Spatien: Zum System der Getrennt- und Zusammenschreibung im heutigen Deutsch 9783110919295, 9783110183511

This work is the first comprehensive analysis of the German orthographic system of writing words together or apart. The

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German Pages 245 [248] Year 2005

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Spatien: Zum System der Getrennt- und Zusammenschreibung im heutigen Deutsch
 9783110919295, 9783110183511

Table of contents :
Vorwort
1. Einleitung
1.1 Ziele
1.2 Daten
1.3 Überblick
2. Zum Stand der Forschung
3. Theoretische Grundlagen
3.1 Lautsprachliche Zeichen und ihre graphische Repräsentation
3.2 Grundsätzliches zum Aufbau und zu den Aufgaben einer GZS-Theorie
3.3 Wortgrenzen und Spatiensetzung in der Optimalitätstheorie
3.4 Operativität, Universalität und Strukturbezogenheit von GZS-Beschränkungen
3.5 Verantwortliche Faktoren und Indizien
4. Das System der Kern-GZS
4.1 Zusammenschreibung in morphologischen Bildungen
4.2 Getrenntschreibung von Teilausdrücken
4.3 Die Interaktion von Zus-MORPH und GETR-AUSDR
4.4 Spezifische Regeln, Irregularitäten und lexikalische Trends
4.5 Autonome Beschränkungen
4.6 Verantwortliche Faktoren und Indizien in der Kern-GZS
5. Das System der Alt-GZS
5.1 Für die Alt-GZS spezifische Schreibungen, die Ol entsprechen
5.2 Für die Alt-GZS spezifische Schreibungen, die Ol widersprechen
5.3 Operative Beschränkungen und lexikalische Trends in der Alt-GZS
5.4 Eingeschränkte Geltung lexikalischer Festlegungen
6. Bewertung des Systems der Alt-GZS
6.1 Komplexität, Homogenität, Systematizität
6.2 Anwendungsaspekte
7. Vergleich mit anderen Analysen
8. Das System der Neu-GZS
8.1 Zum Aufbau und zur Interpretation des Texts der amtlichen Neuregelung
8.2 Ol-Gesetze bleiben operativ
8.3 Neue Interface-Gesetze kommen hinzu
8.4 Irregularitäten und lexikalische Trends
8.5 Bewertung des Systems der Neu-GZS
8.6 Abschließende Bemerkungen zu Anwendungsgesichtspunkten
8.7 Nachschrift: Die Reform der Reform
9. Resümee
Literatur
Sachregister
Beispielregister

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Joachim Jacobs Spaden

W DE G

Linguistik — Impulse &C Tendenzen Herausgegeben von

Susanne Günthner Klaus-Peter Konerding Wolf-Andreas Liebert Thorsten Roelcke

8

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Joachim Jacobs

Spatien Zum System der Getrennt- und Zusammenschreibung im heutigen Deutsch

Walter de Gruyter · Berlin · New York

®

Gedruckt auf säurefreiem Papier, das die US-ANSI-Norm über Haltbarkeit erfüllt.

ISBN 3-11-018351-X ISSN 1612-8702 Bibliografische

Information

Der Deutschen

Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografic; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

© Copyright 2 0 0 5 by Walter de Gruytcr G m b H & Co. K G , D - 1 0 7 8 5 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspcichcrung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Einbandgestaltung: Christopher Schneider, Berlin

Vorwort Als ich in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre Seminare zu den linguistischen Grundlagen des deutschen Schriftsystems anzubieten begann (eine Reaktion auf die vor der Tür stehende Rechtschreibreform und auf die starke Zunahme der Lehramtsstudenten), bemerkte ich, daß der Forschungsstand vor allem zu einem Teilgebiet außerordentlich dürftig war. Die damals verfügbare Literatur zum System der Getrennt-/Zusammenschreibung konnte auf elementare Fragen keine befriedigenden Antworten geben, z.B. auf die, warum wir zusammenschreiben in manchen Umgebungen getrennt, in anderen zusammenschreiben, während wir getrennt schreiben immer getrennt schreiben, vgl. Z u s a m men schreibt man das nicht>, , aber , .' Diese offensichtliche (und schädliche, s.u.) Forschungslücke weckte meinen Ehrgeiz als Sprachwissenschaftler. Ich vermutete, daß man mit Hilfe der High-Tech-Instrumente der aktuellen theoretischen Linguistik relativ schnell eine befriedigende Lösung finden würde. Das war zu optimistisch. Erst Ende 2001 konnte ich den ersten Entwurf einer entsprechenden Gesamtanalyse des Systems der deutschen Getrennt-/Zusammenschreibung vorlegen, der dann in einer stark gekürzten Fassung als Jacobs (2002) publiziert wurde. Doch auch das war noch voreilig, denn die Analyse hatte diverse Mängel, wie mir nicht zuletzt hilfreiche Kommentare von Kollegen und Kolleginnen vor Augen führten (s.u.). Da ich an der Behebung dieser Mängel danach nicht kontinuierlich weiterarbeiten konnte, dauerte es schließlich noch drei Jahre, bis die hiermit vorliegende endgültige Fassung abgeschlossen war. Auch sie ist mit Sicherheit noch in vieler Hinsicht problematisch. Die Schwierigkeiten des linguistischen Umgangs mit der Getrennt-/Zusammenschreibung liegen nur zum Teil in der Sache selbst. Diese ist komplex, aber nicht komplexer als andere Gebiete der Grammatik natürlicher Sprachen. 2 Das Hauptproblem ist vielmehr, daß es keine nennenswerte Tradition der sprachwissenschaftlichen Erforschung von Systemen der graphischen Worttrennung gibt, und zwar weder für das Deutsche noch fur andere Sprachen, die von diesem Mittel der Gliederung schriftlicher Texte Gebrauch machen. Deshalb konnte ich mich vor allem im Hinblick auf die theoretischen Grundlagen kaum auf geeignete Vorarbeiten stützen.

1

A n g a b e n der Schreibung von Zeichen werden wie üblich in spitze K l a m m e r n gesetzt.

2

Den T e r m i n u s " G r a m m a t i k " (bzw. "grammatisch") verwende ich stets in e i n e m weiten Sinn, der alle Aspekte des Sprachsystems (Syntax, Morphologie, Phonologie, Schriftsystem, Lexikon) u m f a ß t .

VI

Vorwort

Mit der Abwesenheit einer linguistischen Forschungstradition geht ein verbreitetes Vorurteil einher, demzufolge die Getrennt-/Zusammenschreibung gar kein geeigneter - oder zumindest kein interessanter - Gegenstand für eine grammatische Systemanalyse sei. Diese Meinung habe ich mehrfach von theoretisch orientierten Linguisten gehört. Zur Begründung wurde, wenn überhaupt, meist angeführt, daß die Getrennt-/Zusammenschreibung ziemlich willkürlichen und sich häufig ändernden Festlegungen durch die orthographische Kodifikation unterliege und deshalb weitgehend arbiträr und diachron sehr instabil sei. Infolgedessen sei es nicht möglich, die Getrennt-/Zusammenschreibung auf allgemeiner gültige grammatische Gesetze oder gar auf universalgrammatische Prinzipien zurückzuführen. - Dieser Einschätzung sind mindestens die folgenden Punkte entgegenzuhalten: •



3

Für alle Ebenen der Grammatik von Standardsprachen gilt, daß die für sie konstitutiven Regeln außer durch 'natürliche' Veränderungen im Gebrauch oder bei der Erlernung der Sprache durch diverse externe Faktoren beeinflußt werden, zu denen meist auch Festlegungen von Kodifikationsinstanzen (sowie der entsprechende muttersprachliche Schulunterricht) gehören. So haben solche Faktoren bekanntlich eine wichtige Rolle bei der Herausbildung der Syntax und der Phonologie des Standarddeutschen gespielt, 3 wobei es im Ausmaß der Beeinflussung allenfalls graduelle Unterschiede zur Graphemik gibt. Das hat Grammatiker, auch wenn sie nach allgemeingültigen sprachlichen Gesetzen suchten, nie daran gehindert, das System, das den syntaktischen bzw. phonologischen Regeln des Standarddeutschen zugrunde liegt, zu untersuchen. - Daß es bei der Analyse solcher durch externe Faktoren beeinflußten Gebiete der Grammatik sinnvoll sein kann, diejenigen Phänomene, die tatsächlich auf rein arbiträren Festlegungen beruhen, also nicht auf allgemeinere sprachliche Zusammenhänge zurückführbar sind, von denen zu trennen, bei denen das nicht der Fall ist, 4 gilt, wie wir sehen werden, auch für die Getrennt-/Zusammenschreibung. Eine besondere diachrone Instabilität der deutschen Getrennt-/Zusammenschreibung als Folge häufiger Änderungen durch Kodifikationsinstanzen läßt sich m.E. nicht belegen. Vielmehr scheint sich das deutsche Spatiensetzungssystem seit Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Rechtschreibreform von 1998 nicht mehr wesentlich gewandelt, sondern nur noch punktuell (etwa bei der Schreibung einzelner Partikelverben oder Univerbierungen) an bestimmte Veränderungen auf anderen Ebenen der Grammatik angepaßt zu haben, 5 und zwar nach Maßgabe von im System selbst angelegten Vgl. von Polenz (1994 - 2000).

4

Vgl. W e i ß (2001).

5

G r u n d l a g e dieser V e r m u t u n g ist eine (allerdings unsystematische) Ü b e r p r ü f u n g von

Origi-

naldrucken aus d e m späten 18. und d e m 19. Jahrhundert. W e n n man z.B. die Erstausgabe von G o e t h e s "Die Leiden des j u n g e n Werthers" von 1774 (bzw. den originalgetreuen N a c h d r u c k

Vorwort





VII

Beziehungen der Spatiensetzung zu diesen grammatischen Ebenen, vgl. Kap. 4. Damit präsentiert sich die Getrennt-/Zusammenschreibung in den letzten zweihundert Jahren als ein diachron eher stabiler Bereich der deutschen Sprache (etwa im Vergleich zur Laut-Buchstaben-Zuordnung oder zur Deklinationsmorphologie). Daß die Untersuchung bestimmter Aspekte von Sprachsystemen sich nur dann lohnt, wenn man hoffen kann, dabei dem Wirken allgemeinerer oder gar universeller grammatischer Gesetze auf die Spur zu kommen, ist selbst dann absurd, wenn man es als einzige Aufgabe der grammatischen Forschung betrachtet, die Grundlagen der menschlichen Sprachfähigkeit zu ermitteln. Einer der bemerkenswertesten Aspekte dieser Fähigkeit ist es ja, daß Menschen recht mühelos mit jenen zahlreichen Phänomenen in natürlichen Sprachen umgehen können, die keinen übergreifenden Gesetzmäßigkeiten gehorchen, sondern sprach- oder konstruktionsspezifisch oder schlicht irregulär sind. Sprecher/Hörer - und Schreiber/Leser - natürlicher Sprachen haben in der Regel keine Probleme, solche 'Idiosynkrasien' zu erlernen und zu verwenden. Es ist an der Zeit, sich dieser unbestreitbaren Tatsache sowohl in der grammatischen Forschung i.e.S. als auch in angrenzenden Teilen der Psycholinguistik, insbesondere in der Spracherwerbsforschung, zu stellen. 6 Dabei kann das Schriftsystem natürlich nicht ausgenommen werden. Bei einer weniger restriktiven Bestimmung der Aufgaben grammatischer Forschung ist auch zu berücksichtigen, ob und wie deren Ergebnisse in Anwendungsbereichen fruchtbar gemacht werden können. Aus dieser Perspektive lassen sich leicht Gründe dafür anfuhren, daß es dringend erforderlich ist, daß Grammatiker dem System der Getrennt-/Zusammenschreibung im Deutschen größere Aufmerksamkeit widmen, als sie es bisher getan haben. Der derzeit offensichtlichste ist, daß eine sorgfältige und heutigen linguistischen Standards entsprechende Analyse der grammatischen Grundlagen der Getrennt-/Zusammenschreibung unerlässlich fur eine fundierte Beurteilung der durch die Rechtschreibreform herbeigeführten Veränderungen dieses Bereichs des deutschen Schriftsystems wäre. Daß die germanistische Sprachwissenschaft bisher keine solche Analyse vorgelegt hat (vgl. Kap. 2), hat wesentlich zu dem niedrigen Niveau und

in d e r dtv-Bibliothek d e r E r s t a u s g a b e n , 1997) nach G e t r e n n t - / Z u s a m m e n s c h r e i b u n g e n absucht, die mit den F e s t l e g u n g e n des letzten R e c h t s c h r e i b - D u d e n s vor der R e f o r m ( 1 9 9 1 ) nicht kompatibel sind, findet m a n erst auf Seite 7 einen Beleg ( statt ) , und dann lange wieder nichts. Das ist g e m e s s e n an der G e s a m t z a h l der Textstellen, an denen sich U n t e r s c h i e d e in der G e t r e n n t - / Z u s a m m e n s c h r e i b u n g m a n i f e stieren könnten, eine verschwindend geringe Fallzahl. 6

Vgl. z.B. Culicover (1999).

Vorwort

VIII

dem unerfreulichen Verlauf der Diskussion dieses besonders umstrittenen Teils der Reform 7 beigetragen (vgl. Kap. 1). Übrigens könnte man einige dieser Argumente für eine Systemanalyse der Getrennt-/Zusammenschreibung nicht nur gegen Einwände anführen, die typischerweise von theoretischen Linguisten erhoben werden, sondern auch gegen solche, die aus einer bestimmten sprachdidaktischen Perspektive naheliegen, die in Deutschland eine lange Tradition hat. 8 Sie ist gekennzeichnet durch die "didaktische Abkoppelung der unterrichteten Systeme von der systematischen Reflexion auf die Strukturen der Schriftkultur" 9 und die oft damit einhergehende Meinung, die in einer Sprachgemeinschaft gültigen Schreibnormen seien sowohl im Hinblick auf ihre Entstehung als auch hinsichtlich ihrer Weiterentwicklung ausschließlich Sache der jeweiligen Kodifikations- oder Instruktionsinstanzen, bedürften also keiner von den praktischen Gesichtspunkten dieser Instanzen (Festlegung, Vermittlung etc.) unabhängigen Systemanalyse. Die vorliegende Arbeit geht dagegen von einer sinnvollen Arbeitsteilung zwischen der Grammatikforschung einerseits, der Sprachdidaktik (und anderen anwendungsbezogenen Teilen der Sprachwissenschaft) andererseits aus, bei der jedes Gebiet das tut, was es am besten kann: Die Grammatikforschung erstellt unabhängig von Anwendungsgesichtspunkten - gewissermaßen sine ira et studio - sorgfältige Analysen der Strukturen und Gesetzmäßigkeiten des jeweiligen sprachlichen Bereichs (hier: der Getrennt-/Zusammenschreibung), und die Sprachdidaktik verwendet diese grammatischen Analysen zur sprachtheoretischen Fundierung ihrer ebenso sorgfältig erarbeiteten Vorschläge für einschlägige Anwendungsbereiche (wobei sie die grammatischen Analysen, wenn es etwa um die Vermittlung der jeweiligen sprachlichen Zusammenhänge im schulischen Kontext geht, natürlich nicht unverändert übernehmen kann). Aus dieser Sicht ist das Verhältnis zwischen Grammatikforschung und Sprachdidaktik auch im Hinblick auf das Schriftsystem kein prinzipiell anderes als z.B. das zwischen biologischer Forschung und Biologiedidaktik. Erfreulicherweise teilen inzwischen manche Sprachdidaktiker diese Vorstellung von einer arbeitsteiligen Zusammenarbeit mit der Grammatikforschung, und nicht wenige (wenn auch immer noch zu wenige) Linguisten erkennen, daß es sinnvoll ist, sich auch Themen wie der Getrennt-/Zusammenschreibung zuzuwenden, die sprachtheoretisch prima facie wenig gewinnbringend erscheinen. Entsprechend habe ich im Verlauf der Arbeit an diesem Buch von beiden Seiten Hilfe und Anregung erhalten, sei es durch längere, z.T. sehr ausgefeilte Kommentare, sei es durch knappe, aber treffende Hinweise. Be7

Bekanntlich stieß die N e u r e g e l u n g der G e t r e n n t - / Z u s a m m e n s c h r e i b u n g in der Ö f f e n t l i c h k e i t (und auch in d e r Linguistik) auf breite A b l e h n u n g . Ich erspare es mir, die d i e s b e z ü g l i c h e n Kontroversen in dieser Arbeit noch einmal Revue passieren zu lassen.

8

Vgl. M a a s (2000: 1.4 und passim).

9

M a a s (2000: 58).

IX

Vorwort

sonders danken möchte ich Hans Altmann, Kerstin Blume, Peter Eisenberg, Stefan Engelberg, N a n n a Fuhrhop, Theodor Ickler, Martin Neef, Beatrice Primus, Susanne Uhmann und Theo Vennemann. Sehr hilfreich waren auch Reaktionen des Publikums von Vorträgen zur Getrennt-/Zusammenschreibung, die ich an den Universitäten Wuppertal und Köln gehalten habe, sowie Diskussionen mit Studenten, die ich in diversen Lehrveranstaltungen mit dem Thema traktierte. Außerdem gilt mein Dank den Herausgebern der Reihe "Linguistik - Impulse & Tendenzen" fur nützliche Kommentare und Hinweise zur Textgestaltung, Heiko Hartmann, Angelika Hermann und Susanne Rade vom Walter de Gruyter Verlag für verlegerische Betreuung und technische Hilfe bei der Einrichtung der Druckvorlage sowie Julia Wiesner fur Unterstützung bei der Erstellung der Register. 10

Wuppertal, im Januar 2005

10

Joachim Jacobs

Kurz vor A b s c h l u ß der inhaltlichen Arbeit am vorliegenden Buch m a c h t e mir N a n n a F u h r h o p ihre H a b i l i t a t i o n s s c h r i f t "Wortartige Z w i s c h e n f ä l l e " ( P o t s d a m 2 0 0 4 ) z u g ä n g l i c h , die sich thematisch mit meiner U n t e r s u c h u n g überschneidet. Leider konnte ich dieses wichtige W e r k hier nicht m e h r berücksichtigen.

Inhalt Vorwort

V

1.

Einleitung

1

1.1 1.2

Ziele Daten

1 4

1.3

Überblick

7

2.

Zum Stand der Forschung

9

3.

Theoretische Grundlagen

3.1

Lautsprachliche Zeichen und ihre

13

3.5

graphische Repräsentation Grundsätzliches zum Aufbau und zu den Aufgaben einer GZS-Theorie Wortgrenzen und Spatiensetzung in der Optimalitätstheorie Operativität, Universalität und Strukturbezogenheit von GZS-Beschränkungen Verantwortliche Faktoren und Indizien

28 31

4.

Das System der Kern-GZS

33

4.1 4.1.1 4.1.2

34 35

4.2

Zusammenschreibung in morphologischen Bildungen Morphologische Bildung Interaktionen zwischen morphologischer und syntaktischer Bildung E f f e k t e syntaktischer Prozesse Die Grenzen der Morphologie Typische Merkmale morphologischer Bildungsmuster Anwendung auf Partikelverben und eine Hypothese über die Grenzen der Morphologie Semantische Inkorporationen: ein Testfall Zusammenfassung Verankerung im GRUNDPRINZIP, Universalität und Strukturbezogenheit Getrenntschreibung von Teilausdrücken

4.3

D i e Interaktion v o n ZUS-MORPH u n d GETR-AUSDR

4.4 4.4.1

Spezifische Regeln, Irregularitäten und lexikalische Trends ... 106 Univerbierungen 106

3.2 3.3 3.4

4.1.3 4.1.4 4.1.4.1 4.1.4.2 4.1.4.3 4.1.4.4 4.1.5

13 17 21

40 45 53 56 67 87 93 94 97 101

ΧΠ

Inhalt

4.4.2 4.4.3 4.4.4 4.5 4.5.1 4.5.2 4.5.3 4.5.4 4.6 4.6.1 4.6.2 4.6.3 4.6.4 4.6.5 4.6.6 4.6.7 4.6.8

Semi-Partikelverben 109 fehlschlagen, heimzahlen etc 113 Klitika und ZM-Infinitive 114 Autonome Beschränkungen 120 Spatien und Abschnittsmarkierungen 121 Spatien, Binde- und andere Striche 122 Spatien und Zeilenränder 125 Sparsame Spatiensetzung 126 Verantwortliche Faktoren und Indizien in der Kern-GZS 128 Beweglichkeit und syntaktische Erweiterbarkeit 129 Abweichungen von der syntaktischen Wohlgeformtheit 133 Betonung von Erstgliedern 135 Abweichungen von syntaktischen Flexionsmöglichkeiten 137 Abweichungen von syntaktischen Negationsmöglichkeiten .... 138 Abweichungen von syntaktischen Bedeutungsstrukturen 139 Lexikalisierung 141 Zusammenfassung 141

5.

Das System der Alt-GZS

5.1

5.4

Für die Alt-GZS spezifische Schreibungen, die O l entsprechen Partizipiale Komplexe Verbale Komplexe Für die Alt-GZS spezifische Schreibungen, die O l widersprechen Operative Beschränkungen und lexikalische Trends in der Alt-GZS Eingeschränkte Geltung lexikalischer Festlegungen

6.

Bewertung des Systems der Alt-GZS

162

6.1 6.2

Komplexität, Homogenität, Systematizität Anwendungsaspekte

162 164

7.

Vergleich mit anderen Analysen

169

5.1.1 5.1.2 5.2 5.3

144

144 144 148 150 153 160

Inhalt

XIII

8.

Das System der Neu-GZS

8.1

8.7

Zum Aufbau und zur Interpretation des Texts der amtlichen Neuregelung Ol-Gesetze bleiben operativ Neue Interface-Gesetze kommen hinzu Neue Gesetze für Verben Neue Gesetze fur Partizipien und Adjektive Die Interaktion der Beschränkungen Irregularitäten und lexikalische Trends Bewertung des Systems der Neu-GZS Abschließende Bemerkungen zu Anwendungsgesichtspunkten Nachschrift: Die Reform der Reform

200 203

9.

Resümee

211

8.2 8.3 8.3.1 8.3.2 8.3.3 8.4 8.5 8.6

173

173 177 179 180 185 189 192 195

Literatur

215

Sachregister

225

Beispielregister

229

1. Einleitung 1.1

Ziele

Spatien sind die Zwischenräume, die in der Schrift vieler Sprachen zur graphischen Markierung von Wortgrenzen eingesetzt werden. 1 Die Setzung bzw. Nicht-Setzung von Spatien wird als Getrennt-/Zusammenschreibung (GZS) bezeichnet. Die vorliegende Arbeit untersucht das System der GZS im heutigen Standarddeutschen, geht also der Frage nach, welchen Gesetzen die Markierung von Wortgrenzen durch Spatien in dieser Sprache folgt. Eine zentrale Hypothese dieser Untersuchung ist, daß die deutsche GZS unter dem Einfluß mehrerer Faktoren steht, die in Konflikt miteinander geraten können. 2 Die auftretenden Faktorenkonflikte werden mit Hilfe der Optimalitätstheorie (OT) expliziert, die hierfür ein präzises, gut erprobtes Instrumentarium bereitstellt. 3 Es soll gezeigt werden, daß der zentrale Bestandteil des Systems der deutschen GZS (genauer: jeder Variante dieses Systems, s. 1.2) eine OT-Ordnung von Beschränkungen C, » C 2 . . . » C n ist, die j e einen grammatischen Faktor als Bedingung für die Einfügung oder Nicht-Einfügung eines Spatiums festlegen, wobei die Position der Beschränkungen in der Ordnung ihre relatives Gewicht zum Ausdruck bringt. Wie sich Konflikte zwischen zwei Beschränkungen C x und C y bzw. zwischen den entsprechenden Einflußfaktoren auswirken, ergibt sich dann aus dem OT-Modus der Ermittlung optimaler Kandidaten (hier: des Kandidaten mit der optimalen Spatiensetzung), nach dem eine Verletzung von C x durch die Einhaltung von C y kompensiert werden kann, wenn C y höher in der Ordnung steht (also wichtiger ist) als C x . Daß es mehrere, z.T. konfligierende Faktoren gibt, die die GZS in dieser Weise beeinflussen, liegt, so eine weitere zentrale Annahme, unter anderem an der schon erwähnten Aufgabe der Spatiensetzung, Wortgrenzen zu markieren. In der Lautsprache ergeben sich Wortgrenzen nach verschiedenen syntaktischen, semantischen und phonologischen Kriterien, die häufig divergieren. Da sich die GZS wesentlich (wenn auch nicht ausschließlich) an lautsprachlichen Wortgrenzen orientiert, kann sich im Prinzip jedes dieser zahlreichen Kriterien in einer Beschränkung der beschriebenen Art als Bedingung für die Spatiensetzung auswirken. Es wird sich jedoch zeigen, daß das deutsche Schriftsystem hier eine Auswahl trifft, die zur Folge hat, daß nur relativ wenige dieser Kriterien wirksam werden. 1 2 3

Daneben haben Zwischenräume im Schriftsatz verschiedene andere Funktionen (etwa die Sperrung von Wörtern), die hier nicht berücksichtigt werden. Punktuelle Hinweise auf Konflikte zwischen Einflußfaktoren (oder Regeln) finden sich mehrfach in der GZS-Literatur, so bei Schaeder (1997: 184) und Gallmann (1999: 279). Einen Überblick über die OT geben Archangeli/Langendoen (1997), Kager (1999), McCarthy (2002) sowie speziell zur OT-Syntax Müller (2000).

2

Einleitung

Die Verankerung von GZS-Gesetzen in der übergeordneten A u f g a b e der Wortabgrenzung fuhrt allerdings nicht dazu, daß diese Gesetze stets den gleichen Grad von Allgemeingültigkeit haben Vielmehr unterscheiden sich GZSBeschränkungen, wie alle anderen grammatischen Gesetze, nicht nur durch den Grad ihrer Wichtigkeit im jeweiligen Sprachsystem (der durch ihre Position in der OT-Ordnung expliziert wird, s.o.), sondern auch durch ihre Reichweite: Neben sehr allgemeinen, eine große Zahl von Schreibungen erfassenden Gesetzen, gibt es spezifische GZS-Beschränkungen, die sich nur auf eng begrenzte Fallklassen auswirken. Außerdem ist damit zu rechnen, daß einzelne GZS-Gesetze nicht auf die übergeordnete Funktion der Wortabgrenzung zurückgeführt werden können, sondern ad hoc bei bestimmten Arten von Zeichen Getrennt- bzw. Zusammenschreibung fordern. Zusätzlich zu Beschränkungen, die auf Eigenschaften der zu schreibenden lautsprachlichen Zeichen bezogen sind, gelten für die Spatiensetzung diverse autonome Gesetze des Schriftsystems, d.h. solche, die unabhängig von lautsprachlichen Eigenschaften bestimmte graphische Konstellationen fordern oder verbieten. Diese autonomen GZS-Gesetze beziehen sich unter anderem auf die relative Anordnung von Spatien und Satzzeichen und gehen mit in die OT-Beschränkungsordnung ein. Des weiteren steht eine Reihe von grammatischen Phänomenen dadurch in Bezug zur GZS, daß es empirische Korrelationen zwischen ihnen und dem lautsprachlichen Faktor gibt, auf dem eine GZS-Beschränkung beruht. Diese Phänomene werden damit zu Indizien für die Einschlägigkeit der Beschränkung, ohne selbst für die GZS verantwortlich zu sein. Schließlich ist zu erwarten, daß manche Spatiensetzungen den Status von Ausnahmen haben, also nicht den hier zu explizierenden GZS-Gesetzen folgen. Solche irregulären und deshalb im Lexikon festzuhaltenden Schreibungen sind aber, wie sich zeigen wird, oft nicht völlig unsystematisch, sondern folgen bestimmten Trends. Auf der Grundlage dieser Differenzierung der GZS-Gesetze bzw. der ihnen entsprechenden Einflußfaktoren - wichtige vs. weniger wichtige Gesetze, allgemeingültige vs. spezifische Gesetze, in der Wortabgrenzungsfunktion verankerte vs. Ad-hoc-Gesetze, auf lautsprachlichen Eigenschaften beruhende vs. autonome Gesetze, verantwortliche Faktoren vs. Indizien - und einer möglichst genauen Grenzziehung zwischen regulären und irregulären Schreibungen sollen hier die notorischen Probleme der Analyse der deutschen G Z S einer Lösung näher gebracht werden, zuvorderst natürlich das der Ermittlung der Determinanten der Spatiensetzung. Wovon hängt es ab, ob wir an einer bestimmten Stelle der Graphemfolge eine Wortgrenze annehmen und deshalb ein Spatium setzen? In Ermangelung einer ausgearbeiteten Theorie des G Z S Systems (vgl. Kap. 2) konkurrieren zu dieser Frage bis heute sehr unterschiedliche, bisher nicht ausreichend überprüfte Ansichten. Man kann sie grob in zwei Gruppen aufteilen: Einerseits wird häufig vermutet, daß die An- oder

Ziele

3

Abwesenheit von durch Spatien zu markierenden Wortgrenzen hauptsächlich von Eigenschaften der sprachlichen Form der betroffenen Zeichen abhängt. Andererseits ist die A n n a h m e verbreitet, es seien im wesentlichen gewisse inhaltliche Eigenschaften, die im Deutschen Getrennt- bzw. Z u s a m m e n schreibung auslösen. Diese beiden Positionen können im Rahmen der hier zu entwickelnden Modellierung der GZS präzisiert und damit überprüfbar gemacht werden. Aus dieser Aufgabenstellung ergeben sich, wie im Vorwort schon angedeutet, Bezüge zur Neuregelung der GZS durch die Rechtschreibreform, die 1998 in Kraft getreten ist und nach dem gegenwärtigen Stand der politischen Entscheidungsfindung am 1. August 2005 mit einigen Änderungen verbindlich werden soll. Wenn die vorliegende Arbeit ihre eben umrissenen Ziele erreicht, kann sie einer rationalen Diskussion jener zentralen Fragen der Neuregelung den Weg ebnen, deren Klärung eine adäquate Analyse des Systems der deutschen GZS (in den im Hinblick auf die Reform zu vergleichenden Varianten, s.u.) voraussetzt, aber mangels Verfügbarkeit einer solchen Analyse bis heute nicht möglich war. Eine dieser Fragen ist, ob Kritiker der GZS-Neuregelung Recht haben, wenn sie ihr vorwerfen, sie sei "systemwidrig" 4 oder verstoße gegen "wesentliche Grundsätze der Zusammenschreibung". 5 Ein linguistisch fundiertes Urteil darüber, ob dieser Vorwurf zutrifft, muß offensichtlich auf einer geeigneten Explikation des Systems bzw. der wesentlichen Grundsätze der deutschen GZS beruhen. Von einer adäquaten Systemanalyse kann darüber hinaus auch die Diskussion anwendungsbezogener Fragen der GZS(-Reform) profitieren, etwa solcher der Kodifikation oder der didaktischen Umsetzung dieses Bereichs des Schriftsystems. 6 Hier werden solche Fragen allerdings nur ausblicksweise berührt. Auch zum Verhältnis der aktuellen deutschen GZS zu anderen Spatiensetzungssystemen, insbesondere solchen aus früheren Stadien des Deutschen, werde ich nichts sagen, obwohl gerade in dieser Hinsicht die O T interessante Perspektiven eröffnet. 7 Schließlich lasse ich auch manche wichtigen weiterführenden Fragen außer acht, etwa die, wie bestimmte Systeme der graphischen Auszeichnung von Wörtern durch Spatien (oder der Unterlassung einer solchen Auszeichnung, wie z.B. in den Schriftsystemen des Chinesischen und des Thai) den Wortbegriff der Personen beeinflussen, die diese Systeme als Leser/Schreiber internalisiert haben. Solche Einflüsse haben kulturgeschichtlich wahrscheinlich eine nicht unbedeutende Rolle gespielt, 8 und sie prägen wohl bis zu einem gewissen 4 5 6 7 8

Ickler (1997a: 4 8 - 9 0 , passim). Munske (1997: 313). Vgl. die Anmerkungen zum Verhältnis von grammatischer Systemanalyse und Sprachdidaktik im Vorwort. Zur Geschichte der deutschen GZS vgl. z.B. Herberg (2000), Maas (2000: 351 - 358). Vgl. z.B. Olson (1994).

4

Einleitung

Grad auch die (oft unreflektierten) Annahmen von Sprachwissenschaftlern darüber, welche Zeichen als Wörter zu betrachten sind. 9

1.2

Daten

Es wurde schon angedeutet, daß hier von mehreren Varianten des deutschen GZS-Systems statt von einem homogenen System ausgegangen wird. Das ist darin begründet, daß die GZS in der aktuellen deutschen Standardsprache infolge der Rechtschreibreform in zwei Versionen existiert, die ich als Alt-GZS und Neu-GZS bezeichne. Die Alt-GZS entspricht extensional der Menge aller Spatiensetzungen, die vor dem Inkrafttreten der Reform, also vor dem 1. August 1998, in der Orthographie des Standarddeutschen als korrekt galten. Die Neu-GZS manifestiert sich dagegen extensional in der Menge aller Spatiensetzungen, die im Einklang mit dieser Orthographiereform stehen. Bekanntlich sind diese beiden Mengen nicht identisch, d.h. es gibt eine nicht zu vernachlässigende Anzahl von Spatiensetzungen, die nicht in beiden Mengen enthalten sind. Deshalb nehme ich an, daß Alt- und Neu-GZS auch intensional, d.h. im Hinblick auf das ihre Gesetzmäßigkeiten steuernde System, verschieden sind. Entsprechend werden die beiden GZS-Varianten hier separat analysiert. Allerdings ist nicht zu übersehen, daß die Spatiensetzung durch die Neuregelung nur in relativ wenigen Fällen verändert wurde. 10 Es gibt also eine große Menge von Schreibungen, hinsichtlich derer sich Alt- und Neu-GZS nicht unterscheiden. Ich nehme an, daß sich in dieser Menge von in beiden Varianten zulässigen und damit in der Regel unstrittigen Schreibungen, die ich als Kern-GZS bezeichne, jene Grundsätze manifestieren, die im Lauf der Entwicklung des deutschen Schriftsystems bis 1998 zum selbstverständlichen Maßstab richtiger Spatiensetzung geworden sind. Entsprechend gehe ich davon aus, daß man diese Grundsätze über die Analyse der K.ern-GZS ermitteln kann. Ein solches unkontroverses Kern-System wurde in der Diskussion der GZSReform häufig als implizites Tertium comparationis herangezogen, etwa in dem in 1.1 erwähnten Vorwurf, die Neuregelung sei systemwidrig. Damit wird 9

Vgl. Kramsky (1969), Stetter (1997), Ägel/Kehrein (2002).

10

Munske (1997b: 152) geht von ca. 1000 bis 2 0 0 0 Änderungsfällen aus. Das könnte zu niedrig angesetzt sein, denn einige Regeländerungen betreffen die Schreibung von Zeichen, die durch produktive Prozesse neu gebildet werden können (etwa von Partizipialadjektiven, vgl. 8.3.2). Aber auch, wenn man das mit einrechnet, ist der Umfang der Änderungen im Verhältnis zur Gesamtzahl der Kontaktstellen zwischen Teilausdrücken, an denen sich bei schriftlich realisierten Zeichen des Deutschen die Frage der Spatiensetzung stellt (vgl. 3.1, 3.2), sehr gering. Entsprechend niedrig ist auch die Vorkommenszahl von geänderten Spatiensetzungen in orthographisch korrekten Texten. So müßte ich, wenn ich dieses Einleitungskapitel von der alten auf die neue Rechtschreibung umstellen wollte, bisher keine einzige Getrennt- oder Zusammenschreibung ändern. (Dort, w o solche Änderungen vorkommen, können sie allerdings auffällig sein, da sie den Intuitionen vieler Leser/Schreiber zuwiderlaufen, vgl. 8.5.)

5

Daten

offensichtlich behauptet, es gebe Widersprüche zwischen Reformvorschlägen und unstrittigen (wenn auch von den Reformern angeblich nicht beachteten) Grundsätzen der Spatiensetzung im Deutschen. 1 1 Aber auch Befürworter der Reform bezogen sich gelegentlich auf einen unkontroversen Grundbestand an GZS-Gesetzen, etwa wenn einer von ihnen dafür plädierte, daß "die Grundregel im Deutschen, dass Kopfadjunkte getrennt zu schreiben sind, [...] nicht weiter aufgeweicht werden" sollte. 12 Diesem in solchen Beiträgen zur Reformdiskussion implizit angesprochenen, bisher aber nicht adäquat analysierten Kern-System der deutschen GZS soll hier besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden. Als Datengrundlage für die Alt-GZS dienen das Wörterverzeichnis des letzten vor der Reform erschienenen Rechtschreib-Dudens (1991) sowie Beispiele, die in den dortigen GZS-Richtlinien genannt wurden oder von mir auf der Grundlage meiner hoffentlich zuverlässigen Intuitionen über diese GZSVariante konstruiert wurden. - Die N e u - G Z S ist im Hinblick auf die Daten problematisch. Einerseits kann sich bisher wohl niemand eine zuverlässige intuitive Kenntnis dieser GZS-Variante zuschreiben, andererseits sind die einschlägigen Abschnitte der amtlichen Regelung (Duden 1997, Teil B, § 33 §39) teilweise unklar oder unvollständig, so daß sich auch auf ihrer Grundlage nicht immer zweifelsfrei feststellen läßt, ob eine gegebene Schreibung der Neu-GZS entspricht oder nicht. Vorsichtshalber werde ich deswegen als Daten zur Neu-GZS hauptsächlich Beispiele heranziehen, die in den amtlichen Regeln selbst oder in dem beigefügten exemplarischen Wörterverzeichnis (vgl. Duden 1997) genannt werden. Gelegentlich müssen aber auch andere Beispiele betrachtet werden, und diese werden dann sorgfaltig auf ihre Übereinstimmung mit den entsprechenden Formulierungen des amtlichen Texts zu prüfen sein. Dabei gehe ich von einer bestimmten Interpretation des Texts der Neuregelung aus, die einem Deutungsprinzip folgt, das vorher schon zur Beseitigung einiger Unklarheiten in der Alt-GZS eingesetzt wird. Die Kern-GZS umfaßt extensional alle Spatiensetzungen, durch die sich Alt-GZS und N e u - G Z S nicht unterscheiden (s.o.). Deshalb wird das System dieser Schreibungen anhand von Beispielen ermittelt, die in der Schnittmenge der zur Alt- bzw. zur N e u - G Z S heranzuziehenden Datenmengen liegen. Die partielle Abhängigkeit der Daten zur N e u - G Z S von einer bestimmten Interpretation des Texts der Neuregelung (s.o.) überträgt sich natürlich auf diese Schnittmenge.

11

Eine "Systemwidrigkeit", die nur darin bestünde, daß sich die N e u - G Z S in bestimmten Punkten von der Alt-GZS unterscheidet, könnte kaum gegen die Neuregelung ins Feld gefuhrt werden. Schreibungen sind ja nicht schon deshalb schlecht, weil sie neu sind.

12

Gallmann (1999: 301). Der Kotext macht deutlich, daß Gallmann diese "Grundregel" nicht nur für die N e u - G Z S postuliert, sondern als einen Grundsatz betrachtet, der schon die AltGZS prägte.

Einleitung

6

Außer acht bleiben hier Tendenzen der nicht-orthographischen Spatiensetzung im aktuellen Schreibusus, insbesondere die zunehmende Getrenntschreibung nominaler Komposita, z.B. , , . Dieser Trend hat nichts mit der Rechtschreibreform zu tun, wie meine bis 1988 zurückreichende Sammlung von Belegen (auch der gerade genannten) zeigt, die im übrigen die Ansicht Dürscheids (2000) stützt, daß es sich in vielen Fällen um eine Anlehnung an das englische Spatiensetzungssystem handelt, aber auch erkennen läßt, daß bestimmte grammatische Faktoren die falsche Getrenntschreibung begünstigen, etwa Namen als Erstglieder, das Fehlen von Fugenelementen und das Vorliegen von mehr als zwei autosemantischen Teilgliedern. Ein genauere Analyse muß einer späteren Arbeit vorbehalten bleiben. 13 Als direkte Folge der Rechtschreibreform ist es dagegen zu betrachten, daß seit einigen Jahren auch renommierte Wörterbücher Schreibungen vorschlagen, die nicht den offiziell gültigen orthographischen Regeln entsprechen, womit sie eine Art Hybrid-GZS in die Welt setzen, die bestimmte durch die Neu-GZS ausgeschlossene Spatiensetzungen der Alt-GZS wieder zuläßt, oft als Varianten der entsprechenden Neuschreibungen. So findet man im Rechtschreib-Duden des Jahres 2000 alternativ zu den in der Neu-GZS vorgeschriebenen Getrenntschreibungen , m+i Landung, 2. Not + Landung =>m+1 Notlandung, 3. Notlandung =>m+i notlanden. Der letzte Schritt beruht auf der rückwärtsbildenden Anwendung (und nachfolgenden Lexikalisierung des Outputs) einer Variante des morphologischen Musters, das Verben in N o m i n a actionis mit -ung überführt. Das Verb notlanden wurde also aus dem schon vorhandenen N o m e n Notlandung aufgrund der Annahme gebildet, daß das Paar in der durch das Muster der ungNominalisierung beschriebenen Relation steht. (Wie die vorangehenden Derivationsschritte zeigen, ist diese Annahme falsch, denn tatsächlich ist Notlandung durch Komposition von Not und Landung entstanden. Solche Fehlanaly11

12

Das ist natürlich nicht so zu verstehen, daß die Zusammenschreibung dadurch ausgelöst wird, daß Sprecher/Schreiber bei der Verwendung des Zeichens im Geiste eine solche Derivation vornehmen. Es geht vielmehr darum, ob es die Regeln der jeweiligen Sprache erlauben, dem Zeichen eine Derivation der fraglichen Art zuzuordnen. Vgl. z.B. Günther (1997).

40

Das System der Kern-GZS

sen der Derivation des als Basis dienenden Zeichens, hier von Notlandung, sind typisch für Rückwärtsbildungen. 1 3 ) - Die GZS ist allerdings für die Unterscheidung von Vorwärts- und Rückwärtsbildung nicht sensitiv. In beiden Fällen liegen kreative Anwendungen morphologischer Bildungsmuster vor, also muß nach ZUS-MORPH in beiden Fällen zusammengeschrieben werden, wenn diese Musteranwendungen (in den Varianten => m oder =>m+i) im letzten Schritt der Derviation des Zeichens erfolgen. Deshalb schreiben wir und nicht . Im übrigen spreche ich von Rückwärtsbildung und nicht, wie in der Literatur üblich, von Rückbildung, da der zweite Begriff meist enger - und für die Zwecke dieser Untersuchung zu eng - gefaßt wird. Als Rückbildungen werden nämlich oft nur solche Rückwärtsbildungen bezeichnet, bei denen Teilausdrücke des Basisworts weggelassen werden. In diesem Sinn ist notlanden nicht nur eine Rückwärts-, sondern auch eine Rückbildung, denn das ~ung des Basisworts wurde weggelassen. Dagegen sind z.B. Bildungen von Verben auf der Basis von komplexen nominalisierten Infinitiven, etwa von kopfrechnen aus (das) Kopfrechnen, keine Rückbildungen, wohl aber Rückwärtsbildungen, da j a auch hier aus einem Wort im Nachbereich eines morphologischen Musters, hier des Musters der Infinitivkonversion (s.u.), ein entsprechendes Vorbereichswort erschlossen wurde. Im Hinblick auf die GZS verhalten sich solche nicht-subtraktiven Rückwärtsbildungen genau wie die subtraktiven.

4.1.2 Interaktionen zwischen morphologischer und syntaktischer Bildung Daß es für den hier relevanten Begriff von morphologischer Bildung tatsächlich darauf ankommt, ob, wie in M B festgehalten, der letzte Schritt der einschlägigen Derivation einem morphologischen Bildungsmuster entspricht, sieht man an Derivationen, in denen neben morphologischen auch syntaktische Bildungsmuster angewandt werden. Zunächst einige Erläuterungen zu letzteren. Auch syntaktische Bildungsmuster lassen sich als Beschreibungen einer Relation zwischen -Tripeln, also zwischen lautsprachlichen Zeichen, explizieren. Ihre in der Generativen Grammatik übliche Notation in Form von Phrasenstruktur- oder Transformationsregeln nimmt jedoch, anders als die eben eingeführte Schreibweise für morphologische Muster, ausschließlich auf KR-Merkmale Bezug. So ist in einer typischen generativen Phrasenstrukturregel, z.B. VP -H>NP V, von der PR und der SR der betroffenen Zeichen nicht die Rede, und das gilt erst recht für generellere Formulie-

13

Ein weiteres Charakteristikum von Rückwärtsbildungen sind unvollständige Paradigmen, vgl. z.B. Wurzel (1991).

41

Zusammenschreibung in morphologischen Bildungen

rungen solcher Regeln, z.B. für das X-bar-Regelschema XP - > Y P Y. 1 4 In diesem Fehlen eines Bezugs zu PR und SR manifestiert sich die syntaktikozentrische Architektur generativer Grammatiken. Es erscheint aber auch aus der hier eingenommenen repräsentationell-modularen Perspektive nicht ungerechtfertigt, entspricht es doch der Tatsache, daß das durch syntaktische Bildungsmuster beschriebene Verhältnis zwischen -Komplexen im typischen Fall keine spezifischen PR- oder SR-Bedingungen beinhaltet, d.h. keine PR-/SR-Bedingungen, die sich nicht schon aus allgemeineren grammatischen Regeln ergeben, fur die PR z.B. aus Beschränkungen der Wortstellungs-, Akzentuierungs- oder Intonationstheorie 15 und für die SR aus allgemeinen Gesetzen der syntaktischen Bedeutungskomposition. 16 Damit ist die Aufnahme solcher Bedingungen in die Beschreibung der einzelnen Bildungsmuster oft redundant. Das verdeutlicht die folgende Anpasssung der generativen Regel VP —» NP V an das oben für morphologische Muster eingeführte repräsentationell-modulare Notationsformat, in der "...." auf redundante Aspekte hinweist: Γ

Λ

r

NP

r

Λ

VP

V

•Δ

A

Χ

X

. 14

15

16

j

V

J

K.

Y

J

Vgl. z.B. Haegeman (1994: Kap. 2). Noch weiter generalisiert werden syntaktische Bildungsmuster in der minimalistischen Variante der Generativen Grammatik, nämlich in Form der beiden verallgemeinerten Transformationen 'Merge' und 'Move', vgl. Grewendorf (2002: Kap. 5). Die PR syntaktisch gebildeter Komplexe beruht in der Regel auf einer Verkettung der Segmentfolgen in den PRen der jeweiligen Teilausdrücke, wobei sich die Abfolge der Teil-PRen aus allgemeinen Wortstellungsbeschränkungen und der Rektionsrichtung der HauptKonstituente ergibt. Auch die Akzentuierung folgt allgemeinen Prinzipien, die ich in verschiedenen Arbeiten zu explizieren versucht habe, z.B. Jacobs (1982), Jacobs (1993). Entsprechendes gilt wahrscheinlich in der Regel auch für die Intonation (soweit diese überhaupt grammatisch festgelegt ist) sowie für syntaktische Sandhi-Phänomene. Vgl. Jacobs (1995) und 4.1.4.1 unten. Inwieweit allerdings tatsächlich alte SR-Aspekte syntaktischer Bildungen auf allgemeine Bedeutungskompositionsprinzipien zurückgeführt werden können, ist beim gegenwärtigen Stand der Forschung noch unklar. Ich nehme an, daß in eingeschränktem Umfang auch mit musterspezifischen (also konstruktionsabhängigen) SR-Aspekten zu rechnen ist. Doch auch dann werden die SR-Effekte syntaktischer Bildungsmuster insgesamt weit weniger vielfältig und spezifisch sein als die von morphologischen Bildungsmustern.

42

Das System der Kern-GZS

Wenn aber die gesamte PR- und die gesamte SR-Ebene eines solchen Bildungsmusters redundant ist, ist es naheliegend, diese Ebenen in der Notation ganz wegzulassen. 1 7 Genau das tut die vertraute generative Schreibweise für syntaktische Regeln. Bei morphologischen Bildungsmustern ist eine entsprechende notationelle V e r e i n f a c h u n g gerade deshalb nicht möglich, weil sie ebenenübergreifend sind, d.h. stets nicht nur auf der KR-, sondern auch auf der PR- und/oder der SR-Ebene Bedingungen beinhalten, die nicht aus allgemeineren Regeln folgen, sondern von Muster zu Muster verschieden sind. Darüber hinaus variieren auch die KR-Bedingungen morphologischer Bildungsmuster stärker als die von syntaktischen Mustern. Deshalb widersetzen sich morphologische Bildungsmuster weitgehend dem Versuch, sie zu allgemeingültigen Regelschemata zu generalisieren, wie man es für syntaktische Bildungsmuster durch die X-bar-Theorie getan hat. 18 Morphologische und syntaktische Bildungsmuster unterscheiden sich also empirisch erheblich (zu zahlreichen weiteren Unterschieden s. 4.1.4.1). 1 9 Sie können aber in Derivationen komplexer Zeichen interagieren, und dabei wird dann deutlich, daß es für die GZS besonders darauf ankommt, welcher Typ von Bildungsmuster im letzten Schritt angewandt wird. Man betrachte die Derivation der Nominalphrase neuer Malkurs ("=> s " zeigt die A n w e n d u n g eines syntaktischen Bildungsmusters an): 1. neu =>m neuer,20 2. malen + Kurs 17

Allerdings ist 'Weglassen' nicht die einzige Möglichkeit, vorhersagbare Züge von Bildungsmustern als solche zu kennzeichnen. Wie schon in Anm. 5 oben bemerkt, kann Prädiktabilität auch durch Vererbungsbeziehungen zwischen Mustern verschiedenen Allgemeinheitsgrads zum Ausdruck gebracht werden. Für syntaktische Muster wird eine solche Analyse von der sog. Construction Grammar (z.B. Kay/Fillmore 1999) und von Jackendoff (z.B. 2002: 6.7) anvisiert.

18

Übrigens gilt das auch für die Komposition, die auf den ersten Blick sehr syntaxähnlich wirkt. Auf den zweiten Blick zeigen auch Komposita zahlreiche Züge, die nicht durch allgemeine Regeln erfaßt werden können. Dazu gehören neben Fugenelementen (vgl. z.B. Becker 1992) die äußerst vielfältigen, nicht auf allgemeine Interface-Gesetze zurückführbaren Akzentuierungsmuster von Komposita, vgl. z.B. Benware (2004). - Ein weiterer grundsätzlicher Unterschied zwischen morphologischen und syntaktischen Bildungsmustern liegt in der oft eingeschränkten Produktivität der ersteren. Diesen Aspekt vernachlässige ich hier.

19

Diese Sicht (die natürlich weiter begründet werden müßte) widerspricht im Hinblick auf die Bildungsmuster der vor allem unter Anhängern der Generativen Grammatik verbreiteten Hoffnung, man könne die Morphologie weitgehend nach dem Vorbild der Syntax modellieren. Sie läßt aber offen, ob und inwieweit es im Bereich der Beschränkungen (vgl. 3.2) Parallelen zwischen Morphologie und Syntax gibt.

20

Ich nehme an, daß als Input für die Anwendung von Flexionsmustern eine unmarkierte Realisierungsform des jeweils einschlägigen Stamms dient, z.B. bei der Bildung von Positivformen von Adjektiven (wie neuer) die Positiv-Prädikativform (neu), bei der Bildung von Komparativformen (wie neuere) die Komparativ-Prädikativform (neuer), bei Präsensformen schwach flektierter Verben (wie gehst) die Infinitivform (gehen) usw. Diese unmarkierten Stammrealisierungformen werden, falls sie morphologisch komplex sind, selbst durch Anwendung morphologischer Muster erzeugt, wobei ich davon ausgehe, daß auch Lexem-

Zusammenschreibung in morphologischen Bildungen

43

=> m Malkurs, 3. neuer + Malkurs =>s neuer Malkurs. D a ß wir hier und nicht * schreiben, liegt daran, daß die in der D e r i v a t i o n involvierten m o r p h o l o g i s c h e n B i l d u n g s m u s t e r nur nicht-letzte Schritte betreffen, während im letzten Schritt ein syntaktisches Muster, nämlich die f u r die H i n z u f u g u n g attributiver Adjektive zu N o m i n a einschlägige Phrasenstrukturregel, angewandt wird. Deshalb sind neuer und Malkurs nicht Teilausdrücke eines nach M B morphologisch gebildeten Zeichens. Entsprechend fordert ZUS-MORPH f u r die Teilausdrücke neuer und Malkurs keine Zusammenschreibung und macht damit den W e g frei für ihre Getrenntschreibung (die durch eine noch zu diskutierende andere B e s c h r ä n k u n g gefordert wird). M a n beachte aber, daß dadurch nicht auch die Getrenntschreibung der anderen T e i l a u s d r ü c k e der Phrase lizenziert wird, also etwa *. Sowohl neu und -er als auch mal und Kurs sind innerhalb von neuer Malkurs Teilausdrücke kleinerer Zeichen, nämlich von neuer bzw. Malkurs, deren letzter Derivationsschritt in der Gesamtderivation morphologisch ist (s.o.). Da die Regel ZUS-MORPH, wie alle grammatischen Regeln, auf j e d e s V o r k o m m e n eines Zeichens angewandt werden muß, fur das sie einschlägig ist - also auch auf einschlägige kleinere Zeichen, die als Konstituenten in größeren Zeichen v o r k o m m e n - , stünde eine Getrenntschreibung von neu und -er bzw. mal und Kurs innerhalb von neuer Malkurs in Konflikt mit ZUS-MORPH. W e n n d a g e g e n im letzten Derivationsschritt ein m o r p h o l o g i s c h e s Bild u n g s m u s t e r nach einem syntaktischen a n g e w a n d t wird, sagt ZUS-MORPH korrekt die Zusammenschreibung sämtlicher Teilausdrücke voraus. Die Möglichkeit von morphologischen nach syntaktischen Derivationsschritten besteht bei einer Reihe von morphologischen Bildungsmustern, etwa beim schon erwähnten Muster der Konversion verbaler Infinitive in N o m i n a , das man vereinfacht wie folgt charakterisieren kann: 21

21

bildungsmuster (also Komposition, Derivation etc.) solche unmarkierten Stammrealisierungen erzeugen. Die Alternative, daß Lexembildungsmuster Stämme (und nicht unmarkierte Realisierungsformen derselben) erzeugen, aus denen dann erst durch Flexion Wortformen gebildet werden, erscheint mir aus diversen Gründen unplausibel. (Für die gegenwärtige Diskussion hängt aber von der Entscheidung in dieser Frage nichts ab.) Die uneingeschränkte Produktivität sowie einige weitere Eigenschaften weisen darauf hin, daß die Infinitivkonversion eine Form der (wortartverändernden) Flexion ist, vgl. Haspelmath 1996. Die SR-Bedingung für den Nachbereich deutet an, daß sich das durch den jeweiligen verbalen Infinitiv ausgedrückte Prädikat durch die Konversion aspektuell ändert, nämlich (grob gesagt) imperfektiv wird, vgl. Ehrich (1991). Weitere, hier nicht berücksichtigte semantische Effekte der Infinitivkonversion analysiert Blume (2004).

