuen Identität, als Ort des Horrors und der Konstruktion eines neuen Körpers und bewohnbaren Raumes. Diesen virtuellen Zwischenraum nenne ich ‚Hyperspektakularität‘, ‚Hyperrealität‘ bzw. ‚veristischen Surrealismus‘, da hier nicht dargestellt wird, sondern das, was man sieht, ist: „Ceci n’est pas une pipe“ (vgl. Abb. 7).

29 Veronese 1999/2000. 30 Artaud 1964, S. 132. 31 Veronese 1999/2000.

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Abbildung 7: René Magritte: La Trahison des images (1928) (Ausschnitt)

Im Falle von „Periférico de Objetos“ befinden wir uns jenseits des Sagbaren. Die Autoreferentialität und Gegenständlichkeit tragen zu jener Hyperrealität bei, die durch eine vorzügliche und fast unmerkliche Technik der ‚Manipulatoren‘ unterstützt wird. Die Puppen scheinen ein eigenes, vom Manipulator unabhängiges, Leben zu haben, bis die Manipulatoren selbst die Abhängigkeit, die Manipulation offen legen. Bewegung und Blick des Manipulators werden eingefroren, dennoch bleiben die Puppen in Bewegung, in einem Kampf um die Vorherrschaft der Autonomie und des Raumes. So verwandelt sich die Prothese-Puppe in ein Subjekt und das Manipulator-Subjekt wird zu einer Pseudo-Prothese der Puppe. In beiden Fällen wird der kinesische Gestus zum Hauptagens und zum Hauptanliegen der Arbeit, er ist Blick- und Verdichtungspunkt. So geht das Gezeigte von einer Habitualisierung oder einer andeutenden Illusion zu einer Dekonstruktion und Bloßlegung des Gesehenen über. Die Habitualisierung vollzieht sich durch Wiederholung, durch immer wiederkehrende Unterbrechungen. Die eingefrorenen Bewegungen und Blicke bewirken und weisen auf eine brutal unterdrückte emotionelle, psychische und gewalttätige Spannung, die oft durch ein starkes Schnaufen ausgedrückt wird. Diese Spannung sowie die Entspannung werden durchaus vom Publikum miterlebt, das Publikum ist zwischen dem Gefühl der Unerträglichkeit und der Faszination dieses neuen Spektakularitätskonzeptes gespalten. Das, was das Publikum in dem espacio espectacular (im Arbeits- bzw. Präsentationsraum) sieht und erlebt, entsteht im Augenblick selbst, und das Gesehene ereignet sich vor der Sprache und befindet sich jenseits der Sprache, an der Schnittstelle zwischen Gestus, Körper und Prothese, wo eine stete Proliferation der Gegenstände und der Bewegungen stattfindet:

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ALFONSO DE TORO Trabajo desde la forma. Forma e idea. Dos ejes de una misma maquinaria. Obviamente al trabajar con objetos nuestro trabajo es eminentemente formal. La forma como idea. Hay un discurso plástico-dramático determinante en los trabajos casi más 32 importante que el discurso lógico de las palabras.

Dies ist es, was Barthes in der Tradition Artauds eine „écriture à haute voix“ bzw. „écriture vocale“ nennt, was nicht Teil des Systems der parole ist, sondern eines phonischen, musikalischen Systems.33 Auch die Musik wird bei „Periférico de Objetos“ nach dem Prinzip der Hybridität eingesetzt, sie bleibt autonom, irritiert und will keine Emotionen transportieren, figurale Bilder produzieren oder unterstützen, sondern „incidents pulsionnels“, oder „estados/situaciones de intensidad“, wie es Barthes und Pavlovsky formulieren. Der Körper, so Barthes, agiert als „langage tapissé de peau“, als „volupté des voyelles/ stéréophonie de la chaire profonde“34. Nun erweitert „Periférico de Objetos“ dieses Konzept, insofern Puppen mit Menschenhaut und Menschen mit Puppenmaterial bedeckt werden. Es handelt sich um die Präsentation eines Materialienspiels: „déporter le signifié très loin et à jeter, pour ainsi dire, le corps anonyme de l’acteur dans mon oreille: ça granule, ça grésille, ça rape, ça copue, ça jouit“35.

Monteverdi método bélico Einführende Bemerkungen In dieser Arbeit von „Periférico de Objetos“ aus dem Jahre 2001 kommen mehrere Medien zusammen: Zunächst etwas wie Theater, dann zum zweiten der Canto XII aus Torquato Tassos (1544-1595) La Gerusalemme liberata; zum dritten Musik aus der Renaissance mit L’ottavo libro de Madrigali: Madrigali guerrieri aus dem Jahre 1638, darunter insbesondere das 8. Madrigal-Buch über Combattimento di Tancredi e Clorinda von Claudio Monteverdi (1567-1643). Bei La Gerusalemme liberata handelt es sich um ein Volksepos aus der italienischen episch-heroischen Dichtung, bestehend aus zwanzig Gesängen, weitgehend zwischen 1570-1575 entstanden, die eine vom Autor nicht autorisierte erstmalige Ausgabe in Buchform im Jahre 1580 32 33 34 35

Veronese 1999/2000. Vgl. Barthes 1973, S. 104f. Ebd. Ebd.

