Sozialutopien - barbarische Glücksverheißungen?: Ein geistesgeschichtlicher Überblick über die Idee von der vollkommenen Gesellschaft [1 ed.] 9783428474202, 9783428074204

118 8 62MB

German Pages 557 Year 1992

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Sozialutopien - barbarische Glücksverheißungen?: Ein geistesgeschichtlicher Überblick über die Idee von der vollkommenen Gesellschaft [1 ed.]
 9783428474202, 9783428074204

Citation preview

HELMUT JENKIS

Sozialutopien -

barbarische Glücksverheißungen?

Philosophische Schriften Band 6

Sozialutopien -

barbarische Glücksverheißungen? Zur Geistesgeschichte der Idee von der vollkommenen Gesellschaft

Von

Helmut Jenkis

DUßcker & Humblot . Berliß

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Jenkis, Helmut: Sozialutopien - barbarische Glücksverheissungen? : Zur Geistesgeschichte der Idee von der vollkommenen Gesellschaft / von Helmut Jenkis. - Berlin : Duncker und Humblot, 1992 (Philosophische Schriften ; Bd. 6) ISBN 3-428-07420-3 NE:GT

Alle Rechte vorbehalten © 1992 Duncker & Humblot GmbH, Berlin 41 Satz: Werksatz Marschall, Berlin 45 Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin 61 Printed in Germany ISSN 0935-6053 ISBN 3-428-07420-3

Der Mensch ist weder ein Engel noch eine Bestie, und sein Unglück ist, dass er um so bestialischer wird, je mehr er ein Engel sein will. Blaise Pascal

Holzschnitt von Arnbrosius Holbein. 1518 - Archiv Gerstenberg

Auf der Insel Utopia: Ein perfektes Regime der Unfreiheit

Vorwort Nicht nur die Zahl der Utopien!, sondern auch die Literatur über Utopien 2 ist Legion. Es erhebt sich die Frage, ob es angebracht erscheint, diese umfangreiche Literatur um eine weitere Publikation zu erweitern. Ziel dieser Veröffentlichung ist, keine neue Utopie vorzulegen, sondern in einem geistesgeschichtlichen Überblick die Staats- und Sozialutopien darzustellen und herauszuarbeiten, daß diese - wenn immer sie realisiert wurden oder verwirklicht werden sollen - inhuman und barbarisch waren bzw. sind. Solange die Utopieentwürfe lediglich als geistreiche Erörterungen über eine vollkommene oder ideale Gesellschaft betrachtet werden, lassen sie sich als Gegensatz zur Unvollkommenheit der bestehenden menschlichen Ordnung verstehen. Werden aber die in den Utopien enthaltenen Ideen und Ideale in einer konkreten Gesellschaftsordnung umgesetzt, stoßen diese Ideale auf die Menschen als Einzelwesen und die von diesen geformte Ordnung. Hier entsteht ein Konflikt zwischen der Idee oder dem Ideal einer vollkommenen Gesellschaft und den anthropologischen Anlagen und Grenzen der Menschen. In allen Utopien - ob als Entwürfe oder als Realisierungsversuche wird unterstellt oder gefordert, daß sich die Menschen dem Idealbild der vollkommenen Gesellschaft unterwerfen. Hierin liegt das barbarische Element der Sozialutopien. 2_ Es hat zahlreiche Systematisierungen der Utopien gegeben. Robert von MohP (1799 bis 1875) hat den Begriff der ,Staatsromane' für fiktionale I Alberto Manguel/Gianni Guadalupi haben in ihren Sammelbänden: Von Atlantis bis Utopia - Ein Führer zu den imaginären Schauplätzen der Weltliteratur (Ullstein Sachbuch, 3 Bände, Frankfurt-Berlin-Wien 1984) eine alphabetische Auflistung von mehr als tausend Schauplätzen genannt, die sie als imaginäre Orte bezeichnen, die die Traum-, Angst-, Wunsch-, und Fluchtvorstellungen des Lesers verkörpern mögen. So amüsant diese ,Utopie-Lexiken' auch sein mögen, sie genügen aber einer wissenschaftlichen Behandlung dieses Themas nicht. 2 Frank E. Manuel und Fritzie P. Manuel, in: Utopian Thought in the Western World, Cambridge, Mass. 1979 (third printing 1982), nennt rund 195 englische, deutsche und französische Titel (S. 869-875); Arnhelm Neusüss (Herausgeber): Utopie - Begriff und Phänomen des Utopischen, 3. Auflage, Frankfurt-New York 1986, führt 695 Quellen an (So 471-515). 2_ ,Barbar' bedeutet eigentlich der Stammelnde, der unverständlich Redende, bel den Griechen derjenige, der nicht Griechisch Sprechende, do ho der Fremde. Seit den Perserkriegen verbanden die Griechen damit den Begriff des Ungebildeten, Rohen und Grausa) Robert von Mohl: Geschichte der Literatur der Staatswissenschaften, 3 Bände, 185558, Nachdruck Graz 1960.

VIII

Vorwort

Schilderungen eines idealen Gesellschafts- und Staatslebens als Gegenstück zu den bestehenden religiösen, sozialen und politischen Zuständen eingeführt. Diesen auch heute noch gebräuchlichen Begriff wollen wir bedingt verwenden, weil es bei den Utopien ohne Zweifel auch um die staatliche Ordnung geht, aber eine Utopie nicht unbedingt mit der Staatsordnung identisch sein muß. Daher scheint uns der umfassendere Begriff ,Sozialutopie' zweckmäßiger zu sein. Andreas Voigt4 unterscheidet zwischen den Utopien im engeren Sinne - den idealen Staats- und Gesellschaftsgebilden, die von Mohl ,Staatsromane' nennt - und den sozialen Utopien, die es .,vielmehr zu tun (haben) mit der Zukunft der menschlichen Gesellschaft, mit der zukünftigen Staats- und Wirtschaftsordnung und nur mit dieser".5 Aber auch diese begriffliche Abgrenzung macht deutlich, daß eine klare Trennung zwischen den Sozial- und Staatsutopien nicht (immer) möglich ist. Der Marxist Bruno Frei6 weist darauf hin, daß die Sozialutopie im Unterschied zur technischen und zur biologischen Utopie sowie anderen Wunschvorstellungen gesehen werden muß . .,Wir sprechen von Sozialutopie im Sinne einer idealen Gesellschaft, die fähig ist, die materiellen Bedürfnisse des Menschen konfliktlos zu befriedigen, was die altchinesischen Philosophen die ,Große Harmonie' genannt haben. "7 Die Idee von einer konfliktlosen Gesellschaftsform findet man auch in den Staatsutopien. Diese knappen Hinweise machen bereits deutlich, daß eine klare Trennung zwischen den in den Staatsromanen enthaltenen idealen Staats- und Gesellschaftsgebilden einerseits und den Sozialutopien andererseits nicht vorgenommen werden kann. Wie wir noch weiter sehen werden, durchzieht die gesamte Utopieliteratur und -thematik die Unklarheit des Begriffs der Utopie. Abweichend von bisherigen Systematisierungen erscheint es uns zweckmäßig, drei Typen von Utopien zu unterscheiden, wobei bereits vorausschickend darauf hingewiesen werden soll, daß es auch hier Abgrenzungsprobleme gibt: (1) Staats- oder Sozialutopien: Sie zielen darauf ab, die Bedingungen der

individuellen oder gesellschaftlichen Verhältnisse so zu gestalten, daß die Menschen frei von Not, Angst, Unterordnung, Ausbeutung usw. leben. Entweder wird die Gesamtordnung so gestaltet, daß der Einzelne eine ideale und vollkommene Ordnung vorfindet, oder der Einzelne wird in

men. Heute versteht man unter ,barbarisch' einen rohen, ungesitteten und ungebildeten Menschen, einen Wüstling oder Rohling. In diesem Sinne wird der Ausdruck ,barbarisch' gebraucht. 4 Andreas Voigt: Die sozialen Utopien Fünf Vorträge, Leipzig 1906. 5 Ebenda, S. 7. 6 Bruno Frei: Zur Kritik der Sozialutopie, Reihe Fischer, Frankfurt 1973. 7 Ebenda, S. 13 f. (Hervorhebung im Original, Jk.).

Vorwort

IX

ein vorgegebenes Ordnungssystem ,eingepaßt', um zur Vervollkommnung dieses Systems beizutragen; im ersten Fall ist das Individuum Subjekt, im zweiten das Objekt der idealen und vollkommenen Gesellschaftsordnung. (2) Religiöse Utopien: An die Stelle der Zwei-Reiche-Lehre - ein auf Martin Luther zurückgehendes Modell zur Erklärung der Art und Weise der göttlichen Weltregierung - greifen die religiösen Utopien insbesondere auf die Apokalypse des Johannes zurück, um insbesondere in Zeiten der Not eine bevorstehende Ankunft des Herrn, die Aufrichtung des tausendjährigen Reiches und damit das Ende der Welt zu verkünden. Diese apokalyptischen Strömungen traten als schwärmerische Sektiererei auf, und sie verbanden sich mit sozialrevolutionären Ideen. Nach schweren Strafgerichten würde das dritte Reich des Geistes hereinbrechen und auf Erden den Zustand der Vollkommenheit bringen. Schwärmer verbanden sich mit den unterprivilegierten Schichten, um durch radikale Umsturzversuche einen christlich-kommunistischen Gottesstaat auf Erden zu errichten. Der Chiliasmus ist eine apokalyptische Lehre bzw. Bewegung, nach der vor dem Ende der Welt und dem Anbruch der vollkommenen Gottesherrschaft noch ein weltlich-überweltliches Zwischenreich auf Erden erscheinen soll. (3) Technische Utopien oder Science Fiction: Es sind vornehmlich literarisch.e Spekulationen, die sich mit künftigen, zum Teil aber nicht realisierbaren technischen Entwicklungen befassen: Weltraumfahrten mit Überlichtgeschwindigkeiten, Reisen in andere Zeiten, Entdeckung und Besiedlung anderer Himmelskörper, Invasionen und Besuche der Erde durch außerirdische Wesen, Veränderungen der Lebensbedingungen auf der Erde in politischer, sozialer, biologischer, ökonomischer und insbesondere in technologischer Hinsicht. Es sind Konstruktionen, die sich im Gegensatz zur tatsächlichen Welt befinden.

Es bedarf keines besonderen Hinweises, daß sich diese drei Utopieformen überschneiden: In den Sozial- oder Staats utopien sind auch stets religiöse und technische Elemente enthalten. Das entscheidende Kriterium scheint uns darin zu liegen, daß der Ausgangspunkt bzw. die Motivation unterschiedlich ist. Bei den Sozialutopien geht es in erster Linie um die Gestaltung einer vollkommenen Gesellschaftsordnung; die religiösen Utopien haben ihren Antrieb in der erwarteten Endzeit und in der Furcht des Gottesgerichtes; bei den technischen Utopien sind das soziale und religiöse Element zurückgedrängt, das Denken und Ausbreiten im jeweiligen Zeitpunkt unrealistisch erscheinender technischer Möglichkeiten steht im Vordergrund. Unsere Untersuchung wird sich in erster Linie mit den beiden zuerst genannten Utopieformen - der Staats- und Sozialutopie sowie der religiösen Utopie - befassen; bei George Orwell's ,1984' spielt aber

x

Vorwort

auch die moderne Technik hinein. Es wäre naheliegend, diese Untersuchung an Hand dieser drei Utopieformen zu gliedern. Auf dieses Gliederungsschema soll aber bewußt verzichtet und fast ausschließlich chronologisch vorgegangen werden: Vorangestellt wird ein einleitendes Kapitel, das sich mit dem Begriff und den Formen der Sozialutopie und der religiösen Utopie befaßt. Danach folgt eine Darstellung der griechischen sowie der ,klassischen' Utopieentwürfe der Renaissance, wobei nicht nur diese literarischen Entwürfe - von Mohl als ,Staatsromane' bezeichnet - inhaltlich wiedergegeben werden, sondern auch der Lebensweg des Autors skizziert wird, da unseres Erachtens dieser einen Schlüssel für die Konzeption enthalten kann oder zumindest seine Utopie dem heutigen Leser verständlich macht. Während die griechischen und ,klassischen' Utopien literarische Entwürfe sind und kaum Realisierungsversuche unternommen wurden, hat man in der Neuzeit immer wieder den Versuch gemacht, eine ideale und vollkommene Gesellschaftsordnung nicht nur zu beschreiben, sondern sie auch zu schaffen; dieser Abschnitt wird mit Thomas Müntzer eröffnet. Die bei den Realisierungsversuchen zu Tage getretenen Hemmungslosigkeiten und Grausamkeiten sind ein Grund dafür, daß der Frage nachgegangen werden soll, ob (realisierte) Sozialutopien barbarische Glücksverheißungen sind. Utopische Entwürfe der jüngeren Zeit - so die von H. G. Wells, Aldous Huxley und George Orwell- kehren wieder zur literarischen Form zurück. Auf diese soll nur kursorisch eingegangen werden, da sie als bekannt angesehen werden können. Es ist unmöglich, die gesamte Utopieliteratur im allgemeinen und die Utopie-Entwürfe im besonderen zu zitieren oder darzustellen. Eine Auswahl und damit eine Begrenzung ist unumgänglich. Jede Auswahl muß unbefriedigend sein, dieses gilt sowohl für die herangezogene Sekundärliteratur 8 als auch für die eigentlichen Utopien. Da es sich um einen geistesgeschichtlichen Überblick über einen Zeitraum von rund zweieinhalbtausend Jahren handelt, sind Unvollkommenheiten und Unzulänglichkeiten unvermeidbar. Spezialisten auf den einzelnen Gebieten oder Zeitabschnitten werden berechtigte Kritik sowohl hinsichtlich der Auswahl als auch hinsichtlich der gesetzten . Akzente und nicht zuletzt wegen der daraus gezogenen Schlüsse üben. Dieser Grenzen sind wir uns voll bewußt. Dennoch gehen wir dieses Risiko ein, 8 Die von Wilhelm Voßkamp herausgegebene Sammlung ,Utopieforschung' (Suhrkamp Taschenbuch 1159, 3 Bände, 1985) ist für unser Thema wenig ergiebig. Die von Jürgen Fohrmann erarbeitete ,Zusammenfassende Bibliographie' (Bd. I, S. 232-253) gibt einen guten Überblick über die umfangreiche Utopie-Literatur. Der Hitler-Biograph Joachim Fest hat ein geistreich geschriebenes Büchlein ,Der zerstörte Traum - Vom Ende des utopischen Zeitalters' (3. Aufl., Berlin 1991) geschrieben. Bei Fest klingt das barbarische Element an, er hat aber auf Quellenangaben verzichtet.

Vorwort

XI

weil wir meinen, daß der Zusammenhang zwischen den Sozialutopien und den darin enthaltenen Glücksverheißungen in dieser Form noch nicht dargestellt worden ist. Aus diesem Grunde haben wir den Satz von Blaise Pascal als Leitmotiv für diese Untersuchung vorangestellt: "Der Mensch ist weder ein Engel noch eine Bestie, und sein Unglück ist, daß er um so bestialischer wird, je mehr er ein Engel sein will." Hierin liegt auch zugleich die Warnung insbesondere an die jüngere Generation, den Führern und Heilspredigern zu glauben, die eine Gesellschaftsordnung verkünden, in der die Menschen von Sorgen und Ängsten, von Not, Arbeit und Unterdrückung befreit sein werden - diese Forderungen enden in der Barbarei.

Helmut Jenkis

Inhaltsverzeichnis ERSTES KAPITEL

Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens 1.

Zum Begriff und den Formen der Utopie . ..................... .

1. Bemerkungen zur Begriffsdefinition und Begriffsexplikation ....

2

2. Der philologische Erläuterungsansatz .....................

5

3. Elemente der Staats- und Sozialutopien ....................

8

a) b) c) d) e)

Die Gesetze des utopischen Denkens ................... Utopia - ein perpetuum immobile. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Utopie und Ideologie ............................... Utopie und Revolution .............................. Utopie und Kommunismus.. ... . . . ..... . . ....... ... .. f) Bubers ,Pfade in Utopia' . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Anarchistische und archistische Utopien. . . . . . . . . . . . . . . . . h) Gegen-Utopien ....................................

8 14 17 21 24 31 41 42

4. Religiöse Utopien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

a) Eschatologie - Chiliasmus - Apokalypse .............. b) Die Zwei-Reiche-Lehre ..............................

47 55

5. Science Fiction . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

58

6. Staats utopien und Sozialutopien .........................

61

ZWEITES KAPITEL

Die ,klassischen' Staatsutopien

66

1.

Vorbemerkungen ............................•...........

66

Il.

Die ,Sonneninseln' des Jambulos ......•............••....•...

68

1. Diodorus Siculus als Überlieferer des lambulos . . . . . . . . . . . . . .

68

2. Die ,Sonneninseln' des lambulos .........................

69

XIV IlI.

Inhaltsverzeichnis Platons Idealstaat

75

l. Platons Leben .......................................

75

2. Platons ,Politeia' ..................................... a) b) c) d)

IV.

83 86 89 94

3. Platons Idealstaat .eine Utopie? ..........................

96

Thomas Morus - der Vater der Staatsutopien •......•...••..•••

97

l. Thomas Morus' Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

98

2. Die Interpretation der Utopia - ein ungelöstes Problem . . . . . . .

105

3. Die bekannte Welt im Vergleich zu Utopia .................

110

a) Die Bekanntschaft mit Raphael Hythlodeus .............. b) Die Philosophen - keine Ratgeber der Herrscher ......... c) Das Privateigentum als Hindernis für das menschliche Glück

110 111 112

4. Die Verfassung der Insel Utopia .........................

113

a) b) c) d) e)

Die Lage der Insel Utopia und ihre Städte ............... Die Hauptstadt Amaurotum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Von den Obrigkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Gewerbe und der Tagesablauf der Utopier ............ Die Sozialordnung ................................. Das Geld ........................................ Geschlechtsmoral und Ehegesetz ...................... Das Kriegswesen .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Religion der Utopier ............................ Lob der utopischen und Kritik der bestehenden Staatsverfassungen ........................................ Der Schlußgedanke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

113 114 114 115 117 118 119 120 121

Der ,Sonnenstaat' des Campanel/a ................•..........

123

l. Das ruhelose Leben des Tommaso Campanella ..............

123

2. Campanellas utopisches Denken .........................

128

3. Die Utopie vom ,Sonnenstaat' ...........................

131

f)

g) h) i) j) k)

v.

81

Skizze des platonischen Staats ideals .................... Die schlechten Staatsverfassungen ..................... Die Weiber- und Kindergemeinschaft ................... Die Philosophen als Könige ..........................

a) b) c) d) e)

Die Sonnenstadt ................................... Der Tempel der Sonnenstadt .... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die obersten Behörden .............................. Der Amtsbereich des ,Sin': der ,Orbis pictus' ............. Der Amtsbereich des Mor . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Gemeinbesitz und Brüderlichkeit ...................... g) Die unteren Behörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

122 123

131 132 132 132 133 134 134

Inhaltsverzeichnis

VI.

h) Erziehung und Unterricht ............................ i) Die Wahl der Beamten .............................. j) Der Sol .......................................... k) Verbreitung der Kenntnisse. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . I) Wohnungs- und Arbeitsverteilung ..................... m) Die Mahlzeiten .................................... n) Bekleidung und Hygiene. . .. .. . . . . . .. . . . . ... . . . .. . . . . . . . . 0) Die Fortpflanzung ................................. p) Kinderpflege und -erziehung ............ . . . . . . . . . . . . . . q) Gattenwahl durch den Staat .......................... r) Ehrungen, Dienst, Gemeinschaftsarbeit ................. s) Gemeinbesitz der Frauen ............................ t) Dienst an der Gemeinschaft ohne Ausnahme ............. u) Gewerbe, Handel, Umgang mit Freunden ............... v) Tagesablauf und Gesundheitspflege .................... w) Volksversammlung, Senat, Regierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . x) Rechtsprechung .................................... y) Die Religion der Sonnenstaatler ....................... z) Astrologie, göttliche Vorsehung und Willensfreiheit .......

135 135 135 136 136 136 137 137 138 138 139 139 139 140 140 141 141 141 143

Johann Valentin Andreae - der protestantische Utopier .....•.....

143

I. Der Lebensweg des württembergischen Protestanten ..........

144

2. Andreaes ,Christianopolis' ein Gegenbild zu Campanellas ,Sonnen staat'? .......................................

151

3. Die protestantische Utopie ,Christianopolis' ................

153

a) b) c) d) e)

VII.

XV

Widmung und Vorrede .............................• Landung auf der Insel Capharsalama ................... Beschreibung der Stadt Christianopolis ................. Das öffentliche Gebet ............................... Ernährung, Arbeit, Freizeit, Belohnungen und Strafen ...... f) Die Regierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Die Wohnungen und der Hausrat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . h) Das Triumvirat .................................... i) Die Staatskunst und die christliche Armut ............... j) Die Naturwissenschaften ............................ k) Der Tempel und die Geistlichen ....................... I) Die Ehe und die Familie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . m) Die Kranken, der Tod, das Begräbnis ................... n) Die Rückkehr .....................................

155 157 158 160 160 160 161 161 164 164 166 166 168 168

Platons ,Atlantis' und Francis Bacons ,Neu-At/antis' .....•........

169

I. Platons Atlantis-Bericht ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

169

a) Der Atlantis-Bericht im Timaios . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Der Atlantis-Bericht im Kritias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

170 171

XVI

Inhaltsverzeichnis 2. Die Suche nach Atlantis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

177

3. Das Leben von Francis Bacon ...........................

180

4. Bacons ,Neu-Atlantis' als Modell einer Wissenschaftsgesellschaft

182

5. Die utopische Insel ,Neu-Atlantis' ........................

185

a) b) c) d) e) f) g) h)

Ankunft auf Neu-Atlantis .. ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Der Christenglaube auf der Insel Bensalem .............. Die Insel Neu-Atlantis .............................. Das ,Haus Salomons' ............................... Das Familienfest. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Keuschheit .................................... Die Audienz bei einem Mitglied des ,Hauses Salomons' .... Zweck der Gründung und die Vorrichtungen des ,Hauses Salomons' ........................................ i) Die Obliegenheiten und Funktionen des ,Hauses Salomons' j) Die Verabschiedung durch den Vater des ,Hauses Salomons'

186 187 188 190 191 193 193 195 199 200

DRITTES KAPITEL

I.

lI.

Vom utopischen Denken zum utopischen Radikalismus

201

Der religiöse Radikalismus im Spätmittelalter •.................

201

I. Krisen und Konflikte im ausgehenden Mittelalter ............

202

2. Die utopische Literatur - die utopische Revolution ..........

207

Thomas Müntzer - der Theologe und Revolutionär ..............

212

1. Der Lebensweg des Theologen und Revolutionärs Thomas Müntzer

214

2. Vom Theologen zum Revolutionär .......................

216

a) b) c) d) e) f) g)

IlI.

Das Jahr in Zwickau ............................... Das Prager Manifest. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Theologen zum politischen Rebellen in Allstedt ....... Auf dem Weg zu den Bauern ......................... Die ersten militärischen Auseinandersetzungen ........... Die Schlacht von Frankenhausen ...................... Müntzers Ende ....................................

216 218 220 225 228 230 232

3. Müntzer: Theologe - Revolutionär oder Utopist? . . . . . . . . . . . .

233

Die Wiedertäufer in Münster - das Königreich der letzten Tage •....

240

1. Das Täuferturn ......................................

242

a) Die Wiege des Täuferturns ...........................

243

Inhaltsverzeichnis b) Melchior Hofmann ................................. c) Das niederländische Täufertum .......................

IV.

XVII 244 247

2. Das Königreich der letzten Tage zu Münster 1534/35 .........

248

a) Der soziale Konflikt als Vorstufe der Wiedertäufer. . . . . . . . . b) Die friedliche Täufergemeinde ........................ c) Die Radikalisierung der Täuferherrschaft ................ d) Die Schreckensherrschaft in Münster ...................

249 253 254 256

aa) Bernd Rothmann .............................. bb) Jan Matthys .................................. cc) J an van Leiden ................................

256 259 264

e) Die Rüstung zum Endkampf ......................... f) Das Elend in Münster. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g) Verrat und Fall von Münster .........................

270 271 273

3. Die kommunistischen Züge der Widertäufer in Münster .......

277

a) Die Wesens merkmale des Sozialismus und Kommunismus ... b) Die Gütergemeinschaft .............................. c) Die Vielweiberei ...................................

277 280 285

4. Der ,göttliche Auftrag' der Pseudopropheten . . . . . . . . . . . . . . . .

290

Der Jesuitenstaat in Paraguay ..............................

294

1. Die Entstehung des Jesuitenstaates .......................

294

2. Die Anlage der Reduktionen ............................

297

3. Die innere Struktur des Jusuitenstaates ....................

298

a) b) c) d) e)

Die Selbstverwaltung ............................... Die Rechtsordnung ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die religiöse Ordnung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die soziale Ordnung ................................ Die Wirtschaftsordnung .............................

4. Das Ende des Jesuitenstaates

299 300 300 301 303

...........................

306

5. Der Jesuitenstaat - eine realisierte Utopie? ................

308

a) Der Jesuitenstaat im Widerstreit der Meinungen . . . . . . . . . b) Der Jesuitenstaat - ein kommunistisches Gemeinwesen? ...

308 314

XVIII

Inhaltsverzeichnis VIERTES KAPITEL

Die Irrtümer der Utopisten im 19. Jahrhundert

321

I.

Owen, Fourier, Cabet - utopische Sozialisten oder Utopisten? ......

322

II.

Robert Owen - der Fabrikherr und Utopist ..........•..••.....

324

l. Der Weg vom sozialreformerischen Unternehmer zum Utopisten

325

2. Die genossenschaftliche Siedlung als Hort der paradiesischen Glückseligkeit .......................................

330

3. Die Siedlung New Harmony ............................

331

III.

IV.

4. Das mißglückte Experiment in Mexiko ....................

333

5. Die Konsumgenossenschaften und die Arbeitsbörse ..........

334

6. Die letzten Experimente ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

336

7. Owen der erfolgreiche Sozialreformer und der gescheiterte Utopist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

338

Char/es Fourier - der phantastische Utopist ...................

341

l. Der Lebensweg des kleinen Angestellten mit den großen Ideen ..

341

2. Analyse und Kritik der bestehenden Ordnung ...............

345

3. Das Phalanstere ......................................

348

a) Die Konzeption der Phalangen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Die gescheiterten Realisierungsversuche .................

348 354

Etienne Cabet und seine Reise nach Ikarien .•..................

358

l. Cabets Weg vom Advokaten zum kommunistischen Utopisten ..

358

2. Cabet - der demokratische Kommunist ...................

361

3. Die Reise nach Ikarien .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

364

a) b) c) d) e) f) g)

V.

Der Aufbau und die Konzeption des utopischen Romans .... Die Hauptstadt Ikara ............................... Die politisch-gesellschaftliche Organisation Ikariens ....... Die Grundsätze der Republik ......................... Der Alltag in Ikarien ............................... Die Erziehung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Überblick über das Ganze ...........................

364 366 368 369 370 373 374

4. Die gescheiterten Realisierungsversuche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

377

a) Der Aufruf zur Auswanderung nach Amerika ............ b) Das gescheiterte Ikarien in Amerika ....................

377 379

Owen - Fourier - Cabet: Die gescheiterten Utopisten ...••......

384

Inhaltsverzeichnis

XIX

FÜNFTES KAPITEL

I.

Il.

III.

Die klassenlose Gesellschaft - eine barbarische Utopie

392

Der wissenschaftliche Sozialismus - eine Utopie? .............••

393

1. Adlers Ablehnung des Utopismus bei Marx und Engels ........

394

a) Werden im Sozialismus die Menschen zu Engeln? .. . . . . . . . . b) Hält sich der Sozialismus für das Himmelreich? ........... c) Der Marxismus - eine Form des religiösen Chiliasmus? ....

395 397 399

2. Wissenschaftlicher oder utopischer Sozialismus - eine Nominaldefinition ...........................................

40 I

Der Entwurf des. wissenschaftlichen Sozialismus' •...............

402

1. Engels Schritt von der Utopie zum wissenschaftlichen Sozialismus

403

2. Der utopische Sozialismus ..............................

404

3. Die idealistische Geschichtsauffassung Hegels ...............

407

4. Der Sprung der Menschheit in das Reich der Freiheit .........

409

5. Der Entwicklungsgang der Menschheit ....................

412

Die utopischen Elemente des, wissenschaftlichen' Sozialismus ....•..

413

1. Bestimmt das materielle Sein das Bewußtsein? ...............

414

2. Der ,neue Mensch' des Marxismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

418

a) Die klassenlose Gesellschaft erzeugt den ,neuen Menschen' .. b) Die ,große Mutation' bleibt aus ....................... c) Die ,große Mutation' kommt .........................

418 424 426

3. Die barbarischen Elemente des real existierenden Sozialismus ...

433

a) Dserschinskij - der ,neue Mensch' der Sowjetunion ....... b) Die Massenrepressalien in der Sowjetunion Folge des Personenkultes? ...................................

433

aa) Wellen der Massenrepressalien .................... bb) Die ,Großen Säuberungen' ....................... cc) Die Geheimrede Chruschtschows über Stalins Personenkult.. . ...... . ........ .. . ... .. . ... ...... .....

437 439

4. Der Terror in der Sowjetunion - Folge des Personenkults? ....

448

437

442

xx

Inhaltsverzeichnis SECHSTES KAPITEL

I.

Il.

IIl.

Der barbarische Mythos vom arischen Menschen

452

Der arische Mythos ................................•.....

452

I. Die Geburt des arischen Mythos .........................

453

2. Die Ungleichheit der Rassen ............................

456

3. Die edlc Rasse der Germanen ...........................

460

Der RasseKedanke des Nationalsozialismus

465

I. Rosenbergs Mythus vom arischen Menschen ................

466

2. Hitlers Rassenideologie und Rassenutopie ..................

467

Die barbarische Rassenutopie des Nationalsozialismus ................

472

I. Die Eugenik - Wegbereiter der nationalsozialistischen Rassenideologie? .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

472

2. Die Rassenzüchtung im Dritten Reich .....................

477

a) Die rassenpolitischen Maßnahmen ..................... b) Der Lebensborn - die Menschenzüchtung . . . . . . . . . . . . . . .

477 480

aa) Die geistigen Vorläufer .......................... bb) Der Lebensborn als rassische Zuchtanstalt ...........

480 484

c) Die Euthanasie - die Vernichtung des lebensunwerten Lebens

490

aa) Die Freigabe der Vernichtung des lebensunwerten Lebens - ein juristisches und medizinisches Problem ..... . . . . bb) Die Euthanasie - eine barbarische Glücksverheißung ..

490 497

SIEBENTES KAPITEL

Können oder sollen Sozialutopien verwirklicht werden?

508

Nachwort. • • . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

513

Literaturverzeichnis ...••......................................

514

Namenverzeichnis .............................................

528

Sachwortverzeichnis ..•.......•................................

533

Erstes Kapitel

Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens Der Soziologe Hans Freyer 1 (1887 bis 1969) hat in seiner Untersuchung zum utopischen Denken einleitend festgestellt, daß es beinahe unmöglich erscheint, "einen allgemeingültigen Begriff der Utopie zu bilden oder auch nur einen Kanon von Merkmalen anzugeben, den das utopische Denken immer erfüllt. Eine schulgerechte Definition wollen wir auch nicht aufs tellen".2 Wohl aber kann versucht werden, die Wesenszüge und die formalen Eigenschaften des utopischen Denkens zusammenzustellen. Freyer nennt dieses "eine Art Logik der Utopie zu entwickeln". Und an gleicher Stelle fahrt Freyer3 fort: "Denn eine Utopie ist ja mehr und will mehr sein als ein Fabelland mit merkwürdigen Wesen und Sitten, mehr als ein Schlaraffenland mit gebratenen Tauben und anderen Überraschungen. Sie will eine geschlossene, in sich stimmige, überzeugende und sozusagen lebensfahige Welt sein, eine Ordnung, die ihren Bau und ihr Gleichgewicht hat, ein Gebilde, das, wenn es schon nicht wirklich ist, doch wirklich sein könnte." Die großen Dichter und Utopisten zwingen ihre Gestalten in das Leben hinein, so daß sie fähig werden, Menschen zum Atmen zu bringen und Staaten - die es nicht gibt - zu vergegenwärtigen. So entsteht das utopische Denken unter gewissen Gesetzen, die wir weiter unten darstellen werden.

I. Zum Begriff und den Formen der Utopie Der Begriff, Utopie' ist ein Kunstwort, das von Thomas Morus mit seinem Staatsroman ,De optimo statu reipublicae deque nova insula Utopia' (1516, englisch 1551, deutsch unter dem Titel ,Insel Utopia', 1612) aus den beiden griechischen Wörtern ou = nicht und topos = Ort gebildet wurde. ,Utopia' ist somit ,Nirgendort' "Nirgendwo' oder ,Nirgendland'. Hieraus hat sich der klassifikatorische Begriff ,Utopie' gebildet. Bevor wir uns den Elementen und Gesetzen der Utopie zuwenden - einem überaus schwierigen UnterfanI Hans Freyer: Die politische Insel- Eine Geschichte der Utopien von Platon bis zur Gegenwart, Leipzig 1936. 2 Ebenda, S. 22. ) Ebenda, S. 22 f.

I Jenkis

2

l. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

gen -, wollen wir einige Bemerkungen zur Begriffsdefinition und Begriffsexplikation voranstellen. Dieser Exkurs soll dazu dienen darzulegen, daß es letztlich keine allgemein verbindliche (Real-)Definition des Begriffs, Utopie' gibt, sondern es sich vielmehr um eine Nominaldefinition handelt. 1. Bemerkungen zur Begriffsdefinition und Begriffsexplikation

Ohne auf die gesamte Problematik der Definitionstheorie4 einzugehen, sei lediglich folgendes angemerkt: Es ist zwischen einer Begriffsdefinition und Begriffsexplikation zu unterscheiden5: Danach ist eine Begrifjsdejinition ein Satz, "durch den eine Beziehung zwischen verschiedenen Begriffen von der Art hergestellt wird, daß die Intension des einen durch die der übrigen eindeutig bestimmt ist. Eine Begriffsexplikation ist hingegen nicht eine Gegenüberstellung (und Identifizierung) eines Begriffs mit einer (in einer bestimmten Weise geordneten) Gruppe von anderen, sondern eine Gegenüberstellung (und nicht vollständige Identifizierung) eines unexakten Begriffs mit einem exakten. Der unexakte Begriff wird dabei ,Explikandum', das Resultat der Explikation ,Explikat' genannt." Begriffe können auf drei verschiedene Arten unexakt sein: 6 (1) Begriffe sind vage, d. h., die Regeln, nach denen die sprachlichen

Ausdrücke angewandt werden, sind nicht immer eindeutig. Es ist zwischen der intensionalen und extensionalen Vagheit zu unterscheiden.

(2) Begriffe sind häufig mehrdeutig (zum Beispiel der Begriff ,Masse' in der Physik und in der Soziologie), was zu Verwirrungen und Fehlschlüssen führen kann. Sofern man sich der Mehrdeutigkeit des Begriffs bewußt ist, ist diese kaum schädlich. (3) Begriffe. werden inkonsistent gebraucht. Auch ist dieses dann nicht problematisch, wenn man sich dieser Inkonsistenz bewußt ist. Das zu erläuternde Explikandum ist ein vorwissenschaftlicher Begriff oder Ausdruck der Alltagssprache; durch das Explikat wird der Versuch unternommen, diesen Ausdruck in unserer gegenwärtigen Wissenschaftssprache auszudrücken. Dabei müssen wir für das Explikat klare und eindeutige Regeln für seine Anwendung - sei es in der Form der Definition (durch die Einordnung dieses Begriffs in ein logisch-mathematisches System) oder 4 Siehe hierzu lediglich Eike von Savigny: Grundkurs im wissenschaftiichen Definieren, dtv. Wissenschaftliche Reihe, München 1970; Wilhelm E. Essler; Wissenschaftstheorie I - Definition und Reduktion, Kolleg Philosophie, Freiburg- München 1970. S Essler, S. 56 (Hervorhebung im Original, Jk.). 6 Ebenda, S. 56 f.

I. Zum Begriff und den Formen der Utopie

3

in eine empirische Theorie - geben. "Rein formal ist eine Begriffsexplikation die Übersetzung eines Begriffs einer wenig exakten Sprache in eine exaktere. Sie kann daher keine in einer Sprache ausdrückbare Identität sein, und es ist in diesem Fall sinnlos, von der Wahrheit oder Falschheit einer solchen Identitätsaussage zu reden .... Es ist daher sinnvoller, nicht von Wahrheit oder Falschheit einer Explikation, sondern von deren Adäquatheit oder Nichtadäquatheit bzw. von deren Zweckmäßigkeit oder Unzweckmäßigkeit zu reden."7 Wie noch zu zeigen sein wird, gehört das künstlich gebildete Wort ,Utopie' zu denjenigen Ausdrücken, das vage und mehrdeutig ist und ferner inkonsistent gebraucht wird. Eine Definition im Sinne der Einordnung dieses Begriffs in ein logisch-mathematisches System oder in eine empirische Theorie erscheint nicht möglich, dagegen dürfte aber eine Begriffsexplikation - die Ersetzung einer weniger exakten durch eine exaktere Sprache realisierbar sein. Ansätze für eine allgemeine Theorie der Definition von Begriffen finden sich bereits bei Aristoteles. Platon hat schon relativ konkrete Vorstellungen davon gehabt, wie und auf welche Weise Begriffe zu erklären sind: 8 Definitionen bei Platon sind immer Wesensdefinitionen, d. h., es wird die dem Ausdruck zu Grunde liegende Idee genau beschrieben. Der zu definierende Begriff muß einerseits so unbekannt sein, daß er der Analyse bedarf, andererseits muß er bekannt genug sein, damit man entscheiden kann, ob der Definitionsvorschlag adäquat oder inadäquat ist. Für Platon ist somit eine Definition eine Identitätsbehauptung, durch die eine Idee mit einem Komplex von anderen Ideen gleichgesetzt wird, wobei die Gleichsetzung mittels Begriffen (Ausdrücken) bewerkstelligt wird, die für eben diese Ideen stehen. Offensichtlich hat Platon bereits zwischen der Real- und Nominaldefinition unterschieden: 9 (1) Nominaldefinition: "Eine vorgelegte Definition ist (in erster Näherung)

eine Nominaldefinition, wenn der durch sie eingeführte Begriff relativ willkürlich gewählt worden ist und ohne größere Umstände durch einen anderen ersetzt werden kann, .. ". Somit sind Nominaldefinitionen per definitionem wahr, d. h., sie können nicht falsch sein; in Diskussionen und Argumentationen haben sie daher den gleichen unangreifbaren Status wie die logisch wahren Urteile.

(2) Realdefinitionen: "Nach traditioneller Auffassung sind Realdefinitionen Wesensanalysen, die das Wesen des zu definierenden Begriffs adäquat wiedergeben sollen, was man allein durch Analyse des fr~glichen Begriffs 7

8 9



Ebenda, S. 58 (Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). Ebenda, S. 39 ff. Ebenda, S. 41 (Hervorhebungen abweichend vom Original, Jk.).

4

1. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

feststellen kann; je nachdem, wie diese ausfallt, sind sie dann analytisch wahr oder analytisch falsch, also auf alle Fälle analytisch determiniert." Der Unterschied zwischen der Nominal- und Realdefinition läßt sich durch sehr einfache Beispiele aus der Literatur bzw. Geschichte verdeutlichen: Johann Wolfgang von Goethe konnte seinen Faust, Theodor Storm seinen Schimmelreiter und Thomas Mann seinen Felix Krull willkürlich wählen. Die so beschriebenen Personen sind per definitionem ,wahr'. Dagegen ist es nicht möglich, Dürer als Boxer, Napoleon als Rocksänger oder Hitler als Eiskunstläufer zu beschreiben; denn es handelt sich um historische Personen, bei denen die Realdefinition anzuwenden ist, um zu einer wahren Wesensaussage zu gelangen. "Durch eine Nominaldefinition wird ein neuer Begriff in die Wissenschaftssprache eingeführt und diese somit erweitert, während durch eine Realdefinition ein bereits bekannter Begriff auf andere bekannte Ausdrücke in Übereinstimmung mit deren Intensionen zurückgeführt (reduziert) wird."l0 In den Sammelbänden von Alberto Manguel und Gianni Guadalupi 11 werden rund tausend imaginäre Schauplätze der Weltliteratur in alphabetischer Reihenfolge vorgestellt; weder Goethe (Wilhelm Meisters Wanderjahre; Faust, zweiter Teil) noch Böll (Der Bahnhof von Zimpern) noch Erich Kästner (Die Schildbürger) werden ausgelassen. Es handelt sich somit um eine sehr weite Fassung des Begriffs ,Utopie'. Dagegen wird der Begriff ,Utopie' überhaupt nicht erwähnt bzw. unter ,Utopia' eine kurze Wiedergabe der gleichnamigen Schrift von Thomas Morus gebracht l2 • Eine solche Erläuterung des Begriffes ,Utopia' ist keineswegs befriedigend. Diese wenigen Hinweise - die keineswegs den Anspruch erheben, die Definitionstheorie auch nur annähernd zu erschöpfen 13 - mögen andeuten, daß für das Kunstwort ,Utopia' und den daraus abgeleiteten klassifikatorischen Begriff ,Utopie' nur eine Nominal-, nicht aber eine Realdefinition möglich ist, d. h., man kann eine relativ willkürlich weite oder enge Begriffsexplikation wählen, die weder wahr noch falsch ist. Es ist lediglich die Frage, ob die gewählte Begriffsexplikation oder Nominaldefinition adäquat oder inadäquat ist. Auf diesem Hintergrund sollen einige Explikationen des Begriffs ,Utopie' vorgestellt werden. Ebenda, S. 62 (Hervorhebung abweichend vom Original, Jk.). Alberto Manguel/Gianni Guadalupi: Von Atlantis bis Utopia - Ein Führer zu den imaginären Schauplätzen der Weltliteratur, Ullstein Sachbuch Nr. 34210, 34218 und 34224,3 Bände, Frankfurt-Berlin-Wien 1984. 12 Ebenda, Bd. 3, S. 164-173. 13 Zur kritischen Auseinandersetzung mit der Nominal- und Realdefinition siehe Heinrich Rickert: Zur Lehre von der Definition, 3. Aufl., Tübingen 1929, insbesondere S. 70 f. und S. 75 f. 10

11

1. Zum Begriff und den Formen der Utopie

5

2. Dei' philologische Erläuterungsansatz Thomas Morus hat seine ,Utopia' in lateinischer Sprache geschrieben und damit für einen begrenzten Leserkreis bestimmt. Dadurch, daß er die lateinische Sprache wählte, wollte er offensichtlich "den Kreis der sein geistreiches Wortspiel Durchschauenden noch enger ziehen und ganz auf jene Gruppe unter den Gebildeten beschränken, die dem fortschrittlichen Denken ihrer Tage gegenüber offenstanden."14 Aus der (künstlichen) Wortbildung ergibt sich eindeutig, daß Thomas Morus ein räumliches Nirgendwo, einen prinzipiell nicht-existenten Ort der Handlung verstand. Dieses ,Nirgendwo' kann man sowohl räumlich als auch sozial-konditional verstehen l5 : Räumlich-gegenständlich handelt es sich um den Namen der Insel des Thomas Morus und um irgendeinen fernen Ort; sozial-konditional um einen Status sozialer Vollkommenheit oder um einen unrealistischen Weltverbesserungsplan. Als Arbeitshypothese kann man folgendes festhalten 16: "Eine Utopie ist das literarische Idealbild einer imaginären Staatsordnung. " Eine Utopie ist deshalb literarisch, weil sie mit sprachlichen Mitteln eine Welt sui generis gestaltet; ein Idealbild deshalb, weil sie aus der Reflexion erwachsenen Überhöhung des empirischen Seins zur Idealform des Sollens - ein von der Phantasie erschaffenes Nirgendwo ohne reale Existenz - gelangt; schließlich handelt es sich um eine Staatsordnung, da eine überpersönliche Öffentlichkeit einer menschlichen Gemeinschaft gemeint ist, die alle niederen Sphären primitiver oder persönlicher Wunschträume ebenso ausklammert wie solche primitiv-materieller Bedürfnisbefriedigung in einem Schlaraffenland. Die Utopie bedient sich der Romanform: Wenn man zwischen dem Geschehnis-, Figuren- und Raumroman unterscheidet, dann gehört die Utopie zum Raumroman, da in ihm weder die Charakterentwicklung einer Figur noch ein straffer Ablauf der Handlung vorliegt. Bei der Gestaltung der ,besten Welt' bedient sich die Utopie eines Kunstgriffs: "... sie schafft experimentelle Bedingungen, unter denen, isoliert von allen störenden Fremdeinwirkungen, wohlberechnete Kräfte ein bestimmtes und ein bestimmbares Ergebnis zeitigen."17 Um die Utopie vor den Problemen der realen Welt zu schützen, wird sie auf eine ferne Insel oder in die ferne Zukunft verlegt. "Aus der Fülle der guten und bösen menschlichen Eigenschaften wählt sie (die Utopie, Jk.) alsdann nur die positiven aus; und wenn 14 So Hubertus Schulte-Herbrüggen: Utopie und Anti-Utopie Von der Strukturanalyse zur Strukturtypologie (Münsteraner Dissertation), Beiträge zur Englischen Philologie, Heft 43, Bochum-Langendreer 1960, S. 3. IS Ebenda, S. 5. 16 Ebenda, S. 7. 17 Ebenda, S. 9 (ohne Hervorhebung im Original, Jk.).

6

1. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

alle Bürger des Landes derart beschaffen sind, kann es nicht ausbleiben, daß aus solch einer äußerlich ungestörten und innerlich harmonischen menschlichen Gesellschaft schließlich ein ideales Staatswesen erwächst, genauer: zu erwachsen scheint, denn in Wahrheit vollzieht sich das ganze Geschehen im luftleeren Raum der Fiktion, und alle Identität ist hier eine prästabilisierte Harmonie l8 , deren Sinn nicht aus vorgegebenen, faktischen Realitäten erwächst, sondern allein aus dem künstlerischen Formwillen."19

Die Abgrenzung zwischen der Utopie und anderen Literaturgattungen ist nur schwierig vorzunehmen. Hier könnte man wie folgt vorgehen: 20 (I) Utopie und Staatsroman: Die Gemeinsamkeit besteht im Aufstellen eines Staatsideals, so daß eine Grenzziehung kaum vorzunehmen ist. Staatsromane im weiteren Sinne und Utopien werden daher synonym gebraucht. Dagegen orientiert sich der Staatsroman im engeren Sinne an den vorhandenen staatlichen Einrichtungen, während die Utopie der Phantasie sowohl in historischer als auch in geographischer Hinsicht freieren Lauf läßt. (2) Utopie und Fürstenspiegel: Auch diese sind durch politische Identität verbunden. Während aber der Fürstenspiegel den Hauptakzent auf die Person des Idealmonarchen setzt, geht die Utopie auf den Staat selbst ein. (3) Utopie und Science fiction: Beiden ist gemeinsam die Darstellung des Fortschritts, aber die Science fiction akzentuiert die Naturwissenschaften und die Technik, dagegen die Utopie mehr universell den Staat und die Gesellschaft. (4) Utopie und Reiseroman: Beiden ist gemeinsam das Motiv der fernen Reise, das Kennenlernen neuer - ,besser' - erscheinender Länder und damit die verbundene Sozialkritik des eigenen Landes. Der Unterschied besteht aber darin, daß im Reiseroman der Schwerpunkt auf den Verlauf der Reise; in der Utopie dagegen auf das Reiseziel gelegt wird, d. h., die Reise ist lediglich ein Mittel, um den fernen Staat oder den Bestimmungsort zu erreichen. (5) Utopie und Abenteuerroman: Das Verbindende liegt im Motiv, d. h., der Reise, des Schiffsbruchs und der Rettung auf einer fernen Insel. Im Abenteuerroman (der Robinsonade) trägt der Aufenthalt auf der fernen Insel exilhaften Charakter, in der Utopie ist er dagegen asylhaft; die 18 ,Prästabilierte Harmonie' nennt Leibniz das von Gott geordnete Verhältnis aller Dinge im All, besonders aber von Leib und Seele des Menschen, die nicht kausal aufeinander bezogen, aber so eingerichtet seien, daß ein harmonisches, obwohl nur paralleles Geschehen beider zustande kommt. 19 Schulte-Herbrüggen, S. 9 (Hervorhebung im Original, Jk.). 20 Ebenda, S. 9-15.

I. Zum Begriff und den Formen der Utopie

7

Robinsonade ist durchdrungen von lebhafter Sehnsucht nach der Rückkehr in die Heimat, in der Utopie erscheint die Ferne besser als die Heimat, so daß es kaum Heimweh gibt. (6) Utopie und Märchen: Diese haben nicht nur Züge des Wunderbaren gemein, sondern oft auch eine naive Gerechtigkeit, in der alles Gute belohnt und alles Böse bestraft wird. Beide haben einen optimistischen Grundton und beide zeichnen eine Welt, wie sie sein sollte. Die Utopie setzt aber den Akzent auf das Erlebte selbst, das Märchen auf die erlebende Figur; dem Märchen fehlt der Sinn für Raum, Zeit und Kausalität schlechthin, der Utopie fehlt dieses weitgehend. (7) Utopie und Lehrdichtung: Nur wenige Werke der Utopieliteratur gehören zur litterature pure, die meisten sind ein Musterbeispiel für die litterature engagee, das Schwergewicht liegt somit nicht auf der ästhetischen Funktion, sondern auf der Aussage. Daher wird häufig die Dialogform gewählt, die der didaktischen Form angemessen ist. Steht die Werbung für eine bestimmte politische Anschauung im Vordergrund, dann liegt eine Tendenzliteratur vor; wird ein Wandel der öffentlichen Verhältnisse verfolgt, dann gehört die Utopieliteratur zur politischen Dichtung; stehen soziale Spannungen im Vordergrund, dann handelt es sich um soziale Literatur. (8) Utopie und Wissenschaft: Die Utopie erschöpft sich nicht darin, Gegenstand wissenschaftlicher Betrachtung zu sein, sie rollt vielmehr auch wissenschaftliche Fragestellungen auf; sie steht der Philosophie nahe, indem sie danach fragt, wie die Welt sein soll, d. h., sie fragt nach der ethischen Bestimmung des Menschen und nach dem Sinn des Lebens. Im Verhältnis zwischen Sein und Sollen berührt die Utopie auch die Rechtsphilosophie, in der Frage nach dem Wesen des Staates die allgemeine Staatslehre. In ihrer Beschäftigung mit der Kunst der Staatsführung befaßt sich die Utopie mit den politischen Wissenschaften, im Entwurf einer umfassenden Wirtschaftsordnung berührt sie die allgemeine Volkswirtschaftslehre und im Entwurf einer Gesellschaftsordnung auch die Soziologie. Trotz dieser Gemeinsamkeiten gibt es prinzipielle Unterschiede: Die Wissenschaften beziehen sich nicht auf die außerhalb liegende Welt; Kennzeichen der wissenschaftlichen Sprache ist die objekttreue Beschreibung (Denotation), die künstlerische Sprache zielt dagegen auf die Erweckung von Vorstellungen ab (Evokation). Dieser prinzipielle Unterschied gilt auch dann, wenn die Wissenschaften von den empirischen Fakten zu den idealen Formen - so in der Staatslehre, der Nationalökonomie oder der Soziologe - vorstoßen. "Im Gegensatz zu den aufgeführten Wissenschaften erschafft also die Utopie ihren Staat selbst, und zwar durch die Evokation einer eigenen imaginären und fiktiven Welt mit den Mitteln einer episch beschreibend-berichtenden

8

1. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

Sprache. In der literarischen Verschmelzung von Aussage und Form, von Gehalt und Gestalt, von Kontur und Struktur erhebt die Utopie das Phänomen des Staates vom bloßen Objekt zum integrierenden Constituens."21 Bereits dieser Überblick macht deutlich, daß in den Utopien zahlreiche Elemente enthalten sind, die teils reale und die teils irreale Bezüge haben. Die Utopie will dabei stets die beste der möglichen Welten aufzeigen. Darin kommt die ewige Sehnsucht nach einem sorgenfreien, glücklichen Zusammenleben der Menschen zum Ausdruck, in der Utopie wird die Vollkommenheit des Ideals der mangelhaften Wirklichkeit gegenübergestellt. Nachdem wir die Grundzüge des utopischen Denkens aufgezeigt haben, wollen wir uns nun den Elementen der Staats- und Sozialutopien zuwenden.

3. Elemente der Staats- oder Sozialutopien Dieses Kapitel ist mit ,Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens' überschrieben. Da diese Formulierung aus Hans Freyers Untersuchung zur Utopie entlehnt ist, wollen wir auch mit diesem Autor beginnen. a) Die Gesetze des utopischen Denkens

Wie bereits zitiert, hat Freyer in seiner Untersuchung zur Geschichte der Utopien von Platon bis zur Gegenwart bemerkt, daß er nicht die Absicht habe, eine schulgerechte Definition der Utopie aufzustellen, wohl aber versuchen wolle, "einige Wesenszüge des utopischen Denkens und einige formale Eigenschaften, die allen Utopien gemein sind, zusammenzustellen und sie in ihrer Notwendigkeit zu begreifen, also - wenn man so will- eine Art Logik der Utopie zu entwickeln. ,,~~ Freyer entzieht sich bewußt der Problematik einer (N ominal-) Definition, die mehr oder minder frei gewählt werden kann, ohne widerlegbar zu sein. Es ist die Frage, ob die Utopien nur ein unverbindliches Phantasieprodukt, ein Idealbild der menschlichen Gesellschaft darstellen bzw. ethische Forderungen aufstellen oder aber allen Ernstes die Wirklichkeit nach dem Bild der Utopie gestalten wollen. Nach Freyer ist dieser Wille in der ganzen Geschichte des utopischen Denkens nicht nur lebendig, sondern bildet den Antrieb für das utopische Denken: " ... daß die geistig bedeutsame Utopie immer zugleich mit dem Willen geladen ist, ihrem Bild des Staats irgendwo 21 22

Ebenda, S. 15. Freyer, S. 22 (Hervorhebungen erfolgten durch uns, Jk.).

I. Zum Begriff und den Formen der Utopie

9

wirkliche Existenz auf Erden zu geben. Wo dagegen dieser Wille erlahmt, gerät der Utopist ins bloße Spintisieren oder Fabulieren, und umgekehrt: wo die Denkkraft fehlt, erlischt auch der Wirkungswille, und das ganze wird zu einer märchenhaften Geschichte, hinter dem Ofen zu erzählen."23 Dieses ist ohne weiteres einsichtig; denn das Erkennen und das Bemühen um eine bessere Gestaltung der Gesellschaft führt in den Willen zur Tat. Wer sich dagegen in der Sphäre der subjektiven Verbesserungsvorschläge bewegt, wird entweder ein Träumer oder Querulant. Allerdings lehrt die geschichtliche Erfahrung, daß im Zeitablauf utopisch erscheinende Ideen und Vorschläge realisiert werden. Dieses gilt nicht nur für die Technik - es sei lediglich auf den Flug zum Mond verwiesen -, sondern auch für die Wirtschaft oder Sozialpolitik: Vor hundert Jahren war die 48-StundenWoche eine Utopie, gegenwärtig nähern wir uns der 35-Stunden-Woche. Insofern könnte man auch von ,realistischen' Utopien sprechen. Dieses aber erscheint als ein Widerspruch, denn Realisierbarkeit und Utopieentwurf schließen sich eigentlich aus. Das schließt jedoch nicht aus, daß zum Zeitpunkt der Vorlage einer Utopie diese unrealisierbar ist - wie zum Beispiel der Flug zum Mond -, später aber durchaus (technisch) verwirklicht wird. 24 Der Wille zur Verwirklichung der Utopie kann sehr verschiedenes bedeuten. Freyer nannte vier mögliche Formen: 25 Erstens kann es heißen, das eigene Vaterland durch eine große geistige Revolution nach dem Bild der Utopie umzugestalten oder neu zu schaffen; zweitens kann es bedeuten, eine Schar von Gläubigen und Überzeugten zu sammeln, um irgendwo in der Welt ein Gemeinwesen nach diesem Vorbild zu errichten; drittens kann die Utopie dazu führen, durch seine geistige Strahlungskraft einen mächtigen König oder ein gläubiges Volk zu erleuchten, das dem König die Macht leiht und das Volk ihm heroisch nachfolgt und schließlich kann - viertens - die Utopie heißen, daß dieses Idealbild als stille, aber nachdrückliche Forderung an die Menschheit erhoben wird, damit sich diese - vielleicht auf tausend Umwegen und tausend Fehlschlägen - allmählich dem Zustand nähere, den ihr beßres Selbst als ihr Ziel anerkennt. Was jenseits von diesen Formen zur Verwirklichung der Utopien liegt, ist Resignation, kann weltferne Träumerei oder eine Lügengeschichte werden und schließlich in die Beschreibung eines Fabellandes einmünden, das zu schön ist, um wahr zu sein. Freyer merkt kritisch an, daß die meisten Utopie-Darstellungen nicht nach dem Sinn und dem Willen des utopischen Denkens fragen, sondern nur ~J

Ebenda, S. 17 f.

~4 Noch im Sommer 1989 konnte man die Öffnung der Mauer und die Wiedervereini-

gung als Utopie abtun. Seit dem 9. November 1989 ist die Mauer geöffnet und die Wiedervereinigung bereits eine Realität. Wo liegt die Grenze zwischen Utopie und Realität? ~5 Freyer, S. 18.

10

1. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

nach dem Inhalt und höchstens nach der stilistischen Form. Stattdessen ist danach zu fragen, was der Utopist gewollt hat und mit welcher Kraft sie in das Leben einschlug. ,,sie (die Utopie, Jk) ist nicht die Geschichte dessen, was Menschen alles geträumt oder gewünscht oder für wünschenswert gehalten haben. Sondern sie ist die Geschichte des Glaubens, daß der Mensch sein Gemeinschaftsleben nach gültigen Ideen frei gestalten könne .... Und damit ist sie ein Stück von der Geschichte des Glaubens an den Geist überhaupt. "26 Welches sind die Wesenszüge undformalen Eigenschaften der UtopienP Utopien wollen mehr sein als ein Fabel- oder Schlaraffenland, sie wollen eine überzeugende, lebensfähige Welt sein, ein Gebilde, das - wenn es schon nicht wirklich ist - doch wirklich sein könnte. Um die Ordnung und das innere Gleichgewicht dieser Gebilde zu erhalten, handelt es sich um Systeme, die sich nach außen hermetisch abschließen. Das Lebenssystem der Utopie funktioniert nur so lange, wie die Bedingungen konstant sind und Störungen der Außenwelt ausgeschaltet werden; denn nur in einem geschlossenen System, in das keine unberechenbare Kraft hereinbricht, kann der Utopist Ursache und Wirkung so berechnen, daß das Gleichgewicht oder die Bewegung auf Dauer gelten. Damit ist ein erstes gemeinsames, formales Merkmal gefunden: "Alle Utopien liegen auf einer Insel mitten im großen Ozean oder sind sonst durch Natur oder Gesetz ,geschlossne Handelsstaaten'. Sie sind unzugänglich, es sei denn, einer verschreibe .sich ihnen ganz."28 So hat Utopus - der Staatsgründer des Thomas Morus - die Halbinsel Abraxa durch einen Durchstich vom Festland getrennt und zur Insel gemacht. Ein anderes Beispiel ist, daß ein Weltreisender vom Sturm verschlagen auf einer fernen Insel landet, dort freundlich aufgenommen wird und später - nach seiner glücklichen Heimkehr - hierüber berichtet. Die Utopisten lieben es, ihre Welt nach einfachen und runden Zahlen abzumessen und zu ordnen. Dieses ist nicht nur ein Spiel, sondern hat symbolische und manchmal auch praktische Bedeutung: Der Staat der platonischen ,Gesetze' (Nomoi) hat zwölf Bezirke mit 5040 Losen; Campanellas ,Sonnenstaat' ist eine Stadt aus sieben konzentrischen Mauerringen, im innersten liegt der kreisrunde Tempel. 29 "Der Kreis als die regelmäßigste Ebenda, S. 20 f. Ebenda, S. 22 ff. 28 Ebenda, S. 25 Es handelt sich aber nicht nur um Inseln, sondern auch um geschlossene Siedlungen in abgelegenen Teilen eines fernen Kontinents wie Asien oder Afrika. Siehe hierzu Manguel und Guadalupi, passim. 29 Zum Zusammenhang zwischen Utopie und Städtebau siehe Mechthild Schumpp: Stadtbau-Utopien und Gesellschaft - Der Bedeutungswandel utopischer Stadtmodelle unter sozialen Aspekt (Göttinger Dissertation 1970), Bauwelt Fundamente, Bd. 3, Gütersloh 1972. 26 27

I. Zum Begriff und den Formen der Utopie

11

und dichteste Raumgestalt ist überhaupt die Lieblingsfigur des utopischen Denkens und sozusagen seine Urform. Eine Utopie ist wie der Kosmos der hellenischen Philosophen: endlich, rund, nach Zahlen geordnet, damit statische Gesetze einfach und klar darin herrschen können. "30 Trotz ihrer abgeschiedenen (insularen) Lage sind friedliche und kriegerische Kontakte zur Außenwelt nicht ganz auszuschließen. In der Regel werden friedliche Kontakte wie Reiseverkehr, Handel, Geld- und Goldaustausch unterbunden oder unter strenge Kontrolle gestellt. Das Gold, das überall willkommen ist, wird verboten, es wird gehortet und seines Wertes und damit seiner Funktion als Wertübertragungs- bzw. Hortungsmittel beraubt. Noch problematischer sind die politischen und die möglicherweise hieraus sich ergebenden kriegerischen Beziehungen zwischen den Völkern: Es ist der Wille zur Eroberung, der Wille zur Verteidigung, die Allianz gegen Dritte und schließlich der Bereitschaft zum bewaffneten Konflikt, dem Krieg. Der Utopist ist bemüht, seinen Idealstaat aus diesen Konflikten herauszuhalten, und zwar durch raffinierte Konstruktionen und Vorschläge, um politische Probleme gar nicht erst aufkommen zu lassen, durch Ausnahmeregelungen für den Fall, daß sie unvermeidbar werden und schließlich durch bloße Fiktionen. Wenn die Utopier Krieg führen müssen, dann nur, um sich zu verteidigen. "Auf die Frage, ob der ideale Staat wachsen solle und wie weit, hat Platon die klassische Antwort gegeben: nur so weit, daß er sich selbst genügt und noch einer bleibt."31 Um seiner Geschlossenheit Willen muß der utopische Staat seine Außenpolitik faktisch auf den Nullpunkt senken. Hier liegt eines der schwierigsten und unlösbaren Probleme, die in der Regel nur durch eine Fiktion gelöst werden. Die Utopie ist nicht nur räumlich, sondern auch in ihrem inneren Bau ein geschlossenes System; dieses ist das zweite Merkmal: In den Fällen, in denen die Utopie rational aufgebaut, konstruktiv aus Elementen zusammengesetzt ist, stellt sie ein geschlossenes System dar, in dem Ursachen und Wirkungen berechenbar sind. Dem Utopisten steht dann ein vollkommenes System der Psychologie und der Sozialwissenschaften zur Verfügung bzw. glaubt er, es zu besitzen. "Er kann die psychologischen Folgen jeder politischen Einrichtung und die politischen Folgen jeder seelischen Regung berechnen. Er weiß, welche Triebe im Menschen unausrottbar sind und ihre Befriedigung haben müssen. Er weiß, welche Leidenschaften unterdrückt, welche gestaut und welche abgebogen werden können. Er kennt die Macht der Strafen und Belohnungen. Er kennt die Wirkungsbreite der Erziehung, den Wirkungskreis der Gesetze, die Wirkungstiefe der willkürlich hervorrufbaren Erlebnisse und Erfahrungen. Er weiß, wann der 30 31

Freyer, S. 26. Ebenda, S. 27.

12

1. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

Hunger stärker ist und wann die Liebe, wann und wie stark die vernünftige Einsicht, er weiß, wann und wie nachhaltig ein ästhetischer Eindruck, wann und wie tief ein autorativer Befehl das menschliche Handeln bestimmt. Und sogar die Religion und ihre lebensbestimmende Macht wird ihm zum Posten in seinem Kalkül. "32 Diese Berechenbarkeit ist deshalb möglich, weil der Utopist seinen Idealstaat so gebaut hat, daß sich das gewünschte Gleichgewicht ergibt; denn es tritt keine neue Kraft hinzu, die vorhandenen Kräfte wirken beständig nach den alten Gesetzen. Der Bestand des so konstruierten Systems ist für alle Zeiten gesichert. Die meisten Utopisten - insbesondere die minderwertigen - neigen dazu, die Unzulänglichkeiten und Übel der real existierenden Staaten auf eine oder einige Fehlerquellen zurückzuführen, zum Beispiel auf das Privateigentum, das arbeitslose Einkommen, die Monogamie oder auf die hohe Geburtenrate. Diese Reduzierung der in der Wirklichkeit anzutreffenden Übel hat den großen Vorteil, daß mit der Beseitigung dieser Fehlerquellen alle Übel aus der Welt geschaffen werden. Zwar habe man diese Unzulänglichkeiten schon früher bemerkt und sie bekämpft, aber man habe lediglich an den Symptomen kuriert; man habe wie es Thomas Morus sagte - zwar die Diebe gehenkt, aber die Ursache des Diebstahls nicht beseitigt. Es kommt darauf an, die Ursache zu beseitigen und nicht an den Symptomen zu kurieren. Beseitigt man die Ursachen, dann ist mit einem Schlag die utopische Ordnung vorhanden. Andere Utopien gehen nicht (negativ) von den Fehlern der bestehenden Ordnung aus, sondern wählen einen positiven Lösungsansatz: Es muß eine neue Ordnungsformel gefunden werden, die - wie das Ei des Kolumbus das Verworrene ins Reine bringt. Es ist der Gedanke, daß ein geschlossenes System von Wechselwirkungen konstruiert werden könne. Wenn man nur genügend wisse und rechne, dann könne man dieses System einwandfrei konstruieren. Es ist der Gedanke der völlig durchschaubaren und darum experimentell herstellbaren Ordnung. Dank des Computers könne man solche Modelle durchrechnen und feststellen, ob ein solches System funktioniert. Es ist ein kalkuliertes und kalkulierbares Perpetuum mobile, es ist die Idee von der Machbarkeit der Gesellschaft. Die Utopie als geschlossenes Gebilde kann nicht teilweise, sondern nur total verwirklicht werden; denn es würde keinen Sinn haben, in der real existierenden Gesellschaft einzelne Einrichtungen nach den Vorstellungen des Utopisten zu gestalten. "Die Utopie ist oder sie ist nicht, und es gilt hier in aller Strenge ein Alles oder Nichts. "33

32 33

Ebenda, S. 28. Ebenda, S. 32.

1. Zum Begriff und den Formen der Utopie

13

Das dritte Merkmal des utopischen Denkens ist dessen Verwirklichung: Wie kann eine Utopie verwirklicht, d. h., wie kann eine bestehende unzulängliche Ordnung in eine Idealform umgestaltet werden? Es gibt keine allmähliche Entwicklung, keine schrittweise Reform der bestehenden Ordnung, sondern nur einen Bruch, ein einmaliges und totales Umschlagen der empirischen in die utopische Wirklichkeit. Viele Utopisten lösen dieses Problem, indem sie die verwirklichte Utopie auf eine ferne Insel oder auf einen anderen Stern verlegen, wohin ein Reisender dank einer glückhaften Irrfahrt gelangt, hierüber dann berichtet, ohne danach zu fragen, wie die utopische Idealordnung entstanden ist. Dieser radikale Bruch mit der Vergangenheit nähert das utopische Denken dem der Prophetie an: Auch der Prophet stellt mit seiner Verkündigung die Weltgeschichte vor die Entscheidung, den Sinn zu ändern und neu anzufangen. Es handelt sich aber nicht nur um eine innere Umkehr der Seelen, sondern auch um eine Veränderung der äußeren Welt. "Und in der Tat lebt im utopistischen Denken, wo es groß ist, etwas vom Geist der Prophetie. "34 Denkbar sind zwei Lösungen: Entweder der Gedanke der Utopie erleuchtet und begeistert die Menschen so und nicht anders zu leben oder eine starke politische Macht - etwa ein Fürst - setzt seine Machtmittel ein, um die Utopie zu verwirklichen. So zum Beispiel möchte Campanella den spanischen König überreden, den Papst zum geistigen Herrscher einer Weltutopie zu erheben und Fourier wartet zehn Jahre zu einer bestimmten Stunde des Tages auf einen Kapitalisten, der die Utopie finanzieren soll. Eine märchenhafte Vorstellung ist immer wieder in den Utopien anzutreffen: Ein junger Fürst, der sehr tugendhaft und bestimmbar ist, hat eine utopische Idee und ein Philosoph inspiriert ihn und wickelt ihn schließlich um den Finger. Ein viertes Merkmal weisen nahezu sämtliche Utopien auf, nämlich, daß die einmal begründete Ordnung gegen Störungen zu sichern und vor Veränderungen zu bewahren ist: Die Utopie kennt keine und duldet keine Entwicklung, sie ist unveränderlich, die Geschichte ist zum Stillstand gekommen, etwaige Störungen des Systems werden ausbalanciert. Es ist sicherer, etwaige Störungeri von vornherein unmöglich zu machen, als sie zu unterdrücken. Zwar werden Rechtsbrecher sofort von weisen und sinnvollen Gesetzen erfaßt, aber wichtiger ist, daß Verbrechen überhaupt nicht vorkommen; denn Utopia erzeugt die Bürger, die sie selbst braucht. "Die Utopien nehmen in der Tat von ihren Menschen unbedingten Besitz. Sie überzeugen ihren Verstand, daß es das wohlverstandene Interesse eines jeden ist, den Gesetzen zu gehorchen, und ihr Gefühl, daß es gegenüber der Erhabenheit des utopistischen Staats nur Verehrung und Liebe geben kann. Diese Besitzergreifung ist darum so )-1

Ebenda, S. 33.

14

l. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

unbedingt, weil sie in frühester Jugend, ja, vor der Geburt beginnt. Gesetze und Gebräuche, Ärzte und Astrologen regeln die Vereinigung der Männer und Frauen und sorgen dafür, daß Kinder geboren werden, die nicht nur zu leben, sondern utopisch zu leben fähig sind. Dann wird das Kind von dem zuverlässig wirkenden System der Erziehung ergriffen. Das gibt seinem Körper die utopische Gesundheit und seiner Seele die utopische Tugend .... Der Mensch erhält seine gysamte Struktur und alle seine Antriebe von der Gesellschaft, deshalb wird er nie aus ihr herausbegehren. Er lebt bis zu Ende ganz in Utopien, weil er von Anfang an ganz in Utopien lebte. "35 Somit gibt es auch keine liberale Utopie, und wenn sie liberal ist, dann nur zum Schein. Dennoch bleibt die Sorge, daß unvorhergesehene Ansprüche und Leidenschaften oder heimliche Entwicklungen das ausgewogene System in Unordnung bringen könnte. Es ist der ,alte Adam', der im Menschen fortlebt, der das ausgewogene System in Unordnung bringen kann. Daher ist in nahezu allen Utopien ein Strafrecht, die Zensur und die Polizei vorgesehen. Als letztes Schutzmittel kennt man die Todesstrafe, zumindest aber die Verbannung. Trotz aller Scharfsicht und allen Tiefblicks ist nicht alles ermeßbar und trotz aller Konstruktionskunst nicht berechenbar. Diese Kräfte können das utopische System verwirren oder sogar sprengen. Damit werden die überschreitbaren Grenzen des utopischen Denkens deutlich: Irgendein geschichtlicher Weg führt in die Utopie, aber kein geschichtlicher Weg führt sie aus der Geschichte heraus, sie ist geschichtslos. Dieser Kampf gegen die Geschichtslosigkeit muß aber verloren gehen. Dieses hat Platon erkannt: "Er weiß, daß allem Wirklichen, auch dem Höchsten, auch dem vollkommenen Staat, der Untergang innewohnt und daß damit gegen seine Vollkommenheit nicht das geringste gesagt wird."36 Platons Lehre von den Staatsformen bezeichnet den Sterbensweg der Utopie. b) Utopia - ein perpetuum immobile

Bereits Freyer hat darauf hingewiesen, daß sämtliche Utopien die einmal begründete Ordnung gegen Störungen sichern und vor Veränderungen bewahren. Der deutsch-britische Soziologe Ralf Dahrendorf (geboren 1929) hat dieses Element besonders hervorgehoben und Utopia ein perpetuum immobile genannt. Dahrendorf hat 1957 am Center for Advanced Study in the Behavorial Sciences in Palo Alto einen Vortrag vor der Sociology Graduate Society an der University of California in Berkeley gehalten. Dieser Vortrag ,Pfade aus 3S 36

Ebenda, S. 36 f. Ebenda, S. 38.

I. Zum Begriff und den Formen der Utopie

15

Utopia' hat dem von ihm herausgegebenen Sammelband den Titel gegeben. 37 1m ersten Teil seines Vortrages hat er sich mit den Strukturelementen der Utopie, in den weiteren Teilen mit dem utopischen Charakter der soziologischen Theorie befaßt. 38 In diesem Zusammenhang soll lediglich auf Dahrendorfs fünf Strukturelemente eingegangen werden: Allen Utopien - von Platon bis George Orwell- ist ein Konstruktionselement gemeinsam: 39 "Sie sind sämtlich Gesellschaften, in denen der Wandel fehlt. Ob es als Endstadium und Höhepunkt der historischen Entwicklung, als Alptraum des Intellektuellen oder als romantischer Traum konzipiert wird - die soziale Gestalt von Utopia kennt den unaufhörlichen Fluß des historischen Prozesses nicht und kann ihn wohl auch nicht kennen." Das erste Strukturelement besteht darin, daß Utopien nicht aus der bekannten Wirklichkeit nach realistischen Entwicklungsgesetzen wachsen; denn für die meisten Autoren gibt es nur eine nebelhafte Vergangenheit und keine Zukunft, Utopia ist plötzlich da und wird jenseits der gewöhnlichen Zeitvorstellungen bleiben. Für George Orwells ,1984' ist unsere eigene Gesellschaft kaum mehr als eine verblassende Erinnerung, die Zeit zwischen 1948 und 1984 wird i~ Lichte willkürlicher und ständig adaptierter ,Dokumente' des Wahrheitsministeriums interpretiert. Noch aufschlußreicher ist das Beispiel von Karl Marx: Lenin hat viel Zeit und Energie daraufverwendet, das realistisch mögliche Ereignis der proletarischen Revolution mit dem Bild einer kommunistischen Gesellschaft zu verbinden, in der es keine Klassen, keine Konflikte, keinen Staat und keine Arbeitsteilung mehr gibt. Aber Lenin ist es weder in der Theorie noch in der Praxis gelungen, über die ,Diktatur des Proletariats' hinauszukommen; denn es ist schwierig, durch rationale Argumentation oder die empirische Analyse den breiten Fluß der Geschichte - der stets in Bewegung bleibt - mit dem stillen Dorfteich der Utopie zu verknüpfen. Das zweite Strukturelement ist die Uniformität dieser Gesellschaften: Soziologisch betrachtet handelt es sich um einen allgemeinen Konsens über die geltenden Werte und institutionellen Ordnungen, der die eindrucksvolle Stabilität von Utopia erklärt. Der Konsens kann entweder erzwungen werden (wie bei Orwell) oder er kann spontan sein, d. h., auf eine Art von Gesellschaftsvertrag beruhen (so bei einigen Autoren des 18. Jahrhunderts). Allgemeiner Konsensus bedeutet, daß Konflikte fehlen. Daher geben sich die ,Konstrukteure' von Utopia große Mühen, ihre Leser davon zu überzeugen, daß in ihren Gesellschaften entweder Konflikte über Werte unmöglich oder 37 Ralf Dahrendorf: Pfade aus Utopia Zu einer Neuorientierung der soziologischen Analyse, in: Derselbe: Pfade aus Utopia - Arbeiten zur Theorie und Methode der Soziologie, Serie Piper, Bd. 101,4. Aufl., München-Zürich 1986, S. 242-263. 38 Ebenda, S. 242-248. 39 Ebenda, S. 242.

16

1. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

aber unnötig sind. "Utopia ist vollkommen - sei es vollkommen angenehm oder unangenehm - und infolgedessen gibt es nichts, worüber zu streiten wäre. Streiks und Revolutionen fehlen in utopischen Gesellschaften ebenso auffällig wie Parlamente, in denen organisierte Gruppen ihre gegensätzlichen Machtansprüche anmelden. Utopische Gesellschaften können Kastengesellschaften sein und sind dies häufig; aber sie sind nicht Klassengesellschaften, in denen die Unterdrückten sich gegen ihre Herrscher auflehnen. "40 Als drittes Strukturelement ist die soziale Harmonie zu nennen, die die Stabilität von Utopia erklärt: Zwar ergänzen einige Autoren ihre Konstruktion durch einen realistischen Zug, indem sie ein Individuum erfinden, das sich nicht an die in Utopia anerkannten Werte und Lebensweisen hält; so Winston Smith bei Orwell und Savage bei Huxley. In diesen Fällen verfügt die utopische Gesellschaft über vielfältige und wirksame Mittel, um sich der Störer zu entledigen. Schwieriger ist es, die Frage zu beantowrten, woher diese Störenfriede kommen; denn: "Ihre ,Außenseiter' sind nicht Produkte der Sozialstruktur von Utopia und können dies auch nicht sein; sie sind Abweicher, pathologische Individuen, von einer einmaligen Krankheit infiziert. "41 Um die utopischen Konstruktionen auch nur im entferntesten realistisch zu gestalten, müssen die Autoren gewisse Vorgänge oder Bewegungen in den Gesellschaften gestatten. "Der Unterschied zwischen Utopia und einem Friedhof liegt darin, daß in Utopia wenigstens gelegentlich etwas geschieht. "42 Das vierte Strukturelement besteht nach Dahrendorf darin, daß in Utopia alle Prozesse nach wiederkehrenden Mustern folgen. Sie vollziehen sich innerhalb und als Teil des Planes des Ganzen. Diese Prozesse bedrohen nicht den status quo, sondern sie bestätigen ihn; nur aus diesem Grunde erlauben die Utopier derartige Bewegungen. Die meisten Autoren haben daran festgehalten, daß die Menschen sterblich sind (obwohl auch mit dem Gedanken der Unsterblichkeit gespielt wird). Daher muß Vorsorge für die physische und soziale Reproduktion der Gesellschaft getroffen werden. Folglich müssen der Geschlechtsverkehr oder die künstliche Befruchtung, die Ernährung, die Erziehung der Kinder und die Auswahl für soziale Positionen in irgend einer Weise geregelt werden; auch die Arbeitsteilung bedarf der Regelung. Diese Prozesse sind der Stoffwechsel der Gesellschaft, der den Konsens nicht stört. "Obwohl einige seiner Teile sich in vorgezeichneten und berechenbaren Bahnen bewegen, bleibt Utopia als Ganzes ein pertuum immobile. "43 40 41

42 43

Ebenda, S. Ebenda, S. Ebenda, S. Ebenda, S.

244. 245. 245. 245.

I. Zum Begriff und den Formen der Utopie

17

Alsfünftes Strukturelement ist darauf hinzuweisen, daß Utopia von allen anderen Gesellschaften - sofern von diesen überhaupt die Rede ist isoliert bleibt:

Es handelt sich nicht nur um eine Isolierung in der Zeit, sondern auch um eine solche im Raum. Die Bürger von Utopia dürfen nur selten reisen, und wenn sie es dürfen, dann dient es mehr der Vertiefung als der Überbrückung der Unterschiede zwischen Utopia und der übrigen Welt. "Utopische Gesellschaften sind monolithische, homogene Gebilde, freischwebend nicht nur in der Zeit, sondern auch im Raum, abgesondert von der Außenwelt, die ja stets zu einer Bedrohung der gelobten Unbeweglichkeit ihrer Sozialstruktur werden könnte. "44 Angesichts dieser Strukturelemente ergibt sich die Frage, ob es sich lohnen würde, in einer solchen Gesellschaft zu leben. Des weiteren wäre zu erfragen, ob man diesen utopischen Strukturelementen (oder zumindest einigen davon) in wirklichen Gesellschaften begegnet. Es ist offenbar, daß es solche Gesellschaften - ohne Geschichte, mit allgemeinen Konsensus, räumlich isoliert, mit unwandelbaren Werten und Institutionen - nicht gibt. "Utopie heißt ohnehin Nirgendwo, und die Konstruktion einer utopischen Gesellschaft selbst impliziert, daß diese in der Wirklichkeit keine Entsprechung hat. "45 Dennoch ist es nach Dahrendorf bemerkenswert, daß ein beträchtlicher Teil der jüngeren soziologischen Theorie auf derartigen Annahmen beruht, die durchgängig mit einem utopischen Gesellschaftsmodell operiert. c) Utopie und Ideologie

Der Soziologe Karl Mannheim (1893 bis 1947) hat sich in seiner Untersuchung ,Ideologie und Utopie'46 mit diesem Fragenkomplex auseinandergesetzt. Es ist selbstverständlich unmöglich, in diesem Zusammenhang die Mannheim'schen Gedankengänge in vollem Umfange nachzuzeichnen. Daher sei lediglich auf folgendes hingewiesen: Im zweiten Kapitel von ,Ideologie und Utopie'47 weist Mannheim darauf hin, daß die jeweilige Utopie- und Ideologiehaftigkeit des Denkens bisher zumeist parteiisch gesehen wurde; ihm gehe es aber darum, "alle Standorte im Denken auf das utopische und ideologische Element hin zu sichten"48, um zu einer bereinigten Fragestellung zu kommen. Mit dem Auftauchen des Problems der Ideologie und Utopie sind nicht zwei neuartige, aber sonst an -1-1 -15 -16 -17 -18

Ebenda, S. 246. Ebenda, S. 247. Kar! Mannheim: Ideologie und Utopie, 7. Aufl., Frankfurt 1985. Ebenda, S. 49-94. Ebenda, S. 51.

2 Jenkis

18

1. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

und für sich isolierte Phänomene gesichtet worden, vielmehr zeigen sie das Aktuellwerden eines grundlegend neuen Themas an. Während der frühere Mensch auf ,Idealgehalte' fixiert lebte, ist ein grundlegender historischsubstantieller Wandel eingetreten; denn der Mensch hat gelernt, nicht die Ideenschicht hinzunehmen, sondern sie zugleich auf ihre Ideologie- und Utopiehaftigkeit zu prüfen. Das Entscheidende am Ideologie- und Utopiegedanken ist, daß man an ihm die Möglichkeit des falschen Bewußtseins erlebt. Hinsichtlich der Erklärung des Ideologiebegriffs unterscheidet Mannheim zwischen der partikularen und der totalen Ideologie: 49 Der partikulare Ideologiebegriff liegt dann vor, wenn man bestimmten Ideen oder Vorstellungen des Gegners nicht glauben will. Der totale Ideologiebegriff wird dadurch gekennzeichnet, daß die Ideologie eines Zeitalters oder einer historisch-sozial konkret bestimmten Gruppe - zum Beispiel Klasse - die totale Bewußtseinsstruktur dieses Zeitalters oder dieser Gruppe meint. Während der partikulare Ideologiebegriff nur einen Teil der Behauptung des Gegners als Ideologien ansprechen will, stellt der totale Ideologiebegriff die gesamte Weltanschauung des Gegners in Frage. Diese knappen Hinweise zum Ideologiebegriff sollen genügen, da im Zentrum unserer Überlegungen der Utopiebegriff bzw. der Utopiegedanke steht. Im vierten Kapitel wendet sich Mannheim 50 dem utopischen Bewußtsem zu. Mannheim definiert das utopische Bewußtsein - das nicht unbedingt mit dem Begriff ,Utopie' gleichzustellen ist - wie folgt: 51 "Utopisch ist ein Bewußtsein, das sich mit dem es umgebenden ,Sein' nicht in Deckung befindet. ... Nur jene ,wirklichkeitstranszendente' Orientierung soll von uns als eine utopische angesprochen werden, die, in das Handeln übergehend, die jeweils bestehende Seins ordnung zugleich teilweise oder ganz sprengt. Die Beschränkung des Utopischen auf jene Art wirklichkeitstranszendenter Orientierung, die zugleich eine bestehende Ordnung auch sprengt, unterscheidet das utopische vom ideologischen Bewußtsein." Utopisch wird eine Orientierung nur dann, wenn sie in Richtung auf Sprengung des bestehenden Seinsgefüges wirkt. Jede historische Seinsstufe war von Vorstellungen umwoben, das Sein zu transzendieren. Diese Vorstellungen wirkten aber nicht als Utopien, sondern als Ideologien, solange es der mittelalterlichen Ordnung gelang, paradiesische Verheißungen ins Jenseits zu verbannen. Erst als bestimmte Menschengruppen solche Wunschbilder zu verwirklichen versuchten, wurden aus diesen Ideologien Utopien. 49

50

51

Ebenda, S. 53 ff. Ebenda, S. 169-225. Ebenda, S. 169 (Hervorhebung im Original, Jk.).

I. Zum Begriff und den Formen der Utopie

19

"Utopien sind auch seinstranszendent, denn auch sie geben dem Handeln eine Orientierung an Elementen, die das gleichzeitig verwirklichte Sein nicht enthält; sie sind aber nicht Ideologien bzw. sie sind es insofern und in dem Maße nicht, als es ihnen gelingt, die bestehende historische Seinswirklichkeit durch Gegenwirkung in der Richtung der eigenen Vorstellung zu transformieren. Gilt diese prinzipielle und zunächst völlig formale Unterscheidung zwischen Utopie und Ideologie von uns relativ außenstehenden Betrachtern aus beinahe völlig unproblematisch, so ist die Bestimmung dessen, was in concreto, im gegebenen Falle als Ideologie und Utopie anzusprechen sei, unglaublich schwierig. Es handelt sich hierbei nämlich stets um eine wertende und messende Vorstellung, bei deren Vollzug man unvermeidlich an den Wollungen und an dem Lebensgefühl der um die Beherrschung der historischen Wirklichkeit ringenden Parteien partizipieren muß. Was im gegebenen Falle als Utopie und was als Ideologie zu gelten hat, das hängt ja im wesentlichen auch davon ab, an welcher Stufe der Seins wirklichkeit man den Maßstab ansetzt .... "52

Im heutigen Sprachgebrauch ist die Vorstellung vorhanden, daß das Utopische prinzipiell nicht verwirklicht werden kann. Daneben gibt es seinstranszendente Vorstellungen, die niemals verwirklicht werden können. Mannheim versteht unter Utopie stets die bloß relative, d. h. nur die von einer bestimmten bereits vorhandenen Stufe als unverwirklichbar erscheint. 53 Die konkrete Bestimmung des Utopischen kann nur von einer bestimmten Seinsstufe her erfolgen. Daher können die Utopien von heute zu Wirklichkeiten von morgen werden. Es besteht die Schwierigkeit, konkret zu bestimmen, was in einem gegebenen Zeitpunkt als Ideologie oder als Utopie zu bezeichnen ist, da sich beide Elemente nicht unvermischt gegenüberstehen. Zumindest rückblickend gibt es nach Mannheim ein zuverlässiges Kriterium zwischen der Ideologie und der Utopie zu unterscheiden: 54 "Ideen, von denen es sich nachträglich herausstellte, daß sie über einer gewesenen oder aufstrebenden Lebensordnung nur als verdeckende Vorstellungen schwebten, waren Ideologien; was von ihnen in der nächsten gewordenen Lebensordnung adäquat verwirklichbar wurde, war relative Utopie." In der Einleitung zum Sammelband über die Utopie hat sich Neusüss 55 mit den ,Schwierigkeiten. einer Soziologie des utopischen Denkens' befaßt. Im Abschnitt ,Utopie und Ideologie' setzt er sich eingehend mit Karl Mannheim auseinander. Den Unterschied zwischen diesen Begriffen arbeitet Neusüss unter Bezugnahme auf Horkheimer56 wie folgt heraus: 57 Ebenda, S. 172 (Hervorhebungen zum Teil abweichend vom Original, Jk.). Ebenda, S. 173. 54 Ebenda, S. 178 (Hervorhebungen erfolgten durch uns, Jk.). 55 Arnhelm Neusüss (Herausgeber): Utopie - Begriff und Phänomen des Utopischen, 3. Aufl., Frankfurt-New York 1986, S. 13-112. 56 Max Horkheimer: AnHi.nge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1930 (im Sammelband von Neusüss: Utopie, S. 178-192). 52 53

2*

20

1. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

(1) Ideologie: "Unter Ideologie wird demnach ein Funktionszusammenhang verstanden, ja, Ideologie wird, ganz unabhängig davon, wie sie entstanden sein mag, ob bewußt hergestellt oder objektiv verursacht, von vornherein als Funktion bestimmt; Ideologie ,ist' nur als Funktion, sie ist Schein nur, insofern sie diesen bewirkt." (2) Utopie: "Utopie dagegen ist der Traum der wahren und gerechten Lebensordnung - so unterschiedlich sich dieser Traum historisch gestalten mag -, jenseits der Frage, was er etwa historisch und gesellschaftlich jeweils bewirkt oder überhaupt bewirken kann .... Dieser Unterschied ist erheblich."

Während das Ideologie-Problem einen sozial-theoretischen Ursprung hat - so die radikale Kritik von Karl Marx an der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft -, enthält die Utopie den Traum von der wahren und gerechten Lebensordnung. Sowohl die romanhaften Utopien der Renaissance als auch die utopischen Programme der Frühsozialisten sind deshalb utopisch, "weil sich der Wunsch nach einer besseren Gesellschaftsordnung durchwegs nicht in der Analyse der bestehenden schlechten manifestiere, um den Weg zu ihrer Überwindung zu weisen, vielmehr der Gegenwart ein als optimal vorgestelltes Zukunftsbild schroff entgegengehalten werde. "58 Das utopische Verfahren ist eine bildhafte Konstrastierung, es ist eine Frühform des sozialtheoretischen Denkens. Für Marxisten ist das Utopieproblem gelöst, nachdem der historische Materialismus die Utopie wissenschaftlich abgelöst hat; seitdem fallen Utopien als Untersuchungsobjekt der Ideologiekritik zu. Diese unvollständige Skizzierung der Mannheim'schen Begriffsexplikation macht deutlich, daß es sich um Nominaldefinitionen handelt, denn durch diese wird ein neuer Begriff in die Wissenschaftssprache eingeführt und diese somit erweitert. 59 Ohne auf den Unterschied zwischen der Nominal- und Realdefinition zu verweisen, deutet aber Mannheim60 dieses an, wenn er darauf hinweist, daß jede Definition im historischen Denken - dem Standort des jeweiligen Denkers - enthalten ist: "Allein die Tatsache, wie man einen Begriff definiert und in welcher Bedeutungsnuance man ihn verwertet, enthält bereits bis zu einem bestimmten Grade eine Vorentscheidung über den Ausgang des auf ihn aufgebauten Gedankenganges." Dieser Umschreibung der Nominaldefinition ,utopisch' stimmen wir zu. Da Nominaldefinitionen per definitionem wahr sind und niemals falsch sein können, haben sie den unangreifbaren Status wie die logischen Urteile. 6 ! Es gibt nur die 57

58 59 60 61

Neusüss, s. 16 (Hervorhebung im Original, Jk.). Ebenda, S. 19. Essler, S. 62. Mannheim, S. 173. So Essler, S. 41.

1. Zum Begriff und den Formen der Utopie

21

Möglichkeit, sich entweder einer solchen Nominaldefinition anzuschließen oder sie mit einer abweichenden Nomialdefinition abzulehnen. Wir halten Mannheim's Unterscheidung zwischen Utopie und Ideologie sowie seine Interpretation des Utopie-Begriffs 62 für interessant, wollen uns dieser sehr weitgehenden Nominaldefinition aber nicht anschließen, weil dann die bereits vorhandenen Abgrenzungsprobleme noch größer werden.

d) Utopie und Revolution

Jüngst hat der Amerikaner Melvin Lasky63 in deutscher Übersetzung sein umfangreiches Werk ,Utopie und Revolution' vorgelegt. Es handelt sich um eine Reihe von Vorträgen, die in den Vereinigten Staaten bereits 1976 erschien. In geistreicher Form beschreibt und belegt Lasky den Weg von der utopischen Sehnsucht zum systematischen Versuch, "den Traum von der guten Gesellschaft durch politische Aktion und gewaltsamen Umsturz zu verwirklichen".64 Die utopischen Hoffnungen und Sehnsüchte der Intellektuellen haben an jeder Revolution einen schwer zu bestimmenden Anteil. Insbesondere im ersten Teil seines Buches kommt Lasky immer wieder auf Karl Marx zurück, den er als einen anti-utopischen Revolutionär sieht; den zweiten Teil widmet er überwiegend der englischen Revolution des 17. Jahrhunderts. Im letzten Kapitel 65 , das er mit ,Der süße Traum' überschreibt, bemerkt Lasky66, daß Thomas Morus die Utopie einer Revolution vorzug, KarJ Marx zog die Revolution der Utopie vor und Immanuel Kantzunehmend argwöhnisch sowohl gegenüber der zerstörerischen Wirkung eines totalen Umsturzes als auch gegen den perfekten Absolutismus des chiliastischen Zugangs - versuchte, beide Formen zu überwinden. Es gehört vielleicht oder vielleicht auch nicht zum tragischen Widerspruch der utopischen Denkweise, die ,immer' mit Tagträumen beginnt und in der Tyrannis endet. Ohne auf Laskys umfangreiche Fußnote67 zu dieser Feststellung einzugehen, wollen wir uns den gleichnamigen Untersuchungen des Freiburger Philosophen und Psychologen Robert Heiss (1909 bis 1974) 62 Man könnte auch noch prüfen, ob nicht nur sprachlich, sondern auch inhaltlich Unterschiede zwischen den Ausdrücken Utopie, utopisch und utopisches Bewußtsein bestehen. 63 Melvin J. Lasky: Utopie und Revolution - Über die Ursprünge einer Metapher oder Eine Geschichte des politischen Temperaments, Reinbek bei Hamburg 1989. 64 Ebenda, S. 12 (Vorwort). 65 Ebenda, S. 519-514. 66 Ebenda, S. 537. 67 Ebenda, S. 677-680.

22

1. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

zuwenden 68 , der unseres Erachtens weniger essayistisch als Lasky dieses Thema behandelt. Im Vorwort weist Heiss daraufhin, daß es ein utopisches Denken über Jahrtausende hinweg gegeben hat, es enthält alle Wunschvorstellungen des Menschen, halb träumenden, halb gedanklichen Ursprungs. Diese Wunschvorstellungen mischen sich mit "dem neu entstehenden Selbstbewußtsein des Menschen, dem emanzipatorischen Willen und Glauben an den Fortschritt, der erstarkten Macht eines rationalen und technischen Denkens .... Aus den ursprünglich naiven Utopien werden die rationalkritischen, die technischen, die revolutionären Utopien bis herauf zur ,Wissenschaft' der Futorologie, die sich nicht mehr als Utopie versteht. Ihres mythischen Charakters entkleidet, werden die Vorstellungen vom Paradies und die Erlösung des Menschen säkularisiert und rationalisiert. "69 Die Utopien des 16. und 17. Jahrhunderts enthalten Vorstellungen des Fortschritts zum besseren Menschen, zum besseren Leben, der Freiheit von den Übeln, der Beseitigung der Kriege usw. Dagegen fehlt es an Vorstellungen der Revolution, diese wird erst im 17. und 18. Jahrhundert geschrieben. Der große Theoretiker der Revolution ist Karl Marx, der die kommende Weltrevolution und ihre Unausweichlichkeit noch während seines Lebens erwartete. In den letzten hundert Jahren hat sich die technische und wirtschaftliche Welt verändert, aber die Marx'sche Lehre von der Revolution ist unverändert geblieben. Zu allen Zeiten hat es Versuche gegeben, Utopien zu verwirklichen: Plato hat einen solchen Versuch mit dem Tyrannen von Syrakus unternommen, 1534 wurde in Münster das ,Reich der Wiedertäufer' errichtet und Robert Owen hat im Jahre 1825 in Nordamerika das Gemeinwesen ,New Harmony' gegründet. "Es ist das Kennzeichen aller echten Utopien, daß sie den Anspruch auf Verwirklichung erheben. In diesem Sinne ist jede Utopie ein merkwürdiger Zwitter. "70 Einerseits ist die Utopie ein Denkobjekt, das als verwirklichungsfähig, aber noch nicht als verwirklicht angesehen wird, andererseits verläßt sie das Feld der Phantasie und des Wünschens, erhebt den Wirklichkeitsanspruch, indem sie die vorhandene Realität kritisiert und eine neue rational konstruiert. "Wie es aber ohne Phantasie und Wunschdenken keine Utopie gibt, so gibt es keine, welche nicht kritisch die gegebene . Wirklichkeit aufbebt und konstruktiv eine andere an ihre Stelle setzt. "71

68 Robert Heiss: Utopie und Revolution - Ein Beitrag zur Geschichte des fortschrittlichen Denkens, Serie Piper, Bd. 52, München 1973. 69 Ebenda, S. 7. 70 Ebenda, S. 35. 71 Ebenda, S. 35.

I. Zum Begriff und den Formen der Utopie

23

Die Revolutionen mögen die ,Lokomotiven' der Geschichte sein, aber angetrieben werden sie durch die utopische Phantasie: Im mittelalterlichen Denken war kein Platz für den modernen Begriff des Fortschritts. Im religiösen Bereich war es Luthers Reformation und im gleichen Jahr - 1517 - erschien die Basler Ausgabe der Utopia von Thomas Morus. Auch wenn dieses zeitliche Zusammentreffen zufällig ist, so kündigen sie doch den Wandel an; es ist das kritische Denken und der Wille zum Fortschritt. Dieses kritische Denken wendet sich an das Bestehende, das Alte und die den Fortschritt hindernde Tradition, die notfalls mit Gewalt überwunden oder beseitigt werden sollen. "An diesem Punkt geht dann das Bewußtsein des Fortschritts notwendigerweise in jene Vorstellung der Revolution über, wie sie Marx am gründlichsten durchdacht und entwickelt hat. "72 Francis Bacon hat sich in seiner Utopie Neu-Atlantis nicht nur auf den Gedanken des Fortschritts beschränkt, sondern er erwartete vom Fortschritt des menschlichen Erkennens und von der Verbesserung des Lebens auch die Besserung des Menschen. Hier entsteht der Glaube, daß wissenschaftliches Erkennen auch das Handeln und das Machen einschließt, der Glaube, daß die Welt und der Mensch ,machbar' seien. War im mittelalterlich-christlichen Denkraum alles Irdische begrenzt, so wurden nun sowohl im religiösen als auch im wissenschaftlichen Bereich diese Grenzen überschritten, es vollzieht sich der Prozeß der Entgrenzung. Es entsteht - wenn auch nur im Ansatz - der Glaube, daß nicht nur die Natur beherrscht, sondern auch die menschliche Gesellschaft und ihre Organisation durch Planung und Vernunft gestaltet bzw. geführt werden kann. "Es ist die Verheißung auf eine diesseitige bessere Zukunft, zugleich auch die Verheißung und Hoffnung auf einen sittlichen Aufstieg des Menschen. Utopisten haben zuerst diese Hoffnung ausgesprochen."73 Der Fortschritt ist im Vergleich zur Utopie realistischer, zugleich taucht ein klares und kritisches Bewußtsein von der Notwendigkeit der Veränderung auf. "Die Utopisten zeigen nicht den Weg, der zur Verwirklichung ihrer Bilder führt. Sie begnügen sich mit einer oft flüchtigen Kritik des Gegenwärtigen. Die Vorstellung vom Fortschritt aber weiß, daß Fortschreiten nicht nur ein Weggehen und Vorangehen, sondern auch ein Aufheben und Zerbrechen des Alten ist. "74 Die Französische Revolution im Jahre 1789 hat zahlreiche Ursachen und Anlässe: Die Finanz- und Agrarkrise, die Hungersnot in den Jahren 1788/ 89, den Währungsverfall, die korrupte Verwaltung usw. Diese Revolution hat aber auch tiefere Ursachen, diese sind in der langen Entwicklung des neuzeitlichen Gedankens und der Vorstellung vom Fortschritt zu suchen. 72 73 74

Ebenda, S. 57. Ebenda, S. 67. Ebenda, S. 69.

24

l. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

Die Französische Revolution hat - wie fast alle Revolutionen - ein Janusgesicht: Als die Träger der Unfreiheit vertrieben waren, kam die neue Freiheit, der dann wieder die Unfreiheit folgte; dem Akt der Freiheit folgte der Terror, an die Stelle der Vernunft, trat die Unvernunft. "Sie (die Revolution, Jk.) ist ebenso anziehend wie abstoßend. Hat sie zu ihrem Beginn die Sympathie vieler, so erweckt sie gegen Ende die Furcht fast aller. "75 Hier wird das barbarische Element der Glückverheißung deutlich. e) Utopie und Kommunismus

Nahezu alle Utopien neigen dazu, die Fehler der bisherigen Staats- und Gesellschaftsordnung auf einige Quellen zurückzuführen, so zum Beispiel auf das Privateigentum, das arbeitslose Einkommen oder auf die Monogamie. 76 Diese Vorstellungen sind einleuchtend; denn wenn diese Fehlerquellen verstopft werden, dann werden auch alle Übel dieser Welt beseitigt. Bisher habe man zwar die Übel bemerkt und sie auch bekämpft, aber nicht beseitigt. So hat Thomas Morus gesagt, daß man zwar die Diebe gehenkt, aber die Ursache der Diebstähle nicht abgeschafft habe. "Tut man das, so muß die utopische Ordnung mit einem Schlag da sein, denn der Grund, der sie verhindert, ist ja beseitigt. "77 Zu diesen Elementen, die ,mit einem Schlag' eine vollkommene und harmonische Gesellschaft schaffen, nimmt die Eigentumsordnung (neben anderen Elementen wie die Ehe und Familie, das Geld, die Arbeit usw.) eine zentrale Stellung ein:

In nahezu allen Utopien ist daher das Privateigentum abgeschafft und durch das Gemeineigentum ersetzt, dieses gilt auch für Platos ,Politeia', in besonderem Maße aber für Thomas Morus und Tommaso Campanella. Gegen Ende des ersten Buches der ,Utopia'78 bemerkt der Berichterstatter Raphael Hythlodeus: 79 " ... wo es noch Privatbesitz gibt, wo alle Menschen alle Werte am Maßstab des Geldes messen, da wird es kaum jemals möglich sein, eine gerechte und glückliche Politik zu treiben .... Denn das hat dieser tiefe Denker ohne weiteres gesehen, daß nur ein einziger Weg zum Wohl des Staates führe: die Verkündigung der Gleichheit des Besitzes, die doch wohl niemals durchgeführt werden kann, wo die einzelnen noch Privateigentum besitzen .... So bin ich denn fest überzeugt, daß der Besitz durchaus nicht auf irgendeine billige oder gerechte Weise verteilt und überhaupt das Glück der Ebenda, S. 72 f. Freyer, S. 29. 77 Ebenda, S. 29. 78 Thomas Morus: Utopia, übersetzt von Gerhard Ritter, Nachwort von Eberhard Jäckel, Reclam-Universalbibliothek, Nr. 513, Stuttgart 1983. 79 Ebenda, S. 53 bzw. S. 53 f. 75

76

I. Zum Begriff und den Formen der Utopie

25

Sterblichen nicht begründet werden kann, solange nicht vorher das Eigentum aufgehoben ist; solange es bestehenbleibt, wird vielmehr auf dem weitaus größten und weitaus besten Teil der Menschheit Armut, Plackerei und Sorgen als eine unentrinnbare Bürde weiter lasten; sie mag - das gebe ich zu - ein wenig erleichtert werden können; sie gänzlich zu beseitigen das behaupte ich - ist unmöglich." Diese und andere Ausführungen von Thomas Morus sowie anderen Utopisten haben dazu geführt, daß man die Utopie mit dem Sozialismus bzw. Kommunismus gleichgesetzt hat. So hat Karl Kautsky (1854-1938)XO die Ansicht vertreten, daß sich Thomas Morus und Thomas Münzer (oder Müntzer) den Ruhm streitig machen, die Geschichte des Sozialismus zu eröffnen: 81 , 82 Nach Kautsky83 ist die idealistische Geschichtsschreibung nicht in der Lage zu erklären, daß bestimmte Ideen nur unter bestimmten Verhältnissen wirken; dieses vermag aber die materialistische Geschichtsauffassung, denn sie forscht nach den Triebkräften, und das sind die materiellen Verhältnisse. Oft hat es hochbegabte Denker gegeben, die ihrer Zeit und den Zeitgenossen voraus waren. Thomas Morus (von Kautsky ,More' genannt) war einer dieser wenigen: "Zu einer Zeit, wo die kapitalistische Produktionsweise noch in ihren ersten Anfängen war, gelang es ihm bereits, in deren Wesen so weit einzudringen, daß die gegensätzliche Produktionsweise, die er in seinem Kopfe ausmalte und jener entgegenstellte, um ihre Schäden zu beseitigen, schon mehrere der wesentlichsten Grundzüge des modernen Sozialismus enthält. Seine Zeitgenossen haben die Tragweite seiner Darlegungen natürlich nicht begriffen. Er selbst gelangte nicht zum vollen Bewußtsein derselben. "84 Bisher hat sich - so Kautsky - keiner der Biographen mit dieser Frage befaßt, daß der Sozialismus früher als der Kapitalismus durch Thomas Morus einen theoretischen Ausdruck gefunden hat. Der persönliche Charakter des Thomas Morus darf wohl als Ursache seines Sozialismus betrachtet werden: Er war liebenswürdig und hilfsbereit sowie voll Mitleid gegenüber den Armen und Unterdrückten. Nur in den nordischen Ländern, nicht in den südlichen Ländern waren die materiellen Verhältnisse für die Bildung uneigennütziger Charaktere günstig. Aber das Mitleid mit den Armen macht noch nicht einen Sozialisten, hierzu gehören ökonomische Erkenntnisse. Hierfür waren die Bedingungen in England 80 Karl Kautsky: Thomas More und seine Utopie, unveränderter Nachdruck der 3. Auflage von 1913, Berlin 1947. 81 Ebenda, S. 11 (Einleitung), 8~ Es sei angemerkt, daß auch Ernst Bloch (in: Freiheit und Ordnung - Abriß der Sozial-Utopie, Berlin 1947, S. 66-75) auf die kommunistischen Elemente bei Thomas Morus hinweist. 8) Ebenda, S. 215-249. 8-1 Ebenda, S. 217 f.