Das System der Kern-GZS

44

r PR:

/X/

KR:

V,inf

SR:

r

/X/

J

Ν

'X[imperfektiv]'

V

J

Das Dreieck (statt einer durchgezogenen Linie) über X im KR-Teil des Inputs deutet an, daß sich im Vorbereich dieses Muster auch syntaktisch komplexe Infinitive befinden. Deshalb kann es hier zu Derivationen kommen, in denen syntaktische vor morphologischen Schritten liegen, z.B. 22 1. auf + ihn =>s auf ihn, 2. auf ihn + einreden =>s auf ihn einreden, 3. auf ihn einreden =>m Aufihn-Einreden. Da hier im letzten Schritt ein morphologisches Bildungsmuster angewandt wird, eben die Infinitivkonversion, muß nach ZUS-MORPH der ganze Komplex (das) Auf-ihn-Einreden ohne Spatien geschrieben werden, ungeachtet der syntaktischen Bildung von Teilausdrücken. Das ergibt sich wie gesagt daraus, daß ZUS-MORPH via MB Zusammenschreibung aller Teilausdrücke fordert, die in einem Zeichen enthalten sind, dessen letzter Derivationsschritt einem morphologischen Bildungsmuster entspricht. Weitere Beispiele, in deren Derivation morphologische nach syntaktischen Bildungsmustern operieren und die deshalb wegen ZUS-MORPH zusammengeschrieben werden, sind sogenannte Phrasenkomposita, z.B. (der) GraueSchläfen-Effekt mit der Derivation 1. graue + Schläfen =>s graue Schläfen, 2. graue Schläfen + Effekt => m Graue-Schläfen-Ejfekt. Die Anwendung eines morphologischen Bildungsmusters (nämlich des einschlägigen Untermusters der Determinativkomposition) im letzten Derivationsschritt ist erneut hinreichend dafür, daß alle Teilausdrücke, also auch der syntaktisch gebildete Adjektiv+Nomen-Teilkomplex, zusammengeschrieben werden. Eine ganze Gruppe von morphologischen Bildungweisen mit syntaktisch komplexen Basen umfaßt der traditionelle Begriff der Zusammenbildung,23 Dazu gehören deverbale Nomina mit -er, wie Rechtsüberholer, solche mit -ung, wie Fragestellung, und Adjektivierungen mit -ig, wie dünnhäutig. Im Unterschied zu nominalisierten Infinitiven und Phrasenkomposita werden bei Zusammenbildung die im syntaktischen Input vorhandenen funktionalen Ele-

22 23

In den folgenden Derivationen lasse ich einige irrelevante Zwischenschritte weg. Vgl. z.B. Eichinger (2000: 3.1.3).

Zusammenschreibung in morphologischen Bildungen

45

mente - Flexionsendungen, Determinatoren, Adpositionen - im Output getilgt, z.B. dünne Haut =>m+i dünnhäutig. Die verbliebenen autosemantischen Elemente werden entsprechend ZUS-MORPH und MB zusammengeschrieben. 2 4 Diese Überlegungen zeigen übrigens, daß man die GZS zu eng faßt, wenn man sie, wie die Einleitung zur GZS-Neuregelung (Duden 1997: 35), auf die Schreibung von Wörtern beschränkt, "die im Text unmittelbar benachbart und aufeinander bezogen sind" (ebd.). Es ist durchaus sinnvoll, auch fur nicht unmittelbar benachbarte oder nicht aufeinander bezogene Teilausdrücke zu fragen, ob und warum sie in der Schrift durch Spatien getrennt bzw. nicht getrennt werden. Warum werden z.B. die nicht-adjazenten und syntagmatisch nicht aufeinander bezogenen TeilausdrUcke auf und einreden in auf ihn einreden,, aber nicht in (das) Auf-ihn-Einreden durch Spatien getrennt? Wie die vorangehende Diskussion gezeigt hat, liegt diese Frage nicht außerhalb des Skopus einer Analyse der GZS-Regeln des heutigen Deutsch.

4.1.3

Effekte syntaktischer Prozesse

Besonders brisant wird der Einfluß des letzten Derivationsschritts auf die GZS in Fällen, in denen Teilausdrücke, die normalerweise strukturell eng zusammenhängen, durch bestimmte syntaktische Prozesse getrennt werden. Dieses Phänomen tritt im heutigen Deutsch hauptsächlich bei Partikelverben auf, also bei morphologisch gebildeten Verben, deren Teilausdrücke trennbar sind. 25 Die Erstglieder solcher Verben, im folgenden als V-Partikeln bezeichnet, werden (außer bei Rückwärtsbildungen wie maschineschreiben, vgl. 4.1.4.2) wie Affixe durch das jeweilige Bildungsmuster eingeführt, z.B. durch das folgende:

24

Ein sich seit einiger Zeit im Internet-Chat entwickelndes morphologisches Muster mit syntaktisch komplexem Input ist die Bildung von Phrasen-Stammformen, wie traurigguck oder klappeaufreißundhandvorhah (vgl. Runkehl/Schlobinski/Sievers 1998). Sie werden ebenfalls zusammengeschrieben, wie nach ZUS-MORPH zu erwarten.

25

Einen guten ersten Überblick über die Partikelverben des heutigen Deutsch gibt Kap. 2.5 von Altmann/Kemmerl ing (2000).

46

D a s S y s t e m der Kern-GZS

PR:

/X/

KR:

V

C

/t s uzamanX/ V,/nom/akk

~f

V-Parf^ - t zusammen

SR:

Λ

'X' (Handlung)

+X

'X so vollziehen, daß Teile der Entität, auf die das Akkusativobjekt ^referiert, zu einer Einheit werden' ^

Diesem Muster entsprechen z.B. die Bildungen drücken >zusammendrücken, heften >zusammenheften, kleben > zusammenkleben, rücken > zusammenrücken und auch schreiben > zusammenschreiben26 Da Bildungsmuster dieser Art im relevanten Sinn morphologisch sind (vgl. 4.1.4), fordert Z U S - M O R P H via MB für Teilausdrücke von Zeichen, die im letzten Derivationsschritt durch ein solches Muster gebildet wurden, Zusammenschreibung. Daraus resultiert z.B. die Schreibung (1): (1)

Die Derivation dieses Satzes ist (2): (2)

1. 2. 3. 4.

schreiben^m+\ zusammenschreiben, zusammenschreiben + soll =>s zusammenschreiben soll, das + zusammenschreiben soll =>s das zusammenschreiben soll, man + das zusammenschreiben soll =>s man das zusammenschreiben soll, 5. daß + man das zusammenschreiben soll =>s daß man das zusammenschreiben soll

Man sieht, daß zusammen und schreiben Teilausdrücke des im fraglichen Satz als Konstituente enthaltenen Zeichens zusammenschreiben sind, das im letzten (und einzigen) Schritt seiner Derivation (Schritt 1.) morphologisch, nämlich durch Anwendung des obigen Musters (plus Lexikalisierung), gebildet wird. Da das Gesetz Zus-MORPH auf jedes Vorkommen eines Zeichens, für das es 26

D i e O u t p u t - S R - B e d i n g u n g d e s Musters setzt voraus, daß das Akkusativobjekt auf Entitäten referiert, die Teile, also eine m e r e o l o g i s c h e Struktur, haben. D a s Objekt m u ß dazu aber nicht pluralisch (die Seiten menpressen)

zusammenheften)

oder koordiniert ( D a u m e n und Zeigefinger

zusam-

sein. Es k o m m e n auch nicht-koordinierte S i n g u l a r - N o m i n a l e in Frage, die sich

a u f m e r e o l o g i s c h strukturierte Entitäten beziehen, w i e in das Wort zusammenschreiben schreiben, daß T e i l e des Worts zu einer Einheit werden').

('so

47

Zusammenschreibung in morphologischen Bildungen

einschlägig ist, angewandt werden muß (s. 4.1.2), müssen zusammen und schreiben also in diesem Satz zusammengeschrieben werden. In bestimmten Arten von Sätzen werden V-Partikel + Verb jedoch getrennt geschrieben: (3)

a. b. c.

Diese Schreibungen folgen daraus, daß V-Partikel und Verb in solchen Sätzen, anders als in (1), nicht in einem Vorkommen eines morphologischen gebildeten Zeichens (etwa des morphologisch gebildeten Komplexes zusammenschreiben) als Teilausdrücke enthalten sind. Damit fallen V-Partikel und Verb hier nicht unter das Gesetz ZUS-MORPH und werden für Getrenntschreibung freigegeben. Das Nicht-Enthaltensein von V-Partikel und Verb in einem morphologisch gebildeten Zeichen ergibt sich aus gängigen Strukturanalysen der fraglichen Sätze, etwa aus der in der Generativen Grammatik üblichen, 27 nach der das Finitum und gegebenenfalls die vorfeldfullende Konstituente durch Bewegung in ihre syntaktische Position gelangen: (4)

a. (Das, (schreibens

(wir

zusammen ij))))

b. (Schreibe (zusammen tj)) c . (Zusammen; (schreib/j (man (das (nicht t,

ij)))))

Daß in solchen Sätzen das Verb und/oder die V-Partikel bewegt werden können, manifestiert sich im einschlägigen Bildungsmuster (s.o.) darin, daß beide Output-Teilausdrücke als separate KR-Wörter oberhalb von "—" angesiedelt und damit für Bewegung verfügbar sind. 28 Morphologische Bildungsmuster können also nicht nur, wie die Infinitivkonversion, syntaktisch gebildete Vorbereichselemente haben, sondern lassen, wie die Muster für Partikelverben, manchmal auch im Nachbereich Zeichen zu, deren interne Struktur für syntaktische Prozesse 'sichtbar' ist.29

27

Vgl. z.B. Grewendorf/Hamm/Sternefeld (1987: 7.2).

28

Man erinnere sich, daß hier davon ausgegangen wird, daß zwischen beweglichen Teilausdrücken immer eine KR-Wortgrenze liegt (vgl. Anm. 30 in 3.3).

29

Die durch Partikelverbmuster erzeugten syntaktischen Komplexe weisen allerdings eine stärkere interne Kohärenz auf als etwa Kombinationen aus Verb und Objekt. Das manifestiert sich u.a. in der Nicht-Erweiterbarkeit der Teilausdrücke, s. 4.1.4.2, und in topologischen Eigenschaften. Im Hinblick auf die letzteren ähneln Partikelverben Kombinationen aus Hilfsverb + verbaler Ergänzung oder Kopulaverb + Prädikativ. Ich lasse hier offen, wie diesen syntaktischen Besonderheiten auf der KR-Ebene der Bildungsmuster Rechnung zu tragen ist.

48

Das System der Kern-GZS

Man sieht nun sofort, daß das morphologisch gebildete Zeichen zusammenschreiben in (4a - c) nicht als Konstituente vorkommt."0 Damit können hier auch die Teilausdrücke zusammen und schreiben (bzw. schreib, schreibt) nicht in einem Vorkommen dieses Zeichens enthalten sein. Darüber hinaus gibt es in diesen Sätzen auch kein anderes morphologisch gebildetes Zeichen, in dem VPartikel und Verb gemeinsam enthalten sind: In (4b,c) ist das einzige komplexe Zeichen, das sowohl die V-Partikel als auch das Verb als Teilausdrücke umfaßt, der ganze Satz. In (4a) kommen V-Partikel + Verb im ganzen Satz und außerdem in der Verbalphrase (schreibenj (wir (t, zusammen φ)) vor. All diese Komplexe werden aber im letzten Schritt ihrer Derivation nicht durch ein morphologisches, sondern durch ein syntaktisches Bildungsmuster erzeugt:31 (5) a. 1. schreibenjnf =>m+i zusammenschreiben;nf, 2. zusammenschreibenjnf =>m zusammenschreibenpi, 3. das + zusammenschreiben =>s (das zusammenschreiben), 4. wir + (das zusammenschreiben) =>s {wir (das zusammenschreiben)), 5. (wir (das zusammenschreiben)) =>s (.schreibens (wir (das zusammen φ)), 6. (schreibenj (wir (das zusammen φ)) =>s (das[ (ischreibens (wir (t\ zusammen φ)) b. 1. schreiben;nf =>m+i zusammenschreibenlnf, 2. zusammenschreibenjnf =i>m zusammenschreibe, 3. zusammenschreib =>s (schreib; (zusammen φ)

30

Ich setze hier natürlich voraus, daß in unserem Kontext die Frage des Vorkommens eines Zeichens innerhalb größerer Zeichen auf die KR-Struktur und nicht etwa auf die SR oder die Derivation zu beziehen ist. Ich sage also genau dann, daß ein Zeichen Ζ in einem Zeichen Z' vorkommt, wenn Ζ als KR-Konstituente in Z' enthalten ist. Danach kann Z, wie wir weiter unten sehen werden, in der Derivation oder inhaltlich in Z' enthalten sein, ohne in Z' vorzukommen.

31

Ich deute in den Derivationsschritten die syntaktische Struktur des jeweils erzeugten Zeichens an.

Zusammenschreibung in morphologischen Bildungen

49

c. 1. schreiben„f =>,„ zusammenschreibenjnf, 2. zusammenschreibeni„f =>m zusammenschreibt3Sing,Präs, 3. nicht + zusammenschreibt =>s (nicht zusammenschreibt), 4. das + (nicht zusammenschreibt) =>s (idas (nicht zusammenschreibt)), 5. man + (das (nicht zusammenschreibt)) =>s {man {das {nicht zusammenschreibt))), 6. {man {das {nicht zusammenschreibt))) =>s {schreibt^ {man {das {nicht zusammen /,)))), 7. (schreibt} {man {das {nicht zusammen /,)))) =>s {zusammen (schreibt) {man {das {nicht t\ i j ) ) ) ) ) Wie diese Derivationen zeigen, wird das morphologisch gebildete Zeichen zusammenschreiben zwar im jeweils ersten Schritt eingeführt, aber durch die in späteren Schritten erfolgenden Bewegungen 'zerstört', so daß es schließlich im Gesamtsatz nicht mehr als Konstituente vorkommt/ 2 Die Teilausdrücke zusammen und schreiben werden durch diese Prozesse auf andere Konstituenten verteilt, die nicht ZUS-MORPH unterliegen. Diese Erklärung ist durchaus kompatibel mit der Tatsache, daß VPartikeln, wenn sie gemeinsam mit dem Verb ins Vorfeld gerückt werden, zusammengeschrieben werden: (6)

(7)

1. schreiben·^ => m+i zusammenschreiben;„f, 2. zusammenschreiben,„f + würde =>s {zusammenschreiben 3. nicht + {zusammenschreiben würde) =>s {nicht {zusammenschreiben würde)), 4. das + {nicht {zusammenschreiben würde)) =>s {das {nicht (zusammenschreiben würde))), 5. man + (das (nicht (zusammenschreiben würde))) (man (das (nicht (zusammenschreiben würde)))), 6. (man (das (nicht (zusammenschreiben würde)))) =>s {würdej (man (das (nicht (zusammenschreiben (j))))), 7 . (würdej (man (das (nicht (zusammenschreiben /j))))) =>s (zusammenschreiben\ (würdes (man (das (nicht (t, i j ) ) ) ) ) )

32

würde),

Auf der Inhaltsseite beeinflussen diese Bewegungsschritte allerdings nicht den propositionalen Gehalt des Satzes, sondern nur nicht-propositionale, für den Satzmodus und die Informationsstruktur relevante Aspekte der Bedeutung (vgl. Jacobs 1995). Die im ersten Schritt der Derivation eingeführte Bedeutung des Partikelverbs bleibt also in der SR von (4a - c) erhalten. Das erklärt, warum die Getrenntschreibung der Teilausdrücke von zusammenschreiben

in

Fällen wie (3) nicht dazu fuhrt, daß wir den Eindruck haben, es liege inhaltlich ein anderes Verb vor als bei Zusammenschreibung.

50

Das System der Kern-GZS

Nach der Derivation (7) sind zusammen und schreiben im Satz (6) in einem Zeichen enthalten, dessen letzter Derivationsschritt morphologisch ist, nämlich in dem im Vorfeld befindlichen zusammenschreiben. Wie in den Fällen (4)/(5) wird dieses Zeichen im ersten Derivationsschritt eingeführt, aber anders als in (4)((5) nicht durch spätere Schritte 'zerstört', sondern ohne Eingriffe in seinen internen Aufbau ins Vorfeld bewegt. Damit liegt in dieser Vorfeldkonstituente morphologische Bildung im Sinn von MB vor, 33 und entsprechend fordert Zus-MORPH für ihre Teilausdrücke Zusammenschreibung. Man beachte, daß diese Analyse der Auswirkungen bestimmter syntaktischer Prozesse auf die GZS von Standardannahmen über die Derivationsstruktur von Sätzen ausgeht. Standard im Großteil der neueren syntaktischen Forschung ist insbesondere, (a) daß morphologisch gebildete Einheiten als ganze, fertig flektierte Komplexe in phrasen- und satzbildende Derivationsschritte eingehen, und (b) daß die Hinzufügung eines Zeichens Z, zu einem Zeichen Z 2 durch eine Phrasenstruktur- oder Bewegungsregel nur 'außen' an Z 2 ansetzen kann. Diese Prinzipien verbieten denkbare alternative Derivationen für die Fälle in (4), bei denen zusammen und schreiben Teilausdrücke eines im letzten Schritt morphologisch gebildeten Zeichens wären, etwa eine Derivation, bei der die Schritte 1 . - 2 . von (5c) ans Ende der Ableitung verlegt werden. Auch die für (4a - c) angenommene, unabhängig gerechtfertigte Konstituentenstruktur wirkt sich unter Standardannahmen als Blockade gegen Derivationen aus, die nach ZUS-MORPH und MB zur Zusammenschreibung von zusammen und schreiben führen würden, bei (4c) etwa gegen eine Derivation, bei der im letzten Schritt der ganze Komplex zusammenschreibt nach vorn bewegt wird. Eine solche Derivation würde nicht zu der Verbzweit-Struktur von (4c) führen, sondern zu der Verberst-Struktur (zusammenschreibt) (man 0das (nicht t\)))), die kaum akzeptabel wäre. 34 - Die gleichen Voraussagen für 33

34

Das gilt unbeschadet der Tatsache, daß der letzte Derivationsschritt, von dem zusammenschreiben in (7) betroffen ist, nicht der morphologische Schritt 1., sondern der nicht-morphologische Bewcgungsschritt 7. ist. Dieser Bewegungsschritt besteht jedoch darin, daß im Vorfeld eine Kopie des Zeichens hergestellt (und dieses in seiner Basisposition unhörbar gemacht) wird. Dabei werden bis auf die Position im Strukturbaum alle Eigenschaften des kopierten Zeichens auf die Kopie übertragen, also auch die Eigenschaft, morphologisch gebildet zu sein. Generell gilt, daß die Bewegung eines komplexen Zeichens bei der Überprüfung seiner Bildungsweise ignoriert werden kann. Allenfalls könnte man sich die Struktur als Verberst-Deklarativsatz vorstellen, wobei sie allerdings sehr speziellen pragmatischen und stilistischen Bedingungen unterläge (vgl Önnerfors 1997), die in diesem Fall kaum erfüllbar wären. Bei anderen Verberst-Deklarativsätzen, vor allem bei solchen, die eine präsentative Interpretation zulassen, besteht aber tatsächlich die (stilistisch sehr markierte) Option, bei Bewegung eines trennbaren Verbs in die Anfangsposition dessen Erstglied 'mitzunehmen'. Das exemplifiziert der in der GZS-Literatur gelegentlich erwähnten Anfang von Conrad Ferdinand Meyers (1869) Gedicht "Der römische Brunnen": . Es handelt sich hier um einen Verberst-Deklarativsatz mit der Struktur (Aufsteigt, (der Strahl t,)), in dem auf und steigt innerhalb des im ersten Schritt morphologisch gebildeten, später nach vorn bewegten Zeichens

Zusammenschreibung in morphologischen Bildungen

51

die GZS würde man allerdings erzielen, wenn man die strukturelle Trennung von V-Partikel und Verb in Fällen wie (4a - c) nicht durch Bewegung, sondern anders erfaßte, etwa durch separate Basisgenerierung, wie in (zusammen (schreibt (man das nicht))). Essentiell ist nur, daß für solche Sätze keine KRStruktur angenommen wird, in der V-Partikel und Verb in einem morphologisch gebildeten Zeichen enthalten sind. (Eine solche Struktur würde wohl auch niemand vorschlagen, stünde sie doch in Konflikt mit zentralen Gesetzmäßigkeiten des deutschen Satzbaus.) In Jacobs (2002) wurde eine andere, weniger ökonomische Erklärung für die eben diskutierten Effekte syntaktischer Prozesse vorgeschlagen. Ich nahm dort an, daß sich in diesen Effekten eine von ZUS-MORPH unabhängige und in der OT-Ordnung übergeordnete Beschränkung GETR-NS manifestiert, die fordert, daß syntaktisch nicht-verschwesterte Teilausdrücke getrennt geschrieben werden. Tatsächlich ergeben sich auch daraus die obigen GZS-Daten, da in (4a - c) im Gegensatz zu (1) und (6) zusammen und schreiben keine syntaktischen Schwestern sind. 35 Wie wir aber gerade gesehen haben, folgen diese Schreibungen unter Voraussetzung der in MB gegebenen Präzisierung des Begriffs der morphologischen Bildung, die in Jacobs (2002) noch fehlte, schon aus Zus-MORPH. Damit wird die Einführung der zusätzlichen Beschränkung GETR-NS für die Erklärung der Effekte überflüssig, zumal die fragliche Präzisierung des Begriffs der morphologischen Bildung unabhängig benötigt wird, z.B. um die Zusammenschreibung syntaktisch gebildeter Wortgruppen innerhalb von komplexen Wörtern wie (das) Auf-ihn-Einreden und (der) GraueSchläfen-Effekt zu erfassen , s. 4.1.2. Allerdings folgen auch aus GETR-NS weitere Daten. So sagt das Verbot der Zusammenschreibung von Nicht-Schwestern voraus, daß Teilausdrücke X und Y getrennt geschrieben werden, wenn einer von ihnen syntaktisch erweitert ist, also einen Determinator, eine Adposition, ein Komplement oder einen Modifikator bei sich hat. Diese Voraussage erfaßt u.a. Fälle wie die folgenden: (8)

a. b. *

aufsteigt

liegen und folgerichtig zusammengeschrieben werden. Ein weiteres Beispiel für ei-

nen Verberstsatz dieser Art mit Zusammenschreibung eines Partikelverbs findet man am Anfang des "Erwählten" von Thomas Mann: < . . andröhnen die Klöppel und lassen nicht Zeit dem erregten Metall ...>. (Wennn V-Partikel und Verb nicht zusammen, sondern separat nach vorne bewegt wurden, schreibt Mann übrigens konsequent getrennt, z.B. ebenfalls im "Erwählten": .) 35

X und Y sind syntaktische Schwestern genau dann, wenn in der syntaktischen Struktur jede Konstituente, die X echt enthält, auch Y echt enthält.

Das System der Kern-GZS

52 (9)

a. b. *

Als syntaktische Strukturen sind (((Vor Angst) zitternd) verließ er den Raum) bzw. (daß (ei (rechtzeitig ((zur Verfügung) stehen) wird))) oder (daß (es (rechtzeitig ((zur Verfügung) (stehen wird))))) anzunehmen, also Strukturen, in denen die Teilausdrücke Angst und zitternd bzw. Verfügung und stehen nicht verschwestert sind. Entsprechende syntaktische Strukturen ergeben sich generell bei syntaktischer Erweiterung. Deshalb folgt die Getrenntschreibung bei syntaktischer Erweiterung aus GETR-NS. Doch auch ohne GETR-NS sagt die hier zu entwickelnde GZS-Theorie Daten wie (8) - (9) richtig voraus: Nach ihr entspräche die spatienlose Schreibung nur dann den GZS-Gesetzen des Deutschen, wenn das entsprechende Zeichen morphologisch gebildet wäre. Das ist aber nicht der Fall. Ein morphologisches Bildungsmuster, das die Bildung von komplexen Partizipien mit dem Zweitglied -zitternd und einem syntaktisch komplexen Erstglied wie vorangst- erlaubt, gibt es im Deutschen einfach nicht. Allenfalls kann aus vor Angst zittern per Zusammenbildung angstzitternd gebildet werden (vgl. 5.1.1), wobei aber, wie stets bei Zusammenbildung (s. 4.1.2), die Adposition getilgt werden muß. 36 Entsprechendes gilt für : Es gibt einfach kein geeignetes morphologisches Muster (vgl. auch 4.1.4.3). Man beachte, daß diese Erklärung, die die Getrenntschreibung bei syntaktischer Erweiterung auf die Nicht-Verfügbarkeit eines passenden morphologischen Bildungsmusters zurückführt, 37 nicht voraussagt, daß innerhalb zusammengeschriebener Zeichen niemals Determinatoren, Adpositionen, Komplemente oder Modifikatoren vorkommen können. Diese sind vielmehr dann möglich, wenn morphologische Bildungsmuster syntaktisch komplexen Input ohne Änderung in den Output kopieren, wie die Infinitivkonversion (vgl. 4.1.2), z.B. (sein ständiges) Über-die-Nachbarn-Lästem. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß die Frage, in welchem Stadium von Derivationen welche Art von Bildungsmustern angewandt wird, von größter Bedeutung für die Spatiensetzung im Deutschen ist. Die bisherige GZS-Forschung hat das nicht erkannt. Deshalb ist ihr auch der Zusammenhang

36

37

Eine Derivation, bei der im ersten Schritt angstzitternd morphologisch gebildet, im zweiten die Präposition syntaktisch vorangestellt wird (was zu schreiben wäre), ist deshalb nicht möglich, weil sich Präpositionen nicht mit Adjektiven verbinden. Ebenso unmöglich ist eine Derivation, bei der vor nur an das Erstglied des vorher morphologisch gebildeten angstzitternd angebunden wird, also vor + angstzitternd =>, ((vorangst)zitternd), denn das würde gegen das oben erwähnte Prinzip verstoßen, daß die syntaktische Hinzufügung eines Zeichens Ζ ι zu einem Zeichen Z2 nur 'außen' an Z ; ansetzen kann. Ein weiterer Mechanismus, der bei syntaktischer Erweiterung zur Getrenntschreibung ansonsten zusammengeschriebener Zeichen fuhrt, wird in 5.4 diskutiert.

Zusammenschreibung in morphologischen Bildungen

53

zwischen den verschiedenen Beispieltypen, in denen sich der Einfluß der Derivationsstruktur manifestiert (Zusammenschreibung syntaktischer Komplexe innerhalb morphologischer Bildungen, Getrenntschreibung bei B e w e g u n g , häufige Getrenntschreibung bei syntaktischer Erweiterung) entgangen. In der GZS-Kodifikation wurden diese Fallklassen stets separat und ohne nachvollziehbare Begründung geregelt. Z.B. führt die für Beispiele wie (3c) einschlägige Regel im Duden (1991) die Getrenntschreibung auf ein nicht näher gekennzeichnetes "besonderes Eigengewicht" des vorangestellten Glieds zurück. Ein Zusammenhang mit der Spatiensetzung in irgendwelchen anderen Beispieltypen wird nicht hergestellt. Letzteres gilt auch für die Neuregelung, die in dem für Kontraste wie (1) vs. (3) einschlägigen §34 auf jeden Versuch einer Erklärung verzichtet und sich mit einer Aufzählung begnügt: "Partikeln, Adjektive oder Substantive können mit Verben trennbare Zusammensetzungen bilden. Man schreibt sie nur im Infinitiv, im Partizip I und im Partizip II sowie im Gliedsatz bei Endstellung des Verbs zusammen." Ein Erklärungsversuch für diese arbiträr wirkende Liste findet sich allerdings bei Schaeder (1997a: 169), der sich dabei Überlegungen von Maas (1992: 181 f.) anschließt: "Verantwortlich für die getrennte Schreibung ist die syntaktische Regel, daß im Aussagesatz das finite Verb die zweite Stelle einnimmt"/ 8 Wenn die damit angedeutete (aber nicht genauer ausgeführte) Begründung zuträfe, müßte man annehmen, die Spatiensetzung im Deutschen habe u.a. die Aufgabe, die Verbzweitstellung oder allgemeiner die Felderstruktur wiederzugeben. Aus der Sicht obiger Analyse greift das viel zu kurz. 39 Nach ihr ist j a die Tatsache, daß an den Grenzen bestimmter topologischer Felder des Deutschen (etwa zwischen Vorfeld und linker Klammer 4 0 ) in der GR Spaden liegen, ein N e b e n e f f e k t der einschlägigen Derivationsstruktur und damit eines Faktors, der auch in vielen anderen strukturellen Konstellationen die Spatiensetzung steuert und z.B. auch hinter GZS-Kontrasten wie vs. steht.

4.1.4

Die Grenzen der Morphologie

Im Folgenden soll nun präzisiert werden, von welcher Abgrenzung der Morphologie zur Syntax (inklusive Phraseologie) auszugehen ist, wenn man mit ZUS-MORPH und M B annimmt, daß die Zusammenschreibung eines Zeichens dadurch ausgelöst wird, daß in seinem letzten Derivationsschritt ein Bildungsmuster angewandt wird, das zur Morphologie gehört. Diese Explikation des für die Zusammenschreibung relevanten Morphologiebegriffs wird nicht 38 39

Ähnlich auch bei Ickler (1997b: 65), der entsprechende Schreibungen f ü r "eine schlichte Folge der syntaktischen Verbzweit-Regel" hält, ohne dies näher zu erläutern. Ausführlicher wird diese Erklärung von Fällen in Jacobs (2002) kritisiert.

40

Zur Felderstruktur allgemein vgl. Haftka (1993).

54

Das System der Kern-GZS

nur eine wesentliche Rolle bei der Erklärung der unumstrittenen Spatiensetzungen, also der Kern-GZS, spielen, sondern soll auch als Grundlage für die Beurteilung jener Fälle dienen, die Zankäpfel in der Diskussion um die Rechtschreibreform waren, etwa vs. , vs. , vs. usw. Wie schon gesagt, gehören zur Morphologie im einschlägigen Sinn auf jeden Fall die klassischen morphologischen Bildungsweisen der Komposition, der expliziten Derivation, der Konversion und der synthetischen Wortformbildung. Bei dieser Feststellung können wir es aber nicht belassen, wenn wir zu einem tieferen Verständnis des Einflusses morphologischer Bildung auf die Spatiensetzung kommen wollen. Was wir benötigen, ist eine Antwort auf die Frage, welche Eigenschaften einer bestimmten Bildungsweise für ihre Klassifizierung als morphologisch im relevanten Sinn - und damit als Zusammenschreibung auslösend - ausschlaggebend sind. Dabei gehe ich von den folgenden Überlegungen aus. Neben einem Kernbereich eindeutig morphologischer Bildungsweisen nämlich den gerade genannten - gibt es im Deutschen und vielen anderen Sprachen eine breite Grauzone von Konstruktionstypen, die charakteristische Merkmale der Bildungen in diesem morphologischen Kernbereich mit Eigenschaften verbinden, die man eher bei syntaktisch erzeugten Komplexen erwarten würde. Damit hat ein GZS-System, das Zusammenschreibung von Vorliegen einer morphologischen Bildungsweise abhängig macht, das Problem zu lösen, innerhalb dieser Grauzone eine Grenze zu ziehen zwischen den Bildungsweisen, die noch als morphologisch und damit als Zusammenschreibung auslösend gelten sollen, und jenen, die nicht mehr als morphologisch gewertet und damit für Getrenntschreibung freigegeben werden. Die Alternative, den Übergang zwischen Morphologie und Syntax in der GZS als Kontinuum wiederzugeben, besteht nicht, denn man kann ein Spatium setzen oder es nicht setzen, aber man kann es nicht mehr oder weniger setzen. Bei dieser notwendigen Grenzziehung konnte sich das deutsche Schriftsystem nicht auf ein schon vorhandenes, von außen vorgegebenes trennscharfes Morphologiekonzept stützen. 41 Vielmehr mußte es im Lauf seiner Geschichte selbst Kriterien für die Lage der fraglichen Grenze entwickeln. Das tat es, so nehme ich an, indem es bestimmte charakteristische Eigenschaften von Bildungsweisen im Kernbereich der Morphologie zu notwendigen Bedingungen dafür gemacht hat, daß eine morphologische Bildung im relevanten, also Zusammenschreibung auslösenden Sinn vorliegt. Nur dann, wenn eine Bildungsweise diese Merkmale hat, liegt sie innerhalb der Grenzen der Morphologie

41

Bis zum heutigen Tag ist ja der Begriff "Morphologie", so wie er in der Linguistik üblicherw e i s e verwendet wird, äußerst vage. Diese Eigenschaft teilt er mit anderen zentralen sprachwissenschaftlichen Begriffen, etwa "Subjekt" (vgl. z.B. Keenan 1976) oder "Topik" (vgl. Jacobs 2001).

Zusammenschreibung in morphologischen Bildungen

55

und wird entsprechend im Regelfall zusammengeschrieben. Andernfalls gilt die Bildungsweise als nicht-morphologisch und ist in der Regel für Getrenntschreibung freigegeben. - Diese nicht nur typischen, sondern darüber hinaus notwendigen Merkmale für Morphologizität, so wie sich in der traditionellen deutschen GZS herausgebildet haben, sollen hier ermittelt werden. Dabei gehe ich wie folgt vor: Zunächst erläutere ich an Beispielen, die zum Zentralbereich des relevanten Morphologiekonzepts gehören, vor allem an solchen für Komposition und explizite Derivation, die wichtigsten typischen Merkmale morphologischer Bildungsmuster, indem ich diese Beispiele klaren Fällen syntaktischer Bildung gegenüberstelle. Dann versuche ich anhand von Beispielen, die im Feld der Bildungen, die unter das fragliche Morphologiekonzept fallen, eine periphere Position einnehmen, zu ermitteln, welche dieser Charakteristika auch fehlen können und welche unverzichtbar sind. 42 Dabei nehme ich an, daß solche Randfälle morphologischer Bildung unter den Partikelverben zu finden sind, also unter den Verben mit trennbaren Teilausdrücken. Daß es sich hierbei um periphere Beispiele handelt, ist deshalb zu vermuten, weil Trennbarkeit mit Sicherheit eine für morphologische Bildungen untypische Eigenschaft ist, unabhängig davon, wie man die Grenzen der Morphologie festlegt. Deshalb ist auch immer wieder bezweifelt worden, daß Partikelverben morphologische Gebilde sind, etwa von Lüdeling (1999) und in der GZS-Diskussion von Ickler, der mehrfach (z.B. 1997a: 49f.) behauptet hat, solche Bildungen gehörten nicht in die Wortbildungslehre, sondern seien reine "Gewohnheitsgeflige". 4 3 Wie ihre sehr konsistente und seit langem übliche Zusammenschreibung zeigt, liegen sie aber eindeutig diesseits der Grenze, durch die das deutsche GZS-System innerhalb der Grauzone zwischen Morphologie und Syntax die zusammenzuschreibenden von den getrennt zu schreibenden Bildungen abtrennt. Sie sind also eindeutig morphologisch im hier relevanten Sinn. 44 Im übrigen gehören Partikelverben natürlich auch nach

42

Ich gehe also davon aus, daß das relevante Morphologiekonzept zwar scharf begrenzt ist, aber unterschiedlich zentrale Vertreter hat. Daß das bei sprachwissenschaftlichen Kategorien nicht ungewöhnlich ist, zeigt Löbner (2002: 187ff.).

43

Außer durch Hinweise auf Drach begründet Ickler diese Position nicht näher, während Lüdeling für ihre Einschätzung, daß Partikelverben syntaktische Phrasen sind, eine ganze Batterie von Argumenten anführt. - Einen guten Überblick über den gegenwärtigen Stand der Forschung zu Partikelverben gibt der von Dehe et al. (2002) herausgegebene Sammelband.

44

Nota bene: Ich sage nicht, daß man Partikelverben auch im Hinblick auf alle anderen grammatischen Fragestellungen als morphologisch betrachten muß. Wenn es aber um die spezielle Grenzziehung zwischen Morphologie und Syntax geht, die der deutschen GZS (und wahrscheinlich auch anderen Teilen des deutschen Sprachsystems) zugrunde liegt, wäre es wenig sinnvoll, Partikelverben aus der Morphologie auszuschließen, sie also nicht in dieselbe Klasse von Bildungen einzuordnen, zu der auch Komposition, Affigierung und Konversion gehören.

Das System der Kern-GZS

56

der grammatischen Domäneneinteilung, die den meisten germanistischen Standardwerken zugrundeliegt, in die Morphologie. 4 5 Die auf diese Weise entwickelte Hypothese darüber, welche Merkmale nicht nur typisch, sondern notwendig sind, wird dann im dritten Schritt unserer Argumentation an Beispielen überprüft, die ebenfalls in der Grauzone zwischen Morphologie und Syntax, dort aber unmittelbar jenseits der fur die GZS einschlägigen Grenze liegen. Sie weisen zwar Ähnlichkeiten zu Bildungen im Kernbereich der Morphologie auf, werden aber im Regelfall nicht zusammengeschrieben und auch traditionell nicht als morphologisch klassifiziert. Es handelt sich um Verben mit semantisch inkorporierten Nomina oder PPn, wie Partei ergreifen oder zur Verfügung stehen. Ich werde zeigen, daß diesen Bildungen, wie nach der zu überprüfenden Hypothese zu erwarten, mehrere der vorher ermittelten notwendigen Merkmale für Morphologizität im relevanten Sinn abgehen.

4.1.4.1

Typische Merkmale morphologischer Bildungsmuster

Ein wichtiger allgemeiner Unterschied zwischen typisch morphologischen und typisch syntaktischen Bildungsmustern wurde bereits in 4.1.2 erläutert: Erstere sind im Gegensatz zu letzteren ebenenübergreifend, beinhalten also auf allen Repräsentationsebenen spezifische Bedingungen. Im folgenden konzentriere ich mich jedoch auf konkretere Charakteristika, die für die hier im Mittelpunkt stehenden diagnostischen Fragen von besonderer Bedeutung sind. Wie schon angekündigt, werden diese Eigenschaften anhand von kernmorphologischen Beispielen ermittelt, also solchen, die als zentrale Vertreter einer morphologischen Bildungsweise gelten können. Die Eigenschaften ( E l ) - (E4) betreffen das Verhalten von nach morphologischen Mustern gebildeten Zeichen bezüglich verschiedener grammatischer Operationen, (E5) - (E8) Besonderheiten der Form bzw. der Bedeutung solcher Zeichen, (E9) - (E10) weitere spezielle Merkmale kernmorphologischer Bildungsmuster. ( E l ) Keine Bewegung von Teilausdrücken: Bewegliche Teilausdrücken kommen bei kernmorphologischen Bildungen nicht vor, vgl. z.B. (daß) er es ihr verrät => *Er rät{ es ihr ver ti. Bei syntaktischen Phrasen sind sie dagegen häufig, wenn auch nur in bestimmten Typen von Phrasen, bevorzugt in solchen mit verbalen Häuptern.

45

Vgl. z.B. Fleischer/Barz (1992), Eisenberg (1998) und Altmann/Kemmerling (2000). D i e s e übliche Klassifizierung der Partikelverben als morphologisch könnte durchaus durch ihre Zusammenschreibung beeinflußt, also 'skriptizistisch' (vgl. Ägel/Kehrein 2002), sein.

Zusammenschreibung in morphologischen Bildungen

57

(E2) Keine syntaktische Erweiterung von Teilausdrücken: Schon im Vorangehenden wurde darauf hingewiesen, daß einige morphologische Bildungsmuster syntaktisch komplexen Input zulassen und deshalb Teilausdrücke enthalten können, die durch Komplemente, Modifikatoren, Adpositionen oder Determinatoren erweitert sind. Im Normalfall jedoch lassen kernmorphologische Bildungsmuster das nicht zu. So kann ein Adjektivkompositum des Typs fußkalt kein syntaktisch erweitertes nominales Erstglied haben, vgl. *amfußkalt, denn ein syntaktisch komplexes Nominal wie am Fuß wird vom entsprechenden Bildungsmuster nicht als Input für das Erstglied akzeptiert. Ein diagnostisch besonders interessantes kernmorphologisches Muster, das phrasalen Input ablehnt, ist die Adjektivierung mit -bar, s. (E4) unten. - Ein weiterer Unterschied zu syntaktischen Bildungen besteht darin, daß syntaktische Erweiterungen von Teilausdrücken kernmorphologischer Bildungen, auch dort, wo sie zulässig sind, stets unter der durch "—" markierten Grenze des von der Syntax verwalteten Teils der KR-Struktur bleiben. So findet sich in einem Phrasenkompositum wie {der) Trimm-dich-Pfad eine eindeutige syntaktische Erweiterung, nämlich das Objekt dich. Diese Erweiterung ist aber für syntaktische Prozesse nicht greifbar und unterliegt auch keinen syntaktischen Beschränkungen, sofern diese das Verhältnis zu den außerhalb liegenden Teilen der KR-Struktur betreffen (also nicht schon im phrasalen Input wirksam waren). 46 Während also eine syntaktische Erweiterung von Teilausdrücken im Sinne des schlichten Vorhandenseins von Komplementen, Modifikatoren etc. bei kernmorphologischen Bildungen gelegentlich vorkommt, ist eine syntaktische Erweiterung im Sinne von fur syntaktische Prozesse und Beschränkungen 'sichtbaren' Komplementen, Modifikatoren etc. bei kernmorphologischen Bildungen ausgeschlossen. Teilausdrücke syntaktisch gebildeter Zeichen sind dagegen meist sowohl im weiteren als auch im engeren Sinn syntaktisch erweiterbar. Einige Ausnahmen hierzu gibt es allerdings, z.B. enge Appositionen wie Grün in die

{Farbe Grün), vgl. *die {Farbe {helles Grün)). (E3) Keine separate Flexion von Teilausdrücken: Kernmorphologische Bildungen sträuben sich gegen eine separate Flexion von Teilausdrücken. Sie werden vielmehr als ganze flektiert, was sich oft darin manifestiert, daß Flexionsaffixe nicht im Inneren des Gesamtzeichens, sondern außen, d.h. an seinen Rändern, auftauchen, z.B. bei der Komparation von Adjektivkomposita, vgl. dünnflüssigeres {Öl) vs. *dünner flüssiges {Öl). Umgekehrt ist bei syntaktisch verbundenen Teilausdrücken separate Flexion obligatorisch, nämlich aufgrund des in 4.1.3 erwähnten Prinzips, daß morphologisch gebildete Ein-

46

Dazu gehören etwa Wortstellungsbeschränkungen, z.B. daß ein Komplement innerhalb einer Verbalprojektion, die als Modifikator eines N o m e n s fungiert, stets vor dem Verb stehen muß, vgl. der dich leitende Gedanke

vs. *der leitende dich

Gedanke.

58

Das System der Kern-GZS

heiten nur als fertig flektierte Komplexe in syntaktische Derivationsschritte eingehen können. (E4) Spezifisch morphologische Verarbeitung: Wie schon gesagt (s. E2), akzeptieren viele kernmorphologische Bildungsmuster keinen syntaktisch komplexen Input. Z.B. kann man verbale Zeichen, die eindeutig syntaktisch komplex sind, nicht mit -bar adjektivieren, selbst wenn sie den semantischen und V a l e n z b e d i n g u n g e n des B i l d u n g s m u s t e r s e n t s p r e c h e n , z.B. verführen => verführbar vs. hinters Licht führen => *hinterslichtführbar.A1 Auch die Rückwärtsbildung läßt keinen syntaktisch komplexen Input zu. So kann zwar ein Kompositum wie Schutzimpfung, aber nicht eine Phrase wie letzte Rettung als Basis für die Rückwärtsbildung eines Verbs dienen, 48 vgl. schutzimpfen vs. *letztretten. Außerdem scheint die Rückwärtsbildung auch im Hinblick auf ihren Output eine spezifisch morphologische Bildungsweise zu sein. Jedenfalls kenne ich kein Beispiel für eine rückwärtsgebildete syntaktische Phrase. Umgekehrt können kernmorphologisch gebildete Zeichen, wenn sie die kategorialen und semantischen Voraussetzungen erfüllen, mit -bar adjektiviert werden bzw. Basis oder Resultat einer Rückwärtsbildung sein (vgl. obige Beispiele). (E5) Besonderheiten der sprachlichen Form: O f t legen die PR- oder KROutput-Bedingungen kernmorphologischer Bildungsmuster Formeigenschaften fest, die bei syntaktisch gebildeten Komplexen, auch wenn sie inhaltlich vergleichbar sind, nicht zulässig wären. Die dadurch bei kernmorphologischen Zeichen auftretenden Abweichungen von der syntaktischen Wohlgeformtheit sind vielfaltig. Sie bestehen u.a. im Vorkommen von Teilausdrücken, die generell nicht als KR-Wörter oder -Phrasen fungieren können, etwa Affixe oder Konfixe, z.B. 49 begreifen vs. *be greifen, Unsympath vs. *Un Sympath, im Vorkommen von Teilausdrücken, die in der vorliegenden Form syntaktisch nicht zulässig wären, Fernsehprogramm vs. * Fernseh Programm, Leitungsgremium vs. *Leitungs Gremium, oder im Fehlen von bei entsprechender syn47

Durch die Wahl eines phraseologischen Beispiels baue ich dem Einwand vor, die Bildung sei nur deshalb nicht möglich, weil der Input nicht lexikalisiert ist, wie er es nach Lüdeling (1999: 95ff.) bei -6ar-Adjektiven sein müßte. Lüdeling (ebd.: 59) bezweifelt im übrigen, daß nur syntaktisch nicht-komplexe Verben durch -bar adjektiviert werden können. Sie belegt das aber nur mit dem Beispiel wachküßbar. Ob jedoch wach- in wachküssen ein syntaktisch selbständiges Adverbial ist, erscheint mir fraglich. Es könnte sich genauso gut (zumindest in einer Lesart) um eine deadjektivische V-Partikel handeln, nämlich eine vom selben Typ wie tot- (s.u.). Diese Einschätzung wird gestützt durch die lexikalische Reihe wachhalten, wachrufen, wachrütteln etc. (vgl. E10) und auch durch die Zusammenschreibung dieser Verben (die durch die Rechtschreibreform nicht aufgehoben wurde).

48

Erneut wähle ich lexikalisierte Basen, da auch für Rückwärtsbildung vermutet wurde, daß sie nur von lexikalisiertem Input ausgehen kann, vgl. Günther (1997: 6f.). Getrenntschreibung des jeweils zweiten Beispiels deutet syntaktische Bildung an.

49

Zusammenschreibung in morphologischen Bildungen

59

taktischer Bildung erforderlichen Funktionswörtern, etwa von Determinatoren, z.B. Weihnachtsbaum-Schmücken vs. * Weihnachtsbaum schmücken vs. den Weihnachtsbaum schmücken. Auch im Hinblick auf Stellungsregeln gibt es oft Abweichungen, vgl. Bierkrug vs. *Bier Krug vs. Krug Bier. Schließlich weisen kernmorphologische Bildungen nicht selten ein bei syntaktischer Bildung unzulässiges Betonungsmuster auf. 50 Das liegt daran, daß morphologische Bildungsmuster häufig einen einzelnen Hauptakzent auf dem Erstglied festlegen, während bei entsprechender syntaktischer Bildung alle betonbaren Konstituenten akzentuiert werden. Damit gibt Erstgliedbetonung oft einen Hinweis auf morphologische Bildung, z.B. hälbamtlich vs. halb ämtlich. (Genaueres in 4.6.3.) Viele kernmorphologische Bildungen weisen mehrere solche Formbesonderheiten gleichzeitig auf. Andererseits scheint keine einzelne dieser Besonderheiten obligatorisch zu sein, so daß manche kernmorphologischen Zeichen nur minimale Formabweichungen von entsprechenden syntaktischen Bildungen zeigen, z.B. die Präfigierungen von nicht- an Adjektive, wie nichtöffentlich., die sich nur durch die Betonung auf dem Erstglied von einer entsprechenden syntaktischen Bildung unterscheidet. (E6) Keine interne Abgleichung von KR-Valenzforderungen: Die unter (E5) erwähnten Abweichungen von der syntaktischen Wohlgeformtheit resultieren nicht selten daraus, daß in kernmorphologischen Bildungen kategoriale Valenzforderungen von Teilausdrücken ignoriert werden, also Forderungen nach der Realisierung von Begleitern mit einem bestimmten Kasus, einer bestimmten Präposition oder einem bestimmten Status. 51 Z.B. fordern strahlen bzw. Interesse fur ihr syntaktisch angebundenes Thema-Argument die Präpositionen vor bzw. an, vgl. vor Freude strahlen vs. * Freude strahlen, Interesse an Profit vs. *Interesse des Profits. Diese Forderungen werden in entsprechenden kernmorphologischen Komplexen mißachtet, vgl. *vorfreudestrahlend vs. freudestrahlend, *Anprofitinteresse vs. Profitinteresse. Darin manifestiert sich ein genereller Unterschied zwischen Kernmorphologie und Syntax: Bei syntaktischer Verbindung der Ausdrücke X und Y wird jede KR-Valenzforderungen von X und Y mit den Merkmalen der jeweils anderen Konstituente abgeglichen oder auf die Mutterkonstituente XY übertragen. 52 So wird in vor Freude

50

Hier ist nur von neutraler Betonung die Rede, also von einer, die nicht voraussetzt, daß Teilausdrücke einen besonderen pragmatischen Status (etwa Fokussiertheit oder Vorerwähntheit) haben.

51

Zur Unterscheidung v o n kategorialen und semantischen Valenzforderungen vgl. Jacobs

52

Zu den dabei wirksamen Prinzipien vgl. ebenfalls Jacobs (2003). Abgleichung einer KR-

(2003). Valenzforderung /m von X mit den Merkmalen von Y bedeutet, daß Y das geforderte Merkmal m liefert und die Forderung / m damit erfüllt. Entsprechend taucht diese Forderung dann oberhalb von X Y nicht mehr auf.

60

Das System der Kern-GZS

strahlen die Forderung Ivor von strahlen mit dem entsprechenden Merkmal von vor Freude abgeglichen. In *Freude strahlen wird diese Forderung dagegen weder mit einem Merkmal von Freude abgeglichen (da die Präposition von fehlt) noch auf Freude strahlen übertragen (da Freude dann anderweitig lizenziert sein müßte, etwa als Adverbial, 53 was nicht der Fall ist). Deswegen ist * Freude strahlen ungrammatisch. Bei Verbindung von X und Y durch ein kernmorphologisches Bildungsmuster ist dagegen eine interne Abgleichung von KR-Valenzforderungen nicht erforderlich und findet auch tatsächlich nie statt. Entsprechend hat in diesem Fall weder X noch Y ein vom jeweils anderen Teilausdruck gefordertes Formmerkmal (Kasus, Präposition, Status). Allenfalls können KR-Valenzforderungen von X oder Y auf XY übertragen werden, etwa wenn Publikumsinteresse die Forderung tan vom Zweitglied Interesse übernimmt, vgl. Publikumsinteresse an moderner Musik. — Das heißt nicht, daß es innerhalb kernmorphologisch gebildeter Zeichen nie KR-Valenzbeziehungen (traditionell: Rektionsbeziehungen) zwischen Teilausdrükken X und Y gibt. Aber solche Beziehungen gehen nie auf eine kernmorphologische Verbindung von X und Y zurück, sondern geraten aufgrund anderer Mechanismen in das Zeichen. So gibt es zwischen Teilausdrücken von Phrasenkomposita nicht selten eine Kasusrektionsbeziehung, z.B. zwischen trimm und dich in Trimm-dich-Pfad. Diese Beziehung wird jedoch vom phrasalen Input (Trimm dich) 'geerbt' und ist nicht Folge der Anwendung eines kernmorphologischen Bildungsmusters auf trimm und dich.54 (E7) Besonderheiten im Bedeutungsaußau: Die SR-Konstellationen, die bei syntaktischer Verbindung von Teilausdrücken X und Y vorliegen, zeichnen sich durch ein bestimmtes Verhältnis zwischen ||X||, ||Y|| und ||XY|| aus (||a||: 53 54

Vgl. ebd. Gegen diese Darstellung mag man das bekannte Faktum anführen, daß kernmorphologische Affixe in der Regel sehr selektiv sind, was die Wortart der mit ihnen verbindbaren Stämme bzw. der den Stämmen zugrundeliegenden Basen betrifft. Diese Selektivität wird in Morphologiemodellen, die sich an der Syntax orientieren, häufig durch einen entsprechenden Subkategorisierungsrahmen für das jeweilige Affix expliziert, womit dann, zumindest im Hinblick auf die Wortart, doch eine innermorphologische Abgleichung von KR-Valenzforderungen angenommen wird. Dagegen erfaßt die hier zugrunde gelegte Morphologiekonzeption Wortartrestriktionen für Stämme bzw. Basen stets durch die KR-Input-Bedingungen des jeweiligen morphologischen Bildungsmusters (vgl. die Beispiele für solche Muster in 4.1.1 - 4.1.3), u.a. weil dieses Verfahren wesentlich genereller ist als die Subkategorisierungsanalyse. (Mit dieser lassen sich zwar die Wortartrestriktionen von Affigierungen erfassen, aber nicht - oder nur unter Verrenkungen - die von Mustern der Komposition oder der Konversion.) Doch selbst, wenn man an der Subkategorisierungsanalyse für Affixe festhält, kann man nicht übersehen, daß sie auf der KR-Ebene stets nur die Wortart des jeweiligen Stamms (manchmal auch stilistische Merkmale wie ±nativ) betrifft, niemals jedoch die in der Syntax typischerweise durch KR-Valenzen gesteuerten morphosyntaktischen Merkmale (Kasus, Präposition, Status). Diese werden nach keiner der gängigen Darstellungsweisen für Valenzbeziehungen innermorphologisch abgeglichen.

