Von der Offenen in die Abstrakte Gesellschaft: Ein interdisziplinärer Entwurf [1 ed.] 9783428509959, 9783428109951

In seinem Werk »Die offene Gesellschaft und ihre Feinde« beschreibt Karl Popper nicht nur zwei, sondern drei Gesellschaf

139 89 27MB

German Pages 262 Year 2003

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD FILE

Polecaj historie

Von der Offenen in die Abstrakte Gesellschaft: Ein interdisziplinärer Entwurf [1 ed.]
 9783428509959, 9783428109951

Citation preview

THOMAS TIEFEL

Von der Offenen in die Abstrakte Gesellschaft

Soziologische Schriften Band 74

Von der Offenen in die Abstrakte Gesellschaft Ein interdisziplinärer Entwurf

Von

Thomas Tiefel

Duncker & Humblot . Berlin

Die Wirtschafts- und Sozial wissenschaftliche Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

n2 Alle Rechte vorbehalten Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany

© 2003 Duncker &

ISSN 0584-6064 ISBN 3-428-10995-3 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

e

Vorwort Die vorliegende Arbeit ist interdisziplinär angelegt und beschäftigt sich, allgemein gesprochen, mit sozialphilosophischen und erkenntnistheoretischen Fragestellungen. Mein Interesse an diesem Themengebiet wurde vor allem durch die Lektüre von Karl R. Poppers Arbeiten und die mannigfaltigen Impulse meines Doktorvaters Professor Karl Albrecht Schachtschneider geweckt. Letztgenannter eröffnete mir die Möglichkeit, meine Gedanken und Überlegungen im Rahmen einer Promotion an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg zu formulieren. Er hat meine Arbeit in jeder Hinsicht unterstützt und mir großen wissenschaftlichen Freiraum gewährt. Dafür bin ich ihm ganz besonders dankbar und zutiefst verbunden. Nicht minder dankbar bin ich für seinen Einfluss auf mein staatsrechtliches und philosophisches Denken, das er in vielen persönlichen Begegnungen und durch sein leidenschaftliches Plädoyer für ein republikanisches Staatsverständnis maßgeblich geprägt hat. Daneben gilt mein Dank auch Herrn Professor Henrik Kreutz, dem Zweitgutachter meiner Dissertation. Für viele interessante Gespräche, kontroverse Diskussionen, anregende Kritik und die gute gemeinsame Zeit über all die Jahre hinweg möchte ich Roland Deinzer und Niels Schnittger danken. Nicht weniger Dank möchte ich meiner Freundin Manuela, die ihrem kritisch-rationalen Partner nicht nur emotional, sondern zudem mit viel Rat und Tat zur Seite stand, und meiner lieben Mutter, die in jeder Lebenslage für mich da war und ist, aussprechen. Last but not least möchte ich mich bei Frau Else Hirschmann, Herrn Dietmar Schmidt und all jenen bedanken, die mich bei der Lösung der vielen kleinen und größeren Probleme bei der Erstellung meiner Dissertation unterstützt haben. Nürnberg, im Juni 2002

Thomas Tie/el

Inhaltsverzeichnis Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

15

Erster Teil

Geschlossene vs. Offene Gesellschaft

18

1. Kapitel

Karl R. Poppers Bild von Geschlossenen Gesellschaften

18

I. Vorn Elend des Historizismus ..................... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . .. . . . . .

19

1. Der antinaturalistische Historizismus ...........................................

20

2. Der pronaturalistische Historizismus . . . .. . . . . .. . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. . . .. . . .

24

11. Die Freunde Geschlossener Gesellschaften ........................................

25

1. Der Zauber Platons .............................................................

26

2. Der falsche Prophet Georg W. F. Hegel .........................................

31

3. Der falsche Prophet Karl Marx .................................................

35

4. Merkmale Geschlossener Gesellschaften. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

2. Kapitel

Karl R. Poppers Vorstellung von Offenen Gesellschaften

39

I. Zur Theorie des Kritischen Rationalismus ...................... .. .................

40

1. Das Induktionsproblem ....... .. .. .. .. .. .. . .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .. .

41

2. Das Abgrenzungsproblem ......................................................

44

3. Fallibilismus, Sicherheit und Wahrheit. . . .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

8

Inhaltsverzeichnis

11. Die Anwendung des Kritischen Rationalismus im sozialen Bereich

50

I. Kritischer Rationalismus vs. umfassender Rationalismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

50

2. Indeterminismus vs. Historizismus ....... . . . ................... . . ..... .. . .. ... .

52

3. Methodologischer Nominalismus vs. methodologischer Essentialismus .........

54

4. Kritischer Dualismus vs. moralischer und juridischer Positivismus ..... .... . . .. .

57

5. Individualismus vs. Kollektivismus und Holismus............ . ........ . ...... . .

63

6. Stückwerk-Sozialtechnik vs. utopische und holistische Sozialtechnik ......... . .

66

7. Merkmale Offener Gesellschaften .... ....... ........ .. .. .. .... . ... .. ...... .....

73

Zweiter Teil

Vom Weg in die Abstrakte Gesellschaft

76

3. Kapitel

Zwei komplementäre Theorien gesellschaftlicher Veränderungen

76

I. Karl R. Poppers Erklärungsmodell der Situationsanalyse ..... .. ..... . ..............

77

1. Karl R. Poppers Kritik am Psychologismus ...... . ........ . .... .. ....... ... .....

77

2. Die Situationsanalyse als objektiv verstehende Methode .. . ...... . ........ . .....

80

3. Die Selektionsregeln des situationsgerechten Handelns ... . ...... . .. .. .... . .....

82

11. Friedrich A. v. Hayeks evolutionäre Ordnungstheorie .... . ........ . ........ . .......

85

1. Friedrich A. v. Hayeks Kritik am konstruktivistischen Rationalismus .. . ... .. ...

85

2. Die falsche Dichotomie von natürlichen und künstlichen Ordnungen. . . . . . . . . . . .

87

- 3. Die Theorie spontaner Ordnungen.................... . .. .. .... . ........ . .......

88

4. Kapitel

Das Modell der Abstrakten Gesellschaft I. Karl R. Poppers Beschreibung einer abstrakten Gesellschaft .......................

94 94

Inhaltsverzeichnis

9

11. Die Annahmen des Modells der Abstrakten Gesellschaft ... . .......................

97

1. Die Basisannahmen ............................................................

97

2. Die Individualisierungsthese . . . . .. . . . . . . . . .. . . . . . . . . . . .. . .. . . . . . . . . . . . . .. . . . . . . . 101 III. Die Konstruktion des Modells der Abstrakten Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 I. Die Struktur und Systematik des Modells der Abstrakten Gesellschaft .......... 104 2. Die Synthese von Evolutions- und Individualisierungsmodell ................... 105 3. Das Modell der individuellen Angepasstheit .................................... 108 4. Das Lemkurvenmodell ............................ . .... . ............... . .......

III

5. Die Modifikation des Modells des situationsgerechten Hande1ns ................ 117 6. Die Auswirkungen auf das Modell der spontanen Ordnungen ................... 121

Dritter Teil

Moderne und Abstrakte Gesellschaft

126

5. Kapitel

Die Situation des Individuums in der modernen Gesellschaft

126

I. Das Individuum zwischen Egozentrierung, Mono- und Multikollektivierung ....... 127 1. Modeme Gesellschaften und Integration ........................................

127

2. Integrationsmodi moderner Gesellschaften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 3. Die Integrationsmodi der Abstrakten Gesellschaft .............................. 134 11. Das Individuum zwischen biographischer Freiheit und ökonomischem Determinismus.......................................................................... 140 1. Die Institutionalisierung des Lebenslaufs .......................................

141

2. Globalisierung und ökonomischer Determinismus .............................. 145 3. Von der Normal- zur Wahlbiographie ........................................... 149

10

Inhaltsverzeichnis

III. Das Individuum zwischen Wertesubstitution, Werteverlust und Wertesynthese

154

1. Die Postmaterialismus-Theorie . . ... .. .. . .......... . ... . ... . . ...... . ... . ........ 155

2. Die innere Kritik an der Postmaterialismus-Theorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 3. Die Theorie des anthropozentrischen Wertewandels . .... . . .. .. .. . . . . . . . . . .. ..... 162 4. Die Wertesynthese-Theorie ...... .. ..... . ... . ... .. .. .. .. .. ... . .. . ... . .... .. . . ... 165

6. Kapitel Identitätsentwicklung und gesellschaftliche Entwicklung

171

I. Orientierungsverlust und Identitätssuche ... ......... . ........ . ...... . .............. 171

1. Klassische Ansätze der Identitätsforschung ... . .. . . .. ... . . . .. . .. . . .. . ... . . . . . . . . 171

2. Identität aus wissenstheoretischer Perspektive .. . ..... .. ...... . .. . .. . . . .. . . ..... 177 3. Natürliche und soziale Identitätsmerkrnale ............ . ... . ............. . ....... 179 4. Orientierungsprobleme als Erkenntnis- und Identitätsbildungsprobleme ...... . .. 182 II. Gesellschaftliche Entwicklung ohne Fortschritt ..... . ... .. .. .. .......... .. .. .. .. . . . 187 1. Die Entwicklung des Fortschrittsglaubens ..... . .. .... . . . . ......... . . .. .. ... .... 187

2. Evolution ohne Fortschritt ..... . .. .. .. .. .... .. .. ...... . . . . .. .. . . . ..... . . . . .... . . 193 3. Berücksichtigung sozio-biologischer Aspekte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 200

Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 208

Literaturverzeichnis .. . . . . .. . .... . . . . . ... . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 222

Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 260

Abbildungsverzeichnis Abbildung 1:

Gesellschaftstypologische Evolutions- und Gegensatzpaare . .. . ... .. .. .

95

Abbildung 2:

Die Struktur des Gesamtmodells der Abstrakten Gesellschaft . . . . . . . . . . . 105

Abbildung 3:

Gesellschafts- und Ordnungstypen ........ ... .. . ................... . ... 106

Abbildung 4: Die Synthese von Evolutions- und Individualisierungsmodell .. ...... .. 108 Abbildung 5: Das Modell der individuellen Angepasstheit . . . ....... .. ... . .... . . . .. .. 109 Abbildung 6:

Die vier Grundtypen der individuellen Angepasstheit .......... . . . . . ... 110

Abbildung 7:

Die Höhe des Basiswissens und der Verlauf von Lernprozessen ...... .. 114

Abbildung 8: Die Struktur des Basiswissens und der Verlauf von Lernprozessen. .. . . . 115 Abbildung 9:

Die Lerngeschwindigkeit und der Verlauf von Lernprozessen .......... 115

Abbildung 10: Die Verblassungsrate des Wissens .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Abbildung 11: Das modifizierte Modell des situations gerechten HandeIns . . . .. . . . . ... . 119 Abbildung 12: Das modifizierte Modell der geplanten und spontanen Ordnungen .. .. . . 122 Abbildung 13: Wertetypen und Bedürfnisstrukturen nach R. Inglehart ..... . . . . . ....... 156 Abbildung 14: Wertetypen und Wertedimensionen nach H. Klages .. .. ...... . . . . . .. . . . 167 Abbildung 15: Wertetypen und Wertedimensionen nach der Speyerer Typologie.... .. . 168

Abkürzungsverzeichnis A&K AES

Analyse & Kritik Archives Europeennes de Sociologie

Aristot Soc Supp

Aristotelian Society Supplementary Abstrakte Gesellschaft

AG a.M. Ang Sozf Anm. APSR APuZ ARSP

arn Main Angewandte Sozialforschung Anmerkung American Political Science Review Aus Politik und Zeitgeschichte

ASR

Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie American Sociological Review

Aufl. AW

Auflage Allgemeines Wissen

Bd. Brit J Phil Sci BW

Band British Journal for the Philosophy of Science Basiswissen

bzw. ca.

beziehungsweise circa

Comp Polit

Comparati ve Politics Comparative Political Studies derselbe

Comp Polit St ders. d.h. dies. DNA DZPh ebd. ed. etc. f.

FE ff. gern. GG Hrsg. hrsg. insb.

das heißt dieselbe(n) Desoxyribonuc1eic Acid (Nukleinsäure) Deutsche Zeitschrift für Philosophie ebenda Edition et cetera folgend(e) Fehlerelimination fortfolgend( e) gemäß Geschlossene Gesellschaft Herausgeber(in) herausgegeben insbesondere

Abkürzungsverzeichnis J Liber St

The Journal of Libertarian Studies

J Theor Biol

Journal of Theoretical Biology

Kap.

Kapitel

KZfSS

Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie

LG

Lerngeschwindigkeit

m. a.W.

mit anderen Worten

Mio.

Millionen

NaturwRs

Naturwissenschaftlliche Rundschau

ÖZP

Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft

OG

Offene Gesellschaft

o. V. PI

ohne Verfasser(in)

P2

Problem 2

Pkt.

Punkt

Problem 1

PVS

Politische Vierteljahresschrift

RNA

Ribonuc1eic Acid (Ribonukleinsäure)

S.

Seite

SozW

Soziale Welt

Sociol R

The Sociological Review

SW

Spezielles Wissen

u.

und

Ül Ü2 ÜE

zu beseitigendes Übel 1 neu auftretendes Übel 2 Übelelimination

usw.

und so weiter

v.

von

v. a.

vor allem

v. Chr.

vor Christus

vgl.

vergleiche

vs.

versus

VL

vorläufige Lösungshypothese

VRAW

Verblassungsrate des Allgemeinen Wissens

VRSW

Verblassungsrate des Speziellen Wissens

VT

vorläufige Theorie

Wiss u Fort

Wissenschaft und Fortschritt

z. B.

zum Beispiel

ZfaW

Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie

ZPol

Zeitschrift für Politik

ZfS

Zeitschrift für Soziologie

ZSR

Zeitschrift für Sozialreforrn

zit.

zitiert

ZW

Zusatzwissen

13

Einleitung Als ich nach Beendigung meines Studiums das Werk ,Die offene Gesellschaft und ihre Feinde' ein zweites Mal las, stieß ich auf die interessante Tatsache, dass dort nicht nur die ausführliche Beschreibung von geschlossenen und offenen gesellschaftlichen Verhältnissen zu finden ist, sondern Karl R. Popper auch einen dritten Gesellschaftstyp thematisiert. Für ihn kann sich eine "offene Gesellschaft ... allmählich in eine sogenannte ,abstrakte Gesellschaft' verwandeln"l. Obgleich er die Bedeutung dieses Phänomens besonders hervorhebt, bleiben seine Ausführungen nur bruchstückhaft. Hieraus ergab sich für mich die reizvolle Aufgabe, diesem Sachverhalt weiter nachzugehen, ihn theoretisch zu fassen und in Bezug zu der Situation in modernen Gesellschaften zu bringen. Meine folgenden von Poppers Erkenntnistheorie und Sozialphilosophie ausgehenden Überlegungen sind oftmals im Umweg über die Beschäftigung mit verschiedenen anderen philosophischen Konzeptionen und wissenschaftlichen Disziplinen entstanden. Auf Grund meines weit gespannten Interessensspektrums und der Überzeugung, dass man einem so vielschichtigen Untersuchungsgegenstand wie menschlichen Gesellschaften nur durch eine interdisziplinäre Sicht gerecht werden kann, habe ich versucht, an keiner fachbezogenen (Denk-)Barriere Halt zu machen. Diese Vorgehensweise ist zwar sehr zeitintensiv, hat aber mich und die vorliegende Arbeit um eine große Zahl an Erkenntnissen bereichert. Dabei empfand ich es als besonders erfreulich, dass ich am Ende meiner gedanklichen Reise trotz oder gerade wegen der distanzgewinnenden Denkerfahrungen wieder an meinen epistemologischen Ausgangspunkten ankam. Menschliche Gesellschaften sind ganz offensichtlich (selbst in ihrer einfachsten Form) so komplizierte Phänomene, dass wir bis heute von ihrem Gesamtverständnis noch weit entfernt sind. Dennoch ist es uns möglich, Veränderungsprozesse und Ordnungen innerhalb dieser Sozialstrukturen zu erkennen. Diese Arbeit soll hierzu einen Beitrag leisten und damit gleichzeitig ein Plädoyer für die Fruchtbarkeit eines sozialwissenschaftlichen Paradigmas sein, das interdisziplinär und evolutionstheoretisch angelegt ist. Den Anfang der Bewältigung der oben beschriebenen Aufgabe bildet die Inhaltsbestimmung der beiden dichotomisch angelegten Gesellschaftstypen ,Geschlossen' und ,Offen'. Da hierzu auf keinen bereits von Popper explizierten systematischen Merkmalskatalog zurückgegriffen werden kann, muss ein solcher zu1

Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1,7. Aufl. 1992, S. 208.

16

Einleitung

nächst im ersten Teil der Arbeit entwickelt werden. Zu diesem Zweck wird ein primärtextorientierter Analyseansatz gewählt, der berücksichtigt, dass Popper die Charakteristika der beiden Gesellschaftstypen an den unterschiedlichsten Stellen in seinen Hauptwerken behandelt. Hierbei wird im ersten Kapitel anhand der Erkenntnisse, zu denen Popper in seinem Werk ,Das Elend des Historizismus' und in den Ausführungen der Folgeschrift ,Die offene Gesellschaft und ihre Feinde' kam, sein Bild von Geschlossenen Gesellschaften rekonstruiert und mittels eines Kriterienkatalogs anhand von sechs Merkmalen zusammenfassend charakterisiert. Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels steht Poppers Vorstellung von einer Offenen Gesellschaft. Um diese adäquat verstehen zu können, ist es notwendig, sich zuerst die erkenntnistheoretischen Grundlagen seiner Sozialphilosophie zu vergegenwärtigen. Aus der Anwendung der allgemeinen wissenschaftstheoretischen Methode des Kritischen Rationalismus auf den speziellen Bereich der sozialen und politischen Probleme resultiert Poppers Konzeption einer Offenen Gesellschaft. Die Kennzeichnung dieses Gesellschaftstypus erfolgt unter Rückgriff auf den im ersten Kapitel eruierten Kriterienkatalog, wodurch stringent spezifische Merkmale Offener Gesellschaften abgegrenzt werden können. Nach der erfolgreichen Bestimmung der gesellschaftstypologischen Grundlagen kann im zweiten Teil der Arbeit der Weg von der Offenen in die Abstrakte Gesellschaft theoretisch gefasst werden. Hierbei werden im dritten Kapitel mit Poppers Modell der Situationsanalyse und Friedrich A. v. Hayeks evolutionärem Ordnungsansatz zwei komplementäre Theorien dargestellt, die helfen, gesellschaftliche Wandlungsprozesse zu erklären. Der Schwerpunkt des vierten Kapitels liegt in der Entwicklung meines Modells der Abstrakten Gesellschaft, welches dazu dient, die Erklärungslücken zu schließen, welche Poppers lediglich fragmentalen Ausführungen zu diesem Themenbereich hinterließen. Um einen Gegensatz von mikro- und makrotheoretischer Sichtweise oder von Individuum und Gesellschaft zu vermeiden, gehe ich dabei von der Dualität von Handlung und Struktur aus. Dahinter verbirgt sich die Auffassung, dass einerseits gesellschaftliche Strukturen die Handlungen der Individuen beeinflussen und unmittelbar in deren Entscheidungsfindung einfließen, aber andererseits die individuellen Handlungen selbst wiederum geplante und ungeplante Gesellschaftsstrukturen schaffen. Das Gesamtmodell der Abstrakten Gesellschaft beruht auf einem individualistischen Ansatz und der Integration mehrerer Einzelmodelle. Das Basismodell der Makroebene wird durch das Evolutionsschema ,GG -+ OG -+ AG -+ ?' repräsentiert, wobei über das ahistorische Modell der Individualisierung eine erste Verbindung zur Mikroebene hergestellt wird. Auf dieser ist auch das Modell der individuellen Angepasstheit angesiedelt, welches sowohl sozio-kulturelle als auch biologische Komponenten der Adaption des Einzelnen an verschiedene Gesellschaftsstrukturen enthält. Das Lemkurvenmodell liefert eine Theorie über verschiedene Arten von individuellem Wissen und deren Einfluss auf menschliche Anpassungsprozesse, welche ihrerseits als Problemlösungsprozesse interpretiert werden. Die beiden vorher genannten Modelle üben einen direkten und indirekten Einfluss auf

Einleitung

17

die poppersche Situationsanalyse aus, was grundlegende Änderungen in diesem Ansatz notwendig macht. Im modifizierten Modell des situationsgerechten Handelns wird zwar weiterhin von der grundsätzlichen Rationalität menschlicher Handlungen ausgegangen, allerdings wird die den Handlungen zugrunde liegende Basis in geplant-rational und funktional-rational differenziert. In Folge dieser Unterscheidung muss auch v. Hayeks Theorie geplanter und spontaner Ordnungen, welche zur Erklärung der Interdependenzen zwischen individuellem Handeln und gesellschaftlichen Strukturen dient, maßgeblich verändert werden. Da nach Poppers Auffassung die modeme Gesellschaft einer abstrakten in vieler Hinsicht sehr ähnlich ist, beschäftigt sich der dritte Teil der Arbeit mit der Fragestellung, wie in der modemen Gesellschaft auftretende Phänomene in das Modell der Abstrakten Gesellschaft einzuordnen sind. Hierbei wird im fünften Kapitel auf die Situation des Individuums in der modemen Gesellschaft eingegangen. In diesem Kontext erfolgt zuerst eine Untersuchung des Verhältnisses zwischen Individuum und Gesellschaft sowie die Analyse verschiedener Integrationsmodi. Danach stehen Fragen der biographischen (Entfaltungs-)Freiheit des Einzelnen im Zentrum der Betrachtung. Abschließend wird der Themenbereich des Wertewandels behandelt, dessen Auftreten für alle modemen Gesellschaften kennzeichnend ist. Zwei Problemfelder moderner Gesellschaften, die aus der Tatsache resultieren, dass sich die biologische Grundstruktur des Menschen trotz seiner sozio-kulturellen Entwicklung nicht grundlegend verändert hat, werden im sechsten Kapitel genauer beleuchtet. Zum einen handelt es sich um das Problem des Orientierungsverlusts, welches als individuelles Identitätsbildungs- und Erkenntnisproblem interpretiert wird. Zum anderen wird auf den Punkt eingegangen, dass der Entwicklungsprozess von einer Geschlossenen über die Offene hin zu einer Abstrakten Gesellschaft nicht als eine apriori gerichtete Höherentwicklung aufgefasst werden kann und damit nicht zum Fortschrittsverständnis vieler Menschen in modemen Gesellschaften passt. Am Ende meiner Einleitung möchte ich noch eine formale Anmerkung machen. Um eine bessere Lesbarkeit der Arbeit zu erreichen, habe ich im Textteil nach der ersten vollständigen Nennung des Namens einer Autorin oder eines Autors an nachfolgenden Stellen fast ausnahmslos auf die wiederholte Angabe ihres bzw. seines Vornamens verzichtet. Aus dem gleichen Grund erfolgen Quellenangaben in den Fußnoten grundsätzlich ohne Vornamen - tritt jedoch ein Nachname mehrmals auf, so wird dieser aus Griinden der Eindeutigkeit um den Anfangsbuchstaben des Vornamens ergänzt. Ich bitte diese verkürzte Darstellungsform nicht als mangelnde Wertschätzung gegenüber den genannten Personen zu interpretieren.

2 Tiefel

Erster Teil

Geschlossene vs. Offene Gesellschaft Karl R. Popper zählt zweifellos zu den am meisten zitierten Philosophen des 20. Jahrhunderts. Seine Idee der Offenen Gesellschaft ist ein sehr häufig benutzter Begriff. In so gut wie allen (sozial)wissenschaftlichen Gebieten wird sich dessen bedient, wobei in den wenigsten Fällen nachgewiesen wird, was darunter zu verstehen ist. Nicht selten wurden offene gesellschaftliche Verhältnisse lediglich als reines Negativprogramm gegenüber Formen des Totalitarismus interpretiert. Eine solche Einschätzung greift jedoch, wie die Ausführungen dieses Teils der Arbeit zeigen werden, zu kurz. Vor allem erkenntnistheoretische und evolutorische Aspekte werden oftmals nicht angemessen berücksichtigt. Da die Inhaltsbestimmung der dichotomischen Gesellschaftskategorien ,Offen' und ,Geschlossen' für die weiterführenden Überlegungen von grundlegender Bedeutung ist, wird zuerst Poppers Bild von Geschlossenen Gesellschaften (1. Kap.) und dann seine Vorstellung von Offenen Gesellschaften (2. Kap.) dargelegt. Hierzu kann auf keinen von Popper explizierten systematischen Merkmalkatalog zurückgegriffen werden, da ein solcher von ihm nie aufgestellt wurde. Auf Grund der Tatsache, dass er die Charakteristika der beiden Gesellschaftstypen an den unterschiedlichsten Stellen in seinen Hauptwerken behandelt, wurde ein primärtextorientierter Analyseansatz gewählt, um diese zu systematisieren und zusammenzufassen.

I. Kapitel

Karl R. Poppers Bild von Geschlossenen Gesellschaften In diesem Kapitel geht es darum, zu klären, welches Bild Popper vor Augen hat, wenn er von Geschlossenen Gesellschaften spricht. Zu diesem Zweck muss zunächst die Lehre des Historizismus genauer untersucht werden (1.). Die erkenntnistheoretischen Ergebnisse, zu denen Popper dabei in seinem Werk ,Das Elend des Historizismus' kommt, stellen die Basis für die weiteren Ausführungen in seiner Folgeschrift ,Die offene Gesellschaft und ihre Feinde' dar.! In dieser stellt er die ! Obwohl die Gliederung der Schrift ,Das Elend des Historizismus' eine eindeutige Systematik hat, kann man nicht sagen, dass Poppers inhaltliche Ausführungen dieser auch stringent folgen. Einige Themen wurden von ihm nur angeschnitten und dann auf ,Die offene Ge-

1. Kap.: Karl R. Poppers Bild von Geschlossenen Gesellschaften

19

große Bedeutung der vorher theoretisch geführten Beweise für die soziale Wirklichkeit deutlich heraus. Im Mittelpunkt des zweiten Schritts (11.) steht daher die in diesem Kontext von Popper gelieferte Beschreibung der Freunde Geschlossener Gesellschaften und die abschließende Ableitung eines Merkmalkatalogs, welcher spezifische Aspekte geschlossener gesellschaftlicher Verhältnisse abbildet.

I. Vom Elend des Historizismus Einleitend möchte ich voranstellen, dass in diesem Abschnitt nicht ausführlich diskutiert werden kann, ob Poppers Widerlegung des Historizismus letztlich wirklich erfolgreich war. 2 Es geht primär darum, seine Auffassung von Geschichte und Historizismus im Rahmen der Sozialwissenschaften kennen zu lernen. Popper versteht unter "Historizismus" jene Einstellung zu den Sozialwissenschaften, "die annimmt, daß historische Voraussage deren Hauptziel bildet und daß sich dieses Ziel dadurch erreichen läßt, daß man .,. die "Gesetze" oder "Trends" entdeckt, die der geschichtlichen Entwicklung zugrunde liegen". 3 Unabhängig von der Struktur des historischen Gesetzes und der daraus abgeleiteten Folgen werden alle Theorien, welche zum einen die Erkennbarkeit von Entwicklungsgesetzen und zum anderen die Anerkennung ihrer antizipatorischen Aussagekraft berücksichtigen, dem Historizismus zugerechnet. 4 Poppers Grundthese in seinem Werk ,Das Elend des Historizismus' ist, dass "die Lehre von der geschichtlichen Notwendigkeit der reinste Aberglaube ist ... , und daß man den Lauf der Geschichte nicht rational voraussagen kann"s. Er will also die Annahme widerlegen, dass die Entwicklung der Gesellschaft von universellen Gesetzen beherrscht sei, deren Entsellschaft und ihre Feinde' ausgelagert. Zum komplexen Entstehungsprozess der beiden Werke siehe Popper, Ausgangspunkte, 1994, S. 161 ff. Eine genaue Strukturanalyse des Werkes ,Das Elend des Historizismus' findet sich bei Jarvie, Popper on the Difference between the Natural and Social Society, in: Levinson (Hrsg.), In Pursuit ofTruth, 1982, S. 84 ff. 2 Zu diesem Problemkreis siehe ausführlich Donagan, Popper's Examination of Historicism, in: Schilpp (Hrsg.), The philosophy of Karl Popper 2, 1974, S. 905 ff., Habermehl, Historizismus und Kritischer Rationalismus, 1980 und den kritischen Überblick von Messmer, Die Grundlagen von Poppers Sozialphilosophie, 1981, S. 29 ff., der Poppers Gesamtwerk berücksichtigt und fünf Grundformen des Historizismus herausarbeitet, sowie ergänzend Gallie, Popper and the Critical Philosophy of History, in: Bunge (Hrsg.), The Critical Approach to Science and Philosophy, 1964, S. 410 ff. und Ley, Karl R. Popper Historizismus und erkenntnistheoretischer Mechanizismus, DZPh 1968, S. 848 ff. Zum Inhalt und den Voraussetzungen der Historizismuskritik siehe Zoebisch, Utopie und Historizismus, 1993, S. 85 ff. 3 Beide Zitate: Popper, Das Elend des Historizismus, 5. Auf!. 1979, S. 2. Albrecht, Sozialtechnologie und ganzheitliche Sozialphilosophie, 1973, S. 71 ff. lehnt den Begriff "Historizismus" ab und spricht statt dessen von "Historismus". 4 Vgl. Brunnhuber, Die Ordnung der Freiheit, 1999, S. 219. 5 Popper, Das Elend des Historizismus, S. VII. Nach E. Döring, Karl R. Popper: "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde", 1996, S. 31 betrachtet Popper den Historizismus als Aberglauben an eine historische Entelechie. 2*

20

1. Teil: Geschlossene vs. Offene Gesellschaft

deckung zu genauen Voraussagen über den weiteren Verlauf der Geschichte befahigt. 6 In seiner Analyse unterscheidet er zwischen der "antinaturalistischen,,7 (1.) und der "pronaturalistischen"s (2.) Ausprägung des Historizismus.

1. Der antinaturalistische Historizismus

Der antinaturalistische Historizist betont, dass einige charakteristische Methoden der Naturwissenschaften in den Sozialwissenschaften nicht anwendbar sind, da es zwischen den beiden Gebieten tief liegende Unterschiede gibt. 9 Für ihn herrschen in der Natur physikalische Gesetze, die räumlich und zeitlich invariabel sind. 1O Soziologische Gesetze des gesellschaftlichen Lebens sind aus seiner Sicht jedoch an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten unterschiedlich, denn sie hängen für ihn wesentlich von geschichtlichen Entwicklungen und von kulturellen Faktoren ab. II Da zudem die Versuchs bedingungen nicht konstant gehalten werden können, ist die Wiederholung eines sozialen Experiments im naturwissenschaftlichen Sinne überhaupt nicht möglich. 12 Er lehnt daher insbesondere die Anwendbarkeit quantitativ-mathematischer Methoden ab.!3 Aus seiner Sicht existiert keine Möglichkeit, qualitative Eigenschaften von gesellschaftlichen Entitäten quantitativ abzubilden. 14 Trotzdem bleibt es auch nach seiner Auffassung die Aufgabe der Sozialwissenschaften, gesellschaftliche Veränderungen kausal zu erklären. Wie will der antinaturalistische Historizist aber diese Aufgabe bewältigen? Er bedient sich dazu der Lehre des intuitiven Verstehens. 15 Diese geht davon aus, dass die den Sozialwissenschaften angemessene Methode "auf einem intimen Verstehen gesellschaftlicher Phänomene,,16 beruht. Drei Varianten werden hierbei unterschieden. Die erste besagt, dass ein Ereignis dann verstanden werden kann, wenn man es als Resultat der Kräfte interpretiert, die es hervorgebracht haben. 17 6 Vgl. Schäfer, Karl R. Popper, 3. Aufl. 1996, S. 91; Messmer, Die Grundlagen von Poppers Sozialphilosophie, S. 11. 7 Popper, Das Elend des Historizismus, S. 5. 8 Popper, Das Elend des Historizismus, S. 29. 9 Vgl. Popper, Das Elend des Historizismus, S. 5. 10 Vgl. Popper, Das Elend des Historizismus, S. 5. II Für Popper, Das Elend des Historizismus, S. 5 sind nach dieser antinaturalistischen Auffassung soziale Regelmässigkeiten durch die jeweilige geschichtliche Situation bedingt. 12 Die Bedingungen für ein zweites Experiments werden immer bereits durch die Durchführung des ersten verändert, vgl. Popper, Das Elend des Historizismus, S. 8. 13 Vgl. Popper, Das Elend des Historizismus, S. 20. 14 Vgl. Popper, Das Elend des Historizismus, S. 20 f. 15 Vgl. Popper, Das Elend des Historizismus, S. 16. 16 Popper, Das Elend des Historizismus, S. 16. In diesem Sinne kann die Soziologie im Gegensatz zur Physik, welche Verallgemeinerungen anwendet, nur mit Einfühlung arbeiten, vgl. ders, ebd., S. 17.

1. Kap.: Karl R. Poppers Bild von Geschlossenen Gesellschaften

21

Die zweite Variante geht weiter. Sie sagt, dass eine reine Analyse von Ursache und Wirkung (d. h. wie und warum ein Ereignis zustande gekommen ist) nicht genügt, sondern auch die Bedeutung, welche das Auftreten eines Ereignisses innerhalb des Ganzen hat, begriffen werden muss.!8 Die dritte Variante anerkennt alles, was die erste und die zweite behaupten, geht aber nochmals weiter. Neben den bereits genannten Aspekten sind die fundamentalen geschichtlichen Tendenzen zu untersuchen, die in der betrachteten Periode vorherrschen, und es ist zu analysieren, welchen Beitrag das betreffende Ereignis zu dem historischen Prozess leistet, durch den sich diese Tendenzen manifestieren.!9 Mit der Betonung historischer Strömungen regt die dritte Variante des intuitiven Verstehens in gewissem Maße dazu an, Analogieschlüsse von einer Epoche auf die andere zu ziehen. 2o Zudem wird deutlich, dass eine Methode, welche den Sinn sozialer Ereignisse verstehen soll, weit über rein kausale Erklärungen hinausgehen muss?! Sie bedarf einer ganzheitlichen Betrachtungsweise, um festzustellen, welche Rolle ein Ereignis innerhalb einer komplexen Gesamtheit22 spielt, und sie muss sich auf Grund der bereits angesprochenen Nichtanwendbarkeit quantitativer Methoden dem Erkennen von Wesensgehalten zuwenden. Nun zum Begriff des "Holismus'.23, welcher als Synonym für eine ganzheitliche Betrachtungsweise steht. Hinter ihm verbergen sich nach Poppers Auffassung bei

Vgl. Popper; Das Elend des Historizismus, S. 17. Es bedarf dabei des Verständnisses der charakteristischen Rolle eines Ereignisses innerhalb des Ganzen und da das Ereignis seine Bedeutung aus dem Einfluss auf das Ganze gewinnt, ist dieses auch teilweise durch das Ganze determiniert, vgl. Popper; Das Elend des Historizismus, S. 18. 19 Vgl. Popper; Das Elend des Historizismus, S. 18. 20 Obwohl die dritte Variante die Unterschiedlichkeit verschiedener geschichtlicher Epochen anerkennt, so kann es aber nach dieser Auffassung trotzdem ohne weiteres der Fall sein, dass auch in weit voneinander entfernten Zeitabschnitten analoge Tendenzen herrschen, vgl. Popper; Das Elend des Historizismus, S. 18. 2! Vgl. Popper; Das Elend des Historizismus, S. 19. 22 Komplexe Gesamtheit in dem Sinn, dass das Ganze mehr ist als nur seine gleichzeitig existierenden Teile und zudem verschiedene Entwicklungsstadien im Zeitablauf umfasst. 23 Popper; Das Elend des Historizismus, S. 14 liefert keine genaue Explikation des Begriffs "Holismus", sondern bleibt bei Hinweisen. Für Radnitzky, Karl R. Popper, 1995, S. 55 f. besteht der Kern des Holismus in der Behauptung, eine Gesellschaft sei eine Entität mit einem eigenen Willen und einer eigenen Präferenzordnung. Salamun, Der Kritische Rationalismus, in: Ballestrem / Ottmann (Hrsg.), Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts, 1990, S. 267 interpretiert den Holismus im Lichte von Poppers Lehre als Denkhaltung, die aus einer vagen Ganzheitsidee heraus die Gesellschaft als Ganzes glaubt erfassen zu können. Eine gute Übersicht zum Inhalt des Holismusbegriffs bietet Röwer; Holismus und Elementarismus in der Systemtheorie, 1985, S. 5 ff., der sechs Thesen zur Beschreibung des Holismus formuliert, wobei nach seiner Auffassung das Festhalten an einer genügt, um sich "als Holist zu qualifizieren": 1. Das Ganze geht aus seinen Teilen hervor. 2. Das Ganze wirkt auf seine Teile ein. 3. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile. 4. Das Ganze entsteht auf Grund von Wirkungen, die nicht auf die Interaktion der Teile untereinander oder ihre Interaktion mit der 17

18

22

1. Teil: Geschlossene vs. Offene Gesellschaft

näherer Betrachtung mehrere Bedeutungen, die aber ihrerseits eng miteinander verbunden sind. An erster Stelle sei die organismische Vorstellung der Gesellschaft genannt, welche soziale Gruppen in Analogie zu lebenden Organismen interpretiert. 24 Hieraus kann abgeleitet werden, dass einzelne Elemente oder Individuen nur bedingt aus dem Ganzen isolierbar sind. Zweitens steht Holismus für die Ansicht, dass eine soziale Gruppe mehr ist als nur die Summe ihrer Mitglieder oder deren Beziehungen zueinander. 25 Drittens kann unter Holismus auch die Auffassung eingeordnet werden, dass Sozialgebilde ein Eigenleben führen. 26 Die obige Darstellung lässt eine holistische GrundeinsteIlung als zentrales Bindeglied zwischen Historizismus und Utopismus erkennen. 27 Der Ausdruck "Utopismus,,28 steht für die Idee der prinzipiellen Neuordnung der Gesellschaft und deren zentrale Planung. 29 Wie beim Historizismus interessieren hierbei nicht Teilaspekte, sondern die Gesellschaft als Ganzes, die es unter Kontrolle zu bringen und neu zu strukturieren gilt. 30 Der von der Möglichkeit und Notwendigkeit der vollständigen gesellschaftlichen Umformung 31 ausgehende Holismus ist somit beiden Vorstellungen immanent. Im Kontext der für diese Umwandlung notwendigen Planung wird von Popper zum ersten Mal schlagwortartig der Kollektivismus angesprochen. 32 Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen Utopisten und Historizisten Umwelt zurückgeführt werden können. 5. Das Ganze kann analytisch nicht erklärt werden. 6. Das Ganze ist besser als irgendeiner seiner Teile. 24 Vgl. Popper; Das Elend des Historizismus, S. 16. 25 Vgl. Popper; Das Elend des Historizismus, S. 14. Man kann dies auch vereinfacht durch die Formel ,Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile' ausdrücken. 26 Vgl. Popper; Das Elend des Historizismus, S. 14 f.; die Auffassung vom Eigenleben sozialer Entitäten findet in der "Lehre von der Existenz eines Gruppengeistes " ihren deutlichen Ausdruck, vgl. ders., ebd., S. 16. 27 Vgl. Popper; Das Elend des Historizismus, S. 59. 28 Popper; Das Elend des Historizismus, S. 59. 29 Eine Zusammenfassung zum Bedeutungsinhalt und -wandel des Begriffs "Utopie" liefert Kamlah, Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie, 1969, S. 15 ff. Eine Übersicht über die wesentlichen Konstruktionselemente von Utopien findet sich bei Dahrendorj. Pfade aus Utopia, in: H. Albert (Hrsg.), Theorie und Realität, 1964, S. 331 ff. Für H. Albert, Konstruktion und Kritik, 2. Auf!. 1975, S. 387 f. ist utopisches Denken mit dem Anspruch auf eine ideale Gesellschaftsordnung verbunden und führt dadurch zwangsläufig zu Freund / FeindKontrasten oder einem Alternativ-Radikalismus. Fest, Die schwierige Freiheit, 1993, S. 105 f. geht sogar noch etwas weiter, denn er sieht den Kern des Begriffs Utopie in der "Erwartung, mit Hilfe eines durchkonstruierten, geschlossenen Gesellschaftssystems den Menschen nicht nur Frieden, Gerechtigkeit und Wohlstand, sondern auch eine Antwort auf die letzten Fragen ... zu verschaffen". Von Saage, Vertragsdenken und Utopie, 1989, S. 67 ff. stanunt die Unterscheidung zwischen utopischen und kontraktuellen Gesellschaftsversionen. 30 Vgl. Popper; Das Elend des Historizismus, S. 59, 63. 31 Vgl. Popper; Das Elend des Historizismus, S. 56. 32 Popper; Das Elend des Historizismus, S. 55 f. verwendet in diesem Kontext die Ausdrücke "zentrale oder kollektivistische Planung" und "kollektiver (oder zentralisierter) Planung".

1. Kap.: Karl R. Poppers Bild von Geschlossenen Gesellschaften

23

ist die Auffassung, dass beide annehmen, die Endziele der Entwicklung seien nicht frei wähl- oder entscheidbar, sondern lediglich innerhalb ihrer Forschungsgebiete wissenschaftlich entdeckbar. 33 Durch die Betonung des qualitativen Charakters des Sozialgeschehens 34 gelangt man bei der Inhaltsbestimmung der oben angesprochenen Ziele zum "methodologisehen Essentialismus ,,35. Dieser geht davon aus, dass die Wissenschaft zum Wesen der Dinge vordringen muss, um sie zu erklären. 36 Fragen müssen also primär in einer ,Was ist'-Form gestellt werden. 37 Die Beantwortung solcher Fragen enthüllt die wesentliche Bedeutung der untersuchten Begriffe und damit auch die wahre Natur der durch sie bezeichneten Essenzen?8 Wendet man diesen Ansatz auf die Sozialwissenschaften an, deren Aufgabe es ist, gesellschaftliche Entitäten und deren Handeln zu erklären, so kommt man zu dem Ergebnis, dass sie diese nur durch die Erforschung der Essenzen der betrachteten sozialen Einheiten erfüllen kann. 39 Dabei ist eine klare und sachgemäße Beschreibung der Entitäten fundamental, denn nur so kann das Akzidentielle vom Wesentlichen unterschieden werden. 4o Hieraus lässt sich die zentrale Verbindung zu dem die Bedeutung der Veränderung betonenden Historizismus herstellen: Erkenntnis setzt im essentialistischen Sinne etwas voraus, das sich nicht verändert, also mit sich identisch bleibt. 41 Geschichte und Essenz erscheinen somit als korrelative Begriffe.42 Durch die Analyse der Veränderungen kann zum einen bestimmt werden, was bei einem Objekt trotz des Wandels konstant bleibt, also seine Essenz ist, und zum anderen kommen gleichzeitig die verschiedenen Ausprägungen, Aspekte und Möglichkeiten des Untersuchungsgegenstandes zum Vorschein. 43 Mit anderen Worten: Die Essenz kann Vgl. Popper, Das Elend des Historizismus, s. 59 f. Vgl. Popper, Das Elend des Historizismus, S. 21. 35 Popper, Das Elend des Historizismus, S. 23. Zu Poppers Begriff des "methodologischen Essentialismus" siehe auch H. Albert, Der kritische Rationalismus Karl Raimund Poppers, ARSP 1960, S. 402, Messmer, Die Grundlagen von Poppers Sozialphilosophie, S. 40 ff. und Müller-Schmid, Die philosophischen Grundlagen der Theorie der "Offenen Gesellschaft", 1970, S. 8 f. Allgemein zu Poppers Verständnis vom "Essentialismus" siehe Popper, Ausgangspunkte, S. 17 f. und Baum/Gonzales, Karl R. Popper, 1994, S. 51 f. 36 Nach Popper, Das Elend des Historizismus, S. 23 bestreiten Essentialisten, dass aus Einzelelementen eine Gesamtheit zusammenstellt und diese danach mit einer Bezeichnung versehen wird; sie behaupten, dass in Wirklichkeit jedes einzelne Element deshalb mit einem bestimmten Attribut bezeichnet wird, weil es mit den anderen Elementen, die ebenfalls dieses Attribut tragen, eine bestimmte Wesenseigen schaft gemein hat. 37 Solche Fragen wären beispielsweise ,Was ist Materie?' oder ,Was ist Gerechtigkeit?', vgl. Popper, Das Elend des Historizismus, S. 23. 38 V gl. Popper, Das Elend des Historizismus, S. 23. 39 V gl. Popper, Das Elend des Historizismus, S. 24. 40 Vgl. Popper, Das Elend des Historizismus, S. 24. 41 Vgl. Popper, Das Elend des Historizismus, S. 26. 42 Vgl. Popper, Das Elend des Historizismus, S. 26. 43 V gl. Popper, Das Elend des Historizismus, S. 26. 33

34

24

1. Teil: Geschlossene vs. Offene Gesellschaft

als Summe der einer Sache inhärenten Potentiale interpretiert werden und die Veränderung als deren Verwirklichung. 44 Aus dem Gezeigten wird deutlich, dass die Essenz einer Sache allein durch die Veränderung erkannt werden kann, was auf die Sozialwissenschaften angewandt bedeutet, dass der wahre Charakter einer gesellschaftlichen Gruppe somit nur durch ihre Geschichte zu enthüllen ist. 45

2. Der pronaturalistische Historizismus

Vom pronaturalistischen Historizist wird die Auffassung vertreten, dass die Sozialwissenschaften in Analogie zur Physik zugleich theoretisch und empirisch sein sollen. 46 Als theoretische Disziplin haben sie die Aufgabe, mit Hilfe von universellen Gesetzen Ereignisse zu erklären und vorauszusagen, und in empirischer Hinsicht sollen beobachtbare Tatsachen über die Annahme oder Ablehnung der aufgestellten Theorien entscheiden. 47 In Anlehnung an die Bewegungssätze der Astronomie wird mittels Großprognosen nach allgemeinen sozialen Regelmäßigkeiten gesucht. 48 Dabei sind die Kräfte zu analysieren, welche zu sozialen Veränderungen führen und die menschliche Geschichte hervorbringen. 49 Wie bereits in der antinaturalistischen Doktrin angesprochen, kann aber nicht von einer raumzeitlichen Gleichförmigkeit des sozialen Lebens ausgegangen werden. Da allgemeine historische Gesetze für die gesamte Geschichte der Menschheit gelten sollen, also nicht nur für bestimmte, sondern für alle Zeitalter, müssen sie zwangsläufig Entwicklungsgesetze sein, welche den Übergang von einer Epoche auf die andere bestimmen.50 Diese gilt es zu entdecken, indem man die Geschichte studiert und versucht, die Ursachen und die Wirkungsweise der Prozesse des Wandels zu verstehen. 51 Ein solcher Ansatz führt nicht zwangsläufig zu einem Fatalismus oder zu Tatenlosigkeit, da nicht behauptet wird, dass nichts zu erreichen sei, sondern dass nur diejenigen Pläne, welche in den Gang der Geschichte passen, wirksam werden können. 52 Es kann festgehalten werden, dass der pronaturalistische Historizist zwar die gesellschaftliche Entwicklung zu interpretieren verVgl. Popper, Das Elend des Historizismus, S. 26. Vgl. Popper, Das Elend des Historizismus, S. 26. 46 Vgl. Popper, Das Elend des Historizismus, S. 29. 47 Vgl. Popper, Das Elend des Historizismus, S. 29; "Der Historizist stellt sich also die Soziologie als theoretisch-empirische Disziplin vor, deren empirische Basis allein von einer Chronik der geschichtlichen Fakten gebildet wird", ders., ebd., S. 32. 48 Popper, Das Elend des Historizismus, S. 30 f. versteht unter Großprognosen "langfristige Prognosen, deren Vagheit durch ihre Weite und Bedeutsamkeit aufgewogen wird". 49 Vgl. Popper, Das Elend des Historizismus, S. 33. 50 In diesem Sinne wären die einzigen allgemeingültigen Gesetze der Gesellschaft jene, welche aufeinanderfolgende Epochen miteinander verbinden, vgl. Popper, Das Elend des Historizismus, S. 34. 51 Vgl. Popper, Das Elend des Historizismus, S. 37,41. 52 Vgl. Popper, Das Elend des Historizismus, S. 40. 44

45

1. Kap.: Karl R. Poppers Bild von Geschlossenen Gesellschaften

25

mag, es nach seiner Grundauffassung allerdings unmöglich ist, diese entscheidend zu verändern. 53 Poppers Argumentationslinie zur Widerlegung des pronaturalistischen Historizismus soll an dieser Stelle lediglich kurz skizziert werden. 54 Der Gang der menschlichen Geschichte ist für ihn zentral vom Wachstum des menschlichen Wissens beeinflusst. Das zukünftige Anwachsen der wissenschaftlichen Erkenntnis kann mit keinerlei rationalen Methode vorhergesagt werden, denn wir können "nicht heute das vorwegnehmen, was wir erst morgen wissen werden,,55. Daher ist es aus streng logischen Gründen unmöglich, den zukünftigen Verlauf der Geschichte mit Hilfe einer theoretischen Sozialwissenschaft vorherzusagen. Das Ziel des pronaturalistischen Historizismus ist daher nicht erreichbar. Poppers Kritik an der antinaturalistischen Variante des Historizismus wird im Rahmen des 2. Kapitels, in dessen Mittelpunkt die Entwicklung seiner Vorstellung von Offenen Gesellschaften steht, zum Ausdruck kommen. Es kann festgehalten werden, dass sowohl der anti- als auch der pronaturalistische Historizismus das Ziel haben, zukünftige gesellschaftliche Ereignisse vorherzusagen. Sie unterscheiden sich jedoch in den hierzu angewandten Methoden. Der eine nimmt für sich und seine Sicht der essentiell bestimmbaren Phänomene einen privilegierten Standpunkt in Anspruch. Der andere sieht sich auf der Seite der theoretisch-empirischen Wissenschaften und deutet gesellschaftliche Veränderungen kausal nach allgemeinen Entwicklungsgesetzen. 11. Die Freunde Geschlossener Gesellschaften

Nachdem Poppers Verständnis von Historizismus herausgearbeitet wurde, stellen die nächsten Teile der Untersuchung die Verbindung zwischen den bisher gewonnenen Erkenntnissen und den Freunden Geschlossener Gesellschaften her. Die folgenden Ausführungen sollen jedoch keine Metakritik an Poppers Interpretation von Platon (1.), Georg W. F. Hegel (2.) und Karl Marx (3.) leisten und können somit nicht der Frage nachgehen, ob seine Darstellung wirklich richtig ist oder nicht. Vielmehr orientiert sich die Analyse von Poppers Auffassung von den Lehren der oben genannten Autoren56 am Primärtext ,Die offene Gesellschaft und ihre Fein53 Vgl. Popper, Das Elend des Historizismus, S. 42; Vertreter des pronaturalistischen Historizismus sehen sich daher sogar berechtigt zu fordern, dass das Wertesystem einer Gesellschaft so zu modifizieren ist, dass es mit den bevorstehenden Veränderungen konform geht, vgl. ders., ebd., S. 43. 54 Siehe dazu auch Popper, Das Elend des Historizismus, S. XI f., der dort seine Argumentation zusammenfasst. 55 Popper, Das Elend des Historizismus, S. XII. 56 Im Falle Platons betont Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 42 explizit, dass er sich "bei der Behandlung ... auf seinen Historizismus und seinen ,besten Staat' beschränken werde. Der Leser darf daher nicht eine Darstellung der gesamten platonischen Philosophie oder eine ,gerechte und billige' Behandlung des Platonismus erwarten".

1. Teil: Geschlossene vs. Offene Gesellschaft

26

de', um daraus sein Bild von Geschlossenen Gesellschaften zu rekonstruieren und in einem systematischen Merkmalskatalog (4.) zusammenzufassen.