26

l. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

günstig. Hinzu kam, daß die Humanisten gelernt hatten, wissenschaftlich und damit methodisch zu denken, um den theoretischen Sozialismus gedanklich zu erfassen. Thomas Morus erkannte, daß im 16. Jahrhundert die Bauern und Landarbeiter in tiefes Elend stürzten, die Löhne sanken, dagegen aber die Gewinne der Kapitalisten stiegen. Nirgends in Europa lagen diese Entwicklungstendenzen so klar zu Tage wie in England. Daß eine solche Situation einen Mann wie Thomas Morus zum Nachdenken veranlaßte, ist einleuchtend. Als Humanist hatte er nicht nur gelernt, methodisch zu denken und zu generalisieren, sondern er kannte auch die Schriften des Altertums. "Platos Ideal/eines aristokratisch-kommunistischen Gemeinwesens mußte ihm Veranlassung geben, gesellschaftliche Zustände zu ersinnen, die, weil das Gegenteil der bestehenden, von ihrem Elend frei wären. Platos Autorität mußte ihm den Mut geben, ein solches Gemeinwesen für mehr als bloßes Hirngespinst zu halten, es der Menschheit als ein erstrebenswertes Ziel hinzustellen. "85 Nach Kautsky86 liegen bei Thomas Morus die folgenden Wurzeln für den Sozialismus vor: Sein liebenswürdiger, dem urwüchsigen Kommunismus entsprechender Charakter, die ökonomische Situation in England und die glückliche Verbindung von klassischer Philosophie mit praktischer ökonomischer Tätigkeit. Aus diesen Elementen mußte das Ideal einer vollkommenen Gesellschaft entstehen, die als eine Vorahnung des modernen Sozialismus gelten darf. Thomas Morus hat zwar keine ökonomische Theorie aufgestellt, aber die ökonomischen Verhältnisse seiner Zeit scharf beobachtet und dabei erkannt, daß der Mensch ein Produkt seiner materiellen Verhältnisse ist. Eine Menschenklasse kann nur gehoben werden, wenn die ökonomischen Verhältnisse geändert werden. Da in Morus ,Utopia' die Menschen nur in nützlichen Gewerben tätig sind, kommen sie mit wenig Arbeit aus und genießen dennoch einen Überfluß an Erzeugnissen. Daher haben die Bürger auch viel Freizeit und können ihre geistigen Bedürfnisse pflegen. "Denn darin, glauben sie, liege das wahre Glück des Lebens. "87 Gegen Ende seines Berichtes faßt Hythlodeus seine Auffassung über das staatliche Gemeinwesen nochmals zusammen, woraus Kautsky den Sozialismus bzw. Kommunismus abliest: 88 " ••• Denn wer anderswo von ,Gemeinwohl' spricht, denkt doch überall nur an seinen Privatvorteil; hier dagegen, wo es kein Privateigentum gibt, betreibt man ernsthaft die Interessen der Allgemeinheit .... Dagegen hier, wo alles Eigentum Gemeingut ist, zweifelt niemand, daß es keinem für seine Privatbedürfnisse an etwas fehlen wird, solange nur dafür 85 86

87 88

Ebenda, S. 227. Ebenda, S. 228 f. Morus, S. 72. Ebenda, S. 142.

I. Zum Begriff und den Formen der Utopie

27

gesorgt wird, daß die öffentlichen Speicher gefüllt sind. Da gibt es ja keine ungerechte Güterverteilung, keine Armen und keine Bettler, und obschon keiner etwas besitzt, sind doch alle reich." Nach Kautsky89 wünschte zwar Thomas Morus die Verwirklichung seines Idealstaates ,scheute aber vor jedem Versuch zurück, der Ausbeutung von unten her ein Ende zu bereiten. "Der Kommunismus konnte sich daher von seinem Standpunkt aus nicht im Klassenkampf durch die Logik der Tatsachen entwickeln, er mußte im Kopf fertig sein, ehe man daran denken konnte, einen der Mächtigen für ihn zu gewinnen, der ihn der Menschheit von oben herab aufoktroyieren sollte. Das war eine Illusion."90 Welchen Zweck verfolgte Thomas Morus mit seiner ,Utopia'?91 Einige halten sie für eine Nachahmung von Platos ,Republik', andere betrachten sie als heitere Scherze einer heiteren Seele, wieder andere sehen darin eine geistreiche Verschmelzung von christlicher Nächstenliebe mit dem platonischen Kommunismus usw. Diese Interpretationen läßt aber Kautsky nicht gelten, denn es handelt sich um eine bittere Kritik der bestehenden wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse. Darüber hinaus hatte Morus - so Kautsky -sehr konkrete Vorstellungen, wie England regiert werden sollte92 : "In der Tat, die Insel Utopia ist England. More (Morus, Jk.) wollte zeigen, wie England aussehen würde und wie sich dessen Verhältnisse zum Ausland gestalten würden, wenn es kommunistisch eingerichtet wäre." Ein Element ist allerdings bei Thomas Morus tatsächlich utopisch, nämlich die Annahme, daß ein Fürst - ,Utopus' genannt - das Land erobert und das kommunistische Gemeinwesen einführt. "Wenn einer wollte, so konnte er den Kommunismus durchführen. Wenn keiner wollte, war das Elend des Volkes unabänderlich. "93 Es hat Jahrhunderte gedauert, bis man erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erkannte, was in der ,Utopia' phantastisches Gedankenspiel, was Vorahnung der Zukunft war. Auch in Campanellas ,Sonnenstaat' sind kommunistische Elemente enthalten: 94

Kautsky, S. 248 f. Ebenda, S. 249. 91 Ebenda, S. 328 ff. 92 Ebenda, S. 331. 93 Ebenda, S. 333. 94 Tommaso Campanella: Sonnenstaat, in: Klaus J. Heinisch (Herausgeber): Der utopische Staat; Morus: Utopia; Campanella: Sonnenstaat; Bacon: Neu- Atlantis, Rowo hits Klassiker der Literatur und der Wissenschaft, Reinbek bei Hamburg 1987, S. 111169. 89

90

28

1. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

Die Bewohner der Insel Tapobrane (eine alte Bezeichnung für Ceylon) kennen auch kein Privateigentum, sondern nur den Gemeinbesitz95 : "Alles bei ihnen ist Gemeinbesitz. Die Verteilung aber liegt in den Händen der Behörden .... Sie behaupten, daß der Eigentumsbegriff daher komme, daß wir unsere eigenen Wohnungen und eigenen Kinder und eigenen Frauen haben. Daraus entsteht die Selbstsucht." Die Wohnungen, die Schlafräume, die Betten und die anderen lebensnotwendigen Dinge besitzen die Sonnenstaatler gemeinsam. "Vermögen und Vorräte achten sie gering, da ja jedem das geliefert wird, was er braucht, abgesehen von Ehrengaben. "96 Da der Hochmut ein fluchwürdiges Laster ist, steht jeder Sonnenstaatler auch für niedere Tätigkeiten bei Tisch, in der Küche oder bei den Kranken zur Verfügung. In der Sonnenstadt werden die öffentlichen Dienste und Arbeiten zugeteilt, daher genügt es, wenn jeder kaum vier Stunden arbeitet. Die übrige Zeit verbringen die Sonnenstaatler mit Lernen, Diskutieren, Lesen, Erzählen, Schreiben, Spazierengehen, geistigen und körperlichen Übungen und Vergnügen. "Weiterhin behaupten sie, daß die harte Arbeit sie feil, hinterlistig, verschlagen, diebisch, hinterhältig, landflüchtig, lügnerisch, meineidig usw. mache, der Reichtum aber unmäßig, hochmütig, unwissend, verräterisch, grundlos eingebildet, prahlerisch, gefühllos, streitsüchtig usw. Die echte Gemeinschaft aber mache alle zugleich reich und arm: reich, weil sie alles haben, arm, weil sie nichts besitzen; und dabei dienen sie nicht den Dingen, sondern die Dinge dienen ihnen. "97 Diese kommunistischen Züge mögen überraschen, aber es handelt sich bei Campanella nicht um eine Utopie der Freiheit, sondern um eine personale Ordnung, gedacht in einem Weltstaat. 98 "Es erscheint ein Staatssozialismus, mit viel byzantinischem und astrologischem Pathos im Grund. Mit dem Pathos der rechten Zeit, rechten Lage, rechten Ordnung aller Menschen und Dinge; ein befehlendes Zentrum stellt Ordnung klassenlos, doch extrem hierarchisch her. Wird so verwaltet, dann gibt es weder Reiche noch Arme, Eigentum ist abgeschafft. Alle Bürger müssen arbeiten, ein Vierstundentag genügt, man kennt weder Ausbeutung noch Profit. "99

In der Sowjetischen Akademie-Ausgabe des ,Sonnenstaates'IOO weist Wo 1gin lOl darauf hin, daß die plebejischen Massen in Italien an der Wende vom Ebenda, S. 123. Ebenda, S. 135. 97 Ebenda, S. 136. 9~ Siehe hierzu Bloch, S. 76-83, insbesondere S. 77. 99 Ebenda, S. 78. 100 Tommaso Campanella: Der Sonnenstaat Idee eines philosophischen Gemeinwesens, Sowjetische Akademie-Ausgabe, Moskau-Leningrad 1947; deutsche Übersetzung: Ost-Berlin 1955. 101 W. P. Wolgin: Campanellas kommunistische Utopie, ebenda, S. 5-13. 95

96

I. Zum Begriff und den Formen der Utopie

29

16. zum 17. Jahrhundert in äußerst drückenden Verhältnissen lebten. Es ist deshalb nicht verwunderlich, daß gerade in Italien ein Werk erschien, das einen Protest gegen die bestehende Gesellschaftsordnung bedeutete. Die Betroffenen selbst waren noch nicht in der Lage, zu einer klaren Erkenntnis der Ursachen des sozialen Übels und der Wege zu seiner Beseitigung zu finden. "Die ersten Versuche der Kritik an der bestehenden Gesellschaftsordnung und die ersten sozialistischen und kommunistischen Ideen kamen aus den Reihen der geistig arbeitenden Menschen." 102 Es ist somit keineswegs ein Zufall, daß Campanella in seinem ,Sonnenstaat' als Interpret der Interessen der städtischen und ländlichen Armut auftritt. Die Erkenntnis des sozialen Ursprungs des ,Sonnenstaats ' - so Wolgin gibt den Schlüssel zum Verständnis dafür, daß diese Utopie einen so langanhaltenden Einfluß hatte, obgleich Campanellas Kommunismus (nach Friedrich Engels) "nur im Rauhen gearbeiteter, etwas roher" Kommunismus ist. Der Hinweis, daß schon Plato, aber auch Morus und Campanella Vorläufer des Sozialismus bzw. des Kommunismus seien 103, ist unter anderem darauf zurückzuführen, daß bereits 1795 Franc;ois Noel Babeuf (1760-1797) die These vertrat, daß alle Güter dem Volke gehören und dieses allein der Eigentümer sei. "Die Gesellschaft hat die Aufgabe, die Gleichheit der Bürger zu sichern. Jeder hat die Pflicht, zu arbeiten, und demzufolge auch das Recht, Nutznießer der Früchte seiner Arbeit zu sein." 104 Namentlich Charles Fourier (1772-1837) zielte mit seinen ,Phalange' auf eine Beseitigung des Privateigentums. Hieraus sollte sich ein soziales Leben vollkommenster Harmonie bei geeigneter Verteilung von Arbeit und Genuß entwickeln. Und schließlich Pierre J oseph Proudhon (1809-1865) hat in seiner 1840 erschienenen Schrift gefragt, was Eigentum sei (Qu'est ce que la propriete?, deutsch 1844: Was ist Eigentum?) Proudhon kommt zum Ergebnis, daß Eigentum Diebstahl sei (La propriete c'est la vol), d. h., das überlieferte Privateigentum sei eine ungerechte Zwangseinrichtung. Ebenda, S. 10. Die Begriffe ,Kommunismus' und ,Sozialismus' wurden von Marx und Engels noch synonym für die angestrebte klassenlose Gesellschaft gebraucht. Erst Lenin nannte 1915 die erste Phase der angestrebten Gesellschaftsordnung in Abgrenzung der klassenlosen kommunistischen Gesellschaft ,Sozialismus'. Der Sozialismus ist demnach für den Marxismus-Leninismus nur eine Zwischenstufe, ein Übergangsstadium. Im Sozialismus gilt der Grundsatz ,Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung', im Kommunismus: ,Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen. Einen kurzen Überblick zum Ausdruck ,Sozialismus' und zur Eigentumsfrage siehe: Wilhelm Gottschalck/Friedrich Karrenberg/Franz Josef Stegmann: Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland, herausgegeben von Helga Grebing, Deutsches Handbuch der Politik, Bd. 3, München-Wien 1969, S. 21-25. 104 Stichwort ,Babouvismus', in: Philosophisches Wörterbuch, herausgegeben von Georg Klaus/Manfred Buhr, 8. Aufl., Ost-Berlin 1972, Bd. I, S. 168-169, zitiert S. 169. 10~

10,

30

1. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

Die Eigentumsfrage steht somit im Zentrum des Sozialismus bzw. Kommunismus. Die ,klassischen' Utopien geben dem Gemeineigentum gegenüber dem Privateigentum den Vorrang, um hierdurch - neben anderen Elementen - eine harmonische und vollkommene Gesellschaft zu begründen. Eine Definition, die die Eigentumsfrage in den Mittelpunkt stellt, dürfte aber eine Verkürzung sein, denn wie noch zu zeigen sein wird, beinhalten die Begriffe ,Sozialismus' und ,Kommunismus' mehr als nur die Vergesellschaftung des Privateigentums. Der Sozialismus kann als ein Gegenmodell zum Kapitalismus entwickelte politische Lehre verstanden werden, der das Ziel verfolgt, die bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse zu verändern, indem soziale Gleichheit und Gerechtigkeit geschaffen werden. Aber auch der Begriff ,Sozialismus' zeichnet sich durch eine große Bedeutungsvielfalt und tiefgreifende Unterschiede in den historischen Erscheinungsformen aus. Vereinfachend kann man zwischen dem utopischen und dem wissenschaftlichen Sozialismus unterscheiden: 105 Als utopischer Sozialismus wurden von Marx und Engels jene Bewegungen und Theorien bezeichnet, "die die Bestrebungen der plebejisch-vorproletarischen Schichten in der Periode des Kampfes der Bourgeosie gegen die feudale Gesellschaftsordnung und die feudal-absolutistische Monarchie zum Ausdruck brachten, und diejenigen, die die Interessen des Proletariats in der Periode vertraten, in der die Bourgeosie ihre politische Vormachtstellung konstituierte."106 Marx und Engels unterschieden die folgenden Erscheinungsformen des utopischen Sozialismus: 107 "I. Utopische Schilderungen idealer Gesellschaftszustände im 16. und 17. Jahrhundert. 2. Direkt kommunistische Theorien in Frankreich im 18. Jahrhundert. 3. Das erste Auftreten einer wirklich agierenden kommunistischen Partei in der bürgerlichen Revolution nach der Beseitigung der konstitutionellen Monarchie. 4. Der kritisch-utopische Sozialismus. 5. Das Wiederaufleben einer proletarischen Bewegung nach der Französischen Revolution von 1830 und die letzte und höchste Form des utopischen Kommunismus."

Der utopische Sozialismus und Kommunismus ist eine Strömung innerhalb des Humanismus, der nationalistischen Philosophie und der Aufklärung. Hierzu gehören die utopischen Schilderungen idealer Gesellschaftszu105 Stichwort: , Sozialismus und Kommunismus, utopischer', in: Philosophisches Wörterbuch, Bd. 2, S. 1008-1019. 106 Ebenda, S. 1008. 107 Ebenda, S. 1008.

I. Zum Begriff und den Formen der Utopie

31

stände, wie wir sie bei Morus, Campanella und anderen antreffen. "Daß die Utopisten darüber hinaus an die antiken und mittelalterlichen Soziallehren anknüpfen, ist unverkennbar. Aber sie gehen in wesentlichen Punkten über sie hinaus. Bei ihnen spielt bereits das Problem der Arbeit, die gerechte und gleiche Verteilung derselben eine große Rolle. Und aus dem in P1atons Idealstaat einigen wenigen vorbehaltenen Privileg des Kommunismus, der gleichen Verteilung aller Güter, wird ein Kommunismus für alle."108 Der wissenschaftliche Sozialismus wurde von Kar! Marx seit den 1840er Jahren entwickelt und durch seine ,Kritik der politischen Ökonomie' (1859) wissenschaftlich fundiert. Marx überwand die reine Beschreibung eines sozialistischen bzw. kommunistischen Idealzustandes zu Gunsten einer Kritik der bestehenden gesellschaftlichen Verhältnisse und der Aufdeckung der inneren Widersprüche der kapitalistischen Wirtschaftsordnung. Der Sozialismus ist eine Vorstufe des Kommunismus lO9 , der sich nach marxistischleninistischer Sozialauffassung in drei Stufen vollzieht: In der ersten Phase wird der Kapitalismus beseitigt, in der zweiten der Sozialismus aufgebaut und in der dritten Phase die vollentwickelte sozialistische Gesellschaft - die Übergangsgesellschaft zum Kommunismus - geschaffen. "Marx, Engels und Lenin sahen im Sozialismus und Kommunismus nicht einen Zustand, der nach einem ausgedachten Ideal errichtet werden soll, sondern eine sich durch den Kampf der revolutionären Arbeiterklasse und ihrer Verbündeten mit historischer Notwendigkeit vollziehende Bewegung, die den materiellen gesellschaftlichen Verhältnissen entspringt. Der wissenschaftliche Sozialismus und Kommunismus ist daher die Konsequenz der philosophischen Auffassungen von Marx und Engels." Hier wird der Unterschied zwischen dem utopischen Sozialismus - wie er auch in den ,klassischen' Utopien zum Ausdruck kommt - und dem sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus bzw. Kommunismus deutlich. Ob dieser wissenschaftliche Sozialismus/Kommunismus tatsächlich wissenschaftlich - im Sinne von rational ist - oder ob ihm nicht auch utopische (irreale) Züge hinsichtlich des Menschenbildes anhaften, soll später geprüft werden. j) Buhers ,Pfade in Utopia'

Der Soziologe Ralf Dahrendorf hat seine Aufsatzsammlung ,Pfade aus Utopia' genannt. Offensichtlich handelt es sich um eine Abwandlung von Ebenda, S. 1010. Stichwort: ,Sozialismus und Kommunismus', in: Philosophisches Wörterbuch, Bd. 2, S. 997-1008, zitiert S. 1006. 108

109

32

1. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

Bubers ,Pfade in Utopia'. Allerdings weist Dahrendorf nur einmal beiläufig - auf Buber hin und begründet auch nicht diese Abweichung. Der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber (1878 in Wien geboren und 1965 in Jerusalem gestorben) hat der westlichen Welt den ostjüdischen Chassidismus 110 erschlossen, sich für das Judentum in Forschung und Lehre (an der Universität Frankfurt bis 1933) eingesetzt sowie das Alte Testament übersetzt. Nach seiner Emigration 1938 nach Palästina hatte er bis 1951 einen Lehrstuhl für Philosophie und Soziologie an der Universität J erusalem inne. Während des Zweiten Weltkrieges verfaßte Buber eine Reihe von Aufsätzen, von denen der Beitrag ,Pfade in Utopia' der markanteste ist. Diese Aufsätze erschienen zuerst in hebräischer Sprache 1947, die erste deutsche Ausgabe 1950, die zweite Auflage 1967 unter dem Titel ,Der utopische Sozialismus'; die dritte Auflage führt wieder den ursprünglichen Titel lll • Der erste Teil (S. 17-258) beinhaltet die Abhandlung ,Pfade in Utopia' und der zweite Teil (S. 262-410) mehrere Abhandlungen unter dem Titel ,Gemeinschaft und deren Verwirklichung', daran schließt sich das Nachwort von Abraham Schapira (S. 415-452) an. Es erscheint zweckmäßig, bei Schapiras Nachwort anzusetzen, das er mit ,Werdende Gemeinschaft und die Vollendung der Welt - Martin Bubers sozialer Utopismus' übersetzt l12 • Buber war der europäischen Kultur verhaftet und ein Exponent des deutsch-jüdischen Kulturkreises und schließlich ein aktiver Zionist. Bis zu seiner Emigration 1938 wurde er mit dem deutschen Judentum identifiziert und erlebte dessen innere Zerrissenheit. In Wien geboren kam er nach der Scheidung seiner Eltern nach Lemberg, wo er die Atmosphäre einer chassidischen Gemeinschaft kennenlernte. In den Studienjahren befaßte er sich mit nicht-jüdischen Geistesquellen (so seine Wiener Doktorarbeit 1904 über Nicolaus von Cues und Jakob Böhme), im gleichen Jahr entdeckte er die Literatur des Chassidismus, zugleich blieb er in der deutschen Kultur 110 Der Chassidismus ist eine enthusiastische religiöse Bewegung unter den Juden im Ostraum Europas. Der Name leitet sich von dem biblisch-hebräischen Wort hesed = Gnade, Liebe oder Heiligkeit her. Als sich der Chassidismus zu eigenen Gebetskreisen von den übrigen Juden absonderte, wurde ihm dieser Name von Außenstehenden gegeben. Seine Anhänger heißen Chassidim (deutsche Form: Chassidäer), d. h., ,die Frommen'. Der Chassidismus ist eine anti-rationale Bewegung gegen die Entartung talmudischer Frömmigkeit zu öder Kasuistik, in ihm setzte sich die jüdische Mystik fort. Der Chassidismus hat keine neuen Lehren geschaffen, sondern gab den osteuropäischen Juden um die Mitte des 18. Jahrhunderts den sozialen und religiösen Problemen neues Gewicht. Martin Buber bekannte, daß sein geistiges Fundament beim Chassidismus ruhe und seine Gedanken mit ihm verwandt seien. 111 Martin Buber: Pfade in Utopia Über Gemeinschaft und deren Verwirklichung, mit einem Nachwort herausgegeben von Abraham Schapira, 3. Aufl., (Lizenzausgabe) Darmstadt 1985. 112 Ebenda, S. 415 ff.

I. Zum Begriff und den Formen der Utopie

33

verhaftet. Sein Denken ist nur aus einem fortgesetzten Ringen mit den Gegensätzen zu verstehen. "Buber selbst behauptete, man könne sein Denken nur auf dem Hintergrund seiner persönlichen Erfahrungen, indem man ihn als Produkt derselben betrachtet, verstehen .... Er wollte nicht als systematischer Denker begriffen sein. Noch in hohem Alter verwahrte er sich gegen Versuche, seine Auffassungen mit den Maßstäben philosophischer Begrifflichkeit zu messen" (S. 424).113 In Bubers geistigem Werdegang unterscheidet man zwischen der frühen (mystischen) und der späteren (dialogischen) Stufe, die allmählich Oberhand gewann: Das mystische Stadium fällt in das erste Jahrzehnt und die erste Hälfte des zweiten Jahrzehnts dieses Jahrhunderts, während des Ersten Weltkrieges trat eine innere Wandlung zur Realität des irdischen Lebens ein. Auf diesem Hintergrund entstand seine dialogische Weltanschauung (1923 erschien sein Werk ,Ich und Du'). Ein wichtiges Bindeglied in Bubers Denken ist sein Interesse für .die utopischen Bestrebungen in der Geschichte des Geistes wie in der Wirklichkeit. Die Sehnsucht der Menschen nach dem, was ,sein sollte', läßt sich nicht in der Sphäre des einzelnen, sondern nur in der Gemeinschaft verwirklichen. Grund- und Eckstein der Buber'schen Sozialutopie ist die Gemeinschaft (S. 427). In seiner Jugendarbeit ,Alte und neue Gemeinschaft' (1901) hat Buber den utopisch-anarchischen Traum von der Gemeinsamkeit gesponnen. Mit der ,Bekehrung' im Ersten Weltkrieg erhielt der Begriff ,Gemeinschaft' in seiner Weltanschauung eine grundsätzlich andere Bedeutung, d. h., dieser Begriff beinhaltete nunmehr zwischenmenschliche Beziehungen und die Betonung des subjektiv-mystischen Erlebens trat zurück. Das Zwischenmenschliche wird mit der Gerechtigkeit - offenbar sind damit die soziale Gerechtigkeit und der Sozialismus gemeint - in Verbindung gebracht. Die Gemeinschaft wird (ähnlich wie bei Ferdinand Tönnies) im Sinne von Organismus gegenüber dem Mechanismus verstanden. "Wie einzelne sich zu kleinen lebendigen Gemeinschaften zusammenschließen, so verbinden sich Gemeinschaften zu Gemeinden und diese wiederum untereinander, ... Auf diesem Wege wird schließlich eine sozialistische Gesellschaft und ein sozialistischer Staat zustande kommen" (S. 433). Bubers Weltbild - die sozialistische Utopie - enthält auch religiöse Elemente, denn das Verlangen nach wahrer Verbundenheit hängt mit der Sehnsucht nach Gott zusammen. Buber hat die Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft von Ferdinand Tönnies 1l4 übernommen: Die ,Gemeinschaft' beruht auf den unmittelbaren Die Seitenangaben erfolgen im Text. Ferdinand Tönnies (1855-1936) veröffentlichte 1887 sein bedeutendstes Werk ,Gemeinschaft und Gesellschaft' (8. Aufl., Leipzig 1935). Nach Tönnies beinhaltet die Gemeinschaft die intimeren und gefühlsmäßigen, dagegen die Gesellschaft die kälteren und zweckbedingten Beziehungen. Prototyp der Gemeinschaft sind die Verhältnisse zwischen Eltern und Kindern, zwischen den Geschwistern und Dorfnachbarn sowie 11)

114

3 Jenkis

34

1. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

persönlichen Beziehungen, die den sozialen Organismus begründen; die ,Gesellschaft' ist eine abstrakte, massenhaft-mechanische Anhäufung von Menschen in den modernen Großstädten. In den traditionellen sozialen Formen - der ländlichen oder städtischen Gemeinde, der Arbeitergenossenschaft, dem Freundesbund, der religiösen Gemeinde - hat sich die Gemeinschaft herausgebildet. Dagegen ist die städtische Gesellschaft technischer und zweckmäßiger Art, an die Stelle der zwischenmenschlichen Bindung treten die Entfremdung und die Konkurrenz. Buber empfing von Gustav Landauer l15 die gedankliche Richtung und das persönliche Vorbild der Hingabe an eine soziale Vision: Beide begegneten sich zum ersten Male im Jahre 1900, es war für Buber eine von schicksalhafter Bedeutung. Zwar war das neu-romantische Verlangen nach Gemeinsamkeit in weiten Kreisen sowohl der deutschen als auch der jüdischen Jugend verbreitet, aber durch Landauer kam bei Buber der anarchische Sozialismus hinzu. Bei Buber bildete sich eine sozialistische Vision heraus, die über Tönnies hinausging. In seinem Nachruf auf Landauer führte Buber 1920 unter anderem aus: "Daß Sozialismus nicht etwas ist, was aus der Entwicklung der wirtschaftlichen Verhältnisse heraus entsteht, sondern daß Sozialismus etwas ist, was nie kommen wird, wenn es nicht jetzt und von uns getan wird. Das war die Idee Gustav Landauers u.nd das ist unsere Politik" (S. 437). Erst zwei Jahrzehnte später ging Buber sachlich und ausführlich auf die Gesellschaftstheorie seines Freundes und Lehrers Gustav Landauer ein. Es ist das Streben nach einem ,sozialistischen Umbau des Staates zu einer Gemeinschaft von Gemeinschaften'. In Bubers Sozialutopie ist ein weiteres Moment, das er von Landauer entnommen hat, nämlich das anarchistische: Anarchistische Tendenzen sind bereits in Bubers frühen Reden über das Judentum in den Jahren von 1909 bis 1911 zu beobachten, nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges beteiligten sich Buber und Landauer an Aktivitäten eines esoterischen Kreises von Vertretern des Geistes, der anarchistisch-mystische Züge trug.

zwischen den Gesinnungs- und Glaubensgenossenschaften; Prototypen der Gesellschaft sind die Verbindungen des Geschäftslebens und der Politik, diese Verbindungen dienen bestimmten Zwecken, sie sind gewollt. Vereinfachend kann man die Gemeinschaft als ,Du-Beziehung' und die Gesellschaft als ,Sie-Beziehung' charakterisieren. Aus der umfangreichen Literatur zu diesem Thema siehe Werner Ziegenfuß : Wesen und Formen der Soziologie, in: Werner Ziegenfuß (Herausgeber): Handbuch der Soziologie, Stuttgart 1956, S. 121-246, insbesondere S. 146-156. 115 Gustav Landauer (1870-1919) war Schriftsteller und Politiker, der sich früh unter dem Einfluß Kropotkins zum indoktrinären, radikalen Sozialismus und dem gewaltlosen Anarchismus bekannte. Nach der Novemberrevolution 1918 wurde Landauer in München Mitglied des Zentralarbeiterrates und Anfang April 1919 Mitglied der Räteregierung. Landauer wurde von Freikorpsmitgliedern ermordet (2. Mai 1919).

I. Zum Begriff und den Formen der Utopie

35

In seiner Schrift ,Ich und Du' geht Buber von den dialogischen Beziehungen im menschlichen Leben aus: Jeder Mensch besitzt einen ,Du-Sinn', eine Art Kontaktbereich; denn der Mensch - auf sich allein gestellt und isoliert - vermag nicht den Glauben an sich selbst aufrecht zu erhalten. "Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei, und wer versucht, sich ein Leben in der Vereinzelung aufzubauen, gerät schließlich in den ,Selbst-Widerspruch' und verliert sich in den Irrgängen einer Scheinerfüllung" (S. 439). Bis aber Buber die dialogischen Beziehungen in ihrer zentralen Stellung im Verhältnis zwischen Mensch und Mensch stellte, vergingen noch Jahre; denn erst 1936 bildete sich erst langsam in seiner Schrift ,Die Frage an den Einzelnen' der Zusammenhang zwischen dem dialogischen Denken und dem sozialen Utopismus heraus, d. h., neben dem Du gibt es das Wir, daß das Du einschließt. Auf seine sozialistische Überzeugung kam Buber zehn Jahre nach dem Ersten Weltkrieg zurück: Er vertrat den sozialistischen Aufbau Palästinas als jüdischer Sozialist, für den Judentum und Sozialismus in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis stehen, er betonte das gegenseitige Aufeinander-angewiesen-Sein von Religion und Sozialismus: "Religion ohne Sozialismus ist ein entleibter Geist, also auch nicht wahrhafter Geist; Sozialismus ohne Religion ist entgeisterter Leib, also auch nicht wahrhafter Leib" (S. 445). Zum staatlichen Element ist bei Buber zu beobachten, wie er mit seinen anarchistischen 'Neigungen ringt und sie überwindet, ohne ganz von ihnen frei zu werden und ohne sich innerlich ganz von ihnen abzukehren. Im Alter sind bei Buber einige positive Einstellungen zu den Institutionen von Gesellschaft und Staat erkennbar, folglich mißt er den Institutionen bei der Erneuerung des inneren Aufbaus von Zusammenschlüssen eine positive Bedeutung zu. Bubers Vision ist nicht Frucht mystischer Schau und man kann sie nicht als unverbindliche Phantastik einstufen: Für ihn ist Gemeinschaft eine werdende oder werden wollende Wirklichkeit, ein lebendiges Glied sich immer weiter ziehender Kreise von sozialen Zusammenschlüssen. Eine Gesellschaft ist dann reich strukturiert, wenn sie aus mannigfachen Gemeinschaften und Gemeinschaftsverbänden aufgebaut ist. Dieses vollzieht sich zuerst in einer Staatsgesellschaft und dehnt sich dann auf die gesamte Menschheitsfamilie aus. Wer die Welt verbessern will, muß bei sich selbst anfangen, aber nicht aufhören. "Die Verwirklichung erreicht ihren Höhepunkt mit der Verbesserung der Welt der Menschheitsfamilie und mit der Vollendung der Schöpfung insgesamt" (S. 452). Die Skizze des geistigen Lebensweges hat bereits deutlich gemacht, daß Martin Buber ein ,sozialer Utopist' war, bei dem sich religiöse und anarchistische Elemente vermischten. Dieses kommt in seiner Abhandlung ,Pfade in 3·

36

1. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

Utopia' zum Ausdruck. 116 Da es in diesem Zusammenhang nicht zweckmäßig erscheint, den vollständigen Inhalt dieser Abhandlung zu referieren, es soll nur auf den ersten und zweiten Abschnitt - den Begriff bzw. die Sache - eingegangen werden, zumal wir uns in diesem Kapitel mit der Interpretation des Ausdrucks ,Utopie' befassen. Bereits im ersten Satz weist Buber darauf hin, daß im Kommunistischen Manifest der Abschnitt ,Der kritisch-utopische Sozialismus und Kommunismus' Generationen bis auf den heutigen Tag am stärksten beeinflußt hat: Marx und Engels waren vom ,Bund der Gerechten' mit der ,Formulierung eines kommunistischen Glaubensbekenntnisses' beauftragt worden. Hierbei ging es um eine Abgrenzung gegenüber den verwandten Richtungen, vor allem gegenüber den Fourieristen. Im Entwurf von Engels war von den ,utopischen' Sozialisten oder Kommunisten noch nicht die Rede. Die von Marx herrührende Fassung weicht von der von Engels wesentlich ab, d. h., Marx formulierte neu, was er schon vorher in der Streitschrift gegen Proudhon ausgesprochen hat, nämlich daß die Theoretiker wie Proudhon, St. Simon, Fourier, Owen, Cabet, Weitling usw. Utopisten sind. Sie sind deshalb Utopisten, weil die Industrie und das Proletariat noch unentwickelt waren, folglich die Erfassung und Bewältigung des Problems ;Proletariat' noch unmöglich war. Stattdessen waren ihre Systeme erfunden, phantastisch und somit utopisch. Wörtlich heißt es hierzu im Kommunistischen Manifest: "Die phantastische Schilderung der zukünftigen Gesellschaft entspringt in einer Zeit, wo das Proletariat höchst unentwickelt ist, also selbst noch phantastisch seine eigene Stellung auffaßt, seinem ersten ahnungsvollen Drängen nach einer allgemeinen Umgestaltung der Gesellschaft." Diese Kritik von Marx am utopischen Sozialismus bedeutete auch eine ,innenpolitische' Handlung gegen andere Mitglieder des Bundes der Gerechten (der nunmehr ,Bund der Kommunisten' hieß), die sich zwar Kommunisten nannten, ohne es zu sein. "Der Begriff ,utopistisch' war der letzte und spitzeste Pfeil, den er in diesem Kampfverschoß" (S. 21). Insbesondere die Kritik von Marx an Proudhon zielte darauf ab, ihn als Utopisten zu kennzeichnen, der die ,beste Welt' konstruierte, der aber der Ökonomie hilflos gegenüberstand. "Die Bezeichnung ,Utopist' ist seither die stärkste Waffe im Kampf des Marxismus gegen den nicht-marxistischen Sozialismus geworden" (S. 26). Im eigenen Lager findet man die Wissenschaft und die Wahrheit, im gegnerischen dagegen die Utopie und den Trug, man ist nicht der modernen ökonomischen Entwicklung gewachsen, dieses lehrt nur der Marxismus. Buber schließt das Kapitel über den Begriff damit ab, daß der Sozialismus aus der Sackgasse kommen müsse, daher muß das ,Utopisten'-Schlagwort 116

Ebenda, S. 19-258.

I. Zum Begriff und den Formen der Utopie

37

auf seinen wahren Gehalt geprüft werden. Im Abschnitt ,Die Sache' (S. 2942) wendet er sich dem Begriff bzw. Inhalt der Utopie zu, nachdem er noch keine Definition gegeben hat: Allen Utopien ist gemeinsam, daß sie Phantasiebilder sind, es sind Bilder dessen, was sein soll. Dennoch kann man sie nicht nur als Wunschbilder abtun; denn: "Was hier waltet, ist die Sehnsucht nach dem Rechten, das in religiöser oder philosophischer Schau, als Offenbarung oder als Idee, erfahren wird, und das sich seinem Wesen nach nicht im Einzelnen, sondern nur in der menschlichen Gemeinschaft als solcher realisieren kann. . . . Die Sehnsucht nach der Verwirklichung des Geschauten gestaltet das Bild" (S. 20 f.). Buber unterscheidet bei der Schau der Offenbarung zwischen der Zeit und dem Raum: Das Bild einer vollkommenen Zeit vollendet sich als messianische Eschatologie, die Schau des Rechten in der Idee vollendet sich in dem Bild eines vollkommenen Raumes, der Utopie. "Eschatologie bedeutet Vollendung der Schöpfung, Utopie Entfaltung der im Zusammenleben der Menschen ruhenden Möglichkeiten einer ,rechten' Ordnung. Ein anderer Unterschied ist noch wichtiger. Für die Eschatologie geschieht - ... - der entscheidende Akt von oben, für die Utopie ist alles dem bewußten Menschenwillen unterworfen, ja man kann sie geradezu als ein Gesellschaftsbild bezeichnen, das so entworfen ist, als ob es keine anderen Faktoren als den bewußten Menschenwillen gäbe" (S. 30 f.). Beide, die prophetische Eschatologie und die philosophische Utopie haben realistischen Charakter. Im Zeitalter der Aufklärung hat die Eschatologie zunehmend an Wirkung verloren; denn es wird den Menschen immer schwerer zu glauben, daß die Menschheit in einem Akt von oben erlöst werden wird. Dagegen hat das Zeitalter der Technik und des sozialen Widerspruchs die Utopie tief beeinflußt, d. h., der bewußte Menschenwille wird technisch beeinflußt, die Gesellschaft soll durch Berechnung und technische Konstruktion bewältigt werden. Folglich findet die Utopie ihre Heimstatt in einer dürftigen Romangestaltung, der Science Fiction, in der kaum noch etwas von den alten, großen Utopien zu entdecken ist. In das fehlende utopische Sozialsystem stößt die ganze Kraft des depossidierten Messianismus, das Sozialsystem des modernen Sozialismus und Kommunismus hat - wie die Eschatologie den Charakter der Verkündigung und des Ausrufes. Zugleich ist es eine Verwebung von Lehre und Aktion, von Entwurf und Experiment. Die Eschatologie hat zwei Grundformen: (1) Die prophetische Eschatologie: Die Bereitung der Erlösung ist in einem

nicht zu bestimmenden Maße in die Entscheidungsmacht jedes angeredeten Menschen gestellt; diese Form stammt aus Israel.

(2) Die apokalyptische Eschatologie: Der Erlösungsprozeß ist in seinen Einzelheiten von Anfang festgesetzt, in seinem Vollzug werden die

38

l. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

Menschen nur als Werkzeug verwendet. Ihnen darf lediglich vorher das unwandelbare Feststehende aufgedeckt oder enthüllt werden. Diese Form stammt aus dem Iran. Die Ausgleiche, Mischungen und Entmischungen zwischen diesen beiden Formen der Eschatologie erfolgten durch das Christentum. In der sozialistischen Säkularisierung der Eschatologie wirkten sich diese Formen unterschiedlich aus: Die prophetische Grundform ist in einigen Systemen der Utopisten vorhanden, dagegen dominiert die apokalyptische Grundform im Marxismus. "Der Punkt, an dem bei Marx die utopisierte Apokalyptik aufbricht und alle ökonomisch-wissenschaftliche Topik in reine Utopik umschlägt, ist die Wandlung aller Dinge nach der sozialen Revolution. Die Utopie der sogenannten Utopisten ist vorrevolutionär, die marxistische ist nachrevolutionär. " (S. 35) So kann das Absterben des Staates oder der Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit wissenschaftlich nicht mehr begründet werden; zwischen Wirklichkeit und Erwartung liegt ein Abgrund. Betrachtet man die kapitalistische Gesellschaft - in der der Sozialismus entstanden ist - auf ihren Charakter als Gesellschaft, dann handelt es sich um eine solche, die strukturarm ist: Unter ,Struktur einer Gesellschaft' versteht Buber ihre Gesellschafts- bzw. Gemeinschaftshaltigkeit ll7• Strukturreich ist dann eine Gesellschaft, wenn sie aus echten Gesellschaften - Orts- und Werkgemeinschaften und aus deren stufenweisen Zusammenschlüssen - aufgebaut ist, d. h., Neigung zur Erweiterung und Ausdehnung der Vereine, von weiteren über den engeren Genossenschaften, von Bünden über den Einzelvereinen, von umfassenden Gesamtbünden über den Sonderbünden. "Gesellschaft besteht eben ihrem Wesen nach nicht aus losen Individuen, sondern aus Gesellungseinheiten und ihren Gesellungen. Dieses ihr Wesen ist durch den Zwang der kapitalistischen Wirtschaft und ihres Staates fortschreitend ausgehöhlt worden, so daß der moderne Individualisierungsprozeß sich als Atomisierungsprozeß vollzog" (S. 40). Zwar blieben die alten organischen Formen in ihrem äußeren Bestand erhalten, wurden aber innerlich ausgehöhlt. Nicht nur die Massen, sondern die ganze Gesellschaft wurde amorph, ungegliedert und strukturarm. Die utopischen Sozialisten haben eine Restrukturierung der Gesellschaft angestrebt, aber nicht - wie die marxistische Kritik annimmt - in einem romantischen Versuch, "sondern im Bunde mit den in den Tiefen des wirtschaftlichen Werdens wahrnehmbaren dezentralistischen Gegentendenzen, aber auch im Bunde mit der langsam in der Tiefe der Menschenseele wachsenden innerlichsten aller Auflehnungen, der Auflehnung gegen die 117 Da Buber an Tönnies ,Gesellschaft und Gemeinschaft' anschließt, wäre die Herausarbeitung des Unterschieds zwischen diesen beiden Begriffen angebracht.

I. Zum Begriff und den Formen der Utopie

39

massierte oder kollektivierte Einsamkeit" (S. 41). Der utopische Sozialismus bereitet die künftige Struktur der Gesellschaft vor. Es sollen nicht nur die noch erhaltenen Gemeinschaftsformen bewahrt, sondern sie sollen auch mit - neue m - Geist erfüllt werden. Der utopische Sozialismus kämpft für ein Höchstmaß an Gemeinschaftsautonomie innerhalb einer Restrukturierung der Gesellschaft. Buber schließt diesen Abschnitt mit Sätzen aus einem Vortrag aus dem Jahre 1928: "Wirkliches Miteinanderleben von Mensch zu Mensch kann nur da gedeihen, wo die Menschen die wirklichen Dinge ihres gemeinsamen Lebens miteinander erfahren, beraten, verwalten, wo wirkliche Nachbarschaften, wirkliche Werkgilden bestehen ... Natürlich können und wollen wir nicht zum primitiven Agrarkommunismus und nicht zum Ständestaat des christlichen Mittelalters zurück. Wir müssen ganz unromantisch, ganz heute lebend, mit dem widerstrebenden Material unseres Geschichtstags echte Gemeinschaft aufbauen" (S. 42). In den weiteren Abschnitten der Abhandlung ,Pfade in Utopia' befaßt sich Buber unter anderem mit Proudhon, Kropotkin, Landauer, Marx und Lenin. Der letzte Abschnitt ist mit ,In der Krisis' überschrieben. Da es nicht möglich ist, auf die einzelnen Abschnitte einzugehen, sollen die Ausführungen über die Krisis herangezogen werden um zu belegen, daß Buber eigentlich keine Utopie vorlegt, sondern in einer Krise Sehnsüchte nach einer heilen Welt hat, in der die Gemeinschaft - die der utopische Sozialismus verwirklichen soll - wieder hergestellt wird. Martin Buber hat die Abhandlung ,Pfade in Utopia' im Zweiten Weltkrieg geschrieben und 1947 in hebräisch veröffentlicht (1950 in deutscher Sprache). Dieses erscheint deshalb erwähnenswert, weil Buber darauf hinweist, daß wir seit drei Jahrzehnten - d. h. seit dem Ersten Weltkrieg - "am Anfang der bisher größten Krisis des Menschengeschlechtes leben. Es witd uns immer deutlicher, daß auch die gewaltigen Ereignisse der letzten Jahre (damit dürfte der Zweite Weltkrieg gemeint sein, Jk.) nur als Zeichen dieser Krisis zu verstehen sind" (S. 244). Es handelt sich nicht nur um eine Krise des wirtschaftlichen und sozialen Systems, sondern um eine solche aller Systeme. Der menschliche Geist hat von Triumph zu Triumph geführt, zugleich aber auch die Brüchigkeit dieser Herrlichkeit offenbart. Der Fortschritt des Menschengeschlechts vollzieht sich auf einem schmalen Grat zwischen Abgründen. Diese Krisis kann nicht überwunden werden, indem man zum Ausgangspunkt zurückstrebt, sondern man muß hindurch in die Zukunft blicken. "Hindurch aber werden wir nur dringen, weim wir wissen, wohin wir wollen" (S. 249). Es muß mit der Aufrichtung eines vitalen Friedens begonnen werden, allerdings nicht durch eine politische Organisation, sondern durch den starken Willen der Menschenvölker, den Planet Erde gemeinsam zu bewirtschaften. ,Gemeinsames Wirtschaften ist nur möglich als ein sozialistisches' (S. 250).

40

1. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

Es ist aber die Frage, welcher Sozialismus gemeint ist. Wenn man unter Sozialismus den Übergang der Verfügungsmacht der Produktionsmittel von den Unternehmen in die Kollektivität meint, dann kommt es entscheidend darauf an, dieser Kollektivität ein wirkliches Gemeinschaftsleben zu ermöglichen, das gemeinsames Wirtschaften gestattet. Zentralismus ist nur in dem Maße erforderlich, wie es die Aufrechterhaltung der Ordnung erfordert. Aber auch die Gemeinschaft und die Gemeinschaftsidee darf nicht zum Dogma werden; den Gemeinschaftsgedanken von Sentimentalität, Übers te igerung und Schwärmerei freizuhalten. "Gemeinschaft ist die innere Verfassung eines gemeinsamen Lebens, das die karge ,Rechnung', den widerstrebenden ,Zufall', die überfallende ,Sorge' kennt und umschließt. Sie ist Gemeinsamkeit der Not und von daher erst Gemeinsamkeit des Geistes; Gemeinsamkeit der Mühe und von daher erst ,Gemeinsamkeit des Heils'" (S. 253). Buber bekennt sich zur Wiedergeburt der Gemeinde. Die neuen Gemeinden - man kann sie auch Genossenschaften nennen - sollen die Subjekte des gewandelten Wirtschaftens sein, in deren Hände die Produktionsmittel übergehen sollen. Auch in diesen Gemeinschaften wird es eine Verteilung der Macht zwischen der Basis und der Spitze geben, die aber ganz anders als in den kommunistischen Staaten sein wird, nämlich (wörtlich) ,gemeinschaftsstrebig'; an die Stelle von Scheinvertretern amorpher Wählermassen werden arbeitserprobte Vertreter der wirtschaftenden Gemeinschaften treten. Schließlich: "Nur eine Gemeinschaft von Gemeinschaften wird Gemeinwesen heißen dürfen" (S. 257). Überblickt man diese unvollständige Skizze von Martin Bubers ,Pfade in Utopia', so gewinnt man den Eindruck, daß es sich nicht um eine Sozialutopie im traditionellen Sinne handelt, sondern darum, daß Buber auf Grund der Erschütterungen durch die beiden Weltkriege, der Weltwirtschaftskrise und insbesondere durch seine erzwungene Emigration im vorgerückten Alter von sechzig Jahren offensichtlich innerlich heimatlos geworden war und nach einem überschau baren Fixpunkt suchte, das waren für ihn der Sozialismus und die Gemeinschaft. Trotz seiner Ablehnung schwebten ihm offensichtlich mittelalterliche Nachbarschaftsgebilde vor, die er - idealisierend - der amorphen Groß- und Industriestadt gegenüberstellt. Es wäre näher zu untersuchen, ob nicht große Ähnlichkeit mit Othmar Spanns (18781950) Ganzheitslehre vorhanden ist 1l8 • Spann ist gleichfalls ein Gegner aller atomistischen, mechanistischen, individualistischen und kollektivistischen Konzeptionen. Er baut aber nicht die Gesellschaft - wie Buber - von unten, sondern von oben auf, d. h., er geht von der Ganzheit aus, aus der 118 Othmar Spann: Gesamtausgabe, herausgegeben von W. Heinrich/H. Riehl/R. Spann/F. A. Westpha1en, 21 Bände, Graz 1963-1979, siehe insbesondere: Der wahre Staat, . letzte Aufl. 1971.

1. Zum Begriff und den Formen der Utopie

41

Teile ausgegliedert werden ll9 . Bei beiden Theoretikern ist in den zwanziger und dreißiger Jahren der Wunsch nach der Wiederherstellung einer organischen Ordnung vorhanden, um nicht das Individuum den unüberschaubaren Großstädten, der Industrie und der Anonymität zu überlassen. Das eigentliche utopische Element bei Buber (und auch bei Spann) besteht darin, daß er an die harmonische und befriedete Gesellschaftsordnung glaubt, wenn es sich um eine sozialistische Gemeinschaft handelt. g) Anarchistische und archistische Utopien

Nach Voigt 120 kann man die Menschen in zwei Gruppen einteilen: Einmal diejenigen, die herrschen sowie diejenigen, die dienen. Die einen unterwerfen sich gern der Herrschaft anderer, sie suchen bei ihnen Schutz, Ruhe, Frieden und die Befreiung von den Sorgen der materiellen Existenz, es sind unselbständige Naturen; die anderen, die ohne Freiheit nicht leben können, haben das Bedürfnis nach Selbstbestimmung. Für sie ist wirtschaftliche Sicherheit und Frieden nicht der Preis, für den sie die Selbständigkeit und die freie Entfaltung aufgeben würden. Auch wenn es sich um zwei extreme Schilderungen handelt, so sind sie doch - in abgeschwächter Form - in der Wirklichkeit vorhanden. Diese beiden Extreme, die in der Wirklichkeit in dieser Form kaum vorkommen, drücken sich auch in den gegensätzlichen Arten von Utopien aus: "Es gibt Utopien für freiheitsbegeisterte Herrenmenschen, und es gibt Utopien für die zum Dienen Geborenen, dem Zwange sich gern und willig Unterwerfenden."121 Diese Unterscheidung gilt auch für Utopisten, wobei allerdings eine Umkehrung der Verhältnisse zwischen dem Schöpfer der Utopie und seiner Utopie besteht: Nicht die freiheitsliebenden Naturen sind es, die Zukunfts bilder voller Freiheit und Selbstherrlichkeit entwerfen und - umgekehrt - nicht die friedfertigen Naturen entwickeln Staatsideale, in denen der Friede, die Sicherheit und das Wohlleben mit dem Opfer der persönlichen Freiheit der Bürger erkauft werden. Im Gegenteil: Die Willensstarken betrachten sich regelmäßig selbst als Herrscher ihres Zukunftsstaates, wo sie die Freiheit genießen, derer sie bedürfen; sie schrecken nicht vor Zwang gegen die Untertanen zurück. Ihr Ideal ist ein Staat mit starker, allumfassender Zentralgewalt, durch die die Beziehungen der Staatsangehö119 Spann "sah die wesentliche Vorbedingung der Wiedergesundung des sozialen Körpers in der Wiederbegründung der kleinen Gemeinschaften, der Familie, der Nachbarschaft und der Stände". So Walter Becher: Der Blick aufs Ganze - Das Weltbild Othmar Spanns, München 1985, S. 65. 120 Andreas Voigt: Die sozialen Utopien Fünf Vorträge, Leipzig 1906, S. 18. 121 Ebenda, S. 18 f.

42

1. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

rigen streng geregelt und einer strengen Zucht unterworfen werden. Die Freiheit gilt nur für die Herrscher, die Masse der Bürger hat sich den Gesetzen und Verordnungen zu fügen. Im Gegensatz hierzu die ,sanften' Utopisten: Sie sind es, die sich ein Gesellschaftsideal der absoluten persönlichen Freiheit ausdenken, jeden Zwang, jede Art von Herrschaft und damit die Regierung, die Polizei sowie die strafende Gewalt ablehnen. Die konsequentesten unter ihnen sind sogar gegen die geistigen Mächte, insbesondere die Religion, die sie als Hindernis gegen die utopischen Pläne betrachten. Diese ,radikalen Stürmer' sind die sanftesten Naturen, sie fordern die Freiheit für die anderen, weil sie sich die Herrschaft nicht zutrauen. Diese fundamentalen Unterschiede der Utopien hat Voigt mit den Ausdrücken anarchistische und archistische Utopien belegt: 122

Das Wort ,Anarchisten' setzt sich aus dem griechischen Wort archein = herrschen und der Vorsilbe ,an' zusammen, was eine Negation bedeutet. Anarchia bedeutet somit den Mangel anjeder Oberherrschaft; Anarchismus ist die Lehre von der Verneinung der Staatsgewalt und der Anarchist ist ein Staatsfeind. Anarchistische Utopien sind diejenigen Gesellschaftsideale, in denen die absolute persönliche Freiheit dominiert und jede Art von Herrschaft abgelehnt wird. Aus ,anarchistisch' bildet Voigt das bisher ungebräuchliche positive Adjektivum ,archistisch', um die zweite Kategorie von Utopien zu bezeichnen: Die Vertreter dieser Richtung sind die archistischen Utopisten. In Analogie zu Anarchist kann das Substantivum Archist gebildet werden. Mit dieser Bezeichnung werden die Anhänger des Herrschafts- und Zwangsprinzips im utopischen Staat erfaßt. Voigt weist zutreffend darauf hin, daß die Utopien selten rein anarchistische oder rein archistische sind, sondern meistens beide Elemente enthalten; dennoch erscheint ihm die Bildung dieser beiden Begriffe bzw. Typen sinnvoll. h) Gegen-Utopien

Das 19. und 20. Jahrhundert glänzen durch einen unaufhaltsamen technischen und wirtschaftlichen Fortschritt: Erfindungen ermöglichen neue technische Verfahren, die moderne Industrie entsteht, die Verstädterung nimmt zu, Reichtum und Armut liegen dicht nebeneinander. Das Wachstum der Industrie, des Handels, des Verkehrs und der technischen Möglichkeiten nähren den Optimismus des Fortschritts. Die negativen Folgen des Frühkapitalismus werden im Spätkapitalismus zum größten Teil reformiert oder zumindest gemildert; die von Marx prophezeite Verelendung des Proletariats findet nicht statt. Als Folge dieses tech122

Ebenda, S. 20.

I. Zum Begriff und den Formen der Utopie

43

nisch-wirtschaftlichen Fortschritts entsteht eine artifizielle Welt, die uns Erleichterungen und Annehmlichkeiten, aber auch Bedrohungen gebracht hat. "Erst seit Beendigung des Zweiten Weltkrieges wird in aller Deutlichkeit sichtbar, daß der Fortschritt nur in seinen ersten strahlenden Akten die freie Tat des Menschen war. Der technische Fortschritt, der von den Utopisten an als ein Werkzeug zur Verbesserung des menschlichen Lebens und zur Veredelung des Menschen angesehen wurde, zeigt, daß er von einem bestimmenden Punkt an gegenläufig wird und scheinbar zwangsläufig zu einer Bedrohung des Menschen ausartet." 123 Der Niedergang)des Fortschrittsglaubens setzt im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ein, zugleich erfolgt eine Transformation der Utopie: 124 "Auf der Höhe des Fortschrittsdenkens hielt sich der Mensch für fahig und berufen, über die Schöpfung, die Natur, hinauszugehen, zu vollenden, was ohne seine Tat unvollkommen bliebe."125 Die Zerstörung des Fortschrittsdenkens war keine unmittelbare Folge des naturwissenschaftlich-technischen Denkens, sondern hatte ihren Ursprung in der Bildungsintelligenz, die das Vertrauen in die sinnhafte Zielgerichtetheit des innerweltlichen Geschichtsprozesses verloren hatte. Je stärker der technisch-wirtschaftliche Fortschritt den Menschen von den Zwängen der Natur befreite, desto stärker wuchsen die Institutionen und die Macht des Apparates; denn die moderne, komplizierte Gesellschaft erfordert immer umfangreichere Regulierungen. Gegenüber diesem anonymen Apparat fühlt sich der moderne Mensch ausgeliefert, wie der Primitive gegenüber den Naturgewalten. Und schließlich erschöpfte sich der irdische Expansionsraum; dieses führte gegen Ende des 19. Jahrhunderts gleichfalls zu einer Erschütterung des Fortschrittsglaubens. Es bestand nur noch die Möglichkeit, diese Beschränkung dadurch zu durchbrechen, indem man in den außerirdischen Raum vorstieß. Von dieser Möglichkeit haben die technischen Utopien Gebrauch gemacht, denn die Zahl der ,Planetenromane' stieg sprunghaft an. Diese Entwicklung hat "das utopische Denken so sehr in Mitleidenschaft gezogen, daß es für manche Beobachter aussieht, als wären heute nur noch die Gegenutopie oder denaturierte Formen der Utopie möglich. Für bestimmte Bereiche des utopischen Denkens, für die politisch-soziale Utopie besonders, trifft das auch zu. Die Gattung der ,Staatsromane' stirbt aus, und Heiss, S. 119. Martin Schwonke: Vom Staatsroman zur Science Fiction - Eine Untersuchung über Geschichte und Funktion der naturwissenschaftlich-technischen Utopie, Stuttgart 1957. Das Kapitel ,Vom ,Leitbild des Handeins' zur prognostischen Orientierung' (S. 128146 des Originals) ist abgedruckt bei Neusüss, S. 235-262. 125 Ebenda, S. 128. 123 124

44

1. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

was ihr noch zuzuzählen ist, gibt sich als die pessimistische Darstellung eines statischen Endzustandes. "126 Flechtheim 127 verwendete die Begriffe ,Utopie' und ,Gegen-Utopie' als Grenzbegriffe: "Während die Utopie in kritischer Auseinandersetzung mit den grundlegenden Übeln des bestehenden sozio-kulturellen Systems die rationalen und produktiven Möglichkeiten des Menschen betont und überbetont, malt die Gegen-Utopie das Bild einer Gesellschaft und Kultur, in der die irrationalen und destruktiven Tendenzen ihre idealtypische Vollendung gefunden haben .... Während die Utopie psychologisch eine Überkompensation des Mangels, der Sorge, des Unglücks darstellt, spiegelt sich in der Gegen- Utopie die Übersteigerung der Furcht, des Schreckens, des Abscheus vor der technisch perfektionierten und total politisierten Gesellschaft, die möglicherweise die Utopie zu verwirklichen sucht und dabei scheitert, jedenfalls aber mit den Problemen der Welt von heute und morgen nicht fertig wird." m In diesem Zitat sind die wesentlichsten Unterschiede zwischen der Utopie (als positives Bild in idealistischer Verklärung) und der GegenUtopie (als Furcht vor einer allmächtigen Technik und Politisierung) enthalten. In der (positiven) Utopie lernt man, sich den Zwängen der Natur zu entziehen, dem ungünstigen Klima zu trotzen, die Nahrungsmittelerzeugung zu steigern, die Erschöpfung der Rohstoff- und die der Energiequellen durch neue Erfindungen zu kompensieren. Gegenüber diesen optimistischen Erwartungen lernt aber der moderne Mensch auch, daß er immer stärker den kollektiv-gesellschaftlichen Zwängen unterworfen wird. Einerseits sind die umfangreichen technischen, wirtschaftlichen und sozialen Regulierungen unerläßlich, andererseits fühlen sich die Bürger ebenso hilflos wie den Naturgewalten ausgesetzt. Beispiel hierfür sind die Speicherkapazitäten der Computer und die Fähigkeit, diese Daten in Sekundenschnelle abzurufen und entweder positiv oder negativ zu gebrauchen. Es fällt auf, daß die klassischen (positiven) Utopien farbenreich und vielgestaltig sind, dagegen die Gegen-Utopien grau, eintönig und uniform; an die Stelle des Glaubens an das Gute im Menschen, der Hoffnung auf Realisierung und der Liebe zum Menschen - die eine neue Welt des Schönen, des Guten und Wahren ermöglichen sollen -, treten in der Gegen-Utopie Elemente der Angst und der Verzweiflung, der Lüge und des Hasses. "Macht und Herrschaft, Gewaltsamkeit und Zwang, Aggression und Destruktion verdrängen Solidarität und Vertrauen, Kooperation und funktionale Leitung. So entsteht der Idealtyp einer Kultur der totalen Machtmaximierung und der radikalen Ebenda, S. 131 f. (Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). Ossip K. FIechtheim: Artikel ,Utopie und Gegenutopie', in: Handwärterbuch der Soziologie, herausgegeben von Wilhelm Bernsdorf, 2. Aufl., Stuttgart 1969, S. 1216-1219. 128 Ebenda, S. 1217 (Hervorhebungen erfolgten durch uns, Jk.). 126 127

I. Zum Begriff und den Formen der Utopie

45

Entmenschung. Die Technik wird hier gleich allen sozialen Institutionen zur Sklavin der politischen Gewalt, die innerhalb der Kultursphäre der letzten menschlichen Werte alle anderen Werte, Beziehungen und Prozesse ausgelöscht hat. Die institutionalisierte Gewaltsamkeit wird darüber hinaus auch zur Zwangsjacke für die Kulturbereiche des Zivilisatorischen und des Sozialen, die sie schließlich auch verschlingt." 129 Die Utopie und Anti-Utopie haben eine gemeinsame Ausgangslage, nämlich das Bewußtsein der gestörten Weltordnung, die Diskrepanz zwischen Sollen und Sein. Beide Arten bemühen sich, die Übel dieser zu beheben. Hierbei bedienen sie sich unterschiedlicher Lösungsansätze: 130 (1) Utopie: Sie löst das Problem durch eine optimistische Bejahung der natürlichen

Weltordnung, sie gestaltet eine paradiesische Welt, aus der das Böse ausgeklammert ist, sie ist die beste aller Welten.

(2) Anti-Utopie: Sie löst das Problem durch die pessimistische Verneinung der

dargestellten oder der tatsächlichen Weltordnung, das Gute wird ausgeklammert und das Böse überwiegt. Wenn es sich nicht um die schlechteste aller Welten handelt, so doch um eine schlechtere als die unserige.

"Beide, Utopie und Anti-Utopie, zeichnen eine Welt, die insoweit ,utopisch' ist, als sie die Wirklichkeit transzendiert, und zwar nicht allein (wie alle Literatur) ins Literarisch-Imaginäre, sondern darüber hinaus in den Bereich des Spekulativ-Fiktiven, des Irrealen, ja des Unmöglichen. Die Utopie ist zu gut, die Anti-Utopie zu schlecht, um ,wahr' zu sein."131 Prototyp dieser (negativen) Gegen-Utopie ist George Orwell's ,1984', die sich bereits in Aldous Huxley's ,Schöne neue Welt' ankündigte. Wuckel 132 weist aber darauf hin, daß Jewgenij Iwanowitsch Samjatin nach der Oktober-Revolution die drohende Vermassung und den damit verbundenen Individualitätsverlust erkannte und in seinem Roman ,Wir' (1920) den total verplanten und manipulierten Menschen bei Huxley und Orwell vorwegnahm. Gegenüber diesen (negativen) Gegen-Utopien ist Toffler l33 der Ansicht, daß diese brillanten Anti-Utopien zu einfach konstruiert sind, denn sie schildern Gesellschaften mit hochentwickelter Technologie, aber mit geringer Komplexität, d. h., die Maschinen sind zwar hochentwickelt, doch die Flechtheim, S. 1218. Schulte-Herbrüggen, S. 206. 131 Ebenda, S. 206. 132 Dieter Wuckel: Science Fiction - Eine illustrierte Literaturgeschichte, Leipzig 1986 (Lizenzausgabe für die Bundesrepublik Deutschland), S. 139-162. m Alvin Toftler: Der Zukunftsschock, Bern-München-Wien 1970. Ferner Herman Kahn/Anthony J. Wiener: Ihr werdet es erleben - Voraussagen der Wissenschaft bis zum Jahre 2000, rororo-Sachbuch 6677-6679, Reinbek bei Hamburg 1971. 129

130

46

l. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

gesellschaftlichen und kulturellen Beziehungen sind festgelegt und bewußt vereinfacht. "Heute brauchen wir überzeugende neue utopische und antiutopische Konzeptionen, die vorwärts gerichtet sind auf den Superindustrialismus und nicht rückwärts zu den einfacheren Gesellschaftsformen. Diese Konzeptionen können jedoch nicht mehr auf die bisher gewohnte Weise entwickelt werden .... Superindustrielle Utopien oder Anti-Utopien müssen in vielen künstlerischen Disziplinen - Filmen, Theaterstücken, Romanen und Objekten der bildenden Kunst - Ausdruck finden .... Wir brauchen deshalb eine neue Produktionsmethode für Utopien, wir brauchen einen ,kollektiven Utopismus'. Wirmüssen ,Utopie-Fabriken' errichten."134 Nach Toffler sollen in diesen Utopie-Fabriken Vertreter der verschiedenen Disziplinen zusammenarbeiten, die sich mit den unterschiedlichsten Aspekten des künftigen Lebens und seiner Ordnung befassen. Während die Utopie A materialistische oder erfolgs orientierte Wertbegriffe betont, würde die Utopie B lustbetonte Prinzipien entwickeln, könnten für Utopie C ästhetische, für Utopie D der Individualismus und für Utopie E der Kollektivismus entscheidend sein. Aus dieser Fülle von utopischen Entwürfen würde eine große Zahl von Büchern, Dramen, Filmen, Fernsehprogrammen usw. hervorgehen, die die Menschen über die Vor- und Nachteile der vorgeschlagenen Utopien informieren würde. "Schließlich leidet unsere Gesellschaft nicht nur unter einem Mangel an sozialem Einfallsreichtum, sondern es gibt auch zu wenig Menschen, die bereit sind, utopische Ideen einem systematischen Test zu unterziehen." lJ5 Uns scheint, daß Toffler hinsichtlich der wissenschaftlich fundierten Gegen-Utopie selbst dem utopischen - dem unrealistischen DenKen unterliegt. Unabhängig davon macht aber dieser Vorschlag deutlich, daß auch über die Gegen-Utopien keine einheitliche Meinungsbildung vorhanden ist. 4. Religiöse Utopien

Die in den Staatsromanen enthaltenen Sozialutopien gehen von einer mehr oder minder rationalen Konstruktion oder Vorstellung einer idealen (vollkommenen) Gesellschaftsordnung aus. Gegenstand der Utopie ist das Diesseits, die irdische Ordnung wie Familie, Nachbarschaft, Eigentum, Arbeit, soziale Sicherheit, Rechtsordnung usw. Die Religion spielt - sofern überhaupt - nur eine Nebenrolle, häufig wird die freie Religionsausübung gewährleistet. Dagegen wählen die religiös motivierten Utopien einen anderen Ansatz, obgleich von Voigt l36 behauptet wird, daß die (christliche) Religion keinen 134 115 116

Toftler, S. 366 f. Ebenda, S. 367. Voigt, S. 14 f.: "Diese Weltanschauung, deren Grundgedanke allen Religionen,

I. Zum Begriff und den Formen der Utopie

47

Raum für utopische Änderung der Staats- und Gesellschaftsordnung habe. Diese Auffassung teilen wir nicht, da zwar die Religion wohl auf das Jenseits gerichtet ist, aber auch Auswirkungen für das Diesseits hat. a) Eschatologie -

Chiliasmus - Apokalypse

Nach Voigt steht die religiöse Weltanschauung im scharfen Gegensatz zur Utopie. Aber gerade die christliche Religion hat nicht Utopien im traditionellen Sinne - wie zum Beispiel in den Staatsromanen - entwickelt, wohl aber die religiösen Grundlagen für revolutionäre Aufstände geschaffen, die zum Ziel hatten, das Reich Gottes schon auf Erden zu verwirklichen. In diesem Zusammenhang wollen wir kursorisch nur auf drei Begriffe - der Eschatologie, den Chiliasmus und die Apokalypse - eingehen, denn diese tragen dazu bei, die geistigen Gründe und die Zielsetzungen der religiösen Aufstände zu verstehen. Unter Eschatologie J37 versteht man die Lehre einer Religion vom Ende des Weltlaufes (oder die Lehre von den letzten Dingen) und dem Anbruch einer neuen, andersartigen Welt. Bereits bei den Naturvölkern und in vorchristlicher Zeit haben beängstigende Naturereignisse die bange Frage wach werden lassen, ob ein solches welche ihm nur in verschiedener Weise Ausdruck verliehen und ihn mit verschiedenem Nachdruck und Erfolg gelehrt haben, gemeinsam ist, hat, darüber kann kein Zweifel sein, für utopische Änderungen der Staats- und Gesellschaftsordnung keinen Raum. Sie ist gleichgültig selbst gegen politische Zwangsherrschaft, gibt dem Kaiser, was des Kaisers ist, ohne dessen Recht näher zu prüfen, denn das Reich, an dem ihr allein liegt, ist nicht von dieser Welt und wird durch die Gesetze der irdischen Reiche gar nicht berührt. Sie ist ebenso gleichgültig gegen die sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten der Menschen und denkt nicht daran, daß diese jemals beseitigt werden sollten und könnten. "Arme habt ihr bei euch alle Tage", heißt es im Neuen Testament, und ähnlich wird in den Urkunden anderer Religionen die Armut als eine niemals zu beseitigende Institution betrachtet. An eine Änderung der Wirtschaftsordnung, um die Armut aus der Welt zu schaffen, denkt die religiöse Weltanschauung nicht und kann an sie nicht denken; denn sie betrachtet die Armut so wenig als Unglück, daß sie vielmehr den Reichtum sehr häufig als ein wesentliches, manchmal als ein fast unübersteigbares Hindernis hinstellt, zu denjenigen Gütern zu gelangen, welche allein Wert haben. Nichts ist daher verkehrter als, was neuerdings geschieht, den Begründer des Christentums als einen sozialen Reformator hinzustellen, der, wenn er heute gelebt hätte, in den Reihen der radikalen Reformer oder Utopisten zu finden gewesen wäre. - Seine Stellung zu Armut und Reichtum war eine grundSätzlich andere, als die unserer heutigen Sozialreform und Sozialrevolutionäre. Er nahm nicht Partei für die Armen, um sie sozial zu heben oder um gesetzliche Maßnahmen zu ihren Gunsten durchzusetzen, und nicht Partei gegen die Reichen, um ihre wirtschaftliche Übermacht zu schwächen; sondern er stellte sich nur deshalb auf die Seite der Armen, um durch die Tat zu demonstrieren, wie gleichgültig ihm die sozialen Unterschiede seien, und um recht mit Fingern darauf hinzuweisen, daß dasjenige, worauf es ankomme, mit Armut und Reichtum, mit wirtschaftlichem Erfolg und Mißerfolg gar nichts zu tun habe." 137 H. Kremers/R. Prenter: Artikel ,Eschatologie', in: Heinz Brunotte/Otto Weber: Evangelisches Kirchenlexikon, Göttingen 1956, Bd. I, Sp. 1152-1159.

48

1. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

Ereignis nicht den Untergang der Welt herbeiführen wird. Da den Menschen ein absolutes Weltenende kaum vorstellbar ist, tritt die Frage auf, was nach dem Weltuntergang geschehen soll. Im Alten Testament 138 erwartet Israel- im Gegensatz zu seinen Nachbarvölkern - nicht ein durch mythisch gedeutete Naturkatastrophen herbeigeführtes Weltenende, "sondern daß Jahwe die Geschichte zu einem Ende führen wird und dann eine paradiesische Heilszeit anbrechen läßt."139 Die Weissagung des Nathan hat die eschatologische Erwartung in Juda zur messianischen Hoffnung werden lassen, d. h., wenn der verheißene Messias aus der Dynastie Davids kommt, dann wird die Heilszeit anbrechen. Nach dem babylonischen Exil und dem Erlöschen des prophetischen Charismas entstand die Apokalyptik (siehe weiter unten). Dennoch verlor sich die alttestamentliche Eschatologie nicht: "Die Jesaja-Apokalypse (Jesaja 24-27, frühestens im 5. Jahrhundert entstanden) schildert in grandiosen Bildern den Untergang der Weltmacht, eine kosmische Katastrophe und Rückkehr und Heil der jüdischen Diaspora .... Gott wird an die Stelle der Weltreiche das ewige Reich des Menschensohnes setzen." 140 Im Judentum lebt die eschatologische Hoffnung in der messianischen Erwartung weiter. Die Eschatologie des Neuen Testaments ist durch das messianische Auftreten Jesu und das Messias-Bekenntnis der Urgemeinde bestimmt: 141 Die ;lonenlehre '42 bildet den Hintergrund für die Verkündigung Jesu von der Nähe des Reiches Gottes: Es herrscht die Vorstellung von zwei Äonen vor, d. h., von zwei sich ablösenden Weltperioden. Der gegenwärtige Äon, der seiner Vernichtung harrt, steht einem kommenden Äon gegenüber, der eine vollkommene, heile göttliche Welt darstellt. Die Äonenlehre ist seit Heraklit ein wichtiger Begriff der griechischen Philosophie und stellt in der jüdischen Apokalypse eine zentrale Leitidee dar. Im Neuen Testament entstand sie in den Kreisen, die die apokalyptische Literatur hervorbrachten. Unter kosmischen Katastrophen, dämonischen Schrecken und entsetzlichen Nöten bricht der neue Äon an. Das entscheidende Neue ist das Auftreten Jesu und die Gewißheit, daß die alte Weltzeit abgelaufen und der neue Äon nahe herbeigekommen sei. Damit ist die Zeit der Freude angebrochen und den Wartenden gilt schon jetzt die Seligpreisung. 1)8 Siehe hierzu die von Horst Dietrich Preuss herausgegebene Aufsatzsammlung: Eschatologie im Alten Testament, Wege der Forschung, Bd. CD LXXX, Darmstadt 1978 - Preuss weist in seiner Einleitung (S. 4 ff.) darauf hin, daß der Begriff ,Eschatologie' sehr umstritten ist. ()9 Kremers/Prenter, Sp. 1153. 140 Ebenda, Sp. 1154. 141 Ebenda, Sp. 1155-1157. 142 S. Schulz: Artikel ,Äonenlehre', in: Evangelisches Kirchenlexikon, Bd. I, Sp. 157158.

I. Zum Begriff und den Formen der Utopie

49

Die Unterschiede zwischen der Eschatologie und der Utopie hat Kamlah herausgearbeitet: 143 Während die Utopie ihren geschichtlichen Ort in der Tradition des philosophischen Denkens der Griechen hat, kommt die Eschatologie aus der Tradition des christlichen Glaubens; sie hat nichts mit dem ,vernünftigen Denken', sondern mit der gläubigen Hoffnung zu tun, denn Hoffnung ist etwas anderes als Wissenschaft. Daher kann man nicht Texte als Beispiele von Eschatologien, wohl aber Beispiele eschatologischer Rede finden, in denen Hoffnung nicht argumentierend dargelegt, sondern appellierend bekundet wird. Hierfür stellt die christliche Tradition das Wort ,Verkündigung' zur Verfügung. Die eschatologische Verkündigung spricht nicht allein Hoffnung aus, sondern wird auch zur Hoffnung aufgefordert. Die eschatologischen Heilsverkündigungen sind jeweils in besonderen N otlagen - Verbannung des jüdischen Volkes durch die BabyIonier, Verfolgung der Christen durch den römischen Staat - entstanden. Diese Verkündigungen werden tradiert, da der Mensch auch ohne Notlagen zu Leiden und Tod verurteilt ist. Allerdings ist der Jüngste Tag nicht allein der Anfang des ewigen Heils, sondern auch der Tag des Gerichts; denn im Alten wie im Neuen Testament wird Gott nicht nur als rettender, sondern auch als gebietender und richtender Gott verstanden. "Das Reich Gottes wird nicht als ein Schlaraffenland verheißen, in dem sich beliebige naive Wunschträume erfüllen." 144 Dennoch mangelt es weder in der jüdischen noch in der christlichen Apokalyptik an naiver Ausmalung der Pracht und der Herrlichkeit des himmlischen Jerusalems. Die Verkündigung des Kommens Gottes wird stets mit dem Ruf zur Buße verbunden; denn denen, die ihre Schuld und Ohnmacht eingestehen, vergibt Gott und gewährt ihnen - die den Tod verdient hätten - das ewige Leben. Kamlah vergleicht die Utopie mit der Eschatologie und stellt die folgenden Unterschiede fest: 145 ,,1. Die Utopie ist eine Unternehmung der philosophischen Vernunft. Die eschatologische Rede dagegen ist eirie Unternehmung des christlichen Glaubens.

2. Der Utopist versucht, wenn auch meist unbefriedigend, seine Entwürfe vernünftig zu begründen, indem er von der Kritik an Mißständen ausgeht. Der Prophet und der Apostel hingegen begründen nicht, sondern verstehen sich als bevollmächtigte Sprecher Gottes. Sie appellieren an den Menschen in seiner Not, der immer zu Erwartungen bereit ist, und bedienen sich der Sprache und der Bilder des Mythos. W Wilhelm Kamlah: Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie - Kritische Untersuchungen zum Ursprung und zum futuristischen Denken der Neuzeit, Mannheim 1969, S.

25-35. l-l-l l-lj

Ebenda, S. 28. Ebenda, S. 31 f. (Hervorhebungen abweichend vom Original, Jk.).

4 Jenkis

50

1. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens 3. Der Utopist kritisiert mangelhafte Institutionen und stellt ihnen bessere, ja optimale Institutionen gegenüber. Die eschatologische Hoffnung dagegen überläßt die gegenwärtige Welt mit all ihren Mängeln dem Untergang und erwartet eine neue bessere Welt, in der es der Institutionen nicht mehr bedürfen wird (was ja insbesondere hinsichtlich der "Naherwartung" Jesu und der Urgemeinde wohl begreiflich ist). 4. Die klassischen Utopien fordern zwar nicht zu revolutionärem Handeln auf, beschreiben aber Institutionen, die von Menschen ersonnen und, wenngleich fiktiv, auch von Menschen verwirklicht werden. Die Eschatologie dagegen erwartet das kommende Heil allein vom Handeln Gottes."

Die Eschatologie verzichtet auf das Ausdenken und Entwickeln neuer, besserer Institutionen und auf die Revolution als ein Instrument der Verwirklichung einer besseren Welt durch menschliches Handeln. Dieses ist so Kamlah - häufig mißverstanden worden; denn in der Geschichte des Christentums ist keineswegs auf das revolutionäre Handeln verzichtet worden, da es chiliastische Revolutionen gegeben hat. Der Chiliasmus l46 ist eine apokalyptische Lehre bzw. Bewegung, nach der vor dem Ende der Welt und dem Anbruch der vollkommenen Gottesherrschaft noch ein weltlich-überweltliches Zwischenreich auf Erden erscheinen soll. Der Ausdruck ,Chiliasmus' leitet sich vom griechischen Ausdruck chilia = tausend (Jahre) her, denn im 20. Kapitel der Johannes-Apokalypse ist die Rede von einem tausendjährigen Reich, das dem Ende aller Dinge noch vorausgehen wird. Der Gedanke des Chiliasmus ist aus dem Parsismus in die Apokalyptik des Judentums aufgenommen worden, in der sich zwei Strömungen vereinen: Die Hoffnung auf ein irdisches Messiasreich, in dem Israel über alle seine Feinde siegt, und die Erwartung des Reiches Gottes von jenseitiger Herkunft. Für die christliche Fassung des Chiliasmus ist die Offenbarung des Johannes maßgebend. In schwer ausdeutbaren Aussagen heißt es im 20. Kapitel des Johannes: 147 146 G. Siedenschnur: Artikel ,Chiliasmus', in: Evangelisches Kirchenlexikon, Bd. I, Sp. 683-687. 147 Die Johannes-Offenbarung oder Apokalypse ist das geheimnisvollste Buch der Bibel: Die Johannes-Apokalypse ist wahrscheinlich um 95 n. Chr. auf der Insel Patmos entstanden (siehe: S. A. Papadopoulos: Das J ohannes-Theologos-Kloster, Patmos 1987, S. 5-8). Das theologische Ziel der Apokalypse (Offenbarung) des Johannes ist es, die in den beginnenden Christenverfolgungen bedrängten Gläubigen durch den Ausblick auf die nahe Parusie (die Wiederkunft Christi zum Endgericht) zu trösten und zugleich vorzubereiten auf die diesem Kommen vorausgehenden ,messianischen Wehen'. Dem visionären Hauptteil stellt Johannes sieben Briefe an sieben kleinasiatische Christengemeinden mit einer Eingangsvision voran. Der Hauptteil gliedert sich in drei Reihen: Die Sieben-Siegel-Vision, die Sieben-Posaunen-Vision und die Sieben-Schalen-Vision. Es schließen sich das Gericht über Babyion (das ist Rom) und weitere Gerichtsszenen mit der Schilderung über das messianische Zwischenreich an. Den Höhepunkt des eschatologischen Dramas stellt die Schilderung der neuen Schöpfung und des himmlischen Jerusa-

I. Zum Begriff und den Formen der Utopie

51

,,1. Und ich sah einen Engel vom Himmel fahren, der hatte den Schlüssel zum Abgrund und eine große Kette in der Hand. 2. Und er griff den Drachen, die alte Schlange, welche ist der Teufel und Satan, und band ihn 1000 Jahre 3. und warf ihn in den Abgrund und verschloß ihn und versiegelte obendarauf, daß er nicht mehr verführen sollte die Heiden, bis daß vollendet würden 1000 Jahre; und darnach muß er los werden eine kleine Zeit. 4.... 5. Die anderen Toten aber wurden nicht wieder lebendig, bis daß 1000 Jahre vollendet werden. Dies ist die erste Auferstehung. 6. Selig ist der und heilig, der teilhat an der irdischen Auferstehung. Über solche hat der andere Tod keine Macht; sondern sie werden Priester Gottes und Christi sein und mit ihm regieren 1000 Jahre. 7. Und wenn 1000 Jahre vollendet sind, wird Satanas los werden aus seinem Gefängnis 8. und wird ausgehen, zu verführen die Heiden an den vier Enden der Erde, den Gog und Magog, sie zu versammeln zum Streit, welcher Zahl ist wie Sand am Meer. 9.-11. ... 14. Und der Tod und die Hölle wurden geworfen in den feurigen Pfuhl. Das ist der andere Tod."

In dieser Offenbarung des Johannes wird der Satan auf 1000 Jahre gefesselt, die nach der ersten Auferstehung der Gerechten erfolgen soll, bis dann die zweite Auferstehung und das allgemeine Endgericht über das ewige Schicksal der Menschen entschieden wird. Im 21. Kapitel verkündet dann Johannes das neue Jerusalem: ,,1. Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde; denn der erste Himmel und die erste Erde verging, und das Meer ist nicht mehr.

2.... 3. Und ich hörte eine große Stimme von dem Stuhl, die sprach: Siehe da, die Hütte Gottes bei den Menschen! und er wird bei ihnen wohnen, und sie werden sein Volk sein, und er' selbst, Gott mit ihnen, wird ihr Gott sein;

lems dar. H. Strathmann/L. Goppelt: Artikel ,Johannes', in: Evangelisches Kirchenlexikon, Bd. II, Sp. 357-369. Otto Böcher (Die Johannesapokalypse, in: Erträge der Forschung, Bd. 41, 3. Aufl., Darmstadt 1988) hat nach einer kurzen Einleitung einen exegetischen Querschnitt gebracht, in dem er die Hauptprobleme der Johannesapokalypse seit 1900 an Hand von Stellungnahmen von sieben Kommentatoren darstellt. In seinen Hinweisen zur Bibliographie merkt Böcher an, daß er für den Zeitraum von 1700 bis 1974 mehr als 1500 Quellen festgestellt hat. Hiervon hat er 500 Titel aufgenommen und für den Zeitraum 1975 bis 1988 noch weitere 200 Titel hinzugefügt. 4'

52

1. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

4. und Gott wird abwischen alle Tränen von ihren Augen, und der Tod wird nicht mehr sein, noch Leid noch Geschrei noch Schmerz wird mehr sein; denn das Erste ist vergangen."

Diese prophetische Schau hat erhebliche Auswirkungen sowohl auf die Kirchen- als auf die Profangeschichte gehabt: 148 In der Johannes-Apokalypse ist die Rede von einem tausendjährigen Reich, das dem Ende aller Dinge noch vorausgehen wird. "Fast alle Versuche, aus der Haltung des geduldigen Wartens auf den Jüngsten Tag auszubrechen und eine bessere Welt der Gerechtigkeit und des Friedens schon vorher, durch menschliche Aktion, zu verwirklichen, haben sich auf dieses Kapitel der Apokalypse berufen." 149 Der Chiliasmus, eine in glühenden Farben gemalte paradiesische Herrlichkeit, ist in der jüdischen Prophetie von der glücklichen Endzeit enthalten 150. Die wesentlichen Motive und Bilder, mit denen der Chiliasmus die Wonnen der Endzeit auszuschmücken pflegt, sind die Üppigkeit der Natur, das selige, schrankenlose Genießen ohne Geld, der Ausgleich oder das friedliche Nebeneinander aller Gegensätze, die Beseitigung jeden Zwists und der Bosheit, der Sieg des Judentums bzw. der Christen über alle Feinde und damit der allgemeine Weltfriede. Nach 150 n. Chr. tritt Montanus in Kleinasien als Prophet auf, er erscheint als der wahre Paraklet (Bezeichnung einer eschatologischen Gestalt, mit der Jesus angekündigt, der die Gemeinde nach Jesu Tod leiten wird, um die Menschheit auf das nahende Ende vorzubereiten). Im dritten und vierten Jahrhundert n. Chr. breiten sich die chiliastischen Lehren im Abendland aus und finden begeisterte Interpreten. Nach dem Ende des vierten Jahrhunderts siegt die offizielle Kirchenlehre über den Chiliasmus, der nunmehr als ketzerisch abgelehnt wird." ... ; an deren Stelle treten die politisch-sozialen Sehnsüchte und Hoffnungen nach einem einheitlichen Friedensreich auf Erden hervor, seitdem der Verfall des Römerreichs und der Untergang der westlichen Hälfte entschieden und die Christenheit dem Ansturm heidnischer Völker mehr oder minder wehrlos ausgesetzt ist. "151 Die Endzeit wird zu einer politischen Heilszeit. Die Vorstellung von der letzten Glückszeit wird teils mit traditionellen und romantischen Inhalten - Bringer des Weltfriedens, Überwindung politischer Zerrissenheit, der christlichen Hoffnung auf einen Hirten, Befreiung des heiligen Grabes und Einigung der Welt unter dem Kreuz - angefüllt, teils aber auch mit Bildern eines kommunistisch-friedlichen Gemeinschaftslebens, die aus Kamlah, S. 32 ff. Ebenda, S. 32. 150 AlfredDoren: Wunschträume und Wunschzeiten, in: Arnhelm Neusüss (Herausgeber): Utopie - Begriff und Phänomen des Utopischen, 3. Aufl, Frankfurt/New York 1986, S. 123-177, insbesondere S. 136 ff. 151 Ebenda, S. 146 (Fußnote 31). 148

149

1. Zum Begriff und den Formen der Utopie

53

der biblischen Schöpfungsgeschichte, aus germanischer Urzeit oder orientalischen Mythen stammen. Die politischen und sozialen Nöte des späten Mittelalters führten zu Versuchen, das kommunistische Gottesreich auf Erden zu verwirklichen. Ein früher Sozialrevolutionär war Cola di Rienzi (1313 bis 1354), bekannte Beispiele für chiliastische Bewegungen sind die Taboriten in Böhmen l52 , Thomas Müntzer l5 3, die Wiedertäufer I 54, Cromwells ,Parlament der Heiligen'155 usw. Im 17. und 18. Jahrhundert entstand eine umfangreiche, vielfach vom Pietismus inspirierte Literatur, deren Thema trotz Variationen das Gleiche bleibt: Die Erwartung einer endzeitlichen, aber noch irdischen Gemeinschaft der Heiligen, die verbunden ist durch brüderliche Liebe, frei von Ungerechtigkeit, Eigennutz, Privateigentum, gesegnet durch unsagbaren Wohlstand, umgeben von üppiger Schönheit und Fruchtbarkeit der Natur. Da zuweilen auch ideale Institutionen ausgemalt werden, darf man sagen: Hier kommen Wunschträume zur Sprache, in denen sich Chiliasmus und Utopie verbinden. Der Begriff Apokalyptik ist vor 150 Jahren als Sammelbezeichnung für eine geistige Strömung im spätisraelitisch-urchristlichen Milieu der Zeitenwende von der historischen Forschung geprägt worden. 156 Die Apokalyptik geht von der injener Epoche nachweisbaren Literaturgattung der Apokalypsen aus, die der Apokalypse des Johannes ähnlich sind. Das bekannteste und eindrucksvollste Beispiel einer apokalyptischen Überlieferung stellt in den synoptischen Evangelien Markus 13 dar, das 151 Benannt nach der Siedlung Tabor, eine Gruppe der religiösen-nationalen Reformbewegung der Hussiten. Sie entstammten den unteren Sozialschichten und vertraten sozialrevolutionäre Ansichten und apokalyptischen Kommunisnus. 15) Thomas Müntzer (geboren 1490, hingerichtet 1525) war evangelischer Theologe, der im Gegensatz zu Martin Luther und seiner Zwei-Reiche-Lehre stand, indem er von der Notwendigkeit ausging, für die Verwirklichung des Reiches Gottes auf Erden zu arbeiten. Mit dieser Zielsetzung gründete Müntzer den ,Bund getreu lichen und göttlichen Willens'. Luther warnte vor diesem aufrührerischen Geist, Müntzer floh, nahm Kontakt mit den aufständigen Bauern auf, rief die Bauern in Thüringen zum Aufstand auf. An der Spitze des Bauernaufstandes wurde Müntzer im Mai 1525 verhaftet, gefoltert und hingerichtet. Die marxistische Geschichtsschreibung sieht in ihm einen Revolutionär, die kirchengeschichtliche Forschung hebt seine Bedeutung als Reformator und Theologe hervor, in der Literatur ist er wiederholt in Dramen und Romanen dargestellt worden. 15. Täufer bzw. Wiedertäufer nach der strikten Praxis der Erwachsenentaufe benannten Anhänger einer Nebenbewegung der Reformation. Das sozial revolutionäre Element überlagerte die ursprüngliche Tendenz der reformatorischen Erneuerung auf der Grundlage der Bußtaufe der Erwachsenen. Die Wiedertäufer wurden vom Staat und den Reformatoren unterdrückt. 155 Oliver Cromwell (1559 bis 1658) war englischer Staatsmann und Heerführer. Als strenger Puritaner fühlte er sich als Vorkämpfer für Gewissensfreiheit und Toleranz, verfolgte aber Katholiken und Anglikaner. 156 So Klaus Koch in der Einleitung zu dem von ihm zusammen mit Johann Michael Schmidt herausgegebenen Sammelband: Apokalyptik, Wege der Forschung, Bd. CCCLXV, Darmstadt 1982, S. 1.

54

1. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

deshalb den Namen ,synoptische Apokalypse' erhalten hat. 157 Die christliche apokalyptische Bewegung des Anfangs hat bedeutsame Nachwirkungen gehabt: "Zumal dann, wenn die ,Zeichen der Zeit' sich zu erfüllen schienen, Kriege, Naturkatastrophen, Verfolgungen oder eine allzu starke Verweltlichung der Kirche die Gemüter bewegte, wuchs aufs neue die Hoffnung auf eine bald bevorstehende Wiederkunft des Herrn, die Aufrichtung des tausendjährigen Reiches nach Offenbarung 20 (Chiliasmus) und damit das Ende der alten Welt. Sie steigerte sich oft zu schwärmerischer Sektiererei, verband sich gelegentlich mit sozialrevolutionären Ideen und führte häufig zu Abspaltungen von den Großkirchen."15~ Der Phrygier Montanus hielt sich für den von Johannes verheißenen Parakleten, der in der Mitte des 2. Jahrhunderts das unmittelbar bevorstehende Weitende verkündete. Die Ostkircheinsbesondere in Rußland - war stets erfüllt von dem Gedanken einer fortschreitenden Weltverwandlung und -verklärung. Im Sektierertum des Raskol des 17. Jahrhunderts und seiner verschiedenen Strömungen ist die apokalyptische Idee des ,schrecklichen Gerichtes' Gottes enthalten. Apokalyptik und Nihilismus verbanden sich, mit ihrem Gedankengut haben sie zu den Sozialaufständen der Stenka Rasin (1630 bis 1671, hingerichtet) beigetragen; sie drangen in die russische Religionsphilosophie (Solowjew) und Dichtung (Dostojewski, Tolstoi) sowie - säkularisiert - in die sozialistische Bewegung des 19. und 20. Jahrhunderts und damit auch in die Ideologie des Kommunismus ein. Mit dem Sieg des Christentums im Westen im vierten Jahrhundert kam es zu einer Verdrängung der apokalyptischen Erwartungen und Vorstellungen. Im 10. (dunklen) Jahrhundert richtete sich eine starke Endzeiterwartung auf die Jahrtausendwende. Die Lehre des Abtes Joachim von F10ris (Fiore) hatte bedeutsame Auswirkungen auf die Kirchen- und Profangeschichte, daß auf das Zeitalter des Vaters und des Sohnes nach schweren Strafgerichten im Jahre 1260 das (dritte) ,Reich des Geistes' anbrechen würde. Auch Dante Alighieri hat in seiner Göttlichen Kommödie in apokalyptischen Allegorien in das kommende Gottesgericht geschaut. In der Vorreformation verband sich bei den Hussiten und Taboriten eine phantastische Wiederkunftserwartung mit christlich-kommunistischen Ideen. Auch in der Eschatologie der Reformatoren erscheinen apokalyptische Gedankengänge, selbst Luther glaubte, das Ende der Zeiten sei nahe. "Besonders aber der Schwärmer bemächtigte sich einer apokalyptischen Hochstimmung, die sich bald mit den sozialrevolutionären Strömungen in der Bauernschaft verband."159 Als sich unter der Führung von Thomas Münzer (oder Müntzer) das SchwärmerIS7 F. Hesse/G. Siedenschnur: Artikel ,Apokalyptik', in: Evangelisches Kirchenlexikon, Bd. I, Sp. 159-165. ISS Ebenda, Sp. 162. IS9 Ebenda, Sp. 164.

1. Zum Begriff und den Formen der Utopie

55

mit dem Täuferturn verband, kam es zu radikalen Umsturzversuchen, die die Aufrichtung eines christlich- kommunistischen Gottesstaates auf Erden zum Ziel hatten. Melchior Hofmann (Melchioriten) weissagte für das Jahr 1533 das Kommen des Herrn. Jan (Bockelson) von Leyden errichtete 1534/35 das Reich Gottes in Münster mit Gütergemeinschaft, Vielweiberei und brutaler Unterdrückung Andersgläubiger. Die Kirchen haben sich wegen der Gefahr sektiererischer Verwirrungen apokalyptischer Gedanken - insbesondere gegenüber dem Chiliasmus sehr zurückhaltend gezeigt. Dennoch hat gerade der Chiliasmus in der Theologie eine nicht unwesentliche Rolle gespielt. Durch die Französische Revolution und in der napoleonischen Ära erfuhr die Apokalyptik eine starke Belebung. Aus den baptistischen Kreisen gingen in Amerika die Adventisten, aus diesen die Ernsten Bibelforscher (später Jehovas Zeugen) hervor; in beiden Sekten spielt die Apokalyptik eine entscheidende Rolle. Diese Tendenzen "wurden durch die Katastrophenereignisse unseres Jahrhunderts gefördert." 160 b) Die Zwei-Reiche-Lehre

Martin Luthers Lehre von den beiden Reichen gehört auch in der Gegenwart zu den wichtigsten theologischen Themen, denn sie steht im Zusammenhang mit dem Verständnis von Gesetz und Evangelium. 161 Ihr besonderes Gewicht hat sie in Fragen der politischen Ethik und damit auch der Sozial- und Wirtschaftsethik, der sozialen Bewegungen, der Revolution usw. Schon die Apokalyptik kennt die Unterscheidung zwischen der gegenwärtigen Weltzeit (dem alten Äon) und der künftigen Heilszeit (dem eschatologischen, dem neuen Äon). Allerdings ist die Zwei-Reiche-Lehre nicht mit der Lehre von den beiden .Äonen gleichzusetzen, da nach dieser beide Äonen zeitlich aufeinanderfolgen und sich ablösen. Dagegen behauptet die ZweiReiche-Lehre eine bleibende Grundstruktur des Christseins. Nach Luthers Lehre von den beiden Reichen regiert Gott die Welt auf eine doppelte Weise: 162 (I) Das weltliche Regiment:

Dieses Regiment führt Gott mit der linken Hand, es hilft zur Erhaltung des leiblichen, irdischen, zeitlichen Lebens und dient damit der ErhalEbenda, Sp. 165. P. Althaus/Joh. Heckei: Artikel ,Zwei-Reiche-Lehre', in: Evangelisches Kirchenlexikon, Bd. III, Göttingen 1962, Sp. 1927-1947; Siegfried Grundmann: Artikel ,ZweiReiche-Lehre', in: Hermann Kunst/Roman Herzog/Wilhelm Schneemelcher (Herausgeber): Evangelisches Staatslexikon, 2. Aufl., Stuttgart 1975, Sp. 2992-3004. 162 Althaus/Heckel, Sp. 1928. 160 161

56

1. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

tung der Welt. Es ist das weltliche Regiment. Luther begreift darunter alles, was zur Erhaltung und Ordnung des zeitlichen Lebens dient, so die Ehe und Familie, Eigentum, Wirtschaft, Stand, Beruf usw. Dem Staat steht das Recht und seine Durchsetzung zu (Gewaltmonopol). Es waltet nicht die Vergebung, sondern die Strafe, bis zur Todesstrafe.

(2) Das Reich Christi: Mit der rechten Hand leitet Gott das Regiment, das zum ewigen Leben führt. An diesem Regiment liegt ihm alles, das andere ist diesem untergeordnet. Im Reich Gottes ist Christus der König und Herr (Reich Christi). Er regiert durch das in Wort und Sakrament dargebotene Evangelium, d. h. dadurch, daß er den Seinen die Vergebung der Sünden und damit die Freiheit der Kinder Gottes bringt. Neben dem Reich Christi ist das weltliche Regiment notwendig, denn - so Luther - die Menschheit kann nur erhalten werden, wenn es eine Ordnung der Ehe und Familie, des Eigentums, der Abhängigkeits- und Befehlsverhältnisse gibt. "Nur der Staat kann durch die von Macht getragene und durchgesetzte Rechtsordnung dem ständig drohenden Chaos wehren, die Ordnung und den Frieden wahren."163 Daß Luther von den ,Zwei Reichen' spricht, könnte den Eindruck erwecken, als handele es sich um zwei Ordnungen oder zwei Gesetze, die entweder nebeneinander stehen oder miteinander konkurrieren. Aber das Reich Christi ist - ethisch gesehen - keine Ordnung der Verhältnisse in der Welt, sondern eine Haltung der Person, d. h., Christi Reich hat nur innerweltliche Präsenz in den christlichen Personen, nicht aber in den Institutionen. "Das Reich Christi ist für Luther keine denkbare Ordnung dieser irdischen Geschichte, an der man die weltliche Ordnung messen, in dem man sie überführen könnte."164 Luthers Zwei-Reiche-Lehre ist in mannigfacher Hinsicht kritisiert worden, so unter anderem, daß seine Scheidung des Gottes- vom Weltreich wesentlich mitgeholfen habe, die politische Welt aus der ethischen Bindung zu entlassen und zur Dämonisierung der deutschen Politik - bis hin zum Nationalsozialismus - beigetragen habe. Hieraus ist abgeleitet worden, Luther und das Luthertum haben das deutsche Volk zu Obrigkeitsvertrauen und -gehorsam erzogen; diese Lehre leite nicht an zur Kritik der sozialen und politischen Gestaltung, zur christlichen Aktivität, sondern führe zur loyalen Passivität der Kirche gegenüber dem Staate. Neben dieser weltlichen Kritik ist theologisch eingewandt worden, daß die Zwei-Reiche-Lehre die eschatologische Spannung vermisse: Auch das Neue Testament geht von der Zweiheit - dem Reich Gottes und dem Weltreich163 164

Althaus/Heckel, Sp. 1929. Ebenda, Sp. 1931.