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erlebten, definitiv dann 1581 veröffentlicht wurden und eine fulminante Verbreitung mit mehreren Ausgaben und Übersetzungen erfuhren. Das Werk hat seinen Ausgangspunkt in der türkischen Invasion Europas, die als eine große Gefahr für das Abendland gesehen wurde. Seinen Ruhm mag das Werk u.a. der Einführung einer neuen Gattung und dem meisterhaft gelungenen Wurf, ein christliches Epos der Neuzeit darzustellen, verdanken. Das Epos stellt eine Auseinandersetzung zwischen zwei Systemen dar, zwischen dem Christentum und dem Islam, und hat konkret den Beginn des ersten Kreuzzuges zum Darstellungsgegenstand. Tasso ringt in seinem Werk mit einer vom Neoaristotelismus geforderten unità einerseits und dem Renaissance-Drang nach varietà andererseits, bzw. mit der Horazischen Forderung nach docere und delectare. Diese Spannung schlägt sich in einer nach dem Prinzip des Oxymorons konzipierten Handlungsvielfalt nieder. Von den vielen Handlungen und Ereignissen möchte ich im Kontext unseres Untersuchungsgegenstands nur jene von Tancredi und Clorinda kurz kommentieren. Wie bekannt, steht Gottfried von Bouillon, im Epos Goffredo genannt, im Zentrum der Erzählung, er ist der Anführer des ersten Kreuzzuges, der vom Erzengel Gabriel den Auftrag Gottes entgegengenommen hat, Jerusalem von den Ungläubigen zu befreien. Da ist der Ritter Rinaldo, der sich in die Magierin Armida verliebt und sich dann von ihr befreit, Buße ablegt und sich wieder bekehrt. Der zweite große christliche Ritter neben Rinaldo ist Tancredi, der sich verhängnisvoll in der Liebe zur Amazonin Clorinda, Tochter eines Äthiopierfürsten und einer weißen Sklavin, verfängt. Die Liebe gedeiht nicht, sondern Clorinda wird durch tragische Verwicklungen von Tancredi in einem Kampf tödlich verwundet. Clorinda lässt sich kurz vor ihrem Ableben taufen und Tancredi, erschüttert durch den Verlust, tritt seine Rolle an Rinaldo ab. Es handelt sich um einen Text, in dem es um Krieg, Macht, Begehren, Verführung und Tod geht. So wie Tasso war auch der italienische Komponist aus Cremona, Claudio Monteverdi, ein Erneuerer seiner Zeit, nun im Bereich der Musik, in einer Zeit, die sich im Umbruch befand. Sein Werk stellt eine Brücke zwischen der Tradition der klassischen Vokalpolyphonie der Antike, dem neu aufkommenden Stil und der Monodie (aus der Poetik des Aristoteles stammend und zur Struktur des Dramas gehörend) dar, die als Einzelgesang eingesetzt und seit dem Ende des 16. Jahrhunderts durch den Generalbass begleitet wird. Diese Form entwickelt sich dann zum Rezitativ und zur Opernarie. Monteverdi wurde schon zu Lebzeiten be-

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rühmt und gilt mit Orfeo aus dem Jahre 1607 als der Gründer der zukünftigen Gattung der Oper. Darüber hinaus führt Monteverdi die geistliche, vom A-cappellaSatz geprägte Musik zu den instrumental begleiteten Musikgattungen des vokalen Kammerkonzerts und der Kantate über. Die Modernität von Monteverdis Musik lässt sich u.a. daran ablesen, dass er nach langer Zeit der Vergessenheit seit dem 19. Jahrhundert wiederentdeckt wurde und gerade in der modernen Musik von Hindemith oder Krenek Wiederhall findet. Monteverdi war sich seiner Erneuerungen absolut bewusst. Im Vorwort zu seinem fünften Madrigalbuch von 1605 unterscheidet er eine seconda pratica des Komponierens von einer prima pratica, wodurch er ein neues musikalisches Ordnungssystem schuf, in dem er dem Text einen besonderen Stellenwert einräumt und von den Regeln des Kontrapunkts zu Gunsten der Textintention abgewichen werden darf. Es ensteht hier also eine Spannung zwischen Text und Musik, die durchaus als Hybride bezeichnet werden kann und im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts die Musik kennzeichnete. Innerhalb dieser Entwicklung hat das italienische Madrigal, die sog. musica reservata, eine ganz besondere Rolle eingenommen, sie konzentriert sich auf die Vertonung der italienischen Gelehrten-Dichtung. Das Madrigal wird zu einer der beliebtesten Gattungen durch die Mitwirkung zahlreicher prominenter Intellektueller, Schriftsteller und Musiker der Zeit, die auf einen breiten Fundus von Literatur (Petrarca Ariosto, Guarini, Marino, Bembo) zurückgreift. Fünfstimmigkeit, Raum für individuelle Stilformen, das sogenannte chromatische Tongeschlecht, besonders komplexe und einfallsreiche, auch dissonante, Harmonien führen zu einer permanenten Abweichung vom Regelkanon. Das Madrigal als polyphone Komposition erweist sich dann als willkommenes Experimentierfeld der damaligen Avantgarde.

Monteverdi método bélico: transmedial-hybride Variationen der Grausamkeit Als erstes drängt sich die Frage auf, wieso eine radikale AvantgardeGruppe wie „Periférico de Objetos“ in ihrem Stück Monteverdi método bélico auf zwei ‚klassische Gattungen‘, die trotz aller Umbrüche in einer scheinbar zutiefst gläubigen und harmonischen Welt fest verankert sind, rekurriert.

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Ist es zulässig, Sexualität, Begehren, Macht, Gewalt, Perversion und Verstümmelung als Subtext in Canto XII von Tasso und in amorosi e guerrieri von Monteverdi zu sehen? Ist eine solche Lektüre vom Objekt und vom Kultursystem her gerechtfertigt? Kann die topisch-metaphorische Sprache als Substitut der in der Renaissance und im Barock bestehenden Unmöglichkeit, tabuisierte Bereiche anzusprechen, begriffen werden? – Die Vorstellung der Liebe als Schlachtfeld, der Frau als Festung und als grausam ist Teil einer topischen Tradition, die von der anakreontika graeca und anthologia erotica latina sowie von Petrarca („passi tardi e lenti, d’ira ardenti“) herrührt und Teil einer rhetorischen Strategie war, die zunächst einen rein literarischen Status im Rahmen eines Bildungs- und Sprachideals der Renaissance und des Barocks hatte. Ist diese Lektüre, die das Barockensemble Elyma und die Gruppe „Periférico de Objetos“ in ihrem Stück Monteverdi método bélico vollbringen, willkürlich? Wenn dem nicht so ist, worin liegt dann die Motivation einer solchen Verbindung, bzw. einer solchen Schnittstelle? Bringt die Inszenierung also das, was aufgrund von Konventionen unausgesprochen in den Madrigalen tief begraben lag, auf die Bühne? Wir haben es mit mindestens zwei vollkommen unterschiedlichen Welten und Systemen zu tun, mit zwei unvereinbaren Welten in einem hybriden kulturellen Wertesystem, die unverbunden nebeneinander stehen. Einer scheinbar und z.T. harmonisch-wohlklingenden Welt wird eine dissonante, irritierende und grausame gegenübergestellt. Die barocke spielerische Welt wird durch eine perverse Gegenwart konterkariert. In einem Interview in El Foco wird von Ana Alvarado berichtet, dass die Initiative einer Arbeit über Monteverdis Madrigale von der Leiterin des Brüsseler Theater-Festivals, Frie Leysen, ausging und in der Überzeugung begründet wurde, dass zwischen der Zeit von Monteverdi und dem Beginn des Millenniums eine tiefe, bisher noch nicht herausgearbeitete Verbindung bestünde. „Periférico de Objetos“ nahm die Arbeit, insbesondere mit dem Elyma-Ensemble von Gabriel Garrido, auf. Man befasste sich mit dem Text unter zwei Aspekten: Zunächst unter dem Aspekt des Geschlechterkrieges und der Oppositionen zwischen Jenseits und Diesseits. Ana Alvarado meint, dass Hass, Blut, Liebe, Sex und Krieg sich im Text rhetorisch umgesetzt befänden, nicht aber szenisch. Die Aufgabe bestand also darin, das, was im Text enthalten, aber verdeckt und verborgen ist, in Bilder und Bewegung umzusetzen, was natürlich unweigerlich zu einer tiefgreifenden Verwindungder Texte von Tasso un dder Versatzstücke und Musik von Monteverdi führt. Wir ha-