1. Der Zauber Platons Gleich zu Beginn seiner Ausführungen über den Zauber Platons greift Popper den Begriff des "Historizismus"s7 wieder auf. Er wiederholt, dass er darunter die Lehre versteht, welche davon ausgeht, "daß die Geschichte von besonderen historischen oder Entwicklungsgesetzen beherrscht ist, deren Entdeckung uns die Möglichkeit geben würde, das Schicksal der Menschen vorauszusagen"S8. In engem Zusammenhang steht für ihn damit die "Lehre vom auserwählten Volk"s9 als Produkt eines Tribalismus. Dieser hebt den zentralen Stellenwert des Stammes hervor, ohne den das Individuum nicht die geringste Bedeutung hat. 6o Es werden von Popper in diesem Kontext aber auch andere, nicht stammes gebundene Varianten genannt, welche ein "kollektivistisches Element,,61 beinhalten. Diese betonen den Stellenwert einer Gruppe oder einer Klasse, ohne die das Individuum ein reines Nichts ist. 62 Vor diesem Hintergrund entwickelt Popper seine Interpretation von Platons Ideenlehre. 63 Platon glaubt danach an ein Gesetz des historischen Verfalls, welches allerdings durch die Macht des Verstandes durchbrochen werden kann. 64 Er nimmt an, dass jedem verfallenden Gegenstand ein vollkommener entspricht, der nicht dem Verfall ausgesetzt ist. 6s Auf die Gesellschaft angewandt bedeutet dies, dass der politischen Veränderung Einhalt zu gebieten ist, was wiederum durch die Errichtung eines vollkommenen Staates erreicht werden könne. 66 Wie ist es jedoch möglich, in einer sich permanent verändernden Welt den wahren Inhalt des vollkommenen oder besten Staates zu erkennen? Um dieses Problem zu lösen, greift Platon auf seine Theorie der Ideen und Formen zuriick. 67 Popper 57 58 59 60 61

62

Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 5, 12. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 13. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 13. Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 13. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 13. Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 13 f.

63 E. Döring, Karl R. Popper: "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde", S. 76 verweist darauf, dass Poppers Kritik an Platons Staatskonzeption später nur gelingen könne, wenn er dessen gesamte Ideenlehre als Ideologie auffasst. 64 Platon ist dabei von Heraklits Vorstellung geleitet, dass alles fließt, vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 25 f. 65 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 28. 66 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 32. 67 Nach Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 38 hat die Theorie der Formen drei Funktionen: 1. Sie ist ein methodologisches Hilfsmittel, denn sie ennöglicht für

1. Kap.: Karl R. Poppers Bild von Geschlossenen Gesellschaften

27

verwendet für die Wesenslehre Platons den Begriff "methodologischer Essentialismus,,68. Demnach hat die Wissenschaft das Ziel, die verborgene wahre Natur der Dinge zu enthüllen und sie mit Hilfe von Definitionen zu beschreiben. 69 Mit Hilfe der intellektuellen Intuition können drei Aspekte einer Sache erkannt werden: Ihre unveränderliche Realität, die Definition ihres Wesens und ihr Name. 70 Die Ergebnisse der bisherigen Betrachtung schlagen sich in Platons Soziallehre nieder. Das Urbild des Staates kann demnach über die Untersuchung der Entwicklung des Staates hergeleitet werden. 71 Als Ausgangspunkt der Staatsevolution nimmt er eine ursprüngliche Form der Gesellschaft an, welche mit der Idee des vollkommenen Staates identisch ist - ein Königtum der weisesten und gottähnlichen Menschen. 72 Doch auch dieser Idealstaat kann sich verändern, wobei Platon die Triebfeder dafür in einer Sozialdynamik aus Klasssenkampf, innerer Uneinigkeit und ökonomischem Selbstinteresse sieht. 73 Die Degeneration eines Staates verläuft schrittweise, ausgehend vom vollkommenen Staat hin zur Timokratie, von dort zur Oligarchie, welche in die Demokratie mündet und schließlich in der Tyrannei endet. 74 Wie löst Platon das Problem, den inneren Wettstreit und Klassenkampf zu vermeiden? Sein bester Staat ist nicht durch Klassenlosigkeit, sondern durch eine starre Unterscheidung zwischen drei Klassen gekennzeichnet. 75 Die Gefahr des Klassenkampfes wird dadurch eingedämmt, dass die herrschende Klasse eine unanfechtbare ÜbermachtsteIlung erhält. 76 Wenn man Platons Naturalismus und dessen Beziehung zu seinem Historizismus verstehen will, muss zuerst kurz auf den "naiven Monismus ,,77 eingegangen werden. Konstituierend ist für diesen, dass er keine Trennung zwischen Naturgesetzen Platon die Erlangung von reinem Wissen. 2. Sie verschafft den Schlüssel zur Theorie der Veränderung (bzw. des Verfalls) und somit zur Geschichte. 3. Sie macht es möglich, Instrumente zu entwickeln, die der politischen Veränderung Einhalt gebieten. 68 Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 39. 69 Für Platon ist die Auffassung charakteristisch, dass sich der Wesens gehalt wahrnehmbarer Dinge in ihren Formen oder Ahnen auffinden lässt, vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 39. 70 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 39 f. 71 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 49. 72 Nach Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 49 ist für Platon dieser "ideale Stadtstaat ... der Vollkommenheit so nahe, daß es schwer zu verstehen ist, wie er sich je verändern konnte". 73 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 49. 74 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 49 f. 75 Platon unterscheidet zwischen der Klasse der Wachter, ihrer bewaffneten Hilfstruppen oder Krieger und der Klasse der Arbeiter, vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 57. 76 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 57. 77 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 72 bezeichnet den naiven Monismus als typisch für geschlossene gesellschaftliche Verhältnisse.

28

1. Teil: Geschlossene vs. Offene Gesellschaft

und nonnativen Gesetzen vollzieht. 78 Naturgesetze sind unveränderliche Regelmäßigkeiten in der Natur, welche außerhalb der menschlichen Kontrolle liegen. 79 Nonnen dagegen sind gesetzliche Verfügungen oder sittliche Gebote, die von Menschen aufgestellt, durchgesetzt und verändert werden können. 8o In diesem Kontext kommt der Naturalismus, den Popper in einen biologischen, ethischen und spirituellen unterscheidet, ins Spiel. 8 ! Alle genannten Fonnen haben die Tendenz, Normen auf Tatsachen zu reduzieren. 82 Betrachtet man Platons Lehre der Natur, so eröffnet sich ein weiteres Bindeglied zu seiner historizistischen Methode. Der bereits angesprochene methodologische Essentialismus führt zu der Frage, was die Natur des Staates ist. 83 Diese muss im Lichte der Entwicklungslehre zu ,Was ist der Ursprung der Gesellschaft und des Staates?' umfonnuliert werden. 84 Auf diese Weise gelangt man zu einem Ergebnis, das dem spirituellen Naturalismus entspringt: Der Ursprung der Gesellschaft ist eine Übereinkunft, die auf der sozialen Natur des Menschen beruht. 85 Und die soziale Natur manifestiert sich in der Unvollkommenheit des Individuums. 86 Hieraus leitet Platon wiederum die Überordnung des Staates ab, denn nur dieser ist so vollkommen und fähig, die Unvollkommenheit des Individuums aufzuheben. 87 Er hält den idealen Staat für das vollkommene Individuum, wodurch dieser zu einer Art Superorganismus wird. 88 Dabei hebt er dessen einheitliche Geschlossenheit hervor, was in eine Ganzheits- oder Holismuslehre mündet. 89 Der Staat als Ganzes ist nicht nur eine Versammlung von EinzelpersoVgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 72. Naturgesetze sind z. B. das Gravitationsgesetz oder die Gesetze der Thermodynamik; entweder diese Rege1mäßigkeiten bestehen in der Natur tatsächlich, dann ist das Gesetz ein wahrer Satz, oder sie bestehen nicht, dann ist er falsch, vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 69 f. 80 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 70. 81 Nach der Einteilung von Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 82 behauptet der biologische Naturalismus, dass es trotz der Willkürlichkeit der sittlichen Gesetze ewige, unveränderliche Naturgesetze gibt; dagegen sind die ethischen Naturalisten (und die Positivisten) der Ansicht, dass in einem Staat keine anderen Normen als die positiven Gesetze Recht schaffen; der spirituelle Naturalismus stellt eine Kombination aus den beiden vorhergenannten Auffassungen dar. 82 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 88. 83 Da für Platon "die Aufgabe der Wissenschaft zu sein scheint, die wahre Natur ihrer Gegenstände zu untersuchen, so ist es die Aufgabe einer Sozial- oder politischen Wissenschaft, die Natur der menschlichen Gesellschaft und des Staates zu studieren", vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 90. 84 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 90. 85 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 90 spricht von einer Konvention, die über einen Gesellschaftsvertrag hinaus geht. 86 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 90. 87 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 91. 88 Damit wird die sogenannte organische oder biologische Theorie des Staates eingeführt, vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 94. 89 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 95. 78

79

1. Kap.: Karl R. Poppers Bild von Geschlossenen Gesellschaften

29

nen, sondern eine natürliche Einheit höherer Ordnung, so dass es für das Individuum wesens bestimmend ist, diesem Ganzen zu dienen. 9o So gelangt man zum politischen Programm Platons. Ein zentraler Aspekt ist in diesem Kontext sein Verständnis von Gerechtigkeit. Popper führt aus, dass Platon den Begriff ,gerecht' als Synonym für das verwendet, was im Interesse des vollkommenen Staates iSt. 91 Gerecht ist somit alles, was Veränderungen verhindert und die Klassenherrschaft sichert. 92 Daraus ergibt sich das "Prinzip der natürlichen Vorrechte" für die Führerklasse, das "Prinzip des Holismus oder Kollektivismus" und das "Prinzip, daß es die Aufgabe ... des Individuums sei, die Stabilität des Staates zu erhalten".93 Das Problem des Spannungsfeldes zwischen Individualismus und Kollektivismus ist dabei mit dem der Gleichheit und der natürlichen Vorrechte nahe verwandt. 94 Nach Platons Verständnis existiert als einzige Alternative zum Kollektivismus nur der Egoismus. 95 Er setzt also Individualismus mit Egoismus gleich, was ihm eine mächtige Waffe zur Verteidigung des Kollektivismus an die Hand gibt. 96 Seine Theorie der Gerechtigkeit ist letztlich totalitär und zielt allein darauf ab, alles zu rechtfertigen, was der Erhaltung der Macht und Stabilität des Staates nützt. 97 Es stellt sich die grundlegende Frage, wer in den Genuss der Klassenvorrechte kommen und regieren soll. Platon hebt die Frage ,Wer soll herrschen?' nachdriicklich hervor. 98 Er verlagert dadurch den Schwerpunkt von Institutionen- auf Personenfragen, wodurch die Auswahl der natürlichen Führer sowie deren Vorbereitung auf ihr Amt zum dringlichsten Problem wird. 99 Platon formt den auf Bescheidenheit ausgerichteten Intellektualismus Sokrates' so um, dass der Philosoph vom Sucher zum stolzen Besitzer der Wahrheit wird. 1OO So kann er die Forderung aufstelVgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 95. Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 108; die Gerechtigkeit ist das zentrale Thema von Platons ,Staat', was insbesondere im traditionellen Untertitel dieses Werkes deutlich wird, der ,Über die Gerechtigkeit' lautet. 92 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 108 f. 93 Alle Zitate: Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 114. 94 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 120. Nach E. Döring, Karl R. Popper: "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde", S. 79 steht für Popper hier das politische Motiv des Platonischen Kollektivismus und die damit verbundene Tendenz zum Totalitarismus im Vordergrund. 95 In Wirklichkeit lassen sich aber zwei Gegensatzpaare bilden: Individualismus vs. Kollektivismus und Altruismus vs. Egoismus, vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 120 f. 96 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 122. 97 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 143. 98 Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 151 sieht in dieser Frage die Grundlage des Führerprinzips. 99 Auch Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 151 verwendet ganz bewusst den Terminus "Auswahl der natürlichen Führer", da in diesem deutlich die essentalistische und naturalistische Komponente der Begründung zur Geltung kommt. 90 91

30

1. Teil: Geschlossene vs. Offene Gesellschaft

len, dass die Herrschaft im Staat den Philosophen übertragen werde, da diese mit ihrer intellektuellen Intuition in der Lage sind, die ewigen Formen, Ideen und Wesensgehalte zu erkennen. 101 Damit ist das Problem der Auswahl und der Nachfolge der Regierenden gelöst, da diese auf Grund ihrer Erkenntniskraft so weise sein werden, die Besten zum Nachfolger zu bestimmen. 102 Der Philosoph als Gründer, Konservator und Gesetzgeber des Staates wird zum "königlichen Philosophen"I03. Wie aber soll nach der Lehre Platons die methodische Behandlung politischer Probleme erfolgen? Popper bezeichnet dessen Antwort als die "Methode des Planens im großen Stil, die utopische Sozialtechnik, die utopische Technik des Umbaus der Gesellschaftsordnung oder die Technik der Ganzheitsplanung,.104. Dieses utopistische Vorgehen ist durch den Glauben an ein absolutes und unveränderliches Ideal gekennzeichnet, welches sich wiederum nur durch den Entwurf einer völlig neuen Gesellschaftsordnung verwirklichen lässt. 105 Hierzu muss von der Annahme ausgegangen werden, dass sich sowohl das Ideal als auch der Weg zu seiner Verwirklichung rational erkennen lässt. 106 Platons Argumentation ist nun zirkulär, da er die genannte Prämisse über seine Forderung nach der Herrschaft der allwissenden Philosophen auffangt. In diesem Kontext ist ein weiteres Element des Utopismus für das Vorgehen Platons besonders charakteristisch, nämlich der Versuch, sich mit der Gesellschaft als Ganzes zu beschäftigen. 107 Es geht ihm dabei nicht darum, die soziale Welt lediglich ein wenig zu verbessern, sondern er möchte sie vollständig von ihrer Hässlichkeit befreien und sie radikal umgestalten. 108 So schließt sich letztlich der Kreis zwischen Historizismus, Kollektivismus, Essentialismus, naivem Monismus, Utopismus und Holismus, wodurch die grundlegende Verbindung zwischen dem Platonismus und anderen totalitären Lehren deutlich wird. lo9 Popper entlarvt Platon als Protagonist des autoritären Denkens und 100 Der ideale Philosoph Platons ist fast allwissend, allmächtig, den Göttern gleich (wenn nicht gar göttlich) und hoch über alle gewöhnlichen Menschen gestellt, vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 158. 101 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 158. 102 Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 159 weist darauf hin, dass dies keine vollkommen befriedigende Lösung ist, denn ein Zufall oder ein anderer externer Einfluss könnten die Stabilität des Staates gefährden. 103 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 173. 104 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 187. 105 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 190, 192. 106 Nur derart weitreichende Annahmen können für Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 192 den Menschen "davon abhalten, die utopische Methodologie als völlig nutzlos zu verwerfen". 107 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 196. 108 Hier zeigt sich die nahe Verwandtschaft zwischen Platons Ästhetizismus und seinem Radikalismus, vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 196. 109 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 203. Nach E. Döring, Karl R. Popper: "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde", S. 82 gehen für Popper Utopismus, Holismus und Totalitarismus Hand in Hand.

1. Kap.: Karl R. Poppers Bild von Geschlossenen Gesellschaften

31

Verfechter eines vollkommenen Staates, welcher für ihn das Spiegelbild einer Geschlossenen Gesellschaft darstellt. 110

2. Der falsche Prophet Georg W. F. Hegel

Als ersten falschen Propheten nimmt Popper Georg W. F. Hegel und dessen Philosophie ins Visier. Popper geht hierzu einleitend auf die aristotelischen Wurzeln des Hegelianismus ein. 111 Ein zentraler Punkt ist in diesem Kontext die Differenzierung zwischen der Formenlehre Aristote1es' und Platons. Nach Aristoteles stellt die Essenz, welche alle Möglichkeiten eines Dinges umfasst, gleichsam seine innere Quelle der Veränderung und Bewegung darY2 Der Wesensgehalt eines sich entwickelnden Gegenstandes ist somit mit dem Zweck oder dem Ziel, worauf er sich zubewegt, identisch. 113 Die Form, welche immer noch als gut betrachtet wird, steht folglich nicht am Anfang, sondern am Ende der Entwicklung, was bedeutet, dass der Pessimismus Platons durch einen aristotelischen Optimismus ersetzt wirdY 4 Diese Theorie der Veränderung kommt einer historizistischen Interpretation sehr entgegen, was Hegel entsprechend zu nutzen weiß. 115 Es können drei historizistische Lehren, welche direkt aus dem Essentialismus des Aristoteles' ableitbar sind, unterschieden werden: 1. Nur wenn sich ein Staat entwickelt und man seine Geschichte kennt, kann etwas über sein verborgenes, wirkliches Inneres erfahren werdenY6 2. Nur die Veränderung kann die Essenz, das heißt das Ziel oder die Bestimmung, welche einem Gegenstand von Anfang an inne wohnt, zum Vorschein bringen. ll7 3. Die Essenz muss sich wirklich in 110 Vgl. Schäfer, Karl R. Popper, S. 112; Geier, Karl Popper, 1994, S. 94; Höjfe, Politische Gerechtigkeit, 1989, S. 222 ff. verweist in dem Kapitel "Die Geburt der Herrschaft aus Begehrlichkeit (Platon)" an erster Stelle auf Poppers Interpretation. Zur Rezension von Poppers Urteil über Platon siehe auch Magee, Karl Popper, 1986, S. 104 ff., Witschet, Wertvorstellung im Werk Karl R. Poppers, 1971, S. 34 ff. und ergänzend Hare, A Question about Plato's Theory of Ideas, in: Bunge (Hrsg.), The Critical Approach to Science and Philosophy, 1964, S. 61 ff. Kritisch gegenüber Poppers Platoninterpretation sind Thumher, Poppers Platon-Interpretation, in: Wallner (Hrsg.), Karl Popper - Philosophie und Wissenschaft, 1985, S. 9 ff. und Wild, Popper's interpretation of Plato, in: Schilpp (Hrsg.), The philosophy of Karl Popper 2, 1974, S. 859 ff. 111 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, 7. Aufl. 1992, S. 6 ff. 112 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 12. 113 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 11. 114 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 11. 115 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 13. 116 Diese Lehre führt zu einer historizistischen Methodologie, die besagt, dass man über das Studium sozialer Veränderungen Kenntnis von gesellschaftlichen Essenzen erhalten könne, vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 13. 117 Über diese Lehre gelangt man zur historizistischen Idee des geschichtlichen Schicksals oder der unentrinnbaren Bestimmung, vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S.13.

32

1. Teil: Geschlossene vs. Offene Gesellschaft

der Veränderung entfalten und darf nicht nur bei der Möglichkeit stehen bleibenY8 Nach einer nochmaligen Abhandlung der essentialistischen Methode 1l9 leitet Popper zu Hegels neuem "Mythos der Horde,,120 über. Diese Ideologie ist das Bindeglied zwischen Platon und modernen Formen totalitären Gedankengutes. 121 Sie fordert die Verehrung des Staates und der Geschichte und spiegelt Hegels radikalen Kollektivismus sowie seine Lehre, dass der Staat alles und der Einzelne nichts ist, deutlich wider. 122 In diesem Kontext ist auch der von ihm vertretene Historizismus zu sehen. Für Hegel zielt die Entwicklung der Essenzen in Richtung eines in ihnen selbst liegenden, eigenschöpferischen Zwecks. 123 Er nennt das Ziel der Entwicklung der Essenzen "die absolute Idee" oder "die Idee".124 Hegels Welt befindet sich in einem Zustand der emergenten, schöpferischen Evolution und nähert sich immer weiter der Vollkommenheit. 125 Den Staat stellt er sich dabei als einen mit einem kollektiven Geist ausgestatteten Organismus vor. 126 Für einen Essentialisten bedeutet somit das Verständnis des Staates offensichtlich dasselbe wie die Kenntnis seines Geistes. 127 Der Geist der Nation bestimmt ihr historisches Schicksal, und jeder Staat, der zur Existenz kommen will, muss die Bühne des Weltgeschehens betreten, um sich dort im Kampf um die Weltherrschaft gegen die anderen Nationen zu behaupten. 128

1I8 In Konsequenz muss für Hegel jeder Mensch und jeder Staat danach streben, sich zu behaupten, und wessen Natur (oder Essenz) es nicht ist, sich durchzusetzen, der muss zur Knechtschaft gezwungen werden, vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S.14. 1I9 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 15 ff. Nach E. Döring, Karl R. Popper: "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde", S. 95 ist für Popper der Essentialismus der "großen Worte" der verbindende Gedanke, um einen Bogen von der Antike zur Neuzeit zu schlagen. 120 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 35. 121 Laut Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 39 sind sich nur wenige modeme Autokraten der Tatsache bewusst, dass sich ihre Ideen bis auf Platon zurückverfolgen lassen. 122 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 40. 123 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 46. 124 Beide Zitate: Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 46; dieser dazu sehr scharf: "Diese Idee ist, wie wir von Hegel erfahren, ziemlich komplex; sie ist alles in einem, ... Erkenntnis und praktische Tatigkeit; Begreifen; das höchste Gut; das wissenschaftlich betrachtete Universum. Aber wir brauchen uns über kleinere Schwierigkeiten wie diese wirklich nicht den Kopf zu zerbrechen". 125 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 46. 126 Die Organismustheorie teilt Hegel mit Platon und beim kollektiven Geist nimmt er bei Jean-Jacques Rousseaus "allgemeinen Willen" Anleihe, vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 46. 127 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 46. 128 V gl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 46 f.

1. Kap.: Karl R. Poppers Bild von Geschlossenen Gesellschaften

33

Betrachtet man Hegels Argumentation genauer, so können zwei Säulen identifiziert werden, auf denen seine Lehre fußt. Die erste Säule ist die dialektische Triade, nach der es in der Natur der Vernunft liegt, dass sie sich widersprechen muss. 129 Im Dreitaktrhythmus von These, Antithese und Synthese wird im letzten Schritt durch die Verschmelzung auf höherer Ebene eine Einheit der Gegensätze erreicht. 130 Die Synthese absorbiert die urspriinglich entgegengesetzten Positionen, indem sie diese aufhebt. 131 Popper bezeichnet diese Methode als "doppelt verschanzter Dogmatismus ,,132, da sie jede Kritik und Gegenargumentation unmöglich macht. 133 Die zweite Säule der Philosophie Hegels ist die sogenannte "Philosophie der Identität,,134. Sie ist ihrerseits eine Anwendung der vorher beschriebenen Dialektik und dient der Rechtfertigung der bestehenden Ordnung. 135 Ihr Hauptergebnis ist ein "ethischer und juridischer Positivismus,,136, der lehrt, dass das Existierende gut ist, da es keine anderen als die bestehenden Maßstäbe geben kann und somit Macht gleich Recht iSt. 137 Mit Hilfe der Kombination der Gleichungen ,Ideal = Wirklichkeit' und ,Idee = Vernunft' zu der Äquivokation ,Wirklichkeit = Vernunft' behauptet Hegel, dass alles Vernünftige wirklich und alles Wirkliche vernünftig sein müsse, wodurch die Entwicklung der Wirklichkeit mit der der Vernunft zusammenfällt. 138 Man kann somit von einer historizistischen Rechtfertigung sprechen, in der die Geschichte unser Richter ist. 139 An dieser Stelle ist es wichtig, Hegels Verhältnis zum Begriff des Nationalismus anzusprechen. Er unterlegt diesen mit seiner" historischern] Theorie der Nation" 140, wonach eine Nation durch einen gemeinsamen Geist vereinigt ist. Die Entwicklung einer Nation ist somit die Historie ihres Geistes (oder ihrer Essenz), welcher sich, wie bereits 129 Für Hegel liegt es in der Natur der Vernunft, dass sie sich widersprechen muss, vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 48; dies ist für ihn keine Schwäche der menschlichen Fähigkeiten, sondern es ist der Vernunft immanent, dass sie mit Antinomien arbeitet, da sie sich nur auf diese Weise entwickeln könne. 130 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 48. 131 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 48. 132 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 49. 133 Nach der Auffassung von Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 49 kann sich Wissenschaft nur entwickeln, wenn Widersprüche unzulässig sind; entdeckt man in einer Theorie einen Widerspruch, so muss er eliminiert werden; in einer Lehre, die Widersprüche erlaubt und sogar wünscht, besteht kein Bedürfnis, diese zu beseitigen, so dass ein Stillstand der wissenschaftlichen Entwicklung die Folge ist. 134 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 50. 135 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 50. 136 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 50. 137 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 50. 138 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 51. 139 Hierbei wird nach Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 60 folgendermaßen argumentiert: "Da die Geschichte und die Vorhersehung die bestehenden Mächte ins Dasein gebracht haben, so muß ihre Macht Recht ... sein". 140 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 69.

3 Tiefel

34

1. Teil: Geschlossene vs. Offene Gesellschaft

angesprochen, auf der Bühne der Weltgeschichte im Wettstreit um die Vorherrschaft behaupten muss. 141 Welchen Einfluss hat die Hegelianische Philosophie auf moderne totalitäre Lehren? Nach der Auffassung Poppers haben diese fast alle ihre wichtigen Ideen von Hegel übernommen. 142 Die folgende Übersicht über einige totalitäre Kernideen soll dies verdeutlichen: 1. Der Staat ist die Inkarnation des Geistes einer Nation und es gibt unter den verschiedenen Nationen eine auserwählte, die zur Weltherrschaft bestimmt ist. 143 Hegel sah hier deutlich die psychologischen Möglichkeiten des Nationalismus voraus, der den Wunsch des Menschen, einen festen Platz in der Welt zu haben und einem Kollektivkörper anzugehören, erfüllt. l44 2. Der Staat kann seinem Wesen nach nur im Gegensatz zu anderen Staaten bestehen und muss seine Existenz im Krieg behaupten. 145 3. Der Staat definiert sowohl Legalität als auch Moralität, wobei die Weltgeschichte sein einziger Richter sein kann, da der historische Erfolg seiner Handlungen der alleinige Beurteilungsmaßstab ist. 146 4. Der Staat soll von einer weltgeschichtlichen Persönlichkeit geführt werden, die durch tiefe Weisheit und Leidenschaft gekennzeichnet ist. 147 Abschließend kann Poppers Interpretation der Philosophie Hegels damit in folgendem Satz zusammengefasst werden: Die Basiselemente moderner totalitärer Lehren und der Hegeische Historizismus sind inhaltlich identisch. 148

Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 70. Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 75. 143 Für Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 76 besteht nach dieser Idee das höchste Ziel "einer Nation ... darin, einen mächtigen Staat zu bilden, der als wirksames Instrument für ihre Selbsterhaltung dienen kann .... Da der Staat mächtig sein muß, muß er mit anderen Staaten in den Wettstreit treten. Er muß sich auf der ,Bühne der Weltgeschichte' behaupten, er muß sein besonderes Wesen, seinen Geist und seinen ,streng bestimmten' nationalen Charakter durch seine historische Daten bewähren, und er muß schließlich nach der Weltherrschaft streben". 144 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 77. 145 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 77. 146 Der historische Erfolg und die Ausdehnung der Macht des Staates müssen alle anderen Überlegungen beiseite schieben, was von Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 79 f. mit der Bezeichnung "Platonisch-preußische Sittlichkeit" versehen wird. 147 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 75, 86 für den damit keine Hindernisse mehr bestehen, das Führerprinzip als Waffe im Kampf gegen die Freiheit einzusetzen. 148 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 93. Eine kompakte Übersicht über Poppers Hegelinterpretation liefern Baum/Gonzalez, Karl R. Popper, S. 65 ff., Schäfer; Karl R. Popper, S. 112 ff. und Witschel, Wertvorstellung im Werk Karl R. Poppers, S. 37 ff. Ausführlicher ist dagegen die Untersuchung von E. Döring, Karl R. Popper: "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde", S. 97 ff. und die kritische Analyse von Albrecht, Sozialtechnologie und ganzheitliche Sozialphilosophie, S. 113 ff. 141

142

1. Kap.: Karl R. Poppers Bild von Geschlossenen Gesellschaften

35

3. Der falsche Prophet Karl Marx

Die zweite von Popper als falscher Prophet identifizierte Person ist Karl Marx. In dessen Lehre sieht er die bisher reinste und am weitesten entwickelte Form des Historizismus,149 denn deren Hauptaufgabe besteht darin, den zukünftigen Verlauf von wirtschaftlichen und politischen Entwicklungen (insbesondere Revolutionen) vorauszusageniSO. Der Sozialismus soll zu diesem Zweck zu einer Wissenschaft weiterentwickelt werden. 151 Die Betonung der wissenschaftlichen Vorhersage und Methode bewogen Marx zu der Auffassung, dass diese auf einem strengen Determinismus beruhen müssten. 152 Dieser findet nach seiner Ansicht in den unerbittlichen Gesetzen der Natur und der historischen Entwicklung seinen Ausdruck. 153 Auf dem vorher Gesagten aufbauend und in Abgrenzung zum VUlgärmarxismus 154 entwickelt Popper anhand des "historischen Materialismus,d55 seine Interpretation des ökonomischen Historizismus von Marx. Die folgende Metapher veranschaulicht diesen sehr gut: Die Menschen sind auf der Bühne der Geschichte lediglich Marionetten, deren Fäden von historischen Kräften gezogen werden, über die sie keine Kontrolle haben. 156 Bei ihren Handlungen sind sie in ein soziales System verstrickt, das alle verbindet. 157 Auf zwei Kemaspekte des historizistischen Materialismus soll an dieser Stelle deutlich hingewiesen werden. Zum einen auf die historizistische Behauptung, dass der Bereich der Sozialwissenschaften mit dem der geschichtlichen Prophezeiung zusammenfällt, und zum anderen auf die materialistische Ansicht, dass die wirtschaftliche Organisation der Gesellschaft grundlegend für ihre Entwicklung ist. 158 Alle Ideen müssen somit dadurch erklärt werden, dass man sie auf ihre zugrunde liegende essentielle Realität, das heißt auf die ökonomischen Bedingungen, reduziert. 159 Eine Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 96. Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 98. 151 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 99. 152 Für Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 100 zeigen ,,Marxens ,unerbittlichen Gesetze' der Natur und der historischen Entwicklung ... deutlich den Einfluß der Atmosphäre Laplaces"; die Begriffe ,wissenschaftlich' und ,detenninistisch' galten zu dieser Zeit, wenn schon nicht synonym, so doch als untrennbar miteinander verbunden. 153 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 100. 154 Der durchschnittliche Vulgärmarxist ist nach Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 118 der Auffassung, "daß der Marxismus die dunklen Geheimnisse des Soziallebens bloßlegt, indern er die verborgenen Beweggründe, die Gier und die Gewinnsucht enthüllt, die die Mächte hinter der Bühne der Geschichte in Bewegung setzen". 155 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 119. 156 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 119; Phänomene wie Depressionen, Arbeitslosigkeit oder Hunger werden nicht als Ursache, sondern als Ergebnis und somit als Rückwirkung und nicht als treibende Kraft der Geschichte aufgefasst. 157 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 119. 158 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 125 f. 159 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 126. 149 150

3*

1. Teil: Geschlossene vs. Offene Gesellschaft

36

andere Formulierung des historizistischen Materialismus ist Marx' These, dass die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften die von Klassenkämpfen iSt. 160 Es ist also der Kampf der Klassen und nicht der Kampf der Nationen, welcher die Geschichte und das Leben der Menschen bestimmt. 161 Zu diesen Kämpfen kommt es zwangsläufig, da die Klassen in der ökonomischen Struktur der Gesellschaft gefangen sind. 162 Da die kausale Kette der Abhängigkeit den Menschen an das Sozialsystem bindet und nicht umgekehrt, ist soziales Planen innerhalb des Systems demnach nach Marx unmöglich. 163 Wie wirkt sich diese Auffassung auf sein Verständnis von Staat und Politik aus? Für ihn ist der Staat lediglich ein rechtlich-politischer Überbau, der auf den Produktivkräften des wirtschaftlichen Systems errichtet ist und ihnen Ausdruck verleiht. 164 Seine zentrale, wenn nicht einzige Aufgabe ist es, darauf zu achten, dass die gesetzlichen Rahmenbedingungen mit den vorherbestimmten Änderungen der sozialen und wirtschaftlichen Realität Schritt halten. 165 Staatliche Institutionen und gesetzliche Regelungen können, da sie nicht in der Lage sind, die ökonomische Wirklichkeit entscheidend zu verändern, nie von primärer Bedeutung sein und sind daher ohnmächtig. 166 Aus diesem Grund ist für Marx die rechtliche Freiheit vollkommen unzureichend, um das Ziel der historischen Entwicklung der Menschheit zu erreichen, denn es bedarf hierfür einer real-materiellen und somit ökonomischen Autonomie. 167 Nachdem die bisherigen Ausführungen sich mit Marx' Methoden beschäftigten, soll jetzt ein kurzer Blick auf seine Prophezeiungen geworfen werden. Diese lassen sich am besten anhand einer dreistufigen Argumentationskette darstellen. Im ersten Schritt erfolgt eine Analyse der ökonomischen Kräfte des Kapitalismus und deren Einfluss auf die Beziehungen zwischen den Klassen. 168 Marx glaubte, dass die kapitalistische Konkurrenz den Unternehmern die Hände bindet, da diese sie zwingt, Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 130. In der kausalen Erklärung geschichtlicher Entwicklungen muss das Klasseninteresse die Stelle des angeblichen nationalen Interesses einnehmen, vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 130. 162 Die ökonomische Struktur der Gesellschaft wird durch die Gesamtheit der Produktionsverhältnisse gebildet, vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 132. 163 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 134. 164 Das Gleiche gilt für das vorherrschende Moralsystem, vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 138. 165 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 139. 166 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 139, 147; politische Entwicklungen sind somit entweder oberflächlich, da nicht durch die tiefere Wirklichkeit des sozialen Systems bedingt, oder sie sind der Ausdruck einer Veränderung des ökonomischen Hintergrunds bzw. der Klassensituation, wodurch sie einen revolutionären Charakter bekommen. 167 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 144. 168 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 161, 195. 160

161

1. Kap.: Karl R. Poppers Bild von Geschlossenen Gesellschaften

37

Kapital anzuhäufen. 169 Hieraus leitete er über den technischen Fortschritt und die Akkumulation der Produktionsmittel eine Tendenz zur Zunahme des Reichtums weniger (der herrschenden Klasse der Bourgeoisie) und des Elends vieler (der beherrschten Klasse der Arbeiter) ab. 17o Im zweiten Schritt wird das Ergebnis des ersten als erwiesene Prämisse vorausgesetzt und es werden zwei Schlüsse daraus gezogen. 171 Zum einen, dass alle Klassen außer der kleinen herrschenden Bourgoisie und der großen, ausgebeuteten Arbeiterklasse verschwinden oder unbedeutend werden, und zum anderen, dass es dadurch zu einem stärkeren Klassenbewusstsein und zu wachsenden Spannungen zwischen den verbliebenen Klassen kommt, die zu einer sozialen Revolution führen. 172 Nach dem Sieg der Arbeiterklasse über die Bourgeoisie gelangt er im dritten Schritt zu dem Endergebnis, dass letztlich eine Gesellschaft entsteht, die nur noch aus einer Klasse besteht, daher klassenlos und ohne Ausbeutung ist: der Sozialismus. 173 Abschließend soll kurz Marx' Moraltheorie, die wiederum ein Ergebnis seines geschichtlichen Determinismus ist, beleuchtet werden. 174 Diese ist maßgeblich von einem historischen Relativismus geprägt, welcher besagt, dass alle moralischen Werte und Urteile von der geschichtlichen Situation abhängen. 175 Die marxistische Sittenlehre erschöpft sich aber nicht nur in dieser Auffassung. Sie geht zudem davon aus, dass der Einzelne jenes Moralsystem annimmt, welches mit dem Interesse der Klasse verbunden ist, dem er angehört. 176 Da auf Grund der determinierten gesellschaftlichen Entwicklung bereits vorausgesehen werden kann, dass das Moralsystem der Bourgeoisie mit dieser untergehen und das Proletariat siegen wird, ist es unsinnig, einen anderen moralischen Wertekodex als den letzteren anzunehmen. 177 Eine solche historizistische Moraltheorie ist somit nichts anderes als eine weitere Form des moralischen Positivismus, wie er schon von Hegel bekannt ist, wobei bei Marx lediglich die Zukunft an die Stelle der Gegenwart tritt und behauptet wird, dass die zukünftige Macht sittlich sei. 178 Eine Kritik des zuVgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 194. Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 161 f., 194 ff. 171 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 162, 172 betont, dass nach seiner Auffassung keine der beiden Schlussfolgerungen zwingend aus den Prämissen folgt. 172 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 162, 172 ff. 173 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 162 ff. 174 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 242. 175 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 236. 176 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 237. 177 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 237 f. pointiert die marxisitische Sichtweise, die der Einzelne einnehmen soll, wie folgt: "Ich sehe die Unvermeidbarkeit dieser Entwicklung. Der Versuch, dieser Entwicklung Widerstand entgegenzusetzen, wäre einfach widersinnig; ich könnte ebensogut versuchen, das Gravitationsgesetz aufzuheben. Daher habe ich meine grundlegende Entscheidung zugunsten des Proletariats und seiner Moral getroffen. Und diese Entscheidung basiert einzig auf wissenschaftlicher Voraussicht, auf wissenschaftlich-historischer Prophezeiung". 178 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 240. 169

170

1. Teil: Geschlossene vs. Offene Gesellschaft

38

künftigen Zustands ist nicht möglich, da dieser ja selbst wiederum der moralische Maßstab aller Dinge ist. 179 Obwohl Popper mehrere Male deutlich auf seine Wertschätzung für die humanitäre Intention Marx' hinweist, 180 ist dadurch seine Kritik an dessen Theorie in ihrer Klarheit nicht gemindert. 181 Er verdeutlicht Marx' Lehre von einem Determinationsprozess der Geschichte, dessen Schlüssel in den ökonomischen Verhältnissen gesehen wird. Dabei gelangt er über den historizistischen Materialismus zur Theorie des Klassenkampfes, zur Ohnmacht des Staates und schließlich (wie schon bei Platon und Hegel) zum moralischen Positivismus des Marxismus.

4. Merkmale Geschlossener Gesellschaften

Wie sowohl aus Poppers Analyse des Historizismus als auch aus seiner Auseinandersetzung mit den Lehren der Freunde Geschlossener Gesellschaften erkennbar wurde, nennt er in seinen Werken verschiedene Merkmale, die für geschlossene gesellschaftliche Verhältnisse kennzeichnend sind. Obgleich Popper selbst eine systematische Darstellung vermissen lässt, so können trotzdem sechs Charakteristika textimmanent abgegrenzt werden. 1. Der Historizismus dient der Kennzeichnung des vorherrschenden Entwicklungs- und Geschichtsverständnisses. Er findet sich als das Fundament in allen Lehren der Freunde Geschlossener Gesellschaften wieder. Sie gehen allesamt von einem unabänderlichen Entwicklungsgesetz der Geschichte aus, welches zwar der menschlichen Erkenntnis zugänglich ist, jedoch nicht durch sie beeinflusst werden kann. 2. Der Essentialismus stellt die dominierende Erkenntnismethode dar. Mit seiner Hilfe ist in einer sich permanent verändernden Welt das Wesen einer Sache zu identifizieren. Bei Platon ist die Essenz die ursprüngliche, wahre Natur der Dinge innerhalb einer dem Verfall ausgesetzten Welt. Für Hegel ist der Wesens gehalt einer Sache mit dem Ziel, auf das sie sich zubewegt, identisch und bei Marx müssen alle Ideen dadurch erklärt werden, dass man sie auf ihre zugrunde liegende essentielle Realität, das heißt auf ihre ökonomischen Bedingungen, reduziert.

Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 240. Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 96 f., 233. 181 Zu Poppers Interpretation der Philosophie von Marx siehe BaumlGonzalez, Karl R. Popper, S. 68 ff., E. Döring, Karl R. Popper: "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde", S. 111 ff., Witschel, Wertvorstellung im Werk Karl R. Poppers, S. 39 ff. und knapp Schäfer, Karl R. Popper, S. 113 ff. Kritisch äußert sich wiederum Albrecht, Sozialtechnologie und ganzheitliche Sozialphilosophie, S. 151 ff. Eine umfassende marxistische (und natürlich ebenfalls kritische) Rezeption der Analyse Poppers liefern Cornforth, The open philosophy and the Open Society, 1968 und Danilowa, Zur Theorie der "offenen Gesellschaft", 1968. 179 180

2. Kap.: Karl R. Poppers Vorstellung von Offenen Gesellschaften

39

3. Der moralische und juridische Positivismus verdeutlicht das herrschende Verständnis von Recht und Moral. Er lehrt, dass das Bestehende gut ist und es keine anderen Maßstäbe der Bewertung gibt. Betrachtet man in diesem Zusammenhang Platons Theorie der Gerechtigkeit, so zielt diese ganz allein darauf ab, alles zu rechtfertigen, was der Erhaltung der Macht des Staates dient. Auch Hegels Philosophie der Identität ist darauf ausgelegt, die bestehende Ordnung zu verteidigen, was sich verkürzt in der Formel ,Macht ist Recht' ausdrücken lässt. Marx' Theorie ist von einem moralischen Relativismus geprägt, welcher alle Urteile und Werte von der jeweiligen geschichtlichen Situation abhängig macht. Auf Grund seiner Annahme einer determinierten gesellschaftlichen Entwicklung mit dem letztendlichen Sieg des Proletariats tritt für ihn an die Stelle der gegenwärtigen die zukünftige Macht als das Äquivalent des Rechts. 4. Der Kollektivismus beschreibt die Position des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft. In ihm wird eine eindeutige Dominanz gesellschaftlicher Einheiten gegenüber dem Individuum propagiert. Der Staat ist für Platon nicht nur eine Versammlung von Einzelpersonen, sondern eine Einheit höherer Ordnung, so dass es für das Individuum natürlich ist, diesem zu dienen. Der radikale Kollektivismus Hegels spiegelt sich am deutlichsten in seiner Lehre, dass der Staat alles und der Einzelne nichts ist, wider. Marx' Kollektivismus lässt sich sehr gut in seiner Klassenlehre wiederfinden. 5. Der Holismus indiziert den spezifischen Blickwinkel auf die Gesellschaft. Er steht als Synonym für eine ganzheitliche Betrachtungsweise. Platon interpretiert den Staat als eine Art Superorganismus und hebt seine einheitliche Geschlossenheit hervor. Auch Hegel versteht den Staat als mit einem Geist ausgestatteten Organismus und unterstreicht die besondere Stellung der Nation. Marx betont in diesem Kontext die Umwandlung der Gesellschaft als Ganzes zur klassenlosen Gesellschaft. 6. Der Utopismus zeigt den gewünschten Grad der gesellschaftlichen Re- oder Umstrukturierung. Sein Ziel ist die prinzipielle Neuordnung der gesamten Gesellschaft nach einem bestimmten Ideal. Deutlich wird eine solche Einstellung in Platons Streben nach dem besten Staat, in Hegels Vorstellung des Staates als Inkarnation des Geistes der Nation auf dem Weg zur Vollkommenheit und in Marx' sozialistischer Idee von einer Gesellschaft ohne Klassen und Ausbeutung.

2. Kapitel

Karl R. Poppers Vorstellung von Offenen Gesellschaften Vor dem Hintergrund des im vorherigen Kapitel erarbeiteten Bildes von Geschlossenen Gesellschaften wird nun Poppers Vorstellung von den spezifischen Charakteristika offener gesellschaftlicher Verhältnisse rekonstruiert. Ausgangs-

40

1. Teil: Geschlossene vs. Offene Gesellschaft

punkt auf diesem Weg ist die Darstellung erkenntnistheoretischer Kernpunkte des Kritischen Rationalismus (1.). Die Anwendung der kritisch-rationalen Methode im sozialen Bereich (11.) führt dann auf der nächsten Etappe zur Offenen Gesellschaft. Die Analyse der nach popperschen Verständnis offenen gesellschaftlichen Verhältnisse ist in ihrer Struktur dichotomisch zu den im letzten Kapitel herausgearbeiteten Kennzeichen Geschlossener Gesellschaften aufgebaut.

I. Zur Theorie des Kritischen Rationalismus Die politische Philosophie Poppers ist nur dann adäquat zu verstehen, wenn man sich die erkenntnistheoretischen Grundlagen vergegenwärtigt, auf denen sie aufbaut. 182 In diesem Abschnitt sollen daher die für den Untersuchungszweck relevanten epistemologischen Aspekte des Kritischen Rationalismus knapp, aber dennoch in ihren wesentlichen Zügen skizziert werden. Auf detailliertere Darstellungen zu einzelnen Punkten und auf weiterführende Literatur werde ich in den Fußnoten verweisen. Wie können wir Wissen gewinnen, das absolut sicher ist, d. h. auf das wir uns wirklich verlassen können? Mit dieser Fragestellung begibt man sich auf die Suche nach Entdeckungsverfahren oder Letztbegründungen, mit deren Hilfe die Menschen unfehlbar die Richtigkeit ihrer Erkenntnisse sicherstellen wollen. 183 Ein solches Unterfangen mag verlockend sein, denn es kommt dem weit verbreiteten Streben nach Sicherheit und Rechtfertigung sehr entgegen. Angesichts seiner Auseinandersetzung mit traditionellen wissenschaftstheoretischen Lehren 184 und dem Wiener Kreis 185 formulierte Popper eine ganz andere Frage, nämlich, ob und wie 182 Vgl. Salamun, Der Kritische Rationalismus, S. 263; Waschkuhn, Kritischer Rationalismus, 1999, S. 1. 183 Zur Suche nach sicheren Grundlagen der Erkenntnis siehe H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, 5. Aufl. 1991, S. 9 ff. Zur traditionellen Auffassung von gerechtfertigtem Wissen siehe Musgrave, Alltagswissen, Wissenschaft und Skeptizismus, 1993, S. 1 ff. Eine gute Übersicht über die Schulen des Begründungs- und Rechtfertigungsdenkens liefert Baumann, Offene Gesellschaft, Marktprozeß und Staats aufgaben, 1993, S. 8 ff. 184 Ein Querschnitt der klassischen Ideen der Erkenntnis findet sich bei H. Albert, Kritischer Rationalismus, 2000, S. 7 ff., der besonders darauf hinweist, dass die Vorstellung Begründung vermittle WalJrheitsgarantie tief im abendländischen Denken verwurzelt ist; an anderer Stelle liefert ders., Traktat über kritische Vernunft, S. 24 ff. eine gute Zusammenfassung der Erkenntnislehre des klassischen Intellektualismus (insb. Rene Descartes) und des Empirismus (insb. Francis Bacon). Zum Rechtfertigungsmoment in der Wissenschaftstheorie siehe auch Lenk/ Maring, Pragmatische Elemente im Kritischen Rationalismus, in: Stachowiak (Hrsg.): Pragmatik, Handbuch Pragmatischen Denkens, Bd. II, 1987, S. 257 f. 185 Siehe dazu ausführlich V. Kraft, Der Wiener Kreis, 2. Aufl. 1968 und die umfassende Sammlung an Beiträgen zur Geschichte und Wirkung des Wiener Kreises bei Dahms, Philosophie Wissenschaft Aufklärung, 1985; knapp dagegen Alt, Die Frühschriften Poppers, 1982, S. 64 ff.; eine Dokumentation über die Personen, die politische Ausrichtung und die Philosophie des Wiener Kreises liefert Geier; Der Wiener Kreis, 1992.

2. Kap.: Karl R. Poppers Vorstellung von Offenen Gesellschaften

41

Erkenntniszuwachs möglich ist, falls dem Menschen kein Fundament zur Verfügung steht, welches ihm Sicherheit gibt. 186 Die Antwort auf diese Frage ist die Kernthese des Kritischen Rationalismus: Erkenntniszuwachs benötigt keine letztbegründende Basis, denn entscheidend ist vielmehr, dass wir unsere Theorien und Hypothesen einer möglichst strengen Prüfung unterziehen. 187 Die Suche nach inhaltlicher Erkenntnis wird damit nicht aufgegeben, wohl aber die nach absoluter Begründung und Gewissheit. 188 Poppers Antwort basiert auf seinem Verständnis von Sicherheit und Wahrheit (3.) und ist eng mit den von ihm entwickelten Lösungsvorschlägen für zwei Probleme verknüpft, die er in seinen zwischen 1930 bis 1934 entstandenen Schriften ,Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie' und ,Die Logik der Forschung' als das Induktions- (1.) und das Abgrenzungsproblem (2.) bezeichnet.