I. Zum Begriff und den Formen der Utopie

57

aus. Diese beiden Reiche aber stehen nicht statisch nebeneinander, sondern sie befinden sich im Kampf, sie sind dynamisch; es handelt sich um Äonen. Bei dem friedlichen Nebeneinander der beiden Reiche entfällt der eschatologische Horizont. "Im Neuen Testament sind Weltreich und Reich Gottes zeitlich hintereinander geordnet, bei Luther nebeneinander." 165 Wie im Zusammenhang mit der Darstellung der versuchten Realisierung von religiös motivierten Utopien - wir verweisen auf Thomas Müntzer und die Herrschaft der Wiedertäufer in Münster - noch deutlich gemacht werden wird, stößt die radikale Umsetzung der christlichen Gebote im allgemeinen und die der Bergpredigt im besonderen auf Grenzen. Wenn diese Grenzen überschritten werden, dann münden die ,gutgemeinten' Realisierungsversuche in die Barbarei ein. Der Hamburger Theologe Helmut Thielicke l66 hat sich mit den beiden Reichen - dem Weltreich und dem Gottesreich - auseinandergesetzt: 167 Luthers Zwei-Reiche-Lehre können wir heute nur in modifizierter Gestalt übernehmen, denn ein verweltlichtes ,konformistisches' Christentum konnte diese Lehre als ideologisches Alibi benutzen. "Dieser Mißbrauch vollzog und vollzieht sich so, daß man dem gebietenden Anspruch Gottes nur die geistliche Sphäre (Wortverkündigung, Seelsorge und ähnliches) als Zuständigkeitsbereich einräumt. Das Weltreich dagegen versteht man als eine Zone, in der ausschließlich wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Sachzwänge herrschen. Darum gelten in ihr die Gebote Gottes als inkompetent und fehl am Platze." 168 Die Welt steht offenbar in einem seinshaften Widerspruch zu dem, was die Bergpredigt will: Die Bergpredigt stellt Forderungen an den Menschen, die er im wörtlichen Sinne nicht erfüllen kann, so zum Beispiel: "Wenn dir dein rechtes Auge Ärgernis schafft, so reiß es aus und wirfs von dir"; oder: "Ihr sollt dem Übel nicht widerstreben; sondern wenn dir jemand einen Streich gibt auf deine rechte Backe, dem biete auch die andere dar." Wenn diese und andere Radikalismen Realität würden, käme es dann nicht zum Chaos und zur schrankenlosen Herrschaft der Stärkeren? Offenbar gibt es Verhältnisse, die es nicht gestatten, dem Liebesgebot Jesu kompromißlos - buchstabengetreu - nachzukommen; denn: "Die irdischen Ordnungen und Strukturen, in deren Rahmen wir handeln müssen, haben eine gewisse Eigengesetzlichkeit, die wir nicht, wie das die Schwärmer anstreben und als möglich verkündeten, Ebenda, Sp. 1932. Helmut Thielicke: Mensch sein - Mensch werden, Entwurf einer christlichen Anthropologie, 2. Aufl., München-Zürich 1978. 107 Ebenda, S. 277-283. loS Ebenda, S. 277 (Hervorhebungen abweichend vom Original, Jk.). 105

100

58

1. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

überspringen können."169 Wenn wir Thielickes Ausdruck ,Schwärmer' durch ,religiöse Utopisten' ersetzen, dann handelt es sich darum, daß diese den Versuch unternahmen und immer unter Bezugnahme auf die Bergpredigt den Versuch unternehmen, das Liebesgebot buchstabengetreu in dieser Welt zu verwirklichen. Wer diese beiden Reiche nicht unterscheidet, der erzeugt Zerrbilder des Menschen und dieser Welt: 170 Die eine Möglichkeit besteht darin, daß man die radikalen Forderungen der Bergpredigt ohne Rücksicht auf den Zustand dieses Äons als Verfassungsgesetz der Welt proklamiert. "In diesem Sinne die Welt mit der Bergpredigt regieren zu wollen und sie zu einem Gesetz zu machen, war und ist der verhängnisvolle Irrtum aller Schwärmer und Utopisten." Die andere Möglichkeit besteht darin, die Ordnungen dieses Äons als ,Schöpfungsordnungen' hochzustilisieren, dann wird die Staatlichkeit zum institutionellen Ausdruck des Willens Gottes, mit der Folge, daß dem totalen Staat keine theologische Hemmung mehr entgegenwirkt. Wir müssen vor den utopischen Träumen immun sein, die uns vorgaukeln wollen, "es gebe eine Art Reich Gottes auf Erden, eine mögliche Welt vollkommener Gerechtigkeit, eine Identität der Welt mit ihrem Soll-Gehalt. Mit dem Glauben an das ewige Leben und das Reich Gottes, wie Jesus es verkündigt hat, kann das alles nichts zu tun haben. Denn die Utopien liegen ja auf der Linie unserer Wünsche, Erwartungen und Postulate. Sie sind sozusagen die punktierte Fortsetzung unserer Lebenslinien und unserer Projekte. Gottes Ewigkeit als das ,ganz Andere' ist aber unserem Planen, Reflektieren und Phantasieren entzogen." 171 Diese Grenze haben die religiös motivierten Utopisten überschritten. 5. Science Fiction

Nicht nur der Begriff Utopie, sondern auch der der Science Fiction ist umstritten: 172 Die Geburtsstunde der Science Fiction wird auf das Jahr 1926 festgelegt, als in den USA Hugo Gernsback, der Vater der Science Fiction, das erste dieser Gattung gewidmete Magazin ,Amazing Stories' herausgab. 173 Andere Ebenda, S. 278 f. Ebenda, S. 282. 171 Ebenda, S. 386 (Hervorhebungen im Original, Jk.). 172 Manfred Nagl: Science Fiction in Deutschland Untersuchungen zur Genese, Soziographie und Ideologie der phantastischen Massenliteratur, Untersuchungen des Ludwig-Uhland- Instituts der Universität Tübingen, Bd. 30, Tübingen 1972 (mit Literaturangaben). 173 Ebenda, S. 9. 169

170

I. Zum Begriff und den Formen der Utopie

59

hingegen sind der Auffassung, daß es sich um einen legitimen Nachkommen von Thomas Morus oder von Francis Bacon handele. Schwonke l74 sieht in der Science Fiction die gebräuchlich gewordene Bezeichnung für naturwissenschaftlich-technisch bestimmte Utopien, bei der die anspruchslosen Serienprodukte vorherrschen. Als Vorläufer werden von Schwonke Francis Bacon (New Atlantis, 1626), Francis Godwin (The Man on the Moon, 1638) und Cyrano de Bergerac (L'autre monde ou les etats et empires de la lune, 1656; Histoire comique des etats et empires du soleil, 1662) angesehen. "Diese Schriften wurden vorwiegend als Instrumente der Aufklärung und Propagierung von wissenschaftlichen Denkweisen und Theorien verstanden. Außer bei Bacon ist bei ihnen noch kaum von einer Umgestaltung der Welt durch Wissenschaft und Technik die Rede."175 Die Definition des Begriffs ,Science Fiction' ist umstritten, es ist - wie bei der Utopie - nur eine Nominaldefinition möglich. Als Begriffsexplikation kann man anführen, daß es sich um Romane, Erzählungen, Hörspiele, Comic Strips oder Filme handeln kann, die sich spekulativ mit künftigen zum Teil physikalischen oder technischen - zumindest gegenwärtig nicht realisierbaren Entwicklungen der Menschheit befassen: Weltraumfahrten mit Überlichtgeschwindigkeit, Reisen in andere Zeiten, Entdeckung und Besiedlung ferner Himmelskörper, Invasionen oder Besuche der Erde durch außerirdische Wesen, Veränderungen der Lebensbedingungen auf der Erde in politischer, biologischer, ökonomischer und insbesondere in technologischer Hinsicht usw. Nach NagJI76 läßt sich feststellen, daß in den ,klassischen' Utopien von Morus, Campariella, Andreae usw. ein politischer oder - wie wir sagen würden - ein gesellschaftlicher bzw. sozialer Kern vorhanden war. Bereits im 17. Jahrhundert wurde dieser Kern aufgeweicht. Nahezu alle UtopieAutoren unterlagen dem Zwang, ihre Kritik an den bestehenden politischen und sozialen Zuständen zu tarnen. Hierfür boten sich mehrere Methoden an, so zum Beispiel die Verlagerung der Geschehnisse auf eine ferne Insel, die satirische Verfremdung, die Reisebeschreibung - in der sich Realistik und Phantastik vermischen - und schließlich ganz allgemein der Roman. "An die Stelle des Appells zum politischen Handeln und zur Realisierung der Utopie trat die Fluchtbewegung und das Problem einer Touristik durch Raum und Zeit. Je mehr sich die Utopie als realistischer Roman ausgab, desto stärker mußte sie zugleich vor einer Kollision mit der Gegenwart geschützt werden." 177 114 Martin Schwonke: Vom Staatsroman zur Science Fiction Eine Untersuchung über Geschichte und Funktion der naturwissenschaftlich-technischen Utopie, Stuttgart 1957; Derselbe: Stichwort ,Science Fiction', in: Wörterbuch der Soziologie, herausgegeben von Wilhelm Bernsdorf, 2. Aufl., Stuttgart 1969, S. 914-915. 175 Schwonke, S. 914. 176 Nagl, S. 29 ff.

60

1. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

Das Ende der klassischen Utopie zeichnete sich dadurch ab, indem sie entpolitisiert und auf technische und wissenschaftliche Antizipationen reduziert wurde, es ist eine wissenschaftliche Extrapolation. Durch die Entwicklung der modernen Technik erhielt die naturwissenschaftlich-technische Utopie im 19. Jahrhundert neue Impulse. Daher kann man in der modernen Zeit für die Entstehung der Science Fiction die Zukunftsromane von Jules Verne (Von der Erde zum Mond, 1865), Herbert George WeHs (Die Zeitmaschine, 1895; Der Krieg der Welten, 1898) in Deutschland von Kurd Laßwitz (Auf zwei Planeten, 1897) und später Hans Dominik (Atomgewicht 500, 1935; Treibstoff SR, 1940) nennen. Bei diesem Übergang zur Science Fiction - den naturwissenschaftlich-technischen Utopien - entstehen durch Mutationen außermenschliche Intelligenzien, es sind Übermenschen oder selbständig denkende oder handelnde Roboter, die den Primat des Menschen in Frage stellen. Die Science Fiction bekommt häufig Experimentiercharakter, denkbare Möglichkeiten künftiger Daseinsgestaltung werden im Gedankenexperiment erprobt. Die Science Fiction sind eine Reaktion auf eine zunehmend von Wissenschaft und Technik bestimmte Welt, in der die Zukunft unsicher geworden ist. Science Fiction will nicht nur wertvolle Einsichten in die Gegenwarts- und Zukunftsprobleme der wissenschaftlich-technischen Zivilisation vermitteln, sondern sie will auch zugleich ganz gewöhnliche Unterhaltungsliteratur sein, die zugleich Berührungspunkte mit Märchen, Utopien und Mythen hat. Setzt man bei den ,Spitzenwerten' der Science Fiction-Literatur - wissenschaftlich fundierte Zukunftsprognostik mit gegenwartskritischen Akzenten - an, dann kann man sie als Ideenliteratur betrachten, die in der Nähe der Utopie anzusiedeln sei l78 : "Zu modifizieren ist zunächst die Annahme, Science Fiction sei eine Fortsetzung der klassischen Sozialutopien. Sie ist nur insoweit richtig, als deren Grundscherna, Kritik an der vorgefundenen Realität mit dem Entwurf einer alternativen (Staats- und Gesellschafts-)Ordnung zu verbinden, bei den meisten ambitionierten Utopien bleibt es jedoch in aller Regel bei punktueller Kritik, d. h., es werden lediglich einzelne Symptome und Tendenzen aktueller Entwicklung herausgegriffen und satirisch beleuchtet, jedoch nicht das Gesamtsystem in Frage gestellt. Vor allem fehlt es an detailliert ausgestalteten und mit klarem Wortakzent versehenen Alternativentwürfen. "179 Innerhalb der Science Fiction ist zwischen gehaltvollen, den ,normalen' und den niederen Qualitäten zu unterscheiden. Die zuletzt genannten Qualitäten haben wenig mit Wissenschaft und seriöser (technischer) Zukunftspragnostik zu tun, denn Kara Ben Nemsi stapft noch immer durch die Ebenda, S. 32. m So Reiner lehmlich: Science Fiction, Erträge der Forschung, Bd. 139, Darmstadt

177

1980, S. 5 f. 179

Ebenda, S. 6.

I. Zum Begriff und den Formen der Utopie

61

Wüste, nunmehr allerdings auf einem anderen Planeten. Verleger und Herausgeber beriefen sich aus kommerziellen Gründen aufH. G. Wells oder andere große Vorbilder, hielten sich aber nicht immer an die von diesen gesetzten Maßstäbe. "Wichtigstes Kriterium war, daß sie verkaufsträchtige Illusionen des Aufregend-Neuen zu erwecken vermochten."180 Auch dieses ist ein weiterer Grund dafür, daß eine Definition von Science Fiction nahezu unmöglich ist. Unabhängig davon, daß auch der Begriff ,Science Fiction' sich einer exakten Definition weitestgehend entzieht, wollen wir aus Gründen der Zweckmäßigkeit festlegen, daß die (reinen) technischen Utopien nicht zum Gegenstand dieser Untersuchung gehören. Das schließt aber nicht aus, daß in den Sozialutopien auch technische Elemente vorhanden sind, doch diese sind dann nur ,Nebenprodukte' der eigentlichen Utopie. 6. Staatsutopien und Sozialutopien Unsere Untersuchung befaßt sich mit den Sozialutopien, ohne daß wir diesen Begriff erläutert haben. Es sei bereits vorausgeschickt, daß auch dieser Begriff nur im Wege der Nominaldefinition umschrieben bzw. erläutert werden kann. Bemerkenswert ist, daß Andreas Voigt seine Vorträge ,Die sozialen Utopien' überschrieben hat, ohne diese zu definieren. Nach Voigt sind Utopien "Idealgebilde von anderen Welten, deren Existenz oder Möglichkeit nicht wissenschaftlich bewiesen (sind), an die nur geglaubt werden kann. "181 Als Utopien im engeren Sinne bezeichnet er Schriften, die in mehr oder minder anschaulicher, manchmal auch in poetisch ausgeschmückter Weise ideale Staats- und Gesellschaftsgebilde schildern; Robert von Mohl hat diese literarische Gattung ,Staatsromane' genannt. 182 Während sich die naturwissenschaftliche Vervollkommnungslehre mit der physischen Entwicklung der menschlichen Gattung befaßt und die Religion sich mit dem Jenseits - einem metaphysischen Reich - beschäftigt, wenden sich die Utopien dem Diesseits ZU. 183 "Die sozialen Utopien haben es vielmehr zu tun mit der Zukunft der menschlichen Gesellschaft, mit der zukünftigen Staats- und Wirtschaftsordnung und nur mit dieser. Sie lehnen es meistens ausdrücklich ab, die etwaige Vervollkommnung des menschlichen Geistes oder der Seele im religiösen und sittlichen Sinne zur Voraussetzung zu haben, Ebenda, S. 8. Voigt, S. 1. 182 Ebenda, S. 2. 18) Wir haben im Zusammenhang mit den religiös motivierten Utopien gesagt, daß wir uns dieser Abgrenzung von Voigt nicht anschließen. 180 181

62

1. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

oder diese zu erstreben, um mit Hilfe der vollkommeneren und besseren Menschen auch bessere staatliche und wirtschaftliche Zustände zu schaffen."IH4 Es ist Voigt zuzustimmen, daß die Staatsromane und die Sozialutopien nicht nur dicht beieinanderliegen, sondern sich auch überschneiden. Aber wir sind der Auffassung, daß dennoch Unterschiede bestehen oder diese zumindest theoretisch herausgearbeitet werden können. Robert von Mohl (1799 bis 1875) hat in drei umfangreichen Bänden ,Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften' dargestellt. Er hat den Begriff ,Staatsroman' eingeführt. Hierbei handelt es sich um fiktionale Schilderungen eines idealen Gesellschafts- und Staatslebens, meistens als Gegenbild zu bestehenden religiösen, sozialen und politischen Zuständen in didaktisch-moralischer Absicht verfaßt. 185 Zunächst wurden die Staatsromane mit den Utopien gleichgesetzt '86 , heute aber nur noch teilweise für Utopien verwendet. Die Staatsromane stehen in der Tradition der Fürstenspiegel, d. h., Schriften, in denen das Musterbild eines Fürsten aufgestellt wird; Machiavellis Traktat ,11 principe' (1532) markiert den Bruch mit dem Fürstenideal. Im 19. Jahrhundert traten die sozialen Probleme des sich entwickelnden Industriealismus in den Vordergrund, im 20. Jahrhundert mündet diese literarische Gattung in den Zukunftsroman, die Science Fiction ein. Friedrich Kleinwächter hat sich eingehend und kritisch mit dem Mohl'sehen Begriff der Staatsromane auseinandergesetzt: 187 In seiner Einleitung weist Kleinwächter darauf hin, daß die Staatsromane eine Zwitterstellung einnehmen, da Ernst und Dichtung sich vermischen und man nicht mit Sicherheit angeben kann, wo der gewöhnliche Roman aufhört und der eigentliche ,Staats'-Roman beginnt. Mohl teilt die Staatsromane in zwei Gruppen ein, einmal die Schilderung frei geschaffener staatlicher und gesellschaftlicher Einrichtungen (von Platos ,Staat' bis zu Etienne Cabets ,Reise nach Ikarien') und zum anderen die Idealisierung bestehender Einrichtungen (von Xenophon's ,Kyropädie' bis zu Albrecht von Haller's ,Usong' - Eine morgenländische Geschichte).188 Kleinwächter wendet Voigt, S. 7 (Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). Robert von Mohl: Die Geschichte und Literatur der Staatswissenschaften, 3 Bände, Erlangen 1885-88, insbesondere Bd. I, S. 165 ff. Nachdruck Graz 1960. Von Mohl hatte bereits 1845 in der Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft (Bd. 2, S. 24 ff.) einen Artikel mit dem Titel ,Staatsromane - Ein Beitrag zur Literaturgeschichte der Staatswissenschaften' veröffentlicht. 186 Siehe hierzu K. Reichert: Utopie und Staatsromane, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Bd. 39 (1965), S. 259. 187 Friedrich Kleinwächter: Die Staatsromane - Ein Beitrag zur Lehre vom Communismus und Socialismus, Wien 1891, Nachdruck: Amsterdam 1967. 188 Ebenda, S. 6. 184 185

I. Zum Begriff und den Formen der Utopie

63

sich gegen diese Einteilung, denn es ist unklar, wo die Schilderung frei geschaffener staatlicher und gesellschaftlicher Einrichtungen anfängt und wo die Idealisierung bestehender Einrichtungen beginnt. "Mit demselben Rechte hätte Mohl die Staatsromane oder eventuell die gesamte Literatur überhaupt nach dem Format, ob Quart oder Octav etc. einteilen können .... Und wenn Mohl bei der Classifizierung der Staatsromane nur ein klein wenig nachgedacht hätte, so hätte er sofort die Wahrnehmung machen müssen, daß die von ihm aufgezählten Staatsromane ganz verschiedene Dinge behandeln, daß der eine Teil derselben volkswirtschaftliche und der andere politische, oder - wenn man will- staatsrechtliche Fragen (die Staatsverfassung, die Staatsverwaltung, die Tugenden oder Pflichten des Herrschers u. dgl. m.) behandelt." 189 Die Staatsromane teilt Kleinwächter nicht wie Mohl ein, sondern in politische und volkswirtschaftliche Staatsromane. Bei einer kurzen Betrachtung der politischen Romane gelangt Kleinwächter 190 zum Ergebnis, daß die von Mohl aufgezählten "herzlich langweilig und belanglos sind", was nicht für die volkswirtschaftlichen Staatsromane gilt, die für die Nationalökonomie von nicht geringer Bedeutung sind. Ihm scheint der Begriff des Staatsromans noch nicht scharf genug präzisiert, denn es gibt Romane, die die Arbeiterfrage zum Gegenstand haben. "Derartige Romane werden bekanntlich als ,sociale Romane' bezeichnet und damit den ,Staatsromanen' gegenübergestellt. Meines Erachtens (Kleinwächter, Jk.) mit Recht: der sogenannte ,sociale Roman' bekümmert sich nämlich nicht um den Staat, die Staatsverfassung, die Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung etc., sondern begnügt sich, irgend eine Seite der socialen Frage zu beleuchten. Der eigentliche ,Staatsroman' hingegen faßt gerade umgekehrt den Staat als Ganzes ins Auge und sucht in der Form einer Dichtung den Beweis zu erbringen, daß die Völker glücklich sein könnten, wenn der Staat (d. i. die Staatsverfassung und -Verwaltung oder die Wirtschaftsordnung) so und so organisiert wäre."191 Sodann befaßt sich Kleinwächter eingehend mit den drei Formen der volkswirtschaftlichen Staatsromane: Den sozialistischen Staatsromanen (S. 28-36), wozu er auch Platos ,Gesetze' zählt, den ganz-kommunistischen Staatsromanen (S. 36-104), hierzu rechnet er unter anderem Platos ,Staat', Thomas Morus ,Utopia', Campanellas ,Sonnenstaat' usw. und die halbkommunistischen Staatsromane (S. 104-147), hier nennt er insbesondere Edward Bellamy's ,Ein Rückblick aus dem Jahre 2000 auf 1887' und Theodor Hertzkas ,Freiland'. Auch dieser Einteilung wollen wir nicht nachgehen, sondern den Versuch unternehmen, für unsere eigene Untersu189 190 191

Ebenda, S. 7. Ebenda, S. 19. Ebenda, S. 20 (Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.).

64

1. Kap.: Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens

chung die Gleichartigkeit und die Unterschiede zwischen den Staatsromanen und den Sozialutopien herauszuarbeiten: Der Mohl'sche Begriff der ,Staatsromane' erscheint uns zu eng, denn hierbei handelt es sich lediglich um eine literarische Gattung 192 , die verbal bzw. theoretisch in einem ,Nirgendwo' die ideale und vollkommene Staatsund Gesellschaftsordnung beschreibt. Diese Gattung kann für die ,klassischen' Utopien gelten, nicht aber für diejenigen Menschen oder Ideen, die den Versuch unternahmen oder noch unternehmen, ihre Vorstellungen zu realisieren (so zum Beispiel Thomas Müntzer, die Wiedertäufer in Münster, der lesuitenstaat in Paraguay, der ,neue Mensch' in der Sowjetunion usw.). Dennoch wird man den Begriff ,Staatsromane' - zumal er sich eingebürgert hat - nicht eliminieren können. Wir wollen ihn für diejenige literarische Gattung verwenden, die von Plato bis zu den Utopisten der Renaissance (Morus, Campanella, Bacon, Andreä) reicht, wobei wir uns durchaus bewußt sind, daß bei den einzelnen Autoren Unterschiede vorhanden sind. Gemeinsames Merkmal dieser utopischen Entwürfe ist, daß sie vollkommene und ideale Staats- bzw. Gesellschaftsordnungen beschrieben, diese aber nicht (gewaltsam) verwirklichen wollten. Kleinwächters Begriffe der ,volkswirtschaftlichen Staatsromane' bzw. der ,sozialen Romane' erscheint uns auch nicht sehr glücklich: Bei den volkswirtschaftlichen Staatsromanen handelt es sich gleichfalls wie bei den Staatsromanen im Mohl'schen Sinne - um literarische Entwürfe, wobei allerdings der ökonomische Aspekt (und nicht der staatliche) im Vordergrund steht. Dieses gilt auch für die sozialen Romane, die die sozialen Probleme in der Phase der Industrialisierung hervorheben. In beiden Gattungen werden die politischen, religiösen und sozialen Realisierungsversuche nicht beachtet. Wie schwierig es ist, den Begriff ,Sozialutopien' zu erfassen, wird auch daran deutlich, daß Voigt 19~ darunter Utopien versteht, die "mit der Zukunft der menschlichen Gesellschaft, mit der zukünftigen Staats- und Wirtschaftsordnung, und nur mit dieser" zu tun haben. Es werden der Staat, die Wirtschaft und die Gesellschaft den Sozialutopien zugeordnet, wobei man fragen muß, ob nicht unter ,sozial' und ,gesellschaftlich' der gleiche Sachverhalt - das menschliche Zusammenleben - erfaßt und beschrieben wird. An die Stelle des Mohl'schen Begriffes ,Staatsroman' wollen wir den der ,Staatsutopie' setzen und diesen von der Sozialutopie abgrenzen: 192 Dagegen geht Burghardt Schmidt davon aus, daß die Utopie keine Literaturgattung sei. Siehe den Beitrag von Burghardt Schmidt: Utopie ist keine Literaturgattung, in: Gert Ueding (Herausgeber): Literatur ist Utopie, Edition Suhrkamp 935, Frankfurt 1978, S. 1744. Ferner: Rudo1f Viligradter/Friedrich Krey (Herausgeber): Der utopische Roman, Darmstadt 1973. 19.1 Voigt, S. 7.

I. Zum Begriff und den Formen der Utopie

65

1. Die Staatsutopien zielen auf eine ideale und vollkommene Gestaltung einer Gesamtordnung - eines Staates - ab. Sie sind in der Regel nur als Entwürfe (daher Staatsromane) vorhanden. Dieses gilt für die ,klassischen' Utopien von Plato bis Bacon, deren Realisierung nicht versucht worden ist.

2. Die Sozialutopien befassen sich nicht oder nur ausnahmsweise mit einer Gesamtordnung, sondern begnügen sich mit kleineren Einheiten oder sozialen Gruppen. Der entscheidende Unterschied zu den Staatsutopien dürfte darin liegen, daß es immer wieder versucht worden ist, diese begrenzten vollkommenen Gesellschaftsordnungen mehr oder minder gewaltsam zu realisieren. Hierbei ist das barbarische Element besonders deutlich geworden. Wir sind uns voll und ganz bewußt, daß auch diese Einteilung unzulänglich ist und den Widerspruch hervorrufen wird. Es trifft zu, daß die Wiedertäufer in Münster oder Robert Owen mit seiner ,New Harmony' einen räumlich begrenzten Realisierungsversuch unternommen haben. Dagegen hat man in der Sowjetunion im gesamten Staatsgebiet den ,neuen Menschen' und im Dritten Reich durch die Euthanasie einerseits und den Lebensborn andererseits den ,nordischen Menschen' züchten wollen. In beiden Fällen handelt es sich nicht um lokale, sondern um gesamtstaatliche Maßnahmen. Es zeigt sich immer wieder, daß jede sprachliche und logische Abgrenzung und Einteilung unvollkommen ist, d. h., daß diese die Mannigfaltigkeiten der Realität nicht erfassen können. Derartige Einteilungen wollen und können keinen Absolutheitsanspruch erheben, denn sie dienen - wie alle Nominaldefinitionen - dazu, daß "die jeweiligen Begriffe durch Festsetzung mit Komplexen von anderen identifiziert werden, so daß sie also per definitionem wahr sind damit niemals falsch sein können; ... " .194 Vereinfachend ausgedrückt: Unsere (unvollkommene) Unterscheidung zwischen den Staats- und Sozialutopien dient dazu, um eine operationale, zweckmäßige Ordnung zwischen der literarischen Gattung der Utopieentwürfe einerseits und den Utopierealisierungsversuchen andererseits zu schaffen. Mit anderen Worten: Es handelt sich um ein Hilfsmittel, durch das sowohl die Auswahl unter der Vielzahl der Utopien als auch deren Gruppierung erleichtert wird. Bei der Kritik unseres Einteilungsschemas sollten diese Einschränkungen beachtet werden.

19.

5 lenkis

Essler, S. 41 (ohne Hervorhebungen im Original, Jk.).

Zweites Kapitel

Die ,klassischen' Staatsutopien

Nachdem wir uns im ersten Kapitel mit der ,Einführung in die Gesetze des utopischen Denkens' beschäftigt und letztlich festgestellt haben, daß es keine einheitlichen Kriterien für eine (Real-)Definition gibt, wenden wir uns nun den Staats utopien zu, die wir als ,klassisch' bezeichnen wollen. Auch diese Einteilung und die damit verbundene Auswahl bedarf der Begründung.

I. Vorbemerkungen Wir haben im Wege einer Nominaldefinition festgelegt, daß wir den Sozialutopien die (klassischen) Staatsutopien gegenüberstellen. Darunter verstehen wir insbesondere die von Mohl als ,Staatsromane' bezeichneten Utopieentwürfe, die literarisch - nicht empirisch - eine vollkommene und ideale Gesellschaftsordnung innerhalb eines Staates (verstanden als Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsmacht) beschreiben. Zeitlich reichen diese von Plato bis zum ausgehenden Mittelalter, der Renaissance. Zur Auswahl und der Darstellungsform geben wir die folgenden Hinweise: Wir beginnen mit den griechischen literarischen Utopieentwürfen. Als der Ahnherr der Staatsutopien wird Plato angesehen. Wir werden uns bewußt auf den ,Staat' beschränken und die ,Gesetze' vernachlässigen. Kleinwächter l zählt Platos ,Staat' zu den ganz-kommunistischen Staatsromanen und urteilt über diesen vernichtend1 : "Zunächst ist er (Platos Kommunismus, Jk.) - um keinen kräftigeren Ausdruck zu gebrauchen - anwidernd. Die späteren Kommunisten - so Unsinniges sie mitunter verlangen - gehen doch wenigstens von der Überzeugung aus, daß die kommunistische Wirtschaftsordnung die gerechteste ist, und wollen sie eingeführt wissen, um die I Friedrich Kleinwächter: Die Staatsromane - Ein Beitrag zur Lehre vom Communismus und Socialismus, Wien 1891; Nachdruck: Amsterdam 1967. 2 Ebenda, S. 40.

I. Vorbemerkungen

67

Menschen glücklich zu machen. Ein derartiger Gedanke ist dem griechischen sogenannten Weisen vollkommen fremd." Die Soldaten sind für Plato keine Menschen, sondern Hunde: "... für ihn sind sie einfach Hunde, nichts als Hunde, die man entsprechend dressieren und züchten, und denen man das beste Futter vorsetzen muß, damit sie sich in ihrer Hundeexistenz möglichst glücklich fühlen und ihnen nie der Gedanke kommen möge, etwas Anderes sein zu wollen als Hunde." Und schließlich ist Kleinwächter 3 der Ansicht, daß Platos ,Staat' ein Dialog "für uns Kinder der Gegenwart (von) geradezu ertödtender Weitschweifigkeit und Langweiligkeit ... " sei. Hierzu bemerkt Edgar Salin4, daß zwar Philologen und Philosophen krittelnde Worte magisterlichen Lobes und Tadels gefunden haben, "aber dieses tiefste Niveau des Kleinwächter'schen Buches ist wohl unerreicht. "5 Platos ,Staat' wollen wir die ,Sonneninsel' des lambulos vorausschicken: In seinem Sammelband ,Der Traum vom besten Staat' hat Helmut Swoboda6 in seiner Einleitung angemerkt, daß es sich im Vergleich zu Platon um eine völlig andere Konzeption handelt: " ... Sie zeigen nämlich, wie als Quelle der Utopie schon in frühester Zeit, in der griechischen Antike, neben der staatstheoretisch-philosophischen Konstruktion das phantastisch-abenteuerliche Schiffbruchmärchen, das skurrile Seemannsgarn, auftritt. "7 Daher hat Salin8 es abgelehnt, diesen Bericht über die ,Sonneninsel' als Utopie zu bezeichnen, da ihm an jedem politischen Willen und auchjeder didaktischen Absicht mangelt. "Auch nicht einmal als Staatsroman wird man sie also bezeichnen dürfen - denn das Wenige, das über die politische Ordnung geäußert wird, gibt zwar eine Art Staatsbild, aber ohne politischen Inhalt oder Zweck, vielmehr nur als ebensolchen Fabelstoff, wie ihn die Tier- und Pflanzenwelt in ihrer Ebene darstellt." Dagegen ist Ernst Bloch9 ganz anderer Ansicht, der das auf der ,Sonneninsel' vollendete Kollektivbild der Utopie als die letzte und radikalste bezeichnet, zu der es die Antike gebracht hat. 10 Auf die Darstellung weiterer Utopien der Antike soll verzichtet werden, es sei auf Salin und Bloch verwiesen, die diese Lücke füllen. Ebenda, S. 41. Edgar Salin: Platon und die griechische Utopie, München-Leipzig 1921. 5 Ebenda, S. 266 (Anmerkungen, Fußnote I). 6 Helmut Swoboda: Der Traum vom besten Staat Texte aus Utopien von Platon bis Morris, dtv - Dokumente, Bd. 2955, 3. Aufl., München 1987, S. 35-42. 7 Ebenda, S. 35 (Hervorhebungen erfolgten durch uns, Jk.). 8 Salin, S. 238. 9 Ernst Bloch: Freiheit und Ordnung - Abriß der Sozial-Utopien, Berlin 1947, S. 31-34; in der gleichnamigen Rec1am-Ausgabe (Leipzig 1985), S. 30. 10 Ebenda, S. 34. 3

4

5"

68

2. Kap.: Die ,klassischen' Staatsutopien

Die Utopien der Renaissance werden mit Thomas Morus eingeleitet, der mit seiner, Utopie' den Gattungsbegriff geschaffen hat. Daran schließen sich der ,Sonnenstaat' von Campanella und Andreä's ,Christianopolis' an. Während Morus und Campanella ohne Zweifel zu den Klassikern der Utopieentwürfe gehören, ist Andreä weniger bekannt. Er wird in unsere Auswahl deshalb aufgenommen, weil es sich - so die übliche Version - um das evangelisch-reformatorische Gegenstück zur Utopie des katholischen Mönches Campanella handeln soll, aber auch deshalb, weil es sich um die einzige Utopie deutscher Provenienz handelt. Den Abschluß bildet ,Neu-Atlantis' von Francis Bacon, der zugleich den Übergang zu den modernen Utopieentwürfen darstellt. Da den zuletzt genannten Darstellungen Einführungen über den Verfasser und die Intentionen für seine Utopien vorangestellt werden, wird hier auf weitere Hinweise verzichtet. Wir sind uns durchaus bewußt, daß die Auswahl nicht allen Ansprüchen genügen kann, insbesondere wird man eine Vielzahl von anderen Utopieentwürfen vermissen. Abgesehen davon, daß räumliche Grenzen gesetzt sind, geht es nur darum, die ,klassischen' Utopien nicht vollständig, sondern exemplarisch darzustellen, um dann im folgenden (dritten) Kapitel die Realisierungsversuche und die sich daraus ergebenden barbarischen Elemente der Glücksverheißungen herauszuarbeiten.

11. Die ,Sonneninseln' des Jambulos Die utopische Märchenerzählung die ,Sonneninsel' des Jambulos ist nicht im Original, sondern nur eine kurze Zusammenfassung aus zweiter Hand. Dennoch übte diese Schilderung jahrhundertelang einen großen Einfluß auf die Utopien der frühen Neuzeit aus.

1. Diodorus Siculus als Überlieferer des Jambulos Der griechische Geschichtsschreiber Diodorus Siculus (oder Diodor) lebte im 1. Jahrhundert v. Chr., er stammte aus Sizilien. Er unternahm ausgedehnte Reisen und lebte zur Zeit Caesars in Rom, wo er seine ,Bibliotheke' - eine Weltgeschichte in 40 Büchern - schrieb, wovon nur 15 erhalten sind (die Bücher I bis 5 und 11 bis 20 sowie Auszüge aus den verlorenen Teilen)ll. Das in einfacher und klarer Sprache geschriebene Werk ist ein kritikloses Konglomerat, für das Diodorus Siculus unselbständig und oberflächlich ältere Darstellungen benützte. 11 Curt Theodor Fischer (Herausgeber): Diodori Bibliotheca Historica, 5 Bände, 3. Aufl., Leipzig 1888-1906, Nachdruck: Stuttgart 1964.

11. Die ,Sonneninseln' des lambulos

69

Diodorus Siculus hat nur eine kurze Zusammenfassung von dieser Reiseschilderung gegeben: 12 Es handelt sich nur um eine Inhaltsangabe, ohne Hinweis auf den Originalumfang. "Wahrscheinlich handelt es sich bei dem verschollenen Original um einen fingierten ,Tatsachenbericht', eine freie romanhafte Ausgestaltung von Reiseerzählungen mehr oder minder vertrauenswürdiger Seefahrer, verwoben mit alten Mythen."13 Was immer die ursprüngliche Intention gewesen sein mag, die ,Sonneninseln • bilden einen heiteren, fröhlichen und skurrilen Gegenpol zu den gedanken schweren Staatskonstruktionen Platons. Bloch l4 ist allerdings der Ansicht, daß Jambulos ,keine Spielerei' zeigt, "das erhaltene Bruchstück seiner Schrift ist zugleich kräftig, feierlich und fröhlich. Kehrt Sklaven wie Herren aus, setzt gemeinsame Arbeit und Freude, ist in bei den konsequent. Deshalb blieb dieser Staatsroman auch Jahrhunderte hindurch erinnert, er wurde fast neben den Platons gestellt." Ein Einfluß aufThomas Morus ist wahrscheinlich, Campanellas ,Sonnenstaat' hat nicht nur einen beinahe gleichlautenden Titel, sondern zeichnet sich auch durch seine kollektive Gesinnung (so Bloch) aus. Auf den wenigen Seiten entsteht ein anarchistisch-egalitäres Schlaraffenland voll Harmonie. Es bringt zum ersten Mal Vorstellungen vom Goldenen Zeitalter und vom Märchenreich am Ende der Welt. Dem zentralen Problem aller Utopien, der Gesellschaftsstruktur, sind nur wenige Zeilen gewidmet. Daher gelangt Salin l5 zum Ergebnis, "daß dieser angeblich letzte Staatsroman der Antike in Wirklichkeit gar kein Staatsroman ist." Dieser Mär - so Salin - fehlt nicht nur jeder politische Wille, sondern auch jede didaktische Absicht. "... es ist eine Fabel, an der wir uns erfreuen können wie an ähnlichen Schilderungen der Odyssee und der arabischen Märchen, und hinter ihr wird niemand einen anderen Sinn suchen, als wer den Sinn für reine Phantastik verlor." Die Mär von einem fernen seligen Land und von Völkern, die glücklich im Urzustand leben, ist zur Heimat zahlreicher späterer Utopien geworden. 2. Die ,Sonneninseln' des Jambulos

Die überlieferten Fragmente sind so kurz, daß es nicht angebracht erscheint, eine Zusammenfassung zu bringen, sondern den vollständigen Wortlaut: 16 12 Swoboda, S. 35 f. I)

I~ 15 16

Ebenda, S. 35. Bloch, S. 33. Salin, S. 237. Entnommen aus Swoboda, S. 37-42.

70

2. Kap.: Die ,klassischen' Staatsutopien

Die Aussetzung durch die Äthiopier*

Wir wollen nun über jene südliche Insel im Weltmeer, welche entdeckt worden ist, und über die wunderbaren Dinge, die man sich von ihr erzählt, kurzen Bericht erstatten, zuvor aber die Veranlassung ihres Auffindens genauer erzählen. Iambulos war von Jugend auf der Wissenschaft ergeben, als aber sein Vater gestorben, der ein Kaufmann war, widmete auch er sich den Handelsgeschäften. Auf einer Reise durch Arabien nach den Gewürzgegenden begriffen, wurde er samt den Reisegenossen von Räubern ergriffen. Anfangs nun machte man ihn nebst einem seiner Mitgefangenen zum Viehhirten, später aber wurde er samt seinem Genossen von Äthiopiern geraubt und nach der Äthiopischen Küste gebracht. Dieser Raubzug war aber unternommen worden, um Fremde als Sühnopfer für das Land zu erhalten. Von alter Zeit her war es nämlich bei den Äthiopiern in jener Gegend Sitte, die infolge eines Götterspruches beobachtet wurde, daß jedesmal nach Verlauf von zwanzig Geschlechtern oder sechshundert Jahren denn das Geschlecht wird zu dreißig Jahren gerechnet - zwei Menschen Sühnopfer für das Volk werden müssen. Es wird für sie nämlich ein Fahrzeug nun gebaut, wie es für zwei Menschen eben groß genug ist und von ihnen leicht gesteuert werden kann, aber stark genug, um die Stürme des Meeres aushalten zu können. In ein solches Fahrzeug gab man Lebensmittel für zwei Menschen auf sechs Monate, ließ die beiden Männer einsteigen und befahl ihnen, aufs hohe Meer hinauszufahren wie der Orakelspruch es gebot, und zwar sollten sie gen Süden steuern, denn so würden sie an eine glückliche Insel und zu guten Menschen kommen, bei denen sie herrlich und in Freuden leben könnten. Kämen sie glücklich bei dieser Insel an, sagte man ihnen, so würde auch ihr eigenes Volk sich durch sechshundert Jahre des Friedens und ungetrübten Glückes zu erfreuen haben, wenn sie aber aus Furcht vor dem endlosen Weltmeer ihre Fahrt wieder rückwärts lenken sollten, so würden sie wie Verbrecher und Verderber des ganzen Volkes die schwersten Strafen zu erdulden haben. Dabei hätten die Äthiopier eine allgemeine Versammlung des Volkes am .Meeresufer veranstaltet, den Göttern herrliche Opfer gebracht, die zur Sühnung des Volkes auf die dunkle Fahrt Hinausgestoßenen bekränzt und dann fortsegeln heißen. Diese fuhren nun in das große Meer hinaus, und nachdem sie vier Monate lang ein Spiel der Stürme gewesen, wurden sie an die bezeichnete Insel geworfen, die ganz rund war und einen Umfang von ungefähr fünftausend Stadien hatte.

* Hinweis: Die Überschriften sind durch uns eingesetzt bzw. die meisten Absätze eingefügt worden (Jk.).

11. Die ,Sonneninseln' des Jambulos

Die Bewohner der fremden Insel Als sie der Insel nahe waren, kamen ihnen etliche Eingeborene entgegen und führten das Schifflein ans Land; die Leute von der Insel aber liefen zusammen, hoch verwundert über die Ankunft der Fremden, bezeigten sich jedoch gütig gegen sie und teilten ihnen von allem Nötigen mit, was sie selbst hatten. An Leibesgestalt und Lebensart aber waren die Leute von den Bewohnern unserer Länder ganz und gar verschieden. An Körperbildung nämlich waren alle einander gleich und jeder über vier Ellen hoch, und die Knochen konnten sie bis zu einem gewissen Grade biegen und wieder ausstrecken, ähnlich wie die bloß sehnigen Leibesteile. Während ihr Körper sonst von sehr zarter und weicher Art war, besaß er doch größere Spannkraft als der unsere. Hatten sie nämlich einmal etwas mit den Händen erfaßt, so war es durchaus unmöglich, es der Umklammerung ihrer Finger zu entreißen. Haare trug ihr Körper nur an Haupt, Brauen, Wimpern und Bart, die übrigen Teile aber waren so glatt, daß sich an keiner Stelle auch nur der leiseste Flaum zeigte. Übrigens war ihr Körper von großer Schönheit und vollkommenem Ebenmaß der Teile. Die Öffnung des Ohrs war viel weiter als bei uns und mit einem Deckel versehen, ähnlich der Kehlklappe. Von ganz merkwürdiger Beschaffenheit ist auch ihre Zunge, und zwar teils schon von Natur, teils aber auch durch Absicht und Kunst herbeigeführt. Sie ist nämlich bis zu einem gewissen Punkt gespalten und kann auch weiter bis auf die Wurzel hin geteilt werden, so daß sie geradezu eine doppelte Zunge besitzen. Deshalb können sie auch alle möglichen Stimmen hervorbringen und vermögen nicht nur jede menschliche und gegliederte Rede nachzuahmen, sondern auch den vielstimmigen Gesang der Vögel und überhaupt jeden nur möglichen Ton. Was aber das Allerwunderbarste ist, sie können sich mit zwei Personen zugleich ganz vollkommen unterhalten, indem sie jedem für sich antworten und den besondern Umständen angemessen über zwei Dinge zugleich reden. Des einen Zungenflügeis bedienen sie sich nämlich gegen die eine, des andern gegen die zweite Person. Das Klima ist bei ihnen außerordentlich glücklich, wohl weil sie unter dem Äquator wohnen, und sie haben weder Hitze noch Frost zu leiden. Auch die Baumfrucht ist bei ihnen das ganze Jahr hindurch reif, wie auch der Dichter sagt: Birne ja reift auf Birne heran, und Apfel auf Apfel, Traub' auf Traube gelangt und Feig' auf Feige zum Vollwuchs.

71

72

2. Kap.: Die ,klassischen' Staatsutopien

Das Leben auf der Sonneninsel Der Tag ist bei ihnen durchaus der Nacht gleich, und zum Mittag gibt es bei ihnen keinen Schatten, weil die Sonne in ihrem Scheitel steht. Die Einwohner leben nach der Verwandtschaft in Familienstämmen beisammen, jedoch nie mehr als vierhundert in einer Gesellschaft. Sie leben auf Auen und Wiesen, da das Land ihnen die Nahrung reichlich bietet; denn der Boden der Insel ist vortrefflich, und die Luft ist von der besten Beschaffenheit, so daß die Nährpflanzen von selbst in größerer Fülle wachsen, als man ihrer bedarf. So wächst bei ihnen ein Rohr, das reichliche Frucht liefert, welche den weißen Kichererbsen ähnlich ist. Diese sammeln sie und lassen sie dann in warmem Wasser weichen, bis sie zur Größe eines Taubeneis aufquellen. Dann zerdrückt man sie und zerreibt sie auf geschickte Weise zwischen den Händen, um Brote daraus zu kneten, welche man dann bäckt und verzehrt, und die von einem sehr süßen Geschmack sind. Auch reichliche Wasserquellen sind vorhanden, teils warme zu Bädern, welche jede Ermüdung rasch heben, teils kalte von großer Süßigkeit und Heilkraft. Auf Wissenschaften wird bei ihnen alle Sorge verwendet, besonders aber auf die Sternkunde. Eine Schrift besitzen sie auch, und zwar haben sie achtundzwanzig Laute, jedoch dafür nur sieben Zeichen, deren jedes eine vierfache Umgestaltung zuläßt. Die Zeilen schreiben sie nicht wie wir in die Quere, sondern senkrecht von oben nach unten. Die Menschen werden dort ungemein alt, denn sie erreichen bis zu hundertundfünfzig Jahre, und zwar meist, ohne je krank zu sein. Wer gelähmt ist oder sonst irgend ein körperliches Gebrechen hat, den nötigt ein strenges Gesetz, sich selber das Leben zu nehmen; ebenso ist es bei ihnen Gesetz, nur eine bestimmte Zahl von Jahren zu leben, und hat man dieselben erfüllt, so gibt man sich freiwillig den Tod, und zwar auf eine ganz besondere Weise; es wächst nämlich bei ihnen ein zwitterartiges Kraut, welches die Kraft hat, daß jeder, der sich darauflegt, unvermerkt in einen sanften Schlaf fallt und stirbt. Die Ehe ist dort nicht bekannt, sondern es herrscht Gemeinschaft der Weiber, und die gebornen Kinder werden als allen gemeinsam aufgezogen und von allen gleich geliebt. Solange sie noch klein sind, geschieht es oft, daß die Ammen die Säuglinge vertauschen, so daß nicht einmal die Mütter ihre eigenen Kinder kennen. Deshalb gibt es bei ihnen auch keinen Ehrgeiz, und so leben sie ohne innere Unruhen und Aufstände und setzen die Eintracht über alles.

H. Die ,Sonneninseln' des lambulos

Die Tierwelt

Auch gibt es bei ihnen ein Tier, zwar nicht von besonderer Größe, aber von höchst merkwürdiger Leibesbeschaffenheit und wunderbarer Kraft seines Blutes. Der Gestalt nach sind sie rund und den Schildkröten am ähnlichsten; an der Oberfläche sind sie mit zwei apfelfarbenen Strichen kreuzweis gezeichnet, und an jedem Ende haben sie ein Auge und einen Mund. Obgleich sie nun mit vier Augen sehen und die gleiche Zahl von Mundöffnungen haben, so werden doch alle Speisen einem Schlunde zugeführt, und zuletzt vereinigt sich alle Nahrung in einem Magen. Ebenso haben sie auch die Eingeweide und die übrigen inneren Teile nur einfach. Der ganze Körperrand ist ringsum mit Füßen besetzt, und sie können sich vermittelst derselben nach allen Seiten hin bewegen. Das Blut dieses Tieres aber hat eine ganz wunderbare Kraft: jeden abgeschnittenen Teil eines lebendigen Körpers heilt es sogleich wieder an, und wäre selbst eine Hand oder ein ähnliches Glied abgehauen, solange der Schnitt noch frisch ist, wird es wieder angeheilt, und so auch andere Teile des Körpers, wenn es nur nicht die edelsten und die Hauptsitze des Lebens sind. Ein jeder Stamm zieht einen großen Vogel von ganz besonderer Art auf und bedient sich desselben, um die Geisteskräfte der kleinen Kinder auf die Probe zu stellen. Man setzt diese nämlich auf den Vogel und läßt ihn dann fliegen. Diejenigen Kinder nun, welche den Flug durch die Luft aushalten, ziehen sie auf; die aber von Schwindel und Furcht ergriffen werden, die setzt man aus, weil sie doch kein längeres Leben versprechen und keinen Mut und Geisteskraft besitzen.

Die Lebensweise

In jedem Stamme regiert immer der Älteste mit der Macht eines Königs, und alle gehorchen ihm. Wenn aber dieser Fürst das hundertundfünfzigste Jahr erreicht und sich dem Gesetz gemäß den Tod gegeben hat, so übernimmt der Älteste nach ihm die Herrschaft. Das Meer rings um die Insel hat starke Strömungen und ebbt und flutet gewaltig, hat aber einen süßen Geschmack. Von unseren Gestirnen sind die Bären und viele andere gar nicht sichtbar. Es sind dieser Inseln aber sieben, alle von gleicher Größe und in gleichem Abstand voneinander, und Sitten und Gesetze sind überall dieselben. Alle Einwohner dieser Inseln, wenn auch sämtliche Nahrungsmittel in reicher Fülle von selbst wachsen, geben sich doch nie unmäßigem Genusse derselben hin, sondern beobachten eine mäßige Lebensweise und genießen nur so viel Speise, als das Bedürfnis erfordert. Fleisch und die

73

74

2. Kap.: Die ,klassischen' Staatsutopien

übrigen Nahrungsmittel genießen sie teils gebraten, teils in Wasser gesotten, alle andern Kochkünste aber und Brühen und mannigfache Würzen sind ihnen ganz unbekannt. Als Götter verehren sie die alles umfassende Luft und die Sonne und überhaupt alles Himmlische. Fische aller Art wissen sie auf mancherlei Weise zu fangen, und auch viele Vögel jagen sie. Wildwachsende Fruchtbäume gibt es bei ihnen in Fülle, und auch Ölbäume und Weinstöcke gedeihen, aus denen sie reiche Ernten an Öl und Wein gewinnen. Schlangen von außerordentlicher Größe, die jedoch den Menschen nichts zu Leide tun, haben ein eßbares und sehr süßes Fleisch. Ihre Kleider bereiten sie sich aus einer gewissen Rohrart, die in der Mitte einen glänzenden, weichen Haarflaum hat. Diese Rohre sammeln sie nämlich, verkleben sie mit dem Saft zerschlagener Seemuscheln und bringen so wunderschöne Purpurgewänder zustande. Die Gestalten der dortigen Tiere sind von den bekannten höchst abweichend und so wunderbar, daß es ganz unglaublich ist. Alles, was die Lebensweise betrifft, hat bei ihnen seine ganz bestimmte Ordnung, denn nicht alle essen zugleich, noch auch genießen alle dieselben Lebensmittel; so dürfen auch an bestimmten Tagen nur Fische gegessen werden, an andern nur Vögel, dann wieder das Fleisch von Landtieren, und zuweilen nur Oliven und die einfachsten Zugemüse. Abwechselnd bedienen die einen die andern, und während die einen Fische fangen, gehen andere dem Handwerk nach oder beschäftigen sich sonst in nützlicher Weise; und der öffentliche Dienst, von dem jedoch die schon Gealterten ausgenommen sind, geht der Reihe nach um. An den Festen und Bettagen werden bei ihnen Hymnen und Loblieder auf die Götter gesprochen und gesungen, besonders aber auf die Sonne, der sie auch ihre Inseln und sich selbst zueignen. Ihre Toten begraben sie zur Zeit der Ebbe und verscharren sie in den Sand, so daß sie durch die Fluten noch mehr verdeckt werden. Die Rohrart, aus deren Frucht sie sich Speise bereiten, soll kranzförmig sein und zur Zeit des Vollmondes an Dicke zunehmen, bei abnehmendem Monde aber wieder einschwinden. Das Wasser der warmen Quellen ist süß und der Gesundheit förderlich und bewahrt seine Wärme, ohne sich jemals abzukühlen, wenn man nicht kaltes Wasser oder Wein darunter mischt. Die Abreise des J ambulos

Jambulos und sein Genosse aber, nachdem sie sieben Jahre dort verweilt, wurden gegen ihren Willen von der Insel vertrieben, gleich als wären sie Übeltäter und von Jugend auf in schlechten Sitten erzogen. Sie setzten

III. Platons Idealstaat

75

also ihr Fahrzeug wieder in Sand, versahen es mit Lebensmitteln und nahmen dann gezwungen Abschied.

III. Platons Idealstaat Thomas Morus gilt als Begründer der Staats-Utopie. Wohl die erste Utopie als Traum von der Vollkommenheit des Staates hat aber Platon beschrieben, denn die Erzählungen des Jambulos kann man nur bedingt als eine Utopie betrachten. 1. Platons Lebeni?

Es ist nicht genau bekannt, wann und wo Platon geboren ist. Einige antike Nachrichten geben das Jahr 430/429 an, wahrscheinlicher aber ist das Jahr 428/427 v. ehr. (die doppelte Jahreszahl kommt dadurch zustande, daß sich der Anfang des griechischen Jahres nicht mit unserem Jahresanfang deckt). Als Geburtsort wird die Insel Ägina angenommen, wo sein Vater - der nach Athen zurückkehrte - an der Landverteilung beteiligt war. Väterlicher- wie mütterlicherseits stammte Platon aus berühmten und wohlhabenden Familien der athenischen Aristokratie. "Diese Herkunft, auf die er immer stolz gewesen ist, hat sein Leben weitgehend bestimmt."18 Platon hatte zwei Brüder: Adeimantos und Glaukon sowie eine Schwester, Potone. Seine Bruder erwähnt Platon als Mitunterredner des Sokrates in der Politeia, seinem größten Werk. Nachdem sein Vater früh verstarb, gi~g seine Mutter eine zweite Ehe ein, aus der Platons Halbbruder Antiphon stammte. Platon genoß die Erziehung, wie sie einem Sohn einer vornehmen athenischen Familie zukam. "Die Erziehung, die Platon in der Politeia und in den Nomoi fordert, dürfte daher weitgehend auf Erinnerungen zurückgehen." 19 In der ersten Phase lauschte er den Märchen, dann folgte die musische und gymnastische Erziehung, in der die Werke der Dichter - insbesondere die Homers - eine wichtige Rolle spielten; die Gymnastik ging allmählich in kriegerische Übungen über. Platon dürfte etwa zwölf bis vierzehn Jahre alt gewesen sein, als er Sokrates kennenlernte. Das eigentliche Lehrer-Schüler17 Siehe hierzu Gottfried Martin: Platon mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, in: Rowohlts Monographieri, Bd. 150, Reinbek 1969; Ernst Hoffmann: Platon - Eine Einführung in sein Philosophieren, Rowohlts deutsche Enzyklopädie, Bd. 142, Reinbek 1961, S. 150-156. 18 Martin, S. 11. 19 Ebenda, S. 14.

76

2. Kap.: Die ,klassischen' Staatsutopien

Verhältnis hat sich erst später entwickelt, als Platon zwanzig Jahre alt war, acht Jahre vor dem Tod von Sokrates. Für einen hochbegabten Sohn aus einer vornehmen athenischen Familie war es selbstverständlich, seine Lebensaufgabe in der politischen Arbeit seiner Vaterstadt zu sehen. Hierzu bot sich die Gelegenheit im Jahre 404, nach der Niederlage Athens im Peloponnesischen Krieg: Unter dem Schutz der Spartaner übernahmen 30 athen ische Aristokraten die Herrschaft in der Stadt. Zunächst setzte Platon große Hoffnungen auf die Herrschaft der Dreißig, doch diese Hoffnungen erfüllten sich nicht; zu dieser Erkenntnis dürfte Sokrates beigetragen haben. Die Demokraten kehrten 401 nach Athen zurück und Platon begann erneut zu hoffen. Aber 399 vollzog sich dann das Geschehen, das Platons Verhältnis zu seiner Vaterstadt Athen endgültig zerstörte: "Den verwöhnten Jüngling, der für eine wichtige Rolle im Staatswesen bestimmt ist, und dem Angehörige und Mitbürger schon jetzt, in Vorwegnahme seiner künftigen Macht, schmeicheln, trifft der Anruf des Philosophen, der sich ihm bescheiden naht und ihm die Wahrheit vor Augen führt. Daß mit dem Philosophen Sokrates gemeint ist, daran zweifelt niemand. Die Anschauung des jungen Mannes wird umgewendet, er wird zur Philosophie hingezogen. Seine Angehörigen und Mitbürger freilich sind entsetzt."20 Versucht man zu erklären, worin dieser Anruf bestanden und welche Bedeutung er für Platon gehabt hat, so kann man mit Martin feststellen: 21 "Der Einfluß, den Sokrates auf Platon ausübte, war so groß, daß Platons gesamtes Werk eigentlich das des Sokrates ist. Von daher wird verständlich, warum in allen Dialogen - bis auf einige ganz späte Sokrates das Gespräch führt." Allerdings läßt Platon in manchen Dialogen seine eigene Meinung durch Sokrates vortragen. Nur in den frühen Dialogen findet man die Aussagen des historischen Sokrates, in den mittleren und späteren die eigene Philosophie Platons. Es sind zwei Punkte, die den Einfluß auf Platon markieren: Das sokratische Nichtwissen und der sokratische Logos. "Das sokratische Nichtwissen zeigt sich darin, daß fast alle Platonischen Dialoge ohne positives Ergebnis enden .... Wonach auch immer in einem sokratischen Gespräch gefragt werden mag, das Gespräch endet stets mit dieser Einsicht, das Gefragte könne nicht beantwortet werden. "22 Der andere wichtige Faktor, der Platon beeinflußte, ist der sokratische Logos. Hierbei handelt es sich um zwei Forderungen: Einmal, jeder gebrauchte Begriff muß genau bestimmt werden, zum anderen, jeder behauptete Satz muß genau begründet werden. Allerdings wurde der Einfluß dieser beiden Elemente noch durch die Persönlichkeit des Sokrates übertroffen. 20 21 22

Ebenda, S. 20. Ebenda, S. 20. Ebenda, S. 20.

IH. Platons Idealstaat

77

Vermutlich ist Platon - wie andere Sokrates-Schüler - nach dem Tode des Sokrates 399 v. ehr. nicht länger in Athen geblieben. Zuerst dürfte er in das nahegelegene Megara gegangen sein; für den Aufenthalt in Ägypten sprechen zahlreiche Hinweise in den Dialogen. Hier wird der Unterschied zu Sokrates deutlich, der ein Mann der Stadt Athen war, Platon war dagegen ein Mann Groß-Griechenlands, ein Mann des Mittelmeeres, der damaligen großen Welt. Von größter Bedeutung sind die drei Reisen nach Syrakus: Wann die Griechen mit den Wanderungen nach Sizilien begonnen haben, ist unbekannt; die ersten sicheren Zeugnisse stammen aus dem 8. Jahrhundert. Nachdem die Karthager im Jahre 480 v. ehr. bei Himera entscheidend geschlagen waren, erhielt Syrakus den Vorrang unter den griechischen Städten Siziliens. Bald darauf begannen die Karthager erneut Sizilien anzugreifen. Als sie Syrakus bedrängten, wählten diese einen jungen Offizier zum Feldherrn, der sich noch im selben Jahr (405 v. ehr.) zum Tyrannen von Syrakus macht. Als Dionysios I (etwa 430-367 v. ehr.) herrscht er bis zu seinem Tode. In seiner Auseinandersetzung mit Karthago verbindet er geschickt kriegerische mit diplomatischen Mitteln; er erreicht, daß der Machteinfluß Karthagos auf den Westen der Insel Sizilien beschränkt bleibt. "In seinem Reich herrscht er oft mit blutigen und grausamen Methoden; die Hinrichtung von Verwandten und Freunden zum Beispiel gilt ihm als erlaubtes politisches Mittel. "23 Eine bedeutende Rolle spielte in Syrakus Dion: Er war der Bruder der Aristomache - der zweiten Ehefrau von Dionysios I. - und zugleich der Ehemann einer Tochter aus dieser Ehe. Dion geriet in Konflikt mit Dionysios 11. (einem Sohn von Dionysios I. aus seiner Ehe mit Doris, die er zugleich mit Aristomache geheiratet hatte), der nach dem Tode von seinem Vater die tyrannische Herrschaft über Syrakus fortsetzte. Der Konflikt Dions mit Dionysios 11. führte dazu, daß er 366 v. ehr. Syrakus verließ. Dion ging nach Athen, sammelte und bildete eine Streitmacht, zog gegen Dionysios 11. und eroberte 357 Syrakus; 354 v. ehr. wurde Dion ermordet. Nach Jahren der Anarchie übernahm Dionysios 11. ein zweites Mal die Herrschaft in Syrakus, wurde aber nach drei Jahren vertrieben. Im ersten Punischen Krieg erobern die Römer Sizilien mit Ausnahme des Reiches Syrakus, im zweiten Punischen Krieg erobern sie im Jahre 212 auch diese Stadt. Schon Platon hat diese vom Westen und Norden drohende Gefahr gesehen. In diese wechselvolle Geschichte fielen die drei Reisen Platons nach Syrakus: Die erste Reise nach Syrakus dürfte 389/388 erfolgt sein, wo er Kontakt mit den Pythagoreern aufnehmen wollte. In Tarent hat er Archytas, den bedeutenden pythagoreischen Philosophen und Mathematiker aufgesucht und 2)

Ebenda, S. 25.

2. Kap.: Die ,klassischen' Staats utopien

78

mit ihm Freundschaft geschlossen. Die starken pythagoreischen Einflüsse in der Philosophie Platons gehen offensichtlich auf diese Freundschaft zurück. Auf seinen Wanderungen durch Sizilien gelangte Platon auch in die Griechenstädte an der Ostküste nach Syrakus, wo sich Dionysios I. auf der Höhe seiner Macht befand. Um seiner festgefügten Machtstellung Glanz zu geben, versuchte er, Philosophen und Künstler nach Syrakus zu ziehen. Obgleich keine Einladung an Platon vorgelegen haben dürfte, war er als bereits bekannter Philosoph hochwillkommen. "Die Beziehungen zwischen Platon und dem etwa gleichaltrigen Dionysios sind wohl nicht ohne Spannungen verlaufen, das luxuriöse Leben in den griechischen Kolonialstädten und besonders in Syrakus war nicht Platons Sache. . . . Die entscheidende Begegnung aber, die den eigentlichen Gewinn brachte, war die mit dem jungen Dion, den Platon zum vertrautesten Schüler und engsten Freund gewann ... ~~ Dieser erste Aufenthalt in Syrakus hat vielleicht zwei oder drei Jahre gedauert. Aber: "Die Schwierigkeiten und Verstimmungen zwischen Platon und Dionysios I. haben wohl ständig zugenommen und schließlich zum Abbruch des Aufenthalts geführt. "~5 Dionysios veranlaßte, daß das Schiff, das Platon nach Hause bringen sollte, nicht in Athen, sondern in Ägina landete, das mit Athen im Krieg stand. Dort sollte Platon entweder getötet oder als Sklave verkauft werden, man entschloß sich für das letztere. Auf dem Markt - zum Verkauf ausgestellt - wird er von einem Freund freigekauft und kann doch nach Athen gelangen (allerdings ist dieser Bericht umstritten). Nach seiner Rückkehr aus Sizilien dürfte Platon die Akademie gegründet und sein umfangreichstes Werk - die Politeia - begonnen haben. Man kann davon ausgehen, daß in die Politeia viele seiner sizilianischen Erfahrungen eingeflossen sind. Nach dem Tode von Dionysios I. im Jahre 367 v. Chr. übernahm sein Sohn Dionysios 11. die Tyrannis in Syrakus. Auf Veranlassung Dions schickte Dionysios 11. eine Einladung an Platon, die zweite Reise nach Syrakus dürfte etwa 367/366 stattgefunden haben. Doch es kam zu starken Spannungen, die dazu führten, daß Dion des Landes verwiesen wurde. Nach langem Zögern nahm Platon eine weitere Einladung von Dionysios 11. an, die dritte Reise nach Syrakus erfolgte 3611360 v. Chr. Zunächst kam es zu einem guten Einvernehmen in Fragen der Philosophie und auch hinsichtlich der persönlichen Verhältnisse Dions. Doch Platons Hoffnungen, die Situation Dions zu verbessern, erfüllen sich nicht, und Platon entschließt sich, mit dem letzten Schiff vor Einbruch des Winters nach Athen zurückzufahren. Durch einen listigen Vorschlag gelang es Dionysios, Platon zum Bleiben zu bewegen, 24

2S

Ebenda, S. 31. Ebenda, S. 32 f.

IH. Platons Idealstaat

79

doch dann hält Dionysios nicht sein Versprechen und Platon fühlt sich in diesem Winter mit Recht als ein Gefangener. Es gab neue Schwierigkeiten, mit der Hilfe von Freunden gelingt es, von Dionysios 11. die Zusage zu erhalten, daß Platon nach Athen zurückkehren darf. Zurückgekehrt traf er Dion bei den Olympischen Spielen, der zu einem Feldzug gegen Dionysios rüstete, um Rache zu nehmen. 357 zog Dion mit seinem Heer nach Syrakus, vertrieb Dionysios und übernahm selbst die Herrschaft. Als Schwierigkeiten auftraten, beging Dion Grausamkeiten und wurde schließlich ermordet. "Zwei Dinge erweisen sich als das eigentlich Bedeutungsvolle der drei sizilianischen Reisen: Zum einen der Versuch Platons, hier seine Anschauungen über den Staat zu verwirklichen, zum anderen sein Verhältnis zu Dion. "26 Es mag für die erste Reise nach Sizilien gelten, daß es nicht um Platons politische Anschauungen ging, dagegen erfolgten die beiden weiteren Reisen auf Einladungen. Platon hat selbst bekundet, daß er die eigenen politischen Anschauungen verwirklichen wollte. "Dabei mag es wohl Platon nicht darum gegangen sein, die in der Politeia entwickelte Utopie in allen Einzelheiten zu verwirklichen. Der utopische Charakter dieses Werkes wird auch ihm selbst schwerlich verborgen geblieben sein. Er hatte vielmehr verhältnismäßig reale Ziele, nämlich einen freien Bund der griechischen Städte Siziliens zu gründen .... Überblickt man aber die 20 Jahre von 367 bis zu Platons Tod 347, so muß das grenzenlose Chaos in Sizilien und Syrakus als Beweis für das völlige Fehlschlagen aller Pläne betrachtet werden, und Platon hat das selbst erkannt. So ist es denn kein Wunder, wenn das Porträt, das aus seinen letzten Lebensjahren stammen muß, von Resignation geprägt ist. Noch tiefer hat Platon das Schicksal Dions getroffen. "27 Nach Athen zurückgekehrt, gründete Platon eine Akademie, in der er seine Philosophie lehrte. Hierauf soll in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden. Es wurde bereits darauf hingewiesen, daß Platon im Alter einer tiefen Resignation anheimfiel. Hierfür bieten sich verschiedene Interpretationsmöglichkeiten an: Ulrich von Wilamowitz-Moellendorffversteht die Resignation im wesentlichen vom Politischen her. Zusammenfassend charakterisiert WilamowitzMoellendorff28 Platon wie folgt: 29 "Die Tragödie seines Lebens, der Zusammenbruch seiner Hoffnungen, die Kränkungen, die er persönlich erfuhr, haben seine Seele verdüstert." Im 81. Lebensjahr (348/347 v. Chr.) starb Platon bei einem Hochzeitsschmaus. 26 27

28 29

Ebenda, S. 37. Ebenda, S. 37 f. Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff: Platon, 3. Aufl., Berlin 1929, Bd. I, S. 693. Zitiert nach Martin, S. 77.

80

2. Kap.: Die ,klassischen' Staatsutopien

Für unseren Gegenstand der Untersuchung soll ein kurzer Blick auf Platons Staatslehre geworfen werden: Martin 30 lehnt es ab, Platon aus seiner Zeit zu verstehen; denn er war in Athen wenig bekannt, war viel auf Reisen und galt als versponnener Sonderling. Man dürfte ihn in Athen für einen seltsamen zurückhaltenden Mann gehalten und die Akademie als eine der vielen Kultvereine angesehen haben. Dennoch haben sich in der über zweitausendjährigen Geschichte der PlatonInterpretationen drei Schwerpunkte herausgebildet: (1) Humanismus: Dieses Moment ist in seiner Philosophie immer wieder in den Vordergrund getreten; die Renaissance zu Platon wurde von den Humanisten ausgelöst und gefördert, dieses gilt auch für WilamowitzMoellendorff.

(2) Wissenschaftslehre: Man kann Platons Bedeutung für die reine Wissenschaft, für die reine Theorie und für die Reflexion - also die Wissenschaftslehre - als das eigentlich Wesentliche betrachten. Hierfür sprechen zwei Erwägungen: Einmal, daß die Wissenschaften eine ständig wachsende Bedeutung erlangt haben, die sich noch verstärken wird, und zum anderen, daß Platon zu den Begründern der reinen Wissenschaft gehört, der den Begriff der reinen Wissenschaft entwickelt hat. "Bei der unübersehbaren Fülle des Platonischen Denkens fällt es allerdings schwer, einen besonderen Leitgedanken herauszuheben und zu verfolgen. Platon ist ja zugleich einerseits Wissenschaftler und Philosoph, andererseits Dichter; Logos und Mythos finden in seiner Seele einen harmonischen Ausgleich .... So wird jeder, der den Weg zu Platon sucht, beeindruckt sein von dem Reichtum seines Philosophierens und verwirrt durch die Vielheit der vorliegenden Interpretationen".31 (3) Staatslehre: Diese wird häufig als das Zentrum der Platonischen Philosophie angesehen. "Man hat sogar die Formulierung gewagt, es gehe Platon um den Staat und nur um den Staat, und Philosoph sei er eigentlich nur wider Willen gewesen. Vor allem im angelsächsischen Denken wird die Bedeutung Platons von seiner Staatslehre hergeleitet. "32 Für diese These sprechen die beiden umfassenden Werke, die Politeia und Nomoi. Hinzu kommt, daß die Politeia das vollkommene, ideale Bild des Staates wiedergibt, während die Nomoi in erster Linie auf seine realen Möglichkeiten bezogen sind. In beiden Werken hat Platon eine philosophische Konzeption des Staates entwickelt. Doch es erhebt sich die Frage, ob der Staat tatsächlich in seiner lebendigen Fülle und 30

31

32

Ebenda, S. 129 ff. Ebenda, S. 134. Ebenda, S. 130.

III. Platons Idealstaat

81

Realität getroffen worden ist oder ob nicht "die geschichtliche Wirklichkeit des Staates völlig zugunsten einer Utopie verkannt" wurde. 33 Auch wenn man Martin 34 folgt, daß man das Werk eines Genius nicht endgültig und apodiktisch interpretieren kann - jede Generation wird neue Grundelemente im Werk Platons entdecken -, so wird man doch bei aller Vorsicht feststellen können, daß alle besonderen Ereignisse aus dem Leben Platons im Zusammenhang mit seinen politischen Idealen stehen: Die Ereignisse des peloponnesischen Krieges und die wilden Parteikämpfe in Athen richteten seinen Blick früh auf die Schäden seiner Zeit. Er versuchte nicht nur, mit seinen Begriffen und Prinzipien die Wirklichkeit zu durchdringen und zu verstehen, sondern auch die politischen und sozialen Zustände seiner Zeit einer strengen Kritik zu unterziehen, um dann weitschauende Pläne für eine sittlich-religiöse Umgestaltung zu entwerfen. Im System der Ideenlehre erschien schließlich der Staat als die Verwirklichung der Idee des Guten. Der Mittelbegriff, den Platon dazu verwendet, war der der Gerechtigkeit, worunter er die harmonische Ausgleichung aller Vernunftsbestätigungen und alle sittlichen Lebensverhältnisse verstand. Denn das war das eigentliche Ziel seiner Lebensarbeit: durch die Kraft der Philosophie und des Wissens diejenigen Menschen heranzubilden, die fähig waren, den wahren Staat der Gerechtigkeit zu verwirklichen. Wie sah dieser wahre Staat der Gerechtigkeit aus?

2. Platons ,Politeia' Platons ,Politeia' (Der Staat) ist eines der bedeutendsten philosophischen Werke des Abendlandes, das das Denken bis in die Gegenwart hinein beeinflußt hat. Seine Beschreibung des Idealstaates wurde durch die Realität beeinflußt: Die negativen Erfahrungen des aristokratischen Regiments und die Exzesse der demokratischen Restauration ließen ihn daran zweifeln, daß eine dieser beiden Staatsformen zum gerechten Staat führt. Daher zeichnete er im ,Staat' den Idealstaat, dem die Ungerechtigkeit dann nicht innewohnen kann, wenn er planmäßig durchgeführt wird. Platons ,Staat' (Politeia) ist in zehn Bücher unterteilt, wobei das erste Buch - dem man den Namen ,Thrasymachos' zu geben pflegt - ein in sich abgeschlossenes Ganzes bildet. Hildebrandt 35 hat Platons Politeia wie folgt gegliedert: )) Ebenda, S. 130. )~ Ebenda, S. 135. )5 Kurt Hildebrandt: Einleitung zu: Platon Der Staat, Deutsch von August Horneffer, Kröners Taschenausgabe, Bd. 111, Stuttgart 1949. 6 Jenkis

82

2. Kap.: Die ,klassischen' Staats utopien

r Vor'Pie' • J6t dtr 4erfOlt~ ~ü(klio,~

l! ttitColi,~I,,,"q dt.& !JfaoCi.:'

...-

[. (in'eitwnl)



~. lwt.I[4~

~o ... pCt.eil

~ DriCC(tl'

Hcw"nei.

"$.

36

V~"c.Jtt'f ... "g.d.~~~~'1 l)ic." ...... ~I\e u .... irQ;lIC.,. "1f'~c.rICiQl\ei( u .. ~

~ 01. "tu" Do'cI,[u."

Ebenda, S. XXX.

W!

6C.lt'~ t 116

Ebenda, Ebenda, Ebenda, Ebenda,

S. S. S. S.

545 (aus dem bereits zitierte"n Anhang von Christopher H. Johnson). 545. 551. 547.

362

4. Kap.: Die Irrtümer der Utopisten im 19. Jahrhundert

Für die Bauern verbrauchte er wenig Tinte, um diese von den Vorzügen des Kommunismus zu überzeugen, vielmehr setzte er voraus, sie würden als treue Söhne des Volkes von den Vorzügen der staatseigenen landwirtschaftlichen Betriebe überzeugt sein. Als Beweis nahm er, daß eine kleine Gruppe ergebener Anhänger in einigen Dörfern den natürlichen Hang zum Kommunismus dokumentierten. In Wirklichkeit hatte der Ikarismus auf das ländliche Frankreich keinen Einfluß. Das Bürgertum - die Bourgeoisie - war von den Ideen Cabets keineswegs entzückt, denn jede bürgerliche Funktion - sofern sie nicht unter die Rubrik Wissenschaft fällt - wird abgeschafft oder wesentlich verändert: Der Handel, die Fabrikation und die Verteilung der Konsumgüter wird von den gewählten Beamten beaufsichtigt; damit sind alle Bourgeois - vom kleinen Krämer bis zum größten Finanzmann - von allen ökonomischen Funktionen ausgeschlossen. Intellektuelle, Künstler oder gelehrte Fachleute gibt es entweder nicht oder sie werden durch die Zensur unterdrückt. "Cabet hoffte jedoch, daß Furcht, Verlangen nach innerem Frieden oder reiner Altruismus die Bourgeoisie um das kommunistische Banner scharen würden... Der Appell an den Altruismus meinte lediglich die Forderung, die Bourgeoisie solle die moralische Berechtigung des Kommunismus anerkennen. Das zeigte sich deutlich an Cabets Grundsatz ,Communisme, c'est le Christianisme'''.117 Cabet erkannte den Antagonismus zwischen der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse. Diese Kluft sollte aber nicht durch die revolutionäre Gewalt, sondern durch die Zusammenarbeit dieser beiden Gesellschaftsschichten überwunden werden. Als er sich aber der Bejahung des Klassenkampfes bewußt geworden war und sich mit der proletarischen Revolution konfrontiert sah, da vollzog er die Flucht nach Ikarien, in die Vereinigten Staaten; denn der Traum, die von Natur gute und vernünftige Menschheit von den Freuden des Lebens in der kommunistischen Gemeinschaft zu überzeugen, war an den harten Tatsachen der sozialen Realität gescheitert. Die Reaktion des Proletariats war zwiespältig: Die gemäßigten Arbeiter, die wohlhabenden und größtenteils verheirateten Kommunisten fanden bei Cabet das, was sie suchten: Eine konsequente kommunistische Lösung der sozialen Frage auf friedlichem Wege durch die Ausnutzung der bürgerlichdemokratischen Freiheiten. Mit seiner unentwegten Predigt von der Klassenversöhnung schläferte er das Bewußtsein vom Klassengegensatz ein. Tatsächlich gibt es in der ikarischen Bewegung den Beweis dafür, "daß ein Teil, von den pazifistischen Flausen Cabets abgestoßen, zur babouvistischen 118 Bewegung übergeht", 119 die den Friedensbeteuerungen wenig Bedeutung beimißt. Ebenda, S. 546. Fran.;:ois N oel Babeuf (1760-1797), genannt Gracchus, war ein französischer Revolutionär, lebte seit 1793 in Paris. Nach dem Sturz Robespierres hielt er die Zeit für eine 117

118

IV. Etienne Cabet und seine Reise nach Ikarien

363

Von Karl Marx und Friedrich Engels wurde Cabets Erkenntnis der Spaltung der Gesellschaft in Klassen - hier die arbeitenden Massen, dort die Kapitalisten und Müßiggänger - akzeptiert, das Ziel, diesen Klassengegensatz friedlich und demokratisch zu überwinden, aber abgelehnt. Karl Grün 120 propagierte gleichfalls einen kleinbürgerlichen Sozialismus, den er den ,wahren Sozialismus' nannte. Engels und Marx setzten sich mit Grün in der ,Deutschen Ideologie' auseinander. 121 Das Kapitel über Cabet ist mit "Der ,bornierte Papa Cabet' und Herr Grün" überschrieben. 122 Cabet wird von Marx und Engels wie folgt geradezu abgekanzelt: l23 "Wenn ein berühmter Mann gelegentlich einmal gegen das Geld, gegen die Ungleichheit, gegen den Reichtum, gegen soziale Mißstände ein Wort hat fallen lassen, Cabet hebt es auf, bittet es zu wiederholen, macht es zum Glaubensbekenntnis des Mannes, läßt es drucken, klatscht in die Hände und ruft mit ironischer Bonhomie seinem geärgerten Bourgeois zu: Ecoutez, ecoutez, n'etait-il pas communiste?" Und Grün sammelt diese Zitate Cabets und zweifelt nicht, daß alles seine Richtigkeit habe. Marx und Engels wandten sich entschieden dagegen, den Sozialismus ethisch oder religiös zu begründen. Der ,wahre Sozialismus' setzte an die Stelle der revolutionären Befreiung der Arbeiterklasse eine sentimentale Ethik der Klassenversöhnung. Hier wird der Unterschied zwischen dem utopischen Sozialismus einerseits und dem wissenschaftlichen Sozialismus revolutionäre Aktion gekommen. In seiner Zeitung ,Le Tribun du peuple' entwickelte er seine sozialrevolutionären Ideen einer ,Republik der Gleichen', in der das Privateigentum abgeschafft werden sollte. Im Mai 1796 schlug der Umsturzversuch durch die ,Verschwörung der Gleichen' fehl, die eine proletarische Diktatur durch den Staatsstreich errichten sollte. Ein Jahr später wurden Babeuf und einige Mitverschwörer zum Tode verurteilt und hingerichtet. Babeufs Ideen und sein revolutionstaktisches Vorbild hatten auf die sozialistischen Revolutionsbewegungen des 19. Jahrhunderts Einfluß. Seine Bedeutung liegt auch darin, daß er den Klassenantagonismus zum Kriterium des politischen Kampfes machte. Der Babouvismus ist eine Vorform des autoritären Kommunismus. - Aus marxistischer Sicht siehe: Katharina und Matthias Midell: Fran~ois Noi:1 Babeuf - Märtyrer der Gleichheit, Ost-Berlin 1988. 119 Cabet: Reise nach Ikarien, Anhang, S. 554 (J. Höppner/W. Seidel-Höppner: Von Babeufbis Blanqui, Bd. 1, Leipzig 1975). 120 Kar! Theodor Ferdinand Grün (1817-1887) war Schriftsteller. Als Linkshegelianer machte er den ,Mannheimer Morgen' - bei dem er ab 1842 Redakteur war - zum Organ des vormärzlichen politischen Radikalismus. 1844 emigrierte er über Belgien nach Paris, wo er sein wichtigstes Werk 1845 ,Die soziale Bewegung in Frankreich und Belgien' schrieb (Nachdruck: Hildesheim 1974). Grün wurde 1848 Mitglied des Preußischen Abgeordnetenhauses, lebte 1850-1861 in Brüssel, war ab 1862 Professor in Frankfurt und ab 1865 in Heidelberg, 1867 ging er nach Wien. 121 Karl Marx/Friedrich Engels: Die Deutsche Ideologie, in: Bücherei des MarxismusLeninismus, Bd. 29, Ost-Ber!in 1953. 122 Ebenda, S. 559-572. 123 Ebenda, S. 560.

364

4. Kap.: Die Irrtümer der Utopisten im 19. Jahrhundert

(oder Kommunismus) andererseits deutlich. Cabet gehört eindeutig zu den ,friedlichen' und nicht zu den revolutionären Utopisten. 3. Die Reise nach Ikarien '24 In der Vorrede Cabets zur deutschen Ausgabe von 1847 bemerkt er, daß die Deutschen - wie die Franzosen - vermöge ihres geselligen, gastlichen und edlen Charakters geeignet seien, in Brudertum und Gütergemeinschaft zu leben. In dieser Vorrede hebt Cabet hervor, daß er nur die friedlichgesetzliche Verbreitung seiner Prinzipien verfolge, nicht die gewaltsame revolutionäre - Form, um die Gütergemeinschaft zu verwirklichen. a) Der Aufbau und die Konzeption des utopischen Romans

Wie bei Thomas Morus - der Etienne Cabet maßgeblich beeinflußt hatist ,Die Reise nach Ikarien' der utopische Bericht über eine ferne Insel, der nach Voigt l15 in einer schönen und verlockenden Sprache geschrieben ist. Aber: "Vieles Neues bringt uns Cabet im übrigen nicht."126 Dieser utopische Roman ist wie folgt aufgebaut: Im ersten Teil (S. 1-284) werden in einundvierzig Kapiteln die Reise nach Ikarien, die Ankunft und die gesellschaftliche, wirtschaftliche, religiöse und staatliche Ordnung in einer ,schönen und verlockenden Sprache' beschrieben. Im zweiten Teil (S. 287-510) setzt sich Cabet in neunzehn Kapiteln mit den Einwürfen zu seiner Konzeption auseinander und widerlegt diese. Der dritte Teil ist der kürzeste (S. 511-525), er enthält einen ,Überblick des Ganzen'. Den drei Teilen ist der Aufruf zur Auswanderung nach Amerika im Jahre 1848 (S. 526-532) angefügt. Dieser utopische Roman ist noch in eine Liebesromanze eingekleidet. Die ,schöne Sprache' und die Liebesgeschichte erinnern an den Stil der ,Gartenlaube', die sich durch belehrende Beiträge sowie durch eine leichte und sentimentale Unterhaltung auszeichnete. Cabet urteilt in seinem Vorwort wie folgt '27 (S. XXV): "Es ist ein Roman, dieses 1~4 In der Übersetzung von 1847 (Nachdruck: Berlin-West 1979) wird als Übersetzer Dr. Wandel-Hipplar genannt. Es handelt sich um ein Pseudonym für Hermann Ewerbeck (1816-1860), der Anfang der 40er Jahre nach Paris emigrierte und dem Bund der Gerechten angehörte. Siehe Anhang zu Cabets .Reise nach Ikarien'. S. 572 f. 125 Voigt, S. 114 f. 126 Ebenda, S. 115. Gleicher Auffassung ist Liefmann. S. 19: .. Der Roman des Corsen Etienne Cabet, Voyage en Icarie, ist stark von Morus und Owen beeinflußt. enthält selbst kaum neue Gedanken, hat aber auf die französische Arbeiterschaft großen Eindruck gemacht." (Ohne Hervorhebungen im Original, Jk.). 127 Soweit aus dem Nachdruck der ,Reise nach Ikarien' zitiert wird. erfolgt die Seitenangabe im Text.

IV. Etienne Cabet und seine Reise nach Ikarien

365

Buch: aber zugleich handelt er über Ernstes: über Politik, Staatshaushalt, Sitten, Gesetze, Ehe, Philosophie und Moral". Wie noch darzulegen sein wird, sehen wir uns nicht in der Lage, den gesamten Roman zu referieren. Daher werden nur einige Beispiele gebracht, um dann die gescheiterten Realisierungsversuche zu beschreiben. In diesem utopischen Roman treten die folgenden, wichtigsten Personen auf: Lord William Carisdall entdeckte 1834 - der Roman ist in der Ich-Form geschrieben - in London ein Buch über das unbekannte Land Ikarien. Lord William lieh sich dieses Buch aus, begeisterte sich für Ikarien, stellte seine Verlobung zurück und verließ London am 22. Dezember 1835. Im Juni 1837 kehrte der Lord zurück, war krank und hatte nicht mehr lange zu leben. Sein Reisebuch war aber so interessant, daß er es der Veröffentlichung übergab. Am 24. April 1836 traf Lord William in der Hafenstadt Kamiris im Lande Marwoll ein, getrennt durch einen Meeresarm von Ikarien. Er begab sich zum ikarischen Konsul, der darauf hinwies, daß man in Ikarien weder kaufen noch verkaufen könne, da man keinen Handel treibe. Lord William zahlte 200 Guineen 128 für sich bzw. für seinen Begleiter und erhielt den Paß. Dieser Betrag stellte aber nicht die Gebühr für die Ausstellung des Passes dar, sondern deckte alle Kosten - einschließlich der Überfahrt - für vier Monate, denn so lange wollte sich der Lord in Ikarien aufhalten. "Ohne irgend einen Heller mehr zu zahlen, werden Sie, der Gast Ikarien's, auf die Dauer von vier Monaten allen Vergnügungen beiwohnen können, die Sie mit Ihrer Gegenwart beehren. Die ikarische Nation betrachtet Sie gewissermaßen als Mitbürger. Übrigens müssen Sie den Rest Ihres Geldes bei mir abgeben, da innerhalb des Reiches Geld nicht zirkuliert, nichts zu schachern ist" (S. 7). Auf einem schönen Schiff mit ausgesuchter Technik und Mannschaft erfolgte die Überfahrt, um in der Hafenstadt Tyrama zu landen. Dem Lord William wurde der junge Ikarier Walmor beigegeben, der ihn mit dem französischen Maler Eugen bekannt machte. Der Vater von Walmor hatte nicht nur eine hohe Stellung, sondern war auch zugleich Schlosser. Die Schwestern Walmors tragen die Namen Korilla und Celine und sind zwanzig bzw. achtzehn Jahre alt. "Seine jüngere Schwester Celine, mit Goldlocken, die über das zarte Gesicht von Lilien und Rosen auf die feinen Schultern niederringelten, glich einer Engländerin, und die ältere, Korilla, mit schwarzen strahlenden Augen, schien mir die Grazie und Lebendigkeit einer schönen Französin zu besitzen" (S. 25). Der Großvater besuchte 1784 im 128 Die Guinea war von 1663-1816 Hauptgoldmünze und wurde durch den Sovereign abgelöst. Die Guinea hielt sich aber als inoffizielle Rechnungseinheit bis in die neueste Zeit.

366

4. Kap.: Die Irrtümer der Utopisten im 19. Jahrhundert

Auftrage des großen Diktators (von Ikarien) England, das zwar reich und mächtig sei, aber auch viele Abscheulichkeiten - neben den reichen Aristokraten gibt es arme, verhungernde Menschen - anzutreffen sind. Dagegen kennt man in Ikarien keine Armen, keine Knechte, Mägde, Müßiggänger. "Der große Diktator hat unsre Nation von dieser Landplage befreit" (S. 27). Dinaros, ein Professor der Geschichte, wurde der Gesprächspartner des Lords, der ihm die Erläuterungen und Auskünfte über Ikarien gab. Dieser berichtete, daß Ikar der Diktator, die ikarische Revolution durchführte: Ikarien litt über Jahrhunderte unter den Eroberern, bösartigen Gebietern und schlechten Fürsten, die die arbeitende Klasse unterdrückten und das weibliche Geschlecht in das Elend stürzten. Über hunderte von Jahren sah man nichts als Mord, Ränke, Revolutionen, Thronwechsel und den gräßlichen Kampf zwischen den Reichen und Armen. Der alte Tyrann Korug wurde 1772 entthront und getötet, sein Sohn verbannt und die schöne Chloramide mit der Krone geschmückt. Diese junge Herrscherin war anfangs sehr beliebt, sanft und gut, geriet dann aber unter den Einfluß ihres ersten Ministers, des elenden Lirdor. Dieser letzte Despot wurde am 13. Juni 1782 nach einem schrecklichen Kampf, der zwei Tage dauerte, abgesetzt. "Die Nation erkor jetzt einen Diktator, und es traf sich glücklich, daß dieser einer der edelsten, trefflichsten Männer war, die je auf Erden gewandelt" (S. 39). Dieser Diktator wird geehrt und im Gedächtnis bewahrt, denn er ist der Befreier und Wohltäter des Vaterlandes. "Welch großartiger Mensch, dieser Ikar! rief der (d. h. Eugen, Jk.); vielleicht war's mehr als ein Mensch! Ikarien trägt mit Recht den unsterblichen Namen; es ist ja durch ihn glücklich geworden. Ach, hätte mein fernes Heimatland (d. h. Frankreich, Jk.) einen Ikar nach der Julirevolution gefunden!" (S. 40). Wie wir noch darlegen werden, hat Eugen in einem Brief an seinen Bruder Kamill Ikarien umfassend beschrieben. Diese kurze Beschreibung der Konzeption ,Der Reise nach Ikarien' macht deutlich, daß es sich um ein romantisches und zum Teil schwülstiges Epos handelt und das inhaltlich gegenüber Morus sowie Campanella nur wenig Neues enthält. Daher sollen nur einige ,Kostproben' folgen, um den Inhalt dieser Utopie zu charakterisieren. b) Die Hauptstadt [kara Nachdem der Lord William Carisdall in der Hafenstadt Tyrama angekommen war, wurde er in den Fremdenpalast - ein prachtvolles Gasthaus geleitet, wo jeder Gast ein besonderes Gemach erhielt. Ein Hofbeamter begrüßte alle Gäste und riet dem Lord, sofort in die Hauptstadt Ikara zu fahren. Ein mit sechs Pferden bespannter Wagen brachte ihn in Begleitung eines jungen Mannes - Walmor - zuerst nach Kamira, wo er ein Dampf-

IV. Etienne Cabet und seine Reise nach Ikarien

367

boot bestieg, um nach Ikara zu kommen. Die gesamte Reise erfolgte kostenlos. In Ikara gibt es zwei Riesenhotels, den Palast der Provinzen und den Palast der Ausländer, wo die Bürger Ikariens bzw. die des Auslandes wohnen. Die Hauptstadt Ikara wird im Norden und Süden durch die beiden Bergketten Mirol und Hagila begrenzt, im Osten durch einen Strom und im Westen durch einen Meeresarm. Ikarien ist in hundert Provinzen und jede Provinz in zehn Gemeinden eingeteilt: Die Hauptorte liegen in der Mitte der Provinz bzw. der Gemeinde. Der Grundriß von Ikara weist eine große Regelmäßigkeit auf und ist kreisrund; sie wurde nach 1782 erbaut. Die Stadt wird vom Fluß Tahir - bedeutet ,der Herrliche' - in zwei gleiche Teile geschnitten. Mitten im Fluß liegt eine Insel, auf der sich der Palast auf einem Hügel befindet. "Dieser Palast wird Ihnen selbst, obschon Sie wohl alle Prachtgebäude der Erde gesehen haben, unerwartet erscheinen, wenn Ihr Spaziergang Sie dorthin bringt. Gold, Silber, Juwelen, Kristalle und Gläser der herrlichsten Farben, köstliches Gestein und Holz, findet sich sowohl in seinem Inneren als an seinem Äußeren. Gestohlen wird bekanntlich hier zu Lande nicht. Wie sollte auch die Nation den eigenen Palast bestehlen? Oder haben Sie je von einem Privatmann gehört, der sich bestohlen?" (S. 19 f.). Bereits dieses Zitat macht deutlich, daß Gemeineigentum nicht gestohlen werde; ein Blick in die sozialistischen Länder belehrt uns vom Gegenteil. Fünfzig Straßen laufen parallel zum Fluß, fünfzig gehen senkrecht auf den Fluß zu. Einige Straßen haben Eisenschienen, andere hölzerne, steinerne oder gestampfte Gleise. Die Hauptstadt Ikara hat sechzig Stadtviertel, die nach bedeutenden Städten der alten und neuen Welt benannt sind. Zwischen den Häusern befinden sich schöne Gärten, zu denen alle Bürger Zutritt haben. Als Verkehrsmittel gibt es keine Droschken, sondern viele Omnibusse; jede Straße hat einen Omnibus, der Staragomi - Wagen für das Publikum - genannt wird, sie verkehren alle zwei Minuten. Diese Staragomi werden vori Pferden gezogen, die in einem besonderen Stadtviertel untergebracht sind. Auf der Insel im Fluß befindet sich das ,Große Haus des Volkes'. Auf diese Insel gelangt man mit einer Seilbahn, die Sagal - der Sprung - heißt. Bei seinem Besuch in der Familie Walmors erfuhr der Lord, daß es in Ikarien keine Armen gibt: "Freilich arbeiten wir alle, und sind glücklich, sind stolz darauf. Sehen Sie, mein Vater war einer der angesehensten, am höchsten gestellten Bürger dieses Landes, und meine Söhne könnten heute Freiherren, Grafen, Fürsten sein. Statt dessen ist der da Schlosser, ein anderer ist Buchdrucker, der dritte ist Baukünstler; Walmor wird Religionslehrer, sein Bruder ist Zimmermaler. Und unsere guten Mädchen, sehen Sie, haben jedes ein Handwerk erlernt, und dadurch hat weder die Bildung noch die Schönheit gelitten." (S. 27).

368

4. Kap.: Die Irrtümer der Utopisten im 19. Jahrhundert

c) Die politisch-gesellschaftliche Organisation Ikariens

Mit Eugen - dem Franzosen - besuchte Lord William die Nationaldruckerei. "Welch ein Anblick! Die alten Pyramiden Ägyptens habe ich gesehen, aber ich muß aufrichtig gestehen, diese Druckerei gefiel mir besser noch" (S. 30). Die Druckerei hatte Platz für fünftausend Arbeiter. Sämtliche zur Druckerei gehörenden Werkstätten befanden sich in einem Stadtviertel. In Ikarien gibt es keine Privatläden: Es ist eine der Wohltaten der Staatsorganisation, keine Privatläden zu dulden. Professor Dinaros berichtete, daß der Mensch nicht nur vernünftig, sondern auch fortschrittsfähig sei. "Die Ikarier sind der unerschütterlichen Überzeugung, kein wahres, kein wirkliches Glück könne bestehen ohne Gleichheit und ohne Vergesellschaftung, und so ist es denn dahin gekommen, daß wir eine Gesellschaft auf der Grundlage der völligen Gleichheit ausgebildet haben" (S. 34, ohne Hervorhebungen im Original, Jk.). Alle Bürger haben die gleichen Rechte und Pflichten, alle Lasten und Vorteile sind gleichmäßig verteilt. In Ikarien gibt es nicht nur eine vollkommene Gleichheit in der Gesellschaft, sondern auch der Grund und Boden, alle Bodenschätze und Gebäude sind Gesellschaftseigentum wie alle Produkte das Gesellschaftskapital bilden. Es handelt sich um eine vollständige Gütergemeinschaft. Entgegen der allgemeinen Auffassung ist sie durchaus funktionsfähig; denn die Produktion erfolgt gemeinsam, die Produkte werden in öffentlichen Magazinen gespeichert, alle werden ernährt, erhalten Wohnung und Kleidung auf Kosten des Gesellschaftskapitals. Alle Bürger genießen das Brot des Leibes und das Brot des Geistes. In der so organisierten Gesellschaft ist es nutzlos Geld zu haben, folglich wird auch nichts gekauft und verkauft. "Das ikarische Volk hat durch seine Gesetze Ordnung in die Ernährung, Kleidung, Wohnung zu bringen gewußt, in seine Arbeiten, in seine Erziehung, und in seine Vergnügungen" (S. 37). Die staatliche Organisation der ikarischen Republik ist wie folgt aufgebaut: Der Bürger überträgt einer Volksvertreterschaft die Macht, um die Konstitution und die Gesetze zu bilden. Dieses Parlament überträgt einem Ausführungscommite die Macht, die Gesetze zur Geltung zu bringen. Die Beamten sind die Beauftragten des gesamten Volkes, sie sind auf Zeit gewählt und absetzbar. Die Volksvertretung besteht aus zweitausend Deputierten, sie werden jährlich zur Hälfte erneuert. Der Vollziehungsausschuß besteht aus einem Präsidenten und fünfzehn Mitgliedern, die jährlich zur Hälfte gewählt werden, er ist der Volksvertretung untergeordnet. Das Volk übt in seinen Versammlungen alle Rechte aus, insbesondere das Wählen, das Beraten und das Urteilen. Das Land ist in zehn Provinzen und diese wiederum in jeweils zehn Gemeinden unterteilt. In diesen Gebietskörperschaften werden alle Angele-

IV. Etienne Cabet und seine Reise nach Ikarien

369

genheiten und Gesetze beraten. Dieses geschieht in aller Öffentlichkeit, und in der Nationalzeitung wird hierüber berichtet, die jeder Bürger erhält. Sowohl die Volksvertretung als auch die Gemeindeversammlungen bilden jeweils' fünfzehn Ausschüsse, um die Beratungen gründlich vorzunehmen. "Wir leben in einer Republik, in einer fast reinen Demokratie" (S. 38). d) Die Grundsätze der Republik

Eugen, der Franzose, der Lord William begleitete und zahlreiche Erläuterungen gab, schrieb einen langen Brief an seinen Bruder KamilI. Dieser gibt Auskunft über die musterhafte Insel Ikarien: Die Republik hat als ersten und letzten Grundsatz, als Mittelpunkt ihres Tuns aufgestellt: "Zuerst das Notwendige, hinterdrein das Nützliche, ganz zuletzt das Anmutige" (S. 41). Diese Grundsätze werden auch auf die Hauptstadt Ikara angewandt: Das Notwendige und Nützliche wird dadurch charakterisiert, daß die Stadt sauber ist, der Schmutz weggekehrt wird, die Flüssigkeiten in den Straßen in unterirdische Kanäle rinnen, die Werkstätten, Spitäler und Schlachthäuser außerhalb des Innenbereiches liegen. Die Bewohner werfen keinen U orat auf die Straße,jede Straße hat acht Geleise für die Wagen, Springbrunnen dienen dazu, um die Straßen zu waschen. Es gibt das Gesetz, daß dem Fußgänger keinen Unfall durch Wagen oder Pferde zustoßen soll. "Da die Kutscher sämtlich Arbeiter im Dienste des Staates sind, hat jeder von ihnen das Interesse, so wenig als möglich das Leben der Mitbürger zu gefährden" (S. 43). Bis drei Uhr nachmittags wird gearbeitet, in dieser Zeit zirkulieren die Transportfuhren. Die zum Transportieren eingesetzten Hunde sind groß, schön und gepflegt. Die Straßen und Häuser sind im besten Zustand und beleuchtet, die Fußgänger sind gegen das Wetter geschützt, so daß man bei schönem Wetter durch die Gärten und bei schlechtem auf den geschützten Bürgersteigen gehen kann. Es gibt keine privaten Läden, dafür aber republikanische Magazine; dieses gilt auch für die Werkstätten. "Ebenfalls versteht sich, nach dem was du bereits gelesen, daß Ikarien's Hauptstadt weder Kneipen noch Kaffeesäle, weder Börsengebäude noch Spielehäuser und Lotterien, weder Bordelle noch Kasernen und Wachthäuser, weder Polizei und Spione noch Gendarmen, weder Trunkenbolde noch Bettler kennt" (S.44). Im Anmutigen drückt sich die Mannigfaltigkeit '-- die stete Gefährtin der Gleichheit - aus: Alle Häuser sind ähnlich, aber jede Straße hat ihren eigenen Stil, aber nirgends gibt es ein verrottetes Haus. Ikara, die herrlichste der Städte, wird durch zahlreiche Monumente, Säulen, Bogengänge, Siegesbogen, Spring24 Jenkis

370

4. Kap.: Die Irrtümer der Utopisten im 19. Jahrhundert

brunnen, Promenaden und Tore geschmückt. Kein Monument gleicht dem anderen; das Volk kann auf den Promenaden, in den Gärten und in den Säulenhallen die edle Kunst genießen. Die ikarische Kunst ist höher als in anderen Ländern, denn die Republik läßt die besten Künstler aus Liebe zur Kunst und nicht um des Gewinnes willen arbeiten. Kein Maler muß sein Genie einsetzen, um seinen Geist auf dumme oder verwerfliche Gegenstände zu verwenden. "Aristokratische Paläste finden sich nicht hier. Auch nicht Equipagen. Auch nicht Gefängnisse. Auch nicht Armenhäuser. Aber Paläste groß und schön, ja größer, schöner als kaiserliche, sind die Schulen, die Versammlungshallen, die Spitäler; das sind die republikanischen Volkspaläste" (S. 45). Hier endet Eugens Brief an seinen Bruder Kamill in Frankreich. Dieser Brief wird dann später fortgesetzt. e) Der Alltag in Ikarien

Nachdem dieser Brief beendet war, besuchte Lord Carisdall die Nationalbäckerei, die mit den modernsten Maschinen ausgerüstet ist und nicht die gesundheitlichen Schäden verursacht, wie das noch in Europa üblich ist. Bei diesem Ausgang gelangte man zu den Promenaden: Die Promenaden bilden mit ihrem Rasen, Bäumen, Bächen, Teichen und Springbrunnen, Wasserfällen, Grotten usw. einen prächtigen Anblick. Auf einem Teil der Promenade ritten Männer und Frauen, Kinder und Alte auf zierlich und zweckdienlich geschirrten Pferden. Jede Stadt unterhält tausend Sattelpferde, die Hauptstadt nicht weniger als sechzigtausend. Jede Familie kann in zehn Tagen einmal ausreiten. Auf die Pferdezucht legt man einen besonders großen Wert. Wie bei den Menschen, so tut auch bei den Pferden die Erziehung viel Gutes. So ist das ikarische Pferd besser und geschickter geworden als in den anderen Ländern. In seinem Brief Eugen's an seinen Bruder Kamill setzt er die Beschreibung der Versorgung mit Nahrung, Kleidung und Wohnung fort. In Ikarien hat man die Verteilung der Nahrungsmittel auf das Gerechteste geregelt und den Zufall besiegt; denn durch Gesetz wird bestimmt, welche Nahrungsmittel gut bzw. schlecht sind. Auch hier gilt der Grundsatz: Zuerst das Notwendige, dann das Nützliche und zuletzt das Angenehme. Um diesen Grundsatz zu verwirklichen, gibt es ein ikarisches Kochbuch, das jede Familie besitzt. "Kein Mensch beklagt sich, er komme zu kurz. Keiner aber kann auch prassen, oder geizig aufwuchern und speichern, denn alles Aufspeichern geschieht lediglich durch die Gemeinschaft in den Nationalmagazinen, zufolge besonderer Nationalgesetze" (S. 53). Um sechs Uhr nehmen alle Arbeiter gemeinschaftlich im Speisesaal des Stadtviertels einen

IV. Etienne Cabet und seine Reise nach Ikarien

371

leichten Morgenimbiß ein, um neun Uhr wird gefrühstückt, um zwei Uhr Mittag gegessen und um neun oder zehn verzehren die Familien ihr Abendbrot zu Hause. "Das Mahl beginnt meist mit einem Toast auf die Gemeinschaft, auf die Gründer derselben, ins besonders auf Ikar, den Befreier und Wohltäter" (S. 54). Durchschnittlich speisen zweitausend Menschen gemeinsam. Am zehnten Tag der ikarischen Woche - dem ikarischen Sonntagißt man in der Familie oder mit Freunden. Die Verteilung der Nahrungsmittel erfolgt auf eine einfache Weise: Im Magazin steht für jede Familie ein Korb sowie ein Maß mit Hausnummer und Straßenname. In dieses Maß werden die zugeteilten Nahrungsmittel gegeben, die die Austeiler zu den Häusern und in einer Nische abstellen. Wie mit der Nahrung, so geht es auch mit der Kleidung: Kein Ikarier wünscht sich ein unordentliches Leben, einmal zur Ordnung, Selbständigkeit und zur Selbstherrschaft angeregt, wird alles und jedes diesem Gesetz anheimgestellt. Von einem Komitee werden die Vor- und Nachteile der Kleidungen aller Länder geprüft und in einem Buch zusammengefaßt, in dem die Nützlichkeit, die Notwendigkeit und die Annehmlichkeiten dargestellt werden. Allein der Republik obliegt die Fertigung und die Verteilung der Kleider; Geschmacklosigkeiten sind verbannt, folglich ist die ikarische Kleidung an Form, Farbe und Zeichnung die angenehmste, die es gibt. "Das weibliche Geschlecht, bester Kamill, genießt überhaupt in diesem glücklichen Lande Auszeichnungen, Achtungsbezeugungen, wie es sie im übrigen Teil der Welt noch vergeblich sucht. Es ist der stete, zarte Gegenstand der feinen und ernsten Huldigungen seitens der männlichen Bewohner Ikarien's. Man möchte sagen, die ikarischen Männer erheben und verherrlichen ihre Mitbürgerinnen, um mit um so reicherem Genuß sie anbeten zu können" (S. 56). Zwar trägt jeder dieselbe Kleidung, der Schönheitssinn der Individuen verhindert aber die Einförmigkeit und Langeweile. Es sind dies Uniformen, die aber weit von der Einförmigkeit entfernt sind, zumal die Kleidung für die Arbeit, die Muße, die Festlichkeit, die feine Gesellschaft oder die öffentliche Versammlung verschieden ist. Da die Kleidungsstücke elastisch sind, passen sie im Notfall verschiedenen Personen. "Auch ist die lächerliche Erscheinung, die man Mode heißt, verschwunden. Jede Familie wählt im Magazin was sie brauc,ht und was ihr zusagt. Das Magazin führt Buch über jede Familie und schickt ihr in's Haus, was sie sich gewählt hat und was ihr zukommt" (S. 58). Die Arbeitswelt wird durch einen Besuch in einer Uhrmacherei - einer riesigen Werkstatt - beschrieben: Ein Viertel vor sechs Uhr morgens treffen die Arbeiter ein, wechseln ihre Stadtkleider, gehen um sechs Uhr für zwanzig Minuten in den Speisesaal und frühstücken; während die anderen zuhören, liest einer das Morgenblatt vor. Um zwei Uhr begibt man sich nach Hause. "Während zweier Stunden sprechen wir nichts und beobachten ein völliges 24'

372

4. Kap.: Die Irrtümer der Utopisten im 19. Jahrhundert

Schweigen; aber während zwei folgender Stunden wird gesprochen, und während der zwei letzten wird gewöhnlich gesungen, oft im Chor" (S. 59). Eugen machte den Vorschlag, eine ihm bekannte Familie zu besuchen. Bei dieser Gelegenheit konnte Lord William die ikarische Wohnung kennenlernen: Nach Prüfung aller Grundrisse und Untersuchung aller Bauarten hatte der Ikar ein mustergültiges Haus entworfen, in dem das Notwendige, das Nützliche und das Angenehme vereint waren. Jedes Haus hat - außer dem Erdgeschoß - vier Stockwerke mit drei, vier oder fünf Fenstern zur Front. Mit der Hilfe von Maschinen werden alle Güter aus dem Keller in die Küche oder andere Gemächer gehoben. Zu ebener Erde befinden sich keine Läden, Ställe, Wagengelasse usw., sondern die Küche und der Speisesaal sowie ein kleines Sprechzimmer; im ersten Stock der Salon mit Musikinstrumenten; Schlafzimmer und Zimmer für den sonstigen Bedarf füllen den Rest des Hauses. "Als nicht unwert der Erwähnung betrachte ich den Umstand, daß es eine Ikarierin war, die den Preis erhalten, den das Wohnungscomite auf die beste Einrichtung der Abtritte gesetzt hatte; es ist dies in der Tat ein Gegenstand, für den die Gesundheitspolizei ihr ernstes Wort in unseren Ländern mitreden sollte; - ja sollte. Und es bleibt beim Sollen! - Die kleine Bildsäule der Erfinderin ist in jedem Hause; die Republik hätte es für unwürdig gehalten, einen wahrhaften Dienst um die allgemeine Gesundheit nicht durch die besondere Zuerkennung eines Nationalbildnisses zu belohnen" (S. 62 f., ohne Hervorhebungen im Original, Jk.). Aber auch die Männer tun alles, um die Alltagsarbeiten zu erleichtern, dieses gilt auch für die Republik. Das Nationalschlachthaus, die Nationalküche und die Nationalwäscherei nehmen den Ikarierinnen den schwersten Teil der Haushaltsarbeiten ab. Folglich lebt kein Weib im weiten ikarischen Reich, das nicht täglich in offener heiterer Rede und mit Gesang der erhabensten Republik froh und freudig gedenkt. Jede Familie hat ein Haus für sich. Für Familien unter zwölf Personen haben die Häuser drei, vier oder fünf Fenster, für Familien mit vierzig Personen fünfundzwanzig Fenster. Ist eine Familie noch größer - was oft der Fall ist -, dann werden zwei Häuser zusammengefaßt. Hierüber gibt es keinen Streit, da alle Gebäude gleich gut gebaut sind. Und sollte einmal ein Streit entstehen, dann schlichtet die Behörde und man gehorcht ohne Murren. Auch die Möblierung vereinigt die Forderungen des Notwendigen, des Nützlichen und des Anmutigen. Daher ist jedes Möbel gesetzlich bestimmt. Die Auswahl erfolgte unter den eingereichten Modellen, so daß nunmehr Nutzen, Schönheit, Bequemlichkeit und Geschmack vereint sind. Trotz aller Gleichheit ist eine große Mannigfaltigkeit vorhanden.