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ben es phänomenologisch und semiotisch mit dem gleichen Verfahren und der gleichen Problematik zu tun, die von Borges in „Pierre Menard, autor del Quijote“ aufgezeigt wird. Monteverdi método bélico ist eine transmediale, hybride Arbeit, bei der in einem Raum Agens, unterschiedliche Arten von Puppen (kleine, große, überdimensionale), Renaissancemusik, Oper bzw. musica antiqua, Videoprojektionen, Tanztheater und Akrobatik zusammenkommen, ohne dass damit all diese Medien einheitlich organisiert wären. Stattdessen bilden sich wandelnde Schnittstellen, Knoten und Linien, die kommen und gehen, parallel oder konträr, übereinander, auseinander, gegeneinander laufen (Rhizom). Der Aufführungstext Guión Monteverdi, der in mehreren Aspekten nicht ganz mit der Aufführung korrespondiert (z.B. sind die Textstellen aus den Madrigalen im Aufführungstext auf Spanisch verfasst, aber in der Aufführung werden sie auf Italienisch gesungen; Textpartien kommen bei der Aufführung an anderen Stellen als im Aufführungstext vor), ist in drei Teile gegliedert, die in der Aufführung durch größere Aufräumpausen und eine statische Szene markiert sind. Sie sind mit „Concierto barroco“ (1. Abschnitt), „Teatro de sangre“ (2. Abschnitt) und „Ópera quirúrjica“ (3. Abschnitt) betitelt. Die verschiedenen Segmente innerhalb dieser Dreiteilung werden durch kurze Übergänge gebildet, durch das Hinauf- und Hinunterziehen einer Puppe, die eine an den Füßen aufgehängte, nackte männliche Leiche in der Mitte des Raumes darstellt, und durch das Auf und Ab des rechten Armes – in der Form eines Nazi-Grußes – einer großen männlichen, nackten Puppe. Abbildungen 8 und 9: Szenen aus Monteverdi método bélico

Diese Einteilung des Guión Monteverdi entspricht ebenfalls nicht dem Aufführungstext. Der erste Textabschnitt ist in der Aufführung nicht vorhanden. Das Stück beginnt mit dem zweiten Textabschnitt. Ferner hat

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das Stück eine weitere Zäsur, eigentlich die größte der ganzen Aufführung, die nach dem Sprung von Jorge von der Spitze einer Leiter in einen Pappeimer voll Wasser,36 vorkommt: Abbildung 10: Szene aus Monteverdi método bélico

Im Anschluss daran rollt Felicitas für ca. zehn Minuten von links nach rechts und von rechts nach links über die ganze Raumfläche, dann erlebt ihr Körper nach dem Takt der Musik eine Reihe von Kontraktionen und Verrenkungen, und sie rollt erneut hin und her. Abbildung 11: Szene aus Monteverdi método bélico

Die Szene bleibt statisch und verdunkelt in einem leichten Blauschimmer. Es werden drei große Puppen, blau beleuchtet, herunter gelassen, zwei bleiben im Zentrum der Szene. So gesehen hätten wir zwei große Abschnitte. Laut Aufführungstext beginnt das Stück mit dem Abschnitt „Teatro de sangre“, der der Gestaltung des szenischen Raumes („Orden del casting“) gewidmet ist. Das Orchester wendet dem Publikum den Rücken 36 Die Figuren werden nach den realen Namen der Agens benannt, sie haben keine Rollen und dementsprechend keine Rollennamen.

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zu, der Dirigent rechts an einem Tisch sitzend, links die Regie- und die Tonmaschine, davor der Ton- und Regietechniker stehend, der zuständig für das Hinauf- und Herunterziehen der Puppen ist. Abbildung 12: Szene aus Monteverdi método bélico

Über einem grün beleuchteten Boden hängt der Körper der Puppe eines an den Füßen gefesselten Jugendlichen, rechts davon befindet sich ein Sänger, links eine Sängerin, beide tragen Opernkleider. Als die Puppe hochgezogen wird, beginnen die Agens die Sitzbänke auf die Bühne zu bringen und der Chor, das Orchester und die Solosänger nehmen Platz, so dass der Eindruck vermittelt wird, man wohne einer Oper bei. Felicitas beginnt, von links nach rechts und zurück zu rollen, und es kommt zu einem ersten Musikeinsatz; dann erscheint Julieta, eine Art Pasionaria (die Heldin aus dem spanischen Bürgerkrieg). Sie spricht und singt auf Spanisch in einem politischen, leidenschaftlichen und revolutionären Ton eine Abschiedsrede mit Bezug auf den spanischen Bürgerkrieg: Barcelona. Por la mañana, primaveral, incierta y agradable, salimos de esta ciudad para el frente. La noche anterior fue neblinosa y gris, una noche borrascosa y triste, pero ese día había buen tiempo, y los almendros en flor (con sus matices rosados) animaban el color ceniciento de las colinas y el verde monótono de las hileras de olivos. Si me quieres escribir ya sabes mi paradero, si me quieres escribir ya sabes mi paradero en el frente de batalla primera línea de fuego.