1. Das Induktionsproblem

Als induktiv kennzeichnet man einen Schluss von besonderen Sätzen, die meistens konkrete empirische Beobachtungen oder Experimente beschreiben, auf allgemeine Sätze (insbesondere Theorien), welche für eine unbeschränkte Anzahl von Sachverhalten gelten sollen. 189 Die Frage, ob und unter welchen Bedingungen induktive Schlüsse berechtigt sind, bezeichnet Popper als das Induktionsproblem. 190 Im Kern geht es somit darum, ob sich Theorien rechtfertigen oder absi186 Nach Ansicht Poppers war ein solches Fundament noch nicht gefunden und durch Albert Einsteins Relativitätstheorie hatte sich zudem herausgestellt, dass sogar die wohl bis zu diesem Zeitpunkt erfolgreichste Theorie, nämlich die Isaac Newtons, ihre Schwächen hatte, vgl. H. Albert, Erkenntnis und soziale Ordnung, in: Leser 1Seifert 1Plitzner (Hrsg.), Die Gedankenwelt Sir Karl Poppers, 1991, S. 204 und Magee, Karl Popper und der Kritische Rationalismus, in: Lührs/Sarrazin/Spreer/Tietzel (Hrsg.), Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie 1, 1975, S. 79 f.; ausführlich zu Poppers Verhältnis zum Wiener Kreis siehe Heyt, Karl Poppers Wiener Jahre, Ang Sozf 3+4/1997, S. 15 ff. und V. Kraft, Popper and the Vienna Circ1e, in: Schilpp (Hrsg.), The philosophy of Karl Popper 1, 1974, S. 185 ff. 187 Vgl. Popper, Objektive Erkenntnis, 4. Aufl. 1984, S. VII; Alt, Karl R. Popper, 1992, S. 10; Hö!fe, Kritischer Rationalismus, in: ders. (Hrsg.), Lexikon der Ethik, 5. Aufl. 1997, S. 163; Musgrave, What is Critical Rationalism?, in: Bohnen 1ders. (Hrsg.), Wege der Vernunft, 1991, S. 17 ff.; Salamun, Der Kritische Rationalismus, S. 263. 188 Es wird damit ein Wissensideal aufgegeben, das auf der Suche nach einem absolut sicheren Fundament der Erkenntnis beruht und in dem Wahrheit und Gewissheit miteinander verschmelzen. An die Stelle der Begründung tritt die "Idee der kritischen Prüfung", vgl. H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, S. 42; diesen Vorgang bezeichnet Spinner, Pluralismus als Erkenntnismodell, 1974, S. 43 als" Wende zum rechtfertigungsfreien Denken". 189 Vgl. Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, 2. Aufl. 1994, S. 3; das., Die Logik der Forschung, 3. Aufl. 1969, S. 3; Irrgang, Lehrbuch der Evolutionären Erkenntnistheorie, 1993, S. 63. Einen Überblick über die Geschichte des Induktionsbegriffs liefert Wellmer, Methodologie als Erkenntnistheorie, 1972, S. 70 ff. 190 Vgl. Popper, Die Logik der Forschung, S. 3; m. a. W. geht um die Frage der Geltung oder Begründung der allgemeinen Sätze der empirischen Wissenschaften, vgl. das., Die

42

1. Teil: Geschlossene VS. Offene Gesellschaft

chern lassen, indem man auf Erfahrungen verweist. Bei der Untersuchung stimmt Popper den Ergebnissen der Analyse David Humes 191 zu und zeigt, dass sich das Induktionsprinzip logisch nicht begründen lässt. l92 Der Verallgemeinerung von Wirklichkeitsaussagen kann niemals ein positiver Geltungswert zugeschrieben werden, was seinerseits bedeutet, dass die Verifikation von Theorien nicht möglich ist. 193 Wer trotzdem an der Rechtfertigung von Theorien festhält, muss ein Trilemma in Kauf nehmen, das ihm lediglich die Wahl zwischen den folgenden unbefriedigenden Alternativen lässt: Unendliches Begründungsverfahren (infiniter Regress), Dogmatismus (Abbruch der Begründung an einem willkürlichen, sicher erscheinenden Punkt) oder Rückzug auf eine psychologische Basis (Rekurs auf ein subjektives, scheinbar evidentes Erlebnis). 194 Die Pointe von Poppers epistemologischem Lösungsvorschlag ist, auf die Begründung zu verzichten, ohne zugleich die Möglichkeit von Erkenntniszuwächsen auszuschließen. Der Schlüssel liegt dabei in der Auflösung des scheinbaren Widerspruchs zwischen der Grundthese des Empirismus, dass nur Erfahrung über die Wahrheit oder Unwahrheit einer Aussage entscheiden kann und der humeschen Einsicht in die Unzulässigkeit induktiver Beweisführung. 195 Die meisten früheren erkenntnistheoretischen Lösungsansätze gingen von der Annahme aus, dass alle echten Wirklichkeitsaussagen vollentscheidbar, das heißt sowohl verifizierbar als auch falsifizierbar sein müssen. l96 Folgt man dieser Auffassung, existiert der be-

beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. 3,421 f. Ein Überblick über Poppers Auseinandersetzung mit dem Induktionsproblem findet sich bei Irrgang, Lehrbuch der Evolutionären Erkenntnistheorie, S. 67 ff. und Schurz, Das Problem der Induktion, in: Keuth (Hrsg.), Karl Popper: Logik der Forschung, 1998, S. 25 ff. 191 Vgl. Hume, Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, 12. Auf!. 1993. 192 Vgl. Popper; Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. 33 ff.; Levison, Popper, Hume, and the tradition al problem of induction, in: Schilpp (Hrsg.), The philosophy of Karl Popper 1, 1974, S. 322 ff.; Magee, Karl Popper, S. 15; Watkins, Karl Raimund PopperDie Einheit des Denkens, in: Speck (Hrsg.), Philosophie der Gegenwart I, 1972, S. 198. 193 Vgl. Popper; Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. 9. Die Induktion lässt beispielsweise falsche Schlüsse aus wahren Prämissen zu, vgl. Baum/Gonzalez, Karl R. Popper, S. 28; Magee, Karl Popper und der Kritische Rationalismus, S. 78 betont in diesem Kontext, dass "jede Suche nach schlüssiger Verifikation irrational" sei. Eine kritische Analyse der popperschen Auffassung liefert Schurz, Karl Popper und das Induktionsproblem, Ang Sozf 3+4 / 1997, S. 25 ff. 194 Vgl. Popper; Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. 120 f.; H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, S. 15 nennt diese Situation "Münchhausen-Trilemrna", wobei er zwischen den Optionen ,Infiniter Regress', ,Abbruch des Verfahrens' und ,Logischer Zirkel' unterscheidet; ebenso Höjfe, Kritischer Rationalismus, S. 163 und Lenk/Maring, Pragmatische Elemente im Kritischen Rationalismus, S. 258 f. Bereits bei Dingler; Philosophie der Logik und Arithmetik, 1931, S. 21 ff. findet sich die Beschreibung einer Situation, weIche ihrer Struktur nach dem Trilemrna entspricht; allerdings hat er diese nicht als Trilemrna identifiziert, da er mit der Idee der Selbstbegriindung operiert. 195 Vgl. Popper; Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. 426. 1% Vgl. Popper; Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. 9, 426.

2. Kap.: Karl R. Poppers Vorstellung von Offenen Gesellschaften

43

sagte Widerspruch wirklich. Hebt man jedoch diese unbegründete Voraussetzung auf, so können Theorien widerspruchsfrei als teilentscheidbare echte Wirklichkeitsaussagen angesehen werden, die zwar aus logischen Gründen nicht verifizierbar sind, aber durch Falsifikationsversuche überprüft werden können. 197 Der Widerspruch verschwindet, da er überhaupt nicht mehr vorhanden ist. Auf dem vorher Gesagten baut Poppers konsequenter Deduktivismus, im Sinne des Schlusses vom Allgemeinen auf das Besondere, auf. 198 Die deduktive Logik besagt, dass die Konklusion wahr sein muss, wenn die Prämissen eines gültigen Schlusses wahr sind. Somit ist es im Falle des Auftretens einer falschen Konklusion bei einem gültigen Schluss nicht möglich, dass alle Prämissen wahr sind. 199 Ein weiterer Kembestandteil der von Popper vertretenen Konzeption ist die Überzeugung, dass Theorien als allgemeine Aussagen immer nur vorläufige Annahmen, d. h. Hypothesen, sein können. 2OO Empiristisch wird sein Standpunkt durch den Grundsatz, dass nur Erfahrung über die Wahrheit einer Wirklichkeitsaussage entscheiden kann?OI Wie gelangt man unter diesen Voraussetzungen zu einem Erkenntniszuwachs? Aus den hypothetischen Theorien werden einzelne Aussagen deduziert und an der Erfahrung überprüft. 202 Verlaufen alle Tests positiv, dann hat sich die Theorie zwar vorerst bewährt, ist dadurch jedoch nicht verifiziert?03 Scheitert sie in nur einer 197 Vgl. Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. 9,426 f. Nach Schäfer, Karl R. Popper, S. 51 entkoppelt Popper den Empirismus und den Induktivismus. Einen guten Überblick über die Einwände gegen das Falsifikationsprinzip gibt Habennehl, Neuere Einwände gegen die Theorie der Falsifikation, in: Eichner / ders. (Hrsg.), Probleme der Erklärung sozialen Verhaltens, 1977, S. 5 ff. 198 Vgl. Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. 7, 425. Eine Skizze und eine kritische Diskussion der Lösung Poppers findet sich bei Stegmüller, Das Problem der Induktion: Humes Herausforderung und modeme Antworten, 1986, S. 8 ff. 199 Vgl. Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. 7 f.; "Wenn alle Prämissen wahr sind und der Schluß gültig ist, dann muß auch die Konklusion wahr sein; und wenn daher in einem gültigen Schluß die Konklusion falsch ist, so ist es nicht möglich, daß die Prämissen alle wahr sind .... Die deduktive Logik ist nicht nur die Theorie der Übertragung der Wahrheit von den Prämissen auf die Konklusion, sondern gleichzeitig auch umgekehrt die Theorie der Rückübertragung der Falschheit von der Konklusion auf wenigstens eine der Prämissen.", ders., Die Logik der Sozialwissenschaften, in: Adorno, Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, 1969, S. 116. 200 Vgl. Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. 8. 201 Vgl. Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. 8. 202 Vgl. Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. 8; ders., Die Logik der Forschung, S. 7 f. unterscheidet vier Dimensionen nach denen die Prüfung durchgeführt wird: 1. Logischer Vergleich der Folgerungen untereinander. 2. Untersuchung der logischen Form der Theorie. 3. Vergleich mit der Aussagekraft anderer Theorien. 4. Priifung durch empirische Anwendung der Folgerungen. 203 Für Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. 8 f. bleiben Theorien "immer nur vorläufige Annahmen". Zu Poppers Theorie der Bewährung siehe auch Watkins, Die Poppersche Analyse der wissenschaftlichen Erkenntnis, in: Radnitzky / Andersson (Hrsg.), Fortschritt und Rationalität der Wissenschaft, 1980, S. 39 ff.

44

1. Teil: Geschlossene vs. Offene Gesellschaft

Prüfung an der Empirie, so ist sie insgesamt falsifiziert. 204 Das bedeutet, dass sich Theorien zwar nicht beweisen, wohl aber prüfen lassen. 205 Sie müssen zu diesem Zweck möglichst klar und eindeutig formuliert werden, um sie systematisch dem Risiko der Widerlegung auszusetzen. 206 Die Falsifikation einer Theorie führt zur Entwicklung von neuen Theorien, welche, um bessere Lösungen liefern zu können, über das vorher vorhandene Wissen hinausgehen müssen?07

2. Das Abgrenzungsproblem Die oben beschriebene Vorgehensweise hat den Vorteil, dass sie auch den Weg zur Lösung des zweiten Grundproblems, nämlich dem der Abgrenzung, ebnet. Für Popper stellt sich folgende Kernfrage: "Wodurch unterscheiden sich die empirischen von den nichtempirischen Wissenschaften und von den außerwissenschaftlichen Gebieten?,,208 Die Suche nach einem solchen Kriterium bezeichnet er als das Abgrenzungsproblem, welches für ihn wiederum das Fundamentalproblem der Erkenntnistheorie darstellt. 209 Nach Auffassung der Neopositivisten 21O und insbesondere Ludwig Wittgensteins 211 wird diese Abgrenzung durch den Sinnbegriff geleistet, denn jeder sinnvolle Satz muss als Wahrheitsfunktion von Elementarsätzen logisch und restlos auf singuläre Beobachtungsätze zurückführbar sein?12 Dadurch 204 Vgl. Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. 8 f.; Messmer, Die Grundlagen Poppers Sozialphilosophie, S. 2. 205 V gl. Alt, Karl R. Popper, S. 21; Magee, Karl Popper, S. 18 f. Metaphorisch ausgedriickt bedeutet dies: Beim Baum der Erkenntnis können die Wurzeln ruhig im Dunkeln bleiben, denn von entscheidender Bedeutung sind die Friichte und das Wachstum des Baumes. 206 Vgl. E. Döring/W Döring, Philosophie der Demokratie bei Kant und Popper, 1995, S. 158 f.; Magge, Karl Popper, S. 19. 207 Vgl. Magee, Karl Popper, S. 22; für E. Döring/W Döring, Philosophie der Demokratie bei Kant und Popper, S. 159 geht es bei der Falsifikation im wesentlichen darum, dass eine Theorie durch die Beseitigung ihrer fehlerhaften Implikationen durch eine bessere ersetzt wird; zu den Kriterien für eine bessere Theorie siehe Watkins, Die Poppersche Analyse der wissenschaftlichen Erkenntnis, S. 39. 208 Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. 347. 209 Für Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. 347 f. steht das verallgemeinerte Abgrenzungsproblem, also die Suche nach einem Kriterium des Wissenschaftscharakters, gewissermaßen als Ersatz für die Frage, was Erkenntnis ist. Eine von Popper, Replies to my critics, in: Schilpp (Hrsg.), The philosophy of Karl Popper 2, 1974, S. 1081 ff. selbst geriihmte Zusammenfassung seiner Lehre zum Abgrenzungsproblem bietet Bemays, Concerning Rationality, in: Schilpp (Hrsg.), The philosophy of Karl Popper I, 1974, S. 597 f.; siehe aber auch Wendel, Das Abgrenzungsproblem, in: Keuth (Hrsg.), Karl Popper: Logik der Forschung, 1998, S. 41 ff. 210 Einen guten Überblick über den Neopositivismus liefern R. Haller, Neopositivismus, 1993 und Schleichert, Logischer Empirismus - der Wiener Kreis, 1975. 211 Vgl. Wittgenstein, Tractatus logico-philosophicus, 13. Auf!. 1978. 212 Vgl. Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. 427; ders., Die Logik der Forschung, S. 9 f. Zu dieser Auffassung gelangten die Positivisten dadurch, dass sie

2. Kap.: Karl R. Poppers Vorstellung von Offenen Gesellschaften

45

schien ihnen die Disqualifikation der Metaphysik und der Philosophie als sinnloses Gerede gelungen zu sein?13 Dieser Radikalismus vernichtet aber nicht nur die Metaphysik, sondern auch die Naturwissenschaften, denn auf Grund des schon beschriebenen Induktionsproblems sind auch die Naturgesetze aus Beobachtungssätzen nicht logisch ableitbar?14 Im Gegensatz zu den geschilderten Versuchen der Positivisten sieht Popper seine Aufgabe nicht darin, die Metaphysik zu überwinden, sondern die empirische Wissenschaft in zweckmäßiger Form zu kennzeichnen. 215 Er führt das Kriterium der Falsifizierbarkeit ein, welches es ermöglicht, die empirischen Wissenschaften gegenüber der Metaphysik hinreichend scharf abzugrenzen, ohne jedoch gleichzeitig die letztere für sinnlos erklären zu müssen. 216 Falsifizierbarkeit bedeutet, dass nur solche Sätze etwas über die Erfahrungswirklichkeit aussagen, die an ihr scheitern können, was wiederum impliziert, dass man angeben können muss, unter welchen Bedingungen sie als empirisch widerlegt zu betrachten sind. 217 Es ist leicht zu erkennen, dass das gewählte Kriterium keine Wertung, sondern der Vorschlag für eine Festlegung ist, über deren Zweckmäßigkeit man sicherlich streiten kann. Sie besticht allerdings, falls man den empirischen Wissenschaften nicht die Aufgabe zuschreibt, ein System unumstößlicher, absolut sicherer Sätze aufzustellen, durch ihre Fruchtbarkeit und aufklärende Kraft gegenüber erkenntnistheoretischen Problemen. 218 lediglich jene Sätze für wissenschaftlich brauchbar hielten, die induktiv aus Beobachtung gewonnen waren, und nur solche als sinnvoll gelten ließen, vgl. Messmer, Die Grundlagen Poppers Sozialphilosophie, S. 3 und H. Albert, Der Kritische Rationalismus Karl R. Poppers, ARSP 1960, S. 393. 213 Vgl. H. Albert, Karl Popper (1902-1994), ZfaW 1995, S. 210; Baum/Gonzalez, Karl R. Popper, S. 29; Messmer, Die Grundlagen Poppers Sozialphilosophie, S. 3. 214 Vgl. Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. 427; ders., Die Logik der Forschung, S. 11 f. 215 Vgl. Popper, Die Logik der Forschung, S. 12. 216 Vgl. Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. 427; ders., Die Logik der Forschung, S. 15 weist ausdriicklich darauf hin, dass er "die Falsifizierbarkeit als Abgrenzungskriterium und nicht als Sinnkriterium .. vorschlägt. Zu dem pragmatischen Aspekt des poppersehen Abgrenzungskriteriums siehe Lenk/ Maring, Pragmatische Elemente im Kritischen Rationalismus, S. 260. m Vgl. Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. 377 ff.; ders., Die Logik der Forschung, S. 14 f., 47 ff. Eine Zusammenfassungen zum Kriterium der Falsifizierbarkeit liefern Andersson/Radnitzky/Popper, Falsifizierbarkeit, in: Seiffert/Radnitzky (Hrsg.), Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, 1989, S. 80 ff. und Gadenne, Die verschiedenen Falsifikationsprinzipien in der Methodologie Poppers, Ang Sozf 3+4/1997, S. 33 ff. Schäfer, Karl R. Popper, S. 51 ff. betont besonders, dass es nicht Poppers Intention sei, Metaphysik und Pseudowissenschaften in einen Topf zu werfen (nur weil beide nicht dem Falsifikationskriterium genügen), da er ausdriicklich keinesfalls den Unterschied zwischen "nicht-empirisch wissenschaftlich" und "unwissenschaftlich" aufheben will. Kritisch gegenüber Poppers Lösung und den damit verbundenen Konsequenzen sind Obermeier, Poppers "negative Lösung" des Induktionsproblems und die hieraus resultierenden Folgelasten, in: Salamun (Hrsg.), Karl R. Popper und die Philosophie des Kritischen Rationalismus, 1989, S. 65 ff. und Lohse, Der Rechtsbegriff "Stand der Wissenschaft" aus erkenntnistheoretischer Sicht, 1994, S. 79 ff.

46

1. Teil: Geschlossene vs. Offene Gesellschaft

Was kann an dieser Stelle als Zwischenergebnis festgehalten werden? Durch die Annahme teilentscheidbarer (d. h. aus logischen Gründen zwar nicht verifizierbarer, wohl aber falsifizierbarer) Sätze als Wirklichkeitsaussagen löst Popper sowohl das Induktions- als auch das Abgrenzungsproblem. 219 Um zu Erkenntniszuwächsen zu gelangen, tritt an die Stelle der Induktion die Deduktion und die Begründung wird durch Kritik ersetzt. Zudem liefert die Falsifizierbarkeit ein Kriterium, wie man die empirischen von den nichtempirischen Wissenschaften und außerwissenschaftlichen Gebieten abgrenzen kann. Dieser zweite Punkt ist entscheidend, denn für Popper ist nur über die Falsifikation von empirisch-wissenschaftlichen Theorien und der daraus resultierenden Notwendigkeit der Entwicklung neuer Problemlösungen ein Wissenszuwachs zu erreichen.

3. Fallibilismus, Sicherheit und Wahrheit

Um Poppers Kritischen Rationalismus besser verstehen zu können, muss noch auf einige weitere Kernaspekte der von ihm eingenommenen Position kurz eingegangen werden. Seine Grundeinstellung ist geprägt von einem konsequenten Fallibilismus. 220 Er vertritt damit die Auffassung, dass der Mensch stets fehlbar sei und sich also immer irren könne. 221 Es gibt für ihn daher weder absolut sicheres Wissen noch endgültige Erkenntnis?22 Ergo: Die Erfüllung der klassischen Forderung nach Gewissheit durch letztgültige Begründung liegt nicht im Bereich der menschlichen Mög218 VgJ. Popper, Die Logik der Forschung, S. 12; H. Albert, Der Kritische Rationalismus Karl R. Poppers, ARSP 1960, S. 388 f.; Gesang, Wahrheitskriterien im Kritischen Rationalismus, 1995, S. 111. 219 Kritik an der Lösung Poppers findet sich bei seinem Schüler Lakatos, Popper zum Abgrenzungs- und Induktionsproblem, in: Lenk (Hrsg.), Neue Aspekte der Wissenschaftstheorie, 1971, S. 75 ff. 220 VgJ. Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. XXI; ders., Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 466 ff.; H. Albert, Kritischer Rationalismus, 2000, S. 16; Salamun, Der Kritische Rationalismus, S. 263; Schäfer, Karl R. Popper, S. 28; Spinner, Popper und die Politik, 1978, S. 90; für Radnitzky, Karl R. Popper, S. 35 ist der radikale Fallibilismus das wichtigste Markenzeichen des popperschen Denkens. 221 VgJ. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 466; ders., Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. XXI vergleicht die Fehlbarkeit aller menschlichen Erkenntnis mit der Formel ,Ich weiß, dass ich nichts weiß' des sokratischen Nichtwissens. Für H. Albert, Konstruktion und Kritik, S. 23 ist eine der wichtigsten Anforderungen an die Erkenntnislehre,,,daß sie der tatsächlichen menschlichen Erkenntnissituation Rechnung tragen muß". Zu den impliziten Voraussetzungen des Fallibilismus siehe Wendel, Fallibilismus und Letztbegründung, in: Gadennel ders. (Hrsg.), Rationalität und Kritik, 1996, S. 35 ff. 222 VgJ. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 466, 468; H. Albert, Kritischer Rationalismus, in Seiffert I Radnitzky (Hrsg.), Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, 1989, S. 180; Baum/Gonzalez, Karl R. Popper, S. 36; Niemann, Die Strategie der Vernunft, 1993, S. 38; Salamun, Der Kritische Rationalismus, S. 263 .

2. Kap.: Karl R. Poppers Vorstellung von Offenen Gesellschaften

47

lichkeiten. 223 Die Betonung dieses Punktes führt für Popper jedoch nicht automatisch zum Skeptizismus oder in die Resignation, sondern aktiviert nach seiner Vorstellung vielmehr den menschlichen Drang des Forschens, Suchens und prüfens. 224 Für ihn ist es wichtig, eine bescheidene Haltung einzunehmen und sich mit dieser Einstellung auf die Suche nach Erkenntnis zu machen - " Wissenschaft ist Wahrheitssuche: nicht der Besitz von Wissen, sondern das Suchen nach Wahrheit,.225. Der Mensch kann nur versuchen, sich der Wahrheit zu nähern. 226 Es stellt sich nun zum einen die Frage, wie sich der Mensch der Wahrheit nähern soll, und zum anderen, was Popper überhaupt unter dem Begriff der Wahrheit versteht. Der Weg zu Erkenntniszuwächsen und somit zu einer Annäherung wurde bereits beschrieben. Es ist die Anwendung der kritischen Methode, welche darauf abzielt, aus bisherigen Irrtümern zu lernen. 227 Durch die Entwicklung von Theorien und durch ihre Überprüfung anhand der Erfahrung tasten wir uns schrittweise an die Wahrheit heran. 228 Zur Beurteilung der Weiterentwicklung des Wissens hat Popper einen an die Definition von Alfred Tarski angelehnten Wahrheits begriff eingeführt?29 Für ihn besteht die Wahrheit einer Aussage in ihrer Übereinstimmung mit der Wirklichkeit oder einer Tatsache - er spricht daher von einer Korrespondenztheorie. 23o Wahrheit ist somit ein semantischer Begriff, 223 H. Albert, Traktat der kritischen Vernunft, S. 36 dazu: "Alle Sicherheiten in der Erkenntnis sind selbstfabriziert und damit für die Erfassung der Wirklichkeit wertlos". 224 Vgl. Schäfer, Karl R. Popper, S. 28. 225 Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. XXII. Sinngemäß ebenso ders., Die Logik der Forschung, S. 225. Für Dahrendorf, Liberale und andere, 1994, S 83 ist Poppers Vorstellung, dass wir die Wahrheit immer nur suchen, ohne zu wissen, ob wir sie wirklich gefunden haben, eine große Idee, welche die Welt verändert hat. 226 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 469 spricht expressis verbis von einer "Annäherung an die Wahrheit"; ebenso ders., Ausgangspunkte 1994, S. 187,220. Zu Poppers Auffassung von Theorien als falsifizierbare Hypothesen siehe Müller-Schmidt, Die philosophischen Grundlagen der Theorie der "Offenen Gesellschaft", S. 15 ff. und zu Poppers Vorgehensweise bei der Wahrheitsannäherung siehe Lenk/ Maring, Pragmatische Elemente im Kritischen Rationalismus, S. 263 f. 227 Vgl. zusammenfassend Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 468; siehe zudem H. Albert, Traktat über kritische Vernunft, S. 40. Ich möchte es an dieser Stelle nicht versäumen, die epistemologischen Konzeptionen von Paul Feyerabend und Thomas Kuhn zu erwähnen, welche nicht zuletzt aus der Kritik an Poppers Theorien entstanden sind. 228 H. Albert, Der Kritische Rationalismus Karl R. Poppers, ARSP 1960, S. 397 und Spinner, Popper und die Politik, S. 92 sprechen von einer "Approximationstheorie". 229 Vgl. Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. XXII; H. Albert, Karl Popper (1902-1994), ZfaW 1995, S. 212; Keuth, Rationalität und Wahrheit, in: Gadenne/Wende1 (Hrsg.), Rationalität und Kritik, 1996, S. 90 ff. Zu Tarskis Begriff der Wahrheit und anderen Wahrheitstheorien siehe ausführlich Musgrave, Alltagswissen, Wissenschaft und Skeptizismus, S. 251 ff. Zum systematischen Einbezug des Wahrheitsbegriffs in den Kritischen Rationalismus siehe Gesang, Wahrheitskriterien im Kritischen Rationalismus, S. 115 ff. Eine umfassende Synopse der wichtigsten Wahrheitstheorien (einschließlich der poppersehen) bietet Pöter, Wahrheitstheorien und die Stellung des Wahrheitsbegriffs in den Sozialwissenschaften, 1990, insb. S. 145 ff.

48

1. Teil: Geschlossene vs. Offene Gesellschaft

der sich auf das Verhältnis eines sprachlichen Ausdrucks zur Wirklichkeit bezieht. 231 Akzeptiert man die Korrespondenztheorie, so wird deutlich, dass Wahrheit und Gewissheit klar unterschieden werden müssen?32 Aus der Wahrheit einer Aussage (also ihrer Übereinstimmung mit den Tatsachen) folgt nicht automatisch ihre Gewissheit, denn ein Satz kann wahr sein, ohne jedoch beweis- oder begründbar zu sein. 233 Popper fasst das vorher beschriebene Verhältnis in dem folgenden Satz zusammen: "Wir düifen die Wahrheit nicht mit der Sicherheit, mit ihrem sicheren Besitz venvechseln. Die absolute Wahrheit wird manchmal erreicht; die Sicherheit nie,,234. Falsifizierbare Theorien, die noch nicht widerlegt wurden, müssen folglich weiterhin als reine Hypothesen betrachtet werden. 235 Sie liefern kein sicheres Wissen, sondern ausschließlich Vermutungen darüber, wie die Welt oder ein Teil von ihr sein könnte. 236 Das Gesagte impliziert damit, dass unsere Erkenntnis und unser gesamtes Wissen nichts anderes als reines Vermutungswissen sind?37 Abschließend können die für den Untersuchungszweck dieser Arbeit wichtigsten wissenschaftstheoretischen Kernpunkte des Kritischen Rationalismus wie folgt zusammengefasst werden. Das Fundament von Poppers Überlegungen ist seine Überzeugung, dass wir aus unseren Fehlern lernen können. Für ihn ist bewusstes Lernen aus Fehlern und Lernen durch dauernde Korrektur das Grundprinzip des Kritischen Rationalismus. 238 Das menschliche Wissen wächst dadurch, dass Vermutungen, die wir aufgestellt haben, an der Erfahrung scheitern, wodurch Probleme entstehen, die ihrerseits wiederum den Anstoß geben, neue und bessere Theorie zu entwickeln. 239 Dieser Prozess kann als ständiger Wechsel von Vermutungen und Wider230 Vgl. Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. XXII; ders., Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 469; Hinterberger, Der Kritische Rationalismus und seine antirealistischen Gegner, 1996, S. 351; Schäfer, Karl R. Popper, S. 77. Eine kritische Zusammenfassung zum Wahrheitsbegriff in der popperschen Philosophie liefert Hübner, Kritik der wissenschaftlichen Vernunft, 3. Aufl. 1986, S. 273 ff. 23l V gl. Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. XXIII ff.; Radnitzky, Karl R. Popper, S. 34. 232 Vgl. Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. XXV; Radnitzkyl Andersson, Gibt es objektive Kriterien für den Fortschritt?, in: dies. (Hrsg.), Fortschritt und Rationalität der Wissenschaft, 1980, S. 8. 233 Vgl. Popper, Die beiden Grundprobleme der Erkenntnistheorie, S. XXV f. 234 Popper, Objektive Erkenntnis, S. VII. 235 Vgl. BaumlGonztilez, Karl R. Popper, S. 38. Zur Wahrheit in der Falschheit siehe Hinterberger, Der Kritische Rationalismus und seine antirealistischen Gegner, S. 355 ff. 236 Für Popper, Objektive Erkenntnis, S. 81 bleiben aus der Perspektive des objektiven Wissens alle Theorien Vermutungen. 237 Vgl. Popper, Objektive Erkenntnis, S. VIII; H. Albert, Kritischer Rationalismus, 1989, S. 180; ders., Kritischer- Rationalismus, 2000, S. 15 spricht neben "Vermutungswissen" auch vom "hypothetischen oder konjekturalen Wissen". 238 Vgl. Popper, Das Elend des Historizismus, S. IX. Eine Analyse der popperschen Lerntheorie und deren Bedeutung findet sich bei BerksonI Wettersten, Lernen aus dem Irrtum, 1982.

2. Kap.: Karl R. Poppers Vorstellung von Offenen Gesellschaften

49

legungen aufgefasst werden, welchen Popper in der Formel ,PI -+ VT -+ FE -+ P2' zum Ausdruck bringt. 24o Ein Problem (PI) führt zu einer vorläufigen Theorie (VT), die mittels der kritischen Diskussion und der experimentellen Prüfung einer Fehlerelimination (FE) unterworfen wird, innerhalb derer sich aus den Folgen unseres Handels autonom, d. h. egal, ob wir es beabsichtigen oder nicht, neue Probleme (P2) ergeben?41 Poppers auf Rechtfertigung verzichtender Kritischer Rationalismus geht dabei von der grundsätzlichen Fehlbarkeit des Menschen aus und baut daher auf einen systematischen Ansatz zur Aufdeckung und Korrektur von Fehlern. Im Kern geht es ihm darum, nicht nur aus Zufall über einen Irrtum zu stolpern, sondern jede Theorie bzw. Hypothese mit Hilfe des Falsifikationskriteriums bewusst und aktiv einer möglichst strengen deduktiven Prüfung zu unterziehen, um auf diesem Wege eine Annäherung an die Wahrheit zu erreichen. Das Ergebnis dieser Vorgehensweise ist Vermutungswissen. Es wird deutlich, dass für Popper nicht nur die Entwicklung und Bewährung einer Theorie, sondern auch deren Falsifikation einen Wissenszuwachs darstellt. Sicherheit und Gewissheit können jedoch nicht erlangt werden. Damit tritt intellektuelle Bescheidenheit an die Stelle von Dogmatismus, Erkenntniszuwachs ist auch ohne Sicherheit möglich und der Verlust der Gewissheit geht nicht zu Lasten einer möglichen Annäherung an die Wahrheit. Die oben beschriebene Theorie wurde vor allem in Hinblick auf Erkenntnisprobleme formuliert, lässt sich aber prinzipiell auch auf andere Wissenschaftsgebiete ausdehnen. 242 Dort geht es gleichermaßen um die Lösung von Problemen und daher stets um das zur Beurteilung von Theorien, Entscheidungen und Handlungen notwendige Wissen. 243 Auf diesem Weg gelangt man zu Poppers Sozialphilosophie.

239 Siehe in diesem Kontext auch die Abgrenzung zwischen dem "Scheinwerfermodell" der Erkenntnis und dem populären, weitverbreiteten "Kübelmodell" der Erkenntnis, vgl. Popper, Objektive Erkenntnis, S. 354 ff. Zur Bedeutung von Problemen für die wissenschaftliche Erkenntnis siehe zudem Vollmer, Gelöste, ungelöste und unlösbare Probleme, 1992. 240 Vgl. Popper, Objektive Erkenntnis, S. 122 f.; im englischen Original lautet die Formel ,PI -+ TI -+ EE -+ P2', wobei PI für ,problem 1', TI für ,tentative theory', EE für ,error elimination' und P2 für ,problem 2' steht, vgl. ders., Objective Knowledge, 1972, S. 119. 241 Vgl. Popper, Objektive Erkenntnis, S. 122 f. 242 Vgl. H. Albert, Der kritische Rationalismus Karl Raimund Poppers, ARSP 1960, S. 401; ders., Kritischer Rationalismus, 1989, S. 181; nach Magee, Karl Popper und der Kritische Rationalismus, S. 73 "bleiben nur wenige Gebiete menschlichen Denkens von Poppers Werk unbeleuchtet". 243 Vgl. H. Albert, Konstruktion und Kritik, S. 34.

4 Tiefel

50

1. Teil: Geschlossene vs. Offene Gesellschaft

11. Die Anwendung des Kritischen Rationalismus im sozialen Bereich Wie sieht Popper den Zusammenhang zwischen seiner Wissenschaftstheorie und seiner Sozialphilosophie? Auf diese Frage antwortet er wie folgt: "Die Hauptthese meines ersten Buches, "Logik der Forschung", kann man so formulieren: Wir können von unseren Fehlern lernen . ... Es ist eine These meiner Wissenschaftstheorie, daß in der Wissenschaft noch etwas Besonderes dazukommt, nämlich der bewußte kritische Versuch, unsere Theorien zu widerlegen; ... Das ist die spezielle kritische oder wissenschaftliche Einstellung .... Charakteristisch für meine politische Philosophie (sie ist sehr einfach) ist, daß man in der Politik dasselbe tun soll,,244. Nach der Abgrenzung des Kritischen gegenüber einem umfassenden Rationalismus (1.) folgt die systematische Analyse des poppersehen Verständnisses von offenen gesellschaftlichen Verhältnissen (2.-6.), welche in ihrer Struktur dichotornisch zu den vorher eruierten Kennzeichen Geschlossener Gesellschaften angelegt ist. Die dabei gewonnenen Erkenntnisse werden abschließend in einer Übersicht von Merkmalen Offener Gesellschaften (7.) zusammengefasst.

1. Kritischer Rationalismus vs. umfassender Rationalismus

In der Einleitung zu seinem Werk ,Die offene Gesellschaft und ihre Feinde' weist Popper explizit darauf hin, dass er in diesem versucht, "die Anwendung der kritischen und rationalen Methoden der Wissenschaft auf die Probleme der offenen Gesellschaft zu analysieren,,245. Er verwendet dabei in Abgrenzung zum "unkritisehen oder umfassenden Rationalismus,,246 den Begriff "kritischen Rationalismus,,247. Für Popper ist eine rationalistische Einstellung grundsätzlich dadurch gekennzeichnet, dass sie dem Argument und der Erfahrung große Bedeutung beimisst. 248 Der umfassende Rationalismus kann in Form des Prinzips ausgedriickt 244 o. v., Gespräch mit Karl Popper, in: Lührs/Sarrazin/Spreer/Tietzel (Hrsg.), Theorie und Politik aus kritisch rationaler Sicht, 1978, S. 17 f.; Flohr, Sozialphilosophie und Wissenschaftstheorie - Bemerkungen zu den zwei Konzeptionen Karl R. Poppers, Rechtstheorie 1972, S. 63 f. hebt hervor: "Mit seinem Werk "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde"legte Popper dann eine sozialphilosophische Konzeption vor, die hinsichtlich ihrer konstituierenden Ideen seiner Wissenschaftstheorie sehr ähnelt .... Die Übereinstimmung beider Konzeptionen wirkt desto suggestiver, je mehr man erkannt hat, daß Wissenschaft und Politik nicht, gemäß fragwürdiger Ontologie, arteigene "Wesensbereiche" sind, denen unbedingt verschiedene Prinzipien angemessen wären, sondern lediglich verschiedene Aspekte menschlichen HandeIns, zudem hochgradig interdependent". 245 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 3 f. Schäfer, Karl R. Popper, S. 90 unterscheidet bei Poppers Anwendung der kritisch-rationalen Methode im sozialen Bereich zwei Aspekte: Zum einen sein Interesse an den Methoden der Sozialwissenschaften und zum anderen sein moralisches Engagement. 246 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 269. 247 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 269.

2. Kap.: Karl R. Poppers Vorstellung von Offenen Gesellschaften

51

werden, dass jede Theorie oder Annahme zu verwerfen ist, welche sich weder durch ein Argument noch durch die Empirie stützen lässt. 249 Man erkennt sofort, dass dieses Prinzip einen Widerspruch in sich enthält. Da es sich seinerseits weder durch Argumente noch durch die Erfahrung begründen lässt, folgt aus ihm, dass es logischerweise selbst verworfen werden muss. 250 Die Alternative ist für Popper nicht die Flucht in einen Irrationalismus, sondern ein bescheidener, selbstkritischer und gewisse Grenzen anerkennender Rationalismus, welchen er mit dem Attribut kritisch kennzeichnet. 251 Diese Position gesteht ein, dass die Entscheidung für Rationalismus auf einem irrationalen Entschluss oder auf dem Glauben an die Vernunft beruht. 252 Es steht dem Menschen frei zwischen Irrationalismus und der kritischen Form des Rationalismus zu wählen, aber diese Wahl ist für Popper nicht einfach eine intellektuelle Angelegenheit oder Geschmacksfrage, sondern eine moralische Entscheidung. 253 Der Irrationalismus, den keine Regeln binden, lässt sich mit jeder beliebigen, also auch totalitären und antihumanen Lehre kombinieren. 254 Für Popper ist jedoch die einzige Einstellung, die er als richtig im moralischen Sinne bezeichnen kann, diejenige, welche anerkennt, dass wir es den anderen Menschen schulden, sie und uns selbst als vernünftige Wesen zu behandeln. 255 Gerade das Verständnis des Menschen als vernunftbegabtes Wesen ist eng mit dem Kritischen Rationalismus verbunden und wirkt wie ein Band, das seinen Ausdruck im Glauben an die Brüderlichkeit und die Einheit der Menschen findet. 256 Die Frage, ob Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 263, 270. Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 270. 250 Analog zum "Paradoxon vom Lügner" (d. h. zu einem Satz der seine eigene Falschheit behauptet), vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 437 f., 270. 251 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 269 f. 252 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 271. Dieses Zugeständnis, das Popper in seiner Konzeption des Kritischen Rationalismus an den Irrationalismus macht, ist insbesondere nach Auffassung einiger seiner Schüler (v. a. Joseph Agassi, William Bartley und John Watkins) zu groß und zudem nicht zwingend. Siehe zusammenfassend zu diesem Grundproblem Poppers Weinheimer; Rationalität und Begründung, 1986, S. 99 ff. und Clever; Die Konzeption des Kritischen Rationalismus, 1990, S. 5 f. Radnitzky, Karl R. Popper, S. 38 sieht für Popper eine relativ einfache Lösung, um von seiner irrationalen Entscheidung für die Rationalität wegzukommen: Man kann eine Maxime zwar aufgrund ihrer Konsequenzen empfehlen, deren Bewertung bliebe aber natürlich subjektiv; daher wäre Popper nach seiner Auffassung berechtigt gewesen, seine Entscheidung für den Rationalismus nicht als irrational, sondern als non-rational zu bezeichnen. 253 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 271. 254 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 271; nach Schäfer; Karl R. Popper, S. 122 sieht Popper den Irrationalismus grundsätzlich eher in der Nähe von autokratischen und antihumanitären Lehren. 255 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 281; an dieser Stelle sei explizit darauf hingewiesen, dass ders., Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. V die deutsche Ausgabe von ,Die offene Gesellschaft und ihre Feinde' Immanuel Kant, dem "Philosophen der Freiheit und Menschlichkeit", gewidmet hat. 248 249

4*

52

1. Teil: Geschlossene vs. Offene Gesellschaft

man sich für eine mehr oder weniger radikale Form des Irrationalismus oder für einen Rationalismus, der lediglich minimale Zugeständnisse an den Irrationalismus akzeptiert, entscheidet, beeinflusst somit die grundlegende Sichtweise der Probleme der Gesellschaft und des sozialen Lebens zutiefst. 257

2. Indeterminismus vs. Historizismus

Popper entwirft seine Vorstellung von der Offenen Gesellschaft aus der Kritik an Geschlossenen Gesellschaften und deren Verfechtern heraus. Eine Beschränkung der weiteren Untersuchung auf die Werke ,Die offene Gesellschaft und ihre Feinde' und ,Das Elend des Historizismus' wäre aber zu eng, da Popper in seinen späteren Schriften entscheidende Aspekte verdeutlicht, verteidigt und weitergedacht hat. 258 Den ersten wichtigen Angriffspunkt stellt der bereits im letzten Kapitel ausführlich beschriebene Historizismus dar. Popper spricht sich vehement gegen jede geschichtliche Notwendigkeit aus und gegen die Möglichkeit, den Verlauf der Geschichte rational voraussagen zu können. 259 Als Gegenposition vertritt er einen konsequenten historischen Indeterrninismus,z6o Weder die Natur noch die Geschichte sagen dem Menschen, was er tun soll, denn die Auswahl der Ziele liegt im freien Willen des Menschen und kann nur durch ihn selbst erfolgen. 261 Das bedeutet, dass zwar die Geschichte an sich keinen Sinn hat, jedoch können die Menschen ihr durch ihre Entscheidungen und Handlungen einen verleihen,z62 Popper beschließt daher ,Die offene Gesellschaft und ihre Feinde' mit der folgenden Aussage: "Denn ,Fortschritt' heißt, sich auf ein bestimmtes Ziel hin bewegen, auf ein Ziel, das für uns als menschliche Wesen besteht. ,Die Geschichte' kann dies nicht tun; nur wir, die menschlichen Individuen, können es tun .... Und wir werden es 256 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 271; für Schäfer, Karl R. Popper, S. 122 sieht Popper eine Klammer zwischen dem Rationalismus und einer humanitären Einstellung. 257 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 271 kritisiert den Irrationalismus nicht als inkonsistent oder formal unlogisch, sondern aus moralischer Perspektive. 258 Es sei allerdings an dieser Stelle deutlich darauf hingewiesen, dass Popper eine umfassende Ausarbeitung seiner sozialphilosophische Grundkonzeption ausschließlich in den genannten Basiswerken vornimmt. Spätere kleinere Schriften (v. a. Aufsätze und Vorträge) haben oftmals den Charakter von nachgereichten Kommentierungen und sind daher thematisch nicht unbedingt immer vollständig. Dies sollte für eine adäquate Interpretation beachtet werden. 259 Vgl. Popper, Das Elend des Historizismus, S. VII. 260 V gl. Waschkuhn, Kritischer Rationalismus, S. 3; Braun/ Heine /Opo/ka, Politische Philosophie, 1984, S. 321; Radnitzky, Karl R. Popper, S. 49 spricht von Poppers Überzeugung "der Unhaltbarkeit des Historizismus und Determinismus". 261 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 326. 262 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 326 f.

2. Kap.: Karl R. Poppers Vorstellung von Offenen Gesellschaften

53

viel besser tun, sobald wir einmal die Tatsache besser erkannt haben, daß der Fortschritt bei uns liegt, daß er abhängt von unserer Wachsamkeit, von unseren Anstrengungen, ... sowie auch vom Realismus unserer Entscheidungen,,263. In seinem frühen Werk ,Logik der Forschung' qualifiziert Popper die Annahme, die Welt sei nicht von strengen Gesetzen beherrscht (zu welcher der Erfolg der Quantenmechanik geführt hat), als metaphysisch, hält aber dabei die Kausalmetaphysik für fruchtbarer als die indeterrninistische Metaphysik?64 Später wird er auf Grund der von ihm vertretenen Ideen der Freiheit, Verantwortung, Vernunft und Kreativität des Menschen zum konsequenten generellen Indeterministen?65 Dieser Indeterminismus ist Ausdruck des Glaubens an den freien Willen und der Ansicht, dass die Zukunft objektiv offen ist. 266 Popper verdeutlicht seine Auffassung besonders gut im Rahmen seiner Propensitätenüberlegungen: 267 "Ganz abgesehen von der Tatsache, daß wir die Zukunft Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 328. Vgl. Popper, Die Logik der Forschung, 1969, S. 195 f.; Keuth, Einführung in die Logik der Forschung, in: ders. (Hrsg.), Karl Popper: Logik der Forschung, 1998, S. 14; ausführlich Düsberg, Bemerkungen zur Quantenmechanik, in: Keuth (Hrsg.), Karl Popper: Logik der Forschung, 1998, insb. S. 221 f. 265 Das Attribut "generell" steht hier für einen Indeterminismus sowohl aus physikalischer, historischer als auch sozialer Perspektive. Popper, Objektive Erkenntnis, S. 309 fasst seine Einstellung wie folgt zusammen: "Mir scheint, daß Entwicklungsvorgänge oder größere Wandlungen im Rahmen der Entwicklungsgeschichte so unvorhersagbar sind wie historische Vorgänge oder größere historische Wandlungen. Das glaube ich, weil ich stark zu einem indeterministischen Weltbild neige .... Und ich glaube, daß die Evolution weitgehend probabilistisch erfolgt, wobei sich die Bedingungen oder Problemsituationen ständig ändern, und daß jede vorläufige Lösung, ob sie mehr oder weniger erfolgreich ist oder ganz erfolglos, neue Problemsituationen schafft."; ders., Vermutungen und Widerlegungen 2, 1997, S. 427 betont dies nochmals explizit für die Physik: "Ich gehe im folgenden von der wichtigen Annahme aus, daß die deterministische Deutung der Physik, selbst der klassischen Physik, eine falsche Deutung ist, und daß es keine ,wissenschaftlichen' Griinde gibt, die für den Determinismus sprechen."; ausführlicher zum physikalischen Indeterminismus siehe ders., Indeterminism in Quantum Physics and in Classical Physics, Brit J Phil Sci 1950, S. 117 ff., 173 ff. sowie Düsberg, Bemerkungen zur Quantenmechanik, S. 222 und Stegmüller, Erklärung Begriindung Kausalität, 1983, S. 559 ff. Der Aufsatzband von W. Marx (Hrsg.), Determinismus - Indeterminismus, 1990 liefert zahlreiche Beiträge zur Frage, welche Vorentscheidungen der Physik zugrunde liegen und wie diese deren Erkenntnisfähigkeit beeinflussen. Zu Poppers indeterministischen Ideen siehe ergänzend Watkins, Freiheit und Entscheidung, 1978, S. 124 ff. 266 Vgl. Waschkuhn, Kritischer Rationalismus, S. 3. Eine Analyse von Poppers Beitrag zum Problem der Willensfreiheit und inwieweit es ihm gelungen ist, den Determinismus zu widerlegen, liefert Gadenne, Freiheit und Determinismus, in: Salarnun (Hrsg.), Moral und Politik aus der Sicht des Kritischen Rationalismus, 1991, S. 43 ff. 267 Popper, Eine Welt von Propensitäten, 1995, S. 9 hält diesen Vortrag, den er in gekürzter Form 1988 vor dem Weltkongress für Philosophie in Brighton gehalten hat, für eine seiner besten Arbeiten; zu Poppers physikalischer Begriindung und logischen Behandlung der Propensitätenwahrscheinlichkeit siehe LeinfelIner, Propensitäten, Wahrscheinlichkeit und Poppers Begriindung der Wissenschaft, in: Wallner (Hrsg.), Karl Popper - Philosophie und Wissenschaft, 1985, S. 53 ff. und die Propensitäteninterpretation von Watkins, Karl Raimund Popper, S. 167 ff. 263

264

54

1. Teil: Geschlossene vs. Offene Gesellschaft

nicht kennen, ist die Zukunft nicht objektiv festgelegt. Die Zukunft ist offen,,268. Mit der Einführung von Propensitäten (als objektive Wahrscheinlichkeiten, die als Eigenschaften einer Situation innewohnen)269 verschwindet die Ideologie des Determinismus, denn vergangene Situationen determinieren keineswegs zukünftige, vielmehr bedingen sie veränderliche Propensitäten, welche spätere Gegebenheiten beeinflussen, ohne diese jedoch auf eine ganz bestimmte Weise festzulegen. 27o Die Welt ist nicht mehr länger eine kausale Maschine, sondern sie kann als ein sich entfaltender Prozess betrachtet werden, bei dem bestehende Möglichkeiten verwirklicht und neue entwickelt werden. 271 Das bedeutet, dass in einer realen, veränderlichen Welt die Situationen und mit ihnen auch die Propensitäten einem ständigen Wandel unterliegen. 272 Dabei beeinflusst gerade unser Verständnis der Welt die Bedingungen der sich wandelnden Welt - genauso wie unsere Wünsche, Hoffnungen, Träume, Phantasien, Hypothesen, Theorien und lrrtümer?73 Jeder Determinismus ist somit falsch, denn der Mensch wirkt auf die Situationen ein, welche ihrerseits wiederum die Möglichkeiten und damit auch die Propensitäten verändern. 274 Was folgt aus dem oben Gesagten? Wir haben keine Gewissheit und die Zukunft ist offen. Dennoch dürfen wir nicht "vor der Aufgabe zurückschrecken, unser Kreuz zu tragen, das Kreuz der Menschlichkeit, der Vernunft und der Verantwortlichkeit,ms. Unsere GrundeinsteIlung darf deshalb nicht von der Frage bestimmt sein ,Was wird kommen?', sondern von der Lösung des Problems ,Was sollen wir tun, um die Welt womöglich ein wenig besser zu machen?' .276

3. Methodologischer Nominalismus vs. methodologischer Essentialismus Ganz im Sinne seiner erkenntnistheoretischen Überlegungen ist Popper auch in der sozialen Anwendung des Kritischen Rationalismus weit davon entfernt, endgültige Definitionen und Begriffsoffenbarungen zu suchen. Er stellt daher dem Essentialismus und der damit verbundenen intuitiven Wesens schau "seinen Widerpart, den methodologischen Nominalismus,,277 gegenüber?78 Nach Ansicht PopPopper; Eine Welt von Propensitäten, S. 38. V gl. Popper; Eine Welt von Propensitäten, S. 31. 270 Vgl. Popper; Eine Welt von Propensitäten, S. 37 f. 271 Vgl. Popper; Eine Welt von Propensitäten, S. 39. 272 Vgl. Popper; Eine Welt von Propensitäten, S. 36. 273 Vgl. Popper; Eine Welt von Propensitäten, S. 37. 274 Vgl. Popper; Eine Welt von Propensitäten, S. 37. 275 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 238. 276 Vgl. Popper; Gegen den Zynismus in der Interpretation der Geschichte, in: ders., Alles Leben ist Problemlösen, 4. Aufl. 1995, S. 272. 277 Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 40. 268

269

2. Kap.: Karl R. Poppers Vorstellung von Offenen Gesellschaften

55

pers beruht der Essentialismus im Wesentlichen auf der intellektuellen Intuition und wird daher in seiner Begründung immer wieder in die Subjektivität zurückgeworfen, was wiederum eine objektive Prüfung unmöglich macht. 279 Da jede Wesenserkenntnis ihrerseits durch eine andere begründet werden muss, steht der Essentialismus zudem vor dem folgenschweren Problem eines infiniten Regresses?80 Der Versuch, das unendliche Begründungsverfahren durch den Hinweis auf Definitionen (in der jede Essenz ihre wahrheitsgemäße Beschreibung finden soll) zu vermeiden, führt nur zu einer Verschiebung des Problems?81 Wenn es nämlich die Aufgabe der Wissenschaft ist, allen Begriffen die entsprechende Definition zu geben, so kann auch ein infiniter Regress der Definitionen nicht verhindert werden, denn "eine Definition kann den Sinn eines Begriffs ebensowenig begründen, wie ein Beweis oder eine Ableitung die Wahrheit eines Satzes begründen kann; beide können dieses Problem nur verschieben. Die Ableitung verschiebt das Problem der Wahrheit zurück auf die Prämissen, die Definition verschiebt das Problem des Sinnes zurück auf die definierenden Begriffe"282. Popper kommt somit zu dem Ergebnis, dass die Forderung der Definition aller unserer Begriffe ebenso unhaltbar ist wie die des Beweises aller unserer Behauptungen. 283

278 Für den politischen Bereich findet sich eine ausführliche Gegenüberstellung an drei Stellen: Popper, Das Elend des Historizismus, S. 21 ff., ders., Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 40 ff. und ders., Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 21. Auch in seiner Spätphilosophie hält Popper an seinem rigorosen methologischen Nominalismus fest; siehe dazu die Tabellen zur Gegenüberstellung von Nominalismus und Essentialismus in ders., Objektive Erkenntnis, S. 127 und ders., Vermutungen und Widerlegungen 1, 1994, S. 27; ders., Ausgangspunkte, S. 20 formuliert seine Grundeinstellung wie folgt: "Laß dich nie dazu verleiten, Probleme zu ernst zu nehmen, bei denen es um Worte und ihre Bedeutung geht. Was man ernst nehmen muß, sind Fragen und Behauptungen über Tatsachen: Theorien und Hypothesen; die Probleme, die sie lösen; und die Probleme, die sie aufwerfen". Messmer, Die Grundlagen von Poppers Sozialphilosophie, S. 47 ff. fasst Poppers Einwände gegen den Essentialismus in fünf Thesen zusammen und analysiert diese kritisch. 279 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 22 f.; Müller-Schmid, Die philosophischen Grundlagen der Theorie der "Offenen Gesellschaft", S. 10; siehe dazu auch die erste These von Messmer, Die Grundlagen von Poppers Sozialphilosophie, S. 47, 51 f. 280 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 23 betont, "daß ein solcher Versuch nur zu einem unendlichen Regreß der Beweise führt und daher zusammenbrechen muß"; siehe zudem Müller-Schmid, Die philosophischen Grundlagen der Theorie der "Offenen Gesellschaft", S. 10 und die zweite These von Messmer, Die Grundlagen von Poppers Sozialphilosophie, S. 47, 51 f. 281 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 23 f.; eine weiterführende Analyse lässt zwei weitere schwerwiegende Probleme erkennen: Wie unterscheidet sich eine lediglich rein verbale Konvention von einer essentiellen Definition, welche das Wesen wahrheitsgetreu wiedergibt, und wie kann zwischen wahren und falschen Definitionen differenziert werden, vgl. ders., ebd., S. 343 f. 282 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 24. 283 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 24; Müller-Schmid, Die philosophischen Grundlagen der Theorie der "Offenen Gesellschaft", S. 14.