IV. Etienne Cabet und seine Reise nach Ikarien

373

f) Die Erziehung

Ohne Kenntnis der ikarischen Erziehung - so Professor Dinaros - bleibt Ikarien ein Rätsel mit sieben Siegeln: Nach Prüfung aller Erziehungssyste~e wurden die Erziehungsformen gesetzlich geregelt. Alle Einwohner genießen eine allgemeine Elementarerziehung, darauf baut sich dann die besondere, die individuelle oder wissenschaftliche Erziehung auf. Grundlage für die Erziehung ist die Zucht und damit die physische Erziehung. Entscheidend ist, "daß der Mensch ein viel bildungsfähigeres Wesen ist, als die Europäer meinen" (S. 69), d. h., der Mensch ist durchaus in der Lage, seine Unvollkommenheit abzuwerfen. Während der ersten fünf Lebensjahre erfreut sich jedes Kind der mütterlichen Fürsorge. Wird ein verunstaltetes Kind geboren, so wird Dank der Fürsorge der Republik und der medizinischen Kunst der Fehlgriff der Natur korrigiert. Professor Dinaros versichert dem Lord, daß "unsre Nation in jeglicher Geburtenreihe schöner und stärker an Leib und Geist (wird); wir können, in vollem Ernst gesprochen, eine Veredlung unsrer Rasse wahrnehmen; und wir sind froh und stolz darauf, denn wer ist's, der den Anstoß dazu gab! Wir, die ikarische Nation, mit dem großen Ikar an ihrer Spitze!" (S. 70, ohne Hervorhebungen im Original, Jk.). Vom fünften bis zum siebzehnten oder achtzehnten Lebensjahr dauert die allgemein Erziehung: Um fünf Uhr steht die Familie auf, um neun Uhr beginnt die Schule, die bis sechs Uhr dauert; in der Schule werden zwei Mahlzeiten gereicht. Es wird nicht nur die Landessprache, sondern es werden auch Fremdsprachen, Malerei, Musik, Geometrie, Arithmetik usw. gelehrt bzw. gelernt. Es kommt immer darauf an, wie man einen jungen Menschen anpackt; denn: "Verhunzt die Erziehung die Kinder, so geht die Nation bergab" (S. 73). Für die Mädchen beginnt mit siebzehn und für die Jünglinge mit achtzehn die professionelle - sowohl theoretisch als auch praktisch - Erziehung. Diese geht bis zum zwanzigsten oder einundzwanzigsten Lebensjahr, schließt aber nicht aus, daß die Fortbildung freiwillig weitergeführt wird. Neben der physischen und intellektuellen Erziehung gibt es noch die moralische Bildung: Diese beginnt unter der Obhut der Mutter. Es wird auf strengen Gehorsam Wert gelegt, den man fast blinden Gehorsam nennen könnte. "Der Vater lehrt dem Kinde, die Mutter verehren, und umgekehrt. So kommt es, daß unsre Kinder ihre Eltern als ihre Gottheit betrachten" (S. 76). Die Schule ist ein Schulpalast. Es herrscht die Koedukation, hierbei wird darauf geachtet, daß die Knaben die Mädchen achten. In einem Gesang wird der Ikar gelobt, so werden bereits die Kinder an die Dankbarkeit gewöhnt. Da alles dem Gleichheits- und Bruderschaftsprinzip untergeordnet ist, gibt es keine Zensuren und auch keine Belohnungen. In Ikarien gibt es keine

374

4. Kap.: Die Irrtümer der Utopisten im 19. Jahrhundert

Faulenzer, sollte sich einer einmal finden, dann wird dieser nicht kritisiert oder gepeinigt, sondern die Lehrer gehen mit ihm milde um. " .. .ich kann Ihnen versichern, wir haben auch keine Unfähigen, keine Dummköpfe, keine Zerstreuten, und sollte sich einmal so ein kleiner Unglücklicher unter unseren Schülern finden, nun dann wenden wir Alles daran, durch Geduld und Eifer seine Unfähigkeit in Fähigkeit zu verwandeln, und die betrübliche Ungerechtigkeit wieder gut zu machen, welche die Natur gegen ihn, sozusagen, begangen hat" (S. 80). Es gibt wenig zu strafen, sofern überhaupt, besteht diese im öffentlichen Tadel, im Ausschließen von gewissen Vergnügungen und Studien. Jeder Einwohner besucht zwölf Jahre einen Lehrgang der Moral, um seine Pflichten zu ergründen, alle Tugenden zu entwickeln sowie die Untugenden und Laster zu unterdrücken. Jedes ikarische Kind beachtet und befolgt sittliche Handlungen, es lügt nicht. Warum sollten die Kinder auch lügen, denn die Republik macht sie glücklich und aus Spaß wird man nicht lügen. Die Bürgererziehung besteht im Studium der Pflichten und Rechte der Bürger sowie der Behörden. Obgleich im Inland Frieden herrscht und auch von außen kein Krieg befürchtet wird, sind sämtliche Bürger Mitglieder der Bürger- und Landwehr. Dieses ist kein nutzloses Soldatenspielen, sondern ein Abschluß der republikanischen Bürgererziehung. Mit einundzwanzig Jahren wird der Jüngling Staatsbürger. Angesichts dieser Erziehung können Verbrechen nicht vorkommen; Diebstahl ist nicht möglich, da es kein Geld gibt. Außerdem hat jeder, was er braucht und was er wünscht. Man müßte verrückt sein, noch zu stehlen, Brandstiftung, Vergiftung sowie Mord sind unmöglich, da der Diebstahl unmöglich ist. "Sie sehen, werter Gastfreund, setzte der Professor (Dinaros, Jk.) hinzu, die Gütergemeinschajtlichkeit ist selbst im Stande, die moralische Seite im Menschen zu veredeln und zu kräftigen; sie zernichtet gründlichst Laster und Verbrechen" (S. 86, Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). g) Überblick über das Ganze

Es erscheint in diesem Zusammenhang unmöglich, die weiteren rund 30 Kapitel des ersten Teiles und die neunzehn Kapitel des zweiten Teiles auch nur annähernd zu skizzieren. Da es sich letztlich um eine phantastische Ausschmückung von Ikarien handelt, die nichts mit der realen Welt gemein hat, soll diese Beschreibung hier abgebrochen werden. Aus dem dritten Teil (S. 511-525), der den Überblick über das Ganze enthält, soll eine knappe Zusammenfassung dieses utopischen Romans gegeben werden. Etienne Cabet berichtet, daß er während seines Exils in London ,Utopia' von Thomas Morus las, dessen Hauptidee ihn ergriff, aber auch zugleich

IV. Etienne Cabet und seine Reise nach Ikarien

375

Mängel aufwies. So befaßte er sich mit den gütergemeinschaftlichen Prinzipien und gelangte zum Ergebnis, daß diese nicht nur möglich, sondern sogar leicht möglich seien. Folglich entwarf sich Cabet einen Gütergemeinschaftsplan: Der junge Ikarier Walmor beschreibt diesen wie folgt: "Ich habe Ihnen bereits mitgeteilt, daß wir in Gemeinschaft der Güter und der Arbeiten leben, in Gemeinschaft der Pflichten und Rechte, in Gemeinschaft der Lasten und der Fruchtnießung. Die Ikarier haben weder sogenanntes Privateigentum noch Geld, weder Kauf noch Verkauf' (S. 89). Der Republik gehören die Erzeugnisse des Bodens und des Fleißes, um sie gleichmäßig zu verteilen; denn: " ... sie nährt, kleidet, behauset uns; sie bildet unseren Geist aus, sie stärkt unsern Körper; sie gibt Jedem was ihm Not tut" (S. 89). Der Staatszweck besteht darin, glücklich zu sein und glücklich zu machen. Daher bestimmt auch der Staat, was jährlich an Nahrung, Wohnung und Kleidung produziert wird. Da der Staat Herr über alles ist und keine Ausgaben scheut, glänzen seine Unternehmungen mit großen Erfolgen. Ursprünglich - in der alten Gesellschaft - mußte man achtzehn Stunden arbeiten, jetzt aber arbeitet man im Sommer sieben und im Winter nur noch sechs Stunden täglich. Cabet setzt sich mit den Argumenten auseinander, die gegen seine Theorien vorgebracht werden könnten: Warum - so fragt er - sollte sich die öffentliche Meinung gegen eine philosophische Wahrheit auflehnen, die danach trachtet, ein Heilmittel für die Menschheit zu finden? Er ist von seinen utopischen Vorstellungen voll und ganz überzeugt, denn das Volk würde ihn nicht verlassen. Und der Vorschlag, er sollte nicht einen Roman, sondern ein philosophisches Werk schreiben, beantwortet er wie folgt: " ...ja, ich zeichne einen Roman, um in ihm und durch ihn ein philosophischgesellschaftlich-staatliches System zu geben, weil ich weiß, daß diese unbefangene Form allen Leuten verständlich sein wird. Ich begehre nicht nach Ruhm, lediglich für Gelehrte zu schreiben ... Der Inhalt ist ein doppelter: teils Prinzip, teils Nebynstück" (S. 514). Nachdem sich Cabet mit den Argumenten gegen seinen utopischen Roman auseinandergesetzt hat, nennt er die Grundsätze der Gemeinschaftslehre: Die natürlichen oder göttlichen Rechte sind diejenigen, die die Natur oder die Gottheit gewährt hat; die gesellschaftlichen oder menschlichen Rechte sind diejenigen~ die die Gesellschaft den Menschen gewährt. Das natürliche Recht besteht darin, vor allem zu leben und seine sämtlichen leiblichen und geistigen Kräfte zu betätigen. Alle Menschen haben das gleiche Naturrecht, denn ein Mensch ist so gut wie ein anderer Mensch. Die natürliche Gleichheit ist der Ausspruch der Vernunft, daß jedem sein Lebensanteil gebührt, d. h., daß keiner Überflüssiges an sich reißen darf, da dieser Diebstahl zum Nachteil anderer wäre. "Was ist die Gesellschaft? - Sie ist die Gegenseitig-

376

4. Kap.: Die Irrtümer der Utopisten im 19. Jahrhundert

keit aller Menschen und beruht auf Freiwilligkeit. Daher darf es in ihr nicht Herren und Knechte, nicht Plünderer und nicht Geplünderte, nicht Scheerer und Geschorene, nicht Schinder und Geschundene, nicht Betrüger und Betrogene geben. Kurz, die Gesellschaft darf nicht einer Herde gleichen, die den Hirten unterworfen ist" (S. 516). Die sogenannten zivilisierten Gesellschaften sind ganz erbärmlich organisiert; denn die Armenklasse befindet sich im Elend. Aber auch die Reichen haben nichts von dieser Gesellschaft, da sie unmenschlich gegeneinander sind. Das Heilmittel gegen diesen allgemeinen Leidenszustand ist die Gemeinschaft, in der das Einzelinteresse mit dem Allgemeininteresse zusammenwächst. Der Wahlspruch sei: "Alle für Einen und Einer für Alle; dies heißt die Solidarität, und ist der schnurstracke Gegensatz zum Individualismus oder zur Vereinzelung und Zersplitterung, die wir heute erleben" (S. 517, Hervorhebung zum Teil abweichend vom Original, Jk.).

In der Gemeinschaft arbeitet jeder die gleiche Stundenzahl, nach seinen Fähigkeiten und genießt den gleichen Anteil an den Erzeugnissen, und zwar nach seinem Bedarf. Die Arbeit gilt als öffentliches Amt. Amt und Arbeit gelten als Abgabe an das Ganze; weitere Abgaben gibt es nicht. Nahrung, Kleidung und Wohnung werden hinreichend von den öffentlichen Arbeitsanstalten zur Verfügung gestellt. Der Hauptsatz der Staatlichkeit lautet: "Alles für und durch das Volk und nichts ohne das Volk" (S. 518). Cabet wirft die Frage auf, ob durch einen Sprung, d. h. ohne Vorbereitung, der Übergang in diese Gemeinschaft möglich ist. Er verneint dieses und fordert einen allmählichen Übergang, der dreißig bis hundert Jahre dauert, da ein plötzlicher Umsturz die Besitzenden zur Verzweiflung und Empörung treiben würde. Dieser langsame Weg ist einmal deshalb notwendig, um in mehreren Generationen durch Erziehung die Menschen zu bilden, zum anderen aber auch deshalb, weil die bestehende Regierung Macht besitzt und somit einen Umsturz gewaltsam verhindern kann, wie es mit Babeuf geschehen ist. "Ich wiederhole: ich weise im wohlverstandenen Interesse des Volkes die Gewaltsamkeit von der Hand" (S. 520). Auch Christus hat nicht den Mord der Reichen, sondern deren Bekehrung gepredigt. Durch mündliche und schriftliche Aufklärung soll man die Machthaber und die Reichen für die Gemeinschaft gewinnen. Keine Verschwörungen und auch keine stückweisen Verwirklichungsversuche; denn wenn diese fehlschlagen, dann leidet die ganze Sache darunter. "Die Zukunft der Welt gehört der Gemeinschaft, habt also Vertrauen. Meine Überzeugung in die Wirksamkeit des friedlichen Verfahrens ist so stark, daß ich, hätte ich eine Revolution in der Hand, doch die Hand nicht aufmachen würde, und sollte ich darüber in der Verbannung sterben. Das sind meine Grundsätze" (S. 522 f.).

IV. Etienne Cabet und seine Reise nach Ikarien

377

4. Die gescheiterten Realisierungsversuche

Dieser unvollständige Überblick über Cabets ,Reise nach Ikarien' macht ein mehrfaches deutlich: Wie sein Vorbild Thomas Morus verlegt Etienne Cabet sein Ideal einer vollkommenen Gesellschaft auf eine ferne Insel. Im Gegensatz zu anderen Utopisten erscheint diese nicht in einem Nebel, sondern er macht - zumindest hinsichtlich des Zeitablaufes - konkrete Angaben. Auch bei Cabet wird das Privateigentum durch das Gemeinschaftseigentum ersetzt, das die Menschen in friedliche, gleichberechtigte, fleißige und glückliche Wesen verwandelt. Besonders hervorzuheben ist, daß Cabet seine kommunistische Gesellschaftsordnung nicht durch einen Umsturz, sondern allmählich - in dreißig bis hundert Jahren - einführen und auch keine Diktatur errichten will; er ist ein demokratischer Kommunist. Thomas Morus beendet seine ,Utopia' mit dem Satz: "Freilich ist das mehr Wunsch als Hoffnung". Ganz anders Etienne Cabet: Dieser hat 1848 zur großen Auswanderung nach Amerika aufgerufen, dann an der Verwirklichung in den Vereinigten Staaten mitgewirkt und ist schließlich gescheitert. Cabet hat in seinem Journal ,Der Populär' am 9. und 16. Mai 1847 zwei Aufrufe erlassen 129 : Im ersten Aufruf geht es um die ,Abwendung der Verfolgung' und der zweite ist mit ,Arbeiter, auf nach Ikarien!' überschrieben. In einer Vorbemerkung weist Cabet darauf hin, daß der ikarische Kommunismus durch die friedfertige Vorbereitung, die Belehrung, die Diskussion und die Überzeugung eingeführt werden soll, ein Verstoß gegen die Gesetze ist nicht vorgesehen. Dennoch wird er von der Staatsgewalt verfolgt. Diese Verfolgung sowie die fehlende Möglichkeit der Gründung kommunistischer Gemeinschaften in der bestehenden Gesellschaftsordnung haben ihn bewogen, eine Auswanderung in einem großen Maßstab vorzuschlagen, um in Nordamerika eine ikarische Gütergemeinschaft zu schaffen. Daher die beiden Aufrufe. a) Der Aufruf zur Auswanderung nach Amerika

Jesus hat seinen Aposteln gesagt: "Wenn man euch in der einen Stadt verfolgt, so begebt euch in eine andere". Da wir - die Anhänger Ikariens in Frankreich der Unterdrückung ausgesetzt sind, laßt uns nach Ikarien ziehen. Im ersten Aufruf erklingt die Forderung: "Nach Ikarien, Brüder, nach Ikarien!" (S. 526). 129 Abgedruckt in Cabets ,Reise nach Ikarien', S. 526-532 (die Seitenangabe der Zitate erfolgt im Text).

378

4. Kap.: Die Irrtümer der Utopisten im 19. Jahrhundert

Weil wir hier ohne Arbeit und Brot sind, laßt uns anderswo Menschenwürde, Bürgerrechte, Freiheit und Gleichheit suchen. Im neuen Paradies, in einem gelobten Land wollen wir Arbeit und Überfluß erringen. "Gleich den Kreuzfahrern, pilgern wir in ein heiliges Land, aber nicht um dort ein altes Grab zu erobern, sondern um die junge Wiege eines neuen Jerusalem, eines vollkommenen Staates zu gründen. Neue Weltumsegler, wollen wir eine neue Welt entdecken, ein Reich göttlicher Gerechtigkeit" (S. 527, Hervorhebungen abweichend vom Original, Jk.). Das Elend und die Freiheitsliebe treibt Kolonisten nach Amerika; wir wollen dort die Vorkämpfer der Menschheit sein und eine Heimat der Freiheit und Gleichheit erbauen. Die Zeit ist günstig. Wir beabsichtigen keine kleine Auswanderung, keinen Versuch im Kleinen, denn es dürfte zehn- bis zwanzigtausend reisefertige Ikarier geben. Bald werden es Hunderttausend oder sogar eine Million sein. Es wird nicht eine Schar ideenloser Personen sein, sondern auserlesene und geprüfte Leute, ausgewählt wie die ersten Christen. "In Ikarien ist nichts dem Zufalle anheim gestellt; Vernunft leitet dort alles und jegliches. Daraus werden (es kann nicht fehlen!) Wunder entspringen; jeder Mensch wird nur nach seinen Kräften und Fähigkeiten zu arbeiten, nur nach seinen Bedürfnissen zu genießen haben" (S. 528). Auch hier gilt der Grundsatz: Zuerst das Notwendige, dann das Nützliche und ganz zuletzt das Anmutige. Es wird von vornherein die Vollkommenheit erstrebt: Auf die alte Gesellschaft kann man nicht eine neue aufpfropfen, aber drüben brauchen wir keine Rücksichten zu nehmen und Hemmnisse zu überwinden, so daß wir die Spitze der Vollkommenheit erstreben und erreichen werden. "Drüben aber fangt die Gütergemeinschaft auf der Stelle an, von der ersten Stunde, und binnen zwanzig Jahren sind alle Bewohner unstreitig gebildete Kommunisten, und der Kommunismus steht alsdann in voller Stärke und Schönheit da" (S. 528). Man gebe uns hunderttausend Kinder und tüchtige kommunistische Lehrer, Erzieher und Aufseher werden der Menschheit zeigen, was menschlicher Verstand und menschliches Herz daraus zu machen vermag. In Europa sagt man, der Kommunismus - ohne Privateigentum und ohne Wettbewerb - führe zur Sklaverei, Langeweile, Elend und Roheit. Wir bestreiten dieses. Damit man diesen Streit nicht endlos fortsetzen kann, wollen wir nach Amerika, um dort zu zeigen, was die Gütergemeinschaft wert ist. Unsere Widersacher werden sich dann von unseren Erfolgen überzeugen lassen. Drüben wird niemand glücklicher sein als der andere, aber auch niemand unglücklicher. Cabet schließt seinen ersten Aufruf mit den Worten: "Man schilt uns Träumer und Utopisten; wohlan, Ikarier, laßt uns einen Zustand gründen, der kein Traum, keine Utopie ist, und wodurch unsre Gegner verstummen. Eine neue große Zeit fangt jetzt für den Kommunismus an; für die Demokratie,

IV. Etienne Cabet und seine Reise nach Ikarien

379

für die Menschheit; gewaltige Diskussionen wird man führen, Studien, Untersuchungen, Schriften werden entstehen; der Populär, dies Journal, worin alle Bewegungen dieser Art Berichterstattung finden sollen, wird ein erhöhtes Interesse erwecken" (S. 530, Hervorhebung abweichend vom Original, Jk.). Der zweite Aufruf ist mit ,Arbeiter, auf nach Ikarien!' überschrieben. Cabet weist darauf hin, daß die Proletarier in schmutzigen Lumpen wandeln, an Geist und im Magen Hunger leiden. Das ganze Leben besteht aus Arbeit, voll Gefahren, voll Ekel, ohne genügenden Lohn mit Arbeitslosigkeit, Schulden, Krankheiten usw. Dicht daneben leben und prassen die Meister und Gebieter: Sie finden alles was sie brauchen, um nicht zu arbeiten und trotzdem zu genießen. "Blickt nach Ikarien in Amerika; dort wird das Proletariat nicht mehr vorhanden sein, ebensowenig schwelgende Reiche. Dort sind alle Bürger die Besitzer des allgemeinen, gesellschaftlichen, nationalen und nicht zu teilenden Eigentums; also ist Armut drüben nicht möglich ... Folglich gibt es keine Ausbeuter, keine Auspresser, keine Aussauger dort" (S. 531). In Amerika wird es keine Aristokratie und keine Ungleichheiten geben, es wird die reine, die ganz reine Demokratie herrschen; so sind alle gleichmäßig beglückt. Da es nur Arbeitende gibt, werden auch nur diese herrschen, die sich im eigenen und wohlverstandenen Interesse erziehen. "Arbeiter! zaudert nicht; heute seid ihr noch geknebelt, getreten, gefesselt; Achtung hat Niemand vor euch, und ihr habt weder Brot noch Arbeit noch Bedarf. Laßt uns dorthin gehen, wo dieses Elend nicht mehr sein wird, nach Ikarien!" (S. 531). Diesen zweiten Aufruf beschloß Cabet mit einigen technischen Hinweisen: Die Auswanderung wird ohne Zögern organisiert und steht unter der Leitung von Cabet. Zur Auswanderung werden nur tüchtige und würdige Personen zugelassen, die mindestens 600 Franken mitbringen; Franzosen und Ausländer werden akzeptiert. Die Kolonisation soll im nordwestlichen Teil von Texas erfolgen. Ein Agent ist am 2. Dezember 1847 dorthin abgereist, eine Kommission von dreißig bis vierzig Mitgliedern folgt in der Zeit vom 27. bis 31. Januar 1848, sechshundert Personen im März 1848. Der erste große Zug mit Frauen und Kindern folgte dann Ende September 1848. b) Das gescheiterte Ikarien in Amerika 130

Im 19. Jahrhundert gab es in den Vereinigten Staaten von Amerika drei große sozialistische Siedlungsbewegungen, die eine unterschiedliche Lebensdauer hatten: 131 130 131

Wir folgen Schempp, S. 100-105; Tugan- Baranowsky, S. 37-43, Liefmann, S. 19-20. Schempp, S. 100.

380

4. Kap.: Die Irrtümer der Utopisten im 19. Jahrhundert

(1) Die Siedlungen Owens: Sie hatten nur eine kurze Lebensdauer, nämlich nur fünf Jahre (1825-1830). (2) Die Phalangen Fouriers: Diese bestanden 16 Jahre (1842-1858). (3) Die kommunistischen Kolonien Cabets: Diese umfaßten sechs Siedlungen, die nur durch die Spaltung der vorhergehenden Kolonien entstanden, sie dauerten aber insgesamt fünfzig Jahre (1848-1898).

Cabet hat - wie dargelegt - eine vorschnelle Verwirklichung seiner Ideen abgelehnt; für die Umgestaltung der bestehenden Gesellschaft in eine kommunistische rechnete er mit einer Übergangszeit von dreißig bis hundert Jahren. Aber Cabet mußte dem Drängen seiner zahlreichen Anhänger nachgeben 132 , die in ihrer Begeisterung eine sofortige Verwirklichung dieser Ideen forderten. Im Februar 1848 fuhr der erste Voraus trupp mit 60 Mitgliedern nach Texas, um Land zu erwerben und um darauf eine Siedlung zu errichten. Obwohl das Land nicht den Versprechungen der Landgesellschaft entsprach, ließ man sich dort nieder. Mit zu geringen Mitteln ausgestattet, ohne Kenntnisse von der Landwirtschaft zu besitzen und durch zahlreiche Krankheiten geschwächt, mußte dieses Unternehmen schon nach wenigen Monaten aufgegeben werden. Kurz nach der Abfahrt des Voraustrupps brach am 24. Februar 1848 in Paris die Februar-Revolution aus, der ,Bürgerkönig' Louis Phi lippe dankte ab; in der Juni-Schlacht (vom 24. bis 26. Juni 1848) wurde der Arbeiteraufstand blutig niedergeschlagen. In dieser Phase hofften viele Anhänger Cabets, Ikarien könnte nunmehr in Frankreich verwirklicht werden. Sie sahen deshalb von einer Auswanderung ab und so zerschlug sich Cabets Plan einer Massenauswanderung. Er selbst fuhr 1849 mit etwa 500 Anhängern nach Amerika. Nachdem diese vom Fehlschlag in Texas gehört hatten, trennte sich etwa die Hälfte und siedelte sich in Einzelfarmen an, mit den übriggebliebenen 280 Anhängern erwarb Cabet dann in der zwei Jahre zuvor von den Mormonen aufgegebenen Stadt Nauvoo/Ill. (etwa 65 km nördlich von St. Louis) einige Häuser und 365 ha Land. Die Familien wohnten für sich, es wurde gemeinsam gegessen und gearbeitet, das Leben war einfach, die Arbeitsdisziplin streng. Die Landwirtschaft und einige kleine Gewerbebetriebe blühten auf und über 500 Ikarier lebten in Nauvoo. "Nach den Beschreibungen der Besucher erinnerte die ikarische Gemeinde an ein 132 Wie weiter oben dargelegt, wird auch die Ansicht vertreten, daß in der Aufstiegsphase der ikarischen Bewegung zwischen 1843 und 1847 immer mehr Arbeiter zu ihr stießen, aber die Bourgeoisie sich feindlich verhielt. Die Unterstützung der Bourgeoisie und deren Presse waren aber unerläßlich, wenn eine Revolution durch Bekehrung stattfinden sollte. Daher nahm Cabet eine Neuorientierung seiner taktischen Position vor, die in Richtung Flucht vollzogen wurde. "Allerdings Flucht mit einem Ziel: in der unberührten Wildnis Amerikas wollte er keine bloße Versuchskolonie gründen, sondern eine große kommunistische Nation, ein Denkmal vor den Augen einer Welt von Zweiflern". Cabet, S. 549 (im Anhang zu ,Die Reise nach Ikarien').

IV. Etienne Cabet und seine Reise nach Ikarien

381

Kloster. Zwar herrschte dort in der Tat die strengste Gleichheit, aber gleichzeitig auch die Langeweile und die Eintönigkeit des Klosterlebens."1J3 Die finanziellen Ergebnisse waren günstig, aber mit zunehmendem Wohlstand entstanden Streitigkeiten. Die über einjährige Abwesenheit Cabets er war nach Frankreich gefahren - benutzten viele Mitglieder dazu, die Arbeit zu vernachlässigen und sich viele Dinge privat anzueignen. Vor allem die Verfassung gab Anlaß zu Streitigkeiten: Nach der Satzung sollte Cabet als lebenslänglicher Präsident an der Spitze eines sechs köpfigen Direktoriums (dessen übrige Mitglieder: je ein Schatzmeister und drei Wirtschaftsleiter, die jährlich neu gewählt wurden) die Geschäfte führen. "Da aber Cabet, der in hohem Alter immer eigenwilliger wurde, die Beschlüsse der wöchentlichen Generalversammlungen immer weniger berücksichtigte, und statt dessen durch ständig neue und schärfere Verordnungen regierte, kam es schließlich zu einem offenen Aufstand gegen ihn. Dieser endete nach vielen gegenseitigen Beschuldigungen, Verleumdungen und gerichtlichen Auseinandersetzungen mit dem Ausschluß Cabets aus Nauvoo."134 Am 1. November 1856 verließ Cabet mit 150 Anhängern Nauvoo und begab sich nach St. Louis, um eine neue Kolonie zu gründen. Aber schon nach einer Woche starb er im Alter von 68 Jahren. Zwei Jahre später erwarben seine Anhänger 10 km westlich von St. Louis 11 ha Land in Cheltenham. Laufend kamen neue Mitglieder aus Frankreich hinzu, zugleich schieden aber auch alte Mitglieder aus, so daß die Zahl der Bewohner stagnierte. Auch hier war die wirtschaftliche Entwicklung durchaus günstig, aber es ergaben sich wiederum politische Gegensätze und Streitigkeiten durch eine unterschiedliche Auslegung der Verfassung, die nach dem Ausschluß von 42 der besten Mitglieder den raschen Niedergang der Kolonie einleitete. "Anfang 1864 wohnten nur noch 15 Menschen in Cheltenham und im März desselben Jahres erfolgte die endgültige Auflösung. "135 Vier Jahre vorher war ein Teil der in Nauvoo zurückgebliebenen Ikarier nach Iowa - in der Nähe von Corning, im Südwesten des Staates übergesiedelt, ein isoliertes Gebiet, das bereits von Cabet als besonders geeignet angesehen wurde. Die isolierte Lage verhinderte zwar das Eindringen fremder Einflüsse, machte aber wegen der hohen Transportkosten und der geringen Überschüsse ein Leben nahezu unmöglich. Die 35 Ikarier, die dort seit 1863 lebten, führten ein bescheidenes Dasein, lange Jahre hausten sie in einfachen Blockhütten, ehe sie nach Abtragung der hohen Schulden an den Bau fester Häuser gehen konnten. 1871 war die Zahl der Bewohner erst IJJ 13.

m

Tugan-Baranowsky, S. 39. Schempp, S. 102. Ebenda, S. 103.

382

4. Kap.: Die Irrtümer der Utopisten im 19. Jahrhundert

auf70 angewachsen. Zur Kolonie gehörten 800 ha Land, von denen etwa 300 ha bebaut waren, während auf dem restlichen Gelände Rinder- und Schafherden gehalten wurden. 136 Von 1860 bis 1878 lebten die Ikarier in Corning. Trotz der einfachen Verhältnisse war dieses die glücklichste Zeit ihrer ganzen Geschichte; denn die Präsidial-Verfassung von Nauvoo war durch regelmäßige Mitgliederversammlungen ersetzt worden, in der die Mehrheit entschied. Aber auch in dieser Kolonie entstanden Spannungen zwischen den jungen und fortschrittlichen Mitgliedern einerseits und den mehr alten und konservativen Siedlern andererseits. Die Jüngeren strengten gegen die Älteren ein Gerichtsverfahren an, es kam 1878 zur Trennung. Die Jüngeren blieben in der bisherigen Siedlung wohnen und nannten sie Icaria, die Älteren erhielten einen Geldbetrag ausbezahlt sowie einen Teil des Landes, auf dem sie New Icaria gründeten; beide Dörfer lagen auf Sichtweite von einander. Der Streit war so tief gegangen, daß die gegenseitigen Beziehungen abgebrochen blieben und teilweise Frauen ihre Männer oder Kinder ihre Eltern verließen. In Icaria ließen der Arbeitseifer und der Zusammenhalt der Bewohner nach. 1883 zog ein Teil nach Kalifornien und legte dort die Siedlung Icaria Speranza - am Russian River, unweit von Cloverdale - an; 1884 zählte diese Kolonie 52 Mitglieder und das Vermögen belief sich auf 60.000 Dollar. Beide Siedlungen zerfielen: In der Siedlung Icaria Speranza wurde das Privateigentum zugelassen, Arbeitsprämien eingeführt und mit wachsendem Reichtum wichen die Bewohner immer mehr von ihren kommunistischen Grundsätzen ab. Drei Jahre nach ihrer Gründung, d. h. 1886, löste sich diese Gemeinschaft wieder auf und verteilte das Land untereinander (ein Jahr später wurde auch Icaria in Iowa aufgegeben). Dagegen hatte New Icaria eine längere Lebensdauer, nämlich von 1878 bis 1898: ,,sie führten die Tradition Cabets am unverfälschtesten fort und gingen weder aus wirtschaftlichen Gründen noch durch Streitigkeiten, sondern an der Überalterung der Mitglieder zugrunde."137 1898 lebten nur noch wenige in New Icaria, die meisten waren schon über 60 Jahre alt. Im gegenseitigen Einvernehmen beschloß man im Oktober 1898 die Auflösung der Kolonie, damit ging auch die letzte der Ikarier-Siedlungen unter. Wie bereits eingangs angemerkt, sind die einzelnen Siedlungen aus Spaltungen hervorgegangen. Sie hatten zwar eine unterschiedliche Lebensdauer, bestanden aber länger als die Owen'schen Siedlungen und die Phalanstere von Fourier. Schempp 138 gibt die folgende Übersicht über die Ikaria-Siedlungen: 136 Schempp (S. 103, Fußnote 118) weist daraufhin, daß unterschiedliche Angaben über die Besitzgrößen gemacht werden, so daß keine definitiven Aussagen gemacht werden können. Il7 Schempp, S. 105. 138 Ebenda, S. 105.

IV. Etienne Cabet und seine Reise nach Ikarien Texas

(1848; 3 Mon.)

Nauvoo

(1849-60; 11 J.)

Corning

(1860-78; 18 J.)

I

383

New Icaria

(1878-98; 20 J.)

I

Icaria

Cheltenham (1858-64; 6 J.)

(1878-86; 8 J.)

/caria Speranza (1883-86; 3 J.)

Über das Leben in der Ikarier-Siedlung in Corning/Iowa gibt der folgende Bericht Auskunft: 139 "Vor uns lag ein Dutzend wohnlicher Häuschen in Form eines Quadrats; in der Mitte befand sich ein großes Zentralgebäude mit gemeinsamer Küche und gemeinsamem Speiseraum, der zugleich als Saal für Versammlungen, Lustbarkeiten und Theatervorstellungen diente. Die Bäckerei und zahlreiche Blockhäuser lagen in der Nähe und erinnerten an das frühere primitive Leben der Gemeinde. Sobald die Glocke ertönt, eilen Alle in den Speiseraum, wo sämtliche 75 Mitglieder der Gemeinde an runden Tischchen mit großer Heiterkeit Platz nahmen. Über der einen Tür befindet sich eine große Inschrift: ,Gleichheit', an der Wand gegenüber eine andere: ,Freiheit'. Das Essen ist nahrhaft und gesund, aber äußerst einfach. Abends versammelt sich die Mehrzahl der Familien in demselben Raum, wo sie miteinander plaudern, singen und auf verschiedenen Musikinstrumenten spielen. Am interessantesten sind aber die Sonntagabende. Dann werden ausgewählte Stellen aus den Werken des großen ikarischen Apostels Etienne Cabet vorgelesen, Lieder vorgetragen und von jungen Leuten begeisterte Reden über den Sozialismus gehalten." Die jungen Leute haben zwar begeisterte Reden über den Sozialismus gehalten, aber keine der ikarischen Siedlungen hat auf Dauer den Sozialismus erfolgreich praktizieren können. "Cabet malte in seinem kommunistischen Roman leuchtende Bilder der Pracht und Herrlichkeit des Lebens in dem kommunistischen Zukunftsstaate, wie dieser seinem geistigen Auge vorschwebte. Das wirkliche ,Ikarien' stellte aber auch in den besten Jahren seiner Existenz etwas ganz anderes dar: einige bescheidene Häuschen, einfache Kleidung, rohe Kost, mäßiges Auskommen und völliger Mangel an irgendwelcher Pracht und irgendwelchem Luxus. Die Nachbarn konnten die Ikarier wohl mit großer Achtung als ehrliche und ihren Idealen ergebene Menschen betrachten, aber um nichts beneiden und auch nichts von ihnen lernen." 140 139 140

Zitiert nach Tugan-Baranowsky, S. 40. Ebenda, S. 42.

384

4. Kap.: Die Irrtümer der Utopisten im 19. Jahrhundert

Die wirtschaftlichen Vorteile der sozialistischen oder kommunistischen Organisation sind keineswegs so groß, wie es sich die Sozialisten vorstellten; denn innerhalb einer kleinen Gemeinschaft kann man weder die Arbeitsteilung noch die Produktion in größerem Maßstabe praktizieren. Da eine solche Gemeinschaft nicht autark leben und wirtschaften kann, ist sie auf Kontakte mit der Außenwelt angewiesen. Folglich wird diese Gemeinschaft durch die Schwankungen der Preise, des Umsatzes usw. beeinflußt, wie die Unternehmen im Kapitalismus. Eine kleine sozialistische Gemeinschaft ist sogar innerhalb des kapitalistischen Systems möglich. "Da sie aber gegenüber dem üblichen wirtschaftlichen Unternehmertypus keine bemerkenswerte Erhöhung der Produktivität der Arbeit verheißen kann, bietet sie, vom rein wirtschaftlichen Standpunkt aus betrachtet, keine genügenden Vorteile im Vergleich mit den bestehenden gewöhnlichen Unternehmungsformen und besitzt daher keine Kraft, um diese letzteren zu verdrängen und, an ihre Stelle tretend, die heutige kapitalistische Weltordnung umzugestalten."141 Diese Feststellung ist zumindest in doppelter Hinsicht bemerkenswert: Sie gilt nicht nur für Cabet, sondern auch für Owen, Fourier und andere Utopisten, denen eine sozialistische oder kommunistische Wirtschafts- / Gesellschaftsordnung vorschwebt; sie ist auch deshalb bedeutsam, weil Tugan-Baranowsky (1865-1919)142 ursprünglich Marxist und später Sozialist war.

V. Owen - Fourier - Cabet: Die gescheiterten Utopisten Stellvertretend für zahlreiche Utopien, die im 19. Jahrhundert veröffentlicht wurden, haben wir uns bewußt auf drei - Robert Owen, Charles Fourier und Etienne Cabet - beschränkt, da sie trotz unterschiedlicher Ansätze eine Gemeinsamkeit haben: Sie haben den Versuch unternommen, ihr Ideal von einer harmonischen Gesellschaft auf friedlichem Wege zu realisieren, sie sind aber gescheitert. Die ,klassischen' Utopisten wie Morus oder Campanella haben ein imaginäres Bild von einem vollkommenen Staat und einer vollkommenen Gesellschaft auf einer fernen Insel gemalt, ohne selbst den Versuch zu unternehmen, diese ideale Gesellschaft in der realen Welt zu errichten. Es ist der Traum vom besten aller Staaten, den man im Kontrast zur Realität nur träumt. Mit dem Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit erfolgt ein Bruch, Ebenda, S. 43. Siehe den Artikel von Victor v. Crousaz: Tugan-Baranowsky, Michail Iwanowitsch, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. X, Stuttgart-Tübingen-Göttingen 1959, S. 421-422. 141

142

V. Owen - Fourier - Cabet: Die gescheiterten Utopisten

385

begünstigt durch religiöse Einflüsse: Thomas Müntzer und die Wiedertäufer begnügen sich nicht mit der Ausmalung einer vollkommenen Gesellschaftsordnung, sie wollen diese heute und hier verwirklichen. Wer immer sich diesen Realisierungsversuchen entgegenstellt, wird mit Feuer und Schwert bekämpft, die Anhänger werden notfalls gezwungen, für die Utopie von einer göttlichen Ordnung in dieser Welt zu kämpfen und zu sterben. Ganz anders Owen, Fourier und Cabet: Robert Owen macht als erfolgreicher Unternehmer nicht nur Gewinne, sondern er führt in seinem Unternehmen Sozialreformen durch, die letztlich nicht Geld kosten, sondern seinen Erfolg mehren. Er erkennt die Gefahren der modernen Industriegesellschaft und will diese durch die Erziehung vermeiden, er sucht nach einer Versöhnung zwischen dem Industriekapitalismus und der Arbeiterschaft. Der Glaube an die positive Wirkung der Erziehung ist ein wesentliches Merkmal bei Owen: Die Menschen haben zwar einen angeborenen Charakter, dieser wird aber endgültig durch die Verhältnisse bestimmt, in die das Individuum gerät. Aber Owen wollte nicht in erster Linie die Produktion verbessern, er wollte von vornherein das edelste Produktionsmittel: den Menschen verbessern, um ihn gereinigt aus dem Fabrikschmutz zu heben; von daher nicht zuletzt Owens pädagogischer Traum, eine neue Menschheit zu bilden.

Solange sich Owen der betrieblichen Sozialreform widmete - zum Beispiel Begrenzung der Kinderarbeit, Erziehung usw. - war er keineswegs ein Utopist, denn seine Forderungen und Experimente von vor über hundertfünfzig Jahren sind längst Realität in allen modernen Industriestaaten. Im Gegenteil, seine damaligen Forderungen sind durch die Sozialgesetzgebung sogar überholt. Owen wird dann, wenn er diese positiven betrieblichen Erfolge auf eine ganze Gesellschaft oder sogar die Welt übertragen will, zum Utopisten, da er im Sinne der Aufklärung glaubt, durch die Erziehung die Menschen vollkommen umwandeln - bessern - zu können; durch diese Erziehung würden alle Laster und Schwächen verschwinden. Die Gemeinden mit 500 bis 3.000 Mitgliedern würden nach und nach die großen Städte beseitigen, die Welt würde ein vollkommen verändertes Aussehen erlangen und die gesellschaftliche Organisation der Produktion und des Verbrauchs würde den Gemeindemitgliedern einen gleichmäßigen Wohlstand bescheren. Der Versuch, eine solche (kommunistische) Gemeinschaft in N ew Harmony zu errichten, scheiterte, auch allen anderen Realisierungsversuchen war kein Erfolg beschieden. Abgesehen davon, daß es auch Owen nicht gelungen ist, durch Erziehung einen ,neuen' Menschen zu schaffen, drängten in die Siedlung New Harmony auch und gerade Menschen, die weniger an ernsthafter Arbeit als vielmehr an ,unproduktiven' Tätigkeiten interessiert waren. 25 Jenkis

386

4. Kap.: Die Irrtümer der Utopisten im 19. Jahrhundert

Selbst in einer kleinen, überschau baren Gemeinschaft sind Arbeiten und Funktionen zu erfüllen, die nicht durch den Spielbetrieb befriedigt werden können. Hierzu bedarf es des wirtschaftlichen Zwanges der Existenzerhaltung und des Anreizes des Gewinnes. Auch die Nivellierung auf die gleiche Nahrung, Kleidung, Wohnung usw. widerspricht den individuellen Anlagen; denn der Mensch ist auf Unterscheidung, auf Individualität angelegt. Aus seinen gescheiterten Experimenten ,,(hat) Owen die Falschheit des Grundprinzips aller Utopien klar und deutlich erkannt, nämlich des schon oft besprochenen Gedankens, daß es nicht auf die Menschen, sondern nur auf die Verhältnisse ankomme. Im Gegenteil, die Menschen müssen geistig anders werden, wenn andere Verhältnisse, d. h. eine andere Wirtschaftsordnung ihnen frommen soll." 143 Mit anderen Worten: Solange die Menschen so sind, wie sie offensichtlich sind und es den Utopisten nicht gelingt (und wahrscheinlich auch nicht gelingen wird), einen ,neuen' Menschen zu erziehen (oder züchten), werden alle Realisierungsversuche von Utopien scheitern. Auch Charles Fourier ist gescheitert, der gleichfalls von der Kommune als wesentlichem Baustein der Gesellschaft ausging. Eine solche Kommune ist die von ihm konstruierte Phalanx: Während der Kommunismus eine völlige Gleichheit erstrebt, beruht die gegenwärtige Gesellschaft auf dem Prinzip der privaten Initiative, des Ehrgeizes und des Gewinnes. "Die harmonische Vereinigung dieser beiden unvollkommenen Elemente zu einer höheren und festen Verbindung muß die Grundidee der Assoziation der Zukunft, d. h. der Phalanx bilden."l44 Diese Phalanx soll nicht nur soziale, sondern auch ökonomische Vorteile bieten, so daß neben einem harmonischen Aufbau noch wirtschaftliche Reichtümer erwachsen. Im Gegensatz zu den meisten Utopisten wird das Privateigentum nicht abgeschafft; allerdings gibt es kein Eigentum an den Produktionsmitteln. Damit soll das Individuum im Kollektiv nicht aufgehoben werden. In diesem individuell-autonomen Gemeinwesen soll ein Gleichgewicht zwischen Individuum und Kollektiv gewahrt werden. "Fourier denkt sich seine Kommune als eine Musik aus lauter christlicher Harmonie, und die Stimmen, die nach dieser höheren Föderation verlangen, sind nicht nur die einzelnen Menschen, sondern auch die einzelnen Triebe in den Menschen ... Reicher Einklang insgesamt ist die Bestimmung des Menschen, für sich selbst wie im Verhältnis zur Welt." 145 Fouriers ,Garantismus' bedeutet, daß jedem Arbeit und Auskommen garantiert sind. Es ist die Übergangsperiode zum ,sozietiven' Stadium (Soziantismus), dessen höchste Stufe der ,Harmonismus' ist. 146 143 144

145

Voigt: S. 114 (Hervorhebungen erfolgten durch uns, Jk.). Tugan-Baranowsky: S. 21. Bloch, S. 114 f.

V. Owen - Fourier - Cabet: Die gescheiterten Utopisten

387

Für ihn handelt es sich darum, den Menschen von seiner jetzigen Entwicklungsstufe - der Zivilisation - auf die nächste Stufe - den Garantismus und schließlich zur Harmonie zu erheben. Diese Entwicklung glaubt er wissenschaftlich zu begründen, nämlich mit dem von ihm neu entdeckten Gesetz der sozialen Attraktion. Fourier stellte dieses ,Gesetz' in Parallele zu dem Newton'schen physischen Anziehungsgesetz; bescheiden wie alle Utopisten schätzte er seine Entdeckung höher als die Newtons ein. Das Gesetz der sozialen Attraktion "besteht in der Entdeckung, daß die verschiedenen Menschen sich gegenseitig anziehen mit Kräften, welche in umgekehrtem Verhältnis zu der Verschiedenheit der Menschen stehen ... Gerade diese Idee der Anziehung machte ihn zum Anarchisten, denn diese natürliche Kraft schien ihm jeden äußeren Zwang überflüssig zu machen." 147 Bisher habe man - fälschlich - versucht, den Menschen zu dirigieren oder zu beherrschen. Nunmehr solle man ihm die vollkommene Freiheit geben, damit sich dann die inneren Anziehungskräfte betätigen können; dann würde es allen besser gehen. Eigentlich gibt es gar keine schlechten Menschen, es komme lediglich darauf an, in welcher Verbindung sie sich befinden. In der Zivilisation - der niedrigen Entwicklungsstufe - kann die eine oder andere menschliche Eigenschaft schlecht sein. "Erst in der Harmonie werden sich alle Eigenschaften ausgleichen, indem hier jeder Eigenschaft ein Gegenstück zur Seite stünde. Es sei daher auch ganz verwerflich, die Menschen durch erzieherische Einwirkung verändern und vermeintlich bessern zu wollen. Das sei so töricht, als wenn man die Naturgesetze aufheben wolle. Es sei eben jeder Mensch in seiner Art gut,jedes Alter, jedes Geschlecht,jeder Charakter habe seine spezifischen Vorzüge; es käme nur darauf an, sie richtig zu benutzen, an die richtige Stelle zu setzen und durch Mischung mit anderen entgegengesetzten Charakteren auszugleichen."148 Je größer die Gruppe, desto größer sind die Chancen für einen harmonischen Ausgleich. Fourier hat schrullige und skurrile Gedanken und Ideen gehabt. Dieses gilt für seine Vorstellungen von der Frau und der Ehe oder die Erfindung des Antilöwen, Antihais, Antiwals und des Antiseehunds. Wenn man zum Beispiel auf dem Rücken des geschmeidigen Antilöwen von Marseille aufbricht, um noch am gleichen Tage in Lyon zu Mittag und in Paris zu Abend zu essen, dann weiß man nicht, ob man dieses belächeln soll oder ob sich nicht "ein Schuß Wahnsinn" darin mischt. 149 Das Utopische liegt darin, daß Fourier glaubte, das Gesetz der sozialen Attraktion entdeckt zu haben, 146 Diese Unterscheidung Garantismus-Harmonismus entspricht der Unterscheidung von Sozialismus und Kommunismus. 147 Voigt, S. 99 f. 148 Ebenda, S. 101. 149 So lean Servier: Der Traum von der großen Harmonie Eine Geschichte der Utopie, in: List Taschenbücher der Wissenschaft - Politik, Bd. 1555, München 1971, S. 232.

25'

388

4. Kap.: Die Irrtümer der Utopisten im 19. Jahrhundert

wonach sich Menschen mit den verschiedensten Eigenschaften und Neigungen anziehen, so daß ohne äußeren Zwang eine gesellschaftliche Harmonie entsteht. Alle Realisierungsversuche scheiterten, weil weder die Vorstufe des Garantismus noch die Endstufe des Harmonismus erreicht wurde. Wie später die vermeintliche wissenschaftliche Theorie des Sozialismus und Kommunismus besteht keine ,gesetzliche' Entwicklungsnotwendigkeit. Die nach dem Tode Fouriers gegründeten Phalangen scheiterten innerhalb kürzester Zeit, die in Nordamerika hatten immerhin eine Lebensdauer von 16 Jahren. Die wirtschaftlichen Erfolge - so bescheiden sie auch waren - führten nicht den Untergang der Phalangen herbei, es waren vielmehr solche psychosozialer Art, d. h., daß es ohne einen ,neuen' Menschen nicht möglich sei, eine vollkommene Gesellschaft - was immer die einzelnen Utopisten darunter verstehen mögen - zu errichten und auf Dauer zu erhalten. Nicht nur Robert Owen und Charles Fourier, sondern auch Etienne Cabet ist gescheitert: War Fourier kein Kommunist, sondern ein Sozialist, der ein Minimum an öffentlicher Regelung mit einem Maximum an individueller Freiheit zu vereinen suchte 150, so war Cabet ein Kommunist. Er nahm die Gleichheit sehr ernst; denn in seinem Ikarien gab es kein Privateigentum und keine soziale Ungleichheit bis hin zur Kleidung, die Produktionsmittel sollten dem Kollektiv gehören, die Bürger sollten ihre Arbeit zu gleichen Bedingungen in die Gemeinschaft einbringen, die Familie beibehalten, aber Gleichheit unter den Geschlechtern herrschen und es sollte einige wenige - zensierte Zeitungen geben. "Alles in allem eine recht langweilige Vision von Utopia, die einem Bewunderer des Thomas Morus aber wohl ansteht."151 Das Interessante ist, daß Cabet einen Gegensatz zwischen der politischen Freiheit und der wirtschaftlichen Unfreiheit konstruierte: Er gibt seinem Musterstaat eine Verfassung, die eine radikale Demokratie darstellt, denn die Volksvertretung hat die ganze Gewalt in ihren Händen. Doch die ganze wirtschaftliche Verwaltung ist bis ins einzelne polizeistaatlich geregelt. "Cabet zeigt sich als echten Franzosen, der sich von der Verwaltung viel mehr geduldig vorschreiben läßt, als ein Deutscher, ein Engländer oder gar ein Amerikaner."152 So tritt bei ihm ein Widerspruch zwischen der politischen Freiheit und der administrativen Bevormundung hervor: Die Schüler können sich selbst Gesetze geben, den Stundenplan und den Strafkodex selbst feststellen, dagegen ist alle geistige und wissenschaftliche Tätigkeit vom Staat monopolisiert. So gibt es in Ikarien nur eine Zeitung, die offizielle 150 151 152

So George Lichtheim: Ursprünge des Sozialismus, Gütersloh 1968, S. 42. Ebenda, S. 37. Voigt, S. 115.

V. Owen - Fourier - Cabet: Die gescheiterten Utopisten

389

Nationalzeitung; die Pressefreiheit war in den alten Königreichen und Aristokratien notwendig, im Land der Freiheit braucht man diese altmodische Freiheit nicht mehr. Folglich ist Cabet der Auffassung: "Wenn alle Philosophen aus ihren Gräbern stiegen, um zu einem Kongreß unter dem Vorsitz Jesu Christi zu kommen, dann würde dieser Kongreß den Kommunismus verkünden." 153

In Ikarien lenkt der Staat die gesamte Wirtschaft, die Erziehung lehrt die Kinder die Arbeit zu lieben und hochzuschätzen, der Gesang feuert die Arbeiter an, es herrscht die Gleichheit der Arbeit, die Arbeitszeit ist maßvoll, das Geld ist abgeschafft, "die Erziehung ist Staatsmonopol, sie unterwirft den Einzelnen einer straffen Dressur und folgt einem Programm, das schon viele Utopisten aufgestellt haben." 154 Die Kinder werden mit fünf Jahren den Eltern weggenommen und einer ,modernen' Erziehung unterworfen, neben nützlichen Studien - Zeichnen, Rechnen, Geschichte - erhalten sie einen Pflichtunterricht in Sittenlehre, der zwölf Jahre dauert, und eine Unterweisung in Bürgerkunde. Damit ist der Heranwachsende für die Pflichten des Lebens gerüstet. Bei Owen und Fourier erscheint das bessere Leben individuell und föderativ, bei Cabet wird die Freiheit organisiert; bei Owen und Fourier dominieren die kleinen Gemeinschaften, bei Cabet die kollektive Industrie; denn: "Ikarien ist ein einheitliches, hochindustrielles Gebilde, getragen von einer mächtigen Arbeiternation ... Der Zukunftsstaat, der der organisierten Industrie entspringen sollte, war ausgedacht mit aller Eleganz und Präzision des Dezimalsystems."155 Der Siebenstundentag war minutiös geregelt, ein Campanella-Tag; der Kontrast zu Fouriers Phalangen könnte nicht größer sein. "Des Dienstes ewig gleichgestellte Uhr wurde in keiner anderen Utopie mit so wenig Überdruß totalisiert, mit so viel Vergötzung der Exaktheit."156 Da die Kapitalisten nicht geneigt sind, sich von ihrer Krankheit befreien zu lassen, gibt es kein freiwilliges Ikarien. Folglich experimentierte Cabetganz gegen seine Lehre - mit Siedlungsplänen minimalster Art. "Ikaria war entworfen als glanzvoller Arbeiterstaat mit Metropolis in der Mitte; zur Wirklichkeit wurde eine mühselige Kolonie, von kommunistischen Pionieren an den Missouri gesetzt. Sie ging trotz Dampfkraft, weitgehender Mechanisierung, versuchtem Musterbetrieb zugrunde, verschluckt von Sumpf und Prärie."157 Entgegen Cabets utopischen Erwartungen brachen in den Siedlungen in Nordamerika Streitigkeiten aus, es kam zu Spaltungen

154

Zitiert nach Servier, S. 236. Servier, S. 237.

155

Bloch, S. 116.

153

m Ebenda, S. 117. m Ebenda, S. 117.

390

4. Kap.: Die Irrtümer der Utopisten im 19. Jahrhundert

und schließlich nach fünfzig Jahren - diese Dauer täuscht über den Mißerfolg hinweg - zum endgültigen Erlöschen dieser kommunistischen Gemeinschaften. Weder hatten diese kleinen Gemeinschaften dauerhaften Erfolg noch konnten sie die Massen in Frankreich oder in Nordamerika begeistern, diesem Traum von einer vollkommenen Gesellschaftsordnung zu folgen, zumal Cabet selbst immer eigensinniger und diktatorisch wurde und damit zum Mißerfolg beitrug. Trotz der Unterschiede zwischen den utopischen Entwürfen von Owen, Fourier und Cabet sind ihnen zumindest zwei Elemente gemeinsam: Sie haben ein theoretisches Konzept in der Form eines Romans entworfen, wie es Morus, Campanella und Andreae taten. Aber sie haben sich nicht mit einem utopischen Entwurf begnügt, sondern den Versuch unternommen, dieses Konzept zu realisieren. Die ,klassischen' Utopisten waren ,Traumdenker' ,Owen, Fourier und Cabet wurden zu ,Traumtätern' - und scheiterten. Warum aber sind die Realisierungsversuche gescheitert? Alle Utopisten seit Thomas Morus gehen davon aus, daß durch die Änderung der Umwelt die Menschen geändert - verbessert - werden können. Dieser ,neue Mensch' kann durch die Abschaffung des Privateigentum, durch die Erziehung, durch das Vorbild, auf demokratischer Basis oder durch eine Diktatur geschaffen werden. Wann immer die Utopisten die Machtausübung ablehnten und der demokratischen Verfassung den Vorrang gaben, dann endete die gegründete Gemeinschaft in der Anarchie und zerstörte sich selbst; setzte sie dagegen ihre Macht - wie die Diktatur des Proletariats - ein, dann wurde sie barbarisch. Alle utopischen .Entwürfe sind in der Wirklichkeit gescheitert, weil sie einen Menschentypus unterstellen oder diesen (mehr oder minder freiwillig) schaffen wollen, den es noch nicht gibt und wahrscheinlich auch nicht geben wird. Dagegen sind sozialreformerische Ansätze in der Erziehung, der Gestaltung der Arbeitswelt, der Fortentwicklung der menschlichen Lebensbedingungen usw. durchaus erfolgreich gewesen, wie es Owen bewiesen hat. Wird man Einzelne davon abbringen, neue Utopien zu entwerfen, nachdem schon seit über zweitausend Jahren der Idealstaat nicht realisiert werden konnte? Wohl kaum, denn den Gläubigen bleibt noch immer das Argument, daß bei den Vorgängern das ,letzte Rädchen' gefehlt habe, um zum Erfolg zu gelangen; man selbst aber habe dieses ,letzte Rädchen'. Im übrigen gilt: "Werte werden geschaut von begnadeten Menschen und werden geglaubt von denen, die gleichen Sinnes sind. Werte werden - völlig irrational- von Mensch zu Mensch übertragen, kraft der unerforschlichen Macht der Persönlichkeit. An die Stelle des Beweises tritt die Liebe, aus der Liebe aber erwächst die Nachfolge. Für Werte lebt man, für Werte stirbt man, wenn es notwendig ist. Werte aber beweist man nicht ... Die ,Richtigkeit' der Werte beweisen, das heißt sie in den engen Umkreis der Verstandes-

v. Owen -

Fourier - Cabet: Die gescheiterten Utopisten

391

erkenntnis herabziehen, heißt, Werturteile verwissenschaftlichen wollen. Werte gründen aber in einer viel größeren Tiefe, als der, in die das Senkblei der Wissenschaft hinabreicht."158 Man braucht lediglich den Begriff ,Werte' durch den der ,Utopie' zu ersetzen, um zu erkennen, daß der Traum von der besten Gesellschaftsordnung immer wieder geträumt werden wird, und zwar auch dann, wenn alle bisherigen Realisierungsversuche nicht nur scheiterten, sondern sogar in der Barbarei endeten.

IS8 Werner Sombart: Die drei Nationalökonomien - Geschichte und System der Lehre von der Wirtschaft, München-Leipzig 1950, S. 83 (Ohne Hervorhebungen im Original, Jk.).

Fünftes Kapitel

Die klassenlose Gesellschaft -

eine barbarische Utopie

Ausgehend von den ,klassischen' Utopien haben wir die Entwicklung des utopischen Denkens und deren Realisierungen verfolgt. Wie bereits mehrfach angemerkt, ist es weder möglich die Vielzahl der Utopien darzustellen noch die umfangreiche Literatur aufzuarbeiten. Es mußte daher eine Auswahl erfolgen. Da jede Auswahl subjektiv oder sogar willkürlich ist, kann diese Form der Darstellung nicht befriedigen. Dieser Unzulänglichkeit sind wir uns durchaus bewußt. Um diesen Mangel in begrenztem Umfang zu kompensieren, haben wir - relativ ausführlich - den Lebenslauf des Utopisten vorangestellt und dann seinen utopischen Entwurf wiedergegeben. Die Beschreibung des Lebensweges erscheint uns deshalb wichtig, weil man hieraus - wie zum Beispiel bei Fourier - seine spätere Konzeption besser verstehen kann. Wenn Realisierungsversuche vorgenommen wurden, haben wir auch über diese berichtet, zumal diese in der traditionellen UtopieLiteratur entweder überhaupt nicht berücksichtigt oder vernachlässigt werden. Da bisher alle Versuche, ein utopisches Konzept umzusetzen, scheiterten, legen wir auf diesen Teil der Ausführungen besonderes Gewicht. Aus dem neunzehnten Jahrhundert haben wir lediglich drei UtopistenRobert Owen, Charles Fourier und Etienne Cabet - zu Wort kommen lassen, aber Graf von Saint-Simon (1675-1755), Max Stirner (1806-1856), Pierre Joseph Proudhon (1809-1865), Edward Bellamy (1850-1898) usw. nicht erwähnt. Vor die Wahl gestellt, zahlreiche Utopisten kurz darzustellen oder einige ausführlicher zu Worte kommen zu lassen, haben wir uns für den letzteren Weg entschieden. Darüber hinaus macht man die Feststellung, daß sich die Inhalte der Sozialutopien wiederholen, so daß Überschneidungen eintreten würden. Das Prinzip der begrenzten Auswahl gilt auch für dieses Kapitel.

In den letzten hundert Jahren hat es wiederum zahlreiche Utopien gegeben. Auf Grund der technischen Revolution wurden die Staats- und Sozialutopien zum Teil durch die technischen Utopien - Science Fiction verdrängt: 1 Die Staats- und Sozialutopien haben fast ausschließlich politi1 Siehe hierzu Martin Schwonke: Vom Staatsroman zur Science Fiction Eine Untersuchung über Geschichte und Funktion der naturwissenschaftlich-technischen Uto-

I. Der wissenschaftliche Sozialismus - eine Utopie?

393

sche und wirtschaftliche Ordnungen sowie soziale Strukturen untersucht bzw. deren Idealbild dargestellt. Soweit in diese Utopien die Naturwissenschaften oder die Technik einbezogen wurden, waren sie nur Objekte der utopischen Phantasie. Die Erfindung der Dampfmaschine, die die erste technische Revolution einleitete, fand in den Utopien entweder keine oder nur eine geringe Beachtung, wurde dann aber zunehmend berücksichtigt. "Der ,utopische Sozialismus' der Saint-Simon, Owen, Proudhon und ihrer Schüler bedeutet gegenüber den Utopien der Aufklärung einen gewaltigen Schritt auf ein dynamisches, auf Aktion und Veränderung abzielendes Denken hin. Seine utopische Phantasie und planende Initiative richtet sich auf die Ordnung und Organisation, der Herrschafts- und Besitzverhältnisse, sein Beitrag zur Fortentwicklung der naturwissenschaftlich-technischen Utopie ist daher gering. "2 Die technische Utopie wurde eigentlich durch Jules Verne (1828-1905) eröffnet, der die Gattung der Zukunftsromane begründete. Im deutschen Sprachraum ist zum Beispiel Hans Dominik (1872-1945) zu nennen, in England Herbert George (H. G.) Wells (1866-1945). Bei Aldous Huxley (1894-1963) verbinden sich in der ,Schönen neuen Welt' und bei George Orwell (1903-1950) in seinem Roman ,1984' technische mit staatlicher und sozialer Utopie. In diesem Kapitel soll weder auf diese noch auf andere Utopien eingegangen werden. Vielmehr soll der Anspruch des Sozialismus, wissenschaftlich zu sein, dargestellt und im Anschluß daran der Frage nachgegangen werden, ob es sich nicht doch um eine Utopie handelt, die barbarisch war. Dasselbe gilt auch für die Rassenideologie des Nationalsozialismus.

I. Der wissenschaftliche Sozialismus -

eine Utopie?

Sowohl für den Sozialismus bzw. Kommunismus als auch für den Nationalsozialismus kann man die Frage aufwerfen, ob es sich lediglich um Ideologien oder um Utopien handelt. 3 Wegen der ausführlich beschriebenen Zukunftsperspektiven sind die Lehren von Kar! Marx und Friedrich Engels als Utopien bezeichnet worden. 4 pie, Stuttgart 1957; Dieter Wuckel: Science Fiction - Eine illustrierte Literaturgeschichte, Hildesheim-Zürich-New York 1986. 2 Schwonke, S. 33. 3 Siehe hierzu Karl Mannheim: Ideologie und Utopie, 7. Auflage, Frankfurt 1985. Auf Mannheims Unterscheidung zwischen der Ideologie und der Utopie sind wir im einleitenden Kapitel über die begriffliche Abgrenzung eingegangen, daher wird auf eine Wiederholung verzichtet. 4 Helmut Seiffert: Marxismus und bürgerliche Wissenschaft, Beck'sche Schwarze Reihe, Bd.75, 3. Aufl., München 1977; zum Begriff ,Ideologie' S.59-104; zum Begriff ,Utopie' S. 104-142.

394

5. Kap.: Die klassenlose Gesellschaft - eine barbarische Utopie

Gegen diese Gleichsetzung haben sich die Marxisten immer wieder erbittert zur Wehr gesetzt, weil dieses Engels Schrift "Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft" und damit dem Selbstverständnis des Marxismus widerspricht. Danach ging es Marx nicht darum, eine neue Welt dogmatisch zu antizipieren, denn es war nicht seine Sache, die ,Konstruktion der Zukunft' vorzunehmen, sondern eine rücksichtslose Kritik des Bestehenden vorzunehmen; erst aus der Kritik der alten Welt läßt sich die neue finden. 5 Karl Korsch 6 weist darauf hin, daß es "völlig falsch (wäre), zu meinen, wenn die bürgerliche Gesellschaftstheorie die Lehre von der ,bürgerlichen Gesellschaft' ist, so müßte die sozialistische Gesellschaftstheorie von Marx die Lehre von der ,sozialistischen Gesellschaft' sein. Die Wahrheit ist, daß sich die Theorie des wissenschaftlichen Sozialismus überhaupt nicht mit der Ausmahlung eines künftigen Gesellschaftszustandes beschäftigt. Marx überläßt das den alten und neuen doktrinären sozialistischen Sektenstiftern. Er selbst behandelt nach seinem materialistischen Prinzip die heute und hier allein wirkliche Form: die bürgerliche Gesellschaft". Diese Feststellung dürfte unzutreffend sein, denn die Kritik des gegenwärtigen Zustandes - der bürgerlichen Gesellschaft - enthält im Umkehrschluß das (utopische) Bild der (besseren) sozialistischen Gesellschaftsordnung. Bevor wir uns Friedrich Engels Schrift ,Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft' zuwenden, wollen wir auf die Ablehnung des Utopismus bei Marx und Engels eingehen. 1. Adlers Ablehnung des Utopismus bei Marx und Engels 7

Max Adler 8 ist in seiner Auseinandersetzung mit dem österreichischen Staatsrechtler Hans Kelsen 9 auch der Frage nachgegangen, ob der Sozialismus utopischen Charakter habe. 10 5 Siehe hierzu Helmut Fleischer: Marx und Engels - Die philosophischen Grundlinien ihres Denkens, 2. Aufl., Freiburg-München 1974, S. 25. 6 Karl Korsch: Kar! Marx Im Auftrag des Internationalen Instituts für Sozialgeschichte, herausgegeben von Götz Langkau, 2. Aufl., Frankfurt 1960, S. 24f. 7 Max Adler: Die Staatsauffassung des Marxismus Ein Beitrag zur Unterscheidung von soziologischer und juristischer Methode, reprographischer Nachdruck der Ausgabe Wien 1922, Darmstadt 1973. 8 Max Adler (1873-1937) suchte nach einer theoretischen Verbindung von marxistischer Soziologie und der Erkenntnislehre Kants. Adler gehörte zu den Begründern des AustroMarxismus. 9 Hans Kelsen (1881-1973) war österreichisch-amerikanischer Jurist, der an Universitäten in Österreich und in Köln lehrte und 1933 emigrierte. Kelsen vertrat einen strengen Rechtspositivismus. 10 Adler, S. 292-312.

I. Der wissenschaftliche Sozialismus - eine Utopie?

395

Für Kelsen ergibt sich der utopische Charakter aus dem Anarchismus 11 , d. h., der Beseitigung des Staates als Zwangsorganisation. Diese neue Gesellschaft wird nur dann möglich, "wenn die Menschen aufhören werden, leidenschaftlich, schlecht, töricht, widersetzlich oder auch nur faul und nachlässig zu sein, kurz, wenn sich die menschliche Natur grundsätzlich ändert"12. Nach Adler sind in den Ausführungen Kelsens zwei Argumente gegen den Sozialismus enthalten: 13 ,,1. Um den Sozialismus zu verwirklichen, müßten die Menschen erst Engel werden; 2. der Sozialismus hält sich für das Himmelreich, über das hinaus es keine Seligkeit mehr gibt."

In Anlehnung an Adler wollen wir nicht nur diese beiden Argumente prüfen, sondern auch darauf eingehen, ob der Sozialismus bzw. Marxismus als Theorie des Chiliasmus bezeichnet werden kann. a) Werden im Sozialismus die Menschen zu Engeln?

Die Menschen werden nicht nur als Engel, sondern auch als Teufel dargestellt und die Erde als ein Jammertal, das immer das gleiche Jammertal 11 In seinem Kapitel ,Der eigentliche Unterschied zwischen Anarchismus und Sozialismus' (ebenda, S. 242-252) beschreibt Adler diesen wie folgt: "Aber diese wirklich prinzipielle Unterschiedenheit des Marxismus und Anarchismus kommt nicht im Ziel der sozialen Umwandlung zum Ausdruck, das beide Theorien der sozialen Revolution aufzeigen, sondern eben nur in dem Weg, den sie zu diesem Ziel für nötig halten, das heißt, in der Art des Ganges der geschichtlichen Entwicklung, die sie darlegen. a) Beim Marxismus reift der revolutionäre Wille der Massen für dieses Ziel in der ökonomischen Entwicklung, die fortschreitend immer größere Schichten der Gesellschaft in Gegensatz mit der bestehenden Wirtschafts- und Rechtsordnung bringen muß. Die Empörung des Bewußtseins ist die Folge eines ökonomischen Prozesses. b) Beim Anarchismus ist diese Empörung das erste, das zu schaffen ist, wenn auch nur in einer kleinen Gruppe entschlossener Menschen, die als Führer die Massen mit sich reißen und den revolutionären Willen in ihnen aufpeitschen werden. Der Marxismus sieht die soziale Umwälzung notwendig kommen, der Anarchismus will sie je eher je besser machen" (ebenda, S.243; Hervorhebungen und die Unterteilung erfolgten von uns, Jk.). Es ist nicht der Ort, sich eingehend mit dem Anarchismus auseinanderzusetzen. Es sei aber darauf hingewiesen, daß sich Adler in diesem Kapitel ausführlich mit Robert Owen, Charles Fourier, Pierre Proudhon usw. auseinandersetzt. 12 Ebenda, S. 292 (Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). Zum, Wunder' der staatenlosen Organisation bemerkt Adler (ebenda, S.282): "Wenn sich jemand (damit ist Kelsen gemeint, Jk.) Staat und Staatsbürger und das gegenseitige Verhältnis der Funktionen beidernun einmal nicht vorstellen kann als in den bloß juristisch wandelbaren Formen der heutigen Klassengegensätzlichkeit, dann muß er freilich dazu kommen, die marxistische Gesellschaftslehre nicht nur als eine Fülle von Widersprüchen anzusehen, sondern alles, was sie über das Anders- und Neuartige ihrer sozialen Zustände und Menschen aussagt, als bare Utopie und Märchen für politische Kinder zu betrachten." 13 Ebenda, S. 293.

396

5. Kap.: Die klassenlose Gesellschaft - eine barbarische Utopie

bleiben muß. Hieraus ergibt sich, daß der Sozialismus eine Vorstellung für kleine und große Kinder oder - wissenschaftlich ausgedrückt - ein Chiliasmus ist. Wie ist es aber - so fragt Adler - in Wirklichkeit um den Sozialismus bestellt? Der Sozialismus im marxistischen Sinne bedeutet nicht die moralische Besserung des Menschen (wie es sich Kant vorstellt), sondern ist ein soziales Organisationsproblem, d. h., wie die gegebene menschliche Natur benutzt werden könnte, um eine harmonische Gesellschaftsordnung zustande zu bringen. "Aber nicht auf eine Veredelung oder Versittlichung gründet der Sozialismus die innere Sicherheit der neuen Gesellschaftsordnung, sondern darauf, daß sie die Antriebe zu unmoralischem, verbrecherischem Handeln gegenüber der heutigen Ordnung wesentlich verringern wird .... Die neue Gesellschaftsform will umgekehrt die soziale Nötigung zum widerrechtlichen und unmoralischen Handeln zur Ausnahme machen." 14 Adler weist mit Nachdruck daraufhin, daß die so ,teuflisch' erscheinende menschliche Natur auf die schlechten sozialen Verhältnisse zurückzuführen ist, die Not, Verwahrlosung, Unbildung und Alkoholismus erzeugen. Um diese negativen Erscheinungen wenigstens zu minimieren, sollen solche Institutionen geschaffen werden, die förmlich funktionieren und hierdurch den Widerspruch gegen die soziale Ordnung ausschalten. Dennoch wird es auch in der kommunistischen Gesellschaftsordnung Störungs motive geben, die nicht ihre Ursache in den Produktions- und Verteilungsverhältnissen haben, sondern die aus der sexuellen Sphäre oder den Affekten wie Zorn, Eifersucht und Haß stammen beziehungsweise in der pathologischen Veranlagung der Menschen zu suchen sind. Aber die Delikte werden in erster Linie aus sozialen Gründen und weniger aus charakterlichen Gründen begangen. Wenn die wirtschaftliche und soziale Umwelt im Sozialismus verbessert wird, dann werden die rein personalen Störungen der Ordnung zu Einzelfällen, die man durch die Erziehung - Herausbildung neuer Volkssitten, Gemeinschaftsgefühle, Eingewöhnung in die neue Gesellschaftsideologie weiter reduzieren kann. Diese Annahme, daß die Kriminalität bis zur sozialen Pathologie verringert werden kann, ist nach Adler "kein unwissenschaftlicher Utopismus oder naiver Chiliasmus. Im Gegenteil: in dieser Richtung bewegt sich doch alle wirklich ernst zu nehmende Bekämpfung der Kriminalität, die seit Thomas Morus - charakteristischerweise zugleich der erste Theoretiker des Kommunismus - von der Erkenntnis ausgeht, daß das Verbrechen wirklich nur dadurch bekämpft werden kann, daß man die Ursachen desselben beseitigt".tS Ohne Zweifel gibt es eine Notstandskriminalität, die mit der Beseitigung des wirtschaftlichen oder sozialen Notstandes nicht mehr vorhanden ist. 14 IS

Ebend, S. 295 (Hervorhebungen erfolgten abweichend vom Original, Jk.). Ebenda, S. 297 (Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.).

1. Der wissenschaftliche Sozialismus -

eine Utopie?

397

Beispiel hierfür war die sogenannte "Reichsmarkzeit" zwischen 1945 und 1948 (Währungsreform), als aus Not Lebensmittel, Heizmaterial und andere die physische Existenz sichernde Güter gestohlen wurden. Nach der Währungsreform 1948 und der Verbesserung der Versorgungslage verschwand diese Notstandskriminalität. Ist deshalb aber die Kriminalität - von Diebstahl, Raub, Erpressung, Entführung bis hin zum Mord - verschwunden? Gibt es nicht auch eine Wohlstandskriminalität, denn wie wären sonst Alkoholismus, Drogensucht und andere Erscheinungen zu erklären? Wie sind Banküberfalle, Kindesentführungen mit dem Ziel hoher Lösegeldforderungen zu erklären? Und wie könnte Adler die terroristischen Überfälle auf den Staat, auf einzelne Politiker, Beamte oder Unternehmer erklären, obgleich der wirtschaftliche und soziale Standard wesentlich erhöht wurde, die Ausbildung sich verbessert hat, die politischen Freiheiten groß sind und diese Terroristen aus den ,bürgerlichen' Verhältnissen stammen? Gerade darin liegt die Utopie des sogenannten wissenschaftlichen Sozialismus bzw. Kommunismus, daß er glaubt, daß durch die Änderung - Verbesserungder ökonomischen Bedingungen aus dem ,schlechten' Menschen ein ,guter' Mensch wird. An dieser Kritik ändert sich auch nichts, wenn Adler darauf hinweist, daß der Marxismus weit davon entfernt sei, der naiven Gläubigkeit von der Plastizität der menschlichen Natur anzuhängen; denn: 16 "Für Marx ist also die Änderung der menschlichen Natur kein unbegreifliches Wunder, sondern ein notwendiges Stück eines gesellschaftlichen Prozesses, in welchem diese Änderung aus der Tätigkeit der Menschen hervorgeht, mit der sie, zumeist unbewußt, ihr soziales Milieu umschaffen und die freilich wieder durch die jeweilige soziale Situation begrenzt aber auch hervorgerufen wird." Wenn die gesellschaftlichen Prozesse diese Mutation - die Änderung der menschlichen Natur - bewirken würde, dann wäre es tatsächlich ein Wunder; wenn aber dieses Wunder nicht eintritt, dann ist es eine Utopie. b) Hält sich der Sozialismusjür das Himmelreich?

Sodann wendet sich Adler dem zweiten Argument zu, ob sich der Sozialismus für das Himmelreich hält, über das hinaus es keine Seligkeit mehr gibt. Oder anders ausgedrückt: In der neuen - sozialistischen - Gesellschaft sind alle Unvollkommenheiten geschwunden, so daß alle Entwicklung aufhören werde. Aus Adlers Sicht 17 sind die Kritiker des Marxismus inkonsequent; denn einerseits wird vorgeworfen, daß die Marxisten nicht die Unveränderlichkeit 16 17

Ebenda, S. 299 (Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). Ebenda, S. 304-310.

398

5. Kap.: Die klassenlose Gesellschaft - eine barbarische Utopie

der Menschen beachten, andererseits wird aber die Unveränderlichkeit der neuen Ordnung angenommen. "Handelt es sich darum, daß wir (die Marxisten, Jk.) sagen, die neuen Verhältnisse werden neue Menschen erzeugen, dann sind wir unverbesserliche Entwicklungsschwärmer; sagen wir aber, die neuen Verhältnisse werden sich fernerhin ohne Klassenkampf, nur durch bewußte gesellschaftliche Tätigkeit ändern, daher einen hohen Grad solidarischer Stabilität erreichen, dann leugnen wir die Entwicklung."18 Es ist - nach Adler - nie dem Marxismus eingefallen zu behaupten, daß mit der Beseitigung der Klassengegensätze die Entwicklung aufhören und ein Zustand der absoluten Harmonie und des bewegungslosen Gleichgewichts erreicht sein wird. Es wird nur die Form der sozialen Entwicklung geändert, die bisher Klassenkampf war. Das aber bedeutet, daß die menschliche Gesellschaft noch nicht als solidarische Realität existiert, sondern als gegensätzliches, zerrissenes Gebilde. "Daraus folgt nun aber nicht, daß mit der Beseitigung der Klassen die Entwicklung, sondern nur, daß der Klassenkam pf aufhören werde." 19 Auch in der klassenlosen Gesellschaft werden sich die Menschen aufregen und sich empören, und zwar deshalb, weil dann die Existenzsorgen und die tierischen Interessen um Nahrung, Kleidung und Wohnung beseitigt sind. Erst dann wird das Zeitalter anbrechen, in dem die Menschen zu wirklicher ,menschlicher Feinfühligkeit' reif geworden sind; sie werden sich mit Fragen der Metaphysik, der Religion oder der Kunst beschäftigen und Gegensätze entfalten. "Es ist also nicht einmal so viel wahr, daß die Entwicklung aufhören muß, in Gegensätzen zu verlaufen, nur wieder nicht notwendig in Klassengegensätzen. "20 Es ist denkbar, daß auch Weltanschauungsgegensätze - so zum Beispiel Religionskriege - mit Feuer und Schwert ausgetragen werden können. Abgesehen davon, daß es reine Weltanschauungsgegensätze nie gegeben hat (vielmehr kamen ökonomische und politische Gegensätze zum Tragen), widerspricht es dem heutigen Rechts- und Sozialbewußtsein, mit so viel Fanatismus Unterschiede des Glaubens und der Weltanschauung mit Gewalt auszutragen. Durch Erziehung und Charakterbildung und vor allem durch die Ausmerzung der Verquickung von ökonomischem und politischem Machtstreben wird erst eine reine Kulturgesinnung entstehen. Eine solche Geistesänderung mit dem Schlagwort vom Optimismus oder Utopismus zu belegen, heißt, die zwar langsame aber doch nicht vergebliche Hebung des Kulturniveaus der breiten Massen zu leugnen. Es ist zutreffend, daß das Bildungs- bzw. Kulturniveau - was immer man darunter verstehen mag - gehoben worden ist. Konnten aber dadurch die weltanschaulichen oder religiösen Gegensätze beseitigt werden? Ist es wirk18 19 20

Ebend, S. 304 f. Ebenda, S. 306. Ebenda, S. 307.

1. Der wissenschaftliche Sozialismus - eine Utopie?

399

lich gelungen, durch die Erziehung auch den Charakter zu bilden? Und: Muß man nicht zwischen den intellektuellen Fähigkeiten und charakterlichen Schwächen der Menschen unterscheiden? Die Computerkriminalität belegt, daß intelligente Spezialisten durchaus kriminell sein können, dem Alkohol oder den Drogen verfallen. Und wenn in der klassenlosen sozialistischen - Gesellschaft die Menschen kontrovers über metaphysische, religiöse oder künstlerische Fragen diskutieren, warum dann nicht auch über die klassenlose Gesellschaft? Hat nicht die Entwicklung in allen Ostblockländern gezeigt, daß die beseitigten ,alten' Klassen durch eine neue Klasse der Funktionäre - die Nomenklatura 21 - ersetzt worden ist? Haben nicht nahezu alle großen und kleinen Funktionäre Privilegien erhalten, die nur einer Herrschaftsklasse zukommen? Ist überhaupt eine ,klassenlose' Gesellschaft - ohne Funktionäre - denkbar? Und warum sollen sich nicht die Nicht-Privilegierten gegen diese Nomenklatura erheben? Auch hier zeigt sich, daß Adler - wie alle theoretisierenden Marxisten von der utopischen Heilserwartung ausgeht, daß mit der sozialistischen Gesellschaftsordnung die in den früheren Ordnungen vorhandenen Gegensätze und Kämpfe beendet sein werden. Es ist gleichgültig, ob man es im zerfallenden (sozialistischen) Ostblock Klassenkämpfe oder irregeleitetes Verhalten der Menschen nennt: Gegensätze bleiben bestehen, Auseinandersetzungen und sogar Kämpfe sind nicht verschwunden (sie wurden lediglich unterdrückt), weil es nicht den ,neuen Menschen' gibt und wohl auch nicht geben wird. c) Der Marxismus -

eine Form des religiösen Chiliasmus?22

Wenn man den Sozialismus im allgemeinen und den Marxismus im besonderen einen Chiliasmus nennt, dann müssen zwei Dinge absolut getrennt werden: Einmal der Sozialismus und Marxismus als Bewegung und zum anderen als Theorie: Die Anhänger des marxistischen Sozialismus vertreten ihre Sache mit religiöser Begeisterung, und sie erhoffen und erstreben die klassenlose solidarische Menschheitsgesellschaft mit der gleichen Inbrunst wie die ersten Christen und wie alle Erlösungsbedürftigen ihr messianisches Zeitalter. Dann handelt es sich um den psychologischen Charakter der Revolution. Aber der Marxismus unterscheidet sich von früheren chiliastischen Bewegungen darin, daß er nicht zu einem schwärmerischen Glauben gehört, sondern auf nüchterner soziologischer und nationalökonomischer U ntersuchung beruht. "Der Marxismus ist ,chiliastisch' nur wegen des Zusammen21 Siehe Michael S. Voslensky: Nomenklatura Die herrschende Klasse der Sowjetunion, Moewig Sachbuch Nr. 3143, 3. Aufl., Wien-München-Zürich-Innsbruck 1980. 22 Adler, S. 308-312.

400

5. Kap.: Die klassenlose Gesellschaft - eine barbarische Utopie

fallens seiner kalten theoretischen Analysen mit dem Entwicklungsinteresse des Proletariats, das er nicht geschaffen hat, sondern das er bloß erforscht. Nicht der Marxismus selbst ist Chiliasmus, sondern seine Lehren vermählen sich notwendig in dem Proletarier, der sie verstanden hat, mit dessen urwüchsigem Chiliasmus ... "23. Es sei ein oberflächlicher Trugschluß, den Marxismus deshalb mit dem Chiliasmus gleichzusetzen, weil es sich um eine Massenbewegung handelt, bei der psychologische Züge mit chiliastischen Bewegungen in der Vergangenheit übereinstimmten. Es ist aber gerade der Marxismus als Theorie, der Aufschluß darüber gibt, warum diese Bewegung mehr als bloßer Chiliasmus ist und warum die früheren chiliastischen Bewegungen Chiliasmus bleiben mußten. Die materialistische Geschichtsauffassung habe uns in den Stand gesetzt, die Chiliasmen in ihrer sozialen Realität zu begreifen und damit von den unfruchtbaren Schwärmereien und den haltlosen Prophetien wegzukommen. " ... Und erscheint der Chiliasmus als ein Traum vom tausendjährigen Reich, so vollzieht der Marxismus als Theorie an ihm das Werk der Traumdeutung, durch welches er den realen Kern dieses Traumes manifest macht und in das Bewußtsein klarer Mittel und Ziele hebt, wodurch aus dem Traum der Jahrtausende die ökonomisch reif gewordene Wirklichkeit einer nahen Zukunft wird. "24 Adler behauptet, daß die materialistische Geschichtsauffassung des marxistischen Sozialismus den Kern des Traumes von einer vollkommenen Gesellschaft trifft und daß dann aus diesem Traum die reif gewordene Wirklichkeit in der nahen Zukunft wird. Es ist ein typischer ,Wenn ... Dann ... Satz', d. h., im Wörtchen ,Wenn' ist die Prämisse, im Wörtchen ,Dann' die (logisch einwandfreie) Ableitung enthalten. Entscheidend ist nicht die Ableitung, sondern die Prämisse; denn wenn diese falsch ist, dann muß auch das Ergebnis einer folgerichtigen Ableitung falsch sein. Hat sich aber der ,reale Kern' nicht als ein Traum, als eine Utopie erwiesen? Und gesetzt den Fall, dieser ,reale Kern' wäre kein Traum und der Traum der Jahrtausende würde in naher Zukunft Wirklichkeit: Ist es für den Chiliasmus entscheidend, ob er auf ökonomischer oder religiöser Grundlage beruht? Bleiben nicht chiliastische Erwartungen auch dann Chiliasmus, wenn sie durch die materialistische Geschichtsauffassung fundiert werden? Es ist offensichtlich, daß Adler - wie andere Marxisten - den Versuch unternimmt - sicherlich wird auch in Zukunft der Versuch unternommen werden - zu beweisen, daß der marxistische Sozialismus keine Utopie, sondern eine Wissenschaft ist. Aber bereits die ersten Anmerkungen dürften deutlich gemacht haben, daß die ,Wissenschaftlichkeit' auf der Annahme der materialistischen Geschichtsauffassung beruht. Wenn diese Annahme falsch ist, dann stürzt das darauf kunstvoll errichtete Gebäude ein. 23 24

Adler, S. 309.

Ebenda, S. 310 (Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.).

I. Der wissenschaftliche Sozialismus - eine Utopie?

401

2. Wissenschaftlicher oder utopischer Sozialismus eine Nominaldefinition Nachdem wir Adlers Begründungsversuche skizziert haben, daß weder Marx noch Engels Utopisten waren, wollen wir die Frage aufwerfen, ob der wissenschaftliche Sozialismus eine Utopie sei, vom Utopie-Begriff her beantworten. Hierbei müssen wir uns - wie im einleitenden Kapitel dargelegt bewußt bleiben, daß es sich bei der begrifflichen Abgrenzung bzw. Zuordnung nicht um eine Real-, sondern um eine Nominaldefinition handelt und somit keinen absoluten Wahrheitsanspruch erheben kann. Wenn aber eine Nominaldefinition durch reale Fakten unterlegt wird oder sonstige plausible Merkmale enthält, dann nähert sie sich der Realdefinition. Die Frage, ob der Marxismus ,utopisch' ist oder nicht, hängt im wesentlichen davon ab, wie der Begriff ,Utopie' definiert bzw. gebraucht wird: 25 (1) Wird der Begriff ,Utopie' eng verwandt - als eine romanhafte Ausschmückung der künftigen Gesellschaftsordnung in allen Einzelheiten - , dann stellen die Ausführungen von Marx und Engels über die künftige klassenlose Gesellschaft und den Weg zu ihr keine Utopie dar. (2) "Wenn wir dagegen unter einer Utopie ganz allgemein den Entwurf eines erwünschten, aber noch nicht verwirklichten Gesellschaftszustandes verstehen, (dann) trägt auch das Zukunfts bild von Marx und Engels eindeutig den Charakter einer Utopie. "26 Wir schließen uns - mit Seiffert - der zuletzt genannten Interpretation des Utopie-Begriffes an. Darüber hinaus gehen wir aber nicht nur von einer Nominaldefinition aus, sondern weisen auch daraufhin, daß alle bisherigen Realisierungsversuche, den Sozialismus oder sogar den Kommunismus einzuführen, kläglich gescheitert sind, wie die der sogenannten utopischen Sozialisten Owen, Fourier oder Cabet. Auch dieses ist ein Zeichen für eine Utopie. Warum aber wendet sich der Marxismus dagegen, seinen ,wissenschaftlichen Sozialismus' als Utopie zu charakterisieren? Der Sozialismus bzw. der Marxismus erhebt den Anspruch, "Wissenschaft" zu sein. "Genau wie der Marxismus es ablehnt, eine Ideologie unter vielen anderen möglichen zu sein, und dafür den Anspruch erhebt, die objektiv richtige Interpretation der gegenwärtigen Situation zu bieten genau so will er auch selbst dann keine ,Utopie' sein, wenn dieser Begriff positiv gefaßt wird. Denn eine Utopie mag etwas noch so Schönes sein - sie ist eben keine Wissenschaft. Der Marxismus aber erhebt den Anspruch, Wissenschaft zu sein - und kann daher nicht Utopie sein wollen."27 25 26

Seiffert, S. 112 ff.

Ebenda, S. 112 (ohne Hervorhebungen im Original, Jk.).

26 Jenki.

402

5. Kap.: Die klassenlose Gesellschaft - eine barbarische Utopie

Wie wir noch sehen werden, distanziert sich Engels vom utopischen Sozialismus und erhebt den allgemeinen Anspruch, die einzig wahre Wissenschaft zu repräsentieren. Doch das von Marx und Engels entworfene Bild von einer klassenlosen Gesellschaft ist weder wahrer noch falscher als andere mögliche Zukunftsbilder: "es (das Zukunftsbild, Jk.) ist daher mit ihnen in eine Reihe als ,Utopie' einzuordnen."28 Nachdem wir diese Frage beantwortet haben, wollen wir wie folgt vorgehen: Es ist unmöglich, sowohl für den Sozialismus und Kommunismus als auch für den Nationalsozialismus auf Grund der nahezu unübersehbaren Literatur einen auch nur annähernd vollständigen Überblick zu geben. Daher skizzieren wir zuerst die These von Friedrich Engels, daß der Sozialismus den Übergang von der Utopie zur Wissenschaft vollzogen habe, dann werden wir prüfen, ob tatsächlich - wie von Marx und Engels angenommen - nur das materielle Sein das Bewußtsein bestimmt, ferner ob das vom wissenschaftlichen Sozialismus erhoffte Menschenbild realistisch war oder ob es sich nicht um eine barbarische Utopie handelte. Auch für den Nationalsozialismus wollen wir nicht die gesamte Ideologie ausleuchten, sondern lediglich der Frage nachgehen, ob nicht die Idee von der nordischen Herrenrasse eine Utopie war, die in der Barbarei endete. In beiden Fällen handelt es sich um bewußte Begrenzungen und Einengungen, um das barbarische Element von Ideologien (und den darin enthaltenen utopischen Elementen) aufzuzeigen.

11. Der Entwurf des ,wissenschaftlichen Sozialismus' Die Utopisten Robert Owen, Charles Fourier und Etienne Cabet haben in ihren Entwürfen über eine vollkommene Gesellschaft unter anderem die Vergesellschaftung des Eigentums sowie eine kollektive Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung vorgeschlagen. Betrachtet man die Eigentumsfrage als ein entscheidendes Merkmal dafür, ob es sich um eine kapitalistische oder um sozialistische bzw. kommunistische Ordnung handelt, dann waren diese Utopisten - trotz ihrer Unterschiede in zahlreichen Einzelheiten - Sozialisten, Cabet bezeichnete sich selbst als Kommunisten. Diese und andere Verfasser von Konzepten für eine vollkommene Gesellschaft haben sich selbst keineswegs als Utopisten, sondern als Realisten empfunden, denn sonst hätten sie nicht den - zum Scheitern verurteilten - Versuch unternommen, ihre Ideale zu realisieren. Dagegen hat Friedrich Engels diese als Utopisten und ihre Vorschläge als Utopien bezeichnet. Für sich selbst aber erhebt er den Anspruch, wissenschaftlich (und damit rational) zu sein. 27

28

Ebenda, S. 113 (Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). Ebenda, S. 114.

11. Der Entwurf des ,wissenschaftlichen Sozialismus'

403

1. Engels Schritt von der Utopie zum wissenschaftlichen Sozialismus

Friedrich Engels (1820-1895)29 hat seine Abhandlung ,Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft'30 ursprünglich im ,AntiDühring'31 veröffentlicht. Auf Ersuchen des französischen Sozialisten Paul Lafargue 32 hat Engels drei Kapitel des ,Anti-Dühring'33 1880 zu einer selbständigen populären Schrift umgearbeitet. Diese Schrift wurde zuerst 1880 in französischer Sprache in der Zeitschrift ,La Revue Socialiste' abgedruckt und erschien noch im gleichen Jahr als Broschüre, die dann als Grundlage für die polnische und italienische Ausgabe diente. 1883 wurde diese Abhandlung, von Engels selbst vorbereitet, in deutscher Sprache veröffentlicht (auf dem Titelblatt ist aber als Erscheinungsjahr 1882 angegeben). Die letzte von Engels besorgte deutsche (vierte) Ausgabe erschien 1891; bis 1891 wurden in drei Auflagen 10000 Exemplare abgesetzt. "Der ,Anti-Dühring' zählt zu den wichtigsten Werken des MarxismusLeninismus und steht in einer Reihe mit dem ,Manifest der Kommunistischen Partei' und dem ,Kapital'. Zusammen mit der Schrift ,Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft', ... , ist er bis heute 29 Abgesehen von der bisherigen Übung verzichten wir auf eine Darstellung des Lebensweges von Friedrich Engels, da dieser als weithin bekannt unterstellt wird. Es sei lediglich auf folgendes hingewiesen: Engels wurde in Barmen als Sohn eines Baumwollfabrikanten geboren, wurde kaufmännisch ausgebildet, ging 1842 nach England, wo er die Probleme der Industrialisierung kennenlernte (1845 seine Schrift: ,Die Lage der arbeitenden Klasse in England'), Beginn seiner Freundschaft mit Marx, hielt sich in Brüssel und Paris auf, verfaßte 1848 mit Marx das ,Manifest der Kommunistischen Partei', nach Aufenthalten in Deutschland und in der Schweiz ging Engels 1849 nach England, war als Schriftsteller und in sozialistischen bzw. kommunistischen Organisationen tätig, wurde 1870 Mitglied des Generalrats der Internationalen Arbeiterassoziation, 1880 besuchte August Bebel Marx und Engels in London, 1888 besuchte er die USA und Kanada, Engels starb am 5. August 1895 in London. Als Biographien nennen wir: a) Aus westlicher Sicht: Helmut Hirsch: Friedrich Engels - mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Rowohlts Monographien, Bd. 142,41-43. Tausend, Reinbek 1986; b) Aus DDRSicht: Autorenkollektiv: Friedrich Engels - Eine Biographie, Institut für MarxismusLeninismus beim ZK der SED, 4. Aufl., Ost-Berlin 1981 (mit über 700 Seiten eine der umfangreichsten Biographien). 30 Friedrich Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, in: Bücherei des Marxismus-Leninismus, 24. Aufl., Ost-Berlin 1988; Kar! Marx/Friedrich Engels: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, 14. Aufl., Bd. V, Ost-Berlin 1989, S. 401-477 (Wir zitieren aus der zuerst genannten Quelle), S. 5. 31 Friedrich Engels: Herrn Dührings Umwälzung der Wissenschaft (,Anti-Dühring'), in: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Bd. V., S. 5-356. 32 Paul Lafargue (1842-1911) war französischer Arzt, Sozialist und Propagandist des Marxismus; ein Schüler und Kampfgefährte von Marx und Engels. Seit 1868 war Lafargue mit Marx' Tochter Laura verheiratet. 33 Die Entnahme erfolgte aus dem 1. Kapitel der ,Einleitung' und aus dem 1. und 2. Kapitel des dritten Abschnitts ,Sozialismus' des Anti-Dühring, wobei verschiedene Ergänzungen eingefügt und einige Änderungen am Text vorgenommen wurden.

26'

404

5. Kap.: Die klassenlose Gesellschaft - eine barbarische Utopie

ein unentbehrlicher Helfer beim Studium des Marxismus geblieben."34 Die Aktualität des Anti-Dühring begründet sich auch nach über hundert Jahren aus marxistischer Sicht auf den folgenden drei Erkenntnissen: 35 (1) "Erstens stellt Engels im ,Anti-Dühring' erstmals die Weltanschauung der Arbeiterklasse in ihrem theoretischen Zusammenhang umfassend dar ... ". (2) "Zweitens führt Engels die theoretisch-historische Begründung des wissenschaftlichen Sozialismus weiter und arbeitet gerade jene weltanschaulichen Positionen des Marxismus heraus, die den qualitativen Unterschied kennzeichnen zwischen dem wissenschaftlichen Sozialismus und jeglichen unwissenschaftlichen Sozialismusvorstellungen ... ". (3) "Drittens entwickelt Engels in seiner Schrift die materialistische Dialektik umfassend und durchgängig als Theorie und Methode der Weltanschauung der Arbeiterklasse ... ". Weder der Anti-Dühring noch die daraus entstandene Schrift vom wissenschaftlichen Sozialismus sind ,Nebenprodukte', sondern gehören zu den klassischen Werken des Marxismus und Leninismus. Daher kommt den darin enthaltenen Thesen besondere Bedeutung zu.

2. Der utopische Sozialismus 36 Die großen Männer, die in Frankreich die Köpfe für die kommende Revolution klärten, betrachteten alle bisherigen Gesellschafts- und Staatsformen als unvernünftig, alles Vergangene verdiente nur Mitleid und Verachtung. "Jetzt erst brach das Tageslicht, das Reich der Vernunft an; von nun an sollte der Aberglaube, das Unrecht, das Privilegium und die Unterdrückung verdrängt werden durch die ewige Wahrheit, die ewige Gerechtigkeit, die in der Natur begründete Gleichheit und die unveräußerlichen Menschenrechte" (S. 48). Es war das Reich der Vernunft, der Vernunftstaat, der mit dem Rousseau'schen Gesellschaftsvertrag ins Leben trat. Neben dem Gegensatz zwischen dem Feudaladel und dem Bürgertum besteht der zwischen den Kapitalisten und dem Proletarier. Im Kampf des Bürgertums gegen den Adel brachen auch die Interessen der arbeitenden Klasse - in den Bauernkriegen, Thomas Müntzer, die Wiedertäufer - auf. Diese noch unfertigen Erhebungen wurden von utopischen Schilderungen 34 Udo Pacholik: Einführung in Engels' Schrift "Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (,Anti-Dühring')", 2. Aufl., Ost-Berlin 1988, S. 5f. 35 Ebenda, S. 6 f. (Hervorhebung abweichend vom Original, Jk.). 36 Wir folgen der weiter oben zitierten Schrift "Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft", S. 47-96 (die Seitenangabe erfolgt im Text).