Es ist von Sehnsucht, Ohnmacht und Krieg die Rede. Dem folgt der Auftritt von Ana Alvarado mit einem Puppenbaby.

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Abbildung 13: Szene aus Monteverdi método bélico

Es hat das Gesicht eines alten Mannes und sitzt auf einem Kinder-Buggy. Sie spricht für das Kind die Worte „Mamá ... Mamá“, um dann den Platz für Jorge frei zu machen, der zunächst als Clown gekleidet auftritt. Er beginnt, die übereinander geschichteten Kleider abzunehmen, bis er in Unterwäsche dasteht, und spricht einen lauten, frenetischen und angstdurchsetzten Text: El teatro, como la peste, es el tiempo del mal, el triunfo de las fuerzas oscuras, alimentadas hasta su muerte por una fuerza más oscura aún: la de la verdadera libertad. El teatro es como la peste, porque, como ella, es la manifestación de un fondo de crueldad latente que localiza todas las fuerzas perversas del espíritu, donde lo imposible de pronto es normal, pues sólo hay teatro a partir del momento en que se inicia realmente lo imposible. El teatro es victorioso y vengativo; rehace la cadena entre lo que es y lo que no es, entre la virtualidad de lo posible y lo que ya existe en la naturaleza materializada [...].

Diese metatextuelle und hochgradig poetologische Stelle gibt über die Konzeption des Stückes und zumindest rhetorisch auch über die Tradition der italienischen Renaissance-Tragödien eines Cinthios, Dolce oder Sperone, aber auch über Tassos La Gerusalemme liberata Auskunft und berücksichtigt die Renaissance-Madrigale Monteverdis, L’ottavo libro de Madrigali: Madrigali guerrieri, insbesondere das achte Madrigal-Buch über Combattimento di Tancredi e Clorinda sowie die Tradition des théâtre de la cruauté im oben genannten Sinne, v.a. in der Deutung von der Pest als Theater bzw. die Pest als Strukturprinzip des Theaters, als dessen Hauptkonstituent, als Unordnung, Kampf, Widerstand.37 Nach dem Auftritt von Jorge schalten sich der Chor und das Orchester ein (wiederum abweichend vom Guión Monteverdi, wo diese 37 Vgl. Artaud 1964, S. 34-39.

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Szene nach dem ersten Auftritt von Ana Alvarado und dem Puppen-Kind erfolgt) mit dem italienischen Stück Vattene pur crudel (im Guión Monteverdi steht der Text indessen in spanische Sprache) aus der Geschichte über Rinaldo und Armina, die von Verrat, Krieg, Blut, Leidenschaft und Verlassensein handelt: Cantantes Vattene pur crudel Vete, cruel, vete, que yo te devuelvo esta paz que tú me dejas! ¡Corre, ingrato, adonde te arrastra la injusticia! Mi sombra te seguirá sin cesar a todas partes. Seré, para ti, otra Furia, armada de antorchas y de serpientes, y mi cólera igualará a mi funesto amor. Si pudieras huir de la ira de las aguas, si vencieses a las olas y a los escollos y llegases, en fin, al teatro de esta guerra impía, pronto bañado en tu propia sangre, envuelto en las sombras de la muerte, pagarías por mi desesperación y mis lágrimas.

Mit Sicherheit ist Emilio die schlimmste und grausamste Figur des ganzen Stückes. Er spricht leise und sanft auf Englisch und Spanisch über einen Traum, was brutal mit seiner Selbstverstümmelung kontrastiert: Abbildung 14: Szene aus Monteverdi método bélico

Er zieht sich eine Gummimaske über den Kopf und sticht sich allerlei spitze Geräte in die Augen und den Mund. Der Traum ist in Wahrheit ein grausamer Alptraum, der zunächst durch einen erneuten Auftritt des Puppenkindes mit dem greisen Gesicht unterbrochen wird: Emilio A dream: Un sueño: I am in a dark room, where I can see my face in the mirror.

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Estoy en un cuarto oscuro donde puedo ver mi rostro en el espejo. My face is young, about eighteen, Mi rostro es joven, como de dieciocho, but is scared and damaged around my mouth and chin. pero está dañado y cortajeado alrededor de la boca y el mentón. Nice dream.

Der Text reflektiert die Verstümmelung, und mit einem perfiden Zynismus wird dieser Traum „a nice dream“ genannt. Hier lässt die Aufführung den im Bild konkretisierten Alptraum und die Verstümmelung parallel laufen, sie sind untrennbar, beide sind gleichzeitig da. Das Unheimliche realisiert sich als Hyperrealität, der Körper wird zu zermartertem Fleisch. Die Verkörperung des Agens’ geht hier in eine durch Tortur verursachte Entkörperung über. Die Szenen von Ana, Julieta, Jorge und Emilo wechseln sich ab, und die Wechsel werden immer durch das Hinauf- und Hinunterziehen der an den Füßen aufgehängten Puppe markiert. Die Texte pendeln zwischen Differenz und Wiederholung und potenzieren das Thema des Krieges und der Faszination des Krieges: Julieta El febril reclutamiento de un nuevo ejército alcanzó su punto culminante. Al partir de Valencia, a las cinco de la mañana veo dos mil hombres esperando que abran la oficina reclutamiento. Una oleada de entusiasmo recorre la población; las provisiones y donativos de las pequeñas ciudades se vuelcan sobre Madrid en columnas de camiones y la moral de los combatientes se ha elevado considerablemente.

Jorge trägt nun Textfragmente aus dem im letzten Teil vorkommenden Combattimento di Tancredi e Clorinda von Monteverdi vor: El héroe busca medirse con aquél otro guerrero, único rival digno de él. Su amada viste sin que él lo sepa la armadura de aquél otro guerrero, la mujer corre, el hombre sigue en su persecución, la amazona se vuelve. – Tú, que me sigues con tanto ardor, ¿Qué me traes? – La guerra y la muerte – ¡La guerra y la muerte! Las tendrás, si es lo que buscas. Ella espera al pie firme, él descabalga. Con el acero en la mano y llenos de ira, los amantes se arrojan uno sobre otro como dos toros salvajes. Generosos guerreros, la suerte […].