56

1. Teil: Geschlossene vs. Offene Gesellschaft

Der eigentliche Fehler der essentialistischen Methode liegt nach seiner Meinung in deren Art des Fragens. 284 An die Stelle der Frage nach dem ,Was' eines Dinges muss die Frage nach dem ,Wie' treten. 285 Der methodologische Nominalismus hat daher das Ziel, das Verhalten einer Sache zu beschreiben und zu ermitteln, ob es irgendwe1che Regelmäßigkeiten aufweist. 286 Im Mittelpunkt steht die Beschreibung und Erklärung von Gegenständen und Ereignissen der Erfahrung mit Hilfe universeller Gesetze. 287 Worte sind dabei lediglich die Hilfswerkzeuge zur Durchführung dieser Aufgabe.2 88 Definitionen werden nicht verwendet, um den Sinn ihrer Begriffe festzustellen, sondern um handliche, abkürzende Etiketten einzuführen. 289 Definitionen leisten also einen Beitrag dazu, rational nachvollziehbare und kritisierbare Erklärungen für vorliegende Probleme zu formulieren, wodurch eine leichtere Verständigung und Problemlösung über Argumentation und empirische Prüfung ermöglicht werden soll.29o Der methodologische Nominalismus bildet somit die Grundvoraussetzung für jede Theoriebildung, Hypothesenformulierung, rationale Argumentation, empirische Prüfung und Fehlerelirninierung, also zusammengefasst für die Anwendung der kritisch-rationalen Methode.

284 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 40 f.; siehe dazu auch die dritte bis fünfte These von Messmer, Die Grundlagen von Poppers Sozialphilosophie, S. 47,

5lf.

285 Für Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 40 f. müssen Fragen, wie " Was ist Energie" oder" Was ist Bewegung?" durch die Fragestellungen "Wie kann die Energie der Sonne nutzbar gemacht werden?" und "Wie bewegt sich ein Planet?" ersetzt werden. 286 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 40; H. Albert, Der Kritische Rationalismus Karl R. Poppers, ARSP 1960, S. 402; nach E. Döring, Karl R. Popper: "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde", S. 71 beschäftigt sich Poppers methodologischer Nominalismus "mit der Erklärung von Phänomenen und deren Regelmäßigkeiten . .. , ohne ein okkultes Substrat zu unterstellen". 287 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 40; Baum/Gonzalez, Karl R. Popper, S. 54. 288 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 40. 289 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 21, 26; während die essentialistische Interpretation eine Definition ,normal' von links nach rechts liest, muss eine nominalistische Betrachtung von rechts nach links bzw. rückwärts erfolgen: Die Aussage ,Ein Fohlen ist ein junges Pferd' ist somit eine Antwort auf die Frage ,Wie soll ein junges Pferd genannt werden?', aber nicht auf die Frage ,Was ist ein Fohlen?'. 290 Vgl. E. Döring, Karl R. Popper, 2. Aufl. 1992, S. 142 f.; Müller-Schmid, Die philosophischen Grundlagen der Theorie der "Offenen Gesellschaft", S. 10 spricht davon, dass Popper "die Philosophie der "intellektuellen Intuition" durch seine Philosophie der "Vernunft" ersetzt. Kritisch ist Messmer, Die Grundlagen von Poppers Sozial philosophie, S. 64, der Poppers Standpunkt ausschließlich nominalistische Definitionen zu verwenden sowie dessen Fehleinschätzung der Wichtigkeit der Deutung und Klärung von Begriffen beanstandet.

2. Kap.: Karl R. Poppers Vorstellung von Offenen Gesellschaften

57

4. Kritischer Dualismus vs. moralischer und juridischer Positivismus Den "kritischen Dualismus ,,291 stuft Popper explizit als charakteristisch für Offene Gesellschaften ein. Wie bereits vorher ausgeführt, kann zwischen Naturgesetzen und normativen Gesetzen unterschieden werden?92 Naturgesetze sind unveränderliche, sich außerhalb der menschlichen Kontrolle befindliche Regelmäßigkeiten der Natur. 293 Normative Gesetze dagegen sind gesetzliche Verfügungen oder sittliche Gebote, die vom Menschen aufgestellt, durchgesetzt und auch verändert werden können?94 Allgemein gesprochen handelt es sich um Verbote, Gebote und Regeln, die bestimmte Verhaltensweisen fordern oder verbieten. 295 Da es sich also nicht (wie bei den Naturgesetzen) um Tatsachenbeschreibungen, sondern um die Festlegung von Richtlinien für das menschliche Verhalten handelt, ist die Anwendung des Kriteriums ,wahr oder falsch' nicht möglich?96 Eine Bewertung der Normen kann jedoch über die Attribute ,gut oder schlecht' sowie ,annehmbar oder unannehmbar' erfolgen. 297 Vom kritischen Dualismus spricht man, sobald eine klare Unterscheidung zwischen Naturgesetzen und normativen Gesetzen vorgenommen wird. 298 Diese Trennung spiegelt sich konsequenterweise in Poppers Grundüberzeugung wider, dass sich Entscheidungen niemals aus Tatsachen herleiten lassen, obgleich sie sich natürlich auf jene beziehen. 299 Mit anderen Worten: Es ist nicht möglich aus Aussagen über Tatsachen, normative Regeln logisch zu deduzieren?OO Da der kritische Dualismus also die "Unmöglichkeit einer Reduktion von Entscheidungen oder Normen auf Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 72. Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 69; H. Albert, Der Kritische Rationalismus Karl R. Poppers, ARSP 1960, S. 406; Müller-Schmidt, Die philosophischen Grundlagen der Theorie der "Offenen Gesellschaft", S. 24. 293 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 69 f.; siehe dazu auch 1. Kap. 11. 1. 294 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 70; siehe dazu auch 1. Kap. 11. 1. 295 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 69 f. 296 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 70. 297 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 70. 298 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 73; H. Albert, Der Kritische Rationalismus Karl R. Poppers, ARSP 1960, S. 406; Weinheimer; Rationalität und Begründung, S. 97. 299 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 74; Müller-Schmidt, Die philosophischen Grundlagen der Theorie der "Offenen Gesellschaft", S. 25; Weinheimer; Rationalität und Begründung, S. 97 f. 291

292

300 Man spricht in diesem Fall auch von dem sogenannten "naturalistischen Fehlschluß", vgl. H. Albert, Der Kritische Rationalismus Karl R. Poppers, ARSP 1960, S. 407; MüllerSchmidt, Die philosophischen Grundlagen der Theorie der "Offenen Gesellschaft", S. 25 und Weinheimer; Rationalität und Begründung, S. 96 ff. verwenden den Ausdruck "Dualismus von Sein und Sollen".

58

1. Teil: Geschlossene vs. Offene Gesellschaft

Tatsachen" betont, kann man ihn nach Popper auch einen "Dualismus von Tatsachen und Entscheidungen" nennen. 301 Welche fundamentalen Konsequenzen impliziert die getroffene Abgrenzung zwischen Naturgesetzen und normativen Gesetzen? Die Antwort verdeutlicht den diametralen Unterschied zwischen dem kritischen Dualismus und dem für Geschlossene Gesellschaften kennzeichnenden moralischen und juridischen Positivismus. Die vorgenommene Trennung lässt keinen Zweifel daran, dass normative Gesetze ein ausschließliches Produkt des Menschen sind und dass dieser durch seine Entscheidungen allein für jene Gesetze und ihre Konsequenzen verantwortlich ist. 302 Eine Verlagerung der Verantwortung auf eine höhere Autorität (wie z. B. Gott, die Geschichte oder die Natur) wird somit nicht anerkannt. 303 Für Popper bedeutet die Annahme, dass die Normen rein auf menschlicher Entscheidung oder Übereinkunft beruhen, jedoch nicht, dass sie willkürlich sind, denn die Vernunft ermöglicht dem Menschen eine rationale Analyse, die ihm dabei hilft, eine Entscheidung verantwortlich zu treffen, ohne determiniert zu sein. 304 Für ihn haben wir uns "freiwillig für sie [die Normen, Anm. TI] entschieden und wir allein tragen für diese Entscheidung die Verantwortung. In der Natur kommen sie nicht vor. Die Natur besteht aus Tatsachen ... und ist an sich weder sittlich noch unsittlich. Wir sind es, die der Natur unsere Maßstäbe aufzwingen, und wir führen auf diese Weise Sitten in die natürliche Welt ein, obgleich wir selbst ein Teil dieser Welt sind,,305. Popper spricht sich gleichzeitig vehement gegen jeglichen moralischen 301 Beide Zitate: Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 76. Synonym spricht ders., ebd., S. 80 von der "Autonomie der Ethik". Daneben verwendet ders., Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S 477 die nach seiner Auffassung klarere Tenninologie des "Dualismus von Tatsachen und Maßstäben"; zudem spricht ders., Ausgangspunkte, S. 283 ff. vom Dualismus von Werten und Tatsachen. Zu Poppers Dualismus von Tatsachen und Entscheidungen siehe auch Jarvie, Die Logik der Gesellschaft, 1974, S. 70 und Messmer, Die Grundlagen von Poppers Sozialphilosophie, S. 99 ff. Albrecht, Sozialtechnologie und ganzheitliche Sozialphilosophie, S. 138 ff. stellt Poppers Dualismus der bei Hegel vermuteten ,Jdentität von Normen und Tatsachen" gegenüber. 302 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 74; Müller-Schmidt, Die philosophischen Grundlagen der Theorie der "Offenen Gesellschaft", S. 26. Witschel, Wertvorstellung im Werk Karl R. Poppers, S. 20 sieht den Haupthinderungsgrund für die allgemeine Akzeptanz des kritischen Dualismus in dem psychologischen Faktum, dass der Mensch sich mit ihm seine umfassende Verantwortung voll und ganz eingestehen müsste. 303 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 74; "Die Menschen glaubten, daß Gott die Welt regiert. Dieser Glaube schränkte ihre Verantwortlichkeit ein. Der neue Glaube, daß sie die Welt selbst regieren müssen, schuf für viele eine nahezu unerträgliche Last der Verantwortung.", ders., Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 32 f. Aus der Ablehnung einer Begründung durch höhere Autoritäten folgt jedoch nach H. Albert, Der Kritische Rationalismus Karl R. Poppers, ARSP 1960, S. 407 keineswegs die automatische Zurückweisung jeder religiösen Ethik (wie etwa der christlichen Vorstellung von Gleichheit, Toleranz und Brüderlichkeit), da genau zwischen der Begründbarkeit und dem Inhalt einer akzeptierten Norm unterschieden werden muss. 304 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 74; Müller-Schmidt, Die philosophischen Grundlagen der Theorie der "Offenen Gesellschaft", S. 28.

2. Kap.: Karl R. Poppers Vorstellung von Offenen Gesellschaften

59

Relativismus aus. 306 In Bezug auf den Inhalt der von ihm akzeptierten Normen lässt Popper keinen Zweifel daran, auf welcher Seite er steht: Es sind die Werte der Aufklärung - Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Selbstbefreiung durch Wissen. 307 Erst aus der Idee der Freiheit und der Autonomie des Willens heraus wird voll verständlich, dass für ihn einzig und allein der Mensch für die normativen Gesetze verantwortlich ist. 308 An dieser Stelle muss daher auf Poppers Vorstellung von Freiheit eingegangen werden. Er verwendet zwar den Ausdruck ,Freiheit' im Kontext unterschiedlichster Problemstellungen (z. B. Meinungsfreiheit, Gewissensfreiheit, persönliche Freiheit oder religiöse Freiheit), verzichtet allerdings gemäß seiner anti-essentialistischen Einstellung in der Regel auf genaue Begriffsdefinitionen. 309 Seine Auffassung von politischer Freiheit, die ein Kemelement seiner Sozialphilosophie darstellt, lässt sich wie folgt zusammenfassen: "Freiheit ist unmöglich, wenn sie nicht durch den Staat gesichert wird,mo. Popper betont dies bereits einleitend mehrere Male und Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 74. Nach der Auffassung von Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 236 ff. können moralische Nonnen nicht von geschichtlichen Situationen, Tatsachen oder Machtverhältnissen relativiert werden. 307 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 3 weist explizit darauf hin, dass für ihn die Zivilisation "Menschlichkeit, Vernünftigkeit, Gleichheit und Freiheit zum Ziele hat"; siehe zudem ders., ebd., S. 220 und seine Äußerung über die Generation des Thukydides: "in derselben Generation, der Thukydides angehörte, entstand ein neuer Glauben an die Vernunft, an die Freiheit und an die Brüderlichkeit aller Menschen - der neue und, wie ich glaube, einzig mögliche Glaube der offenen Gesellschaft"; aber auch die Gedächtnisrede "Immanuel Kant: Der Philosoph der Aufklärung", vgl. ders., ebd., S. XX ff. und den Aufsatz "Selbstbefreiung durch Wissen", vgl. ders., Selbstbefreiung durch Wissen, in: ders., Auf der Suche nach einer besseren Welt, 5. Auf!. 1990, S. 149 ff.; siehe auch Salamun, Der Ethos der Aufklärung im Kritischen Rationalismus, in: ders. (Hrsg.), Moral und Politik aus Sicht des Kritischen Rationalismus, 1990, S. 95 ff. Zu "Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit als republikanische Grundprinzipien" siehe Schachtschneider, Res publica res populi, 1994, S. I ff., insb. S. 9. 308 Müller-Schmidt, Die philosophischen Grundlagen der Theorie der "Offenen Gesellschaft", S. 24 f. spricht von der "Kausalwelt der Freiheit", denn nonnative Gesetze gründen nicht in der Notwendigkeit einer Naturordnung ("Kausalwelt der Notwendigkeit"), sondern im Entschluss der Menschen, sie zu befolgen. Zum Problem der Willensfreiheit im Lichte des Kritischen Rationalismus siehe Gadenne, Freiheit und Rationalität, in: Sievering (Hrsg.), Kritischer Rationalismus heute, 2. Auf!. 1989, S. 152 ff. 309 Die Idee der Freiheit verlangt nach Kreuzer/Popper, Offene Gesellschaft - Offenes Universum, 1982, S. 21, "daß so wenig wie möglich geherrscht und regiert werden soll. Sowenig wie möglich und sowenig, wie mit unseren Ideen der Gerechtigkeit und mit unseren Ideen der Gleichheit und der Freiheit vereinbar ist". Einen guten Überblick über die verschiedenen Aspekte seines Freiheitsdenkens erhält man anhand Popper, Zum Thema Freiheit, in: ders., Alles Leben ist Problemlösen, 4. Auf!. 1995, S. 155 ff. 310 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 133. Für ihn ist das, "was die Marxisten geringschätzig die ,bloß fonnale Freiheit' nennen, die Grundlage alles übrigen. Diese ,bloß fonnale Freiheit', das heißt ... das Recht der Menschen, zu urteilen und ihre Regierungen zu entlassen, ist das einzig bekannte Mittel, mit dessen Hilfe wir versuchen kön305

306

60

1. Teil: Geschlossene vs. Offene Gesellschaft

bezeichnet in diesem Kontext die Rechtsordnung und den Rechtsstaat als zentrale Grundlagen der Offenen Gesellschaft. 311 Was er vom Staat verlangt, ist der Schutz der eigenen Freiheit und der Freiheit aller Mitmenschen. 312 Dieser Schutz basiert, und so schließt sich der Kreis zum kritischen Dualismus, auf Gesetzen, deren Stärke "nicht in den Sanktionen, in der protektiven Macht des Staates, ... sondern in der Bereitschaft des Individuums, ihnen zu gehorchen,,313 liegt. Zudem bedarf es politischer Institutionen, die es den Bürgern praktisch möglich machen, ohne Blutvergießen einen Regierungswechsel herbeizuführen, falls die Mehrheit einen solchen wünscht. 314 Diese neue Betrachtung des Problemkreises der politischen Freiheit führt zu einem prinzipiellen Perspektivenwechsel, denn er macht es erforderlich, die Frage ,Wer soll regieren' durch die Fragestellung ,Wie können wir politische Institutionen so organisieren, dass es schlechten oder inkompetenten Regierungen unmöglich ist, allzu großen Schaden anzurichten?' zu ersetzen?15 Die Forderung nach einer umfassenden institutionellen Kontrolle der Regierenden setzt für Popper nicht mehr als die Erkenntnis voraus, dass die Amtsinhaber nicht immer gut oder nen, uns gegen den Mißbrauch der politischen Gewalt zu schützen", ders., Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 148. Eidlin, Popper und die demokratische Theorie, in: Salamun (Hrsg.), Moral und Politik aus Sicht des Kritischen Rationalismus, 1991, S. 201 betont, dass Popper den Hauptzweck des Staates in der Verteidigung der Freiheit seiner Bürger sieht. 311 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. IX, XI f. Radnitzky, Kritischer Rationalismus, soziale Marktwirtschaft und Demokratie, in: Salamun (Hrsg.), Moral und Politik aus Sicht des Kritischen Rationalismus, 1991, S. 263 macht den Vorschlag die Bezeichnung "Offene Gesellschaft" durch den Ausdruck "freie Gesellschaft" zu ersetzen, denn dieser zeige deutlicher, worum es geht. 312 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 131; "Wir brauchen einen Staat, einen Rechtsstaat, sowohl in dem Kantischen Sinn, daß er unseren Menschenrechten Wirklichkeit verleiht, als auch in dem anderen Kantischen Sinn, daß er jenes Recht - das juristische Recht - schafft und sanktioniert, das unsere Freiheit beschränkt, und zwar nur so wenig wie möglich und so gerecht wie möglich.", ders., Bemerkungen zur Theorie und Praxis des demokratischen Staates, in: ders., Alles Leben ist Problernlösen, 4. Auf!. 1995, S. 230. 313 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 137. Hier wird abermals Poppers Verwurze1ung in der Aufklärung deutlich. Denn das "Gesetz ist für Hobbes, Locke, Rousseau, Montesquieu und Kant der Wille aller, also auch der Wille eines jeden einzelnen .... Darum ist staatliche Gesetzgebung in der republikanischen Logik keine Herrschaft, sondern Verwirklichung von Freiheit, vorausgesetzt, sie ist moralisch.", vgl. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 149. 314 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 145, 149; ders., Zum Thema Freiheit, S. 168. 315 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 145; ders., Freiheit und intellektuelle Verantwortung, in: ders., Alles Leben ist Problemlösen, 4. Auf!. 1995, S. 242 hebt auch an späterer Stelle explizit hervor, dass die obige Frage "die Betonung nicht auf die Art der Einsetzung der Regierung, sondern auf die Möglichkeit ihrer Absetzung" legt. Zu Poppers Ausrichtung auf den Aspekt der Abwählbarkeit siehe auch E. Döring, Karl R. Popper, S. 146 und Radnitzky, Der kritische Rationalismus in der Erkenntnistheorie und politischen Philosophie, in: Salamun (Hrsg.), Karl R. Popper und die Philosophie des Kritischen Rationalismus, 1989, S. 198.

2. Kap.: Karl R. Poppers Vorstellung von Offenen Gesellschaften

61

weise sind. 316 Wir sollten uns daher immer "auf die schlechtesten Führer vorbereiten, obwohl wir natürlich versuchen sollten, die besten zu bekommen,,317. Vor diesem Hintergrund entwickelt Popper seine Theorie einer demokratischen Kontrolle, welche auf der Grundhaltung fußt, dass Tyrannei verwerflich und zu vermeiden sei, und man sich dieser widersetzen müsse?18 Um seine Position zu verdeutlichen, unterscheidet er zwischen zwei Grundtypen von Regierungen. Zum einen "Regierungen, deren wir uns ohne Blutvergießen, zum Beispiel auf dem Wege über allgemeine Wahlen, entledigen können", und zum anderen "Regierungen, die die Beherrschten nur durch eine gewaltsame Revolution loswerden können".319 Als Kurzbezeichnung wählt er für die erste Regierungsform den Terminus "Demokratie" und für die zweite die Ausdrücke "Tyrannei" oder "Diktatur,,?20 Den Ansatz, Institutionen zur Vermeidung von Tyrannei und Herrschaft zu entwickeln und zu schützen, bezeichnet er als das "Prinzip einer demokratischen Politik,,321. Aus diesem Prinzip folgt allerdings nicht, dass der Aufbau solcher Institutionen jemals vollständig gelingen wird, ebensowenig wie dieser dafür bürgen kann, dass die von einer Regierung gemachte Politik richtig, gut oder überlegt sein wird?22 Dadurch soll aber der soziale Rahmen geschaffen werden, der geeignet ist, die Immunisierung von Problemlösungen gegen Kritik zu erschweren und Anreize zur Entdeckung neuer Lösungen und deren Prüfung zu geben. 323 Man kann 316 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 147. 317 Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 162. Ders., ebd., S. 147 zudem: "Ich neige zu der Ansicht, daß Herrscher sich moralisch oder intellektuell selten über und oft unter dem Durchschnitt befanden .... Es scheint mir Wahnsinn, alle unseren politischen Bemühungen auf die schwache Hoffnung zu gründen, daß die Auswahl hervorragender oder auch nur kompetenter Herrscher von Erfolg begleitet sein kann". 318 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 149. 319 Beide Zitate: Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 149. Zum Prinzip der Abwählbarkeit siehe ausführlich Brunnhuber; Die Ordnung der Freiheit, S. 372 ff. 320 Alle Zitate: Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 149, der noch einmal explizit darauf hinweist, dass keines seiner Argumente für oder gegen die eine oder andere Regierungsforrn von der Wahl der Bezeichnungen abhängt, obwohl er glaubt, dass seine Terminologie ziemlich gut passt. Zu Poppers Demokratiebegriff siehe auch ders., Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 178,188 ff. Zu Poppers Dichotomie von Demokratie und Tyrannei siehe Eidlin, Popper und die demokratische Theorie, S. 214 ff. 321 Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 150. Für Schachtschneider; Res publica res populi, S. 30 lehrt Popper, "eigentlich die Republik, obwohl seine Lehre spezifisch das demokratische Prinzip der Republik aufgreift". Brunnhuber, Die Ordnung der Freiheit, S. 293 führt aus: "Die "Offene Gesellschaft ist nicht nur ein allgemeines Demokratiekonzept, nicht nur ein negativ definiertes Kontrastprogramm zum Totalitarismus . .. Im "Bauen von Institutionen" ... will sich K. Poppers Sozialphilosophie gerade positiv und inhaltlich ausweisen". 322 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 150. Zu den verschiedenen Aspekten des Institutionalismus Poppers siehe ausführlich Brunnhuber; Die Ordnung der Freiheit, S. 294 ff. 323 Vgl. H. Albert, Freiheit und Ordnung, 1986, S. 53; zur Bedeutung der Kritisierbarkeitsidee für die politische Freiheit in einer Demokratie siehe W Becker; Kritischer Rationalismus

62

1. Teil: Geschlossene vs. Offene Gesellschaft

in diesem Zusammenhang somit auch von der Idee der institutionalisierten öffentlichen Kritik und politischen Konfliktregelung durch kritisch-rationale Diskussion sprechen. 324 Die herausragende Bedeutung, die der freien Meinungsäußerung im Rahmen einer solchen Konzeption zukommt, wird mehr als deutlich. 325 Mit der Annahme des demokratischen Prinzips ist die Überzeugung verbunden, dass es besser ist, eine schlechte demokratische Politik auszuhalten, als sich einer noch so wohlwollenden Tyrannei zu unterwerfen. 326 So gesehen beruht Demokratie nicht auf der Herrschaft des Volkes oder einer Majorität, sondern auf dem Versuch der Abwehr von jeglicher Form der Tyrannei. 327 Indem Popper den Unterschied zwischen "Demokratie als Volksherrschaft" und "Demokratie als Volksgericht" darstellt, verdeutlicht er nochmals sein Demokratieverständnis?28 Nach seiner Aufoder Kritizismus, in: Salarnun (Hrsg.), Karl R. Popper und die Philosophie des Kritischen Rationalismus, 1989, S. 211 ff.; nach Fleischmann, Kritischer Rationalismus und Demokratie, in: Lührs / Sarrazin / Spreer / Tietzel (Hrsg.), Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie 1, 1975, S. 295 verlangt das Prinzip der Ungewissheit in Politik und Wissenschaft nach Institutionen, die einer Beschränkung der Kritik entgegenwirken; für Magee, Karl Popper, S. 85 weisen Rationalität und wissenschaftliches Denken auf eine offene und pluralistische Gesellschaft hin, in der es jedem freisteht, die Lösungsvorschläge anderer (insb. die der Regierung) zu kritisieren. 324 Vgl. Salamun, Befriedetes Dasein und Offene Gesellschaft, in: ders./H. Albert (Hrsg.), Mensch und Gesellschaft aus Sicht des Kritischen Rationalismus, 1993, S. 111. 325 "Der Rationalismus ist also mit der Idee verbunden, daß der andere das Recht hat, gehört zu werden und seine Argumente zu verteidigen. ... Schließlich ist der Rationalismus ... mit der Erkenntnis verbunden, daß soziale Institutionen notwendig sind, die die Freiheit der Kritik, die Freiheit des Denkens und damit die Freiheit des Menschen schützen.", Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 279; zur Bedeutung der freien Meinungsbildung und Kritik siehe zudem ders., Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 254, ders., Zum Thema Freiheit, S. 162 und ders., Woran glaubt der Westen?, in: ders., Auf der Suche nach einer besseren Welt, 5. Auf!. 1990, S. 234 f. Zur Bedeutung der Meinungs- und Redefreiheit siehe auch H. Albert, Der kritische Rationalismus Karl Raimund Poppers, ARSP 1960, S. 412 und Radnitzky, Wertfreiheitsthese: Wissenschaft, Ethik und Politik, in: ders./ Andersson (Hrsg.), Voraussetzungen und Grenzen der Wissenschaft, 1981, S. 105 f. 326 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 150; nach Eidlin, Popper und die demokratische Theorie, S. 201 ff. betrachtet Popper die "Demokratie als das einzige ethisch vertretbare Regime". 327 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. ISO; ders., Freiheit und intellektuelle Verantwortung, S. 242 weist darauf hin, dass "auch das Prinzip der Volksherrschaft eine Antwort auf die Platonische Frage [,Wer soll herrschen?', Anm. TI] ist. Es ist ein gefährliches Prinzip. Eine Mehrheitsdiktatur kann für die Minderheit fürchterlich sein."; ein weiterer Einwand gegen die Theorie der Volksherrschaft ist, dass "sie eine irrationale Ideologie, einen Aberglauben fördert: den autoritären und relativistischen Aberglauben, daß das Volk (oder die Majorität) nicht unrecht haben kann und nicht unrecht tun kann", vgl., ders., ebd., S. 245. Schachtschneider, Res publica res populi, S. 4 betont: "Jede Interpretation des demokratischen Prinzips als Herrschaftsform verletzt die Verfassung der Freiheit; denn sie rechtfertigt die Despotie"; zu den antifreiheitlichen Lehren von der Demokratie als Herrschaft des Volkes, als herrschaftliche Führung und als Herrschaft der Mehrheit siehe ders., ebd., S. 92 ff., 100 ff., 105 ff.

2. Kap.: Karl R. Poppers Vorstellung von Offenen Gesellschaften

63

fassung können nicht alle Bürger regieren, wohl aber über die Regierung zu Gericht sitzen, und das sollten sie nach seiner Ansicht an jedem Wahltag tun. 329 Demokratie ist für ihn "das Recht der Menschen, zu urteilen und ihre Regierungen zu entlassen" und "das einzige bekannte Mittel, mit dessen Hilfe wir versuchen können, uns gegen den Mißbrauch der politischen Gewalt zu schützen; ... sie ist die Kontrolle . . . der Regierenden durch die Regierten,mo. Was lässt sich an dieser Stelle resümieren? Der kritische Dualismus verdeutlicht, dass normative Gesetze rein auf menschlicher Entscheidung oder Übereinkunft beruhen. Daneben steht Poppers Auffassung des Dualismus von Tatsachen und Maßstäben, der besagt, dass sich normative Regeln nicht aus Tatsachen deduzieren lassen. Die Vernunft ermöglicht dem Menschen jedoch eine rationale Analyse, die ihm dabei hilft, Entscheidungen verantwortlich zu treffen, ohne determiniert zu sein. Über den Begriff der politischen Freiheit und der Rolle des Rechtsstaats gelangt man dann zu Poppers Vorstellung von Demokratie. Nach seinem Verständnis dient die Demokratie der Abwehr von Herrschaft und ist das Recht der Menschen, zu urteilen und ihre Regierungen durch Wahlen unblutig zu entlassen. Zudem schafft sie mittels politischer Institutionen den Rahmen für den Gebrauch der Vernunft, für öffentliche Kritik und für Konfliktregelung durch kritisch-rationale Diskussion, wodurch wiederum gewaltlose Reformen ermöglicht werden. Die Vernunft selbst kann sie allerdings nicht herstellen, denn die Frage der gewählten intellektuellen, rechtlichen und moralischen Standards ist ein Problem, das mit den handelnden Personen verbunden ist. Es ist daher nicht richtig, wenn man die Demokratie für politische Unzulänglichkeiten eines Staates verantwortlich macht, denn es sind die Bürger, welche durch ihre Entscheidungen die Verantwortung tragen. 5. Individualismus vs. Kollektivismus und Holismus Der kollektivistische und holistische Charakter Geschlossener Gesellschaften ist ein weiterer Angriffspunkt der popperschen Kritik. Als Gegenposition zu der in diesem Kontext bereits geschilderten Auffassung vom Einzelnen und der Gesell328 Beide Zitate: Popper, Freiheit und intellektuelle Verantwortung, S. 244. Zu den wesentlichen Unterschieden zwischen dem traditionellen und dem poppersehen Demokratieverständnis siehe Eidlin, Popper und die demokratische Theorie, S. 207 ff. 329 Vgl. Popper, Freiheit und intellektuelle Verantwortung, S. 244; "Zugegeben, nur wenige sind fähig, eine politische Konzeption zu entwerfen und durchzuführen, aber wir sind alle fähig, sie zu beurteilen. ", ders., Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 222; siehe zudem ders., Zur Theorie der Demokratie, in: ders., Alles Leben ist Problemlösen, 4. Aufl. 1995, S. 209 ff., der dort ausführlich auf das von ihm präferierte Zweiparteiensystem eingeht, welches nach seiner Auffassung als einziges eine eindeutige Zuordnung der Verantwortung für politische Entscheidungen ermöglicht. 330 Beide Zitate: Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 148. Nach Pies, Theoretische Grundlagen demokratischer Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik - Der Beitrag Karl Poppers, in: ders. / Leschke (Hrsg.), Karl Poppers kritischer Rationalismus, 1999, S. 21 ist nicht die Wahl, sondern die Abwahl(möglichkeit) für Poppers Demokratiebegriffkonstitutiv.

64

1. Teil: Geschlossene vs. Offene Gesellschaft

schaft vertritt Popper einen konsequenten Individualismus, welcher sein Verständnis offener Verhältnisse wesentlich prägt?31 Es stellt sich die Frage, was Popper unter dem von ihm gewählten Begriff des "methodologischen Individualismus,,332 versteht. Er knüpft dabei explizit an die Ansätze von Friedrich August v. Hayek und earl Menger an. 333 Methodologischer Individualismus ist für ihn durch die Auffassung gekennzeichnet, dass Modelle der Sozialtheorie "auf Individuen beruhen, auf deren Haltungen, Erwartungen, Beziehungen USW.,,334. Soziale Einheiten und Ereignisse müssen somit durch die Interessen, die Wahrnehmung und die Disposition Einzelner erklärbar oder aus ihnen heraus verstehbar sein. 335 Popper hebt dabei hervor, dass es möglich sein muss, "das ,Verhalten' und die ,Handlungen' von Kollektiven wie Staaten und Sozialgruppen auf das Verhalten und die Handlungen menschlicher Individuen zu reduzieren,,336. Mit anderen Worten werden Kollektive nicht als eigene Wesenseinheiten aufgefasst, so dass alle gesellschaftlichen Phänomene auf Aktionen, Interaktionen, Beziehungen und Ziele von Individuen zurückführbar sein müssen. 337 An die 331 Vgl. Brunnhuber, Die Ordnung der Freiheit, S. 337; Schäfer, Karl R. Popper, S. 95. Nach der Auffassung von Schmid, Methodologischer Individualismus, Historizismus und Historismus, in: Sievering (Hrsg.), Kritischer Rationalismus heute, 1988, S. 108 ff. will Poppers sich mit seinem Individualismus klar gegenüber dem "methodologische[n] Kollektivismus" und dem "methodologischen Psychologismus" abgrenzen. 332 Popper, Das Elend des Historizismus, S. 107; ders., Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 108. Der Ausdruck "methodo1ogischer Individualismus" geht auf Schumpeter, Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, 2. Auf!. 1970, S. 88 ff. zurück, der in seiner Habitilationschrift aus dem Jahre 1908 feststellt, dass bei der Beschreibung bestimmter wirtschaftlicher Vorgänge von dem Handeln der Individuen ausgegangen werden muss. Zur Debatte über den "methodologischen Individualismus" und den Positionen der wichtigsten Diskussionsteilnehmer siehe Jarvie, Die Logik der Gesellschaft, S. 265 ff. und Lenk, Wissenschaftstheorie und Sozialwissenschaft, 1986, S. 184 ff. 333 Vgl. Popper, Das Elend des Historizismus, S. 107; siehe dazu v. Hayek, Mißbrauch und Verfall der Vernunft, 2. Auf!. 1979,48,298,300, der zum Beleg für die von ihm vertretene "kompositive Methode" (als eine Synthese sozialer Handlungszusarnmenhänge aus kleinsten, nicht mehr weiter unterteilbaren Elementen) auf Carl Menger verweist. Eine zusammenfassende Darstellung der Positionen Carl Mengers, Max Webers, Joseph Schumpeters und Friedrich A. v. Hayeks im Kontext des Themenbereichs "methodologischer Individualismus" findet sich bei Heine, Methodologischer Individualismus, 1983, S. 103 ff. 334 Popper, Das Elend des Historizismus, S. 107. 335 Vgl. Brunnhuber, Die Ordnung der Freiheit, S. 338; Waschkuhn, Kritischer Rationalismus, S. 8; Watkins, Ideal Types and Historical Explanation, Feigl/Brodbeck (Hrsg.), Readings in the philosophy of science, 1953, S. 729 definiert methodologischen Individualismus wie folgt: "This principle states that social processes and events should be explained by being deducted from (a) principles governing the behaviour of participating individuals and (b) descriptions of their situations". Eine kritische Rekonstruktion von Poppers Individualismus liefert Schmid, Methodologischer Individualismus, Historizismus und Historismus, S. 101 ff. 336 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 108. Ders., ebd., S. 106 stimmt in der Grundauffassung mit John Stuart Mill überein, lehnt jedoch dessen Psychologismus ab. Zu den Berührungspunkten zwischen Mill und Popper siehe Schäfer, Karl R. Popper, S.114.

2. Kap.: Karl R. Poppers Vorstellung von Offenen Gesellschaften

65

Stelle einer geschichtsimmanenten Entwicklungslogik, die durch ihre unveränderliche Eigengesetzlichkeit keinen Platz für persönliche Gestaltung kennt, und eines dem gesellschaftlichen Ganzen den höchsten Stellenwert beimessenden Kollektivismus tritt das bewusste Engagement und die Verantwortung des Einzelnen. 338 Die Grundlage für Poppers Verständnis von sozialen Ordnungen bildet also der einzelne Mensch, so dass eine dazugehörige Gesellschaftstheorie folgerichtig am Subjekt ansetzen muss?39 Ausgangspunkt, Resultat, Abstraktionsebene und Rechtfertigungsinstanz ist für den Kritischen Rationalisten immer das Individuum, denn jede kritische Auseinandersetzung hat nicht nur dort ihren Anfang, sondern wird auch über das Individuum ausgetragen und muss sich letztlich auf dieses zurückführen lassen?40 Offene Verhältnisse sind somit durch Prozesse, die von Individuen getrieben werden und zwischen ihnen ablaufen, gekennzeichnet. 34l Popper verdeutlicht seine Position nochmals in dem folgenden Satz: "Wenn ich also von einer ,sozialen' Theorie der Vernunft ... spreche, so meine ich, genauer gesagt, eine interpersonelle Theorie, aber nie eine kollektivistische Theorie,,342. Der poppersche Individualismus ist jedoch weit mehr als nur die Auflösung der Bindung an den Stamm, denn er betont zudem die Bedeutung der Vernunftbegabung als die wichtigste Eigenschaft des Menschen.343 Popper zitiert dazu Sokrates: "Deine Vernunft ist es, die dich zum Menschen macht,,344. Es geht Popper offensichtlich nicht um die körperlich-physische Konstitution, welche eine Person von einer Gruppe unterscheidet, sondern um die intellektuelle und moralische Einheit, die im Individuum zum Ausdruck kommt. 345 In der dem Menschen innewohnenden Vernunftbe337 Vgl. Popper, Das Elend des Historizismus, S. 123; für Watkins, Ideal Types and Historical Explanation, S. 723 ff. gilt es im Grunde alle sozio-kulturellen und geschichtlichen Phänomene aus dem Subjekt und seiner Interaktion mit anderen Individuen heraus erklärbar zu machen; Wettersten, Eine aktuelle Aufgabe für den kritischen Rationalismus und die Soziologie, in: Gadenne/Wendel (Hrsg.), Rationalität und Kritik, 1996, S. 183 ff. führt aus, dass Poppers methodologischer Individualismus die Erklärbarkeit sozialer Phänomene als Konsequenzen individueller rationaler Handlungen fordert und weist auch auf die Grenzen dieses Ansatzes hin; siehe zudem die kritische Diskussion bei Lenk, Der methodologische Individualismus ist (nur?) ein heuristisches Postulat, in: Eichner I Habermehl (Hrsg.), Probleme der Erklärung sozialen Verhaltens, 1977, S. 34 f. 338 Vgl. Brunnhuber, Die Ordnung der Freiheit, S. 338. 339 Der Einzelne wird die fundamentale gesellschaftliche Gliederungseinheit, vgl. Brunnhuber, Die Ordnung der Freiheit, S. 345. 340 Eine "individualistische Einstellung" hindert "nicht im geringsten daran ... die Tatsache anzuerkennen, daß jedes Individuum mit allen anderen in Wechselwirkung steht", vgl. Popper, Das Elend des Historizismus, S. 66. 341 Vgl. Brunnhuber, Die Ordnung der Freiheit, S. 362. 342 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 264. 343 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 226 f. 344 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 227. 345 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 227; nach Brunnhuber, Die Ordnung der Freiheit, S. 349 ist auch hier wieder deutlich Poppers Verwurzelung in den Ideen der Aufklärung zu erkennen.

5 Tiefel

66

1. Teil: Geschlossene vs. Offene Gesellschaft

gabung sieht er ein universelles Medium der Verständigung, welches jedoch auch Bescheidenheit, Ehrlichkeit und Selbstkritik fordert. 346 Die Vernunft befähigt den Menschen zu einer ,,rationalistische[n] Einstellung,,347, welche eine Verbindung zwischen den Menschen herstellt, die man als die "rationale Einheit der Menschheit,,348 bezeichnen kann. Aber der Individualismus schafft neben der Vernunft noch ein anderes Band zwischen den Menschen. Anders als für Platon ist für Popper Individualismus nicht gleichbedeutend mit Egoismus, denn für ihn existieren zwei Gegensatzpaare: ,Individualismus vs. Kollektivismus' und ,Altruismus vs. Egoismus,?49 Daher ist für Popper auch ein mit dem Altruismus vereinigter Individualismus möglich, welcher "die Grundlage unserer abendländischen Zivilisation,,350 geworden ist. Dieser altruistische Individualismus (,Liebe deinen Nächsten wie dich selbst') ist die zentrale Lehre des Christentums und der Kern aller ethischen Lehren, die aus unseren Zivilisationen erwuchsen?51 Popper bringt seine altruistisch-individualistische Position sehr treffend in dem folgenden Satz auf den Punkt: "Wirklich wichtig sind nur die menschlichen Individuen, aber daraus schließe ich nicht, daß meine Person sehr wichtig ist,,352. Eine so verstandene rationale Haltung ist für Popper folglich quasi automatisch mit den Ideen der Humanität und der Gleichheit verbunden. 353 6. Stückwerk-Sozialtechnik vs. utopische und holistische Sozialtechnik

Der Holismus tritt in der Geschlossenen Gesellschaft nicht nur gepaart mit dem Kollektivismus, sondern darüber hinaus auch in Kombination mit dem Utopismus 346 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 226; ebenso Waschkuhn, Kritischer Rationalismus, S. 8, der neben der Vernunft auch die Bedeutung der Sprache hervorhebt. 347 Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 263; die rationalistische Einstellung ist für ihn durch den Glauben gekennzeichnet, "daß wir bei der Suche nach der WaiIrheit zusammenarbeiten müssen und daß wir mit Hilfe von Argumenten im Laufe der Zeit so etwas wie Objektivität erreichen können". 348 Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 264. An anderer Stelle führt ders., ebd., S. 271 aus, dass für ihn der Rationalismus eng "mit dem Glauben an die Einheit der Menschheit" verbunden ist. 349 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 120 ff. 350 Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 123. 351 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 123, der hier vor allem auch an die Lehre Kants denkt. Müller-Schmidt, Die philosophischen Grundlagen der Theorie der "Offenen Gesellschaft", S. 33 spricht von einer Individualethik, die nur durch den Bezug auf das in der Freiheit verantwortliche Individuum möglich ist. 352 Popper; Über Geschichtsschreibung und über den Sinn der Geschichte, in: ders., Alles Leben ist Problernlösen, 4. Aufl. 1995, S. 198. 353 Vgl. Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 281.

2. Kap.: Karl R. Poppers Vorstellung von Offenen Gesellschaften

67

auf. Um seine Kritik an diesem Sachverhalt deutlich zu machen, stellt Popper der "holistische[n] oder utopistische[n] Sozialtechnik,,354 sein Konzept der "Stückwerk-Sozialtechnik,,355 entgegen?56 Dieses kann am treffendsten als "Sozialtechnik der kleinen Schritte,,357 oder "Technik des schrittweisen Umbaus der Gesellschaftsordnung ,,358 beschrieben werden. 359 Ein Kemargument Poppers gegen die utopistische Sozialtechnik ist, dass das zur Anwendung einer Planung im großen Maßstab notwendige Wissen einfach nicht existiert?60 Von der Einsicht ausgehend, dass Revolutionen in der bisherigen Menschheitsgeschichte nur allzu oft zu totalitären Ordnungen geführt haben, wird für vorsichtige und schrittweise Veränderungen von gesellschaftlichen Strukturen plädiert, wobei stets die möglichen Konsequenzen der geplanten Veränderungen verantwortungsbewusst in Rechnung zu stellen sind. 361 Popper macht sich für eine Philosophie der Reformen stark, die 354 Popper, Das Elend des Historizismus, S. 54. Synonym verwendet ders., Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 187 die Bezeichnungen "Methode des Planens im großen Stil", "die utopische Technik des Umbaus der Gesellschaftsordnung" und "Technik der Ganzheitsplanung" . 355 Popper, Das Elend des Historizismus, S. 51. Der englische Originalausdruck lautet "piecemeal social engineering", vgl. ders. , The Poverty of Historicism, 2. Auf!. 1960, S. 64. 356 Den Inhalt des Terminus "Sozialtechnik" beschreibt Popper, Das Elend des Historizismus, S. 47 wie folgt: "Die Sozialwissenschaften verdanken ihre Entwicklung in sehr großem Maße der Kritik sozialer Verbesserungsvorschläge, genauer gesagt, Versuchen festzustellen, ob damit zu rechnen ist, daß eine bestimmte wirtschaftliche oder politische Handlungsweise ein erwartetes oder erwünschtes Ergebnis herbeiführen wird. An diese Einstellung . .. denke ich, wenn ich von technologisch orientierter Sozialwissenschaft ... spreche."; zum Begriff der Sozialtechnik siehe zudem Hagiwara, Einige Bemerkungen zum kritischen Rationalismus als politische Philosophie, in: Salamun (Hrsg.), Karl R. Popper und die Philosophie des Kritischen Rationalismus, 1989, S. 227 ff. und den umfassenden Artikel von Eckei, Das Sozialexperiment, ZfS 1978, S. 39 ff. Molitor, Piecemeal-Engineering in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, in: Ortlieb / ders./ Krone (Hrsg.), Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und GeseIlschaftspolitik, 1976, S. 26 weist darauf hin, dass die Methode der utopischen Sozialtechnik sich aus rein logischen Griinden als unmöglich erwiesen habe, worin für ihn gleichsam der Beweis für die Richtigkeit der Stückwerk-Sozialtechnik liegt. Der entgegengesetzten Auffassung ist Habermehl, Historizismus und Kritischer Rationalismus, S. 112 f., der Poppers Beweis auf Grund falscher Annahmen als gescheitert betrachtet. 357 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 29, 187,194. 358 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 187; er verwendet zudem die Synonyme "Sozialtechnik der Einzelprobleme " und " von Fall zu Fall angewendete Sozialtechnik". 359 Nach Molitor, Piecemeal-Engineering in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, S. 38 bedeutet die Sozialtechnik der kleinen Schritte jedoch nicht, sich nur auf kleine Probleme zu beschränken, und impliziert auch nicht, es lediglich bei kleinen Schritten zu belassen; das Konzept empfiehlt jedoch auf Grund der Begrenztheit des menschlichen Wissens, einen Schritt nach dem anderen zu tun, da nur so eine Zielerreichung realistisch erscheint. 360 Es gibt weder eine rationale Methode, die es gestattet festzustellen, wie das Ideal beschaffen sein soll, noch kann rational ermittelt werden, auf welchem Weg das Ziel erreicht werden kann, vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 192 f. 361 Für Popper, Das Elend des Historizismus, S. 55 unterscheidet sich "in der Praxis die utopische Technik von der Stiickwerk-Technik nicht so sehr in der Größenordnung und im

5*

68

1. Teil: Geschlossene vs. Offene Gesellschaft

Veränderungen auf rationalem und humanen Weg und nicht durch Gewalt oder Revolution erreichen will. 362 Für ihn mag der "typische Stückwerk-Ingenieur ... zwar einige Vorstellungen von der idealen Gesellschaft "als Ganzem" haben ... aber er ist nicht dafür, daß die Gesellschaft als Ganzes neu geplant wird. Was immer seine Ziele sein mögen, er sucht sie schrittweise durch kleine Eingriffe zu erreichen, die sich dauernd verbessern lassen,,363. Analog zu Poppers Schema des Wissenswachstums kann das der Stückwerk-Sozialtechnik mit der Formel ,Ül ---t VL ---t ÜB ---t Ü2' beschrieben werden. 364 Ein Politiker, der sich diese Methode zu eigen macht, wird versuchen, entsprechend seiner Zielvorstellung soziale Institutionen zu entwerfen, umzugestalten oder die bereits bestehenden in ihrer Funktion zu erhalten. 365 Falls er sich dabei bewusst ist, wie wenig er weiß und dass er nur aus Fehlern lernen kann, könnte dies zwei Konsequenzen haben: Erstens wird er keine Veränderungen von solcher Komplexität herbeizuführen versuchen, die es ihm unmöglich machen, Ursachen und Wirkungen zu entwirren und zu wissen, was er genau tut. 366 Und zweiBereich ihrer Aktionen wie in der Vorsicht und dem Vorbereitetsein auf die unvermeidlichen Überraschungen"; so auch Flohr, Sozialphilosophie und Wissenschaftstheorie, Rechtstheorie 1972, S. 68 und Salamun, Der Kritische Rationalismus, S. 268. 362 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 177 f. hebt allerdings auch hervor: "Ich bin nicht in allen Fällen und unter allen Umständen gegen eine gewaltsame Revolution .... Aber ich glaube auch, daß das einzige Ziel jeder solchen Revolution die Errichtung einer Demokratie sein sollte: ... In einem einzigen weiteren Fall halte ich die Anwendung von Gewalt in politischen Kämpfen für gerechtfertigt. Ich meine den Widerstand - nach Errichtung der Demokratie - gegen jeden Angriff (ob von innen oder außen) auf die demokratische Verfassung und auf die Verwendung demokratischer Methoden."; nach Waschkuhn, Kritischer Rationalismus, S. 2, 9 geht es für Popper grundsätzlich um "sozialpolitisches Reformhandwerk"; Spinner, Popper und die Politik, S. 97 spricht vom "Paradigma der friedlich rationalen Konfliktregulierung"; zur Idee des sozialen Reformismus vs. utopischem Totalplanungsdenken siehe Vanberg, Wissenschaftsverständnis, Sozialtheorie und politische Programmatik, 1973, S. 90 ff. und ergänzend Magee, Karl Popper, S. 92. 363 Popper, Das Elend des Historizismus, S. 53. 364 Ül ist ein zu beseitigendes Übel, VL steht für die vorläufige Lösungshypothese, ÜE symbolisiert die Übele1imination und Ü2 stellt das Auftreten eines neuen Übels als unerwartete Folge der Anwendung der Lösungshypothese dar, vgl. dazu auch Hagiwara, Einige Bemerkungen zum kritischen Rationalismus als politische Philosophie, S. 233. 365 Der Ausdruck "soziale Institutionen" wird von Popper, Das Elend des Historizismus, S. 52 im weitesten Sinne verwendet. 366 Vgl. Popper, Das Elend des Historizismus, S. 54; Herzstück der Stückwerk-Sozialtechnik ist für Molitor, Piecemeal-Engineering in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, S. 35 die Tatsache, dass sie eine rationale Erfolgskontrolle erlaubt; die Ergebnisse der Aktionen können relativ frühzeitig mit den Soll-Werten der Ziele verglichen werden, wodurch man getroffene Maßnahmen jederzeit korrigieren kann, ohne dass dabei unabsehbare Schäden entstehen. Genau aus diesem Punkt kann sich nach Ansicht von Flohr, Sozialphilosophie und Wissenschaftstheorie, Rechtstheorie 1972, S. 68 f. und Radnitzky, Karl R. Popper, S. 67 f. allerdings ein Problem ergeben; falls auf Grund der Komplexität der gegebenen Problemstellung die Kausalzusammenhänge nicht mehr nachvollzogen werden können und es nicht möglich ist, das Resultat einer Handlung bestimmten Faktoren zuzurechnen, so können auch keine Ursa-