11. Der Entwurf des ,wissenschaftlichen Sozialismus'

405

idealer Gesellschaftszustände im 16. und 17. Jahrhundert begleitet, im 18. Jahrhundert wurden bereits kommunistische Theorien von Morelly37 und Mably38 vorgetragen; nicht nur die Klassenvorrechte, sondern die Klassenunterschiede selbst sollten aufgehoben werden. Dann folgten die drei großen Utopisten, nämlich Saint-Simon, Fourier und Owen: "Allen dreien ist gemeinsam, daß sie nicht als Vertreter der Interessen des inzwischen historisch erzeugten Proletariats auftreten. Wie die Aufklärer, wollen sie nicht zunächst eine bestimmte Klasse, sondern sogleich die ganze Menschheit befreien. Wie jene wollen sie das Reich der Vernunft und der ewigen Gerechtigkeit einführen; ... " (S. 51). Aber auch diese bürgerliche Welt ist unvernünftig und ungerecht, da man sie nicht richtig erkannt hat; denn die Forderung nach dem vernünftigen Staat und einer vernünftigen Gesellschaft war nichts anderes als der idealisierte Verstand der Bourgeoisie. Als die Französische Revolution die Vernunftgesellschaft und diesen Vernunftstaat verwirklicht hatte, stellte sich dieser keineswegs als vernünftig heraus. Der Vernunftstaat war in die Brüche gegangen, der verheißene ewige Friede war umgeschlagen in einen Eroberungskrieg, der Gegensatz von arm und reich war verschärft worden. An die Stelle der gewaltsamen Unterdrückung trat die Korruption, an die Stelle des Degens das Geld als Machthebel. "Kurzum, verglichen mit den prunkhaften Verheißungen der Aufklärer, erwiesen sich die durch den ,Sieg der Vernunft' hergestellten gesellschaftlichen und politischen Einrichtungen als bitter enttäuschende Zerrbilder" (S. 53). Um 1800 war die kapitalistische Produktionsweise und mit ihr der Gegensatz von Bourgeoisie und Proletariat noch unterentwickelt. Diesen unreifen Stand der kapitalistischen Produktion und der unreifen Klassenlage entsprachen auch die Theorien: Es mußte ein neues, vollkommeneres System der gesellschaftlichen Ordnung erfunden werden. "Diese neuen sozialen Systeme waren von vornherein zur Utopie verdammt; je weiter sie in ihren Einzelheiten ausgearbeitet wurden, desto mehr mußten sie in reine Phantasterei verlau37 Morelly (geboren um 1715, lebte bis nach 1775) war französischer Philosoph. Er ist ein früher Vertreter eines utopischen Kommunismus, der das größtmögliche Glück aller garantieren soll. Morelly geht von der Grundannahme aus, daß der Mensch an sich gut sei, aber durch die ,Verhältnisse' - insbesondere durch das Privateigentum - zu Neid und Gewalttätigkeit korrumpiert würde. Daher fordert er die Verstaatlichung der Güter und Gesetze für die Produktion und die Güterverteilung. 38 Gabriel Bonnot de Mably (1709-1785) war gleichfalls ein Vertreter des GleichheitsKommunismus: Er wandte sich gegen die französische absolutistische Monarchie und gegen den Merkantilismus. Seine von Rousseau beeinflußte, frühsozialistische Gesellschaftslehre stellte die einfache bäuerliche Welt der von Dekadenz und Klassengegensätzen gekennzeichneten Gegenwart gegenüber. Mably verurteilte das Privateigentum und setzte dagegen den naturrechtlich begründeten utopischen Entwurf einer Gütergemeinschaft, die Maßstab seiner Sozialkritik und seines radikalen Gleichheitspostulats war. Er hatte einen großen Einfluß auf die Akteure der Französischen Revolution.

406

5. Kap.: Die klassenlose Gesellschaft - eine barbarische Utopie

fen" (S. 54, Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). Doch unter der phantastischen Hülle befanden sich geniale Gedanken: Saint-Simon hat die Französische Revolution als einen Klassenkampf nicht nur zwischen Adel und Bürgertum, sondern auch zwischen dem Adel und dem Bürgertum einerseits und den Besitzlosen andererseits aufgefaßt, was 1802 eine höchst geniale Entdeckung war; 1816 sagte er das Aufgehen der Politik in der Ökonomie voraus. Bei Saint-Simon findet sich eine geniale Weite des Blicks, die fast alle nicht streng ökonomischen Gedanken der späteren Sozialisten im Keim enthält. Dagegen entdeckte Fourier die materielle und moralische Misere der bürgerlichen Welt und deckt die gleißenden Versprechungen sowie die schönfärbenden Redensarten von der alles beglückenden Zivilisation als hochtönendste Phrasen auf; er überschüttet dieses rettungslose Fiasko der Phrase mit beißendem Spott. "Fourier ist nicht nur Kritiker, seine ewig heitre Natur macht ihn zum Satiriker, und zwar zu einem der größten Satiriker aller Zeiten" (S. 57). Robert Owen geht von der materialistischen Aufklärung aus, danach ist der Charakter des Menschen einmal Produkt der angeborenen Eigenschaften und zum anderen der ihn umgebenden Umstände. Dadurch, daß er in seiner Baumwollspinnerei in New Lannark menschenwürdige Umstände schuf, verwandelte er die demoralisierten Menschen in Mitglieder einer Musterkolonie. Trotz der Verkürzung der Arbeitszeit, der Abschaffung der Kinderarbeit und der Schulerziehung stieg der Profit. Als Frucht dieses kaufmännischen Erfolges entstand der Owen'sche Kommunismus, und er schlug die Bildung von kommunistischen Kolonien vor (die scheiterten). Als Übergang zur vollständigen kommunistischen Gesellschaft führte Owen die Konsum- und Produktivgenossenschaften sowie die Arbeiterbasare - Anstalten zum Austausch von Arbeitsprodukten auf der Basis von Arbeitspapiergeld - ein. Diese Anschauungen der Utopisten haben lange die sozialistischen Vorstellungen des 19. Jahrhunderts beherrscht. "Der Sozialismus ist ihnen allen der Ausdruck der absoluten Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit und braucht nur entdeckt zu werden, um durch eigene Kraft die Welt zu erobern; da die absolute Wahrheit unabhängig ist von Zeit, Raum und menschlicher geschichtlicher Entwicklung, so ist es bloßer Zufall, wann und wo sie entdeckt wird" (S. 62, Hervorhebungen erfolgten durch uns, Jk.). Aber bei jedem Schulstifter wird die absolute Wahrheit, Vernunft und Gerechtigkeit durch den subjektiven Verstand, die Lebensbedingungen, dem Maß der Kenntnisse und der Denkschulung bestimmt. Dabei konnte bei denutopischen Sozialisten nichts anderes als eine Art von eklektischem Durchschnitts-Sozialismus herauskommen. "Um aus dem Sozialismus eine Wissenschaft zu machen, mußte er erst auf einen realen Boden gestellt werden" (S.63).

11. Der Entwurf des ,wissenschaftlichen Sozialismus'

407

Bemerkenswert ist, daß Friedrich Engels den sozialistischen Utopisten vorwirft, daß diese durch den subjektiven Verstand, die Lebensbedingungen usw. beeinflußt werden. Er erhebt aber - wie noch zu zeigen sein wird - den Anspruch, nunmehr den wahren, den wissenschaftlichen Sozialismus entdeckt und formuliert zu haben. Ist es nicht eine Anmaßung, die Einsichten und Erkenntnisse anderer abzuwerten, die eigenen aber als die absolute Wahrheit auszugeben? Ohne auf das gescheiterte Experiment des Sozialismus und Kommunismus in den Ostblockländern zu verweisen: Ist nicht Engels auch als utopischer Sozialist zu deklarieren, denn warum soll ihm und nur ihm der Stein der Weisen zugefallen sein? Ganz offensichtlich handelt es sich um eine Wesensaussage in der Form einer essentialistischen LeerformeP9; denn die behauptete ,wahre Wesenheit' oder ,wahre Bedeutung' entzieht sich jeder intersubjektiven Nachprüfbarkeit. Aber eine ständige Wiederholung dieser Formel - vom wissenschaftlichen Sozialismus verwandelt selbst Spötter in ergebene Gläubige und erzeugt den Eindruck von Wissenschaftlichkeit. 3. Die idealistische Geschichtsauffassung Hegels Die neuere deutsche Philosophie fand mit Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770-1831) ihren Abschluß: Er verstand die geschichtliche und geistige Welt als Prozeß, d. h. als in steter Bewegung, Veränderung,~Umbildung und Entwicklung begriffen. Sein epochemachendes Verdienst bestand darin, den Entwicklungsprozeß der Menschheit und dessen innere Gesetzmäßigkeit nachgewiesen zu haben. Doch das Hegel'sche System hat diese Aufgabe nicht gelöst. Es ist eine Aufgabe, die kein Einzelner je wird lösen können; denn erstens war Hegel durch den begrenzten Umfang seiner eigenen Kenntnisse beschränkt, zweitens durch den Umfang und die Tiefe der begrenzten Kenntnisse sowie Anschauungen seiner Epoche gebunden und drittens war Hegel Idealist, d. h., ihm galten die Dinge und ihre Entwicklung nur als die verwirklichten Abbilder der schon vor der Welt existierenden Idee. "Damit war alles auf den Kopf gestellt und der wirkliche Zusammenhang der Welt vollständig umgekehrt. ... Das HegeIsche System als solches war eine kolossale Fehlgeburtaber auch die letzte ihrer Art" (S. 69). Das Hegel'sche System litt an einem unheilbaren inneren Widerspruch: Einerseits hatte es zur Voraussetzung die historische Anschauung, die menschliche Geschichte ist ein Entwicklungsprozeß, der nicht durch die Entdeckung einer absoluten Wahrheit seinen 39 Siehe hierzu Ernst Topitsch: Sprachlogische Probleme der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung, in: Logik der Sozialwissenschaften, herausgegeben von E. Topitsch, Neue Wissenschaftliche Bibliothek, 6. Aufl., Köln-Berlin 1970, S; 17-36.

408

5. Kap.: Die klassenlose Gesellschaft - eine barbarische Utopie

intellektuellen Abschluß findet, andererseits behauptet dieses System, der Inbegriff dieser absoluten Wahrheit zu sein. Diese Einsicht in die totale Verkehrtheit des bisherigen deutschen Idealismus führte notwendig zum Materialismus: Der moderne Materialismus sieht in der Geschichte den Entwicklungsprozeß der Menschheit, dessen Aufgabe darin besteht, dessen Bewegungsgesetze zu entdecken. Die Vorstellungen über die Natur bestanden darin, daß sie sich in engen Kreisläufen bewegt, dagegen hatten historische Tatsachen in der Geschichtsauffassung eine entscheidende Wendung herbeigeführt, nämlich 1831 der Arbeiteraufstand in Lyon und die Chartisten-Bewegung40 in England 1838 bis 1842. Damit trat der Klassenkampf zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie in den Vordergrund der Geschichte und die Lehren der bürgerlichen Ökonomie von der allgemeinen Harmonie - der Identität der Interessen von Kapital und Arbeit - wurden Lügen gestraft. Diese neuen Tatsachen zwangen dazu zu erkennen, "daß alle bisherige Geschichte, mit Ausnahme der Urzustände, die Geschichte von Klassenkämpfen war, ... " (S.71, Hervorhebung im Original, Jk.). Die sich jeweils bekämpfenden Klassen der Gesellschaft sind Erzeugnisse der Produktions- und Verkehrsverhältnisse, mit einem Wort: der ökonomischen Verhältnisse ihrer Epoche. Die jeweilige ökonomische Struktur der Gesellschaft bildet die reale Grundlage, aus der der gesamte Überbau - der rechtlichen und politischen Einrichtungen sowie die religiösen, philosophischen und sonstigen Vorstellungsweisen - zu erklären ist. "Hegel hatte die Geschichtsauffassung von der Metaphysik befreit, er hatte sie dialektisch gemacht - aber seine Auffassung der Geschichte war wesentlich idealistisch. Jetzt war der Idealismus aus seinem letzten Zufluchtsort, aus der Geschichtsauffassung, vertrieben, eine materialistische Geschichtsaujjassung gegeben und der Weg gefunden, um das Bewußtsein der Menschen aus ihrem Sein, statt wie bisher ihr Sein aus ihrem Bewußtsein zu erklären" (S. 71, Hervorhebungen erfolgten durch uns, Jk.). Durch diese für den gesamten Sozialismus und Kommunismus entscheidende Aussage hat Friedrich Engels festgestellt, daß der Sozialismus nicht mehr eine zufällige Entdeckung eines genialen Kopfes sei, "sondern als das notwendige Erzeugnis des Kampfes zweier geschichtlich entstandener Klassen, des Proletariats und der Bourgeoisie" anzusehen ist (S. 71). Aufgabe des Sozialismus ist es nicht mehr, ein möglichst vollkommenes System der 40 Der Chartismus entstand 1836 in London als erste organisierte Arbeiterbewegung in England. Wesentliche Forderungen waren: Allgemeines Stimmrecht, geheime Abstimmung, gleichmäßige Wahlbezirke, jährliche Parlamentswahlen, Abschaffung aller aus dem Besitz abgeleiteten politischen Vorteile. Auf Grund der Uneinigkeit in der Arbeiterschaft und ihrer Führung zerfiel sie bald. Das geschlossene politische Auftreten eines großen Teils der Arbeiterschaft übte einen großen Einfluß auf Karl Marx und Friedrich Engels aus.

11. Der Entwurf des ,wissenschaftlichen Sozialismus'

409

Gesellschaft zu verfertigen, d.h., einen utopischen Entwurf vorzulegen, sondern den geschichtlichen ökonomischen Verlauf zu untersuchen; mit dieser materialistischen Auffassung war der bisherige Sozialismus unverträglich. "Der bisherige Sozialismus kritisierte zwar die bestehende kapitalistische Produktionsweise und ihre Folgen, konnte sie aber nicht erklären, also auch nicht mit ihr fertig werden; er konnte sie nur einfach als schlecht verwerfen" (S.72). Wodurch erfolgte der Übergang vom utopischen zum wissenschaftlichen Sozialismus? Nach Engels handelte es sich darum, einerseits die kapitalistische Produktionsweise in ihrem geschichtlichen Zusammenhang darzustellen und andererseits den bis dahin verborgenen inneren Charakter bloßzulegen. "Dies geschah durch die Enthüllung des Mehrwerts" (S.72, Hervorhebung im Original, Jk.). Hierdurch wurde - so Engels - bewiesen, daß die Grundform der kapitalistischen Produktionsweise die Aneignung der unbezahlten Arbeit und die damit verbundene Ausbeutung des Arbeiters ist. Selbst dann, wenn der Kapitalist die Arbeitskraft des Arbeiters zum vollen Wert kauft, den sie als Ware auf dem Warenmarkt hat, schlägt er mehr Wert aus ihr heraus, als er für sie bezahlt hat. Dieser Mehrwert bildet die Wertsumme, aus der sich die wachsende Kapitalmasse in den Händen der besitzenden Klassen anhäuft. Karl Marx verdanken wir nach Friedrich Engels die beiden folgenden großen Entdeckungen: Einmal die materialistische Geschichtsauffassung und zum anderen die Enthüllung des Geheimnisses der kapitalistischen Produktion durch den Mehrwert. Mit diesen Entdeckungen "wurde der Sozialismus eine Wissenschaft" und blieb nicht mehr eine Utopie (S.72, Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). 4. Der Sprung der Menschheit in das Reich der Freiheit Die materialistische Geschichtsauffassung geht von den folgenden Erkenntnissen aus: Die Grundlage der Gesellschaftsordnung ist die Produktion und dann der Austausch der Produkte. In jeder geschichtlich auftretenden Gesellschaft bestimmt die Verteilung der Produkte die soziale Gliederung in Klassen und Stände. "Hiernach sind die letzten Ursachen aller gesellschaftlichen Veränderungen und politischen Umwälzungen zu suchen nicht in den Köpfen der Menschen, in ihrer zunehmenden Einsicht in die ewige Wahrheit und Gerechtigkeit, sondern in Veränderungen der Produktions- und Austauschweise; sie sind zu suchen nicht in der Philosophie, sondern in der Ökonomie der betreffenden Epoche" (S.73, Hervorhebungen zum Teil abweichend vom Original, Jk.). Die entdeckten Mißstände können nicht im

410

5. Kap.: Die klassenlose Gesellschaft - eine barbarische Utopie

Kopf erfunden, sondern nur durch die veränderten Produktionsverhältnisse beseitigt werden. Wie steht es damit im modernen Sozialismus? Die Bourgeoisie hat die kapitalistische Produktionsweise geschaffen, die sich nicht mit der feudalen Ordnung vertrug und die daher zerschlagen wurde und auf deren Trümmer die bürgerliche Gesellschaftsverfassung errichtet wurde. Nunmehr konnte sich die kapitalistische Produktionsweise frei entfalten. Die große Industrie kommt aber mit ihren eigenen Schranken in Konflikt: " ... dieser Konflikt zwischen Produktivkräften und Produktionsweise ist nicht ein in den Köpfen der Menschen entstandener Konflikt, wie etwa der der menschlichen Erbsünde mit der göttlichen Gerechtigkeit, sondern er besteht in den Tatsachen, objektiv, außer uns, unabhängig vom Wollen oder Laufen selbst derjenigen Menschen, die ihn herbeigeführt" (S.74). Der Konflikt besteht darin, daß im Mittelalter der Kleinbetrieb auf der Grundlage des Privateigentums der Arbeiter an ihren Produktionsmitteln gegeben war; nunmehr trat an die Stelle der Einzelwerkstatt die Fabrik und das Produkt wurde das Ergebnis gemeinsamer Arbeit. Die ,naturwüchsige' Arbeit wurde durch die Teilung der Arbeit ersetzt, d. h., es entstand die gesellschaftliche Produktion, die die alte Produktionsweise revolutionierte. Im Mittelalter beruhte das Eigentum am Produkt auf Grund der eigenen Arbeit, die Kapitalisten eigneten sich durch die gesellschaftlichen Produktionsmittel die Produkte an. "In diesem Widerspruch, der der neuen Produktionsweise ihren kapitalistischen Charakter verleiht, liegt die ganze Kollision der Gegenwart bereits im Keim" (S.77, Hervorhebung abweichend vom Original, Jk.). Je mehr diese neue Produktionsform vordrang, desto deutlicher mußte die Unverträglichkeit von gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung werden. "Der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung tritt an den Tag als Gegensatz von Proletariat und Bourgeoise" (S. 78, ohne Hervorhebungen im Original). Die mittelalterliche Produktion war auf den Eigenverbrauch ausgerichtet, in der kapitalistischen Produktionsweise wird für den Austausch produziert; es herrscht die Anarchie der gesellschaftlichen Produktion. Diese hat ihre eigenen Gesetze, die im Austausch und im ,Zwangs gesetz der Konkurrenz' zum Ausdruck kommen. "Das Produkt beherrscht die Produzenten" (S. 79). Die Anarchie der gesellschaftlichen Produktion beendete die alte friedliche Stabilität und führte zum Darwin'schen Kampf um das Einzeldasein. "Der Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und kapitalistischer Aneignung stellt sich nun dar als Gegensatz zwischen der Organisation der Produktion in der einzelnen Fabrik und der Anarchie in der ganzen Gesellschaft" (S. 81, ohne Hervorhebungen im Original). Es ist ein fehlerhafter Kreislauf, denn die treibende Kraft der gesellschaftlichen Anarchie der Produktion - die Proletariermassen - werden der Produktionsanarchie ein

11. Der Entwurf des ,wissenschaftlichen Sozialismus'

411

Ende bereiten. Auf der einen Seite erfolgt eine Akkumulation von Kapital und Reichtum, auf der anderen Seite eine solche von Elend, Arbeitsqual, Sklaverei, Unwissenheit und moralischer Degeneration; eine Kollision ist unvermeidlich. Die kapitalistische Produktion erzeugt einen neuen fehlerhaften Kreislauf: Etwa alle zehn Jahre - erstmals 1825 - treten Krisen auf, in denen der Absatz und die Unternehmen zusammenbrechen. In diesen Krisen kommt der Widerspruch zwischen der gesellschaftlichen Produktion und der kapitalistischen Aneigung zum Ausdruck, d. h., die Produktionsweise rebelliert gegen die Austauschweise. Da der Mechanismus der kapitalistischen Produktionsweise versagt, muß der Staat die Leitung der Produktion übernehmen. Diese Notwendigkeit tritt bei den großen Verkehrsanstalten - Post, Telegraphen, Eisenbahn - zuerst ein. Die Bourgeoisie wird damit entbehrlich. Durch die moderne Technik haben die Kapitalisten die Arbeiter verdrängt, nunmehr werden sie selbst verdrängt. Der moderne Staat hält die Bedingungen der kapitalistischen Produktion aufrecht und die Arbeiter bleiben Lohnarbeiter und damit Proletarier. Das bedeutet, daß das Staatseigentum an den Produktionsmitteln nicht den Konflikt löst. Worin aber liegt die Lösung? Nach Engels kann die Lösung dieses Konflikts nur darin bestehen, daß die Gesellschaft offen und ohne Umwege von den Produktivkräften Besitz ergreift. In den Händen der assoziierten Produzenten können sie dann aus dämonischen Herrschern in willige Diener verwandelt werden. "Mit dieser Behandlung der heutigen Produktivkräfte nach ihrer endlich erkannten Natur tritt an die Stelle der gesellschaftlichen Produktionsanarchie eine gesellschaftlich-planmäßige Regelung der Produktion nach den Bedürfnissen der Gesamtheit wie jedes einzelnen" (S. 89). Das Proletariat ergreift zuerst die Staatsgewalt und verwandelt die Produktionsmittel zunächst in Staatseigentum, zugleich hebt es die Klassenunterschiede und Klassengegensätze auf und damit auch den Staat als Staat. Die in Klassengegensätzen sich bewegende Gesellschaft hatte den Staat notwendig, indem er aber Repräsentant der ganzen Gesellschaft wird, macht er sich selbst überflüssig. Der erste Akt des Staates - die Besitzergreifung der Produktionsmittel im Namen der Gesellschaft - ist zugleich sein letzter Akt als Staat. "Der Staat wird ,abgeschafft', er stirbt ab" (S. 90). Die Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft hat bisher als Zukunfts ideal vorgeschwebt. Aber sie konnte als geschichtliche Notwendigkeit erst möglich werden, als die Voraussetzungen hierfür vorlagen. Erst die Spaltung der Gesellschaft in eine ausbeutende und eine ausgebeutete, in eine herrschende und in eine unterdrückte Klasse schuf eine von direkt-produktiver Arbeit befreite Klasse, die die Arbeitsleitung, die Staatsgeschäfte, die Justiz, die Wissenschaften, die Künste usw. innehat. Es

412

5. Kap.: Die klassenlose Gesellschaft - eine barbarische Utopie

liegt dem Gesetz der Arbeitsteilung das der Klassenteilung zu Grunde. Die herrschende Klasse hat nie verfehlt, ihre Herrschaft auf Kosten der arbeitenden Klasse zu befestigen und die Massen auszubeuten. Durch die volle Entfaltung der modernen produktivkräfte wird diese Klassenteilung weggefegt werden. "Dieser Punkt ist jetzt erreicht. Ist der politische und intellektuelle Bankrott der Bourgeoisie ihr selbst kaum noch ein Geheimnis, so wiederholt sich ihr ökonomischer Bankrott regelmäßig alle zehn Jahre" (S.92). Mit der Besitzergreifung der Produktionsmittel durch die Gesellschaft wird die Warenproduktion beseitigt und damit die Herrschaft des Produkts über die Produzenten. "Die Anarchie innerhalb der gesellschaftlichen Produktion wird ersetzt durch die planmäßige bewußte Organisation. Der Kampf ums Einzeldasein hört auf. Damit erst scheidet der Mensch, in gewissem Sinn, endgültig aus dem Tierreich, tritt aus tierischen Daseinsbedingungen in wirklich menschliche" (S.93). Zum ersten Male wird der Mensch Herr der Natur, denn die eigene Vergesellschaftung des Menschen wirdjetzt zur freien Tat. Erst von da an werden die Menschen ihre Geschichte mit vollem Bewußtsein selbst machen. "Es ist der Sprung der Menschheit aus dem Reich der Notwendigkeit in das Reich der Freiheit" (S. 94, Hervorhebungen erfolgten durch uns, Jk.). 5. Der Entwicklungsgang der Menschheit

Friedrich Engels faßt den Entwicklungsgang der Menschheit wie folgt zusammen (S. 94-96):41 (1) Mittelalterliche Gesellschaft: Die kleine Einzelproduktion für den Einzelverbrauch herrscht vor. Lediglich der Überschuß wird zum Verkauf angeboten. Somit ist die Warenproduktion - damit auch die Anarchie in der gesellschaftlichen Produktion - nur im Ansatz vorhanden. (2) Kapitalistische Produktion: Die Produktionsmittel werden in großen Werkstätten konzentriert und damit in gesellschaftliche verwandelt. Der Kapitalist als Eigentümer der Produktionsmittel tritt auf, er eignet sich die Produkte an und macht sie zu Waren, die Produktion ist ein gesellschaftlicher Akt geworden. Damit tritt der Grundwiderspruch aus dem alle Widersprüche entspringen - offen zu Tage: (a) Gegensatz von Proletariat und Bourgeoisie: Durch die Trennung des Produzenten von den Produktionsmitteln wird der Arbeiter zur lebenslänglichen Lohnarbeit verurteilt. 41 Wir folgen zum Teil wörtlich Friedrich Engels, ohne dieses als Zitat kenntlich zu machen. Die Gliederung übernehmen wir von Engels, die Zwischenüberschriften unter Ziff. 2 sind von uns eingefügt. Auf Hervorhebungen im Original wird verzichtet.

IH. Die utopischen Elemente des ,wissenschaftlichen' Sozialismus

413

(b) Zügelloser Konkurrenzkampf: Die Gesetze, die die Warenproduktion beherrschen, treten hervor. Hieraus ergibt sich der Widerspruch der gesellschaftlichen Organisation in den einzelnen Fabriken und der gesellschaftlichen Anarchie in der Gesamtproduktion. (c) Die Produktionsweise rebelliert gegen die Austauschform: Durch die Vervollkommnung der technischen Produktionsanlagen (Maschinerie) und durch die Konkurrenz werden Arbeitskräfte freigesetzt und damit wird die industrielle Reservearmee geschaffen. Das Zwangsgesetz der Konkurrenz führt zur Überproduktion und diese zu den zehnjährigen Krisen. Es entsteht ein fehlerhafter Kreislauf: Überfluß an Produktionsmitteln und Produktion sowie Überfluß von Arbeitern ohne Beschäftigung. Folge ist, daß die Produktionsweise gegen die Austauschform rebelliert; denn die Bourgeoisie ist nicht in der Lage, ihre eigenen gesellschaftlichen Produktivkräfte zu lenken. (d) Aneignung der Produktions- und Verkehrsorganismen durch den Staat: Zuerst werden die großen Produktions- und Verkehrsorganismen durch Aktiengesellschaften, dann durch Trusts und schließlich durch den Staat angeeignet. Die Bourgeoisie erweist sich als überflüssige Klasse, ihre gesellschaftlichen Funktionen werden durch besoldete Angestellte erfüllt. (3) Proletarische Revolution: Die Widersprüche werden dadurch gelöst, indem das Proletariat die öffentliche Gewalt ergreift und die gesellschaftlichen Produktionsmittel in öffentliches Eigentum verwandelt. Nunmehr wird eine gesellschaftliche Produktion nach einem vorher bestimmten Plan möglich; die Existenz von Gesellschaftsklassen wird zum Anachronismus. In dem Maß, wie die Anarchie der gesellschaftlichen Produktion schwindet, schläft auch die politische Autorität des Staates ein. "Diese weltbefreiende Tat durchzuführen ist der geschichtliche Beruf des modernen Proletariats" (S.96, Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). Aufgabe des wissenschaftlichen Sozialismus ist es, die geschichtlichen Bedingungen zu ergründen und der unterdrückten Klasse - dem Proletariat - die Bedingungen und die Natur der eigenen Aktion in das Bewußtsein zu bringen.

III. Die utopischen Elemente des ,wissenschaftlichen' Sozialismus In der Einleitung zu diesem Kapitel haben wir die Frage aufgeworfen, ob der von Friedrich Engels behauptete ,wissenschaftliche Sozialismus' nicht

414

5. Kap.: Die klassenlose Gesellschaft - eine barbarische Utopie

wissenschaftlich, sondern utopisch ist. Das ,Reich der Freiheit' siedelt er offensichtlich im Kaum-Erreichbaren an, denn auch die religiösen Heilslehren führen über das Denken im Sein hinaus und es entspringt der volkstümlichen Vorstellung vom Paradies auf Erden. "Obwohl Marx die Religion als Opium fürs Volks verdammt, erinnern einige Elemente seiner eigenen Lehre an religiöse Heilslehren .... Das laut Marx am Ende der Bewegung stehende Reich der Freiheit - das faktisch Freiheit von Herrschaft und von Knechtschaft, Gleichheit und Brüderlichkeit, Verschwinden von materiellem Elend und volle Entfaltung aller Individuen bringen soll, weist manche Ähnlichkeit mit der volkstümlichen Version vom Reich Gottes auf Erden oder dem irdischen Paradies auf. "42 Auch Kamlah 43 unterscheidet - wie Seiffert - zwischen den mehr oder weniger spielerischen Entwürfen (dann ist die Utopie die literarische Fiktion optimaler, ein glückliches Leben ermöglichenden Institution eines Gemeinwesens) und den Utopien als Aktionsprogramm, die seit dem 18. Jahrhundert entstanden sind, als man sich "mehr und mehr dessen bewußt wurde, daß der Mensch die politischen, sozialen, dann auch die wirtschaftlichen Institutionen, in denen er sich vorfindet, nicht einfach hinnehmen muß als ein Schicksal, sondern daß er sie verändern kann". 44 In dem zuletzt genannten Sinne ist Engels ,wissenschaftlicher' Sozialismus gleichfalls eine Utopie. Diese begriffliche Zuordnung des ,wissenschaftlichen' Sozialismus soll dadurch belegt werden, daß - entgegen der Ansicht von Engels - das Bewußtsein der Menschen nicht nur vom materiellen Sein bestimmt wird und ferner, daß der für die klassenlose Gesellschaft geforderte und erwartete ,neue' Mensch gleichfalls utopisch ist. 1. Bestimmt das materielle Sein das Bewußtsein? Engels 45 weist darauf hin, daß zwar Hegel die Geschichtsauffassung von der Metaphysik befreite - er hat sie dialektisch gemacht -, er aber noch idealistisch dachte. Erst durch die materialistische Geschichtsauffassung war der Weg gefunden, "um das Bewußtsein der Menschen aus ihrem Sein, statt wie bisher ihr Sein aus ihrem Bewußtsein zu erklären". Nach Engels hat Marx durch zwei große Entdeckungen den Schritt von der Utopie zum 42 Hans-Rudolf Peters: Politische Ökonomie des Marxismus - Anspruch und Wirklichkeit, Uni-Taschenbücher 1064, Göttingen 1980, S. 52. 43 Wilhelm Kamlah: Utopie, Eschatologie, Geschichtsphilosophie Kritische Untersuchungen zum Ursprung und zum futuristischen Denken der Neuzeit, Mannheim-WienZürich 1969, S. 17ff. 44 Ebenda, S. 19. 4S Engels: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, S. 71.

IH. Die utopischen Elemente des ,wissenschaftlichen' Sozialismus

415

wissenschaftlichen Sozialismus vollzogen: Einmal durch die materialistische Geschichtsauffassung und zum anderen durch die Enthüllung des Geheimnisses der kapitalistischen Produktion vermittels des Mehrwertes. In diesem Zusammenhang soll uns nur die materialistische Geschichtsauffassung - das materielle Sein bestimmt das Bewußtsein - interessieren. Der deutsche Soziologie Max Weber (1864-1920)46 verfaßte 1904/05 seine weltberühmte Abhandlung ,Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus'47. In dieser Abhandlung hat er die sogenannte ,Protestantismus-These' entwickelt, die wir wie folgt skizzieren: Nach Weber hat es Kapitalismus in China, in Indien, in Babyion, in der Antike und im Mittelalter gegeben. Aber erst im Okzident ist das Rationalprinzip zur Geltung gekommen. Diese Akzentverschiebung gilt auch für den Kapitalismus, d. h., er ist gekennzeichnet durch den rational geführten Betrieb, der ständig nach Rentabilität und Gewinn strebt. Diese Form der Unternehmensführung hebt sich gegenüber den kapitalistischen Abenteurern und dem kriegsorientierten Kapitalismus ab, den es in aller Welt gegeben hat. Dagegen ist der moderne Kapitalismus durch seine rationale Organisation der Arbeit und der Produktion gekennzeichnet, der ein Höchstmaß an Gewinn erzielen will. Seine Rationalität ist wesenhaft bedingt durch die Berechenbarkeit der technisch entscheidenden Faktoren. "Das heißt aber in Wahrheit: durch die Eigenart der abendländischen Wissenschaft, insbesondere der mathematisch und experimentell exakt und rational fundierten Naturwissenschaften. "48 In diesem knappen Überblick der konstitutiven Elemente des modernen Kapitalismus kommt bei Max Weber immer wieder der Ausdruck ,rational' vor. Warum wurden in anderen Gesellschaften - in China oder Indienweder die wissenschaftliche noch die staatliche oder die wirtschaftliche Entwicklung in die Bahnen der Rationalität gelenkt, die für den Okzident so typisch ist? Um den im modernen Kapitalismus enthaltenen Rationalismus zu erkennen, muß man die Bedingtheit der Entstehung einer Wirtschaftsgesinnung - das ,Ethos' einer Wirtschaftsform - durch bestimmte Glaubensinhalte aufzeigen. Max Weber stellt diese Zusammenhänge des modernen Wirtschaftsethos mit der rationalen Ethik des asketischen Protestantismus dar, d. h. der, Geist' des modernen Kapitalismus wird durch das eigentümliche Ethos gekennzeichnet, Geld und immer Geld unter strenger Vermeidung 46 Siehe hierzu Honigsheim: Weber, Max, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. XI, Stuttgart-Tübingen-Göttingen 1961, S. 556-562. 47 Max Weber: Die protestantische Ethik I Eine Aufsatzsammlung; Die protestantische Ethik lI-Kritiken und Antikritiken, herausgegeben von Johannes Winckelmann, Gütersloher Taschenbücher I Siebenstern, Bd. 53, 6. Aufl., Gütersloh 1981; Bd. 119,4. Aufl., Gütersloh 1982 (Wir zitieren aus dem ersten Band). 48 Weber I, S. 18.

416

5. Kap.: Die klassenlose Gesellschaft - eine barbarische Utopie

allen unbefangenen Genießens - rein als Selbstzweck - zu erwerben. Der Erwerb wird zum Zweck des Lebens, so daß nicht mehr das Erwerben als Mittel zum Zweck der Befriedigung der materiellen Lebensbedürfnisse vorhanden ist. Dieses ist das Leitmotiv des modernen Kapitalismus. Dieser Gelderwerb als Selbstzweck ist Ausdruck der Tüchtigkeit im Beruf. Der uns heute so selbstverständliche Gedanke der Berufspflicht ist ein konstitutives und charakteristisches Element für die Sozialethik der kapitalistischen Kultur. Die kapitalistische Wirtschaftsordnung zwingt den Einzelnen - gleichgültig ob als Unternehmer oder als Arbeitnehmer - die Normen des Marktes auf; wer gegen diese Normen verstößt, wird eliminiert. So schafft sich der moderne Kapitalismus auf diesem Wege der ökonomischen Auslese die Wirtschaftssubjekte, deren er bedarf. "Damit jene der Eigenart des Kapitalismus angepaßte Art der Lebensführung und Berufsauffassung ,ausgelesen' werden, d. h.: über andere den Sieg davontragen konnte, mußte sie offenbar zunächst entstanden sein, und zwar nicht in einzelnen isolierten Individuen, sondern als eine Anschauungsweise, die von Menschengruppen getragen wurde. Diese Entstehung ist also das eigentlich zu Erklärende. "49 Derartige Ideen sind nicht auf den naiven Vorstellungen des Geschichtsmaterialismus zurückzuführen. So war im Geburtsland Benjamin Franklins in Massachusetts - der kapitalistische Geist bereits vor der kapitalistischen Entwicklung vorhanden. "In diesem Falle liegt also das Kausalverhältnis jedenfalls umgekehrt, als vom ,materialistischen' Standpunkt aus zu postulieren wäre."5o Die Triebkräfte des modernen Kapitalismus sind nicht die verwertbaren Geldvorräte, sondern die Entwicklung des kapitalistischen Geistes. Nicht skrupellose Spekulanten oder ökonomische Abenteurernaturen haben diesen kapitalistischen Geist geschaffen, vielmehr waren es in harter Lebensschule aufgewachsene, wägend und wagend zugleich, vor allem aber nüchtern und stetig, völlig der Sache hingegebene Männer. Man könnte annehmen, daß diese persönlichen moralischen Qualitäten nichts mit religiösen Gedanken zu tun haben. Aber dieser ökonomische Rationalismus ist nicht aus der materialistischen Geschichtsauffassung entstanden ("Hier von einer ,Widerspiegelung' der ,materiellen' Verhältnisse in dem ,ideellen Überbau' reden zu wollen, wäre ja barer Unsinn")51, sondern hat eine religiöse Wurzel. Im deutschen Wort ,Berur klingt die religiöse Vorstellung - einer von Gott gestellten Aufgabe - mit. Weder das klassische Altertum noch die vorwiegend katholischen Länder kennen diesen Ausdruck, dagegen tritt er bei allen protestantischen Völkern auf. Er stammt aus dem Geist der BibelübersetEbenda, S.45 f. (Ohne Hervorhebungen im Original, Jk.). Ebenda, S.46 (Ohne Hervorhebung im Original, Jk.). Benjamin FrankIin (17061790) war amerikanischer Politiker, Schriftsteller und Naturwissenschaftler. 51 Ebenda, S. 63 (Ohne Hervorhebung im Original, Jk.). 49

50

IH. Die utopischen Elemente des ,wissenschaftlichen' Sozialismus

417

zung durch Martin Luther und nicht aus dem Geist des Originals. Sowohl die Bedeutung des Wortes ,Beruf als auch der Gedanke der Schätzung der Pflichterfüllung innerhalb des weltlichen Berufes sind ein Produkt der Reformation. Diese sittliche Qualifizierung des weltlichen Berufslebens ist eine der folgenschwersten Leistungen der Reformation und speziell Luthers. "Der Beruf ist das, was der Mensch als göttliche Fügung hinzunehmen hat, worin er sich ,zu schicken' hat ... "52. Nicht das materielle Sein bestimmt somit das Bewußtsein, sondern die göttliche Fügung, der göttliche Auftrag. Es würde zu weit führen, wenn wir in diesem Zusammenhang Max Webers Protestantismus-These vollinhaltlich rekapitulieren würden. 53 Aber bereits diese wenigen Hinweise dürften deutlich gemacht haben, daß zwar der Einfluß des materiellen Seins auf das Bewußtsein nicht geleugnet werden soll, wohl aber relativiert werden muß. Das aber bedeutet, daß auch ideelle - religiöse - Einflüsse vorhanden sind, die das Bewußtsein maßgeblich beeinflussen. Honigsheim 54 hat darauf hingewiesen, daß Max Weber mit seiner Protestantismus-These nicht einfach Karl Marx auf den Kopf stellte. Dem ist zuzustimmen, aber es ist festzuhalten, daß mit dieser These nachgewiesen wurde, daß neben dem ökonomischen Sein auch Ideen, Ideologien oder religiöse Motive das Sein bestimmen können. Ein Blick in die Geschichte belegt, daß sowohl Einzelne als auch Gruppen oder sogar Massen nicht aus ökonomischen (materialistischen), sondern aus ideellen Gründen ihr Leben einsetzten: Sokrates nahm 399 v. Chr. den Giftbecher, weil er dem Gesetz und der Gerechtigkeit verpflichtet war; in der Frühzeit des Christentums wurden Anhänger dieser Religion verfolgt und ob ihres Glaubens auf grausame Weise getötet; in jüngster Zeit haben sie unter den Diktatoren in Ost und West ihrem Glauben nicht abgeschworen und den Tod in Kauf genommen; Thomas Morus hätte seinen Kopf retten können, wenn er ,nur' den König als Oberhaupt der anglikanischen Kirche anerkannt und den Suprematseid geleistet hätte; die Wiedertäufer haben gekämpft, gelitten und wurden nach der Niederlage in Münster grausam bestraft, weil sie die Kindestaufe ablehnten; in der Neuzeit haben Anhänger bestimmter rechter oder linker Ideologien für oder gegen diese Ideologien ihr Leben eingesetzt, stellvertretend seien nur die Geschwister Scholl genannt; im Krieg zwischen dem Irak und Iran haben auf beiden Seiten Menschen für ihr Vaterland bzw. für ihren Glauben ihr. Leben geopfert. Aus der rationalen Sicht des 20. Jahrhunderts mag man diese Menschen als Irregeleitete oder als Fanatiker bezeichnen, die für eine (falsche) Idee oder Religion ihr Leben einsetzen. Aus den unterschiedlichsten Gründen hat es Märtyrer gegeben Ebenda, S. 72 (Ohne Hervorhebung im Original, Jk.). Wir verweisen auf unsere Schrift: Leistung - ein inhumaner Anspruch? Ursprung und zur Kritik des Leistungsprinzips, Frankfurt 1980. 54 Honigsheim, S. 558. 52 53

27 Jenkis

Zum

418

5. Kap.: Die klassen lose Gesellschaft - eine barbarische Utopie

und wird es auch in Zukunft geben. Es geht uns nicht darum, die Gründe für diese Opferbereitschaft aufzuzeigen, vielmehr darum, daß es neben der materialistischen auch eine idealistische Geschichtsauffassung gibt. Es ist somit ein Irrtum, wenn Engels behauptet: 55 "Hegel hatte die Geschichtsauffassung von der Metaphysik befreit, er hatte sie dialektisch gemacht - aber seine Auffassung der Geschichte war wesentlich idealistisch. Jetzt war der Idealismus aus seinem letzten Zufluchtsort, aus der Geschichtsauffassung, vertrieben, eine materialistische Geschichtsauffassung gegeben und der Weg gefunden, um das Bewußtsein der Menschen aus ihrem Sein, statt wie bisher ihr Sein aus ihrem Bewußtsein zu erklären." 2. Der ,neue Mensch' des Marxismus Weiter oben sind wir der Frage nachgegangen, ob Friedrich Engels Schrift ,Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft' eine Utopie sei. Mit Seiffert 56 sind wir zu dem Ergebnis gelangt, daß es sich auch bei Engels um eine Utopie handelt, sofern man unter einer ,Utopie' nicht eine romanhafte Ausschmückung einer künftigen Gesellschaft, sondern "ganz allgemein den Entwurf eines erwünschten, aber noch nicht verwirklichten Gesellschaftszustandes" versteht. 57 Entscheidend für den utopischen Charakter des vermeintlich wissenschaftlichen Sozialismus ist die Frage, welche Auffassung Engels vom Menschen hat. a) Die klassenlase Gesellschaft erzeugt den ,neuen Menschen'

Seit Platon liegt den meisten Sozialutopien die Annahme zu Grunde, daß die von den Autoren entworfene ideale Gesellschaft nur dann funktionieren kann, wenn sich die Menschen dieses Gemeinwesens von ihren bisherigen Einflüssen, Gewohnheiten, physischen, psychischen und geistigen Gebrechen befreit haben. Dieser ,neue Mensch' sollte entweder durch die Verbesserung der Umweltbedingungen und somit durch die Erziehung oder durch die eugenische Planung entstehen. In dieser Utopie-Tradition befindet sich auch der Sozialismus bzw. Kommunismus: "So wird der Mensch in der vollendeten kommunistischen Gesellschaft, wie Trotzki 1924 bemerkte, ,zum Ziel setzen, seiner eigenen Gefühle Herr zu werden, seine Instinkte auf die Höhe des Bewußtseins zu heben, sie durchsichtig klar zu machen, mit seinem Willen bis in die letzten Tiefen seines Unbewußten vorzudringen und sich so 55 56 57

Engels, S. 71. Seiffert, S. 106 ff. Ebenda, S. 112 (Ohne Hervorhebung im Original, Jk.).

IH. Die utopischen Elemente des ,wissenschaftlichen' Sozialismus

419

auf eine Stufe zu erheben - einen höheren gesellschaftlich-biologischen Typus, und wenn man will - den Übermenschen zu schaffen'. Dieser Akt der Selbstschaffung des ,neuen Menschen' setze voraus, daß das Leben, selbst das rein physiologische, zu einem kollektiv-experimentellen werde. "58 Vorläufer dieser Vision vom ,neuen Menschen' war H. G. Wells s9 , der noch 1905 (in: ,A Modern Utopia') davon ausging, daß sich die Menschen unterschieden. Aber in dem 1923 erschienenen Roman ,Menschen, Göttern gleich'60 zeichnete er ein Bild von diesem ,neuen Menschen':61 "Diese ,neuen Menschen' verfügen über eine Intelligenz, die ihrem Verstand alle Sprachen, ohne daß sie verbalisiert werden, unmittelbar zugänglich macht. Wells betont immer wieder, daß diese Veredelung der Menschen das Produkt ihrer eigenen, mit wissenschaftlichen Mitteln betriebenen Neuerschaffung ist: Wie sie die äußere Natur nach ihrem Maß rekonstruierten, gingen sie dazu über, sich selbst zu modellieren, indem sie sich von Defiziten ihrer ursprünglichen Natur befreiten." Hier liegt die Vorstellung vor, daß sich die Menschen selbst rekonstruieren und sich selbst modellieren. Diese Idee der Selbstschaffung des neuen Menschen ist aber in der marxistischen Theorie und den darin enthaltenen utopischen Elementen nicht enthalten, vielmehr ging bzw. geht man davon aus, daß mit der Abschaffung der kapitalistischen Eigentums- und Produktionsverhältnisse sich auch die Menschen ändern - verbessern - würden: 62 S8 Richard Saage: Politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt 1991, S. 255 (Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). (Diese Publikation haben wir erst in der Schlußphase unserer Untersuchung erhalten, so daß wir sie nur noch begrenzt auswerten konnten.) S9 Herbert George Wells (1866-1946) war Zeit seines Lebens für die Verwirklichung seiner idealistischen politischen Pläne eingetreten. Ursprünglich war sein literarisches Werk von zuversichtlichem Fortschrittsglauben geprägt, später aber von zunehmendem Pessimismus gekennzeichnet. Er war Marxist, wurde gemäßigter Sozialist und Pazifist, der die Idee eines einheitlichen Weltstaates verfocht. Sein bekanntester utopischer Roman ist ,Die Zeitmaschine', Ullstein Taschenbuch Nr. 20255, Frankfurt-Berlin 1988. 60 H. G. Wells: Menschen, Göttern gleich, Ullstein Taschenbuch Nr. 20254, FrankfurtBerlin-Wien 1982. Eine kleine ,Kostprobe' soll die Utopie bei Wells skizzieren:"Es gibt wenig Dumme und keine wirklich behinderten Leute in Utopia. Die Müßiggänger, die Schlafmützen und die Leute mit schwacher Einbildungskraft sind meistens ausgestorben. Der Melancholiker hat seinen Abschied genommen und ist gegangen. Boshafte Charaktere sind im Verschwinden. Die weitaus größte Mehrzahl der Utopen ist aktiv, warmherzig, erfinderisch, empfänglich und gut gelaunt .... Utopia hat kein Parlament, keine Politik, keinen privaten Reichtum, keine Geschäfts-Konkurrenz, keine Polizei oder Gefängnisse, keine Irren, keine Unterentwickelten, keine Krüppel, und es hat nichts von alledem, weil es solche Schulen und Lehrer besitzt, wie man sie nur wünschen kann .... Erwachsene Utopen brauchen weder Gesetze noch eine Regierung über sich, denn alles, was sie an Regierung und Führung benötigen, haben sie schon im Kindesalter und in der Jugend empfangen." Wells, S. 75. 61 Saage, S.256. 62 Friedrich Engels: Grundsätze des Kommunismus, in: Karl Marx / Friedrich Engels: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Bd. I, Ost-Berlin 1989, S. 333-355. Die ,Grundsätze

27*

420

5. Kap.: Die klassenlose Gesellschaft -

eine barbarische Utopie

(1) Mit der Abschaffung des Privateigentums fallen nicht nur die Krisen weg, sondern es wird auch die große Industrie sich ausdehnen. "Diese Entwicklung der Industrie wird der Gesellschaft eine hinreichende Masse von Produkten zur Verfügung stellen, um damit die Bedürfnisse aller zu befriedigen .... Auf die Weise wird die Gesellschaft Produkte genug hervorbringen, um die Verteilung so einrichten zu können, daß die Bedürfnisse aller Mitglieder befriedigt werden. "63 (2) Als sich die moderne Industrie entwickelte, mußten die Bauern und Manufakturarbeiter ihre Lebensweise verändern und ganz andere Menschen werden; " ... ebenso wird der gemeinsame Betrieb der Produktion durch die ganze Gesellschaft und die daraus folgende Entwicklung der Produktion ganz andere Menschen bedürfen und auch erzeugen. Der gemeinsame Betrieb der Produktion kann nicht durch Menschen geschehen wie die heutigen, ... Die gemeinsam und planmäßig von der ganzen Gesellschaft betriebene Industrie setzt vollends Menschen voraus, deren Anlagen nach allen Seiten hin entwickelt sind, die imstande sind, das ganze System der Produktion zu überschauen. "64

Wie die anderen Utopisten knüpft Engels nicht nur Hoffnungen an die Abschaffung des Privateigentums - Fortfall der Krisen und die ausreichende Bereitstellung von Gütern -, sondern geht auch davon aus, daß ein neuer Mensch nicht nur notwendig sei, sondern auch erzeugt werden könne. Zum ersten Punkt ist anzumerken, daß gerade die sozialistischen Planwirtschaften des Ostblocks, in denen das Privateigentum weitestgehend abgeschafft wurde, nur eine unzureichende Güterversorgung erreichten. Die Sowjetunion mußte selbst Nahrungsmittel- zum Beispiel Weizen - in den Vereinigten Staaten kaufen. Noch problematischer erscheint die Annahme, daß die gemeinsame Produktion ,ganz andere Menschen bedürfen und auch erzeugen' wird. Richtig ist, daß beim Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft die Arbeiter und Angestellten neue intellektuelle und manuelle Fähigkeiten entwickeln mußten; dieses ist auch beim Übergang zur ,Computergesellschaft' deutlich geworden. Es ist jedoch ein fundamentaler Irrtum von Engels und anderen Sozialisten bzw. Kommunisten zu glauben, daß die intellektuelle Entwicklung mit einem anthropologisch neuen Menschen gleichzusetzen ist. Dieses ist aber im Marxismus enthalten: 65 "Durch die des Kommunismus' sind der erste wissenschaftliche Programme nt wurf des Bundes der Kommunisten und eine wesentliche Vorstufe zum ,Manifest der Kommunistischen Partei'. 63 Ebenda, S. 350. 64 Ebenda, S. 350f. (Hervorhebungen erfolgten durch uns, Jk.). 65 Rainer Baumeister: Die Konzeption der Zukunftsgesellschaft bei Karl Marx, Friedrich Engels und bei neueren westeuropäischen Marxisten - eine ordnungspolitische Analyse, Untersuchungen des Instituts für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln, Bd. 34, Köln 1976. Raymond A. Bauer: Der neue Mensch in der sowjetischen Psychologie, Bad Nauheim 1955 (Zum ,neuen Menschen': S. 107-123).

IH. Die utopischen Elemente des ,wissenschaftlichen' Sozialismus

421

Schriften Marxens, Engels und vieler Marxisten zieht sich die Leitidee von der Umwandlung und Entwicklung des Menschen nach Aufhebung des Privateigentums und allen anderen ,Entfremdungs'-Ursachen zum ,neuen' (sozialistischen oder kommunistischen) Menschen. Dieses ,andere Subjekt', dessen Bedürfnisse befriedigt werden und dessen Interessen mit dem gesellschaftlichen Gesamtinteresse übereinstimmen, kennt keine Habsucht, keinen Neid und keinen Egoismus mehr. Es verhält sich solidarisch und damit nicht aggressiv gegenüber den Mitmenschen; seine entwickelten ,allseitigen' Fähigkeiten und ,universellen' Betätigungsmöglichkeiten ermöglichen ihm, schöpferisch sich selbst in der Arbeit zu verwirklichen und sie als Lebensgenuß anzusehen. "66 Gegenüber dieser Position kann man die Ansicht vertreten, daß es sich um Aussagen von Engels vor rund 150 Jahren handelt, die heute nicht mehr zutreffen. Das Gegenteil ist aber der Fall: In der DDR-Verfassung 196867 die 1974 einer Totalrevision unterzogen wurde, die aber Artikel 19 nicht berührte - wird die Freiheit von Ausbeutung, Unterdrückung und wirtschaftlicher Abhängigkeit garantiert und jedem DDR-Bürger die "gleichen Rechte und vielfältigen Möglichkeiten (zugesagt), seine Fähigkeiten in vollem Umfange zu entwickeln und seine Kräfte aus freiem Entschluß zum Wohle der Gesellschaft und zu seinem eigenen Nutzen in der sozialistischen Gemeinschaft ungehindert zu entfalten". Im offiziellen DDR-Kommentar68 wird Ulbricht zitiert69 , der darauf hinweist, daß die sozialistische Ordnung nicht nur die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen beseitigt hat, "sondern zum erstenmal wird eine wirkliche Menschengemeinschaft geschaffen, in der sich alle Werktätigen als Persönlichkeiten frei entfalten können". Und dann heißt es weiter im Kommentar: "Die Befreiung des Menschen aus den Fesseln der Ausbeuterordnung, die Schaffung der Voraussetzungen für die allseitige Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit durch die sozialistische Umwälzung der Gesellschaft - ... -, ist in der Deutschen Demokratischen Republik verwirklicht worden und läßt ihre Überlegenheit gegenüber den imperialistischen Verhältnissen in Westdeutschland immer sichtbarer hervortreten .... Dagegen sind der Entwicklung der Persönlichkeit in der kapitalistischen beziehungsweise imperialistischen Ordnung unüberwindliche Schranken gesetzt."70 Während die DDRBaumeister, S. 156f. (Hervorhebung im Original, Jk.). Siehe hierzu Dietrich Müller-Römer: Die neue Verfassung der DDR - mit einem einleitenden Kommentar von Dietrich Müller-Römer, Köln 1974. 68 Klaus Sorgenicht / Wolfgang Weichelt / Tord Riemann / Hans-Joachim Semler (Herausgeber): Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik - Dokumente, Kommentar, 2 Bände, Ost-Berlin 1969. 69 Walter Ulbricht: Die Bedeutung und die Lebenskraft der Lehren von Kar! Marx für unsere Zeit, Ost-Berlin 1968, S. 13. 70 DDR-Kommentar zu Art. 19, Bd. H, S. 19. 66

67

422

5. Kap.: Die klassenlose Gesellschaft - eine barbarische Utopie

Verfassung den humanistischen Charakter der sozialistischen Gesellschaft verdeutlicht, herrscht die Wolfsmoral im Kapitalismus: "Im Gegensatz zur Wolfsmoral des Kapitalismus zeichnen den sozialistischen Menschen solche Charaktereigenschaften aus, die ihn danach streben lassen, sich für die großen Ideale der Arbeiterklasse und der fortschrittlichen Menschheit einzusetzen, im Beitrag zum Gemeinschaftswerk des Sozialismus seinen Lebensinhalt zu sehen. "71 Es ist nicht nur die Vision von der humanistischen Gesellschaft und vom neuen Menschen vorhanden, sondern es herrschte auch die utopische Vorstellung vor, die sozialistische Gesellschaft würde diesen Menschen ein überaus reiches Leben bieten. In dem 1961 erschienenen Buch ,Unsere Welt von morgen' - das zur Erinnerung an die Jugendweihe verteilt wurde beschrieb der Generalsekretär der SED, Walter Ulbricht, seine (utopische) Vision über die Welt von morgen wie folgt: 72 "Unser Tisch soll mit dem Besten gedeckt werden, was die Natur zu bieten hat: hochwertige Fleisch- und Milchprodukte, Edelgemüse und beste Obstsorten, früheste Erdbeeren und Tomaten zu einer Zeit, da sie auf unseren Feldern noch nicht reifen, Weintrauben im Winter, nicht nur zur Zeit der großen Schwemme. Als Sozialisten sind wir uns darüber klar, daß im sozialistischen Lager bis 1965 ein Überfluß an Lebensmitteln erreicht werden soll .... Was da auf den Handel zukommt, diese immer mächtiger anschwellende Woge von Lebens- und Genußmitteln aus aller Herren Länder, von Kleidern und Schuhen, von wundervollen neuwertigen Stoffen, von Küchen- und Waschmaschinen, großen und kleinen Autos, von Kunstgewerbe und Schmuck, von Fotoapparaten und Sportgeräten ... Ebenso müssen die Reparaturen- und Ersatzteilprobleme gelöst sein. Eine Vernachlässigung kann und wird sich auch das reichste sozialistische Land in Zukunft nicht leisten, weil sie eine der dümmsten und schädlichsten Formen der Verschwendung ist. Neben dem reichhaltigen Angebot der Einkaufszentren in den Städten und in den überall vorhandenen Geschäften für den täglichen Bedarf wird es ein Netz von Versandhäusern geben. Mit Hilfe von Katalogen können dann die Einwohner entlegener Gebiete jeden Artikel bestellen. und binnen weniger Tage auch erhalten .... Unter kommunistischen Verhältnissen wird auch die Wohnung in jeder Menge, Größe und Form zur Verfügung stehen. Die Wohnungsnot werden wir in den Jahren 1970 bis 1980 für immer hinter uns gebracht haben. Nicht Brasilia, sondern Moskau wird die Stadt sein, zu der in naher Zukunft die Städtebauer aus der ganzen Welt pilgern werden. Die ganze oder fast die ganze Welt wird uns offenstehen, und die Entfernungen spielen keine Rolle. Freunde der Touristik werden für ihre Wanderfahrten einen großen Teil des Globus zur Verfügung haben. Mehrmonatige Weltreisen werden zu einem festen Bestandteil des Bildungsganges der Jugend gehören. Und auch die ältere Generation wird die noch unbefriedigte Bekanntschaft mit fremden Ländern nachholen . . . . Die sozialistische Gesellschaft wird in einigen Jahrzehnten nicht nur wohlha71 72

Ebenda, S. 21 (Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). Diese Auszüge wurden abgedruckt in: Die Welt vom 19. März 1990.

111. Die utopischen Elemente des ,wissenschaftlichen' Sozialismus

423

bend, sondern reich sein und ein Leben garantieren, in dem kein unvernünftiger Wunsch unerfüllt bleibt. In 20 Jahren, also gegen 1985, wird das monatliche Durchschnittseinkommen 3000 bis 5000 Mark sein. Viele Gruppen von Beschäftigten dürften jedoch darüber liegen. Die Arbeitszeit liegt täglich bei sieben Stunden und bei der Fünftagewoche.... In den letzten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts wird es undenkbar sein, daß ein Jugendlicher nicht studiert. Die Ausbildungszeit wird echte Lehr- und Wanderjahre umfassen und auch Reisen und Studienaufenthalte in anderen Ländern vorsehen .... Wenn die politischen Zustände in Westdeutschland überhaupt Aussicht hätten, bis 1970 fortzubestehen, könnte man mit Sicherheit voraussagen, daß nicht nur ein Manko von 30.000 Ingenieuren auftreten würde, der westdeutsche Staat wäre dann schon ein reichlich altmodisches Gebilde mit einer vergleichsweise recht ungebildeten Bevölkerung, die keineswegs in der Lage wäre, die neuzeitliche Technik auf allen Gebieten zu meistern."

Wenn es noch eines Beweises bedürfte, dann sind es diese Verheißungen, die belegen, daß der sogenannte wissenschaftliche Sozialismus keine Wissenschaft, sondern Utopie ist, die allerdings - wie noch darzustellen sein wird - barbarisch war. Wenden wir uns der Idee vom neuen Menschen zu: Wie kann der ,sozialistische (neue) Mensch' in einer letztlich klassenlosen Gesellschaft geschaffen werden? Den zukünftigen, sozialistischen Menschen kann man nicht einfach aus dem heutigen Leben extrapolieren, vielmehr ist er qualitativ etwas anderes, zumal der heutige Mensch durch den Kapitalismus korrumpiert ist. Um in der klassenlosen Gesellschaft zu einem unwiderruflich vernünftig gewordenen Menschen zu gelangen, erwartet der Marxismus eine gewaltige Mutation. 73 Nach Seiffert14 sind zwei Lösungen denkbar: Einmal, die große Mutation bleibt aus, zum anderen, sie findet statt. Im Anschluß an Seiffert sollen diese beiden theoretischen Möglichkeiten geprüft werden. 13 Mutationen sind plötzlich auftretende und konstant weitergegebene, d. h., erbliche Veränderungen in de.r Erbsubstanz. Eine Mutation kann spontan - ohne erkennbare Ursache - entstehen (Spontan-Mutation) oder induziert werden (induzierte Mutation). - Der französische Naturforscher Jean-Baptiste Lamarck (1744-1829) stellte die Hypothese auf, daß sich bestimmte Merkmale von Lebewesen durch die Wirkung von Umwelteinflüssen verändern und diese Veränderungen auf die Nachkommen vererbt werden. Auch Iwan Wladimirowitsch Mitschurin (1855-1935) und Trofim Denissowitsch Lyssenko (geboren 1898) behaupteten die erbliche Übertragung von Eigenschaften, die von den Organismen während ihres Lebens erworben werden. "Mit der Behauptung, daß es in der Macht des Menschen gelegen sei, sogar die Entwicklung der lebendigen Natur nach seinem Belieben und zu seinem Nutzen zu lenken, kommt diese Theorie wie keine andere einem Grundanliegen des Marxismus entgegen: der Mensch erscheint als Herr der Natur, er hat nun die Macht, die Welt - ... - wirklich zu ,verändern', und zwar sogar den Bereich der Natur, nicht nur den des gesellschaftlichen Lebens," So Gustav A. Wetter: Der dialektische Materialismus - Seine Geschichte und sein System in der Sowjetunion, Freiburg 1952, S. 370 (Zum ,Lamarckismus' siehe Walter Zimmermann: Vererbung erworbener Eigenschaften und Auslese, 2. Aufl., Stuttgart 1969). 74 Seiffert, S. 116 ff.

424

5. Kap.: Die klassenlose Gesellschaft - eine barbarische Utopie

b) Die ,große Mutation' bleibt aus75

Wenden wir uns der ersten Lösungsmöglichkeit zu, d. h., die große Mutation bleibt aus: Diese Annahme ist den meisten Menschen genauso selbstverständlich, wie sie - umgekehrt - von den Marxisten erbittert bekämpft wird. Marxisten lehnen die Annahme ab, daß es Konstanten im menschlichen Wesen gibt, so daß es auch in der sozialistischen Gesellschaft ,menscheln' wird. Nicht-Marxisten gehen dagegen davon aus, daß auch die künftige Gesellschaft sich aus lauter kleinen Alltagssituationen zusammensetzt. Diese Konstanz des menschlichen Verhaltens wird auch durch die folgenden Überlegungen gestützt: Es besteht Anlaß zu der Vermutung, daß die Menschen nicht in der Lage sind, mit den herrschenden Verhältnissen auf Dauer zufrieden zu sein. Wenn der Mensch den bestehenden Gesellschaftszustand A durch eine Revolution in den Zustand B verwandelt hat, dann ist nicht einzusehen, daß er eines Tages den Zustand B nicht erneut verwandeln will. "Wenn der Mensch die Veränderung als solche braucht, um als Mensch existieren zu können, dann kommt es auf den Inhalt dessen, was er verändern möchte, nicht an. Die Opposition gegen das jeweils Gegebene, eben weil es das Gegebene ist, wird sich aus dem menschlichen Dasein kaum eliminieren lassen - auch nicht durch die Etablierung der klassenlosen Gesellschaft."76 Der Marxist wird solche Überlegungen zurückweisen, denn nach marxistischer Auffassung ist der Sieg des Proletariats der Sieg der Wahrheit, die nicht mehr kritisiert werden kann. Für die Kritik als notwendiges Korrektiv jeder Herrschaft ist in der marxistischen Lehre kein Raum. Treffend bemerkt Seiffert: "Wer nur an die Beseitigung des Kapitalismus denkt, aber keine Minute an den Gedanken verschwendet, was denn danach kommen soll, gleicht einem Menschen, der sich an einem drückend heißen Sommertag eine Badewanne voll Eiswasser wünscht und meint, hierin müsse er sein ganzes weiteres Leben wunschlos glücklich sein. "77 Der Marxismus bestreitet, daß es eine menschliche Konstante gibt, die darauf angelegt ist, mit dem Ist-Zustand unzufrieden zu werden und auf Änderung zu drängen. Vielmehr gehen die Marxisten davon aus, daß wenn die klassenlose Gesellschaft verwirklicht ist - dann andere Bedürfnisstrukturen herrschen würden und es widersinnig wäre, diesen Menschen noch die Bereitschaft zur Kritik und Änderung zu unterstellen. "Wenn die Konzeption der klassenlosen Gesellschaft also einen Sinn haben soll, dann muß diese Gesellschaft endgültig sein. Und das heißt: das Wesen des Menschen muß sich durch die proletarische Revolution so verändern, daß er 75 76

77

Ebenda, S.120ff. Ebenda, S. 124 (Hervorhebung zum Teil abweichend vom Original, Jk.). Ebenda, S. 126 (Hervorhebung im Original, Jk.).

IH. Die utopischen Elemente des ,wissenschaftlichen' Sozialismus

425

nicht mehr auf Veränderung eines Gegebenen aus ist, dessen er überdrüssig werden könnte, sondern daß er im Gegenteil das nunmehr Gegebene als endgültig und nicht mehr veränderungs bedürftig betrachtet. Der Marxismus kommt also nicht ohne die Annahme einer ,großen Mutation' des Menschen aus."78 Zwischen dem (utopischen) marxistischen und dem (realistischen) christlichen Menschenbild bestehen wesentliche Unterschiede: 79 Das ideologische Ziel von Karl Marx bestand darin, den Zustand zu erreichen, in dem der Mensch sich um sich selbst bewegt, d. h., daß der Mensch sich selbst anvertraut. Dann kann er nicht mehr zu einer höheren Größe - zu Gott - aufschauen, er kann nur noch auf sich selbst blicken, er ist auf sich selbst zuTÜckbezogen. "Schon an der Frage nach dem Sinn des menschlichen Lebens scheitert diese Forderung. Dieses ,Sich-Bewegen um sich selbst' bleibt ein sinnloses Rotieren ohne Richtpunkt und Ziel. ... Marx hat sich damit ein Idealbild Mensch konstruiert, um das sich der Mensch bewegen soll."80 Doch der wirkliche Mensch sieht ganz anders aus: Die moderne Psychologie und Anthropologie ist keineswegs zuversichtlich, daß es möglich sei, den Menschen zu ,bessern'. Marxens Auffassung, daß alles Böse nur durch das Privateigentum entstanden sei und der Mensch - wenn das Privateigentum abgeschafft ist - in der kommunistischen Gesellschaftsordnung wieder ,normalisiert' werde, ist irrig; denn: Nicht das Privateigentum hat den Menschen egoistisch gemacht und das Gemeineigentum wird nicht die egoistische Natur beseitigen. "Niemand wird bestreiten wollen und können, daß der Egoismus ein Grundübel im Menschen ist. Ihn zum alleinigen zu machen, ist gewiß in der Ökonomanie von Marx bedingt. Aber entscheidend ist Marx' Vorstellung, der Egoismus gehöre nicht zum Wesen des Menschen, er sei durch eine ökonomische Entwicklung entstanden und könne daher auch durch eine Veränderung der ökonomischen Verhältnisse wieder beseitigt werden. Dies ist einfach ein ganz oberflächliches Menschenbild, dem jeder Tiefgang fehlt .... Nach christlicher Überzeugung ist es eine Illusion, auf einen Menschen dieser Erde zu hoffen, der frei vom Bösen sei."81 Das christliche Menschenbild kommt der modernen Psychologie nahe; zum Menschen gehören das aggressive Verhalten und seine Zerstörerleidenschaft, die als ,Artmerkmal des Menschen' gewertet werden. Folglich ist auch nicht zu erwarten, daß die wachsende Produktivität und der steigende Lebensstandard befriedigend auf die unfriedliche menschliche Natur wirken könnten. Die menschlichen Übel sind nur sekunEbenda, S. 126f. (Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). Walter Bienert: Der überholte Marx - Seine Religionskritik und Weltanschauung kritisch untersucht, 2. Aufl., Stuttgart 1974. 80 Ebenda, S. 79. 81 Ebenda, S. 248 f. 78

79

426

5. Kap.: Die klassenlose Gesellschaft - eine barbarische Utopie

där von der Gesellschaft beeintlußt, sie liegen aber primär beim Menschen selbst. "Marx' materialistische Geschichtsauffassung und die von ihm gewünschte kommunistische Gesellschaft sind ganz kalt-berechnete und berechnende Größen. Kommunismus nach Marx ist ein Gesellschaftssystem, das rational funktioniert, aber keiner persönlichen zwischenmenschlichen Beziehungen bedarf, diese sogar als minderwertig oder schädlich ausschaltet. Darum hat Marx auch immer wieder jegliche Moral abgelehnt und für Menschenliebe und Nächstenliebe nur Spott übrig. "82 Dagegen: "Der Mensch, um den es dem Christenglauben geht, ist: der geliebte und der liebende Mensch .... Der Mensch, um den es Karl Marx geht, ist der durch seine Arbeit sich selbst produzierende, d. h. letztlich der von der Gesellschaft produzierte und für die Gesellschaft daseiende Mensch. "83 Da der Mensch mehr ist als nur ein ökonomisch-gesellschaftliches Wesen, geht der sogenannte wi~senschaftliche Sozialismus von einemfalschen Menschenbild aus. Folglich muß auch die mit der klassenlosen Gesellschaft - die es nicht gibt - erwartete große Mutation ausbleiben. Eine ganz andere Frage ist, ob nicht die technische und wirtschaftliche Umwelt den Menschen hinsichtlich seiner geistigen und manuellen Kenntnisse sowie seiner Leistungsfähigkeit an den jeweiligen Stand der Technik und Wirtschaft anpaßt, um nicht als Unternehmer oder als Arbeitnehmer verdrängt zu werden. Insofern ,erzeugt' die moderne Industriegesellschaft einen ,neuen Menschen'. Unabhängig von diesem Anpassungs- und Ausleseprozeß gibt es aber menschliche Konstante, die von dieser Entwicklung nicht betroffen sind. Zu diesen Konstanten gehört der menschliche Drang, nicht einen Zustand ,auf ewig' zu akzeptieren, ihn nicht zu kritisieren oder ihn durch eine neue Revolution abzuschaffen bzw. zu verändern. Diese falsche anthropologische Annahme des Marxismus ist einer seiner fundamentalen Fehler. Anders ausgedrückt: Der von Engels prognostizierte angeblich ,wissenschaftlich' bewiesene Übergang zur klassenlosen Gesellschaft setzt einen ,neuen' Menschen voraus, den es in der Sowjetunion selbst nach über siebzig Jahren Herrschaft nicht gelungen ist zu erzeugen. Die Wurzel des Übels liegt nicht im Eigentumssystem, sie liegt im Menschen. c) Die ,große Mutation' kommt

Nunmehr geht Seiffert von der Annahme aus, daß als Folge der Entwicklung zur klassenlosen Gesellschaft eine grundlegende Änderung des Menschen eintritt, d. h., "daß der Mensch der Zukunft ,ganz anders' ist, daß er 82 83

Ebenda, S. 252. Ebenda, S. 254.

IH. Die utopischen Elemente des ,wissenschaftlichen' Sozialismus

427

nicht mehr unter bisher gewohnten Kategorien zu begreifen ist, (dann) wird es offenbar sinnlos, über diese Zukunft überhaupt zu spekulieren". 84 Wenn also der Mensch ,ganz anders' wird, dann können wir uns kaum vorstellen, wie er (in der klassenlosen Gesellschaft) sein wird. Damit werden auch alle Aussagen über die Zukunft entweder unmöglich oder auf Grund verschiedener Annahmen beliebig. Welche Spekulationen kann man noch anstellen, wenn es sich um einen ,neuen Menschen' handelt, der außerhalb unserer Vorstellungskraft liegt? In der marxistischen Literatur sucht man vergeblich nach einer konkreten Beschreibung 85 dieses neuen Menschen. Dagegen findet man unter dem Stichwort ,Humanismus' Andeutungen, die auf diesen sozialistischen oder kommunistischen (neuen) Menschen hinweisen. 86 Der sozialistische. Humanismus unterscheidet sich qualitativ von allen vorangegangenen Formen des Humanismus, denn er beruht auf dem Marxismus-Leninismus. "Er orientiert sich auf die wirklichen Bedürfnisse der Menschen, betrachtet den Menschen als das höchste 'Wesen für den Menschen und weiß, daß die allseitige Entwicklung des Menschen die völlige Umgestaltung aller sozialen Verhältnisse voraussetzt. Durch den Marxismus-Leninismus wurde der Humanismus um die Erkenntnis der schöpferischen Rolle der menschlichen Arbeit bereichert und erstmalig in wissenschaftlicher Form entwickelt. Der sozialistische Humanismus ist der konsequenteste Humanismus. "87 Dagegen kann der Imperialismus der Menschheit keine Perspektiven bieten, da er nicht im Stande ist, die entscheidenden Probleme zu lösen. Dieses ist nur im sozialistischen Humanismus möglich, nämlich die Beseitigung jeglicher Ausbeutung, die endgültige Liquidierung des Kolonialsystems und die Sicherung des Friedens für alle Zeiten. "Der sozialistische Humanismus ist der Humanismus der Gegenwart. ... Der sozialistische Humanismus wird im Sozialismus und Kommunismus verwirklicht. Zwischen der gesellschaftlichen Wirklichkeit und den humanistischen Idealen verschwinden die unüberbrückbaren Gegensätze. "88 Weniger emphatisch stellen Bergner und Mocek 89 die marxistische philosophische Konzeption vom Menschen der bürgerlichen gegenüber. Danach Seiffert, S. 127. "Nicht nur Marx und Engels schwiegen sich, von wenigen Andeutungen in der ,Deutschen Ideologie' und in der ,Kritik des Gothaer Programms' abgesehen, darüber aus, wie der vollendete Sozialismus der Zukunft aussehen werde. Ebenso wichtig ist, daß ihre Utopie kritik von vielen späteren Marxisten als eine Art ,Bilderverbot' aufgefaßt wurde, als Verdikt, sich den Sozialismus gleichsam sinnlich und konkret vorzustellen, weil dies als ,unwissenschaftlich' galt." So Saage, S. 333. 86 Georg Klaus I Manfred Buhr (Herausgeber): Philosophisches Wörterbuch, 8. Aufl., Ost-Berlin 1972, Bd. I, Stichwort ,Humanismus', S. 482-491, insbesondere S. 488 ff. 87 Ebenda, S. 489. 88 Ebenda, S. 489. 84

85

428

5. Kap.: Die klassenlose Gesellschaft - eine barbarische Utopie

,,(berücksichtigt) die marxistische philosophische Konzeption vom Menschen somit einerseits die Determiniertheit der einzelnen Individuen durch die gesellschaftlichen Verhältnisse, den Einfluß der gesellschaftlichen Beziehungen und der materiell-ökonomischen Bedingungen auf die Handlungen und Verhaltensweisen der einzelnen Menschen, aber sie betont zugleich, daß all diese das menschliche Handeln determinierenden objektiven Bedingungen letzten Endes Resultat der menschlichen Tätigkeit sind. ... In der Betonung der Gesellschaftlichkeit des Menschen, die sich notwendig aus der materialistischen Geschichtsauffassung ergibt, ist die objektive Determination des individuellen Handeins begründet - wie auch der Unterschied und zugleich die dialektische Einheit zwischen den Menschen (... ) und seinem gesellschaftlichen Wesen, seiner Klassenzugehörigkeit, seiner politisch-sozialen, ökonomischen und historischen Determiniertheit. "90 Diese abstrakt erscheinenden Formulierungen betonen die ökonomische Determiniertheit des Menschen, sagen aber nichts darüber aus, wie - wenn die große Mutation gelingen sollte - der ,neue' sozialistische Mensch aussehen wird. Der Politwissenschaftler Iring Fetscher91 weist daraufhin, daß das Absterben des Staates und die Aufhebung der Klassenunterschiede - wichtige Merkmale der kommunistischen Gesellschaft - nicht das Entscheidende über die Gestalt der neuen Gemeinschaft aussagen. "Ausschlaggebend war für Marx - und bleibt auch für den Sowjetmarxismus - die Umwandlung des Menschen. Marx erwartete sie mit großer Bestimmtheit von der revolutionären Aktion selbst. Weder setzte er mit den aufklärerischen Utopisten voraus, daß man jederzeit mit den heutigen Menschen, so wie sie durch das jahrhundertlange Leben in antagonistischen Klassengesellschaften geworden sind, eine harmonische Gemeinschaft stiften könne, noch unterstellte er mit den Christlich-Konservativen - wie Donoso Cortes 92 - die fundamentale Unmöglichkeit eines jeden derartigen Versuchs auf Grund einer unauf89 Dieter Bergner I Reinhard Mocek: Bürgerliche Gesellschaftstheorien - Studien zu den weltanschaulichen Grundlagen und ideologischen Funktionen bürgerlicher Gesellschaftsauffassungen, Ost-Berlin 1976. 90 Ebenda, S. 220f. (Hervorhebungen erfolgten durch uns, Jk.). 91 Iring Fetscher: Kar! Marx und Marxismus - Von der Philosophie des Proletariats zur proletarischen Weltanschauung, Piper Paperback, München 1967; Derselbe: Der Marxismus - Seine Geschichte in Dokumenten, 2. Aufl., München 1973. 92 Donoso Cortes (1809-1853) war spanischer Politiker, Staatsphilosoph und Schriftsteller. Er wandte sich vom Liberalismus ab und begründete den Traditionalismus, die Spanien prägende Kulturkritik sowie Staats- und Gesellschaftsauffassung (1851: Versuch über den Katholizismus, den Liberalismus und Sozialismus; Neudruck 1966 unter dem Titel: Der Staat Gottes). Donoso Cortes sah die Zukunft bestimmt vom Kampf zwischen Katholizismus und Sozialismus. Seine Ideen wurden in der Krise der parlamentarischen Demokratie im 20. Jahrhundert - so durch Carl Schmitt - neu belebt. Siehe Edmund Schramm: Donoso Cortes, in: Staatslexikon, herausgegeben von der Gärres-Gesellschaft, 6. Aufl., Freiburg 1958, Bd. 11, Sp. 941-943.

In. Die utopischen Elemente des ,wissenschaftlichen' Sozialismus

429

hebbaren, ja unkorrigierbaren menschlichen Sündhaftigkeit. "93 Marx ist der Ansicht, daß die Menschen in der Klassengesellschaft und im Kapitalismus gezwungen wurden, ,böse' zu werden. Dieser Zwang würde in der sozialistischen Gesellschaft von den Menschen genommen werden. Da aber die von Marx erwartete proletarische Revolution ausblieb und sie durch eine straff geführte Minderheit ,ersetzt' wurde, trat an die Stelle der befreienden und reinigenden Wirkung der Revolution die Forderung einer Erziehungsdiktatur durch die Parteielite. "Marx war offenbar überzeugt, daß die Menschen in der vollendeten klassenlosen Gesellschaft keiner moralischen Anstrengung mehr bedürfen würden, um sich ,gut' und solidarisch zu verhalten. Sie würden nicht nur aus schöpferischer Freude, sondern sogar aus spontaner Liebe zu ihren Mitmenschen jenes geringe Maß von Arbeit leisten, das auf Grund des hohen Standes der Produktivität allein noch zur vollen Befriedigung der Bedürfnisse aller notwendig würde. Jede Moral wäre ebenso entbehrlich wie politische Macht und rechtlicher Z~ang."94 Sind diese Erwartungen an den künftigen - neuen - sozialistischen Menschen nicht genauso utopisch, wie wir es bei der literarischen Ausschmückung durch Morus, Campanella, Owen, Fourier und Cabet gesehen haben? Weshalb soll der ,alte Mensch' des Kapitalismus mit all seinen Stärken und Schwächen im Sozialismus zu einem ,neuen Menschen' werden, der nur noch gut, solidarisch, human, schöpferisch usw. ist? Wenn es eines Beleges bedarf, daß der ,wissenschaftliche' Sozialismus gleichfalls ein utopischer ist, dann ist es diese Erwartung. In der Sowjetunion hatte man offensichtlich erkannt, daß der ,alte' Mensch nicht durch einen revolutionären Sprung überwunden werden kann, da er sich in Jahrhunderten der Sklaverei formiert hatte. Daher müsse dieser ,alte' Mensch durch Umerziehung und durch eine nachhaltige gesellschaftlich-moralische Beeinflussung verändert werden. 95 "Der Staat erzieht, unterweist und belehrt seine Bürger, um sie zu verändern. Eine Kombination von Schule und Gefängnis, wobei es sich um eine Schule für Schwererziehbare oder geistig Zurückgebliebene handelt. Deshalb erfolgt die Erziehung durch Bestrafung und das Gefängnis wird als Erziehungsmaßnahme verstanden. "96 Hierbei geht oder ging man in der Sowjetunion davon aus, daß die Verbrecher nicht einfach hinter Stacheldraht eingesperrt, sondern zur besseren Einsicht geführt werden sollen. Diese Besserung kann entweder durch Arbeit oder durch belehrenden ideologischen Druck erreicht werden. "Die Idee des ,neuen Menschen' ist der Eckstein der Sowjetzivilisation. Ohne ihn ist der 93 Fetscher: Karl Marx und Marxismus, S. 157 (Hervorhebungen zum Teil abweichend vom Original, Jk.). 94 Ebenda, S. 158 (Ohne Hervorhebungen im Original, Jk.). 95 Siehe hierzu Andrej Sinjawskij: Der Traum vom neuen Menschen oder Die Sowjetzivilisation, deutsche Ausgabe Frankfurt 1989, insbesondere S.163ff. 96 Ebenda, S. 163.

430

5. Kap.: Die klassenlose Gesellschaft - eine barbarische Utopie

Aufbau des Sozialismus in einem rückständigen Land unmöglich. "97 Es ist aber die Frage, ob dieses nur für ein rückständiges Land gilt und ob nicht in noch verstärktem Maße der ,neue Mensch' in einem hochentwickelten Land wie der ehemaligen DDR noch notwendiger ist, weil er auf Grund des technisch-wirtschaftlichen Entwicklungsstandes durch den Kapitalismus noch ,verdorbener' geworden ist. Bucharin98 schrieb bereits 1922, daß die eigentliche Aufgabe der Revolution in der ,Umformung der menschlichen Psyche selbst' bestehe. "Aus der Arbeiterklasse muß der neue Menschentypus hervorgehen."99 Und 1928 forderte Bucharin die planmäßige Vorbereitung des neuen Menschen, den Erbauern des Sozialismus. Hierzu bemerkte Sinjawski treffend: 100 ,,,Planmäßige Vorbereitung des neuen Menschen' bedeutet nichts anderes als das Herstellen des ,neuen Menschen' in großem Maßstab. Und zwar nach dem Modell der kommunistischen Partei, weil vorausgesetzt wird, daß der Kommunist die reale Verkörperung des Ideals und die Norm für den ,neuen Menschen' ist". Ursprünglich umfaßte der ,neue Mensch' oder der ,Kommunist' einen breiten Inhalt und schloß die schönsten Eigenschaften - einen Menschen von unerhörter Fülle, der sich dank der Revolution frei entfalten kann ein. Aber der Kommunist ist zweifellos ein engerer und exakterer Begriff; denn es genügt, einige optimal entwickelte Eigenschaften zu besitzen: 101 (1) Seine grenzenlose Hingabe an das höchste Ziel, das in der Schaffung der idealen Gesellschaft auf Erden besteht, d. h., sein fanatischer Glaube an die Idee des Kommunismus. (2) Der Übergang von der Theorie zur Praxis, d. h., der ,neue Mensch' ist immer dabei, die Welt nach seinem Ideal umzugestalten. Folglich ist er kein Träumer (oder Utopist), sondern ein Praktiker oder Macher. (3) Der ,neue Mensch' ist niemals ein Einzelgänger, sondern ein Repräsentant der Masse oder Klasse. Somit handelt der ,neue Mensch' nicht im Interesse der eigenen, sondern der übergeordneten, der allgemeinen Ebenda, S. 164 (Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). Nikolai Iwanowitsch Bucharin (1888, hingerichtet 1938) war sowjetischer Politiker und Wirtschaftstheoretiker. Er gehörte dem linken Flügel der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei an, schloß sich 1912 den Anhängern Lenins an, spielte in der OktoberRevolution eine führende Rolle. Als Mitglied des Politbüros (seit 1924) und Vorsitzender des Komintern (seit 1926) unterstützte er zunächst den Kurs von Stalin, wandte sich aber dann gegen dessen Zwangs kollektivierungs- und Industrialisierungspläne. Wegen ,rechter' Parteiabweichung verlor er 1929 seine Ämter, wurde 1937 verhaftet und nach einem Schauprozeß im März 1938 hingerichtet. 99 Zitiert nach Sinjawskij, S. 164. Siehe hierzu Max Adler: Der neue Mensch Gedanken über sozialistische Erziehung, 2. Aufl., Berlin 1926. 100 Ebenda, S.I64f. 101 Ebenda, S. 165 f. 97

98

IH. Die utopischen Elemente des ,wissenschaftlichen' Sozialismus

431

Sache. Folglich besteht die größte menschliche Sünde darin, im Egoismus oder Individualismus zu verharren und für sich selbst, nicht aber für das allgemeine Glück zu leben. "Der ,neue Mensch' ist stolz darauf, daß er nichts Eigenes hat, daß er sich zugunsten der Sache der Allgemeinheit restlos aufgibt und daß für ihn das Persönliche und das Allgemeine identisch sind. Alles, was ,mein' ist, ist ,unser', und alles, was ,unser' ist, ist ,mein'." 102 Ein solcher ,neuer Mensch' ist nicht ohne Heroismus denkbar. In einem solchen Heroismus verbinden sich fanatischer Glaube an ein übergeordnetes Ziel mit dem Umsetzen dieses Glaubens in eine konkrete Tat und schließlich das Vollbringen dieser Tat zum Wohle der Allgemeinheit. Diese Art des ,neuen Menschen' hat tatsächlich existiert, sie gehört dem religiösen Typus an, der sich in seinem fanatischen Glauben an den Kommunismus aufopfert, auf jeden persönlichen Vorteil und sogar auf das eigene Ich verzichtet. Abgesehen von einigen ideologischen Fanatikern fragt man immer wieder, wie konkret der ,neue Mensch' aussehen soll. Bis in die jüngste Zeit hat man den Traum vom ,neuen Menschen' nicht aufgegeben. Nach Stüber l03 manifestiert sich in der Entwicklung des ,neuen Menschen' das Wesen des Sozialismus in seiner ganzen Größe. "Die Entwicklung des neuen, sozialistischen Menschen, der sich frei entfaltet, versinnbildlicht dieses in höchstem Maße."104 Und weiter heißt es an gleicher Stelle: 105 "Die marxistische Auffassung von der Persönlichkeit ist kein utopisches, unerreichbares Idealbild, sondern die Auffassung vom Menschen als einem historischen Wesen, das sich mit der Umgestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse und im Prozeß des Aufbaus des Sozialismus und Kommunismus selbst verändert und sich zur sozialistischen Persönlichkeit entwickelt." Die sozialistische Persönlichkeit - der ,neue Mensch' - ist Mitglied der von Ausbeutung und Unterdrückung befreiten Gemeinschaft der Werktätigen, die allseitig ihre körperlichen, geistigen und kulturellen Fähigkeiten entwickelt und im Dienst sowie im Interesse der Gemeinschaft betätigt. Unter den Bedingungen der kapitalistischen Gesellschaftsordnung ist eine Entfaltung der Persönlichkeit nicht möglich; denn die Produktionsmittel befinden sich in Privateigentum und dieses bedingt den antagonistiEbenda, S. 167. Erwin Stüber: Zur Entfaltung der Persönlichkeit im Kampf für den Sieg des Sozialismus, in: Einheit - Zeitschrift für Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Sozialismus, Heft I (1961), S.92-104 (Die ,Einheit' war das ideologische Organ der ehemaligen DDR). Siehe ferner Reinhold Miller: Vom Werden des sozialistischen Menschen, Ost-Berlin 1960; Herbert Steiniger: Kapitalismus - Gesellschaft der ,ewigen Menschennatur'?, in: Einheit, Heft 11 (1989), S. 1009-1021; Erich Thier: Das Menschenbild des jungen Marx, Göttingen 1957. 104 Stüber, S. 93. 105 Ebenda, S. 93 (Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). 102

10l

432

5. Kap.: Die klassenlose Gesellschaft - eine barbarische Utopie

schen Widerspruch zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft. "Erst im Sozialismus kann sich im Massenumfang die Persönlichkeit allseitig entwickeln und bewußt betätigen .... Mit der Befreiung der Werktätigen von Unterdrückung und Ausbeutung sowie durch die Überwindung des antagonistischen Gegensatzes zwischen Individuum und Gesellschaft sind die Schranken, die bisher der Entwicklung der Persönlichkeit im Wege standen, gefallen und die gesellschaftlichen Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit vorhanden .... Deshalb kann sich erst in der sozialistischen Gemeinschaft der Mensch allseitig zur Persönlichkeit entfalten." 106 Dieser unvollständige Überblick über die große Mutation - die zum ,neuen Menschen' führen soll- könnte mit schier endlosen weiteren Zitaten aus der sozialistisch-marxistischen Literatur ergänzt werden. 107 Hierauf soll aber verzichtet werden, denn alle Apologeten dieser Ideologie - und Utopie - gehen davon aus, daß die sozialistische bzw. kommunistische Gesellschaftsordnung mehr oder minder automatisch den ,neuen Menschen' erzeugen würde. Gegenüber dieser optimistischen Konzeption ist Erich Fromm 108 weit vorsichtiger, wenn er darauf hinweist, daß das wirkliche Ziel von Marx "die Befreiung des Menschen vom Druck der ökonomischen Bedürfnisse (ist), damit er sich - das ist dabei entscheidend - in seiner vollen Menschlichkeit entfalten kann" .109 Das wichtigste Anliegen von Karl Marx ist die Emanzipation des Menschen zu einem Individuum, das die Entfremdung überwindet und die Fähigkeit wiederherstellt, sich zum Menschen und zur Natur voll in Einklang setzt. Wir stimmen Fromm zu, wenn er feststellt: I 10 "Marx' Ziel, ein auf seiner Theorie vom Menschen basierender Sozialismus, ist im wesentlichen prophetischer Messianismus in der Sprache des neunzehnten Jahrhunderts." Auch dieses Zitat soll belegen, daß die große Mutation entweder nicht stattfindet - was wir unterstellen - oder aber, sollte sie stattfinden, wir nicht wissen, wie dann der ,neue (sozialistische) Mensch' aussehen wird. Sofern überhaupt, spricht man von diesem Menschen in leuchtenden, prächtigen Farben, der dann offensichtlich keiner weiteren Mutation fähig wäre. Ebenda, S. 97. Der polnische Philosoph Adam Schaff beginnt seine Untersuchung über den ,Marxismus und das menschliche Individuum' mit den Sätzen: "Beginnen wir mit einer banalen Wahrheit: das zentrale Problem eines jeden Sozialismus - sowohl des utopischen wie des wissenschaftlichen - ist der Mensch mit allen seinen Angelegenheiten. Und zwar nicht ein abstrakter Mensch, nicht der Mensch überhaupt, sondern das konkrete menschliche Individuum .... Man kann nämlich den Sinn des Sozialismus, seine theoretischen Voraussetzungen und seine Praxis nicht verstehen, wenn man diese Wahrheit nicht erfaßt." Adam Schaff: Marxismus und das menschliche Individuum, rde, Bd. 332, Reinbek bei Hamburg 1970, S. 7. 108 Erich Fromm: Das Menschenbild bei Marx, Ullstein Sachbuch 34487, FrankfurtBerIin 1988. 109 Ebenda, S. 18 (Ohne Hervorhebung im Original, Jk.). 110 Ebenda, S. 18 (Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). 106

107

IH. Die utopischen Elemente des ,wissenschaftlichen' Sozialismus

433

Gesetzt den Fall, dieser ,neue Mensch' wäre realisierbar, wäre dieses ein erstreben wertes Ziel, würde nicht auch dieser Realisierungsversuch in der Barbarei enden? Die moderne Psychologie meint sogar, "ein so ,guter' Mensch, wie er Marx vorschwebt, sei auf dieser Erde nicht lebensfähig, sei auch durch veränderte Gesellschaftsstrukturen nicht erreichbar" .111 3. Die barbarischen Elemente des real existierenden Sozialismus Wir haben gesehen, daß nach marxistischer Auffassung der sozialistische Humanismus ll2 nicht nur auf dem Marxismus-Leninismus beruht, sondern "er orientiert sich auf die wirklichen Bedürfnisse der Menschen, betrachtet den Menschen als das höchste Wesen für den Menschen und weiß, daß die allseitige Entwicklung des Menschen die völlige Umgestaltung aller sozialen Verhältnisse voraussetzt" .113 Hat sich der real existierende Sozialismus in der Sowjetunion und in den anderen Ostblockländern tatsächlich an den ,wirklichen Bedürfnissen der Menschen' orientiert? Es kann nicht unsere Aufgabe sein, auch nur annähernd die Problematik der Diktatur des Proletariats nachzuzeichnen. Die Barbarei und Grausamkeit der Stasi (Staatssicherheitsdienstes) in der ehemaligen DDR kommt nach der Vereinigung beider Teile Deutschlands schrittweise ans Licht. Auch auf diese Darstellung soll bewußt verzichtet werden. Dagegen soll lediglich auf Felix Edmundowitsch Dserschinskij (eigentlich polnisch Feliks Dzierzynski) - dem Organisator des ,Roten Terrors' - und auf Chruschtschows Geheimrede aus dem Jahre 1956 eingegangen werden, da unseres Erachtens allein diese beiden Verweise deutlich machen, daß die ,wirklichen Bedürfnisse der Menschen' im real existierenden Sozialismus mit Terror und brutaler Gewalt unterdrückt wurden.

a) Dserschinskij - der ,neue Mensch' der Sowjetunion F el ix Edmundowitsch Dserschinskij 114 war der Leiter der Tscheka, die die niedrigste und schmutzigste Arbeit - Verhaftungen, Beschlagnahmen, Bienert, S. 79. Philosophisches Wörterbuch, Bd. I, Stichwort ,Humanismus" S.482-491. III Ebenda, S. 489 (Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). 114 Dserschinskij (1877-1926) entstammte polnischem Adel, war als fanatischer Berufsrevolutionär von 1896 bis 1917 wiederholt verhaftet und verbannt. Ab 1902 war er ein Anhänger Lenins, wurde 1917 Leiter der neugegründeten Tscheka (sowjetische Staatssicherheitsorganisation, ein außerordentliches Organ als Maßnahme gegen die Bedrohung durch den Bürgerkrieg und die alliierte Intervention; 1922 aufgelöst) und Organisator des ,Roten Terrors', der zur Konsolidierung des Sowjetsystems beitrug. Außerdem war Dserschinskij 1912-1924 Volks kommissar für das Verkehrswesen und 1924-1926 Vorsitzender des Obersten Volkswirtschaftsrates. (Der Name Dserschinski wird unterschiedlich geschrieben.) Zofia Dzierzynska: Jahre großer Kämpfe, Ost-Berlin 1977. III

112

28 Jenkis

434

5. Kap.: Die klassen lose Gesellschaft - eine barbarische Utopie

Hausdurchsuchungen, Verhöre, Erschießungen, Bespitzelungen usw. durchführte. "Die Tscheka war das geheimste und schrecklichste Instrument der Diktatur, das durch Massenterror ganz Rußland in Atem hielt. So wurde Felix Edmundowitsch Dserschinskij der erste und oberste Henker des neuen Staates und erwies sich als im höchsten Maß blutrünstig und erbarmungslos." 115 Dennoch wurde diesem Oberhenker und Kerkermeister die Rolle des strahlenden Vorbildes zuteil: Für Außenstehende wirkt dieses wie eine Perversion, wie ein psychopathologisches Symptom. Vertieft man sich aber in den kommunistischen Moralkodex und in die Psychologie des ,neuen Menschen', dann entdeckt man kaum etwas Perverses oder Pathologisches; denn die höchste Moral besteht in der Selbst aufgabe zu Gunsten der Idee und der Gesellschaft. Dabei werden alle Grenzen der individuellen oder allgemeinen Moral ausradiert. "In diesem Sinne wurde Dserschinskij, nachdem er die Funktion des Oberhenkers übernommen hatte, zur Verkörperung der Tugend und zum Heiligen. Die Rolle des Henkers tut seinem moralischen Prestige keinen Abbruch, im Gegenteil, denn er opfert auf dem Altar der Revolution nicht nur sein Leben, sondern auch sein Gewissen und die Reinheit seiner Seele." 116 Dserschinskij galt als der große ,Puritaner' unter den russischen Revolutionären: 117 "Eiserne Selbstverleugnung und unbestechliche Ehrlichkeit paarten sich bei ihm mit einer eisigen Gleichgültigkeit gegenüber der Meinung anderer. Lenin war er blind ergeben. Um die Rolle eines Großinquisitors der russischen Revolution hatte er sich selbst beworben." Unter seiner Leitung wurde der ,Rote Terror' gegen alle Feinde des Staates proklamiert. Dieser Terror bedeutete kein staatliches Versagen, denn - so Lenin - keine Diktatur sei ohne Terror und Gewalt denkbar, auch nicht die des Proletariats. "Der Terror war ein integrales Element der bolschewistischen Staatspraxis von Anbeginn an. Die Partei sah in ihm eine unerbittliche Notwendigkeit, um die Idee zum Siege zu führen."1l8 In seiner ersten Ansprache als Sinjawskij, S. 180. Ebenda, S. 180 (Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). 117 Georg von Rauch / Wolfgang Geierhos: Geschichte der Sowjetunion, Kröners Taschenausgabe, Bd. 394, 7. Aufl., Stuttgart 1987, S. 75. 118 Ebenda, S. 76 (Hervorhebungen erfolgten durch uns, Jk.). Lenin hat zwischen dem 13. und 26. April 1918 über "Die nächsten Aufgaben der Sowjetrnacht" geschrieben und im Abschnitt ,Gut funktionierende Organisation und Diktatur' zu der vom Kleinbürgertum ausgehenden Zersetzung angemerkt: "Um damit fertig zu werden, braucht man Zeit und braucht man eine eiserne Hand. ... Diese historische Erfahrung aller Revolutionen, diese welthistorische - ökonomische und politische - Lehre hat eben Marx zusammengefaßt, als er die kurze, scharfe, exakte, markante Formel prägte: Diktatur des Proletariats .... Die Diktatur ist eine eiserne Macht, die mit revolutionärer Kühnheit und Schnelligkeit handelt, die schonungslos ist bei der Unterdrückung sowohl der Ausbeuter als auch der Rowdys." Wladimir Iljitsch Lenin: Ausgewählte Schriften in zwei Bänden, Ost-Berlin 1989, Bd. 11, S. 88 f. (Hervorhebung im Original, Jk.). 115

116

III. Die utopischen Elemente des ,wissenschaftlichen' Sozialismus

435

Leiter der Tscheka sagte Dserschinskij:1l9 "Glaubt nicht, daß es mir um formales Recht zu tun ist. Wir brauchen jetzt keine Justiz. Was wir brauchen, ist der Kampf bis aufs Messer. Ich beantrage, ich fordere die Schaffung des revolutionären Schwertes, das alle Konterrevolutionäre vernichten soll!" Für Dserschinskij bedeutete der Klassenkampf das Ausrotten der Feinde der Arbeiterklasse, und das waren alle, die sich der bolschewistischen Diktatur widersetzten. Angesichts dieser Aussagen bzw. Handlungen muß man eigentlich vermuten, daß Dserschinskij ein grausamer Mensch gewesen sein müßte. Das war aber nicht der Fall; denn er war eher ein reiner und hochherziger Mensch, zudem noch ausgesprochen religiös veranlagt: 120 Es existiert die Legende, daß Dserschinskij in den Pausen zwischen Hinrichtungen oder Verhören heimlich zur Heiligen Jungfrau gebetet haben soll. Auch wenn dieses eine Erfindung ist, so entspricht sie doch seiner Veranlagung; denn sein katholischer Glaube in der Jugend verwandelte sich in einen revolutionären, den Glauben an Gott übertrug er auf den Kommunismus. Darüber hinaus war Dserschinskij ein feinsinniger Mensch, der die Natur, die Blumen und vor allem Kinder liebte. Während er Erschießungsbefehle unterschrieb, gründete er Kinderheime und Kolonien für elternlose Kinder. "Für ihn ist das eben ein Opfer, das er den Kindern bringen muß. Denn die Kinder, unsere Zukunft - das ist der Kommunismus."121 Zwischen 1897 und 1917 erlitt Dserschinskij Verhaftungen, Flucht, Konspiration, Verbannungen und lange GeHingnisaufenthalte. So wie er die Kinder am meisten liebte, so haßte er am meisten die Gefängnisse. "Und dieser Mann wurde aus Haß gegen das Gefängnis zum ersten Kerkermeister des Landes und Gründer eines Gefängnissystems, wie es die Geschichte bis dahin wohl noch nicht gekannt hat .... Er konnte weder des Sadismus noch des Karrierismus, noch eines abartigen Hanges zum Gefängnis und Polizeiwesen verdächtigt werden. Er betrieb sein blutiges Handwerk nicht aus Liebe zu dieser Kunst, sondern aus drückendster und aktuellster politischer Notwendigkeit und folgte dabei dem Befehl der Partei."122 Dserschinskij lebte und arbeitete unter asketischen Bedingungen, er betrachtete sich als Soldaten, der keine Ruhe kennt. Völlig unerwartet starb er an einem Herzschlag mit nur 48 Jahren, er hatte sein Leben der kommunistischen Revolution gegeben. Schon zu seinen Lebzeiten genoß er in der Partei ein hohes Ansehen. "Dserschinskij wurde zum Prototyp des ,neuen Menschen' stilisiert, dem man 119 120 121 122

28·

Zitiert nach von Rauch, S. 76. So Sinjawskij, S. 181 ff. Ebenda, S. 183. Ebenda, S. 183 f.

436

5. Kap.: Die klassenlose Gesellschaft - eine barbarische Utopie

nachstreben sollte. Heute noch gilt er als Beispiel für die Jugend."123 Dieses Vorbild für die sowjetische Jugend bedeutet, im Namen der Revolution und dem Kommunismus nicht nur alles in Kauf zu nehmen, sondern auch zu jedem Opfer bereit zu sein. Diese knappe Skizze von Dserschinskij macht mehrere barbarische Elemente deutlich: (1) In der offiziellen ,Philosophie' wird der sozialistische Humanismus und der sozialistische Mensch in den leuchtendsten Farben beschrieben, während der Mensch im Kapitalismus nicht nur unterdrückt, sondern auch korrumpiert worden ist. Diese verklärte Schau des angeblich wissenschaftlichen Sozialismus hat alle Züge der literarischen Utopisten, die in ähnlicher Weise den friedfertigen und glücklichen Menschen darstellten. (2) Die Umsetzung des schein-wissenschaftlichen Sozialismus hat zur grausamsten Barbarei geführt. Die bolschewistischen Greueltaten richteten sich aber nicht nur gegen die ehemals regierenden Klassen - Adel, Bourgeoisie, Geistlichkeit - , sondern betraf sämtliche Schichten der Bevölkerung, nämlich auch die Mittelschicht der Bauern und Arbeiter. (3) Die immer wieder vertretene Ansicht, daß der Kommunismus in der Sowjetunion erst unter Stalin seine grausame Form annahm, ist unzutreffend: "Der Terror war ein integrales Element der bolschewistischen Staatspraxis von Anbeginn an."124 Das aber bedeutet, daß das barbarische Element im Sozialismus oder Kommunismus nicht eine degenerative Erscheinung, sondern ein integraler Bestandteil dieser glückverheißenden Utopie ist. (4) Der Terror diente dazu, einen neuen - sozialistischen - Menschen gewaltsam zu erzeugen. Sämtliche Bürger der Sowjetunion, die von dieser Norm abwichen, fielen der Verfolgung und der Vernichtung anheim; denn Barmherzigkeit grenzt an Verrat. Von Marxim Gorki stammt der berühmte Ausspruch in den dreißiger Jahren: "Wenn der Feind sich nicht ergibt, dann wird er vernichtet."125

Die Ansicht, daß es sich um ,Kinderkrankheiten' bei der Realisierung des (wissenschaftlichen) Sozialismus handelte, ist unzutreffend. Bei der großen Säuberung in den Jahren 1936-1938 wurden wiederum massenhaft Menschen verhört, gefoltert und hingerichtet. Dieses hat Chruschtschow in seiner Geheimrede 1956 enthüllt.

123 124 125

Ebenda, S. 185 f. (Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). Von Rauch, S. 76. Zitiert nach Sinjawskij, S. 178.

IH. Die utopischen Elemente des ,wissenschaftlichen' Sozialismus

437

b) Die Massenrepressalien in der Sowjetunion Folge des Personenkultes?