Zusammenschreibung in morphologischen Bildungen

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SR-Entsprechung von α). Dieses Verhältnis ist dadurch charakterisiert, daß ||X|| und ||Y|| im typischen Fall unabhängig vorkommende, d.h. auch in anderen Konstruktionen realisierbare Bedeutungen von X bzw. Y repräsentieren und ||XY|| das Resultat einer Komposition von ||X|| und ||Y|| ist, die bestimmten Prinzipien folgt, die in der satzsemantischen Forschung der letzten Jahrzehnte intensiv untersucht wurden. 5 5 Diese Prinzipien verknüpfen ||X|| und ||Y|| durch eine begrenztes Inventar von semantischen Operationen, etwa Funktionsanw e n d u n g oder Konjunktion. Welche Operation gewählt wird, hängt dabei meist nur vom Bedeutungstyp von ||X||, [|Y|| und ||XY|| ab (der wiederum mit der KR-Kategorie der jeweiligen Ausdrücke zusammenhängt), manchmal aber auch von der gewählten syntaktischen Konstruktion. 56 Bei kernmorphologischen Bildungen entspricht nun die SR in der Regel nicht den nach diesen Prinzipien zu erwartenden SRen vergleichbarer syntaktischer Bildungen. Wieder gibt es verschiedene Formen der Abweichung. So läßt sich der Bedeutungsbeitrag von Affixen und affixartigen Teilausdrücken in der Regel nicht durch die SR unabhängig vorkommender gleichlautender Zeichen darstellen, auch dann nicht, wenn diese Zeichen den Affixen diachron zugrundeliegen. Z.B. kann man die SR präfigierter Nomina des Typs Unterernährung, Unterausstattung, Unterdeckung usw. nicht auf der Basis einer TeilSR von Unter- aufbauen, die einer in anderen Konstruktionen vorkommenden Bedeutung von unter entspricht (vgl. unter zehn Jahren, wo unter nicht 'zu wenig', sondern 'weniger als' bedeutet). Entsprechend wird in unserem Rahmen der Bedeutungsbeitrag von Unter-, genau wie der aller anderen Affixe und affixartigen Ausdrücke, in der SR-Bedingung des einschlägigen Bildungsmusters festgehalten, vgl. die Beispielmuster in 4.1.1 - 4 . 1 . 3 . 5 7 Doch auch, wenn unabhängig vorkommende Bedeutungen von Teilausdrücken involviert sind, also vor allem bei Komposition, ergeben sich in der Regel andere SRen als bei entsprechender syntaktischer Bildung. So wäre die Interpretation von V+N-Komposita wie Eßzimmer, Kneifzange, Malkurs als 'durch eine Beziehung zu V charakterisierte Art von N' 58 bei einer entsprechenden syntaktischen Genitiv-Konstruktion unmöglich, denn dann müßte das 55 56 57

58

Eine gute Einführung in dieses Gebiet ist Lohnstein (1996). Weiterführende Darstellungen sind Jacobs (1995) und Heim/Kratzer (1998). Vgl. Anm. 16 in 4.1.2. Die Abhängigkeit des Bedeutungsbeitrags von Affixen vom jeweiligen Bildungsmuster wird etwas vernebelt, wenn man ihn, wie es viele neuere Arbeiten tun, durch eine eigens dem Affix zugeordnete SR darstellt, bei unter- etwa durch XPXx[ZU-WENIG(P)(x)], die dann durch Funktionsanwendung mit der Stamm-SR verbunden wird. Das sieht oberflächlich wie eine typisch syntaktische Bedeutungsverknüpfung aus, wie sie etwa auch fiir die Verbindung bestimmter Adverbiale mit Verben anzunehmen ist. Es muß jedoch auch bei einer solchen Darstellungsweise irgendwie sichergestellt werden, daß die fragliche Affixbedeutung, anders als bei einer typisch syntaktischen Verknüpfung, nur im Zusammenhang mit Anwendungen des jeweiligen Bildungsmusters realisiert wird. Vgl. die SR-Bedingung des in 4.1.1 angegebenen Bildungsmusters für solche Komposita.

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Das System der Kern-GZS

Verb in einer bestimmten durch diese Konstruktion festgelegten Pertinenzbeziehung zum Nomen stehen, die mit der taxonomischen Interpretation der V+N-Komposita nicht kompatibel ist, vgl. Eßzimmer vs. Zimmer des Essens, Kneifzange vs. Zange des Kneifens?9 Auch hier scheint jedoch keine einzelne dieser Besonderheiten für kernmorphologische Zeichen obligatorisch zu sein. Deshalb weisen manche dieser Zeichen in ihrer Bedeutungsstruktur nur minimale Abweichungen von entsprechenden syntaktischen Bildungen auf. Das gilt z.B. für «/cÄi-Präfigierungen wie nichtöffentlich, die sich außer durch eine bestimmte Einschränkung des Negationsskopus inhaltlich nicht von einer syntaktischen Bildung mit nicht unterscheiden. 60 Ein weiteres Beispiel sind die sog. Rektionskomposita, etwa Buchveröffentlichung, in denen das Erstglied eine Argumentstelle des Zweitglieds füllt, wie es auch bei einer entsprechenden syntaktischen Bildung zu erwarten wäre. 61 Die eben erläuterte, in den SR-Bedingungen der Bildungsmuster angelegte Form der Abweichung kernmorphologischer von syntaktischen Bedeutungsstrukturen muß übrigens unterschieden werden von jener, die sich aus der Lexikalisierung morphologisch gebildeter Wörter ergeben kann. Diese setzt meist an einer mit einem bestimmten Verwendungskontext verbundenen pragmatischen Spezifizierung der durch das Bildungsmuster zugewiesenen Bedeutung an. Als z.B. 1997 das Wort Elchtest Medienkarriere machte, wurde es mit sehr speziellen, dem Entstehungskontext entnommenen Bedeutungskomponenten lexikalisiert, nämlich als 'Test, bei dem durch schnelle Lenkbewegungen bei höherer Geschwindigkeit, wie sie beim Ausweichen vor Elchen erforderlich sein können, das Fahrverhalten von Autos geprüft wird'. Diese lexikalisierte Interpretation von Elchtest geht weit über die durch das einschlägige morphologische Bildungsmuster zugewiesene Bedeutung 'durch eine Beziehung zu Elchen charakterisierte Art von Test' hinaus, unterscheidet sich aber natürlich erst recht von jeder Interpretation, die nach syntaktischen Kompositionsprinzipien bei Verbindung von Elch und Test möglich wäre (vgl. Test des Elchs). Andere bei Lexikalisierung übernommene pragmatische Modifikationen von durch Bildungsmuster zugewiesenen Bedeutungen basieren auf metaphorischer oder metonymischer Uminterpretation, z.B. bei der nach dem V+N-Muster gebildeten Personenbezeichnung Jammerlappen. Auch hierbei

59

60 61

Um bei syntaktischer Bildung eine Bedeutung aufzubauen, die der bei morphologischer Bildung grob ähnelt (oder zumindest mit ihr kompatibel ist), müßte eine zusätzliche Präposition eingesetzt werden, wie in Zimmer zum Essen, Zange zum Kneifen, die wiederum bei morphologischer Bildung überflüssig, j a gar nicht zulässig wäre, vgl. *Zueßzimmer, *Zukneifzange. Vgl. Jacobs 1991. Die Bezeichnung "Rektionskompositum" ist allerdings irreführend, da zwischen den Teilgliedern solcher Bildungen keine Rektionsbeziehung (im Sinne einer KR-Valenzabgleichung, vgl. E6), sondern nur eine SR-Valenzbeziehung besteht.

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Z u s a m m e n s c h r e i b u n g in morphologischen Bildungen

ergeben sich Bedeutungen, die von den nach syntaktischen Kompositionsprinzipien zu erwartenden weit entfernt sind. - Für die generelle Abgrenzung kernmorphologischer von syntaktischen Bedeutungsstrukturen sind solche mit Lexikalisierung verbundenen Effekte allerdings weniger interessant als die in den Bildungsmustern angelegten Unterschiede (s.o.), denn sie können auch syntaktisch gebildete Komplexe betreffen. Auch lexikalisierte syntaktische Phrasen haben ja oft eine Interpretation, in der eine ursprünglich pragmatische Modifikation der durch die einschlägigen Kompositionsregeln zugewiesenen Bedeutung fixiert wurde, z.B. das Handtuch werfen, in festen Händen sein usw. 62 (E8) Keine referentiellen Teilausdrücke: Nominale Teilausdrücke in syntaktischen Phrasen sind in der Regel referentiell, beziehen sich also auf Außersprachliches. In den SRen der Phrasen kommt das dadurch zum Ausdruck, daß die den Nominalen entsprechenden Teil-SRen Variablen spezifizieren, die für außersprachliche Entitäten stehen, z.B. bei der Verbalphrase das Auto waschen: WASCHEN(x)(y) & DAS-AUTO(y). Indem das Prädikat DAS-AUTO hier auf die Variable y angewandt wird, spezifiziert es, für welche außersprachliche Entität diese Variable in der Patiens-Argumentposition der VerbSR steht. 63 Daß ein Nomen in diesem Sinn referentiell ist, manifestiert sich u.a. in der Möglichkeit seiner Ersetzung oder Wiederaufnahme durch Pronomina, denn diese fungieren als 'Zeiger' auf die jeweilige Variable, z.B. Er hat das AutOi gewaschen, dasi völlig verdreckt war. Ein Spezialfall der Pronominalisierbarkeit (der zusätzlichen Beschränkungen unterliegt) ist die Erfragbarkeit durch ein w-Element, z.B. Er hat was gewaschen?. Teilausdrücke kernmorphologischer Bildungen sind dagegen intuitiv und nach Aussage solcher Indizien meist nicht-referentiell. So bezieht sich Auto, 62

A u s dieser kurzen Darstellung des Unterschieds zwischen k e r n m o r p h o l o g i s c h e n und syntaktischen B e d e u t u n g s s t r u k t u r e n d ü r f t e deutlich g e w o r d e n sein, daß ich nicht b e h a u p t e , kernm o r p h o l o g i s c h e B i l d u n g e n seien stets nicht-kompositional,

ihre S R e n seien also nicht aus

denen ihrer Teilausdrücke und der Weise, wie diese z u s a m m e n g e f u g t w u r d e n , vorhersagbar. Ich gehe v i e l m e h r von e i n e m differenzierten K o n z e p t von K o m p o s i t i o n a l i t ä t aus, das zwischen syntaktisch-kompositionalen (Reise mit dem Zug) und morphologisch-kompositionalen (Zugreise)

Bildungen unterscheidet. In beiden Fällen läßt sich die G e s a m t - S R aus den SRen

d e r T e i l e u n d d e r W e i s e ihrer Z u s a m m e n s e t z u n g v o r a u s s a g e n , a b e r bei

syntaktisch-

k o m p o s i t i o n a l e n K o m p l e x e n e r m ö g l i c h e n das die e r w ä h n t e n Prinzipien der s y n t a k t i s c h e n B e d e u t u n g s k o m p o s i t i o n , bei m o r p h o l o g i s c h - k o m p o s i t i o n a l e n die S R - B e d i n g u n g e n des j e weiligen B i l d u n g s m u s t e r s . Zu tatsächlich nicht-kompositionalen Interpretationen k o m m t es d a n n , w i e gesagt, bei beiden Arten von Bildungen im V e r w e n d u n g s k o n t e x t durch P r o z e s s e w i e S p e z i f i z i e r u n g , M e t a p h o r i s i e r u n g und M e t o n y m i s i e r u n g , w o b e i s o l c h e nicht-kompositionalen p r a g m a t i s c h e n Interpretationen durch Lexikalisierung zu k o n v e n t i o n e l l e n B e d e u tungen w e r d e n können (die dann o f t weiteren, innerlexikalischen V e r ä n d e r u n g e n unterworfen sind). 63

In e i n e m g ä n g i g e r e n , aber w e n i g e r transparenten R e p r ä s e n t a t i o n s f o r m a t ersetzt die S R des N o m i n a l s die Argumentvariable in der SR des Verbs: W A S C H E N ( x ) ( D A S - A U T O ) .

Das System der Kern-GZS

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wenn es durch morphologische Komposition mit Wäsche zu Autowäsche verbunden wird, intuitiv nicht auf einen außersprachlichen Gegenstand und kann entsprechend auch nicht pronominalisiert oder erfragt werden, vgl. *Er hat eine Autojwäsche machen lassen, das, völlig verdreckt war, *Er hat eine Waswäsche machen lassen?. Ein weiterer Aspekt der Nicht-Referentialität ist das seltene Vorkommen deiktischer (also auf Faktoren der Sprechsituation referierender) Ausdrücke innerhalb von kernmorphologischen Bildungen, vgl. Nebenschauplatz vs. * Danebenschauplatz, Aufwind vs. *Hinaufwind. Aber auch dieses Merkmal trifft nicht ausnahmslos zu. So können Namen, die als Teilglieder von Komposita fungieren, referentiell interpretiert werden, z.B. viele Richard-Gere,-Fans, die ihm, einmal die Hand schütteln wollten. (E9) Musterspezifische Formrestriktionen für Teil aus drücke: PR- oder KRBedingungen kernmorphologischer Bildungsmuster können die Form von Teilausdrücken in sehr spezifischer Weise restringieren. So läßt sich im heutigen Deutsch eine Abneigung gegen komplexe Adjektive als determinierende Erstglieder konstatieren, vgl. * Rötlichkraut, * Farbiggraphik, *Getrenntkost.64 Daß dieses Phänomen auf spezifische Bedingungen des einschlägigen Bildungsmusters zurückgeht, zeigt sich u.a. darin, daß es keine entsprechende Restriktion für nominale oder adverbielle Erstglieder gibt, z.B. Verwaltungsbeamter, Neuigkeitswert, Abwärtstrend, Vorausabteilung. Sehr häufig sind auch Affixe mit solchen spezifischen, oft prosodischen Restriktionen verbunden. 65 Ein bekanntes Beispiel: Das Suffix -keit verbindet sich (anders als das gleichbedeutende -heit) nur mit Stämmen, die auf einen Trochäus enden: Neuigkeit, Heiterkeit vs. * Neukeit, *Entspanntkeit. Bei typischen syntaktischen Bildungsmustern sind vergleichbare Formrestriktionen, soweit ich weiß, nicht belegt. Zwar beinhaltet die Unterscheidung verschiedener Projektionsstufen syntaktischer Kategorien, vor allem die von phrasalen und nicht-phrasalen Kategorien, Bedingungen für die interne Komplexität der Zeichen, die in den einschlägigen syntaktischen Positionen auftreten können. Aber diese Bedingungen sind von deutlich anderer Art als die erwähnten morphologischen Formrestriktionen. Insbesondere sind sie viel weniger spezifisch als diese (weswegen man sie durch musterübergreifende Schemata erfassen kann, wie sie in der X-bar-Theorie vorgeschlagen wurden), und sie beziehen sich niemals auf die prosodische Struktur. Z.B. gibt es meines

64

Nach Wiese (1996: 4.2) ist die zugrundeliegende Restriktion prosodisch: Adjektivische Erstglieder von Determinativkomposita müssen, so Wiese, auf einen monosyllabischen Fuß enden (wobei finale Schwa-Silben ignoriert werden). Dem widersprechen aber nach Wieses eigener Beobachtung Beispiele wie Fertiggericht, und auch Kontraste wie Trockenperiode vs. *Strohtrockenperiode werden nicht erfaßt. Das deutet daraufhin, daß auch die morphologische Struktur des Erstglieds eine Rolle spielt, möglicherweise sogar wichtiger ist als die prosodische Struktur ( f e r t i g ist Simplex, strohtrocken nicht).

65

Vgl. z.B. Wiese (1996: 4.1), Eisenberg (1998: 4.5).

Zusammenschreibung in morphologischen Bildungen

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Wissens in der deutschen Syntax keine Restriktion, die Zeichen einer bestimmten Wortart (etwa Adjektive) in einer Position nur zuläßt, wenn sie nicht komplex sind, wenn gleichzeitig in derselben Position komplexe Zeichen anderer Wortarten möglich sind. Und ganz sicher gibt es in der Syntax keine Restriktion, die die Verbindung eines Ausdrucks X mit einem Ausdruck Y dann blockiert, wenn Y nicht auf einen Trochäus endet. Allerdings ist auch dieses Charakteristikum kein unerläßliches Merkmal kernmorphologischer Bildungen. Z.B. verbindet sich das Negationspräfix unmit Adjektivstämmen beliebiger kategorialer und prosodischer Komplexität. (E10) Spezifische Formen der Reihenbildung: Wenn ein Zeichen Ζ keine isolierte Bildung ist, sondern nach einem Muster gebildet ist, muß es eine Reihe weiterer Zeichen geben, die auf die gleiche Weise wie Ζ gebildet sind. Wenn das Muster produktiv ist, sollte die Ζ entsprechende Reihe gleich gebildeter Zeichen außerdem durch neu kreierte Zeichen aufgefüllt werden können. Wenn das Muster ein typisch morphologisches ist, ist darüber hinaus zu erwarten, daß ein mehr oder weniger großer Teil der Ζ entsprechenden Reihe aus lexikalisierten Zeichen besteht. Darin manifestiert sich die Orientierung der Morphologie auf das Lexikon. Deutlich ausgeprägt ist diese Orientierung allerdings nur bei der nicht-flexivischen Morphologie. Reguläre Flexionsmuster sind dagegen, wie typische syntaktische Bildungsmuster, nicht von vorneherein auf das Lexikon, also auf Memorisierung, ausgerichtet, sondern auf die Online-Neubildung entsprechender Zeichen. Diese Muster fuhren deshalb in der Regel auch nicht zu Reihen mit einer größeren Zahl von lexikalisierten Elementen. Nach solchen Mustern gebildete Zeichen können zwar lexikalisiert werden, aber das ist in den Mustern nicht angelegt und geschieht weniger systematisch als bei nicht-flexivischen morphologischen Mustern. - Auch bei letzteren ist allerdings in bestimmten Fällen die direkte Einordnung in eine lexikalische Reihe schwierig, nämlich bei den spontan kreierten Mustern, die die Grundlage von Analogiebildungen sind. So ist das analog zu Geisterfahrer gebildete Geisterpferd 'Pferd, das sich in verkehrgefahrender Weise auf der Autobahn aufhält' 66 zweifellos eine nicht-flexivische morphologische Bildung, aber das in ihr erkennbare Muster, nämlich GeisterN 'N, das sich in verkehrsgefährdender Weise auf der Autobahn aufhält', hat (noch) keine Reihe im Lexikon hinterlassen. Typisch fur diese Minimalform morphologischer Bildung ist allerdings, daß sie ein etabliertes morphologisches Muster modifiziert und quasi von ihm 'schmarotzt', in unserem Beispiel das der N+N-Determinativkomposition, nach dem die Basis Geisterfahrer gebildet ist. Abgesehen von der mit der Analogiebildung verbundenen Modifikation kann man deshalb auch Geisterpferd auf eine lexikalische Reihe beziehen, nämlich auf die sehr umfangreiche Reihe lexikalisierter N+N-Determinativkomposita.

66

Vor einigen Jahren in der Presse belegt.

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Das System der Kern-GZS

Ich fasse zusammen: Zeichen, die nach typischen Mustern der nichtflexivischen Morphologie gebildet sind, lassen sich direkt oder indirekt auf Reihen entsprechend gebildeter lexikalisierter Zeichen beziehen. Bei Zeichen, die regulären Flexionsmustern oder typischen syntaktischen Bildungsmustern entsprechen, ist eine solche lexikalische Reihenbildung nicht notwendig, wenn auch in eingeschränktem Umfang möglich. Ihnen entsprechen allerdings stets umfangreiche (oft potentiell unendlich große) Reihen von nach dem Muster gebildeten nicht-lexikalisierten Zeichen. Bei isolierten Zeichen schließlich gibt es weder eine lexikalische noch eine nicht-lexikalische Reihenbildung. Darauf, daß eine einschlägige Form der Reihenbildung für die Morphologizität von besonderer Bedeutung ist, weist u.a. die Tatsache hin, daß auch solche morphologischen Bildungen, die im Hinblick auf mehrere der vorher genannten Charakteristika keine sehr deutlichen Unterschiede zu syntaktischen Phrasen aufweisen, stets in der für sie zu erwartenden Weise auf Reihen bezogen werden können. Das gilt z.B. für die morphologische Verbindung des Negationsträgers nicht mit Substantiven oder Adjektiven. Dadurch werden Zeichen erzeugt, die sich im wesentlichen nur hinsichtlich der Betonung und subtiler Bedeutungsdetails (s. E5, E7) von mit nicht gebildeten syntaktischen Phrasen unterscheiden, z.B. nichtöffentlich, nichtrostend, NichtWähler. Daß dennoch Einmütigkeit darüber besteht, daß nicht in solchen Fällen ein morphologisches Derivationsaffix und keine syntaktische Partikel ist, wird durch seine ausgeprägte lexikalische Reihenbildung bestätigt. Im großen DudenWörterbuch (DGWDS) findet man 70 Einträge der Form nicht + Adjektiv/Nomen. Dagegen gibt es keine nicht+Verb-Reihe, was der unbestrittenen Tatsache entspricht, daß die Verbindung von nicht mit verbalen Projektionen keine morphologische, sondern eine syntaktische Bildungsweise ist.67 Beim diagnostischen Einsatz dieses Faktors ist allerdings zu beachten, daß die Reihenbildung, so wie sie für die Morphologie charakteristisch ist, auf Bildungsmuster bestimmter Art bezogen ist. Es handelt sich im wesentlichen um drei Arten von Reihen: solche, die auf ein Kompositionsmuster hinweisen, wie die Reihe {Bindfaden, Greifarm, Kochnische, Ziehbrücke, ...}, solche, in denen sich ein Muster der Konversion oder Mutation erkennen läßt, etwa die Reihe {Blick, Fang, Halt, Knall, Rutsch, ...}, und solche, in denen sich ein

67

Bei einigen mcA/+Partizip-Einträgen, etwa nichtrostend,

handelt es sich um adjektivierte

Komplexe. - Man mag einwenden, der Eindruck, es gebe im D G W D S keine

nicht+Werb-

Reihe werde durch die Getrenntschreibung entsprechender Einträge hervorgerufen, denn diese führe dazu, daß die Einträge nicht unter der Lemmastrecke nicht

, sondern verstreut un-

ter den jeweiligen Verben zu finden sind. Aufgrund von Stichproben bin ich jedoch sicher, daß man auch bei einer entsprechenden Erweiterung des Suchbereichs keine relevante «/cA/+Verb-Reihe nachweisen könnte. Es sind zwar vereinzelt verbale Phraseologismen mit nicht verzeichnet (z.B. es nicht über sich bringen),

aber diese bilden keine Reihe, in der sich

ein Muster erkennen ließe, nach dem sich nicht als A f f i x oder Kompositionsglied mit Verben verbindet (s.u.).

Zusammenschreibung in morphologischen Bildungen

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Muster manifestiert, in denen ein Teilausdruck als A f f i x fungiert, z.B.

zer{brechen, -gliedern, -hacken, -siedeln, ...}, {ablös-, eß-, les-, Übertrag-, ...}bar.6S Deshalb könnte z.B. die Reihe {das Auto, das Haus, den Küchenschrank, ...} verkaufen, selbst wenn ihre Elemente lexikalisiert wären, nicht als Hinweis auf morphologischen Status gelten. Ein Bildungsmuster NP verkaufen würde sich j a weder als Komposition noch als Konversion/Mutation deuten lassen, und auch Affigierung kommt nicht in Frage, unter anderem deshalb nicht, weil verkaufen flektierbar ist. Affixartige Teilausdrücke lassen sich dagegen nicht flektieren (sondern können allenfalls durch phonologische Prozesse abgewandelt werden). Auch semantisch ist das Verb kein Affix, denn dazu müßte es den anderen Teilausdruck bzw. dessen Basis durch Hinzufügung mehr oder weniger abstrakter Bedeutungskomponenten oder Überführung in eine andere Kategorie modifizieren. In der Phrase den Küchenschrank verkaufen wird die N P aber weder in diesem noch in einem anderen Sinn vom Verb modifiziert.

4.1.4.2 Anwendung auf Partikelverben und eine Hypothese über die Grenzen der Morphologie Nun soll, wie angekündigt, an Randfällen ermittelt werden, welche der eben erläuterten Merkmale für morphologische Bildungen im hier relevanten Sinn nicht nur typisch, sondern darüber hinaus notwendig sind. Die Ausgangsannahme ist, daß nicht-notwendige Merkmale in Randfällen fehlen können und das auch häufig tun, während notwendige Merkmale auch in Randfällen vorliegen müssen oder zumindest äußerst selten fehlen. Die notwendigen Merkmale sind also jene, die man sowohl bei Kern- als auch bei Randfällen so gut wie immer feststellen kann. Als Beispiele für Randfälle betrachte ich, wie bereits angekündigt, Partikelverben, die infolge ihrer Trennbarkeit zweifellos eine periphere Position im Feld der morphologischen Bildungen einnehmen. Genauer gesagt werden vier Typen von Partikelverben analysiert, die durch Beispiele mit den Erstgliedern

um-, zusammen-, tot- und maschine- (wie in umbauen,

zusammenschreiben,

totschlagen, maschineschreiben) exemplifiziert werden. Dabei steht um- für VPartikeln, denen kein syntaktisch selbständiges Zeichen entspricht, das sich mit

68

Ich vernachlässige einige im Deutschen weniger wichtige Bildungsarten (etwa Reduplikation) sowie die verschiedenen Kürzungsmuster. Zu den für Rückwärtsbildungen zu betrachtenden Mustern vgl. 4.1.4.2 ad Ε10. - In der traditionellen morphologischen Literatur wird Reihenbildung meist nur dann konstatiert, wenn sie auf ein affigierendes Muster hinweist, etwa um 'Halbaffixe' wie Schnupper- oder -fähig in Schnupperpreis bzw. konsensfähig von normalen Kompositionsgliedern zu unterscheiden. ('Halbaffixe' sind Kompositionsglieder, die wie Affixe durch das jeweilige Bildungsmuster eingeführt werden, vgl. auch Anm. 119 in 4.1.4.3.)

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Das System der Kern-GZS

Verben verbinden läßt, zusammen-, tot- und maschine- stehen für V-Partikeln mit einem adverbiellen, adjektivischen bzw. nominalen Pendant in der Syntax 6 9 Ad El (keine Bewegung): um-: Partikel und verbaler Teilausdruck können sich voneinander trennen, nämlich nach der in 4.1.3 umrissenen Analyse infolge einer Bewegung des letzteren. Die Partikel um- muß dagegen nach der Intuition der meisten Sprecher in ihrer Basisposition bleiben, kann also vor allem nicht ins Vorfeld gerückt werden, vgl. daß er es nicht umbenannte, Benannte er es nicht um, llUm benannte er es nicht. Entsprechendes gilt für viele V-Partikeln, denen kein syntaktisch selbständiges Adverb, Adjektiv oder Nomen entspricht. Eine Ausnahme ist z.B. unter- in Sätzen wie Unter geht die Sonne hier erst um acht. Die Bewegung der Partikel ins Vorfeld erfordert allerdings ihre besondere Hervorhebung. 70 zusammen-, tot-: Sowohl das verbale Teilglied als auch die (hervorgehobene) Partikel können bei vielen mit zusammen- und bei allen mit tot- gebildeten Verben bewegt werden, vgl. Schreibt man das zusammen, Schlägt er ihn tot, Zusammen kann man das nicht schreiben, Tot hat er ihn nicht geschlagen. Bei einigen Verben mit zusammen- ist eine Bewegung der Partikel allerdings kaum akzeptabel, z.B. bei zusammenlegen, vgl. llZusämmen sollte man das nicht legen. - Entsprechendes scheint für viele Partikelverben dieser Art zu gelten: Bei deadjektivischen V-Partikeln sind sowohl die Partikel als auch das verbale Teilglied beweglich, bei deadverbiellen ist es manchmal nur das verbale Teilglied, vgl. auch * Wieder gab er es fälsch (im Sinne von 'Er gab es falsch wieder'). maschine-: Der verbale Bestandteil kann bewegt werden, vgl. Er schreibt maschine, nach der Intuition vieler Sprecher auch die V-Partikel, wenn sie entsprechend hervorgehoben wird, vgl. Maschine schreibt er perfikt. Das ist 69

Die Schreibung von maschineschreiben gehört nicht zur Kern-GZS, denn das Zeichen wird in der Alt-GZS zusammen-, in der Neu-GZS getrennt geschrieben. Ich beziehe es dennoch in die Diskussion mit ein, weil es eines der ganz wenigen Beispiele für Verben mit einem trennbaren nominalen Teilausdruck ist, die zweifelsfrei und ohne daß eine homonyme syntaktische Bildung die Analyse erschwert, morphologisch (nämlich rückwärts-)gebildet sind. - An diesem Beispiel sieht man schon, daß in der Neu-GZS nicht alle morphologischen Bildungen zusammengeschrieben werden. Das wird in Kap. 8 ausführlich diskutiert.

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Dabei kann die Hervorhebung unterschiedliche informationsstrukturelle Funktionen haben. Eine davon ist die sog. I-Topikalisierung, vgl. Jacobs (1997), bei der neben dem VorfeldElement auch ein Mittelfeldelement einen Hauptakzent erhält und ein steigend-fallender Tonverlauf realisiert wird. Inhaltlich ist dieses Hervorhebungsmuster mit Kontrastierung verbunden.

Zusammenschreibung in morphologischen Bildungen

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allerdings unter den rückwärtsgebildeten Verben, zu denen maschineschreiben gehört, eine Ausnahme. Bei den meisten von ihnen sind weder das Verb noch das Erstglied beweglich, vgl. daß er sich schutzimpfen lassen wollte, *Sie impften ihn schütz, * Schutz wollte er sich nicht impfen lassend Mit dem Faktor Beweglichkeit hängt vermutlich auch die (Nicht-)Abtrennbarkeit von V-Partikeln bei Fokusvoranstellung im Mittelfeld und bei Oberfeldbildung zusammen, 7 2 z.B. daß die Sonne auf um acht, unter um zihn geht bzw. Idaß er das Wort zusammen hat schreiben wollen. Anscheinend tolerieren Partikeln, die nicht ins Vorfeld bewegt werden können, auch in diesen Konstruktionen keine Trennung vom Verb, lldaß er den Konzern auf ganz allein, um jedoch mit Hilfe anderer gebaut hat, lldaß er ihn üm hat bauen wollen, *daß er es korrekt wieder hat geben wollen. Andererseits sträuben sich auch einige ins Vorfeld bewegbare V-Partikeln gegen eine Trennung vom Verb im Mittel- bzw. Oberfeld, vgl. lldaß er ihn tot hat schlagen wollen (wobei j e d o c h die Beurteilung solcher Beispiele, wie generell die von Oberfeldbildungen, dia- und idiolektal stark variiert 73 ).

Ad E2 (keine syntaktische Erweiterung): um-\ Es gibt keine Hinweise darauf, daß Teilausdrücke von mit dieser VPartikel gebildeten Verben syntaktisch erweitert werden können, vgl. *der es um {nicht baute), ll{Ganz um) hat er es noch nicht gebaut. Entsprechendes gilt, soweit ich sehe, fur die große Mehrzahl der anderen V-Partikeln dieses Typs. 74 In einigen Fällen erscheint allerdings die Verbindung der Partikel mit

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Angesichts der eben umrissenen Daten, z.B. von Paaren wie Zusammen kann man das nicht schreiben vs. ?? Zusammen sollte man das nicht legen, erscheint die verbreitete Annahme, man könne die unterschiedliche Beweglichkeit von V-Partikeln vollständig auf semantischpragmatische Bedingungen (etwa Kontrastierbarkeit, vgl. Anm. 70) zurückführen, zu optimistisch. Eine präzise und datenadäquate Formulierung entsprechender semantisch-pragmatischer Regeln liegt jedenfalls, soweit ich weiß, bisher nicht vor, so daß beim gegenwärtigen Stand der Forschung davon auszugehen ist, daß die (Nicht-)Beweglichkeit fur jede V-Partikel separat festgehalten werden muß. Zur Oberfeldbildung generell vgl. Bech (1983). Auf die diagnostische Relevanz des Oberfeldverhaltens für die Einordnung von Partikelverben hat schon Eisenberg (1981) hingewiesen. Ein Dialekt, in dem V-Partikeln anscheinend ohne Einschränkungen vor das Oberfeld gestellt werden können, ist das Ostfränkisch-Thüringische, in dem nach Werner (1994) Bildungen wie Su ham sich die Leui ou muß plag (wörtlich: So haben sich die Leute ab müssen plagen) möglich sind. Zu beachten ist allerdings, daß schon die unerweiterte V-Partikel um- nicht vorfeldfähig ist, s.o. Daß im Mittelfeld ganz problemlos vor um- stehen kann, vgl. z.B. daß er es noch nicht ganz umgebaut hat, ist im übrigen kein Beleg für eine syntaktische Erweiterbarkeit der Partikel, da hier j a ohne weiteres eine Struktur angenommen werden kann, in der ganz nicht die

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Das System der Kern-GZS

einem Modifikator im Vorfeld halbwegs akzeptabel, z.B. IGanz unter ist die Sonne noch nicht gegangen. Ob es sich hierbei tatsächlich um eine Erweiterung der Partikel handelt, ist allerdings zweifelhaft, vgl. die Diskussion des unten folgenden Beispiels (10b). (Weitere Problemfalle werden am Ende des Abschnitts zu E2 diskutiert.) Bei diesen B e f u n d e n ist darauf zu achten, daß man die jeweilige VPartikel nicht mit der oft vorhandenen gleichlautenden Präposition verwechselt. Das ist j e d o c h in der Regel angesichts deutlicher Unterschiede in der syntaktischen Konstruktion und der Bedeutung leicht zu vermeiden, vgl. daß er das Seil durchgeschnitten hat (V-Partikel) vs. daß er (durch das Seil) geschnitten hat (Präposition). 75 zusammen-, tot-·. Eine syntaktische Erweiterung des verbalen Teilausdrucks ist nicht möglich, vgl. *daß er das Wort zusammen (nicht schrieb), *daß er die Teile zusammen (nicht klebte), *daß er ihn tot (nicht schlug), *daß er den Vorschlag tot (nicht redete). Darin liegt allerdings kein Unterschied zu inhaltlich parallelen syntaktischen Resultativ-Adverbialen, denn auch diese erlauben keine Erweiterung des Verbs durch Modifikatoren, vgl. ΊΊάαβ er ihn ohnmächtig (nicht schlug). Bei der Diskussion der Frage, ob man die Partikeln selbst erweitern kann, ist zunächst wieder auf mögliche Verwechslungen mit syntaktischen Pendants zu achten, etwa bei den V-Partikeln, denen ein komplexes Lokal-/Direktionaladverb entspricht, das auch mit NPn oder PPn verbunden werden kann. So ist klar, daß in (Den Berg hinauf) zögen sie es nicht die V-Partikel hinaufvorliegt, sondern ihre syntaktische Entsprechung, eine Art Postposition. Der entsprechende Verbendstellungssatz ist also daß sie es den Berg hinauf zogen und nicht daß sie es den Berg hinäufzogen. Zur Disambiguierung können neben unterschiedlichen syntaktischen und Betonungseigenschaften auch hier semantische Unterschiede herangezogen werden, im Beispiel der zwischen einer rein direktionalen Lesart bei der Postposition und einer direktionalresultativen bei der V-Partikel. - Schwieriger ist die Abgrenzung zu syntaktischen Entsprechungen bei einigen deadjektivischen V-Partikeln, etwa bei unserem Beispiel tot-, Soll man die Akzeptabilität von Halb tot hat er ihn geschlagen als Indiz für die Möglichkeit einer syntaktischen Erweiterung der V-Partikel tot- werten? Stellung, Betonung und Bedeutung geben hier keine klaren Hinweise, vgl. auf der Verbendstellungsstufe daß er ihn halb tot ge-

75

Partikel, sondern den ganzen Verbalkomplex erweitert, etwa ...ganz (umgebaut hat), vgl. auch daß er es noch nicht ganz rekonstruiert hat. Etwas diffiziler ist die Abgrenzung, wenn die mit der V-Partikel verbundene Bedeutungskomponente durch eine begleitende PP mit gleicher Präposition spezifiziert wird, z.B. weil er durch den Wald durchlief. Das darf man nicht verwechseln mit der segmentgleichen, aber anders betonten Konstruktion mit doppelter Realisierung der Präposition innerhalb der PP: weil er (durch den Wald durch) lief, vgl. Olsen 1997.

71

Zusammenschreibung in morphologischen Bildungen

schlagen

hat vs. daß er ihn halb tötgeschlagen

hat. Allerdings belegen Bei-

spiele wie daß er ihn {halb ohnmächtig, grün und bläu, zum Kr'üppel} geschlagen hat zweifelsfrei, daß schlagen syntaktisch mit phrasalen Objektprädikativen verbunden werden kann. Dann spricht aber einiges dafür, auch in Halb tot hat er ihn geschlagen eine objektprädikative adverbiale Phrase und keine erweiterte V-Partikel zu vermuten. Wirklich aussagekräftig für die Frage der Erweiterbarkeit von V-Partikeln dieser Art sind demnach nur Fälle, zu denen es keine annähernd bedeutungsgleiche syntaktische Entsprechung gibt. Zu diesen gehört die V-Partikel zusammen-, deren syntaktisches Pendant eine deutlich andere Bedeutung hat (s.u.). In (10a,b) wird versucht, diese V-Partikel syntaktisch zu erweitern:

(10) a. *(Ganz zusammen) hat er das Wort nicht geschrieben. b. KGanz zusammen) hat er die Stühle nicht gerückt. (10a) ist eindeutig inakzeptabel. (10b) wird von Sprechern, die ich dazu befragt habe, unterschiedlich beurteilt, jedoch häufig für umgangssprachlich möglich gehalten. 76 Wenn man dieses Beispiel auf der Grundlage solcher Beurteilungen als Beleg für die syntaktische Erweiterbarkeit der V-Partikel zusammen- deuten würde, stünde das nicht in Widerspruch zur Inakzeptabilität von (10a), denn diese kann dadurch erklärt werden, daß die V-Partikel in Verbindung mit schreiben nicht graduierbar ist, also aus rein semantischen Gründen nicht durch ganz erweitert werden kann. Allerdings muß man, wenn man (10b) in diesem Sinn deutet, von der Standardannahme ausgehen, daß die Ausdrücke, die sich im Vorfeld deutscher Sätze befinden, stets zusammen eine Konstituente bilden. Diese Annahme ist j e d o c h nicht unproblematisch, vgl. z.B. Jacobs (1983), Büring/Hartmann (2001), Müller (2003). Büring/Hartmann und ich selbst haben argumentiert, daß manche der Modifikatoren, die vor Elementen im Vorfeld stehen, nicht mit diesen, sondern mit dem ganzen Restsatz eine Konstituente bilden, z.B. Nur (mit einem schriftlichen Vertrag könnte man das absichern).11 Wenn auch für (10b) eine Struktur anzunehmen wäre, bei der ganz und die nachfolgende VPartikel keine Konstituente bilden, etwa Ganz (zusammen hat er die Stühle noch nicht gerückt), könnte man das Beispiel natürlich nicht als Beleg für die syntaktische Erweiterbarkeit von zusammenwerten. Insofern wäre weitere Evidenz f ü r den Konstituentenstatus von ganz zusammen wünschenswert. Solche Evidenz liefert das Verhalten von Modifikatoren, die sich nur mit Adjektiven oder Adverbien, nicht jedoch mit verbalen Phrasen verbinden lassen.

76

Die Akzeptabilitätsmarkierungen geben stets meine eigene Intuition wieder.

77

Daß Partikel und PP hier keine Konstituente bilden, zeigt sich u.a. darin, daß man sie nicht zusammen ins Nachfeld stellen kann, vgl. ΊΊΜαη könnte schriftlichen

Vertrag).

das absichern

(nur mit

einem

72

Das System der Kern-GZS

Wenn ein solcher Modifikator Μ im Vorfeld eines Satzes wie (10b) vor der VPartikel stehen kann, wäre die Annahme einer Struktur wie (M zusammen) hat er die Stühle nicht gerückt und damit einer syntaktischen Erweiterbarkeit der V-Partikel unvermeidlich. Wenn Μ nicht in dieser Position stehen kann, würde das umgekehrt dafür sprechen, daß in (10b) keine Struktur vorliegt, in der der Modifikator mit der V-Partikel verschwestert ist. Ein solcher Modifikator ist graduierendes zu wie in Er hat zu lange gebraucht,78 Dieses Element kann nun aber auf keinen Fall für ganz in (10b) substituiert werden, vgl. *Zu zusammen hat er die Stühle nicht gerückt, j a es kann nicht einmal im Mittelfeld unmittelbar vor der V-Partikel stehen, vgl. *daß er die Stühle zu zusammengerückt hat.19 Damit erscheint es zumindest zweifelhaft, ob in (10b) und ähnlichen Fällen die V-Partikel tatsächlich durch den Modifikator erweitert ist. Ich neige eher zu der Annahme, daß eine Struktur vorliegt, in der ganz keine syntaktische Erweiterung der nachfolgenden V-Partikel ist, etwa Ganz {zusammen hat er die Stühle nicht gerückt). maschine-·. Auch die Teilausdrücke von maschineschreiben sind nicht syntaktisch erweiterbar, vgl. *daß er maschine (nicht schreibt), *daß er (maschine von IBM) schreibt. Entsprechendes gilt für alle rückwärtsgebildeten Verben. Wir sind also bisher bei keiner der betrachteten Klassen von deutschen VPartikeln auf Daten gestoßen, die eindeutig für syntaktische Erweiterbarkeit sprechen. Viele Beispiele, die auf den ersten Blick so aussehen, als sei ein Teilglied eines Partikelverbs um einen Modifikator oder ein Komplement erweitert worden, erweisen sich bei genauerer Betrachtung als nicht einschlägig oder nicht eindeutig. Es handelt sich um Fälle, in denen nicht das Partikelverb, sondern eine verwandte syntaktische Konstruktion vorliegt, oder in denen die Erweiterung möglicherweise nicht die V-Partikel allein, sondern einen größeren Komplex betrifft. Einige - sehr wenige - Beispiele mit zweifelsfreier syntaktischer Erweiterung von Teilen von Partikelverben gibt es jedoch, z.B. das folgende (das ich Theodor Ickler verdanke): Schreiber hat Max Strauß oft mit auf Reisen genommen (aus der SZ vom 10. 1. 2004). Man könnte hier zunächst die syntaktische Konstruktion mit + Richtungsangabe + Verb ver78

Daß diese Partikel keine verbalen Syntagmen modifizieren kann, sieht man an Beispielen w i e

79

Man mag einwenden, daß die mangelnde Akzeptabilität dieser Beispiele nur an der w e n i g

*Er hat zu

getrödelt.

wohlklingenden Wiederholung von zu in zu zusammen die ebenso wenig wohlklingende Folge zu zufrieden Ergebnis)

liegt. Dagegen spricht jedoch, (a) daß

(wie in Sei nicht zu zufrieden

mit

diesem

völlig akzeptabel ist, (b) daß sich zu mit deadjektivischen oder deadverbiellen V-

Partikeln auch dann nicht verbinden läßt, wenn diese nicht mit zu- beginnen, vgl. ''''daß Wäsche an der Leine zu festfriert

(vs.... ganz festfriert),

die

und (c) daß sich andere Modifikato-

ren, die sich nicht mit Verben verbinden, in diesen Positionen genauso verhalten wie zu, z.B. * Äußerst festfriert.

zusammen

hat er die Stühle nicht gerückt,

V.daß die Wäsche an der Leine

äußerst

Zusammenschreibung in morphologischen Bildungen

73

muten, wie sie in Sie hat es ihm mit in den Koffer gelegt vorliegt. Diese Konstruktion zeichnet sich aber dadurch aus, daß mit ohne Grammatikalitätseinbuße weggelassen werden kann, vgl. Sie hat es ihm in den Koffer gelegt. Das ist im fraglichen Beispiel nicht möglich, vgl. USchreiber hat Max Strauß oft auf Reisen genommen. Demnach liegt hier nicht die syntaktische Konstruktion, sondern das Partikelverb mitnehmen vor (wozu natürlich auch die Bedeutung paßt). Gleichzeitig ist klar, daß das Erstglied dieses Verbs hier um die PP auf Reisen erweitert ist. Wie sollen wir mit diesem Befund im Rahmen unserer Exploration der Grenzen des für die deutsche GZS relevanten Morphologiekonzepts umgehen? Wie gesagt, Beispiele der fraglichen Art sind sehr selten. Soweit ich sehe, gibt es im Deutschen nur eine verschwindend kleine Zahl von Partikelverben wie mitnehmen, bei denen eine scheinbare Erweiterung des Erstglieds nicht auf eine Verwechslung mit einer entsprechenden syntaktischen Konstruktion zurückgeführt werden kann oder eine andere Analyse der Konstituentenstruktur möglich ist. (In einigen Fällen, an die man hier denken könnte, liegen überhaupt keine im einschlägigen Sinn morphologischen Partikelverben vor, z.B.

bei einhergehen und gutgehen in Sätzen wie Einher damit geht, daß ... bzw. Es ist ihm zu gut gegangen, vgl. 5.3 - 5.4.) Könnte man es mit Hinweis auf diese ganz wenigen eindeutigen Fälle rechtfertigen, die Unmöglichkeit syntaktischer Erweiterung nicht als ein Merkmal zu betrachten, das für Morphologizität im für die deutsche GZS relevanten Sinn konstitutiv ist? Ich glaube, diese Frage ist zu verneinen. Grosso modo gehört das Fehlen von im engeren Sinn syntaktisch erweiterbaren Teilausdrücken zu den essentiellen Charakteristiken jener Bildungsweisen, die unter das fragliche Morphologiekonzept fallen. Das wird nicht nur dadurch bestätigt, daß syntaktische Erweiterbarkeit im engeren Sinn bei kernmorphologischen Bildungen überhaupt nicht vorkommt, vgl. 4.1.4.1, und bei randmorphologischen Bildungen, wie wir gerade sahen, in klarer Ausprägung äußerst selten ist, sondern auch dadurch, daß sie, wie sich in 4.4 zeigen wird, eines der Merkmale ist, das für die durch Ähnlichkeiten zu morphologischen Bildungen verursachte irreguläre Ausdehnung der Zusammenschreibung auf bestimmte Typen nicht-morphologischer Zeichen verantwortlich ist.

Ad E3 (keine separate Flexion): um-, zusammen-, tot- und maschine-: Die Frage der separaten Flektierbarkeit der Teilausdrücke von mit V-Partikeln gebildeten Zeichen erhebt sich besonders angesichts der spezifischen Form der Anfügung von ge- und zu bei der Bildung des Partizips II bzw. des zw-Infinitivs. Grundsätzlich werden diese Flexionselemente, wenn sie in einen verbalen Komplex mit trennbaren Teilausdrücken eingebaut werden, direkt vor das verbale Teilglied gesetzt,

74

Das System der Kern-GZS

während sie bei den meisten nicht-trennbaren Verben vor dem Gesamtzeichen stehen, 80 vgl. umzudatieren, zusammengeschrieben, totzuschlagen, maschinegeschrieben vs. zu überraschen, geohrfeigt, zu mutmaßen. Es liegt nahe, das so zu deuten, daß den unterschiedlichen Einfligungspositionen fur ge- und zu einerseits und der unterschiedlichen Trennbarkeit andererseits derselbe strukturelle Faktor zugrundeliegt: Dort, wo zwischen den Teilgliedern eine KRWortgrenze interveniert, sind sie beweglich und wird das verbale Teilglied separat flektiert, dort, wo es keine interne KR-Wortgrenze gibt, ist beides nicht der Fall. Aus dieser Sicht liegt also sowohl der Beweglichkeit von Teilausdrücken als auch der eigentümlichen Statusflexion von trennbaren Verben zugrunde, daß sie syntaktisch komplex sind. Damit wären Partikelverben im selben Sinn separat flektierbar wie syntaktisch gebildete X+Verb-Komplexe. Die Sachlage ist jedoch komplizierter. Es gibt eine ganze Reihe von untrennbaren Verben, bei denen ge- und/oder zu ebenfalls nicht an das Gesamtzeichen, sondern an das verbale Zweitglied adjungiert werden. 81 Dazu gehören die meisten rückwärtsgebildeten Verben, vgl. bauzusparen, notgelandet, bruchzurechnen, aber Sie {*sparten bau, *landeten not, *rechneten bruch},82 sowie Verben mit einem Verbstamm als Erstglied, vgl. rührgebraten, preßzupolieren, schwingzuschleifen, aber *Sie {braten es rühr, polieren es preß, schleifen es schwing). Nach der fehlenden Beweglichkeit der Teilausdrücke (und nach vielen anderen Kriterien) enthalten alle diese Verben keine interne KR-Wortgrenze. Also kann Innen-Hinzufügung von ge- und zu nicht generell auf eine interne KR-Wortgrenze zurückgeführt werden. Damit wird dann aber auch bei Verben mit trennbaren Partikeln fraglich, ob deren spezielle Partizipund zw-Infinitiv-Bildung etwas mit der - bei ihnen ja tatsächlich vorhandenen - internen KR-Wortgrenze zu tun hat. Allgemeiner stellt sich die Frage, ob es sich bei der Innen-Einfügung von zu und ge-, wie sie bei trennbaren und eben auch bei manchen nicht-trennbaren Verben auftritt, überhaupt um separate Flexion von der Art handelt, wie sie für die Syntax typisch ist, oder nicht vielmehr um Infigierung, also um eine Bildungsweise, die im kernmorphologischen Bereich, 83 jedoch nie in der Syntax 80

Wie bekannt, kommt die Hinzufügung von ge- aufgrund einer PR-Bedingung des entsprechenden Bildungsmusters nur dann in Frage, wenn die folgende Stammsilbe den Hauptakzent trägt. Andernfalls wird das Partizip II ohne ge- gebildet, vgl. * geliebkost vs. liebkost.

81 82

Vgl. Wurzel (1992). Bei einigen dieser Verben Erstgliedadjungierung von stimmten noch nicht ganz verben, z.B. gedownloaded

83

Etwa bei der Bildung von Antonymen zu Adjektivkomposita, vgl. arbeitswillig > arbeitsunwillig. Auch bei der - unzweifelhaft morphologischen - Nominalisierung mit der Affixkombination Ge-...-e wird das erste Affix bei Partikelverben infigiert, vgl. vorsagen > Vorgesage. (Vorgesage kann ja nicht durch Anfügung von vor an *Gesage entstanden sein.) Als Infixe kann man schließlich auch bestimmte Fugenelemente betrachten.

schwanken manche Sprecher allerdings zwischen Zweitglied- und ge- und zu, z.B. baugespart und gebauspart, ebenso wie bei beins deutsche Flexionssystem integrierten nicht-trennbaren Lehnund downgeloaded.

Zusammenschreibung in morphologischen Bildungen

75

vorkommt. Zumindest bei den erwähnten nicht-trennbaren Verben ist die Annahme einer Infigierung von ge- und zu unvermeidlich, ebenso wie bei jenen Partikelverben, deren verbales Zweitglied nicht selbständig vorkommt, etwa eingedost (das ja nicht auf die Verbindung von ein mit *gedost zurückgeführt werden kann, vgl. dazu auch ad E7). Und wenn wir an der in 4.1.3 anhand von zusammen- vorgeführten Analyse von Bildungsmustern fur V-Partikeln festhalten, ist ebenfalls schon eine Vorentscheidung für Infigierung gefallen, denn diese Analyse schließt andere Derivationsweisen für die Statusformen aus. 84 In 4.6.1 werden wir sehen, daß diese Entscheidung, die Partizip-II- und zuInfinitiv-Bildung als Infigierung, also als eine morphologische Bildungsweise, zu analysieren, durch die GZS entsprechender Formen bestätigt wird. 85

Ad E4 (spezifisch morphologische Verarbeitung): um-\ Mit V-Partikeln dieses Typs gebildete Verben können, wenn sie semantisch und im Hinblick auf ihre Valenz geeignet sind, mit -bar adjektiviert werden, also durch ein Bildungsmuster weiterverarbeitet werden, das keinen syntaktisch komplexen Input akzeptiert, vgl. umschaltbar, aufladbar, abbindbar. zusammen-, tot-·. Auch auf der Basis von geeigneten Verben mit deadverbiellen und deadjektivischen V-Partikeln kann man ftar-Adjektive bilden, vgl. zusammenschreibbar, weglaßbar, freischaltbar, offenlegbar,86 Generell ausgeschlossen scheint das allerdings für jene deadverbiellen V-Partikeln zu sein, die eine deiktische Bedeutungskomponente haben (vgl. die Bemerkungen zu

84

85

86

Vor allem ist unter diesen Voraussetzungen eine Derivation ausgeschlossen, wie sie bei syntaktischer Bildung anzunehmen wäre, nämlich 1. schreiben => zu schreiben, 2. zusammen + zu schreiben => zusammenzuschreiben. Möglich ist nur 1. schreiben => zusammenschreiben, 2. zusammenschreiben => zusammenzuschreiben. Als untypisch für morphologische Bildungen wurde gelegentlich auch die Tatsache betrachtet, daß die Flexion von Partikelverben nicht nur in Bezug auf die Anfügung von ge- und zu, sondern auch im Hinblick auf alle anderen Flexionsmittel (Suffixe, Umlaut, Ablaut etc.) am verbalen Zweitglied ansetzt und dabei in derselben Weise wie bei Isolation dieses Zweitglieds erfolgt, z.B. bei Präteritumformen: annahm (wie nahm), umdefmierte (wie definierte), zusammenschrieb (wie schrieb) usw. Das ist jedoch alles andere als 'unmorphologisch'. Vielmehr gilt im Deutschen auch für fast alle Aernmorphologischen Komplexe XY mit isolierbarem Zweitglied Y, daß sie in jeder morphosyntaktischen Kategorie K, die vom Partizip II und vom zu-Infinitiv verschieden ist, (etwa im Präteritum, Indikativ, 3. Person, Singular) die Flexionsform XZ haben, wobei Ζ die Form ist, die Y in der Kategorie Κ auch in Isolation annimmt. Das betrifft Verben mit nicht-trennbarem Erstglied, vgl. hinterging (wie ging), übernahm (wie nahm), genauso wie z.B. Nominalkomposita, vgl. Rathäuser (wie Häuser), Filzläuse (wie Läuse). Die geringe Akzeptabilität von ??totschlagbar hat wohl denselben inhaltlichen Grund wie die von V.ermordbar und Itölbar, spricht also nicht gegen die Annahme, daß Verben mit deadjektivischen V-Partikeln grundsätzlich mit - b a r adjektiviert werden können.

Das System der Kern-GZS

76

E7 unten), vgl. * danebenstellbar, *raustragbar. Doch dafür ist sicher eine unabhängige semantische Bedingung verantwortlich. 87 maschine-·. Ein öar-Adjektiv * maschineschreibbar kann schon aufgrund der Bedeutung und der Valenz von maschineschreiben ausgeschlossen werden. Rückwärtsgebildete Verben können aber auch dann, wenn sie inhaltlich und im Hinblick auf ihre Valenz geeignet erscheinen, kaum zu iar-Adjektiven gemacht werden, vgl. llschutzimpfbar, Π staubsaugbar. - Andererseits wurde schon darauf hingewiesen, daß Rückwärtsbildung sowohl im Hinblick auf die Basen als auch hinsichtlich ihres Outputs ein innermorphologischer Prozeß ist. Insofern kann man auch bei dem durch maschine- repräsentierten Typ von VPartikeln eine morphologiespezifische Verarbeitungsform konstatieren.