2. Kap.: Karl R. Poppers Vorstellung von Offenen Gesellschaften

69

tens würde dies "die Einführung wissenschaftlicher Methoden in die Politik bedeuten; denn das ganze Geheimnis der wissenschaftlichen Methode liegt in der Bereitschaft, aus begangenen Fehlern zu lernen,,367, statt zu versuchen sie hinwegzuerklären oder zu beweisen, dass man doch recht hatte. 368 Es sei in diesem Kontext nochmals auf die bereits hervorgehobene, substantielle Bedeutung der freien Kritik und Meinungsbildung hingewiesen. In unmittelbarer Verbindung mit dem gradualistischen Gesellschaftsveränderungskonzept steht eine Grundmaxime, die man als negativen Utilitarismus bezeichnen kann. 369 Dieser Maxime zufolge sollte es in der Sozialtechnik der kleinen Schritte nicht, wie es die Forderung utilitaristischer Denker ist, um die Maximierung von Glück für möglichst viele Menschen gehen, sondern um die Minimierung des größten und dringlichsten Elends. 37o An die Stelle der Forderung nach der che-Wirkungszusammenhänge eruiert werden. Aber genau darauf käme es an. Wenn aus Fehlern gelernt werden soll, dann muss auch ermittelt werden können, woran der Fehler lag. In der sozialen Wirklichkeit sind oftmals noch nicht einmal alle relevanten Faktoren und Variablen bekannt, geschweige denn, dass alle Auswirkungen erfasst werden können. Siehe in diesem Kontext auch Popper, Zur Theorie der Politik - Bemerkungen zu einer Arbeit von Heiner Flohr, Rechtstheorie 1973, S. 88 ff. 367 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 194. An anderer Stelle fasst ders., Das Elend des Historizismus, S. 70 zusammen, was für ihn die Anwendung der wissenschaftliche Methode in der Politik bedeutet: Wir "ersetzen die große Kunst, uns selbst zu überreden, daß wir keine Fehler begangen haben, sie zu ignorieren, sie zu verbergen und sie anderen in die Schuhe zu schieben durch die noch größere Kunst, die Verantwortung für diese Fehler auf uns zu nehmen, möglichst aus ihnen zu lernen und das Gelernte so anzuwenden, daß wir sie in Zukunft vermeiden". 368 Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass verschiedene Autoren die Anwendung der wissenschaftlichen Methode in der Politik für nicht durchführbar halten. Nach ihrer Auffassung geht es im politischen Bereich nicht um Wahrheitsfindung, sondern um Interessensdurchsetzung, so dass Kritik dort eine ganz andere Funktion hat, vgl. W Becker, Kritischer Rationalismus oder Kritizismus, S. 218, Kurzowa, Problematische Aspekte des Kritischen Rationalismus und die Rationalität des politischen Handelns, in: Lührs I Sarrazinl Spreer/Tietzel (Hrsg.), Theorie und Politik aus kritisch rationaler Sicht, 1978, S. 212 ff. oder Rahmeyer, Kritik der Politikkonzeption des Kritischen Rationalismus, in: Lührs I Sarrazin/Spreer/Tietzel (Hrsg.), Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie 2, 1976, S. 272 ff. 369 Vgl. Salamun, Der Kritische Rationalismus, S. 268; Schäfer, Karl R. Popper, S. 102; Waschkuhn, Kritischer Rationalismus, S. 2; siehe zudem Smart, Negative Utilitarianism, in: D' Agostino/Jarvie (Hrsg.), Freedom and Rationality, 1989, S. 35 ff., der eine gute Darstellung des popperschen sowie des watkinschen Verständnis des negativen Utilitarismus vorlegt und dabei insbesondere auf Acton, Negative Utilitarianism I, Aristot Soc Supp 1963, S. 83 ff. und Watkins, Negative Utilitarianism 11, Aristot Soc Supp 1963, S. 94 ff. hinweist. 370 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 188,289 f., der vorschlägt die utilitaristische Formel ,Vermehre die Glückseligkeit, so sehr Du nur kannst' durch die Alternative ,Vermindere das Leiden, so sehr Du nur kannst' zu ersetzen; ders., Vermutungen und Widerlegungen 2, S. 523 spricht sich vehement für die Beseitigung konkreter sozialer Problem an Stelle der Verfolgung utopischer Ideale aus: "Versuche nicht, mit politischen Mitteln, die Menschheit zu beglücken. Setze dich statt dessen für die Behebung von konkreten Mißständen ein."; siehe zudem H. Albert, Karl Popper (1902-1994), ZfaW 1995, S. 218 und

70

1. Teil: Geschlossene vs. Offene Gesellschaft

größten Glückseligkeit für möglichst viele Menschen tritt das bescheidenere und realistischere Streben nach dem kleinsten Maß an Leiden für alle.37! Für Popper besteht keine Symmetrie zwischen Freud und Leid, denn nach seinem Verständnis enthält das Leid einen direkten Appell zu helfen, wogegen er keine ähnliche Veranlassung darin sieht, das Glück oder die Freude eines Menschen zu vermehren, dem es ohnehin schon gut geht. 372 Die Parallelität von Poppers negativem Utilitarismus zu seinem wissenschafts theoretischen Ansatz ist offensichtlich, auch dort existiert eine grundlegende Asymmetrie - nämlich zwischen Verifikation und Falsifikation, wobei an die Stelle des Strebens nach absoluter Wahrheit der Versuch der Beseitigung von Irrtümern trat. 373 Wie kann nun im Rahmen der Stückwerk-Sozialtechnik die Forderung nach Vermeidung unnötigen Leids in die Tat umgesetzt werden? In der Diskussion um die politische Philosophie des Kritischen Rationalismus ist oft der Eindruck erweckt worden, dass die von Popper vertretene Freiheitsidee rein liberalistisch wäre und einem schrankenlosen Kapitalismus das Wort rede. 374 Dass diese Deutung unzutreffend ist, zeigt seine bereits beschriebene Verwurzelung in den Werten der Aufklärung 375 und der Forderung, dass "das Prinzip des Nichtinterventionismus eines unbeschränkten ökonomischen Systems aufgegeben werden muß,,376. Poppers Spinner, Popper und die Politik, S. 96. Zur Theorie des Glücks im klassischen Utilitarismus siehe Höjfe, Ethik und Politik, 1979, S. 120 ff. 371 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 362; ders., Vermutungen und Widerlegungen 2, S. 501 betont, dass wir "das von den Utilitaristen vertretene Prinzip des größten Glücks ... durch ein bescheideneres realistischeres ersetzen sollten - durch das Prinzip, daß der Kampf gegen vermeidbares Elend ein anerkanntes Ziel staatlicher Politik sein sollte, während die Steigerung des Glücks in erster Linie der Privatinitiative überlassen bleiben sollte". Für Magee, Karl Popper, S. 93 f. ist die Maxime ,Halte vermeidbares Leid möglichst gering' das allgemeine Prinzip der Politik der Offenen Gesellschaft. 372 Für Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 362 lässt sich Leid nicht durch Glück aufwiegen, "insbesondere nicht der Schmerz des einen Menschen durch die Glückseligkeit eines anderen". Magee, Karl Popper, S. 94 weist noch auf eine weitere Asymmetrie hin: Wir wissen nicht, wie man die Menschen glücklich machen kann, aber wir haben eine gute Vorstellung davon, wie wir ihr Leid mindern können. 373 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 362 dazu: "Ich finde, daß eine gewisse Analogie besteht zwischen dieser Betrachtungsweise der Ethik und der Auffassung von der wissenschaftlichen Methodologie, die ich in meiner Logik der Forschung befürwortet habe."; für Flohr, Sozialphilosophie und Wissenschaftstheorie, Rechtstheorie 1972, S. 66 ist die Parallität zwischen Poppers negativem Utilitarismus und seinem wissenschaftstheoretischen Ansatz offensichtlich; etwas moderater, aber auch zustimmend Schäfer, Karl R. Popper,

S.102. 374 Vgl. Salamun, Der Kritische Rationalismus, S. 270. Zum fundamentalen Unterschied zwischen der liberalistischen Freiheitsidee und dem republikanischen Freiheitsverständnis der Aufklärung siehe Schachtschneider, Vom liberalistischen zum republikanischen Freiheitsbegriff, in: ders. (Hrsg.), Wirtschaft, Gesellschaft und Staat im Umbruch, 1995, S. 418 ff. 375 Siehe dazu 2. Kap. II. 4. 376 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 146. An anderer Stelle betont ders., Das Elend des Historizismus, S. 49, dass er "absoluten Anti-Interventionismus sogar

2. Kap.: Karl R. Poppers Vorstellung von Offenen Gesellschaften

71

Überlegungen zu einem "ökonomischen Interventionismus,,377 haben ihren Ursprung in seiner Überzeugung, dass bei unbegrenzter Freiheit der Starke die Möglichkeit hat, den Schwachen seiner Freiheit zu berauben. 378 Aus diesem Grund verlangt er, dass "der Staat die Freiheit in gewissem Ausmaß einschränke" und somit "am Ende jedermanns Freiheit vom Gesetz geschützt wird,,?79 Diese Überlegungen überträgt er auch auf den wirtschaftlichen Bereich.38o Es müssen daher staatliche Vorkehrungen zur Kontrolle ökonomischer Macht getroffen werden, denn politische Macht und deren Kontrolle ist das eine, aber in gleichem Maß darf die Wirtschaft nicht die Politik beherrschen und muss infolgedessen auf demokratischen Wege überwacht und gegebenenfalls beeinflusst werden?81 Die Auffassung, dass die Politik, und somit der Rechtsstaat, den Handlungsspielraum der Wirtschaft regelt, bedeutet eine grundlegende Änderung im Verständnis von der Wirksamkeit politischer Maßnahmen. 382 Popper unterscheidet bei den Methoden, denen sich der Staat bei wirtschaftlichen Eingriffen bedienen kann, zwischen institutionellen oder indirekten Interventionen (Schaffung eines gesetzlichen Rahmens) und solchen, die direkter oder personeller Natur (konkrete Eingriffe staatlicher Organe) sind?83 Für ihn kommt als "demokratische Intervention,,384 eigentlich nur die erste Form in Frage, denn diese kann sich zum einen nicht der parlamentarischen Kontrolle entziehen und ermöglicht zum anderen die sukzessive Verbesserung im Lichte von Diskussion und Erfahrung. 385 Er warnt allerdings explizit davor, dass jede Art der ökonomischen Inals unhaltbar [ansiehtJ- schon aus rein logischen Gründen, denn seine Vertreter müßten politische Interventionen zur Verhinderung von Interventionen befürworten". 377 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 146. 378 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 145. 379 Beide Zitate: Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 145. 380 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 145. Hierzu kritisch Radnitzky, Der kritische Rationalismus in der Erkenntnistheorie und politischen Philosophie, S.200. 381 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 147 f. 382 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 147 vehement: "Wir können uns fragen, welche Ziele wir erreichen wollen und wie wir diese Ziele erreichen wollen. Wir können zum Beispiel ein durchdachtes politisches Programm zum Schutz der wirtschaftlich Schwachen entwickeln. Wir können Gesetze einführen, die der Ausbeutung Grenzen setzen. Wir können den Arbeitstag einschränken; aber wir können noch viel mehr tun". Die Interventionen müssen allerdings aus erkenntnistheoretischen Gründen möglichst gering gehalten werden, da ansonsten dem Staat mehr Wissen über die Bedürfnisse zugetraut würde als dem Individuum. 383 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 154; Bouillon, Politische Philosophie im Rahmen einer offenen Gesellschaft, in: Salamun (Hrsg.), Moral und Politik aus Sicht des Kritischen Rationalismus, 1991, S. 146; Mestmäcker, Recht in offenen Gesellschaften, 1993, S. 16 ff. 384 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 154. 385 Die Verwendung der zweiten Methode soll auf Fälle beschränkt bleiben, in denen sich die erste als ungeeignet erwiesen hat, vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2,

72

1. Teil: Geschlossene VS. Offene Gesellschaft

tervention, also auch die von ihm empfohlene, die große Gefahr in sich birgt, dass der Staat durch diese seine Macht ausweitet. 386 Es stellt sich folglich die Frage, welche Bedeutung Popper einer freien Marktwirtschaft zumisst. Er geht auf diesen Aspekt in seinen Ausführungen zum Interventionismus nur indirekt ein, hebt aber in seinem Vorwort hervor, dass der .. freie Markt .. . den Schutz eines rechtlichen Rahmens, eines Rechtsstaats.. 387 benötigt. Hieraus wird die paradoxe Situation des freien Marktes deutlich, denn wenn der Staat nicht eingreift, machen marktliche Erscheinungsformen wie Kartelle, Konsortien, Konzerne oder Monopole die Freiheit des Marktes zu einer Fiktion. 388 Der freie Markt kann also ohne die Sicherung durch einen Rechtsstaat gar nicht existieren. Aber warum soll gerade die freie Marktwirtschaft rechts staatlich geschützt werden? Aus der Perspektive Poppers gibt es dafür einen triftigen Grund. Für ihn besteht der Hauptzweck eines ökonomischen Systems in der bestmöglichen Befriedigung der Bedürfnisse der Konsumenten, was nach seiner Auffassung nur mittels eines freien Markt erreicht werden kann. 389 Popper verdeutlicht sein Verständnis vom Verhältnis zwischen ökonomischer Aktivität und Freiheit innerhalb offener gesellschaftlicher Verhältnisse sehr eindringlich: "Aber ich möchte doch hier einer Ansicht entgegentreten, die man in verschiedener Form immer wieder hört; der Ansicht nämlich, daß die Entscheidung zwischen der westlichen und östlichen Wirtschaftsform in letzter Linie davon abhängen wird, welche dieser beiden Formen wirtschaftlich überlegen ist. Ich persönlich glaube ja an die wirtschaftliche Überlegenheit einer freien Marktwirtschaft und an die Unterlegenheit der sogenannten Planwirtschaft. Aber ich halte es für ganz falsch, unsere Ablehnung der Tyrannei mit wirtschaftlichen Überlegungen zu begründen ., . Auch wenn es so wäre, daß die staatliche, zentralistisch geplante S. 154; Bouillon, Politische Philosophie im Rahmen einer offenen Gesellschaft, S. 147 führt aus: "Der Weg der Interventionen durch Institutionen macht die Handlungen der Regierenden durchsichtig. Ein System der direkten Interventionen aber wäre letzten Endes ein Freischein für eine zeitlich festgelegte Diktatur. Die Regierung könnte dort eingreifen, wo es ihr paßt, ohne Vorankündigung, ohne Transparenz. Gerecht würde sie nicht dem Gesetz, sondern nur ihren eigenen Interessen". 386 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 224 mahnt: "Die größte Gefahr des Interventionismus .. . besteht zweifellos darin, daß er zu einer Zunahme der Staatsgewalt und Bürokratie führt ... . Es ist aber wichtig, daß man dieses Problem früh genug anpackt, denn es ist eine Gefahr für die Demokratie. Wir müssen für die Freiheit planen und nicht nur für die Sicherheit". 387 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. XI; eine "Industriegesellschaft mit einem freien Markt, die uns große Wahlfreiheit bietet, ist undenkbar ohne einen rechtlichen Rahmen - ohne einen Rechtsstaat". Ders., ebd., S. XIII: "Ohne den Aufbau eines Rechtsstaats ist eine freie Marktwirtschaft . .. undenkbar". 388 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 429; Magge, Karl Popper, S.89. 389 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 429; Magge, Karl Popper, S. 89.

2. Kap.: Karl R. Poppers Vorstellung von Offenen Gesellschaften

73

Wirtschaft der freien Marktwirtschaft überlegen ist, wäre ich gegen die Planwirtschaft; deshalb nämlich, weil sie die Macht des Staates bis zur Tyrannei vergrößert. Es ist nicht die Unwirtschaftlichkeit des Kommunismus, die wir bekämpfen: Es ist seine Unfreiheit und seine Unmenschlichkeit. Wir sind nicht bereit, unsere Freiheit für ein Linsengericht zu verkaufen - auch nicht für das der höchsten Produktivität und des größten Reichtums, der größten wirtschaftlichen Sicherheit,,39o. Somit hat wirtschaftliche Effizienz zwar einen wichtigen, aber eindeutig nachgeordneten und begrenzten Zweck und ist folglich nicht gleichbedeutend mit der Offenheit einer Gesellschaft. 391

7. Merkmale Offener Gesellschaften Nachdem im ersten Teil dieses Kapitels die erkenntnistheoretischen Grundlagen der poppersehen Philosophie rekonstruiert wurden und darauf aufbauend eine Analyse der Anwendung des Kritischen Rationalismus im politisch-sozialen Bereich erfolgte, soll nun eine systematische Zusammenfassung verschiedener Merkmale, welche für eine Offene Gesellschaft charakteristisch sind, die Untersuchung beschließen. 1. Der konsequente Indeterminismus bildet die Gegenposition zum Historizismus. Im Kern besagt er, dass die Geschichte zwar keinen Sinn hat, jedoch die Menschen ihr durch ihre Entscheidungen und Handlungen trotzdem einen verleihen können. Er ist somit Ausdruck des Glaubens an den freien Willen des Menschen und der Ansicht, dass die Zukunft offen ist. Da die Offenheit der Zukunft jedoch mit dem Verlust an Gewissheit und Sicherheit einhergeht, muss der Mensch gegebenenfalls sein von einer passiven Erwartungshaltung geprägtes Weltbild revidieren und eine GrundeinsteIlung des aktiven Problemlösens annehmen. 2. Der methodologische Nominalismus wird dem Essentialismus gegenübergestellt. Dies hängt eng mit Poppers epistemologischen Überlegungen zusammen, in denen er Begriindungsfragen als ungeeignet qualifiziert, um zu Erkenntniszuwächsen und Problemlösungen zu gelangen. An ihre Stelle muss der Versuch treten, Ereignisse und Gegenstände mit Hilfe von universellen Gesetzen zu beschreiben, wobei Worte nur Hilfsmittel zur Durchführung dieser Aufgabe sind. Definitionen leisten hierbei einen Beitrag dazu, rational nachvollziehbare und kritisierbare Erklärungen für vorliegende Probleme zu formulieren. Der methodologische Nominalismus bildet damit die Grundvoraussetzung für jede Theoriebildung, empirische Priifung und Fehlereliminierung, also für die Anwendung der kritisch-rationalen Methode. 3. Der kritische Dualismus tritt an die Stelle des moralischen und juridischen Positivismus. Er steht für die Trennung zwischen normativen Gesetzen, die ein 390 391

Popper, Woran glaubt der Westen?, S. 248. Die gleiche Auffassung vertritt Brunnhuber, Die Ordnung der Freiheit, S. 455.

74

1. Teil: Geschlossene vs. Offene Gesellschaft

ausschließliches Produkt des Menschen sind, und Naturgesetzen. Daneben vertritt Popper die Auffassung des Dualismus von Tatsachen und Entscheidungen, der besagt, dass sich normative Regeln nicht aus Tatsachen herleiten lassen. Die vorgenommenen Trennungen verdeutlichen, dass allein der Mensch durch seine Entscheidungen die Verantwortung für die gewählten Normen trägt. Die Entscheidungen müssen jedoch nicht willkürlich sein, denn die Vernunft ermöglicht dem Menschen eine rationale Analyse, ohne determiniert zu sein. Diese Auffassung wird durch Poppers Bekenntnis zu den Werten der Aufklärung, insbesondere der Idee der Freiheit und der Autonomie des Willens, voll verständlich. Politische Freiheit ist dabei nur möglich, wenn sie durch den Rechtsstaat geschützt wird. Der Schutz basiert zum einen auf der Bereitschaft der Individuen, den normativen Gesetzen zu gehorchen, und zum anderen auf politischen Institutionen zur Kontrolle politischer Macht. Der Ansatz, Institutionen zur Vermeidung von Herrschaft zu entwickeln, wird von Popper als das demokratische Prinzip bezeichnet. In einer solchen Demokratie sollen Regierungen mittels Wahlen unblutig abgelöst werden können, öffentliche Kritik institutionalisiert werden und die Regelung von politischen Konflikten durch kritisch-rationale Diskussion möglich sein. 4. Der Individualismus bildet den Gegenpol zum Kollektivismus und Holismus. Alle gesellschaftlichen Phänomene müssen hierbei auf Aktionen und Interaktionen von Individuen zuriickführbar sein. Dies bedeutet, dass an die Stelle einer unveränderlichen Geschichtslogik und eines dem gesellschaftlichen Ganzen den höchsten Stellenwert beimessenden Kollektivismus das bewusste Engagement und die Verantwortung des Einzelnen treten. Der Individualismus ist jedoch mehr als nur die Loslösung des Einzelnen vom Kollektiv, denn er betont zudem die Vernunftbegabung als wichtigste Eigenschaft des Menschen. Diese befähigt die Menschen zu einer rationalistischen Einstellung, welche zwischen ihnen eine Verbindung schafft, die man als rationale Einheit der Menschheit bezeichnen kann. Ein weiteres Band wird zwischen den Menschen durch die altruistischen Komponente des Individualismus gewoben. Aus der altruistisch-individualistischen Position entspringen die zentralen Lehren des Christentums sowie die Ideen der Humanität und der Gleichheit. 5. Die Stückwerk-Sozialtechnik ist die Alternative zu der holistisch-utopistischen Variante. Die Technik des schrittweisen Umbaus der Gesellschaft erkennt die beschränkte Erkenntnisfähigkeit und den Fallibilismus des Menschen an und setzt daher an die Stelle der ganzheitlichen, revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft sukzessive und vorsichtige Veränderungen von gesellschaftlichen Strukturen, bei denen es stets verantwortungsbewusst die möglichen (auch negativen) Konsequenzen in Rechnung zu stellen gilt. In Analogie zu Poppers Schema des Wissenswachstums kann die Stückwerk-Sozialtechnik mit dem Schema ,Ül -+ VL -+ ÜE -+ Ü2' beschrieben werden, was damit zugleich die Einführung der wissenschaftlichen Methode in der Politik bedeutet. In unmittelbarer Verbindung mit dem gradualistischen Gesellschaftsveränderungskonzept stehen die substantielle Bedeutung der freien Kritik und der negative Utilitarismus, der an Stelle der Maximierung des

2. Kap.: Karl R. Poppers Vorstellung von Offenen Gesellschaften

75

Glücks für möglichst viele die Minimierung des größten und dringlichsten Leids fordert. Die Umsetzung der Minimierung des Leids erfolgt über einen ökonomischen Interventionismus, der aus demokratischen Griinden primär institutioneller und indirekter Natur sein soll. Der freie Markt hat für Popper auf Grund seiner wirtschaftlicher Effizienz einen sehr wichtigen, durch die Rechtsordnung zu schützenden, aber aus freiheitlichen Erwägungen eindeutig nachgeordneten Stellenwert.

Zweiter Teil

Vom Weg in die Abstrakte Gesellschaft Nachdem im vorangegangenen Teil der Arbeit Poppers Verständnis von Geschlossenen und Offenen Gesellschaften erarbeitet wurde, ist es jetzt möglich, ein von ihm als äußerst bedeutungsvoll klassifiziertes Phänomen zu untersuchen: "Eine offene Gesellschaft kann sich allmählich in eine sogenannte ,abstrakte Gesellschaft' verwandeln"l. Aus seiner Aussage ergeben sich zwei Kernimplikationen. Zum einem, dass es für ihn nicht nur zwei, sondern drei Gesellschaftstypen gibt, und zum anderen, dass die einzelnen Typen die Folge gesellschaftlicher Veränderungsprozesse sind. Im ersten Schritt (3. Kap.) werden daher mit Poppers Modell der Situationsanalyse und v. Hayeks evolutionärer Ordnungstheorie zwei komplementäre Theorien dargestellt, die gesellschaftliche Wandlungsprozesse erklären helfen. Im zweiten Schritt geht es darum zu klären, was sich inhaltlich hinter dem oben angesprochenen Phänomen und dem damit verbundenen dritten Gesellschaftstypus verbirgt. Da Poppers eigene Ausführungen nur bruchstückhaft blieben, bedarf es der Entwicklung eines Modells (4. Kap.), das in der Lage ist, die angesprochene Thematik theoretisch zu fassen.

3. Kapitel

Zwei komplementäre Theorien gesellschaftlicher Veränderungen Wie lassen sich gesellschaftliche Veränderungen erklären? Nach Poppers situationsanalytischer Antwort (I.) auf der Mikroebene wird mit v. Hayeks evolutionärer Ordnungskonzeption (11.) eine komplementäre Makrotheorie erläutert. Die weitgehende Übereinstimmung im epistemologischen Fundament sowie der den beiden Ansätzen inhärente methodologische Individualismus und Antireduktionismus bilden die zentralen strukturellen Gemeinsamkeiten. 2 Popper interpretiert in Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 208. Vgl. Vanberg, Die zwei Soziologien, 1975, S. 85. Zu Poppers fundamentalem erkenntnistheoretischem Werk ,Die Logik der Forschung' äußerte sich v. Hayek, Gespräch mit Friedrich von Hayek, in: Markt, Plan, Freiheit, 1983, S. 18, zit. nach Hennecke, Friedrich August von Hayek, 2000, S. 128 wie folgt: ..Ich las das Buch und fand dort alles, was mir wichtig war. I

2

3. Kap.: Zwei komplementäre Theorien

77

seinem Modell der Situationsanalyse menschliches Handeln als kalkuliertes Abwägen zwischen verschiedenen Handlungsalternativen und baut dabei auf die Intentionalität und Zielgerichtetheit menschlicher Aktivitäten. Das Interesse v. Hayeks gilt der Erklärung spontaner Ordnungen, in denen regelmäßige Strukturen nicht durch Planung, sondern als unbeabsichtigte Folge intentionalen Handeins entstehen. I. Karl R. Poppers Erklärungsmodell der Situationsanalyse

Popper hat sein situationsanalytisches Erklärungsmodell an keiner Stelle zusammenfassend behandelt oder umfassend dargestellt. Es ist daher notwendig, den Inhalt der "Situationsanalyse,,3 auf Basis der verschiedenen Primärquellen systematisch herzuleiten. Dazu wird zunächst Poppers Kritik am Psychologismus (1.) dargestellt und darauf aufbauend gezeigt, wie er aus dieser heraus die objektive Methode (2.) der Situationsanalyse als erklärende Theorie des individuellen Handeins nach bestimmten Selektionsregeln (3.) entwickelt.

1. Karl R. Poppers Kritik am Psychologismus

Den Ausgangspunkt der folgenden Überlegungen bildet Poppers bereits ausführlich behandelter methodologischer Individualismus. Diesen möchte er von einer Auffassung, die der Idee folgt, dass "sich im Prinzip alle sozialen Gesetze aus der Psychologie der ,menschlichen Natur' herleiten lassen müssen,,4, scharf geschieden sehen. Für ihn ist es nicht nur möglich, sondern auch notwendig, methodologischer Individualist zu sein, ohne den Psychologismus zu akzeptieren. 5 Um Poppers Ich war nie ein geschulter Philosoph, aber ich hatte das, was man eine hypothetisch-deduktive Methode nennt, für meinen eigenen Zweck entwickelt und fand bei Popper meine eigene Einstellung wissenschaftlich begriindet. "; Poppers Einfluss auf das Denken v. Hayeks und die auffallenden Übereinstimmungen in Hinblick auf das "Wachstum des Wissens" beschreibt Gray, Freiheit im Denken Hayeks, 1995, S. 10 ff.; verschiedene Aspekte des Verhältnisses zwischen Popper und v. Hayek in erkenntnistheoretischer Hinsicht fasst Bouillon, Ordnung, Evolution und Erkenntnis, 1991, S. 117 ff. zusammen; zur "intellektuellen Partnerschaft zwischen London und Neuseeland" (als Synonym für die unterschiedlichen Orte der Lehrtätigkeit) siehe Hennecke, Friedrich August von Hayek, 2000, S. 170 ff. 3 Popper, Objektive Erkenntnis, S. 184. 4 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 106. 5 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 108; ders., Das Elend des Historizismus, S. 123 führt aus: "Die Gegenthese, nach der die Sozialtheorie auf die Psychologie reduzierbar ist (so wie die Chemie auf die Physik reduzierbar zu sein scheint) beruht auf einem Mißverständnis. Sie ist eine Folge der falschen Annahme, dieser "methodologische Psychologismus" sei eine notwendige Konsequenz eines methodologischen Individualismus ... Wir können aber Individualisten sein, ohne den Psychologismus zu akzeptieren."; zum gleichen Ergebnis gelangt Vanberg, Die zwei Soziologien, S. 110.

78

2. Teil: Vom Weg in die Abstrakte Gesellschaft

Antireduktionismus zu verstehen, ist es erforderlich, auf die Frage einzugehen, welche Vorstellung er von psychologischen Erklärungen hat. Da er nicht direkt präzisiert, welche psychologischen Theorien er bei seiner Ablehnung konkret im Auge hat, muss seine Auffassung von Psychologie aus seiner Argumentation zu den Mängeln des Versuchs einer psychologischen Erklärung sozialer Phänomene abgeleitet werden. Zwei Kernaspekte können hierbei festgehalten werden. Erstens widerspricht Popper der Annahme, dass sich soziale Phänomene, wie beispielsweise der Markt, direkt aus bestimmten menschlichen Trieben oder Instinkten ableiten lassen. 6 Für ihn ist die allgemeine Verbreitung eines bestimmten Verhaltens kein entscheidendes Argument zugunsten der These, dass es sich aus diesem Grund um einen Instinkt handelt oder dass es in der menschlichen Natur verwurzelt ist. 7 Die Handlungen des Menschen lassen sich eben nicht ohne Berücksichtigung des Einflusses der Umwelt sowie der existierenden sozialen Institutionen und ihrer Funktionsweise erklären. 8 Zudem zwingt der Versuch, die sozialen Gegebenheiten auf psychologische Faktoren zu reduzieren, zu Spekulationen über deren Ursprünge. 9 Der Psychologismus muss zur Beantwortung dieser Frage mit der "Theorie einer präsozialen menschlichen Natur, die die Gründung der Gesellschaft erklärt - eine psychologistische Version des ,Gesellschaftsvertrages"dO arbeiten. Diese kann jedoch schon rein aus methodischen Gründen nicht aufrechterhalten werden. II Neben den oben beschriebenen Schwachstellen einer instinktivistischen Auffassung ist es insbesondere ein zweiter Mangel, den Popper dem Psychologismus vorwirft. Er besteht darin, dass es ihm nicht gelingt, die Hauptaufgabe der erklärenden Sozialwissenschaften zu erfüllen. 12 Diese, so betont Popper mehrmals nachdrücklich, ist es, "die unbeabsichtigten sozialen Rückwirkungen absichtlicher menschlicher Handlungen zu analysieren,,13. Eben diese Rückwirkungen werden vom Psychologismus vernachlässigt. 14 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 105 f. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 105 f. veranschaulicht seine Ansicht anhand der Beispiele ,instinktive Abneigung gegen Inzest' und ,instinktive Abneigung gegen Schlangen'. 8 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 107. 9 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 108. 10 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 109. 11 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 110 argumentiert, dass "wir doch allen Grund zu der Annahme haben, daß der Mensch, oder vielmehr sein Vorfahre, sozial war, bevor er ein Mensch war .... Aber daraus folgt, daß die sozialen Institutionen und mit ihnen typische soziale Rege1mäßigkeiten oder soziologische Gesetze, vor dem, was einige Leute die ,menschliche Natur' zu nennen belieben, auch vor der menschlichen Psychologie existiert haben muß. Wenn schon reduziert werden soll, dann würde ... der Versuch einer soziologischen Deutung der Psychologie wohl mehr Aussicht auf Erfolg haben als umgekehrt."; an anderer Stelle hebt ders., Die Logik der Sozialwissenschaften, S. 119 nochmals hervor, dass "es unmöglich ist, die Gesellschaft ... auf Psychologie zurückzuführen". 12 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. lll. 6 7

3. Kap.: Zwei komplementäre Theorien

79

Genau wie später bei v. Hayek zu sehen sein wird, so stellt auch bei Popper das Problem der unintendierten Folgen absichtsge1eiteter Handlungen den Angelpunkt seiner Auffassung vom Charakter sozial wissenschaftlicher Theorie und ihrer Autonomie gegenüber der Psychologie dar. 15 Die Begründung der Notwendigkeit einer autonomen Sozialwissenschaft sieht er in der Tatsache, dass menschliches Handeln stets unbeabsichtigte Konsequenzen zeigt, welche jedoch psychologisch nicht erklärt werden können. 16 Was auch immer an Handlungen psychologisch herleitbar sein mag, bei den nichtbeabsichtigten sozialen Folgen liefert nach Meinung Poppers die Psychologie keine Antworten. 1? Indem Popper ausführt, dass "nur eine Minderheit sozialer Institutionen bewußt geplant wird, während die große Mehrzahl als ungeplantes Ergebnis menschlichen Handeins einfach "gewachsen" ist,,18, stellt er seine Überzeugung von einer primär ungeplanten sozialen Welt sehr deutlich heraus. Er fügt an anderer Stelle hinzu, dass "selbst jene wenigen Institutionen, die bewußt und mit Erfolg geplant worden sind ... nur selten plangemäß ausfallen, und das wieder wegen der unbeabsichtigten sozialen Rückwirkungen, zu denen ihre bewußte Schöpfung führt,,19. 13 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 113. Die Hauptaufgabe der Sozialwissenschaften "besteht in der Feststellung unbeabsichtigter sozialer Rückwirkungen absichtgeleiteter menschlicher Handlungen. ", vgl. ders., Prognose und Prophetie in den Sozialwissenschaften, in: Topitsch (Hrsg.), Logik der Sozialwissenschaften, 5. Aufl. 1968, S. 120; ähnlich ders., Vermutungen und Widerlegungen 2, S. 496; "Die charakteristischen Probleme der Sozialwissenschaften entstehen nur durch unseren Wunsch, die unbeabsichtigten Konsequenzen zu erkennen und speziell die unerwünschten Konsequenzen, die auftreten können, wenn wir bestimmte Dinge tun .... Die wirkliche Aufgabe der Sozialwissenschaften besteht ... darin, die Dinge zu erklären, die eigentlich niemand will.", ders., Vermutungen und Widerlegungen 1, S. 181 f.; an anderer Stelle spricht ders., Das Elend des Historizismus, S. 124 davon, dass sich die Sozialwissenschaften "weitgehend mit den unbeabsichtigten Folgen oder Rückwirkungen menschlicher Handlungen befassen". Innerhalb der Soziologie leistete Merton, The unanticipated consequences of purposive social action, ASR 1936, S. 894 ff. die erste systematische Behandlung der angesprochenen Thematik. 14 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 113. 15 Vgl. Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, S. 119 f.; ders., Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 106 f.; Vanberg, Die zwei Soziologien, S. 112. 16 Popper, Das Elend des Historizismus, S. 124 gibt das folgende anschauliche Beispiel: "Und "unbeabsichtigt" bedeutet in diesem Zusammenhang nicht etwa "nicht bewußt beabsichtigt", sondern bezeichnet Rückwirkunegn, die alle Interessen des sozialen Handlungsträgers verletzen können, ob sie nun bewußt oder unbewußt sind: zwar mögen manche Leute behaupten, eine Vorliebe für die Berge und die Einsamkeit sei psychologisch erklärbar, aber die Tatsache, daß, wenn zu viele Menschen die Berge lieben, sie dort keine Einsamkeit genießen können, ist keine psychologische Tatsache; doch gerade aus solchen Problemen entspringt die Sozialtheorie". 17 Vgl. Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, S. 120. 18 Popper, Das Elend des Historizismus, S. 52. 19 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 110. Esser, Soziologie, Bd. I: Situationslogik und Handeln, 1999, S. 390 spricht von einer unentrinnbaren Eigenlogik der unintendierten Folgen, welche dafür sorgt, dass sich soziale Prozesse oft genug auch gegen die Absichten, Wünsche und Bedürfnisse der Menschen durchsetzen.

80

2. Teil: Vom Weg in die Abstrakte Gesellschaft

Da Popper also den größten Teil der sozialen Welt als eine Kombination aus unintendierten Ergebnissen absichtsvoller individueller Aktivitäten interpretiert, ist für ihn auf Grund des für dieses Phänomen fehlenden Erklärungsgehalts des Psychologismus ein alternativer Ansatz von Nöten?O Es stellt sich nun die Frage, welche Theorie Popper anbietet, um die von ihm kritisierten Defizite zu überwinden.

2. Die Situationsanalyse als objektiv verstehende Methode Als Namen für das von ihm vorgeschlagene Modell wählt er die synonymen Bezeichnungen "Logik der Situation ,.21, "Logik von Situationen ..22, "Situationslogik,,23 oder "Situationsanalyse,,24. Nach eigenen Aussagen präferiert er den Begriff ,Situationsanalyse' , da die anderen Ausdriicke auf Grund des darin enthaltenen Wortes ,Logik' eine ihm völlig fernliegende deterministische Theorie des menschlichen Handeins vermuten lassen könnten. 25 Aus dem gleichen Grund werde ich in meinen weiteren Ausführungen auch ausschließlich den Terminus ,Situationsanalyse' verwenden. Inhaltlich definiert Popper die Situationsanalyse als "eine [zwar] individualistische Methode, aber keine psychologische, da sie die psychologischen Momente prinzipiell ausschaltet und durch objektive Situationselemente ersetzt,,26. An anderer Stelle verdeutlicht er seine Vorstellung nochmals: "Unter Situationsanalyse verstehe ich eine bestimmte vorläufige oder mutmaßliche Erklärung einer menschlichen Handlung aufgrund der Situation des Handelnden,m. Für ihn ist also die Handlung einer Person in weitem Maße von der Situation und deren Bedingungen abhängig, in der sie stattfindet. 28 Popper räumt dabei ein, dass eine Erklärung al20 Für Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, S. 119 ist die "Aufgabe, diese soziale Umwelt zu beschreiben - und zwar mit Hilfe erklärender Theorien, ... die grundlegende Aufgabe der Sozialwissenschaft"; siehe dazu auch Wippler, Nicht-intendierte soziale Folgen individueller Handlungen, SozW 1978, S. 155. 21 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 114,311. 22 Popper, Das Elend des Historizismus, S. 117. 23 Popper, Das Elend des Historizismus, S. 115; ders., Die Logik der Sozialwissenschaften, S. 120, 121; ders., Objektive Erkenntnis, S. 184. 24 Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, S. 121; ders., Objektive Erkenntnis, S. 184, 185. 25 Vgl. Popper, Objektive Erkenntnis, S. 184. 26 Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, S. 121. 27 Popper, Objektive Erkenntnis, S. 184. Siehe dazu auch die Interpretation von Esser, Soziologie, Bd. I, S. 387: "Unter Situationslogik wird von Karl R. Popper ganz allgemein die "Iogische" Verknüpfung der gesellschaftlich strukturierten Handlungsumstände von Akteuren mit typischen Folgen des dadurch induzierten Handeins verstanden". Nach der Definition von Jarvie, Die Logik der Gesellschaft, S. 24 ist "Situationale Logik" die Erklärung menschlichen Verhaltens als ein Versuch, Ziele mit begrenzten Mitteln zu erreichen. 28 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 114. Das gleiche gilt für "Quasi-Handlungen" von Institutionen, denn es handeln "nur Individuen in oder für Institu-

3. Kap.: Zwei komplementäre Theorien

81

lein aus der Situation heraus natürlich nie möglich ist29 und dass es wohl auch keine schöpferische Handlung gibt, die jemals vollständig erklärbar sein wird3o . Er wird noch deutlicher, wenn er ausführt: "Die hier beschriebenen Erklärungen der Situationslogik sind rationale, theoretische Rekonstruktionen. Sie sind über-vereinfacht und über-schematisiert und daher im allgemeinen falsch ,,31. Aber diese Tatsache stellt für ihn auf Grund seiner erkenntnistheoretischen Konzeption überhaupt kein Problem dar, denn sein Modell der Situationsanalyse ist rational und empirisch kritisierbar und somit auch verbesserungsfähig. 32 Um zu verstehen, wie er es schafft, sein Modell kritisierbar und falsifizierbar zu konzipieren, muss auf den bereits erwähnten objektiven Charakter der Situationselemente eingegangen werden. Dieser wird dadurch erreicht, dass zunächst anscheinend psychologische Faktoren, wie Wünsche, Bedürfnisse oder Motive, in Situationsfaktoren umgewandelt werden. 33 Aus einer Person mit diesen oder jenen Wünschen wird ein Individuum, zu dessen Situation es gehört, dass es diese oder jene objektiven Ziele verfolgt. 34 Aus einem Mensch mit bestimmten Erinnerungen wird jemand, zu dessen Situation es gehört, dass er objektiv mit bestimmten Theorien, Wissen oder Informationen ausgestattet ist. 35 Da Handlungen als Problemlösungsversuche interpretiert werden können, lässt sich auch das epistemologische Schema von Vermutungen und Widerlegungen (PI -+ VT -+ FE -+ P2) auf diese anwenden. 36 Die Situationsanalyse als erklärende Theorie des HandeIns besteht daher in einer Rekonstruktion des Problems und seines Hintergrundes. 37 Das heißt, dass tionen. Die allgemeine Situationslogik dieser Handlungen wäre die Theorie der quasi-Handlungen der Institutionen.", vgl. ders., Die Logik der Sozialwissenschaften, S. 122. 29 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 114. 30 Vgl. Popper, Objektive Erkenntnis, S. 185. 31 Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, S. 121. 32 Vgl. Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, S. 121; Meleghy, Karl Poppers Logik der Sozialwissenschaften, Ang Sozf 3+4/1997, S. 100; zur großen Bedeutung des Prinzips der empirischen Falsifikation im Rahmen der Situationsanalyse siehe M. Haller, Soziologische Theorie im systematisch-kritischen Vergleich, 1999, S. 592 f. 33 Vgl. Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, S. 120. 34 Vgl. Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, S. 120. 35 Vgl. Popper, Die Logik der Sozialwissenschaften, S. 120 f., der zur Verdeutlichung seiner Position folgendes Beispiel nennt: "Wir können zum Beispiel einen Brief finden, der zeigt, daß das Karl dem Großen zur Verfügung stehende Wissen von dem ganz verschieden war, das wir in unserer Analyse angenommen haben". 36 Vgl. Popper, Objektive Erkenntnis, S. 185. Nach Meleghy, Zur Logik der Sozialwissenschaften: Überlegungen auf der Grundlage der Drei-Welten-Theorie von Karl Popper, Ang Sozf 3+4/1999-2000, S. 143 versuchen Handlungstheoretiker "die Handlung als eine verstehbare Problemlösung VL angesichts einer Problemsituation (PI) zu rekonstruieren", wogegen Verhaltenstheoretiker "versuchen das Verhalten zu erklären, indem sie es aus allgemeinen empirischen Gesetzen und besonderen Randbedingungen logisch ableiten". 37 Vgl. Popper, Objektive Erkenntnis, S. 185; Meleghy, Zur Logik der Sozialwissenschaften, Ang Sozf 3+4/1999-2000, S. 143; Esser, Soziologie, Bd. 1, S. 388; siehe auch das ausführliche und sehr anschauliche Beispiel über das fehlgeschlagene Manöver zweier Flotten6 Tiefel

82

2. Teil: Vom Weg in die Abstrakte Gesellschaft

durch die ModelIierung der in einer Situation vorliegenden Umweltbedingungen, der individuellen Probleme und Ziele sowie des vorhandenen Wissens es möglich wird, Handlungen in einem objektiven Sinn rational verstehbar zu machen. 38

3. Die Selektionsregeln des situationsgerechten Handeins

Für Popper besteht das "objektive ,Verstehen' ... darin, daß wir sehen, daß die Handlung objektiv situationsgerecht war,,39. Wann ist allerdings eine Handlung objektiv situationsgerecht? Zur Klärung dieser Frage muss an Poppers Vorstellung von objektiven Situationselementen aus dem letzten Abschnitt angeknüpft werden. Um sich des von ihm eingestandenen psychologischen Aspekts einer Handlung zu entledigen, verweist Popper darauf, dass dieser Teil der Erklärung oft trivial, selbstverständlich und somit getrost vemachlässigbar ist. 40 Er hat also auf die Situationsgerechtigkeit einer Handlung keinen wesentlichen Einfluss. Zudem möchte er seine objektiv verstehende Methode auch scharf von Konzeptionen des "subjektiven Nachvollzugs,,41 unterschieden wissen. Poppers Methode beruht weder auf einem persönlichen Nachempfinden noch auf einer Art "intuitiver Identifikation mit einem anderen Menschen,,42. verbände in der Schlacht von Trafalgar bei Jarvie, Die Logik der Gesellschaft, S. 52 ff. Eine verhaltenstheoretische Interpretation der popperschen Situationsanalyse liefert Helling, Das Erkenntnismodell der Situationslogik bei Popper, AES 1982, S. 200: "Nach Popper wird ein spezifisches Ereignis kausal erklärt, indem das zu erklärende Ereignis (Explanandum) aus universellen Gesetzen und Randbedingungen (Explanans) logisch abgeleitet wird". Nach der Interpretation von Vanberg, Die zwei Soziologien, S. 114 soll "Erklärung aus der Situation heraus" bedeuten, "daß das Explicandum sich als quasi-logisches Resultat aus den gegebenen situativen Bedingungen ergibt, ohne daß noch auf besondere allgemeine Gesetze Bezug genommen werden muß". 38 Vgl. Popper; Objektive Erkenntnis, S. 185; M. Haller; Soziologische Theorie im systematisch-kritischen Vergleich, S. 591 differenziert die ModelIierung der Situation in die detaillierte Beschreibung "der natürlichen Umwelt", "der sozialen Umwelt" und "der Problemsituation, in der sich der Handelnde selber befindet". 39 Popper; Die Logik der Sozialwissenschaften, S. 120. 40 Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 114 argumentiert in diesem Kontext wie folgt: Wenn "wir erklären wollen, warum ein Mensch beim Überqueren der Straße den Fahrzeugen in bestimmter Weise ausweicht, so werden wir vielleicht über die Situation hinausgehen müssen; wir werden Bezug nehmen müssen auf seine Beweggründe, auf seinen ,Instinkt' der Selbsterhaltung, auf einen Wunsch, Schmerzen zu vermeiden. Aber dieser psychologische Teil der Erklärung ist sehr oft trivial im Vergleich zu der detaillierten Bestimmung seiner Handlungen durch das, was man die Logik der Situationen nennen könnte"; zum Trivialitätsargument siehe auch Esser; Soziologie, Bd. 1, S. 389; kritisch äußert sich Vanberg, Die zwei Soziologien, S. 115, der anmerkt, dass das ,,Argument der ,Trivialität' . .. in Poppers Begründung der Idee einer ,Situationslogik' keine weitere systematische Ausarbeitung" findet, und man den Eindruck gewinnen muss, "daß dieses Argument im Grunde wohl lediglich als eine gedankliche ,Krücke' dient". 41 Popper; Objektive Erkenntnis, S. 193 f. Siehe dazu auch Meleghy, Karl Poppers Logik der Sozialwissenschaften, Ang Sozf 3+4/1997, S. 101.

3. Kap.: Zwei komplementäre Theorien

83

In diesem Kontext wendet er sich insbesondere gegen den mit der subjektiven Verstehenskonzeption verbundenen Anspruch auf einen methodologischen Sonderstatus der Sozialwissenschaften, dementsprechend ihre subjektive Methode eine mit größerer Gewissheit ausgestattete Erkenntnis ermögliche als die objektiven Methoden der Naturwissenschaften. 43 Zur Erläuterung seiner Position argumentiert Popper, dass es "in den meisten, wenn nicht in allen sozialen Situationen ... ein rationales Element"44 gibt. Zwar handeln die Menschen kaum jemals vollkommen rational, aber ihre Entscheidungen seien trotzdem mehr oder weniger der Vernunft entsprechend. 4s Hieraus ergibt sich für ihn die Möglichkeit, ,,relativ einfache Modelle ihrer Aktionen und Interaktionen zu konstruieren und als Annäherung zu verwenden,,46, wobei er auf ein Verfahren verweist, das er als die "Methode der logischen oder rationalen Konstruktion,,47 oder die "Nullmethode,,48 bezeichnet. Diese entspricht im Kern dem, was er an anderer Stelle Situationsanalyse genannt hat. 49 Die angesprochene Nullmethode besteht aus zwei Schritten. Zuerst erfolgt die Konstruktion eines Modells, das auf der Annahme basiert, dass alle darin abgebildeten Personen im Besitz der vollkommenen Information sind und sich vollends rational verhalten. 50 Danach schätzt man die Abweichung des tatsächlichen Verhaltens dieser Individuen vorn Modellverhalten, wobei jenes als eine Art Nullkoordinate dient. s1 Wenn Popper nochmals betont, dass die Nullmethode "keine psychologische, sondern eine logische"52 ist und ihren Ausdruck "in den Gleichungen der Wirtschaftswissenschaften findet"S3, wird die Verbindung zwischen dem Konzept der Situationsanalyse und einem Modell rationalen Handeins offensichtlich. Die Aufgabe der Situationsanalyse ist die "Unterscheidung zwischen der Situation, wie sie der Handelnde sah und wie sie wirklich war"S4, und somit die Untersuchung der verschiedenen Problemstellungen und Wissenstände, aus denen heraus eine HandPopper, Objektive Erkenntnis, S. 189. VgJ. Popper, Objektive Erkenntnis, S. 189 ff. 44 Popper, Das Elend des Historizismus, S. 110. 45 VgJ. Popper, Das Elend des Historizismus, S. 110, der unter "vollkommen rational" versteht, wie Menschen ,,handeln würden, wenn sie zur Erreichung ihrer jeweiligen Ziele alle erreichbaren Informationen optimal ausnützen könnten". 46 Popper, Das Elend des Historizismus, S. 110. 47 Popper, Das Elend des Historizismus, S. 110. 48 Popper, Das Elend des Historizismus, S. 110. 49 Der gleichen Meinung ist Vanberg, Die zwei Soziologien, S. 118 f. 50 VgJ. Popper, Das Elend des Historizismus, S. 111. 51 VgJ. Popper, Das Elend des Historizismus, S. 111. 52 Popper, Das Elend des Historizismus, S. 123. 53 Popper, Das Elend des Historizismus, S. 111. An anderer Stelle schreibt ders., Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 115: ,,sie [die Analyse von Situationen, Anm. TI] ist die Methode der ökonomischen Analyse". 54 Popper, Objektive Erkenntnis, S. 185. 42

43

6*

84

2. Teil: Vom Weg in die Abstrakte Gesellschaft

lung vollzogen wurde. Die Situationsgerechtigkeit einer Aktion beruht darauf, dass das Handeln einer Person unter den gegebenen Bedingungen (also in der jeweiligen Situation) der Logik einer rationalen Selektion folgt. 55 Die Person wägt ab, handelt also nicht willkürlich, und wählt die für sie beste und somit situationsadäquate Handlungsoption. 56 Popper äußert sich dazu explizit wie folgt: "Die Methode der Anwendung einer Situationslogik auf die Sozialwissenschaften beruht auf keiner psychologischen Annahme über die Rationalität ... der ,menschlichen Natur'. Im Gegenteil: Wenn wir von ,rationalem Verhalten' oder ,irrationalem Verhalten' sprechen, so meinen wir damit ein Verhalten, das der Logik der Situation entspricht oder nicht,,57. Die Befolgung der genannten rationalen Selektionsregel ist also keine Frage einer psychologisch verankerten empirischen Eigenschaft der menschlichen Natur, sondern ist in der Modellkonstruktion der Situationsanalyse immanent angelegt. Zusammenfassend kann somit festgehalten werden: Da jede menschliche Aktivität als ein Problemlösungsversuch interpretiert werden kann, erklärt die Situationsanalyse individuelles Handeln mittels der Rekonstruktion der Problemsituation, in der sich der Handelnde befand. Das bedeutet, dass die in einer Situation vorliegenden individuellen Probleme und Ziele sowie das vorhandene Wissen und die Rahmenbedingungen modelliert werden müssen. Dabei werden auch scheinbar subjektive, psychologische Faktoren in objektive Situationselemente verwandelt. Als Selektionskriterium zwischen verschiedenen Handlungsoptionen innerhalb einer Problemsituation wird Situationsadäquanz und somit Situations gerechtigkeit angenommen. Das bedeutet, es wird davon ausgegangen, dass sich die betrachtete Person rational verhält, also nicht willkürlich handelt, sondern abwägt und die für sich beste Option wählt. Durch die Beschreibung der Situation mittels objektiver Situationselemente und die Annahme rationalen (d. h. situationsgerechten) Selek55 Vgl. Esser; Soziologie, Bd. 1, S. 389; M. Haller; Soziologische Theorie im systematisch-kritischen Vergleich, S. 591 f. Helling, Das Erkenntnismodell der Situationslogik bei Popper, AES 1982, S. 202 möchte zwischen "schwacher" und "starker Rationalität" unterschieden wissen; eine Handlung wird von ihr als schwach rational bezeichnet, "wenn der Handelnde in einer Situation solche Mittel zur Erreichung seines Zieles einsetzt, die seinem Wissen gemäß seine Ziele herbeiführen können, ohne daß die regelhafte Verknüpfung der Ziele und Mittel durch die kontrollierte Beobachtung empirischer Wissenschaften nachweisbar ist"; stark rational ist eine Handlung, "wenn der Handelnde in einer Situation solche Mittel zur Erreichung seiner Ziele einsetzt, die nach seinem Wissen die Ziele herbeiführen können und die als regelhafte Verknüpfung von Mitteln und Zielen durch die empirische Wissenschaft nachweisbar sind". 56 Jarvie, Die Logik der Gesellschaft, S. 23 spricht von situationslogischem oder situationsadäquatem Verhalten eines Menschen, weil dieser "versucht, die besten und wirksamsten Mittel innerhalb der Situation zur Verwirklichung seiner Ziele herauszufinden". 57 Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, S. 115. Ders., Die Logik der Sozialwissenschaften, S. 121 äußert sich zum rationalen, situationsadäquaten Verhalten zudem wie folgt: ,;Zwar habe ich andere Ziele und andere Theorien ... aber wäre ich in einer so-und-so analysierten Situation gewesen - wobei die Situation Ziele und Wissen einschließt - dann hätte ich, und wohl auch du, ebenso gehandelt".