Der ,Rote Terror' unter Dserschinskij war keineswegs eine Erscheinung der Oktober-Revolution und der ersten Jahre danach, sondern zieht sichwie in fast allen Ostblockstaaten und auch in der ehemaligen DDR - durch die ganze Herrschaftszeit des Marxismus-Leninismus. Unsere Betrachtungen sollen bewußt auf die Sowjetunion begrenzt werden, einmal deshalb, weil dort über sieben Jahrzehnte der vermeintliche wissenschaftliche Sozialismus herrschte und weil zum anderen innerhalb des Systems die Kritik an den barbarischen Elementen bereits 1956 durch Chruschtschow 126 vorgetragen wurde. aa ) Wellen der Massenrepressalien Im allgemeinen wird auf die ,große Säuberungswelle' zwischen 1936 und 1938 hingewiesen. Diese Massenrepressalien wurden durch die Ermordung

von Kirow 127 ausgelöst. Dieses stimmt nur bedingt, denn es hat bereits vorher eine Reihe von Repressalien gegeben:

Auf Grund der Geheimrede Chruschtschows faßte das Politbüro des Zentralkomitees der KPdSU am 28. September 1987 den Beschluß, eine Kommission einzusetzen, die sich mit den Repressalien in den dreißiger, vierziger und fünfziger Jahren befassen SOll.128 Diese Rehabilitierungskommission nahm am 5. Januar 1988 ihre Arbeit auf. Von 1988 bis zur ersten Hälfte des Jahres 1990 wurden etwa eine Million Bürger rehabilitiert; unter Berücksichtigung früherer Rehabilitierungen handelte es sich um mehr als zwei Millionen Rehabilitierungen. Nach Schützler 129 gab es in der Sowjetunion vier Wellen von Massenrepressalien: 126 Siehe: Die Geheimrede Chruschtschows Über den Personenkult und seine Folgen: Rede des Ersten Sekretärs des ZK der KPdSU, Gen. N. S. Chruschtschow auf dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, 25. Februar 1956, mit: Beschluß des Zentralkomitees der KPdSU über die Überwindung des Personenkults und seiner Folgen, 30. Januar 1956, Ost-Berlin 1990. 127 Sergei Mironowitsch Kirow (1886, ermordet 1934) war seit 1922 Mitglied des ZK der KPdSU, wurde 1926 Parteisekretär von Leningrad, 1930 Mitglied des Politbüros, 1934 Sekretär des ZK. Kirow war ein enger Mitarbeiter Stalins. Seine vielleicht von Stalin und dem NKWD gebilligte Ermordung am 1. Dezember 1934 durch einen Studenten löste die ,Große Säuberung' aus. 128 Die Berichte der Rehabilitierungskommission liegen nunmehr in deutscher Sprache vor: Schauprozesse unter Stalin 1932-1952 - Zustandekommen, Hintergründe, Opfer, mit einem Vorwort von Horst Schützler, Ost-Berlin 1990. 129 Ebenda, S. IOf. (Vorwort).

438

5. Kap.: Die klassen lose Gesellschaft - eine barbarische Utopie

(1) Erste Welle 1928-1932: Von ihr wurden vor allem im Zuge der Zwangs-

kollektivierung und der damit verbundenen Umsiedlung Hunderttausender Kulakenfamilien (Großbauern im zaristischen Rußland) sowie auf Grund einer Hungersnot im Süden des Landes (Ukraine) Millionen von Bauern sowie Angehörige der Intelligenz betroffen .. (2) Zweite Welle 1934-1936: Diese wurde durch die Ermordung Kirows ausgelöst und erreichte ihren Höhepunkt in den Jahren 1937 und 1938. (3) Dritte Wellte 1941-1945: Während des Großen Vaterländischen Krieges - so die sowjetische Bezeichnung für den Zweiten Weltkrieg - richteten sich die Repressalien gegen bestimmte Völker und nationale Gruppen, wie die Autonome Republik der Wolga-Deutschen, die gewaltsam umgesiedelt wurde. Insgesamt waren davon 3,2 Mill. Menschen darunter 1,084 Mill. Deutsche - betroffen. (4) Die vierte Welle 1945-1953: Diese Welle erfaßte zunächst nach Kriegsende die deutschen Kriegsgefangenen und die nach Deutschland verschleppten Sowjetbürger. Ende der vierziger Jahre bis zu Stalins Tod (5. März 1953) wurden im Zusammenhang mit dem ,Leningrader Fall' und der ,Ärzteangelegenheit' die neuen ,Volksfeinde' beseitigt. Diese Wellen von Massenrepressalien haben zahlreiche Opfer gefordert. "Der Begriff ,Opfer' ist kaum zu definieren. Er kann sich in keinem Fall allein individuell auf die schuldlos Verurteilten beziehen. Er muß deren Familienangehörige erfassen. Er schließt ganze Bevölkerungsgruppen und Völker ein, deren Angehörige wahllos Opfer von Zwangsmaßnahmen wurden. Daraus resultiert, daß es kaum möglich ist, die Zahl der Opfer zu erfassen - die Angaben reichen bis zu 22, ja 40 Millionen - eine schreckliche Bilanz."13o Nach anderen Quellen 131 sind 1936 bis 1938 etwa 5 bis 6 % der Gesamtbevölkerung der Sowjetunion durch die Untersuchungsgefängnisse der NKWD gegangen, d. h., 8 bis 9 Millionen, von denen nur etwa 2 Millionen kriminelle Verbrecher waren. Diese statistischen Angaben stehen in einem eklatanten Widerspruch zum sozialistischen Humanismus, den das DDR-Philosophische Wörterbuch noch 1972 - Chruschtschows Geheimrede über Stalins Verbrechen wurde 1956 gehalten! - wie folgt beschreibt: 132

"Es ist die befreiende und humanistische Tat von Marx und Engels, das humanistische Ideengut der Geschichte mit der Arbeiterklasse verbunden und an den großen Zielen ihres Befreiungskampfes konkretisiert und weiterentwickelt zu haben. Der kategorische Imperativ dieser Klasse gründet sich nicht mehr bloß auf Schützler, S. 10. Von Rauch, S. 280. 132 Philosophisches Wörterbuch, Bd. I, S. 488 (Hervorhebungen zum Teil abweichend vom Original, Jk.). 130 l3l

IH. Die utopischen Elemente des ,wissenschaftlichen' Sozialismus

439

die Idee vom Menschen, sondern auf die weltgeschichtliche Mission des Proletariats, die darin besteht, ,alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist', (... ), und solche gesellschaftlichen Verhältnisse zu errichten, die es den von Ausbeutung befreiten Menschen ermöglichen, im Prozeß ihrer Arbeit und ihrer gesellschaftlichen Tätigkeit für die Entwicklung der sozialistischen Staats- und Gesellschaftsordnung all ihre menschlichen Wesenskräfte frei zu entfalten und hierbei ihre menschliche Würde und Persönlichkeit zu entwickeln. Der sozialistische Humanismus unterscheidet sich qualitativ von allen vorangegangenen Formen des Humanismus. "

Es ist bemerkenswert, daß das DDR-Philosophische Wörterbuch keine Notiz von den Greueltaten in der Sowjetunion nimmt. Dabei hätte man nur eine amtliche ,Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion' heranzuziehen brauchen, um über Stalin und den Personenkult zu berichten. 133 bb) Die ,Großen Säuberungen' In den Jahren 1934 bis 1938 erfolgten die schwersten Massenrepressalien, die alle Schichten der Bevölkerung - Arbeiter, Bauern, Geistliche, Intellektuelle, Beamte - erfaßte, selbst die höchsten Parteistellen wurden nicht verschont. "Die Repressalien fanden ihren Ausdruck in Verhaftungen und Verurteilungen durch Gerichte und außergerichtliche Organe aufgrund erfundener Beschuldigungen und unter physischer und psychischer Folter erzwungener Geständnisse. An der Organisation dieser Verbrechen besaß Stalin unmittelbaren Anteil."134 Es handelte sich um die folgenden Prozesse: 135 (1)

(2)

Bund der Marxisten-Leninisten: Anfang 1932 stellten einige Marxisten fest, daß die innerparteiliche Demokratie zunehmend durch administrative Kommandomethoden ersetzt wurde. In einem Aufruf wurde Stalin als ,Totengräber der Revolution in Rußland' bezeichnet und seine Entfernung als Generalsekretär gefordert. 1932-1933 wurden 30 Personen dieses Bundes aus der Partei ausgeschlossen und zu Gefängnis und Verbannung verurteilt. Später wurden die Mitglieder des Terrorismus bezichtigt und zum Teil erschossen. Das Moskauer Zentrum: An der Spitze dieser Gruppe standen Sinowjew l36 und Kamenew 137 , die Ende 1927 aus der Parteiführung entfernt,

133 Autorenkollektiv: Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, aus dem Russischen übersetzt, 4. Aufl., Ost-Berlin 1977, S.632f. sowie S. 642 ff. 134 Schützler, S. 11. 135 Ebenda, S. 12 ff. 136 Grigori Jewsejewitsch Sinowjew (1883, hingerichtet 1936) schloß sich 1903 den Bolschewiki an und wurde ein enger Mitarbeiter Lenins. Ab 1919 war er Mitglied des

440

(3)

(4)

(5)

(6)

5. Kap.: Die klassenlose Gesellschaft - eine barbarische Utopie

aber im August 1928 wieder aufgenommen wurden; 1932 erfolgten ein erneuter Ausschluß und eine dreijährige Verbannung. Sie wurden beschuldigt, die Parteiführung und die Sowjetregierung beseitigen zu wollen, zu diesem Zweck hätten sie das ,Moskauer Zentrum' gebildet. Mit der Verhaftung und Verurteilung dieser Gruppe begann die Verwirklichung des Planes, das antistalinistische Denken in der Partei auszulöschen und alle potentiellen Kristallisationspunkte des Widerstandes gegen das Regime auszumerzen. Die Moskauer Gruppe ,Arbeiteropposition': Im März/April 1935 wurde vor dem Sondergericht des NKWD in Moskau gegen eine Gruppe von 18 Personen verhandelt, die auf Grund einer gefälschten Anklage als konterrevolutionäre Organisation bezeichnet wurde. Die Mitglieder wurden zu fünf Jahren Freiheitsentzug und 1937 zum Teil zum Tode verurteilt; Schljapnikow und Medwedew, bekannte Führer der ,Arbeiteropposition', wurden im September 1937 hingerichtet. Kreml-Prozeß: Am 14. und 25. Juli 1935 wurden durch ein Sondertribunal des NKWD und durch das Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR in geheimer Verhandlung insgesamt 110 Personen wegen der Vorbereitung von Terrorakten gegen die Sowjetregierung und insbesondere gegen Stalin zu Gefängnis, Verbannung und zum Tode verurteilt. Der Prozeß der Sechzehn: Vom 19. bis 24. August 1936 verhandelte das Militärkollegium des Obersten Gerichts der UdSSR in einem Schauprozeß gegen 16 Angeklagte eines sogenannten ,Antisowjetischen vereinigten trotzkistisch-sinowjetischen Zentrums'; zu den Angeklagten gehörten auch Sinowjew und Kamenew. Die Angeklagten wurden am 25. August 1936 erschossen. Der Prozeß der Siebzehn: Vom 23. bis 30. Januar 1937 wurde der zweite Schauprozeß durch das Militärkollegium des Obersten Gerichts durchgeführt; es handelte sich um 17 angebliche Angehörige eines ,Parallelen antisowjetischen trotzkistischen Zentrums'. Wiederum wurden Todesurteile gefällt.

Politbüros und Vorsitzender des Exekutivkomitees der Komintern. Ab 1923 lag die kollektive Führung der Partei in den Händen der Troika Stalin-Sinowjew und Kamenew; 1925 bildete Sinowjew zusammen mit Trotzki und Kamenew die ,Vereinigte Opposition' gegen Stalin, nach deren Scheitern verlor er 1926/27 alle Parteiämter. Im Januar 1935 wurde Sinowjew zu 10 Jahren Gefängnis und im August 1936 im ersten Moskauer Schauprozeß zum Tode verurteilt, die Hinrichtung erfolgte am 25. August 1936. 137 Lew Borissowitsch Kamenew (1883, hingerichtet 1936) war enger Mitarbeiter Lenins. Er trat nach der Februar-Revolution 1917 für ein Zusammengehen der Bolschewiki mit den anderen soziali~tischen Parteien ein. 1917-26 war er Mitglied des ZK, 1919-26 auch des Politbüros. Als Mitglied der ,Vereinigten Opposition' verlor er 1925/26 alle Partei- und Regierungsämter. Im ersten Moskauer Schauprozeß 1936 wurde er zum Tode verurteilt und am 25. August 1936 hingerichtet.

III. Die utopischen Elemente des ,wissenschaftlichen' Sozialismus

(7)

(8)

(9)

441

Die Antisowjetische trotzkistische Militärorganisation: Am 11. Juni 1937 verhandelte ein Sondermilitärgericht des Obersten Gerichts gegen acht hohe und angesehene Offiziere, darunter Michail Tuchatschewski 138 , August Kork, Jona Jakir usw. Sie wurden angeklagt, eine ,Antisowjetische trotzkistische Militärorganisation' in der Roten Armee gebildet und dabei auf direkte Weisung des deutschen Generalstabes und Leo Trotzki gehandelt zu haben. Diese Organisation habe sich mit Sabotage, Diversion und Terror befaßt, den Sturz der Regierung und die Restauration des Kapitalismus in der UdSSR vorbereitet. Die Angeklagten gestanden nach entsprechender vorheriger ,Bearbeitung' und wurden am 12. Juni 1937 erschossen. Damit begann die ,Enthauptung' der Roten Armee, der über 40000 Kommandeure zum Opfer fielen. Der Antisowjetische rechtstrotzkistische Block (Prozeß der Einundzwanzig): Vom 2. bis 13. März 1938 fand der dritte Schauprozeß statt. Die Hauptangeklagten waren Nikolai Bucharin 139 und Alexej Rykow. 140 Zusammen mit weiteren 16 Angeklagten wurden sie zum Tode verurteilt und im März 1938 hingerichtet. Damit hatte Stalin bis auf Leo Trotzki - der sich im Ausland befand - auch die letzten und engsten Kampfgefährten Lenins beseitigt. Der Leningrader Fall: Am 1. Oktober 1950 verurteilte das Militärkollegium beim Obersten Gericht eine Gruppe hoher Partei- und Staatsfunktionäre, die in Leningrad arbeiteten oder dort tätig waren. Diese wurden beschuldigt, eine parteifeindliche Gruppe gegründet und Sa-

118 Michail Nikolajewitsch Tuchatschewski (1893, hingerichtet 1937) war sowjetischer Armeeführer und Militärtheoretiker. Nach Teilnahme am Ersten Weltkrieg wurde er Mitglied der Bolschewiki, schlug 1921 den Kronstädter Aufstand nieder, ab 1921 Leiter der Kriegsakademie der Roten Armee, betrieb 1925c 28 die Modernisierung der Armee. Als Leiter des Rüstungswesens ab 1931 erfolgte die Umrüstung der Armee und ab 1935 begann die Durchsetzung des Kaderprinzips in der Roten Armee. Tuchatschewski wurde 1934 Kandidat des Zentralkomitees, 1935 Marschall der Sowjetunion, ab April 1936 Erster Stellvertreter des Volkskommissars für Verteidigung. Am 26. Mai 1937 erfolgte seine Verhaftung und am 11. Juni 1937 die Hinrichtung. 139 Nikolai Iwanowitsch Bucharin (1888, hingerichtet 1938) war sowjetischer Politiker und Wirtschaftstheoretiker. Nach Studien in Moskau und Wien war er seit 1906 Mitglied des linken Flügels der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei, wurde nach Sibirien verbannt, floh 1911 nach Deutschland, schloß sich 1912 Lenin an. Im Mai 1917 nach Rußland zurückgekehrt spielte er in der Oktober-Revolution als enger Kampfgefahrte Lenins eine führende Rolle. Zunächst unterstützte er Stalin, wandte sich aber dann gegen dessen Zwangs kollektivierungs- und Industrialisierungspläne. 1929 verlor er sämtliche Ämter, wurde 1937 verhaftet und am 15. März 1938 hingerichtet. 140 Alexej I wanowitsch Rykow (1881, hingerichtet 1938) war sowjetischer Politiker. Ab 1905 führender Bolschewiki, ab 1922 Mitglied des Politbüros, 1926 Nachfolger als Vorsitzender des Rates der Volkskommissare, 1928 einer der Führer der rechten Opposition. 1930 Verlust aller Ämter und Parteiausschluß, im März 1938 ,Prozeß der 21', am 18. März 1938 erschossen.

442

5. Kap.: Die klassen lose Gesellschaft - eine barbarische Utopie

botage betrieben zu haben, um die Leningrader Parteiorganisation abzuspalten. Zwischen 1949 und 1952 wurden etwa 2000 Funktionäre aus ihren Funktionen entfernt. (10) Das Jüdische antifaschistische Komitee: Von Mai bis Juli 1952 wurden 15 Personen wegen angeblicher antisowjetischer nationalistischer Tätigkeit vor das Gericht gezerrt, die mit dem 1942 gebildeten ,Jüdischen antifaschistischen Komitee' in Verbindung standen; 14 wurden zur Höchststrafe - zum Tode - verurteilt. Zwischen 1948 und 1952 wurden weitere 110 Personen der Spionage und der nationalistischen Tätigkeit beschuldigt und verfolgt. Es sind nicht nur die Todesurteile, die erschrecken, sondern auch die Verhöre und Folterungen, um die gewünschten ,Geständnisse' zu erpressen: 141 "In pausenlosen Verhören wurden die Gefangenen unsagbaren seelischen und physischen Martern ausgesetzt, bis ihre Widerstandskraft gebrochen war und sie sich bereit erklärten, die ihnen vorgelegten Protokolle zu unterzeichnen .... Der sogenannte ,große Conveyer', die pausenlose, oft sich über Tage und Nächte ausdehnende Vernehmung, nahm viel Zeit. Daher wurde an seiner Stelle, um angesichts des massenhaften Anschwellens der Verhaftungen der auflaufenden Arbeit Herr zu werden, ab August 1938 auch die Prügelstrafe zur Erpressung von Geständnissen eingesetzt. Die Häftlinge reagierten verschieden.... Weißberg-Cybulski berichtet von einem jüdischen Schneider, der eine pausenlose Vernehmung durch 31 Tage und Nächte mit einer Widerstandskraft, die an die Leistungen von Fakiren grenzt, über sich ergehen ließ, ohne sich ein Geständnis erpressen zu lassen." Ob zur Vernichtung der seelischen Widerstandskraft auch Drogen angewandt wurden, steht nicht genau fest. Chruschtschow hat in seiner Geheimrede 1956 mitgeteilt 142 , daß von den 139 Mitgliedern und Kandidaten des Zentralkomitees, die auf dem XVII. Parteitag gewählt worden waren, 98 Personen (= 70 %) verhaftet und erschossen wurden; von den 1966 Delegierten zum XVII. Parteitag wurden 1108 Personen festgenommen. Entsprechen diese Realitäten dem ,sozialistischen Humanismus'? Ist nicht die Utopie von einer neuen und beglückten Gesellschaft in Terror und Blut erstickt worden und endete sie nicht in Barbarei? cc) Die Geheimrede Chruschtschows über Stalins Personenkult Wie Karl Mannheim dargelegt hat (wir verweisen auf die Ausführungen im ersten Kapitel), besteht zwischen der Utopie und Ideologie ein Unter141 142

Von Rauch, S. 280. Chruschtschows Geheimrede, S. 25 f.

IH. Die utopischen Elemente des ,wissenschaftlichen' Sozialismus

443

schied, auf den wir nicht erneut eingehen. In diesem Zusammenhang geht es uns lediglich um die im Sozialismus / Kommunismus enthaltenen utopischen Elemente, wobei wir uns durchaus bewußt sind, daß eine exakte Trennung nicht oder nur bedingt möglich ist. Dieses wird auch gerade dann deutlich, wenn das barbarische Element der Sozialutopien herausgearbeitet werden soll. Nachdem wir die Grausamkeiten des ersten Tscheka-Chefs Dserschinskij und dann die Massenrepressalien im Überblick dargestellt haben, wollen wir uns der sogenannten ,Geheimrede' Nikita Chruschtschows 143 am 25. Februar 1956 zuwenden l4 4, in der er mit dem Personenkult Stalins abrechnet und zugleich die Grausamkeiten des Sozialismus bzw. Kommunismus in der Sowjetunion offenlegt. 145 In seinem Rechenschaftsbericht vor dem ZK (Zentralkomitee) wies Chruschtschow einleitend darauf hin, daß es unzulässig ist und dem Geist des Marxismus-Leninismus widerspricht, eine Person herauszuheben und sie in eine Art Übermensch mit übernatürlichen Kräften sowie mit gottähnlichen Eigenschaften zu verwandeln. "Dieser Mensch weiß angeblich alles, sieht alles, denkt für alle, vermag alles zu tun, ist unfehlbar in seinem Handeln. Eine solche Vorstellung über einen Menschen, konkret gesagt über Stalin, war bei uns viele Jahre lang verbreitet" (S. 8). Nach dieser Feststellung ging es Chruschtschow darum aufzuzeigen, wie sich der Personenkult um Stalin entwickeln konnte: Marx, Engels und Lenin lehnten den Personenkult ab und unterstrichen die Rolle des Volkes als Schöpfer der Geschichte. Im ,Testament Lenins' hat dieser bereits im Dezember 1922 darauf hingewiesen, daß er - Lenin 143 Nikita Sergejewitsch Chruschtschow (1894-1971) war seit 1918 Mitglied der Partei, seit 1920 in Partei- und Wirtschaftsfunktionen tätig, von 1935-1938 Erster Sekretär des Moskauer Stadtkomitees, von 1938-1949 Erster Sekretär des ZK(B) der Ukraine, gleichzeitig von 1944-47 Vorsitzender des Rates der Volkskommissare (Ministerrat) der Ukraine, von 1949-53 Sekretär des ZK, Erster Sekretär des Moskauer Parteikomitees, seit 1934 Mitglied des ZK der KPdSU, 1938 Kandidat, von 1939-64 Mitglied des Politbüros (des Präsidiums) des ZK, von 1953-64 Erster Sekretär des ZK der KPdSU, gleichzeitig von 1958-64 Vorsitzender des Ministerrates der UdSSR, von 1964-71 Rentner. 144 Vorsorglich erfolgt noch einmal eine vollständige Quellenangabe: Die Geheimrede Chruschtschows: Über den Personenkult und seine Folgen - Rede des Ersten Sekretärs des ZK der KPdSU, Gen. N. S. Chruschtschow, auf dem XX. Parteitag der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, 25. Februar 1956, Ost-Berlin 1990 (es handelt sich um eine Broschüre mit 128 Seiten, aus der lediglich zusammenfassend berichtet wird. Die Seitenangaben erfolgen im Text). 145 Der XX. Parteitag fand vom 14. bis 25. Februar 1956 im Großen Kremlpalast in Moskau statt. Chruschtschows Rede wurde in einer geschlossenen Sitzung am Vormittag des 25. Februar 1956 verlesen. Am 1. März 1956 wurde der Text, der für die Parteiorganisationen vorgesehen war, an alle Mitglieder und Kandidaten des Präsidiums sowie an alle Sekretäre des ZK der KPdSU gegeben. Am 5. März 1956 faßt das Präsidium des ZK der KPdSU den Beschluß "Über die Bekanntmachung mit der Rede des Genossen N. S. Chruschtschow ,Über den Personenkult und seine Folgen' auf dem XX. Parteitag der KPdSU".

444

5. Kap.: Die klassenlose Gesellschaft - eine barbarische Utopie

nicht überzeugt sei, daß Stalin von seiner Macht nicht vorsichtig genug Gebrauch machen wird. Deshalb schlug er vor, Stalin als Generalsekretär abzulösen, diesem Vorschlag folgte aber der XIII. Parteitag nicht. Die negativen Eigenschaften, die zu Lenins Zeiten erst im Keim vorhanden waren, entwickelten sich später zu einem schweren Mißbrauch der Macht. Insbesondere nach dem XVII. Parteitag, der im Januar / Februar 1934 stattfand, setzten in den Jahren 1935 bis 1938 die massenhaften Repressionen ein. "Stalin führte den Begriff, Volksfeind' ein. Dieser Terminus befreite umgehend von der Notwendigkeit, die ideologischen Fehler eines oder mehrerer Menschen, gegen die man polemisiert hatte, nachzuweisen; er erlaubte die Anwendung schrecklichster Repressalien, wider alle Normen der revolutionären Gesetzlichkeit, gegen jeden, der in irgend etwas mit Stalin nicht übereinstimmte, der nur gegnerischer Absichten verdächtigt, der einfach verleumdet wurde .... Als hauptsächlicher und im Grunde genommen einziger Schuld beweis wurde entgegen allen Normen der heutigen Rechtslehre das ,Geständnis' der Verurteilten betrachtet, wobei dieses ,Bekenntnis' wie eine spätere Überprüfung ergab - durch physische Mittel der Beeinflussung des Angeklagten erreicht wurde" (S. 16 f., Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). Auf Grund dieser ,physischen Mittel' wurden viele Unschuldige zu Opfern. Lenin hatte ein einfühlsames und parteiliches Verhältnis zu den Menschen, er wollte die Menschen - ohne die Anwendung extremer Mittel erziehen. Dagegen nahm Stalin eine vollkommen andere Position ein: Er ging den Weg der administrativen Gewalt, der massenhaften Repressalien und den Weg des Terrors. Daher wurden die Straforgane zu seinem Werkzeug, die die Normen der Moral und die der sowjetischen Gesetze mit Füßen traten. "Es ist klar, daß Stalin hier in einer ganzen Reihe von Fällen Intoleranz, Brutalität, Machtmißbrauch an den Tag legte. Anstatt zu beweisen, daß er politisch recht hatte und die Massen zu mobilisieren, beschritt er oft den Weg der Repression und der physischen Vernichtung nicht nur gegenüber tatsächlichen Feinden, sondern auch gegenüber Menschen, die keine Verbrechen gegen die Partei und die Sowjetrnacht begangen hatten. Das war kein Zeichen von Klugheit, sondern nur die Demonstration von brutaler Stärke, was gerade Lenin so beunruhigte" (S. 21). Lenin unterstrich die Rolle und Bedeutung der Partei bei der Leitung des sozialistischen Staates. Daher hat er Parteitage, Parteikonferenzen und Plenartagungen des Zentralkomitees einberufen, um die wichtigsten Fragen zu erörtern und Beschlüsse zu fassen. Unter Stalin vergingen zwischen dem XVIII. (März 1939) und XIX. Parteitag (Oktober 1952) dreizehn Jahre; es wurden fast keine Plenartagungen des Zentralexekutivkomitees einberufen. Hierin kommt die Selbstherrlichkeit Stalins zum Ausdruck.

111. Die utopischen Elemente des ,wissenschaftlichen' Sozialismus

445

Nach der Ermordung Kirows begannen die Massenrepressalien. Auf Initiative Stalins unterschrieb Awel Safronowitsch Jenukidse 146 als Sekretär des Präsidiums des ZK die folgende Anordnung (S. 27 f., Hervorhebungen erfolgten durch uns, Jk.): Die Untersuchungsbehörden werden angewiesen, die Angelegenheiten der der Vorbereitung und Durchführung von Terrorakten Beschuldigten im Schnellverfahren durchzuführen. 11. Die Gerichtsorgane werden angewiesen, im Zusammenhang mit der von Straffälligen dieser Kategorie geäußerten Bitte auf Gnadenerlaß von der Ausführung des Todesurteils keinen Abstand zu nehmen, da das Präsidium des Zentralexekutivkomitees der UdSSR es nicht für möglich hält, derartige Bitten zur Bearbeitung anzunehmen. 111. Die Organe des Kommissariats für Innere Angelegenheiten (NKWD) werden angewiesen, Todesurteile gegen oben genannte Kategorien von Verbrechen sofort nach Verhängung der Urteile zu vollstrecken". ,,1.

Diese Verfügung bildete die Grundlage für die massenhaften Repressalien: Die gerichtlichen Verfahren wurden ,zurechtgezimmert', die ,Geständnisse' erzwungen und selbst dann eine Revision nicht zugelassen, wenn die Angeklagten ihre ,Geständnisse' im Verfahren widerriefen. Seit Ende 1936 verstärkten sich die Massenrepressalien, nachdem Stalin in einem Telegramm am 25. September 1936 monierte, daß die OGPU (Vereinigte Staatliche Politische Verwaltung, die Staatssicherheitsorgane) nicht auf der Höhe der Aufgaben bei der Entlarvung des trotzkistisch-sinowjewistischen Blocks stand und vier Jahre im Verzug war. Diese Mahnung trieb die Mitarbeiter des NKWD an, Massenverhaftungen und Exekutionen durchzuführen. "Klar ist, daß es unter den Bedingungen des Sieges des Sozialismus keine Grundlagen für Massenterror im Lande gab" (S.30). Die Anzahl derjenigen, die auf Grund von Beschuldigungen wegen konterrevolutionärer Verbrechen verhaftet wurden, erhöhte sich im Jahre 1937 gegenüber 1936 um mehr als das Zehnfache. Auch gegen leitende Funktionäre der Partei wurde brutal vorgegangen. "Das Schuldbekenntnis vieler Verhafteter und wegen feindlicher Aktivitäten Angeklagter ist mit Hilfe grausamer, unmenschlicher Folterungen erreicht worden" (S.33, Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). Als Beispiel nennt Chruschtschow Eiche 147 : Dieser wurde am 29. April 1938 auf Grund verleumderischer Materialien und durch Folterungen zur Unterzeichnung von Aussagenprotokollen gezwungen, die 146 Awel Safronowitsch Jenukidse (1877-1937) war seit 1898 Mitglied der Partei, seit Juli 1919 Mitglied und Sekretär des Gesamtrussischen Zentralexekutivkomitees und des Präsidiums des Zentralexekutivkomitees. 147 Robert Indrikowitsch Eiche, geboren 1890, seit 1905 Mitglied der Partei, seit 1930 Mitglied des ZK, seit 1935 Kandidat des Politbüros des ZK. Eiche wurde am 4. Februar 1940 erschossen.

446

5. Kap.: Die klassenlose Gesellschaft -eine barbarische Utopie

die Untersuchungsrichter vorformuliert hatten. In einem Brief an Stalin am 27. Oktober 1939 beklagte sich Eiche (S. 34-35): "Wenn ich auch nur in einem Hundertstel auch nur eines der mir zur Last gelegten Verbrechen schuldig wäre - ich würde es nicht wagen, Ihnen diese vor dem Tode geschriebene Erklärung zu übermitteln, doch ich habe kein einziges der mir vorgeworfenen Verbrechen begangen, und in meinem Herzen hat es niemals auch nur einen Schatten einer Niederträchtigkeit gegeben .... Die Sache war so: Ich hielt die Folterungen nicht mehr aus, die Uschakow und Nikolajew 148 gegen mich anwandten, und zwar besonders der erstgenannte, der die Tatsache ausnutzte, daß meine Wirbel, die gebrochen waren, schlecht verheilten, und der mir unerträgliche Schmerzen zufügte. Sie zwangen mich zur Verleumdung der eigenen Person und zur Verleumdung anderer. Die Mehrzahl meiner Aussagen suggerierte und diktierte Uschakow.... Wenn in der von Uschakow fabrizierten und von mir unterschriebenen Lesart etwas nicht ganz stimmte, wurde ich gezwungen, eine andere Variante zu unterschreiben." Am 2. Februar 1940 stand Eiche vor dem Gericht und erklärte (S. 36): "In allen meinen angeblichen Aussagen gibt es keinen einzigen von mir selbst stammenden Buchstaben mit Ausnahme der Unterschriften unter den Protokollen, zu denen man mich gezwungen hat. Die Aussagen machte ich unter dem Druck des Untersuchungsrichters, der mich vom Beginn meiner Verhaftung an mißhandelte .... Ich sterbe mit demselben Glauben an die Richtigkeit der Politik der Partei, wie ich an sie im Verlauf meiner gesamten Arbeit geglaubt habe." Am 4. Februar 1940 wurde Eiche erschossen. Dieses tragische Beispiel ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: Hier wird vom verfolgten und gefolterten ,Volksfeind' Stalin dargelegt, daß er unter Zwang seine ,Geständnisse' machte; im Gerichtssaal widerruft er diese ,Geständnisse', wird aber dennoch erschossen. Noch bemerkenswerter aber ist, daß Eiche trotz der Folter und trotz des Todesurteils an die Richtigkeit der Politik der KPdSU glaubt - ist dieses Folge einer totalen geistigen Manipulation, handelt es sich um einen Fanatiker oder um einen Märtyrer, der für seinen Glauben alle Leiden auf sich nahm? Ein anderes Beispiel für die rechtlosen Verfahren ist Rudzutaks 149 : Vor dem Militärkollegium des Obersten Gerichts wies er auf die ,konstruierten' Anschuldigungen und auf die brutalen Untersuchungsmethoden hin. Er 148 S. M. Uschakow und N. G. Nikolajew-Schurid waren Mitarbeiter des NKWD, im Jahre 1939 verhaftet und laut Urteil des Militärkollegiums des Obersten Gerichts im Januar 1940 erschossen. 149 Janis Rudzutaks (1887-1938) war seit 1905 Mitglied der Partei, seit 1917 Vorsitzender des Moskauer Volkswirtschaftsrates, seit 1920 Generalsekretär des Gesamtrussischen Zentralrats der Gewerkschaften, 1924 bis 1930 Volkskommissar für Verkehrswesen der UdSSR, seit 1926 Stellvertreter des Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare und des Rates für Arbeit und Verteidigung der UdSSR, von 1923 bis 1926 und seit 1934 Kandidat des Politbüros des ZK, von 1926 bis 1932 Mitglied des Politbüros des ZK.

IH. Die utopischen Elemente des ,wissenschaftlichen' Sozialismus

447

wurde innerhalb von 20 Minuten verurteilt und erschossen. Posthum wurde Rudzutaks rehabilitiert, da die Anklage gefälscht war. Anläßlich der Überprüfung des Falles Komarow l50 wurde im Jahre 1955 über die ,Techniken' des NKWD wie folgt berichtet: Rosenblum wurde 1937 verhaftet, grausamen Folterungen unterworfen, um lügenhafte Aussagen gegen sich selbst und gegen andere zu erpressen. Der Leiter des Leningrader NKWD bot ihm die Entlassung unter der Bedingung an, daß er vor Gericht unwahre Aussagen in dem 1937 vom NKWD fabrizierten Fall des ,Leningrader Sabotage-, Terror-, Diversions- und Spionagezentrums' mache (S. 38 f.): "Der Fall des Leningrader Zentrums sollte solide behandelt werden, und hierbei hätten die Zeugen entscheidende Bedeutung. ... ,Du selbst', sagte Sakowski, ,wirst nichts erfinden müssen. Das NKWD bereitet für dich einen fertigen Konspekt für jede Filiale einzeln vor, deine Sache ist es, das zu lernen, alle Fragen gut in Erinnerung zu behalten und zu beantworten, die vom Gericht gestellt werden können.... Von Verlauf und Ergebnis des Prozesses wird dein weiteres Schicksal abhängen. Wenn du versagst und Unsinn zu reden beginnst, mach dir dann selbst den Vorwurf. Wenn du aushältst, rettest du deinen Kopf, und wir werden dich bis zum Tode auf Kosten des Staates unterhalten und kleiden." Auf Grund solcher und anderer Fälschungen, Aussagen, erzwungener Selbstbeschuldigungen und Anschwärzungen wurden tausende Kommunisten angeklagt und verurteilt. Es bürgerte sich die Praxis ein, im NKWD Listen derjenigen Personen anzufertigen, deren Fälle durch das Militärkollegium erörtert wurden und für die das Strafmaß von vornherein festgelegt war. Diese Listen wurden Stalin persönlich vorgelegt, damit dieser die vorgeschlagenen Strafen bestätigte. In den Jahren 1937/38 wurden 383 Listen mit tausenden Namen geschickt, die seine Billigung fanden. In einem Telegramm vom 10. Januar 1939 an die Sekretäre der Gebietsund Regionskomitees, an die Zentralkomitees der nationalen kommunistischen Parteien, an die Volkskommissare für Innere Angelegenheiten und die Chefs der NKWD-Verwaltungen wies Stalin auffolgendes hin (S.42f.): Das ZK der KPdSU (B) erklärt, daß die Anwendung physischer Gewalt seit 1937 zugelassen ist. Es sei bekannt, daß alle bürgerlichen Geheimdienste physische Einwirkungen gegenüber den Vertretern des sozialistischen Proletariats vornehmen. Es erhebt sich daher die Frage, warum sozialistische Geheimdienste gegenüber den Agenten der Bourgeoisie humaner sein sollten. Das ZK der KPdSU ist der Ansicht, daß die Methode der physischen Einwirkung 150 Nikolai Pawlowitsch Komarow (1886-1937) war seit 1909 Mitglied der Partei, seit 1925 Sekretär des Nord-West-Büros des ZK der KPR (B), von 1926 bis 1929 Vorsitzender des Leningrader Stadt- und Gouvernements-Exekutivkomitees, seit 1931 Volkskommissar für Kommunalwirtschaft der RSFSR, Mitglied des ZK der Partei 1921 und von 1923 bis 1930, Kandidat des ZK von 1922 bis 1923.

448

5. Kap.: Die klassenlose Gesellschaft - eine barbarische Utopie

auch weiterhin unbedingt gegenüber den Feinden des Volkes eine vollkommen richtige und zweckmäßige Methode sei. Nach der Darstellung der grausamen Verfolgungs- und Säuberungsmethoden durch Stalin wandte sich Chruschtschow in seiner Geheimrede dem Versagen Stalins während des Großen Vaterländischen Krieges zu (so wird in der Sowjetunion der Krieg zwischen 1941 und 1945 bezeichnet). Entgegen der Selbstverherrlichung weist Chruschtschow daraufhin, daß Stalin versagt und daher der Sowjetunion große Verluste an Menschen und Material zugefügt wurden (S. 44-56). Sodann beschäftigt sich Chruschtschow kritisch mit Stalins Nationalitätenpolitik und stellt fest, daß dieser eine Reihe von Autonomen Sowjetrepubliken durch Umsiedlung der Bevölkerung auflöste; allerdings erwähnt Chruschtschow nicht die Autonome Republik der Wolgadeutschen (S. 56-57). Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Lage noch komplizierter, denn: "Stalin wurde noch launenhafter, gereizter, brutaler, insbesondere wuchs sein Argwohn. Der Verfolgungswahn erreichte unwahrscheinliche Ausmaße. Viele Mitarbeiter wurden in seinen Augen zu Feinden. Nach dem Krieg grenzte Stalin sich noch mehr vom Kollektiv ab. Über alles entschied er allein, ohne irgend jemanden oder irgend etwas zu berücksichtigen" (S. 58, Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). Stalins Größenwahn hatte dazu geführt, daß er jedes Realitätsgefühl verloren hatte. Ein Helfershelfer und Organisator von schmutzigen Fällen war Berija. 151 "Heute ist festzustellen, daß dieser Schuft auf der Staats leiter über unzählige Leichen aufgestiegen ist" (S. 64). Gegen Ende seiner Geheimrede forderte Chruschtschow: "Genossen! Um die Fehler der Vergangenheit nicht zu wiederholen, tritt das Zentralkomitee entschieden gegen den Personenkult auf. Wir meinen, daß Stalin über jedes Maß herausgehoben wurde" (S. 82, Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). Am 30. Juni 1956 wurde ein ,Beschluß des Zentralkomitees der KPdSU über die Überwindung des Personenkults und seiner Folgen' gefaßt (S. 87-113). Hierauf soll in diesem Zusammenhang nicht eingegangen werden.

4. Der Terror in der Sowjetunion - Folge des Personenkults? Die Geheimrede Chruschtschows am 25. Februar 1956 und seine Abrechnung mit Stalin ist in mehrfacher Hinsicht bemerkenswert: 151 Lawrenti Pawlowitsch Berija (1899-1953) war ehemaliger Volkskommissar (Minister) des Inneren der UdSSR, Erster Stellvertreter des Vorsitzenden des Ministerrats der UdSSR, Mitglied des Präsidiums des ZK der KPdSU. Das Plenum des ZK der KPdSU schloß ihn wegen partei- und staatsfeindlicher Handlungen im Juli 1953 aus dem ZK der Partei aus. Am 23. Dezember 1953 verurteilte ihn ein Sondergericht des Obersten Gerichts der UdSSR zum Tode und Berija wurde erschossen.

III. Die utopischen Elemente des ,wissenschaftlichen' Sozialismus

449

Es ist festzustellen, daß Chruschtschow den Mut aufbrachte, nur wenige Jahre nach dem Tode des Diktators seine Schandtaten beim Namen zu nennen und ihn zu demaskieren; denn es war keineswegs ausgeschlossen, daß das alte Regime den Kritiker des Halbgottes Stalin gleichfalls als ,Volksfeind' betrachtete und ihn vernichtete. Dieses ist aber nicht geschehen. Hätten westliche Wissenschaftler, Politiker oder Journalisten diese Verbrechen Stalins publiziert oder angeprangert, dann wäre ihnen wahrscheinlich der Vorwurf gemacht worden, daß sie Anti-Kommunisten seien und daß sie gelegentliche Unregelmäßigkeiten in der Sowjetunion dem großen Führer und Feldherrn anlasten. Es ist sogar nicht auszuschließen, daß man westliche Publizisten als ,Kommunisten-Fresser' verleumdet hätte. Nun hat aber Chruschtschow - der Erste Sekretär des ZK der KPdSU und Vorsitzende des Ministerrates der UdSSR - die Rede gehalten, so daß der Inhalt und die darin enthaltenen Anklagen über jeden Zweifel erhaben sind. Für unser Thema - das barbarische Element in den Sozialutopien - sind aber die folgenden Überlegungen noch bedeutsamer: Die Ideologie des Sozialismus / Kommunismus enthält utopische Züge, obgleich Engels den Anspruch erhob, den Schritt von der Utopie zur Wissenschaft vollzogen zu haben. Die Ideologie und die Utopie sind eine Symbiose eingegangen, die eine Trennung dieser beiden Seiten einer Medaille unmöglich machen. Im Gegenteil: Die utopische Heilserwartung einer vollkommenen, idealen, beglückten und befreiten (kommunistischen) Gesellschaft würde einen neuen Menschen hervorbringen, der mit diesem erwarteten Endzustand übereinstimmt und nicht von dieser Doktrin abweicht warum sollte er es auch tun, da es sich um die Verwirklichung des angestrebten Ideals handelt? Daß es aber nicht gelungen ist, einen ,neuen Menschen' zu schaffen, das hat Stalin selbst bewiesen: Stalin war größenwahnsinnig, eitel (er hat sich selbst in seiner Biographie verherrlicht), launenhaft, gereizt, brutal, voll Argwohn und litt unter Verfolgungswahn. Sind dieses nicht menschliche, allzumenschliche Eigenschaften, die man bei jedem Menschen - allerdings nur ausnahmsweise in dieser Häufung - antreffen kann? Wenn aber der ,Große Führer' der kommunistischen Weltmacht nicht selbst den ,neuen Menschen' verkörpert, wie können dann die ,kleinen' Kommunisten und schlichten Bürger diesen Entwicklungsstand erreicht haben? Oder anders ausgedrückt: Selbst in Jahrzehnten ist es weder der Sowjetunion noch den anderen Satellitenstaaten gelungen, den neuen - kommunistischen Menschen zu erziehen; die große Mutation ist sowohl bei ihrem Führer als auch bei den ,einfachen' Menschen ausgeblieben. Chruschtschow prangert den Personenkult an und hebt hervor, daß Stalin und letztlich nur Stalin für diese barbarische Perversion der Verfolgung und des Terrors in der Sowjetunion verantwortlich sei. Dem kann nur sehr 29 Jenki,

450

5. Kap.: Die klassenlose Gesellschaft - eine barbarische Utopie

begrenzt gefolgt werden: Zuerst ist festzustellen, daß in allen Diktaturen dieses gilt auch für das Dritte Reich - der ,Führer' eine wichtige Rolle spielt, daß er aber ohne Tausende von ergebenen Gefolgsleuten weder das Terrorregime aufbauen noch durchhalten kann. Indem Chruschtschow nahezu ausschließlich von dem von Stalin geprägten Personenkult spricht, verschweigt er die Struktur des gesamten repressiven Systems. In einer (offenen) Demokratie - die geheime Wahlen und den Wechsel der regierenden Parteien kennt - wäre die Durchsetzung des Personenkultes undenkbar und unmöglich. So zum Beispiel hat man in Großbritannien Churchill - der maßgeblich zum Sieg der Alliierten im Zweiten Weltkrieg beitrug - im Herbst 1945 nicht als Premierminister bestätigt. Ist der von Chruschtschow offengelegte barbarische Terrorismus in der Sowjetunion unter Stalin eine einmalige Erscheinung oder ist er Teil der kommunistischen Utopie? Wir sind der Ansicht, daß es sich nicht um einen einmaligen ,Ausrutscher' durch Stalin handelte, sondern um einen systemimmanenten Vorgang: Begrifflich und inhaltlich ist anzumerken, daß man in der sozialistischen bzw. kommunistischen Gesellschaftsordnung die ,Diktatur des Proletariats' kennt. Ob diese Diktatur tatsächlich vom Proletariat oder von der Nomenklatura ausgeübt wird, ist von untergeordneter Bedeutung. Entscheidend ist, daß zum System die Diktatur gehört und ,Diktatur' bedeutet, daß in der Regel eine Minderheit die Majorität beherrscht und unterdrückt. Dann ist es auch nur von sekundärer Bedeutung, welche Unterdrückungsmechanismen angewandt werden. Insofern muß man Chruschtschow Recht geben, daß Stalin und der von ihm entwickelte Personenkult dieses Diktaturprinzip in extremer Form praktiziert hat. Voigt 152 hat zutreffend darauf hingewiesen, daß zwischen den anarchistischen und den archistischen Utopien unterschieden werden muß. Wenn immer in realisierten Utopie-Siedlungen auf die Ausübung von Macht oder sogar Diktatur verzichtet wurde, dann zerfielen diese. Beispiele hierfür haben Owen, Fourier und Cabet geliefert, d. h., ihre Realisierungsversuche scheiterten am Individualismus der Gemeinschaftsmitglieder. Archistische (diktatorische) Utopie-Lösungen führen zur absoluten Herrschaft eines Einzelnen oder einer Gruppe. Beispiel für die Gruppenherrschaft waren die Jesuiten in Paraguay, für Einzelherrschaften Thomas Müntzer und die Wiedertäufer in Münster, wobei in diesen Fällen das religiöse Element eine wesentliche Rolle spielte (in der Sowjetunion und in den anderen Ostblockländern kann die Ideologie des Marxismus-Leninismus als Religionsersatz angesehen werden). Weder in den in der Vergangenheit unternommenen Realisierungsversuchen noch im größten und längsten Experiment - dem in der Sowjetunion 152

Andreas Voigt: Sozialutopien - Fünf Vorträge, Leipzig 1906, S. 20.

III. Die utopischen Elemente des ,wissenschaftlichen' Sozialismus

451

und in den Satellitenstaaten - ist es gelungen, den ,neuen Menschen' durch Erziehung bzw. Indoktrination zu schaffen. Überraschend war die Erfahrung in der ehemaligen DDR, daß insbesondere junge Menschen - nach 1945 geboren und im System aufgewachsen und erzogen - auf die Straße gingen und Freiheit forderten. Ein noch extremeres Beispiel ist Albanien, das unter der Herrschaft von Enver Hodscha sich total abkapselte und stolz erklärte, der erste atheistische Staat der Welt zu sein. Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus / Kommunismus im Ostblock sind die jungen Menschen und insbesondere die Studenten aufgestanden, haben das Enver Hodscha-Denkmal gestürzt und erreicht, daß die Universität in Tirana nicht mehr nach diesem kommunistischen Diktator benannt wird. Selbst ein nahezu halbes Jahrhundert rigorosester Indoktrination hat nicht den neuen - kommunistischen - Menschen geschaffen, ganz davon abgesehen, daß die Diktatoren und die Nomenklatura sich durchaus den Luxus des zum Untergang bestimmten Kapitalismus leisteten. Der ,wissenschaftliche' Sozialismus, wie ihn Engels postulierte, ist nicht wissenschaftlich, sondern enthält utopische Elemente, die mit der marxistisch-leninistischen Ideologie verbrämt sind. Da diese Utopie den ,neuen Menschen' trotz diktatorischer Maßnahmen nicht realisiert hat und offensichtlich auch nicht realisieren kann, war auch dieses Experiment zum Scheitern verurteilt. Daß es sich über Jahrzehnte halten konnte, liegt im wesentlichen daran, daß nicht nur unter Stalin, sondern in allen ehemaligen Ostblockländern Andersdenkende mit brutaler Gewalt unterdrückt und beseitigt wurden. Nachdem Gorbatschow die Perestroika proklamierte, bricht das gewaltsam zusammengehaltene sowjetische Imperium auseinander. Die Utopie des ,wissenschaftlichen' Sozialismus neigt sich dem Ende zu. Dagegen wird es weiterhin soziale Bewegungen und Reformen geben. Das Beispiel von Robert Owen wiederholte sich in großem Maßstab: Solange Owen betriebliche Sozialpolitik und Sozialreformen betrieb, war er erfolgreich, als er diese Ideen auf die Menschheit übertragen wollte, scheiterte er. So ergeht es dem Sozialismus bzw. Kommunismus: Soweit man Sozialreformen im Rahmen der gegebenen menschlichen Strukturen anstrebt, bestehen Erfolgschancen, der die Welt beglückende ,wissenschaftliche' Sozialismus ist dagegen zum Untergang verurteilt - diktatorische Maßnahmen verlangen hohe Opfer und können diesen Untergang nicht verhindern, wohl aber verzögern. Im Prinzip gilt dieses auch für den Nationalsozialismus.

29'

Sechstes Kapitel

Der barbarische Mythos vom arischen Menschen Nicht nur der Marxismus-Leninismus, sondern auch der N ationalsozialismus ist eine Ideologie, in der allerdings auch utopische Elemente - die zur barbarischen Glücksverheißung führten - enthalten sind. Im Marxismus bzw. Sozialismus war es die klassenlose Gesellschaft, die den ,neuen' Menschen zum Ziel hatte, dem Nationalsozialismus ging es um den nordischen Menschen, die Herrenrasse, die den anderen Rassen überlegen sein sollte. Damit war zwar nicht im marxistischen Sinne die Mutation gemeint, wohl aber der Anspruch, über eine ,Zuchtwahl' den Herrenmenschen zu schaffen, an dessen Ende letztlich auch ein neuer Menschentyp stehen sollte. Diesem nordischen Herrenmenschen standen die minderwertigen Rassen oder die Untermenschen gegenüber, dazu gehörten in erster Linie die Juden, aber auch die Slawen und andere Rassen.

I. Der arische Mythos Es kann nicht Aufgabe dieser Untersuchung über die Sozialutopien sein, den Ursprung des arischen Mythos l und die gesamte Rassenpolitik des Dritten Reiches darzustellen und diese dann auf ihre utopischen und barbarischen Elemente zu prüfen. Es soll lediglich auf die Geburt des arischen Mythos und die Rassenlehren von Gobineau und die von Chamberlain eingegangen werden. Daran schließen sich dann die ideologischen Vorstellungen - die zugleich barbarische Utopien sind - von Rosenberg und Hitler an. Da die Vernichtungspolitik gegenüber den Juden oder Polen umfassend dargestellt ist, soll bewußt auf eine Wiederholung verzichtet werden. Dagegen sollen exemplarisch zwei Bereiche berücksichtigt werden, die einerseits in der breiten Öffentlichkeit weniger Beachtung gefunden haben und die andererseits besonders deutlich die Barbarei dieses Systems zum Ausdruck bringen: Die Euthanasie und der Lebensborn. Vorangestellt I Dieser Begriff ist eine Anlehnung an U:on Poliakov: Der arische Mythos Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus, Wien-München-Zürich 1977 (Poliakov wurde 1910 in Leningrad geboren, siedelte 1920 nach Frankreich über. Bekannt ist er durch seine seine große Untersuchung über den Antisemitismus).

I. Der arische Mythos

453

wird - gleichsam an Stelle einer umfassenderen Einführung - ein Kapital über die Geburt des arischen Mythos.

1. Die Geburt des arischen Mythos Mit dem Begriff ,Arier' bezeichnete Herodot die Perser und Meder; in diesem Sinne wurde er auch von mehreren deutschen Autoren gebraucht. In einem erweiterten Sinn hat Friedrich Schlegel (1772-1829) diesen Ausdruck verwandt, in dem er die Wurzel ,Ari' mit dem deutschen Wort ,Ehre' in Verbindung setzte. Der Terminus ,Indogermanen' wurde von dem Orientalisten Heinrich Julius von Klaproth (1783-1835) eingeführt und von anderen deutschen Autoren übernommen, während man außerhalb Deutschlands den Begriff ,Indoeuropäer' bevorzugte. Diese beiden Begriffe hängen damit zusammen, daß in Europa das Indische große Bewunderung errang. Es wurde nicht nur über den Ursprung, sondern auch über den der Sprache nachgedacht und diskutiert. Traditionell war man sich darin einig, daß die Menschen von Adam abstammten, damit war aber noch nicht geklärt, welche Sprache dieser Ahnherr gesprochen hat. Noch im 18. Jahrhundert herrschte die Meinung vor, daß das Hebräische die Ursprache gewesen sei. Doch bereits der Philosoph Leibniz hatte diese These in Zweifel gezogen. Einzelne Gelehrte (so der Göttinger Johann-David Michaelis, 1717-1791) folgten Leibniz, andere (so der Göttinger Historiker Gatterer, 1727 -1799) vertraten die traditionelle Linie. Seit Indien den Europäern offenstand, stellte man die Verwandtschaft zwischen verschiedenen europäischen und asiatischen Wörter fest. Der englische Dichter und Jurist William Jones wurde 1783 zum Obersten Richter Bengalens ernannt, wo er Sanskrit studierte und feststellte, daß eine Verwandtschaft mit dem Griechischen und Lateinischen vorlag. Jones gilt als der Entdecker der indogermanischen Sprachenfamilie, die meisten Orientalisten nahmen diese Entdeckung wohlwollend auf. Friedrich Schlegel schloß aus dieser Sprachenverwandtschaft auf eine Rassenverwandtschaft. "Es war also dieser brillante Autor der ersten Romantikergeneration - ... -, der im geeigneten Augenblick und eher durch Andeutungen als durch eindeutige Behauptungen das junge Deutschland für den Mythos einer arischen Rasse begeistern sollte. "2 Für Schlegel kam alles - auch die ägyptische Kultur - aus Indien; seine Indomanie kam in seinem Essay ,Über die Sprache und Weisheit der Indier' (1808) zum Ausdruck. Er entwickelte die These, daß die größten Nationen von einem Stamm abstammen und entweder unmittelbar oder mittelbar indische Kolonien seien. Eine Hypothese Schlegels besteht darin, daß die sanften Vegetarier Indiens sich in 2

Ebenda, S. 214.

454

6. Kap.: Der barbarische Mythos vom arischen Menschen

Fleischesser verwandelten, die - von einem dunklen Instinkt getrieben bis in den skandinavischen Norden wanderten. "Sieht man näher hin, so stellt Schlegel keine eindeutigen Behauptungen auf, es wimmelt bei ihm von Konjunktiven, alles ist nur poetisch angedeutet. Im übrigen verwendet Schlegel nirgends die Ausdrücke Arier oder Indogermanen: aber gerade die verschwommenen Andeutungen dürften seine Leser zu den kühnsten Spekulationen angeregt haben. "3 Diese Ideen übernahm und verbreitete Friedrich Schlegels Bruder August-Wilhelm (1767-1845). In den Jahren nationalistischer Gärung wurden zahlreiche Theorien und Hypothesen über die Arier und Indogermanen vertreten. War ursprünglich der Begriff ,Arier' von Herodot für die Perser und Meder verwendet worden, so wurde er nun im erweiterten Sinne von Schlegel eingebürgert und vom Großteil der deutschen Autoren übernommen. Diese Ansichten fanden in der Folge zahlreiche Anhänger, unter anderem verlieh Richard Wagner diesem Gedanken einen großen Widerhall (wegen seiner antisemitischen Äußerungen wird Wagner in Israel noch immer nicht aufgeführt). "Der Gedanke einer germanisch-christlichen Sendung spezifizierte sich immer mehr und brachte nach und nach esoterische Sekten mit ,arischen' Kulten aller Arten hervor.... Das patriotische Hochgefühl der Zeit der Napoleonischen Kriege, die Verherrlichung der Sprache, der Religion oder des Bluts der Germanen fanden den besten Nährboden an den Universitäten und in revolutionären Kreisen. Dort träumte man von einem geeinten Deutschland, aus dem alle Fremdstämmigen, das heißt die Welschen und die Juden, ausgeschlossen sein sollten; ... "4. Dieser kursorische Überblick macht deutlich, daß der Arier-Begriff ursprünglich rein sprachlich benutzt, dann mit indogermanisch gleichgesetzt wurde und später in die Anthropologie und in die Rassenkunde eindrang. Dort gewann er die Bedeutung Angehörige der nordischen Rasse oder deutschblütig. Schließlich erfuhr er eine Einengung auf antisemitisch, d. h., unter ,Arier' wurden nunmehr ,Nichtjuden' verstanden. Diese Entwicklung gipfelte schließlich in der Rassenpolitik des Nationalsozialismus. Dieser Bedeutungswandel des Begriffes ,Arier' wurde von anderen rassenbiologischen Erscheinungen begleitet: In diesem Zusammenhang sei die Schädelforschung (Craniologie) genannt, die sich im 19. Jahrhundert entwickelte und gleichfalls die Rassenideologie beeinflußte: Der schwedische Anatom und Anthropologe Anders Retzius (1796-1860) hatte 1845 den ,Schädelindex' (oder Kopfindex) eingeführt. 5 Er glaubte lEbenda, S. 216 f. (ohne Hervorhebungen im Original, Jk.). Ebenda, S. 286. 5 Der Schädel- oder Kopfindex ist die Zahl, weIche das Verhältnis der Kopf- bzw. Schädelbreite zur Kopfschädellänge ausdrückt. "Als Langkopjbzw. Langschädel bezeichnet man einen Kopf bzw. Schädel, dessen Längsdurchmesser (Ansicht von oben) den 4

I. Der arische Mythos

455

festgestellt zu haben, daß die ,langschädeligen' Völker - Skandinavier, Deutsche, Engländer, Franzosen - mit besseren seelischen Eigenschaften ausgestattet seien als die ,kurzschädeligen', die nicht des iranischen oder arischen, sondern ,turanischen' Ursprungs seien. Zu den ,kurzschädeligen' gehören die weniger entwickelten Völker wie die Lappen, die Finnen oder Finn-Slawen und die Bretonen. Der Schädelindex wurde noch durch andere Indices ergänzt6 , woraus dann eine ,craniologische Theorie' entstand. 7 Es wurden Meßinstrumente - Taster- und Gleitzirkel - entwickelt, um den Schädelindex zu ermitteln. Nach Poliakov8 war innerhalb von zehn Jahren das gesamte gebildete Europa von dieser Idee durchdrungen, da man anhand der Schädel die Menschenrassen besser definieren könne als mit Hilfe der Sprachen. Dagegen machte Günther 9 darauf aufmerksam, daß der Schädelindex nur ein Merkmal unter mehreren Rassenmerkmalen ist und daß dieser Index in seiner Bedeutung in Laienkreisen überschätzt wird. Neben der Schädelforschung hat es zahlreiche andere Richtungen und Einflüsse gegeben, die die Rassenideologie im allgemeinen und die Herausbildung des Arier-Begriffes im besonderen beeinflußten: So ist als Vorläufer der Schädelforschung der holländische Anatom Petrus Camper (1722-1792) zu nennen, der beim Vergleich der Schädel eines Europäers, eines Kalmücken, eines Negers und eines Affen glaubte, einen variablen ,Gesichtswinkel' feststellen zu können, der in der genannten Reihenfolge abnahm, d. h., beim Europäer war der Winkel am größten. In einer Reihe von Ländern in Europa begann man, rassenkundliche Untersuchungen durchzuQuerdurchmesser beträchtlich übertrifft, als Kurzkopjbzw. Kurzschädel einen Kopf bzw. Schädel, dessen Querdurchmesser näher oder fast gleichkommt. Man mißt die größte Länge und größte Breite des Schädels bzw. am Kopf des Lebenden ( ... ) und drückt dann das Querrnaß in Prozenten des Längenmaßes aus; die gefundene Prozentzahl heißt Schädel- bzw. Kopf-Index. Ist der Schädel z. B. ebenso breit wie lang, so stellt er einen sehr ausgesprochenen Kurzschädel mit dem Index 100 dar. Beträgt die Breite des Schädels 70 % der Länge, so stellt der Schädel sich als Langschädel mit Index 70 dar. Man zählt Langschädel bis Index 74,9 aufwärts, Mittelschädel von 75 bis 79,9, Kurzschädel von Index 80 aufwärts." So Hans F. K. Günther: Kleine Rassenkunde des deutschen Volkes, 3. Aufl., München 1933, S. 16-18 (Hervorhebungen zum Teil abweichend vom Original, Jk.). Derselbe: Rassenkunde des deutschen Volkes, zahlreiche Auflagen (8. Aufl., München 1925, zur Schädelmessung S.26f.) Der Verfasser Günther war im dritten Reich als ,Rassen-Günther' bekannt. 6 Günther hat in seiner Rassenkunde Karten aufgenommen, die die Verteilung der blauäugigen Blonden und der braunäugigen Braunhaarigen wiedergeben, ferner den Dunkelheitsindex, den Kopfindex im Deutschen Reich und Karten über die Verteilung von ,hell' und ,dunkel', die Körperhöhe, den Kopf- und Gesichtsindex in Europa usw. 7 Der Arzt Rudolf Virchow (1821-1902) führte in den Jahren 1874-77 (so Günther, S. 131) eine große Schulkinderuntersuchung durch. Nach Poliakov (S. 307) dauerte diese Untersuchung zehn Jahre und erfaßte fünfzehn Millionen Schüler. Auch durch diese empirische Erhebung wurden Rassenunterschiede ermittelt. 8 Poliakov, S. 306. 9 Günther, S. 16.

456

6. Kap.: Der barbarische Mythos vom arischen Menschen

führen. Besonders hervorzuheben sind die Virchow'schen Schulkinderuntersuchungen in Deutschland, Österreich und in der Schweiz. Die Erblichkeitsforschung griff auf Gregor Mendel (1822-1884) zurück und die Rassenhygiene (Erbgesundheitslehre) untersuchte die Auslesevorgänge, die innerhalb eines Volkes stattfanden, die zur Entartung bzw. zu einer Ertüchtigung einer Rasse führen. Auch die Geschichtswissenschaften wurden rassenkundlichen Betrachtungen unterzogen; hatte die idealistische Geschichtsbetrachtung die geistigen bzw. sittlichen Kräfte und die materialistische Richtung die ökonomischen Aspekte in den Vordergrund gestellt, ging die rassenkundliche Geschichtsbeschreibung von den Menschen als Mitglied einer Rasse aus. Der bedeutendste Vertreter ist Joseph Arthur Graf von Gobineau. 2. Die Ungleichheit der Rassen

Gobineau (1816-1882) war französischer Diplomat und Schriftsteller, der zum Kreis von Richard Wagner gehörte. Mit seiner großen Abhandlung ,Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen', die 1853 bis 1855 erschien 10, leugnete er die Gleichwertigkeit der Menschen verschiedener Rassen und hob die Überlegenheit der arischen Rasse hervor. Da es in diesem Zusammenhang nicht möglich ist, auch nur annähernd Gobineaus Gedanken zusammenfassend vorzutragen, sei lediglich auf folgendes hingewiesen: Gobineau 11 geht von der These aus, daß die Ungleichheit zwischen den Rassen angeboren, ursprünglich und stark ausgeprägt ist. Das System der Kasten, der Adelsstände und das der Aristokraten beruht auf dieser Ungleichheit. In dem Maße, wie sich die Gruppen mischen und verschmelzendie Staatsbürger in ihren Adern gemischtes Blut fließen fühlen -, nimmt man an, daß alle Menschen gleich seien, d. h., man leugnet die natürlichen Ursachen der Überlegenheit, die man schmäht. Wenn ,Alle Menschen Brüder sind', warum - so fragt Gobineau - haben die Huronen nicht die Buchdruckerkunst und die Dampfmaschine erfunden und warum haben sie nicht einen Cäsar oder Karl den Großen hervorgebracht? Offensichtlich haben verschiedene Nationen ungleiche Bestimmungen: "Die Stärkeren werden in der Welttragödie die Rollen der Könige und Herren spielen. Die Schwächeren werden sich mit den untergeordneten Partien begnügen."12 Gobineau glaubt nicht, daß eine Ausgleichung der jedem Volke eigenen Charaktere erfolgt, so daß alle Völker gleich seien. Es ist ein Irrtum anzunehmen, daß die Scheidung der Rassen nur den äußeren Einflüssen 10 Arthur Graf Gobineau: Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen, deutsche Ausgabe von Ludwig Schemann, 4 Bde., 5. Aufl., Stuttgart 1939-1940. 11 Ebenda, Bd. I, S. 46 ff. 12 Ebenda, S. 50.

I. Der arische Mythos

457

zuzuschreiben und daß die gesamte Menschheit der gleichen Vervollkommnung zugänglich ist. "Diese Theorie ist unzulässig."!3 Gobineau wirft die Frage auf!4, ob alle Menschen das gleiche Vermögen haben, in ihrer intellektuellen Entwicklung fortzuschreiten. "Mit anderen Worten, sind die verschiedenen Menschenrassen mit der Fähigkeit begabt, einander gleichzukommen? Diese Frage ist eigentlich die nach der unbegrenzten Vervollkommnungsfähigkeit der Gattung und der Gleichheit der Rassen untereinander. In beiderlei Hinsicht antworte ich verneinend."!S Im zweiten Band geht Gobineau auf die Rassen im vorderen Orient und in Asien ein (Hamiten, Semiten, Kanaaniter, Assyrer, Ägypter usw.), der dritte Band behandelt die ,semitisierte Zivilisation des Südwestens' (die Zoroaster, die Ureinwohner Griechenlands, die semitisierte europäische Zivilisation usw.), im vierten und letzten Band ist die abendländische Zivilisation Gegenstand der Betrachtungen, d. h., die Slawen und vor allen Dingen die germanischen Arier. Aus diesem Band wollen wir nur Gobineaus Ansichten über die Slawen und arischen Germanen skizzieren. Gobineau charakterisiert die Slawen wie folgt:!6 Die Gestalt des Kopfes nähert sich der Quadratform, die Stirn ist eingedrückt, die Augen sind klein und der Bartwuchs ist dünn. "Die geistigen Anlagen waren in vollkommener Übereinstimmung mit diesen äußeren Zügen und haben nie aufgehört, sich darin zu erhalten. Alle ihre Hauptneigungen laufen auf das Mittelmäßige, auf die Liebe zu Ruhe und Stille, auf die Pflege eines wenig anspruchsvollen, fast ganz materiellen Wohlbefindens und auf im allergewöhnlichsten Sinne friedliche Verhältnisse hinaus."!7 Diese Völker kann man im höheren Sinne des Wortes nicht als zivilisiert bezeichnen, ihre Intelligenz war durch die Rassenmischung getrübt worden. Wenn es nötig war, dann entwickelten sie kriegerische Tüchtigkeit, aber ihre durch die finnischen Einflüsse geschwächte Intelligenz zeigte ihnen nicht klar genug die Notwendigkeiten, welche sich dem Leben der großen Völker aufdrängen. ,,sie ergaben sich in alles, um damit fertig zu werden, und kehrten freudig zur Feldarbeit, zum Handel, zu ihren häuslichen Geschäften zurück. Alle ihre Liebhabereien konzentrierten sich dort."!8 Eine so veranlagte Rasse besaß in nur bescheidenem Maße ihre Unabhängigkeit. Mit ihrer sanften und unterwürfigen Art haben sie die Besieger mürbe gemacht, so daß sie von den Siegern in Ruhe gelassen wurden. "Sie bildeten, wie letztere (die semitischen Rassen in Asien, Jk.) den stehenden Morast, in welchem nach einigen Stunden des Triumphes 13 14 15

16 17

18

Ebenda, S. 156. Ebenda, S. 206 ff. Ebenda, S. 207. Ebenda, Bd. IV, S. 1-40. Ebenda, S. 4. Ebenda, S. 13.

458

6. Kap.: Der barbarische Mythos vom arischen Menschen

alle übrigen Rassen versanken. Unbew'eglich wie der Tod, geschäftig wie er, verschlang dieser Morast in seinen schlummernden Gewässern die feurigsten und die edelsten Kräfte, ... "19. Im Gegensatz zu den Slawen charakterisiert Gobineau die germanischen Arier: 20 Die arischen Völker Asiens und Europas setzen durch ihre gebieterische Herrscherhaltung die anderen Völker in Erstaunen; daher fällt es nicht schwer, ihnen den Vorrang zuzuerkennen. Die Überlegenheit "der Arier beruht nicht auf einer außergewöhnlichen und beständigen Entwicklung der sittlichen Eigenschaften; sie besteht in einem größeren Vorrat an Anlagen, von denen diese Eigenschaften herrühren'?1 Beim Studium der Geschichte der Gesellschaften handelt es sich nicht um die Moralität - sie unterscheiden weder Laster noch Tugenden -, vielmehr entscheiden die geistigen Anlagen. "So ist der Arier immer, wenn auch nicht der beste der Menschen unter dem Gesichtspunkt der praktischen Moral, doch wenigstens der über den inneren Wert der Handlungen, die er begeht, am besten aufgeklärte .... ; hart gegen seine eigene Person, ist er auch erbarmungslos gegen andere, und über nichts darf man sich weniger wundern: aus dieser unbeugsamen Grundauffassung heraus übt er jene Gerechtigkeit, deren Unbestechlichkeit Herodot bei den kriegerischen Skythen rühmte. "22 Der Arier ist den übrigen Menschen an Intelligenz und Energie überlegen, daher ist es ihm vergönnt, zu einer unendlich viel höheren Moralität zu gelangen, als es dieses den niederen Rassen möglich ist. Er ist kraftvoll gebaut, schön im Anblick und der Mann bedeutet alles, das Volk aber wenig. "So auf eine Art Piedestal gestellt und sich von dem Boden seiner Tätigkeit abhebend, ist der germanische Arier ein gewaltiges Wesen, das zuerst den Blick auf sich selber lenkt, ehe es erlaubt, daß man ihn über die es umgebende Sphäre hinschweifen läßt. Alles was dieser Mensch glaubt, alles was er sagt, alles was er tut, gewinnt so eine überragende Bedeutung. "23 Der germanische Arier thronte an seinem Herde, er verfügte nach seinem Belieben über seinen Besitz und sein Erbgut. Frau, Kinder, Diener und Sklaven erkannten nur ihn an, lebten nur durch ihn und legten ihm gegenüber Rechenschaft ab, der seinerseits niemandem Rechenschaft schuldig war. Der freie Arier unterstellte sich nur dann einem Kriegführer, wenn dieser bereit war, die Kriegsbeute mit seinen Kriegern zu teilen; ein habgieriger und selbstsüchtiger Führer wurde verlassen und trat ins Nichts zurück. 19 20 21

22

23

Ebenda, S. Ebenda, S. Ebenda, S. Ebenda, S. Ebenda, S.

14.

66-117. 66. 67 f. 69 (Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.).

I. Der arische Mythos

459

Plastisch beschreibt Gobineau die Feste und Gelage der Arier: "Wenn der germanische Arier in seinem Festsaale weilte, auf einem Hochsitz am oberen Ende der Tafel, in reiche Gewänder gekleidet, die Seite mit einem kostbaren Schwerte umgürtet, ... , wenn er umringt von seinen Tapferen, diese einlud, sich beim Klange der Becher und der silberbeschlagenen oder am Rande vergoldeten Trinkhörnern mit ihm zu freuen, dann wurden weder Sklaven noch auch nur gewöhnliche Diener zu der Ehre zugelassen, diese Heldenversammlung zu bedienen. Ein derartiges Amt erschien zu edel und zu hoch, um so geringen Händen überlassen zu werden; ... "24. Sie holten Fleisch, Bier und Met, der Hunger wurde gestillt, die Becher geleert, Berichte über die Kriegstaten entflammten die leicht erregbaren Phantasien und riefen Prahlereien hervor. "Plötzlich erhob sich ein Tischgast geräuschvoll; er verkündete, daß er Willens sei, diesen oder jenen gefahrvollen Kriegszug zu unternehmen und schwur, die Hand das mit Bier gefüllte Trinkhorn ausgestreckt, daß er siegen oder fallen werde. Tosende Beifallsrufe erschollen von allen Seiten. Begeistert bis zur Raserei, stießen die Anwesenden ihre Waffen aneinander, um ihren Jubel besser zu feiern, sie umringten den Helden, beglückwünschten und umarmten ihn. So ruhen Löwen vor der Arbeit. "25 Auch die Frau und Mutter wird von Gobineau in verklärtem Licht gesehen: Beweise für die Dauerhaftigkeit der arischen Elemente ist die Macht der Frauen in einer Gesellschaft, denn: "Je mehr diese Macht geachtet wird, desto mehr ist man berechtigt, die Rasse, die ihr huldigt, als den echten Instinkten der arischen Familie nahestehend zu bezeichnen; ... "26. In den Augen der ältesten Arier war die Mutter die Quelle der Familie und der Rasse; für die im Verfall begriffenen zivilisierten Mischlingsrassen .ist die Frau nur das Weib des Mannes. "Die germanische Gattin erscheint in den Überlieferungen als ein Muster von Hoheit und Anmut, aber achtungsgebietender Anmut. "27 Die Sitten waren so rein, daß es in der altgermanischen Mundart kein Wort gibt, das den Begriff Nebenbuhlerin wiedergibt. Im Vergleich zum semitisierten Griechenland und Rom standen die Frauen als Königinnen da. Dieser kurze Überblick über Gobineaus Verherrlichung der arischen Rasse soll genügen, um anzudeuten, daß er die Demokratie und damit die Vorstellung der Gleichheit der Menschen ablehnte, die Gleichheit der Menschen wird bei ihm zur Unreinheit des Blutes. Dieser pessimistische ZugRassenmischung führt zur Verderbnis - ist auch bei den Rassenideologen des Nationalsozialismus vorhanden, doch diese machen den Versuch, den 24 2S 26

27

Ebenda, S. Ebenda, S. Ebenda, S. Ebenda, S.

101. 102. 109. 111.

460

6. Kap.: Der barbarische Mythos vom arischen Menschen

drohenden Untergllng der nordischen (arischen) Rasse aufzuhalten undaus ihrer Sicht - in das positive Gege.nteil umzukehren. 3. Die edle Rasse der Germanen Neben Graf Gobineau ist Houston Steward Chamberlain der Schriftsteller, der sich nicht nur mit der Rassenfrage befaßte, sondern auch eine weite Verbreitung fand: Chamberlain wurde 1855 als Engländer in Portsmouth geboren und starb 1927 in Bayreuth als Deutscher. Nach naturwissenschaftlichen Studien in Genf, Aufenthalt in Dresden (1884-89) und in Wien (1889-1909) heiratete er Richard Wagners Tochter Eva und übersiedelte nach Bayreuth. Als Verehrer des deutschen Geisteslebens und insbesondere von Richard Wagner nahm Chamberlain 1916 die deutsche Staatsbürgerschaft an. 1899 erschien in zwei Bänden zum ersten Mal sein bedeutendstes Werk ,Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts', das zahlreiche Auflagen erlebte. 28 In diesem Hauptwerk verkündete er eine völkisch-mythologische Ideologie, die auf einer Verschmelzung von naturwissenschaftlichen und philosophischen Ideen beruhte. Sein auf Gobineau fußender Rassenbegriff und die von ihm vertretene arische Weltanschauung hatten einen starken Einfluß auf die nationalsozialistische Rassenideologie. Dieses Werk ist - wie bereits angemerkt - in zwei Bände unterteilt: Der erste Band (mit 632 Seiten) behandelt die Ursprünge und reicht bis zum 13. Jahrhundert; denn "die Menschheit hat eben unter Führung der Germanen ein neues Leben begonnen, ... " (S. 16). Der zweite Band (635-1246) hat die Entstehung einer neuen Welt zum Gegenstand und reicht von 1200 bis 1800. Damit hat er - so Chamberlain - die Grundlagen für das neunzehnte Jahrhundert aufgezeigt, das das Jahrhundert der Naturwissenschaften ist. Aus diesem umfangreichen Werk wollen wir lediglich auf die Rassentheorie - und hierbei auch nur kursorisch - eingehen: Ausführlich beschäftigt sich Chamberlain im fünften Kapitel (Bd. I, S. 379 ff.) mit dem Eintritt der Juden in die abendländische Geschichte. Er verweist auf Johann Gottfried Herder (1744-1803), wonach die Juden auch in Europa ein fremdes, asiatisches Volk sind, das an das ihm gegebene Gesetz gebunden bleibt. Dieses fremde Volk - so Chamberlain - ist im 19. Jahrhundert ein unverhältnismäßig wichtiger, auf manchen Gebieten ein geradezu ausschlaggebender Bestandteil des Lebens geworden. Dieses gilt 28 Houston Steward Chamberlain: Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, zwei Bände, 20. Aufl., München 1935 (es erschienen noch tschechische, englische, amerikanische und französische Ausgaben). In Deutschland erschienen bis Kriegsende 27 Auflagen, wir zitieren aus der 20. Auflage; Seitenangaben erfolgen im Text.

I. Der arische Mythos

461

nicht nur für den Geldbesitz, die Regierungen, die Justiz, die Wissenschaft, den Handel, die Literatur, die Kunst usw.; so ziemlich alle Lebenszweige sind "mehr oder weniger freiwillige Sklaven der Juden geworden und schleppen die Fronkette, wenn auch noch nicht an beiden Füßen, so doch an einem ... Von idealen Beweggründen bestimmt, öffnete der Indoeuropäer in Freundschaft die Tore: wie ein Feind stürzte der Jude hinein, stürmte alle Positionen und pflanzte - ich will nicht sagen auf den Trümmern, doch auf den Breschen unserer echten Eigenart, die Fahne seines uns ewig fremden Wesens auf' (Bd. I, S. 382). Chamberlain schmäht aber nicht die Juden - dieses wäre unedel, unwürdig und unvernünftig -, denn sie verdienen Bewunderung, da sie nach der Logik und Wahrheit ihrer Eigenart gehandelt haben. So nutzten sie auch das ,Gesetz des Blutes' zur Ausbreitung ihrer Herrschaft, indem der Hauptstock fleckenlos bleibt, zugleich aber die Indoeuropäer durch jüdisches Blut infiziert werden. "Ginge das ein paar Jahrhunderte so fort, es gäbe dann in Europa nur noch ein einziges rassenreines Volk, das der Juden, alles Übrige wäre eine Herde pseudohebräischer Mestizen, und zwar ein unzweifelhaft physisch, geistig und moralisch degeneriertes Volk" (S. 383). Diese Vermischung bedeutet Entartung, da der fremde, starke Charakter der Juden nicht durch das germanische Blut aufgefrischt wird und der Europäer durch die Kreuzung mit einem ,minderwertigen Typus' - besser ausgedrückt: einem andersgearteten Typus - nur verlieren kann. Die Töchter von Juden dürfen Christen heiraten, dagegen ist dieses den Söhnen verboten; so bleibt der Hauptstamm der Juden rein und unvermischt. Diese wenigen Hinweise mögen genügen, um anzudeuten, daß Chamberlain die Juden als eine minderwertige Rasse ansieht. Ganz anders beurteilt er die Germanen: Den Widerpart zur Verbreitung der Juden bildet der Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte. "Ich (Chamberlain, Jk.) verstehe in diesem Buche unter dem Wort ,Germanen' die verschiedenen nordeuropäischen Völkerschaften, die als Kelten, Germanen und Slaven in der Geschichte auftreten und aus denen - meist in unentwirrbarer Vermengung - die Völker des modernen Europa entstanden sind" (S.304). Dabei hat sich der Germane geistig, sittlich und physisch so hervorragend bewährt, daß man berechtigt sei, seinen Namen als Inbegriff der ganzen Familie hinzustellen. "Der Germane ist die Seele unserer Kultur.... Blicken wir heute umher, wir sehen, daß die Bedeutung einer jeden Nation als lebendige Kraft von dem Verhältnis des echt germanischen Blutes in ihrer Bevölkerung abhängt. Nur Germanen sitzen auf den Thronen Europas" (S. 305). Der Eintritt der Juden in die europäische Geschichte bedeutete den Eintritt eines fremden Elementes, umgekehrt verhält es sich mit den Germanen: Dieser Barbar, der am liebsten nackend in die Schlacht zieht, dieser

462

6. Kap.: Der barbarische Mythos vom arischen Menschen

Wilde ist der rechtmäßige Erbe des Hellenen und des Römers, da er Blut von ihrem Blut und Geist von ihrem Geist ist. Ohne die Germanen ging der Tag der Indoeuropäer zu Ende, es war hohe Zeit, daß die Retter erschienen. "Jedenfalls vermag nur schändliche Denkfaulheit oder schamlose Geschichtslüge in dem Eintritt der Germanen in die Weltgeschichte etwas anderes zu erblicken als die Errettung der agonisierenden Menschheit aus den Krallen des Ewig-Bestialischen" (S. 550). Die Phrasen der Naturforscher und der Parlamentsredner über die Gleichheit der Menschenrassen schrumpfen zu einem unsinnigen Gewäsch zusammen, wenn man die Gesamtleistungen einer Rasse betrachtet und dabei deren besonderen Wert erkennt; die großen Staatsmänner und Heerführer waren meistens von der reinsten germanischen Abstammung. Auch Paul de Lagarde (1827-1891) hat festgestellt, daß das Deutschtum nicht im Geblüt, sondern im Gemüt liegt. Es ist daher "verhältnismäßig leicht, ,Jude zu werden', dagegen fast bis zur Unmöglichkeit schwer, ,Germane zu werden'. Gewiß liegt das Germanentum im Gemüte; wer sich als Germane bewährt, ist, stamme er, woher er wolle, Germane; hier wie überall thront die Macht der Idee; doch man hüte sich, einem wahren Prinzip zu Liebe, den Zusammenhang der Naturerscheinungen zu übersehen" (S. 574). Als physisches Merkmal der Germanen wird das blonde Haar genannt. Doch Chamberlain weist darauf hin, daß hochgewachsene schlanke Körper, lange Schädel, lange Gesichter mit der großen Nase und dem scharfgeschnittenen Profil - der sogenannte ,Moltke-Typus' - schwarzes Haar haben. Das heißt, daß den Germanen nicht unbedingt das blonde Haar zugesprochen werden kann. Schädelmessungen haben ergeben, daß sie - sofern sie noch keine Vermischungen eingegangen sind - zu den Langschädeln (00lichocephalie) gehören; im Norden dominieren die Langschädel, je näher man zu den Alpen kommt - wo Kreuzungen mit Völkern aus dem Süden erfolgten -, desto mehr nehmen die Kurzschädel zu. Ein Blick in die Tiefen der Seele zeigt, daß nicht alle Menschenrassen gleichbegabt sind: "Die Rassen der Menschheit sind in der Art ihrer Befähigung, sowie in dem Maße ihrer Befähigung sehr ungleich begabt, und die Germanen gehören zu jener Gruppe der Zuhöchstbegabten, die man als Arier zu bezeichnen pflegt .... Körperlich und seelisch ragen die Arier unter allen Menschen empor; darum sind sie von Rechtswegen ( ... ) die Herren der Welt" (S. 596 f., Hervorhebungen erfolgten durch uns, Jk.). Die Germanen zeichnen sich durch ihre Treue aus, indem sie freiwillig und eigenmächtig ihren Herrn wählen; daran kann man erkennen, ob reines germanisches Blut in den Adern fließt oder nicht. "Der Neger und der Hund dienen ihrem Herrn, wer er auch sei: das ist die Moral des Schwachen, oder, wie Aristoteles sagt, des von Natur zum Sklaven Geborenen; der Germane wählt sich seinen Herrn, und seine Treue ist daher Treue gegen sich selbst: das

I. Der arische Mythos

463

ist die Moral des Freigeborenen" (S. 601, ohne Hervorhebung im Original, Jk.). Wenn man die geschichtliche Größe der Germanen erklären will, dann muß man die Treue nennen. Das ist der Mittelpunkt, von dem aus man den gesamten Charakter überblicken kann. "Daher ist gerade diese Treue der feinste Prüfstein, um echtes germanisches Wesen von unechtem zu scheiden; ... " (S. 602). Das Prinzip der germanischen Treue bezeugt die Selbstbestimmung, in der sich die Freiheit bewährt. Daher heißt Dienen für den freien Mann sich selber befehlen. Nach dieser unvollständigen Charakterisierung der Germanen kann man auch das Ungermanische erkennen: Es hat sowohl vorübergehend als auch dauerhafte Siege über den germanischen Geist gegeben; denn alles wurde in Bewegung gesetzt, um ihn zu betören. Als ein Kind ist der Germane in die Weltgeschichte eingetreten, der den alten und erfahrenen Wüstlingen in die Hände fiel. Dadurch wurde der Germane sich selbst entfremdet. "Daher kommt es, daß wir das Ungermanische in dem Herzen der besten Germanen eingenistet finden, wo es, dank germanischem Ernst und germanischer Treue, oft festere Wurzel faßte, als an irgend einem anderen Ort; daher aber auch die Schwierigkeit, unsere Geschichte zu enträtseln" (S.612). Diese wenigen Hinweise mögen genügen, um die ,germanische Gedankenwelt' von Houston Steward Chamberlain anzudeuten. Wenden wir uns wiederum kurz - dem aus der Blutmischung sich ergebenden Völkerchaos zu (Bd. I, S. 309-378): Ist - so fragt Chamberlain - Nation und Rasse nur ein Wort? Soll uns die Verschmelzung aller Menschen in eine Einheit als Ziel, Aufgabe, Hoffnung und Wunsch vorschweben? Ist Blutsgemeinschaft nichts? Lehren uns nicht die biologischen Wissenschaften, daß im Tier- und Pflanzenreich edle Geschlechter nur unter bestimmten, die Zeugung neuer Individuen beschränkenden Bedingungen entstehen? Was sind reine Rassen? Es wird immer wieder versichert, es gebe zwischen den Völkern keine Unterschiede und keine Ungleichheit. Aber das Tierreich lehrt uns, daß ,edle' Tierrassen nur durch eine geschlechtliche Zuchtwahl und durch eine strenge Reinhaltung der Rasse entstehen. "Andauernde Promiskuität unter zwei hervorragenden Tierrassen führt ausnahmslos zur Vernichtung der hervorragenden Merkmale von beiden! Warum sollte die Menschheit eine Ausnahme bilden?" (S. 312, ohne Hervorhebungen im Original, Jk.). Auch die Menschenrass.en unterscheiden sich hinsichtlich Charakter, Anlagen und Befähigungen wie der Windhund, die Bulldogge, der Pudel oder der Neufundländer. Eine edle Rasse fällt aber nicht vom Himmel, sondern entsteht nach und nach, entweder zufällig oder nach einem festen Plan. "Rasse hebt einen Menschen über sich selbst hinaus, sie verleiht ihm ausserordentliche, fast möchte ich sagen übernatürliche Fähigkeiten, so sehr zeichnet sie ihn vor

464

6. Kap.: Der barbarische Mythos vom arischen Menschen

dem aus einem chaotischen Mischmasch von allerhand Völkern hervorgegangenen Individuum aus; ... " (S. 320). Chamberlain faßt seine Grundprinzipien in denjünf Naturgesetzen edler Rassen zusammen (S. 326-339): (1) Das vortreffliche Material: Das ist die erste grundlegende Bedingung. Es gibt keine Erklärung dafür, woher es kommt, aber es gibt Menschen mit unterschiedlichen Anlagen. Der Kampf, an dem schwaches Menschenmaterial zu Grunde geht, stählt das Starke; die Kindheit großer Rassen sehen wir stets vom Kampf um tobt. (2) Die Inzucht: Rassen wie die Griechen, Römer, Franken, Schwaben, Italiener und Spanier in ihrer Glanzzeit, Mauren, Engländer usw. entstehen nur durch fortgesetzte Inzucht, d.h., Erzeugung von Nachkommenschaft ausschließlich im Kreise der engeren Stammesgenossen. Sie entstehen und sie vergehen vor unseren Augen. (3) Die Zuchtwahl: Mit der Inzucht muß die Auswahl - die Zuchtwahl Hand in Hand gehen. Dieses kann man an der Züchtung im Pflanzenund Tierreich studieren. Hat man gelernt, welche Wunder die Wahl vollbringt, dann wird man diese Phänomene auch als wirksam für das Menschengeschlecht erkennen; " ... das Aussetzen schwächlicher Kinder ist ein weiteres (Beispiel) und war jedenfalls eines der segenvollsten Gesetze der Griechen, Römer und Germanen; harte Zeiten, welche nur der stämmige Mann, das ausdauernde Weib überlebt, wirken in ähnlichem Sinne" (S. 328). (4) Die Blutmischung: Auch aus dem Tierreich beobachten wir, daß dem Entstehen außerordentlicher Rassen eine Blutmischung vorausgeht. Nie hat eine so gründliche und günstige Vermischung wie in Griechenland stattgefunden. Am lehrreichsten ist die Entstehungsgeschichte des attischen, speziell des athenischen Volkes: Attika blieb von der dorischen Völkerwanderung nicht verschont. Diese Einwanderer zeichneten sich nicht durch ihre Quantität, vielmehr durch die Mehrzahl ausgewählter Männer aus. Dasselbe Gesetz hat sich auch bei den Deutschen, Franzosen, Italienern und den Spaniern bewährt. Hinsichtlich seiner Vergleiche aus dem Tierreich - zum Beispiel die Züchtung englischer Vollblutpferde - erwiderte Chamberlain: " ... ; und da wir gerade in Bezug auf Rassenzüchtung leider nicht in der Lage sind, Experimente mit Menschen anzustellen, so müssen wir die an Tieren und Pflanzen gemachten Versuche zu Rate ziehen" (S. 332). (5) Die Beschränkung der Blutmischung: Nach Chamberlain sind nur ganz bestimmte und beschränkte Blutmischungen zur Veredelung bzw. für die Entstehung einer neuen Rasse föderlich. Auch hier liefert die Tierzüchtung klare und unzweideutige Beispiele. "Die Blutmischung muß zeitlich streng beschränkt, außerdem muß sie eine zweckmäßige sein;

11. Der Rassegedanke des Nationalsozialismus

465

nicht alle beliebigen Vermischungen, sondern nur bestimmte können die Grundlage zur Veredelung abgeben .... ; fortdauernde Blutmischung richtet die stärkste Rasse zu Grunde" (S. 334). Da in der Regel die Blutvermischung zur Entartung führt, wird eine Vermischung zweier sehr fremdartiger Rassen nur dann die Bildung einer edlen Rasse hervorbringen, wenn sie höchst selten stattfindet und von strenger Inzucht gefolgt wird. Aber "wir sind nicht in der Lage, eine Anzahl von Menschen einzuhegen und durch etliche Generationen hindurch Versuche mit ihnen anzustellen; ... " (S.336). Jede Blutmischung ist eine gefährliche Sache und kann nur unter Beachtung bestimmter Kautelen zur Veredelung der Rasse beitragen. Mit diesen fünf Naturgesetzen der edlen Rassen ist keineswegs die Rassenfrage erschöpft. Da es nicht unsere Absicht ist, die gesamte Rassenideologie Chamberlains vorzutragen, soll hier in der Darstellung abgebrochen werden, zumal es uns darum geht darzulegen, daß der Rassenwahn des Nationalsozialismus keine Erfindung des Dritten Reiches, wohl aber seine - barbarische - Umsetzung ist.

11. Der Rassegedanke des Nationalsozialismus Den Ursprung, die Entwicklung und die Folgen des Rassegedankens im Nationalsozialismus darzustellen, wäre - sofern überhaupt - nur in einer selbständigen und großen Untersuchung möglich. Dieses ist in diesem Zusammenhang weder beabsichtigt noch möglich. Vielmehr geht es darum, aus der NS-Ideologie das barbarische Element der Utopie von der nordischen oder arischen Rasse herauszuarbeiten. Wenn immer über die Rassenideologie des Dritten Reiches diskutiert wird, dann wird nahezu ausschließlich der Antisemitismus und damit die systematische Vernichtung von über fünf Millionen Juden genannt. Aus folgenden Gründen wollen wir von der Erörterung dieser Barbarei abweichen: Der Antisemitismus im allgemeinen und die Vernichtung der Juden im besonderen sind in zahlreichen Untersuchungen dargestellt worden. Ein in diesem Zusammenhang nur möglicher Überblick wäre von vornherein zur Oberflächlichkeit verurteilt und könnte diesem tragischen Phänomen nicht gerecht werden. Gerade der Respekt vor diesen Ereignissen zwingt uns dazu, auf eine derartig knappe Darstellung zu verzichten. Wie schon weiter oben angedeutet, finden dagegen zwei Komplexe der barbarischen Realisierung einer utopischen Rassenlehre keine genügende Beachtung: Nämlich der Lebensborn - die Züchtung des blonden, nordischen oder arischen Menschen - und die Euthanasie - die Vernichtung des lebensunwerten Gutes -, durch die die erbgesunde Rasse erhalten und verbessert werden sollte. 30 Jenkis

466

6. Kap.: Der barbarische Mythos vorn arischen Menschen

Als Einleitung soll ein kurzer Überblick über die von Rosenberg und Hitler vertretene Rassenideologie vorangestellt werden. Auch diese Einleitung beansprucht nicht, das gesamte Phänomen zu erhellen, sondern will lediglich aus den Originalquellen in dieses Denken einführen, wobei deutlich wird, daß Gobineau und Chamberlain - neben zahlreichen anderen Autoren, Wissenschaftlern und Politikern - Pate gestanden haben.

1. Rosenbergs Mythus vom arischen Menschen Der größte Antisemit - sofern man überhaupt diese Kennzeichnung verwenden darf - dürfte Julius Streicher (1885, 1946 hingerichtet in Nürnberg) gewesen sein. Auf dessen Tiraden in dem von ihm herausgegebenen ,Stürmer' soll nicht eingegangen werden. Dagegen erscheint es angebracht, nach Hitlers Auffassungen die von Alfred Rosenberg zu skizzieren: 29 Rosenberg gab 1930 sein kirchenfeindliches Hauptwerk ,Der Mythus des 20. Jahrhunderts' heraus 3o , das die geistigen Grundlagen der NS-Ideologie lieferte. Das erste Buch behandelt ,Das Ringen der Werte' (S. 21-273), das zweite ,Das Wesen der germanischen Kunst' (S. 277-450) und das dritte Buch ,Das kommende Reich' (S.454-701). Während Hitler der Rassenfrage ein eigenes Kapital widmete, sind seine Ausführungen in seinem gesamten Buch zu finden. Es soll lediglich auf seine Ausführungen zur nordischen Rasse hingewiesen werden (die Seitenangaben erfolgen im Text): Alle Staaten des Abendlandes und ihre schöpferischen Ideen wurden von den Germanen erzeugt. Erst Houston Stewart Chamberlain hat hieraus die notwendigen Folgerungen gezogen, d. h., wenn das germanische Blut in Europa verschwinden würde, dann müßte die gesamte Kultur des Abendlandes untergehen Wir stehen - so Rosenberg - vor einer endgültigen Entscheidung: "Entweder steigen wir durch Neuerleben und Hochzucht des uralten Blutes, gepaart mit erhöhtem Kampfwillen, zu einer reinigenden Leistung empor, oder aber auch die letzten germanisch-abendländischen 29 Alfred Rosenberg wurde am 12. Januar 1893 in Reval geboren und am 16. Oktober 1946 in Nürnberg hingerichtet. Er wirkte ab 1919 als antisemitischer Publizist in München, leitete ab 1923 das NSDAP-Parteiorgan ,Völkischer Beobachter' (ab 1925 Chefredakteur, ab 1938 Herausgeber). Rosenberg agitierte gegen das Judentum, den Marxismus, den Liberalismus und die Demokratie. Er war von 1930-1945 Mitglied des Reichstages, 193345 Reichsleiter der NSDAP und beanspruchte, der führende Theoretiker der NS-Weltanschauung zu sein; 1934 wurde er zum Beauftragten des Führers für die Überwachung der

gesamten geistigen und weltanschaulichen Schulung sowie Erziehung der NSDAP ernannt; 1941-45 war er Reichsminister für die besetzten Ostgebiete. Im Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozeß wurde Rosenberg zum Tode verurteilt und hingerichtet. 30 Alfred Rosenberg: Der Mythus des 20. Jahrhunderts - Eine Wertung der seelischgeistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, zitiert nach der 175.-176. Aufl., München 1941 (1,1 Mill. Auflagen bis 1944).

11. Der Rassegedanke des Nationalsozialismus

467

Werte der Gesittung und Staatenzucht versinken in den schmutzigen Menschenfluten der Weltstädte, verkrüppeln auf dem glühenden unfruchtbaren Asphalt einer bestialisierten U nmenschheit oder versickern als krankheitserregender Keim in Gestalt von sich bastardierenden Auswanderern in Südamerika, China, Holländisch-Indien, Afrika" (S.82). Chamberlain hat die hemmungslose Rassenvermischung, d. h. die Bastardierung als Völkerchaos bezeichnet. Ohne das Auftreten der Germanen und ohne deren Schöpferkraft und ihrem wagemutigen Unternehmungsgeist würde nur ein ,Menschentum' fortvegetieren, das ohne kühne Schwungkraft des Körpers und der Seele, in tiefster unterwürfigster Genügsamkeit auf Lavamassen oder inmitten von Steinwüsten hausen würde. Vor dieser Entwicklung hat die ,nordische Welle' - alles überziehend und befruchtend - bewahrt. Wenn noch heute - 2000 Jahre nach dem Auftreten der Germanen - Nationalkulturen, Schöpferkraft und wagemutiger Unternehmungsgeist wirken, so verdanken wir diese Kräfte der nordischen Welle. Wenn heute Staatsrechtler das Ideal einer einheitlichen Gliederung der Menschheit predigen, so ist dieses Ausdruck jener Gedanken des Völkerchaos, der unser Wesen von jeher vergiftete. "Das ist Rassenpest und Seelenrnord zum weltpolitischen Programm erhoben" (S. 84f.). Kein Volk Europas ist rassisch einheitlich, auch Deutschland nicht. Es wird angenommen, daß fünf Rassen mit verschiedenen Typen in Deutschland anzutreffen sind. "Nordisches Blut gestaltete vor allem anderen auch deutsches Leben .... Deutsch ist nordisch und hat kultur- und typenbildend auf die westischen-dinarischen, ostisch-baltischen Rassen gewirkt .... Dieses Hervorheben der nordischen Rasse bedeutet kein Säen des ,Rassenhasses' in Deutschland, sondern, im Gegenteil, das bewußte Anerkennen eines blutvollen Bindemittels innerhalb unseres Volkstums" (S. 576 f., ohne Hervorhebungen im Original, Jk.). An dem Tage, an dem das nordische Blut versiegen sollte, würde Deutschland zerfallen. Wenn man eine Erneuerung der Werte unserer Seelen verwirklichen will, dann ,,(sind) Rassenschutz, Rassenzucht und Rassenhygiene also die unerläßlichen Forderungen einer neuen Zeit. Rassenzucht bedeutet aber im Sinn unseres tiefsten Suchens vor allem den Schutz der nordischen Rassenbestandteile unseres Volkes" (S. 577, Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). 2. Hitlers Rassenideologie und Rassenutopie

AdolfHitler (geboren 1889, Selbstmord am 30. April 1945) unternahm am 8./9. November 1923 den Versuch, in Bayern die Macht an sich zu reißen, um dann mit einem Marsch auf Berlin die Regierung Stresemann zu stürzen (Hitlerputsch). Die NSDAP wurde verboten und Hitler zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt (vorzeitige Entlassung: Ende 1924). Auf der Festung 30·

468

6. Kap.: Der barbarische Mythos vom arischen Menschen

Landsberg schrieb Hitler seine Rechenschafts- und Programmschrift ,Mein Kampf, die 1925/27 in zwei Bänden erschien. 31 Der erste Band enthält ,Eine Abrechnung' und der zweite Band beschreibt ,Die nationalsozialistische Bewegung'. In der ,Abrechnung' beschreibt Hitler seine Herkunft, seinen Lebensweg, den Ersten Weltkrieg und geht im elften Kapitel (S. 311-362) auf das Thema ,Volk und Rasse' ein. Darüber hinaus finden sich in dieser Programmschrift zahlreiche Passagen, die sich mit den Ariern, den Juden und der Rasse ganz generell befassen (die Seitenangaben erfolgen im Text). Einleitend weist Hitler darauf hin, daß es Probleme gibt, denen gegenüber die Menschen blind sind. Hierzu gehört die Abgeschlossenheit der Arten. Nur Tiere der gleichen Gattung paaren sich, wenn von dieser Regel abgewichen wird, dann entfällt entweder die Zeugungsfähigkeit der Bastarde oder die Fruchtbarkeit sinkt. "Jede Kreuzung zweier nicht ganz gleich hoher Wesen gibt als Produkt ein Mittelding zwischen der Höhe der beiden Eltern . ... Solche Paarung widerspricht aber dem Willen der Natur zur Höherzüchtung des Lebens überhaupt. Die Voraussetzung hierzu liegt nicht im Verbinden von Höher- und Minderwertigen, sondern im restlosen Siege des ersteren. Der Stärkere hat zu herrschen und sich nicht mit dem Schwächeren zu verschmelzen, um so die eigene Größe zu opfern. Nur der geborene Schwächling kann dies als grausam empfinden, dafür aber ist er auch nur ein schwacher und beschränkter Mensch; denn würde dieses Gesetz nicht herrschen, wäre ja jede vorstellbare Höherentwicklung aller organischen Lebewesen undenkbar" (S. 312, Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). Dieses ist in der Natur ein allgemeingültiger Trieb zur Rassenreinheit. Der Kampf um Nahrung oder die Partnerin führt dazu, daß die Schwachen und Kranken unterliegen; diese Auslese fordert Gesundheit und die Widerstandskraft und ist somit Ursache für die Höherentwicklung. Das bedeutet, daß die Natur eine Korrektur zum Besseren vornimmt. Noch weniger als die Paarung zwischen schwachen und starken Einzelwesen wünscht die Natur die Verschmelzung einer höheren mit einer niederen Rasse: Die Geschichte belegt, daß bei jeder Blutvermengung des Ariers mit niedrigeren Völkern das Ende des Kulturträgers herauskam. "Das Ergebnis jeder Rassenkreuzung ist also, ganz kurz gesagt, immer folgendes: a) Niedersenkung des Niveaus der höheren Rassen, b) körperlicher und geistiger Rückgang und damit der Beginn eines, wenn auch langsamen, so doch sicher fortschreitenden Siechtums" (S. 314, Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.): JJ Wir zitieren aus der folgenden Ausgabe: Adolf Ritler: Mein Kampf, zwei Bände in einem Band, ungekürzte Ausgabe (Dünndruckausgabe), München 1940 (bis dahin lag eine Gesamtauflage von 5,95 Mill. Exemplaren, 1943 sogar eine solche von 9,8 Mill. vor). Neben dieser Originalquelle verweisen wir auf Werner Siebarth: Ritlers Wollen - Nach Kernsätzen aus seinen Schriften und Reden, 9. Aufl., München 1941, zur Rasse-, Bevölkerungs- und Siedlungspolitik siehe S.1l9-129.