Ad E5 (Formbesonderheiten): um-: V-Partikeln dieses Typs bilden keine syntaktisch wohlgeformten verbalen Komplexe. Sie sind ja gerade dadurch charakterisiert, daß ihnen kein selbständiges Wort entspricht, das mit einem Verb verbunden werden kann, vgl. umstellen vs. *um stellen, einwickeln vs. *ein wickeln. zusammen-, tot--. Wie schon unter E2 angemerkt, bilden einige Vertreter dieses Typs von V-Partikeln verbale Komplexe, die sich hinsichtlich ihrer Formeigenschaften nicht von syntaktischen Phrasen unterscheiden lassen. Das betrifft besonders manche V-Partikeln mit resultativer oder direktionaler Interpretation: (jemanden) totschlagen vs. ( j e m a n d e n ) tot schlagen, (den Koffer) völlpakken vs. (den Koffer) voll packen, (das Paket) zur'iickschicken vs. (das Paket) zur'ück schicken usw. 88 Bei anderen deadverbiellen oder deadjektivischen V87

88

Darauf, daß die deiktische Referenz und nicht der Formtyp dieser V-Partikeln (deiktisches Adverb + Präposition) diesen Effekt auslöst, weist die Tatsache hin, daß Verben mit VPartikeln dieses Typs, die ihre deiktische Komponente verloren haben, wesentlich leichter tarr-adjektiviert werden können, z.B. herausgebbar (im Sinne von 'edierbar'), hinauszögerbar. Daß tot, voll und zurück nicht nur als V-Partikeln, sondern auch als resultative bzw. direktionale Adverbiale fungieren können, zeigt u.a. der Vergleich mit inhaltlich und kategorial entsprechenden Wörtern in dieser Funktion, die keine V-Partikeln sind, vgl. (jemanden) mäusetot schlagen, (den Koffer) randvoll packen, (das Paket) retour schicken. (Vgl. auch die unter E2 erwähnten phrasalen Objektprädikative.) - Übrigens teilen diese V-Partikeln mit ihren syntaktischen Pendants auch die Eigenschaft, daß sie fokusprojektiv sind, daß man also dadurch, daß man ihnen den Hauptakzent gibt, die ganze verbale Phrase als Fokus markieren kann, vgl. daß er [feinen Mann totgeschlagen hat] vs. ??φ/β er [meinen Μάηη totgeschlagen hat], daß er [fein Wärt zusammengeschrieben hat] vs. V.daß er [rein Wort zusammengeschrieben hat]. Dagegen scheinen die meisten V-Partikeln des um-Typs nicht fokusprojektiv zu sein, z.B. ??φ/3 er [vein Gep'äckstück abgeholt hat] vs. daß er [fein Gep'äckstück abgeholt hat].

Zusammenschreibung in morphologischen Bildungen

77

Partikeln sind dagegen Abweichungen von der syntaktischen Wohlgeformtheit zu beobachten, oft allerdings nur im Hinblick auf die Lage des Hauptakzents: zusämmenschreiben vs. *Sie wollten zusämmen wandern, wiedergewinnen vs. * das Rennen wieder gewinnen,89 maschine-·. Die Bildung maschineschreiben ist insofern syntaktisch nicht wohlgeformt, als das nominale Erstglied, obwohl es zählbar und im Singular ist, keinen Determinator hat. Außerdem müßte es bei der vorliegenden instrumentalen Interpretation eine Präposition bei sich haben, vgl. maschineschreiben vs. *Maschine schreiben vs. mit der Maschine schreiben. Bei einigen anderen rückwärtsgebildeten Verben mit nominalen V-Partikeln läßt sich dagegen kein formaler Unterschied zu einer syntaktischen Bildung feststellen, z.B. bei staubsaugen (aus Staubsauger rückwärtsgebildet), zu dem es ein formgleiches syntaktisches Pendant Staub saugen (Massennomen in Objektfunktion + transitives Verb) gibt.

Ad E6 (keine interne KR-Valenzabgleichung): um-\ Eine Abgleichung mit KR-Valenzforderung des Verbs findet bei VPartikeln dieses Typs nicht statt. Zwar verlangen deutsche Verben über ihre KR-Valenz nicht selten eine bestimmte Präposition für eines ihrer Komplemente, z.B. suchen und verzichten, die ein Komplement mit nach bzw. auf fordern. Depräpositionale V-Partikeln unterliegen jedoch nie einer entsprechenden Valenzforderung des Verbs, was man u.a. an der Möglichkeit ihrer Substitution durch jeweils andere V-Partikeln erkennt, z.B. {um-, auf-, ab...}laden. zusammen-, tot-·. Bei deadverbiellen und deadjektivischen V-Partikeln ist eine Abgleichung mit KR-Valenzforderungen des Verbs schon deshalb nicht zu erwarten, weil Verben auch in der Syntax keine bestimmten Adjektive oder Adverbien in ihrer KR-Valenz 'subkategorisieren'. 90 Das gilt auch für die direkten syntaktischen Pendants der fraglichen V-Partikeln, nämlich für Adjektive/Adverbien, die als Resultativ-, Lokal- oder Direktionalbestimmung zum Verb treten. Zwar besteht in einem Satz wie Er hat ihn ohnmächtig geprügelt eine Valenzbeziehung zwischen Adjektiv und Verb, aber diese betrifft aus-

89 90

Die Akzentuierung des jeweils zweiten Beispiels ist nur als nicht-neutrale Betonung möglich. Das hängt damit zusammen, daß KR-Valenzen generell nur Merkmale betreffen, die keinen Einfluß auf die Bedeutung des jeweiligen Komplements haben, weswegen z.B. auch Numerus und Person nie KR-valenzgefordert sind. Vgl. Jacobs (2003).

Das System der Kern-GZS

78

schließlich die SR-Ebene. 91 Auf der KR-Ebene besteht dagegen keine Valenzbeziehung, und auch bei entsprechenden V-Partikeln gibt es keine solche Beziehung, was wieder Substitutionsproben zeigen, z.B. {auf-, fest-, los-, zusam-

men- ...}binden. maschine-·. Rückwärtsgebildete Verben 'erben' alle internen Valenzeigenschaften von ihrer jeweiligen Basis. Wenn diese ein Kompositum ist, das durch Zusammenlegung von X mit einem Nomen Y entstanden ist, gibt es weder in diesem Kompositum noch in dem auf seiner Basis rückwärtsgebildeten Verb eine Abgleichung von KR-Valenzforderungen zwischen X und Y. Das exemplifiziert maschineschreiben, denn auch in der Basis (das) Maschineschreiben (Kompositum aus Maschine + SchreibenN) wird keine Kasus- oder Präpositionsforderung abgeglichen. Bei staubsaugen liegt der Fall minimal anders: Zwar gibt es auch in staubsaugen keine Rektionsbeziehungen zwischen den Teilausdrücken, da es ja auch in der Basis Staubsauger nicht zu einer internen KR-Valenzabgleichung kommt (insbesondere erfüllt Staub keine Kasusforderung von Sauger92). Aber zufälligerweise unterscheidet sich hier, wie schon unter E5 angemerkt, das rückwärtsgebildete Verb im Hinblick auf seine Oberflächenform nicht von einer parallelen syntaktischen Bildung, also von Staub saugen. Das liegt daran, daß der Akkusativ, mit dem die artikellose NP Staub die entsprechende KR-Valenzforderung des Verbs innerhalb dieser VP abgleicht, an der NP morphologisch nicht sichtbar ist.

Ad E7 (Bedeutungsbesonderheiten): um-·. Mit dieser V-Partikel gebildete Zeichen weisen schon deswegen keinen bei syntaktischer Bildung möglichen Bedeutungsaufbau auf, weil es kein syntaktisch selbständiges Wort um mit annähernd gleicher Interpretation gibt. Um tritt in der Syntax j a als Präposition, als subordinierende Konjunktion und als Prädikativergänzung auf, hat dabei aber nie die Bedeutung, die durch das entsprechende Bildungsmuster mit der V-Partikel verbunden wird, nämlich 'in geänderter Weise vollziehen', vgl. umadressieren, umverteilen vs. um fünf Uhr, um nicht zu spät zu kommen, Deine Zeit ist um. Mit anderen Worten: um- verhält sich in dieser Hinsicht wie ein typisches Affix.

91

Das Adjektiv ist ein Argument des Verbs, d.h. es spezifiziert die Füllung einer Relatposition in der SR des Verbs, die durch einen produktiven Valenzerweiterungsprozeß zu den Relatpositionen der Grund-SR hinzugefugt wird. Vgl. ebenfalls Jacobs (2003).

92

Das würde übrigens auch bei syntaktischer Verbindung von Staub und Sauger gelten, denn deutsche Nomina fordern in ihrer KR-Valenz generell keine Kasus. Entsprechend tauchen bei Begleitern von Nomina keine regierten Kasus auf. (Der adnominale Genitiv wird nicht durch die KR-Valenz des Nomens gefordert.)

Zusammenschreibung in morphologischen Bildungen

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D a n e b e n hat bei Partikelverben dieser Art m a n c h m a l auch der verbale Teilausdruck kein syntaktisch selbständiges Pendant mit gleicher Interpretation, z.B. aufhübschen, eindosen, einstauben, umschulden, zumüllen. Diese Fälle sind der Anwendung der entsprechenden V-Partikel-Muster auf nominale oder adjektivische Basen zu verdanken, manchmal wohl auch Analogiebildungen zu deverbalen Partikelverben. Bei einer syntaktischen Bildungsweise wären sie undenkbar. Manche V-Partikeln dieser Klasse haben inhaltlich allerdings große Ähnlichkeit mit gleichlautenden syntaktischen Präpositionen, z.B. auf-, vgl. etwas aufladen vs. etwas auf den Wagen laden. Der semantische Unterschied scheint ausschließlich die Argumentstruktur zu betreffen: Zu der bei der Präposition durch die nominale Ergänzung (hier: den Wagen) zu realisierenden Argumentstelle gibt es bei der V-Partikel keine offensichtliche Entsprechung. Man hat allerdings vermutet, daß der Komplex aus V-Partikel + Verb ein entsprechendes implizites Argument hat, wofür es aber nach Härtl (2003) keine psycholinguistische Evidenz gibt. zusammen-, tot-. Die V-Partikel zusammen- kann bei transitiven Verben nur objektprädikativ-resultativ, adverbiales zusammen dagegen nur subjektprädikativ-komitativ interpretiert werden, vgl. Sie haben es zusämmengetragen vs. Sie haben es zusammen geträgen. Der Bedeutungsbeitrag der V-Partikel weicht also in der für Affixe typischen Weise deutlich von dem unabhängig vorkommender gleichlautender Zeichen ab. 9 j Analoge semantische Abweichungen gibt es bei einer Reihe weiterer deadverbieller V-Partikeln. Bekannt ist der Fall wieder- vs. wieder: Das Adverb hat oft eine repetitive ('erneut') Interpretation, vgl. daß sie das Rennen wieder gewonnen hat, während die VPartikel häufig eine restitutive ('zurück') Deutung hat, vgl. daß sie ihr Vertrauen wiedergewonnen hat. Auch diese V-Partikel verhält sich also im Hinblick auf ihre Rolle beim Bedeutungsaufbau wie ein typisches Affix. - Anders bei tot-·. Sätze mit dieser V-Partikel lassen sich zuweilen nicht nur hinsichtlich ihrer Form (s.o.), sondern auch im Hinblick auf ihren Bedeutungsaufbau kaum von entsprechenden Sätzen mit einem objektprädikativen tot in Adverbialfunktion unterscheiden. Sowohl Sie haben ihn totgeprügelt als auch Sie haben ihn tot geprügelt bedeuten 'Sie haben ihn so geprügelt, daß er als Folge davon tot war'. Wir haben es hier mit dem Grenzfall zu tun, daß ein morphologisches Muster, nämlich die Bildung von transitiven oder reflexiven Verben mit tot-, die SR des Outputs so festlegt, daß manche nach dem Muster gebildete Verben keinen wahrnehmbaren Bedeutungsunterschied zu entsprechenden syntaktischen Bildung aufweisen. Daß das aber tatsächlich ein Grenzfall ist, sieht man

93

Auch bei Verwendung als Prädikativergänzung hat zusammen eine andere Interpretation als zusammen-, weswegen man z.B. den aus Er hat die Wolldecke zusammengeknüllt folgenden Resultatzustand nicht mit V.Die Wolldecke ist zusammen beschreiben kann.

80

Das System der Kern-GZS

daran, daß die völlige semantische Parallelität zu einer entsprechenden syntaktischen Bildung nicht bei allen nach dem ίοί-Muster gebildeten transitiven Partikelverben zu beobachten ist. Sie gilt z.B. nicht in Fällen, in denen das Basisverb auch nach Erweiterung durch ein resultatives Adverbial keine transitive Interpretation zuläßt, vgl. Sie haben es {totgesagt, totgeschwiegen} vs. Sie haben es {*tot gesagt, ??tot geschwiegen}. Erst recht ist bei anderen deadjektivischen V-Partikeln keine uneingeschränkte inhaltliche Parallelität zu entsprechenden syntaktischen Bildungen zu beobachten, vgl. etwa fertig-, frei-, los- oder offen-. (Davon möge sich der Leser selbst überzeugen. 94 ) Gleiches gilt für die deadverbiellen V-Partikeln des Typs daneben-, herauf-, hinein-, die gelegentlich als inhaltlich identisch mit ihren syntaktisch selbständigen Entsprechungen analysiert wurden. Auch bei ihnen gibt es eine völlige Parallelität nur in Einzelfallen. So hat danebenfallen eine auch bei entsprechender syntaktischer Bildung mögliche Interpretation, danebengehen jedoch nicht. maschine-·. Genau wie die Form weist auch die Bedeutung in diesem Fall deutliche Unterschiede zu einer syntaktischen Bildung auf. Insbesondere wäre die instrumentale Deutung des Erstglieds von maschineschreiben bei syntaktischer Verknüpfung eines entsprechenden Nominals mit dem Verb schreiben aufgrund der Rollen- und Sortenforderungen, die dieses mit seinen Argumentstellen verknüpft, ausgeschlossen, vgl. weil er eine Maschine schreibt (ungrammatisch in der Interpretation 'weil er mit einer Maschine schreibt'). Entsprechendes gilt für die meisten rückwärtsgebildeten Verben, wobei staubsaugen wieder eine Ausnahme darstellt, indem dessen von der Basis, dem Kompositum Staubsauger, geerbte Interpretation sortal und hinsichtlich der semantischen Rolle des nominalen Erstglieds (aber nicht im Hinblick auf die Referentialität, s.u.) der der syntaktisch gebildeten Verbalphrase Staub saugen entspricht.

Ad E8 (Nicht-Referentialität): um-, zusammen-, tot-·. Bei vielen Vertretern der durch diese Ausdrücke repräsentierten Klassen von V-Partikeln stellt sich die Frage der Referentialität schon deshalb nicht, weil auch syntaktisch angebundene Adpositionen, Adverbien oder Adjektive mit vergleichbarer Funktion nicht referieren und entsprechend nicht pronominalisiert oder erfragt werden können. Das gilt insbesondere für objektprädikative Adjektive. So kann das Adjektiv weder in Er hat ihn totgeprügelt (V-Partikel) noch in Er hat ihn ohnmächtig geprügelt (objekt-

94

Bei los- findet man darüber hinaus wieder Bildungen, bei denen auch dem verbalen Zweitglied kein selbständiges Wort mit gleicher Bedeutung entspricht, etwa loseisen, losschnallen.

losketten,

Zusammenschreibung in morphologischen Bildungen

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prädikatives Adverbial) durch ein Pronomen oder W-Wort ersetzt werden, vgl. * Er hat ihn {so/wie}geprügelt?5 Etwas anders ist die Lage bei V-Partikeln mit direktionaler Interpretation. Syntaktisch eingeführte Direktionalphrasen sind pronominalisierbar bzw. erfragbar, z.B. Er hat es {auf den Schrank, dahin, wohin} gelegt. Ob das auch auf direktionale V-Partikeln zutrifft, hängt davon ab, ob man z.B. Er hat es {dahin, wohin} gestellt als pronominale bzw. interrogative Entsprechung von Er hat es runtergestellt oder Er hat es danebengestellt interpretieren kann. Ich tendiere dazu, diese Frage zu bejahen. Darüber hinaus gibt es bei V-Partikeln wie rauf und daneben unabhängige Hinweise darauf, daß sie deiktisch referieren. Genau wie bei syntaktisch selbständigen Deiktika verunglücken Äußerungen von Sätzen wie Er hat es {raufgestellt, danebengestellt} ja, wenn in der Sprechsituation nicht klar ist, auf welche räumliche Region sich die Partikel bezieht. maschine-: Die nominalen Erstglieder rückwärtsgebildeter Verben sind wie die der Basis-Nomina nie referentiell. So bezieht man sich mit maschineschreiben genau wie mit (das) Maschineschreiben nicht auf eine bestimmte Schreibmaschine. Entsprechend referiert man mit staubsaugen nicht auf eine bestimmte raum-zeitlich lokalisierbare Quantität von Staub. Mit der entsprechenden syntaktischen Bildung Staub saugen kann man das dagegen sehr wohl, analog zu Milch trinken oder Tee kochen. Die Indizien für Referentialität, insbesondere Pronominalisierbarkeit und Erfragbarkeit, bestätigen diese Intuitionen.

Ad E9 (spezifische Formrestriktionen): um-: Es liegt nahe, als Hinweis auf das Wirken typisch morphologischer Formrestriktionen die Tatsache zu betrachten, daß V-Partikeln dieser Art weder untereinander noch mit anderen V-Partikeln kombinierbar sind, vgl. llumaufladen, lldurcheingeben, ??überabrollen.96 Technisch ergibt sich diese Restriktion daraus, daß Bildungsmuster für Partikelverben nur syntaktisch nichtkomplexe Zeichen als Input akzeptieren (eine Eigenschaft, die sie mit vielen anderen morphologischen Mustern teilen, s.o.), aber einen syntaktisch komplexen, aus je zwei KR-Wörtern bestehenden Output liefern, vgl. das Muster für zusammen- in 4.1.3. Daraus folgt, daß die Anfügung von V-Partikeln nicht rekursiv ist. In ihren Effekten läßt sich diese Einschränkung jedoch nur schwer 95

So bzw. wie ist hier nur dann möglich, wenn keine objektprädikative, sondern eine Art-undWeise-Interpretation gewählt wird.

96

Solche Partikelkombinationen können, soweit ich sehe, nicht generell semantisch ausgeschlossen werden. - Einige wenige Beispiele dieser Art sind fur manche Sprecher akzeptabel, etwa umeinrichten,

umauslegen

('geändert einrichten bzw. auslegen'). Ich nehme an, daß es

sich um Analogiebildungen zu Verben mit nur einer V-Partikel handelt, hier etwa zu umbauen bzw.

umdeuten.

82

Das System der Kern-GZS

von Restriktionen fur vergleichbare syntaktisch eingeführte Elemente unterscheiden, etwa für Resultativ-Adverbiale oder Prädikativkomplemente, die ebenfalls in der Regel nicht gehäuft auftreten. Insofern möchte ich die NichtKombinierbarkeit von V-Partikeln untereinander nicht als Beleg für eine typisch morphologische Komplexitätsrestriktion werten. zusammen-, tot-·. Deadjektivische V-Partikeln unterliegen offensichtlich dem gleichen Komplexitätsverbot wie adjektivische Erstglieder von Determinativkomposita, vgl. totprügeln vs. * ohnmächtigprügeln vs. ohnmächtig prügeln, volltanken vs. *randvolltanken vs. randvoll tanken, blankpolieren vs. *blitzblankpolieren vs. blitzblank polieren. Entsprechend haben die meisten in Literatur aufgeführten deadjektivischen V-Partikeln, 97 etwa blank-, breit-, fest-, frei-, los-, offen- und eben auch tot-, maximal eine Vollsilbe und basieren auf Simplizia. Daß die morphologische Komplexität hierbei eine größere Rolle spielt als die prosodische, 98 sieht man an einigen deadjektivischen V-Partikeln, die zwar Simplizia sind, aber mehr als eine Vollsilbe haben, etwa fertig- und kaputt-. Dagegen ist das prosodisch zu kaputt- parallele Adjektiv getrennt infolge seiner morphologischen Komplexität keine mögliche V-Partikel, was letztlich der Grund dafür ist, daß wir getrennt schreiben stets getrennt schreiben. Für deadverbielle V-Partikeln wie zusammen- besteht keine entsprechende Restriktion, aber das wäre angesichts der Tatsache, daß sie auch als determinierende Erstglieder von Nominalkomposita komplex sein können, gar nicht zu erwarten, vgl. die schon erwähnten Beispiele Abwärtstrend, Vorausabteilung. Sie unterliegen aber, wie die V-Partikeln der w/w-Gruppe, dem Verbot der Kombination mit anderen V-Partikeln, vgl. z.B. llzurückablegen, * hineinzurücklegen, *draufeurücklegen, das sich daraus ergibt, daß die Bildungsmuster keinen syntaktisch komplexen Input akzeptieren, s.o. 99 Aussagekräftiger im Hinblick auf den morphologischen Status dieser Muster ist die Tatsache, daß bei einigen dieser V-Partikeln zusätzlich Komplexitätsbeschränkungen für den jeweiligen verbalen Teilausdruck wirksam sind. So verbindet sich das resultative zusammen- nur mit morphologisch nicht-komplexen Verben, vgl. zusämmenpacken vs. llzusämmenverpacken.m

97 98 99

Vgl. z.B. Altmann/Kemmerling (2000: 91). Vgl. auch Anm. 64 oben. Auch hier hat die geringe Akzeptabilität der Beispiele, soweit ich sehe, keine rein semantischen Gründe. Das zeigt sich darin, daß inhaltlich sehr ähnliche syntaktische Adverbial+Verb-Verbindungen unproblematisch sind, z.B. in die Schublade zurücklegen, auf den Tisch zurücklegen.

100 Ich vermute, daß man bei genauerer Betrachtung solche Beschränkungen auch für manche Partikeln der »m-Gruppe nachweisen könnte, vgl. z.B. anhören vs. *anvernehmen.

Zusammenschreibung in morphologischen Bildungen

83

maschine-·. Bei rückwärtsgebildeten Verben wäre eigentlich zu erwarten, daß für sie die gleichen Formbeschränkungen gelten wie für ihre Basen. Das heißt, daß sie keinen solchen Beschränkungen unterliegen sollten, wenn die Basen N + N - K o m p o s i t a sind. Das scheint aber nicht zuzutreffen. Darauf weist die Tatsache hin, daß die Erstglieder der vorhandenen Verben, die aus solchen Basen rückwärtsgebildet wurden, wie maschineschreiben, notlanden, kopfrechnen, schlafwandeln, schutzimpfen, staubsaugen, ausnahmslos Simplizia und meistens einsilbig sind. Eine Rückwärtsbildung aus einem Kompositum mit einem deutlich komplexen nominalen Erstglied, etwa Vertrauensfragen auf der Basis von Vertrauensfrage, wäre dagegen kaum denkbar. Die Rückwärtsbildung von Verben und damit auch die von solchen mit trennbaren Erstgliedern wie maschineschreiben scheint also typisch morphologischen Komplexitätsbeschränkungen zu gehorchen. 101

Ad E10 (Reihenbildung): um-, zusammen-, tot-: Daß das Muster, das der V-Partikel um- entspricht (in der Interpretation 'die Verbhandlung in geänderter Form oder mit geändertem Ergebnis durchfuhren'), eine lexikalische Reihe bildet, belegen 102 entsprechende Einträge im D G W D S , z.B. umadressieren, umdefinieren, umerziehen, umladen, ummodeln, umrüsten, umsatteln, umverteilen. Für resultatives zusammen- zähle ich im D G W D S 81 entsprechende Verben, z.B. zusammenbauen, zusammendrehen, zusammenfalten, zusammenpacken, zusammenschieben, zusammenziehen. Resultatives tot- ist am selben Ort mit 25 Einträgen transitiver oder reflexiver Verben vertreten, z.B. totschweigen, totsagen, (sich) totlachen, {sich) totarbeiten. Aufgrund mehrerer Stichproben bin ich sicher, daß sich Entsprechendes für alle anderen V-Partikeln dieser Typen zeigen läßt: Sie bilden mehr oder weniger lange Reihen von lexikalisierten Verben, wobei sich die V-Partikel in diesen Reihen jeweils als affixartiger Ausdruck verhält, also als ein den nachfolgenden Stamm modifizierendes Element, das durch das jeweilige Bildungsmuster eingeführt und mit spezifischen semantischen und Selektionseigenschaften versehen wird. Das ist ein für die Abgrenzung der Morphologie von der Syntax wichtiges Ergebnis, da es nicht auf unabhängige Faktoren zurückgeführt werden kann. So liegt die lexikalische Reihenbildung bei umsicher nicht an der mit diesem Ausdruck verbundenen Bedeutung: Im D G W D S findet sich kein einziges Verb, das mit dem praktisch gleichbedeutenden syn-

101 Das könnte ein Hinweis darauf sein, daß die Rückwärtsbildung von Verben aus deverbalen Nomina auf dem Wege ist, sich von einem bestimmten Anwendungsmodus der entsprechenden Nomen-Bildungsmuster (vgl. 4.1.1) zu einem eigenen morphologischen Muster zu entwickeln.

84

Das System der Kern-GZS

taktischen Adverb anders gebildet ist.102 Auch eine bestimmte phonologische Form führt nicht per se zu Reihenbildung. So gibt es zwar zu resultativem toteine lexikalische Reihe (s.o.), aber mit dem fast gleichlautenden rot gebildete resultative Verben sind nach Aufweis des DGWDS nicht Bestandteil des deutschen Wortschatzes. 103 maschine-·. Die lexikalische Reihenbildung bei rückwärtsgebildeten Ausdrükken kann unter zwei Aspekten betrachtet werden: Einerseits kann man prüfen, ob das Bildungsmuster, das bei der Rückwärtsbildung kreativ (wenn auch eben 'rückwärts') angewandt wurde, in der normalen, d.h. vorwärtsbildenden Anwendungsform eine Reihe bildet. Das wäre bei maschineschreiben das Muster der Bildung nominalisierter Infinitive. Wenn maschineschreiben im letzten Schritt seiner Derivation aus Maschineschreiben aufgrund der Annahme gebildet wurde, daß das Nomen zum Verb in dem durch dieses Muster beschriebenen Verhältnis steht, 104 kann maschineschreiben auf eine lexikalische Reihe bezogen werden, denn im heutigen Deutsch gibt es mehrere lexikalisierte nominalisierte Infinitive, etwa Aufsehen, Bemühen, Bitten, Eingreifen, Essen, Können, Lachen, Lärmen, Sein, Tun.105 Andererseits - und das ist der interessantere Aspekt - kann man sich fragen, ob die Rückwärtsbildung von Verben als solche eine lexikalische Reihe bildet. 106 Dazu müßte man überprüfen, wieviele rückwärtsgebildete Verben in einschlägigen Wörterbüchern, etwa im DGWDS, aufgeführt sind. Eine solche Überprüfung konnte ich im Rahmen dieser Arbeit nicht vornehmen, 107 aber angesichts der großen Zahl der in der morphologischen Literatur aufgeführten Beispiele fur diesen Bildungstyp ist es plausibel anzunehmen, daß hier eine gut ausgebaute lexikalische Reihe vorliegt, vgl. akupunktieren, bausparen, bergsteigen, haushalten, hochstapeln, kopfrechnen, kurzschließen, maschineschreiben, maßregeln, maßschneidern, notlanden, schlafwandeln, schlußfolgern, schutzimpfen, sonnenbaden, staubsaugen, Wettlaufen, zwangsräumen und viele andere. 108 Da sich die Elemente dieser Reihe - wenn es denn eine ist - im

102 Etwa anders adressieren,

anders definieren

usw.

103 Nicht einmal rol lackieren findet sich, obwohl rotlackiert 104 D i e entsprechende Derivation ist: 1. schreiben MaschineschreibenN,

3. Maschineschreibenν

=>m

als Adjektiv verzeichnet ist.

SchreibenN, =>m+i

2. Maschine

+

SchreibenN

maschineschreibenv.

105 D i e meisten dieser B e l e g e entnehme ich aus Fleischer/Barz (1992: 211). Daß die Zahl der einschlägigen Beispiele trotz der uneingeschränkten Produktivität des Musters recht gering ist, ist ein weiterer H i n w e i s darauf, daß die Infinitivnominalisierung eine Form der Flexion ist, vgl. Anm. 21 in 4.1.2. 106 Vgl. auch die in Anm. 101 geäußerte Vermutung. 107

D i e Oberprüfung wäre recht a u f w e n d i g , da der abzusuchende Wörterbuchbereich nicht alphabetisch begrenzbar ist.

108 Günther ( 1 9 9 7 ) gibt eine Liste von annähernd 4 0 0 Verben mit substantivischem Erstglied, die er in Muthmanns rückläufigem Wörterbuch von 1988 gefunden hat. V o n diesen Verben sind,

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Zusammenschreibung in morphologischen Bildungen

Hinblick auf ihre Beweglichkeit unterscheiden (siehe El), könnte man diese Eigenschaft, anders als bei Partikelverben der anderen Typen, allerdings nicht als durch die gemeinsame Bildungsweise festgelegt betrachten. Sie müßte auf eine Differenzierung durch 'spätere' Prozesse zurückgeführt werden. Die folgende Tabelle T1 faßt die Ergebnisse zu Partikelverben zusammen. Dabei bedeuten "+" und "-", daß Partikelverben der jeweiligen Klasse das einschlägige morphologietypische Merkmal haben bzw. nicht haben; "+/-" bedeutet, daß einige Partikelverben der jeweiligen Klasse das Merkmal haben und einige es nicht haben. "+/(-)" zeigt an, daß die Zahl der Partikelverben, die das Merkmal nicht haben, im Vergleich zu der Zahl derjenigen, die es haben, äußerst gering ist. "?" bedeutet, daß nach unseren obigen Überlegungen nicht völlig klar ist, ob Partikelverben der fraglichen Klasse das Merkmal haben: (Tl) El um-

E2

-

E3

E4

E5

E6

E7

E8

E9

E10

+

7

+

+/-

+/-

+

7

+

+

+

+

+/-

zusäumen

-

+

7

+

+/-

+

tot-

-

+

7

+

+/-

+

+/-

+

+

+

-

+

9

+

+/-

+

+

+

7

+

maschine-

Tl macht u.a. deutlich, daß die Partikelverben der zusammen- und ictf-Klasse nicht nur hinsichtlich ihrer Trennbarkeit, sondern auch im Hinblick auf andere Charakteristika als morphologische Bildungen peripher sind. Selbst bei einer 'morphologiefreundlichen' Deutung, die "?" durch "+" ersetzt,109 würden diese Partikelverben immer noch bei drei bis fünf der zehn untersuchten Merkmale zumindest teilweise vom kernmorphologischen Idealfall abweichen. Die Verben des um- und des maschine-Typs sind allerdings 'morphologischer', da sie sich bei einer solchen Deutung nur im Hinblick auf El bzw. El und E5 von typischen kernmorphologischen Bildungen unterscheiden.

soweit ich sehe, viele zumindest in einer Lesart rückwärtsgebildet, was auch Günthers Einschätzung (ebd.: 6) entspricht. 109 Es dürfte klar geworden sein, daß ich diese Deutung favorisiere.

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Das System der Kern-GZS

Zu beachten ist allerdings, daß die Merkmale E5, E7, E8, E9 bei denen "+/-" in T1 anzeigt, daß sie nur bei einem Teil der Partikelverben des jeweiligen Typs vorliegen (und dabei auch nicht bei jeder der mit einzelnen Partikeln möglichen Bildungen), solche sind, die schon im kernmorphologischen Bereich nicht zwingend sind. So haben nicht nur Partikelverben der zusammen-Gruppe teilweise eine von entsprechenden syntaktischen Bildungen kaum zu unterscheidende Bedeutungsstruktur (E7), sondern auch manche kernmorphologische Bildungen, etwa wz'c/tf-Präfigierungen oder Rektionskomposita (vgl. 4.1.4.1.). Dennoch zeigt T l , daß die Grenzen der Morphologie - genauer: des Konzepts von Morphologie, das für die Spatiensetzung im heutigen Deutsch relevant ist - weit gesteckt sind. Das heißt nicht, daß es diese Grenzen nicht gibt. Wenn wir annehmen, daß die für Morphologizität im fraglichen Sinn notwendigen Merkmale gerade jene sind, die sowohl bei kernmorphologischen Bildungen als auch bei Partikelverben praktisch ausnahmslos auftreten (vgl. die Einleitung zu diesem Kapitel), legt Tl folgende Hypothese über die Grenzen der Morphologie (HGM) nahe: 110 (HGM) Wenn ein Bildungsmuster im relevanten Sinn morphologisch ist, weichen die nach ihm gebildeten Zeichen hinsichtlich einschlägiger morphologiespezifischer Verarbeitungsformen (E4), des Fehlens interner KR-Valenzabgleichung (E6) und des Vorliegens einer einschlägigen Art der Reihenbildung (E10) nicht vom kernmorphologischen Idealfall ab. Das gleiche gilt mit einer verschwindend geringen Zahl von Ausnahmen für die syntaktische Erweiterbarke it im engeren Sinn (E2). Dagegen fuhren Abweichungen im Hinblick auf Beweglichkeit oder separate Flektierbarkeit von Teilausdrücken (El, E2), auf Form- (E5, E9) oder Bedeutungseigenschaften (E7, E8) nicht per se dazu, daß ein Bildungsmuster nicht im relevanten Sinn morphologisch ist. Diese Abweichungen können das Muster aber (bei Einhaltung der genannten notwendigen Bedingungen) als peripher innerhalb der Morphologie charakterisieren. 111

110 Man beachte, daß diese Hypothese nicht von traditionellen Begriffen zur Klassifizierung der verschiedenen Bildungstypen Gebrauch macht. Deshalb erbt sie auch nicht die Probleme dieser Begriffe, etwa die Unscharfe des Begriffs "Partikelverb" (vgl. Lüdeling 1999). 111 Neben den Partikelverb-Mustern ist damit auch die oben schon mehrfach erwähnte Infinitivkonversion in der Peripherie des hier zu ermittelnden Morphologiekonzepts anzusiedeln. Sie hat zwar die essentiellen Merkmale E2 (mit enger Interpretation der syntaktischen Erweiterung), E4, E6 und Ε10, weicht aber im Hinblick auf E2 (bei weiter Interpretation der Erweiterung), E5, E7, E8 und E9 vom kernmorphologischen Idealfall ab. Entsprechend wurden Infinitivkonversionen, genau wie Partikelverben, des öfteren als rein syntaktische Bildungen gedeutet, etwa von Abraham (1989).

Zusammenschreibung in morphologischen Bildungen

87

Aus der Konjunktion von HGM mit Zus-MORPH ergibt sich unter Voraussetzung einiger weiterer, noch zu erläuternder Annahmen die Voraussage, daß Zeichen, die nicht im letzten Schritt ihrer Derivation (vgl. 4.1.1) nach einem Muster gebildet wurden, das mindestens die Merkmale E2, E4, E6 und E10 hat, in der Kern-GZS regulär getrennt geschrieben werden, unabhängig davon, ob und wie weit sie bezüglich anderer Merkmale kernmorphologischen Bildungen ähneln.

4.1.4.3

Semantische Inkorporationen: ein Testfall

Die Korrektheit dieser Voraussage sollte sich an Beispielen erweisen, die in der Kern-GZS in aller Regel getrennt geschrieben werden, obwohl sie in der in 4.1.4 erwähnten Grauzone zwischen Morphologie und Syntax liegen, also neben typisch syntaktischen Eigenschaften auch einige charakteristische Merkmale kernmorphologischer Bildungen aufweisen. Eine solche Beispielgruppe ist die der Bildungen, in denen semantische Inkorporation (kurz: SInkorporation) eines Nomens oder einer PP vorliegt. Mit dem Begriff der semantischen Inkorporation bezeichne ich eine Konstellation, bei der die Schwesterkonstituente eines Verbs semantisch enger mit diesem verschmilzt, als es bei normaler syntaktischer Verbindung der beiden Ausdrücke zu erwarten wäre, ohne daß es zu einer Auflösung der syntaktischen Konstituentengrenze zwischen den beiden Ausdrücken kommt. Diese Konstellation liegt z.B. in den folgenden Fällen vor: Folge leisten, Gefahr laufen, Notiz nehmen, Partei ergreifen, Schritt halten, Stellung nehmen, in Umlauf setzen, zu Ohren kommen, zur Diskussion stellen, zur Sprache bringen.112 Die inhaltliche Verschmelzung der Teilausdrücke manifestiert sich im Vergleich mit der nach syntaktischen Kompositionsprinzipien zu erwartenden Bedeutung darin, daß nach bedeutungsexplizierenden Paraphrasen der Bedeutungskern auf das Erstglied verlagert ist und das verbale Zweitglied nicht in einer seiner unabhängig belegbaren autosemantischen Bedeutungen auftritt, sondern zu einem Synsemantikon zurückgestuft ist, das kaum mehr leistet, als dem jeweiligen Subjekt eine Tätigkeit oder Eigenschaft zuzuschreiben, die inhaltlich durch das Erstglied (oder durch ein ihm morphologisch oder semantisch verwandtes Verb oder Adjektiv) charakterisiert wird: Er leistet der Aufforderung Folge 'Er folgt der Aufforderung', Er setzt ein Gerücht in Umlauf 'Er tut etwas, was dazu führt, daß ein

112 Eisenberg (1997, 1998) spricht im Zusammenhang mit Bildungen dieser Art von Inkorporation, ohne den Zusatz "semantisch". Den Zusatz halte ich aber fur nötig, um eine Verwechslung mit dem Bildungstyp zu vermeiden, der in der typologischen Literatur als Inkorporation bezeichnet wird, vgl. Gerdts (1998). Dieser hat deutlich andere Eigenschaften als die SInkorporation und kommt im Deutschen nicht vor. (Im wesentlichen handelt es sich um die Verbindung des Verbs mit einem Komplement durch ein morphologisches Bildungsmuster. Ein solches ist bei S-Inkorporation gerade nicht involviert, s.u.)

88

Das System der Kern-GZS

Gerücht umläuft', Das Gerücht ist uns zu Ohren gekommen 'Wir haben von dem Gerücht gehört' usw. Darüber hinaus sind die nominalen Teilausdrücke von S-Inkorporationen (wie ich Bildungen bezeichne, in denen S-Inkorporation vorliegt) nicht-referentiell, womit mangelnde Pronominalisierbarkeit und Erfragbarkeit einhergehen, vgl. Er ergreift {Partei, *das, *was} für sie, Er bringt es {zur Sprache, *dazu, *wozu} usw.113 Daß die durch Paraphrasen wie die obigen charakterisierte Bedeutungsstruktur solcher Bildungen nicht durch Anwendung syntaktischer Kompositionsprinzipien zustande kommt, zeigt sich vor allem darin, daß die jeweiligen Verben keine unabhängig belegbare Bedeutung haben, die bei Verbindung mit beliebig gewählten semantisch entsprechenden Erstgliedern zu einer mutatis mutandis gleichen Gesamtbedeutung fuhren würde. Es gibt zwar zu manchen S-Inkorporationen Reihen inhaltlich vergleichbarer Bildungen mit demselben Verb (s.u.), aber diese Reihen sind nie so ausgebaut, wie es bei einer syntaktisch-kompositionalen Verbindung zu erwarten wäre. So haben wir zur Debatte stellen und zur Diskussion stellen, aber nicht *{zum Gespräch, zur Beratung, zur Auseinandersetzung, zur Klärung ...} stellend Entsprechend sind S-Inkorporationen stets lexikalisiert oder werden in enger, auch die Formebene berücksichtigender Analogie zu lexikalisierten Exemplaren gebildet. Daß andererseits in S-Inkorporationen die syntaktische Grenze zwischen dem Erstglied und dem Verb noch vorhanden ist, sieht man am deutlichsten daran, daß die Teilausdrücke beweglich sind, vgl. Er leistete der Aufforderung Folge, Hielt er mit ihr Schritt?, Notiz davon nahm sie nicht, Partei für ihn hat sie nicht ergriffen, Stellung zu dem Vorschlag wollte sie nicht nehmen. Die drei letzten Beispiele belegen zudem zweifelsfrei, daß die nominalen Erstglieder zahlreicher S-Inkorporationen syntaktisch erweitert werden können, etwa durch nachgestellte Attribute. Auch adjektivische, adverbielle und verbale Verbbegleiter können s-inkorporiert werden, vgl. 4.4.2 und 5.1.2. Darüber hinaus zerfallt die S-Inkorporation von Nomina oder PPn in verschiedene Unterarten. In der Literatur besonders beachtet wurden Beispiele des Typs in Umlauf setzen, zur Entscheidung stehen, Stellung nehmen, die traditionell der (unscharf definierten) Klasse der Funktionsverbgefüge zugeordnet wurden." 5 Sie sind außer durch die deverbalen oder deadjektivischen Erstglieder dadurch charakterisiert, daß sie bezüglich der verbalen Zweitglieder (in ihrer normalen Verwendung meist

113 Der Asterisk gilt jeweils für die der Vollform entsprechende Lesart. 114 Man beachte, daß das keine generelle Eigenschaft 'leichter' Verben ist. So kann etwa führen

durch-

mit beliebigen semantisch geeigneten referentiellen N o m i n a actionis verbunden wer-

den, vgl. {eine Aktion, eine Arbeit, eine Befragung, ration, eine Prüfung,

eine Untersuchung,

einen Beschluß,

eine Versammlung,

eine Messung,

ein Vorhaben,

eine

eine Zählung

Ope...}

durchführen. 115 Eine gründliche und sehr kritische Darstellung des Stands der recht umfangreichen Forschung zu Funktionsverbgefiigen und ähnlichen Bildungen gibt van Pottelberge (2001).

Zusammenschreibung in morphologischen Bildungen

89

Verben mit einer lokalen oder Besitztransferkomponente) nicht selten kleinere Reihen bilden, z.B. {zur Abstimmung, zur Entscheidung, zur Verhandlung}

stehen. S-Inkorporationen müssen von verschiedenen syntaktisch-kompositionalen Bildungsarten mit ähnlichen Eigenschaften unterschieden werden, etwa von der kompositionalen Verbindung eines referentiellen Ereignis- oder Eigenschaftsnomens mit einem 'leichten' Verb, 1 1 6 wie eine Messung durchführen,

eine Mitteilung machen, die Ernennung zum Minister vollziehen, oder von Bildungen mit Umstandsobjekten, wie {Gokart, Porsche, Volvo} fahren, {Schlagzeug, Gitarre, Oboe} spielen, deren nominale Teilausdrücke auf Arten referieren und durch auf Individuen referierende Nominale ersetzt werden

können, vgl. Er fährt den Porsche seiner Freundin, Er spielt eine zwanzig Jahre alte Fender-Stratocaster. Aus dieser kurzen Darstellung geht schon hervor, daß S-Inkorporationen einige typisch morphologische Eigenschaften haben, vor allem im Hinblick auf ihre von normalen syntaktischen Bildungen abweichende Bedeutungsstruktur und die mangelnde Referentialität nominaler Teilausdrücke, oft aber auch durch ihre syntaktische Nicht-Wohlgeformtheit (etwa infolge fehlender Determinatoren). Andererseits haben sie bewegliche Teilausdrücke und meist noch weitere Eigenschaften typisch syntaktischer Bildungen. S-Inkorporationen sind also weder kernmorphologisch noch kernsyntaktisch und ähneln darin den im vorangehenden Abschnitt untersuchten Partikelverben. Im Gegensatz zu diesen werden S-Inkorporationen mit N- oder PP-Erstglied jedoch in der Kern-GZS - also in unkontroversen Fällen - in der Regel getrennt geschrieben. Sie sollten deshalb im Unterschied zu Verben mit V-Partikeln keine morphologischen Bildungen im für die GZS relevanten Sinn sein. (Auch traditionell werden sie nicht als morphologische Gebilde betrachtet.)" 7 Dieser Unterschied ergibt sich aus HGM. Nach H G M können morphologische Bildungen unter den verschiedensten Form- und Bedeutungsaspekten vom kernmorphologischen Idealtyp abweichen, nicht aber im Hinblick auf E2, E4, E6 und E10. S-lnkorporationen mit N- oder PP-Erstglied lassen jedoch j e mindestens drei dieser für Morphologizität entscheidenden Eigenschaften vermissen:

116 Vgl. auch. Anm. 114. 117 Wichtige Arbeiten zur Abgrenzung von (in unserer Terminologie) S-Inkorporationen und morphologischen Bildungen sind Eisenberg (1981), Wurzel ( 1 9 9 2 ) und Gallmann (1999). In keiner dieser Untersuchungen wird allerdings die Grenze genau da gezogen, w o ich sie ziehe. Außerdem gibt es erhebliche terminologische Unterschiede. So nimmt Wurzel neben einer "diachron-genetischen" Inkorporation, die in etwa unserer S-Inkorporation entspricht, eine "synchron-strukturelle" Inkorporation an, die er bei vielen durch Rückwärtsbildung - also morphologisch - erzeugten N + V - K o m p l e x e n diagnostiziert, die sich deutlich anders verhalten als S-Inkorporationen (s.u.).

90

Das System der Kern-GZS

Ad E2: Wie oben schon gesagt, sind die nominalen oder PP-Erstglieder von SInkorporationen häufig syntaktisch erweiterbar. Ad E4: Die Weiterverarbeitung durch -/w/--Adjektivierung ist selbst bei den SInkorporationen mit nominalem oder PP-Erstglied unmöglich, die inhaltlich und hinsichtlich ihrer Valenz geeignet sein müßten, vgl. *inumlaufsetzbar, *zurgeltungbringbar. S-Inkorporationen sind auch, soweit ich sehe, in keinem Fall durch Rückwärtsbildung entstanden (s.u.) oder haben selbst als Basis für rückwärtsgebildete Verben gedient. Ad E6: Bei vielen (wenn auch nicht bei allen) S-Inkorporationen mit nominalem Erstglied gibt es eindeutig eine interne KR-Valenzabgleichung. Das Erstglied fungiert als Akkusativobjekt, sättigt also eine entsprechende KR-Valenzstelle des Verbs. Das zeigt sich am deutlichsten darin, daß das Erstglied in diesen Fällen bei werden-Passivierung zum Subjekt wird, z.B. Notiz davon wurde von niemandem genommen, Partei dafür wurde von kaum jemandem ergriffen, und darin, daß viele Verben mit einem s-inkorporierten Nominal kein weiteres Akkusativobjekt zulassen, z.B. *Sie nahm ihn keine Notiz vs. Sie nahm von ihm keine Notiz. - Bei S-Inkorporationen mit PP-Erstglied weist allerdings nichts auf eine interne KR-Valenzabgleichung hin. Daß die jeweilige Präposition in der Regel fixiert ist (z.B. zur Verfügung stellen vs. Hin Verfügung stellen), liegt nicht daran, daß das Verb die Präposition in seiner KRValenz fordert (vgl. zur Verfügung stellen vs. in Frage stellen), sondern ist Folge der Lexikalisierung des Gesamtzeichens, bei der die Teilausdrücke miteinander 'verschweißt' werden. Ad E10: Bei der Frage der Reihenbildung ist zunächst zu bedenken, welche Art von Reihen hier als Hinweis auf Morphologizität in Frage kommen. Zunächst ist klar, daß es lexikalische Reihen sein müßten, denn S-Inkorporation ist keine Form der Flexion. Es sind aber weder lexikalische Reihen der Art zu erwarten, wie sie durch Kompositionsmuster entstehen, noch solche, wie sie für Konversion oder Rückwärtsbildung typisch sind. Echte Komposition - also eine Bildungsweise, bei der zwei selbständige Zeichen zu einem neuen kompakten Zeichen verknüpft werden - scheint bei Verben generell nicht vorzukommen. 118 Damit ist auch reihenbildende Komposition unwahrscheinlich,

118 Vgl. z.B. Wunderlich (1987), Altmann/Kemmerling (2000: 63f.). Als echte verbale Komposita könnte man im Deutschen allenfalls solche mit Verbstamm als Erstglied betrachten, w i e brennschneiden,

rührbraten,

preßschweißen,

die allerdings, w i e oben schon gesagt, auch

manche fur Rückwärtsbildungen typische Eigenschaften haben. - Übrigens sprechen partizipiale Bildungen w i e freudestrahlend,

herzerquickend

oder milieugeschädigt

nicht gegen das

Kompositionsverbot bei Verben. Solche Partizipien verhalten sich im Hinblick auf ihr Wortbildungspotential (und auf viele andere Eigenschaften) nicht w i e Verben, sondern wie Adjektive, vgl. 5.1.1.

Zusammenschreibung in morphologischen Bildungen

91

denn diese geht von echten Komposita aus. 119 Und Rückwärtsbildung kann man bei S-Inkorporationen schon deshalb ausschließen, weil es keine dafür geeigneten Basen gibt. So kommt Notiz nehmen nicht von *Notiznahme, in Umlauf setzen nicht von (das) In-Umlauf-Setzen usw. 120 Es bleibt die Möglichkeit einer Reihenbildung, wie sie für Muster charakteristisch ist, die Affixe einfuhren. Solche Muster bilden Reihen, bei denen das Erst- oder das Zweitglied konstant bleibt und das jeweils andere Teilglied variiert, wobei das konstante Glied als Modifikator des variierenden fungiert (vgl. 4.1.4.1). Bezüglich des Erstglieds ist eine solche Reihenbildung nun bei den meisten S-Inkorporationen, in deutlichem Gegensatz zu Partikelverben, nicht zu beobachten. So gibt es im Lexikon des Deutschen zwar Notiz nehmen und Schritt halten, aber z.B. nicht *Notiz geben oder *Schritt verlieren.121 Einige Ausnahmen hierzu findet man unter den Funktionsverbgefügen, z.B. in Frage {kommen, stehen, stellen}. Das ist jedoch keine Reihe, die auf ein Muster schließen läßt, das in Frage als affixartigen Ausdruck einführt. Das verbale Zweitglied ist ja nicht der Bedeutungskern, der durch in Frage modifiziert wird. Nach Aufweis einer bedeutungsexplizierenden Paraphrase verweist es vielmehr lediglich auf ein bestimmte Art des Zutreffens der mit Frage verbundenen Einstellung auf den Referenten des Subjekts. Damit ist das Verb selbst der modifizierende Teilausdruck der Konstruktion. Lexikalische Reihenbildung bezüglich des verbalen Zweitglieds ist dagegen, wie schon gesagt, bei S-Inkorporationen nicht selten, z.B. {Rücksicht, Bezug, Einsicht, Anstoß, ...} nehmen. Aber auch hinter einer solche Reihe kann kein im weitesten Sinne affigierendes Bildungsmuster stehen, da das reihenbildende Zweitglied flektierbar ist. Verbale Suffixe sind dagegen, genau wie alle anderen affixartigen Ausdrücke, nicht flektierbar. Wir haben es also auch bei {Rücksicht, Bezug, Einsicht, Anstoß, ...} nehmen nicht mit einer Reihenbildung zu tun, die auf das Wirken eines morphologischen Bildungsmusters hinweist. Die folgende Zusammenfassung der relevanten Merkmale von S-Inkorporationen mit nominalem oder PP-Erstglied macht noch einmal deutlich, warum diese Bildungen nach HGM nicht morphologisch sind, also auch nicht unter ZUS-MORPH fallen:

119 Reihenbildende Kompositionsglieder (oder 'Halbaffixe') sind z.B. Riesen-, Schnupper-, -fähig und -artig in Riesendurcheinander, Schnupperpreis, konsensfähig, lawinenartig. Wie Affixe werden sie durch das jeweilige Bildungsmuster eingeführt. Die Grundlage solcher Muster sind Analogiebildungen zu mit speziellen Bedeutungen lexikalisierten echten Komposita. 120 Man erinnere sich, daß Basen fur Rückwärtsbildung lexikalisiert sein müssen, vgl. Anm. 48 oben. Gegen Rückwärtsbildung spricht auch, daß S-Inkorporationen stets vollständige Paradigmen haben. 121 Im D G W D S findet man neben Notiz nehmen und Schritt halten keinen einzigen weiteren Eintrag der Form Notiz Κ bzw. Schritt V.

92

Das System der Kern-GZS

(T2) El

E2

E3

E4

E5

E6

E7

E8

E9

E10

Notiz neh-

-

+/-

-

-

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men zur Geltung bringen

Im übrigen sind S-Inkorporationen und andere Phraseologismen mit zahlreichen Problemen verbunden, auf die im Rahmen dieser Arbeit nicht näher eingegangen werden kann. So ist unklar, wie der Tatsache Rechnung zu tragen ist, daß viele Phraseologismen, darunter, wie gezeigt, auch viele S-Inkorporationen, keine völlig 'versteinerte' Form haben, sondern verschiedene Arten von syntaktischen Abwandlungen erlauben, etwa durch syntaktische Erweiterung. Möglicherweise kann man dem durch die Annahme Rechnung tragen, daß die Derivationsweise entsprechender Phraseologismen im Prinzip der von normalen syntaktischen Bildungen entspricht. Z.B. könnte die Derivation von {daß er) Notiz davon nimmt so aussehen: 1. nehmen =>m+i nimmt, 2. Notiz + davon =>s Notiz davon, 3. Notiz davon + nimmt =>S+| Notiz davon nimmt. In Analogie zu den mit "m+1" gekennzeichneten Derivationsschritten bei morphologischen Bildungen (vgl. 4.1.1) weist "s+1" in Schritt 3. daraufhin, daß die Eigenschaften des Outputs, die nicht durch das syntaktische Bildungsmuster und die damit parallel laufende syntaktische Bedeutungskomposition abgedeckt sind, durch einen entsprechenden Lexikoneintrag, hier eben den Eintrag für den Phraseologismus Notiz nehmen, lizenziert werden. Eine solche Ergänzung und partielle 'Überschreibung' der in syntaktischen Derivationsschritten aufgebauten Eigenschaften eines Zeichens durch lexikalische Information ist mit diffizilen technischen Fragen verbunden. Anregungen zu ihrer Beantwortung findet man in der neueren theoretischen Phraseologismenforschung. 122 Übrigens würde die Annahme von Derivationsstrukturen der eben illustrierten Art der Tatsache Rechnung tragen, daß die Flexion von Phraseologismen nicht zu einer Zusammenschreibung ihrer Teilausdrücke führt. Flexion findet bei solchen Derivationen ja nicht, wie bei morphologischen Bildungen, im letzten Schritt der Derivation des Gesamtzeichens statt (womit sie nach MB 122 Vgl. z.B. Jackendoff (1997: Kap. 7) sowie Arbeiten aus dem Umfeld der sog. Construction Grammar, etwa Kay/Fillmore (1999).

Zusammenschreibung in morphologischen Bildungen

93

und Zus-MORPH zur Zusammenschreibung aller Teilausdrücke fuhren müßte), sondern, wie bei regulären syntaktischen Komplexen, vor der Verbindung des die jeweiligen Flexionsmerkmale tragenden Teilausdrucks (etwa des finiten Verbs) mit anderen Teilausdrücken.