3. Kap.: Zwei komplementäre Theorien

85

tionsverhaltens entwickelt Popper ein Modell, das nach seiner Auffassung gegenüber psychologischen Theorien den großen Vorteil hat, dass es falsifizierbar oder zumindest kritisierbar ist und somit zur Annäherung an die Wahrheit beitragen kann. Er bietet dabei einen Lösungsansatz für zwei unterschiedliche Fragestellungen: Erstens die Erklärung individueller Handlungen aus den Situationsbedingungen heraus und zweitens die mögliche Ableitung eines bestimmten sozialen Gesamtresultates aus dem Zusammenwirken einer Vielzahl von Einzelaktivitäten in einer Situation.

11. Friedrich A. v. Hayeks evolutionäre Ordnungstheorie Als eine komplementäre Makrotheorie zu Poppers Situationsanalyse soll nun v. Hayeks evolutionärer Ansatz zur Erklärung sozialer Phänomene näher betrachtet werden. Im Mittelpunkt steht hierbei sein Modell "spontaner Ordnungen"58. Obwohl diese Idee in v. Hayeks Werk beinahe allgegenwärtig ist, hat er sie an keiner Stelle in summarischer und ausreichend systematischer Form dargestellt. Wie bereits im vorherigen Kapitel ist es daher auch hier notwendig, den Inhalt dieser Theorie auf Basis der verschiedenen Primärquellen zusammenfassend zu rekonstruieren. Hierzu wird gezeigt, wie v. Hayek über die Kritik am konstruktivistischen Rationalismus (1.) und an der falschen Dichotomie von natürlichen und künstlichen Ordnungen (2.) seine Theorie der spontanen Ordnungen (3.) entwickelt.

1. Friedrich A. v. Hayeks Kritik am konstruktivistischen Rationalismus

Den Ausgangspunkt von v. Hayeks Überlegungen bildet seine Kritik am konstruktivistischen Rationalismus Rene Descartes,.59 Der Grundgedanke dieser Form des Rationalismus ist, dass der Mensch die gesellschaftlichen Einrichtungen selbst entworfen hat und sie daher nach Belieben ändern kann. 60 Durch diese Auffassung drang der Glaube an die Überlegenheit der Vernunft, der bewussten Anordnung und der gezielten Planung in seiner klarsten Form in das europäische Denken 58 v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1: Regeln und Ordnung, 2. Aufl. 1986, S.58. 59 Vgl. v. Hayek, Die Ergebnisse menschlichen Handeins, aber nicht menschlichen Entwurfs, in: ders., Freiburger Studien, 2. Aufl. 1994, S. 97 f.; neben Rene Descartes benennt ders., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. I, S. 24 ff., 78, 107 Francois-Marie Voltaire, Francis Bacon, Thomas Hobbes, Jeremy Bantham, John Austin, Paul Laband und Hans Ke1sen sowie die gesamte sozialistische Tradition von Claude Henri Saint-Simon über August Comte bis Karl Marx als weitere philosophische Vertreter eines konstruktivistischen Rationalismus. 60 Vgl. v. Hayek, Die Irrtümer des Konstruktivismus, 1970, S. 4.

86

2. Teil: Vom Weg in die Abstrakte Gesellschaft

ein.61 Nach Descartes sollte ,,[a]llein seine Vernunft ... den Menschen befähigen, die Gesellschaft von neuem zu errichten,,62. Alle für ihn gültigen sozialen Institutionen müssen demzufolge als Produkte rationalen Denkens hergeleitet werden können oder daraus erklärbar sein. 63 Als irrationaler Aberglaube gilt hingegen alles, was lediglich auf Tradition gründet und nicht völlig aus rationalen Annahmen deduziert werden kann. 64 Die Kritik v. Hayeks am konstruktivistischen Rationalismus setzt an zwei fundamentalen Punkten dieser Lehre an: 65 Erstens am ungebrochenen Optimismus hinsichtlich der Möglichkeiten der menschlichen Vernunft, den er in dieser Form nicht teilt. 66 Und zweitens an der impliziten Annahme, dass alles Wissen, das zur Gestaltung der Gesellschaft benötigt wird, auch zentral verfügbar ist. Den prinzipiellen Irrtum sieht er hierbei in der "Fiktion, daß alle relevanten Tatsachen irgendeinem einzelnen Geist bekannt sind und daß es möglich ist, aus diesem Wissen der Einzelheiten eine wünschenswerte soziale Ordnung zu errichten,,67. Er wendet sich daher gegen jene "Entwurfs-Theorien menschlicher Institutionen, die im unversöhnlichen Gegensatz zu allem stehen, was wir über die Evolution des Rechts und der meisten anderen menschlichen Institutionen wissen,,68. Schon aus dieser Kritik heraus wird die Nähe zu Poppers erkenntnistheoretischer Position sehr deutlich. Eindeutig wird sie durch die Tatsache, dass v. Hayek seine Gegenposition zum konstruktivistischen als evolutionären Rationalismus bezeichnet und explizit darauf hinweist, dass dieser für ihn gleichbedeutend mit Poppers Kritischem Rationalismus ist. 69 61 Vgl. v. Hayek, Die Ergebnisse menschlichen Hande1ns, aber nicht menschlichen Entwurfs, S. 97. 62 v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 25. 63 Vgl. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 25. 64 Vgl. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 25. 65 So im Kern auch Zeitler; Spontane Ordnung, Freiheit und Recht, 1995, S. 38 ff. Nach Ansicht von Vanberg, Liberaler Evolutionismus oder vertragstheoretischer Konstitutionalismus?, 1981, S. 12 f. kritisiert v. Hayek zum einen "die Idee einer planvollen Organisation der Gesellschaft zur Herbeiführung konkreter, angestrebter Ergebnisse" und zum anderen "die Idee einer bewußten Gestaltung jener allgemeinen Regeln, auf denen eine spontane Ordnung beruht". 66 Vgl. v. Hayek, Arten des Rationalismus, in: ders., Freiburger Studien, 2. Aufl. 1994, S. 87; ders., Die überschätzte Vernunft, in: Riedl/Kreuzer (Hrsg.), Evolution und Menschenbild, 1983, S. 164 ff. 67 v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 30. 68 v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 106. 69 "Es ist in diesem Zusammenhang .. . zu unterscheiden zwischen einem konstruktivistischen und einem evolutionären oder, in Karl Poppers Ausdrücken, einem naiven und einem kritischen Rationalismus.", v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 47; "Unter den zeitgenössischen Philosophen ist es besonders Professor Karl R. Popper, der bedeutende neue philosophische Grundlagen für diese Gedankenrichtung geschaffen hat. Er hat dafür den Namen ,,kritischer Rationalismus" geprägt, der, wie ich glaube, sehr glücklich den Unter-

3. Kap.: Zwei komplementäre Theorien

87

2. Die falsche Dichotomie von natürlichen und künstlichen Ordnungen

Wer annimmt, eine Gesellschaftsordnung könne schon deshalb nicht ohne einen Plan entstehen, weil sie von Menschen verursacht wird, gründet seine Auffassung nach v. Hayeks Ansicht letztlich auf die falsche antike Dichotomie zwischen natürlichen und künstlichen Ordnungen. 7o Die griechische Antike kannte nach v. Hayek nur zwei Arten der Ordnungen, nämlich natürliche und künstliche. 7l Solche der ersten Art wurden "physei" und solche der zweiten entweder "nomo" oder "thesei" genannt. 72 Mit ,physei' bezeichnete man Ordnungen, die von der Natur verursacht wurden, und mit ,nomö' oder ,thesei' solche, deren Ursprung vom Menschen ausgeht. 73 Die Begriffe ,nomö' und ,thesei' bedeuten jedoch nicht dasselbe. Während man unter ,nomö' Ordnungen verstand, die "durch Konvention,,74 entstehen, verband man mit ,thesei' jene, die aus überlegten Entscheidungen und "bewußter Anordnung"75 hervorgehen. Hält man an der Unterscheidung fest, wonach eine Ordnung ausschließlich natürlich oder künstlich sein kann, dann nähert man sich einer Position, von der aus die gewählte Dichotomie unzureichend ist, da sie zwei verschiedene Aussagen ermöglicht: 76 1. Natürliche Ordnungen sind im Gegensatz zu künstlichen jene, welche nicht durch menschliches Handeln entstehen oder entstanden sind.

2. Natürliche Ordnungen sind im Gegensatz zu künstlichen jene, welche nicht durch menschliches Planen entstehen oder entstanden sind. Das Versäumnis, zwischen diesen beiden Bedeutungen zu unterscheiden, führte zu der Situation, dass in Hinblick auf bestimmte Sachverhalte argumentiert werden konnte, sie seien künstlich, weil sie das Ergebnis menschlichen HandeIns waren, aber auch, sie seien natürlich, da sie nicht auf menschlichem Entwurf basieren. 77 schied zum naiven Rationalismus oder Konstruktivismus ausdrückt.", ders., Arten des Rationalismus, S. 89. Zur Nähe zwischen Poppers und v. Hayeks evolutionärer Erkenntnistheorie siehe Vanberg, Kulturelle Evolution und die Gestaltung von Regeln, 1994, S. 14 ff. 70 Vgl. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. I, S. 36 ff.; siehe zur Unterscheidung "natürlich - künstlich" in der Antike auch ders., Die überschätzte Vernunft, S. 169 ff. 7l Vgl. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 36. 72 Alle Zitate: v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 36. 73 Vgl. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. I, S. 36. 74 v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 36. 75 v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 36. 76 Vgl. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 36 f.; ders., Die Ergebnisse menschlichen Handeins, aber nicht menschlichen Entwurfs, S. 97 f.; siehe zudem Bouillon, Ordnung, Evolution, Erkenntnis, S. 24. 77 Vgl. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. I, S. 37; ders., Die Ergebnisse menschlichen Handeins, aber nicht menschlichen Entwurfs, S. 97 f.

88

2. Teil: Vom Weg in die Abstrakte Gesellschaft

Erst den Denkern des 18. Jahrhunderts wurde bewusst, dass es eine eigene Klasse von Phänomenen gab, die das Ergebnis menschlichen Handeins, aber nicht menschlichen Entwurfs waren. 78 Für eine eindeutige Zuordnung ist es daher notwendig, anstelle der Dichotomie zwischen den folgenden drei Ordnungstypen zu differenzieren: 79 1. Natürliche Ordnungen, welche nicht vom Menschen geplant sind und nicht aus

seinen Handlungen hervorgehen. 2. Geplante Ordnungen, welche durch einen Plan oder Entwurf vom Menschen gestaltet werden. 3. Spontane Ordnungen, welche nicht vom Menschen geplant sind, sondern unbeabsichtigt aus seinen Handlungen hervorgehen.

3. Die Theorie spontaner Ordnungen

Die Erklärung der unbeabsichtigten und ungeplanten Ergebnisse menschlichen Handeins ist für v. Hayek die Hauptaufgabe der Sozialwissenschaften 8o - ein weiterer Punkt, in dem er mit Popper übereinstimmt. Sein Ziel ist es, zu veranschaulichen, wie und unter welchen Umständen aus der spontanen Interaktion von Individuen evolutionär sozial erwünschte Gesamtordnungen entstehen können. 81 Er 78 Vgl. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 37; ders., Die Ergebnisse menschlichen Handeins, aber nicht menschlichen Entwurfs, S. 98. 79 Vgl. v. Hayek, Die Ergebnisse menschlichen HandeIns, aber nicht menschlichen Entwurfs, S. 98; Bouillon, Ordnung, Evolution, Erkenntnis, S. 27; Keck, Zwischen evolutionärer und gesellschaftstheoretischer Fundierung des Staates, 1998, S. 209; Zeitler, Spontane Ordnung, Freiheit und Recht, S. 45. 80 Vgl. v. Hayek, Missbrauch und Verfall der Vernunft, S. 28; ders., Die Ergebnisse menschlichen HandeIns, aber nicht menschlichen Entwurfs, S. 98; ders., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 37, 39, 59; ders., Rechtsordnung und Handelnsordnung, in: ders., Freiburger Studien, 2. Auf!. 1994, S. 164; siehe ergänzend Vanberg, Zwei Soziologien, 1975, S. 95 ff. Zu den methodologischen Besonderheiten der Sozialwissenschaften nach v. Hayek siehe Graf, "Muster-Voraussagen" und "Erklärungen des Prinzips" bei F. A. von Hayek, 1978, S. 10 ff. Wippler, Erklärung unbeabsichtigter Handlungsfolgen: Ziel oder Meilenstein soziologischer Theoriebildung, in: Matthes (Hrsg.), Lebenswelt und soziale Probleme, 1981, S. 246 ff. erläutert zusammenfassend die Vernachlässigung des Problems unbeabsichtigter Handlungsfolgen in der Soziologie und geht dabei insbesondere auf die Geschichte dieser Problemstellung ein. 81 Zur Veranschaulichung "für das spontane Wachsen von gesellschaftlichen Ordnungsstrukturen" nennt v. Hayek, Dr. Bernard Mandeville, in: ders., Freiburger Studien, 2. Auf!. 1994, S. 130 die Beispiele "Gesetz und Moral", die "Sprache", den "Markt" und das "Wachstum unseres technischen Wissens". Obgleich ders., Bemerkungen über die Entwicklung von Systemen und Verhaltensregeln, in: ders., Freiburger Studien, 2. Auf!. 1994, S. 154 spontane Ordnungen primär innerhalb sozialer Prozesse sieht, so weist er explizit darauf hin, dass sich diese auch in den Naturwissenschaften (z. B. bei der Bildung von Kristallen oder Galaxien) beobachten lassen. Utzig, Konjunktur, Erwartungen und spontane Ordnung, 1987, S. 221 ff. stellt den spontanen Ordnungen verwandte Konzepte in den Naturwissenschaften vor und

3. Kap.: Zwei komplementäre Theorien

89

stützt sich dabei auf die Tradition, die Bemard Mandeville begründete und David Hume, Adam Smith und Adam Ferguson im 18. Jahrhundert sowie earl Menger im 19. Jahrhundert ausgearbeitet haben. 82 Um im weiteren Verlauf der Untersuchung genauer auf die einzelnen Ordnungstypen eingehen zu können, ist es an dieser Stelle notwendig, v. Hayeks Verständnis vom Begriff der Ordnung zu explizieren. Als Ordnung definiert er einen Sachverhalt" in dem eine Vielzahl von Elementen verschiedener Arten in solcher Beziehung zueinander stehen, daß wir aus unserer Bekanntschaft mit einem räumlichen oder zeitlichen Teil des Ganzen lernen können, richtige Erwartungen bezüglich des Restes zu bilden, oder doch zumindest Erwartungen, die sich sehr wahrscheinlich als richtig erweisen werden,,83. Für v. Hayek ist Ordnung ein unentbehrlicher Begriff für die Diskussion aller komplexen Phänomene, in der er weitgehend die gleiche Rolle spielen muss, wie der Begriff des Gesetzes bei der Analyse einfacherer Erscheinungen. 84 Aus der obigen Definition wird klar, dass jede Gesellschaft eine Ordnung in diesem Sinn besitzen muss. 85 Gemäß v. Hayek lassen sich alle gesellschaftlichen Inhebt insbesondere den Erklärungsansatz der Selbsterhaltung und Selbstorganisation von Organismen der beiden Biologen Humberto Maturana und Francisco Varela hervor; die Ähnlichkeit ihres Modells autopoietischer Systeme mit der von v. Hayek beschriebenen Funktion des Wettbewerbs als Entdeckungsverfahrens drängen sich geradezu auf. Zu den Theorien von Maturana und Varela siehe auch Irrgang, Lehrbuch der Evolutionären Erkenntnistheorie, S. 165 ff. Zur Anwendung der Idee spontaner Ordnungen auf physikalische und soziale Erscheinungen siehe zudem Gray, Freiheit im Denken Hayeks, S. 31 ff. Im systemtheoretischen Kontex äußert sich Schmidtchen, Preise und spontane Ordnung, 1989, S. 2 wie folgt: "Der Begriff der spontanen Ordnung meint das, was die allgemeine Systemtheorie unter Selbstorganisation eines Systems versteht". 82 Eine Darstellung des Aufstiegs der Idee spontaner Ordnungen in der Geschichte gesellschaftstheoretischen Denkens findet sich in v. Hayek, Die Ergebnisse menschlichen Handelns, aber nicht menschlichen Entwurfs, insb. S. 100 f. und ders., Dr. Bernard Mandeville, S. 126 ff. Eine gute Übersicht über den Einfluss des Phänomens der unbeabsichtigten Effekte menschlicher Handlungen auf die Klassiker des soziologischen Denkens (insb. Charles-Louis Montesquieu, Adam Smith, Adam Ferguson, Au-guste Comte, Alexis de Tocqueville, Karl Marx, Friedrich Engels, Emile Durkheim und Max Weber) liefert Jokisch, Die nichtintentionalen Effekte menschlicher Handlungen, KZfSS 1988, S. 547 ff. 83 v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. I, S. 57. An anderer Stelle definiert ders. Rechtsordnung und Handelnsordnung, S. 164 Ordnung als "das Bestehen von Beziehungen zwischen wiederkehrenden Elementen ... die es für uns möglich macht, aufgrund der Kenntnis eines (räumlich oder zeitlich) beschränkten Teils eines Ganzen Erwartungen bezüglich des Restes zu bilden, die gute Aussicht auf Erfüllung haben". In Kurzfassung bezeichnet ders., Die Sprachverwirrung im politischen Denken, in: ders., Freiburger Studien, 2. Aufl. 1994, S. 208 Ordnung als einen "Zustand, in dem wir erfolgreich Erwartungen und Hypothesen über die Zukunft bilden können". 84 Vgl. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. I, S. 57 nach dessen Auffassung es keinen adäquateren Ausdruck als Ordnung gibt, "wenn auch gelegentlich »System«, »Charakter« oder »Muster« (pattern) statt seiner verwendet werden können"; zu seinem Verständnis von komplexen Phänomenen siehe ders., The Theory of Complex Phenomena, in: Bunge (Hrsg.), The Critical Approach to Science and Philosophy, 1964, S. 332 ff.

90

2. Teil: Vorn Weg in die Abstrakte Gesellschaft

stitutionen oder sozialen Gebilde entweder als "taxis" oder als "kosmos" begreifen. 86 Mit ,taxis' kennzeichnet er geplante, konstruierte oder "künstliche" Ordnungen; falls diese gelenkt werden, nennt er sie "Organisation".87 Unter ,kosmos' fallen dagegen "gewachsene", sich-selbst-organisierende oder "sich-selbst-erzeugend[e]" Ordnungen, die auch mit dem Synonym "spontane Ordnung" belegt werden. 88 Die Entstehungsart oder Quelle der Ordnung ist also das primäre Unterscheidungsmerkmal verschiedener Ordnungstypen. 89 Welche weiteren Differenzierungskriterien lassen sich zwischen den beiden genannten Arten der Ordnung noch finden? An zweiter Stelle ist die jeweils unterschiedliche Zielgestaltung zu nennen. Eine ,taxis' wird bewusst hervorgebracht und dient daher ausnahmslos der Umsetzung des Ziels, zu dem sie geschaffen wurde. 9o Da im Gegensatz dazu eine spontane Ordnung von niemandem "gemacht wurde, kann legitimerweise nicht behauptet werden, daß sie einen besonderen Zweck habe ,,91. Sie bietet vielmehr Bedingungen, welche die gleichzeitige Verwirklichung vieler verschiedener, sogar konkurrierender individueller Ziele gestatten. 92 Drittens unterscheiden sich die beiden Arten der Ordnung in der Komplexität, die sie erreichen können. Wahrend es für spontane Ordnungen keine prinzipiellen Komplexitätsgrenzen gibt,93 sind geplante Ordnungen "verhältnismäßig einfach Vgl. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 57. Beide Zitate: v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. I, S. 59; die Unterscheidung zwischen "taxis" und ,,kosmos" ist "unentbehrlich für alles Verständnis der gesellschaftlichen Prozesse wie für alle Sozialpolitik". Siehe dazu auch Zeitler, Spontane Ordnung, Freiheit und Recht, S. 40 und Kley, F. A. Hayeks Idee einer spontanen sozialen Ordnung: Eine kritische Analyse, KZfSS 1992, S. 16. 87 Beide Zitate: v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. I, S. 59. 88 Alle Zitate: v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. I, S. 59. 89 So auch Bouillon, Ordnung, Evolution, Erkenntnis, S. 22. Für Mestmäcker, Organisationen in spontanen Ordnungen, 1992, S. 11 nimmt im Denken von v. Hayeks der fundamentale "Gegensatz von Ordnung durch Organisation und spontanen Ordnungen einen zentralen Platz ein". Kritisch merkt Kley, F. A. Hayeks Idee einer spontanen sozialen Ordnung, KZfSS 1992, S. 16 an, dass die von v. Hayek vorgenommene Unterscheidung zwischen spontanen und geplanten Ordnungen nicht so klar ist, wie dieser sie sich selbst wünscht: "So verwischt er [v. Hayek, Anm. TI] sie selbst, wenn er einräumt, durch eine Änderung der Regeln könne man die interne Struktur einer spontanen Ordnung verändern ... und wenn er sogar von der Möglichkeit spricht, durch die überlegte Gestaltung von Regeln die Bildung einer spontanen Ordnung absichtlich herbeizuführen". 90 Vgl. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. I, S. 60. 91 v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. I, S. 60 f. Inhaltlich ebenso ders., Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung, in: ders., Freiburger Studien, 2. Auf!. 1994, S. 111. 92 V gl. v. Hayek, Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung, S. 111. 93 Nach v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. I, S. 60 ist der Komplexitätsgrad spontaner Ordnungen "nicht auf das beschränkt, was ein menschlicher Geist beherrschen kann". 85

86

3. Kap.: Zwei komplementäre Theorien

91

oder zumindest notwendig beschränkt auf so mäßige Grade von Komplexität, daß sie der Hersteller noch überblicken kann,,94. Daraus folgt viertens eine Unterscheidung hinsichtlich der Wahrnehmungsmöglichkeit der jeweiligen Ordnung. Geplante Ordnungen sind "gewöhnlich konkret ... , [so] daß ihre Existenz durch Hinschauen intuitiv wahrgenommen werden kann,,95. Spontane Ordnungen eröffnen sich dagegen nicht notwendigerweise direkt, da sie "auf rein abstrakten Beziehungen beruhen, die wir nur gedanklich rekonstruieren können,,96. Gerade in der rein verstandesbasierten Möglichkeit der Ordnungsnachbildung sieht v. Hayek eine Hauptschwierigkeit. 97 Fünftens beruhen die beiden Ordnungstypen auf unterschiedlichen Koordinationsinstrumenten. Indem Befehle das Handeln der Mitglieder einer geplanten Ordnung im Einzelnen festlegen, sichern sie die möglichst wirksame Verfolgung des definierten Gesamtziels und die dazu notwendige Koordination. 98 Im Gegensatz dazu stehen Regeln bei spontanen Ordnungen. 99 Diese "stellen nur den Rahmen dar, innerhalb dessen der Einzelne sich bewegen muß, die Entscheidungen aber ihm zustehen"loo. Die Regeln lassen dem Einzelnen also die Möglichkeit der freien Entscheidung und müssen daher notwendigerweise einen negativen Charakter haben, so dass sie zwar gewisse Handlungen ausschließen, aber den Individuen trotzdem Wahlmöglichkeiten offen lassen. 101 Es stellt sich nun die Frage, wie und unter welchen Bedingungen spontane Ordnungen überhaupt entstehen können. Hier kann an das vorher Gesagte angeknüpft werden, denn gemäß v. Hayek ist "die Bildung spontaner Ordnungen das Ergebnis davon ... , daß ihre Elemente in ihren Reaktionen auf ihre unmittelbare Umgebung v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 60. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 60. 96 v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 60. "Spontane Ordnungen ... bestehen oft aus einem System abstrakter Beziehungen zwischen Elementen, die ebenfalls nur durch abstrakte Eigenschaften definiert sind und aus diesem Grund nicht intuitiv walJmehmbar und nicht erkennbar sind außer auf der Basis einer Theorie, die ihren Charakter erklärt.", ders., ebd., S. 61. "Wir haben nur gewisse abstrakte Züge einer solchen Ordnung in der Hand, aber nicht ihre konkreten Einzelheiten.", ders., Arten der Ordnung, in: ders., Freiburger Studien, 2. Aufl. 1994, S. 35. 97 Vgl. v. Hayek, Arten der Ordnung, S. 33. 98 Zum Begriff des "Befehls" siehe ausführlich v. Hayek, Die Verfassung der Freiheit, 3. Aufl. 1991, S. 180 ff. 99 Vgl. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 65 f., 72 ff.; ders., Die Verfassung der Freiheit, 3. Aufl. 1991, S. 182 ff. 100 v. Hayek, Die Verfassung der Freiheit, S. 183. 101 Vgl. v. Hayek, Die Verfassung der Freiheit, S. 183; Regeln definieren einen Bereich legitimen individuellen Handeins, überlassen es aber innerhalb dieses RalJmens völlig dem Einzelnen, seine Entscheidungen entsprechend seiner jeweiligen Zielsetzung zu fällen, vgl. ders., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit, 1981, S. 58 ff.; siehe zudem ders., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 73 ff. 94

95

92

2. Teil: Vom Weg in die Abstrakte Gesellschaft

bestimmten Regeln folgen"102. Erstens bedarf es also der Befolgung bestimmter Verhaltensregeln. 103 Diese müssen (wie bereits angesprochen) negativ, aber auch allgemeingültig und abstrakt sein,I04 wobei es nicht notwendig ist, dass sie in artikulierter oder verbalisierter Form vOriiegen lO5 • Es ist sogar noch nicht einmal erforderlich, dass sie den Individuen bewusst oder bekannt sind; entscheidend ist einzig und allein, dass sie tatsächlich befolgt werden. 106 Solche Regeln können Teil der gemeinsamen kulturellen Tradition oder der allgemeinen Gesetze sein, deren Verbindlichkeit durchgesetzt werden kann. 107 An dieser Stelle soll zudem deutlich darauf hingewiesen werden, dass zwar die Regeln, auf denen spontane Ordnungen beruhen, selbst spontanen Ursprungs sein können, dies aber nicht zwingend der Fall zu sein braucht. 108 Zweitens müssen die Individuen auf ihre unmittelbare Umgebung reagieren und sich regelkonform an die besonderen Umstände der jeweiligen Situation anpassen. 109 Das bedeutet nicht, dass verschiedene Personen in ähnlichen Situationen genau das Gleiche tun, sondern lediglich, dass die Handlungen in abstrakten Aspekten ähnlich zu sein brauchen. 11o In diesem Zusammenhang kommt die starke Interdependenz zwischen spontanen Sozialordnungen und v. Hayeks Individualismus besonders gut zum Ausdruck, denn nur dieser ist in der Lage, die Entstehung solcher Ordnungen verständlich zu machen. 111 Einige ergänzende Anmerkungen sollen das Verständnis von v. Hayeks Konzeption der spontanen Ordnungen abrunden und diesen Abschnitt beschließen. In den Erklärungsansätzen der modemen Gesellschaftsphilosophie, die sich mit dem Entstehen und Funktionieren sozialer Ordnungen beschäftigt, dominieren vertragsv. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 65. Auch Mestmäcker, Organisationen in spontanen Ordnungen, S. 11 sieht dies als konstituierendes Element spontaner Ordnungen an. 104 Vgl. v. Hayek, Rechtsordnung und Handelnsordnung, S. 176 ff.; ausführlich ders., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 73 f.; Streit, Konstitutioneller Wissensmangel, Spontane Ordnung und Regel-Orientierung, in: ders., Freiburger Beiträge zur Ordnungsökonomik, 1995, S. 200 fasst die Regeleigenschaften der Allgemeingültigkeit und der Abstraktheit in dem Begriff "Universalisierbarkeit" zusammen; siehe auch Zintl, Individualistische Theorien und die Ordnung der Gesellschaft, 1983, S. 161. 105 Vgl. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 66. 106 Vgl. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 66; ders., Arten der Ordnung, S. 38. 107 Vgl. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 68; ders., Arten der Ordnung, S. 39. 108 "Der spontane Charakter der sich ergebenden Ordnung muß daher von dem spontanen Ursprung der Regeln unterschieden werden, auf denen sie beruht, und es ist möglich, daß eine Ordnung, die immer noch als spontan beschrieben werden müßte, auf Regeln beruht, die zur Gänze das Ergebnis eines bewußten Entwurfs sind.", v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 69. 109 Vgl. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. I , S. 67 f. 110 Vgl. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 67 f.; ders., Arten der Ordnung, S. 39. 111 Vgl. Zeitler, Spontane Ordnung, Freiheit und Recht, S. 30 f. 102 103

3. Kap.: Zwei komplementäre Theorien

93

theoretische Modelle. 112 Den Ausgangspunkt aller theoretischen Überlegung bei v. Hayek bildet dagegen der Versuch, Wissensprobleme zu lösen. 113 Man beachte auch hier wieder die Nähe zwischem ihm und Popper. Aus dieser Perspektive kritisiert v. Hayek die rationalistische Vorstellung eines Gesellschaftsvertrages, denn diese lässt sich mit seinem erkenntnistheoretischen Verständnis nicht vereinbaren. 114 Er spricht von der "Grundtatsache der unvermeidlichen Unkenntnis des Menschen von einem Großteil dessen, worauf das Funktionieren einer Zivilisation beruht" II 5, und davon, dass viele gesellschaftliche Konstruktionen wertlos sind, weil sie "der Annahme folgen, daß wir vollkommenes Wissen besitzen,,116. Das Wissen in einer Gesellschaft ist fragmentiert und auf die einzelnen Individuen verteilt. ll7 Die Nutzbarmachung dieser dezentralen Kenntnisse kann für v. Hayek keiner zentralen oder geplanten Institution gelingen und ist prinzipiell nur innerhalb einer spontanen Ordnung möglich. 118 Wie schon gezeigt wurde, genügt zur Entstehung einer spontanen Ordnung, dass sich die beteiligten Individuen unter Beachtung der Regeln von ihrem rationalen Eigeninteresse leiten lassen. Gerade in seinem Rationalismusverständnis unterscheidet sich v. Hayeks aber deutlich vom rein ökonomischen Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, demzufolge jede Entscheidung, also auch die, ob eine bestimmte Regel befolgt werden soll oder nicht, im Lichte des zu erwartenden individuellen Nutzens gefällt wird. 1l9 Die v. hayekschen Individuen sind keine rei112 Einen guten Überblick bietet hier Ballestrem, Vertragstheoretische Ansätze in der politischen Philosophie, ZPol 1983, S. 1 ff. 113 Vgl. Bouillon, Ordnung, Evolution, Erkenntnis, S. 85 ff.; Streit, Wissen, Wettbewerb und Wirtschaftsordnung, in: ders., Freiburger Beiträge zur Ordnungsökonomik, 1995, S. 159 f. Das Fundament von v. Hayeks theoretischen Einsichten bildet sein Werk ,The Sensory Order', welches er in großen Teilen bereits in den zwanziger Jahren entwarf und bis 1952 weiterentwickelte, vgl. v. Hayek, The Sensory Order, 1952. 114 Vgl. v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. I, S. 25 ff.; das., Die Verfassung der Freiheit, S. 70. 115 v. Hayek, Die Verfassung der Freiheit, S. 30. Ders., Die Sprachverwirrung im politischen Denken, S. 206 an anderer Stelle: "Ausgangspunkt jeder intelligenten Diskussion über die Ordnung allen gesellschaftlichen Lebens sollte die grundsätzliche und unheilbare Unwissenheit sein, die sowohl bei den handelnden Personen als auch bei dem diese Ordnung studierenden Wissenschaftler . .. herrscht. "; das., Rechtsordnung und Hande1nsordnung, S. 170 führt zudem aus, dass "praktisch alle Probleme der Sozial theorie und der Politik Probleme sind, die sich aus einer unabänderlichen Beschränkung unseres Wissens ergeben". 116 v. Hayek, Die Verfassung der Freiheit, S. 30. Zu den Grenzen des Wissens siehe auch das., Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 27 ff. 117 v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. I, S. 30 spricht von einer ,,Zerstückelung des Wissens"; dies bedeutet, "daß die Kenntnis der Umstände, von der wir Gebrauch machen müssen, niemals zusammengefaßt oder als Ganzes existiert, sondern immer nur als zerstreute Stücke unvollkommener und häufig widersprechender Kenntnisse, welche all die verschiedenen Individuen gesondert besitzen", vgl. das., Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, 2. Auf!. 1976, S. 103 f. 118 Vgl. v. Hayek, Die Verfassung der Freiheit, S. 64, 74 f.; das., Rechtsordnung und Handeinsordnung, S. 169; Zeitler; Spontane Ordnung, Freiheit und Recht, S. 49.

94

2. Teil: Vom Weg in die Abstrakte Gesellschaft

nen ökonomischen Nutzenmaximierer, sondern haben eine Art kantianischen Ethos. l2O Ebenso ist es wichtig, sich der Tatsache bewusst zu werden, dass der Inhalt von v. Hayeks Begriff der ,spontanen Ordnung' keineswegs mit dem der ,unbeabsichtigten Handlungsfolgen ' identisch ist. Sein Begriff ist enger gefasst, denn er setzt stillschweigend voraus, dass die von ihm betrachteten ungeplant entstandenen Interaktionsmuster für alle daran Beteiligten durchgehend vorteilhaft seien. 121 Es gehört allerdings zur Phänomenologie unbeabsichtigter Handlungsfolgen, dass diese sehr wohl auch unerwünscht sein können. 122

4. Kapitel

Das Modell der Abstrakten Gesellschaft Nachdem bis zu diesem Punkt der Untersuchung systematisch erarbeitet wurde, was Popper unter einer Geschlossenen und einer Offenen Gesellschaft versteht, und welche Modelle er und v. Hayek zur Erklärung gesellschaftlicher Veränderungen anbieten, kann sich nun der zweiten Fragestellung zugewandt werden. Was verbirgt sich hinter dem von Popper angesprochenen Phänomen einer abstrakten Gesellschaft? Obgleich er die Wichtigkeit dieser Problematik explizit betont, bleiben seine Ausführungen (I.) dennoch nur bruchstückhaft. Es bedarf daher der Entwicklung eines Modells (11. u. III.), das in der Lage ist, die angesprochene Thematik theoretisch zu fassen.

I. Karl R. Poppers Beschreibung einer abstrakten Gesellschaft

Neben den kontrastreichen Modellen der Offenen und Geschlossenen Gesellschaft hat Popper mit der "abstrakten Gesellschaft,,123 noch einen weiteren Gesellschaftstyp in sein sozialphilosophisches Hauptwerk ,Die offene Gesellschaft und 119 Als den bekanntester Repräsentant dieser Auffassung gilt G. Becker, Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, 1982. 120 Zu v. Hayeks Kantianismus in seiner politischen Philosophie siehe Gray, Freiheit im Denken Hayeks, S. 7 f. und Kley, F. A. Hayeks Idee einer spontanen sozialen Ordnung, KZfSS 1992, S. 26 f. 121 Vgl. Kley, F. A. Hayeks Idee einer spontanen sozialen Ordnung, KZfSS 1992, S. 13 f. 122 Siehe hierzu Boudon, Widersprüche sozialen Handeins, 1979, insb. S. 67 ff. oder ders., Die Logik gesellschaftlichen HandeIns, 1980, insb. S. 81 ff. Eine Übersicht über Arten von Handlungen, die individuellen Handlungsfolgen sowie die entsprechenden sozialen Rahmenbedingungen liefert Wippler, Nicht-intendierte soziale Folgen individueller Handlungen, SozW 1978, S. 171 ff. 123 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 208.

4. Kap.: Das Modell der Abstrakten Gesellschaft

95

ihre Feinde' eingeführt. Für ihn kann sich als eine "Folge des Verlusts des organischen Charakters" eine "offene Gesellschaft ... allmählich in eine sogenannte ,abstrakte Gesellschaft' verwandeln".124 Zwei Kernpunkte können aus dieser Aussage gefolgert werden. Erstens ist nach der Umwandlung einer Geschlossenen Gesellschaft, für die unter anderem das Organismusdenken kennzeichnend ist,125 in eine Offene Gesellschaft, die sich dessen entledigt hat, die Gesamtentwicklung noch nicht abgeschlossen. Folgt man dieser Auffassung, so erkennt man eine Evolutionskette von der Geschlossenen über die Offene hin zu einer abstrakten Gesellschaft, deren mögliche Weiterentwicklungslinien noch unbestimmt sind. Das Schema ,GG ---- OG ---- abstrakte Gesellschaft ---?' soll dies veranschaulichen. Dies ist zunächst eine rein strukturelle Beschreibung der Entwicklungsabfolge. Der zweite Punkt, der abgeleitet werden kann, besteht in der Feststellung, dass auf Grund des oben Gesagten nicht, wie häufig implizit angenommen, nur das Gegensatzpaar Offene vs. Geschlossene Gesellschaft existiert, sondern sich noch weitere Kombinationen bilden lassen. 126 Dabei kann zum einen eine Systematisierung nach dem Kriterium Gegensätzlichkeit und zum anderen nach der Evolutionsabfolge vorgenommen werden. Abbildung I soll diesen Sachverhalt veranschaulichen.

GG - - OG OG - - abstrakte Gesellschaft

.4------...

GG - - OG GG

abstrakte Gesellschaft

Evolutionspaare

Gegensatzpaare

Abbildung I: Gesellschaftstypologische Evolutions- und Gegensatzpaare

Welche weiteren Aussagen zur Bestimmung abstrakter gesellschaftlicher Verhältnisse lassen sich bei Popper finden? Das folgende Zitat ist für Poppers Verständnis des Phänomens einer abstrakten Gesellschaft zentral: "Sie kann den Charakter Beide Ziate: Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 208. Zur Organismustheorie Geschlossener Gesellschaften siehe die Auffassung Platons (I. Kap. 11. 1.) und Hegels (I. Kap. 11. 2.) sowie den Punkt ,Holismus' in der Zusammenfassung der Merkmale Geschlossener Gesellschaften (I. Kap. 11. 4.). 126 Jarvie, Poppers's ideal types: open and closed, abstract and concrete, in: ders./Pralong (Hrsg.), Popper's Open Society after fifty years, 1999, S. 71 ff. hat auf diesen nach seiner Einschätzung wichtigen, aber bisher vernachlässigten Sachverhalt erst vor kurzem hingewiesen. 124 125

96

2. Teil: Vom Weg in die Abstrakte Gesellschaft

einer konkreten Gruppe von Menschen oder eines Systems solcher Gruppen in beträchtlichem Ausmaß verlieren. Das ist kaum je richtig verstanden worden,,127. Vor allem der zweite Satz hebt hervor, welchen großen Stellenwert er diesem Sachverhalt beimisst. Popper erläutert dies anhand nach seiner eigenen Einschätzung übertriebener Beispielen. 128 Er kann sich eine Gesellschaft vorstellen, in der sich die Menschen praktisch kaum mehr von Angesicht zu Angesicht sehen, in der Geschäfte und wirtschaftliche Transaktionen durch voneinander isolierte Individuen ausgeführt werden, welche nur noch Telekommunikationsmittel nutzen - mittels künstlicher Befruchtung wäre sogar die Fortpflanzung ohne persönlichen Kontakt möglich. 129 Wie real diese von ihm damals erdachten Beispiele heute geworden sind, braucht nicht besonders betont zu werden. Eine solche für ihn zu diesem Zeitpunkt fiktive Gesellschaftsform kann man nach Poppers Auffassung auch "vollständig abstrakte oder entpersönlichte Gesellschaft,,13o nennen. Interessant ist für Popper der Umstand, dass "unsere modeme Gesellschaft einer solchen völlig abstrakten Gesellschaft in vieler Hinsicht ähnlich ist"l3l. Wieder untermauert er seine Ansicht mit Beispielen: Obwohl die Menschen nicht in vollständig voneinander isolierten Fahrzeugen am Straßenverkehr teilnehmen, sondern sich dort Tausende von Individuen persönlich begegnen, ist das Ergebnis doch dasselbe, als wenn es so wäre - in der Regel treten die Verkehrsteilnehmer, ob Autofahrer, Radfahrer oder Fußgänger, in keinerlei persönliche Beziehung; in gleicher Weise braucht die Mitgliedschaft in einer Gewerkschaft nicht mehr die Zugehörigkeit zu einer Gruppe, sondern lediglich den Besitz einer Mitgliedskarte und die Bezahlung eines Beitrages zu bedeuten. 132 Für Popper leben in "der modemen Gesellschaft ... viele Menschen, die keine oder nur sehr wenig enge persönliche Beziehungen haben,,133. Für das Individuum kann es dadurch zum Verlust der Bindung zu seiner unmittelbaren Umwelt wie auch zur Gesellschaft, in der es lebt, kommen. In diesem Kontext weist Popper auf zwei weitere Gesichtspunkte deutlich hin. Zum einen auf die Tatsache, dass, obgleich in der modemen Gesellschaft "die Gesellschaftsform abstrakt geworden ist, ... sich doch die biologische Struktur des Menschen nicht sehr verändert,,134 hat. Die biologische Evolution verläuft sehr viel langsamer als die kulturelle, so dass es Individuen gibt, welche "soziale BedürfPopper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 208. Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 209; der Leser muss sich bewusst sein, aus weIcher Zeitperiode (40er Jahre des 20. Jahrhunderts) diese Beispiele stammen, denn nur so wird Poppers Gefühl der Übertreibung verständlich. 129 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 208. 130 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 208. 131 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 208. 132 Vgl. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 208. 133 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 208. 134 Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 209. 127

128

4. Kap. : Das Modell der Abstrakten Gesellschaft

97

nisse [haben], die sie in einer abstrakten Gesellschaft nicht befriedigen können" 135 . Zum anderen entsteht in einer abstrakten Gesellschaft nach Auffassung Poppers "ein neuer Individualismus.. \36. Dieser wird von ihm zwar nicht genauer spezifiziert, aber als grundsätzlich positiv bewertet. 137 Aus dem bisher Gezeigten wird deutlich, dass eine Gesellschaft auch über den Konkretheitsgrad ihres Gruppencharakters gekennzeichnet werden kann. Das Evolutionsschema ,GG -+ OG -+ abstrakte Gesellschaft' zeigt, wie dieser tendenziell sinkt. Für Popper geht mit zunehmender Entpersönlichung und damit gleichzeitig steigendem Abstraktionsgrad die Bindung zwischen den Individuen und die des Einzelnen zur Gesellschaft verloren. Die Nichterfüllung von biologisch verankerten sozialen Bedürfnissen ist für ihn dabei eine negative Folge und die zunehmende Individualisierung eine positive. Fragen nach den Zusammenhängen bleiben allerdings unbeantwortet. Es wird offensichtlich, dass ein stringentes, konsistentes und kohärentes Modell fehlt, um das von Popper nur bruchstückhaft beschriebene Phänomen einer abstrakten Gesellschaft theoretisch zu fassen. Dieses wird nun vor dem Hintergrund der bisherigen Erkenntnisse konstruiert.

11. Die Annahmen des Modells der Abstrakten Gesellschaft

Da das folgende Modell auf meiner eigenen theoretischen Konzeption basiert, werde ich hierfür zur eindeutigen Kennzeichnung im weiteren Verlauf der Arbeit den Terminus ,Abstrakte Gesellschaft' verwenden. Zunächst werden die von mir gewählten Basisannahmen (1.) und meine Annahmen zur Individualisierungsthese (2.) im Einzelnen spezifiziert und erläutert.

/. Die Basisannahmen

1. Das menschliche Individuum, also der Einzelne, ist die unteilbare Grundeinheit des Sozialen. 138 Vernunftbegabung, Fallibilität und Lemfähigkeit sind seine wichtigsten Eigenschaften. 139 Der Mensch ist sowohl Teil der biologischen bzw. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 209. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 209. 137 In Bezug auf den Individualismus weist Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde I, S. 209 lediglich darauf hin, dass persönliche "Beziehungen einer neuen Art" entstehen können und an die Stelle des Zufalls der Geburt die freie Wahl der Interaktionspartner tritt; zudem können "geistige Bande dort eine größere Rolle spielen, wo die biologischen oder die physischen Bande zuriicktreten". 138 Siehe dazu auch 2. Kap. 11. 5. 139 Siehe dazu auch 2. Kap. I. 3. und 2. Kap. 11. 1. u. 5. Zu den anthropologischen Grundlagen des Bildes vom vemunftbegabten Menschen siehe Ulrich, Transformation der ökono135

136

7 Tiefe1

98

2. Teil: Vorn Weg in die Abstrakte Gesellschaft

organischen als auch der kulturellen Evolution. 14o Als organisches Wesen ist er zwar instinktarm,141 verfügt aber über einen nicht zu unterschätzenden (Rest-)Bemischen Vernunft, 2. Aufl. 1987, S. 31 ff., der die wichtigsten vorliegenden biologischen Erkenntnisse und Hypothesen in einern Modell zusammenfasst und sich dabei insbesondere auf die Arbeiten von Edgar Morin, Adolf Portmann und Lewis Mumford stützt. Zur Sonderstellung des Menschen in der biologischen Evolution auf Grund seiner Gehimentwicklung siehe Kull, Evolution des Menschen, 1979, S. 22 f., Martin, Hirngröße und menschliche Evolution, in: Sommer (Hrsg.), Biologie des Menschen, 1996, S. 2 ff. und Steitz, Die Evolution des Menschen, 3. Aufl. 1993, S. 115 ff. Eine Zusammenfassung der unterschiedlichen, den einzelnen Wissenschaften (Soziologie, Psychologie, Theologie, Medizin, Politik, Technik, etc.) zugrundeliegenden Menschenbilder findet sich bei Oerter (Hrsg.), Menschenbilder in der modemen Gesellschaft, 1999. 140 Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, 5. Aufl. 1990, S. 85 betont, dass "die biologische Evolution nicht dort endet, wo eine kulturelle Evolution einsetzt. Bei der Evolution des Menschen wirken vielmehr biologische und kulturelle Faktoren zusammen. "; Dobzhansky, Dynamik der menschlichen Evolution, 1965, S. 34 vertritt die gleiche Auffassung, wobei für ihn die menschliche Evolution sowohl eine "biologische oder organische" als auch eine ,,kulturelle oder über-organische" Komponente hat, welche miteinander verknüpft und interdependent sind; "Menschliche Evolution kann nicht einzig als biologischer Prozeß verstanden werden, noch kann sie in zureichender Weise als Kulturgeschichte beschrieben werden. Sie ist die Wechselwirkung von Biologie und Kultur.", ders., ebd., S. 34; auch Ulrich, Transformation der ökonomischen Vernunft, S. 33 betont, dass die "Menschwerdung . .. sowohl eine organische als auch eine kulturelle Evolution" ist. Ein wichtiger Aspekt ist in diesem Kontext, dass die biologische Evolution sehr langsam (in Zehntausenden bis Millionen von Jahren), und die kulturelle Evolution im Vergleich dazu extrem schnell und mit einer stetig steigenden Geschwindigkeit (in Jahrhunderten bis Tagen) vonstatten geht, vgl. Wuketits, Biologische und kulturelle Evolution - Analogie oder Homologie?, in: Albertz (Hrsg.), Evolution und Evolutionsstrategien in Biologie, Technik und Gesellschaft, 2. Aufl. 1990, S. 247; auch Osche, Die Sonderstellung des Menschen in biologischer Sicht: Biologische und kulturelle Evolution, in: Siewing (Hrsg.): Evolution, 3. Aufl. 1987, S. 512, Vogel, Von der Natur des Menschen in der Kultur, in: Rössner (Hrsg.), Der ganze Mensch, 1986, S. 53 f. und Vollmer, Mesokosmos und objektive Erkenntnis - Uber Probleme, die von der evolutionären Erkenntnistheorie gelöst werden, in: Lorenz I Wuketits (Hrsg.), Die Evolution des Denkens, 1983, S. 47 betonen die Rasanz der kulturellen im Gegensatz zur biologischen Evolution; Lorenz, Der Abbau des Menschlichen, 3. Aufl. 1985, S. 18 hält fest: "Die kulturelle Entwicklung der Menschheit geht immer schneller vor sich und hat zur Zeit eine solche Geschwindigkeit erreicht, daß es kaum übertrieben ist zu behaupten, die Schnelligkeit der genetischen, stammesgeschichtlichen Evolution könne im Vergleich mit ihr vernachlässigt, ja mit Null gleichgesetzt werden". 141 Zur Instinktarmut als eine den Menschen prägende Eigenschaft siehe Bellebaum, Soziologische Grundbegriffe, 13. Aufl. 2001, S. 20 ff. und Goetz, Das Menschenbild der Biologie, in: Drescher (Hrsg.), Der Mensch - Wissenschaft und Wirklichkeit, 1966, S. 37 ff., wobei letzterer aber auch negative Auswirkungen dieses Sachverhalts hervorhebt: "Der Mangel an Instinkten bedeutet Unsicherheit des menschlichen Antriebslebens, das ja nun nicht festgelegt, sondern freigestellt ist. Der Mensch ist damit beweglich, aber auch gefährdet. Er ist auf seine Intelligenz angewiesen. Instinkt und Intelligenz erscheinen daher als Konkurrenten: Die Instinktarmut ist die Kehrseite seiner Intelligenz! Umgekehrt gesehen, muß der Mensch seine Intelligenz mit Instinktarrnut bezahlen. Viele dem Tier mitgegebenen Instinkte kommen bei ihm überhaupt nicht zu Entfaltung, andere sind unsicher und schwach .... Vor allem hat der Mensch keine sichere Hemmung Artgenossen zu töten! Wenn zwei Wölfe ... wütend sich anfallen, genügt das freiwillige Entblößen des Halses - und der Sieger ist wie gelähmt und

4. Kap.: Das Modell der Abstrakten Gesellschaft

99

stand an verhaltenssteuemden genetischen Anlagen l42 • Unter diesen Dispositionen dürften der Überlebenstrieb, die Aggression und die Prosozialität die fundamentalsten sein. 143 2. Eine Gesellschaft besteht aus einer Menge von Individuen, deren Handlungen und Handlungsoptionen sowie aus den bestehenden und potenziellen Beziehungen zwischen den Individuen und zu ihrer Umwelt (welche nicht Teil der Gesellschaft ist).I44 Die Mitglieder einer Gesellschaft verfügen über mindestens ein sie verbinvermag nicht zuzubeißen! Beim Menschen aber verbürgt kein Hemminstinkt, daß der geschont wird, der sich als unterlegen in die Hand des Siegers gibt". 142 Umfangreiche Studien zur erbbiologischen Programmierung des menschlichen Verhaltens liefern Irenäus Eibl-Eibesfeldt (exemplarisch Eibl-Eibesfeldt, Die Biologie des menschlichen Verhaltens, 1984, ders., Der vorprogrammierte Mensch, 1985 und ders., Der Menschdas riskierte Wesen, 1988) und Franz M. Wuketits (exemplarisch Wuketits, Evolutionstheorien, 1988, ders., Die Entdeckung des Verhaltens, 1995 und ders., Soziobiologie, 1997); vehemente Verfechter der Theorie einer primär genetischen Steuerung des menschlichen (Sozial-)Verhaltens sind Wilson, Sociobiology, 6. Aufl. 1978 und Dawkins, Das egoistische Gen, 1994. An dieser Stelle ist es wichtig zu wissen, dass sich beim modernen Menschen (Homo sapiens sapiens) seit ca. 40000 Jahren keine erkennbaren Veränderungen seiner biologischen Eigenschaften, insbesondere der Anatomie und der Leistungsfähigkeit seines Gehirns, mehr vollzogen haben, vgl. Kull, Evolution des Menschen, S. 23 und Wuketits, Gene, Kultur und Moral, 1990, S. 41. 143 Eibl-Eibesfeldt, Liebe und Hass, 1970, S. 14 schickt hier voraus: "Der Hinweis auf das Angeborensein eines Verhaltens oder einer Disposition beinhaltet keineswegs, daß diese einer erzieherischen Beeinflussung unzugänglich sei, noch daß man sie als natürlich im Sinne von zweckmäßig hinzunehmen habe."; weiter führt ders., ebd., S. 14 f. aus, dass Aggression nur ein Antrieb sei und in "den Anlagen zur Geselligkeit ... der Schlüssel zur Bewältigung des Aggressionsproblems" liege, da für ihn ,,[sloziale Abstoßung (Aggression) und Anziehung (Zuneigung) ... eine funktionelle Einheit" bilden; an anderer Stelle spricht ders., In der Falle des Kurzzeitdenkens, 2000, S. 15 synonym vom ,,Dominanzstreben" und der auf Empathie und Fürsorglichkeit begründeten "Prosozialität"; ders., ebd., S. 48 hebt zudem das "Überleben als Richtwert" hervor und weist in diesem Kontext vehement den gegen ihn erhobenen Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses vom Sein auf das Sollen zuriick; unmissverständlich unterstreicht er in diesem Zusammenhang, "daß es kein für uns erkennbares Interesse der Natur an irgendeiner Art von Lebewesen gibt, wohl aber ein Überlebensinteresse als Eigeninteresse, und das zu vertreten wurden alle, auch wir Menschen, im Laufe einer langen Stammesgeschichte programmiert". Zur Allgegenwart des Grundtriebs Überleben sowie der damit in enger Verbindung stehenden Aggressions- und Kooperationsbereitschaft siehe auch Wuketits, Soziobiologie, S. 51 ff.; ders., ebd., S. 56 hebt besonders hervor: "Lebewesen folgen einem elementaren Trieb - dem Überlebenstrieb - und sind darauf programmiert, alles zu tun, was ihrem Überleben dient ... Beim Menschen liegen die Dinge nicht anders. Unser Überlebenstrieb dominiert - zumindest in der Regel - alles andere". In seiner Zusammenfassung der wichtigsten wissenschaftlichen Thesen zur Fragestellung der angeborenen Strukturen beim Menschen betont auch Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, S. 90 ff. die Bedeutung der Aspekte "Aggressivität" und Prosozialität (für ihn in Form von "Gruppenbindung" und "Brutpflegeinstinkt") besonders. 144 "Gesellschaft" ist ein in den Sozialwissenschaften sehr vieldeutig verwendeter Begriff. Zusammenfassungen zu verschiedenen Definitionen, Ansätzen und Bedeutungsinhalten finden sich bei Fuchs-HeinritzlLautmannlRammstedtlWienold (Hrsg.), Lexikon der Soziologie, 3. Aufl. 1994, S. 235 ff., HartfiellHillmann, Wörterbuch der Soziologie, 3. Aufl. 1982, 7*

100

2. Teil: Vom Weg in die Abstrakte Gesellschaft

dendes Merkmal 145 und sie folgen bei ihren Handlungen den gleichen Regeln 146. Institutionen sind als gemeinsame soziale Einrichtungen der Individuen auch Teil der Gesellschaft. 147 Eine Gesellschaft kann auf geplanten und / oder spontanen Ordnungen basieren. 148 3. Ein Dualismus von mikro- oder makrotheoretischer Sichtweise oder ein Gegensatz von Individuum und Gesellschaft wird durch die angenommene Dualität von Handlung und Struktur vermieden. 149 Dahinter verbirgt sich die Auffassung, dass einerseits gesellschaftliche Strukturen die Handlungen der Individuen beeinflussen und unmittelbar in deren Entscheidungsfindung und Aktivitäten mit einfließen, aber andererseits die individuellen Handlungen selbst wiederum geplante und ungeplante Gesellschaftsstrukturen schaffen. Individuelles Handeln und gesellschaftliche Struktur sind dadurch kein Gegensatzpaar, sondern zwei Dimensionen derselben Sache.