11. Der Rassegedanke des Nationalsozialismus

469

Nach Hitler bedeutet das Herbeiführen einer solchen Entwicklung eine Sünde wider den Willen des Schöpfers; sein Handeln gegen die Natur führt zu seinem eigenen Untergang. Alles, was wir auf der Erde bewundern - Wissenschaft, Kunst, Technik, Erfindungen -, ist das Produkt weniger schöpferischer Völker und vielleicht nur einer Rasse: "Von ihnen hängt auch der Bestand dieser ganzen Kultur ab. Gehen sie zugrunde, so sinkt mit ihnen die Schönheit dieser Erde ins Grab" (S. 316). Die großen Kulturen gingen dann zugrunde, wenn die ursprünglich schöpferische Rasse an Blutvergiftung abstarb. Wann immer die Menschen glaubten die Natur zu überwinden, waren Not, Unglück und Krankheiten die Antwort. "Der Mensch, der die Rassengesetze verkennt und mißachtet, bringt sich wirklich um das Glück, das ihm bestimmt erscheint. Er verhindert den Siegeszug der besten Rasse und damit auch die Vorbedingung zu allem menschlichen Fortschritt" (S. 317). Was wir heute an menschlicher Kultur vor uns sehen, ist nahezu ausschließlich schöpferisches Produkt des Ariers: "Gerade diese Tatsache aber läßt den nicht unbegründeten Rückschluß zu, daß er allein der Begründer des höheren Menschentums überhaupt war, mithin den Urtyp dessen darstellt, was wir unter dem Worte ,Mensch' verstehen" (S. 317, Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). Der Arier ist der Prometheus der Menschheit, aus dessen Stirn der göttliche Funke des Genies hervorsprang; man schalte ihn aus und tiefe Dunkelheit wird sich über die Menschheit senken. Wenn man zwischen den Kulturbegründern, den Kulturträgern und den Kulturzerstörern unterscheidet, dann sind die Arier die Kulturbegründer. Arische Stämme haben fremde Völker unterworfen und Kulturen geschaffen. Sobald sie aber begannen, sich mit den unterjochten Einwohnern zu vermischen, gingen sie unter; dem Sündenfall folgte die Vertreibung aus dem Paradies. "Die Blutsvermischung und das dadurch bedingte Senken des Rassenniveaus ist die alleinige Ursache des Absterbens aller Kulturen; denn die Menschen gehen nicht an verlorenen Kriegen zugrunde, sondern am Verlust jener Widerstandskraft, die nur dem reinen Blut zu eigen ist. Was nicht gute Rasse ist auf dieser Welt, ist Spreu" S. 324 f.). Was ist die innere Ursache der überragenden Bedeutung des Ariertums? Die überragende Bedeutung des Arierturns ist weniger in der stärkeren Veranlagung des Selbsterhaltungstriebes zu suchen als vielmehr in der be,sonderen Art der Äußerung desselben. "Der Arier ist nicht in seinen geistigen Eigenschaften an sich am größten, sondern im Ausmaße der Bereitwilligkeit, alle Fähigkeiten in den Dienst der Gemeinschaft zu stellen. Der Selbsterhaltungstrieb hat bei ihm die edelste Form erreicht, indem er das eigene Ich dem Leben der Gesamtheit willig unterordnet und, wenn die Stunde es erfordert, auch zum Opfer bringt" (S.326). Im Wort ,Arbeit'

470

6. Kap.: Der barbarische Mythos vom arischen Menschen

kommt diese Gesinnung zum Ausdruck, denn es ist ein Schaffen, das nicht den Interessen der Allgemeinheit widerspricht, anderenfalls wäre es Diebstahl, Raub, Einbruch oder Wucher. "In der Hingabe des eigenen Lebens für die Existenz der Gemeinschaft liegt die Krönung alles Opfersinnes" (S. 327). Diese Hingabe kommt im Wort ,Pflichterfüllung' zum Ausdruck, im Unterschied zum Egoismus. "Dieser inneren Gesinnung verdankt der Arier seine Stellung auf dieser Welt, und ihr verdankt die Welt den Menschen; ... " (S.327f.). Den gewaltigsten Gegensatz zum Arier bildet der Jude, bei dem der Selbsterhaltungstrieb wohl am stärksten ausgebildet ist: Allein die Tatsache, daß diese Rasse zweitausend Jahre mit so wenig Veränderungen der inneren Anlagen überlebt hat, ist Beleg für den Selbsterhaltungstrieb. Auch wenn dieser Selbsterhaltungstrieb groß ist und ihre geistigen Fähigkeiten den übrigen Rassen ebenbürtig erscheinen, so fehlt doch den Juden die wes~ntlichste Voraussetzung für ein Kulturvolk, nämlich die idealistische Gesinnung. "Der Aufopferungswille im jüdischen Volk geht über den nackten Selbsterhaltungstrieb des einzelnen nicht hinaus" (S. 330). Der Jude ist nur einig, wenn eine gemeinsame Gefahr ihn dazu zwingt oder eine gemeinsame Beute lockt. "Daher ist das jüdische Volk bei allen scheinbaren intellektuellen Eigenschaften dennoch ohne jede wahre Kultur, besonders aber ohne jede eigene" (S.332). Der Jude ist nur nachempfindend, verderbend und Nachäffer, er war nur immer Parasit am Körper anderer Völker. Wenn der Jude sich im Staat seines Aufenthalts ,eingerichtet' hat und sich ein Teil offen zum fremden Volk bekennt, dann wird seine Art erkennbar, wie er mit den Angehörigen der anderen Völker umgeht: "Der schwarzhaarige Judenjunge lauert stundenlang, satanische Freude in seinem Gesicht, auf das ahnungslose Mädchen, das er mit seinem Blute schändet und damit seinem, des Mädchens, Volke raubt. Mit allen Mitteln versucht er die rassischen Grundlagen des zu unterjochenden Volkes zu verderben .... So versucht er planmäßig, das Rassenniveau durch eine dauernde Vergiftung der einzelnen zu senken" (S. 357). Völker, die sich bastardieren oder bastardieren lassen, sündigen gegen den Willen der ewigen Vorsehung, ihr Untergang ist dann eine Herstellung des Rechts. Aus dieser inneren Erkenntnis - so Hitler sollten die Leitsätze für die neue Bewegung geformt werden, um den Niedergang des deutschen Volkes zum Stillstand zu bringen und dann ein neu es Fundament für "Einen germanischen Staat deutscher Nation" zu schaffen (S. 362, im Original hervorgehoben, Jk.). Dieser knappe Überblick macht deutlich, daß Hitler die arische Rasse als die ,Herrenrasse' ansieht, insbesondere die Juden als minderwertig betrachtet und eine Vermischung mit minderwertigen Rassen zur Bastardisierung führt, die im Untergang endet. Indirekt kann man aus diesen Aussagen

11. Der Rassegedanke des Nationalsozialismus

471

sowohl den Lebensborn als auch die Euthanasie ableiten. Es gibt aber Äußerungen, die dieses konkreter ankündigen: Aus dem folgenden Zitat aus Hitlers ,Mein Kampf kann man bereits das Euthanasieverfahren ablesen: "Es ist eine Halbheit, unheilbar kranken Menschen die dauernde Möglichkeit einer Verseuchung der übrigen gesunden zu gewähren. Es entspricht dies einer Humanität, die, um dem einen nicht wehe zu tun, hundert andere zugrunde gehen läßt. Die Forderung, daß defekten Menschen die Zeugung anderer ebenso defekter Nachkommen unmöglich gemacht wird, ist eine Forderung klarster Vernunft und bedeutet in ihrer planmäßigen Durchführung die humanste Tat der Menschheit. Sie wird Millionen von Unglücklichen unverdiente Leiden ersparen.... " (S.279, Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). Durch diese Maßnahmen wird auch der Weiterverbreitung der Geschlechtskrankheiten ein Damm entgegengesetzt. "Denn hier wird man, wenn nötig, zur unbarmherzigen Absonderung unheilbar Erkrankter schreiten müssen - eine barbarische Maßnahme für den unglücklich Betroffenen, aber ein Segen für die Mit- und Nachwelt" (S. 280, Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). Auch für den Lebensborn lassen sich bereits in ,Mein Kampf Andeutungen finden, wenn Hitler schreibt: "Auch die Ehe kann nicht Selbstzweck sein, sondern muß dem einen großeren Ziele, der Vermehrung und Erhaltung der Art und Rasse, dienen. Nur das ist ihr Sinn und ihre Aufgabe" (S.275, Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). Hier spricht Hitler noch von der Ehe - die möglichst in jungen Jahren geschlossen werden sollte -, nicht aber davon, daß man die ,Vermehrung und Erhaltung der Art und Rasse' auch außerhalb der formal geschlossenen Ehe ,organisierte'. Hitlers Rassenideologie zieht sich durch sein ganzes Leben: 32 Bereits 1919 brachte er in einem Brief seinen Antisemitismus zum Ausdruck, und einen Tag vor seinem Selbstmord (d. h. am 29. April 1945) hat er in seinem politischen Testament - dem letzten Schriftstück seines Lebens - im letzten Satz gefordert: "Vor allem verpflichte ich die Führung der Nation und die Gefolgschaft zur peinlichen Einhaltung der Rassengesetze und zum unbarmherzigen Widerstand gegen den Weltvergifter aller Völker, das internationale Judentum."33 Es erscheint angebracht, festzustellen, daß hier von paranoider Fixierung auf den Antisemitismus einerseits und die arische Rasse andererseits die Rede ist. Um die Juden zu vernichten und die arische Rasse zu stärken, waren alle - auch die barbarischen - Mittel erlaubt. 32 Siehe Eberhard Jäckel: Hitlers Weltanschauung, erweiterte und überarbeitete Neuausgabe, Stuttgart 1981, S. 55-78. 33 Zitiert nach Jäckel, S. 78 (Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.).

472

6. Kap.: Der barbarische Mythos vom arischen Menschen

III. Die barbarische Rassenutopie des Nationalsozialismus Nachdem wir den Ursprung des arischen Denkens und den Rassengedanken des Nationalsozialismus skizziert haben, wollen wir uns nunmehr von der Theorie der - barbarischen - Praxis des Dritten Reiches zuwenden, wobei wir erneut darauf hinweisen, daß die Thesen von Gobineau und Chamberlain sich bei Rosenberg und Hitler wiederfinden. Der wesentliche Unterschied besteht aber darin, daß die zuerst genannten sich auf theoretische Erörterungen beschränkten, das Dritte Reich und deren Führer zur Praxis und damit zur Barbarei schritten. Es sei nochmals hervorgehoben, daß aus den bereits genannten Gründen die Judenverfolgung und deren Vernichtung bewußt ausgeklammert wird und eine Begrenzung auf die ,Züchtung' des nordischen (arischen) Menschen durch den Lebensborn und die Euthanasie erfolgt. Einleitend sollen einige Bemerkungen zur Eugenik vorangestellt werden. 1. Die Eugenik - Wegbereiter der nationalsozialistischen Rassenideologie?

Der Begriff ,Eugenik' geht auf Francis Galton (1822-1911) zurück: Galton war ein Vetter von Charles Darwin, der als Arzt und Anthropologe 1865 die Schrift ,Hereditary talent and character' veröffentlichte, in der er auf die Erblichkeit von psychischen Eigenschaften hinwies. Mit seinem Werk ,Hereditary genius, its laws and consequences' (1869) prägte er den Begriff und begründete die Eugenik. 34 Auf Grund seiner Humangenetik entstand bei ihm der Gedanke, die Qualität der Menschheit durch eine vorsätzliche Züchtung zu verbessern. Galton nannte die Eugenik die Lehre von allen Einflüssen, die geeignet sein könnten, die angeborenen Eigenschaften (gemeint ist das Erbgefüge ) einer Rasse zu verbessern. "Als Aufgabe der Eugenik bezeichnete er die Verbreitung der Kenntnisse über wohlbegründete Gesetze der Vererbung, die Erhaltung und Pflege der günstigsten Lebensbedingungen kinderreicher, erbgesunder und leistungsfahiger Familien (civic usefulness) und die Möglichkeit einer erblichen Verbesserung des Menschengeschlechts durch die Lenkung der Auslese in Übereinstimmung mit dem personalen Sein des 34 Siehe hierzu Hermann Muckermann / Gerhard Koch: Artikel ,Eugenik', in: Staatslexikon, 6. Aufl., Freiburg 1959, Bd. I1I, Sp. 61-66; Otmar von Verschuer: Artikel ,Eugenik', in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Stuttgart-Tübingen-Göttingen 1961, Bd. IH, S. 356-357; Alexander Elster: Artikel ,Eugenik und Eubiotik', in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, 4. Aufl., Stuttgart 1926, Bd. III, S. 891-911.

IH. Die barbarische Rassenutopie des Nationalsozialismus

473

Menschen. "35 Galton geht VOll der Vererbung aus und meint, daß der geistige Stand der Rasse dadurch gehoben werden könnte, indem sich die Fruchtbarkeit der Tüchtigen steigern und die der Minderwertigen eindämmen ließe. Er spricht von ,race betterment' oder ,race improvement' und später von ,viriculture' (Stammespflege). Die Idee der Eugenik ist keineswegs neu, denn - wie im Zusammenhang mit dem utopischen Denken Platos dargelegt - es finden sich schon bei diesem griechischen Philosophen Gedanken über eine gelenkte Fortpflanzung. Die Eugenik umfaßt die wissenschaftlichen Grundlagen der Erblehre (Genetik) und die sich daraus ergebenden eugenischen Maßnahmen, d. h., die Erbpflege oder die Eugenik im engeren Sinne als Teil der Humangenetik. Hinsichtlich der Erbpflege unterscheidet man wiederum zwischen: (1) der negativen (präventiven) Eugenik, die die Fortpflanzung der erblich Kranken und ,Minderwertigen' durch Mutationsprophylaxe, genetische Eheberatung, Eheverbote, Schwangerschaftsunterbrechungen, Geburtenregelung, Sterilisation usw. verhindern oder zumindest eindämmen will; (2) der positiven (progressiven) Eugenik, die zum Ziel hat, durch Verbreitung der eugenischen Kenntnisse, Eheberatung, Förderung und Schutz der erblich wertvollen kinderreichen Familien, durch Ausgleich der Familienlasten usw. die erblich Gesunden und Tüchtigen zu fördern. Nachdem beim Menschen die in der Natur gegebene natürliche Auslese weitgehend ausgeschaltet ist, sammeln sich ungünstige Erbanlagen an. Daher soll- zumindest auf lange Sicht - eine bewußte genetische Hygiene an die Stelle der natürlichen Selektion treten. So einfach und so einleuchtend eine derartige Forderung erscheinen mag, so bereitet es doch erhebliche Schwierigkeiten zu beurteilen, welche Erbanlagen aus der Sicht der Eugenik als schädlich bzw. als günstig angesehen werden können; sofern überhaupt, ist dieses nur im Einzelfall möglich. In Deutschland haben sich insbesondere - und zwar unabhängig von Galton - vor allem Alfred Ploetz (1860-1940) und Wilhelm Schallmayer (1857-1919) mit der Eugenik befaßt: Vom bayerischen Arzt und Privatgelehrten Schallmayer36 erschien 1891 die Schrift" Über die drohende körperliche Entartung der Kulturmenschheit" , die kein nachhaltiges Interesse fand. Alfred Friedrich Krupp setzte eine hohe Summe für ein Preisausschreiben unter dem Titel ,Was lernen wir aus den Prinzipien der Descendenztheorie in bezug auf die innerpolitische Entwicklung und Muckermann / Koch, Sp. 61 f. (Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). Siehe hierzu Hedwig Conrad-Martius: Utopien der Menschenzüchtung Sozialdarwinismus und seine Folgen, München 1955, S. 74 ff. 35

36

Der

474

6. Kap.: Der barbarische Mythos vom arischen Menschen

Gesetzgebung der Staaten?' aus. Den ersten Preis erhielt Schallmeyer für sein Buch ,Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker - Eine staatswissenschaftliche Studie auf Grund der neueren Biologie' (1. Auflage 1903, vierte Auflage 1920). "Schallmeyers Veröffentlichungen zeichnen sich durch eine sehr nüchterne, sachliche, gründliche und durchaus wissenschaftliche Darstellungsweise aus. "37 Wir folgen nicht .dieser umfangreichen Arbeit, sondern einem Aufsatz, den Schallmeyer 1907 veröffentlichte: 38 In diesem Aufsatz stellt Schallmeyer fest, daß sich die Erbeigenschaften im Laufe der Generationen ändern, was in der vordarwinistischen Zeit noch nicht bekannt war. Während man von der Entwicklung der Kultur weiß, daß diese Veränderungen unterliegt, gilt dieses für die biologische erst in jüngster Zeit. Der Gesamtwert der Erbqualitäten einer Bevölkerung kann im Laufe der Generationen abnehmen oder - was allerdings langsamer geschieht sich erhöhen, d. h., daß die Entartung dominiert. Das Gegenstück zur Entartung ist die durchschnittliche Erhöhung der erblichen Tüchtigkeit der Bevölkerung. Ziel der Sozialeugenik ist zumindest die Verhinderung der Entartung und wenn immer möglich die Erhöhung der erblichen Tüchtigkeit. Seit Darwin wissen wir, daß in der Natur bei Tieren und Pflanzen diejenigen überleben und sich stärker mehren, die besser an die Umweltbedingungen angepaßt sind. "Das muß natürlich auch für das Menschengeschlecht Gültigkeit haben. "39 Um eine im Laufe der Zeit erreichte Rassetüchtigkeit zu erhalten, bedarf es daher einer strengen Auslese. "In dem Maße, als die Auslese an Schärfe nachläßt, geht auch die Rassetüchtigkeit bald zurück. "40 Je höher die menschliche Kultur steigt, desto mehr strebt sie danach, den Menschen das Elend - das unzertrennlich mit der natürlichen Auslese verbunden ist - zu ersparen. Das hat aber zur Folge, daß auch weniger widerstandsfahige Menschen überleben und sich fortpflanzen. Da auf die Kultur nicht verzichtet werden kann, darf auch nicht auf eine Sozialeugenik verzichtet werden. Während die Natur häufig die mißratenen Individuen vernichtet, besteht bei den Menschen die Möglichkeit, die Personenausmerzungen durch die Ausmerzung ihrer Keime - d. h. die NichtJortpj7anzung dieser minderwertigen Keime - zu ersetzen. "Ein Kulturvolk kann also ein Sinken des Durchschnittsniveaus seiner Rassetüchtigkeit nur dadurch Ebenda, S. 79. Wilhe1m Schallmayer: Vererbung und Auslese als Faktoren zu Tüchtigkeit und Entartung der Völker, in: Flugschriften des Deutschen Monistenbundes, Heft 5, Brackwede i. W. 1907. Der Monistenbund wurde 1906 in Jena von E. Haeckel und A. Kalthoff gegründet. Diese von Freidenkern getragene Vereinigung verfolgte das Ziel, eine monistische Weltanschauung - die den Bestand oder die Entstehung der Welt aus einern Stoff, einer Substanz oder einern Prinzip erklärt und damit im Gegensatz zum Dualismus steht - zu begründen und zu propagieren. 39 Schallmeyer, S. 11. 40 Ebenda, S. 12. 37

38

IH. Die barbarische Rassenutopie des Nationalsozialismus

475

vermeiden, daß es für die mit der Kultur notwendig verbundenen Einschränkungen und Hemmungen der natürlichen Auslese Entschädigung leistet durch Verbesserungen einer anderen Ausleseart, die nicht weniger wirksam, aber viel weniger grausam ist, nämlich durch Verbesserungen der geschlechtlichen Auslese, d. h. durch Begünstigung der Fortpflanzung der Personen, die an geistigen und leiblichen Erbwerten den Durchschnitt überragen, sowie durch Erschwerung der Fortpflanzung von Personen, deren leibliche und geistige Erbanlagen entschieden unter dem Mittelmaß stehen. "41 Nach Schallmeyer haben statistische Untersuchungen ergeben, daß im europäischen Kulturkreis die oberen Gesellschaftsschichten sich schwächer fortpflanzen als die unteren. Folge dieser Entwicklung ist, daß wir eine Legion von geborenen Krüppeln, Schwachen, Idioten, Epileptikern und anderen pathologischen Individuen haben. Da das Tier- und Pflanzenreich ihre Erfolge der Wirksamkeit der Auslese verdankt, darf die Sozialeugenik diesen Gesichtspunkt nicht außer acht lassen. "Natürlich kann eine Menschenzüchtung nach Art der Tier- und Pflanzenwelt gar nicht in Betracht kommen." Aber: " ... indirekt, durch entsprechende Änderungen gewisser sozialer Verhältnisse und Einrichtungen, (ist es möglich), auch die Erbentwicklung dieser Bevölkerung zu beeinflussen. "42 Hierzu gehört in erster Linie, daß die Fortpflanzung der erblich Minderwertigen vermieden, aber deren Leben in jeder Weise erleichtert und verlängert wird. Hier wird der Unterschied zur Euthanasie im Dritten Reich sehr deutlich: Die Nationalsozialisten haben nicht nur die Fortpflanzung verhindert, sondern auch die ,Minderwertigen' physisch vernichtet. Alfred Ploetz{1860-1940)43 hat in seinem Buch ,Grundlinien einer Rassenhygiene - Die Tüchtigkeit unserer Rasse und der Schutz der Schwachen: Ein Versuch über Rassenhygiene und ihr Verhältnis zu den humanen Idealen, besonders zum Sozialismus' (Berlin 1895) ,eine Art rassenhygienische Utopie' entworfen. 44 Er stellt drei rassen hygienische Forderungen für die Vervollkommnung und Vermehrung der Menschheit auf: (1) Erzeugung möglichst vieler besserer Devarianten (Nachkommen). (2) Scharfe Ausjätung des schlechteren Teils der Konvarianten (der gleichen Generation), keine Erleichterung der Gesamtgröße der selektorischen Einflüsse. (3) Keine Kontraselektion, d. h. keine Auslese, die zur Degeneration führt wie Kriege, blutige Revolutionen sowie keinen besonderen Schutz der Kranken und Schwachen. Ebenda, S. 18 (ohne Hervorhebungen im Original, Jk.). Ebenda, S. 34 (ohne Hervorhebungen im Original, Jk.). 43 Ploetz begründete 1904 das ,Archiv für Rassen- und Gesellschaftsbiologie' (erloschen 1943) und gründete 1905 die ,Gesellschaft für Rassenhygiene'. 44 Zitiert nach Conrad-Martius, S. 124. 41

42

476

6. Kap.: Der barbarische Mythos vom arischen Menschen

Nach Ploetz ist die menschliche Vervollkommnung nicht verschieden von dem überall im Tierreich zu beobachtenden Prozeß der besseren Anpassung an die Umgebung durch Auslese. In dieser rassenhygienischen Utopie - eine Bezeichnung, die Ploetz selbst verwendet - wird beim Menschen die Fortpflanzung auf Grund der vorhandenen Qualitäten vom Staat erlaubt, die Zeugung soll nicht irgendeinem Zufall überlassen werden, sondern nach den Grundsätzen erfolgen, die die Wissenschaft für die Zeit und die sonstigen Bedingungen bestimmt hat. Wenn dennoch ein schwächliches und mißratenes Kind geboren wird, so entscheidet ein Ärztekollegium über den sanften Tod. "Dieses Ausmerzen der Neugeborenen würde bei Zwillingen so gut wie immer vollzogen werden, außerdem prinzipiell bei allen Kindern, die nach der 6. Geburt oder nach dem 45. Jahr der Mutter bzw. dem 50. Jahr des Vaters - entgegen einem gesetzlichen Verbot - überhaupt noch geboren werden."45 Liegt ein Zeugnis über die Fortpflanzungsfähigkeit vor und brachte die erste Geburt nicht den erwarteten Erfolg, dann versuchen sie es ,frisch und fröhlich ein zweites Mal'. Schon bei Ploetz sehen wir das "unmerkliche Hinübergleiten von verhältnismäßig vernünftigen ,eugenischen' Maßnahmen zu einer kraß antihumanen oder direkter gesagt mörderischen (allerdings von Ploetz als ,utopisch' bezeichneten) Praxis. Das geschieht immer dann, wenn es an einem absoluten Humanitätsmaßstab fehlt" .46 Fritz Lenz war ein Schüler von Ploetz, der mit ihm seit 1913 die Deutsche Gesellschaft für Rassenhygiene leitete. In seinem Buch ,Menschliche Auslese' (3. Auflage, München 1927/31) bezeichnete er die Sterilisation als die humanste Methode, "sie sei der einzige Weg, auf dem die Menschheit der schonungslosen natürlichen Auslese entgehen kann, und zwar dadurch, daß diese durch eine bewußte, vernünftige und wahrhaft humane Auslese ersetzt wird".47 Durch die Sterilisation der Untüchtigen könnten Räume für Millionen Tüchtiger geschaffen werden. Aber vorerst lassen sich derartige Programme noch nicht durchführen. Es wurde geschätzt, daß etwa 20 Millionen der Reichsbevölkerung zu den untüchtigen Elementen gehören. Diese wenigen Hinweise belegen, daß lange vor den Nationalsozialisten die Eugenik im allgemeinen und die Verbesserung der von Entartung bedrohten Rasse im besonderen Gegenstand der wissenschaftlichen Diskussion war. Schon Ende des 19. Jahrhunderts wurden vereinzelt aus eugenischen Gründen Sterilisationen durchgeführt. Vor 1933 gab es Sterilisierungsgesetze in zahlreichen Staaten der USA, in zwei Provinzen von Kanada, in Mexiko, im schweizerischen Kanton Waadt 45 46 47

Ebenda, S. 126. Ebenda, S. 126. Ebenda, S. 190.

In. Die barbarische Rassenutopie des Nationalsozialismus

477

und in Dänemark. "Heute wird die freiwillige eugenische Sterilisation noch in Dänemark, Schweden und in einigen Staaten von USA in beschränktem Maße durchgeführt. "48 Aber ihrer Durchführung stehen große praktische und ernste ethische Bedenken im Wege; dagegen ist die eugenische Eheberatung bedeutsam. 2. Die Rassenzüchtung im Dritten Reich 49 Bei Gobineau und Chamberlain findet man den Mythos vom arischen (nordischen) Menschen, der von Rosenberg, Hitler und anderen Ideologen des Nationalsozialismus nicht nur aufgegriffen, sondern in die Tat umgesetzt wurde. Diese ,Tat' bestand unter anderem darin, daß man - bildlich gesprochen - ,unten' die Minderwertigen vernichtete (Euthanasie) und ,oben' die wertvolle nordische Rasse züchtete (Lebensborn). Hitler 50 hat in ,Mein Kampf' unter anderem festgestellt: "Er (der völkische Staat, Jk.) muß dafür Sorge tragen, daß nur, wer gesund ist, Kinder zeugt; daß es nur eine Schande gibt: bei eigener Krankheit und eigenen Mängeln dennoch Kinder in die Welt zu setzen, doch eine höchste Ehre: darauf zu verzichten. Umgekehrt aber muß es als verwerflich gelten: gesunde Kinder der Nation vorzuenthalten." In diesem Zitat kommt die gesamte Rassenideologie des Nationalsozialismus zum Ausdruck. a) Die rassenpolitischen Maßnahmen In der NS-Ideologie spielte das Bevölkerungswachstum und die Wiederbelebung der germanischen Rasse eine zentrale Rolle. Hatte die Eugenik in erster Linie eine qualitative Bevölkerungspolitik befürwortet, strebte man im Dritten Reich durch die quantitative Bevölkerungspolitik auch zugleich die Auslese der Tüchtigen an. Für eine derartige Politik genügen zeugungsfahige Männer und zur Mutterschaft bereite Frauen, die über entsprechendes Erbgut verfügen. Daher versuchte man bei den Frauen das Bewußtsein zu wecken, daß es für sie keine höhere Aufgabe gebe, als Ehefrau und Mutter zu sein. Diese "Ideologie des biologischen Wachstums heiligt die Mittel und spricht das Individuum schuldig, dessen freie Entscheidung als sündhafter Von Verschuer, S. 357. K(arl) Saller: Die Rassenlehre des Nationalsozialismus in Wissenschaft und Praxis, Darmstadt 1961. Der Anthropologe Saller (1902-1969) gibt einen sehr guten Überblick über die Ideologisierung der Anthropologie. so Hitler, S. 446 (das gesamte Zitat ist im Original gesperrt gedruckt, um seine Wichtigkeit hervorzuheben). 48 49

478

6. Kap.: Der barbarische Mythos vom arischen Menschen

und ungesunder Wunsch oder als unverantwortliche Haltung dargestellt wird".51 Nicht die Menschen - insbesondere die Frauen - bestimmen, wie sie ihr Leben gestalten wollen, denn sie werden in den Dienst des Staates und seine Ideologie gestellt. Treffend hat dieses Hitler 52 selbst wie folgt gefordert: "Der völkischen Weltanschauung muß es im völkischen Staat endlich gelingen, jenes edlere Zeitalter herbeizuführen, in dem die Menschen ihre Sorge nicht mehr in der Höherzüchtung von Hunden, Pferden und Katzen erblicken, sondern in dem Emporheben des Menschen selbst, ein Zeitalter, in dem der eine erkennend schweigend verzichtet, der andere freudig opfert und gibt. ... Freilich, das jammervolle Heer unserer heutigen Spießbürger wird dies niemals verstehen .... Mit euch läßt sich das freilich nicht mehr machen, eure Welt ist dafür nicht geeignet!" Dieses Zitat belegt, daß es Hitler unter anderem darum ging, die bisher gültigen ethischen Prinzipien durch eine neue Ideologie abzulösen, durch die das Individuum in den Dienst dieser (Rassen-)Utopie gestellt wird. Es war nur folgerichtig, daß am 31. Dezember 1931 das ,Rasse- und Siedlungshauptamt' (RuSHA) vom Reichsführer der SS, Heinrich Himmler, gegründet wurde. Aufgabe dieses Amtes war es, genetische Kriterien für die Rekrutierung der SS aufzustellen. Jeder SS-Mann mußte ein Sippenbuch besitzen, in das die überprüften arischen Merkmale eingetragen wurden; die arische Abstammung wurde bis 1750 zurückverfolgt. Schon im Januar 1932 hatte Himmler die SS-Männer verpflichtet, eine Verlobungs- und Heiratserlaubnis einzuholen. Die Ehefrauen wurden in drei Kategorien eingeteilt: 53 (1) Vollkommen der Auslese der SS entsprechend; (2) guter Durchschnitt; (3) der Auslese nicht entsprechend. Die Gesetzgebung des Dritten Reiches wurde auf diese Ideologie - die Reinhaltung der arischen Rasse - ausgerichtet. Es seien lediglich das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtenturns vom 7. April 1933 (RGBI. I, S. 175), das Reichsbürgergesetz vom 15. September 1935 (RGBI. I, S. 1146), insbesondere das Gesetz zum Schutz deutschen Blutes und der deutschen Ehre vom 15. September 1935 (RGBI. I, S. 1176 - sogenanntes ,Blutschutzgesetz') und das Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes vom 18. Oktober 1935 (RGBI. I, S. 1246 - Ehegesundheitsgesetz) genannt. Das Blutschutzgesetz enthielt das Verbot der Eheschließung zwischen Juden und ,Staatsangehörigen deutschen oder artverwandten Blutes' (so § 1) und führte ferner den Begriff der ,Blutschande' ein. Diese und andere 51 Rita Thalmann: Frau sein im Dritten Reich, Ullstein Buch Nr. 33081 (Zeitgeschichte), Berlin 1987, S. 115. 52 Ritler, S.449 (der erste Teil des Zitats ist im Original gesperrt gedruckt, um seine Bedeutung hervorzuheben, Jk.). 53 Thalmann, S. 117.

III. Die barbarische Rassenutopie des Nationalsozialismus

479

Gesetze sowie Verordnungen zielten darauf ab, eine ,genetische Vergiftung' der arischen Rasse zu vermeiden. Parallel hierzu wurde ein ,Mutterkult' aufgebaut, von der ideologischen Beeinflussung über das Mutterkreuz (im Volksmund auch ,Kaninchenorden' genannt) bis zu materiellen Anreizen für die kinderreichen Familien. Bis etwa 1938 war man bestrebt, das zwischen 1915 und 1933 entstandene Geburtendefizit - im Vergleich zu den achtzehn vorangegangenen Jahren - auszugleichen, denn die Geburtenrate war von 3,6 % (1900) auf 1,47 % (1933) gesunken, die 1938 auf 1,97 % erhöht wurde. Trotz der in den anderen Bereichen durchgeführten Gleichschaltung war Deutschland in den Jahren 1937/38 noch nicht reif für eine staatlich gelenkte Fortpflanzung. Mit der Mobilmachung für den Krieg wuchs der Einfluß der Partei, die in die rassische Fortpflanzung hineinregieren und diese kontrollieren konnte. So verbot Hitler seinem Propagandaminister J osef Goebbels seine Liebschaften und eine Scheidung, dagegen konnten Martin Bormann, Erich Hilgenfeldt und Heinrich Himmler ihre Frauen zu Gunsten junger ,fruchtbarer' Frauen verlassen. Während des Zweiten Weltkrieges - als die Männer im Feld standen und Millionen von ,Fremdarbeitern' im Reich waren - war die Gefahr besonders groß, daß deutsche Frauen zu Ausländern Beziehungen aufnahmen. Auf Grund von Verordnungen aus dem Jahre 1940 konnten ,Rassenschänder' zum Tode und ,ehrvergessene Deutsche' zu Konzentrationslager verurteilt werden. Dagegen billigte selbst Hitler54 den Soldaten Freiheiten zu, die den Frauen nicht gestattet waren: 55 "Wenn der deutsche Mann als Soldat bereit sein solle, bedingungslos zu sterben, dann müsse er auch die Freiheit haben, bedingungslos zu lieben. Kampf und Liebe gehörten nun einmal zusammen. Der Spießer, der daran herumnörgele, solle froh sein, wenn er das bekomme, was übrigbleibe. " Den Soldaten wird empfohlen, Empfängnisurlaub' zu nehmen und sogar vorgeschlagen, in der Nähe des Nürnberger Manövergeländes ein Hotel zu requirieren, damit die Männer dort mit ihren Frauen einen ,Fortpflanzungsurlaub' verbringen können. Die Vorschläge zur ,Züchtung' des nordischen (arischen) Menschen gingen noch weiter: 56 "Ein Bedarfs- und Auswahlsystem sollte Männern erlauben, zwei Haushalte und zwei Frauen zu haben. Außer mit der Bigamie müsse die Bevölkerung mit dem Gedanken der freien Liebe vertraut gemacht werden. Deshalb solle sich die Literatur darum bemühen, Ehebruch zu entdramatisieren, zu zeigen, wie viele schöpferische Menschen aus dieser Art von Verbindungen hervorgegangen seien. ... So wolle man Männer dazu bringen, mit mehreren 54 Henry Picker: Hitlers Tischgespräche im Führerhauptquartier, 4. Aufl. (Lizenzausgabe), Wiesbaden 1983. 55 Ebenda, S. 235 (Gespräch am 23. April 1942 in der Wolfsschanze). 56 Thalmann, S. 155 f.

480

6. Kap.: Der barbarische Mythos vom arischen Menschen

Frauen Beziehungen zu unterhalten und diese von der Vernünftigkeit der neuen Lebensweise zu überzeugen." Heinrich Himmler erinnerte in einem Brief vom 17. August 1944 an Professor Walther Wüst 57 , an einen Brauch in Schleswig-Holstein: 58 Es sei um 1930 in der Kieler Gegend noch üblicher Brauch gewesen, daß in einer Neumondnacht das Mädchen, das keinen Mann gefunden hat, mit seinem Vater und den Bauern des Dorfes zu den Hünen- und Ahnengräbern geht. Die Männer bilden mit abgewandtem Gesicht in einiger Entfernung einen Kreis. Die junge Frau legt sich auf das Grab, wo sie von einem Bauern befruchtet wird, den ihr der Vater ausgewählt hat, damit die Familie nicht ausstirbt. Hermann Göring hat im April 1942 das Dilemma der deutschen Frau mit ,Zuchtstute oder Arbeitspferd' umschrieben. b) Der Lebensborn - die Menschenzüchtung

Lange vor den Nationalsozialisten haben die Rassenhygieniker in Anlehnung an die Vorgänge bei Pflanzen und Tieren vor der Degeneration gewarnt und zugleich die Züchtung neuer - wertvoller - Rassen gefordert. Erst im Dritten Reich wurden diese Forderungen Realität, indem Heinrich Himmler, der Reichführer-SS, 1935 den Lebensborn e.V. gründete. Hierfür gab es geistige Vorläufer. aa) Die geistigen Vorläufer Der Leipziger Professor Ernst Bergmann 59 hat am Vorabend der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten im Kapitel ,Menschenzüchtung' festgestellt: 6o "Es wird immer wieder grundsätzlich bestritten, daß eine Züchtung des Menschen möglich sei. Nietzsches Idee eines Übermenschen wird als Phantasiegeburt eines kranken Gehirns gebrandmarkt .... Dennoch aber erscheint die Idee der Schaffung der Möglichkeit einer künstlichen Zuchtwahl des Menschen im Schoße der heutigen Gesellschaft durchaus des Nachdenkens würdig und mit einem wohl verstandenen Humanitätsbegriff auch vereinbar, mag die Lösung dieses Problems immerhin auf große Schwierigkeiten stoßen." In Sparta hat man - wie im Tierreich - kranke und schwächliche Neugeborene ausgesetzt, das ist heute juristisch und 57 Walther Wüst war Stellvertretender Präsident der Deutschen Akademie und Kurator der Forschungs- und Lehrgemeinschaft ,Ahnenerbe'. 58 Thalmann, S. 156. 59 Ernst Bergmann: Erkenntnisgeist und Muttergeist Eine Soziosophie der Geschlechter, Breslau 1932. 60 Ebenda, S. 428 f. (Hervorhebungen im Original, Jk.).

IH. Die barbarische Rassenutopie des Nationalsozialismus

481

moralisch nicht möglich. Um so mehr ist es aber die Pflicht der Gesellschaft, das Entstehen von lebensunwertem Leben schon vor der Geburt zu verhindern, ohne dabei die Mutter zu verletzen. Im (Ersten) Weltkrieg wurden die besten Jünglinge und Männer - das Elitematerial der Nation - an der Front vernichtet, "während das schlechtere Männermaterial, die Untauglichen oder mit körperlichen Mängeln Behafteten in der Etappe verwendet wurde, wo sie ihre für die Verbesserung der Art wertlosen Eigenschaften fern jeder Gefahr bewahren und für die Fortpflanzung aufheben konnten. Und am weitesten vom Schuß entfernt, in den Zucht- und Irrenhäusern der Heimat, saßen die Verbrecher und Idioten, für deren Erhaltung edle und begeisterungsfähige Jünglinge ihr Leben opferten" .61 Ein Krieg ist biologisch nur dann möglich und richtig, wenn Lebensunwertes nicht geduldet wird. Und dann fragt Bergmann: 62 "Hat der europäische Mensch nicht die Kraft zu einem Weltkrieg gegen die Idioten, Kretins, Schwachsinnigen, Gewohnheitsverbrecher und sonstige Degenerierten und Verseuchten, gegen den Menschenkehricht der Großstädte, von dem getrost eine Million beiseitegeschaufeit werden könnte?" Und weiter heißt es: 63 "In Deutschland haben also die Idioten gute Zeit." Neben der gesetzlichen Verhinderung der Fortpflanzung schlechter Erbeigenschaften kommt es darauf an, durch eine geeignete Gesetzgebung, die auf der Vererbungslehre, Rassenforschung usw. beruht, eine Au/artung des Volkes zu betreiben; denn ein Volk kann gezüchtet werden. Eine Kombination der negativen und positiven züchterischen Auswahlhandlungen müßte wahre Wunder wirken und schon nach Ablauf eines Menschenalters ein völlig neu es Volk und Geschlecht entstehen lassen. Der österreichische Philosoph und Psychologe Christian von Ehrenfels (1859-1932) - der Begründer der Gestaltpsychologie - hat in seiner Sexualethik daraufverwiesen, daß die erfolgreiche Züchtung von Haustieren darauf zurückzuführen sei, daß nur die allertüchtigsten männlichen Individuen zur Fortpflanzung zugelassen würden, der sogenannte ,virile Auslesefaktor' . Die Monogamie setzt diesen virilen Auslesefaktor außer Kraft, da die Zeugungskraft des Mannes nur an eine Frau gebunden wird; die Dauereinehe ist eine Mitursache für den gegenwärtigen Entartungsprozeß. "Praktisch stellte sich v. Ehrenfels die Sache etwa in Form von Frauenverbänden vor, in deren Wohnungen Männer in jedem einzelnen Falle so lange ,als Gäste' Aufnahme finden, als es einem Paar beiderseitig beliebe (... ).... Bei einer polygynischen Zeugungsordnung läge die Möglichkeit nahe, sagt der Freiherr, die Zeugung durch künstliche Einführung des Samens einzuleiten. Ein Mann könnte auf diese Weise zum Erzeuger von vielen Tausenden von 61 62

63

Ebenda, S. 430. Ebenda, S. 431 (ohne Hervorhebung im Original, Jk.). Ebenda, S. 436.

31 Jenkis

482

6. Kap.: Der barbarische Mythos vom arischen Menschen

Kindern werden, ohne daß er mit deren Müttern jemals in physische oder überhaupt individuelle Beziehung getreten zu sein brauchte."64 Was um die Jahrhundertwende ,technisch' noch eine Utopie war, ist heute medizinisch möglich. Willibald Hentschel- ein Schüler Ernst Haeckels, des Mitbegründers des Monistenbundes - entwarf in seinem 1907 erschienenen Buch ,varuna' eine Utopie der rassischen Erneuerung, die ihren Niederschlag in der 1906 in Westfalen gegründeten Siedlung ,Mittgart', benannt nach dem legendären Ursprungsort der arischen Rasse, hatte. "Hentsche1s sensationellster Vorschlag betraf die Einführung der Polygamie. Die Ratältesten sollten die beiden Ehepartner bestimmen, die Ehe selbst sollte nach der Schwangerschaft wieder aufgelöst werden. Während der Mann sofort wieder heiratete, sollte sich die Frau zwei Jahre lang ihrem Kind widmen. Bis zu ihrem sechzehnten Lebensjahr würden die Kinder eine Grundausbildung bekommen: die Mädchen im Haushalt, die Jungen im Umgang mit Waffen. Danach sollten sich die geeigneten Erziehungsvereine um ihre Zukunft im Dienst des ,Volkstums' kümmern."65 Diese Ideen Hentschels scheinen insbesondere in ländlichen Gebieten Anhänger gefunden zu haben, so wurden in Thüringen jährlich dreitausend Kinder unehelich geboren, in Schleswig-Holstein hat der frühere Pfarrer und Schriftsteller Gustav Frenssen (1863-1945) für sexuelle Freiheit plädiert. Bergmann66 stellt fest: "Zur Begattung der vorhandenen Frauen und Mädchen finden sich willige und fleißige Männer und Jünglinge genug, und glücklicherweise genügt ein flotter Bursche für 10-20 Mädchen, die - gibt es noch solche? - den Willen zum Kinde noch nicht ertötet haben, bestünde nur nicht der naturwidrige Kulturunsinn der monogamen Dauerehe. " Es waren aber nicht nur Männer, sondern es gab auch Frauen, die sich für die ,arische Mutterschaft' einsetzten. Hierzu gehört auch Guida Diehl: 67 Guida Diehl (1868 geboren) kam aus dem Protestantismus (in deren Auffassungen sich Deutschtum, Antisemitismus und die Ablehnung der modernen Industriegesellschaft mit den Großstädten vermischten) und hat Hitler und das nationalsozialistische Gedankengut gläubig verherrlicht. Ihr Buch ,Die deutsche Frau und der Nationalsozialismus'68 hat sie ,Adolf Hitler, dem Vorkämpfer im Kampf um die deutsche Seele, dem Führer ins neue freie Deutschland, dem Symbol deutschen Manneswillens und seinen

67

Conrad-Martius, S. 96 f. Thalmann, S. 132. Bergmann, S. 406. Siehe ihre Autobiographie: Guida Diehl: Christ sein heißt Kämpfer sein, Gießen

68

Guida Diehl: Die deutsche Frau und der Nationalsozialismus, 3. Aufl., Eisenach

64 65 66

1958. 1933.

IH. Die barbarische Rassenutopie des Nationalsozialismus

483

Mitkämpfern gewidmet'. Nach der Darstellung des Nationalsozialismus und seiner Ideologie meditiert sie über ,Die deutsche Frau' und über ,Wir deutschen Frauen im neuen Deutschland'. Aus dem zuletzt genannten Kapitel soll eine ,Kostprobe' verdeutlichen, welche Vorstellungen über die Stellung und die Aufgaben der Frau im Dritten Reich vorhanden waren: Im Abschnitt ,Der Kampfum die innere Erneuerung des Frauentums' heißt es: 69 "Wir haben gesehen, daß Deutschland nicht allein verfälscht ist durch die Irrlehren des Materialismus und Marxismus und durch die Zersetzung im Rassechaos und im Wurzelloswerden der Massen, sondern auch durch eine ganz falsche Frauenentwicklung und Frauenpolitik, im Anschluß an den durch die Maschine bedingten großen Verwandlungsprozeß des Frauenlebens. Daher steht vor uns eine Aufgabe, die ähnlich geartet ist wie diejenige, die sich unser Führer für das ganze Volk gestellt hatte. Er sah, daß die deutsche Volksseele vollkommen verwirrt und in die Irre geführt war, daß also eine grundsätzliche Umkehr von diesen Irrlehren und Irrgedanken eintreten müßte. Und nun gab er sich daran, die von ihm erkannten Wahrheiten in die Gehirne einzuhämmern und jede Gelegenheit, die sich dem Nationalsozialismus bot, in vielen Tausenden von Versammlungen und in der Verbreitung zahlloser Blätter und Schriften zu benutzen, um die große Wahrheit allenthalben einzuprägen: denkt um! Aendert euren Sinn! Das ist ja der alte Bußruf, der in gewaltigen Wendezeiten immer neu auftaucht, wo man erkannt hat, daß die Lebensrichtung der Menschen in die Irre und in den Abgrund führt. Ganz ebenso wie Adolf Hitler der deutschen Allgemeinheit diesen Ruf zum Umdenken brachte, so müssen wir Frauen ihn auf unsere Weise unserem Geschlecht bringen. Denn wir sehen, daß in den weitesten Frauenkreisen die Klarheiten über deutsches Frauenturn, seine zentralsten Kräfte und seine wichtigsten Aufgaben, seine Beteiligung an der Arbeit des Volksganzen und das tiefere Seelenwesen, aus dem diese Mitarbeit allein geschehen kann, verloren gegangen sind. So müssen wir ganz neue Klarheiten über deutsches Frauenturn und seine Aufgabe im Volksganzen in zäher Geduldsarbeit einhämmern. Wir werden überall einzelne Frauen und ganze Häuflein von Volksgenossinnen antreffen, die dem Irrgeist wenig oder gar nicht verfallen waren, ganz ebenso wie Adolf Hitler im deutschen Volk überall Häuflein geistesverwandter Menschen antraf. Aber wir werden auch erkennen, daß die weitesten Frauenkreise viel stärker, als man dies gewöhnlich annimmt, von modernen Schlagworten betört und vom Zeitgeist angesteckt sind, und daß es die allerhöchste Zeit ist, die deutsche Frauenseele aus der Verstrickung zu retten, in die sie hineingeraten ist. Ich schilderte schon oben, daß der große Verwandlungsprozeß des Frauenlebens dies besonders leicht machte. Wenn dann durch die Berufsfrage die Frauenwelt zum erstenmal, seit die Welt steht, vor ganz neue Aufgaben gestellt ist, so ist es kein Wunder, daß sie schwankt und dem Irrgeist einer falschen Führung verfallt. Wenn ebenfalls zum erstenmal, seit es Geschichte gibt, die Frauen so im Vollsinn hinter die Kulissen des öffentlichen Lebens in alle dunklen Nachtseiten der Großstädte, in alle Verdorbenheiten und Zersetzungen dieser besonders grauenvollen Zeit hineinblickten, so ist es kein Wunder, daß sie unter dieser Last fast zusammenbrachen 69

31'

Ebenda, S. 83 f. (ohne Hervorhebungen im Original, Jk.).

484

6. Kap.: Der barbarische Mythos vom arischen Menschen

und in diesem Dunst kaum atmen konnten, so daß ihr Wesen z. T. vergiftet wurde."

In ihren Erinnerungen hat DiehPo gegenüber ihrer Ergebenheit zum Dritten Reich und dessen Rassenideologie eine andere Position eingenommen. Zum weiter unten zitierten SS-Befehl von Heinrich Himmler vom 20. Oktober 1939 - wonach es Pflicht und Aufgabe der deutschen Frau ist, Kinder zu zeugen - hat sie kritisch angemerkt: 71 "Dies war also nicht nur eine Anrede an die SS, sondern ein ganz offizieller Befehl! Da die SS zu Kadavergehorsam verpflichtet und auch daran gewöhnt war, so bedeutete dies nichts anderes als eine tierische Volksvermehrung, die deutschen Mädchen und Frauen wahllos als Zuchtstuten dienen sollten." Dieses Zitat - stellvertretend für andere - belegt, welche Vorstellungen zu Beginn der Ära des Dritten Reiches vorhanden waren und wie sie später beurteilt wurden. bb) Der Lebensborn als rassische Zuchtanstalt Gegenüber diesen und anderen Theoretikern - mögen sie noch so abstrakt oder euphorisch argumentieren - kann man einwenden, daß sie wie Platon, Thomas Morus oder andere Utopisten lediglich Utopien entwickelt und vorgetragen haben. Daher könnte man sie als harmlose Theoretiker abtun. Sie dürften aber keineswegs so harmlos gewesen sein, denn diese Ideen und Utopien von einem nordischen oder arischen Herrenvolk wurden von Rosenberg und Hitler aufgegriffen und schließlich von Heinrich Himmler, dem Reichsführer-SS, in die Tat umgesetzt: Der eingetragene Verein ,Lebensborn' wurde am 13. September 1936 gegründet 72 und hatte die folgenden Aufgaben: 73 Abschrift

Neuer Entwurf. Satzung des Vereins "Lebensborn" e.V. § 1. Der Verein führt den Namen "Lebensborn" e.V. mit dem Sitz in München. Als solcher ist er im Vereinsregister des Amtsgerichts München eingetragen. Diehl: Christ sein heißt Kämpfer sein, S. 258 ff.. Ebenda, S. 258 «Hervorhebungen erfolgten durch uns, Jk.). 72 So Barbara Bromberger / Hans Mausbach: Feinde des Lebens -NS-Verbrechen an Kindern, Kleine Bibliothek, Bd. 407, Köln 1987, S. 53 ff.. Nach anderen Quellen erfolgte die Gründung 1935; siehe: Hilde Kammer / Elisabeth Bartsch: Jugendlexikon Nationalsozialismus - Begriffe aus der Zeit der Gewaltherrschaft 1933-1945, 69.-73. Tausend, Reinbek bei Hamburg 1989, Stichwort ,Lebensborn', S. 117. 13 Bromberger / Mausbach, S. 62. 70

71

IH. Die barbarische Rassenutopie des Nationalsozialismus

485

§ 2. Der Verein dient ausschliesslich gemeinnützigen und wohltätigen Zwecken mit dem Ziel: 1.) rassisch und erbbiologisch wertvolle, kinderreiche Familien zu unterstützen, 2.) rassisch und erbbiologisch wertvolle, werdende Mütter zu betreuen, bei denen nach sorgfältiger Prüfung der eigenen Familie und der Familie des Erzeugers durch den Verein anzunehmen ist, dass gleich wertvolle Kinder zur Welt kommen. 3.) für diese Kinder zu sorgen, 4.) für die Mütter der Kinder zu sorgen, 5.) gemäss § 47 BJWG die Vereinsvormundschaft jeweils nach eigenem Ermessen zu übernehmen. Die Voraussetzung der Betreuung von Müttern ist, dass sie in rassischer und erbbiologischer Hinsicht alle Bedingungen erfüllen, welche in der Schutzstaffel allgemein gelten. Auf diese Leistungen besteht kein Rechtsanspruch. § 3. Die weltanschaulichen Richtlinien erhält der Verein durch den Reichsführer-SS, Rasse- und Siedlungshauptamt. § 4. Zur Erfüllung dieser Aufgaben kann der Verein alle ihm notwendig erscheinenden Massnahmen ergreifen. Er kann andere Vereine, die ähnliche Zwecke verfolgen, in sich aufnehmen oder zur Mitarbeit heranziehen. § 5. Der Verein wird vom Vorstand geleitet. Vorstandsvorsitzender ist jeweils der Reichsführer-SS.

Außer diesen erbbiologischen Ansprüchen wurden für die werdenden Mütter noch körperliche Merkmale gefordert, d. h., sie sollten möglichst blond und blauäugig sein sowie ein nordisches Aussehen haben und nicht kleiner als 1,60 m sein. Himmler, der sich die Entscheidungen in allen Fragen vorbehalten hatte, übernahm die Patenschaften für die Kinder und ließ sich einen Vorschlag unterbreiten, wie die jährliche Körperuntersuchung der Lebensbornkinder vorgenommen werden sollte: 74 ,,1. Körpergröße (Nacktgröße ); 2. Brustumfang (in Höhe der Brustwarzen gemessen, evtl. Schulterbreite mit Tasterzirkel messen); 3. größter Kopfumfang; 4. Gewicht (Nacktgewicht); 5. derzeitiger Gesundheitszustand." Den Kindern sollte bei dieser Untersuchung ein Geburtstagsleuchter überreicht werden, dem in den folgenden Jahren die entsprechende Anzahl von Kerzen folgen sollte. Zu den 74

Ebenda, S. 54.

486

6. Kap.: Der barbarische Mythos vom arischen Menschen

weiteren Absurditäten gehörten Himmlers Empfehlungen zur Ernährung der Mütter und Kinder: 75 "Wegen des Preiselbeersaftes und offenkundig auch den anderen Säften habe ich sofort an SS-Gruppenführer PohJ16 schreiben lassen ... Ich bitte darauf zu achten, daß der Haferbrei den Müttern wirklich in der genügend schmackhaften Form gegeben wird, also lediglich gekocht und dann die Zusätze, die die einzelne Mutter sich selbst dazu nimmt, also Zucker, Milch, Butter, roh geschabter Apfel, der besonders zu empfehlen ist, oder nach anderen geschmacklichen Richtungen hin, Maggi oder ähnliches, zugegeben werden. Die Befürchtung der Lebensbornmütter, daß sie dadurch dick würden und ihre nach der Geburt zu erreichende schlanke Linie wieder verlieren würden, ist töricht. Ich lasse darauf aufmerksam machen, daß die Engländer - gerade die Engländer der Oberschicht - sich von früher Jugend an nur mit diesen Haferflocken - dort Porridge genannt - (und dadurch vornehm) ernähren und dabei - ob Männer oder Frauen - für ihre dürre und überschlanke Linie bekannt sind. Hafer ist Nervennahrung und deswegen gut. Die Mütter wollen sich daran gewöhnen und vor allem es später ihren Kindern geben."

Um seine Züchtungsvorstellungen zu forcieren, gab Himmler (Reichsführer-SS und Chef der Deutschen Polizei im Reichsministerium des Inneren) einen "SS-Befehl für die gesamte SS und Polizei" am 28. Oktober 1939 heraus. 77 In diesem Befehl heißt es unter anderem: "Jeder Krieg ist ein Aderlaß des besten Blutes .... Über die Grenzen vielleicht sonst notwendiger bürgerlicher Gesetze und Gewohnheiten hinaus wird es auch außerhalb der Ehe für deutsche Frauen und Mädel guten Blutes eine hohe Aufgabe sein können, nicht aus Leichtsinn, sondern in tiefstem sittlichen Ernst Mütter der Kinder ins Feld ziehender Soldaten zu werden, von denen das Schicksal allein weiß, ob sie heimkehren oder für Deutschland fallen." Bedenken der Soldaten, die Mütter und Kinder nach ihrem Tod im Felde in Not zurückzulassen, gibt es nicht, denn diese werden durch die folgenden Regelungen beseitigt: 78 ,,1. Für alle ehelichen und unehelichen Kinder guten Blutes, deren Väter im Kriege gefallen sind, übernehmen besondere, von mir persönlich Beauftragte im Namen des Reichsführers SS die Vormundschaft. Wir stellen uns zu diesen Müttern und werden menschlich die Erziehung und materiell die Sorge für das Großwerden dieser Kinder bis zu ihrer Volljährigkeit übernehmen, so daß keine Mutter und Witwe aus Not Kümmernisse haben muß.

75 Ebenda, S. 54 f. 76 Oswald Pohl (geboren 1892) trat 1926 in die NSDAP ein, wurde 1939 zum Ministerialdirektor ernannt und war 1942-45 Leiter des SS-Wirtschafts-und Verwaltungshauptamtes. Als SS-Obergruppenführer und General der Waffen-SS wurde Pohl als Kriegsverbrecher am 8. Juni 1951 hingerichtet. 77 Faksimile, ebenda, S. 57. 78 Ebenda, S. 57.

111. Die barbarische Rassenutopie des Nationalsozialismus

487

2. Für alle während des Krieges erzeugten Kinder ehelicher und unehelicher Art wird die Schutzstaffel während des Krieges für die werdenden Mütter und für die Kinder, wenn Not oder Bedrängnis vorhanden ist, sorgen. Nach dem Kriege wird die Schutzstaffel, wenn die Väter zurückkehren, aufbegründeten Antrag des einzelnen wirtschaftlich zusätzliche Hilfe in großzügiger Form gewähren."

Diesen SS-Befehl schließt Himmler mit den Worten: "SS-Männer und Ihr Mütter dieser von Deutschland erhofften Kinder zeigt, daß Ihr im Glauben an den Führer und im Willen zum ewigen Leben unseres Blutes und Volkes ebenso tapfer, wie Ihr für Deutschland zu kämpfen und zu sterben versteht, das Leben für Deutschland weiterzugeben willens seid!" In diesem Befehl wird deutlich, daß Himmler eine Abkehr von der Verherrlichung der Ehe und Familie vornahm - wie sie zum Beispiel bei Guida Diehl nachzulesen ist - und sich für die unehelichen Kinder einsetzte, sofern sie ,guten Blutes, und deren Väter im Krieg gefallen sind'. Auch Rudolf Heß, der Stellvertreter Hitlers, hat sich für die Erhaltung dieses wertvollen nationalen Gutes - die unehelichen Kinder - eingesetzt und zugleich gefordert, Bedenken zurückzustellen. 1939 waren schon fünf Entbindungsheime in schön gelegenen Gegenden des Reiches eingerichtet, über denen die schwarzen Fahnen mit den SSRunen wehten; bewaffnete Wachtposten verwehrten den Zutritt. Ärzte, Krankenschwestern und Juristen kümmerten sich um die Heime und deren Insassen. "Vereinssitz wird - ein raffinierter Sadismus - das ehemalige jüdische Gemeindezentrum und das Haus des im Exil lebenden Schriftstellers Thomas Mann in München. "79 Geld war offensichtlich genügend vorhanden, denn es wurden Abgaben bei der SS erhoben80 und es gab Spenden der Industrie, der Hauptanteil aber kam aus konfisziertem jüdischem Vermögen. Dennoch dürfte es nicht gelungen sein, Ordnung in diese Heime zu bringen, da es zum Beispiel Offiziersfrauen ablehnten, sich zu duzen, mit dem Vornamen anreden zu lassen oder Hausarbeiten zu erledigen. "Wie Briefe von ,Pensionärinnen' zeigen, erweisen sich Nägel im Kartoffelbrei, ungeleerte Töpfe und die Verwechslung von Kindern als permanenter Konfliktstoff. Viele beklagen Thalmann, S. 141. In einer Ansprache an das Offizierskorps der Leibstandarte SS ,Adolf Hitler' am 7. September 1940 führte Himmler zur Frage, warum Beiträge für den Lebensborn entrichtet werden müßten, folgendes aus: "Das Gesamtziel ist für mich, seit den 11 Jahren, seit ich Reichsführer SS bin, immer und unverrückbar dasselbe gewesen: einen Orden guten Blutes zu schaffen, der Deutschland dienen kann .... Einen Orden zu schaffen, der diesen Gedanken des nordischen Blutes so verbreitet, daß wir alles nordische Blut in der Welt an uns heranziehen, unsern Gegnern das Blut wegnehmen, es uns einfügen .... Wir müssen es an uns nehmen, die anderen dürfen keines haben.« - Zitiert nach Conrad-Martius, S. 102. 79

80

488

6. Kap.: Der barbarische Mythos vom arischen Menschen

sich über die Rücksichtslosigkeit und Inkompetenz des Personals. Aus dem Heim bei Wien entfliehen einige, als sie erfahren, daß der Geburtshelfer ein ehemaliger Zahnarzt ist."81 Um die Fortpflanzung zu rationalisieren, schlugen die Führer des Reichsgesundheitsamtes, Leonardo Conti 82 und seine Frau Nana (Vorsitzende des Nationalsozialistischen Hebammenverbandes) vor, unter der Kontrolle der Partei ,Heiratsinstitute' zu gründen, um das durch den Krieg entstandene Männerdefizit durch künstliche Befruchtungen auszugleichen. Himmler war keineswegs mit den Ergebnissen seines Lebensborn-Programmes zufrieden: Zwischen 1936 und 1945 sind wenigstens 12000 Kinder in diesen ,Zuchtanstalten' geboren. 83 In den Heimen wurden aber nicht nur gesunde, sondern auch kranke Kinder geboren, was nach den Vorstellungen der nationalsozialistischen Züchtungsvorstellungen eigentlich nicht vorkommen durfte. Daher befahl Himmler 1942 eine neue Klassifizierung der Lebensbornväter und -mütter, um die zu erwartenden Kinder noch optimaler programmieren zu können: 84 für die Mutter und den Vater charakterlich, weltanschaulich, rassisch, erbgesundheitlich und gesundheitlich in Ordnung; 11. charakterlich und weltanschaulich in Ordnung, jedoch rassisch, erbgesundheitlich oder gesundheitlich gewisse Mängel; 111. = gewisse Mängel und unreife charakterliche oder weltanschauliche Art oder rassische erbgesundheitliche und gesundheitliche stärkere Fehler; IV. unerwünschte Mutter oder unerwünschter Vater, charakterlich oder weltanschaulich fehlerhaft oder rassisch abzulehnen oder erbgesundheitlich und gesundheitlich ernsthaft zu beanstanden und deswegen als Erzeuger von Kindern unerwünscht." "I.

Wurden dennoch kranke Kinder - vor allem mit Idiotie, Mongolismus, Mikrozephalie und Lähmungserscheinungen aller Art, weiteren körperlichen oder geistigen Schäden - geboren, so mußten die Lebensbornheime dieses der Reichsgesundheitsbehörde melden. "Diese kranken Kinder wurden ihren Müttern fortgenommen und in die psychiatrische Krankenanstalt Brandenburg-Goerden gebracht. In diesem Heim wurden sie von den Ärzten getötet. Verantwortlich für die Kindermorde war Professor Hans Heinze. Thalmann, S. 141. Dr. med. Leonardo Conti (geboren 1900) war praktischer Arzt, begründete 1918 den antisemitischen Kampfhund, Völkischer Studentenführer, trat 1923 der SA bei, baute das Sanitätswesen der SA auf, wurde 1933 Ministerialrat im Preußischen Ministerium des Innern und 1939 Staatssekretär für Gesundheitswesen und Volkspflege im Reichs- und Preußischen Ministerium des Inneren. Durch besonderen Erlaß wurde Conti 1942 verantwortlich für alle einheitlich zu treffenden Maßnahmen des Gesundheitswesens. 83 Bromberger / Mausbach, S.59. Diese Zahl nennt auch Picker (S.288), dagegen werden 11 000 von Kammer und Bartsch (S. 117) angegeben. 84 Bromberger / Mausbach, S. 59. 81

82

In. Die barbarische Rassenutopie des Nationalsozialismus

489

Die Leiter der Lebensbornheime, die ein Kind nach Goerden geschickt hatten, erhielten ein kurzes Schreiben, in dem der Tod des Kinder unter Angabe einer willkürlich ausgesuchten Todesursache mitgeteilt wurde. Die Mütter der kleinen Opfer erhielten nur eine Aschenurne ohne Angabe der Todesursache. "85 Der Sitz des Vereins Lebensborn war München. 1939 gab es Heime in Steinhöring, Polzin, Klosterheide (Mark), Hohehörst (bei Bremen) und im Wiener Wald (Sanatorium ,Wiener Wald'). Nach einer eidesstattlichen Versicherung von Max Sollmann 1947/48 im Prozeß um den SS-RasseDienst und den Lebensborn (ein 1937 aus Kolumbien zurückgekehrter Freund Himmlers, der ab Mai 1940 Vorstand des Lebensborns war) gab es für den Lebensborn aus früherem jüdischen Besitz ein Krankenhaus im Schwarzwald, eines in München, zwei Altersheime und ein Kinderheim in München, ferner eine Außenstelle in Bromberg für die Betreuung volksdeutscher Witwen und Waisen. 86 Neben den Aktionen innerhalb des Deutschen Reiches wurde dieses Prinzip auch auf die besetzten Gebiete übertragen und Heime eingerichtet, insbesondere in Ländern, in denen man ,arisches Blut' vermutete. "In diesen Heimen fanden Mädchen und Frauen aus den überfallenen Ländern, die ein ,germanisches' Erscheinungsbild hatten und die von SS-Angehörigen oder Angehörigen der deutschen Wehrmacht oder der deutschen Polizei geschwängert worden waren, Aufnahme. Solche Heime waren: ,Haus Wienerwald' bei Wien in Österreich; ,Haus Ardennen' bei Lüttich in Belgien; ,Haus Gelderland' bei Nymwegen in Holland; ,Haus Moselland' in Luxemburg; ,Haus Westwald' bei Chantilly in Frankreich und in Norwegen die Heime in Geilo, Stalheim, Hop, Moldegard, Olaf Oslo, Klekken und Hurdals Verk."87 Von der Geburt an wurden die Kinder vom Lebensborn überwacht, die Mütter aufgefordert, mit dem Kind in das Reich zu ziehen. Wenn sie sich weigerten, dann wurden die Kinder fortgenommen und im Reich zur Adoption freigegeben. Vor allem aus Norwegen wurden schwangere Frauen zur Entbindung nach Deutschland gebracht. Von den 11000 bis 12000 in den Lebensborn-Heimen geborenen Kindern waren von den vor 1940 Geborenen etwa 80 % und nach 1940 etwa 50 % unehelich. "Fast alle Akten und Unterlagen des Lebensborn e. V. wurden vernichtet, so daß genaue Einzelheiten nur schwer festzustellen sind. Die Richtigkeit der ab 1944 aufgestellten Behauptung, daß es Heime gegeben habe zu dem ausschließlichen Zweck der Zeugung ,rassisch und erbbiologisch wertvollen' Nachwuchses, ist durch amtliche Unterlagen nicht zu belegen, nach einigen Zeugenaussagen gegenüber französischen Forschern aber auch nicht auszuschließen. "88 85

86 87

Ebenda, S. 59 f. So Conrad-Martius, S. 103. Bromberger I Mausbach, S. 60.

490

6. Kap.: Der barbarische Mythos vom arischen Menschen

Diese aktive Bevölkerungspolitik rief den Protest der Kirchen hervor: So protestierte der Vatikan beim deutschen Botschafter gegen die rassistischen Werke von Hans F. K. Günther, Fritz Lenz und Ludwig Ferdinand Clauss, im Reich verurteilten die katholischen Kardinäle und Bischöfe das Sterilisationsgesetz und die Positionen von Heß und Himmler zur außerehelichen Fortpflanzung in einem Hirtenbrief. Von protestantischer Seite fiel die Mißbilligung diskreter aus. Selbst Guida Diehl klagte seit Kriegsbeginn über die ,tierische Volksvermehrung' und die Attacken gegen die ,heiligen Gesetze der Ehe', die deutschen Mädchen und Frauen sollten wahllos als ,Zuchtstuten' dienen. Auf Grund eines Artikels vom 15. Januar 1940 unter dem Titel ,Die Unverbrüchlichkeit der Gottesgesetze' wurde Guida Diehl aus der Reichsschrifttumkammer ausgeschlossen, was einem Publikationsverbot gleichkam. Diese Proteste - auch in der Umgebung dieser Heime wurden die ,Zuchtbordelle' abgelehnt - änderten nichts an der NS-Rassenpolitik, einen neuen arischen oder nordischen Herrenmenschen zu züchten. Aus der Rassen-Ideologie wurde eine Rassenutopie, die in der Barbarei endete. Diese Barbarei wurde durch die Vernichtung des lebensunwerten Lebens ergänzt. c) Die Euthanasie - die Vernichtung des lebensunwerten Lebens

Wir haben einleitend wiederholt bemerkt und wiederholen es vorsorglich nochmals, daß wir uns mit der systematischen Vernichtung der Juden und anderer ,minderwertiger' Rassen nicht befassen, sondern uns lediglich mit der ,Züchtung' des nordischen (arischen) Menschen durch den Lebensborn und die Vernichtung des lebensunwerten Lebens durch die Euthanasie beschäftigen. Auch die Euthanasie war keine Erfindung des Dritten Reiches. Daher sollen die Überlegungen des Juristen Binding und des Psychologen Hoche einleitend vorangestellt werden. aa) Die Freigabe der Vernichtung des lebensunwerten Lebensein juristisches und medizinisches Problem Wir haben dargelegt, daß der arische Mythos und die Eugenik weit älter sind als die NS-Ideologie. 1859 veröffentlichte Charles Darwin88a sein Buch ,Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl oder Die Erhaltung der begünstigten Rassen im Kampf ums Dasein'. Im ,Kampf ums Dasein' werden die schlecht Angepaßten durch die natürliche Auslese - die SelekKammer / Bartsch, S. 117. Charles Darwin: Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, Rec1ams Universal Bibliothek, Bd. 831, 3. Aufl., Leipzig 1990. 88

88.

IH. Die barbarische Rassenutopie des Nationalsozialismus

491

tion - ausgemustert, denn nur die Tüchtigen setzen sich durch. Darwin bezog dieses Prinzip nicht auf die Menschen, sondern auf Pflanzen und Tiere. Der Zoologe und Philosoph Ernst Haeckel (1834-1919) übertrug den Kampf ums Dasein auf die Völker. Von ihm wurde die natürliche Auslese durch die künstliche ergänzt, wobei er auf die Spartaner hinwies, die schwächliche Kinder töteten. Der Philosoph Friedrich Nietzsehe (18441900) hat im zweiten Buch der ,Fröhlichen Wissenschaft' von der ,Heiligen Grausamkeit' gesprochen: Ein Vater trat vor den Heiligen und zeigte ihm sein mißgestaltetes Kind. ,Töte es' rief der Heilige mit schrecklicher Stimme, viele tadelten den Heiligen, weil er zu einer Grausamkeit geraten hatte. ,Aber ist es nicht grausamer, es leben zu lassen?' sagte der Heilige. Dieses Nietzsehe-Zitat wurde im Dritten Reich zur Begründung der Kinder-Euthanasie benutzt. Um die Jahrhundertwende verschwisterten sich - wie dargelegt - Rassenhygiene und Rassenideologie. ,Echte' Vorläufer der Euthanasie des Dritten Reiches waren aber der Jurist Binding und der Psychologe Hoche: Karl Ludwig Lorenz Binding (1841-1920) war ein angesehener deutscher Straf- und Staatsrechtslehrer und ist der Vater des Schriftstellers Rudolf Georg Binding (der durch seine Novellen wie ,Der Opfergang' oder ,Keuschheitslegende' usw. bekannt wurde). Binding lehrte in Basel, Freiburg i. Br., Straßburg und in Leipzig, er war ein führender Vertreter des wissenschaftlichen Rechtspositivismus. 89 Alfred Erich Hoche (1865-1943) war Psychiater und Schriftsteller. Er lehrte ab 1899 in Freiburg i. Br. und trat besonders als Gegner Sigmund Freuds hervor, dessen Psychoanalyse er eine kulturgeschichtlich interessante Verwirrung nannte. Karl Binding und Alfred Hoche veröffentlichten 1920 eine kleine Schrift unter dem Titel ,Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens'.9o Den ersten Guristischen) Teil (S. 4-41) schrieb Binding, den zweiten (medizinischen) Teil (S. 44-62) steuerte Hoche bei. Die Thesen der beiden Professoren werden kurz zusammengefaßt: Binding weist einleitend darauf hin, daß er am Ende seines Lebens während des Drucks der zweiten Auflage ist er verstorben - sich noch zu einer Frage äußern wolle, die lange sein Denken beschäftigte, eine Frage, an der die meisten scheu vorübergehen, weil sie heikel ist. Die Frage lautet: "Soll die unverbotene Lebensvernichtung, wie nach heutigem Rechte - vom Notstand abgesehen -, auf die Selbsttötung des Menschen beschränkt bleiben, oder soll sie eine gesetzliche Erweiterung auf Tötungen von Nebenmenschen 89 Arthur Kaufmann: Binding, in: Staatslexikon, 6. Aufl., Freiburg 1958, Bd. Ii, Sp. 33-35. Die Lebenserinnerungen von Alfred Erich Roche: Jahresringe - Innenansichten eines Menschenlebens, München 1934. 90 Kar! Binding I Alfred Hoche: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens - Ihr Maß und ihre Form, 2. Aufl., Leipzig 1922. (Die Seitenangaben erfolgen im Text).

492

6. Kap.: Der barbarische Mythos vom arischen Menschen

erfahren und in welchem Umfange?" (S.5, Hervorhebungen abweichend vom Original, Jk.). Bei der Beantwortung dieser Frage legt Binding auf eine strenge juristische Behandlung das größte Gewicht. Im ersten Teil setzt sich Binding mit der rechtlichen Natur des Selbstmordes auseinander, den er als rechtlich unverbotene Handlung begreift (S. 13); denn es bleibt dem lebenden Menschen, als Souverän über sein Dasein zu entscheiden. Diese Freigabe der Selbsttötung bedeutet den Verlust von lebenskräftigen Menschen, die zu bequem oder zu feige sind, ihre durchaus tragbare Lebenslast zu schleppen. Der in der neuen Literatur aufgetauchte Begriff der Sterbehilfe ist zweideutig: Schmerzstillende Mittel, die die Todesursache und deren Zeitpunkt nicht beeinflussen, bleiben außer Betracht. Bedeutsam ist dagegen die Verdrängung der schmerzhaften, längeren Krankheit und deren Todesursache durch eine schmerzlose, die den Tod früher herbeiführt. Das ist die Herbeiführung der Euthanasie, d. h., der Tod steht dem Kranken sicher und alsbald bevor, "so daß der Zeitunterschied zwischen dem infolge der Krankheit vorauszusehenden und dem durch das untergeschobene Mittel verursachten Tode nicht in Betracht fällt" (S. 17, im Original gesperrt gedruckt, Jk.). Von einer spürbaren Verringerung der Lebenszeit kann kaum gesprochen werden. Die Lebensverkürzung im Falle der unheilbaren Krankheit und eines qualvollen Todes ist - nach Binding - keine Tötungshandlung im Rechtssinne, ist eine reine Heilbehandlung; denn: "Die Beseitigung der Qual ist auch Heilwerk" (S. 18). Hierbei kommt es auf die Einwilligung des gequälten Kranken gar nicht an, sie darf aber nicht gegen den Willen des Kranken vorgenommen werden, "aber in sehr vielen Fällen werden momentan Bewußtlose Gegenstand dieses heilenden Eingriffs sein müssen" (S. 19). Binding gelangt zum Kern seiner Untersuchung, wenn er die folgende Frage aufwirft: "Gibt es Menschenleben, die so stark die Eigenschaft des Rechtsgutes eingebüßt haben, daß ihre Fortdauer für die Lebensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren hat?" (S.27, im Original gesperrt gedruckt, Jk.). Diese Frage ruft ein beklommenes Gefühl hervor, aber man muß auch - so Binding - erkennen, daß Arbeitskraft, Geduld und Geld aufgebracht werden, um lebensunwertes Leben so lange zu erhalten. Während auf dem Schlachtfeld oder in Bergwerken junge Menschen geopfert werden, "und stellt man in Gedanken unsere Idioteninstitute mit ihrer Sorgfalt für ihre lebenden Insassen daneben - und man ist auf das tiefste erschüttert von diesem grellen Mißklang zwischen der Opferung des teuersten Gutes der Menschheit im größten Maßstabe auf der einen und der größten Pflege nicht nur absolut wertloser, sondern negativ zu wertender Existenzen auf der anderen Seite" (S. 27). Der Tod dieser wertlosen und negativen Existenzen ist für diese eine Erlösung und für die Gesellschaft bzw. für den Staat eine Befreiung von der Last.

III. Die barbarische Rassenutopie des Nationalsozialismus

493

Wenn es also menschliches Leben gibt, an dessen Erhaltungjedes vernünftige Interesse auf Dauer geschwunden ist, dann steht die Rechtsordnung vor der verhängnisvollen Frage, die Vernichtung lebensunwerten Lebens freizugeben. Bei der Beantwortung dieser Frage kann die kühl rechnende Logik nicht obwalten, vielmehr muß das tiefe Gefühl für die Richtigkeit vorhanden sein. Binding gelangt zum folgenden Ergebnis: "Jede unverbotene Tötung eines Dritten muß als Erlösung mindestens für ihn empfunden werden: sonst verbietet sich ihre Freigabe von selbst. Daraus ergibt sich aber eine Folgerung als unbedingt notwendig: die volle Achtung des Lebenswillens aller, auch der kränksten und gequältesten und nutzlosesten Menschen .... Selbstverständlich kann auch gegenüber dem Geistesschwachen, der sich bei seinem Leben glücklich fühlt, von Freigabe seiner Tötung nie die Rede sein" (S. 28 f., Hervorhebung abweichend vom Original, Jk.). Nach Binding gibt es drei Gruppen, deren Leben vernichtet werden kann (S. 29ff.): (1) Die durch Krankheit (zum Beispiel Krebs) und Verwundungen unrettbar Verlorenen, die den dringenden Wunsch nach Erlösung besitzen und ihn in irgendeiner Weise zu erkennen gegeben haben. Hierzu gehören zum Beispiel unheilbar Kranke. (2) Die unheilbar Blödsinnigen, die weder den Willen zu leben noch zu sterben haben. Es liegt keine Einwilligung zur Tötung vor noch ist ein Lebenswille vorhanden, der gebrochen werden müßte; ihr Tod reißt nicht die geringste Lücke, außer vielleicht im Gefühl der Mutter oder einer treuen Pflegerin. Die Tötung dieser Menschen sollte den Angehörigen sowie dem Vormund oder dem Vorsteher der Pflegeanstalten bekanntgegeben werden. (3) Die Mittelgruppe stellen diejenigen Personen dar, die durch ein Ereignis - zum Beispiel eine schwere Verwundung - bewußtlos geworden sind und, wenn sie erwachen sollten, einem namenlosen Elend ausgeliefert wären. Bei diesen Fällen kann die Tötung gerechtfertigt sein; es kann aber auch Fälle geben, in denen voreilig gehandelt wird. Die Freigabe der Tötung, um den Lebenswillen zu brechen, ist ausgeschlossen, auch die Freigabe der Tötung an jedermann ist ausgeschlossen, die Angehörigen werden vielfach, aber nicht immer, dazu gehört. Bei der Freigabe der Tötung ist zu unterscheiden, ob der tödliche Eingriff akut notwendig ist oder ob genügend Zeit für die Prüfung vorhanden ist, so bei den unheilbar Blöden. Wenn angängig, dann ist benötigte Zeit sorgfaltigster Vorprüfung auszusparen, doch die Vorprüfung ist möglichst zu beschleunigen und der Beschluß sofort zu fassen. "Das Verfahren mit obligatorischer Vorprüfung muß, so weit möglich, als das ausnahmelos betrachtet werden" (S.36). Da der gegenwärtige Staat nicht die Initiative zu solchen Tötungen ergreifen kann, sollte diese wie folgt geregelt werden (S. 36 f.):

494

6. Kap.: Der barbarische Mythos vom arischen Menschen

(1) Der Antrag kann von bestimmten Antragsberechtigten wie dem tödlichen Kranken, dem Arzt oder den nächsten Verwandten ausgehen. (2) Dieser Antrag geht an eine besondere Staatsbehörde zur Feststellung der Voraussetzungen der Freigabe. Der Freigebungsausschuß sollte mit einem Arzt für körperliche Krankheiten, einem Psychiater oder einem zweiten Arzt besetzt sein, der mit Geisteskrankheiten vertraut ist, ferner mit einem Juristen; zur Freigabe dürfte die Einstimmigkeit erforderlich sein. Der Vorsitzende sollte kein Stimmrecht besitzen. (3) Der Beschluß dürfte nur aussprechen, daß nach der jetzigen Anschauung der Wissenschaft der Kranke als unheilbar erscheint, kein Zweifel an sei!1er Einwilligung vorliegt, der Tötung des Kranken kein hindernder Grund im Wege steht und "in sachgemäßester Weise die Erlösung des Kranken von seinem Übel in die Wege zu leiten" (S. 37) ist. Niemandem darf weder das Recht noch die Pflicht zur Tötung eingeräumt werden. "Die Ausführungstat muß Ausfluß freien Mitleids mit dem Kranken sein .... Denn unbedingt schmerzlos muß die Erlösung erfolgen, und nur ein Sachverständiger wäre zur Anwendung des Mittels berechtigt" (S. 37, im Original gesperrt gedruckt, Jk.). Über den Vollzugsakt ist dem Freigabeausschuß ein sorgfältiges Protokoll zuzustellen. Dieser ordnungsgemäße Weg ist aber nicht immer gangbar. Dann steht man vor der Wahl, entweder mutet man dem Kranken die Fortdauer der Qualen zu oder man läuft das Risiko, sich selbst zu vergewissern und dann nach dem besten Gewissen zu handeln. "Ich (Binding) zögere nicht einen Augenblick, mich für die zweite Alternative auszusprechen" (S.38). Der Täter hätte aber die Pflicht, sofort dem Freigabeausschuß Anzeige zu machen. Weite Volkskreise könnten den Eindruck einer Tötung auf Grund irrtümlicher amtlicher Freigabe gewinnen. "Die Möglichkeit des Irrtums bei der Freigabebehördeist trotz der geforderten Einstimmigkeit unleugbar. . .. Aber Irrtum ist bei allen menschlichen Handlungen möglich, ... " (S. 39, zum Teil im Original gesperrt gedruckt, Jk.). Wegen des möglichen Irrtums können aber nützliche und heilsame Handlungen nicht unterlassen werden; denn: "Das Gute und das Vernünftige müssen geschehen trotz allen Irrtumsrisikos" (S. 40, im Original gesperrt, Jk.). Wenn selbst ein Irrtum nachgewiesen werden könnte, würde es sich um ein Leben handeln, das nur einen mittleren Wert besessen hat. "Aber die Menschheit verliert infolge Irrtums so viele Angehörige, daß einer mehr oder weniger wirklich kaum in die Waagschale fällt" (S. 40). Soweit Binding, den wir bewußt ohne jeden Kommentar zitiert haben. Wenden wir uns nun den ärztlichen Bedenken von Alfred Hoche zu (S. 4362):

III. Die barbarische Rassenutopie des Nationalsozialismus

495

Aus ärztlicher Sicht sind weder der Selbstmord noch die Tötung des Einwilligenden zu beachten, dagegen muß die Tötung den Arzt beschäftigen: Das ärztliche Handeln ist Ausfluß einer besonderen Sittenlehre, die aber nirgends fixiert ist. In der Regel handelt es sich um negative Bindungen, was der Arzt nicht darf, dagegen nicht um positive Anweisungen, was er darf und soll. Der Arzt ist aber - um das Leben der Mutter zu retten - praktisch genötigt, das Leben des Kindes zu vernichten. Auch die Körperverletzungen des Chirurgen sind nirgends ausdrücklich erlaubt, dabei wird bei allen operativen Eingriffen stillschweigend mit einem gewissen Prozentsatz von tödlichen Ausgängen gerechnet. Unser sittliches Gefühl hat sich damit abgefunden, denn das Ziel ist die Wiederherstellung der Gesundheit, wobei eine Minderzahl von Opfern nicht auszuschließen ist. In Fällen von unheilbar Kranken wird nicht selten der Wunsch geäußert, ,daß es bald zu Ende sein möchte'. Ein Arzt kann auch aus wissenschaftlichem Interesse in die Versuchung kommen, in ein Menschenleben einzugreifen. Schließlich kann der Arzt durch ein passives Geschehenlassen dem Tode die freie Bahn öffnen. "Das an sich anzuerkennende Prinzip der ärztlichen Pflicht zu möglichster Lebensverlängerung wird, auf die Spitze getrieben, zum Unsinn; Wohltat wird zur Plage" (S. 50). Hauptgegenstand der Stellungnahme aus ärztlicher Sicht ist zu den rechtlichen Ausführungen von Binding die Frage, ob es Menschenleben gibt, die ihr Rechtsgut so stark eingebüßt haben, daß ihre Fortdauer sowohl für die Lebensträger als auch für die Gesellschaft allen Wert verloren haben. Die knappe Antwort von Hoche ist: "Diese Frage ist im allgemeinen zunächst mit Bestimmtheit zu bejahen ... " (S. 51, ohne Hervorhebung im Original, Jk.). Die von Binding vorgenommene Zweiteilung - die durch Krankheit oder Verwundung unrettbar Verlorenen sowie unheilbar Blöden - entspricht den tatsächlichen Verhältnissen. Bei den unheilbar Blöden (es ist der Zustand des geistigen Todes) ist zwischen der im Laufe der Zeit entstandenen oder erworbenen Verblödung einerseits und der von Geburt an vorhandenen andererseits zu unterscheiden. Der Sachverständige kann diese beiden Formen des geistigen Todes durchaus feststellen. Aber bei der nachträglichen altersbedingten - Verblödung wird man eine andere emotionale Einstellung im Vergleich zur angeborenen Form haben. Dieses gilt auch für die wirtschaftliche Belastung der Anstalten und des Staates. Während aber beim Greisenblödsinn nur noch mit einer begrenzten Lebensdauer zu rechnen ist, können verblödete Jugendliche noch Jahrzehnte leben. Daher lasten in wirtschaftlicher Hinsicht jugendliche Vollidioten am schwersten auf der Allgemeinheit. Hoche hat um 1920 eine jährliche finanzielle Belastung von 1 300 Mark je Fall in den Anstalten errechnet, bei 20000 bis 30000 Fällen, und für etwa fünfzig Jahre führt dieses· zu einem großen Betrag, der dem

496

6. Kap.: Der barbarische Mythos vom arischen Menschen

Nationalvermögen für unproduktive Zwecke entzogen wird. "Die Frage, ob der für diese Kategorien von Ballastexistenzen notwendige Aufwand nach allen Richtungen hin gerechtfertigt sei, war in den verflossenen Zeiten des Wohlstandes nicht dringend; jetzt ist es anders geworden, und wir müssen uns ernstlich mit ihr beschäftigen" (S. 55, Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). Die Freigabe der Vernichtung völlig wertloser, geistig Toter wird noch für weite Zeitstrecken vorwiegend gefühlsmäßig vermitteltem Widerspruch begegnen. "Wir werden auch in den Zeiten der Not, denen wir entgegengehen, nie aufhören wollen, körperlich Defekte und Sieche zu pflegen, solange sie nicht geistig tot sind; wir werden nie aufhören, körperlich und geistig Erkrankte bis zum Äußersten zu behandeln, solange noch irgendeine Aussicht auf Änderung ihres Zustandes zum Guten vorhanden ist; aber wir werden vielleicht eines Tages zu der Auffassung heranreifen, daß die Beseitigung der geistig völlig Toten kein Verbrechen, keine unmoralische Handlung, keine gefühlsmäßige Roheit, sondern einen erlaubten nützlichen Akt darstellt" (S.57, Hervorhebung abweichend vom Original, Jk.). Die geistig Toten stehen intellektuell tief unten in der Tierreihe. "Ein geistig Toter ist somit auch nicht imstande, innerlich einen subjektiven Anspruch auf Leben erheben zu können, ebenso wenig wie er irgendwelcher anderer geistiger Prozesse fähig wäre" (S. 58, ohne Hervorhebung im Original, Jk.). Im Falle der Tötung eines geistig Toten wird somit kein subjektiver Anspruch verletzt. Folglich ist es auch falsch, diesem gegenüber Mitleid zu haben; denn wo kein Leiden ist, ist auch kein Mit-Leiden. Die Idee, lebensunwertes Leben zu vernichten, kann zu kriminellen Mißbräuchen führen. Daher sind Sicherungen einzubauen, so daß Fehlgriffe und Irrtümer ausgeschlossen werden. Aber: "Für den Arzt besteht nicht der geringste Zweifel, daß diese Auswahl mit hundertprozentiger Sicherheit zu treffen ist, also mit einem ganz anderen Maße von Sicherheit, als etwa bei hinzurichtenden Verbrechern die Frage, ob sie geistig gesund, oder geistig krank sind, entschieden werden kann" (S. 61). Hoche schließt seine Ausführungen mit dem Hinweis, daß für ihn die Beseitigung der Lebensunfähigen selbstverständlich ist. Wir betrachten dieses heute als barbarisch und erhalten jede noch so wertlose Existenz. Aber: " ... ; eine neue Zeit wird kommen, die von dem Standpunkte einer höheren Sittlichkeit aus aufhören wird, die Forderungen eines überspannten Humanitätsbegriffes und einer Überschätzung des Wertes der Existenz schlechthin mit schweren Opfern dauernd in die Tat umzusetzen" (S.62, Hervorhebung erfolgte durch uns, Jk.). Diese ,neue Zeit' ist im Dritten Reich gekommen. Wir haben uns bewußt eines jeden Kommentars enthalten, um die Ausführungen von Binding und Hoche unmittelbar wirken zu lassen. 91 Es ist

IH. Die barbarische Rassenutopie des Nationalsozialismus

497

geradezu erschreckend festzustellen, daß beide Autoren nicht Nationalsozialisten waren und auch nicht sein konnten, da die erste Auflage dieser Schrift bereits 1920 erschien. Auch wird man Binding und Hoche nicht als Rassenideologen einstufen können, vielmehr stellen sie juristisch bzw. medizinischnaturwissenschaftlich und damit exakt fest, daß es sich um Ballastexistenzen, um geistig tote Menschen oder um Menschenhülsen handelt, die die Gesellschaft nur mit Kosten belasten. Ein geistig Toter hat keinen Anspruch auf physische Existenz. Folglich kann er auch vernichtet werden. Es ist ein Nützlichkeitsdenken, in dem in erster Linie den gesunden und produktiven Volksgenossen ein Lebensrecht zuerkannt wird. Das, was Binding und Hoche als akademische Überlegungen vortrugen, wurde im Dritten Reich Wirklichkeit. bb) Die Euthanasie - eine barbarische Glücksverheißung Im Hippokratischen Eid heißt es: "Ich werde niemandem, auch nicht auf seine Bitte hin, ein tödliches Gift verabreichen oder auch nur einen solchen Rat erteilen. - Auch werde ich nie einer Frau ein Mittel zur Vernichtung keimenden Lebens geben." Dieses Gelöbnis haben alle Ärzte abzulegen, auch diejenigen Ärzte hatten sich zu diesem Verhalten verpflichtet, die später - im Dritten Reich - sogenanntes lebens unwertes Leben systematisch vernichteten, ein Verfahren, das gemeinhin als ,Euthanasie' bezeichnet wird. Es handelt sich aber nicht im Sterbehilfe, sondern um Mord, der allerdings - wie wir gesehen haben - geistig schon vor den Nationalsozialisten gedacht und gefordert wurde; Bindung und Hoche sind nur zwei Beispiele. 92 Wie karn es zum ,Euthanasiebefehl' , dem geheimen Ermächtigungsschreiben Hitlers, auf Grund dessen über 120000 Menschen getötet wurden? Wie bereits darauf hingewiesen, wurde wenige Monate nach der Machtergreifung, d. h. am 14. Juli 1933, das ,Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses' (RGBl. I, S. 529) als Teil der ,Nürnberger Gesetze' erlassen. Dieses ,Sterilisierungsgesetz' folgt Hitlers Anschauungen, wie er sie in seinem Buch ,Mein Kampf' dargelegt hat, d. h., körperlich und geistig nicht Gesunde dürfen ihr Leid nicht in den Kindern verewigen. Die Minderwertigen 93 91 Siehe hierzu zum Beispiel Bernhard Pauleikhoff: Ideologie und Mord Euthanasie bei ,lebensunwerten Menschen', Hürtgenwald 1986, insbesondere S. 15 ff. 92 Über die Diskussionen in den 20er Jahren siehe Ernst Klee: ,Euthanasie' im NS-Staat - Die ,Vernichtung lebensunwerten Lebens', Frankfurt am Main 1983 (Buchausgabe), Taschenbuchausgabe: Fischer-Taschenbuch Nr. 4326, 14.-16. Tausend, Frankfurt 1989, S. 25 ff. (wir zitieren nach der Taschenbuchausgabe); Derselbe: Dokumente zur ,Euthanasie', Fischer-Taschenbuch Nr. 4327, Frankfurt 1985. 93 Edgar J. Jung (Die Herrschaft der Minderwertigen - Ihr Zerfall und ihre Ablösung, Berlin 1927) verlangte, daß die Zukunft des deutschen Volkes in den Händen einer hochwertigen Minderheit liegen sollte.

32 Jenkis

498

6. Kap.: Der barbarische Mythos vom arischen Menschen

vermehren sich schneller als die wertvolle Bevölkerungsschicht, so daß nur noch die Minderwertigen übrigbleiben würden. Daher sind Erbkranke zu sterilisieren. Zu den Erbkranken gehören der angeborene Schwachsinn, Schizophrene, manisch-depressive Personen, Epileptiker, erbliche Blindund Taubheit; zu den körperlichen Mißbildungen werden Kleinwuchs, spastische Lähmungen, Muskeldystrophie, ausgeprägte Klumpfüße usw. gerechnet; ferner schwerer Alkoholismus. Die Erbgesundheitsgerichte, die über die Sterilisierung entscheiden, sind den Amtsgerichten angegliedert; die Erbgesundheitsobergerichte den Oberlandesgerichten. Der Antrag aufSterilisation konnte vom Patienten selbst, seinem gesetzlichen Vertreter, einem beamteten Arzt oder einem Anstaltsleiter an die Erbgesundheitsgerichte gestellt werden. In den Jahren 1934 bis 1936 wurden auf Grund dieses Gesetzes rund 167000 erbkranke Männer und Frauen sterilisiert.94 Dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses folgte am 18. Oktober 1935 das Ehegesundheitsgesetz (Gesetz zum Schutze der Erbgesundheit des deutschen Volkes [RGBI. I, S. 1246]), das in bestimmten Fällen die Eheschließung verbot. Am 1. September 1939 trat eine Verordnung in Kraft, durch die formell die Unfruchtbarmachung eingestellt wurde, es wurde aber bis 1945 - in eingeschränktem Umfang - weiter sterilisiert. Es wird geschätzt, daß 200000 bis 350000 Personen sterilisiert wurden. 95 Die Sterilisierung blieb aber nicht unwidersprochen. Hellsichtig verkündet der Münchener Kardinal Faulhaber in einem Fastenbrief 1934: 96 "Ein furchtbares Wort ist gefallen. ,Gut ist, was dem Volke dient' ... Könnte nicht ein Fanatiker auf den Wahn kommen, Mord und Meineid dienten dem Wohl des Volkes und seien daher ,gut'? Könnte nicht ein Arzt auf den Gedanken kommen, die Tötung von Geisteskranken, die sogenannte Euthanasie, erspare dem Staat große Fürsorgelasten, sie diene dem ,Wohl des Volkes' und sei daher ,gut'''?

Das, was Kardinal Faulhaber (1869-1952), ein entschiedener Gegner des Nationalsozialismus und Rassismus, in der Frageform vorausgesagt hatte, Jung (1894-1934) gehörte zu den Konservativen, der unter anderem die Marburger Rede Papens am 17. Juni 1934 verfaßte. Er wurde am 25. Juni 1934 verhaftet und im Zusammenhang mit dem Röhm-Putsch am 1. Juli 1934 ermordet. 94 Kammer / Bartsch, S. 61 (Stichwort: Erbkranker Nachwuchs). 95 Klee, S. 86. 96 Zitiert nach Klee, S. 53. Es erscheint uns selbstverständlich, daß Neugeborene nicht getötet werden dürfen. Vta Ranke-Heinemann (in: Eunuchen für das Himmelreich Katholische Kirche und Sexualität, Knaur Taschenbuch, Bd. 4079, München 1990, S. 68 f.) weist darauf hin, daß Seneca es als einen alltäglichen Vorgang bezeichnete, mißgestaltete oder schwächliche Neugeborene zu ertränken; Sueton erwähnt die Aussetzung Neugeborener als in das Belieben der Eltern gestellt; Plutarch schreibt, daß bei den Spartanern Neugeborene zuerst von den Gemeindeältesten untersucht und schwächliche und mißgestaltete Säuglinge von dem Felsabhang des Tocygetos hinabgestürzt wurden, damit sie nicht dem Staat zur Last fielen. Tacitus warf den Juden vor, daß diese nicht ihre überzähligen Neugeborenen umbrachten. ,Erst im Jahre 374 wurde unter christlichem Einfluß die Tötung Neugeborener gesetzlich als Mord bezeichnet' (S. 68).

IH. Die barbarische Rassenutopie des Nationalsozialismus

499

wurde systematisch vorbereitet. Der von Adolf Hitler gegebene .Euthanasiebefehl' bildete dann die Grundlage für die Vernichtung des lebensunwerten Lebens: Es ist nicht genau feststellbar, wann Hitler den sogenannten Euthanasiebefehl unterschrieb. 97 Es wird angenommen, daß die Unterschrift des Führers Anfang oder Ende Oktober 1939 erfolgte, er wurde aber auf den 1. September 1939 zurückdatiert, dem Tag, an dem der Zweite Weltkrieg ausbrach. Bemerkenswert ist, daß die ,Euthanasie-Ermächtigung' auf privatem Briefpapier geschrieben wurde, daher stellt - rechtlich betrachtet - diese Ermächtigung keine gesetzliche Grundlage dar. Irgendwann im Oktober 1939 unterschrieb Hitler diese wenigen Zeilen: 98

"Adolf Hitler

Berlin, den 1. September 1939

Reichsleiter Bouhler99 und Dr. med. Brandt lOO sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischer Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann. gez. Adolf Hitler" .

Offensichtlich hatte Hitler aus politischen Gründen eine gesetzliche Regelung abgelehnt. Es ist ferner bemerkenswert, daß nicht der Ausdruck ,Euthanasie', sondern der des ,Gnadentodes' gebraucht wird, der sich keinesfalls mit der Praxis deckte. Vor der Öffentlichkeit sollte die Tötung von lebensunwertem Leben geheimgehalten werden. Deshalb wurde die Hitler unmittelbar unterstellte ,Kanzlei des Führers' (KdF) mit der Vorbereitung und Durchführung der Tötungsmaßnahmen beauftragt, die Hitler dazu benutzte, um private Angelegenheiten sowie an ihn gerichtete Anfragen und Gesuche zu erledigen. 97

Klee, S. 100 ff.

98 Zitiert nach Klee, S. 100. Siehe hierzu Marie-Corentine Sandstede-Auzelle/Gerd Sandstede: Clemens August Graf von Galen - Bischof von Münster im Dritten Reich, Münster 1986. 99 Philipp Bouhler (1899-1945) wurde 1922 Stellvertreter des Hauptgeschäftsführers der NSDAP, 1925-1934 Reichsgeschäftsführer der NSDAP, ab 1933 Mitglied des Reichstages, ab 1934 Chef der Kanzlei des Führers. Im Mai 1945 beging Bouhler Selbstmord. 100 Kar! Brandt (geboren 1898) war seit 1933 Begleitarzt des Führers, wurde 1942 Leiter für das Sanitäts- und Gesundheitswesen, war Generalmajor der Waffen-SS sowie SSBrigadeführer. Brandt nahm 1945 Kontakte mit dem Roten Kreuz in Genf auf, er wurde von der Gestapo verhaftet.

32"

500

6. Kap.: Der barbarische Mythos vom arischen Menschen

Zum Zweck der Geheimhaltung wurde eine Scheinorganisation mit dem Namen ,Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten' (RAG) geschaffen, die die Erfassung und Auswahl der Opfer vornahm. "Als Berechnungsgrundlage der Tötungen werden 20 % aller Heilanstaltsinsassen angenommen. Das heißt: Es sind ,Tötungskapazitäten' für etwa 70 000 Menschen zu schaffen."101 Zum Leiter der RAG wurde der Jurist Dr. Gerhard Bohne berufen; medizinischer Leiter wurde Professor Dr. Werner Heyde, vom Reichsinnenministerium wurde Dr. Herbert Linden mit einem Sonderauftrag für die Kanzlei des Führers freigestellt. Einige dieser Verantwortlichen für die Euthanasie legten sich Decknamen zu. Die RAG wurde durch den Reichsschatzmeister der NSDAP finanziert. Am 18. November 1939 wurde ein weiteres Tarnunternehmen gegründet, nämlich die ,Gemeinnützige Kranken-Transport-GmbH' (Gekrat) und in das Handelsregister des Amtsgerichtes Charlottenburg eingetragen. Als Gegenstand des Unternehmens wurde angegeben: "Die zu den Selbstkosten vorzunehmende Durchführung von solchen Krankentransporten, die im öffentlichen Interesse liegen und zu denen das Unternehmen Aufträge von staatlichen Stellen entgegennimmt." Daher war die Gekrat ,gemeinnützig'. Das Reichsinnenministerium verschickte Meldebogen an alle Pflege- und Heilanstalten im Deutschen Reich. Die Anstalten hatten Patienten zu melden, die unter anderem an folgenden Krankheiten litten: 102 Schizophrenie, Epilepsie, senile Erkrankungen, Schwachsinn jeder Ursache, alle Stadien der Geschlechtskrankheit Lues, Gehirnentzündungen und Veitstanz. Außerdem mußten Patienten gemeldet werden, die sich mindestens fünf Jahre dauernd in Anstalten befanden, die als kriminelle Geisteskranke verwahrt wurden und die Patienten, die keine deutsche Staatsangehörigkeit besaßen oder nicht ,deutschen oder artverwandten Blutes' waren, letzteres betraf insbesondere die Juden. Die Euthanasie-Abteilung der Kanzlei des Führers mietete sich im Columbushaus am Potsdamer Platz in drei oder vier Räumen ein. Erst im April 1940 weitete sie sich personell und räumlich aus; der größte Teil der Verwaltung wurde in einer Villa (ehemals jüdischer Besitz) in der Tiergartenstraße 4 in Berlin-Charlottenburg untergebracht. "Von nun wird die Euthanasie-Zentrale inoffiz:iell ,T 4' und die ,Euthanasie' ,Aktion T 4' genannt." 103 Die einzelnen Abteilungen der T 4 verhandelten, schrieben und befahlen unter verschiedenen Deckadressen: Die Organisation der Tötungen erfolgte unter dem Begriff ,Reichsarbeitsgemeinschaft Heil- und Pflegeanstalten'; die Hauptwirtschaftsabteilung (zuständig für die Besoldung des Personals) fir101 102 103

Klee, S. 102. Kammer / Bartsch, S. 63. Klee, S. 166 (Hervorhebungen erfolgten durch uns, Jk.).

IH. Die barbarische Rassenutopie des Nationalsozialismus

501

mierte als ,Gemeinnützige Stiftung für Anstaltspflege'; der Schriftwechsel mit den Kostenträgern wurde später unter dem Briefkopf ,Zentralverrechnungsstelle Heil- und Pflegeanstalten' geführt. "Alle diese Bezeichnungen sind Tarnnamen. Verantwortlich für die Ausführung und Planung der Tötungen ist in jedem Fall das Hauptamt 11 der Kanzlei des Führers."104 Kleelos gibt das Organisationsschema der Euthanasie, aus dem man den Eindruck gewinnt, daß es sich nicht nur um eine große Organisation handelte, sondern mit ,deutscher Gründlichkeit' die Tötung lebensunwerten Lebens vorbereitet und durchgeführt wurde (vgl. Seiten 502 und 503). Eine solche Maschinerie kann - wie in allen Diktaturen oder autokratischen Systemen - von einem Einzelnen befohlen werden, bedarf aber zahlloser großer und kleiner Mittäter und Mitläufer, um zu funktionieren. Das galt auch für das Euthanasieverfahren. Häufig handelte es sich um Verwandte oder Bekanntschaften, die dazu führten, daß Mitarbeiter für die Organisation T 4 oder für Arbeiten in den Vernichtungsanstalten gewonnen wurden. Manche stellten sich zur Verfügung, um nicht als Soldat an die Front zu gehen, auch wirtschaftliche Gründe spielten eine Rolle. Beispiel hierfür sind die Erklärungen eines Leichenverbrenners in Hartheim, eines gelernten Maschinenschlossers, der 1939 nur einen Wochenlohn von 25,Reichsmark hatte: 106 "Mit diesem Betrag konnte ich kaum meine Familie, bestehend aus Gattin und vier Kindern, ernähren. Ich war dabei immer auf der Suche, mehr zu verdienen. Mein Bruder war zu dieser Zeit als SA-Brigadeführer vom Reich nach Linz zurückgekehrt. An ihn wendete ich mich, um von ihm einen besseren Arbeitsplatz zugewiesen zu bekommen. Erst im April 1939 bestellte er mich in seine Kanzlei in die Freiheitsstraße in Linz. Es waren dort mehrere Personen anwesend. Die Namen dieser Leute sind mir entfallen. Mein Bruder ging mit mir und den anderen Leuten ins Landhaus zu einem gewissen Kaufmann. Dort wurde ich gefragt, was ich bis jetzt verdient habe. Als man von mir hörte, daß ich wöchentlich nur 25,RM verdiene, lachte man darüber. Mir und den anderen wurde dann eröffnet, daß wir nach Hartheim kommen und dort mehr verdienen werden. Was wir dort machen sollten, wurde uns nicht gesagt. Es wurde uns nur angedeutet, daß wir zu einer besonderen Arbeit verwendet werden. Gleichzeitig wurde uns bedeutet, daß wir über unsere zukünftige Tätigkeit niemandem etwas sagen dürfen, und daß wir den Anordnungen unbedingt zu folgen haben. Schließlich wurden wir vereidigt. Der Eid beinhaltete die Schweigepflicht und den unbedingten Gehorsam .... Am 2. April 1940 habe ich die Arbeit in Hartheim begonnen. Zuerst wurde ich als Hilfsarbeiter zu den verschiedensten Arbeiten verwendet. Ich bekam pro Monat 170,- RM und 50,- RM Trennungszulage, die Unterkunft und Verpflegung. Etwa 104 105 106

Ebenda, S. 166. Ebenda, S. 168 f. Ebenda, S. 167.