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Es werden Ereignisse, die zu unterschiedlichen Zeiten sattgefunden haben, simultan dargestellt, so dass das Historische in den Hintergrund tritt und die Struktur von Krieg, Leidenschaft, Sexualität und Begehren im Vordergrund steht. Abbildung 15: Szene aus Monteverdi método bélico

Durch die simultane Darstellung von Ungleichzeitigem kann „Periférico de Objetos“ die in den Madrigalen enthaltenen und durch die Rhetorik und Angemessenheit (decorum) bedeckten Subtexte an die Oberfläche fördern und seine Ästhetik der Ver- und Entkörperung, einer surrealistischen Hyperrealität mit einer Renaissance-Ästhetik verbinden. Hier versagt die Musik, sie wird dissonant, Emilio verstümmelt sich zu Tode, Alicia zitiert unentwegt die Abschiedszene zwischen Rinaldo und Armida: La tra’l sangue e le morti Cuando des el último suspiro invocarás muchas veces a Armida... yo te oiré... Quiere acabar lo que iba a decir, pero el dolor la deja sin voz y ahoga los últimos sonidos. Cae casi sin vida; corre por sus miembros un sudor frío y helado y se le cierran los ojos.

Sie ist mit Blut, Schmerz und Tod bedeckt, die Kind-Puppe fällt samt Buggy um und Ana fällt in Ohmacht. Jorge springt nun in einen Wassereimer, der den Ozean Neptuns darstellt, und dessen Wasser nicht ausreicht, um seine mit Blut beklebten Hände zu waschen. Der szenische Raum leert sich, und Felicitas beginnt eine Rollaktion, die eine Reduktion jeglichen Psychologismus darstellt. Während des Hin- und Herrollens werden zwei große Puppen von der Decke abgelassen, eine männliche und eine weibliche, die von der auf- und hinab-

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ziehenden Leiche eingeleitet werden; ein menschliches Paar kommt dazu herein. Abbildung 16: Szene aus Monteverdi método bélico

Der Chor singt ein Madrigal mit dem Text „Hor che’l ciel e la terra“. Die Frau und der Mann aus Fleisch und Blut erwecken den Eindruck, ebenfalls ein Liebespaar zu sein, aber ihnen gelingt keine Kommunikation, weder sprachlich noch sexuell, sie vollziehen hingegen mehrere sexuelle Akte mit den Puppen, die den Mann und die Frau kurz erregen, Abbildungen 17 und 18: Szenen aus Monteverdi método bélico

dann wenden sie sich einander zu, brechen aber den Annäherungsversuch gleich wieder ab.

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Abbildungen 19 und 20: Szenen aus Monteverdi método bélico

Es folgt die Inszenierung eines voyeuristischen Dispositivs: Die Frau masturbiert beim Anblick des Liebesaktes des Mannes mit der weiblichen Puppe, während sie die Genitalien liebkost. Abbildungen 21 und 22: Szenen aus Monteverdi método bélico

Im Hintergrund hört man immer wieder Stimmen, die proben und die berühmte Arie aus dem Akt I „Libiamo ne’lieti calici“ von La Traviata anstimmen. Erneut schreit Jorge: El teatro, como la peste libera fuerzas y si esas fuerzas son oscuras no es culpa del teatro o de la peste, sino de la vida misma. Toda verdadera libertad es oscura y se confunde infaliblemente con la libertad del sexo que también es oscura. El teatro es un mal, es una crisis que sólo se resuelve en la curación o la muerte. Es imposible imaginar el teatro si no es en una atmósfera de matanza, de sangre derramada, de guerra, de tortura. Por eso su acción es beneficiosa, muestra a los hombres tal cual son, hace caer la máscara, descubre la mentira, la hipocresía del mundo... sacude la inercia asfixiante de la materia y revela su oscuro poder incitando a una actitud heroica y superior [...].

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Damit verbindet er nun das Theater und die Pest mit dem Leben selbst, mit Sex und Begehren, gemeinen Wünschen und Praktiken, die allesamt im Theater offengelegt werden. Die Bühne verdunkelt sich und ein Film wird auf eine große Leinwand im Hintergrund projiziert, während ein OP-Tisch vorbereitet wird. Damit wird der dritte und letzte Abschnitt, „Ópera quirúrjica“, eingeleitet: Abbildung 23: Szene aus Monteverdi método bélico

Die Leinwandprojektion gibt eine Herzoperation wieder. Neben der Bezeichnung „opera quirúrjica“ werden „Ópera cibernética“ und der Combatimento de Tancredi y Clorinda genannt, die Musikpartitur des Madrigals wird während der Operation projiziert, um die Verbindung zum Madrigal und zum Madrigaltext zu unterstreichen. Abbildung 24: Szene aus Monteverdi método bélico

Hier haben wir mehrere Verbindungen: den Begriff ópera, die Bezeichnungen quirujica und cibernética und ein Madrigal. Es wird also eine ferngesteuerte und per Bildschirm durchgeführte Operation gezeigt, eine Op(f)er-A(k)tion mit Menschen, die durch Instrumente einen anderen Menschen vorübergehend verstümmeln; Blut fließt. Das Herz fungiert als

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Muskel und gleichzeitig als Symbol von Liebe und Tod, Leidenschaft und Hass, womit die Brücke zu Combatimento de Tancredi y Clorinda geschlagen wird. Der Text wird auf Italienisch vom Chor und von den Solisten gesungen (im Guión Monteverdi steht der Text wiederum auf Spanisch) und parallel dazu wird operiert. Das Wort, der Gesang und der frenetische Rhythmus sowie die entfesselte Intensität der Musik entwickeln sich parallel. Ein prägnantes Beispiel dieser seltsamen Verbindung zwischen Operation und Madrigal liefern die folgenden Verse: L’onta irrita lo sdegno a la vendetta, E la vendetta poi l’onta rinova; Onde sempre al ferir, sempre a la fretta Stimol nuovo s’aggiunge e cagion nouva. D’or in or più si mesce, e più ristretta Si fa la pugnace spada oprar non giova; Dansi con pomi, e, infelloniti e crudi, Cozzan con gli elmi insieme e con gli scudi. Tre volte il cavalier la donna stringe Con le robuste braccia […].