S. 256 ff., Kaupp, Gesellschaft, in: Ritter (Hrsg.), Historisches Worterbuch der Philosophie, Bd. 3, 1974, S. 459 ff., Kneerl NassehiiSchroer (Hrsg.), Soziologische Gesellschaftsbegriffe, 1997, Ritsert, Gesellschaft, 2000, S. 23 ff., Rolshausen, Gesellschaftstheorien, in: Kerber I Schmieder (Hrsg.), Handbuch Soziologie, 1984, S. 182 ff. und Schäfers, Gesellschaft, in: ders. (Hrsg.), Grundbegriffe der Soziologie, 4. Aufl. 1994, S. 95 ff.; knappe Übersichten liefern Ganslandt, Gesellschaft, in: Mittelstraß (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie I, 1980, S. 756 f. und Pannier, Gesellschaft, in: PrechtllBurkard (Hrsg.), Metzler Philosophie Lexikon, 2. Auf!. 1999, S. 206. 145 Mindestens ein verbindendes Merkmal ist notwendig, da ansonsten auch jede willkürliche Ansammlung von Individuen eine Gesellschaft wäre. 146 Es kann sich dabei um jede Form von Regeln handeln, gleich welchen Ursprungs, weIchen Verbindlichkeitscharakters, welchen Konkretisierungsgrads, welcher Artikulationsform oder Bewusstseinstufe. Die obige Annahme impliziert jedoch nicht, dass alle Regeln von allen Gesellschaftsmitgliedern immer im gleichen Maße befolgt werden. 147 Institutionen sollen im Rahmen dieser Arbeit handlungstheoretisch verstanden werden. In diesem Sinn basiert jede gesellschaftliche Institution auf einem von vielen Individuen praktizierten regelmäßigen Verhalten, vgl. BurkardlPrechtl. Institution, in: Prechtl I Burkard (Hrsg.), Metzler Philosophie Lexikon, 2. Aufl. 1999, S. 262; die durch zwischenmenschliche Beziehungen vennittelten Verhaltensmuster stellen dabei ein System von Handlungsregeln dar, welches den Rahmen für mögliche Aktivitäten absteckt, zur Richtschnur für individuelles Handeln wird und die Grundlage der Beurteilung von Rege!übertretungen bildet. Zum Problem der Institutionen in den Sozialwissenschaften sowie zu den ,,(Haupt-)Bedeutungen des Institutionenbegriffs" siehe Vanberg, Der individualistische Ansatz zu einer Theorie der Entstehung und Entwicklung von Institutionen, in: Boettcher/Herder-Dorneich/Schenk (Hrsg.), Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, Bd. 2, 1983, S. 51 ff., 55 ff, der sehr deutlich zwei wesentliche Bedeutungsvarianten herausstellt, die dem Institutionenbegriff beigelegt werden: Zum einen dient er zur Bezeichnung von kollektiven Handlungseinheiten oder korporativen Gebilden und zum anderen steht er für komplexe normative Regelungen und Muster. Einen Überblick über die Vielzahl der weiteren Begriffsverwendung gibt Lipp, Institution, in: Schäfers (Hrsg.), Grundbegriffe der Soziologie, 4. Aufl. 1994, S. 134 ff. 148 Siehe dazu auch 3. Kap. II. 3. 149 Der Begriff der "Dualität von Handlung und Struktur" wurde von Giddens, Die Konstitution der Gesellschaft, 1988, S. 215 zur Überbrückung von einseitigen Sichtweisen geprägt.

4. Kap.: Das Modell der Abstrakten Gesellschaft

101

4. Unter modernen Gesellschaften sollen in diesem Untersuchungskontext ganz allgemein (post)industrielle westliche Gesellschaften der Gegenwart verstanden werden. Diese sind technisch hochentwickelte, marktwirtschaftlich ausgerichtete, mit einem umfassenden sozialen Sicherungssystem ausgestattete, territorial definierte und demokratisch verfasste Großgesellschaften. 150

2. Die Individualisierungsthese Neben den bisher getroffenen Annahmen soll an der bereits 1983 von Ulrich Beck formulierten These, dass "sich in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten in allen reichen westlichen Industrieländern und besonders deutlich in der Bundesrepublik Deutschland ... ein gesellschaftlicher "Individualisierungsprozeß" von bislang unerkannter Reichweite und Dynamik vollzogen hat und immer noch vollzieht,,151, angeknüpft werden. Welche Tragweite dieser Prozess nach Becks Auffassung hat, macht er deutlich, wenn er von einem Individualisierungsschub spricht, "in dessen Verlauf auf dem Hintergrund eines relativ hohen materiellen LeISO Zu diesen und weiteren Merkmalen moderner Gesellschaften siehe Hillmann, Gesellschaft, in: Reinhold (Hrsg.), Soziologie-Lexikon, 1991, S. 204 f., Büschges, Gesellschaft, in: EndruweitlTrornrnsdorff (Hrsg.), Wörterbuch der Soziolgie, Bd. I, 1989, S. 250, Hradil/lmmerfall, Modernisierung und Vielfalt in Europa, in: dies. (Hrsg.), Die westeuropäischen Gesellschaften im Vergleich, 1997, S. 12 f. und Weymann, Theorie der modernen Gesellschaft, in: Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie A-N, 1999, S. 474 f.; umfassende empirische Analysen zum Typus der modernen Gesellschaft liefern Dicken/ Lloyd, Die moderne westliche Gesellschaft, 1984; eine sehr ausführliche Strukturanalyse des institutionellen Aufbaus moderner Gesellschaften findet sich bei Münch, Die Struktur der Moderne, 1992. Auf eine Moderne/Postmoderne-Begriffsdiskussion soll an dieser Stelle, da diese für den Untersuchungszweck dieser Arbeit keinen inhaltlichen Gewinn bringen würde, verzichtet werden. Ich schließe mich Giddens, Konsequenzen der Moderne, 1996, S. 11 an, der ausführt, dass es zur Analyse der gegenwärtigen Situation nicht genügt, "neue Begriffe wie »Postmoderne« und dergleichen zu erfinden .... Wir treten nicht in eine Periode der Postmoderne ein, sondern wir bewegen uns auf eine Zeit zu, in der sich die Konsequenzen der Moderne radikaler und allgemeiner auswirken als bisher". Der postmodern interessierte Leser sei auf Lyon, Postmodernity, 2. Auf!. 1999 und Welsch (Hrsg.), Wege aus der Modeme, 1988, der eine Sammlung von 19 Schlüsseltexten zur Postmoderne-Diskussion und eine 21-seitige Bibliographie liefert, verwiesen. Eine Zusanunenfassung zur Theorie der postmodernen Gesellschaft findet sich bei Richter, Soziologische Pradigmen, 1997, S. 190 ff. 151 Beck, Jenseits von Stand und Klasse?, in: Kreckel (Hrsg.), Soziale Ungleichheiten, 1983, S. 40 f. Später modifiziert Beck, Jenseits von Stand und Klasse?, in: ders. /Beck-Gernsheim (Hrsg.), Riskante Freiheiten, 1994, S. 44 seine These leicht: "In allen reichen westlichen Industrieländern - besonders deutlich in der Bundesrepublik Deutschland - hat sich in der wohlfahrtstaatlichen Nachkriegsentwicklung ein gesellschaftlicher Individualisierungsschub von bislang unerkannter Reichweite und Dynamik vollzogen". In seiner aktuellen Untersuchung zum Umbruch von Sozialstrukturen, in der er das Klassenkonzept nach Goldthorpe und die Sinus-Milieus einern empirischen Test unterzieht, kommt Zerger, Klassen, Milieus und Individualisierung, 2000, S. 242 zu dem folgenden, vorsichtig formulierten Ergebnis: "Grundsätzlich sind die vorgelegten empirischen Ergebnisse somit geeignet, den insbesondere von Seiten der Individualisierungstheoretiker . .. geäußerten Zweifel gegenüber Großgruppenkonzepten - egal ob Klassen oder Milieus - neue Nahrung zu geben".

102

2. Teil: Vom Weg in die Abstrakte Gesellschaft

bensstandards und weit vorangetriebener sozialer Sicherheiten durch die Erweiterung von Bildungschancen, durch Mobilitätsprozesse, Ausdehnung von Konkurrenzbeziehungen, Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen, Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit und vielem anderen mehr die Menschen in einem historischen Kontinuitätsbruch aus traditionellen Bindungen und Versorgungsbezügen herausgelöst und auf sich selbst und ihr individuelles ,,(Arbeitsmarkt-)Schicksal" mit allen Risiken, Chancen und Widersprüchen verwiesen wurden und werden,,152. Obwohl der Themenkomplex der Individualisierung schon immer ein zentraler Gegenstand in der Soziologie war,153 wurde dadurch die Debatte um diesen Begriff sowie um die damit verbundenen Theorien und Phänomene Mitte der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts neu entfacht. 154 Mittlerweile hat sich die Diskussion auf alle Gebiete der Sozialwissenschaften ausgedehnt und eine nur schwer überschaubare Breite erreicht. 155 Hieraus resultiert die Tatsache, dass der Individualisierungsbegriff nunmehr mit extrem vielen und zudem äußerst unterschiedlichen Bedeutungen besetzt ist. 156 Es bedarf daher einer Inhaltsbestimmung des im Rahmen dieser Arbeit verwendeten Begriffs. Allgemein ausgedrückt steht Individualisierung für einen Prozess, bei dem sich die Art des Eingebundenseins des Individuums in die Gesellschaft ändert und es somit zu einem Wandel im Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft kommt. 157 Zur Präzisierung des den weiteren Überlegungen zugrunde liegenden Beck, Jenseits von Stand und Klasse?, 1983, S. 4l. Dies betont auch Beck, Risikogesellschaft, 1986, S. 205. Eine ausführliche Einzelanalyse zur Stellung und Bedeutung der Individualisierung innerhalb der klassischen Theorien von Karl Marx, Friedrich Engels, Ferdinand Tönnies, Georg Simmel, Emile Durkheim, Max Weber und Norbert Elias liefert Kippele, Was heißt Individualisierung?, 1998, S. 23 ff.; Ebers, "Individualisierung", 1995, S. 47 ff. beschränkt ihre Untersuchungen auf Simmel, Elias und Beck. 154 Siehe dazu zusammenfassend Beck, Die "Individualisierungsdebaue", in: Schäfers (Hrsg.), Soziologie in Deutschland, 1995, S. 185 f. 155 Vgl. Tegethoff, Soziale Gruppen und Individualisierung, 1999, S. 10; nach Beck, Die "Individualisierungsdebaue", S. 186 f. haben sich in der Soziologie (im engeren Sinne) die systematischen Inividualisierungsdiskussionen auf die Bereiche Gesellschaftstheorie, Frauenforschung, Lebensläufe, Jugendforschung, Soziologie der Familie, soziale Ungleichheiten und Berufssoziologie konzentriert. 156 Für Beck, Risikogesellschaft, S. 205 ist aus dem Individualisierungsbegriff "ein überbedeutungsvoller, mißverständlicher, vielleicht sogar Unbegriff' geworden, "der aber auf etwas verweist, was wichtig ist"; auch für Ebers, "Individualisierung", S. 21 bleibt der Begriff der Individualisierung "unscharf und vielseitig verwendbar" und es variieren für sie die damit verbundenen Phänomene sowie deren Erklärungs-, Beschreibungs- und Deutungsmuster; eine Übersicht über die unterschiedlichsten Interpretationen des Individualisierungsbegriffs erhält man anhand Esser, Gesellschaftliche Individualisierung und methodologischer Individualismus, in: Kron (Hrsg.), Individualisierung und soziologische Theorie, 2000, S. 130 ff. und der Beiträge in Friedrichs (Hrsg.), Die Individualisierungs-These, 1998. 157 Vgl. Kippele, Was heißt Individualisierung?, S. 15. Für Esser, Gesellschaftliche Individualisierung und methodologischer Individualismus, S. 132 kennzeichnet das "Konzept der 152

153

4. Kap.: Das Modell der Abstrakten Gesellschaft

103

Individualisierungsverständnisses soll der Rückgriff auf Becks allgemeines, "ahistorisches Modell der Individualisierung ,,158 dienen, in dem sich Individualisierung in drei Schritten entfaltet. Zuerst erfolgt die Freisetzung oder Herauslösung des Einzelnen aus gegebenen Sozialformen und -bindungen. Daraus resultiert im zweiten Schritt ein Verlust an traditionellen Sicherheiten. Danach strebt das Individuum zur Stabilisierung der eigenen Situation nach Reintegration, das heißt, es sucht nach Möglichkeiten der Wiederherstellung größerer sozialer Einheiten oder nach der Wiedereingliederung in neue soziale Strukturen. Das Schema ,Freisetzung -> Stabilitätsverlust -+ Reintegration' stellt diesen Vorgang in Kurzform dar. Der beschriebene Drei-Phasen-Prozess kann zudem in eine subjektive und eine objektive Dimension differenziert werden,159 wobei für diese Arbeit aus erkenntnistheoretischen Griinden nur die letztere relevant ist und durch das Schema repräsentiert wird.

III. Die Konstruktion des Modells der Abstrakten Gesellschaft Bevor meine Ausarbeitung des Modells der Abstrakten Gesellschaft beginnt, möchte ich einige wissenschafts theoretische Anmerkungen vorausschicken. Die Konstruktion des Gesamtmodells basiert auf einem individualistischen Ansatz und auf der Integration mehrerer Teilmodelle. Es ist durch drei grundsätzliche Arten von Aussagen gekennzeichnet: 1. Aussagen über bestimmte Eigenschaften von Individuen. 2. Aussagen, in denen individuelles Handeln in jeweils gegebenen Situationen beschrieben und auf Basis der getroffenen Annahmen erklärt wird. 3. Aussagen, welche die Struktur sowie die Veränderungen auf gesellschaftlicher Ebene beschreiben und diese auf der Basis der Annahmen über die Individuen oder auf der Basis der daraus gefolgerten Ableitungen über ihr Handeln erklären. Die soziale Realität, ob auf das Individuum oder die Gesellschaft bezogen, kann dabei nicht immer direkt erkannt werden, sondern bedarf auch eines theoretischIndividualisierung ... in seinem Kern die Auflösung der deutlichen Konturen von Klasse und Stand als kategoriale Merkmale, durch die die alltägliche Situation der Akteure verhältnismäßig eindeutig festgelegt war, die Auflösung der daran gebundenen Verkehrskreise und die Ablösung bestimmter kultureller Muster von diesen Zugehörigkeiten". 158 Beck, Risikogesellschaft, S. 206. 159 Nach Beck, Risikogesellschaft, S. 206 f. verdeutlicht die Differenzierung in "subjektives Bewusstsein" und "objektive Lebenslage", dass der Individualisierungsbegriff nicht (wie häufig angenommen) nur ein Synonym für das subjektive Bewusstsein der Freisetzung ist. Schroer; Individualisierte Gesellschaft, in: Kneerl Nassehi I ders. (Hrsg.), Soziologische GeseIlschaftsbegriffe, 1997, S. 157 f. merkt kritisch an, dass der Individualisierungsbegriff oftmals je "nach Geschmack ... um einen weit verbreiteten Egoismus oder Hedonismus zu bezeichnen" oder für die reine "Herauslösung aus traditionellen Gemeinschaftsformen" verwendet wird. Die unterschiedlichsten Fehleinschätzungen zum Individualisierungsverständnis verdeutlichen auch Beck/ Sopp, Individualisierung und Integration - Versuch einer Problemskizze, in: dies. (Hrsg.), Individualisierung und Integration, 1997, S. 9 ff.

104

2. Teil: Vom Weg in die Abstrakte Gesellschaft

konstruktiven Zugangs. Zu diesem Zweck wird in dem folgenden analytisch-deskriptiven Modell der Bezug zwischen Individuum und Gesellschaft über spezifische Problemsituationen des Einzelnen hergeleitet. Die Konstitutionssphäre der sozialen Realität liegt somit in den Interaktionen und Beziehungsgeflechten der durch Problemstellungen verbundenen Individuen. Wie bereits in den Basisannahmen ausgeführt, wird hierbei von einer Dualität von individuellen Handlungen und gesellschaftlicher Struktur ausgegangen. Die Ausführungen zum Modell der Abstrakten Gesellschaft werden von einer Übersicht über die Struktur und Systematik des Gesamtmodells (1.) eingeleitet. Um zu erklären, wie die Situation der Individuen in der Abstrakten Gesellschaft zu kennzeichnen ist, erfolgt zuerst die Synthese des gesellschaftlichen Evolutionsmodells mit dem Individualisierungsmodell (2.). Über die Modelle der individuellen Angepasstheit (3.) und des Lemens (4.) wird dann auf die Mikroebene gewechselt. Mit den Auswirkungen der vorherigen Überlegungen auf das Modell des situationsgerechten Handeins (5.) und das Modell der spontanen Ordnungen (6.) beschäftigen sich die beiden letzten Punkte.

J. Die Struktur und Systematik des Modells

der Abstrakten Gesellschaft

Der folgende Abschnitt gibt einen Überblick, aus welchen Teilmodellen das Gesamtmodell der Abstrakten Gesellschaft besteht und wie diese miteinander verbunden sind. Das Evolutionsschema ,GG -+ OG -+ AG -+ ?' dient als Basismodell auf der Makroebene. Um eine erste Verbindung zwischen individualistischer und gesellschaftsstruktureller Sicht herzustellen, wird es mit dem mittels der Prozesskette ,Freisetzung -+ Stabilitätsverlust -+ Reintegration' dargestellten ahistorischen Modell der Individualisierung verknüpft. Zur Erklärung der Interdependenzen zwischen individuellem Handeln und gesellschaftlichen Strukturen dient das Modell der spontanen Ordnungen - allerdings in modifizierter Form. Die notwendigen Änderungen in dieser Konzeption beruhen auf drei miteinander in enger Beziehung stehenden Modellen der Mikroebene: Dem Modell der individuellen Angepasstheit, dem Lemkurvenmodell und dem modifizierten Modell des situationsgerechten Handeins. Das Modell der individuellen Angepasstheit systematisiert die Anpassung des Einzelnen an verschiedene Gesellschaftsstrukturen. Das Lemkurvenmodell liefert eine Theorie über verschiedene Arten von individuellem Wissen und deren Einfluss auf sozio-kulturelle Anpassungsprozesse, welche als Problemlösungsprozesse interpretiert werden. Das modifizierte Modell des situationsgerechten Handeins differenziert und erklärt Handlungen nach der ihnen zugrunde liegenden Basis. Graphisch zusammengefasst stellt sich das Gesagte folgendermaßen dar.

105

4. Kap.: Das Modell der Abstrakten Gesellschaft

Evolutionsschema ,GG --> OG --> AG --> ?'

+ Ahistorisches Modell der Individualisierung ,Freisetzung ---+ Stabilitätsverlust ---+ Reintegration'

GG

-->

OG

-->

AG

-->

Freisetzung ---+ Stabilitätsverlust ---+ Reintegration

Makroebene

Gesellschaft Struktur

1

Verbindungsebene ModifIZiertes Modell der spontanen Ordnungen

ModifIZiertes Modell des situationsgerechten Handeins

1

Handlung

Lernkurvenmodell

f---

Individuum

Modell der individuellen Angepasslheil

Mikroebene

Abbildung 2: Die Struktur des Gesamtmodells der Abstrakten Gesellschaft

2. Die Synthese von Evolutions- und Individualisierungsmodell

Bevor das Evolutions- mit dem Individualisierungsmodell zusammengeführt wird, bedarf es einer genaueren Betrachtung des Prozessschemas ,GG -+ OG -+ AG -+ ?'. Wie bereits im ersten und zweiten Kapitel ausführlich beschrieben und hergeleitet wurde, lassen sich die Typen der Geschlossenen und Offenen Gesell· schaft anhand eines systematischen Merkmalkatalogs charakterisieren. Eine derartige Erfassung der sozialen Realität ist jedoch nur möglich, solange sie ausreichend konkret ist und somit auch direkt wahrgenommen werden kann. Im Fall der Geschlossenen Gesellschaft gestaltet sich dies relativ einfach, denn diese basiert auf einer durch und durch geplanten und konstruierten Sozialordnung. Ihr Konkretheitsgrad ist sehr hoch und ließe sich beispielsweise über ihre streng hierarchischen Strukturen oder ihre direkt wahrnehmbaren Kriterien der Gesellschaftszugehörigkeit wie familiäre Herkunft, Hautfarbe, Geschlecht oder Lebensraum operationalisieren. Im Fall der Offenen Gesellschaft wird der Versuch einer solchen Annäherung deutlich schwieriger. Bei ihr handelt es sich eben nicht mehr um eine vollkommen entworfene Gesellschaftsordnung, sondern sie fußt sowohl auf geplanten, gesellschaftsvertraglichen Vereinbarungen als auch auf spontanen Prozessen. Eine Konkretisierung gesellschaftsstruktureller Merkmale ließe sich aber den· noch über die Beschreibung beobachtbarer Entitäten wie Klassen, Ständen, Berufsgruppen oder sozialen Milieus erreichen. Was die Gesellschaftszugehörigkeit anbe-

2. Teil: Vom Weg in die Abstrakte Gesellschaft

106

langt, so kann eine direkte Annäherung nur noch über Kriterien wie z. B. die Staatsangehörigkeit oder die Sprache erfolgen. Im dritten Fall, der Abstrakten Gesellschaft, ist eine rein sinnesmäßige Wahrnehmung nicht mehr möglich. Gesellschaftliche Strukturen existieren zwar, aber sie können, da es sich um spontane Ordnungen handelt, vom Einzelnen nicht ohne weiteres erkannt werden. Die folgende, selbstverständlich vereinfachte Abbildung soll das Gesagte visualisieren.

GG



••• •••••



••• •••••



••• ••••• geplante Gesellschafts -ordnung

OG

1····1 [;;.; • ;.;.1 I ••• I

__ 1·····1 1.•••• 1 _Z-~

[;;;;H;;;;;]

L- !. .!. _I L-._~ !...I geplante und spontane Gesellschaftsordnung

AG

?

• • •• •• •• • •• • • •• • • • • spontane Gesellschaftsordnung

- - - - abnehmender Konkretheitsgrad - - _

Abbildung 3: Gesellschafts- und Ordnungstypen

Die Punkte stehen in der Abbildung für die Individuen, welche die kleinste soziale Einheit jeder Gesellschaft bilden. In Abhängigkeit vom jeweiligen Gesellschaftstyp kann ihr Platz in der Gesellschaft variieren. Dieser ist in der Geschlossenen Gesellschaft durch die zugrunde liegende totalitäre Idee determiniert. Der hierarchische Aufbau der Gesellschaft wird durch die Pyramidenform zum Ausdruck gebracht. In der Offenen Gesellschaft findet sich der Einzelne in bestimmten Schichten wieder, deren durchlässige Binnengrenzen durch gestrichelte Querlinien dargestellt sind,l60 wogegen in der Abstrakten Gesellschaft das Individuum nicht ohne weiteres eine geordnete Gesamtheit, der er angehört, er160 Die Verteilung der Individuen auf die verschiedenen Schichten innerhalb Offener Gesellschaften kann durchaus sehr unterschiedlich sein. Diesem Sachverhalt wurde dadurch Ausdruck verliehen, dass den Schichten in den drei abgebildeten Offenen Gesellschaften eine jeweils unterschiedliche Anzahl von Mitgliedern zugeordnet wurde.

4. Kap.: Das Modell der Abstrakten Gesellschaft

107

kennen kann. Eindeutige Binnen- wie Außengrenzen, deren Durchlässigkeitsgrad durch unterschiedliche Linienformen und -breiten repräsentiert ist, existieren für ihn nur in bestimmten Bereichen zur Offenen und in allen Bereichen zur Geschlossenen Gesellschaft. Der Übergang von offenen zu abstrakten gesellschaftlichen Verhältnissen ist offensichtlich ein gleichzeitig ablaufender Prozess des Auflösens traditioneller Binnengrenzen innerhalb Offener Gesellschaften und des Verschmelzens oder Verwischens von Außengrenzen zwischen verschiedenen Gesellschaften diesen Typs. Mit anderen Worten: Die Offenen Gesellschaften öffnen sich so weit, dass sie ihre Innen- und Außen strukturen verlieren und ineinander übergehen. In der Abstrakten Gesellschaft steht das Individuum infolgedessen vor dem Problem, dass es nicht mehr in oder mit einer Gesellschaft lebt, sondern diese ihm als etwas Fremdes gegenübersteht. Wie ist dieses Phänomen zu erklären? Zur Beantwortung dieser Frage ist die Integration des ahistorischen Modells der Individualisierung notwendig. Das Schema ,Freisetzung --t Stabilitätsverlust --t Reintegration' verdeutlicht die Problematik des Individuums sehr gut. Es hat sich auf Grund der Charakteristika einer Offenen Gesellschaft, die insbesondere einen Anstieg an individuellen Handlungsoptionen und materiellem Wohlstand mit sich bringen, aus deren traditionellen Binnenstrukturen und Bindungen gelöst. Dies hat zur Folge, dass die Innen- wie Außengrenzen der Offenen Gesellschaft zu erodieren beginnen. Das bedeutet nicht, dass alle alten Strukturen vollkommen verschwinden, sondern lediglich, dass der Einzelne sich ihnen nicht mehr zugehörig fühlt. Er hat sich aus ihnen gelöst, kann sie aber, obgleich sie ihm zunehmend fremd werden, noch wahrnehmen. Da der individualisierte Einzelne nur noch bruchstückhaft mit den traditionellen Gesellschaftsstrukturen verbunden ist, verliert er die von ihnen gelieferte Sicherheit und sieht sich auf sich allein gestellt. Seine Unsicherheit wird durch die auch von Popper angesprochene Entpersönlichung der zwischenmenschlichen Kontakte noch weiter verstärkt. Um die für ihn entstandene Sicherheitslücke zu schließen, sucht er nach neuen Möglichkeiten der sozialen Einbindung. Solche neuen Sozialstrukturen und Formen der Wiedereingliederung entstehen zwar, können aber in ihren Zusammenhängen nicht ohne weiteres erkannt werden. Bildlich gesprochen steht in einer Abstrakten Gesellschaft das Individuum bei seinem Reintegrationsbestreben zwischen den direkt wahrnehmbaren verbliebenen traditionellen Gesellschaftsstrukturen, aus denen es sich gerade gelöst hat, und den sich neu bildenden Gesellschaftsformen, die es allerdings (noch) nicht identifizieren kann. In Abhängigkeit von seiner individuellen Angepasstheit (die im nächsten Abschnitt systematisiert wird) an eine von Unsicherheit und hoher Komplexität geprägten Umwelt- und Gesellschaftssituation stehen dem Einzelnen vier grundsätzliche Optionen zur Reintegration oder Stabilisierung der eigenen Lebenslage zur Verfügung. Die erste Möglichkeit ist die Egozentrierung. Bei ihr verzichtet der Einzelne weitestgehend auf Gruppensolidarität und konzentriert sich in seiner Pro-

2. Teil: Vom Weg in die Abstrakte Gesellschaft

108

blembewältigung in Konkurrenz zu allen anderen nur auf sich. Als weitere Option, um Sicherheit zurückzugewinnen, kann sich das Individuum multikollektivieren. Das heißt, es kann sich gleichzeitig und / oder temporär mit anderen Individuen zu verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zusammenschließen. Die dritte und vierte Möglichkeit sind Formen der Monokollektivierung, nämlich zum einen zurück in die traditionellen Sozialstrukturen der Offenen Gesellschaft und zum anderen zurück in die der Geschlossenen zu gehen. Abbildung 4 fasst das Gesagte zusammen und gibt die Synthese aus Evolutionsund Individualisierungsmodell graphisch wieder.

D GG

• I I I I I

r-1 1

-I

1

L ___



OG

• I I I I I

I

.I

.........

: :... !... : ... ..... ........: ~ :. ....~.; -)

~

~.

........ .1'

• AG



?

Freisetzung - . Stabilitäts- ---. Reintegration verlust I I I

I 3.+4. I I I MonoI 2. I L__k~~~kE~~~~ __L________~~~k~~:k~~~~~~ ________ J

I I I

4

I. Ego-

zentrierung

Abbildung 4: Die Synthese von Evolutions- und Individualisierungsmodell

3. Das Modell der individuellen Angepasstheit

Nachdem die auf der Makroebene auftretenden Gesellschaftsformen, -strukturen und Veränderungsprozesse umrissen sind, erfolgt zur Herleitung der Interdependenz mit der Mikrodimension ein Perspektivenwechsel auf das Individuum. Zur Beschreibung der Ist-Situation des Einzelnen soll das Modell der individuellen Angepasstheit dienen. Dieses systematisiert, inwieweit Individuen an verschiedene Gesellschaftsstrukturen angepasst sind und mit ihnen zurechtkommen. Die Anpassung kann dabei in eine biologisch-organische und eine sozio-kulturelle Komponente differenziert werden. Was die Einteilung der Gesellschaftsstrukturen anbelangt, so ist es für den weiteren Gang der Untersuchung ausreichend, die Kategorien ,wenig komplex' und ,sehr komplex' zu unterscheiden. Abbildung 5 zeigt den prinzipiellen Aufbau des Modells.

4. Kap.: Das Modell der Abstrakten Gesellschaft

109

Gesellscbaftsstruktur wenig komplex

-

sehr komplex

biologiscborganisch

...-.;

'öl

...'"

1:1.

bll C

«

soziokulturell

Abbildung 5: Das Modell der individuellen Angepasstheit

Da jeder Mensch biologisch-organisch vordisponiert ist,161 muss in dem Modell immer mindestens eines der beiden oberen Felder besetzt sein. Auf Grund der extrem niedrigen Geschwindigkeit der biologischen Evolution 162 sowie der Tatsache, dass größere menschliche Sozietäten erst seit wenigen Jahrtausenden und technisierte Massengesellschaften noch keine 150 Jahre existieren und der Mensch 98% seiner gesamten Entwicklungszeit in kleinen, abgegrenzten Jäger- und Sammlerverbänden oder wenig komplexen Kleinstgesellschaften gelebt hat, kann davon ausgegangen werden, dass alle Individuen für ein Leben in einfachen sozialen 161 Nach Wuketits, Evolutionäre Erkenntnistheorie - Die neue Herausforderung, in: Lorenz/ders. (Hrsg.), Die Evolution des Denkens, 1983, S. 18 sind alle Lebewesen "mit bestimmten angeborenen Strukturen ausgestattet" und verfügen über "Dispositionen"; "Es gab eine Zeit, in der »Angeborensein« auf dem Index der verbotenen Begriffe stand . ... Die Entdeckung und Beschreibung angeborener Mechanismen ist ein durchaus empirisches Verfahren und ein integraler Teil moderner wissenschaftlicher Forschung.", Lenneberg, Biologische Grundlagen der Sprache, 2. Auf!. 1986, S. 479; für Popper; Wissenschaftslehre in entwicklungstheoretischer und logischer Sicht, in: ders., Alles Leben ist Problemlösen, 4. Auf!. 1995, S. 16 sind alle Organismen auf Regelmäßigkeiten eingestellt: "Sie erwanen Regelmäßigkeiten oder Gesetzmäßigkeiten in ihrer Umgebung, und die meisten dieser Erwartungen sind, vermute ich, genetisch bedingt, das heißt, angeboren"; an anderer Stelle geht ders., Objektive Erkenntnis, S. 72 noch weiter: "Ware eine Schätzung nicht absurd, so würde ich sagen, 99,9 Prozent des Wissens eines Organismus seien vererbt oder angeboren, und nur 0,1 Prozent bestünden in Veränderung des angeborenen Wissens; und ich glaube außerdem, daß die dazu nötige Anpassungsjähigkeit angeboren ist. "; auch Wickler / Seibt, Das Prinzip Eigennutz, 1981, S. 223 ff. vertreten die Auffassung, dass alle Lebewesen mit Erwartungen an Regelmäßigkeiten ausgestattet sind. 162 Siehe dazu auch 4. Kap. 11. 1.

2. Teil: Vom Weg in die Abstrakte Gesellschaft

110

Strukturen vordisponiert sind. 163 Das linke obere Feld ist also immer besetzt. Daneben wird angenommen, dass alle Menschen Erfahrungen mit relativ einfachen Gesellschaftsstrukturen haben und folglich eine entsprechende sozio-kulturelle Adaption gegeben ist. Der linke untere Quadrant ist somit ebenfalls immer ausgefüllt. Auf Grund dieser Annahmen lassen sich vier Typen von Individuen bestimmen.

[TI[TIGGJGGJ [TI GGJ [TI GGJ Typ 1

Typ 2

Typ 3

Typ 4

Abbildung 6: Die vier Grundtypen der individuellen Angepasstheit

Typ 1 ist biologisch-organisch primär auf einfache Gesellschaftsstrukturen ausgelegt und muss sich noch sozio-kulturell an sehr komplexe Verhältnisse anpassen. Typ 2 ist zwar biologisch-organisch primär auf wenig komplexe Gesellschaftsstrukturen ausgerichtet, hat aber bereits die sozio-kulturelle Adaption an sehr komplexe Situationen geschafft. 163 Der Mensch weist als "biologisches Erbe" auch "archaische Merkmale" auf, "die er als Anpassung in jener langen Zeit entwickelte, in der er als Jäger und Sammler in kleinen, abgegrenzten Verbänden lebte. Diese Lebensweise prägte uns", denn sie macht "etwa 98% unserer Geschichte" aus, vgl. Eibl-Eibesfeldt, Der Mensch - das riskierte Wesen, S. 10; ders., In der Falle des Kurzzeitdenkens, S. 13 an anderer Stelle: "All das, was als Dispositionen, Antrieb oder konkrete Verhaltensanweisung unser soziales Verhalten mitbestimmt, hat sich in jener Zeit entwickelt, in der unsere Vorfahren ... in Kleingesellschaften lebten, in denen jeder jeden kannte. In jener Zeitspanne, die 98% unserer Geschichte ausmacht, bildeten sich alle Anpassungen, die unsere Auseinandersetzungen mit der außerartlichen Umwelt ebenso wie unser soziales Miteinander in gewisser Weise gegen allzu große Modifikabilität ... absichern"; geht man in der Ahnengallerie des Menschen nicht nur bis zum archaischen Homo sapiens (ca. 200 000 Jahre), sondern bis zum Homo erectus (ca. 1,5 Mio Jahre) zuriick, so erhöht sich die oben genannte Zahl auf über 99,5%; "Biologisch ist der Mensch ... auf das Leben in Kleingruppen angelegt. Über mehrere Jahrmillionen haben die Hominiden ihr soziales Leben in Gruppen mit einer kleinen, überschaubaren Zahl von Mitgliedern sozusagen erprobt.", Wuketits, Verdammt zur Unmoral?, 1993, S. 236; zur Stammesgeschichte des Menschen siehe Feustel, Abstammungsgeschichte des Menschen, 6. Auf!. 1990, Henke I Rothe, Stammesgeschichte des Menschen, 1998, Hernnannl Ullrich, Menschwerdung, 1991, Johansonl Edey, Lucy. Die Anfänge der Menschheit, 1984, Johansonl Shreeve, Lucys Kind, 1990, Leakey/ R. Lewin, Der Ursprung des Menschen, 1993, R. Lewin, Spuren der Menschwerdung, 1992, Rothe, Die Stellung des Menschen im System der Primaten, 1990, Vogel, Evolution des Menschen, in: Siewing (Hrsg.), Evolution, 3. Auf!. 1987, S. 420 ff. und Ziegelmayer; Zur phylogenetischen Entwicklung des Menschen, in: Wilhelm (Hrsg.), Der Gang der Evolution, 1987, S.193ff.

4. Kap.: Das Modell der Abstrakten Gesellschaft

111

Typ 3 ist biologisch-organisch für beide Gesellschaftsstrukturen geeignet, hat sich jedoch noch nicht sozio-kulturell auf sehr vielschichtige Verhältnisse eingestellt. Typ 4 ist allumfassend biologisch-organisch vordisponiert und sozio-kulturell angepasst. Die verschiedenen Typen von Individuen lassen sich mittels unterschiedlicher Kriterien zu Gruppen zusammenfassen. Wählt man zur Kategorisierung das Merkmal ,sozio-kulturelle Angepasstheit an sehr komplexe Strukturen', so formieren die Typen 2 und 4 die Gruppe der bereits sozio-kulturell ,Angepassten' und die Typen I und 3 bilden die (noch) ,Nicht-Angepassten'. Differenziert man nach der ,biologisch-organischen Vordisposition " so erhält man wiederum zwei Gruppen. Typ 1 und 2 sind primär auf einfache und Typ 3 und 4 auf beide Gesellschaftsstrukturen ausgelegt. Wichtig ist, sich zu vergegenwärtigen, dass ex ante keine Aussage über den Einfluss eines bestimmten Individuentyps oder einer der oben genannten Gruppen auf die Gesellschaftsstruktur gemacht werden kann. Dieser kann nur aus der Anzahl der Individuen pro Typenklasse, deren Handlungen und den daraus resultierenden intendierten und nicht beabsichtigten Folgen, welche noch genauer zu untersuchen sind, hergeleitet werden.

4. Das Lernkurvenmodell

Aus dem vorherigen Modell wird deutlich, dass für die Wahl der Reintegrationsform im Speziellen und für das menschliche Sozialverhalten im Allgemeinen sowohl die individuelle biologisch-organische Disposition als auch die Fähigkeit zur sozio-kulturellen Anpassung eine entscheidende Rolle spielt. Somit stellt sich die zentrale Frage, wie letztere als Modell dargestellt werden kann. Interpretiert man die Diskrepanz zwischen der Angepasstheit des Einzelnen und den Anforderungen an ihn, welche sich aus seiner gesellschaftlichen Umwelt ergeben, als Problemsituation, die er zu lösen hat, so kann sozio-kulturelle Adaption als Problemlösungsprozess beschrieben werden. Problemlösungsprozesse sind ihrerseits isomorph mit Erkenntnis- und somit Wissensgewinnungs-, also Lernprozessen. Popper formuliert in diesem Kontext die nach seiner eigenen Auffassung grundlegende These: "Alles erworbene Wissen, alles Lernen besteht in der Veränderung (möglicherweise Verwerfung) irgendeines Wissens oder einer Disposition, die schon vorhanden waren; und letzten Endes in der Veränderung angeborener Dispositionen" 164 Es gilt nun die Determinanten und den Verlauf solcher Prozesse näher zu untersuchen und theoretisch abzubilden. Zu diesem Zweck müssen zuerst verschiedene, grundlegende Arten von Wissen systematisiert werden: 165 1. Beobachtungswissen, Popper, Objektive Erkenntnis, S. 72. Engel, Wissen, in: Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie O-Z, 1999, S. 1759 wählt eine ähnliche Differenzierung, indem er Wissen in gegenständliches Wissen (know164

165

112

2. Teil: Vom Weg in die Abstrakte Gesellschaft

also reine Reproduktion von Wahrnehmungen. 2. Ursache/Wirkungs-Wissen, welches Beobachtungswissen verbunden mit einem gewissen Kausalitätsverständnis ist. 3. Gesetzmäßigkeitswissen, das allgemeines theoretisches Wissen repräsentiert. 4. Kognitives Wissen, welches in bestimmten ausführenden Fähigkeiten oder im Do-How seinen Ausdruck findet. Das Beispiel ,Erlernen von Klavierspielen ' soll die getroffene Differenzierung anschaulicher machen. Welche Wege stünden einem Lemwilligen offen? Er könnte den Versuch unternehmen, Klavierspielen mit Hilfe des Aufbaus von Beobachtungswissen, d. h. mittels Zuhören und Zusehen eines anderen Pianisten, zu erlernen. Diese Vorgehensweise erscheint allerdings nicht sehr aussichtsreich. Statt dessen könnte er sich auch auf die Suche nach Ursache/Wirkungs-Zusammenhängen machen, z. B. dass durch das Anschlagen einer bestimmten Taste ein jeweils spezifischer Ton entsteht. Schließlich bestünde für ihn noch die Option, sich Gesetzmäßigkeitswissen, wie die physikalischen Gesetze der Schwingungslehre oder die der Notenlehre, anzueignen. Es ist jedoch nicht schwer nachzuvollziehen, dass er dabei immer relativ schnell an die Grenze des Möglichen stoßen würde. Dies rührt daher, dass dem Aspekt des Tuns, also dem Vorgang des Spielens selbst, eine eigene, zentrale Bedeutung zukommt. In ihm ist gleichzeitig kognitives und implizites Wissen enthalten. Hier eröffnet sich eine weitere Kategorisierungsmöglichkeit, denn implizites Wissen unterscheidet sich von explizitem dadurch, dass es nicht artikulierbar ist. Auf die Frage zum Beispiel, warum ein bestimmter Pianist so virtuos spielt, kann dieser in der Regel selbst keine Antwort geben. Fähigkeitenwissen ist oftmals weder explizierbar, noch ohne weiteres interpersonell transferierbar. Vor dem eingangs beschriebenen Hintergrund, dass unter Problemlösungswissen eine Form von zweckorientiertem Wissen verstanden werden soll, welches dem Individuum ermöglicht, vorhandene Lücken aktiv oder reaktiv zu schließen, wird jetzt ein evolutionäres Modell entwickelt, das die verschiedenen Determinanten von Lernprozessen deutlich macht. Dabei wird auf den ursprünglich aus der Betriebswirtschaftslehre stammenden Begriff des Vorbereitungs grades zurückgegriffen. 166 Abstrahiert man diesen, so kann er als das in einer Problemsituation vorledge of), propositionales Wissen (knowledge that) und Fähigkeitenwissen (knowledge how) einteilt. Eine ausführliche Übersicht über weitere Möglichkeiten der Kategorisierung von Wissen findet sich bei Mittelstraß, Wissen, in: ders. (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie 4, 1996, S. 717 ff.; siehe zudem Regenbogen/V. Meyer (Hrsg.), Wörterbuch der philosophischen Begriffe, 1998, S. 736 f. 166 Ellinger, Industrielle Wechselproduktion, 1985, S 16 f. versteht unter dem Begriff "der Vorbereitung ... alle Maßnahmen zur Vorbereitung von Produktionsprozessen. Die »Einrichtung«, d. h. die Einstellung eines Ausgangszustandes, der physikalisch oder chemisch meßbar ist, stellt dabei nur eine Erscheinungsform der >>Vorbereitung« dar."; da die Vorbereitung des Produktionsprozesses unterschiedlicher Ausprägung sein kann, kennzeichnet der "Vorbereitungsgrad . .. materielle und immaterielle Vorbereitungen in bestimmter Höhe"; der Begriff des Vorbereitungsgrades greift dabei weit über den der Einrichtung hinaus und erfasst auch "die letzten Veräste1ungen der Vorbereitung, die ihren Schwerpunkt im immaterielllen Bereich haben".

4. Kap.: Das Modell der Abstrakten Gesellschaft

113

handene Wissen eines Individuums interpretiert werden und ist damit außerordentlich gut als Grundlage für die Darstellung der Struktur von Lernprozessen 167 geeignet. Für eine genauere Analyse von Problemlösungs- und damit Lernprozessen ist eine Differenzierung des individuellen Wissens nach den Kriterien ,Vorhandensein' und ,Wirkungsbereich' notwendig. Aus dem Kriterium ,Vorhandensein' folgt die Zweiteilung in ,Basiswissen' (BW), über das ein Individuum zu einem bestimmten Zeitpunkt bereits verfügt, und ,Zusatzwissen ' (ZW) , welches es noch aufbauen muss, um das auftretende Problem lösen zu können, da das vorhandene ,Basiswissen ' hierfür nicht ausreicht. 168 Aus der Unterteilung des Wissens nach dem Merkmal ,Wirkungsbereich' ergibt sich ein zweites Know-How-Paar. Auf der einen Seite ,Allgemeines Wissen' (AW), welches multifunktional ist und sich daher ohne besondere Modifikation für die Lösung vieler unterschiedlicher Probleme eignet, und auf der anderen Seite ,Spezielles Wissen' (SW), welches monofunktional und somit ausschließlich auf die Lösung eines oder ganz bestimmter Probleme ausgerichtet iSt. 169 Beobachtungswissen und Ursache / Wirkungs-Wissen sind dabei tendenziell dem ,Speziellen Wissen' zuzuordnen, Gesetzmäßigkeitswissen dem ,Allgemeinen Wissen' und kognitives Wissen kann Bestandteil beider Bereiche sein. Verknüpft man die beiden oben beschriebenen Kategorisierungsmöglichkeiten, so erkennt man, dass ,Basiswissen ' und ,Zusatzwissen ' jeweils aus einer individuellen Kombination von ,Allgemeinem Wissen' und ,Speziellem Wissen' bestehen. Aus diesem Sachverhalt und den anderen bereits angesprochenen Elementen des Modells lassen sich Bestimmungsfaktoren für den Verlauf von Lern- und somit Anpassungsprozessen ableiten. 1. Die Höhe des vorhandenen ,Basiswissens', auf dem aufbauend der Lernprozess vollzogen wird. Je höher das ,Basiswissen ' ist, desto kürzer ist bei gleicher Struktur des Basiswissens und gleicher Lerngeschwindigkeit der Lernprozess. Abbildung 7 visualisiert diesen Zusammenhang.