4.1.4.4

Zusammenfassung

Ich fasse die Argumentation dieses umfangreichen Kapitels noch einmal zusammen: Die in 4.1.1 eingeführte Beschränkung ZUS-MORPH besagt in Verbindung mit der Definition M B (ebd.), daß zwischen Teilausdrücken von Zeichen, deren letzter Derivationsschritt einem morphologischen Bildungsmuster entspricht, keine Spatien liegen. Um dieser Hypothese empirischen Gehalt zu geben, wurde in 4.1.4 untersucht, welche Bildungsmuster als morphologisch im relevanten Sinn gelten können. Dabei gingen wir davon aus, daß es zwar in der Lautsprache eine breite Grauzone von weder eindeutig morphologischen noch eindeutig syntaktischen Bildungsweisen gibt, daß aber die deutsche GZS im Lauf ihrer Geschichte eine spezifische Grenzziehung innerhalb dieser Zone entwickelt hat, nach der die Bildungen, die noch als morphologisch im relevanten Sinn gewertet werden, von denen, die nicht mehr als morphologisch gelten, unterschieden werden. Diese flir die deutsche GZS spezifische Grenze der Morphologie versuchten wir in drei Schritten zu ermitteln: Im ersten Schritt (4.1.4.1) identifizierten wir zehn typische Eigenschaften, durch die sich kernmorphologische von kernsyntaktischen Bildungen unterscheiden: keine Bewegung von Teilausdrücken ( E l ) , keine syntaktische Erweiterung von Teilausdrücken (E2), keine separate Flexion von Teilausdrücken (E3), spezifisch morphologische Verarbeitungsformen (E4), Besonderheiten der sprachlichen Form (E5), keine interne Abgleichung von KR-Valenzforderungen (E6), Besonderheiten im Bedeutungsaufbau (E7), keine referentiellen Teilausdrücke (E8), musterspezifische Formrestriktionen für Teilausdrücke (E9), spezifische Formen der Reihenbildung (E10). Im zweiten Schritt (4.1.4.2) überprüften wir anhand von Randfallen, nämlich an vier Klassen von Partikelverben, inwieweit die genannten Eigenschaften nicht nur typisch, sondern darüber hinaus notwendig dafür sind, daß eine Bildungsweise als morphologisch im relevanten Sinn gelten kann, also diesseits der fraglichen Grenze liegt. Wir gingen dabei davon aus, daß die notwendigen Eigenschaften gerade jene sind, durch die sich die Rand- nicht von den Kernfällen unterscheiden. Das in der Hypothese H G M festgehaltene Ergebnis dieser Überprüfung ist, daß die Eigenschaften E2, E4, E6 und E10 notwendig dafür sind, daß ein Bildungsmuster als morphologisch in dem Sinn gelten kann, der für die deutsche GZS einschlägig ist.

94

Das System der Kern-GZS

Im dritten Schritt (4.1.4.3) überprüften wir diese Hypothese an S-Inkorporationen mit nominalem oder PP-Erstglied, also an Beispielen, die nach ihrer G Z S und auch nach traditionell-grammatischer Einschätzung nicht mehr zur Morphologie gehören, aber auch von typisch syntaktischen Bildungen in mancher Hinsicht abweichen. Es zeigte sich, daß diesen Bildungen j e mindestens drei der Merkmale E2, E4, E6 und E10 abgehen. Dieses Ergebnis bestätigt die Hypothese HGM.

4.1.5

Verankerung im GRUNDPRINZIP, Universalität und Strukturbezogenheit

D i e V e r a n k e r u n g d e s G e s e t z e s Z U S - M O R P H im GRUNDPRINZIP, d e m z u f o l g e

die Spatiensetzung der Markierung von Wortgrenzen dient, ergibt sich daraus, daß durch morphologische Bildung Komplexe erzeugt werden, die nach einer ganzen Reihe von Kriterien keine interne Gliederung in KR-Wörter aufweisen. Wenn man weiß, daß ein Zeichen morphologisch gebildet ist, kann man daraus schließen, daß das Zeichen auf der KR-Ebene diverse Merkmale hat, die gegen eine interne syntaktische Strukturierung und damit auch gegen interne KRWortgrenzen sprechen, bzw. daß ihm Merkmale fehlen, die für eine solche Strukturierung sprechen. Das ergibt sich daraus, daß morphologisch gebildete Zeichen nach H G M die Eigenschaften E4 (spezifische Verarbeitungsformen) und E10 (spezifische Reihenbildung) haben müssen, die bei eindeutig syntaktisch gebildeten Komplexen stets fehlen, und daß sie darüber hinaus die für syntaktisch gebildete Komplexe typischen, wenn auch nicht notwendigen Eigenschaften Erweiterbarkeit i.e.S. und interne KR-Valenzabgleichung nicht haben dürfen (E2 bzw. E6). Darüber hinaus kann man aus morphologischer Bildung schließen, daß das vorliegende Zeichen mit einiger Wahrscheinlichkeit weitere Eigenschaften hat, die gegen eine interne KR-Wortgrenze sprechen, etwa bestimmte Form- und Bedeutungsbesonderheiten (E5, E9 bzw. E7, E8). In diesem Sinne ist morphologische Bildung ein komplexes Wortabgrenz u n g s k r i t e r i u m u n d d a s G e s e t z Z U S - M O R P H i m G R U N D P R I N Z I P DER SPATIENSETZUNG v e r a n k e r t .

Diese Feststellung steht nicht im Widerspruch zu der Tatsache, daß bestimmte morphologisch gebildete Zeichen, nämlich Partikelverben, nach einem bestimmten KR-Wortabgrenzungskriteriums, nämlich der Beweglichkeit von Teilausdrücken ( E l ) , eine interne syntaktische Grenze, also zwei KR-Wörter, enthalten, wobei bei einigen von ihnen auch noch das Kriterium der Referentialität (E8) in dieselbe Richtung weist. Nach unseren Überlegungen in 3.3 sind j a Kriterien für Wortstatus generell nicht zuverlässig, d.h. sie können in Widerspruch zu jeweils anderen Kriterien geraten. Genau das ist das Verhältnis der im Begriff der morphologischen Bildung zusammengefaßten Kriterien (s.o.) zu den Kriterien Beweglichkeit und Referentialität. - Im Normalfall sollten die Kriterien allerdings konvergieren, und das trifft auch hier zu: Die

Zusammenschreibung in morphologischen Bildungen

95

große Mehrzahl der morphologisch gebildeten Zeichen besteht auch nach den Kriterien Beweglichkeit und Referentialität aus nur einem KR-Wort. Klar ist allerdings, daß die Beschränkung Z u s - M O R P H nicht universell ist, also nicht in allen Schriftsystemen gilt, die Wortgrenzen durch Spatien markieren (vgl. 3.3). Das liegt daran, daß sich das dieser Beschränkung zugrundeliegende spezifische Konzept von Morphologie (vgl. 4.1.4) sicher nicht in genau gleicher Form in allen anderen einschlägigen Sprachen wiederfindet. Es ist aber damit zu rechnen, daß auch in anderen Schriftsystemen GZS-Beschränkungen in der Art von ZUS-MORPH wirksam sind, also solche, die auf der Basis eines an seinen 'Rändern' sprachspezifischen Morphologiebegriffs die Zusammenschreibung entsprechend gebildeter Zeichen fordern. Das müßte dann zumindest bei kernmorpohologischen Bildungen zu einer ähnlichen Spatiensetzung wie im Deutschen führen. Tatsächlich läßt ein informeller Ausblick in andere Schriftsysteme, etwa in jene der romanischen Sprachen oder des Englischen, erkennen, daß auch dort kernmorphologische Zeichen (Komposita, Affigierungen etc.) meist zusammengeschrieben werden. Einige bekannte Ausnahmefälle sprechen nicht notwendigerweise gegen die Annahme, daß eine Entsprechung zu Zus-MORPH in diesen Systemen operativ ist, denn diese Fälle könnten im OT-Rahmen darauf zurückgeführt werden, daß die fragliche Beschränkung (anders als in der deutschen Kern-GZS, s.u.) Gesetzen untergeordnet ist, die für bestimmte Fälle Getrenntschreibung fordern. Eine solche Erklärung liegt etwa für die häufige Getrenntschreibung von Komposita im Englischen nahe, die anscheinend vor allem mit der größeren Länge der Zeichen (insbesondere ihrer Erstglieder) korreliert, 123 z.B. , , , , , , vs. , vs. , , , usw. Daneben ist in vielen Schriftsystemen, gerade auch in denen des Englischen und F r a n z ö s i s c h e n , mit mehr oder w e n i g e r zahlreichen G Z S Irregularitäten zu rechnen, insbesondere mit einer Tendenz zur Zusammenschreibung lexikalisierter Bildungen, die den Geltungsbereich von Zusammen123 Vgl. Liberman/Sproat (1992: 136).

96

Das System der Kern-GZS

Schreibung fordernden Gesetzen wie Zus-MORPH größer erscheinen lassen, als er tatsächlich ist. Vgl. für das Deutsche 4.4. U n a b h ä n g i g von der Frage der Universalität von S p a t i e n s e t z u n g s b e schränkungen ist die ihrer Strukturbezogenheit, die sich nach 3.3 darauf bezieht, ob m a n sich, w e n n m a n überprüft, ob die B e s c h r ä n k u n g durch eine Schreibung für ein Zeichen Ζ eingehalten wird, direkt an der Struktur von Ζ oder von einfachen U m f o r m u n g e n von Ζ orientieren kann. Es ist klar, daß das auf ZUS-MORPH nicht zutrifft: Ob eine bestimmte G Z S für Ζ diese Beschränkung erfüllt, hängt nicht von der Struktur von Ζ oder von U m f o r m u n g e n von Ζ (etwa durch Bewegung) ab, sondern von der Derivation von Z, genauer davon, ob der letzte Schritt der Derivation von Ζ einem morphologischen Bildungsmuster entspricht (vgl. 4.1). Der sich daraus ergebende derivationsbezogene Ü b e r p r ü f u n g s m o d u s ist auch nicht auf einen strukturbezogenen reduzierbar, wie er es etwa wäre, wenn sich die für den letzten Schritt der Derivation von Ζ verantwortliche Bildungsweise stets eindeutig aus der Struktur von Ζ ablesen ließe. D a ß das nicht der Fall ist, dürfte schon in obigen Überlegungen zu den Grenzen der Morphologie deutlich geworden sein: Ob die Bildungsweise von Ζ noch innerhalb dieser Grenzen liegt oder schon außerhalb (also syntaktisch oder phraseologisch ist), hängt nicht wesentlich von Form- oder Bedeutungscharakteristika von Ζ ab, also von der Struktur (wie sie sich in den Merkmalsdimensionen E5, E7, E8, E9 manifestiert), und es ergibt sich auch nicht aus einer einfachen U m f o r m u n g von Ζ (El - E3). Vielmehr beruht es entscheidend auf den Merkmalen E4, E6 und Ε10, zu deren Diagnose es in der Regel mehr bedarf als der simplen Inspektion von Ζ oder einer Transformation von Z. Bei E10, der Reihenbildung, ist das offensichtlich, aber auch das Zut r e f f e n von E6, also die Abwesenheit einer internen KR-Valenzabgleichung, sieht m a n einem einzelnen Zeichen Ζ in vielen Fällen nicht an. So kann man nur a u f g r u n d recht a u f w e n d i g e r Überlegungen erkennen, daß das nominale Erstglied in der Rückwärtsbildung staubsaugen im Gegensatz zum ObjektV e r b - K o m p l e x Staub saugen keiner Kasusforderung durch das verbale Zweitglied unterliegt (vgl. die Bemerkungen dazu in 4.1.4.2). Im übrigen ist auch der Status als Rückwärtsbildung selbst nichts, was man Zeichen direkt ansieht. D a m i t ist auch M e r k m a l E4, das Vorliegen typisch morphologischer Verarbeitungsformen, nicht immer leicht diagnostizierbar. - Wie wir in 4.6 sehen w e r d e n , wird diese essentielle Nicht-Strukturbezogenheit von Zus-MORPH etwas dadurch kompensiert, daß es eine Reihe von strukturellen Indizien gibt, die in eingeschränkten Bereichen einen mehr oder weniger sicheren Schluß auf das Vorliegen einer morphologischen Bildungsweise zulassen. Ein zuverlässiges und allgemein a n w e n d b a r e s strukturelles P r ü f u n g s v e r f a h r e n ergibt sich daraus jedoch nicht. Diese inhärente, quasi logische Komplexität von Zus-MORPH wird, wie sich in 6.2 zeigen wird, weiter dadurch verschärft, daß die Faktoren, von denen das Vorliegen von morphologischer Bildung abhängt, z.T. graduell sind. Das

Getrenntschreibung von Teilausdrücken

97

hat zur Folge, daß die Frage der Zulässigkeit einer gegebenen GZS in manchen Fällen nicht eindeutig oder nur in arbiträrer Weise beantwortet werden kann.

4.2 Getrenntschreibung von Teilausdrücken Zus-MORPH macht offensichtlich keine Voraussagen für die Schreibung von Zeichen, die nicht morphologisch gebildet sind. Dazu gehören syntaktische Phrasen, etwa Komplement + Verb, Determinator + Nomen, Nomen + Attribut, aber auch viele Phraseologismen, etwa S-Inkorporationen, wie sie in 4.1.4.3 diskutiert wurden. Daß in der Kern-GZS die Teilausdrücke solcher Zeichen in der Regel getrennt geschrieben werden, kann man im theoretischen Rahmen dieser Untersuchung mit einem einfachen Gesetz erfassen (Χ, Y stehen für Abschnitte des zu schreibenden Zeichens): GETRENNTSCHREIBUNG VON TEILAUSDRÜCKEN ( G E T R - A U S D R )

Wenn X und Y Teilausdrücke sind, liegt zwischen und mindestens ein Spatium. Ich nehme an, daß GETR-AUSDR in der für die Kern-GZS geltenden Ordnung der operativen Beschränkungen unter ZUS-MORPH rangiert: ( Ο Γ ) ZUS-MORPH »

GETR-AUSDR

Damit präzisiert O l ' die Annahme vieler GZS-Forscher, daß "im Bereich der Getrennt- und Zusammenschreibung [...] die Getrenntschreibung den unmarkierten und die Zusammenschreibung den markierten Fall dar[stellt]" (Schaeder 1997: 182). Das ist nach O l ' so zu verstehen, daß alle Teilausdrükke, die nicht in einem morphologisch gebildeten Zeichen enthalten sind, unabhängig von ihrer Struktur und Bildungsweise getrennt geschrieben werden. (Beispiele in 4.3.) Aus Ο Γ kann jedoch nicht geschlossen werden, daß Getrenntschreibung in dem Sinn unmarkiert ist, daß sie die Default-Einstellung für die GZS darstellt, also diejenige, die bei Nicht-Einschlägigkeit sämtlicher anderer Regelungen gewählt wird. 124 Die Hierarchie O l ' ist nämlich noch unvollständig (worauf der Apostroph hinweist). Sie wird, wie wir in 4.5.4 sehen werden, unter anderem durch ein noch unter GETR-AUSDR rangierendes autonomes Gesetz zu erweitern sein, demzufolge die Nicht-Setzung von Spaden gegenüber ihrer Setzung grundsätzlich präferiert ist. Nach dieser erweiterten Beschränkungshierarchie ist der tatsächliche Default für die Spatiensetzung nicht die Getrennt-, sondern die Zusammenschreibung.

124 Von dieser Annahme bin ich noch in Jacobs (2002) ausgegangen.

98

Das System der Kern-GZS

Eine schwierige Frage ist, ob und wodurch GETR-AUSDR im GRUNDGESETZ verankert ist. Dazu müßte der Faktor, der nach GETR-AUSDR Getrenntschreibung auslöst, ein Wortabgrenzungskriterium sein. Tatsächlich kann man für das Deutsche davon ausgehen, daß der Status zweier Abschnitte X und Y als Teilausdrücke - also als im weiten Sinn bedeutungstragende KR-Konstituenten - einen relativ sicheren Schluß darauf zuläßt, daß X und Y separate Wörter sind, vor allem dann, wenn man die phonologische Repräsentationsebene im Blick hat. Es gilt nämlich: (a) Wenn X und Y separate PR-Wörter sind, sind sie fast immer Teilausdrücke, und (b) wenn X und Y Teilausdrücke sind, sind sie in der Mehrzahl der Fälle PR-Wörter. Die wenigen Ausnahmen zu (a) sind Wortteile sogenannter Pseudokomposita, wie Aben und teuer in Abenteuer, die nach phonologischen Kriterien PR-Wörter sind, aber keine Bedeutung tragen. Die Ausnahmen zu (b) bilden allerdings ein recht umfangreiche Klasse, nämlich die der Affixe und Klitika, die keine PR-Wörter sind. Dazu gehören all jene, die keine um einen Vollvokal zentrierte Silbe bilden {ge-, -en , 'n usw.). Diese Ausnahmen sprechen aber noch nicht gegen die A n n a h m e , Teilausdruckstatus sei ein Wortabgrenzungskriterium, denn man kann sie wieder als eine Manifestation der Tatsache betrachten, daß Wortabgrenzungskriterien generell nicht zuverlässig sind, da sie in Konflikt mit jeweils anderen Kriterien stehen können. Um auch auf der O - E b e n e Teilausdruckstatus als Kriterium für separate Wörter betrachten zu können, müßte man allerdings noch wesentlich mehr Ausnahmen zulassen, da j a z.B. die Teilglieder von Komposita, etwa Haus und boot in Hausboot, Teilausdrücke, aber nach unabhängigen Kriterien keine KRWörter sind. GETR-AUSDR kann man also im Deutschen mit gutem Gewissen als eine i m GRUNDGESETZ DER SPATIENSETZUNG v e r a n k e r t e G Z S - B e s c h r ä n k u n g be-

trachten, wenn man die PR-Wortebene in den Vordergrund stellt. Unplausibel wäre es jedoch, Teilausdruckstatus als universelles Wortabgrenzungskriterium und damit GETR-AUSDR als Kandidaten für eine universelle GZS-Beschränkung im in 3.3 erläuterten Sinn zu betrachten. Ob Teilausdruckstatus einen einigermaßen sicheren Schluß auf Wortstatus zuläßt, hängt ja, wenn man von der PR-Ebene ausgeht, u.a. vom Ausmaß der Verwendung nicht-vollformiger Affixe und Klitika in der jeweiligen Sprache ab (s.o.). Im Hinblick auf die KREbene hängt es vom Ausmaß der Bevorzugung analytischer gegenüber synthetischen Konstruktionsweisen ab. Bekanntlich unterscheiden sich Sprachen in diesen Punkten ganz erheblich, und deshalb kann GETR-AUSDR keine universelle Beschränkung sein. Allenfalls kann man annehmen, daß GETR-AUSDR in dem schwachen Sinne sprachübergreifende Geltung hat, daß es eine Reihe von weiteren Schriftsystemen gibt, in denen diese Beschränkung operativ ist. Das ist zweifellos der Fall. Tatsächlich gibt es sogar Schriftsysteme, in denen GETR-AUSDR einen höheren Rang einnimmt als im Deutschen, in denen also Teilausdrücke auch dann getrennt geschrieben werden, wenn sie durch mor-

Getrenntschreibung von Teilausdrücken

99

phologische Prozesse verbunden wurden. Solche 'morphemseparierenden' Spatiensetzungssysteme sind z.B. für verschiedene Bantu-Sprachen belegt, vgl. van Wyk (1967). 125 Der häufigere Fall dürfte allerdings der sein, daß das Gesetz GETR-AUSDR, falls es überhaupt operativ ist, wie im Deutschen von Beschränkungen, die Zusammenschreibung fordern, dominiert wird. Das müssen jedoch nicht Beschränkungen in der Art von ZUS-MORPH sein, sondern es kann sich auch um Gesetze handeln, die auf phonologischen Kriterien beruhen, etwa indem sie die Zusammenschreibung von Ausdrücken fordern, die nicht den Minimalumfang eines PR-Worts erreichen. Letzteres kann erklären, daß Klitika, auch wenn sie keine morphologisch gebildeten Ausdrücke sind, in vielen Schriftsystemen generell nicht durch Spatien (sondern allenfalls durch Apostrophen oder Ähnliches) abgetrennt werden, z.B. m Zusammengeschriebene:129

129 Ich gehe davon aus, daß die Substantivierung eines Partizips direkt zu einer geeignet flektierten Form fuhrt. Wenn man dagegen die Flexion von der eigentlichen Substantivierung abtrennen würde, käme ein weiterer morphologischer Derivationsschritt hinzu, w a s im Hinblick auf die GZS nichts ändern würde.

D i e Interaktion v o n ZUS-MORPH und GETR-AUSDR

(das) Zusammen!geschriebene^

103

ZUS-MORPH

GETR-AUSDR *

ra·

*!

Getrenntschreibung ergibt sich dagegen für die syntaktisch gebildete PartizipSubstantivierung (das) zusammen Geschriebene ('das gemeinsam Geschriebene'), denn in ihrer Derivation wird im letzten Schritt kein morphologisches Bildungsmuster angewandt: 1. geschrieben =smGeschriebene, 2. zusammen +

Geschriebene =>s zusammen Geschriebene:130 (das) zusammerilGeschriebene^

ZUS-MORPH



GETR-AUSDR *!

Die bisher betrachteten Beispiele sind insofern untypisch, als es in ihnen nur j e eine mögliche Position für Spatien gibt und entsprechend nur j e zwei Schreibungen als Kandidaten zur Auswahl stehen. Wie O l ' auch für Fälle mit mehreren möglichen Spatienpositionen und mehr als zwei Kandidaten die richtige Schreibung voraussagt, kann an der Infinitivnominalisierung (das ewige) Aufdas-Wetter-Schimpfen illustriert werden. (Die Tabelle enthält nur einige der denkbaren Kandidaten.)

(A uf! das? WetterlSc himpfen)ti

ZUS-MORPH



« ·

*|*l*t*l*!*!*l*l*l *|*t*l*!*l*l*l * 1 * 1 * 1* 1* 1

GETR-AUSDR ** **** *********

Da das vorliegende Zeichen morphologisch gebildet ist (vgl. 4.1), darf nach ZUS-MORPH beim Schreiben keiner seiner Teilausdrücke von einem anderen Teilausdruck durch ein Spatium getrennt werden. Es darf sich also zwischen den folgenden Paaren von (GR-Entsprechungen von) Teilausdrücken kein Spatium befinden: 1 3 1

130 Ich gehe davon aus, (a) daß das Muster, nach dem Partizipien substantiviert werden, keinen syntaktisch komplexen Input zuläßt und (b) daß substantivierte Partizipien (wenn sie nur formal und nicht inhaltlich Substantive sind) dieselben syntaktischen Kombinationsmöglichkeiten haben wie ihre nicht-substantivierten Basen. - Weitere, oberflächlich ähnliche Konstruktionsmöglichkeiten ergeben sich bei Ellipse des Kernnomens, etwa in Beispielen wie Es gibt zii>ei durch die GZS unterschiedene Lesarten. Die zusammengeschriebene 0 liegt jedoch weniger nahe. Der Leser kann leicht selbst feststellen, daß und wie O l ' die hier in der KernGZS vorgesehene Zusammenschreibung des Partizips voraussagt. 131 Ich ignoriere die Infinitivendung als Teilausdruck.

104

Das System der Kern-GZS

1. und 2. und 3. und 4. und 5. und 6. und 7. und 8. und 9. und Damit kann eine Schreibung des Zeichens das Gesetz ZUS-MORPH maximal neunmal verletzen, und das tut der erste Kandidat. In ihm steht j a zwischen jedem der in 1 . - 9 . genannten Paare und mindestens ein Spatium. 132 Die anderen Kandidaten reduzieren die Zahl der Zus-MORPH-Verletzungen, indem in ihnen zwischen einigen der Ausdruckspaare kein Spatium steht, wodurch andererseits GETR-AUSDR entsprechend oft verletzt wird. Im letzten Kandidaten steht schließlich zwischen keinem der Teilausdruckspaare ein Spatium. 133 Damit wird dieser Kandidat nach dem in 3.3 erläuterten Bewertungsmodus gewählt, ungeachtet seiner neun Verletzungen von GETRAUSDR.134

Bei syntaktisch gebildeten Komplexen mit mehreren möglichen Spatienpositionen verläuft die Bewertung etwas anders, denn dann sind meist einige, aber nie alle Teilausdrücke in morphologisch gebildeten Zeichen enthalten. So enthält die Phrase ein Segelboot verkaufen zwei morphologisch gebildete Zeichen, nämlich Segelboot und verkaufen. Entsprechend müssen nach Z u s MORPH und sowie und zusammengeschrieben werden. GETR-AUSDR fordert dagegen, daß zwischen diesen und allen anderen Teilausdrücken ein Spatium liegt, also zwischen: 1. und 2. und 3. und 132 Mehrere Spatien zwischen < X > und (wie zwischen und im ersten Kandidaten) werte ich wie ein Spatium, also als je eine Verletzung von ZUS-MORPH. 133 Natürlich läge auch bei der Schreibung keine Verletzung von ZUS-MORPH vor. Sie verstieße aber gegen unabhängige Gesetze der Groß-/Kleinschreibung und der Bindestrichsetzung. (Ich erinnere erneut daran, daß Bindestrichschreibung eine Form der Zusammenschreibung ist, vgl. auch 4.5.2.) 134 Die Tabelle ist nicht so zu lesen, daß der letzte Kandidat neunmal besser ist als der erste Kandidat , wie es die Verteilung von "*" unter ZUS-MORPH nahelegen könnte. Die Tabelle sagt vielmehr, daß der letzte Kandidat zulässig, alle anderen unzulässig sind. (Die klassische OT, von der wir ausgehen, legt keine abgestuften Grammatikalitätsgrade fest, sondern entscheidet zwischen grammatisch und ungrammatisch.)

Die Interaktion von ZUS-MORPH und GETR-AUSDR

105

4. und 5. und 6. und 7. und 8. und 9. und 10. und 11. und 12. und 13. und 14. und 15. und 16. und 17. und 18. und 19. und 20. und D a m i t ergibt sich f o l g e n d e T a b e l l e (die w i e d e r nur eine A u s w a h l aus den denkbaren Kandidaten enthält): eirilSegeP.bootlverl

kaufen



ZUS-MORPH *t*t

GETR-AUSDR **

*|*|*t*|*|*t*|*|*|*| * 1*1*1 * 1

*|*t*l*l*l*l*l*!*!*l *1*ι*ι*ι*ι*ι*ι*ι*ι*ι

D a durch ZUS-MORPH nur der erste Kandidat ausgeschlossen wird, m u ß die Entscheidung zwischen den verbleibenden drei Kandidaten nach M a ß g a b e von GETR-AUSDR getroffen werden. Das führt zur Wahl des zweiten Kandidaten, da dieser die kleinste Zahl von Verletzungen dieses Gesetzes aufweist. A u f diese W e i s e explizieren solche Tabellen die sich aus O l 1 ergebenden Schreiboptionen. Die Tabellen sind aber natürlich kein Modell der psychischen Prozesse, die bei der schrittweisen A n f e r t i g u n g von schriftlichen T e x t e n zu d e m (in der Regel u n b e w u ß t e n ) Entschluß fuhren, an einer bestimmten Stelle ein Spatium zu setzen oder nicht zu setzen. Diese Prozesse beruhen mit Sicherheit auf wesentlich lokaleren Strategien, die sich unter anderem zunutze machen, daß durch ein Spatium zwischen < X > und < Y > stets auch alle Teilausdrücke, die vor < X > stehen oder < X > (aber nicht < Y > ) echt enthalten, von allen T e i l a u s d r ü c k e n getrennt geschrieben werden, die auf < Y > folgen oder < Y > (aber nicht < X > ) echt enthalten. So hat man im eben analysierten Beispiel

106

Das System der Kern-GZS

mit einem Spatium zwischen und nicht nur diese beiden Teilausdrücke getrennt geschrieben, sondern auch die in 4. - 6. und 8. - 19. aufgeführten. (Daneben spielt bei lexikalisierten Zeichen wie Segelboot sicher auch der Abruf memorisierter Schreibungen eine Rolle.)

4.4 Spezifische Regeln, Irregularitäten und lexikalische Trends 4.4.1

Univerbierungen

Die meisten der gerade illustrierten Voraussagen von O l ' entsprechen (bei Einhaltung der noch zu diskutierenden autonomen Gesetze) den tatsächlich in der Kern-GZS zu beobachtenden Spatiensetzungen. Es gibt jedoch einige Gruppen von Zeichen, deren Schreibung zur Kern-GZS gehört, aber nicht durch Ο Γ erfaßt wird, oder bei denen fraglich ist, ob sie erfaßt werden. Eine dieser Gruppen umfaßt Zeichen, die durch Univerbierung entstanden sind. Dieser Begriff wird in der Literatur nicht einheitlich verwendet. 135 Wie Eisenberg (1998: 224) und Gallmann (1999) verstehe ich unter Univerbierung den traditionell als Zusammenrückung bezeichneten Prozeß, nämlich eine diachrone Entwicklung, bei der (neben möglichen weiteren Änderungen, s.u.) eine syntaktische Konstituentengrenze zwischen direkt adjazenten Ausdrücken eliminiert oder unter die Grenze des Einflußbereichs syntaktischer Prozesse und Gesetze verschoben wird, wie im folgenden Beispiel: 136 Ρ / \

Adv Λ

>

Ρ Ν - 4 - - . / ^ - trotz

ρ Ν I ι trotzdem

dem, daß ...

Sehr häufig finden sich Beispiele für Univerbierungen unter Adverbien, Konjunktionen und Adpositionen, vgl. außer trotzdem etwa allerorten, anhand, indem, infolgedessen, inmitten, sooft, wieso, wenngleich, zufolge. Nicht selten 135 Z.T. wird Univerbierung schon dann konstatiert, wenn morphologische Bildungen komplexere syntaktische Paraphrasen haben, etwa in Fleischer/Barz (1992: 90) für w e g e n acht Stunden

währender

Arbeitstag.

Achtstundentag,

Eine derart weiter Univerbierungsbegriff ist in

unserem Zusammenhang wenig sinnvoll. - In der GZS-Literatur wird darüber hinaus gelegentlich von Univerbierung gesprochen, wenn früher getrennt geschriebene Zeichen nun zusammengeschrieben werden. Es ist klar, daß auch diese Verwendung des Begriffs wenig zur Klärung der grammatischen Faktoren beiträgt, die der GZS zugrundeliegen. 136 Eisenberg (ebd.) subsumiert dem Univerbierungsbegriff allerdings auch Fälle wie lernen

und Spazierengehen,

kennen-

die nach A u f w e i s ihrer Trennbarkeit (s.u.) keine Univerbierun-

gen im hier angenommenen Sinn sind.

Spezifische Regeln, Irregularitäten und lexikalische Trends

107

sind auch s-inkorporierte PPn (s. 4.1.4.3) intern univerbiert, z.B. beiseite stellen, vonstatten gehen, zugrunde liegen, zuleide tun. Eindeutige Fälle von durch Univerbierung entstandenen Nomina oder Verben, wie Muttergottes, Langeweile, frohlocken, sind dagegen selten. Diese Beispiele lassen schon erkennen, daß viele Univerbierungen (kurz für "durch Univerbierung entstandene Zeichen") in der Kern-GZS zusammengeschrieben werden. Univerbierungen sind j e d o c h keine morphologischen Bildungen. Der diachrone Prozeß der Zusammenrückung betrifft nur vom sprachhistorischen Zufall ausgewählte Einzelfalle, geht also nicht auf Bildungsmuster zurück und bildet deshalb auch keine Reihen, wie sie nach H G M für morphologische Bildungen unabdingbar sind. 137 So gibt es anhand, aber nicht *ankopf, indem, aber nicht *aufdem, Muttergottes, aber nicht * Vatergottes usw. Entsprechend sind Univerbierungen stets lexikalisiert. Damit ist die häufige Zusammenschreibung von Univerbierungen aus der Sicht von Ο Γ irregulär, denn nach dieser Beschränkungsordnung müssen Teilausdrücke nicht-morphologischer Zeichen durch ein Spatium getrennt werden. Für das Vorliegen einer Irregularität spricht neben der offensichtlichen Beschränkung des Phänomens auf lexikalisierte Zeichen auch die Tatsache, daß die Zusammenschreibung keineswegs alle Zeichen erfaßt, bei denen ältere syntaktische Grenzen durch 'Versteinerung' für syntaktische Prozesse und Gesetze unzugänglich wurden. Z.B. werden viele syntaktisch versteinerte Bildungen, die und enthalten, in der Kern-GZS getrennt geschrieben, etwa , , usw. Dasselbe gilt für zahlreiche versteinerte präpositionale Komplexe, die hauptsächlich adverbial verwendet werden und mehr als zwei Silben enthalten, z.B. , , , , , sowie für univerbierte Gradpartikeln, wie , , . 138 Andererseits ist nicht zu verkennen, daß die Zusammenschreibung von Univerbierungen eine bezogen auf das Lexikon des Deutschen häufige Erscheinung ist, in manchen lexikalischen Bereichen, etwa in dem der univerbierten Konjunktionen, sogar fur die Mehrzahl der einschlägigen Zeichen gilt. Damit liegt hier ein lexikalischer Trend im Sinne von 3.2 vor, also eine Gesetzmäßigkeit, die in bestimmten Teilbereichen des Lexikons mit hoher Wahrscheinlichkeit gilt. Wir können diesen Trend so formulieren:

137 Als Gegenbeispiel könnte man die gelegentlich als Zusammenrückungen klassifizierten irgend-Wörter anführen, vgl. irgend{-was, -wer, -wie, -wo, ...}, die aber gerade wegen der deutlichen Reihenbildung als morphologische Gebilde zu analysieren sind. (Es ist jedoch durchaus möglich, daß das entsprechende Bildungsmuster auf der Grundlage von Analogiebildungen zu einer Univerbierung der Form irgend + X entstanden ist.) 138 Ein weiterer Hinweis auf den nicht-regulären Charakter der Spatiensetzung bei Univerbierungen ist, daß bei einer Reihe von Zeichen, insbesondere bei univerbierten PPen, in der Kern-GZS sowohl Getrennt- als auch Zusammenschreibung erlaubt ist, z.B. und , und . (Vgl. auch 8.4.)

108

Das System der Kern-GZS

Z U S A M M E N S C H R E I B U N G IN U N I V E R B I E R U N G E N ( Z U S - U N I V )

Wenn X und Y Teilausdrücke eines lexikalisierten Zeichens sind, das durch Univerbierung entstanden ist, besteht die Tendenz, zwischen und kein Spatium zu setzen. Daß ZUS-UNIV zwar ein ausgeprägter lexikalischer Trend ist, aber bezogen auf das System der operativen GZS-Beschränkungen eben doch eine Irregularität, heißt nicht, daß die Zusammenschreibung vieler Univerbierungen völlig unerklärlich ist. Es manifestiert sich in ihr vielmehr eine in der Alt-GZS sehr ausgeprägte und in ihren Resultaten teilweise in die Neu-GZS übernommene Neigung zur Überdehnung der Kategorie 'morphologische Bildung' - und damit auch der Zusammenschreibung - in phraseologische Lexikonbereiche hinein. Bestimmte Phraseologismen teilen ja, wie schon am Beispiel der SInkorporationen in 4.1.4.3 gezeigt, mehrere relevante Eigenschaften mit kernmorphologischen Bildungen. Bei einer intuitiven Anwendung des Konzepts der Morphologizität kann es leicht geschehen, daß solche Phraseologismen aufgrund dieser Ähnlichkeiten als morphologische Bildungen klassifiziert und damit zusammengeschrieben werden. Das entspricht wohlbekannten Mechanismen der Übertragung sprachwissenschaftlicher Kategorien auf Fälle, die nicht in ihrer ursprünglichen Extension liegen.1·59 Die im Fall der Univerbierungen fur diese Übertragung verantwortlichen Ähnlichkeiten mit morphologischen Bildungen beruhen auf den folgenden typischen Eigenschaften (vgl. 4.1.4.1): Univerbierungen weisen in ihrer Form oft Abweichungen von entsprechenden syntaktischen Bildungen auf, z.B. allerorten, anhand, wenngleich, wieso. Des weiteren haben sie in der Regel keine syntaktisch-kompositionale SR, und ihre Teilausdrücke sind stets nichtreferentiell. Die prägnanteste Übereinstimmung mit kernmorphologischen Bildungen - und der entscheidende Unterschied sowohl zu syntaktischen Bildungen als auch zu vielen anderen phraseologischen Bildungen, etwa zu SInkorporationen - besteht jedoch darin, daß Teilausdrücke von Univerbierungen weder bewegt noch im engeren Sinne syntaktisch erweitert werden können. Bewegung und Erweiterung setzen ja für syntaktische Prozesse zugängliche, also über "—" liegende Knoten in der KR-Struktur voraus, und solche Knoten sind in der KR von Univerbierungen per definitionem nicht vorhanden (s.o.).

139 Die an der Prototypentheorie orientierte Kategorisierungsforschung betrachtet solche durch Ähnlichkeiten motivierten Übertragungen als eine der Ursachen für die Entstehung von Polysemien, vgl. Taylor (1995: Kap. 6). Tatsächlich könnte auch die Übertragung des Morphologiekonzepts auf Univerbierungen und andere Fälle, die nach HGM nicht morphologisch sind (vgl. 4.4.2), zu einer Polysemie dieses Konzepts geführt haben, d.h. zu verschiedenen ähnlichen, aber eben nicht ganz gleichen Deutungen von Morphologizität. Ich werde diesen Gedanken hier jedoch nicht weiter verfolgen.

Spezifische Regeln, Irregularitäten und lexikalische Trends

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Damit zeichnet sich für Univerbierungen die folgende Merkmalsverteilung ab, die die ausgeprägte Ähnlichkeit dieser Bildungen mit kernmorphologischen Zeichen anschaulich macht, aber auch noch einmal zeigt, daß und warum Univerbierungen nach H G M nicht zur Morphologie gehören: 140 (T3) trotz-

El +

E2 +

E3

E4

E5

E6

E7

+/-

?

+/-

+/-

+/-

E8 +

E9 -

E10 -

dem

Im übrigen gilt für Univerbierungen genau wie für morphologische Bildungen (vgl. 4.2), daß sie gelegentlich syntaktische Pendants mit der gleichen Segmentfolge haben, die Ol 1 entsprechend getrennt zu schreiben sind, auch wenn das in orthographischen Regelwerken meist nicht ausdrücklich erwähnt (aber auch nicht ausdrücklich verboten) wird. So gibt es zu indem und Muttergottes syntaktische Pendants, die und zu schreiben sind.

4.4.2

Semi-Partikelverben

Ahnlich wie bei den Univerbierungen ist die Problemlage bei einer Gruppe von trennbaren Verben mit deadjektivischem oder deadverbiellem Erstglied, die in der Kern-GZS zusammengeschrieben werden, obwohl sie ebenfalls einer Minimalbedingung für Morphologizität nicht genügen: bloßstellen, feilbieten, feststellen, freihaben, freistehen, freistellen, gutschreiben, hintanstellen, innehaben, Irrewerden, kundgeben, sichergehen, weismachen, wettmachen und einige weitere dieser Art. Auch hier ist die für morphologischen Status erforderliche lexikalische Reihenbildung in keinem Fall gegeben. Zwar gibt es zu sichergehen noch sicherstellen, zu kundgeben noch kundtun, zu weismachen das (nicht trennbare, also anders gebildete) weissagen. Das reicht aber nicht aus, um jeweils eine auf ein morphologisches Bildungsmuster hinweisende Reihe zu konstatieren. 141 Auch Neubildungen, die in Ermangelung lexikali140 "+/-" bei E3 verweist auf die Existenz binnenflektierter Univerbierungen, z.B. derselbe, derjenige. Bei E4 erschwert der Mangel an einschlägigen Beispielen, etwa transitive Verben, die durch - b a r adjektiviert werden könnten, die Überprüfung. (Rückwärtsbildungen mit Univerbierungen als In- oder Output sind mir nicht bekannt.) 141 Bei fest-, frei- und well- gibt es die gut ausgebauten Reihen fest{-dübetn, -klopfen, -nageln, -schrauben ...},frei{-baggern, -boxen, -kaufen, -schaufeln, ...} bzw. wett{-laufen, -turnen, saufen, -schwimmen, ...}, denen sich aber feststellen bzw. freihaben, freistehen, freistellen bzw. wettmachen semantisch und meist auch hinsichtlich der KR-Valenz nicht subsumieren lassen. (Aus demselben Grund bilden freihaben, freistehen, freistellen auch untereinander keine Reihe.) Bei gutschreiben könnte man vielleicht eine Rückwärtsbildung aus Gutschrift erwägen. Das Verb scheint jedoch wesentlich älter als das Nomen zu sein.

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scher Reihen als Evidenz für entsprechende Bildungsmuster dienen könnten, sind nicht möglich, vgl. etwa gutschreiben vs. *gutnotieren, *gutrechnen,

*gutsetzen. Es handelt sich bei den Verben also nicht um morphologische Bildungen im Sinne von 4.1.4. Allerdings sind sie im Hinblick auf andere relevante Eigenschaften solchen Bildungen sehr ähnlich. So sind ihre Teilausdrücke weder syntaktisch erweitert noch erweiterbar, was u.a. dadurch belegt wird, daß grad u i e r e n d e s zu, also ein Modifikator, der eindeutig das Erstglied erweitert, kaum möglich ist, vgl. *daß sie ihn zu bloßstellte, llweil er zu sichergehen wollte und alles vorher regelte. Des weiteren gibt es bei ihnen (wie generell bei Komplexen mit adjektivischen oder adverbiellen Erstgliedern, vgl. 4.1.4.2 ad E6) keinen Hinweis auf eine interne KR-Valenzabgleichung, und die Adjektivierung mit -bar ist bei den Beispielen, die semantisch und hinsichtlich der Valenz in Frage kommen, oft recht akzeptabel, z.R. feststellbar, freistellbar, ?hintanstellbar. Damit rücken die Bildungen sehr nahe an Verben mit deadjektivischen/-adverbiellen V-Partikeln. Mit vielen dieser Verben teilen sie außerdem das Fehlen einer syntaktisch-kompositionalen SR. So läßt sich die Bedeutung von bloßstellen, gutschreiben etc. nicht vollständig auf die Verbindung unabhängig belegbarer Bedeutungen der Teilglieder mit einem in der Syntax zulässigen Kompositionsverfahren zurückführen (etwa dem für die Verbindung von objektprädikativen Adjektiven und transitiven Verben). Allenfalls ist eine diachrone Zurückführung auf eine solche Verbindung möglich. Die folgende Tabelle faßt die relevanten Eigenschaften der fraglichen Adj+Adv-Komplexe zusammen: 1 4 2 (T4) El bloß-

-

E2 +

E3

E4

9

+/-

E5 +

E6 +

E7 +

E8 +

E9

?

E10 -

stellen

Mit diesem Eigenschaftsprofil gehören die fraglichen Adj/Adv+V-Komplexe zu einer Gruppe von Bildungen, die ich im folgenden als Semi-Partikelverben bezeichne. Es handelt sich um trennbare verbale Komplexe, die sich nicht in morphologietypische lexikalische Reihen einordnen lassen, denen aber (außer der Trennbarkeit) auch die wesentlichen Eigenschaften syntaktischer Bildun-

142 Funktional ist die Gruppe nicht homogen. Einige Fälle kann man den S-Inkorporationen zuordnen (vgl. 4.1.4.3). Bei ihnen zeigt sich in bedeutungsexplizierenden Paraphrasen die fur S-Inkorporationen typische Zurückstufung des Verbs von einem ursprünglichen Autosemantikon zu einem nur noch tätigkeits- oder eigenschaftszuschreibenden Synsemantikon und die Aufwertung des Erstglieds zum Bedeutungskern, z.B. bei bloßstellen, freistehen, freistellen. Anderen Beispielen, wie feilbieten, innehaben, weismachen, weltmachen, fehlt dieses Merkmal, sie sind einfach idiomatisierte Relikte älterer syntaktisch-kompositionaler Verbindungen.

Spezifische Regeln, Irregularitäten und lexikalische Trends

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gen abgehen, also syntaktische Erweiterung/Erweiterbarkeit der Teilausdrücke, syntaktische Kompositionalität und eine deutlich erkennbare interne KRValenzabgleichung. Semi-Partikelverben unterscheiden sich also von den in 4.1.4.2 diskutierten morphologischen Partikelverben im wesentlichen nur durch die fehlende lexikalische Reihenbildung. Trotz dieser Ähnlichkeiten zu Partikelverben sind Semi-Partikelverben mit Adj/Adv-Erstglied aber, wie gesagt, nicht im relevanten Sinn morphologisch. O l ' würde also voraussagen, daß ihre Zusammenschreibung irregulär ist, also bei jeder der einschlägigen Bildungen separat im Lexikon festgelegt ist. Das würde voraussetzen, daß die Bildungen jeweils lexikalisiert sind, und das ist tatsächlich der Fall. Allerdings ist nicht zu übersehen, daß ihre Zusammenschreibung einer gewissen Systematik folgt, die wir wieder durch die Annahme eines lexikalischen Trends erfassen können: Z U S A M M E N S C H R E I B U N G IN S E M I - P A R T I K E L V E R B E N ( Z U S - S E M I P A R T )

Wenn X und Y Teilausdrücke eines lexikalisierten Semi-Partikelverbs sind, besteht die Tendenz, zwischen und kein Spatium zu setzen. Die von Z U S - S E M I P A R T beschriebene Gesetzmäßigkeit gilt im Feld der lexikalisierten Adj/Adv+V-Komplexe in der Kern-GZS (und, wie wir sehen werden, auch in der Alt-GZS) mit hoher Wahrscheinlichkeit. Soweit ich die einschlägigen Daten erfassen konnte, werden die meisten lexikalisierten Verben dieser Art, wenn ihre Schreibung nicht reformiert wurde, zusammengeschrieben. 14j Dies reicht jedoch nicht aus, um Z U S - S E M I P A R T von einem lexikalischen Trend zu einem operativen GZS-Gesetz zu befördern. Dafür ist die Einschränkung des Einflußbereichs dieser Regel auf eine eng umgrenzte Klasse lexikalisierter Zeichen zu deutlich. (Übrigens folgt diese Einschränkung nicht schon daraus, daß sich die Bildungen nicht in lexikalische Reihen einordnen lassen. Fehlende lexikalische Reihenbildung ist ja auch ein Charakteristikum von nach syntaktischen Mustern neu gebildeten Zeichen - aber darum handelt es sich hier nicht.)

143 Ausnahmen sind z.B. jemandem (nicht) grün sein und einige weitere Bildungen mit Farbadjektiven als Erstglied. Als weitere Ausnahmen wurden mir und genannt. Beide sind jedoch infolge ihrer syntaktischen Erweiterbarkeit keine SemiPartikelverben, vgl. weil ihm das zu lästig fiel, weil er das zu ernst nahm. Bei ernst nehmen handelt es sich darüber hinaus um eine syntaktisch-kompositionale Verbindung, nämlich von ernst mit der psychologischen Variante von nehmen, die auch in {tragisch, zu leicht, als Beweis seiner Ehrlichkeit} nehmen vorliegt. - Unklar ist die diesbezügliche Einordnung von , und . Manche Sprecher können satt bzw. leid mit zu erweitern, andere (wie ich) können es kaum, vgl. Iweil mir das zu leid tut. (Bei leid tun wird das Erstglied im übrigen von heutigen Sprechern eher als Substantiv als als Adjektiv gedeutet, vgl. Anm. 15 in 8.3.1.)

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Man könnte allerdings daran denken, Semi-Partikelverben einfach als einen weiteren Typ von (peripheren) morphologischen Bildungen zu betrachten, womit ihre häufige Zusammenschreibung ZUS-MORPH subsumiert werden könnte. Dazu wäre es aber erforderlich, die Forderung nach einer einschlägigen Reihenbildung aus HGM herauszunehmen, also auch Zeichen, die nicht auf das Wirken eines reihenbildenden Musters zurückgeführt werden können, unter bestimmten Umständen als morphologisch im relevanten Sinn zu betrachten. Das hätte jedoch sehr problematische Folgen. So bestünde die Gefahr, daß zahlreiche getrennt geschriebene phraseologische Bildungen nicht mehr aus der Domäne der entsprechend liberalisierten Morphologie - und damit der Zusammenschreibung - ausgeschlossen werden könnten, nämlich solche, die nicht intern erweiterbar sind, keine interne KR-Valenzabgleichung aufweisen und außerdem zufälligerweise nicht im Anwendungsbereich morphologiespezifischer Verarbeitungsformen liegen. Das trifft z.B. auf versteinerte Phraseologismen wie , , oder zu. Aber auch bestimmte reguläre syntaktische Bildungen könnten nicht mehr ohne weiteres als nicht-morphologisch klassifiziert werden, etwa Adv+Adv-Komplexe wie sehr oft, die keine erweiterbaren Teilglieder und keine interne KR-Valenzabgleichung aufweisen und außerdem nicht im Anwendungsbereich morphologiespezifischer Verarbeitungsformen liegen. Bei solchen Bildungen ist eben der einzige sichere Hinweis auf eine nichtmorphologische Bildungsweise das Fehlen einer entsprechenden lexikalischen Reihe. - Um diese Schwierigkeiten zu vermeiden, müßte man die Degradierung der Reihenbildung kompensieren durch eine Aufwertung anderer morphologietypischer Merkmale aus der Liste El - Ε10, die dann aber wieder zu Problemen bei der Einbeziehungen von Partikelverben in die Morphologie fuhren würde. Kurz: Aus empirischen und methodischen Gründen erscheint es mir angemessener, die Zusammenschreibung von Semi-Partikelverben mit deadjektivischen/-adverbiellen Erstgliedern durch die Annahme eines lexikalischen Trends zu erfassen, als eine entsprechende Abschwächung des relevanten Morphologiebegriffs vorzunehmen. Im übrigen entspricht natürlich auch dieser lexikalische Trend der im vorigen Abschnitt erläuterten allgemeinen Tendenz zur Überdehnung der Kategorie 'morphologische Bildung' in phraseologische Lexikonbereiche hinein. Die Ähnlichkeiten zu bestimmten morphologischen Bildungen, durch die diese Uberdehnung motiviert ist, sind in diesem Fall besonders ausgeprägt, vgl. T4. Offen läßt diese Analyse allerdings, warum Teilausdrücke von SemiPartikelverben genau wie die von Partikelverben bei Bewegung getrennt geschrieben werden, z.B. . Das liegt, so nehme ich an, daran, daß die lexikalisch festgelegte Zusammenschreibung eines Zeichens, genau wie die, die durch morphologische Bildung ausgelöst wird (vgl. 4.1.3), nur für Komplexe gilt, in denen das Zeichen als KR-Konstituente vorkommt. Das ist ja bei bloßstellen in einem Satz wie Bloß stellten sie ihn nicht oder Sie

Spezifische Regeln, Irregularitäten und lexikalische Trends

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stellten ihn nicht bloß nicht der Fall. In solchen Sätzen bildet das Verb bloßstellen keine KR-Konstituente. Entsprechend weist die syntaktische Struktur bloß und stellen hier nicht als Teilausdrücke eines Vorkommens dieses Verbs aus, sondern als solche des ganzen Satzes, vgl. die für entsprechende Sätze in 4.1.3 angegebenen Strukturen. Da in einem solchen Fall der Lexikoneintrag von bloßstellen keine Auskunft über die Spatiensetzung gibt, setzt sich die reguläre Schreibung durch, und das ist nach Ο Γ die Getrenntschreibung. Entsprechendes gilt für die im nächsten Abschnitt zu diskutierenden Beispiele. 144

4.4.3 fehlschlagen,

heimzahlen

etc.

Nicht auf O l ' zurückfuhrbar ist auch die von der Alt- in die N e u - G Z S übern o m m e n e Zusammenschreibung von fehlschlagen, heimzahlen, standhalten, stattfinden, teilnehmen, wehtun, wundernehmen und einigen anderen lexikalisierten Verben mit trennnbarem denominalem Erstglied. Daß keine morphologische Bildung vorliegt, zeigt wieder die fehlende Reihenbildung. Es gibt j e maximal ein bis zwei Beispiele mit gleichem Erstglied - etwa fehlgehen bei fehlschlagen, statthaben bei stattfinden, teilhaben bei teilnehmen aber diese rechtfertigen weder quantitativ noch semantisch die Konstatierung von Reihen, also von morphologischen Bildungsmustern, denen fehlschlagen, stattgeben etc. jeweils folgen. 145 Die intuitive Verschiebung des Bedeutungskerns auf das nominale Erstglied weist darauf hin, daß die fraglichen Verben S-Inkorporationen sind. Es gibt jedoch einige Unterschiede zu den bisher betrachteten S-Inkorporationen mit nominalem Erstglied, etwa zu Notiz nehmen oder Partei ergreifen. So ist der syntaktische Objektstatus der nominalen Erstglieder von heimzahlen, standhalten, stattgeben, wehtun etc. zumindest fraglich. In entsprechenden Passivsätzen (sofern sie möglich sind) wirken diese Erstglieder nicht wie das Subjekt, sondern wie ein Bestandteil der passivierten Verbform, z.B. weil ihm wehgetan wurde, weil diesem Antrag von der Behörde nicht stattgegeben wurde.146 Wundernehmen und heimzahlen fordern darüber hinaus selbst ein Akkusativobjekt, vgl. weil ich ihm diese Gemeinheit heimgezahlt habe, weil mich das wundernimmt. M.a.W.: Es fehlen bei den fraglichen Komplexen eindeutige Hinweis auf eine interne KR-Valenzabgleichung. Ein weiterer Unterschied zu

144 Weitere Effekte dieser Art werden in 5.4 diskutiert. 145 Zu heim- gibt es zwei gut ausgebaute Reihen: transitiv heim{-bringen, -fahren, -führen ...}, intransitiv heim {-fliegen, -gehen, -reisen ...}; heimzahlen läßt sich jedoch weder semantisch noch hinsichtlich der Valenz einer dieser Reihen subsumieren. 146 Die Möglichkeit einer mit von gebildeten Agensphrase in solchen Sätzen ist kein Beweis dafür, daß die fraglichen Erstglieder noch Subjektstatus haben. Agentivische von-Phrascn gibt es im Deutschen j a auch in subjektlosen Passivsätzen, vgl. weil darüber ständig von allen gejammert wird.