Abbildung 25: Szene aus Monteverdi método bélico

Beim Aussprechen des Wortes „vendetta“ wird die bereits geschlossene Brust des Patienten mit grober Gewalt von einer Reihe von hinzu gekommenen Agens aufgerissen und das pulsierende Herz herausgerissen.

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Abbildung 26: Szene aus Monteverdi método bélico

„Periférico de Objetos“ arbeitet mit Äquivalenzen: Das, was im Text das Schwert ist, wird in der Inszenierung erst zum Arsenal von Selbstverstümmelungsgegenständen und dann in der Visualisierung der Operationsszene als Sammlung unterschiedlicher Zangen und Messer szenisch übersetzt. Ausdrücke wie „vendetta“, „feriri“, „spada“, „crudi“, an anderen Stellen „barbaro“, „sangue“, „nemico“, „feroce“, „esta guerra impía, pronto bañado en tu propia sangre“ bzw. „último beso, guárdalo para otra amante más feliz que yo“, „lágrimas – los ojos, transida de dolor, más bella aún por hermosearla el sufrimiento“, „súplicas“, „Cada gota de esa sangre que ves manar la pagarán tus ojos con un torrente de lágrimas“ enthalten eine destruktive, erotische Potentialität, die durch die Inszenierung hervorgebracht wird. Das entrissene Herz wird dem Sänger serviert und er verspeist es. Das Ende wird mit dem Eintritt einer gigantischen Puppe, einer Art Gottheit eingeleitet, die Puppe fällt um und der Raum verdunkelt sich. Abbildungen 27 und 28: Szenen aus Monteverdi método bélico

Zusammenfassung Die Gruppe „Periférico de Objetos“ schließt an eine breite Theatertradition der Farce, des Puppentheaters, des Theaters der Groteske bzw. der

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Grausamkeit oder des Esperpento, eines surrealistischen Theaters bzw. eines Körper-Theaters oder Theaters der situationellen Intensität an und führt dieses an die Grenze des Darstellbaren selbst, anders gesagt, an die Schnittstelle des Darstellbaren mit dem Nicht-Darstellbaren. Die Erschöpfung, Tradierung, Pervertierung, Banalisierung und Kommerzialisierung der Darstellungsmittel des Theaters einerseits und das Unvorstellbare, vor allem Undarstellbare einer argentinischen Wirklichkeit andererseits bzw. neue Körper und Präsentationskonzepte erzwingen die Stummheit und Undarstellbarkeit in diesem Theater und lassen nur die Präsentabilität des Realen mittels verstümmelter Entkörperungen zu. Dieses Theater ist das Ausloten einer neuen Definition von Subjekt und einer neuen Positionierung des Subjekts/Körpers und seiner Umwelt, einer Umwelt, die durch Gewalt, Tod, Begehren, Perversion. Mechanisierung, Digitalisierung und Virtualisierung markiert ist. In Monteverdi método bélico nimmt die Gruppe „Periférico de Objetos“ mehrere Enterritorialisierungen, die sich als Dezentrierung von Zeit, Raum und Kode ergeben, vor. Zwischen den Zeilen der Literatur und Tonreihen der Musik der Renaissance lassen sich ähnlich entfesselte Triebe, die wie die Gegenwartsbeziehungen von Eros und Thanatos beherrscht sind, entdecken, die zuvor durch eine dämpfende, gesittete, oder genauer gesagt, topisch verortete und vertextete Rhetorik verdeckt worden waren. Sehnsucht und Tod, Liebe und Hass, Leidenschaft und Zerstückelung, Lust und Perversion werden in Szene gesetzt, in Bildsequenzen umgesetzt und mit der Gegenwart der Einsamkeit, der irrenden Sexualität, der video- und ferngesteuerten Operationen in Verbindung gebracht, die konkret in der Rhetorik des Herausreissens des Herzens, des Blutfließens, des Todes und des Heilens präsentiert werden. In Monteverdi método bélico werden neue Konzepte des Theaters als ‚präsentationelle Spektakularität‘, als multi- oder transmediale und hybride Inszenierung und Performierung des Körpers, als Entkörperungen des Subjekts, als prothesisches Subjekt entwickelt, getragen von einer Ästhetik und Poetik der ‚Hyperspektakularität’, der ‚objektalen Hyperrealität‘ bzw. eines ‚veristischen Surrealismus‘. Die Gruppe „Periférico de Objetos“ lässt mit allen ihren Stücken die tradierte Form Theater hinter sich und führt das ein, was wir aus der Not Spektakularität genannt haben bzw. als Materialenspiel oder Cyborg-Pseudo-Prothesenspiel unvollkommen bezeichnen.