502

6. Kap.: Der barbarische Mythos vom arischen Menschen Organisationsschema der Euthanasie Hltler ermächtigt die Euthanasiebeauftragten ~

Bouhler (Leiter der KdF) und Dr. Brandt (Begleitarzt Hillers)

,

Hauptamt 11 der Kanzlei de. FOhrer. (KdF) Leiter: Oberdienstleiter Brack (Tarnname: »Jennerwein-) Vertr.: Blankenburg (Tarnname: »Brenner-) Kontaktmann d. RMI: Dr. Linden (ab Okt. '41: Reichsbeauftragter für die Heil- und Pflegeanstalten) Einzelämter

Amtlla

Leiter

Blankenburg (»Brenner-)

Aufgaben

Vertretung des Leiters dEls nichtärztlichen Personals und der Büroorganisation ~

Zentraldlen.t.telle (lOT 4..) Geschäftsführer: Allers Medizinische Abteilung

BüroabteUung

Transportabteilung (In d. KdF)

Leiter:

Prof. Heyde (ab Dez. '41: Prof. Nitsche)

Bohne (ab Sommer '40: Tillmann)

Vorberg (.Hlntertal-)

Vertr.:

Prof. Nitsche

Schüppel

Siebert

Aufg.:

ärztl. Fragen, Meldebögen, GutaChter, Registratur

alle Verwaltungsaufg. nach d. Tötung in der Euthanasie-Anst.: Standesämter, NachlaBabwlckl., Photoabt., Kurierstelle

Transporte Fahrzeughaltung

Briefkopf:

Reichsarbeitsgemeinschaft HeU- u. Pflegeanstalten (RAG)

öffent!. Auftreten bei:

.Krankenverlegungen-

Gemeinnützige KrankentransportGmbH (Gekrat)

~

Euthana.le-An.talten: Grafeneck (Tarnname .A-h Brandenburg (.B-), Bernburg (.Be-), Briefkopf: .Landespflegeanstalt .... Arzt

StandesamtlBüroabteUung

Anstaltsleitung, Selektion der antransportierten Kranken, Fesllegung der. Todesursache-, Benachrichtigung der Angehörigen

Sterbefallbeurkundung, NachlaBfragen, Urnenversand, Benachrichtigung der Behörden, Kostenverrechnung

Entnommen aus: Ernst Klee, ..Euthanasie" im NS-Staat. ..Die Vernichtung Frankfurt am Main 1985, S. 168 und 169.

III. Die barbarische Rassenutopie des Nationalsozialismus Organisalionsschema der EUlhanasie

Aufgaben: Bestimmung des Kreises der zu Tötenden. Richtlinien zur Erfassung und Begutachtung, Tötungsermächtigung an Ärzte Büroräume: Reichskanzlei (Voßstraße) Aufgaben: Vertr. des Leiters, nichtärztlIches Personal, BüroorganisatIon, Auswahl und Einsatz des Personals. Auswahl, Einrichtung und Kontrolle der Euthanasieanstalten Amt IIb

Amtllc

Dr. Hefelmann

Vorberg (»Hintertalu)

ärztliches Personal »Reichsausschuß« (=Kindereuthanasie)

Transportwesen

Büroräume: Tiergartenstr. 4, teilweise: Columbushaus, Potsdamer Platz 1 (dort u. a.: Sonderstandesamt) Chelm (Cholm). Post Lublin, Postfach 822 (Tarnadresse für Im Raum Lublln getötete geisteskranke Juden) Hauptwirtschaftsabteilung

PersonalabteIlung

Inspektionsabteilung

Schneider (bis März '41),

Haus,Oels

Kaufmann

Personalangelegenheiten U.Betreuung

Einrichtung u. Inspektion d. Euthanasie-Anstalten, Verhandlungen mit Behörden u. Parteidienststellen (ab '41: Kostenverrechnung)

ab Aug. '41: Schmiedel, ab Jan. '42: Lorent Finanzen, Besoldung, Gebäude, Beschaffungswesen incl. Gas u. Arzneimittelgifte (Konto: NDesinfektionsmittel«) Revision, Verwertung v. Schmuck u. Zahngold d. Getöteten

Gemeinnützige Stiftung f. Anstaltspflege (-Stiftung«)

ab Frühjahr '42: Zentralverrechnungsstelle Heil-u. Pflegeanstalten

Arbeitgeber des T4-Personals Empfänger des Etats durch NSDAP-Reichsschatzmeister

Verrechnungsstelle mit Kostenträgern

Hartheim (-C.), Sonnenstein (»0«), Hadamar (-E«) Transportabteilung

WIrtschaftsabteilung

Benachrichtigung der Abgebeanstalten. Abholen der Kranken, Fahrzeughaltung

Beschaflungswesen. Bewirtschaftung (auch Landwirtschaft), Gebäude

lebensunwerten Lebens". Fischer Taschenbuch Verlag GmbH,

503

504

6. Kap.: Der barbarische Mythos vom arischen Menschen

14 Tage später ließ uns Hauptmann Wirth zusammenrufen. Bei dieser Gelegenheit hielt er an uns, es waren zumeist nur Männer anwesend, folgende Ansprache: , ... Kameraden, ich habe Euch heute da zusammengerufen, um Euch die jetzige Lage hier im Schloß (Hartheim, E. K.) so zu erklären, was jetzt passieren wird. Ich habe den Auftrag bekommen von der Reichskanzlei, das weitere hier im Schloß zu leiten. Ich als Hauptmann habe alles unter mir. Wir müssen hier ein Krematorium bauen, um die Geisteskranken von der Ostmark hier zu verbrennen. Es sind fünf Ärzte bestimmt, die die Geisteskranken untersuchen um festzustellen, was zu retten und was nicht zu retten ist. Was nicht zu retten ist, kommt ins Krematorium und wird verbrannt. Die Geisteskranken sind eine Last für Deutschland, und wir wollen nur gesunde Menschen. Die Geisteskranken sind ja nur eine Last für den Staat. Einige Männer werden bestimmt, welche im Krematorium zu arbeiten haben. Vor allen Dingen heißt es Schweigen bei Todesstrafe. Wer nicht schweigt, kommt ins KZ oder wird erschossen.' Ganz kurze Zeit nach der Rede des Hauptmann Wirth wurde mit dem Bau des Krematoriums begonnen. Ich und noch andere wurden zum Heizer bestimmt. Ich betone ausdrücklich, daß ich mich zu dieser Arbeit nicht selbst gemeldet habe. Für die Arbeit als Heizer wurde mir eine Zulage von 35 RM pro Monat versprochen und späterhin auch ausbezahlt."

Bei den Ärzten, Krankenschwestern, Handwerkern und Angestellten handelt es sich um ehrbare Leute mit ehrbaren Berufen; in einer rechtsstaatlichen Ordnung wäre kaum einer kriminell geworden. Offensichtlich haben die Bediensteten der T 4 ihre Büroarbeit so erledigt, wie es Bürokraten tun. Das Euthanasieverfahren wurde zur Alltäglichkeit, so daß man sogar einen Betriebsausflug in die Tötungsanstalt Hartheim machte. Anfang 1940 begannen die Ermordungen in großem Umfang. Allein im August 1940 wurden 5 791 Menschen umgebracht. Während man die Kinder vorwiegend mit Tabletten vergiftete, wurden die Erwachsenen in Gaskammern umgebracht; deren Leichen wurden verbrannt. In den Tötungsanstalten wurden eigene Standesämter eingerichtet, die die Totenscheine ausstellten; zu den örtlichen Standesämtern bestanden keine Kontakte. Abgesehen von den Helfern und Helfershelfern waren es vor allen Dingen die Ärzte, die als Gutachter und Obergutachter über Leben und Tod entschieden. Reichsgesundheitsführer ab 1939 war der 1900 in Lugano geborene Leonardo Conti. Neben Conti waren es zahlreiche Ärzte, die entweder aus innerer Überzeugung oder als gedankenlose Mitläufer und Mittäter die Todeskandidaten begutachteten, auswählten und dem ,Gnadentod' überantworteten. Auf der Gutachterliste 107 standen neben den Namen von den Professoren Werner Heyde (Heyde war bis Ende 1941 Leiter der medizinischen Abteilung der Zentraldienststelle T 4) und Hermann Paul Nitsche (Obergutachter bei T 4, ab Dezember 1941 Nachfolger von Heyde) bekannte Persönlichkeiten wie die der Professoren Pohlisch und Panse 107

Siehe bei Klee, S. 228 f.

IH. Die barbarische Rassenutopie des Nationalsozialismus

505

(Bonn), Carl Schneider (Heidelberg), Erich Straub (Kiel), Friedrich Mauz (Königsberg), Berthold Kihn (Jena) usw.; dagegen lehnte der Göttinger Ordinarius Gottfried Ewald eine Mitarbeit ab. 108 Trotz der Geheimhaltung und der Tarnungen konnte das EuthanasieVerfahren doch nicht geheimgehalten werden; denn sowohl die Angehörigen der getöteten Menschen als auch die zuständigen Behörden, Anstalten, kirchlichen Stellen usw. erlangten Kenntnisse über diese Maßnahmen. Insbesondere die beiden großen christlichen Kirchen haben sich gegen die Euthanasie gewandt, allerdings auch schweigend die Tötung lebensunwerten Lebens geduldet oder sogar mitgemacht. Am bekanntesten ist die Predigt des Bischofs Clemens August Graf von Galen lO9 am 3. August 1941 in der Lambertikirche in Münster. "Die Predigt hat eine ungeheure Wirkung. Denn endlich, endlich hat einer der Kirchenführer öffentlich Partei ergriffen. Die Predigt geht hektographiert in Tausenden von Exemplaren von Hand zu Hand und wird von britischen Fliegern sogar als Flugblatt abgeworfen - die Geheimhaltung ist durchbrochen."llo Die Predigt Galens ermutigt mehrere Bischöfe die Euthanasie öffentlich abzulehnen. Auf evangelischer Seite ist der Pfarrer Ernst Wilm 111 zu nennen, der öffentlich gegen die Euthanasie protestierte und deswegen von 1942 bis 1945 in das KZ Dachau kam. Am 24. August 1941 wurde die Euthanasie von Hitler gestoppt. 112 Hierbei dürften sowohl die kirchlichen Proteste als auch außenpolitische Überlegungen eine Rolle gespielt haben. Aber auch nach diesem ,Stopp' wurde die Euthanasie nicht vollständig eingestellt. Ebenda, S. 223 ff., insbesondere S. 227. Clemens August Graf von· Galen (1878-1946) war bereits durch seine Schrift gegen Rosenbergs ,Mythus des 20. Jahrhunderts' bekannt. Seine Predigten 1941 gegen die Euthanasie machten ihn weltberühmt. Galen war ab 1933 Bischof und wurde 1946 zum Kardinal ernannt. Siehe hierzu Marie-Corentine Sandstede-Auzelle/Gerd Sandstede: Clemens August Graf von Galen - Bischof von Münster im Dritten Reich, Münster 1986 (Stellungnahme zum Sterilisierungsgesetz und zum Kampf gegen die Euthanasie: S. 42-48; die Predigt in der Lambertikirche zu Münster am 3. August 1941: S. 190-203). 110 Klee, S. 335. 111 Ernst Wilm (geboren 1901) war führendes Mitglied der Bekennenden Kirche. 19491968 war Wilm Präses der Evangelischen Kirche von Westfalen und 1963-1965 Ratsvorsitzender der Evangelischen Kirche der Union. Siehe hierzu: Evangelische Dokumente zur Ermordung der ,unheilbar Kranken' unter Nationalsozialistischer Herrschaft in den Jahren 1939-1945, Herausgegeben im Auftrag von ,Innere Mission und Hilfswerk der Evangelischen Kirche in Deutschland' von Hans Christoph Hase, Stuttgart, o. J. (1964). Siehe zum Beispiel den Brief von Landesbischof Wurm an Reichsminister Frick vom 19. Juli 1940 (S. 9-13), Referat des damaligen Pfarrers Ernst Wilm "über die Stellungnahme der Kirche zur Tötung der ,unheilbar Kranken'" im Jahre 1940 (S. 23-27). Zur Geschichte der Euthanasie siehe Jochen Fischer: Von der Utopie bis zur Vernichtung ,lebensunwerten' Lebens, ebenda, S. 35-65. 112 Klee, S. 339. 108 109

506

6. Kap.: Der barbarische Mythos vom arischen Menschen

Aus einer internen Blanz der T 4-Statistiker geht hervor, daß bis zum 1. September 1941 insgesamt 70273 Personen ,desinfiziert' wurden, damit waren nur diejenigen Patienten gemeint, die vergast worden waren. Nach einer zweiten Statistik wurden bis Ende 1941 93521 ,Betten' einem neuen Verwendungszweck zugeführt. Geht man von 282696 Betten für ,Geisteskranke' aus, dann wurde jedes dritte Bett ,freigemacht'.113 Den Tötungsaktionen - der Euthanasie - sollen über 100000 Erwachsene und 20000 Kinder zum Opfer gefallen sein. 114 Aber auch nach dem Euthanasie-Stopp vom 24. August 1941 ging die Tötung weiter: Zu Beginn des Jahres 1941 erörterte Heinrich Himmler mit Philipp Bouhler die Frage, wie man die Tötungskapazitäten der T 4 nutzen könnte, um die Konzentrationslager von den ,Ballastexistenzen' zu befreien; diese ,Ausmusterung' der KZ-Häftlinge wird auch ,Häftlings-Euthanasie' (die KZInsassen selber sprachen von der ,Invaliden-Aktion') genannt. Nach dem Aktenzeichen des Inspekteurs der Konzentrationslager beim Reichsführer SS wurde diese Euthanasie als 'Aktion 14f 13' bezeichnet. Auf Grund der verschlechterten Kriegslage ordnete der Inspekteur der Konzentrationslager, SS-Obergruppenführer Richard Glücks am 27. April 1943 an, daß in Zukunft nur noch tatsächlich geisteskranke Häftlinge ,ausgemustert' werden durften. Eine weitere Euthanasie-Methode bestand ab 1942 darin, daß rassisch oder sozial ,Minderwertige' durch harte Arbeit in den Betrieben der Rüstungsindustrie bei gleichzeitig unzureichender Verpflegung physisch vernichtet werden sollten (Vernichtung durch Arbeit). Ab November 1942 bereisten hochrangige Beamte des Reichsjustizministeriums die Haftanstalten, um die ,Asozialen' auszusondern. "Hatte das Reichsjustizministerium 1940 noch zaghaft versucht, der ,Vernichtung' der Kranken Einhalt zu gebieten, so überstellt es nUn die eigenen Häftlinge zur ,Vernichtung durch Arbeit' ... Alle Beamte des Reichsjustizministeriums, die wegen ihrer Beteiligung an der Aktion ,Vernichtung durch Arbeit' nach dem Kriege angeklagt waren, sind freigesprochen worden. Sie hätten in Unkenntnis gehandelt, hätten nicht gewußt, daß die selektierten Asozialen im KZ tatsächlich getötet würden."115 Am 2. Juli 1943 ordnete das Justizministerium an, auch ,kriminelle' Geisteskranke in die Konzentrationslager zu schicken. Mit Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion wurde die systematische Vernichtung auch auf Rußland ausgedehnt. Da es nicht unsere Absicht ist, in diesem Zusammenhang die gesamte Problematik der Euthanasie des Dritten Reiches darzustellen 116, sondern 113 114

llS

Ebenda, S. 340 f. Kammer / Bartseh, S. 64. Klee, S. 359 bzw. 360.

111. Die barbarische Rassenutopie des Nationalsozialismus

507

herauszuarbeiten, daß auch die NS-Ideologie eine Utopie - die vom nordischen (arischen) Menschen, der Herrenrasse - enthielt, deren Realisierung zur grausamen Barbarei führte. Der grundlegende Unterschied zu den anderen barbarischen Sozialutopien besteht vor allem darin, daß diese Barbarei im ,aufgeklärten' zwanzigsten Jahrhundert stattfand, daß sie von einem Staat betrieben wurde und daß schließlich modernste Techniken eingesetzt wurden, um Tausende und Abertausende zu töten. Um diese Barbarei zu verdeutlichen, sei ein Beispiel zitiert, das wahrscheinlich über diese Unmenschlichkeit mehr aussagt als alle sachlichen Berichte und Statistiken: 117 HArn 17. August 1942 trifft Kurt Gerstein, vom SS-Führungshauptamt, Amtsgruppe D Sanitätswesen der Waffen-SS, Abteilung Hygiene, zusammen mit dem Marburger Ordinarius für Hygiene (und SS-Obersturmbannführer) Pfannenstiel in Lublin ein. Sie treffen Globocnik und den Euthanasie-Ministerialrat Dr. Herbert Linden. Gerstein, der selbst eine Angehörige hatte, die in Hadamar getötet worden war, hinterließ der Nachwelt einen erschütternden Bericht und versuchte vergeblich, den Papst und die Alliierten zu informieren und zum Eingreifen zu bewegen. Er schildert, wie ihm Wirth am 18. August die Massentötung von 700 bis 800 Menschen demonstriert: ,Gut voll packen', befiehlt der Inspektor, bis sich die Menschen auf den Füßen stehen. Gerstein berichtet, wie der Dieselmotor nicht anspringt und die Menschen in den Gaskammern schreien, bis endlich nach 2 Stunden 49 Minuten der Motor läuft, wie nach weiteren 32 Minuten die letzten tot sind, das Arbeitskommando die Türen öffnet, die Toten noch aufrecht wie Basaltsäulen stehen, weil sie nicht umfallen können. Wie man die Leichen hinauswirft, blau, naß von Schweiß und Urin, die Beine voller Kot und Regelblut. Kinder dazwischen, Säuglinge. Wie die Münder der Toten mit Haken geöffnet werden, nach Goldkronen gesucht, Zähne herausgebrochen werden. After und Genitalien nach versteckten Brillanten untersucht werden, während draußen, nackt, schon wieder Hunderte bereitgehalten werden, zur nächsten Vergasung, und Vernichtungsexperte Wirth dem entsetzten Gerstein eine große Konservenbüchse mit Zahngold hinhält und sagt: ,Heben Sie mal, was für ein Gewicht das Gold hat. ,"

Spätestens beim Lesen dieses Berichtes wird deutlich, daß Sozialutopien - mit oder ohne rassischen Inhalt ~ barbarische Glücksverheißungen sind.

116 Aus der umfangreichen Literatur nennen wir: Till Bastian: Von der Eugenik zur Euthanasie - Ein verdrängtes Kapitel aus der Geschichte der deutschen Psychiatrie, Bad Wörishofen 1981; Kurt Nowak: ,Euthanasie' und Sterilisierung im ,Dritten Reich' - Die Konfrontation der evangelischen und katholischen Kirche mit dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und der ,Euthanasie'-Aktion, Göttingen 1980; Gerhard Schmidt: Selektion in der Heilanstalt 1939-1945, Stuttgart 1965. 117 Klee, S. 375 f.

Siebentes Kapitel

Können oder sollen Sozialutopien verwirklicht werden? Utopien im allgemeinen und Sozialutopien im besonderen gibt es seit über zweitausend Jahren. Sie haben zum Ziel, eine Gesellschaftsordnung zu schaffen, in der der Kampf, der Neid, der Besitz, der Egoismus und andere menschliche Eigenschaften abgeschafft werden. Dann würde eine von diesen Lasten und Lastern befreite, befriedete und beglückte Menschheit leben, die mit diesen und anderen Problemen nicht mehr konfrontiert ist. Die Frage aber ist, ob eine solche Gesellschaftsordnung überhaupt geschaffen werden kann und - wenn dieses möglich sein sollte - ob sie überhaupt geschaffen werden soll. Unser (unvollkommener) historischer Überblick über die sozialutopischen Entwürfe und deren Realisierungsversuche haben deutlich gemacht, daß es bis zum ausgehenden Mittelalter lediglich romanhafte Beschreibungen von vermeintlich vollkommenen Gesellschaftsordnungen gab, aber keine Realisierungsversuche unternommen wurden. Mit Beginn der Neuzeit begnügte man sich nicht mehr mit den Berichten des Erzählers, der von einer fernen Insel zurückkehrte, sondern wollte die sozialutopischen Vorstellungen sofort realisieren, wobei religiöse mit weltlichen Motiven vermischt wurden. Thomas Müntzer und die Wiedertäufer in Münster sind die Beispiele für diese Realisierungsversuche. Beide endeten in Blut und Tränen, beide gescheiterten Versuche belegen, daß Sozialutopien barbarische Glücksverheißungen sind. Sofern überhaupt, kann man den Jesuitenstaat in Paraguay als einen geglückten Versuch bezeichnen, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, daß eine kleine, gebildete Oberschicht eine quantitativ große, ungebildete Unterschicht religiös, wirtschaftlich und organisatorisch beherrschte; letztlich scheiterte aber auch dieser Realisierungsversuch. Die sozialistisch oder kommunistisch beeinflußten Realisierungsversuche eines Pierre Proudhon, Robert Owen oder Etienne Cabet sind gleichfalls nicht erfolgreich gewesen. Überblickt man diese Experimente, dann wird deutlich, daß offensichtlich der Mensch mit all seinen Stärken und Schwächen zumindest bisher nicht in der Lage war (und wahrscheinlich auch in der Zukunft nicht in der Lage sein wird), die verheißene vollkommene Gesellschaftsordnung zu schaffen und sie auf Dauer zu gestalten.

7. Kap.: Können oder sollen Sozialutopien verwirklicht werden?

509

Einen anderen Weg zum glückverheißenden Ordnungssystem sind sowohl die Sozialisten bzw. Kommunisten als auch die Nationalsozialisten gegangen: Die Sozialisten und Kommunisten gingen und gehen davon aus, daß mit dem Übergang zur klassenlosen Gesellschaft ein ,neuer Mensch' geschaffen wird, von dem alle bisherigen ,schlechten' Eigenschaften abfallen, d. h., daß er nicht mehr Individualist, nicht Egoist, nicht ,unanständig' ist, sondern als Gemeinschaftswesen nur dieser neuen Gesellschaft dient. Bemerkenswert ist, daß die Sozialisten und Kommunisten den Weg vom ausbeuterischen Kapitalismus zur klassenlosen Gesellschaft beschrieben haben, aber darauf verzichteten, den Endzustand der menschlichen Geschichte darzustellen. Im real existierenden Sozialismus in der Sowjetunion und in den anderen Ostblockländern ist aber deutlich geworden, daß es den ,neuen Menschen' nicht gegeben hat, wofür Stalin ein geradezu klassisches Beispiel ist. Im Gegenteil: Die diktatorischen Maßnahmen, die Unterdrückung, die Bespitzelung und nicht zuletzt die Gewaltanwendungen haben deutlich gemacht, daß das verheißene sozialistische oder kommunistische Paradies auf dem Geheimdienst und auf den Bajonetten aufgebaut war. Auch dieser Realisierungsversuch endete in einer Barbarei, die einer kleinen Herrschaftsschicht Macht und Luxus, den Massen aber Armut, Elend oder sogar den Tod brachte. Einen anderen Weg gingen die Nationalsozialisten, denn sie hatten keine utopische Vorstellung, daß eine künftige Ordnung in einen geradezu paradiesischen Zustand versetzt werden könnte. Im Gegenteil: Die Nationalsozialisten waren Sozialdarwinisten, sie verherrlichten den Kampf, den starken, kämpferischen und nordischen oder arischen Menschen. Kampf, nicht ein beglücktes Leben schwebte ihnen vor. Um diesen kämpferischen, nordischen Menschen mußten die rassisch und körperlich bzw. geistig Minderwertigen beseitigt und gleichzeitig die ,wertvollen' nordischen oder arischen Menschen gezüchtet werden. Abgesehen von der systematischen Vernichtung der minderwertigen Rassen - der Juden, der Slawen, der Zigeunererfolgte durch den Lebensborn die ,Züchtung' des nordischen Menschen, um durch die ,Aufartung' ein Herrenvolk zu schaffen. Parallel zu dieser ,Aufartung' wurde das lebens unwerte Leben - die Ballastexistenzen - durch die Euthanasie vernichtet. Die NS-Ideologie führt zur Utopie von der nordischen Herrenrasse, die Realisierungsversuche endeten in der Barbarei. Mag man gegenüber den religiös beeinflußten Experimenten zu Beginn der Neuzeit noch eine gewisse Nachsicht üben, dagegen sind die Züchtungs- und Vernichtungsmethoden in der vermeintlich aufgeklärten und modernen Gegenwart weder rational zu verstehen noch zu entschuldigen. Aus der Ideologie erwuchs die Utopie der Herrenrasse, aus dieser die Barbarei. Alle Sozialutopien erheben den Anspruch, den Menschen eine glückliche Zukunft zu verheißen, alle Realisierungsversuche endeten im Unglück. In

510

7. Kap.: Können oder sollen Sozialutopien verwirklicht werden?

den letzten fünfhundert Jahren ist kein Experiment auf Dauer gelungen. Man kann daher die Aussage wagen, daß auf Grund der gegebenen anthropologischen Strukturen des Menschen auch in Zukunft kein Experiment gelingen wird, es sei denn, daß die Gen-Technologie und die damit verbundene Gen-Manipulation die Möglichkeit eröffnet, tatsächlich einen ,neuen' Menschen zu ,produzieren'. Ob aber eine derartige Manipulation - ihre technische Möglichkeit unterstellt - überhaupt stattfinden soll und möglicherweise nicht auch barbarisch ist, steht auf einem anderen Blatt. Wenn wir von der realistischen Annahme ausgehen, daß es bisher nicht gelungen ist, einen ,neuen Menschen' zu schaffen und wenn wir ferner unterstellen, daß gesetzlich eine Gen-Manipulation ausgeschlossen wird), wie könnte dann eine verwirklichte Sozialutopie aussehen? Würde eine solche realisierte Sozialutopie für den tatsächlich existierenden - nicht neu geschaffenen - Menschen human sein, würde er sie überhaupt ertragen können? Der österreichische Philosoph Ernst Topitsch 2 hat sich in seiner Grazer Antrittsvorlesung 1970 mit dem Thema ,Gottwerdung und Revolution'3 beschäftigt. Nach Topitsch haben sowohl die Jungrevolutionäre als auch die greisen Mentoren nur eine sehr geringe Anzahl von Motiven und Modellvorstellungen, die mit den gefühlsgesättigten Gegebenheiten des menschlichen Lebens zusammenhängen. Mit erstaunlicher Beständigkeit sind diese utopischen Modelle wirksam geblieben, obwohl sie im Zuge der wissenschaftlichen Revolution der Kritik unterworfen wurden und ferner alle Realisierungsversuche scheiterten. Trotz dieser Mißerfolge wurden und werden solche Modelle einer vollkommenen Gesellschaftsordnung auch in Zukunft entworfen werden;4 denn sie bieten "Verhaltenssicherheit und Entlastung vom Druck der Realität. Diese Bedürfnisse bleiben unter den verschiedensten sozialen Bedingungen weitgehend konstant, und jene Gedankengebilde lassen sich wechselnden gesellschaftlichen Ordnungen und Ansprüchen ohne sonderliche Schwierigkeiten anpassen, sie befriedigen die bravsten Frommgläubigen nicht minder als die wildesten Revolutionäre" (S. 16f.). 1 Siehe hierzu die Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Beschlusses des Deutschen Bundestages zum Bericht der Enquete-Kommission, Chancen und Risiken der Gentechnologie', Drucksache 11/8520 vom 5. Dezember 1990. 2 Ernst Topitsch: Gottwerdung und Revolution Beiträge zur Weltanschauungsanalyse und Ideologiekritik, UTB 288, Pullach bei München 1973. 3 Derselbe: Gottwerdung und Revolution, S. 16-38 (die Seitenangabe erfolgt im Text). 4 Nach dem gescheiterten Experiment des Sozialismus bzw. Kommunismus wird von den Anhängern dieser Ideologie und der darin enthaltenen Utopie die Ansicht vertreten, daß die theoretische Konzeption richtig war und richtig bleibt, daß lediglich die Ausführung falsch war. Beim nächsten Experiment will man die gemachten Fehler vermeiden und dann erfolgreich sein. Dieser Glaube an die Realisierungsfähigkeit ,beim nächsten Mal' gilt für alle Utopien.

7. Kap.: Können oder sollen Sozialutopien verwirklicht werden?

511

Das Tier ist ein leidunterworfenes und todgeweihtes Wesen, der Mensch ist es auch, aber er weiß es, daher macht sich der Mensch Gedanken über Gott und sein Verhältnis zu ihm. Zwar wäre es blasphemisch, Gott werden zu wollen, dagegen ist es ein höchstes Ziel, "den Weg zu weisen, auf dem der Mensch zu Gott emporsteigen, ihm ähnlich werden und zuletzt sogar mit ihm verschmelzen kann" (S. 18). Thomas Müntzer und in noch stärkerem Maße die Wiedertäufer in Münster haben dieses angestrebt oder zumindest für sich in Anspruch genommen. Hierbei geht es immer um die Veränderung oder Verwandlung der unvollkommenen Welt in eine vollkommene (neue) Ordnung, in der die irdischen Übel nicht mehr auftreten. Unterstellt, dieses wäre in der Vergangenheit bereits gelungen oder könnte in Zukunft gelingen - könnte der ,real existierende' (nicht der ,neue') Mensch glücklicher, zufriedener oder gar ,göttlicher' werden? Oder anders gefragt: Ist es überhaupt wünschenswert, daß die sozialutopischen Vorstellungen und Ideale realisiert werden? Karl Marx hat ein Leben lang für die Freiheit des Menschen von Egoismus gekämpft, gegen die bürgerliche Gesellschaft, die den egoistischen Menschen produziert. "Wie eine morsche Rinde fallt der Egoismus beim Werden des neuen Menschen von diesem ab. Er darf und kann nichts mehr wissen von Liebe oder Haß. Er ist nicht gütig und nicht zornig. Er irrt sich nie und verfehlt sich nie. Er ist ausschließlich gesellschaftlich. De facto wäre dieser neue Mensch, wenn es ihn je gäbe, eine schemenhafte Verkümmerung des Menschen .... Dazu ein Wesen, demjede Emotionalität abgeht, das sich nur an der ,Gesellschaft' orientieren kann und darf und daher seine Einmaligkeit der Personalität verloren hat. Ein Abstraktum". 5 Sigmund Freud 6 hat festgestellt, daß die Fähigkeit des Menschen, Glücksmöglichkeiten zu ertragen, beschränkt ist, dagegen bereitet es dem Menschen weniger Schwierigkeiten, Unglück zu erfahren und Leid zu ertragen. 7 Wenn aber der Mensch so strukturiert ist, könnte er dann in einer realisierten Sozialutopie - wie zum Beispiel der klassenlosen Gesellschaft - glücklich sein? Treffend hat Topitsch am Ende seiner Grazer Antrittsvorlesung hierauf in Frageform geantwortet: "Ist nicht der Kampf mit jenem Druck, den wir nie völlig gewinnen können und der daher unsere Phantasie zu den mannigfaltigsten illusionären Kompensationen anfeuert, für Lebewesen mit unseren spezifischen psychophysischen Anlagen unentbehrlich? Wäre also der Wegfall der Versagungen nicht vielleicht die schlimmste Versagung? Und wenn 5 Walther Bienert: Kar! Marx' Zukunftsreich des Kommunismus der Freiheit, in: Joachim H. Knoll/Julius H. Schoeps (Herausgeber): Von Kommenden Zeiten - Geschichtsprophetien im 19. und 20. Jahrhundert, Studien zur Geistesgeschichte, Bd. 4, Stuttgart-Bonn 1984, S. 60-83, zitiert S. 73. 6 Sigmund Freud: Das Unbehagen in der Kultur, Wien 1930. 1 Ebenda, S. 25.

512

7. Kap.: Können oder sollen Sozialutopien verwirklicht werden?

der Mensch schließlich Gott würde - was hätte er davon?"8 Wir fügen hinzu: Wenn die Sozialutopie Realität würde, was hätten wir davon? Könnte der ,real existierende' Mensch sie überhaupt ertragen? An Robert Owen läßt sich exemplifizieren, was der Mensch erreichen kann und was ihm nicht gelingen kann und auch letztlich nicht gelingen darf: Als Unternehmer hat Owen erfolgreich betriebliche Sozialpolitik betrieben, die Arbeitszeit verkürzt, die Kinderarbeit abgeschafft, die Hygiene verbessert usw. Durch diese Maßnahmen hat er den Druck der Realität gemildert und die Lebenslage seiner Arbeiter verbessert und zugleich die Produktivität des Unternehmens erhöht. Als er jedoch den Versuch unternahm, die erfolgreiche Sozialpolitik auf Siedlungen in den Vereinigten Staaten zu übertragen, scheiterten diese Versuche. Sie mußten scheitern, weil auch eine erfolgreiche Sozialpolitik noch nicht einen ,neuen Menschen' schafft und der ,alte Mensch' nur mit barbarischen Mitteln gezwungen werden kann, in einer solchen utopischen Ordnung zu leben. Sollte aber entgegen allen bisherigen Erfahrungen die Verwirklichung des utopischen Ideals ohne diktatorischen Zwang gelingen, dann wäre er auch nicht glücklich, da seine Fähigkeit, Glücksmöglichkeiten zu ertragen, begrenzt ist. Wenn der Mensch schließlich eine Sozialutopie verwirklichen würde was hätte er davon?

8

Topitsch, S. 38.

Nachwort Ein geistesgeschichtlicher Überblick über die Sozialutopien und ihre barbarischen Glücksverheißungen ist von vornherein dazu verurteilt, unvollkommen zu sein. Dieser Problematik waren wir uns stets bewußt. Wenn es uns dennoch gelungen sein sollte, das barbarische Element der SoziaIutopien herauszuarbeiten, dann nehmen wir diese Unvollkommenheit in Kauf. Eine solche Untersuchung wäre ohne zahlreiche Förderungen und Unterstützungen nicht möglich gewesen. Es gilt daher Dank zu sagen: Anstoß für diese Untersuchung hat ein Vortrag bei der FLÜWO, der Gemeinnützigen (Flüchtlings-)Baugenossenschaft in Stuttgart anläßlich ihres Firmenjubiläums gegeben. Nicht nur, daß die FLÜWO Interesse für dieses Thema bekundete, sie hat auch die Drucklegung finanziell unterstützt. Der Verlag Duncker & Humblot in Berlin hat die Herausgabe dieser Arbeit übernommen. Auch bei dieser Gelegenheit gilt mein Dank der Verlagsleitung und deren Mitarbeitern für die gute Zusammenarbeit und die Aufnahme in die Philosophische Reihe. Bevor ein Werk gedruckt und der Öffentlichkeit übergeben werden kann, muß es erarbeitet werden. Hierzu gehören die Literaturbeschaffung und vor allen Dingen die Übertragung des handgeschriebenen Konzeptes in die Reinschrift und nicht selten abermalige Änderungen und Korrekturen. Mit großer Geduld und Ausdauer hat sich dieser nicht immer dankbaren Aufgabe Frau Anita Vogelsang unterzogen. Auch an dieser Stelle sei ihr hierfür gedankt. Mein besonderer Dank gilt Frau Oberstudienrätin Anna Herzog, die die undankbare Aufgabe übernahm, den Umbruch zu korrigieren. Alle verbliebenen Fehler gehen zu meinen Lasten. Eine sich über drei Jahre hinziehende Arbeit ist ohne persönliche Opfer nicht möglich. Dies gilt nicht nur für den Autor selbst, sondern gleichermaßen für den Partner. Daher gilt der Dank meiner Frau dafür, daß sie zwar berechtigte Zweifel an den barbarischen Glücksverheißungen der Sozialutopien äußerte, aber ihnen doch eine ,Überlebenschance' bot. Dem Autor verbleibt nur noch der Wunsch, daß diese Untersuchung dazu beitragen möge, daß man auch in Zukunft danach strebt, unsere unvollkommene menschliche Ordnung zu verbessern, nicht aber den Versuch unternehmen sollte, ein Ideal zu verwirklichen, das in der Barbarei endet.

33 Jenki,

Literaturverzeichnis Adler, Max: Neue Menschen - Gedanken über sozialistische Erziehung, 2. Aufl., Berlin 1930 - Die Staatsauffassung des Marxismus - Ein Beitrag zur Unterscheidung von soziologischer und juristischer Methode, reprographischer Nachdruck der Ausgabe Wien 1922, Darmstadt 1973 Adorno, Theodor W. (Hrsg.): Theorie der vier Bewegungen, eingeleitet von E. Lenk, Frankfurt 1966 Ahrbeck, Rosemarie: Frühe Utopisten: Morus - Campanella - Bacon, LeipzigJena-Berlin 1977 (Lizenzausgabe Köln 1977) Aigner, G.: Der Jesuitenstaat in Paraguay und seine Wirtschaft (Dissertation), Wien 1959 Albrecht, Gerhard: Produktivgenossenschaften, in: Bundesjustizministerium (Hrsg.): Zur Reform des Genossenschaftsgesetzes - Referate und Abhandlungen, Bd. 3, Bonn 1959 Althaus, Heinz (Herausgeber): Apokalytik und Eschatologie - Sinn und Ziel der Geschichte, Freiburg-Basel-Wien 1987 . Althaus, P. / Heckei, J.: "Zwei-Reiche-Lehre", in: Brunotte / Weber (Hrsg.): Evangelisches Kirchenlexikon, Band III, Sp. 1927-47, Göttingen 1962 Andreae, Johann Valentin: Christianopolis, aus dem Lateinischen übersetzt von W. Biesterfeld, Reclam Universalbibliothek Nr. 9786, Stuttgart 1975 Autorenkollektiv: Geschichte der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, aus dem Russischen übersetzt, 4. Auflage, Ost-Berlin 1977 Bacon, Francis: Neu-Atlantis, übersetzt von Günther Bugge, Reclam Universalbibliothek Nr. 6645, Stuttgart 1982 Barret, Pierre / Gurgand, Jean-Noel: Der König der letzten Tage - Die grauenvolle und exemplarische Geschichte der Wiedertäufer zu Münster 1534-1535, Hamburg 1982 Barthes, Roldand: Sade-Fourier-Loyola, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 585, Frankfurt 1986 Bastian, Till: Von der Eugenik zur Euthanasie - Ein verdrängtes Kapitel aus der Geschichte der deutschen Psychiatrie, Bad Wörishofen 1981 Baumeister, Rainer: Die Konzeption der Zukunftsgesellschaft bei Karl Marx, Friedrich Engels und bei anderen westeuropäischen Marxisten - Eine ordnungspolitische Analyse, Untersuchungen des Instituts für Wirtschaftspolitik an der Universität zu Köln, Bd. 34, Köln 1976 Becher, Walter: Der Blick aufs Ganze - Das Weltbild Othmar Spanns, München 1985

Literaturverzeichnis

515

Becker-Donner, Etta: Jesuitenreduktionen im Gebiet des Gran Chaco, in: Forschungs- und Sitzungs berichte der Akademie für Raumforschung und Landesplanung, Heft 4, Hannover 1963 Behrens, Beate: "Nach bemerkungen" zu Francis Bacons Neu-Atlantis, in: Beate Behrens (Hrsg.): Philosophiehistorische Texte, 2. Aufl., Ost-Berlin 1984 Bellamy, Eward: Im Jahre 2000 - Ein Rückblick auf das Jahr 1887, Halle a. d. Saale 1891 (Leipzig 1965) Bensing, Manfred: Thomas Müntzer, 4. Auflage, Leipzig 1989 Berglow, Peter: Die Stunde des Thomas Morus - Einer gegen die Macht, OltenFreiburg i. Br. 1978 Bergmann, Ernst: Erkenntnisgeist und Muttergeist - Eine Soziosophie der Geschlechter, Breslau 1932 Bergner, Dieter: Bürgerliche Gesellschaftstheorien - Studien zu den weltanschaulichen Grundlagen und ideologischen Funktionen bürgerlicher Gesellschaftsauffassung, Ost-Berlin 1976 Bessmertny, Alexander: Das Atlantisrätsel- Geschichte und Erklärung der Atlantishypothesen, Leipzig 1932 Bienert, Walter: Der überholte Marx - Seine Religionskritik und Weltanschauung kritisch untersucht, 2. Aufl., Stuttgart 1974 Karl Marx' Zukunftsreich des Kommunismus und der Freiheit, in: Joachim H. Knoll/Julius H. Schoeps: Von kommenden Zeiten - Geschichtsprophetien im 19. und 20. Jahrhundert, Studien zur Geistesgeschichte, Bd. 4, Stuttgart-Bonn 1984 Biester/eid, W. (Hrsg.): Kommentar und Nachwort zu Andreaes Christianopolis, Reclams Universitätsbibliothek Nr. 9786, Stuttgart 1975 Binding, KarilHoche, Alfred: Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens - Ihr Maß und Form, 2. Aufl., Leipzig 1922 Bloch, Ernst: Freiheit und Ordnung - Abriß der Sozial-Utopien, Berlin 1947 - Thomas Müntzer als Theologe und Revolutionär, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 551, Frankfurt/Main 1969 Böcher. Otto: Die Johannesapokalypse, in: Erträge der Forschung, Bd. 41, 3. Auflage, Darmstadt 1988 Brandenburg, A. 1 Meyer, A.: Materialien zum Verständnis von Cabet, Berlin 1979 Brendler, Gerhard: Thomas Müntzer - Geist und Faust, Ost-Berlin 1989 Martin Luther: Theologie und Revolution - Eine marxistische Darstellung (OstBerlin), Lizenzausgabe Köln 1983 Das Täuferreich zu Münster 1534/35, Leipziger Übersetzungen und Abhandlungen zum Mittelalter, Bd. 2, Ost-Berlin 1966 Bromberger, BarbaralMausbach, Hans: Feinde des Lebens - NS-Verbrechen an Kindern, Kleine Bibliothek, Bd. 407, Köln 1982 Brück, Anton Th. (Hrsg.): Neues Organ der Wissenschaften, Nachdruck der Ausgabe von 1830, Darmstadt 1981 Buber, Martin: Pfade in Utopia - Über Gemeinschaft und deren Verwirklichung, mit einem Nachwort von Abraham Schapira (Hrsg.), 3. Aufl. (Lizenzausgabe), Darmstadt 1985 33"

516

Literaturverzeichnis

Buhr, Manfred/Klaus, Georg (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch, 8.Aufl., OstBerlin 1972, Bd. I, Stichwort ,Humanismus' Cabet, Etienne: Reise nach Ikarien, 1847 (0.0.), Nachdruck BerJin-West 1979 Campanella, Tommaso: Sonnenstaat, in: Heinisch, K. J. (Hrsg.): Der utopische Staat: Morus: Utopia; Campanella: Sonnenstaat; Bacon: Neu-Atlantis; Rowohlts Klassiker der Literatur und Wissenschaft, Reinbek bei Hamburg 1987 Der Sonnenstaat, in: Adami, Tobias (Hrsg.): Realis Philosophiae epilogisticae, 3. Teil, Frankfurt 1623 Der Sonnenstaat - Idee eines philosophischen Gemeinwesens, Sowjetische Akademie-Ausgabe, Moskau-Leningrad 1947, deutsche Ausgabe Ost-Berlin 1955 Chamberlain, Houston Stewart: Die Grundlagen des neunzehnten Jahrhunderts, 2 Bde., 20. Aufl., München 1935 Chambers, R. W.: Thomas More, London 1935 (deutsche Fassung: Thomas More, ein Staatsmann Heinrich VIII., München-Kempten 1946) de Charlevoix, E: Geschichte von Paraguay und den Missionen der Gesellschaft Jesu in diesen Ländern, zwei Bände, Wien 1830 Cohn, Norman: Das Ringen um das Tausendjährige Reich - Revolutionärer Messianismus und sein Fortleben in den modernen totalitären Bewegungen, BernMünchen 1961 Conrad-Martius, Hedwig: Utopie der Menschenzüchtung - Der Sozialdarwinismus und seine Folgen, München 1955 von Crousaz, V.: Tugan-Baranowsky, Michail Iwanowitsch, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. X, S. 421-422, Stuttgart-Tübingen-Göttingen 1959 Cyrano de Bergerac: Die Reise zu den Mondstaaten und Sonnenreichen, herausgegeben von Hand Eckart Rübesam, München 1962 Dahrendorj, Rolf: Pfade aus Utopia - Zu einer Neuorientierung der soziologischen Analyse, in: Dahrendorf (Hrsg.): Pfade aus Utopia - Zur Theorie und Methode der Soziologie, Serie Piper, Bd. 101,2. Auflage, München-Zürich 1986 Digby, Margaret: Das Genossenschaftswesen in Großbritannien, in: Veröffentlichungen der deutschen Genossenschaftskasse, Bd. 9, Frankfurt (0. J.) Doren, Alfred: Wunschträume und Wunschzeiten, in: Neusüss (Hrsg.): Utopie Begriff und Phänomen des Utopischen, 3. Aufl., Frankfurt-New York 1986 Draheim, Georg: Die Genossenschaft als Unternehmungstyp, 2. Aufl., Göttingen 1955 Dzierzynska, Zofia: Jahre großer Kämpfe, Ost-BerJin 1977 van Dülmen, Richard: Reformation als Revolution - Soziale Bewegungen und religiöser Radikalismus in der deutschen Reformation, Fischer Taschenbuch 4366, neubearb. Aufl., Frankfurt 1987 Ebert, Klaus: Thomas Müntzer - Vom Eigensinn und Widerspruch, Frankfurt 1987 Elster, A1exander: Artikel ,Eugenik und Eubiotek' , in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. III, S. 891-911,4. Aufl., Stuttgart 1926 Engels, Friedrich: Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, in: Bücherei des Marxismus-Leninismus, 24. Aufl., Ost-Berlin 1988

Literaturverzeichnis

517

Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft, in: Karl Marx/ Friedrich Engels: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Bd. V, S. 401-477, Ost-Berlin 1989 Zur Wohnungsfrage, Ost-Berlin 1988 Grundsätze des Kommunismus, in: Karl Marx / Friedrich Engels: Ausgewählte Werke in sechs Bänden, Bd. I, S. 333-355, Ost-Berlin 1989 - Der deutsche Bauernkrieg, . München (0. J.). Endres, H. M.: Einleitung zur deutschen Übersetzung von Thomas Morus' Utopia, Goldmanns gelbe Taschenbücher, Bd. 662, München 1960 Essler, Wilhelm E.: Wissenschaftstheorie I - Definition und Reduktion, Kolleg Philosophie, Freiburg-München 1970 Euchner, Walter (Herausgeber): Klassiker des Sozialismus, Bd. 1: Von Babeuf bis Plechanow; Bd. 2: Von Jaures bis Marcuse, München 1991 Faßbinder, Maria: Der Jesuitenstaat in Paraguay, Halle 1926 Fast, Heinold (Hrsg.): Der linke Flügel der Reformation - Glaubenszeugnisse der Täufer, Spiritualisten, Schwärmer und Antitrinitarier, Bremen 1962 Faust, Helmut: Geschichte der Genossenschaftsbewegung - Ursprung und Aufbruch der Genossenschaftsbewegung in England, Frankreich und Deutschland sowie ihre weitere Entwicklung im deutschen Sprachraum, 3. Aufl., Frankfurt 1977 Feliks Dzierzynski - Biographie, Ost-Berlin 1980 Fest, Joachim: Der zerstörte Traum - Vom Ende des utopischen Zeitalters, 3. Aufl., Berlin 1991 Fetscher, Iring: Karl Marx und Marxismus - Von der Philosophie des Proletariats zur proletarischen Weltanschauung, Piper Paperback, München 1967 - Der Marxismus - Seine Geschichte in Dokumenten, 2. Aufl., München 1973 Fischer, Curt Th. (Hrsg.): Diodori Bibliotheca Historica, 5 Bände, 3. Aufl., Leipzig 1888-1906, Nachdruck Stuttgart 1964 Fischer, H.-J.: Auf der Suche nach der realen Utopie - Erinnerung an den "JesuitenStaat" in Paraguay, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 30. Mai 1987 Flechtheim, Ossip: Utopie und Gegenutopie, in: Bernsdorf, W. (Hrsg.): Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1969 Fleischer, Helmut: Marx und Engels - Die philosphischen Grundlinien ihres Denkens, 2. Aufl., Freiburg-München 1974 Fossati, Ewaldo: Campanella, Tommaso, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. 11, Stuttgart-Tübingen-Göttingen 1959 Franz, Dietrich-E.: Saint-Simon - Fourier - Owen, Jena-Ost-Berlin, Lizenzausgabe Köln 1988 Frei, Bruno: Zur Kritik der Sozialutopie, Reihe Fischer, Frankfurt 1973 Freud, Sigmund: Das Unbehagen in der Kultur, Wien 1930 Freyer, Hans: Die politische Insel- Eine Geschichte der Utopien von Platon bis zur Gegenwart, Leipzig 1936 Fromm, Erich: Das Menschenbild bei Marx, Ullstein Sachbuch 34487, FrankfurtBerlin 1988

518

Literaturverzeichnis

Gegenschatz, Ernst: Platons Atlantis, Zürcher Dissertation, Zürich 1943 Gide, Charles / Rist, Charles: Geschichte der volkswirtschaftlichen Lehrmeinungen, herausgegeben von Franz Oppenheimer, 2. Aufl., Jena 1921 Geierhos, Wolfgang: Geschichte der Sowjetunion, Kröners Taschenausgabe, Bd. 394, 7. Aufl., Stuttgart 1987 Gobineau, Arthur Graf: Versuch über die Ungleichheit der Menschenrassen, deutsche Ausgabe von Ludwig Schemann, 4 Bde., 5. Aufl., Stuttgart 1939-1940 Goeter, J. E G.: "Wiedertäufer", in: Brunotte / Weber (Hrsg.): Evangelisches Kirchenlexikon, Bd. III, Sp. 1812-1815,2. Auflage, Göttingen 1962 Gothein, Eberhard: Der christlich-soziale Staat der Jesuiten in Paraguay (erstmalig 1883 erschienen), in der Ausgabe E. Gothein: Reformation und Gegenreformation, 11, herausgeg. von E. Salin, 1924 Gottschalck, W. / Karrenberg, E / Stegmann, E J.: Geschichte der sozialen Ideen in Deutschland, in: Grebing, He\ga (Hrsg.): Deutsches Handbuch der Politik, Bd. 3, München-Wien 1969 Greer, Johann Sebastian: Der Jesuitenstaat in Paraguay - Staats- und Wirtschaftsform und Entwicklungsgeschichte, Nürnberger Beiträge zu den Wirtschaftswissenschaften, Heft 16, Nürnberg 1928 Grün, K. T. E: Die soziale Bewegung in Frankreich und Belgien, Paris 1845 (Nachdruck Hildesheim 1974) Grün/eid, Ernst: Das Genossenschaftswesen, volkswirtschaftlich und soziologisch betrachtet, Halberstadt 1928 Grundmann, S.: "Zwei-Reiche-Lehre", in: Kunst / Herzog / Schneemelcher (Hrsg.): Evangelisches Staatslexikon, Sp. 2992-3003,2. Aufl., Stuttgart 1975 Günther, Hans E K.: Rassenkunde des deutschen Volkes, 8. Aufl., München 1925 - Kleine Rassenkunde des deutschen Volkes, 3. Aufl., München 1933 Hase, Hans Christoph (Herausgeber): Evangelische Dokumente zur Ermordung ,unheilbar Kranken' unter nationalsozialistischer Herrschaft 1939-1945, Stuttgart 1964 Hauck, R.: "Sozialismus I Kommunismus", in: Redaktionskollektiv (Hrsg.), Lexikon der Wirtschaft, Band "Arbeit, Bildung, Soziales", S. 818-820, Ost-Berlin 1982 Heinisch, Klaus-J. (Hrsg.): Der utopische Staat - Morus: Utopia; Campanella: Sonnenstaat; Bacon: Neu-Atlantis, Rowohlts Klassiker der Literatur und Wissenschaft, Bd. 3, Reinbek bei Hamburg 1987 Heinrich, Hans P.: Thomas Morus, Rowohlts Monographien, Bd. 331, Reinbek bei Hamburg 1987 Heiss, Robert: Utopie und Revolution - Ein Beitrag zur Geschichte des fortschrittlichen Denkens, Serie Piper, Bd. 52, München 1973 Herkner, Heinrich: Owen, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. VI, S. 778-783,4. Aufl., Jena 1925 Hesse, E: "Zion", in: Brunotte / Weber (Hrsg.), Evangelisches Kirchenlexikon, Bd. III, Sp. 1909-1910,2. Auflage, Göttingen 1962 Hesse, E / Siedenschnur, G.: "Apokalyptik", in: Brunotte / Weber (Hrsg.), Evangelisches Kirchenlexikon, Bd. I, Sp. 1152-1159, Göttingen 1956

Literaturverzeichnis

519

Hildebrandt, Kurt: Einleitung zu Platon - Der Staat, Kröners Taschenausgabe, Bd. 111, Stuttgart 1949 Hinrichs, Carl: Luther und Müntzer - Ihre Auseinandersetzung über Obrigkeit und Widerstandsrecht, 2. Aufl., Berlin 1962 Hirsch, Helmut: Friedrich Engels - mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Rowohlts Monographien, Bd. 142,41.-43. Tausend, Reinbek 1986 Hitler, Adolf: Mein Kampf, zwei Bände in einem Band (Dünndruckausgabe), München 1940 Hoche, Alfred Erich: Jahresringe - Innenansichten eines Menschenlebens, München 1934 Höhne, E.: "Gog und Magog", in: Brunotte / Weber (Hrsg.), 'Evangelisches Kirchenlexikon, Bd. I, Sp. 1627-1628,2. Aufl., Göttingen 1962 Höppner, J. / Seidel-Höppner, W.: Von Babeuf bis Blanqui, Bd. I, Leipzig 1975 Hoffmann, Ernst: Platon - Eine Einführung in seine Philosophieren, Rowohlts deutsche Enzyklopädie, Bd. 142, Reinbek bei Hamburg 1961 Honigsheim, Paul: Weber, Max: in Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. XI, Stuttgart-Tübingen-Göttingen 1961 Horkheimer, Max: Anfänge der bürgerlichen Geschichtsphilosophie, Stuttgart 1930, in: Neusüss (Hrsg.): Utopie - Begriff und Phänomen des Utopischen, 3. Aufl., Frankfurt-New York 1986 Hoßbach, Wilhelm: Johann Valentin Andreae und sein Zeitalter, Berlin 1819, Neudruck Leipzig 1978 Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der SED (Herausgeber): Geschichte der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Bd. I: Von den Anfängen bis 1917, Ost-Berlin 1988 Jäckel, Eberhard: Experirrientum rationis. Christentum und Heldentum in der Utopie des Thomas Morus (Dissertation), Freiburg 1955 - Nachwort und Bibliographie zu Thomas Morus' Utopia, Reclam Universalbibliothek Nr. 513 (2), Stuttgart 1983 - Hitlers Weltanschauung, überarbeitete Neuausgabe, Stuttgart 1981 Jehmlich, Rainer: Science Fiction, Erträge der Forschung, Bd. 139, Darmstadt 1980 Johnson, Christopher H.: Etienne Cabet und das Problem des Klassenantagonismus, in: Hahn; M. (Hrsg.): Vormarxistischer Sozialismus, Frankfurt 1974 Jung, Edgar, J.: Die Herrschaft der Minderwertigen - Ihr Zerfall und ihre Ablösung, Berlin 1927 Kahn, Herman / Wiener, Anthony J.: Ihr werdet es erleben - Voraussagen der Wissenschaft bis zum Jahre 2000, rororo 6677-6679, Reinbek bei Hamburg 1971 Kamlah, Wilhelm: Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie - Kritische Untersuchungen zum Ursprung und zum futuristischen Denken der Neuzeit, Mannheim 1969 Kammer, Hilde/Bartsch, Elisabet: Jugendlexikon Nationalsozialismus - Begriffe aus der Zeit der Gewaltherrschaft 1933-1945, Reinbek bei Hamburg 1989

520

Literaturverzeichnis

Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft, herausgegeben von Ingeborg Heidemann, Reclam Universalbibliothek, Bd. 6461 (9), Stuttgart 1985 Kautsky, Karl: Vorläufer des neue ren Sozialismus, herausgeg. und mit einem Nachwort versehen von Hans-Jürgen Mende, Berlin 1991 - Thomas Morus und seine Utopie, unveränderter Nachdruck der 3. Aufl. von 1913, Berlin 1947 Kehnscherper, Günther: Auf der Suche nach Atlantis, Moewig, Bd. 3412, Rastatt 1989 (Lizenzausgabe des Urania Verlages, Leipzig 1978) Klaus, Georg/Buhr, Manfred: Philosophisches Wörterbuch, Bd. I, Stichwort ,Humanismus', 8. Aufl., Ost-Berlin 1972 Klee, Ernst: Dokumente zur ,Euthanasie', Fischer-Taschenbuch 4327, Frankfurt 1985 - ,Euthanasie' im NS-Staat - Die ,Vernichtung lebensunwerten Lebens', Frankfurt 1983 (Taschenbuchausgabe: Fischer-Taschenbuch 4326, Frankfurt 1989) Klein, Jürgen: Nachwort zu Francis Bacons' Neu-Antlantis, Reclam Universalbibliothek Nr. 6645, Stuttgart 1982 Kleinwächter, Friedrich: Die Staatsromane - Ein Beitrag zur Lehre von Communismus und Sozialismus, Wien 1891 (Reprint Amsterdam 1967) Koch, Klaus / Schmidt, Johann Michael: Apokalyptik, Wege der Forschung, Band CCCLXV, Darmstadt 1982 Korsch, Karl: Karl Marx, Im Auftrag des Internationalen Instituts, herausgg. von Götz Langkau, 2. Aufl., Frankfurt 1960 Kremers, H. / Prenter, R.: Eschatologie, in: Brunotte / Weber (Hrsg.), Evangelisches Kirchenlexikon, Bd. I, Sp. 1152-1159, Göttingen 1956 Kruse, Alfred: Bastiat, Frederic, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. I, S. 644-646, Stuttgart-Tübingen-Göttingen 1956 Kvacala, Johann:" Thomas Campanella - Ein Reformer der ausgehenden Renaissance, Aalen 1973 (Neudruck der Ausgabe Berlin 1909) Lajargue, Paul: Die Niederlassungen der Jesuiten in Paraguay. Die Geschichte des Sozialismus in Einzeldarstellungen, Bd. I, Teilabschnitt 6, Stuttgart 1895 Lasky, Melvin J.: Utopie und Revolution - Über die Ursprünge einer Metapher oder Eine Geschichte des politischen Temperaments, Reinbek bei Hamburg 1989 Lichtheim, George: Ursprünge des Sozialismus, Gütersloh 1968 Liejmann, Robert: Die kommunistischen Gemeinden in Nordamerika, Jena 1922 Lilje, Hanns: Martin Luther mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, Rowohlts Monographien, Bd. 88, Reinbek bei Hamburg 1965, Ausgabe 1988 List, Günter: Chiliastische Utopie und radikale Reformation - Die Erneuerung der Idee vom tausendjährigen Reich im 16. Jahrhundert, München 1973 Lütge, Friedrich: Morus, Thomas, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. VIII, Stuttgart-Tübingen-Göttingen 1961

Literaturverzeichnis

521

Luther, Martin: Ausgewählte Schriften, Stuttgart (0. J.) Manguel, Alberto / Guadalupi, Gianni: Von Atlantis bis Utopia - Ein Führer zu den imaginären Schauplätzen der Weltliteratur, Ullstein Sachbuch, 3 Bände, Frankfurt-Berlin-Wien 1984 Mannheim, Karl: Ideologie und Utopie, 7. Auflage, Frankfurt 1985 Manuel. Frank E. / Manuel. Fritzie P.: Utopian Thought in The Western World, third printing, Cambridge, Mass. 1982 Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch - Studie zur Ideologie der fortgeschrittenen Gesellschaft, Sammlung Luchterhand 4, 13. Auflage, DarmstadtNeuwied 1972 Martin, Gottfried: Platon mit Selbstzeugnissen und Bilddokumenten, in: Rowohlts Monographien, Bd. 150, Reinbek bei Hamburg 1969 Marx, Karl / Engels, Friedrich: Die Deutsche Ideologie, in: Bücherei des MarxismusLeninismus, Bd. 29, Ost-Berlin 1953 Medwedjew, S. A.: Der Fall Lyssenko - Eine Wissenschaft kapituliert, dtv Nr. 972, München 1971 Meitzel, Carl: Cabet, Etienne, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. IH, 2. Aufl., Jena 1909 Cabet, Etienne, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. In, 4. Aufl., Jena 1926 Campanella, Tommaso, in: Handwörterbuch der Staatswissenschaften, Bd. In, 4. Aufl., Jena 1926 Midell, Katharina und Matthias: Fran~ois Noel Babeuf - Märtyrer der Gleichheit, Ost-Berlin 1988 Mi/ler, Reinhold: Vom Werden des sozialistischen Menschen, Ost-Berlin 1960 Ministerium der Justiz der DDR (Hrsg.): Familiengesetzbuch sowie angrenzende Gesetze und Bestimmungen, Ost-Berlin 1989 Mocek, Reinhard: Bürgerliche Gesellschaftstheorien - Studien zu den weltanschaulichen Grundlagen und i~eologischen Funktionen bürgerlicher Gesellschaftsauffassung, Ost-Berlin 1976 Mörner, Magnus: The Political and Economic Activities ofthe Jesuits in the La Plata Region, Stockholm 1953 von Mohl, Robert: Staatsromane - Ein Beitrag zur Literaturgeschichte der Staatswissenschaften, in: Zeitschrift für die gesamte Staatswissenschaft, Bd. 2, 1845 - Geschichte der Literatur der Staatswissenschaften, 3 Bände, 1855-1858, Nachdruck Graz 1960 Molitor, Bruno: Vermögen 11: Vermögenspolitik, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaften, Bd. VIII, Stuttgart-New York-Tübingen-GöttingenZürich 1980 Morus, Thomas: Utopia, übersetzt von Gerhard Ritter, Nachwort von Eberhard Jäckel, Reclam-Universalbibliothek Nr. 513, Stuttgart 1983 Utopia - Eine Konstruktion des humanen Staates, ins Deutsche übertragen von H. M. Endres, Goldmanns gelbe Taschenbücher, Bd. 662, München 1960

522

Literaturverzeichnis

Muckermann, Hermann/Koch, Gerhard: Artikel ,Eugenik', in: Staatslexikon, 6. Aufl., Freiburg 1959, Bd. III, Sp. 61-66 Muckle, Friedrich: Die großen Sozialisten I: Owen - Fourier - Proudhon, 3. Aufl., Leipzig-Berlin 1919 Müller-Armack, Alfred: Genealogie der Wirtschaftsstile - Die geistesgeschichtlichen Ursprünge der Staats- und Wirtschaftsformen bis zum Ausgange des 18. Jahrhunderts, Stuttgart 1941 Müller-Römer, Dietrich: Die neue Verfassung der DDR - Mit einem einleitenden Kommentar von Dietrich Müller-Römer, Köln 1974 Mumjord, Lewis: The Story of Utopias - Ideal Commenwealths and Social Myths, London 1923 Nagl, Manfred: Science Fiction in Deutschland - Untersuchungen zur Genese, Soziographie und Ideologie der phantastischen Massenliteratur; Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Institutes der Universität Tübingen, Bd. 30, Tübingen 1972 Neusüss, Arnhelm (Hrsg.): Utopie - Begriffund Phänomen des Utopischen, 3. Aufl., Frankfurt-New York 1986 Nowak, Kurt: ,Euthanasie' und Sterilisierung im ,Dritten Reich' - Die Konfrontation der evangelischen und katholischen Kirche mit dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses und der ,Euthanasie'-Aktion, Göttingen 1980 Oberhauser, Alois: Finanzpolitik und private Vermögensbildung, Köln-Opladen 1963 Oppenheimer, Franz: Die Siedlungsgenossenschaft - Versuch einer positiven Überwindung des Kommunismus durch Lösung des Genossenschaftsproblems und der Agrarfrage, 3. Aufl., Jena 1922 Otruba, G.: Der Jesuitenstaat in Paraguay, Wien 1963 o. V.: "Hussiten", in: Brunotte / Weber (Hrsg.), Evangelisches Kirchenlexikon, Bd. 11, Sp. 219-221,2. Aufl., Göttingen 1962 o. V.: "Sozialismus und Kommunismus", in: G. Klaus / M. Buhr (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch, Bd. 11, S. 997-1008,8. Aufl., Ost-Berlin 1972 o. V.: "Bebouvismus", in: G. Klaus / M. Buhr (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch, Bd. 1,8. Aufl., Ost-Berlin 1972 o. V.: "Milieutheorie", in: G. Klaus / M. Buhr (Hrsg.): Philosophisches Wörterbuch, Bd. 1,8. Aufl., Ost-Berlin 1972 Pacholik, Udo: Einführung in Engel's Schrift "Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft (,Anti-Dühring')", 2. Aufl., Ost-Berlin 1988 Papadopoulos, S. A.: Das Johannes-Theologos-Kloster, Patmos 1987 Pauleikhoff, Bernherd: Ideologie und Mord Menschen', Hürtgenwald 1986

Euthanasie bei ,lebensunwerten

Peters, Hans-Rudolf: Politische Ökonomie des Marxismus - Anspruch und Wirklichkeit, Uni-Taschenbücher 1064, Göttingen 1980 Petrowski, F. A.: Campanella - Eine biographische Skizze, in: Thomas Campanella - Der Sonnenstaat, Sowjetische Akademie-Ausgabe, Moskau-Leningrad 1947, Deutsche Ausgabe Ost-Berlin 1955

Literaturverzeichnis

523

Peuckert, Will-Erich: Die große Wende, Nachdruck der Ausgabe von 1948, Bd. 1: Das apokalyptische Saeculum und Luther; Bd.2: Geistesgeschichte und Volkskunde, Darmstadt 1966 Pfingsten, J. H. (Hrsg.): Über die Würde und den Fortgang der Wissenschaften, Nachdruck Darmstadt 1966 Pfotenhauer, J.: Die Missionen der Jesuiten in Paraguay, 3 Teile, Gütersloh 1891, 1893 Platon: Sämtliche Werke, Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, herausgegeben von Otto I Grassi I Plamböck, 6 Bände, mit der Stephanus-Numerierung, Band 3 incl. Phaidon und Politeia, Band 6 incl. ,Gesetze' (Nomoi), Rowohlts Klassiker der Literatur und Wissenschaft, Hamburg 1959 Pohlenz, Max: Staatsgedanke und Staatslehre der Griechen, Leipzig 1923 Poliakov, Leon: Der arische Mythos - Zu den Quellen von Rassismus und Nationalismus, Wien-München-Zürich 1977 Preuß, Horst Dietrich (Hrsg.): Eschatologie im Alten Testament, Wege der Forschung, Bd. CDLXXX, Darmstadt 1978 Quabbe, Georg: Das letzte Reich - Wandel und Wesen der Utopie, Leipzig 1933 Ramm, Thilo (Hrsg.): Der Frühsozialismus - Ausgewählte Quellentexte, Kröners Taschenausgabe, Bd. 2234, Stuttgart 1956 - Die großen Sozialisten als Rechts- und Sozial philosophen, Stuttgart 1955 Ranke-Heinemann, Uta: Eunuchen für das Himmelreich - Katholische Kirche und Sexualität, Knaur Taschenbuch 4079, München 1990 von Rauch, Georg I Geierhos, Wolfgang: Die Geschichte der Sowjetunion, Kröners Taschenausgabe, Bd. 394,7. Aufl., Stuttgart 1987 Reck-Malleczewen, Fritz: Bockelson - Geschichte eines Massenwahns, 3. Aufl., Stuttgart 1968 Reichert, K.: Utopie und Staatsromane, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Bd. 39, 1965 Rickert, Heinrich: Zur Lehre von der Definition, 3. Auflage, Tübingen 1929 Riemann, Tord: Verfassung der Deutschen Demokratischen Republik - Dokumentte, Kommentar, 2 Bände, Ost-Berlin 1969 Ritschl, Hans: Die Kommune der Wiedertäufer in Münster - Ursachen und Wesen des täuferischen Kommunismus, Bonn-Leipzig 1923 Rosenberg, Alfred: Der Mythus des 20. Jahrhunderts - Eine Wertung der seelischgeistigen Gestaltenkämpfe unserer Zeit, 175-176. Aufl., München 1941 Saage, Richard: Politische Utopien der Neuzeit, Darmstadt 1991 Satin, Edgar: Platon und die griechische Utopie, München-Leipzig 1921 Salier K(arl): Die Rassenlehre des Nationalsozialismus in Wissenschaft und Praxis, Darmstadt 1961 Sandstede-Auzelle, Marie-Corentine/Sandstede, Gerd: Clemens August Graf von Galen - Bischof von Münster im Dritten Reich, Münster 1986 von Savigny, Eike: Grundkurs im wissenschaftlichen Definieren, dtv Wissenschaftliche Reihe, München 1970

524

Literaturverzeichnis

Schallmeyer, Wilhelm: Vererbung und Auslese als Faktoren zu Tüchtigkeit und Entartung der Völker, in: Flugschriften des Deutschen Monistenbundes, Heft 5, Brackwede i. W. 1907 Schelsky, Helmut: Die Arbeit tun die anderen - Klassenherrschaft und Priesterherrschaft der Intellektuellen, Opladen 1975 Schempp, Hermann: Gemeinschaftssiedlungen auf religiöser und weltanschaulicher Grundlage, Tübingen 1969 Schmidt, Burghardt: Utopie ist keine Literaturgattung, in: Ueding, Gert (Hrsg.): Literatur ist Utopie, Edition Suhrkamp 935, Frankfurt 1978 Schmidt, E: Der christlich-soziale Staat der Jesuiten in Paraguay in wirtschaftlicher und staatsrechtlicher Bedeutung, Mönchengladbach 1913 Schmidt, Gerhard: Selektion in der Heilanstalt 1939-1945, Stuttgart 1965 Scholtz, Harald: Evangelischer Utopismus bei Johann Valentin Andreae - Ein geistiges Vorspiel zum Pietismus, hrsg. von der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg, Bd. 42 (Göttinger Dissertation), Stuttgart 1957 Schröder, Winfried: Utopischer Sozialismus und Kommunismus, in: Buhr / Hahn / Reichelt / Ruben / Sandkühler/ Schröder / Steigerwald / Streisand / Träger (Hrsg.): Theoretische Quellen des wissenschaftlichen Sozialismus - Studien zur klassischen englischen Ökonomie, zum frühen Sozialismus und Kommunismus und zur klassischen bürgerlichen Philosophie, Fischer Athenäum Taschenbücher, Bd. 4062, Frankfurt 1975 Schüking, L. L. (Hrsg.): Essays, Stuttgart 1970 Schulte-Herbrüggen, Hubertus: Utopie und Anti-Utopie - Von der Strukturanalyse zur Strukturtypologie (Münsteraner Dissertation), Beiträge zur Englischen Philologie, Heft 43, Bochum-Langendreer 1960 Schutz, S.: Äonenlehre, in: Brunotte / Weber (Hrsg.), Evangelisches Kirchenlexikon, Bd. I, Sp. 157-158, Göttingen 1956 Schumpp, Mechthild: Stadt bau-Utopien und Gesellschaft - Der Bedeutungswandel utopischer Stadtmodelle unter sozialem Aspekt (Göttinger Dissertation 1970), Bauwelt Fundamente, Bd. 32, Gütersloh 1972 Schwonke, Martin: Vom Staatsroman zur Science Fiction - Eine Untersuchung über Geschichte und Funktion der naturwissenschaftlich-technsichen Utopie, Göttinger Abhandlungen zur Soziologie, Bd. 2, Stuttgart 1957 Science Fiction, in: Bernsdorf, W. (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, 2. Aufl., Stuttgart 1969 Seidel, Bruno: Fourier, CharIes, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. IV, S. 98 f., Stuttgart-Tübingen-Göttingen 1965 Seiften, Helmut: Marxismus und bürgerliche Wissenschaft, Beck'sche Schwarze Reihe, Bd. 75, 3. Aufl., München 1977 Servier, Jean: Der Traum von der großen Harmonie - Eine Geschichte der Utopie, in: List Taschenbücher der Wissenschaften - Politik, Bd. 1555, München 1971 Siebarth, Werner: Hitlers Wollen Reden, 9. Aufl., München 1941

Nach Kernsätzen aus seinen Schriften und

525

Literaturverzeichnis

Siedenschnur, G.: Chiliasmus, in: Brunotte / Weber (Hrsg.), Evangelisches Kirchenlexikon, Bd. I, Sp. 683-687, Göttingen 1956 Simon, Helene: Robert Owen - Sein Leben und seine Bedeutung für die Gegenwart, Jena 1905 Sinjawskij, Andrej: Der Traum vom neuen Menschen oder Die Sowjetzivilisation, deutsche Ausgabe, Frankfurt 1989 Smirin, M. M.: Die Volksreformation des Thomas Müntzer und der große Bauernkrieg, 1. Aufl., Ost-Berlin 1952,2. Aufl., Ost-Berlin 1956 Sombart, Werner: Die drei Nationalökonomien - Geschichte und System der Lehre von der Wirtschaft, München-Leipzig 1950 Spann, Othmar: Der wahre Staat - Vorlesungen über Abbruch und Neubau der Gesellschaft, 3. Aufl., Jena 1931 - Gesamtausgabe, Herausgeg. von W. Heinrich/H. RiehllR. Spann/F. A. Westphalen/U. Schöndörfer, 21 Bde., Graz 1963-1979 Steiniger, Herbert: Kapitalismus - Gesellschaft der ,ewigen Menschennatur'?, in: Einheit, Heft 11, 1989 Steinmetz, Max: Thomas Müntzers Weg nach Allstedt Frühentwicklung, Ost-Berlin 1988

Eine Studie zu seiner

Strathmann, H. / Goppelt, L.: Johannes, in: Brunotte / Weber (Hrsg.), Evangelisches Kirchenlexikon, Bd. I, Sp. 357-369, Göttingen 1956 Stüber, Erwin: Zur Entfaltung der Persönlichkeit im Kampf für den Sieg des Sozialismus, in: Einheit, Heft 1, 1961 Suessmuth, Hans: Studien zur Utopia des Thomas Morus, Münster 1967 Swoboda, Helmut (Hrsg.): Der Traum vom besten Staat - Texte aus Utopien von Platon bis Morris, dtv 2955, 3. Aufl., München 1987 Thalmann, Rita: Frau sein im Dritten Reich, Ullstein Buch 33081, Berlin 1987 Thielicke, Helmut: Mensch sein - Mensch werden Anthropologie, 2. Aufl., München-Zürich 1978

Entwurf einer christlichen

Thier, Erich: Das Menschenbild des jungen Marx, Göttingen 1957 Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft, 8. Aufl., Leipzig 1935 Toffler, Alvin: Der Zukunftsschock, Bern-München-Wien 1970 Topitsch, Ernst: Sprachlogische Probleme der sozialwissenschaftlichen Theoriebildung, in: E. Topitsch (Hrsg.): Logik der Sozialwissenschaften, Neue Wissenschaftliche Bibliothek, 6. Aufl., Köln-Berlin 1970

Gottwerdung und Revolution - Beiträge zur Weltanschauungsanalyse und Ideologiekritik, UTB 288, Pullach bei München 1973 Troeltsch, Ernst: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Erster Band der gesammelten Schriften, Tübingen 1912, Neudruck der gesammelten Schriften der Ausgabe 1922-1925 in vier Bänden 1977 Tugan-Baranowsky, Michael: Die kommunistischen Gemeinwesen der Neuzeit, Gotha 1921

526

Literaturverzeichnis

Ulbricht, Walter: Die Bedeutung und die Lebenskraft der Lehren von Kar! Marx für unsere Zeit, Ost-Berlin 1969 Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über die Umsetzung des Beschlusses des Deutschen Bundestages zum Bericht der EnqueteKommission ,Chancen und Risiken der Gentechnologie', Drucksache 1118520 vom 5. Dezember 1990 Verschuer, Otmar von: Artikel ,Eugenik', in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. III, S. 356-357, Stuttgart-Tübingen-Göttingen 1961 Villgradter, Rudolf / Krey, Friedrich: Der utopische Roman, Darmstadt 1973 Vogler, Günter: Thomas Müntzer, Ost-Berlin 1989 Voigt, Andreas: Die sozialen Utopien - Fünf Vorträge, Leipzig 1906 Voslensky, Michael S.: Nomenklatura - Die herrschende Klasse der Sowjetunion, Moewig Sachbuch Nr. 3143, 3. Aufl., Wien-Zürich-Innsbruck 1980 Voßkamp, Wilhe1m (Herausgeber): Utopieforschung - Interdisziplinäre Studien zur neuzeitlichen Utopie, 3 Bde., Suhrkamp Taschenbuch 1159, Frankfurt 1985 Wagner, Richard Robert: Robert Owen - Lebensroman eines Menschengläubigen, Zürich-New York 1942 Walther, J oachim (Hrsg.): Der Traum aller Träume - Utopien von Platon bis Morris, Berlin 1987, Lizenzausgabe Wiesbaden 1990 Weber, Max: Die protestantische Ethik I - Eine Aufsatzsammlung - Kritiken und Antikritiken, Gütersloher Taschenbücher/Siebenstern, Bd. 53, 6. Aufl., Gütersloh 1981 Wehr, Gerhard: Thomas Müntzer - Selbstzeugnisse und Bilddokumente, Rowohlts Monographien, Bd. 188, Reinbek bei Hamburg 1972 Weippert, Georg: Owen, Robert, in: Handwörterbuch der Sozialwissenschaften, Bd. VIII, S.142-145, Stuttgart-Tübingen-Göttingen 1964 Weiß, Ulrich: Bacon, in: Staatslexikon, Band I, 7. Auflage, Freiburg-Basel-Wien 1985 Wells, H. G.: Menschen, Göttern gleich, Ullstein Taschenbuch Nr. 20254, FrankfurtBerlin-Wien 1982 Wetter, Gustav A.: Der dialektische Materialismus - Seine Geschichte und sein System in der Sowjetunion, Freiburg 1952 Whitney, Charles: Francis Bacon - Die Begründung der Moderne, Fischer Philosophie, Bd. 6571, Frankfurt 1989 von Wilamowitz-Moellendorj, Ulrich: Platon, Bd. I, 3. Auflage, Berlin 1929 Willgerodt, H. / Bartei, K. / Schiller, U.: Vermögen für alle, Düsseldorf-Wien 1971 Winterhager, Friedrich: Bauernkriegsforschung, in: Erträge der Forschung, Bd. 157, Darmstadt 1981 Wolgin, W. P.: Campanellas kommunistische Utopie, in: Tommaso Campanella Der Sonnenstaat, Sowjetische Akademie-Ausgabe, Moskau-Leningrad 1947, deutsche Fassung: Ost-Berlin 1955 Wuckel, Dieter: Science Fiction - Eine illustrierte Literaturgeschichte, HildesheimZürich-New York 1986

Literaturverzeichnis

527

Zahn, Lola: Owen, Robert, in: Krause / Graupner / Sieber (Hrsg.): Ökonomielexikon, S. 405-409, Ost-Berlin 1989 Zelke, W.: »Zwickauer Propheten", in: Brunotte / Weber (Hrsg.), Evangelisches Kirchenlexikon, Bd. III, Sp. 1947-1948,2. Aufl., Göttingen 1962 Ziegenjuß, Werner: Wesen und Formen der Soziologie, in: Ziegenfuß, W. (Hrsg.): Handbuch der Soziologie, Stuttgart 1956 Zimmermann, Walter: Vererbung erworbener Eigenschaften und Auslese, 2. Aufl., Stuttgart 1969 Zimmermann, Wilhelm: Der große deutsche Bauernkrieg, Nachdruck der Volksausgabe von 1891, Ost-Berlin 1952, herausgegeben Düsseldorf 1990

Namenverzeichnis In das Namenverzeichnis sind die zitierten Utopisten wie Plato, Morus, Campanella, Andreae, Müntzer, Proudhon, Cabet usw. nicht aufgenommen worden. Desgleichen wurden die Sozialisten wie Engels, Marx und Lenin sowie die Nationalsozialisten wie Hitler nicht berücksichtigt. Adler, Max 394 ff. Adorno, Theodor W. 343 Aegidius, Petrus 99, 106, 121 Ahrbeck, Rosemarie 98 ff., 124 ff., 180 ff. Aigner, G. 295 Albrecht, Gerhard 351 Althaus, P. 55 f. Aristoteles 3 Arndt, lohann 155 f. Babeuf, Noel 29, 322 Barret, Pierre 240 ff., 255 ff. BarteI, Karl 352 Bartsch, Elisabet 484 ff., 498 Bastian, Till 505 Bastiat, Frederic 342 f. Baumeister 420 f. Becher, Walter 41 Becker-Donner, Etta 295 ff. Behrens, Beate 183 Bellamy, Edward 63, 392 Bensing, Manfred 214 Bergler, Peter 98 Bergmann, Ernst 480 ff. Bergner, Dieter 427 Berija, Lawrenti 448 Bernsdorf, Wilhelm 44, 59 Bessmertny, Alexander 178 Betzius, Anders 454 Bienert, Walter 425 f., 433, 510 Biesterfeld, Wolfgang 144 ff. Binding, Karl 491 ff. Blanc, Louis 322 Bloch, Ernst 25 ff., 67 ff., 214, 244f., 386, 389 Böcher, Otto 51 Böhm (Behme), Hans 205 ff. Boekbinder, Gerrit 248

Bohne, Gerhard 499 Boleyn, Anna 102 Bouhler, Philipp 499 Brandenburg, Alexander 359 ff. Brandt, Karl 499 Brendler, Gerhard 214, 237 f., 251,281 ff. Bromberger, Barbara 484 ff. Brück, Theobald 182 Brunotte, Heinz 47, 217 Buber, Martin 31 ff. Bucharin, Nikolai 430, 441 Bucher, Manfred 29, 277, 427 Buschius, Hermann 251 Chamberlain, Houston Stewart 460 ff., 466 f., 477 Chambers, Raymond Wilson 98 Chruschtschow, Nikita 437 ff., 442 ff., 448 ff. Claus, Ludwig Ferdinand 490 Cloester, Gerrit Thom 253 Cohn, Norman 290 ff. Colt, lane 98 Commenius, lohan Amos 130 Comte, Auguste 210 Conrad-Martius, Hedwig 473 ff., 482, 487 ff. Conti, Leonardo 488, 503 Cortes, Donoso 428 Cranmmer, Thomas 101 ff. Cromwell, Oliver 53 Dahrendorf, Ralf 15 ff., 31 f. d'Alais, Denis Vairasse 295 Dante, Alighieri 54 Darwin, Charles 474, 490 Denck, Hans 244 Diavara (Königin) 266 ff., 285

Namenverzeichnis Diehl, Guida 482 ff. Digby, Margret 339 Diodorus, Siculus 68 ff. Dion 79 ff. Dionysios I 77 Dionysios II 77 Dominik, Hans 60, 393 Doren, Alfred 52, 129 Draheim, Georg 351 Drechsel, Thomas 214 Dserschinskij, Felix 433 ff. van Dülmen, Richard 201 ff., 213, 222ff., 233,242 ff., 243 f., 255 ff., 280 ff., 286 Dusentschur, Johann 266 ff., 293 Ebert, Klaus 221 ff., 228 f. Eck, Hans 273 Eck, Johannes 216 von Ehrenfels, Christian 481 Eiche, Robert 445 f. Elster, Alexander 472 Enders, H. M. 98 Engels, Friedrich 234 Erasmus von Rotterdam 98 f., 109 Essler, Wilhelm K. 2, 20, 65 Ewald, Gottfried 503 Faßbinder, Maria 295 ff. Fast, Heinold 240 ff. Faulhaber, Kardinal 498 Faust, Helmut 325 ff., 332 ff., 340, 348 Fetscher, Iring 428 ff. Fischer, Jochen 504 Fisher, John 102 f. Flechtheim, Ossip K. 44 f. Fleischer, Helmut 394 Fossati, Ewaldo 124 Frei, Bruno VIII Frenssen, Gustav 482 Freud, Sigmund 491, 510 Frey, Friedrich 64 Freyer, Hans I, 8 ff., II ff., 185, 312, 318 f. Fritz, Jöß (Joß) 206 f. Fromm, Erich 432 von Galen, Clemens August Graf 504 ff. Gaiton, Francis 472 f. Gegenschatz, Ernst 177 ff. Geierhos, Wolfgang 278 f., 434 ff. Genz, Friedrich 328 Gernsbach, Hugo 58

529

von Gersen, Ottilie 215, 221 Gerstein, Kurt 506 Gide, Charles 339, 344, 350 f., 352 Gilles, Peter 106, 109 Glücks, Richard 505 Gobineau, Arthur Graf 456 ff., 477 Göring, Hermann 480 Goppeit, L. 51 Gothein, Eberhard 317 Gottschalck, Wilhelm 29 Graes, Heinrich 270 f. Grassi, Ernesto 83, 97, 169 Grebel, Konrad 243 Greer, Johann Sebastian 295 ff. Gresbeck, Heinrich 273 f. Grün, Karl 363 Grünfeld, Ernst 350 Grundmann, Siegfried 55 Goeters, J. F. G. 242 Guadalupi, Gianni VII Günther, Hans F. K. 455, 490 Gurgand, Jean Nöel 240 ff., 255 ff. Haeckel, Ernst 474, 482 Hase, Christoph 504 Heckei, Joh. 55 f. Hegel, Friedrich 407 ff. Heinisch, Klaus J. 27, 124, l3I, 180 Heinrich, Hans Peter 98 ff., 107 ff. Heinrich VIII. 98 ff. Heiss, Robert 21 ff. Hentschel, Willibald 487 Herkner, Heinrich 325 ff. Hertzka, Theodor 63 Herzog Erich 230 Herzog Georg von Sachsen 230 ff. Herzog Heinrich von Braunschweig 230f. Herzog Johann 224 f. Herzog, Roman 55 Hesse, F. 242 Hesse, G. 54 Heyde, Werner 499, 503 Hildebrandt, Kurt 81 f. Himmler, Heinrich 478 ff., 484 ff. Hinrichs, Carl 223 Hirsch, Helmut 403 Hoche, Alfred 491 ff. Hochwälder, Fritz 295 Hoffmann, Ernst 75 ff. Hofmann, Melchior 244 ff. Honigsheim, Paul415 ff.

530

Namenverzeichnis

Horkheimer, Max 19 Hoßbach, Wilhelm 144 ff. Hubmaier, Balthasar 244 Hut, Hans 244 Huxley, Aldous 16,45,393 Jäckel, Eberhard 24, 98, 107, 109,471 Jehmlich, Reiner 60 Jenukidse, Awel445 Jones, William 453 Jung, Edgar J. 497 f. Kahn, Hermann 45 Kaiser Kar! V. 202, 245 Kaiser Sigismund 204 Kalthoff, A. 474 Kamenew, Lew 440 Kamlah, Wilhelm 49, 52, 414 Kammer, Hilde 484 ff., 498 Kant, Immanuel21, 96 Karrenberg, Friedrich 29 Kaufmann, Arthur 491 Kautsky, Kar! 25, 100,282,313 f. Kehnscherper, Günther 178 f. Kelsen, Hans 394 Kerssenbrock, Hermann 258 ff. Kibbenbrock, Gerd 254 Kihn, Berthold 503 Kirow, Sergei 437, 445 von Klaproth, Heinrich Julius 453 Klaus, Georg 29, 277, 427 Klee, Ernst 497 ff. Klein, Jürgen 180 ff. Kleinwächter, Friedrich 62 ff., 66 f. Knipperdolling, Bernt 249 ff., 268 ff. Koch, Gerhard 472 ff. Koch, Klaus 53 Kollontaj, Alexandra 279 Komarow, Nikolai 447 Korner, Hermann 205 Korsch, Karl 394 Krechting, Heinrich 275 ff. Kremers, H. 47 Kropotkin, Pjotr Alexjewitsch 39 Krupp, Alfred Friedrich 473 Kruse, Alfred 343 Kunst, Hermann 55 Lafargue, Paul 403 de Lagarde, Paul 462 Lamarck, Jean-Baptiste 423

Landauer, Gustav 34, 39 Lasky, Melvin 21 f. Laß witz, Kurd 60 Leibniz, Gottfried 130, 453 van Leiden, Jan (Jan Bockelson) 248 ff., 264 ff., 286 ff. Lenk, E. 343 Lenz, Fritz 476, 490 Lichtenberger, Johannes 205 Lichtheim, George 388 Liefmann, Robert 355, 358, 379 Lilje, Hanns 235 ff. Linden, Herbert 499 Lippert 359 List, Günther 256 Lütge, Friedrich 98 Luther, Martin 55 ff., 99 ff., 154 ff., 257 ff., 212 ff., 216 ff., 220 f., 226 ff., 251,286 Lyssenko, Trofim Denissowitsch 423 de Mably, Gabriel Bonnot 405 Machiavelli, Niccolo 60 Magnus, Albertus 124 Manguel, Alberto VII, 4 Mannheim, Karl 17 ff., 293 von Mansfeld, Graf Ernst 221 f., 230 ff. Mantz, Felix 243 Manuel, Frank E. VII, 98, 144, 180 Manuel, Fritzie P. VII, 98, 144, 180 Marcuse, Herbert 349 f. Martin Gottfried 75, 179 Matthys, Jan 246 ff., 259 ff., 280 ff. Mausbach, Hans 484 ff. Mauz, Friedrich 503 Meitzel, earl 123, 359 Melanchthon, Philipp 220 Mendel, Gregor 456 Meyer, Ahlrich 359 ff. Miller, Reinhold 431 Mitschurin, Iwan Wladimirowitsch 423 Mocek, Reinhard 427 Moeller, Martin 156 Mohl, Robert von VII, 62 Molitor, Bruno 352 Morelly 405 Muckermann, Hermann 472 ff. Muckle, Friedrich 325 ff., 333, 335, 341 f., 344 ff. Müller-Armack, Alfred 207 ff. Müller-Römer, Dietrich 421 Mumford, Lewis 114

Namenverzeichnis Nagl, Manfred 58 f. Neusüss, Arnhelm VII, 19 f., 43 Nietzsche, Friedrich 491 Nitsche, Hermann Paul 503 Nowak, Kurt 505 Oberhauser, Alois 352 Oncken, Hermann 109 Oppenheimer, Franz 333, 351 Orwell, George IX, X, 15 f., 45,393 OUo, F. 83,97, 169 Papst Paul III. 296 Pacholik, Udo 404 Pascal, Blaise X Pauleikhoff, Bernhard 497 Peters, Hans-Rudolf 414 Petrowski, F. A. 123 Peuckert, Will-Erich 203 ff. Pfeiffer, Heinrich 216, 226 Pfingsten, J. H. 182 Pfotenhauer, l. 309 ff. Philipp von Hessen 230, 253 ff. Picker, Henry 479 Plamböck, Gert 83,97, 169 Ploetz, Alfred 473 ff. Pohl, Os wald 486 Pohlenz, Max 84 ff. Poliakov, Leon 452 ff. Pombal, Marquis von 307 Preuss, Dietrich 48, 291 Preuter, R. 47 Proudhon, Pierre loseph 392 Quabbe, Georg 84 f. Rabelais, Fran"ois 209 f. Ramm, Thilo 322 ff., 341, 344, 349 f. Rasin, Stenka 54 von Rauch, Georg 278 f., 434 ff. Rawley, William 182 Reck-Malleczewen, Fritz 253, 286 Reichert, K. 62 Rickert, Wilhelm 4 Riemann, Tord 421 Rist, Charles 339, 344,350 f., 352 f. Ritschl, Hans 277, 281 f. Ritter, Gerhard 24, 109 Roll, Heinrich 257 Rosenberg, Alfred 466 ff., 484 ff. Rothmann, Bernd 249 ff., 256 ff., 275, 285 f.

531

Rudzutaks, lanis 446 f. Ruescher, Hubert 262 f. Rykow, Alexej 441 Saage, Richard 419 Saint-Simon, Louis de Rouvroy 392, 406 Salin, Edgar 67 ff. Saller, Karl 477 Samjatin, Jewgenij 45 Savigny, Eike von 2 Seidel, Bruno 341 Seiffert, Helmut 393, 401 ff., 418, 423 ff. Semler, Hans-loachim 421 Servier, lean 387, 389 Siebarth, Werner 468 Siedenschnur, G. 50, 54 Simon, Helene 332 Sinjawskij, Andrej 429 ff. Sinowjew, Grigori 434 f., 439 f. Smirin, M. M. 235 f. Sokrates 75 ff., 83 ff. Sombart, Werner 391 Sorgenicht, Klaus 421 Spann, Othmar 40 Swoboda, Helmut 67 ff., 321 Schaff, Adam 432 Schallmayer, Wilhelm 473 ff. Schapira, Abraham 32 Schelsky, Helmut 350 Schempp, Hermann 295 ff., 331, 336 ff., 355, 379 ff. Schiller, Ullrich 352 Schlegel, Friedrich 453 f. Schleiermacher, Friedrich 97, 169 Schmidt, Burghardt 64 Schmidt, F. 295 Schmidt, Gerhard 505 Schmidt, lohann Michel 53 Schneemelcher, Wilhelm 55 Schneider, Carl 503 Scholtz, Harald 144 Schramm, Edmund 428 Schröder, Winfried 322 f. Schücking, L. L. 182 Schützler, Horst 437 ff. Schulte-Herbrüggen, Hubertus 5 ff., 45 Schulz, S. 48 Schumpp, Mechthild 10, 131, 151 Schwonke, Martin 43,59,159,184,392 f. Stegmann, losef 29 Steiniger, Herbert 431

532

Namenverzeichnis

Steinmetz, Max 392 Stirner, Max 392 . Storch, Nikolaus 215 ff. Strathmann, H. 51 Straub, Erich 503 Streicher, Julius 466 Stüber, Erwin 431 ff. Telesio 124 f. Thalmann, Rita 478 ff. Thielicke, Helmut 57 f. Thier, Erich 431 Thomae, Markus 215 Thomas von Aquino 124 Tönnies, Ferdinand 33 f., 38 Toffler, Alvin 45 f. Topitsch, Ernst 257, 407, 509, 511 Troeltsch, Ernst 240 Tuchatschewski, Michail441 Tugan-Baranowsky, Michae1355 ff. 379 ff. ' Ueding, Gert 64 Ulbricht, Walter 421 ff. Verne, Jules 60, 393 f. von Verschuer, Otmar Freiherr 472 477 Villgradter, Rudolf 64 ' Virchow, Rudolf 455 f. Vogler, Günter 214, 216 ff., 229 ff.

Voigt, Andreas VIII, 41, 46 f., 61 ff., 150f., 294, 313 f., 319, 345 f., 353, 364, 386 f., 450 Voslensky, Michael 399 Uschakow, S. M. 446 Wagner, Richard 456, 460 Weber, Max 239, 415 ff. Weber, Otto 47, 217 Wehr, Gerhard 214, 216 ff., 230 ff., 239 Weichelt, Wolfgang 421 Weippert, Georg 325 Weiß, Ulrich 180 Weitling, Wilhelm 322 WeHs, H. G. X, 60, 393,419 Whitney, Charles 182 Wiener, Anthony J. 45 vo~ Wilamowitz-MoeHendorf, Ulrich 79 Wdlgerodt, Hans 352 Wilm, Ernst 504 Wolgin, W. P. 28 f., 128 ff. Wüst, Walther 480 Wuckel, Dieter 45, 393 Zahn, Lola 32, Zelke, W. 217 Zimmermann, Wilhelm 234 ff., 238 ff. Zwingli, Ulrich 214, 243 f., 251 f.

Sachwortverzeichnis In das Stichwortverzeichnis wurde der Begriff ,Utopie' und die damit zusammenhängenden Wortverbindungen wie ,Sozialutopie', ,Staatsutopie' usw. nicht aufgenommen. Desgleichen wurde nicht die Begriffe Sozialismus, Kommunismus, Nationalsozialismus usw. nicht berücksichtigt. Act of Succession 103 Äonenlehre 48 Anarachie/Anarchism us 34 ff., 41 ff., 338, 395 f., 410 ff. Antitrinitarier 240 Apokalypse/Apokalyptik IX, 38, 47ff., 53 ff., 205, 219 f., 223, 227, 246, 291 f. Arbeit/Arbeitsteilung 16,24,28 ff., 115, 130, 160, 303ff., 317, 334f., 348ff., 371 f., 376, 386f., 389 Arbeitsbörse 334 f. Archipel Gulag 332 Arier, siehe: Mythos, arischer Aristokratie 86 Atlantis 160 ff. Auserwählten, die 217, 222, 224, 270, 292 ff. Auswanderung 337 f. Ballastexistenzen 496 f. Begriffsdefinition 2 ff., 59 Bergpredigt 57 f. Bildersturm 255 Bundespredigt 214, 223 f. Chassidismus 32 f., 217 Chiliasmus IX, 47 ff., 50 ff., 129, 291, 395ff.,399ff. Definition 1 ff., 8, 20, 59, 61,401 Demokratie 87 f., 228 Ehe 24, 72, 89f., 119f., 138f., 166, 193, 210, 313, 320, 329 f., 347 f. Erziehung 14, 16, 89f., 135, 326ff., 373 f., 376, 429 ff. Eschatologie 37 f., 47 ff., 204 ff., 212 ff., 227,230,256 ff., 291 f.

Eugenik 472 ff., 477 ff. Euthanasie 65, 465, 477ff., 490ff., 497ff., 509 Familie 347f., 388 Folterungen 232 Fortpflanzung 137f. Fortschritt 22 f., 39, 42 ff., 183 f. Freiheit, Reich der 38, 409 ff. Fürstenpredigt 215, 223 f. Fürstenreformation 226 f., 235 f. Fürstenspiegel 6 Garantismus 386 f. Geheimrede Chrustschows 442 ff. Geld/Gold 52, 118, 160, 28Iff., 330f., 335, 340, 363 ff., 374,406 f. Gemeinbesitz/Gemeineigentum 28, 30, 122,134,210,277,280 ff., 303 ff., 316, 3321"., 359, 367, 377 ff., 425 f. Gemeinschaft 5, 28, 33 ff., 40 f., 332 f., 348ff., 431 Genossenschaften 38, 40, 330 f., 334 ff., 349ff., 406 Gerechtigkeit 7, 30, 33, 58, 81, 84, 89, 122,285,378,406 Geschichtslosigkeit 375 f., 431 f. Gesellschaft 17, 23, 33 ff., 38 f., 42, 128, 3 18f., 401 ff., 418 f. Gesellschaft, harmonische 24, 30,41 Gesellschaft, Machbarkeit 12 Gesellschaftsbild/Gesellschaftsordnung IX, XI, 7 f., 20, 29 f., 34, 37, 46, 60, 64ff., 206, 348 ff., 377, 396, 401 ff., 409 ff., 43 I, 508 ff. Glaubenstaufe 241 f. Gnadentod, siehe Euthanasie Gottesdienstreform 220 f.

534

Sachwortverzeichnis

Gottesherrschaft/Gottesreich/Gottesstaat IX, 129 Guarani-Indianer 295 ff. Gütergemeinschaft 26, 55, 112, 265, 280 ff., 290, 356, 364, 369 f., 374, 386 f. Harmonie, soziale 16,353,398 Heilserwartung/Heilsverkündigung 49, 202, 212 f., 229, 235, 247, 399 f., 414, 449 Heilsplan/Heilszeit 48, 52, 217, 224 Höherzüchtung 468, 477 ff. Humanismus 30f., 80 Hussiten 54 Idealstaat II ff., 27, 31, 41, 43, 8lff., 86ff., 95ff., 106, 109, 178,237,312, 318,322 Idee, sittliche 84 f. Ideologie/Ideologiekritik 17 ff., 54, 392 ff., 432, 442 f., 449, 452 f., 460, 465 Jambulos, Sonneninseln des 68 ff. Jerusalem, neues 49f., 51,152,165,237, 240,245,248,253 ff., 259 ff., 280, 287, 292, 378 Jesuiten 294 ff., 308 ff. Juden 490 ff. Katholizismus/Katholiken 210 ff., 241, 254,258 Keuschheit 193 Kinder 89ff., 137ff., 301 f., 389, 477ff., 484 ff. Kinderarbeit 301, 326 Kindertaufe 241 f. Kleidung 115 f., 135, 137,371 Konsumgenossenschaften 334 ff., 406 Kopfindex, siehe: Schädelindex Krieg ll, 85 ff., 120, 175 f. Lebensborn 65, 465, 471, 477, 480 ff., 484 ff., 509 f. Lebensvernichtung, siehe: Euthanasie Märchen 7, 13,60 Massenwahn 258 f. Materialismus 400 ff., 408 ff. Mehrwert 409

Menschen, neue 65, 385 f., 390, 418 ff., 426ff., 435f., 449ff., 508ff. Menschenbild 23, 357 f., 395 ff., 402, 425 f. Menschenzüchtung 480 ff. Minderwertige 475, 477 Monogamie 12, 24 Mutation 60, 397, 423 ff., 426 ff. Mythos, arischer 452 ff., 456 ff., 460 ff., 469 ff., 484 ff., 508 Naturwissenschaften 164 ff., 183 ff., 195 ff. Neu-Atlantis 180ff. New Harmony 331 ff., 336f. Nominaldefinition 2ff., 8, 20f., 59, 61, 65 f., 401 Nordisches Blut 466 f. Offenbarung des Johannes 50 ff., 152, 217 Oligarchie 87 Phalangen/Phalanstere 348 ff. Phantasiebilder 8 f., 35, 37, 157 Philosophen als Könige 94 ff., 111 ff. Polygamie/Vielweiberei 55, 193, 265 ff., 279,285 ff., 301 Prager Manifest 218 f. Privatbesitz/Privateigentum 12, 24 f., 26, 28ff., 53, 93f., 112f., 122, 130, 183, 210, 228, 236, 277, 316, 329f., 347,351,377,390,410,420,431 f. Produktion, kapitalistische 409 ff. Produktionsmittel/Produktionsweise 25f., 40, 431 ff. Produktivgenossenschaft 351 f., 406 Prophetie 13, 37 ff., 52 Protestantismus/Lutheraner 209 ff., 212,241,254,258,415 ff. Pseudopropheten 290 ff. Rasseideologie/Rassegedanken 452 ff., 460ff., 465ff., 477ff., 497 Rassengesetze 578 f. Rassenhygiene/Rassenzucht 460 ff., 467, 475 f., 407 ff. Realdefinition 2 ff., 66, 401 Rechtsordnung 46,55 f., 141 Reduktionen 295 ff., 308 ff. Reformatio Sigismundi 204 f.

Sachwortverzeichnis Reformbewegung/Reformation 203 ff., 213 f., 216 ff., 223 ff., 225, 228, 238, 240,249 ff., 417 Reformierte 241 Regierung/Behörden 132ff., 141, 161 ff. Religion 121, 141 ff., 161 f., 164 Revolution 15f., 2lff., 207, 213f., 221, 230,233 ff., 249 f., 361 ff., 399 f. Roman/Romanforn 5ff., 37, 59, 63f. Rosenkreuzer 146 ff. Säuberungen 439 ff. Schädelindex/Kopfindex 454 ff., 462 Schlaraffenland 5, 10,49,69,209,346 Schreckensherrschaft 252 Schwärmer IX, 54f., 149, 162, 206, 237ff., 240f., 250ff., 270, 331, 398, 400 Science Fiction IX, 6, 37, 58 ff. Sektierer 241 Sozialkritik 210 Sozialordnung 17, 117f., 277ff., 301 ff. Sozialreform 338 ff., 385 Sonneninseln 67 ff., 128 Spiritualismus 240 f. Staat/Staatsideal6 f., 35,41 f., 55 f., 61 f., 80ff., 162f., 178, 212, 378f., 405, 411 ff. Staatslehre/Staatstheorie 80, 83, 209, 212 Staatsliteratur/Staatsroman VIII, 43 f., 46f., 61 ff., 66f., 209 Staatsordnung/Wirtschaftsordnung VIII, 5, 61, 64, 208ff., 411 f.

535

Staatsverfassung 63, 86ff., 113ff., 122, 366f. Stadt 203, 366 ff. Stadtbeschreibung 13lff., 158ff. Ständestaat 39, 201 f. Sterbehilfe, siehe: Euthanasie Sterilisierung 498 f. Suprematsakte 103 Taboriten 53 f. Täufer, siehe Wiedertäufer Timokratie 86 f. Todesstrafe 14, 119, 141, 160, 300, 304, 308 TraumlTräumerei 9, 20 ff., 58, 75 Triumvirat 161 ff. Tyrannei 88 Verheissung X, 18,23,239, 404f. Volksreformation 235 f. Weltgericht 254 WeItordnung/WeItstaat 126, 129 f. Wiedertäufer 54 f., 240 ff., 253 ff., 278 Wirtschaftsordnung 7f., 31, 47, 61, 63, 66, 116, 303ff., 318, 340, 342, 386, 402,416 Wirts chafts s til/W irtschaftss ys te m 208 f., 348 Wissenschaft 7f., 80, 401 ff. Zuchtanstalt 484 ff., 488 ff., 490 Zuchtwahl 452, 480, 486 ff. Zwei-Reiche-Lehre IX, 53, 55 ff.