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den vorher betrachteten S-Inkorporationen ist die strikte Nicht-Erweiterbarkeit sowie die noch stärker verschobene Bedeutung, vor allem bei den Erstgliedern, die es als selbständige Wörter nicht mehr (fehl-) oder nicht mehr mit einer passenden Bedeutung (heim-, statt-, wunder-) gibt. Ich glaube, daß wir es hier mit einer weiteren Auswirkung des lexikalischen Trends zur Zusammenschreibung von Semi-Partikelverben zu tun haben - denn um solche Verben handelt es sich nach der eben gegebenen Beschreibung, vgl. die Definition in 4.4.2. Jeder Versuch, die Beispiele auf eine allgemeiner wirksame GZS-Regel zurückzuführen, würde dagegen wieder an der offensichtlichen Beschränkung des Phänomens auf eine kleine Klasse lexikalisierter und idiomatisierter Zeichen scheitern. So bemerkt auch Gallmann (1999: 300) zur Zusammenschreibung solcher Bildungen in der Neu-GZS, daß es sich "um eine geschlossene Gruppe von Einzelfestlegungen" handelt, bei deren Erstglied "der semantische Bezug zum entsprechenden nominalen Lexem gerissen ist".

4.4.4

Klitika und zw-Infinitive

Problematisch für O l ' ist die GZS von klitischen Elementen. Klitika werden im Deutschen meist getrennt geschrieben, z.B. . In bestimmten Fällen ist jedoch Zusammenschreibung vorgesehen, nämlich bei Verbindung eines klitischen definiten Artikels mit einer Präposition, z.B. < a u f m Tisch>, , und der G R - E n t s p r e c h u n g des das Klitikon aufn e h m e n d e n Teilausdrucks kein Spatium.

149 Nach Jacobs (2003) steht im Deutschen auch das Subjekt in einer solchen Beziehung zum Verb. 150 Der Unterschied zu Lexembildungsmustern ist ohnehin klar. 151 Vgl. ebenfalls Halpern (1998). 152 Daß an Präpositionen klitisierte Artikel eine enge, affixartige Verbindung zum 'host' eingehen können, belegen Formen wie im, am, im, zur, vgl. Eisenberg (1999: 6.1.2). Kritisches es hat u.a. spezielle topologische Eigenschaften (ähnlich den 'second position clitics' z.B. des Serbo-Kroatischen).

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Nach dieser Analyse liegt also wieder eine durch Nähe zu morphologischen Bildungen motivierte Ausdehnung der Zusammenschreibung auf eine nichtmorphologische Ausdrucksklasse vor, die sich allerdings, im Unterschied zu Univerbierungen und Partikelverben, nicht als lexikalischer Trend manifestiert, sondern als eine sehr spezifische Zusatzregel.' 53 Probleme fur O l ' bereitet auch die GZS von zw-Infinitiven. Deren durch die Rechtschreibreform im Prinzip nicht geänderte GZS wird durch folgende Beispiele illustriert: (11) a. m+1 zusammenschreiben, 2. zusammenschreiben =>mzusammenzuschreiben. Daß diese Form der Einfügung von zu morphologisch ist, entspricht im übrigen auch unserer Hypothese HGM, die von einem morphologisch gebildeten Zeichen mindestens fordert, daß seine Teilausdrücke syntaktisch nicht erweiterbar sind, daß es keine interne KR-Valenzabgleichung aufweist und daß es hinsichtlich einschlägiger Verarbeitungs- und Reihenbildungsformen die Charakteristik kernmorphologischer Bildungen aufweist, vgl. 4.1.4.2. Tatsächlich ist syntaktische Erweiterung nicht möglich, vgl. *zusammen (nicht zu schreiben), *zusammen zu (nicht schreiben), und auf eine KR-Valenzabgleichung zwischen zu und dem Infinitiv gibt es keine Hinweise. Im Hin-

153 Die A n n a h m e eines lexikalischen Trends kommt deshalb nicht in Frage, weil die meisten betroffenen Komplexe, etwa , nicht lexikalisiert sind.

Spezifische Regeln, Irregularitäten und lexikalische Trends

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blick auf Verarbeitungsformen wäre u.a. zu erwarten, daß zw-Infinitive nicht als Erstglieder von V+N-Komposita fungieren können, denn wenn die Bildungsweise dieser Infinitive eine morphologische ist, ist sie ein Fall regulärer Flexion, und eine regulär flektierte Verbform kann nicht Erstglied eines V+NKompositums sein.154 Diese Erwartung wird erfüllt, selbst in Fällen, in denen der zw-Infinitiv bei entsprechender syntaktischer Bildung gefordert ist, vgl. der Auftrag, jemanden abzuhören vs. *der Abzuhör{eri)auftrag vs. der Abhörauftrag. Was die Reihenbildung betrifft, sind bei regulär flektierten Zeichen keine ausgebauten lexikalischen Reihen zu erwarten, und die gibt es bei zuInfinitiven auch nicht. Das ihnen zugrundeliegende Bildungsmuster manifestiert sich vielmehr in einer potentiell unendlich großen Menge entsprechender nicht-lexikalisierter Verbformen, wie man es von einem regulären morphologischen Flexionsmuster erwartet. Damit deutet sich nun aber schon an, daß die Getrenntschreibung von zu in Fällen wie ( I I a ) problematisch ist: Die letztgenannten Argumente pro Morphologizität des infigierten zu treffen genauso auf das vorangestellte zu bei Simplizia und kernmorphologisch derivierten Verben zu. Wie das infigierte zu hat das vorangestellte zu außerdem weitere Merkmale, die es mit typischen morphologischen Flexionsaffixen teilt, etwa seine Nicht-Flektierbarkeit und natürlich seine Einordnung in das System der Statusflexion deutscher Verben. Wenn es aber ein morphologisches Verbaffix ist,155 dann steht seine Getrenntschreibung im Widerspruch zu Ol'. Dabei kann es sich nicht um eine lexikalische Irregularität handeln (und auch nicht um einen lexikalischen Trend), denn der Bildungsweise liegt offensichtlich eine Regel zugrunde, die auch auf sämtliche neu hinzukommenden Verben der fraglichen Typen angewandt wird. In unserem Rahmen können wir diese Regel so formulieren: G E T R E N N T S C H R E I B U N G VON Z Ü ( G E T R - Z U )

Wenn zu nicht infigiert wird, gibt es zwischen und dem nachfolgenden Verb ein Spatium. Doch warum enthält das deutsche GZS-System eine Regel, die die Getrenntschreibung bestimmter Teilausdrücke fordert, obwohl diese den Status von morphologischen Affixen haben? Meine Antwort ist: Das Element zu hat in Fällen wie ( I I a ) nicht nur Eigenschaften eines morphologischen Affixes, sondern auch einige Züge, in denen seine Herkunft aus einem syntaktisch selbständigen Wort, nämlich aus der ahd. Ziel-/Zweck- Präposition zi, noch deutlich durchscheint. Diese Züge werden im Vergleich mit dem Flexionspräfix

154 Eine theoretisch denkbare Ausnahme wäre ein Phrasenkompositum, bei dem das phrasale Erstglied nur aus einer flektierten Verbform besteht. Ein plausibles Beispiel hierfür habe ich allerdings nicht gefunden. 155 Diese Klassifizierung von zu findet sich z.B. explizit in Zifonun et al. (1997, Bd. 3: 2159).

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Das System der Kern-GZS

ge- beim Partizip II deutlich. Im Gegensatz zu letzterem fehlt bei zu jede prosodische Interaktion mit dem nachfolgenden Verbstamm, etwa in Form einer Beschränkung auf Stämme mit einer bestimmten Fußstruktur oder eines Einflusses auf die Akzentuierung. Außerdem gibt es keine arbiträren Lücken oder Suppletivformen im Feld der zw+V-Kombinationen, wie sie bei ge- unter Nicht-Vollverben zu finden sind. Auch der vollvokalische Silbenkern von zu ist natürlich eine für Flexionsaffixe ungewöhnliche Eigenschaft. Und schließlich ist vermutet worden, daß zu (zumindest in manchen seiner Verwendungen) als subordinierende Konjunktion fungiert, 156 was ansonsten im Deutschen nur syntaktisch selbständige Wörter tun, aber nie Affixe. Ich nehme an, daß es diese für Flexionsaffixe ungewöhnlichen Eigenschaften waren, die bewirkt haben, daß an der früher üblichen (wenn auch nicht völlig ausnahmslosen) Getrenntschreibung von vorangestelltem zu festgehalten wurde, obwohl das Element inzwischen eindeutig morphologisch im Sinne von H G M ist. Möglicherweise hat auch die Existenz gleichlautender selbständiger Wörter, nämlich der Präposition und des Graduierungselements zu, eine Rolle gespielt. 157 Nach den vorangehenden Überlegungen muß die Hierarchie der für die Kern-GZS gültigen Interface-Gesetze in der folgenden Weise erweitert werden: (01")

GETR-Ziy »

ZUS-MORPH / ZUS-KLITIKA »

GETR-AUSDR

Der Schrägstrich zwischen Zus-MORPH und Z u s - K l i t i k a bedeutet, daß die Gesetze gleichrangig sind, d.h. daß sich keine bestimmte Ordnung zwischen ihnen feststellen läßt. 158

156 Vgl. z.B. Leys (1985). 157 Man mag fragen, warum dieselben Eigenschaften nicht auch bei infigiertem zu zur Getrenntschreibung geführt haben. Ich vermute, daß es gerade die - bei syntaktisch selbständigen Wörtern ganz unmögliche - Infigierung war, die das verhindert hat. 158 Technisch kann die Gleichrangigkeit als Koppelung der Gesetze expliziert werden, d.h. als Disjunktion der Ordnungen, die man aus der vorliegenden Ordnung dadurch erhält, daß man ZUS-KLITIKA über bzw. unter ZUS-MORPH plaziert. Damit entspricht die Ordnung GETR-Z;/ »

Z U S - M O R P H / ZUS-KLITIKA »

ZUS-MORPH »

ZUS-KLITIKA »

G E T R - A U S D R d e r O r d n u n g s d i s j u n k t i o n ( G l TR-ZI/ G E T R - A U S D R ) V (GETR-ZC/

»

ZUS-KLITIKA »

» ZUS-

MORPH » GETR-AUSDR). Ein Kandidat ist optimal im Hinblick auf GETR-ZI/ » ZUSMORPH / ZUS-KLITIKA » GETR-AUSDR genau dann, wenn er bei mindestens einer der Ordnungen in der entsprechenden Disjunktion optimal ist.

Spezifische Regeln, Irregularitäten und lexikalische Trends

119

Die folgenden Beispieltabellen zeigen einige Effekte von Ol": 1 5 9

Nimml's leicht

GETR-ZC

ZUS-MORPH

ZUS-KUTIKA

GETR-AUSDR *

•®'

*!

Da hier ein kritisiertes es vorliegt, erzwingt ZUS-KLITIKA gegen GETR-AUSDR Zusammenschreibung.

Nehmen!'S Platz

GETR-ZI/

ZUS-MORPH

ZUS-KLITIKA

Keines der Gesetze, die GETR-AUSDR dominieren, ist hier einschlägig. Insbesondere fällt die Schreibung des vorliegenden einfachen Klitikons nicht unter ZUS-KLITIKA. Deshalb kann GETR-AUSDR Getrenntschreibung durchsetzen.

noüzullanden

GETR-Z(7

ZUS-MORPH

ZUS-KLITIKA

dort zu!landen

"®-

GETR-AUSDR **

*!

GETR-ZC

ZUS-MORPH

ZUS-KLITIKA

GETR-AUSDR *

*! *

Infigiertes zu wird aufgrund seines morphologischen Status zusammengeschrieben. Bei vorangestelltem zu erwingt GETR-ZÜ gegen ZUS-MORPH Getrenntschreibung. Die Hinzunahme zweier so spezifischer Gesetze wie ZUS-KLITIKA und GETR-ZC/ wirkt sich natürlich negativ auf die Eleganz unserer Analyse der Kern-GZS aus, sie ist aber für eine vollständige und korrekte Erfassung der einschlägigen Regularitäten nach obigen Überlegungen unumgänglich. Im übrigen sind die zwei Gesetze, obwohl sie nur eng umgrenzte Fallklassen betreffen, nicht völlig ad hoc. Sie stehen j a durchaus in einem Zusammenhang m i t d e m GRUNDPRINZIP DER SPATIENSETZUNG, a l s o m i t W o r t a b g r e n z u n g s k r i -

terien. Vorangestelltes zu hat, wie wir oben gesehen haben, noch mehrere typische Eigenschaften eines selbständigen Worts, und die Ähnlichkeit von Präpositionalklitika und klitischem es mit morphologischen Affixen, die vermutlich hinter ihrer Zusammenschreibung steht, besteht gerade in der Abwe-

159 Eine gestrichelte Linie trennt gleichrangige Gesetze.

120

Das System der Kern-GZS

senheit von Eigenschaften, die für selbständige Wörter typisch sind, etwa im Fehlen variabler Stellungsmöglichkeiten oder einer vollsilbischen PR. In der weiteren Diskussion werde ich die gerade eingeführten Beschränkungen ZUS-KLITIKA und GETR-ZC/ wegen ihres sehr engen Geltungsbereichs ignorieren, soweit es nicht gerade auf diese Regeln ankommt. Ich gehe also in den folgenden Abschnitten meist nicht von O l " , sondern von O l ' aus. 160

4.5 Autonome Beschränkungen Durch O l ' werden viele Spatiensetzungen noch nicht ausgeschlossen, die in keiner Variante der deutschen GZS zulässig sind, z.B. die folgenden: (12) a. * b. * c. * d. * e. * f. * Daß das Komma in (12a) nicht durch ein Spatium von getrennt wird, steht nicht im Widerspruch zu O l ' , denn keine der Beschränkungen in dieser Hierarchie macht eine Aussage über GR-Elemente, die keine Teilausdrücke des jeweiligen lautsprachlichen Zeichens repräsentieren. Aus dem gleichen Grund verletzt die falsche Postierung der Spatien beim Ausrufezeichen, beim Fragezeichen bzw. beim Kurzstrich in (12b - c) die bisher eingeführten Beschränkungen nicht. Auch die Inflation von Spatien in (12d - f) läßt sich nicht durch O l ' ausschließen, denn dort, wo Zus-MORPHein Spatium verbietet, etwa zwischen den GR-Entsprechungen von Zwischen und räume in (12f), steht auch keines, und überall sonst gibt es auf jeden Fall genug Spatien, um der Forderung von GETR-AUSDR Rechnung zu tragen, daß zwischen GR-Entsprechungen von Teilausdrücken je mindestens ein Spatium interveniert. In (12) werden also offensichtlich hier noch nicht besprochene (und auch in der bisherigen Literatur vernachlässigte) Regeln der Spatiensetzung verletzt. Es handelt sich um Gesetze, die die An- oder Abwesenheit von Spatien nicht, wie die bisher betrachteten Beschränkungen, von Eigenschaften der zu schreibenden lautsprachlichen Zeichen abhängig machen, sondern ausschließlich auf

160 Möglicherweise muß man eine zu GETR-ZU analoge Sonderregel auch fur den Superlativmarkierer am (wie in Er ist am schnellsten gelaufen) annehmen, der ebenfalls getrennt geschrieben wird, obwohl er viele Eigenschaften eines Flexionsaffixes hat. Ich will das hier aber offen lassen.

Autonome Beschränkungen

121

GR-Faktoren Bezug nehmen, also autonom im Sinne von 3.2 sind. Im Folgenden werden diese Gesetze dargestellt (wobei ich mich kürzer fasse als in den vorangehenden Kapiteln).

4.5.1 Spatien und Abschnittsmarkierungen Als Abschnittsmarkierungen bezeichne ich alle Grapheme, die das Ende oder den Anfang von Abschnitten bestimmter Art anzeigen. Abschnittsendmarkierungen sind im heutigen deutschen Schriftsystem , , , , , , , b. * Diese Daten können mit der folgenden zweiteilige Beschränkung erfaßt werden: Z U S A M M E N S C H R E I B U N G VON A B S C H N I T T S M A R K I E R U N G E N ( Z U S - A M )

1. Wenn Μ eine Abschnittsendmarkierung ist, folgt Μ nicht unmittelbar auf ein Spatium. 2. Wenn Μ eine Abschnittsanfangsmarkierung ist, folgt unmittelbar auf Μ kein Spatium. Nach Zus-AM sind Abschnittsendmarkierungen 'linksbündig', Abschnittsanfangsmarkierungen 'rechtsbündig'. Man sieht leicht, daß dadurch die Unzulässigkeit der a- und b-Versionen von (13) - (15) erklärt wird. Es liegt dort ja jeweils mindestens eine Verletzung von Zus-AM vor. Welche Position nimmt das autonome Gesetz Zus-AM relativ zu den Interface-Beschränkungen in der Hierachie der GZS-Gesetze ein? Wenn wir

161

Bei Anfuhrungszeichen und Klammern ignoriere ich graphetische Varianten wie 1) Vorkommen von Spatien n-fache Wortgrenzen zu signalisieren, wenn erkennbar weniger als η solche Grenzen vorliegen, vgl. *. 170

4.6 Verantwortliche Faktoren und Indizien in der Kern-GZS Nach der hier wiederholten Beschränkungsordnung Ol * S P A T - Z R » ((GETR-ZU »

(ZUS-AM »

ZUS-MORPH / ZUS-KLITIKA »

Zus-KS / GETR-LS)) »

GETR-AUSDR) /

*SPAT

sind für die große Mehrzahl der Spatiensetzungen der Kern-GZS nur zwei Eigenschaften der zu schreibenden lautsprachlichen Zeichen verantwortlich. Es sind die Eigenschaften, auf denen die allgemeinen Interface-Gesetze Z u s -

169 Auch für andere OT-Gesetze hat man vermutet, daß ihnen funktional das Ziel der Vermeidung eines zu großen Produktionsaufwands zugrunde liegt, vgl. Haspelmath (1999). 170 Man beachte, daß entsprechende Sparsamkeitsgesetze in der Standardschreibung auch fur die meisten anderen Grapheme gelten. Ausnahmen sind und , die gelegentlich gehäuft werden, etwa in Fällen w i e . Die Häufung ist hier gerade deshalb möglich, weil sie nicht das mehrfache Vorliegen des j e w e i l s signalisierten Bedeutungsaspekts (bei : Exklamativität) anzeigt, sondern das hohe Maß der Ausprägung dieses Bedeutungsaspekts. ( B e i m Spatium wäre das nicht möglich, da das Vorliegen einer Wortgrenze kein im Ausprägungsgrad variierender Faktor ist.)

Verantwortliche Faktoren und Indizien in der Kern-GZS

129

MORPH und GETR-AUSDR beruhen, also morphologische Bildung bzw. Teilausdruckstatus. Für zwei eng begrenzte Fallklassen kommen die in den spezifischen Interface-Gesetzen GETR-ZC/ und ZUS-KLITIKA genannten Faktoren hinzu, also Status als vorangestelltes zu bzw. als Präpositionalklitikon oder klitisches es. Die Gewichtung, mit der diese Faktoren wirksam werden, entspricht der Rangfolge der entsprechenden Gesetze in O l . In einem schwächeren Sinn, nämlich vermittelt über lexikalische Trends, hat auch der Status von Bildungen als Univerbierungen (ZUS-UNIV) oder Semi-Partikelverben (ZUS-SEMIPART) Einfluß auf die Spatiensetzung. Das ist angesichts der Fülle der lautsprachlichen Eigenschaften, die in der Literatur als Determinanten (oder "Kriterien") der GZS diskutiert wurden, eine überraschend kurze Liste. Nehmen wirklich nur die genannten Faktoren auf die Spatiensetzung in der Kern-GZS Einfluß? Wirken nicht vielmehr zusätzlich oder alternativ weitere Eigenschaften der zu schreibenden lautsprachlichen Zeichen auf die Spatiensetzung ein, insbesondere solche, die direkt auf die Struktur der Zeichen bezogen sind (vgl. 3.4) und damit leichter gehandhabt werden können als z.B. morphologische Bildung? 171 Betrachten wir dazu einige der in der GZS-Literatur genannten Faktoren. 172

4.6.1

Beweglichkeit und syntaktische Erweiterbarkeit

Des öfteren wurde ein Zusammenhang zwischen der GZS und der Trennbarkeit (alias Umstellbarkeit oder Verschiebbarkeit) von Teilausdrücken hergestellt. Dabei wird jedoch meist nicht genau unterschieden zwischen der Trennung von X und Y durch Bewegung, z.B. daß man das zusammenschreibt vs. Schreibt man das zusammen, und einer Trennung infolge einer syntaktischen Erweiterung von X oder Y, durch die sich weiteres Material zwischen die Teilausdrücke schiebt, z.B. daß man darüber frei sprechen kann vs. daß man frei über dieses Problem sprechen kann (wo sprechen durch das Präpositionalobjekt erweitert ist). Betrachten wir zunächst den ersten Fall, die Möglichkeit, die Teilausdrücke durch Bewegung zu trennen. 173

171 Beim Beginn der Arbeit an diesem Buch ging ich selbst davon aus, daß die deutsche GZS im wesentlichen von einer Reihe relativ leicht zu diagnostizierender strukturbezogener Faktoren abhängt, die bisher mangels einer geeigneten theoretischen Analyse nur noch nicht richtig identifiziert und geordnet werden konnten. Die folgenden Überlegungen machen deutlich, warum ich diese Annahme fallen lassen mußte. 172 Ich erspare mir die Mühe, systematisch Belegstellen anzugeben. 173 Manchmal wird beim Stichwort "Trennbarkeit" auch die Möglichkeit der Einschiebung von zu und ge- in verbale Komplexe erwähnt (weil dadurch das Erst- vom Zweitglied 'getrennt' wird), vgl. 4.1.4.1 ad E3 und 4.6.4 unten.

Das System der Kern-GZS

130

Wenn Trennbarkeit im Sinn von Bewegung ein für die deutsche Kern-GZS verantwortlicher Faktor wäre, müßte die in 3.3 probeweise formulierte, hier wiederholte Beschränkung GETR-BEW operativ sein: GETRENNTSCHREIBUNG BEWEGLICHER AUSDRÜCKE (GETR-BEW)

Wenn die Teilausdrücke X oder Y bewegt werden können, gibt es zwischen und ein Spatium. Diese Beschränkung beruht, wie in 3.4 (Anm. 34) erläutert, auf einem nicht nur im Deutschen, sondern wahrscheinlich sprachübergreifend gültigen Kriterium für das Vorliegen einer KR-Wortgrenze, ist also im GRUNDPRINZIP verankert und damit zunächst sehr plausibel. Die deutsche Kern-GZS macht aber von GETR-BEW keinen Gebrauch. Das erkennt man, wenn man versucht, diese Beschränkung in die Ordnung Ol zusätzlich oder als Ersatz für andere Gesetze einzufügen, wie in den folgenden modifizierten Versionen von Ol (in denen die hier irrelevanten spezifischen Interface-Gesetze und die autonomen Gesetze weggelassen werden): (011)

GETR-BEW »

(012)

Z U S - M O R P H » G E T R - B E W » GETR-AUSDR

(013)

ZUS-MORPH »

(014)

GETR-BEW »

ZUS-MORPH »

GETR-AUSDR

GETR-BEW GETR-AUSDR

O l 1 ließe für Partikelverben Getrenntschreibung erwarten, z.B. * und < Y > kein Spatium.

Das System der Kern-GZS

134

Doch ZUS-NEGSYNFORM ist in der Kern-GZS nicht operativ. Das zeigt sich wieder, wenn man versucht, die Beschränkung in Ol einzufügen: (0110)

Z U S - N E G S Y N F O R M » Z U S - M O R P H » GETR-AUSDR

(0111)

Z U S - M O R P H » Z U S - N E G S Y N F O R M » GETR-AUSDR

(0112)

Z U S - N E G S Y N F O R M » GETR-AUSDR

(0113)

Z U S - M O R P H » ZUS-NEGSYNFORM

O l 1 0 und Ol 1 1 sind weniger ökonomisch als Ol und machen u.a. die falsche Voraussage, daß syntaktisch nicht-wohlgeformte Phraseologismen stets zusammengeschrieben werden, etwa * oder *, wegen des fehlenden Determinators bzw. des bei syntaktischer Bildung nicht möglichen unikalen Elements. Dieses unerwünschte Ergebnis erhält man auch mit Ol 1 2 und Ol 1 3 . Darüber hinaus ließe Ol 1 2 fälschlich Getrenntschreibung von morphologisch gebildeten Zeichen erwarten, die sich in ihrer Form nicht von einer entsprechenden syntaktischen Bildung unterscheiden, etwa * (mit zurück als V-Partikel). Ol 1 3 läßt die GZS aller syntaktisch wohlgeformten Zeichen offen (es sei denn, sie liegen zufallig im Einflußbereich von ZUS-MORPH). Entsprechendes gilt für alle weiteren denkbaren Modifikationen von Ol durch ZUS-NEGSYNFORM: Sie sind inkorrekt, nicht allgemein genug oder unökonomisch. Aber natürlich ist es nicht ganz falsch, Abweichungen von der syntaktischen Wohlgeformtheit in einen Zusammenhang mit der GZS zu bringen. In 4.1.4 - 4 . 1 . 5 wurden solche Abweichungen ja als typisches Merkmal von morphologischen Bildungen und Univerbierungen diskutiert, und auch SemiPartikelverben wären als syntaktische Bildungen oft fehlerhaft. Entsprechend gibt es wieder empirische Korrelationen, die dazu führen, daß dieser Faktor als Indiz für das Vorliegen solcher Bildungen und damit für eine reguläre oder einem lexikalischen Trend folgende Zusammenschreibung dienen kann. Diagnostisch ist dieses Indiz allerdings nicht sehr zuverlässig, unter anderem, weil ja auch viele Phraseologismen syntaktisch nicht völlig wohlgeformt sind, s.o. Außerdem unterscheiden sich, wie schon mehrfach betont, bestimmte morphologische Bildungen, etwa unter den Partikelverben, im Hinblick auf ihre Oberflächenform nicht von entsprechenden syntaktischen Bildungen. Entsprechendes gilt für jeden der einzelnen Faktoren, die oben durch den Begriff der syntaktischen Nicht-Wohlgeformtheit zusammengefaßt wurden, etwa für das Fehlen von Determinatoren oder Präpositionen bei einschlägigen Nominalen. Es ist klar, daß Beschränkungen wie ZUS-FEHLDET, ZUS-FEHLPRÄP USW. nicht operativ ist. Auch als Indizien für eine Zusammenschreibung auslösende Bildungsweise sind diese Einzelfaktoren nur mit Vorsicht zu verwenden. Das Fehlen einer syntaktisch zu erwartenden Präposition ist in dieser Hinsicht aber etwas zuverlässiger als das Fehlen eines Determinators, weil es, soweit ich sehe, nur wenige Phraseologismen mit einer im Vergleich zu einer

Verantwortliche Faktoren und Indizien in der Kern-GZS

135

entsprechenden syntaktischen Bildung fehlenden Präposition gibt. Allerdings haben sowohl fehlende Präpositionen als auch fehlende Determinatoren als Indizien flir Zusammenschreibung einen deutlich eingeschränkten Anwendungsbereich. Sie betreffen j a nur nominale Teilglieder (die fehlenden Determinatoren darüber hinaus nur solche mit zählbarem, singularischem Kern). D a r ü b e r hinaus k o m m e n alle dem Begriff der syntaktischen NichtWohlgeformtheit subsumierbaren Faktoren in der Morphologie nur dort zum Tragen, wo kein Bildungsmuster wirksam ist, das einen syntaktisch komplexen Input unverändert in den Output überträgt (wie es die Infinitivkonversion tut).

4.6.3 Betonung von Erstgliedern Zur syntaktischen Wohlgeformtheit gehört auch eine bestimmte Betonung. Diesem Faktor möchte ich hier einen eigenen Abschnitt widmen, weil er in jüngerer Zeit mehrfach als wichtige Determinante der GZS diskutiert wurde, vor allem von Reformkritikern, die eine Berücksichtigung der Betonung in der GZS-Neuregelung vermissen. 175 Wie schon in 3.4 gesagt, spielen flir die GZS im heutigen Deutsch Beschränkungen, die auf phonologischen Faktoren beruhen, keine Rolle. 176 Insofern ist es nicht überraschend, daß auch der Faktor Betonung nicht verantwortlich für die deutsche GZS ist, s.u. Es gibt jedoch durchaus einen Zusammenhang zwischen Betonung und GZS: Syntaktisch verbundene, also getrennt zu schreibende Ausdrücke X und Y haben in bestimmten Fällen eine andere Akzentuierung als vergleichbare morphologisch gebildete, also zusammenzuschreibende Komplexe. 177 Es handelt sich um Fälle, in denen X nicht in Y integriert ist, wo X also, vereinfacht gesagt, kein internes Argument von Y ist.178 Diese Konstellation liegt u.a. vor, wenn X ein Art-und-Weise-Adverbial und Y ein Verb ist, wie frei bzw. spielen in (23a):

175 Z.B. Ickler (1997c), Munske (1997a), Baudusch (2002), Glück (2002). Daß es einen Zusammenhang zwischen Betonung und GZS gibt, ist auch schon früher bemerkt worden. So findet sich im Rechtschreib-Duden von 1954 in der Präambel zu den GZS-Regeln der folgende Hinweis (ebd.: 36): "Merke: In der Regel zeigt Starkton des ersten Gliedes Zusammenschreibung, Starkton bei beiden Wörtern Getrenntschreibung an." (In neueren Duden-Ausgaben, etwa der von 1991, fehlt dieser Hinweis.) 176 Das Kriterium, auf dem GETR-AUSDR beruht, ist ein recht guter Indikator für PR-Wortgrenzen (vgl. 4.2), aber selbst kein phonologischer, sondern ein semantischer Faktor. 177 Dabei geht es, wie schon in Anm. 50 in 4.1.4.1 gesagt, um die neutrale Akzentuierung, also um jene, die nicht von pragmatischen Faktoren w i e Vorerwähntheit oder Fokussierung abhängt. 178 Genaueres in Jacobs (1993)

136

Das System der Kern-GZS

(23) a. Er kann hier nicht frei spielen b. Er kann sich nicht freispielen

('unbehindert spielen') ('so spielen, daß er ungedeckt ist')

D i e R e g e l n der A k z e n t u i e r u n g von syntaktischen Phrasen im Deutschen 1 7 9 fordern in Fällen ohne Integration w i e (23a) zwei Akzente (wobei der zweite infolge rhythmischer Einflüsse etwas stärker sein kann als der erste). Für ein morphologisch gebildetes V e r b mit oberflächlich gleichen Teilausdrücken w i e in (23b) legt dagegen die P R - B e d i n g u n g des Bildungsmusters einen einzelnen H a u p t a k z e n t auf d e m Erstglied fest. 1 8 0 D a m i t gibt die E r s t g l i e d b e t o n u n g in Fällen w i e (23b) einen Hinweis darauf, daß morphologische Bildung vorliegt, also Z u s a m m e n s c h r e i b u n g erforderlich ist. Weitere Beispiele dieser Art sind wieder gewinnen vs. wiedergewinnen, zusammen trägen vs. zusämmentragen, nicht 'öffentlich vs. nichtöffentlich. A u c h aus der Erstgliedbetonung bei SemiPartikelverben mit Adj/Adv-Erstglied ergibt sich ein Unterscheidungskriterium zu oberflächlich entsprechenden syntaktischen Bildungen, nämlich dann, wenn in diesen keine Integration (s.o.) vorliegt, z.B. gut schreiben vs. gutschreiben, sicher gähen vs. sichergehen. In vielen anderen Fallklassen läßt die Erstgliedbetonung j e d o c h keinen Schluß auf das Vorliegen einer Bildungsweise zu, die Z u s a m m e n s c h r e i b u n g favorisiert. O h n e Aussagekraft ist sie insbesondere in Fällen, in denen infolge von Integration auch bei syntaktischer Bildung Erstgliedbetonung gefordert ist, vgl. B'ücher lesen vs. (das) B'ücherlesen, vor Wind geschützt vs. windgeschützt, kampfunfähig schlagen vs. tötschlagen, zug'anglich halten vs. freihalten.m Z u d e m haben bei weitem nicht alle morphologischen Bildungen die in Fällen wie (23b) distinktive Erstgliedbetonung. Sie fehlt z.B. bei K o m p o s i t a w i e Riesenfehler, röt-gr 'ün, himmelbläu und bei untrennbaren P r ä f i x v e r b e n w i e durchwandern, *übersetzen. Gleiches gilt f ü r viele zusammengeschriebene U n i v e r b i e r u n g e n , w i e anhänd, indem, sooft, zugrunde, Müttergöttes, die gen a u s o betont werden wie der j e w e i l s diachron zugrundeliegende syntaktische Komplex. Fazit: Der PR-Faktor Erstgliedbetonung ist in eingeschränkten Bereichen ein zuverlässiges Indiz für die Einschlägigkeit von Zus-MORPH oder des lexikalischen Trends ZUS-SEMIPART. Einen darüber hinausgehenden Einfluß auf die G Z S hat die Erstgliedbetonung nicht. Vor allem ist sie kein für die Spatien-

179 Vgl. ebd. 180 In den Beispielen für morphologische Bildungsmuster in 4.1.3 wurde die Akzentfestlegung zur Vereinfachung weggelassen. 181 Objektprädikative Resultativadverbiale wie in kampfunfähig

schlagen

und zugänglich

halten

sind ins Verb integriert. - Erstgliedbetontes und zusammengeschriebenes freihalten kommt übrigens nicht nur als dem frei- Muster entsprechendes Partikelverb ('bewirken, daß etwas frei bleibt') vor, sondern auch idiomatisiert ('für jemanden bezahlen'). Daneben gibt es die auf beiden Gliedern betonte Phrase aus Art-und-Weise-Adverbial + Verb (Diese Rede hat er frei gehalten).

Verantwortliche Faktoren und Indizien in der Kern-GZS

137

setzung direkt verantwortlicher Faktor, denn auch hier würde der Einbau einer entsprechenden Restriktion in O l zu unerwünschten Ergebnissen fuhren, wie man mit dem im Vorangehenden eingeführten Verfahren leicht zeigen kann (was ich ab jetzt dem Leser überlasse).

4.6.4

Abweichungen von syntaktischen Flexionsmöglichkeiten

Nach unseren Überlegungen in 4.1.4.1 (E3) ist die Unmöglichkeit einer separaten Flexion von Teilausdrücken ein typisches Merkmal morphologischer Bildungen. Entsprechend wurde dieser Faktor in der Literatur mehrfach in einen Zusammenhang mit der GZS gebracht. Unter den dabei genannten Phänomenen ist eines, das ein zuverlässiges Indiz fur das Vorliegen einer morphologischen Bildung oder einer Univerbierung ist, nämlich die Voranstellung von ge- und zu vor einen mit dem Verb verbundenen Teilausdruck, z.B. gez

maßregelt, zu maßregeln (im Vergleich mit den Verkehr geregelt, den Verkehr zu regeln).m Leider ist der Anwendungsbereich dieses Indizes eingeschränkt, da es j a bei nicht-verbalen Zeichen nicht greift. Im übrigen haben wir es natürlich auch hier wieder nicht mit einem Faktor zu tun, den man für Spatiensetzungen in der Kern-GZS verantwortlich machen kann. Alle Modifikationen von O l durch eine entsprechende Beschränkung führen zu inkorrekten, unvollständigen oder unökonomischen Beschränkungsordnungen. Entsprechendes gilt für die Komparationsmöglichkeiten. Darüber hinaus ist die z.B. in §34 der Neuregelung erwähnte Komparierbarkeit adjektivischer Erstglieder als Indiz sehr unzuverlässig, vgl. gutschreiben vs. ohnmächtig schlagen (Erstglieder nicht komparierbar), groß werden vs. das Großwerden (Erstglieder komparierbar, vgl. größer werden, das Größerwerden). Es gibt nur eine sehr lockere empirische Korrelation: Wenn adjektivische Erstglieder kompariert werden können, sind sie häufig, aber eben nicht immer, syntaktisch angefügt. 1 8 3 Enger ist der Zusammenhang der GZS mit der Außenkomparation, der von Ickler (1997a: 84) und Munske (1997a: 318) bemerkt wurde. Wenn ein Komplex als ganzer durch eine entsprechende Veränderung des letzten Teilglieds kompariert werden kann, ist er stets morphologisch entstanden, vgl. das schon in 4.1.4.1 genannte Beispiel dünnflüssigeres (Öl) vs. *dünner flüssiges (Öl).

182 Dagegen ist die Abwesenheit dieser Konstruktionsmöglichkeit (wenn also ge- und zu nicht vorangestellt, sondern zwischen Erst- und Zweitglied eingeschoben werden) kein zuverlässiges Indiz für das Nicht-Vorliegen einer zur Zusammenschreibung führenden Bildungsweise, vgl. 4.1.4.1 ad E3. 183 Dabei muß außerdem zwischen Komparierbarkeit i.e.S. und der Möglichkeit einer Superlativform als Erstglied unterschieden werden, die (vor allem mit irregulären Superlativen) bei morphologischen Bildungen ohne weiteres gegeben ist, vgl. Bestnote, Höchstpreis (aber *Bessernote, * Höherpreis).

138

Das System der Kern-GZS

Damit ist Außenkomparation ein zuverlässiges, wenn auch auf einen kleinen Datenbereich (nämlich adjektivartige Bildungen) eingeschränktes Indiz für die Einschlägigkeit von ZUS-MORPH. Aber auch sie ist natürlich kein für die KernGZS verantwortlicher Faktor, wie die unerwünschten Konsequenzen des Einbaus einer entsprechenden Beschränkung in O l zeigen.

4.6.5 Abweichungen von syntaktischen Negationsmöglichkeiten Auch Abweichungen von den syntaktischen Negationsmöglichkeiten wurden gelegentlich (wenn auch viel seltener als Flexionsbesonderheiten) in einen Zusammenhang mit der Zusammenschreibung gebracht oder, wie von Maas (1994), mit der bei Zusammenschreibung erforderlichen Kleinschreibung von nominalen Erstgliedern nicht-nominaler Komplexe. Es geht dabei um die Wahl zwischen nicht und kein in Fällen wie daß er {keine, *nicht} Maschine bedient vs. daß er {*keine, nicht} maschineschreibt. Dabei handelt es sich um einen Spezialfall des Verbots der syntaktischen Erweiterung (im engeren Sinn) der Teilausdrücke von morphologischen Bildungen, Univerbierungen oder SemiPartikelverben, vgl. 4.6.1: Nominale Teilausdrücke solcher Bildungen können nicht durch ein satznegierendes kein syntaktisch erweitert werden. 184 Das läuft bei nicht-nominalen Komplexen mit nominalen Teilausdrücken darauf hinaus, daß sie, wie das Beispiel maschineschreiben, überhaupt nicht mit einem satznegierendes kein verbunden werden können (da der Determinator kein eine nominale KR-Schwesterkonstituente verlangt). Natürlich ist auch das kein die GZS direkt beeinflussender Faktor. Die Möglichkeit der Erweiterung eines nominalen Teilausdrucks mit kein ist allerdings, da sie ja ein Spezialfall der syntaktischen Erweiterung im engeren Sinn ist, wie diese ein recht zuverlässiges Indiz für das Nicht-Vorliegen einer Zusammenschreibung favorisierenden Bildungsweise, dessen Anwendungsbereich jedoch deutlich eingeschränkt ist. Umgekehrt weist die {/«möglichkeit von satznegierendem kein vor einem nominalen Teilausdruck nicht zuverlässig auf Zusammenschreibung hin, da sie z.B. auch syntaktisch gebildete, also getrennt zu schreibende Verben mit Umstandsobjekten betrifft, z.B. daß er {*keine, nicht} Orgel spielt,185 sowie manche S-Inkorporationen, z.B. daß er {*keinen, nicht} Schritt hält. Auch bestimmte syntaktische Strukturpositionen

184 In Fällen wie (das) Ich-habe-keine-Lusl-Gerede liegt keine Satznegation vor, in solchen wie daß er kein Hausbesitzer ist wird nicht das Erstglied Haus-, sondern das ganze Kompositum Hausbesitzer durch ein satznegierendes kein syntaktisch erweitert. (Daß ein mit nominalen Teilausdrücken syntaktisch verbundenes kein überhaupt den ganzen Satz negieren kann, ist darin begründet, daß syntaktischer und semantischer Negationsbereich nicht übereinstimmen müssen, vgl. Jacobs 1991.) 185 Die Version mit keine erzwingt eine andere Lesart, bei der das Objekt nicht auf die Musikinstrumenten-Art Orgel, sondern auf ein Orgel-Individuum zu beziehen ist.

Verantwortliehe Faktoren und Indizien in der Kern-GZS

139

können (in Abhängigkeit von der Informationsstruktur) satznegierendes

kein

behindern, vgl. ΊΊKeine Medikamente waren vorrätig vs. Medikamente waren nicht vorrätig.

4.6.6

Abweichungen von syntaktischen Bedeutungsstrukturen

D i e Ansicht, die deutsche G Z S werde von semantischen

Faktoren beeinflußt,

ist vor allem in älteren Beiträgen weit verbreitet, vgl. Kap. 2. Diese Faktoren wurden allerdings nie klar bestimmt. Was könnte etwa gemeint sein, wenn die erste G Z S - R e g e l im Duden von 1991 ( R 2 0 5 ) die Zusammenschreibung von Komplexen mit verbalem Zweitglied fordert, "wenn durch die Verbindung ein neuer B e g r i f f entsteht, den die bloße Nebeneinanderstellung nicht ausdrückt?" Eine Explikation dieser kryptischen Aussage könnte von den in 4.1.4.1 ( E 7 ) angestellten Überlegungen zu typischen Besonderheiten im Bedeutungsaufbau morphologisch gebildeter Zeichen ausgehen, insbesondere von den bei solchen Zeichen zu beobachtenden Abweichungen von einer nach syntaktischen B e deutungskompositionsprinzipien zu erwartenden S R

( j j a | | :

SR-Entsprechung

der KR-Konstituente α ) : ZUSAMMENSCHREIBUNG PLEXEN

IN NICHT S Y N T A K T I S C H - K O M P O S I T I O N A L E N

KOM-

(ZUS-NEGSYNKOMP)

Für die Teilausdrücke X und Y einer KR-Konstituente X Y : Wenn ||XY|| nicht in einem nach syntaktischen Bedeutungskompositionsprinzipien

zulässigen

Verhältnis zu ||X|| und ||Y|j steht, liegt zwischen < X > und < Y > kein Spatium. D i e s e Beschränkung führt in vielen Fällen zum selben Resultat wie Z u s MORPH, denn die Bedeutung von morphologisch gebildeten Komplexen folgt, wie wir schon in 4.1.4.1 gesehen haben, in der Regel nicht den für die Syntax gültigen Kompositionsprinzipien. Entsprechendes gilt für die lexikalischen Trends ZUS-UNIV und ZUS-SEMIPART. Dennoch hätte jeder Versuch, O l durch ZUS-NEGSYNKOMP ZU modifizieren, unangenehme Folgen. V o r allem kann man Zus-MORPH nicht durch ZUS-NEGSYNKOMP ersetzen, denn das würde u.a. bei Phraseologismen zu falschen Voraussagen fuhren. Diese weichen in der R e g e l von der syntaktischen Kompositionalität ab, werden aber im Widerspruch zu ZUS-NEGSYNKOMP in der K e r n - G Z S außer in bestimmten irregulären Fällen getrennt geschrieben. Dagegen macht O l auch hierfür die richtigen Voraussagen. Zusammenschreibungen schieben>, *,

wie * < l u n t e r i e c h e n > ,

*,

* Rechtsüberholer, eine Frage stellen > Fragestellung, dünne Haut > dünnhäutig, gute Nachbarn > gutnachbarlich usw. Eine solche Bildungsweise kann auch für die fraglichen Partizipialkomplexe angenommen werden, z.B. nahe liegen > naheliegend, Grauen erregen > grauenerregend, kalt lächeln > kaltlächelnd, ebenso wie für Fälle, die auch in der Neu-GZS zusammengeschrieben werden, wie den Kopf schütteln > kopfschüttelnd, mit dem Schwanz wedeln >schwanzwedelnd. Der Bedeutungsunterschied des morphologischen Outputs gegenüber seinem syntaktischen Input kann auf spezielle SR-Bedingungen des Bildungsmusters zurückgeführt werden. (Dieser Unterschied ist allerdings recht subtil, 4 außer in den - nicht seltenen - Fällen, in denen weitere semantische Veränderungen durch Lexikalisierung hinzukommen, wie bei frischgebacken, naheliegend, weitreichend.) Die sich in Beispielen wie * eiskaltlächelnd manifestierende

sen sich zusätzlich zu den oben schon genannten Merkmalen zur Abgrenzung der Bildungen in (1) - (2) von ihren syntaktischen Pendants einsetzen, denn letztere sind in ihrer großen Mehrzahl nicht adjektivisch. So sind die Bildungen in (1) - (2) in der Regel prädikativ verwendbar, ihre syntaktischen Entsprechungen (disambiguiert durch Hinzufugung einer Erweiterung) sind es dagegen in den meisten Fällen nicht, z.B. Sein Anblick

war

ßend,

kein Grauen

gend).

grauenerregend}

vs. *Sein Anblick

Furcht einflößend,

{furchteinflöerre-

Ausnahmen bilden hier nur die Bildungen mit einem adjektivierten Partizip als Zweit-

glied, z.B. Er war kalkweiß 4

war {große

geschminkt.

Oft handelt es sich um den in 4.6.6 erwähnten Faktor der fehlenden Ereignisreferenz.

Für die Alt-GZS spezifische Schreibungen, die O l entsprechen

147

Tatsache, daß nicht beliebig umfangreiche verbale Syntagmen auf diese Weise adjektiviert werden können, weist auf typisch morphologische Komplexitätsrestriktionen des Bildungsmusters hin, wie sie auch fur andere Formen der Zusammenbildung von Adjektiven gelten, vgl. z.B. *papierdünnhäutig. Wenn man sich also an den Gedanken gewöhnen kann, daß Partizipbildung nicht nur der verbalen Statusflexion dient, sondern auch zur Erzeugung von komplexen deverbalen Adjektiven eingesetzt wird, kann man den Eigenschaften der fraglichen Beispiele Rechnung tragen. 5 Natürlich erklärt eine solche Analyse auch, warum es zu so vielen dieser X+Partizip-Komplexe syntaktisch gebildete Pendants gibt. So geht z.B. weitreichend vs. weit reichend darauf zurück, daß es zwei Möglichkeiten der Derivation gibt, nämlich (a) eine, bei der die syntaktisch gebildete Adverbial+Verb-Verbindung der Partizip-Zusammenbildung (und in diesem Fall auch der Lexikalisierung) unterzogen wird, also 1. weit + reichen =>sweit reichen, 2. weit reichen => m+i weitreichend, (b) eine, bei der das Verb flexivisch partizipialisiert und dann durch das Adverbial weit syntaktisch erweitert wird, also 1. reichen =>m rei-

chend, 2. weit + reichend =>s weit reichend. Was die nach H G M notwendigen Bedingungen für morphologische Bildungen betrifft, so ist bei dieser Analyse klar, daß eine einschlägige Form der Reihenbildung gegeben ist. Der deutsche Wortschatz enthält j a eine Vielzahl von Partizipialadjektiven der fraglichen Art, z.B. alle unter (1) - (2) genannten. 6 Darauf, daß die Teilausdrücke der fraglichen Bildungen nicht syntaktisch erweiterbar sind, wurde oben schon hingewiesen. Auch das HGM-Verbot einer internen KR-Valenzabgleichung wird befolgt: Bei der Anbindung der Partizipialaffixe werden offensichtlich keine Kasus-, Präpositions- oder Statusmerkmale am syntaktischen Input gecheckt. Vielmehr werden alle Formhinweise auf solche Merkmale getilgt. Der vierte nach H G M notwendige Faktor, die Möglichkeit einer einschlägigen morphologischen Weiterverarbeitung, läßt sich nicht so leicht nachweisen, da Adjektive, die aus mehreren Autosemantika bestehen, im Deutschen generell nur schwer weiteren Wortbildungsprozessen unterzogen werden können. Immerhin kann man die Möglichkeit der Einbeziehung der fraglichen Bildungen in adjektivische Steigerungs- oder Kopulativkomposita anfuhren, die keine syntaktisch komplexen Basen erlauben, z.B.

mega-rückwärtsgewandte (Politiker), fettgedruckt-kursive (Überschrift).

5

komplex-weitreichende

(Vorschläge),

Im Großteil der germanistischen Wortbildungsliteratur ist es üblich, partizipiale Komplexe der fraglichen Art den Komposita zuzurechnen. In der gründlichsten einschlägigen Untersuchung werden sie jedoch, wie hier, als Zusammenbildungen analysiert, vgl. Pümpel-Mader et al. (1992: Teil III, Teil IV).

6

Im D G W D S gibt es für die große Mehrzahl dieser Lexeme einen separaten (allerdings infolge der N e u - G Z S getrennt geschriebenen) Eintrag.

Das System der Alt-GZS

148

Neben wenigen echten Komposita und einer großen Zahl von vermutlich durch Zusammenbildung entstandenen Beispielen gibt es unter den in der Alt-GZS zusammenzuschreibenden X+Partizip-Komplexen auch einige Bildungen, in denen sich Muster manifestieren, die ursprüngliche Kompositions- oder Zusammenbildungsglieder als Affixe einfuhren und entsprechende Reihen bilden, etwa viel{-befahren, -diskutiert, -gekauft, ...}. Es ist klar, daß die Zusammenschreibung dieser Bildungen ebenfalls der Beschränkungsordnung O l entspricht.

5.1.2

Verbale Komplexe

Auch bei einer Reihe von N+V-Komplexen folgt die in der Alt-GZS vorgesehene, durch die R e f o r m aufgehobene Zusammenschreibung der Beschränkungsordnung O l : (3)

a. , , , ,

b.

Darauf, daß es sich hier um morphologische Bildungen handelt, weist bei den Beispielen (3a) zunächst ihre mangelnde syntaktische Wohlgeformtheit hin. Insbesondere könnten die nominalen Erstglieder bei einer syntaktischen Bildung mit vergleichbarer Bedeutung nicht ohne Hinzufügung von Präpositionen an die verbalen Zweitglieder angeschlossen werden, z.B. *Eis laufen (syntaktisch gebildet) vs. auf dem Eis laufen. Damit wird auch eine Analyse der Fälle als idiomatisierte syntaktische Verbalphrasen oder S-Inkorporationen unplausibel, denn nominale, nicht in PPn eingebundene Erstglieder von idiomatisierten Verbalphrasen oder S-Inkorporationen können in der Regel als (mehr oder weniger verblaßte) Akkusativobjekte gedeutet werden, vgl. 4.1.4.3. Mit nominalen Teilgliedern von S-Inkorporationen teilen die Beispiele (3a) wie auch in einer Lesart das Beispiel (3b) jedoch das Merkmal der Nicht-Referentialität, das aber natürlich auch für morphologische Bildungen typisch ist. Diese Eigenschaften reichen allerdings noch nicht aus, um den morphologischen Status der fraglichen Beispiele zu sichern. Dafür müßten sie zusätzlich lexikalischen Reihen zugeordnet werden können, in denen sich geeignete Bildungsmuster manifestieren. Das ist aber leicht möglich. Die Beispiele gehören zum umfangreichen Bestand an Rückwärtsbildungen im deutschen Wortschatz, vgl. 4.1.4.2 (wo dieser Bildungstyp am Beispiel maschineschreiben auch schon ausfuhrlich analysiert wurde). Jedes der Beispiele läßt sich via Rückwärtsbildung auf mindestens ein entsprechendes Nominalkompositum beziehen, z.B.

Für die Alt-GZS spezifische Schreibungen, die O l entsprechen

149

auf Eislauf, Kopfstand, (das) Maschineschreiben, Probefahrt, Radfahrer,7 Damit lassen sich die Beispiele einerseits der umfangreichen Reihe von lexikalisierten Zeichen zuordnen, die nach dem jeweiligen Kompositionsmuster gebildet sind, andererseits der ebenfalls beachtlichen Reihe von aus Nominalkomposita rückgebildeten Verben, vgl. 4.1.4.2 ad Ε10. Die Reihenbildung bei probe+W, vgl. probe {-fahren, -laufen, -liegen, -singen, -turnen, ...}, kann auf ein entsprechende Reihenbildung bei den nominalen Basen (durch ein 'Halbaffix' Probe-) oder darauf zurückgeführt werden, daß sich in Analogie zu einem oder mehreren durch Rückwärtsbildung entstandenen probe-Verben ein eigenes, eine affixartige Reihe bildendes Muster herausgebildet hat. Allerdings haben die meisten dieser Beispiele, etwa kopfstehen und maschineschreiben, bewegliche Teilausdrücke. Das ist aber, wie wir gesehen haben, im Deutschen kein zuverlässiges Indiz für eine nicht-morphologische Bildungsweise, im Gegensatz zur syntaktischen Erweiterbarkeit von Teilausdrücken, die wiederum in keinem der Beispiele gegeben ist (wenn man radfahren nicht mit seinem syntaktisch gebildeten Pendant aus Umstandsobjekt + Verb verwechselt, vgl. weil er ein sehr teures Rad fährt). Auch unter den Adv+V-Verbindungen sind einige, deren durch die Reform aufgehobene Zusammenschreibung auf O l zurückgeführt werden kann: (4)

, ,

Dafür, daß diese Beispiele auf morphologische Bildungsmuster im Sinne von HGM zurückgehen, spricht zunächst die lexikalische Reihenbildung, vgl. aufeinander {-drücken, -legen, -schlagen, ...}, darüber{-breiten, -legen, schreiben, ...}, davor {-halten, -legen, -schieben, ...}. Bei den aufeinander-^ e, rben ist auch -0ar-Adjektivierung möglich, z.B. aufeinanderlegbar, bei den anderen Beispielen wird sie allerdings durch den deiktischen Charakter des Erstglieds behindert. 8 Darüber hinaus sind die Teilausdrücke weder syntaktisch erweiterbar noch gibt es zwischen ihnen eine interne KR-Valenzabgleichung. Zusammengenommen weisen diese Eigenschaften darauf hin, daß man es hier mit Resultaten der Anwendung morphologischer Muster zu tun hat, die das Erstglied als V-Partikel einfuhren.

7

Man beachte, daß diese N o m i n a lexikalisiert sind und damit die in 4.1.4.1 (E4) erwähnte Bedingung für Rückwärtsbildungsbasen erfüllen.

8

Vgl. 4.1.4.2 ad E4.