AUTORENVERZEICHNIS Wolfgang Bongers: Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaftler, Schwerpunkte: Lateinamerika/Europa, Kultur- und Medientheorien; zurzeit für den DAAD Dozent an der Universidad de Buenos Aires und am I.E.S. en Lenguas Vivas, Buenos Aires. Intermediale Studien zu lateinamerikanischen Avantgarden (Argentinien), Nouvelle Vague, Fotografie, Film und Literatur. Auswahl Veröffentlichungen: Schrift/Figuren. Julio Cortázars transtextuelle Ästhetik, Tübingen 2000; „Inseln. Gespenstische Effekte in Bildern und Texten (Marker: Sans soleil/ Bioy Casares: La invención de Morel)“, in: Natalie Binczek/ Martin Rass (Hrsg.): „sie wollen eben sein, was sie sind, nämlich Bilder...“. Anschlüsse an Chris Marker, Würzburg 1999, S. 99-111; „Wasser und Wein, Luft und Wind – über Rohmers Nullpunkte der Wahrnehmung“, in: Volker Roloff/Uta Felten (Hrsg.): Rohmer intermedial, Tübingen 2001, S. 45-64; „Die Stadt. Passagen zwischen Literatur und Architektur“, in: Pandaemonium Germanicum (Universidad de Saõ Paulo) 7/2003, S. 39-55; „Alles oder nichts? Zu Rivettes Hüllen in La Belle Noiseuse“, in: Susanne Schlünder/Scarlett Winter (Hrsg.): Körper – Ästhetik – Spiel, München 2004. Vittoria Borsò: Professorin für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Düsseldorf (französische, spanischsprachige und italienische Literaturwissenschaft) mit Schwerpunkt Kultur- und Medienwissenschaft. Aktuelle Arbeitsbereiche und Forschungsinteressen: Gedächtnis und Medium, Literatur und Historiographie; Barock und Neobarock, Transkulturalität und Transmedialität, Gender Studies, Bild- und Medienästhetik, visuelle Kultur. Neueste Veröffentlichungen: Modern(en) der Jahrhundertwende(n), 2000 (mit Björn Goldammer); Medialität und Gedächtnis, Stuttgart 2001 (mit Bernd Witte und Gerd Krumeich); Erzählstrategien in europäischen Geschichtsdarstellungen, 2004 (mit Christoph Kann); Kulturelle Topographien, 2004 (mit Reinhold Görling). Marijana Erstiü: Studium der Germanistik, Romanistik und Kunstgeschichte in Zadar und Siegen. Zurzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin am kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg Medienumbrüche der Universität Siegen. Aufsätze zur Performativität der Pathosformel in der italienischen Medienkultur zu Beginn des 20. Jahrhunderts (D’Annunzio, Futurismus) sowie zur Intermedialität im Film (Benigni, Lang). Herausgeberin der literarischen Anthologie Zagreb erlesen, Klagenfurt 2001. Dissertationsvorhaben zum Thema des Verhältnisses zwischen den bil-

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denden Künsten und dem Film am Beispiel der Familienbilder bei Luchino Visconti. Uta Felten: Studium an den Universitäten Düsseldorf, Bordeaux, Sevilla, Habilitation an der Universität Siegen (Dezember 2001). Venia legendi: Romanische Literaturwissenschaft seit April 2002, Forschung und Lehre: Europäischer und hispanoamerikanischer Surrealismus, Theater/Film-Relationen, Französisches Kino der Nouvelle Vague, Moderner italienischer Film, Theater und Oper des 18. Jahrhunderts; Projekte: Leitung des DFG-Projekts „Intermedialität im europäischen Surrealismus“ im Forschungskolleg Medienumbrüche der Universität Siegen. Kirsten von Hagen studierte Vergleichende Literaturwissenschaft, Anglistik, Germanistik und Romanistik in Bonn. Dissertation: Intermediale Liebschaften: Mehrfachadaptationen von Choderlos de Laclos’ Les Liaisons dangereuses, Tübingen 2002. Arbeitsschwerpunkte: medienkomparatistische Fragestellungen, Laclos-Rezeption, Brief-E-Mail-SMS, Ophüls, Chaplin, Carmen-Mythos. Zurzeit: Vorbereitung einer Arbeit zum Thema: „Zigeunerdarstellungen in Literatur, Theater, Oper und Film“ im Rahmen eines Lise-Meitner-Habilitationsstipendiums an der Universität Bonn. Catrin Kersten studiert Allgemeine Literaturwissenschaft, Romanistik und Kunstgeschichte an der Universität Siegen. Ana María Pilar Koch: M.A., studierte Komparatistik/Vergleichende Literaturwissenschaft, Hispanistik und Kunstgeschichte in Bonn. Magisterarbeit in Medienkomparatistik mit dem Thema Valle-Inclán im Medienwechsel. Der Film bei Valle-Inclán – Valle-Inclán im Film. Aktuelle Arbeitsbereiche und Forschungsinteressen: Arbeit an der Dissertation TERPSICHORE IM MUSENSPIEL. Interferenzen von Tanz und Literatur, Theater, Film – dargestellt anhand exemplarischer Sequenzen vom Flamenco und Tango. Eine medienkomparatistische Analyse der Tanzfilme Carlos Sauras bei Prof. Dr. Franz-Josef Albersmeier in Bonn. Veröffentlichungen: Rezensionen in Iberoamericana, Arcadia und Iberoromania; Aufsätze in Jahrbuch Tanzforschung, Studi Ispanici. Isabel Maurer Queipo: Studium der französischen und spanischen Literaturwissenschaften und Wirtschaftswissenschaften in Siegen. Promotion (Dissertation über Pedro Almodóvar). Wissenschaftliche Mitarbeiterin

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im Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg Medienumbrüche der Universität Siegen; Forschungsschwerpunkte: Intermedialität in der Romania; europäische Avantgarden, feministische Literatur und Gender Studies. David Oubiña es crítico de cine. Enseña en la Facultad de Filosofía y Letras (Universidad de Buenos Aires) y en la carrera de Realización cinematográfica (Universidad del cine). Fue visiting scholar en la Universidad de Londres (Gran Bretaña) y visiting professor en New York University (Estados Unidos) y en la Universidad de Bergen (Noruega). Ha sido becario de la Comisión Fulbright, la Fundación Antorchas y el British Council. Ha publicado, entre otros libros, Filmología. Ensayos con el cine (Premio del Fondo Nacional de las Artes, 2000), El cine de Hugo Santiago (2002) y Jean-Luc Godard: El pensamiento del cine (2003). Nanette Rißler-Pipka: Studium der Allgemeinen Literaturwissenschaft, Romanistik und Wirtschaftswissenschaften in Siegen und Orléans. Wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Intermedialität im europäischen Surrealismus“ des Siegener kulturwissenschaftlichen Forschungskollegs Medienumbrüche. Dissertation zum Thema Das Frauenopfer in der Kunst und seine Dekonstruktion; verschiedene Artikel zu intermedialen Themen bei Chabrol, Rohmer, Rivette, Zola-Manet, Poe, Jean Renoir, Picasso und Meret Oppenheim. Volker Roloff: Professor für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Siegen, mit Schwerpunkt im Bereich der französischen und spanischen Literatur und der romanischen Kultur- und Medienwissenschaft. Aktuelle Arbeitsbereiche und Forschungsinteressen: Theorie und ästhetische Praxis der Intermedialität; europäische Avantgarden (Schwerpunkt Frankreich und Spanien); Proust und die neuen Medien; französische Theater- und Filmgeschichte. Neueste Veröffentlichungen: Theater und Film in der Zeit der Nouvelle Vague, Tübingen 2000 (Hrsg. mit Scarlett Winter); Rohmer intermedial, Tübingen 2001 (Hrsg. mit Uta Felten); Bildschirm-Medien-Theorien, München 2002 (Hrsg. mit P. Gendolla, P. Ludes); Erotische Recherchen. Zur Decodierung von Intimität bei Marcel Proust. München 2003 (Hrsg. mit Friedrich Balke); Die Ästhetik des Voyeur, Heidelberg 2003 (Hrsg. mit W. Hülk, Y. Hoffmann); Jean Renoirs Theater/Filme (Hrsg. mit Michael Lommel), München 2003.