150 5.2

Das System der Alt-GZS

Für die Alt-GZS spezifische Schreibungen, die O l widersprechen

Nicht alle Spatiensetzungen der Alt-GZS, die durch die Reform geändert wurden, folgen O l . Im Widerspruch zu dieser Beschränkungsordnung steht z.B. die Zusammenschreibung einer Gruppe von lexikalisierten trennbaren Inf+VKomplexen zu. (5) ist eine nicht ganz vollständige Liste dieser Fälle: (5)

, , , , , , , , , , ,

Wenn diese Schreibungen O l entsprächen, müßten die Zeichen morphologisch gebildet sein. Daß sie das nicht sind, zeigt vor allem die fehlende lexikalische Reihenbildung. Lexikalische Reihen, wie sie durch Komposition, Konversion oder Rückwärtsbildung entstehen, kommen ohnehin nicht in Frage, und solche, wie sie bei Mustern zu erwarten wären, die bleiben-, flöten- etc. als VPartikeln einführen (vgl. 4.1.4.2 ad Ε10), sind auch in den umfangreichsten deutschen Wörterbüchern nicht auffindbar. 9 Darüber hinaus fällt auf, daß die transitiven Beispiele nicht mit - b a r adjektiviert werden können, vgl. *kennenlernbar, * bleibenlaßbar (was sich nicht auf semantische Beschränkungen für die Adjektivierung zurückführen läßt, vgl. lernbar, unterlaßbar). Die weiteren Eigenschaften der Beispiele in (5) passen zu diesem Befund, insbesondere die Tatsache, daß ihre verbalen Zweitglieder auch syntaktisch mit Infinitivergänzungen verbunden werden können und daß außerdem die meisten der Beispiele eine entsprechende syntaktisch-kompositionale Lesart zusätzlich zu der in (5) vorliegenden lexikalisierten Lesart haben, in der sie jedoch getrennt geschrieben werden, z.B. daß man Behinderte in öffentlichen Verkehrsmitteln sitzen läßt, daß er während der Eröffnungsrede stehen blieb. Diese große formale Nähe zu syntaktisch gebildeten Komplexen bei gleichzeitiger Abweichung von der bei syntaktischer Bildung zu erwartenden Bedeutung 10 läßt vermuten, daß man es mit einer bestimmten Art von Phraseologis9

10

Man beachte, daß sich sitzenbleiben, sitzenlassen keiner gemeinsamen Reihe subsumieren lassen, da sie sich semantisch und im Hinblick auf ihre Valenz unterscheiden. Das Gleiche gilt für stehenbleiben, stehenlassen. Nur bei spazieren könnte man an eine beginnende Reihenbildung denken, wegen spazieren{-fahren, -gehen, -reiten}. Wenn z.B. auch spazierenlaufen, spazierenjoggen akzeptabel würden, wäre wohl die Schwelle zu einer V-Partikel spazieren· überschritten. (Daß bei einigen der Beispiele Reihenbildung hinsichtlich des flektierbaren verbalen Zweitglieds zu beobachten ist, z.B. {hängen-, kleben-, liegen-}bleiben, weist nicht auf ein morphologisches Bildungsmuster hin, vgl. 4.1.4.3 ad E10.) Diese Abweichung ist allerdings bei Spazierengehen und kennenlernen nicht sehr deutlich und wurde deshalb in der Literatur manchmal nicht bemerkt. Spazierengehen bedeutet nicht 'sich zum Spazieren begeben', wie bei syntaktischer Bildung zu erwarten (vgl. schwimmen gehen, bummeln gehen), sondern 'einen Spaziergang machen'. Die Bedeutung von kennenlernen, also in etwa 'mit etwas/jemandem vertraut werden', läßt sich schon deshalb nicht syn-

151

Für die Alt-GZS spezifische Schreibungen, die O l widersprechen

men zu tun hat. So könnten die Bildungen S-Inkorporationen sein. Tatsächlich weisen einige von ihnen die für S-Inkorporationen typische Verlagerung des Bedeutungsschwerpunkts vom Zweit- auf das Erstglied (vgl. 4.1.4.3) auf, etwa kennenlernen und Spazierengehen. Bei anderen liegt dagegen eher eine metaphorische Umdeutung der ursprünglichen syntaktisch-kompositionalen Interpretation vor, z.B. bei flötengehen, sitzenbleiben und sitzenlassen. Auch bei anderen verbalen Komplexen, deren durch die Reform aufgehobene Zusammenschreibung in der Alt-GZS gegen O l verstößt, handelt es sich um phraseologische Bildungen: (6)

a. , , , , , , , , , , , , , , b. ,

Die bei (5) gegen eine morphologische Bildung angeführten Gesichtspunkte treffen auch auf (6) zu. Eine lexikalische Reihenbildung, die das Wirken eines in Frage kommenden morphologischen Bildungsmusters belegen könnte, läßt sich bei keinem der Beispiele nachweisen, 11 und die Adjektivierung mit -bar ist auch bei den Beispielen, die semantisch und im Hinblick auf ihre Valenz dafür geeignet sein sollten, meist wenig akzeptabel, vgl. ??gefangennehmbar, ?? heiligsprechbar. Mehrere der Bildungen weisen wieder die typischen Merkmale von SInkorporationen auf, vor allem einen im Vergleich mit einer entsprechenden syntaktisch-kompositionalen Bildung vom Zweit- auf das Erstglied verlagerten Bedeutungskern, etwa fertigstellen, geringschätzen, ruhigstellen, verlorengehen, zufriedenstellen. Bei anderen Beispielen, etwa glattgehen, heiligsprechen, hofhalten, mündigsprechen oder haltmachen, liegt eher eine lexikalisierte pragmatische Spezifizierung oder Metaphorisierung der entsprechenden syntaktisch-kompositionalen Bedeutung vor. 12 Im Hinblick auf ihre Form zeichnen sich die Beispiele wieder durch eine große Nähe zu syntaktischen Bilduntaktisch-kompositional aufbauen, weil im heutigen Deutsch lernen

mit Verben w i e

kennen

semantisch nicht verträglich ist. (Man kann nicht lernen, etwas zu kennen, ebensowenig, wie man lernen kann, etwas zu wissen oder zu erfahren.) 11

Bei einhergehen

gilt das allerdings nur fur die Lesart 'mit etwas anderem zusammen auftre-

ten', w i e in weil mil der Hungersnot ren Lesart ist einhergehen

ein allgemeiner

Sittenverfall

einherging.

In einer ande-

ein morphologisches Partikelverb, zu dem es eine entsprechende

Reihe gibt, nämlich einher{-fahren,

-gehen,

-schleichen,

-stolzieren,

...}.- Bei

könnte man vielleicht eine Rückwärtsbildung vermuten, nämlich auf der Basis von tung oder des veralteten Hoßialt.

hoflxalten Hoflial-

Weitere Hinweise darauf, daß das Beispiel durch Rück-

wärtsbildung entstanden sein könnte (etwa eine syntaktisch nicht wohlgeformte Verbindung von Erst- und Zweitglied oder ein unvollständiges Paradigma), fehlen jedoch. 12

Vgl. 4.1.4.1 (E7).

152

Das System der Alt-GZS

gen aus, bei (6a) zu Bildungen, in denen das Verb mit einem objekt- oder subjektprädikativen Adverbial verbunden wird, bei (6b) zu Verbindungen aus Akkusativobjekt und Verb. Die durchgehende Erstgliedbetonung wäre ebenfalls bei syntaktischer Bildung zu erwarten. Schwierig ist die Frage der Übereinstimmung mit O l bei einer Gruppe von komplexen Adjektiven, die in der Neu-GZS immer getrennt geschrieben werden, in der Alt-GZS jedoch eine differenzierte Spatiensetzung haben: In prädikativer V e r w e n d u n g müssen sie getrennt geschrieben werden, als Attribute können sie dagegen auch zusammengeschrieben werden, z.B. vs. oder , vs. oder . Dabei korreliert die Getrenntschreibung mit der Betonung beider Teilglieder, während die bei attributiver V e r w e n d u n g mögliche Z u s a m m e n s c h r e i b u n g mit Erstgliedbetonung

verbunden ist, z.B. Das Wasser ist kochend heiß, das kochend heiße Wässer, das kochendheiße Wässer, vgl. R209 in den Rechtschreibrichtlinien des Dudens von 1991. - Die in dieser Weise mit unterschiedlichen Funktionen bzw. Betonungen einhergehenden Schreibungen würden aus O l folgen, wenn die fraglichen Adjektivkomplexe jeweils ambig wären zwischen einer syntaktisch gebildeten und (mangels Integration, vgl. 4.6.3) auf beiden Teilgliedern betonten Adjektivphrase einerseits und einem morphologisch gebildeten, auf dem Erstglied betonten Adjektivkompositum andererseits und wenn sie in ihrer Lesart als morphologische Bildung nicht prädikativ verwendet werden könnten, also zu jenen Adjektiven gehörten, die, wie heutig oder recht(er), nur attributiv vorkommen. Dann hätte man bei attributiver Verwendung die Wahl zwischen einer syntaktisch gebildeten, also nach O l getrennt zu schreibenden, und einer morphologisch gebildeten, also nach O l zusammenzuschreibenden Variante, während prädikativ nur die syntaktisch gebildete Variante zur Verfügung stünde, die natürlich getrennt zu schreiben ist. Für kochendheiß läßt sich allerdings die in diesem Analyseentwurf enthaltene Annahme, daß die fraglichen Adjektivkomplexe in einer Lesart morphologisch gebildet sind, kaum unabhängig rechtfertigen. Gegen eine morphologische Bildung sprechen die folgenden Punkte: (a) Partizip-I-Formen sind als Erstglieder eindeutig morphologisch gebildeter Adjektive nicht belegt, vgl. z.B. triefnaß vs. *triefendnaß, treffgenau vs. * treffendgenau (eine Manifestation der Abneigung morphologischer Bildungen gegen interne Flexion, vgl. (E3) in 4.1.4.1). (b) Deswegen werden entsprechende Bildungen auch in den allermeisten Fällen getrennt geschrieben, z.B. schreiend bunt, brüllend komisch. Der einzige andere zusammengeschriebene Adjektivkomplex dieser Art, den ich finden konnte, ist siedendheiß, (c) Es gibt zu kochendheiß keine ausreichend umfangreiche lexikalische Reihe, (d) Schließlich fehlen auch weitere unabhängige Hinweise auf einen morphologischen Status von kochendheiß, etwa Außenkomparation oder Antonymisierbarkeit mit un-.

Operative Beschränkungen und lexikalische Trends in der Alt-GZS

153

Wenn aber kochendheiß nicht morphologisch gebildet ist, widerspricht die Zusammenschreibung O l . Es handelt sich, so nehme ich an, um einen weiteren Fall eines zusammengeschriebenen Phraseologismus. Die obigen Annahmen zur Erklärung der differentiellen Spatiensetzung wären damit f ü r den Fall kochend heiß vs. kochendheiß dahingehend zu modifizieren, daß eine Ambiguität zwischen einer auf beiden Teilgliedern betonten syntaktischen Phrase und einem auf dem Erstglied betonten Phraseologismus vorliegt, wobei der Phraseologismus im Gegensatz zur syntaktischen Phrase nicht prädikativ verwendet werden kann. (Zur näheren Charakterisierung dieses Phraseologismus s. 5.3.) Bei leicht verdäulich vs. leichtverdaulich ist der morphologische Status der zusammengeschriebenen Lesart dagegen unproblematisch. Das Erstglied leicht- ist j a auch bei eindeutigen Adjektivkomposita möglich (vgl. leichtblütig, leichtfertig, leichtgeschürzt), und zudem gibt es eine lexikalische Reihe, der sich leichtverdaulich einordnen läßt: leicht {-entzündlich, -verdaulich, verderblich, -verständlich, ...} (alle nur attributiv verwendbar). 1 3 Allerdings ist auch hier keine Außenkomparation möglich, vgl. lldie leichtverdaulichsten Speisen, aber das allein zeigt noch nicht, daß kein morphologisch gebildetes Adjektiv vorliegt. 14 Einige weitere O l widersprechende Schreibungen werden in 5.4 diskutiert.

5.3 Operative Beschränkungen und lexikalische Trends in der Alt-GZS Der großen Zahl der Schreibungen der Alt-GZS, die O l gehorchen (vgl. 5., 5.1), könnte man am einfachsten dadurch Rechnung tragen, daß man annimmt, daß diese hier wiederholte Ordnung nicht nur dem System der Kern-GZS zugrunde liegt, sondern auch die in der Alt-GZS operativen Spatiensetzungsbeschränkungen adäquat charakterisiert:

13

14

Die Tatsache, daß als Basen ausschließlich deverbale Adjektive mit - l i e h involviert sind (vgl. z.B. leicht verstehbar, das zwar als syntaktische Phrase, aber nicht als auf dem Erstglied betonte morphologische Bildung existiert), läßt vermuten, daß das für die Reihe konstitutive Bildungsmuster eine entsprechende Beschränkung enthält. Ich vermute, daß es sich um ein Muster handelt, das leicht- als reihenbildendes Kompositionsglied einführt. (Das Muster scheint darüber hinaus nicht sehr produktiv zu sein, vgl. die nicht-existenten Bildungen leichtabkömmlich, leichtvergänglich.) Die Nicht-Komparierbarkeit könnte daran liegen, daß das Erstglied leicht- in der hier vorliegenden Bedeutung 'einfach zu tun' das Adjektiv bereits inhärent graduiert. (Inhärent graduierte Adjektive können oft nicht kompariert werden.)

Das System der Alt-GZS

154 (Ol)

*SPAT-ZR »

(Zus-AM »

((GETR-ZT/ »

Zus-MORPH / Zus-KLITIKA »

Z u s - K S / GETR-LS)) »

GETR-AUSDR) /

*SPAT

W a s die s p e z i f i s c h e n I n t e r f a c e - G e s e t z e und die a u t o n o m e n G e s e t z e in O l b e t r i f f t , a l s o GETR-Z(7, ZUS-KLITIKA b z w .

*SPAT-ZR, ZUS-AM, ZUS-KS,

GETR-LS, *SPAT, läßt sich diese A n n a h m e leicht rechtfertigen: Es gibt im Hinblick auf die von diesen Gesetzen b e t r o f f e n e n P h ä n o m e n e keinen Unterschied zwischen der Alt- und der Neu-GZS. 1 5 In dieser Hinsicht gilt also KernG Z S = A l t - G Z S = N e u - G Z S . D a m i t ist klar, daß die genannten spezifischen b z w . a u t o n o m e n G Z S - G e s e t z e , w e n n sie in der in O l angegebenen O r d n u n g die einschlägigen Verhältnisse in der K e r n - G Z S adäquat erfassen, dies auch in der Alt-GZS und in der N e u - G Z S tun. A u f w e n d i g e r ist es, die A n n a h m e , die A l t - G Z S gehorche denselben operativen G e s e t z e n w i e die K e r n - G Z S , auch im Hinblick auf die allgemeinen Interface-Beschränkungen ZUS-MORPH » GETR-AUSDR plausibel zu m a c h e n . U m das zu tun, will ich zeigen, daß sich in den mit diesen B e s c h r ä n k u n g e n k o n f l i g i e r e n d e n Schreibungen der A l t - G Z S (vgl. 5.2) keine zusätzlichen allgemeinen Interface-Gesetze manifestieren, die dann mit O l noch nicht erfaßt wären, sondern daß diese Schreibungen den Charakter von lexikalischen Irregularitäten haben. W e n n sie irregulär sind, dürfen die fraglichen Schreibungen keine neu gebildeten, sondern nur lexikalisierte Zeichen betreffen. (Irregularität setzt j a Lexikalisierung voraus.) Und das trifft tatsächlich auf alle in 5.2 genannten Fälle zu, e b e n s o wie auf die unten noch zu ergänzenden Beispiele f ü r nicht durch O l erfaßte Schreibungen der Alt-GZS. Dabei lassen sich viele von ihnen dem schon anhand der K e r n - G Z S ermittelten lexikalischen Trend zur Zusammenschreibung von Semi-Partikelverben ( Z U S - S E M I P A R T ) subsumieren. M a n erinnere sich: Semi-Partikelverben sind trennbare verbale Komplexe, die nicht auf reihenbildende morphologische Muster zurückgeführt werden können, denen aber außer der Trennbarkeit auch die typischen Eigenschaften syntaktischer Bildungen abgehen, also Erweiterung/Erweiterbarkeit der Teilausdrücke, syntaktische K o m p o s i t i o n a l i t ä t und eine deutlich e r k e n n b a r e interne K R Valenzabgleichung (vgl. 4.4.2). Genau das liegt z.B. bei den meisten der in 5.2 unter (6a) genannten K o m p l e x e vor. Sie verhalten sich im Hinblick auf die fiir die K l a s s i f i z i e r u n g als Semi-Partikelverben relevanten E i g e n s c h a f t e n exakt parallel zu den in 4.4.2 diskutierten A d j + V - K o m p l e x e n , die auch in der KernG Z S z u s a m m e n g e s c h r i e b e n werden, z.B. bloßstellen, freihaben, gutschreiben, kundgeben, weismachen. A u s n a h m e n sind einhergehen, glattgehen, gutgehen und leichtfallen, deren Erstglied syntaktisch erweiterbar ist, vgl. Damit einher

15

Kein einziger der Paragraphen der amtlichen Neuregelung der GZS (Duden 1997) betrifft einen dieser Aspekte.

Operative Beschränkungen und lexikalische Trends in der Alt-GZS

155

ist gegangen, daß..., Es ist mir {zu glatt, zu gut} gegangen, Es ist ihm zu leicht gefallen. Ansonsten sind auch diese Beispiele parallel zu Partikelverben und ihre Schreibung eine Manifestation der T e n d e n z zur Übertragung der Z u s a m m e n s c h r e i b u n g auf Fälle, die Ähnlichkeiten zu m o r p h o l o g i s c h e n Bildungen aufweisen. 1 6 A u c h bei den in (5) aufgelisteten I n f + V - K o m p l e x e n kann m a n fast alle Charakteristika von Semi-Partikelverben diagnostizieren: Sie sind trennbar, nicht syntaktisch kompositional, und sie haben keine erweiterten/erweiterbaren Teilausdrücke. Letzteres belegt etwa die Inakzeptabilität von *(Diesen Unsinn bleiben) solltest du lassen (für 'Du solltest diesen Unsinn bleiben lassen') oder *{Im Aufzug stecken) ist er nicht geblieben (für 'Er ist nicht im A u f z u g stekkengeblieben'). Eine Einschränkung muß man im Hinblick auf die interne K R V a l e n z a b g l e i c h u n g m a c h e n : N a c h üblicher A u f f a s s u n g wird innerhalb von syntaktisch gebildeten I n f + V - K o m p l e x e n eine K R - V a l e n z f o r d e r u n g des Verbs abgeglichen, das V e r b regiert also den Infinitiv. Der Infinitiv ist j e d o c h auch die D e f a u l t - F o r m von nicht-finiten Verben, die Form also, in der sie erscheinen, w e n n keine diesbezügliche Forderung aus der syntaktischen U m g e b u n g wirksam ist. 17 Damit ist in den fraglichen Fällen der Status des Infinitivs als regierte Form (ähnlich wie der des N o m i n a t i v s beim Subjekt) kein sehr deutlicher, und entsprechend kann man hier auch die K R - V a l e n z a b g l e i c h u n g als nicht sehr deutlich ausgeprägt bezeichnen - womit dann auch dieses Charakteristikum von Semi-Partikelverben vorläge. Bei den unter (6b) genannten N + V - K o m p l e x e n hofhalten, haltmachen und einigen weiteren Beispielen dieser Art ist die interne K R - V a l e n z b e z i e h u n g noch deutlicher, aber auch sie sind w e d e r syntaktisch-kompositional noch haben sie erweiterte/erweiterbare Teilausdrücke. Auch hier wird also die Zus a m m e n s c h r e i b u n g auf Fälle ü b e r t r a g e n , die t r e n n b a r e n m o r p h o l o g i s c h e n Bildungen zumindest sehr ähnlich sind. Als weiteren lexikalischen Trend, dem irreguläre Schreibungen folgen, haben wir in der K e r n - G Z S den zur Zusammenschreibung von Univerbierungen (ZUS-UNIV) identifiziert (vgl. 4.4.1), und natürlich ist auch dieser Trend in der A l t - G Z S w i r k s a m . W ä h r e n d j e d o c h die G e s a m t z a h l der z u s a m m e n g e schriebenen Semi-Partikelverben in der A l t - G Z S wesentlich größer ist als in der K e r n - G Z S , ergibt sich bei den z u s a m m e n g e s c h r i e b e n e n Univerbierungen kein e n t s p r e c h e n d e r quantitativer Unterschied. D a s liegt daran, daß die Z u s a m m e n s c h r e i b u n g vieler Semi-Partikelverben, nämlich gerade j e n e r , die in 5.2 g e n a n n t w u r d e n , i n f o l g e von V e r ä n d e r u n g e n der o p e r a t i v e n G Z S B e s c h r ä n k u n g e n in der N e u - G Z S a u f g e h o b e n wurde, w ä h r e n d dieselben Sys t e m v e r ä n d e r u n g e n die Zusammenschreibung von Univerbierungen unberührt

16 17

Zur Getrenntschreibung dieser Verben bei syntaktischer Erweiterung vgl. 5.4. Das wird z.B. dadurch belegt, daß Verb(alphras)en in der Position eines freien Topiks stets im Infinitiv sind, z.B. So lange joggen, da muß man schon sehr fit sein.

156

Das System der Alt-GZS

ließen (vgl. 8.3 bzw. 8.4). Soweit ich sehe, werden mit einer Einschränkung alle in der Alt-GZS zusammengeschriebenen Univerbierungen auch in der Neu- und damit in der Kern-GZS ohne Spatien geschrieben. 18 Die Einschränkung betrifft kochendheiß, siedendheiß und vielleicht noch ein paar andere Adjektivkomplexe mit partizipialem Erstglied, die in der NeuGZS nicht mehr zusammengeschrieben werden. Wenn diese lexikalisierten Bildungen, wie wir in 5.2 vermuteten, keine morphologischen Bildungen sind, liegt es nahe, sie den Univerbierungen zuzuordnen. Die Erstgliedbetonung könnte man bei dieser Analyse darauf zurückfuhren, daß bei der Lexikalisierung der als Univerbierungsbasis dienenden syntaktischen Phrase eine ursprünglich rein rhythmisch bedingte Akzentverschiebung - kdchend hiiße Suppe => kochend heiße Stippe - konventionalisiert wurde. 19 Wenn man also die O l widersprechenden Schreibungen der Alt-GZS als irregulär betrachtet, wie es die Tatsache nahelegt, daß keine neu gebildeten, sondern ausschließlich lexikalisierte Zeichen betroffen sind, muß man weder leugnen, das sich in vielen dieser Fälle eine gewisse Systematik zeigt, da sie ja den lexikalischen Trends ZUS-SEMIPART und ZUS-ÜNIV folgen, noch muß man auf eine kognitive Motivierung dieser Schreibungen verzichten, handelt es sich doch durchgehend um Manifestationen der schon in 4.4 erläuterten natürlichen Tendenz der Überdehnung der Kategorie 'morphologische Bildung' - und damit der Zusammenschreibung - auf Fälle, die große Ähnlichkeiten zu morphologischen Bildungen aufweisen. Wenn man dagegen versuchen wollte, die fraglichen Schreibungen auch nur teilweise als regulär, also der Ordnung der operativen GZS-Beschränkungen gehorchend, zu analysieren, stieße man wieder auf die Probleme, die in 4.4.1 - 4.4.3 bei der Diskussion entsprechender Fälle in der Kern-GZS beschrieben wurden. Es wäre dann j a erforderlich, entweder (a) bei Beibehaltung von Ol die Bedingungen für das Vorliegen morphologischer Bildungen abzuschwächen oder (b) andere Beschränkungen in die Ordnung einzubauen. Bei (a) dürfte man von morphologischen Bildungen insbesondere nicht mehr fordern, daß sie sich in eine auf das Wirken eines entsprechenden Bildungsmusters hinweisende Reihe einordnen lassen, was unweigerlich zu Konflikten mit der Getrenntschreibung zahlreicher Phraseologismen und bestimmter regulärer syntaktischen Bildungen fuhren würde, vgl. 4.4.2. Die Strategie (b) stieße, wenn sie auf der Einführung von zusätzlichen strukturbezogenen Beschränkungen beruhte, auf die Art von Schwierigkeiten, die in 4.6 ausführlich dargestellt wurden. Die Alternative, ZUS-SEMIPART und ZUS-UNIV in der Rang operativer Beschränkungen zu erheben, wäre kaum

18

Darüber hinaus werden in der Neu-GZS eine Reihe von Univerbierungen optional zusammengeschrieben, die in der Alt-GZS noch getrennt zu schreiben waren, vgl. 8.4.

19

Solche Akzentverschiebungen in attributiven Komplexen dienen der Erzeugung alternierender rhythmischer Muster (bzw. der Vermeidung von 'beat clashes') und sind aus der phonologischen Literatur wohlbekannt, vgl. z.B. Hogg/McCully (1987: 128 - 154).

Operative Beschränkungen und lexikalische Trends in der Alt-GZS

157

attraktiver, betreffen die entsprechenden Gesetzmäßigkeiten doch ausschließlich lexikalisierte Beispiele, und diese noch nicht einmal ausnahmslos. 2 0 Ich k o m m e zu folgendem Fazit: Die Spatiensetzung bei allen neu gebildeten Zeichen sowie bei der Mehrzahl der lexikalisierten Zeichen ergibt sich in der Alt-GZS aus der schon fur die Kern-GZS ermittelten Beschränkungsordnung O l . 2 1 Schreibungen der Alt-GZS, die im Widerspruch zu O l stehen, betreffen dagegen ausnahmslos lexikalisierte Zeichen. Diese Schreibungen müssen als Irregularitäten betrachtet werden, die allerdings in vielen Fällen eine gewisse Systematik zeigen, indem sie den sich ebenfalls schon in der Kern-GZS abzeichnenden lexikalischen Trends Z U S - U N I V o d e r Z u s - S E M L P A R T folgen, die durch die große Ähnlichkeit von Univerbierungen bzw. SemiPartikelverben zu morphologischen Bildungen motiviert sind. Ähnlichkeiten zu morphologischen Bildungen stehen auch hinter diversen isolierten, nicht diesen Trends subsumierbaren irregulären Zusammenschreibungen. Das Verhältnis regulärer, O l folgender Spatiensetzungen, zu irregulären, O l widersprechenden Schreibungen in der Alt-GZS stellt sich also in etwa wie folgt dar:

20

Zu den zahlreichen Ausnahmen zu ZUS-UNIV vgl. 4.4.1. Ausnahmen zu ZUS-SEMIPART finden sich besonders häufig unter S-Inkorporationen mit univerbiertem PP-Erstglied. So hat zustande bringen alle Merkmale eines Semi-Partikelverbs: Es ist trennbar, die Teilausdrücke sind nicht erweitert/erweiterbar (infolge der Univerbierung verliert die Präposition den Status einer syntaktischen Erweiterung des Nomens), die Verbindung ist syntaktisch nicht-kompositional, und es gibt keine erkennbare interne KR-Valenzabgleichung. Bildungen dieser Art werden jedoch in der Alt-GZS (und erst recht in der Neu-GZS) meist getrennt geschrieben. Auch manche getrennt geschriebenen S-Inkorporationen mit nominalem Erstglied haben die Merkmale von Semi-Partikelverben, z.B. Gefahr laufen.

21

Daß auch bei lexikalisierten Zeichen O l folgende Schreibungen bei weiterm überwiegen, manifestiert sich z.B. darin, daß allein schon die Zahl der lexikalisierten N+N-Komposita mit Ol-konformer Zusammenschreibung (Freiheitskampf Gepäckträger, Herdentrieb, Liebeslied ...) die der irregulär geschriebenen Univerbierungen und Semi-Partikelverben mit Sicherheit weit übersteigt.

158

Das System der Alt-GZS

I

VII

Γ

II

v

II VI

o

Dabei bedeutet durchgezogene Umrandung: Zusammenschreibung, gestrichelte Umrandung: Getrenntschreibung, rechteckige Umrandung: reguläre Schreibung, ovale Umrandung: irreguläre Schreibung. Die Numerierung der Felder ist so zu verstehen: I: Morphologische Bildungen, II: nicht-morphologische Bildungen, III: Univerbierungen, IV: Semi-Partikelverben, V: andere trennbare Verben mit Ähnlichkeiten zu morphologischen Bildungen, VI: Klitika, VII: Infinitive mit vorangestelltem zu. Von dieser Analyse fuhrt ein Weg zu der verbreiteten Einschätzung, die Alt-GZS sei im Laufe ihrer historischen Entwicklung mit Aufgaben belastet worden, die sich nicht aus ihren Grundgesetzen ergeben. Die Kennzeichnung von Univerbierungen und Semi-Partikelverben durch Zusammenschreibung kann man j a durchaus als eigentlich systemfremde (nämlich nicht aus O l folgende) Aufgaben deuten, die sich infolge von Aufweichungen des Begriffs der morphologischen Bildung in das GZS-System 'eingeschlichen' haben, wenn auch nur in Form lexikalischer Trends. In der Literatur wird allerdings in diesem Zusammenhang meist ein anderer Faktor genannt: In der Alt-GZS sei das ihr eigentlich f r e m d e Prinzip der graphischen Homonymendifferenzierung wirksam, daß man ansonsten aus dem Bereich der Laut-Buchstaben-Beziehung kennt. 22 Als Paradebeispiele hierfür gelten Schreibungen, die zu den oben unter (1) - (6) exemplifizierten Fallklassen gehören, etwa vs. , vs. , vs. , vs. , vs. usw. Tatsächlich ist jedoch die disambiguierende Wirkung solcher Schreibungen, soweit sie O l folgen, nur ein Epiphänomen, näm-

22

Vgl. Gallmann/Sitta (1996: 1 lOff.); ähnlich Herberg (2000: 163).

Operative Beschränkungen und lexikalische Trends in der Alt-GZS

159

lieh eine Folge des für morphologisch gebildete und deshalb zusammenzuschreibende Zeichen typischen Fehlens einer syntaktisch-kompositionalen SR (vgl. 4.1.4. E7), das dazu führt, daß diese Zeichen in aller Regel eine andere Bedeutung haben als syntaktisch gebildete Entsprechungen mit derselben Segmentfolge (falls es solche Entsprechungen gibt). So wird nichtssagend aus der Sicht der hier vorgeschlagenen Analyse nicht deswegen zusammengeschrieben, weil man einen graphischen H i n w e i s auf den B e d e u t u n g s unterschied zu nichts sagend geben möchte, sondern weil es sich um ein morphologisch gebildetes (nämlich durch Zusammenbildung entstandenes, vgl. 5.1) Zeichen handelt. Die Bedeutungsdifferenzierung ist also nur ein - sicher nicht unwillkommener - Nebeneffekt. 2 3 Für diese Sicht spricht u.a., daß morphologisch gebildete Zeichen j a auch dann zusammengeschrieben werden, wenn sie kein syntaktisches Pendant mit der gleichen Segmentfolge haben, wenn also eine Homonymendifferenzierung gar nicht erforderlich ist. Das gilt für die große Mehrzahl aller morphologischen Bildungen, z.B. , usw. Analog ist die disambiguierende Wirkung von irregulären Zusammenschreibungen wie vs. , vs. nach obiger Analyse nicht die Raison d'etre dieser Schreibungen, sondern ein Nebeneffekt der lexikalischen Trends ZUS-SEMIPART bzw. ZUS-UNIV. Allenfalls könnte man vermuten, daß unter den diese Trends motivierenden Ähnlichkeiten zu m o r p h o l o g i s c h e n Bildungen der nicht syntaktisch-kompositionalen SR und damit der Bedeutungsdifferenz zu entsprechenden syntaktischen Bildungen eine besonders wichtige Rolle zukommt. Tatsächlich haben j a alle Semi-Partikelverben und die große Mehrzahl der Univerbierungen eine Bedeutung, die sich bei syntaktischer Bildung nicht ergäbe. Ob das aber das wichtigste Motiv für die Angleichung der GZS dieser Zeichenklassen an die von morphologischen Bildungen war, ist fraglich. Die Beispiele wären, so weit ich sehe, auch mit der Annahme kompatibel, daß die Nicht-Erweiterbarkeit der Teilausdrücke, das Fehlen einer deutlichen internen KR-Valenzabgleichung oder - am wahrscheinlichsten - das Zusammenwirken all dieser für syntaktische Bildungen untypischen Eigenschaften ausschlaggebend für die Übernahme der G Z S morphologischer Bildungen war. Im übrigen kommt auch hier eine Motivierung der Zusammenschreibung durch den Wunsch nach Homonymendifferenzierung oft gar nicht in Frage, denn zu den meisten Univerbierungen und auch zu nicht wenigen Semi-Partikelverben gibt es keine syntaktisch bildbare Entsprechung, z.B. allerorten vs. *aller Orten, stattgeben vs.

* Statt geben?'' 23

24

Dieser Nebeneffekt kann natürlich in Texten in den Vordergrund gerückt werden, etwa durch explizite Kontrastierung mit dem syntaktisch gebildeten Pendant, z.B. (Überschrift in der SZ vom 10./11. 11. 2001). In diesem Zusammenhang ist auch zu beachten, daß die in 4.6.6 angeführten Argumente gegen die Annahme, fehlende syntaktische Kompositionalität sei ein für die Kern-GZS ver-

160

Das System der Alt-GZS

5.4 Eingeschränkte Geltung lexikalischer Festlegungen Die wenigen irregulär zusammengeschriebenen Verben, deren Erstglied syntaktisch erweitert werden kann, (vgl. 5.3) werden getrennt geschrieben, wenn eine Erweiterung tatsächlich erfolgt, z.B. , vs. , . Wir haben es hier mit einem Phänomen zu tun, auf das wir schon in 4.4.2 gestoßen sind: Die lexikalisierte Schreibung erfaßt nur die Realisierungsformen, bei denen das jeweilige Zeichen tatsächlich als KR-Konstituente im Satz vorkommt. Bei den in 4.4.2 diskutierten Semi-Partikelverben fielen dadurch Realisierungen, bei denen Teilglieder bewegt werden, aus dem Gültigkeitsbereich der lexikalischen Festlegung heraus. Zum gleichen Effekt führt aber auch die syntaktische Erweiterung. Die KR-Struktur der oben genannten Beispiele ist ja Es ist ihm ((zu gut) gegangen) bzw. Es ist ihm ((überaus leicht) gefallen). Demnach sind gutgehen und leichtfallen (bzw. die Partizipformen gutgegangen und leichtgefallen) keine KR-Konstituenten dieser Sätze, die lexikalische Festlegung der GZS greift also nicht, und damit wird der Weg frei für eine reguläre, Ol entsprechende Getrenntschreibung. Einen ähnlichen Zusammenhang vermute ich hinter der Tatsache, daß die Alt-GZS für finite und nicht-finite Realisierungsformen mancher X+KopulaKomplexe eine unterschiedliche Spatiensetzung fordert: (7)

a. , , , b. , , ,

In der Zusammenschreibung der nicht-finiten Versionen (7a) manifestiert sich offensichtlich wieder die inzwischen vertraute lexikalische Tendenz Z u s S E M I P A R T : E S geht jeweils um nicht syntaktisch-kompositionale Lesarten, bei denen die Teilausdrücke weder erweiterbar sind noch einer internen KRValenzabgleichung unterliegen. 25 Doch warum werden die Verben in denselben Lesarten getrennt geschrieben, wenn sie finite Form annehmen, vgl. (7b)? Ich nehme an, daß auch hier die im Lexikon festgehaltene Schreibung nur einen Teil der Verwendungs-

25

antwortlicher Faktor, im vollem Umfang auch für die Alt-GZS gelten. Insbesondere werden natürlich auch in der Alt-GZS Phraseologismen (außer wenn sie Semi-Partikelverben oder Univerbierungen sind) in aller Regel getrennt geschrieben, ohne Rücksicht darauf, daß man damit in vielen Fällen darauf verzichtet, sie von ihren syntaktisch-kompositionalen Pendants graphisch zu unterscheiden, z.B. , , cjemandem den Kopf waschen> usw. So gilt die Schreibung laut Rechtschreib-Duden von 1991 (ebd.: 194) für die Lesarten 'gegenwärtig, zugegen, vorhanden sein', also für eine lexikalisierte Spezialisierung der syntaktisch-kompositionalen Interpretation 'sich in r befinden' (wobei "r" die durch da deiktisch angezeigte Raumregion ist). Entsprechend gilt für 'in guter körperlicher Verfassung sein' (ebd.: 149), ebenfalls eine nicht syntaktisch-kompositionale Lesart.

161

Eingeschränkte Geltung lexikalischer Festlegungen

möglichkeiten des jeweiligen Zeichens umfaßt. So sagt der Lexikoneintrag von beisammensein vermutlich nur etwas über die GZS des Infinitivs, also über die unmarkierte Realisierungsform des Verbs, sowie über die Partizipform aus. In allen anderen Fällen muß der Schreiber auf O l zurückgreifen - und folglich getrennt schreiben. 2 6 Der Unterschied zu den oben erwähnten Fällen besteht nur darin, daß aus dem Geltungsbereich der lexikalisch festgelegten GZS nicht nur Bewegungsrealisierungen und (falls möglich) solche mit syntaktischer Erweiterung herausfallen, sondern darüber hinaus sämtliche finiten Realisierungen. Unklar bleibt, warum es zu dieser Nicht-Berücksichtigung bestimmter Verwendungsweisen bei lexikalisch fixierten Schreibungen kommt. Man trifft j e d o c h auch in anderen Bereichen der Grammatik auf entsprechende Einschränkungen der Reichweite lexikalischer Festlegungen. 27 Im übrigen macht diese Erklärung der unterschiedlichen GZS verschiedener Formen desselben Lexems bestimmte Voraussagen, die zuzutreffen scheinen. So ist zu erwarten, daß die irreguläre, O l widersprechende GZS bei relativ 'lexikonnahen' Realisierungsformen des Lexems auftritt, zu denen immer die unmarkierte Realisierungsform des jeweilligen Stamms (bei Verben also der Infinitiv) gehört, während die reguläre Schreibung auf 'lexikonfernere' Realisierungsformen, zu denen nie die unmarkierte Realisierungsform, gehört, beschränkt sein sollte. Genau das liegt in den diskutierten Fällen vor.

26

Schaeder (1997a: 169) vermutet, daß Schreibungen w i e * vermieden werden, weil sie "leseerschwerend" sind. Er bezieht sich hier wohl darauf, daß in * an der Hiatusposition kein Spatium steht, was tatsächlich beim Lesen etwas irritierend ist. Das erklärt allerdings bei w e i t e m nicht alle e i n s c h l ä g i g e n Fälle, da j a z.B. bei

*,

* kein Hiatus und auch keine entsprechende Leseerschwerung vorliegt. Im übrigen gehört die schriftliche Hiatusüberbriickung generell nicht zu den Aufgaben der Spatiensetzung, vgl. , , usw. 27

Z.B. wird die lexikalisch festgelegte KR-Valenz bei manchen Verben durch eine rein pragmatische Festlegung der Anzahl der zu realisierenden Ergänzungen ersetzt, wenn die Verben im Imperativ verwendet werden (vgl. Blume 1993), z.B. weil er es ihm zeigt, *weil zeigt vs. Zeig mal.

*weil er

zeigt,

6. Bewertung des Systems der Alt-GZS 6.1 Komplexität, Homogenität, Systematizität Komplexität: Nach der im Vorangehenden dargestellten Analyse ist das System der Alt-GZS auf der Ebene der operativen Interface-Gesetze quantitativ recht einfach, jedenfalls gemessen daran, wie viele Gesetze dieser Art theoret i s c h in a u f d e m GRUNDPRINZIP DER SPATIENSETZUNG b e r u h e n d e n G Z S -

Systemen operativ sein könnten (vgl. 3.3). Es kommen ja nur vier InterfaceGesetze zum Tragen, für die große Mehrzahl der Fälle sogar nur zwei, nämlich Z U S - M O R P H u n d G E T R - A U S D R , d a GETR-ZU u n d ZUS-KLITIKA j a n u r s e h r

eng

beschränkte Phänomenbereiche betreffen. Qualitativ kann man dieses System dagegen nicht als einfach bezeichnen. Vor allem beruht die für die meisten Fälle von Zusammenschreibung verantwortliche Beschränkung Z U S - M O R P H auf einem Faktor, der hochkomplex ist, einerseits wegen der diffizilen Abgrenzung des Zuständigkeitsbereichs der Morphologie, die auf einer Verrechnung mehrerer Faktoren beruht (von denen aber keiner per se verantwortlich fur die Spatiensetzung ist), andererseits, weil sich die morphologische Bildung eines Zeichens nicht aus der Struktur des Zeichens ablesen läßt, sondern entscheidend von seiner Derivation abhängt. Man hat den Eindruck, daß sich die traditionelle deutsche GZS bei der Wahl zwischen einem System, das auf einer größeren Zahl konzeptuell einfacher Interface-Gesetze beruht, und einem, das wenige, aber z.T. konzeptuell komplexe Interface-Gesetze einsetzt, für die zweite Möglichkeit entschieden hat. Bei den autonomen Gesetzen, die in der in Ol festgehaltenen Weise mit den Interface-Gesetzen interagieren, sieht die traditionelle deutsche GZS dagegen eine größere Zahl von Einzelbeschränkungen vor (nämlich fünf, eigentlich sechs, da Zus-AM aus zwei Teilgesetzen besteht), von denen jede einzelne aber konzeptuell recht simpel ist, nämlich auf einer direkt aus der GR-Struktur ablesbaren Eigenschaft beruht. Homogenität·. Auch dieses Bewertungskriterium kann auf verschiedene Aspekte des Systems bezogen werden, z.B. darauf, ob alle Interface-Gesetze im GRUNDPRINZP DER SPATIENSETZUNG verankert sind, also auf einem Wortabgrenzungskriterium beruhen, oder ob zusätzlich andere Verschriftungsprinzipien wirksam werden, analog zur Laut-Buchstaben-Beziehung, in der das Grundprinzip der Segmentschreibung bekanntlich mit syllabographischen und logographischen Schreibprinzipien konkurriert. 1 Wie wir gesehen haben, sind jedoch alle operativen Interface-Gesetze im GRUNDPRINZP verankert, es gibt also keinen determinierenden Einfluß anderer Verschrif-

1

Vgl. Eisenberg (1998: 8.2). Daß diese Konkurrenz auf der Ebene der operativen Beschränkungen zu lokalisieren ist, zeigt Sternefeld (2000).

Komplexität, Homogenität, Systematizität

163

tungsprinzipien (etwa der Homonymendifferenzierung). - Homogen sind die Interface-Gesetze auch im Hinblick darauf, ist daß keines von ihnen auf einem PR-Faktor beruht. In der Alt-GZS ist also die lautliche Form von Zeichen per se nicht verantwortlich fiir die Spatiensetzung. In anderer Hinsicht sind die Faktoren, die den operativen InterfaceGesetzen zugrunde liegen, jedoch inhomogen. So ist der für GETR-AUSDR relevante Status von Zeichenabschnitten als Teilausdrücke, also als im weiten Sinn b e d e u t u n g s t r a g e n d e Konstituenten, eine paradigmatisch-semantische Eigenschaft, während sich der Faktor morphologische Bildung, auf dem Z u s MORPH beruht, keiner einzelnen Repräsentationsebene zuordnen läßt. (Morphologische Bildungsmuster sind j a ebenenübergreifend, vgl. 4.1.2.) Sehr uneinheitlich und zudem zahlreich sind außerdem die Indizien für die Einschlägigkeit der Beschränkung Zus-MORPH und der mit ihr zusammenhängenden lexikalischen Trends ZUS-UNIV und ZUS-SEMIPART. Zu diesen Indizien gehören die meisten der in der Literatur erwähnten Determinanten der GZS, vgl. 4.6. Wenn man das traditionelle deutsche Spatiensetzungssystem aus der Perspektive dieser Art von Einflußfaktoren betrachtet, stellt es sich als außerordentlich inhomogen und komplex dar. Als Einschränkung der Homogenität mag man es schließlich auch betrachten, daß die traditionelle deutsche GZS nach der dargestellten Analyse von zwei grundsätzlich verschiedenen Arten von Gesetzen gesteuert wird, nämlich einerseits von Interface-Gesetzen, andererseits von autonomen Gesetzen. In diesem Sinn sind jedoch auch andere Bereiche des deutschen Schriftsystems (ich vermute: aller Schriftsysteme) uneinheitlich: Gesetze, die auf die Eigenschaften der zu schreibenden lautsprachlichen Zeichen reagieren, wirken j a z.B. auch in der Laut-Buchstaben-Beziehung mit solchen zusammen, die ausschließlich die graphische Gestalt regeln. 2 Die Optimalitätstheorie ist ein ideales Instrument zur Explikation dieses Zusammenspiels von dependenten und autonomen Zügen von Schriftsystemen. 3

2

Eines von vielen Beispielen hierfür ist, daß die Markierung lautsprachlicher Silbengelenke durch Verdopplung des jeweiligen Konsonantengraphems nicht auf Di- und Trigraphen angewandt wird, z.B. vs. *, aber * vs. (vgl. Eisenberg 1998). Das weist auf das Wirken einer übergeordneten autonomen GR-Beschränkung hin. Zur Rolle autonomer Gesetze bei der Verwendung von vgl. Primus (2000), Neef/Primus (2001).

3

In der schriftlinguistischen Diskussion wurde die Frage Dependenz vs. Autonomie allerdings häufig nicht auf die fiir Schriftsysteme konstitutiven Gesetze bezogen, sondern auf die Genese der Systeme oder des Phänomens Schrift Uberhaupt, vgl. z.B. Glück (1987: 57 - 110), Dürscheid (2002: 1.3). Damit zusammenhängend wurde aus der "Autonomiehypothese" die methodische Position abgeleitet, daß Schrift als "Forschungsgegenstand eigenen Rechts" (Glück 1993: 78) betrachtet werden soll. Gerade wenn man diese Position teilt, wie ich es tue, darf man jedoch in der Systemanalyse nicht darauf verzichten, neben den autonomen auch die dependenten Aspekte angemessen zu berücksichtigen.

Bewertung des Systems der Alt-GZS

164

Systematizität: Wie wir gesehen haben, ist der verbreitete Eindruck, die AltGZS sei ziemlich unsystematisch, (vgl. Kap. 2) falsch. Vielmehr folgt die große Mehrzahl aller einschlägigen Schreibungen, insbesondere die aller neu gebildeten Zeichen, strikt dem durch O l explizierten System. Daneben gibt es eine deutlich kleinere, wenn auch nicht zu vernachlässigende Zahl von Irregularitäten, d.h. von Schreibungen, die diesem System widersprechen und deshalb einzeln im Lexikon festgehalten werden müssen. Die sich daraus ergebende Einschränkung der Systematizität der Alt-GZS wird allerdings selbst wiederum eingeschränkt durch die Tatsache, daß sich die Mehrzahl der irregulären Spatiensetzungen den lexikalischen Trends zur Zusammenschreibung von Univerbierung und Semi-Partikelverben unterordnet. Damit läßt sich die Schreibung dieser Fälle zwar nicht sicher, aber doch mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit voraussagen. Darüber hinaus wird die irreguläre, lexikalisch festgelegte GZS mancher Zeichen bei bestimmten lexikonfernen Realisierungen der Zeichen durch eine reguläre, O l folgende Schreibung ersetzt, vgl. 5.4.

6.2

Anwendungsaspekte

Angesichts der teilweise eingeschränkten Systematizität und der Komplikationen auf der Indizienebene mag man sich fragen, wie praktikabel die Alt-GZS in der alltäglichen Schreib-/Lesepraxis und im Hinblick auf ihren Erwerb ist. Die Klärung solcher anwendungsbezogenen Fragen gehört nicht zu den Zielen dieser Arbeit (vgl. 1.1), aber einige Bemerkungen hierzu erscheinen doch angebracht. Zunächst ist festzuhalten, daß sich die Alt-GZS in der didaktischen Forschung nicht als ein Bereich des Schriftsystems erwiesen hat, der in der Schreibpraxis oder beim Schrifterwerb besonders problematisch ist. So stellt Küttel (2000: 433) 4 mit Bezug auf die Alt-GZS fest: "Insgesamt bereitet die GZS Schreibern - auch Lernern - keine allzu großen Probleme. [...] Lernende bilden im Lesen- und Schreibenlernen einen intuitiven Wortbegriff heraus, der das Spatium in den meisten Fällen korrekt zu setzen erlaubt." 5 Weder die ein4 5

Ähnlich auch Küttel (2003: 385). Nach unserer Analyse umfaßt das intuitive Wissen, das beim Erwerb der GZS erworben wird, allerdings keinen "Wortbegriff', sondern eine Ordnung von auf Kriterien für Wortgrenzen beruhenden Gesetzen. - Übrigens ist die in diesen Gesetzen enthaltene Annahme einer Dependenz der GZS von lautsprachlichen Eigenschaften nicht mit der Annahme einer bestimmten Reihenfolge im Spracherwerb verbunden. Insbesondere zwingt die Wenn-X-dannY-Struktur der Interface-Beschränkungen nicht dazu, anzunehmen, daß das jeweilige lautsprachliche Konzept X (etwa das der morphologischen Bildung) vor der Fähigkeit, die Beschränkungen in Form einer Y entsprechenden Spatiensetzung anzuwenden, erworben wird. Die konditionale Struktur repräsentiert ja eine rein logische Beziehung (vgl. Anm. 28 in 3.3) und läßt das kognitive Verhältnis inklusive der Erwerbsreihenfolge des lautsprachlichen und des schriftsprachlichen Aspekts offen. Die Interface-Gesetze sind also durchaus mit der

Anwendungsaspekte

165

geschränkte Systematizität noch die komplizierte Indizienlage scheinen also das Erlernen und Praktizieren der Variante der deutschen GZS, die bis zur Rechtschreibreform gültig war, wesentlich behindert zu haben. Es gibt jedoch einige Phänomene im Bereich der Alt-GZS, die von vielen Forschern als für die Praxis schwierig bewertet wurden, weil sie einem "fortwährenden Entwicklungsprozeß" unterliegen und "Übergangszonen" bilden (Herberg 2000: 163). Genauer gesagt handelt es sich um Phänomene, bei denen die Frage, ob eine zur Zusammenschreibung führende Bildungsweise vorliegt, davon abhängt, ob ein gradueller Faktor im Lauf der Sprachentwicklung einen kritischen, aber nicht genau festlegbaren Wert erreicht hat. Ein solcher Faktor ist die Reihenbildung, die, wie wir im Vorangehenden gesehen haben, wichtig für das Vorliegen einer morphologischen Bildungsweise ist. Wie viele auf die gleiche Weise gebildete Zeichen muß es im Lexikon geben, damit eine Reihe konstatiert werden kann, aus der man auf ein entsprechendes morphologisches Lexembildungsmuster schließen kann? Reichen z.B. die zwei lexikalisierten Beispiele sich warm laufen, sich warm spielen aus, um eine lexikalische Reihe und damit (bei Berücksichtigung der anderen relevanten Eigenschaften) ein morphologisches Muster zu konstatieren, das reflexive Verben mit der V-Partikel warm bildet? Wie plausibel sind Neubildungen wie sich warm joggen, die man als zusätzliche Evidenz für ein solches morphologisches Bildungsmuster anfuhren könnte? Es ist klar, daß man sich hier in einer diagnostischen Grauzone befindet und daß daraus Schreibunsicherheiten resultieren. 6 Ähnliches gilt für die Frage, ob ein Zeichen Ζ lexikalisiert ist, deren Beantwortung eine Voraussetzung für die Einordnung von Ζ in eine lexikalische Reihe ist, aber wohl auch für die Annahme einer Rückwärtsbildung auf der Basis von Ζ (vgl. 4.1.4.1, Anm. 48). Doch wann hat Ζ den dafür kritischen Grad von Gängigkeit in der Sprachgemeinschaft erreicht? Günther (1997: 6f.) illustriert dieses Problem mit dem fiktiven Beispiel der Rückwärtsbildung von holzhacken auf der Basis von (das) Holzhacken, die "außerhalb bestimmter, der Holzindustrie zuarbeitender Kreise" (ebd.) eben deshalb unwahrscheinlich sei, weil (das) Holzhacken dort nicht ausreichend gängig ist. Doch ist diese Feststellung natürlich nur über den Daumen gepeilt - und eine Schreibung wie auch außerhalb der Holzindustrie nicht völlig unplausibel.

Möglichkeit kompatibel, daß die einschlägigen lautsprachlichen Konzepte simultan mit der GZS (also erst durch das Schreiben- und Lesenlernen) erworben werden. 6

Mehrere Informanten, die ich dazu befragt habe, waren sich nicht sicher, ob Verben des Typs sich warm Xen in der Alt-GZS getrennt oder zusammengeschrieben werden. Die meisten von ihnen neigten jedoch eher zur Zusammenschreibung, während der Rechtschreib-Duden von 1991 Getrenntschreibung fordert. (In der N e u - G Z S - jedenfalls in der Auslegung, von der das D G W D S ausgeht - schreibt man dagegen zusammen, also .)

166

Bewertung des Systems der Alt-GZS

Graduell ist schließlich auch das für Univerbierung konstitutive Verschwinden einer syntaktischen Konstituentengrenze, das zwar nicht über O l , aber doch über einen starken lexikalischen Trend auf die GZS einwirkt, vgl. 4.4.1. Ob es eintritt, hängt davon ab, ob die Usualisierung der jeweiligen syntaktischen Ausdruckskombination so weit fortgeschritten ist, daß die Konstituentengrenze nicht mehr wahrgenommen wird und eine entsprechende Reanalyse einsetzt. Doch auch das scheint mehr ein fließender Übergang als ein scharfer Schnitt zu sein, und entsprechend sind gerade in diesem Bereich Schreibunsicherheiten festzustellen, die allerdings wohl teilweise auch den generell irregulären Charakter der GZS von Univerbierungen widerspiegeln. 7 Problematisch ist der Einfluß solcher Veränderungsprozesse auf die GZS im übrigen nicht nur wegen ihres graduellen Charakters, sondern auch weil sie relativ kurzfristig ablaufen können, aber nicht in allen Sprechergruppen mit der gleichen Geschwindigkeit oder überhaupt vonstatten gehen müssen. Damit wird die GZS von Phänomenen abhängig, die nicht nur diachron, sondern auch diastratisch und diatopisch instabil sind. Dieses Einwirken gradueller, instabiler lautsprachlicher Faktoren auf bestimmte Bereiche der Alt-GZS verursachte nicht nur Schreibunsicherheiten, sondern machte darüber hinaus die Kodifizierung dieser GZS-Variante zu einem Problem. Die Kodifizierung muß ja die Schreibung ständig an den Entwicklungsstand aller sie beeinflussenden lautsprachlichen Faktoren anpassen und dabei nicht nur entscheiden, ob der jeweilige kritische Wert erreicht ist, sondern auch, ob er in der relevanten Standardvarietät erreicht ist (und nicht etwa nur in bestimmten Fachsprachen). Selbst dann, wenn diese Entscheidung nicht rein intuitiv getroffen, sondern durch eine geeignete empirische Überprüfung gestützt wird, ist das oft eine schwierige Aufgabe. Deshalb ist es nicht verwunderlich, daß manche Festlegungen im Wörterverzeichnis der verschiedenen Duden-Ausgaben der sprachlichen Entwicklung hinterherhinkten oder arbiträr wirkten, wie das immer wieder diskutierte Paar vs. . Die Plausibilität einer die Zusammenschreibung rechtfertigenden Analyse als Rückwärtsbildung (ein andere regulär zur Zusammenschreibung führende Bildungsweise kommt nicht in Frage) hängt wesentlich von der Gängigkeit der möglichen nominalen Basen Radfahrer oder Radfahren bzw. Autofahrer oder Autofahren ab, und diese ist für Radfahrer und Radfahren wohl nicht deutlich größer als für Autofahrer und Autofahren. Deshalb läßt sich die differentielle Spatiensetzung in und nicht leicht nachvollziehen. 8 (Das Problem wird weiter dadurch verschärft, daß bei der 7

8

Laut Kessel (1977) - zitiert nach Schaeder (1997a: 161) - betreffen die bei Erwachsenen häufigsten GZS-Fehler Komplexe, die auf dem Weg zur Univerbierung sind, aber nach der zum Zeitpunkt von Kessels Untersuchung einschlägigen Regelung noch getrennt zu schreiben waren, z.B. *, *, *. Als Hinweis auf einen diesbezüglichen Unterschied mag man es betrachten, daß im DGWDS nur Radfahren, nicht Autofahren verzeichnet ist (während man sowohl Radfahrer als auch

Anwendungsaspekte

167

Kodifizierung vergessen wurde, daß es auch eine Bildung mit Umstandsobjekt Rad fahren gibt - parallel zu Gokart fahren - , die nach O l auf jeden Fall getrennt zu schreiben wäre.) 9 Eine weitere Schwierigkeit für die Kodifizierung ergibt sich, wenn sie auf Indizien für/gegen eine Zusammenschreibung favorisierende Bildungsweise rekurriert. Wie wir in 4.6 gesehen haben, sind diese Indizien in ihrer großen Mehrzahl unzuverlässig und nur einschränkt anwendbar. Außerdem sind gerade jene Indizien, die auch von Laien relativ leicht gehandhabt werden können, für viele Problemfalle nicht ausreichend trennscharf. 1 0 Schließlich sind die Indizien sehr zahlreich und wenig homogen, vgl. 6.1. Mit diesen Eigenschaften wurde die Kodifizierung in dem Maß belastet, in dem man die Alt-GZS über Regeln festzulegen versuchte, die von solchen Indizien ausgehen. Tatsächlich beruhen sowohl die GZS-Paragraphen der einschlägigen Duden-Ausgaben als auch diverse erläuternde Kommentare zu diesen Paragraphen, etwa Herberg/Baudusch 1989, wesentlich auf Regeln dieser Art (ohne daß das ausreichend explizit gemacht worden wäre, da in diesen Arbeiten nicht systematisch zwischen Indizien und verantwortlichen Faktoren unterschieden wird). Das chaotische Bild von der Alt-GZS, das dadurch erzeugt wurde, ist also nicht nur eine Folge der aus linguistischer Sicht meist zu wenig präzisen und stringenten Darstellungsweise (vgl. Kap. 2), sondern spiegelt teilweise Komplikationen wider, die in der Sache selbst begründet sind. - Entsprechendes gilt für Versuche, die didaktische Umsetzung der Alt-GZS, etwa im Rechtschreibunterricht, auf die Grundlage von Indizien für/gegen Zusammenschreibung zu stellen. Selbst bei optimaler Ausgestaltung müssen alle entsprechenden Darstellungen verwirrend bleiben, einfach weil auf der Ebene der Indizien das System selbst verwirrend ist. Ich weise aber noch einmal darauf hin, daß diese Indizienkomplikationen zwar für die Kodifizierung bzw. didaktische Präsentation der Alt-GZS äußerst

9

10

Autofahrer findet). Darüber hinaus dürfte auch die unterschiedliche prosodische Komplexität von Rad und Auto eine Rückwärtsbildung für radfahren wahrscheinlicher machen als für Auto fahren, vgl. 4.1.4.2 ad E9. Daß auch die diatopische Instabilität der GZS zu Kodifikationsproblemen führte, manifestiert sich u.a. darin, daß bis zur Rechtschreibreform (und z.T. auch noch danach) die Spatiensetzungsnormen in den verschiedenen deutschsprachigen Ländern teilweise divergierten, vor allem bei Univerbierungen. So bemerkt Kaiser (1969: 95f.), daß zum Zeitpunkt seiner Untersuchung in der Schweiz, aber nicht in den anderen deutschsprachigen Ländern Schreibungen wie , , , , üblich waren. Vgl. auch Herberg (1986: 254ff.). So kann man die Opposition zwischen ein Angst auslösendes Ereignis (als syntaktische Bildung) und ein angstauslösendes Ereignis (mit dem Partizipialadjektiv als morphologische Bildung) nicht an leicht diagnostizierbaren Indizien festmachen, etwa an einer unterschiedlichen Betonung oder einem deutlichen Bedeutungsunterschied. Entsprechend findet man für Fälle wie diesen in der einschlägigen Regel R209 des Dudens von 1991 nur die nichtssagende Formulierung, daß X + Partizip zusammengeschrieben werden, "wenn sie als Einheit empfunden werden".

168

Bewertung des Systems der Alt-GZS

problematisch waren, sich aber anscheinend nicht negativ auf das tatsächliche Erlernen und Praktizieren dieser GZS-Variante auswirkten (s.o.)·11 Das würde ich als Hinweis darauf werten, daß die kognitive Repräsentation von Spatiensetzungssystemen nicht wesentlich auf Indizien der fraglichen Art beruht. Eine weitere wichtige Frage, die eine Bewertung der praktischen Qualitäten eines Spatiensetzungssystems zu beantworten hätte, wurde in der deutschen GZS-Literatur kaum diskutiert: Wenn die Markierung von Wortgrenzen durch Spatien im Dienst der Erleichterung und Beschleunigung des Lesens steht (vgl. 3.3), ist zu fragen, wie gut gegebene GZS-Systeme diese Aufgabe erfüllen. Schlecht abschneiden könnten dabei solche Systeme, die häufig lange Graphemfolgen ohne interne Spatien vorsehen, da dies zu Behinderungen der einschlägigen lesephysiologischen und -psychologischen Prozesse 12 führen könnte. Das könnte gerade auf die Alt-GZS zutreffen, die wegen Ol vor allem bei Nominalkomposita oft monströs lange Graphemfolgen ohne interne Spatien produziert, z.B. . Ob das im Vergleich zu Systemen, die (wie das des Englischen) solche langen spatienlosen Strecken vermeiden, tatsächlich zu Leseproblemen führt, wäre zu prüfen. 13

11

In der anwendungsorientierten Literatur zur Orthographie besteht eine Neigung, didaktische und Kodifizierungsprobleme mit Lern- bzw. Anwendungsschwierigkeiten gleichzusetzen. Diese Gleichsetzung entbehrt natürlich jeder Grundlage.

12

Vgl. Meinhold/Stock (2000), Saenger (1997: Kap. 1).

13

Ein mögliches Indiz für solche Probleme ist der schon seit einiger Zeit bestehenden Trend, vielgliedrige Nominalkomposita im Schreibusus unter Mißachtung der orthographischen N o r m durch Einfügung von Spatien übersichtlicher zu machen (der Teil einer generelleren, vielleicht durch das Englische inspirierten Tendenz zur Getrenntschreibung von Komposita ist, vgl. Kap. 1). Dazu einige Beispiele aus meiner Belegsammlung: , , , , , , , , , < V o l k s w a g e n Partner>, , , , , , , .

7. Vergleich mit anderen Analysen Wenn man unsere Ergebnisse anderen Einschätzungen der systematischen Grundlagen der traditionellen deutschen GZS gegenüberstellt, erkennt man zunächst einen Widerspruch zu Arbeiten, die von der Hypothese einer auf der sprachlichen Form beruhenden Determination der Spatiensetzung ausgehen. Nach dieser Hypothese wird die Zusammenschreibung zweier benachbarter Teilausdrücke im wesentlichen dadurch ausgelöst, daß sich die Teilausdrücke im Hinblick auf Aspekte der sprachlichen Form nicht so verhalten, wie es von zwei selbständigen Wörtern zu erwarten wäre, vgl. Hl in Kap. 2. Das müßte bei einer optimalitätstheoretischen Modellierung des GZS-Systems zu einer Beschränkungsordnung Ci » C 2 . . . » C n fuhren, die Gesetze enthält, die beim Vorliegen/Fehlen solcher Formunterschiede zu selbständigen Wörtern ein Spatium fordern bzw. verbieten und sich infolge ihres hohen Rangs in der Ordnung auch durchsetzen können. Nun ist aber die ranghöchste der beiden allgemeinen Interface-Beschränkungen von Ol, 1 also ZUS-MORPH, kein solches Gesetz, denn die lautsprachliche Eigenschaft, auf der es beruht, also morphologische Bildung, ist ein ebenenübergreifender Faktor, der nicht auf die Formebene beschränkt ist, vgl. 4.1.2. Darüber hinaus beruht das rangniedrigere allgemeine Interface-Gesetz GETR-AUSDR nicht auf einer Eigenschaft der Form, sondern auf einer des Inhalts sprachlicher Zeichen, nämlich auf Teilausdrucksstatus. Nach unserer Analyse wird also in der großen Mehrzahl der Fälle weder die Zusammen- noch die Getrenntschreibung durch Abweichungen von bzw. Übereinstimmungen mit typischen Formeigenschaften selbständiger Wörter ausgelöst. Vielmehr spielen solche Abweichungen und Übereinstimmungen - wie (Nicht-)Beweglichkeit, (Nicht-)Erweiterbarkeit, syntaktische (Nicht-)Wohlgeformtheit, Erstglied- vs. Mehrfachbetonung - auf der Ebene der operativen Beschränkungen überhaupt keine Rolle. Sie können allenfalls mehr oder weniger gute Indizien für die An- oder Abwesenheit der Faktoren sein, die über operative Gesetze oder lexikalische Trends Zusammenschreibung auslösen, vgl. 4.6. Diese Kritik trifft u.a. die wichtige Untersuchung von Utz Maas (1992), dessen Hypothese, daß genau dort getrennt geschrieben wird, wo eine "syntaktische Sollbruchstelle" vorliegt (ebd.: 177), auf die Annahme einer Determination der GZS durch die sprachliche Form hinausläuft, sind doch "syntaktische Sollbruchstellen" durch typische Formeigenschaften von selbständigen Wörtern definiert, nämlich dadurch, daß zwischen ihnen "eine syntaktische Folge abbrechen bzw. modifiziert werden kann" (ebd.). Das ließe erwarten, daß Faktoren wie (Nicht-)Beweglichkeit und (Nicht-)Erweiterbarkeit entscheidend

1

Ich vernachlässige hier die nur für wenige Fälle einschlägigen spezifischen Gesetze GETR-ZC/ und ZUS-KLITIKA.

170

Vergleich mit anderen Analysen

sind, 2 was sich in 4.6 als falsch erwiesen hat. - Empirisch scheitert eine solche Sicht der Alt-GZS vor allem an den vielen Partikel- und Semi-Partikelverben, die zusammengeschrieben werden, obwohl sie, wie die Beweglichkeit ihrer Teilausdrücke zeigt, eine deutliche "Sollbruchstelle" enthalten. Maas' Hypothese paßt auch nicht zu versteinerten Phraseologismen, die keine internen syntaktischen Manipulationen erlauben - also keine "Sollbruchstellen" haben und dennoch in der Regel Spatien enthalten. In Konflikt stehen die hier erzielten Ergebnisse auch mit Peter Gallmanns (1999) Version einer auf der sprachlichen Form beruhenden Determination der Spatiensetzung, die der Verteidigung der Neuregelung dient, aber auf übergreifende, auch für die traditionelle deutsche GZS geltende Prinzipien abzielt, wie wir sie anhand der Kern-GZS zu ermitteln versuchten. Gallmann nimmt an, daß zwei Teilausdrücke, die separate syntaktische Wörter (in unserer Terminologie: KR-Wörter) sind, grundsätzlich voneinander getrennt zu schreiben sind, 3 daß sie aber beim Vorliegen bestimmter phonologischer Bedingungen auch zusammengeschrieben werden können (ebd.: 279). Aus dem Kotext kann man erschließen, daß zu diesen phonologischen Bedingungen das Vorhandensein nur einer Hauptbetonungsstelle gehört, das Gallmann als Hinweis darauf betrachtet, daß auf der phonologischen Ebene nur ein Wort vorliegt. Er nimmt also an, daß sich in der deutschen GZS phonologischer Wortstatus gegen syntaktischen Phrasenstatus durchsetzen kann. 4 Das tritt, so legt Gallmanns Argumentation nahe, insbesondere bei Partikel- und Semi-Partikelverben ein, die zwar aus j e zwei KR-Wörtern bestehen, aber nur eine Hauptbetonungsstelle haben. 5 Nach der hier vorgeschlagenen Analyse werden dagegen Teilausdrücke (mit Ausnahme bestimmter Klitika) in der Kern-GZS nur dann nicht getrennt geschrieben, wenn sie in einem morphologisch oder morphologienah gebildeten Komplex enthalten sind. KR-Wortstatus per se und phonologische Bedin-

2

3

4 5

Entsprechend versucht Maas zu zeigen, daß die GZS-Regeln im Duden gerade dort Spatien verlangen, wo Umstellungen und Einschübe möglich sind. Er zieht allerdings auch andere Operationen in Betracht, die nicht auf den Begriff der syntaktischen Sollbruchstelle beziehbar sind, etwa die Möglichkeit von Substitutionen. (Durch Substitution kann man zwar Teilausdrücke in größeren Komplexen identifizieren, aber sie erlauben es nicht, syntaktische von morphologischen Grenzen zu unterscheiden.) Gallmann setzt die Grenzen zwischen KR-Wörtern etwa so an, wie ich es tue. Insbesondere behandelt auch er die Teilglieder von Partikel- und Semi-Partikelverben als separate KRWörter. Vgl. Gallmann (1999: 274ff.). Gallmann bezeichnet die Erstglieder von Partikel- und Semi-Partikelverben als Kopfadjunkte, d.h. als nicht-erweiterbare, an eine Kopfkonstituente adjungierte KR-Wörter. Entsprechend seinen eben erläuterten allgemeinen Annahmen scheint er davon auszugehen, daß die "Grundregel im Deutschen, dass Kopfadjunkte getrennt zu schreiben sind" (ebd.: 301) nur beim Vorliegen der fraglichen phonologischen Bedingungen verletzt werden kann.

Vergleich mit anderen Analysen

171

gungen spielen keine determinierende Rolle. Entsprechend versagt Gallmanns Vorschlag am deutlichsten bei der Erklärung der unterschiedlichen Spatiensetzung in Fällen wie gr 'ürt streichen vs. aufräumen, die sich weder durch das Vorhandensein einer internen KR-Wortgrenze noch unter relevanten phonologischen Aspekten, wohl aber durch Fehlen bzw. Vorliegen einer morphologischen Bildungsweise unterscheiden. 6 Nicht besser stehen im Licht von O l allerdings j e n e Ansätze da, die die deutsche G Z S als wesentlich durch den sprachlichen Inhalt determiniert betrachten, die also davon ausgehen, daß die Zusammenschreibung zweier adjazenter Teilausdrücke dadurch ausgelöst wird, daß sie sich bezüglich semantischer Aspekte anders verhalten als selbständiger Wörter, vgl. H2 in Kap. 2. Diese in älteren Arbeiten verbreitete Annahme - sie prägte insbesondere die Formulierung der GZS-Regeln diverser Duden-Ausgaben vor der Rechtschreibreform - ist, wie wir gesehen haben, ebenfalls keine zutreffende Charakterisierung des Systems der traditionellen GZS, so wie es durch O l expliziert wird. In diesem System sind j a Faktoren wie syntaktische (Nicht-)Kompositionalität oder (Nicht-)Referentialität nicht verantwortlich für die GZS, sondern haben lediglich den Status mehr oder weniger zuverlässiger Indizien für das Vorliegen des tatsächlich Zusammenschreibung bewirkenden Faktors morphologische Bildung, vgl. 4.6. Der ist per se ebensowenig rein inhaltlich, wie er rein formal ist, s.o. Entsprechend scheitert die Idee einer inhaltlichen Determination der G Z S empirisch vor allem an der Getrenntschreibung der vielen nicht-morphologisch gebildeten Phraseologismen, die nicht syntaktischkompositional sind und/oder nicht-referentielle nominale Teilausdrücke enthalten (etwa S-Inkorporationen). Wenn man die Alt-GZS überhaupt auf eine kurze Formel bringen möchte, könnte man von einer morphologischen Determination sprechen, insofern, als die Zusammenschreibung von Teilausdrücken stets dadurch ausgelöst wird, daß sie in einem Zeichen enthalten sind, das morphologisch gebildet ist oder große Ähnlichkeit zu morphologisch gebildeten Zeichen aufweist. 7 Tatsächlich wäre aber jeder Versuch, nur einen Bereich der Grammatik für die GZS verantwortlich zu machen, eine Simplifizierung: Nach O l gibt es vier lautsprachliche Faktoren, die die Spatiensetzung in der Alt-GZS determinieren, und diese

6

7

Man beachte, daß beide Zeichen nur eine Hauptbetonungsstelle haben. Allerdings erwähnt Gallmann neben der Betonung auch die Kürze des Erstglieds als phonologischen Faktor, der Zusammenschreibung fordern soll. Offensichtlich läßt sich aber auch daran der GZS-Unterschied zwischen grün streichen und aufräumen nicht festmachen. (Außerdem sei daran erinnert, daß es zahlreiche zusammenzuschreibenden Partikelverben mit mehrsilbigen, also eben nicht kurzen Erstgliedern gibt, etwa hinterhertragen, zusammenschreiben.) - Aus einer anderen Perspektive kritisieren Bredel/Günther (2000: 107) Gallmanns Analyse. Hierin könnte man Parallelen zu anderen Zügen des deutschen Schriftsystems sehen, etwa dazu, daß morphologische Faktoren über das Stammprinzip auch eine wichtige Rolle in der Laut-Buchstaben-Beziehung spielen.

172

Vergleich mit anderen Analysen

Faktoren gehören zu verschiedenen Bereichen der Grammatik. Daß sie unterschiedlich stark gewichtet sind, heißt nicht, daß einer von ihnen bei einer akuraten Charakterisierung des Systems vernachlässigt werden kann (wobei zusätzlich noch die autonomen Faktoren, etwas das Gebot einer sparsamen Spatiensetzung, berücksichtigt werden müssen). Das setzt allerdings einen theoretischen Rahmen voraus, in dem man das Zusammenspiel verschiedenartiger und unterschiedlich gewichteter Faktoren präzise erfassen kann. Ein solcher theoretischer Rahmen stand bisherigen Analysen der deutschen G Z S nicht zur Verfugung. Aus den hier erzielten Ergebnissen ergibt sich im übrigen auch keine Stützung für die zahlreichen Versuche, die GZS einem allgemeineren Prinzip unterzuordnen, nach dem grammatische Eigenschaften einer bestimmten Art in der Schrift zum Ausdruck gebracht werden sollen, etwa einem "lexikalischen Prinzip" (Herberg 2000: 5.2), demzufolge semantische Eigenschaften von Einheiten der lexikalischen Ebene graphisch deutlich werden sollen. Es dürfte klar geworden sein, daß diese Leistung nur ein gelegentliches Nebenprodukt des durch O l charakterisierten GZS-Systems ist, vgl. 5.3. Allenfalls könnte man dieses System als Manifestation eines "grammatischen Prinzips" (Gallmann/Sitta 1996: 37ff.) betrachten, nach dem der grammatische Aufbau von Sätzen in der Schrift wiedergegeben werden soll. Dazu müßte man allerdings dem grammatischen A u f b a u sämtliche (nicht-phonologischen) grammatischen Eigenschaften der jeweils zu schreibenden Zeichen, einschließlich ihrer Derivation, subsumieren. Zu einem tieferen Verständnis der Spatiensetzung, das über das, was schon in O l festgehalten wird, hinausgeht, trägt die Subsumtion unter ein so weit gedeutetes grammatisches Prinzip natürlich nichts bei, zumindest dann nicht, wenn sie nicht ergänzt wird durch den - bisher ausstehenden - Nachweis interessanter Gemeinsamkeiten der GZS mit anderen Bereichen des Schriftsystems, in denen Aspekte der grammatischen Struktur in der Schrift abgebildet werden, etwa mit der Interpunktion. Außerdem beantwortet diese Subsumtion keine der weiterführenden Fragen, die man tatsächlich an eine Systemanalyse, wie sie hier versucht wurde, anschließen müßte. Zu diesen Fragen gehört die nach der genauen Natur der kognitiven Mechanismen, die der Tatsache zugrunde liegen, daß Spatien das Lesen erleichtern, sowie die Frage, ob sich aus diesen kognitiven Mechanismen prinzipielle Beschränkungen für die Auswahl und Hierarchisierung jener Kriterien ergeben, nach denen einzelne Schriftsysteme die Teilabschnitte von Texten festlegen, die durch Spatien zu trennen oder nicht zu trennen sind.

8.

Das System der Neu-GZS

8.1

Zum Aufbau und zur Interpretation des Texts der amtlichen Neuregelung

Schon in 1.2 habe ich daraufhingewiesen, daß die Neu-GZS, der ich mich nun zuwende, im Hinblick auf die Datenermittlung problematisch ist. Eine zuverlässige intuitive Kenntnis dieser GZS-Variante kann sich bisher wohl kaum ein erwachsener Schreiber/Leser zuschreiben (und ganz sicher kann ich es nicht), denn das würde eine längere Zeit des praktischen Umgangs mit dieser GZSVariante und wohl auch ihren Erwerb als Erst-GZS (im Idealfall: als einzige Version der GZS) voraussetzen. Tatsächlich machen aber Schreiber/Leser des Deutschen erst seit kurzem Erfahrungen mit diesem System, und die meisten von ihnen haben es, wenn überhaupt, nur als Zweitsystem gelernt. Entsprechend groß sind bisher die Unsicherheiten im Umgang mit dieser Version der deutschen GZS. 1 Die Datenermittlung zur Neu-GZS kann sich deshalb, im Gegensatz zu der für die Alt-GZS, kaum auf Intuitionen stützen, sondern muß in hohem Maß vom Text der Kodifizierung ausgehen, d.h. von den einschlägigen Paragraphen des Regelteils der amtlichen Neufestlegung der Orthographie (Duden 1997, Teil B, §33 - §39) sowie von dem relativ kleinen exemplarischen Wörterverzeichnis, das dem Regelteil zur Seite gestellt wurde. Leider ist diese schriftliche Quelle aber in vielen Punkten unklar und unvollständig. Deshalb kommt man bei der Datenermittlung zur Neu-GZS nicht umhin, eine bestimmte Interpretation des Kodifikationstexts vorzunehmen, die die Unklarheiten so weit möglich beseitigt und es erlaubt, im Text nicht explizit angegebene Schreibungen zu extrapolieren. Da es mehrere Möglichkeiten für eine solche Interpretation gibt, kamen verschiedene der Neuregelung folgende Wörterbücher, z.B. Duden (1996) und Bertelsmann (1996), zu teilweise unter-

1

Nach Seelig (2002: 4ff) hat mit dem Inkrafttreten der Rechtschreibreform die Anzahl der Anfragen zur GZS beim Grammatischen Telefon Potsdam sprunghaft zugenommen. (Absolut bilden sie Seelig zufolge nach den Fragen zur Groß- und Kleinschreibung die zweitgrößte Gruppe in der Menge der orthographischen Anfragen.) Übrigens scheinen sich auch die Sprachberater selbst nicht immer im klaren über die Neu-GZS zu sein. So erzählte mir eine Lektorin, daß ihr auch die bekannteste deutsche Sprachberatungsstelle keine sichere Auskunft zur reformierten Spatiensetzung in Beispielen wie gewaltverherrlichend und eigenrecherchiert geben konnte. - Darüber hinaus manifestieren sich die Unsicherheiten im Umgang mit der Neu-GZS auch in der überall zu beobachtenden Zunahme an Fehlschreibungen. Diese fällt besonders auf, wenn sie Medien betrifft, in denen falsche Spatiensetzungen vor der Reform sehr selten waren. Z.B. tut sich die Süddeutsche Zeitung offensichtlich schwer mit den neuen Regeln. Das zeigt sich darin, daß sie in den letzten Jahren permanent falsche Schreibungen wie (SZ 238, 2002: 47), , (SZ 239, 2002: 43) oder (SZ 242, 2002: 22) produziert.

174

Das System der Neu-GZS

schiedlichen GZS-Festlegungen in Fällen, die im amtlichen Text nicht ausdrücklich erwähnt wurden. 2 Welche Interpretation dieses Texts wird dem folgenden Versuch einer Systemanalyse der N e u - G Z S zugrunde gelegt? Generell werde ich wieder von dem Deutungsprinzip ausgehen, das schon in 3.1 eingeführt und dann auf die Alt-GZS angewandt wurde: In Zweifelsfallen wird eine möglichst rationale Interpretation gewählt, die, soweit es der Wortlaut der Regeln und die angegebenen Beispiele zulassen, die Annahme von Systemkomplikationen, etwa von Irregularitäten, Ad-hoc-Regeln oder Inkonsistenzen, vermeidet. Darüber hinaus nehme ich die von Vertretern der Neuregelung oft betonte und im Vorwort zur Neuregelung (Duden 1997: 9) quasi amtlich gemachte Behutsamkeit der Veränderungen gegenüber der vorher geltenden Orthographie ernst, indem ich mich in Fällen, in denen der Text dem Interpreten die Wahl zwischen einer stärkeren oder einer geringeren Abweichung der N e u - G Z S von der Alt-GZS läßt (im Hinblick auf die Daten oder hinsichtlich des zugrundeliegenden Systems), immer für die letztere entscheiden werde. Generell werde ich bei der Interpretation des Texts der Neuregelung stets von der unter den relevanten Gesichtspunkten günstigsten Möglichkeit ausgehen, quasi nach dem Prinzip in dubio pro reo. 3 Darüber hinaus (und damit zusammenhängend) gelten selbstverständlich weiterhin die in Kap. 3 erläuterten theoretischen und methodologischen Grundsätze. Insbesondere versuche ich die Modellierung im Rahmen der Optimal itätstheorie so zu gestalten, daß sie das den Daten der Neu-GZS zugrundeliegende System auf möglichst allgemeingültige, ökonomische und präzise Weise erfaßt. Das wird zur Folge haben, daß die zu entwickelnde Theorie, obwohl sie sich notgedrungen eng am Text der Neuregelung orientiert (s.o.), stark von dessen Regelformulierungen abweichen wird, denn diese sind j a nicht auf die genannten theoretischen Ziele zugeschnitten, sondern sollen die in Kap. 2 umrissenen praktischen Aufgaben erfüllen. Zur Gliederung des Regelteils der amtlichen Texts: Die Anordnung der als Paragraphen durchgezählten Regeln und gegebenenfalls ihre Zusammenfassung zu größeren Komplexen erfolgt im wesentlichen nach dem Kriterium der jeweils betroffenen Wortarten. Abschnitt 1 des GZS-Teils der amtlichen Neuregelung enthält die beiden Regeln, die Verben betreffen (§33 - §35), Abschnitt 2 die Regel, die für Adjektive und Partizipien zuständig ist (§36), Abschnitt 3 präsentiert zwei Regeln für Substantive (§37 - §38), und im Ab2

3

Kritisch dazu Ickler (1997a: 124f.), Mogensen/Moller (2001). Divergierende Schreibungen gibt es im übrigen gelegentlich auch in ein und demselben Wörterbuch. So findet man im der Neu-GZS folgenden DGWDS auf S. 4426 , auf S. 4427 für die Lesart 'sich jmds. Gunst erhalten' (obwohl im Wörterzeichnis der amtlichen Neuregelung vorgeschrieben wird). Manche Kritiker der Neuregelung scheinen eine dazu konträre Interpretationsmethode angewandt zu haben.

Zum Aufbau und zur Interpretation der amtlichen Neuregelung

175

schnitt 4 wird eine Regel für "andere Wortarten" angegeben (§39), nämlich für Adverbien, Konjunktionen, Präpositionen und Pronomina. Bis auf die letzte beruhen alle diese Regeln auf dem Begriff "Zusammensetzung". So lautet §36: "Substantive, Adjektive, Verbstämme, Adverbien oder Pronomen können mit Adjektiven oder Partizipien Zusammensetzungen bilden. Man schreibt sie zusammen." Da der Terminus "Zusammensetzung" nirgends im Regelwerk definiert wird 4 und da der Anwendungsbereich der Regel nur durch eine KannBestimmung eingegrenzt wird, ist diese Regelformulierung als solche äußerst vage, j a praktisch nichtssagend. Entsprechendes gilt für alle anderen Regeln. Der Text stellt jedoch jeder einzelnen Regel z.T. recht umfangreiche Erläuterungen zur Seite, die offensichtlich die Aufgabe haben, Klarheit zu schaffen. In diesen Erläuterungen steckt der eigentliche empirische Gehalt des Regelwerks, und deshalb sind sie es, die im Mittelpunkt unserer Exegese stehen müssen. Allerdings sind auch diese Erläuterungsteile in mancher Hinsicht unklar. Das hängt z.T. mit ihrer internen Gliederung zusammen. Bei den Regeln, die Zusammenschreibung fordern (§33, §34, §36, §39, Ausnahme: §37) folgt stets auf einen Block von Erläuterungen des Anwendungsbereichs der Regel - nennen wir sie die Positiverläuterungen - eine Auflistung von Fällen, die nicht unter die Regel fallen und getrennt zu schreiben sind. Diese Negativerläuterungen beginnen immer mit einer Formulierung wie der folgenden für §36: " E l : In den Fällen, die nicht durch §36 (1) bis (6) [d.h. durch die vorangehenden Positiverläuterungen, J.J.] geregelt sind, schreibt man getrennt. [...] Dies betrifft: ..." (Es folgt eine Kennzeichnung von Fällen, in denen die Regel nicht anzuwenden ist.) Diese Darstellungsweise suggeriert (a) daß Positiv- und Negativerläuterungen zusammen die GZS aller Zeichen der jeweiligen Worta r t e n ) spezifizieren, und (b) daß kein Zeichen sowohl im Anwendungsbereich der Positiv- als auch im dem der Negativerläuterungen liegt. Leider ist beides falsch, (a) trifft nicht zu, weil es in jeder Wortart Zeichen gibt, die in keine der Schubladen passen, die durch die Erläuterungen zur jeweiligen Regel eingeführt werden, oder bei denen die Erläuterungen es nicht ermöglichen, zweifelsfrei zu entscheiden, in welche der Schubladen sie gehören. Und (b) trifft nicht zu, weil es nicht selten Widersprüche zwischen Positiv- und Negativerläuterungen gibt. Z.B. wäre nach der Positiverläuterung (1) zu §36 zu schreiben, da "der erste Bestandteil für eine Wortgruppe steht" (vgl. auf dem Eis laufend)·, nach der Negativerläuterung §36 E l (1) müßte man aber schreiben, denn "das dem Partizip zugrunde liegende Verb [wird] getrennt geschrieben", vgl. . Ein weiteres Beispiel: 5 Nach §34 E2 4

Wie schon in 4.1 gesagt, kann man der Vorbemerkung zum Regelteil entnehmen, daß mit "Zusammensetzung" die Bildungsweisen gemeint sind, die zur Zusammenschreibung fuhren, während "Wortgruppen" stets getrennt geschrieben werden. Aber das hilft einem natürlich nichts, wenn man wissen möchte, was "Zusammensetzungen" und was "Wortgruppen" sind.

5

A u f diesen Problemfall hat Ickler (1997a: 65) hingewiesen.

176

Das System derNeu-GZS

(2.2) wird Adjektiv + Verb zusammengeschrieben, wenn das Adjektiv "in dieser Verbindung weder erweiterbar noch steigerbar" ist. Danach müßte man schreiben. Nach §34 E3 (3) muß jedoch geschrieben werden, da "der erste Bestandteil eine Ableitung auf -ig, -isch, -lieh ist". Wie kann man im Rahmen einer rationalen Interpretation des Kodifikationstexts (s.o.) mit solchen Komplikationen umgehen? Hinsichtlich (b) werde ich Widersprüche jeweils so auflösen, daß insgesamt möglichst wenige Systemkomplikationen resultieren, wobei stets auf die Kompatibilität mit den explizit angegebenen Beispielen zu achten ist. Damit ist im ersten der eben erwähnten Problemfalle der Negativerläuterung §36 E l (1) der Vorrang zu geben, also zu schreiben, denn wäre bezogen auf das noch zu ermittelnde Gesamtsystem der Neu-GZS eine isolierte Irregularität. 6 Auch im zweiten Beispiel muß die von der Negativerläuterung geforderte Getrenntschreibung gewählt werden, denn wird explizit als Beispiel genannt. Ad (a) wird es sich als hilfreich erweisen, das Ensemble der zur jeweiligen Regel angegebenen Positiv- und Negativerläuterungen nicht als eine vollständige Beschreibung der Auswirkungen der Regel auf die GZS zu deuten, sondern eher als Angabe der Schreibung einiger besonders wichtiger oder schwieriger Beispielgruppen, die unwichtige oder einfache Fälle bewußt offen läßt, also voraussetzt, daß der Leser deren Schreibung auf andere Weise ermitteln kann, etwa durch Extrapolationen auf der Basis der gegebenen Beispiele oder durch einen Blick ins Wörterverzeichnis. Bei §34 und §36 werden die Positiv- und die Negativerläuterungen durch eine ebenfalls unklare Abschlußbestimmung ergänzt. Ich zitiere §34 E4: "Läßt sich in einzelnen Fällen der Gruppe aus Adjektiv + Verb zwischen §34(2.2) [der Positiverläuterung, die bei Nicht-Steigerbarkeit und Nicht-Erweiterbarkeit des Erstglieds Zusammenschreibung fordert, J.J.] und §34 E3 (3) [der entsprechenden Negativerläuterungen, J.J.] keine klare Entscheidung für Getrenntoder Zusammenschreibung treffen, so bleibt es dem Schreibenden überlassen, ob er sie als Wortgruppe oder als Zusammensetzung verstanden wissen." Ich verstehe diese Bestimmung (und ihr Analogon in §36) als Hinweis darauf, daß die j e einschlägigen Regelerläuterungen in Fällen, in denen aufgrund unabhängiger Kriterien eine Ambiguität zwischen einer zur Zusammenschreibung und einer zur Getrenntschreibung fuhrenden Lesart besteht, zu Unklarheiten fuhren können, die dadurch beseitigt werden dürfen, daß man sich für eine der Lesar6

Darauf, daß die von §36 (1) geforderte Zusammenschreibung von Partizipien mit Erstgliedern, die Wortgruppen entsprechen, generell nicht auf Fälle anzuwenden ist, in denen dem Partizip ein getrennt geschriebener verbaler Komplex entspricht, weist auch die Tatsache hin, daß es zu keinem der zahlreichen zur Illustration von §36 (1) angegebenen Beispiele ein getrennt geschriebenes direktes verbales Pendant gibt. (So gibt es zu freudestrahlend zwar vor Freude strahlen, aber nicht * Freude strahlen.)

Ol-Gesetze bleiben operativ

177

ten entscheidet. Damit wären diese Abschlußbestimmungen eigentlich nichts anderes als auf die Einzelregeln §34 und §36 bezogene Erinnerungen an einen Passus aus der Vorbemerkung: "Manchmal können dieselben Bestandteile sowohl eine Wortgruppe als auch eine Zusammensetzung bilden. Die Verwendung als Wortgruppe oder als Zusammensetzung kann dabei von der Aussageabsicht des Schreibenden abhängen."

8.2

Ol-Gesetze bleiben operativ

Wie schon mehrfach betont, gehören die meisten Schreibungen der nach den eben erläuterten Interpretationsgrundsätzen ermittelten Neu-GZS auch zur Kern-GZS. Damit liegt es nahe, anzunehmen, daß die Gesetze der für die Kern-GZS verantwortlichen, hier wiederholten Beschränkungsordnung O l (Ol) *SPAT-ZR » / (ZUS-AM »

( ( G E T R - Z U » ZUS-MORPH/ZUS-KLITIKA » ZUS-KS/GETR-LS)) » *SPAT

GETR-AUSDR)

auch in der Neu-GZS operativ sind. Was die spezifischen Interface-Gesetze und die autonomen Beschränkungen betrifft, also GETR-Z(7, ZUS-KLITIKA bzw. *SPAT-ZR, ZUS-AM, ZUS-KS, GETR-LS und *SPAT, bedarf diese Annahme keiner ausfuhrlichen Begründung, denn hinsichtlich der von diesen Gesetzen abgedeckten Phänomene gibt es, wie schon in 5.3 erwähnt, keine Unterschiede zwischen der Kern-, der Alt- und der Neu-GZS. Wir können also davon ausgehen, daß diese Gesetze in einer Ol entsprechenden Rangordnung auch in der für die Neu-GZS gültigen Beschränkungshierarchie operativ sind. Darauf, daß auch die allgemeinen Interface-Gesetze von O l , also ZUSMORPH » GETR-AUSDR, operativ bleiben, weist vor allem die Tatsache hin, daß auch in der Neu-GZS die Teilausdrücke kernmorphologischer Bildungen, also von Komposita, Derivaten, Konversionen oder synthetisch gebildeten Flexionsformen, mit wenigen Ausnahmen (etwa bei bestimmten Partizipialadjektiven, s.u.) zusammengeschrieben werden, während eindeutig syntaktisch gebildete Komplexe ausnahmslos getrennt geschrieben werden. Das erfaßt man ohne Umwege, wenn man davon ausgeht, daß die Neu-GZS die allgemeinen Interface-Gesetze von O l (die in der dort enthaltenen Rangordnung j a diesen GZS-Unterschied zwischen kernmorphologischen und kernsyntaktischen Bildungen bewirken) aus der Alt-GZS übernimmt. Auch die Regelformulierungen des amtlichen Texts stützen die Annahme, daß die Gesetze ZUS-MORPH » GETR-AUSDR in die Neu-GZS übernommen wurden. Soweit in den Erläuterungen zu den Regeln allgemeine, über die j e weilige Wortart hinausgehende grammatische Kriterien genannt werden, die zur Zusammen- bzw. Getrenntschreibung fuhren, sind es meist solche, in de-

Das System der Neu-GZS

178

nen sich Merkmale erkennen lassen, deren An- oder Abwesenheit nach den Überlegungen in 4.1.4.1 typisch für das Vorliegen bzw. Nicht-Vorliegen einer morphologischen Bildungsweise und damit nach ZUS-MORPH » GETRAUSDR ein Indiz f ü r bzw. gegen Zusammenschreibung ist: (Nicht-)Trennbarkeit und (Nicht-)Erweiterbarkeit von Teilausdrücken, (Nicht-)Steigerbarkeit adjektivischer Erstglieder, (Un-)Möglichkeit des selbständigen Vorkommens von Erstgliedern sowie ihr Stehen "für eine Wortgruppe" (beides Formen der Abweichung von syntaktischer Wohlgeformtheit, vgl. E5). 7 In vielen (jedoch nicht in allen, s.u.) Fällen führen die entsprechenden Regelformulierungen dann auch zu Schreibungen, die ZUS-MORPH » GETRAUSDR entsprechen. Darüber hinaus scheinen diese Gesetze in der N e u - G Z S nicht nur nicht außer Kraft gesetzt, sondern in bestimmten Datenbereichen sogar gestärkt worden zu sein. Schon in 5.2 und 5.4 habe ich d a r a u f h i n g e w i e sen, daß manche O l widersprechenden, also irregulären Zusammenschreibungen der Alt-GZS in der Neu-GZS aufgehoben und damit in Einklang mit O l gebracht wurden. Eine Auswahl dieser Fälle, jeweils mit der neuen Spatiensetzung, wird hier wiederholt. (Zur Begründung des nicht-morphologischen Status dieser Beispiele verweise ich auf die entsprechenden Abschnitte von 5.2 und 5.4.) (1)

, , , , , , , , , , ,

(2)

, , , , , , cheilig sprechen>, , , , , , , , ,

(3)

, , ,

7

Nicht in diese Reihe scheint auf den ersten Blick die Festlegung von §34 E3 (3) und §36 E l (2) zu passen, daß adjektivische Erstglieder a u f - i g , -isch, -lieh getrennt geschrieben werden. Bei genauerer Betrachtung läßt sich jedoch auch dieser Faktor (kontra Ickler 1997: 65) in Bezug zu einer typischen Eigenschaft morphologischer, also nach ZUS-MORPH zusammenzuschreibender Bildungen bringen, nämlich zu deren genereller Abneigung gegen morphologisch komplexe adjektivische Erstglieder, vgl. 4.1.4.1 (E9). Diese Abneigung gilt allerdings nur für Determinativ-, nicht für Koordinativbildungen, und entsprechend schreibt man in der N e u - G Z S zwar , aber nach wie vor . Allerdings erfaßt die fragliche Festlegung auch einige Simplex-Erstglieder, die durchaus morphologisch angebunden werden können, z.B .fertig-. geschrieben.

Deshalb wird z.B. fertigmalen

nun

Neue Interface-Gesetze kommen hinzu

179

Daß die neue Getrenntschreibung dieser verbalen Komplexe, die nun auch ihre nicht syntaktisch-kompositionalen Lesarten betrifft, vielen an die Alt-GZS gewöhnten Lesern/Schreibern gegen den Strich geht, spricht nicht gegen die Annahme, daß es sich hier faktisch um eine Beseitigung von Ausnahmen zu den Gesetzen ZUS-MORPH » GETR-AUSDR handelt. Die alte Schreibung vieler dieser Beispiele entspricht j a dem starken lexikalischen Trend zur Zusammenschreibung von Semi-Partikelverben. Und dieser Trend prägt die GZSIntuitionen von Menschen, die vor 1998 lesen und schreiben gelernt haben, sicher kaum weniger als die Interface-Gesetze von O l .

8.3 Neue Interface-Gesetze kommen hinzu Ist das System der Neu-GZS also das gleiche wie das der Alt-GZS, nur daß die Menge der mehr oder weniger liebgewordenen Ausnahmen zu den allgemeinen Interface-Gesetzen von O l nun durch Änderung der einschlägigen lexikalischen Einzelfestlegungen verkleinert wird? Wenn dem so wäre, hätte die Reform der GZS, wie von ihren Vertretern behauptet, tatsächlich auf eine relativ "behutsame" Weise etwas zur Verbesserung der "inneren Logik" (d.h. der Systematizität) der Orthographie beigetragen. 8 Tatsächlich ist die Reform aber einen anderen Weg gegangen, nämlich den einer Erweiterung von O l um zusätzliche Interface-Gesetze. Diese zusätzlichen Gesetze sind es, die bewirken, daß lexikalisierte Ausnahmen zu der in der Kern- und in der Alt-GZS wirksamen Ordnung von GZS-Gesetzen (s. 8.2) beseitigt werden, sie fuhren aber auch zu einer ganze Reihe von Neuschreibungen, die dieser Gesetzesordnung widersprechen. Viele dieser Fälle wurden ex negativo schon in 5.1 erwähnt. Es sind Zeichen, die zwar morphologische Bildungen sind (zur Begründung vgl. ebd.), aber nun getrennt geschrieben werden: 9 8 9

Vgl. Gallmann/Sitta (1996: 27). Uneinigkeit besteht darüber, ob in diese Gruppe auch Substantivierungen von Partizipialadjektiven gehören, wie die beiden letzten Beispiele von (6). Nach manchen Deutungen der Neu-GZS können solche Bildungen weiterhin zusammengeschrieben werden. Allerdings sieht der einzige Paragraph des Regeltextes, der zur Begründung dieser Deutung angeführt werden könnte, nämlich §37 (2), die Zusammenschreibung von substantivischen Bildungen, "bei denen der letzte Bestandteil kein Substantiv ist", nur dann vor, wenn es sich um "substantivisch gebrauchte Zusammensetzungen" handelt. Es gibt im Regeltext jedoch keinerlei Hinweise darauf, daß die Ratsuchenden oder das Naheliegendste "Zusammensetzungen" sind. Im Gegenteil: Nach Aufweis der vom Regeltext geforderten Getrenntschreibung der zugrunde liegenden Partizipialadjektive handelt es sich gerade nicht um "Zusammensetzungen", sondern um "Wortgruppen", vgl. , . Entsprechend findet sich unter den Beispielen für zusammenzuschreibende Substantivierungen in §37 (2) keines, dem ein getrennt zu schreibendes Partizipialadjektiv zugrunde liegt. Ich gehe deshalb mit vielen anderen Interpreten (etwa Dürscheid 2002: 216) davon aus, daß Bildungen der fraglichen Art unter den für Partizipialkomplexe einschlägigen §36 (1) fallen (s.u.) und damit getrennt geschrieben werden müssen, also eben so wie in (6).

Das System derNeu-GZS

180 (4)

, , , ,

(6)

, , , , , , , , , , , , , , , , , , , ,

Diese O l widersprechenden Schreibungen werden im Text der neuen amtlichen Rechtschreibung nicht durch reine Auflistung festgelegt, sondern ergeben sich aus allgemeineren Kriterien für Getrenntschreibung, die in den Erläuterungen zu den einzelnen GZS-Regeln (vgl. 8.1) genannt werden. Damit wäre es unplausibel, sie als lexikalische Irregularitäten zu betrachten. Vielmehr folgen diese Schreibungen, wie gesagt, aus neu hinzukommenden GZSGesetzen, die es nun zu ermitteln gilt.

8.3.1 Neue Gesetze für Verben Beginnen wir bei den nun getrennt zu schreibenden Verben (4) - (5). Das Spatium in den Fällen (4) ergibt sich aus der Forderung von §34 E3 (5), daß trennbare Verbindungen der Form Substantiv + Verb getrennt geschrieben werden. Wenn man diese Regel, wie es bei einer rationalen Deutung des Textes naheliegt (s.o.), nicht als reine Ad-hoc-Festlegung betrachten möchte, sondern auf ein generelleres GZS-Gesetz zurückzuführen versucht, liegt es nahe, hier eine Manifestation der Beschränkung GETR-BEW zu vermuten, die wir schon in 3.3 als Beispiel für ein im GRUNDPRINZIP DER SPATIENSETZUNG verankertes GZS-Gesetz kennengelernt haben, das allerdings, wie sich später zeigte, in der Kern- und in der Alt-GZS nicht operativ ist. Genauer gesagt scheint es sich um die folgende Spezialisierung von GETR-BEW zu handeln: GETRENNTSCHREIBUNG BEWEGLICHER TEILAUSDRÜCKE VON VERBEN (GETR-BEWV) Wenn die Teilausdrücke X oder Y eines Verbs XY bewegt werden können, gibt es zwischen und ein Spatium.

181

N e u e Interface-Gesetze kommen hinzu

Wenn man annimmt, daß die Neu-GZS dieses Gesetz operativ macht, und zwar so, daß es sich gegen eine durch morphologische Bildung geforderte Zusammenschreibung durchsetzen kann, also mit der Rangordnung (02'), (02') GETR-BEWV »

ZUS-MORPH »

GETR-AUSDR

erfaßt man nicht nur die Fälle in (4), sondern auch die in (5), ohne der Neuregelung Ad-hoc-Festlegungen unterstellen zu müssen. 10 Darüber hinaus paßt diese Kombination von Interface-Gesetzen gut zu der in 8.2 erwähnten Eindämmung der Zusammenschreibung von Semi-Partikelverben und anderen morphologienahen trennbaren Bildungen, vgl. ebd. (1) - (3). Sie macht transparent, wie die Neuregelung diese Eindämmung bewerkstelligt: Die frühere Zusammenschreibung von verbalen Komplexen, deren Status als "Zusammensetzung" unklar ist, wird nicht durch Änderung lexikalischer Einzelfestlegungen oder eine geeignete Präzisierung des Begriffs "Zusammensetzung" abgeschafft, sondern durch Hinzunahme eines einfachen GZS-Gesetzes, das es erlaubt, Zweifelsfalle durch Überprüfung eines einzigen strukturellen Faktors, eben der Beweglichkeit von Teilausdrücken, zu klären. So muß nun die Entscheidung zwischen Getrennt- und Zusammenschreibung in Fällen wie hängenlbleiben, Haitimachen oder Radifahren nicht mehr umständlich von dem Für und Wider der Annahme einer morphologischen Bildungsweise (die noch dazu auf eine bestimmte Lesart zu relativieren ist) abhängig gemacht werden, sondern es genügt festzustellen, daß die fraglichen Komplexe bewegliche Teilausdrücke haben. Damit ist nach obiger Beschränkungshierarchie sofort klar, daß getrennt geschrieben werden muß. Zu dieser Deutung paßt auch die Art und Weise, wie diejenigen Erläuterungen zu §34, die zur Getrenntschreibung früher zusammengeschriebener trennbarer Verben fuhren (das sind neben E3 (5) vor allem E3 (4) und (6)), sowie der §35, der die Getrenntschreibung trennbarer Verbindungen mit sein fordert, mit Beispielen illustriert werden. Es sind in der Mehrzahl gerade Beispiele der Typen (1) - (3), also Zweifelsfälle im fraglichen Sinn (nämlich morphologienahe, aber nicht morphologische Bildungen, meist Semi-Partikelverben).

10

Dazu muß man allerdings GETR-BEWV in einem weiten Sinn interpretieren, der Beweglichkeit schon dann konstatiert, wenn das j e w e i l i g e Verb in mindestens Flexionsformen

einer seiner

möglichen

bewegliche Teilausdrücke hat. Damit fuhrt GETR-BEWV nicht nur zur Ge-

trenntschreibung finiter verbaler Komplexe mit tatsächlich beweglichen Teilausdrücken, w i e , sondern auch zur Getrenntschreibung nicht-finiter Verbalkomplexe, die, wenn sie finit wären, bewegliche Teilausdrücke hätten, w i e < M a n könnte hängen bleiben>. Für die zw-Infinitiv-Form ist GETR-BEWV so zu interpretieren, daß auch das zu durch Spatien von den beiden Teilgliedern abzutrennen ist, z.B. . (Ich verzichte darauf, diese Präzisierungen in GETR-BEWV einzubauen, da klar sein dürfte, was gemeint ist.)

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Das System der Neu-GZS

Die Aufnahme von GETR-BEWV in die Hierarchie der Interface-Gesetzen eröffnet also Perspektiven auf ein in der Anwendung weniger kompliziertes GZS-System, ganz im Sinne der von der Reform insgesamt angestrebten Vereinfachung des orthographisch korrekten Schreibens. Andererseits birgt diese Veränderung die Gefahr massiver Konflikte mit einem anderen Ziel der Reform in sich, nämlich mit dem einer möglichst behutsamen Änderung der vorher gültigen Schreibungen (s.o.)· 0 2 ' fuhrt ja nicht nur zur Getrenntschreibung vieler hinsichtlich ihres morphologischen Status zweifelhafter Fälle, sondern außerdem zur Getrenntschreibung sämtlicher Partikelverben, also zu Schreibungen wie , , , etc., die für Menschen, die an das System der Alt-GZS gewöhnt sind, völlig unzumutbar wären. (Man erinnere sich, daß Partikelverben morphologische Bildungen im relevanten Sinn sind, vgl. 4.1.4.) Dieses Problem haben die Reformer offensichtlich erkannt und deshalb Vorkehrungen gegen Schreibungen der fraglichen Art getroffen. Die Zusammenschreibung von Partikelverben wird allerdings im Regelwerk nicht durch ein allgemeines Kriterium gesichert. Vielmehr werden ftinfundneunzig zusammenzuschreibende V-Partikeln in §34 (1) einzeln aufgezählt, darunter auf-, bei-, dafür-, ein-, dazwischen-, her-, heraus-, herunter-, mit-, nach-, über-, vor-, weiter-, zusammen-. Der große Umfang und die Kohärenz der Menge der angeführten V-Partikeln läßt mich vermuten, daß die Auswahl nach einem bestimmten System erfolgte." Dieses läßt sich der Regelformulierung jedoch nicht entnehmen. Da die morphologischen Bildungsmuster, die den meisten der genannten V-Partikeln entsprechen, produktiv sind, also jederzeit Neubildungen zulassen, die dann ebenfalls zusammenzuschreiben, aber mangels Lexikalisierung (noch) nicht im Wörterbuch zu finden sind,12 können wir in unserer Systemrekonstruktion die einschlägigen Schreibungen nicht als Irregularitäten (die ja immer lexikalisiert sein müssen) analysieren, sondern müssen eine zusätzliche GZS-Beschränkung annehmen, die allerdings auf einer Auflistung aller betroffenen Bildungsmuster beruht:

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Die Menge umfaßt die große Mehrzahl aller trennbaren Erstglieder verbaler Komplexe im Deutschen, die nicht denominal, deadjektivisch oder deverbal sind und nach Aufweis von HGM durch ein morphologisches Bildungsmuster eingeführt werden. (Es fehlen allerdings einige Elemente dieser Klasse, z.B. d(a)rüber-, d(a)runter-, davor-, vgl. Ickler 1997a: 52f.; sie wurden wohl einfach vergessen.) Damit fallt das Gros der in der Literatur üblicherweise als Partikelverben klassifizierten Bildungen unter §34 (1). Eine der aufgelisteten Partikeln, nämlich zwischen-, ist jedoch nicht trennbar und kommt nur in Rückwärtsbildungen (wie Zwischenlagern, zwischenlanden) vor. So wäre nach §34 (1) , , zu schreiben.

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N e u e Interface-Gesetze kommen hinzu

ZUSAMMENSCHREIBUNG AUSGEWÄHLTER PARTIKELVERBEN (ZUS-PARTV) Wenn X und Y Teilausdrücke eines trennbaren Verbs XY sind und X eine der in §34 (1) genannten V-Partikeln oder heim- ist, gibt es zwischen und kein Spatium. (Die Sondernennung von heim- erklärt sich daraus, daß sich entsprechende Verben in der Neu-GZS systematisch genauso verhalten wie die in §34 (1) aufgelisteten, 13 dort aber - wohl infolge des denominalen Status von heim- nicht aufgeführt wurden. Vielmehr wird die Zusammenschreibung von heimVerben isoliert in §34 E l (3) festgelegt, wo ansonsten irreguläre Zusammenschreibungen von N+V-Komplexen eingeführt werden.) Den erwünschten Effekt hat diese Regel, wenn man sie wie folgt in 0 2 ' einbaut: 14 (02") ZUS-PARTV »

GETR-BEWV »

ZUS-MORPH »

GETR-AUSDR

Der Wunsch nach Vermeidung allzu provokanter Neuschreibungen, die sich aus GETR-BEWV ergeben würden, steht wohl auch hinter einer weiteren Systemkomplikation, die durch die Erläuterungen zu §34 verursacht wird. Auch bei bestimmten Semi-Partikelverben, deren Erstglieder nicht mehr selbständig vorkommen oder bei syntaktischer Verbindung mit dem Verb eine völlig andere Bedeutung haben, ist die Zusammenschreibung im Sprachgefühl der meisten erwachsenen Leser/Schreiber tief verankert, z.B. fehlgehen, kundgeben, festsetzen, gutschreiben, standhalten, stattfinden. Entsprechend wären Schreibungen wie , ,