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Juan José Sánchez: Wissenschaftlicher Mitarbeiter für spanische Literatur- und Kulturwissenschaft an der Universität Siegen. Gregor Schuhen: Studium der Romanistik und Anglistik in Siegen und Paris. Derzeit wissenschaftlicher Mitarbeiter am Kulturwissenschaftlichen Forschungskolleg Medienumbrüche der Universität Siegen. Veröffentlichungen zur genderspezifischen Lektüre von Marcel Proust, zum zeitgenössischen (Mainstream-) Film (MOULIN ROUGE, THE HOURS, 8 FEMMES) und zum Verhältnis von Gender Studies und Popkultur. Dissertationsprojekt zum Thema „Sexualität als Effekt. Proust, Foucault und Butler“. Alfonso de Toro: Professor für Romanische Philologie mit den Schwerpunkten in Lehre und Forschung in der Literatur- und Kulturwissenschaft (Französistik, Hispanistik, Lateinamerikanistik und Lusitanistik, Semiotik, Theater- und Kulturtheorie) am Institut für Romanische Philologie der Universität Leipzig; Direktor des transdisziplinären Ibero-Amerikanischen Forschungsseminars an der Universität Leipzig; Herausgeber der wissenschaftlicher Reihen Theorie und Kritik der Kultur und Literatur sowie Theorie und Praxis des Theaters beim Verlag Vervuert/Frankfurt und Passagen – Transdisziplinäre Kulturperspektiven (für Frankophonie und Anglophonie); zahlreiche Publikationen zum Roman und Theater der Renaissance, des Barocks, der Moderne und Postmoderne in Europa und Lateinamerika sowie über Semiotik- und Kulturtheorie. Forschungsschwerpunkte: Postmoderne, Postkolonialismus, Postfeminismus, PostTheorie, Theater und allgemeine Literatur und Kulturtheorie. Gerhard Wild: Studium der Romanistik, Komparatistik, Musikwissenschaft, Kunstgeschichte, Altphilologie, Philosophie und Arabistik in München. Dissertation 1993: Transformation von Erzählstrukturen im Ritterroman des 13. Jahrhunderts. Forschungsaufenthalte in Spanien (1991), Portugal (1987) und Lateinamerika (1993-96). Assistent für Romanistik in München (1988-91) und Siegen (1991-2000). Habilitation 1998: Paraphrasen der Alten Welt: Interkulturelle Ästhetik im Werk Alejo Carpentiers. Redakteur an Kindlers Neuem Literaturlexikon. Herausgeberschaft: Hispanorama: Der spanische Film (1992). Zahlreiche Aufsätze zur Ästhetik und Poetologie in den romanischen Literaturen des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, des Fin de Siècle und der Avantgarden. Seit 2001 Ordinarius für Iberoromanistik an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt.

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Scarlett Winter: Wissenschaftliche Assistentin am Institut für Romanische Literaturen und Sprachen der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt, mit Schwerpunkt im Bereich der iberoromanischen Kulturund Medienwissenschaft. Aktuelle Arbeitsbereiche und Forschungsinteressen: europäische Theater- und Filmgeschichte, Medienästhetik in der Nouvelle Vague; Surrealismus in Frankreich und Spanien. Neueste Veröffentlichungen: Theater und Film in der Zeit der Nouvelle Vague, Tübingen 2000 (Hrsg. mit Volker Roloff); Körper  Ästhetik  Spiel. Zur filmischen ecriture der Nouvelle Vague, München 2004 (Hrsg. mit Susanne Schlünder).

Die Neuerscheinungen dieser Reihe:

Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka, Volker Roloff (Hg.) Französische Theaterfilme – zwischen Surrealismus und Existentialismus Dezember 2004, ca. 350 Seiten, kart., ca. 28,00 €, ISBN: 3-89942-279-1

Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka (Hg.) Spannungswechsel Mediale Zäsuren zwischen den Medienumbrüchen 1900/2000 Dezember 2004, ca. 160 Seiten, kart., ca. 17,00 €, ISBN: 3-89942-278-3

Marijana Erstic, Gregor Schuhen, Tanja Schwan (Hg.) Avantgarde – Medien – Performativität Inszenierungs- und Wahrnehmungsmuster zu Beginn des 20. Jahrhunderts Dezember 2004, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN: 3-89942-182-5

Rainer Geißler, Horst Pöttker (Hg.) Massenmedien und die Integration ethnischer Minderheiten in Deutschland Dezember 2004, ca. 400 Seiten, kart., ca. 28,00 €, ISBN: 3-89942-280-5

Uta Felten, Volker Roloff (Hg.) Spielformen der Intermedialität im spanischen und lateinamerikanischen Surrealismus November 2004, 364 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-184-1

Jens Schröter, Alexander Böhnke (Hg.) Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung September 2004, 438 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN: 3-89942-254-6

Matthias Uhl, Keval J. Kumar Indischer Film Eine Einführung

Peter Gendolla, Jörgen Schäfer (Hg.) Wissensprozesse in der Netzwerkgesellschaft

September 2004, 174 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 3-89942-183-3

Dezember 2004, ca. 280 Seiten, kart., ca. 26,00 €, ISBN: 3-89942-276-7

Michael Lommel, Isabel Maurer Queipo, Nanette Rißler-Pipka (Hg.) Theater und Schaulust im aktuellen Film April 2004, 172 Seiten, kart., 19,80 €, ISBN: 3-89942-181-7

Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de