167 Zur Darstellung von Lernprozessen in den Wirtschaftswissenschaften unter Rückgriff auf Ellinger siehe auch Strubl, Systemgestaltungsprinzipien, 1993, S. 205 ff. 168 Bei der Analyse von Fertigungsprozessen ist für Ellinger, Industrielle Wechselproduktion, S. 18 die Frage, "ob ein Produktwechsel mit einem vorhandenen Vorbereitungsgrad, also einem Basisvorbereitungsgrad, bewältigt werden kann", von besonderer Bedeutung; "In der Regel gelingt dies nicht" und "es muß vielmehr auf dem vorhandenen ein zusätzlicher Vorbereitungsgrad aufgebaut werden". 169 Ellinger, Industrielle Wechselproduktion, S. 18 differenziert für die Produktion wie folgt: "Ein allgemeiner Vorbereitungsgrad ist ohne besondere Umstellung für die Durchführung der verschiedensten Arbeiten geeignet. ... Dagegen ist ein spezieller Vorbereitungsgrad ausschließlich auf die Fertigung einer einzigen Produktart oder die Ausführung einer einzigen Funktion ausgerichtet". 8 Tiefel

114

2. Teil: Vom Weg in die Abstrakte Gesellschaft

I I

ZW

BW

I I I

I I I

I I

I I I

H I

Zeit

Abbildung 7: Die Höhe des Basiswissens und der Verlauf von Lernprozessen

2. Die Art des vorhandenen ,Basiswissen " d. h. in welchem Verhältnis der Anteil des ,Allgemeinen' zum ,Speziellen Wissen' steht. Je mehr ,Allgemeines Wissen' im ,Basiswissen ' eines Individuums enthalten ist, desto kürzer ist bei gleicher Höhe des ,Basiswissens ' und gleicher Lerngeschwindigeit der Lernprozess. Das bedeutet, dass bei aufeinander folgenden Problemlösungsprozessen das ,Zusätzliche Wissen', welches jeweils aufgebaut werden muss, möglichst allgemeiner Natur sein sollte. Nur solches Wissen kann wiederverwendet werden. Betrachtet man Abbildung 8, wird dies deutlich. In dieser wird davon ausgegangen, dass am Anfang der Betrachtung das ,Basiswissen' (BWI) in beiden Fällen rein aus ,Allgemeinem Wissen' (AWO) besteht. Zur Lösung des ersten Problems wird im Fall A ein großer Teil ,Spezielles' (SWI) und lediglich ein kleiner Teil ,Allgemeines' (AWI) Wissen aufgebaut. Im Fall B ist es genau umgekehrt. Dies hat zur Folge, dass die Wissensbasis zu Beginn der Lösung des zweiten Problems deutlich differiert. Zwar hat sich in beiden Fällen das ,Basiswissen ' erhöht, jedoch in unterschiedlicher Art und Weise. Im Fall B besteht das neue Gesamtwissen (AWO+AWI+SWI) nun aus einem großen Teil ,Allgemeinem Wissen' (AW2=AWO+AWI) und einem kleinen Teil ,Speziellen Wissen' (SWI). Im Fall A ist die Situation genau umgekehrt. Da für den Problemlösungsprozess 2 nur auf ,Allgemeines Wissen' zurückgegriffen werden kann, ist das relevante ,Basiswissen' (BW2 = AW2) im Fall B höher als im Fall A, was sich wiederum in einem kürzeren Folgelernprozess niederschlägt. 3. Die Lemgeschwindigkeit des Individuums, in der es das notwendige ,Zusätzliche Wissen' gewinnen kann. Diese hängt von der biologisch-organischen Disposition ab, kann aber auch selbst Gegenstand eines Lernprozesses sein. Je höher die Lerngeschwindigkeit (LG) bei gleicher Struktur und gleichem Niveau des ,Basiswissens ' ist, desto schneller wird das notwendige ,Zusätzliche Wissen' aufgebaut. In Abbildung 9 repräsentiert LG I die höchste, LG2 die mittlere und LG3 die nied-

115

4. Kap.: Das Modell der Abstrakten Gesellschaft

Fall A: ZWI ist primär SW -+ kann nicbt wiederverwendet werden

AW2~

AWO+AWI

BW2

Zeit Fall B: ZWI ist primär AW -+ kann wiederverwendet werden Problemlösun

AW2~

AWO+AWI

BW2

!4----1

I I I I

Zeit

Abbildung 8: Die Struktur des Basiswissens und der Verlauf von Lernprozessen

rigste von drei Lerngeschwindigkeiten. Die Lernkurven müssen nicht linear sein, sondern können auch progressiv oder degressiv verlaufen.

BW Zeit

Abbildung 9: Die Lerngeschwindigkeit und der Verlauf von Lernprozessen 8*

116

2. Teil: Vorn Weg in die Abstrakte Gesellschaft

4. Die Verblassungsrate des Wissens, d. h. wie schnell und inwieweit erworbene Wissenskomponenten wieder verloren gehen. Mit der Berücksichtigung dieses Faktors wird der Tatsache des Vergessens und Entlernens Rechnung getragen. Dabei kann die ,Verblassungsrate des Allgemeinen Wissens' (VRAW) durchaus unterschiedlich zu der des ,Speziellen Wissens' (VRSW) sein. Dieser Sachverhalt ist durch den unterschiedlichen Verlauf der Graphen in Abbildung 10 visualisiert.

SW2

AW2 Zeit

Abbildung 10: Die Verblassungsrate des Wissens

Schließt man den Kreis zu den bereits erläuterten Modellen, so stellt sich die Frage, welche Schlussfolgerungen sich in Bezug auf die Entwicklungsmöglichkeiten der individuellen Angepasstheit aus den eruierten Determinanten vor dem Hintergrund des Übergangs von einfachen zu hochkomplexen Gesellschaftsstrukturen ziehen lassen. Wie kann ein Individuum seine Lernprozesse gestalten, um schnell neue Probleme lösen zu können und damit möglichst anpassungsfahig zu sein? Und zwar sowohl in quantitativer (d. h. bezogen auf die Anzahl der unterschiedlichen Probleme) als auch in qualitativer Hinsicht (d. h. in Hinblick auf den Inhalt der verschiedenen Probleme). Den ersten Stellhebel bildet der individuelle Bestand an ,Basiswissen " welcher möglichst hoch sein sollte. Schon auf Grund der Tatsache der Existenz einer Verblassungsrate des Know-Hows ist der Einzelne, unabhängig von der Struktur seines Wissens, daher zum permanenten Lernen gezwungen. Unabhängig davon bietet aber neben dem Aufbau von Wissen dessen Erhalt, also die Minimierung der Verblassungsrate, einen zweiten Ansatzpunkt. Was die Struktur des Wissens anbelangt, so ist es in Hinblick auf die Notwendigkeit des permanenten Lösens von Problemen in und mit einem komplexen Gesellschaftsumfeld vorteilhaft, einen möglichst hohen Anteil an allgemeinem, universell einsetzbarem Wissen aufzubauen. Nicht ein symptomisches, punktuelles, sondern ein ursächliches und gesetzesmäßiges Verständnis der sozialen Realität ist somit der dritte Hebel. Obgleich biologisch-organisch vordisponiert, bildet die dennoch individuell entwickelbare

4. Kap.: Das Modell der Abstrakten Gesellschaft

117

Lerngeschwindigkeit den vierten Parameter. Gestaltungsoption fünf liegt im Handeln des Einzelnen, denn nur dadurch kann er die anderen Wissensarten zur Entfaltung bringen und gleichzeitig kognitive Fähigkeiten aufbauen. Zudem ist es Grundvoraussetzung für die Prüfung des ,Allgemeinen Wissens'.

5. Die Modifikation des Modells des situationsgerechten Handelns

Um zeigen zu können, an welchen Stellen die im dritten Kapitel dieser Arbeit dargestellte Situationsanalyse Poppers ergänzt oder modifiziert werden muss, bedarf es der systematischen Neuentwicklung eines Modells des situationsgerechten HandeIns. Ausgangspunkt ist hierbei die Unterscheidung zwischen der objektiv gegebenen Situation und der (Problem-)Situation, wie sie der Einzelne sieht. Ein Individuum kann nie über gesichertes Wissen oder vollständige Information verfügen, sondern hat immer lediglich die Möglichkeit, einen Teil der gesamten sozialen Realität zu erkennen. Bezogen auf die Gesellschaft, welche den Rahmen seiner Handlungen bildet, bedeutet dies, dass der Einzelne zwar annähernd die raum-zeitlichen Gegebenheiten, in denen er sich befindet, erfassen kann, jedoch die weiteren gesellschafts strukturellen Elemente nur bedingt kennt. Sein Wissen bezüglich der anderen Individuen, deren Handlungen und Interaktionsbeziehungen sowie der existierenden Institutionen ist also stets unvollständig. Neben diesem limitationalen Aspekt muss in Erinnerung gerufen werden, dass der Mensch sowohl Teil der biologischen als auch der sozio-kulturellen Evolution ist. Ersteres findet seine Abbildung in den spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen und dem genetisch verankerten Wissen eines jeden Einzelnen, das zweite schlägt sich in seinem individuellen Zielsystem und seinem Bestand an erlerntem Wissen nieder. Hier wird eine erste Verknüpfung mit dem Modell der individuellen Angepasstheit deutlich: Der von einem Individuum wahrgenommenen Gesellschaftsstruktur stehen sein in sozio-kulturellen Lernprozessen aufgebautes Wissen, sein Zielsystem und seine biologisch-organische Konstitution gegenüber. In den weiteren Überlegungen soll nach wie vor von der grundsätzlichen Rationalität des menschlichen HandeIns ausgegangen werden. Das bedeutet, dass die Aktionen eines Individuums nicht willkürlich, sondern zielgerichtet und zieloptimierend sind. Für Popper ist die Entscheidung über eine Handlung dabei immer rational, solange sie der Logik der Situation entspricht. Die Befolgung einer rationalen Se1ektionsrege1 ist für ihn keine Frage eines spezifischen Kennzeichens der menschlichen Natur, sondern ist in seiner Modellkonstruktion der Situationsanalyse immanent angelegt. Mit anderen Worten ist für ihn jede menschliche Handlung rational, die situationslogisch rekonstruiert werden kann. Genau hier liegt eine Quelle für mögliche Missverständnisse, die nicht zuletzt auf der von Popper gewählten Terminologie beruhen. Eine Handlung ist eben nicht automatisch im umgangssprachlichen Sinne rational, sobald sie rational rekonstruiert werden kann.

118

2. Teil: Vom Weg in die Abstrakte Gesellschaft

Eine Präzisierung des Begriffs ,rational' soll für mehr Klarheit sorgen. Da der Mensch auch biologische Merkmale aufweist, die dazu führen, dass er in bestimmten Situationen nicht abwägt,170 handelt er nicht ausschließlich auf geplant-rationaler Basis. Das heißt, er analysiert nicht in allen Fällen genau die für ihn gegebenen gesellschafts strukturellen Rahmenbedingungen und wägt auch nicht immer die verschiedenen ihm zur Verfügung stehenden Handlungsoptionen vor dem Hintergrund seines gesamten Wissens und seines Zielsystems ab, sondern er agiert und reagiert zudem dispositiv. Die letztgenannten Verhaltensweisen sind um so ausgeprägter, je höher der Problemlösungsdruck ist, unter dem das Individuum steht.!7! Hier kann die zweite Brücke zum Modell der individuellen Angepasstheit geschlagen werden, denn dieser Druck kann wiederum auf mangelnde individuelle Adaption zurückgeführt werden. Zur eigenen Entlastung greift das Individuum in Situationen der fehlenden Anpassung (vor allem in Verbindung mit Zeitknappheit) auf genetisch vordisponierte Problemlösungspotentiale zurück l72 und handelt somit funktional-rational. 173 Das bedeutet jedoch nicht, dass die durch den Rückgriff induzierten Handlungen wirklich zielgerichtet sind und automatisch zu einer erfolgreichen Problemlösung führen.!74 Dies gilt vor allem für den Fall, dass eine gegenwärtige Problemsituation stark von der Umweltsituation abweicht, in der ein erfolgreiches Problemlösungspotential durch die Evolution selektiert und genetisch verankert wurde. Der Unterschied zwischen den sozialen und natürlichen Bedingungen, mit welchen sich der Mensch über hunderttausende von Jahren in Kleingruppen von Jägern und Sammlern konfrontiert sah und welchen er sich in den Zu den wichtigsten verhaltensbeeinflussenden Dispositionen siehe 4. Kap. 11. 1. Das Auftreten von "Denkblockaden" wird nach Veste" Denken, Lernen, Vergessen, 26. Aufl. 1999, S. 94, 97 durch Stressmechanismen hervorgerufen und muss "im Sinne der Selbsterhaltung verstanden werden". 172 Eibl-Eibesfeldt, Der Mensch - das riskierte Wesen, S. 131 führt aus, dass "Angeborenes ... zur Entlastung und Absicherung" in überlebensgefährdenden Situationen dient. Der Mensch verfügt zu diesem Zweck über ein "System angeborener Entscheidungshilfen" und "Hypothesen", vgl. Riedl, Die Spaltung des Weltbildes, 1985, S. 62, 56 ff. Das Alt- oder Stammhirn, welcher der älteste Teil des menschlichen Gehirns ist und schon bei Reptilien vorhanden war, "enthält die vererbten, in Nervenzellenschaltungen fixierten Verhaltensprograrnme", die zwar teilweise "durch übergeordnete Zentren der Großhirnrinde kontrolliert, ... aber nicht unterdriickt oder wegtrainiert werden" können, vgl. Kuli, Evolution des Menschen, S. 94 f. Neueste Ergebnisse der Hirnforschng von international renommierten Vertretern der Neurowissenschaften, Biochemie, Paläontologie und Psychologie finden sich bei Meier/ Ploog (Hrsg.), Der Mensch und sein Gehirn, 1997. Eine gute, für Leser aller wissenschaftlichen Disziplinen geeignete Übersicht über den Stand der Himforschung liefert Eccles, Das Gehirn des Menschen, 6. Aufl. 1990. 173 Die Frage, wie genau Individuen versuchen, Be- oder Überlastung beim Erarbeiten von Problemlösungen zu bewältigen, ist bisher kaum systematsisch untersucht worden. Eine Sichtung der Literatur sowie eine theoretische und empirische Studie findet sich bei Klaue" Belastung und Entlastung beim Problernlösen, 1993. 174 Nach Eibl-Eibesfeldt, Der vorprogrammierte Mensch, S. 68 haben "Verhaltensforscher wiederholt und ausdriicklich betont, daß nicht jede stammesgeschichtliche Anpassung in der heutige Zeit adaptiv ist". 170

l71

4. Kap.: Das Modell der Abstrakten Gesellschaft

Objektiv gegebene Situation

....................................................................................... (problem-)Situation, wie sie das Individuum sieht

!

sozio-kulturell Ziele erlerntes Wissen

.

. .

, ......... ,

Individuum

.

Gesellschaftsstruktur andere Individuen Interaktionsbeziehungen Institutionen raum-zeitliche Gegebenheiten

.................................

.

biolog.-organisch Persönlichkeitsmerkmale genetisch verankertes Wissen

=:co

=-~ ...,=S' =~ 0:

.

.

....=

Grundsätzliche Rationalität des menschlichen Handeins Zielgerichtetheit Zieloptimierung

. .

i. Handlungsbasis Abwägende Selektion aus den Handlungsoptionen unter Rückgriff auf das gesamte vorhandene Wissen

dispositiv programmiert

geplant rational

funktional rational

Rückgriff auf genetisch verankertes Wissen

.

1:1

> 1:1

""~., r;'"

..................................., ! \

.......

.

.

Handlung

Handlungsfolgen

Abbildung 11: Das modifizierte Modell des situationsgerechten Handelns

119

120

2. Teil: Vom Weg in die Abstrakte Gesellschaft

heutigen hoch technisierten Massengesellschaften ausgesetzt sieht, ist in diesem Kontext offensichtlich. 175 Obwohl individuelle Dispositionen sicherlich auch Handlungen auf geplant-rationaler Basis mitbeeinflussen, soll in der folgenden graphischen Zusammenfassung aus analytischen Gründen von zwei ,reinen' Handlungsgrundlagen ausgegangen werden. Würde man die getroffene Differenzierung ausklammern oder wegmodellieren, so könnten die daraus resultierenden unterschiedlichen Auswirkungen auf die Gesellschaftsstruktur weder nachvollzogen noch erklärt werden. Hierzu folgen später genauere Ausführungen. Zuerst soll das bisher Gesagte auf die Situation, mit der sich die vier vorher eruierten Individuentypen in der Abstrakten Gesellschaft konfrontiert sehen, angewandt werden. Diese ist durch ein Herauslösen des Einzelnen aus traditionellen Bindungen, eine damit verbundene Erosion von historischen Gesellschaftsstrukturen, einen Identifikationsverlust mit den verbliebenen Reststrukturen, eine deutlich gestiegene Gesamtkomplexität, einen individuentypenspezifischen Sicherheitsverlust sowie die Notwendigkeit der individuellen Reintegration gekennzeichnet. Betrachtet man vor diesem Hintergrund zuerst die Individuentypen 3 und 4, welche bereits dispositiv auf die neue Gesellschaftssituation eingestellt sind, so repräsentieren sie innerhalb des Modells der individuellen Angepasstheit 50 Prozent der Gesamttypenzahl. Da das Modell jedoch nur eine systematische Darstellung aller nicht ausgeschlossenen Kombinationen zwischen individueller Angepasstheit und potenziellen Gesellschaftsstrukturen liefert, ist der genannte Anteil lediglich ein Spiegelbild des Möglichkeitsraums, nicht aber der realen Verteilung. Infolge der bereits angesprochenen äußerst niedrigen biologischen Evolutionsgeschwindigkeit und der langen Entwicklungszeit des Menschen in wenig komplexen Kleingesellschaften kann davon ausgegangen werden, dass der Prozentsatz der bereits von Natur aus an hochkomplexe Gesellschaftsstrukturen angepassten Menschen in Wirklichkeit extrem klein ist. Neben der geringen zahlenmäßigen Stärke kann ein niedriger individueller Problemlösungsdruck als weiteres gemeinsames Merkmal konstatiert werden. Ihre Handlungen sind daher primär geplant-rational. Aber selbst wenn sie funktional-rational sind, erfolgen sie unter Rückgriff auf adäquate Problemlösungspotentiale. Dies rührt daher, dass die Individuen sowohl über dispositive Problemlösungspotentiale für hochkomplexe als auch über solche für wenig komplexe Gesellschaftsstrukturen verfügen. Der Überlebenstrieb tritt in den Hintergrund und das Dominanzstreben wird durch die Prosozialität egalisiert. Dies wirkt sich auf ihr Ziel system und somit die gewünschte Form der Reintegration 175 Dazu Eibl-Eibesfeldt, Der Mensch - das riskierte Wesen, S. 10: "Der Mensch der technisch zivilisierten Gesellschaft sieht sich mit Anpassungsschwierigkeiten konfrontiert, die sich aus der Tatsache ergeben, daß er als biologisches Erbe auch archaische Merkmale aufweist, die er als Anpassung in jener langen Zeit entwickelte, in der er als Jäger und Sammler in kleinen, abgegrenzten Verbänden lebte. Diese Lebensweise prägte uns .... Wir haben zwar eine enorme kulturelle Entwicklung durchgemacht, aber in unseren Emotionen, Antrieben und Denkweisen blieben wir die alten".

4. Kap.: Das Modell der Abstrakten Gesellschaft

121

aus. Mit der Multikollektivierung haben sie den Fokus ihrer Handlungsorientierung auf einer neuen Form der Vergesellschaftung und können sich aber auch in monokollektive alte Gesellschaftsformen reintegrieren. Menschen des Typs 2 sind zwar nicht genetisch für die neuen, komplexen gesellschaftsstrukturellen Gegebenheiten vordisponiert, haben sich allerdings bereits über Lernprozesse sozio-kulturell angepasst. Der Problemlösungsdruck, dem sie ausgesetzt sind, ist auf Grund der erfolgten Adaption nicht mehr sehr hoch, was wiederum geplant-rationale Handlungen begünstigt. Im Vordergrund ihres Zielsystems steht der Ausgleich des im Zuge der Individualisierung erfahrenen Sicherheitsverlustes. Längerfristig bieten sich dazu die Optionen multi- oder monokollektive Reintegration an. Obgleich seine Anlage zur Geselligkeit seinen Dominanzdrang dämpft, sieht der Einzelne, wenn er die neuen langfristigen Möglichkeiten der gesellschaftlichen Wiedereingliederung noch nicht erkennt, zuerst nur die eigene Person. Sein kurzfristiges Primärziel ist in diesem Fall soziales und ökonomisches Überleben mittels Egozentrierung. Er tritt dabei in Konkurrenz mit allen anderen Individuen und muss sich im Wettbewerb um begrenzte Ressourcen durchsetzen. Er kann dabei insbesondere seine Vorteile gegenüber Individuen des Typs 1 nutzen. Diese sind biologisch-organisch auf einfach strukturierte Gesellschaftsverhältnisse eingestellt und haben sich noch nicht sozio-kulturell an die neuen komplexen Rahmenbedingungen angepasst. Sie finden sich inmitten einer für sie schwierigen Umwelt ohne Sicherheit in Konkurrenz mit den bereits an die neue Situation Angepassten wieder und sind daher einem äußerst hohen Problemlösungsdruck ausgesetzt. Ohne kurzfristig erkennbare Reintegrationsmöglichkeiten sind sie anfänglich auf sich allein gestellt und reagieren mit Egozentrierung. Sie neigen dabei zu funktional-rational basierten Handlungen, die vom Überlebenstrieb geprägt sind. Die Folge sind primär auf das Ziel des ökonomischen und sozialen Überlebens ausgerichtete Aktivitäten. Falls sie mitte1- bis längerfristig nicht in der Lage sind, sich über Lernprozesse an die neue Situation anzupassen, bleibt ihnen nur die Option, den Weg der Monokollektivierung einzuschlagen.

6. Die Auswirkungen auf das Modell der spontanen Ordnungen

Welche Implikationen ergeben sich aus der Modifikation des Modells des situationsgerechten Handeins für die v. hayeksche Theorie der spontanen Ordnungen? Zur Klärung dieser Frage ist es notwendig, sich nochmals genau den Inhalt des Begriffs der spontanen Ordnung zu vergegenwärtigen. In negativer Abgrenzung zu natürlichen und geplanten Ordnungen versteht v. Hayek darunter "alle jene ungeplanten Ordnungen (pattern) und Regelmäßigkeiten ... , deren Existenz wir im menschlichen Zusammenleben feststellen,,176 können. Das bedeutet, dass alle Ord176

S.98.

v. Hayek, Die Ergebnisse menschlichen Handeins, aber nicht menschlichen Entwurfs,

2. Teil: Vom Weg in die Abstrakte Gesellschaft

122

nungen, die nicht vollkommen unabhängig von menschlichem Entwurf und Handeln sind und die auch nicht auf menschlicher Planung basieren, als spontan klassifiziert werden. I ?? Da v. Hayek in seinem Modell implizit rationales mit geplantem Handeln gleichsetzt, können für ihn spontane Ordnungen nur aus den nicht intendierten Folgen von absichtsvollen Handlungen resultieren. Betrachtet man die folgende Abbildung, welche die unterschiedlichen Handlungsgrundlagen aus dem modifizierten Modell des situations gerechten Handeins berücksichtigt, so ist zu erkennen, dass die v. hayeksche Theorie nur die beiden oberen Segmente I und 11 abbildet.

Handlungsfolgen intendiert

.~

'"

geplantrational

nicht intendiert

I

II

geplante Ordnungen

spontane Ordnungen

'"

.,CI

'" = = ::a = ~

:='"

III funktionalrational

spontane Ordnungen

Abbildung 12: Das modifizierte Modell der geplanten und spontanen Ordnungen

Dieser Sachverhalt kann in dem neuen Modell wie folgt nachvollzogen werden. Möchte ein Individuum einen bestimmten Soll-Zustand erreichen, so wählt es auf geplant-rationaler Basis spezifische Handlungsoptionen aus, welche diesen herbeiführen sollen. Tritt der Soll-Zustand als intendierte Folge der absichtsvollen Handlungen ein, dann entsteht eine geplante Ordnung (Segment I). Daneben oder stattdessen können die gewählten Aktivitäten aber auch nicht intendierte Konsequenzen nach sich ziehen. Diese strukturieren sich unter bestimmten Bedingungen zu spontanen Ordnungen (Segment 11). Für v. Hayek ist hierbei "die Bildung spontaner Ordnungen das Ergebnis davon ... , daß ihre Elemente in ihren Reaktionen auf ihre unmittelbare Umgebung bestimmten Regeln fOlgen,,178. Diese Regeln müssen 177 Vgl. v. Hayek, Die Ergebnisse menschlichen Handeins, aber nicht menschlichen Entwurfs, S. 98. 178 v. Hayek, Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1, S. 65.

4. Kap.: Das Modell der Abstrakten Gesellschaft

123

negativer, allgemeingültiger und abstrakter Natur sein, wobei es nicht notwendig ist, dass sie in artikulierter oder verbalisierter Form vorliegen. 179 Es ist sogar noch nicht einmal erforderlich, dass sie dem Handelnden bewusst oder bekannt sind; entscheidend ist allein die tatsächliche individuelle Befolgung. 18o Neben der oben beschriebenen Quelle spontaner Ordnungen gibt es noch eine zweite, die v. Hayek zwar nicht nennt oder kennt, die aber in Übereinstimmung mit seiner Definition möglich ist. Um sie zu deduzieren, muss man allerdings der Annahme zustimmen, dass menschliches Handeln nicht ausschließlich geplant-rational, sondern auch funktional-rational basiert sein kann. Wirft man einen Blick auf das dritte Segment, so erfolgen in diesem Fall die Aktivitäten des Einzelnen auf dispositiver oder programmierter Grundlage und nicht auf Basis von Planung. Das erste Kriterium für die Entstehung spontaner Ordnungen ist also erfüllt. Eine Differenzierung der Handlungsfolgen in beabsichtigt oder unbeabsichtigt ist auf Grund der fehlenden Planung weder möglich noch sinnvoll. Allerdings impliziert das Vorliegen von menschlichen Handlungen und deren Folgen, dass es sich bei den daraus möglicherweise entstehenden Ordnungen nicht um natürliche handelt somit trifft auch das zweite Kriterium zu. Damit aus den Konsequenzen menschlicher Handlungen spontane Ordnungen entstehen können, bedarf es aber drittens der Befolgung spezifischer Regeln durch den Einzelnen. Agiert dieser dispositiv, so erfolgen seine Handlungen primär auf der Grundlage seines Überlebenstriebs sowie seiner Anlagen zur Aggression und zur Prosozialität. Welche Gemeinsamkeiten weisen diese Dispositionen aus der hier gewählten Untersuchungsperspektive aus? Zum einen kann festgehalten werden, dass sie dem Einzelnen keine konkreten Handlungen vorschreiben. Das heißt, dass die Prosozialität keine genau festgelegten Aktivitäten zur Gruppenbildung impliziert, genausowenig wie die Aggression und der Überlebenstrieb spezifische Handlungen vorschreiben, sondern ein gewisses Aktionsspektrum nach sich ziehen. Die genetisch verankerten Programme schließen allenfalls bestimmte Handlungen aus. Zum anderen sind die genannten Anlagen, wie in den Basisannahmen ausgeführt, in allen Menschen (selbstverständlich in unterschiedlichen Ausprägungen) verankert und daher unabhängig von individuell verfolgten Zielen nicht nur im Einzelfall, sondern bei allen Problemsituationen einer Person präsent. Zusammengefasst bedeutet dies, dass aus den beschriebenen Dispositionen negative, allgemeingültige und abstrakte Verhaltensregeln hervorgehen, welche damit alle Anforderungen erfüllen, die an Regeln gestellt werden, die zur Herbeiführung von spontanen Ordnungen notwendig sind. Als Gesamtergebnis kann festgehalten werden, dass nicht nur aus den nicht intendierten Folgen absichtsvollen Handeins, sondern auch aus den generellen Konsequenzen von dispositiv basierten Handlungen spontane Ordnungen hervorgehen. Daher ergibt sich die folgende neue Gesamtsystematik der Ordnungen:

179 180

Siehe dazu auch 3. Kap. 11. 3. Siehe dazu auch 3. Kap. 11. 3.

124

2. Teil: Vom Weg in die Abstrakte Gesellschaft

1. Natürliche Ordnungen, die weder vom Menschen geplant sind noch aus seinen Handlungen hervorgehen. 2. Geplante Ordnungen, welche auf der Basis eines menschlichen Entwurfs aus den intendierten Folgen seiner geplant-rationalen, absichtsvollen Handlungen entstehen. 3. Spontane Ordnungen sind in negativer Abgrenzung zu natürlichen und geplanten Ordnungen all jene, die nicht auf Planung, aber auf den Folgen menschlichen Handeins unter Befolgung spezifischer Regeln basieren.

a) Spontane Ordnungen als das Resultat der nicht intendierten Folgen von geplant-rationalen, absichtsvollen und von bestimmten sozio-kulturellen Regeln (z. B. Gesetzen oder Traditionen) geleiteten Handlungen. b) Spontane Ordnungen als das Resultat der Folgen von funktional-rationalen und damit von dispositiven Regeln geleiteten Handlungen. Was bedeutet dieses Ergebnis für die vier Individuentypen und die aus ihren Handlungen resultierenden sozialen Strukturen? Beginnt man die Analyse mit dem Individuentyp 1, der biologisch-organisch auf einfach strukturierte Gesellschaftsverhältnisse eingestellt ist und sich nicht soziokulturell an die neuen komplexen Rahmenbedingungen angepasst hat, so werden die Implikationen der neuen Ordnungsschematik am deutlichsten. Auf Grund des für ihn wegen der mangelnden Adaption vorherrschenden hohen Problemlösungsdrucks weicht er zu seiner Entlastung zunehmend auf dispositiv basierte Handlungen aus. Aus diesen resultieren wiederum, wie oben gezeigt werden konnte, spontane Ordnungen. Zwei wesentliche Charakteristika dieses Ordnungstyps sind zum einen seine hohe Komplexität und zum anderen, dass seine Walunehmung nicht direkt, sondern nur durch theoretische Rekonstruktion erfolgen kann. Das bedeutet, dass sich das nicht-angepasste Individuum durch die Folgen seiner nicht geplantrationalen Aktivitäten eine noch komplexere Umwelt schafft und dadurch quasi automatisch den auf sich lastenden Druck nochmals weiter erhöht. Reagiert es darauf wiederum nicht mit sozio-kultureller Anpassung, sondern mit programmiertem Verhalten, so gerät es in einen Kreislauf, an dessen Ende bei konstant angenommenem Verhalten der anderen Individuentypen sein soziales Scheitern steht. Die Alternative zur bereits genannten Option der passiven Anpassung an die komplexen Sozialstrukturen wäre ihre aktive Veränderung durch geplant-rationales Handeln. Das bedeutet, dass nicht das Individuum sich den sozialen Strukturen anpasst, sondern es versucht, diese in Einklang mit seinem Adaptionsniveau zu bringen und die Komplexität zu senken. Eine radikale Rückorientierung auf einfache soziale Verhältnisse, wie die in der Geschlossenen Gesellschaft, kann die Folge sein. Lenkt man den Blick auf die Individuen des Typs 2, welche zwar nicht für die neuen, komplexen sozialen Gegebenheiten vordisponiert sind, sich allerdings bereits über Lernprozesse sozio-kulturell angepasst haben, so erkennt man, dass der Problemlösungsdruck, dem sie ausgesetzt sind, im Vergleich zum Typ I, deutlich

4. Kap.: Das Modell der Abstrakten Gesellschaft

125

geringer ist. Sie handeln folglich eher geplant-rational und haben ihren Fokus auf dem Ausgleich des erlebten Sicherheitsverlustes. Dabei versuchen sie, ihre Vorteile gegenüber den noch nicht-angepassten Individuen zu nutzen und neue Möglichkeiten der multikollektiven Reintegration auszuschöpfen. Um die Verwirklichung beider Ziele sicherstellen zu können, sind sie nicht an einer Verminderung der Komplexität der sozialen Verhältnisse interessiert. Das bedeutet, dass von ihnen auf geplant-rationaler Basis keine Handlungen in diese Richtung zu erwarten sind. Aber selbst, wenn sie dispositv basiert handeln, führt dies wie im oben beschriebenen Fall zu spontanen Ordnungen, welche wiederum die soziale Gesamtkomplexität erhöhen. Also kann für beide Handlungsoptionen eine Tendenz zur Stabilisierung oder Erhöhung der komplexen Rahmenbedingungen festgehalten werden. Die Individuen des Typs 3 und 4 sind bereits dispositiv auf komplexe soziale Verhältnisse eingestellt. Ihre Situation stellt sich ähnlich wie die des Typs 2 dar, wobei sie aber auf Grund ihrer Dispositionen einem noch geringeren Problemlösungsdruck ausgesetzt sind. Sie handeln daher vorwiegend auf geplant-rationaler Basis und fokusieren ihre Aktivitäten auf die Reintegration. Diese können sie natürlich am einfachsten in den zu ihren Anlagen passenden Gesellschaftsstrukturen erreichen. Ein aktives Bestreben und Impulse hin zur Reduktion der sozialen Komplexität sind somit auch von ihnen nicht zu erwarten. An dieser Stelle kann damit festgehalten werden, dass durch die Folgen der Handlungen aller beschriebenen Individuentypen eine permanente Zunahme spontaner Ordnungen zu erwarten ist. Dies bedeutet, dass die soziale Gesamtkomplexität kontinuierlich wächst. Die Individuen könnten versuchen, dieser Entwicklung mit Hilfe geplanter Ordnungen entgegenzutreten. Dabei stellt sich allerdings das Problem, dass auf Grund der begrenzten menschlichen Erkenntnisfähigkeit geplante Ordnungen zwar nur einen relativ niedrigen Komplexitätsgrad erreichen, jedoch auch nur bedingt komplexitätsreduzierend wirken können. Da der Mensch nicht in der Lage ist, die umfangreichen gesellschaftlichen Zusammenhänge in ihrer Gesamtheit sowohl zu erkennen als auch zu verstehen, stößt er zuerst in der Analysephase und dann bei der Konzeption auf erhebliche Schwierigkeiten. Die Umsetzung und Aufrechterhaltung gesamtkomplexitätsreduzierender Maßnahmen stellt für ihn eine weitere, offensichtlich unüberwindliche Hürde dar. Als Ergebnis aus dem oben Gesagten lässt sich ein Trend zum kontinuierlichen Wachstum der sozialen Gesamtkomplexität konstatieren. Welche Erklärungskraft die bisher gewonnenen theoretischen Erkenntnisse in Bezug auf moderne Gesellschaften haben, wird der nächste Teil der Arbeit genauer zeigen.

Dritter Teil

Moderne und Abstrakte Gesellschaft Für Popper ist die "moderne Gesellschaft einer . .. abstrakten Gesellschaft in vieler Hinsicht ähnlich"l . Im dritten Teil der Arbeit werden daher die Ergebnisse verschiedenster sozial wissenschaftlicher Forschungsansätze zur Analyse moderner Gesellschaften an dem im vorherigen Kapitel entwickelten theoretischen Entwurf reflektiert. Mit anderen Worten geht es um die Beantwortung der Frage, wie bestimmte aktuelle gesellschaftliche Phänomene in das Modell der Abstrakten Gesellschaft einzuordnen sind. Zu diesem Zweck wird zuerst die Situation des Individuums in modernen Gesellschaften analysiert und dabei die Verbindung zum Modell der Abstrakten Gesellschaft hergestellt (5. Kap.), um dann abschließend zwei Problemfelder (6. Kap.) zu untersuchen, die aus der Tatsache resultieren, dass sich trotz des erheblichen sozio-kulturellen Wandels die biologische Struktur des Menschen nicht entscheidend verändert hat.

5. Kapitel

Die Situation des Individuums in der modernen Gesellschaft Bei der im ersten Teil der Arbeit durchgeführten Rekonstruktion des popperschen Verständnisses von Geschlossenen und Offenen Gesellschaften haben sich Kriterien zur Beschreibung der jeweils spezifischen Charakteristika herauskristallisiert. Um eine arbeitsinterne Konsistenz zu gewährleisten, erfolgt ein Rückgriff auf drei dieser Kriterien, die in modifizierter Form die weiteren Ausführungen leiten werden: (I.) Wie stellt sich das Verhältnis zwischen dem Einzelnen und der Gesellschaft dar? (11.) Was kann für die biographischen Entwicklungsmöglichkeiten der Individuen konstatiert werden? (III.) Welches Werte- und Wertewandelverständnis herrscht vor? Da somit der formale Rahmen für die Struktur der folgenden Analyse gesteckt ist, kann mit dem ersten inhaltlichen Punkt der Untersuchung begonnen werden.

1

Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 208.

5. Kap.: Die Situation des Individuums in der modemen Gesellschaft

127

I. Das Individuum zwischen Egozentrierung, Mono- und Multikollektivierung

Wie stellt sich in modernen Gesellschaften das Verhältnis des Einzelnen zur Gesellschaft dar? Eine abschließende Antwort auf die gestellte Frage ist im Rahmen dieser Arbeit weder beabsichtigt noch möglich. Die Zielsetzung ist vielmehr, mit Hilfe dieser Fragestellung den Scheinwerfer des Modells der Abstrakten Gesellschaft in eine bestimmte Richtung auszurichten, um so Licht in einige Winkel des ,modernen Dunkels' zu bringen und spezifische Zusammenhänge neu zu beleuchten. 2 Nach einer Darstellung der Integrationsproblematik im Kontext moderner Gesellschaften (1.) werden im nächsten Schritt verschiedene sozialwissenschaftliche Ansätze zur Beantwortung der Wiedereinbindungsfrage erörtert (2.). Daran schließt sich die Analyse der Fragestellung an, in welchem Verhältnis die vorher beschriebenen Integrationsmodi zu den im Modell der Abstrakten Gesellschaft genannten Optionen stehen (3.). 1. Modeme Gesellschaften und Integration

Folgt man Ulrich Becks kritischer Auffassung, so geht die ,,»moderne« Soziologie ... als »moderne« Wissenschaft von der »modernen« Gesellschaft,,3 stillschweigend und konsenssicher immer noch von der "Container-Theorie der Gesellschaft,,4 aus. Nach jener setzen Gesellschaften die staatliche Kontrolle eines Raumes voraus. 5 Sie werden dadurch zu einzelnen, gegeneinander abgegrenzten Staatsgesellschaften, die im Hoheitsgebiet der Nationalstaaten" wie in einem Container,,6 aufgehoben sind. Dieses Ordnungs schema gilt aber nicht nur nach außen, sondern auch nach innen. Der Innenraum der voneinander getrennten Staatsgesellschaften untergliedert sich in direkt beobachtbare innere Totalitäten, denen der Einzelne über Kriterien, wie z. B. Geschlechts-, Generationen-, Familien- oder Berufszugehörigkeit, zugeordnet wird. 7 So kann theoretisch-soziologische Wirklichkeitsdefinition sofort empirisch bestätigt werden. 2 Zum Kübel- und Scheinwerferrnodell der Erkenntnis siehe Popper, Objektive Erkenntnis, S. 354 ff. 3 Beck, Was ist Globalisierung?, 4. Aufl. 1998, S. 49. 4 Beck, Was ist Globalisierung?, S. 49. 5 So auch die Gesellschaftsdefinition im dem soziologischen Standardwerk von Giddens, Soziologie, 1995, S. 785: "Eine Gesellschaft ist eine Gruppe von Menschen, die auf einem bestimmten Gebiet lebt, einem gemeinsamen System der politischen Autorität unterworfen ist und über eine eigenständige Identität gegenüber anderen Gruppen verfügt. "; siehe zudem die umfangreichen Quellen zum Inhalt des Gesellschaftsbegriff in 4. Kap. II. 1. 6 Beck, Was ist Globalisierung?, S. 50. Sowohl im Alltag als auch in den Sozialwissenschaften wird fast ausnahmslos von der nationalen (z. B. deutschen, französischen, spanischen oder amerikanischen) Gesellschaft gesprochen. Zur Identifikation der Grenzen einer Gesellschaft mit den Grenzen des Nationalstaates siehe auch die kritischen Anmerkungen von Stehr, Die Zerbrechlichkeit moderner Gesellschaften, 2000, S. 30 ff.

128

3. Teil: Moderne und Abstrakte Gesellschaft

Aus der Perspektive des im 4. Kapitel entwickelten Modells stellt sich die soziale Situation allerdings anders dar. Ein Resümee der Kemüberlegungen soll dies verdeutlichen. In der Abstrakten Gesellschaft stehen Individuen vor dem Problem, dass sie nicht mehr in oder mit einer Gesellschaft leben, sondern dass ihnen diese als etwas Fremdes gegenübersteht. Eine Ursache hierfür liegt darin, dass sich der Einzelne im Zuge der Individualisierung aus einfachen, überschaubaren, traditionellen Gesellschaftsstrukturen gelöst hat, damit auch die von ihnen gelieferten Sicherheiten verloren hat und sich nun auf sich allein gestellt sieht. Aus diesem Grund sucht er nach neuen Möglichkeiten der sozialen Einbindung und ist, falls er sich nicht bereits über sozio-kulturelle Lernprozesse an die nunmehr komplexere Umwelt angepasst hat, vor ein elementares Problem gestellt. Den verbliebenen, bisher direkt wahrnehmbaren Traditionsstrukturen fühlt er sich nicht mehr zugehörig, und die sich im Zuge von sozialen Interaktionen neu bildenden Ordnungen kann er auf Grund ihres zunehmend spontanen Charakters nicht unmittelbar erkennen. Die Abstrakte Gesellschaft besteht somit aus Individuen, die unter den oben spezifizierten Rahmenbedingungen nach Reintegrationsmöglichkeiten suchen. Zur Wahl stehen hierbei die Optionen Egozentrierung, Multi- und Monokollektivierung. Kann die geschilderte Auffassung allerdings auch vor grundlegenden Phänomenen, die in modemen Gesellschaften erkennbar sind, bestehen? Die dort vorliegende Situation kann aus der gewählten Untersuchungsperspektive wie folgt zusammengefasst werden. Der unübersehbare Zuwachs an individuellen Gestaltungsoptionen,8 den das beschleunigte Wirtschaftswachstum, der technische Fortschritt und politische Entwicklungen den meisten Menschen in den westlichen Gesellschaften bescherten, schwächte die Bindungen an historisch gewachsene Sozialstrukturen ab 9 und trug so zur fortschreitenden Enttraditionalisierung 10 bei. Durch diese in der Geschichte bisher noch nie dagewesene Erweiterung von Handlungsmöglichkeiten wird die modeme Gesellschaft zu einer "Multioptionsgesell7 Diese inneren Totalitäten können sowohl als kollektive Identitäten als auch nach der Theorie sozialer Systeme theoretisch entworfen, ausdifferenziert und analysiert werden, vgl. Beck, Was ist Globalisierung?, S. 50. g Zur Individualisierung als Zunahme von Selbststeuerung und Selbstkontrolle siehe Wohlrab-Sahr, Individualisierung: Differenzierungsprozess und Zurechnungsmodus, in: Beck/ Sopp (Hrsg.), Individualisierung und Integration, 1997, S. 28 ff. 9 Für Dahrendorf, Die offene Gesellschaft und ihre Ängste, Universitas 1991, S. 175 ist deutlich erkennbar, "daß offene Gesellschaften ... dazu neigen, Ligaturen aufzulösen"; nach Beck, Risikogesellschaft, S. 208 f. haben sich die Individuen vor allem aus ständisch geprägten sozialen Klassen, familiären Bindungs- und Versorgungsgefügen sowie einem stabilen Verhältnis zu Beruf und Arbeitsstätte gelöst; P. A. Berger, Individualisierung, 1996, S. 58 spricht von der Auflösung "deutlich ausgeprägter, sozialintegrativer Milieus"; Brock, Der schwierige Weg in die Moderne, 1991 und Mooser, Auflösung proletarischer Milieus, SozW 1983, S. 270 ff. verdeutlichen dies am Beispiel der Arbeitermilieus; zur Auflösung von Klassenlagen siehe zudem S. Kraft, "Modernisierung" und "Individualisierung", 1992, S. 193 ff. 10 Vgl. Giddens, Leben in einer posttraditionalen Gesellschaft, in: Beck / ders. / Lash (Hrsg.), Reflexive Modernisierung, 1996, S. 113 ff.

5. Kap.: Die Situation des Individuums in der modernen Gesellschaft

129

schaft" 11 , in der "Optionssteigerung und Traditionsvernichtung" 12 Hand in Hand gehen. Dadurch gerät insbesondere die klassische Vorstellung von sozialen Strukturen als den objektiven und stabilen Grundlagen von Gesellschaften ins Wanken. 13 Beschleunigter sozialer Wandel und massive Strukturbriiche sind mittlerweile in den Rang alltäglicher Erfahrungen geriickt. 14 In den erweiterten Optionsspielräumen und Entscheidungszwängen wächst somit der individuell abzuarbeitende Handlungsbedarf und der Einzelne muss umfangreiche "Koordinations- und Integrationsleistungen" 15 erbringen. Genau hier liegt die Schnittstelle zum Modell der Abstrakten Gesellschaft. Die gegenwärtige Gesellschaft ist "heterogen, komplex, voll von Konflikten, eine Gesellschaft, in der die alten Strukturen zugrunde gingen und die neuen ... aber desintegriert zu sein,,16 scheinen. Die Individuen suchen nach Möglichkeiten der gesellschaftlichen Wiedereinbindung. Soziale Integration ist in den sich "unablässig in Bewegung befindlichen modemen Gesellschaften nicht mehr ein für allemal durch das vorhandene Solidaritätsgefüge gesichert, sondern [wird] ein dynamischer Prozeß,,17. Es stellt sich also die grundsätzliche Frage nach der Integrierbarkeit moderner Gesellschaften. 18

Gross, Die Multioptionsgesellschaft, 1994. Gross, Die Multioptionsgesellschaft, S. 16. 13 Vgl. P. A. Berger; Individualisierung, S. 11. 14 Vgl. P. A. Berger; Individualisierung, S. 11; Giesen, Die Entdinglichung des Sozialen, 1991, S. 73 ist der Auffassung, dass aus "dem Blickwinkel des modernen Bewußtseins ... Wandel der Normalfall" geworden ist; für ihn gerät daher die "Verfestigung von Wandlungsprozessen zu stabilen Ordnungen ... an den Rand des Pathologischen". 15 BecklBeck-Gernsheim, Individualisierung in modernen Gesellschaften - Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie, in: dies. (Hrsg.), Riskante Freiheiten, 1994, S. 15. 16 Turowski, Einführung in die Problematik der Integrationsprozesse der modernen Gesellschaft, in: Dyczewski (Hrsg.), Integrationsprozesse in der modernen Gesellschaft, 1988, S.14. 17 Münch, Soziale Integration als dynamischer Prozeß, in: Giegel (Hrsg.), Konflikt in modernen Gesellschaften, 1998, S. 190. 18 Die Frage nach der Integrationsfähigkeit moderner Gesellschaften ist für Heitmeyer; Sind individualisierte und ethnisch-kulturell vielfältige Gesellschaften noch integrierbar?, in: ders. (Hrsg.), Was hält die Gesellschaft zusammen?, 1997, S. 9 ff. zu einern zentralen öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussionsthema avanciert. An anderer Stelle hebt ders., Entsicherung. Desintegrationsprozesse und Gewalt, in: Beck/Beck-Gernsheim (Hrsg.), Riskante Freiheiten, 1994, S. 378 deutlich hervor, dass "Desintegration einen zentralen Aspekt zur Klärung von Gewalt darstellt"; mit Desintegration meint er vor allem Auflösungsprozesse, die in den folgenden drei Dimensionen getrennt, kombiniert oder kumulativ auftreten können: Erstens die "Auflösung von Beziehungen zu anderen Personen oder Institutionen", zweitens die "Auflösung der faktischen Teilnahme an gesellschaftlichen Institutionen" und drittens die "Auflösung der Verständigung über gemeinsame Norrn- und Wertvorstellungen". Zur Integrationsproblematik moderner Gesellschaften siehe auch Hradil, Differenz und Integration, in: ders. (Hrsg.), Differenz und Integration, 1997, S. 39 ff. II

12

9 Tiefel

130

3. Teil: Modeme und Abstrakte Gesellschaft

Welche grundlegenden Vorschläge zur Lösung des Integrationsproblems und somit auch zur Beantwortung der (Ein-)Bindungsfrage lassen sich den Sozialwissenschaften entnehmen? Der Rückgriff auf Kategorisierungen verschiedener Autoren soll einen Überblick geben.

2. Integrationsmodi moderner Gesellschaften

Für Uwe Sander und Wilhelm Heitmeyer kristallisieren sich auf dem genannten Problemfeld zwei entgegengesetzte Kernströmungen heraus. 19 Auf der einen Seite werden kompensatorische Ideale (wie z. B. die Idee einer nationalen Einigung oder neue Diskurs- und Konsensmodelle) gehandelt, welche moderne gesellschaftliche Differenz in gesellschaftliche Einheit zurückführen soll.20 Auf der anderen Seite stehen von ihnen favorisierte neuere Modelle, in denen individuelle Differenzen und die daraus resultierenden Konflikte als bindender Dauerzustand für moderne Gesellschaften den klassischen Utopismus einheits- und harmonieträchtiger Gesellschaftstheorien ersetzen. 21 Das bedeutet, dass Konflikte nicht mehr als gesellschaftlicher Ausnahmezustand, der in einen Normalzustand der Ausgeglichenheit zurückgeführt werden muss, betrachtet werden, sondern permanente Konfliktregulierung die neue Integrationsform moderner Gesellschaften darstellt. 22 Die Integrationsleistung eines Modus bemisst sich somit "nicht mehr daran, wie Konflikte harmonisiert, sondern wie sie reguliert bzw. zivilisiert werden,m. Drei kompensatorische Modi werden nach Auffassung von Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim in der gegenwärtigen Reintegrationsdiskussion am häufigsten genannt: Die Herbeiführung eines transzendentalen Konsens im Sinne einer Werteintegration, die in der Gemeinsamkeit materieller Interessen (wie z. B. der 19 Vgl. Sander/Heitmeyer, Was leisten Integrationsmodi?, in: Heitmeyer (Hrsg.), Was hält die Gesellschaft zusammen?, 1997, S. 447 ff. 20 In historischer, aber nach eigener Einschätzung sicherlich nicht vollständiger Reihung nennen Sander/Heitmeyer, Was leisten Integrationsmodi?, S. 453 in diesem Kontext "die aufklärerischen Hoffnungen gesellschaftlicher Rationalisierung; die romantische Vorstellung von Geselligkeit gebildeter und kultivierter Bürger; die Idee einer nationalen Einigung durch den modemen liberalen Verfassungsstaat; die revolutionären Strategien einer Aufhebung gesellschaftlicher Widerspriiche und Antagonismen; Gemeinschaftsutopien aus dem 19. Jahrhundert und aus der Wende zum 20. Jahrhundert; als pervertierte Version einer »neuen Gesellschaft« und als Höhepunkt nationalistischer Gesellschaftsmodelle die faschistischen und nationalsozialistischen Varianten völkischer Einheit; entpolitisierte Harmonieideale wohlstandsorientierter Konsumdemokratien der Nachkriegszeit; Versuche einer technokratischen und bürokratischen Nihilierung politischer Differenzen ... ; kritische Diskurs- und Konsensideale und schließlich eine Renaissance des Gemeinschaftsgedankens, wie sie in unterschiedlichen Pro grammatiken oder in antiliberalen und antiuniversalistischen kornrnunitaristischen Gesellschaftsutopien zu finden ist". 21 Vgl. Sander/Heitmeyer, Was leisten Integrationsmodi?, S. 454 f. 22 Vgl. Sander/Heitmeyer, Was leisten Integrationsmodi?, S. 448. 23 Sander/Heitmeyer, Was leisten Integrationsmodi?, S. 449.

5. Kap.: Die Situation des Individuums in der modemen Gesellschaft

131

Teilhabe am Wohlstand für breite Bevölkerungsschichten) begründete Integration und das Nationalbewusstsein. 24 Da diese Ansätze nach ihrer Einschätzung jedoch nicht geeignet sind, die anstehende Aufgabe zu lösen, muss ein anderer Modus an ihre Stelle treten. 25 Welcher das sein sollte, verdeutlicht Beck an anderer Stelle durch seine Unterscheidung in die vier Integrationsarten Religion,26 Blutopfer / Feindbilder,27 Arbeits- oder Wohlstandsintegration 28 und Selbstintegration der Individuen. Die ersten drei Arten greifen nach seiner Ansicht in modemen, postreligiösen Gesellschaften, die jenseits von alten Feindbildern sind und in denen Arbeits- und Wohlstandsintegration durch ökonomischen Druck erodiert, nicht mehr. Für ihn kann aber mittels des Modus Selbstintegration die "sogenannte Bedingungslosigkeit der Modeme, ihr Egoismus ... durch die Ausgestaltung politischer Freiheiten überwunden werden,,29. Beck fasst seinen Kemgedanken in folgender Aussage zusammen: "Freiheit, die Gemeinschaft stiftet, schafft Gemeinschaft, die Freiheit ... stiftet,,3o. Gemäß Richard Münch gibt es vier Wurzeln moderner gesellschaftlicher Gemeinschaft. 31 Demzufolge kann sich dem elementaren Problem der Integration moderner Gesellschaften auf einer ersten Ebene ökonomisch, politisch. kulturell und solidarisch genähert werden. 32 Darüber hinaus ist in einer zweiten Ebene die "systemische von der sozialen Integration zu unterscheiden,m. Ökonomische Integrationstheorien erkennen in der modemen. arbeitsteiligen Gesellschaft ein Gefüge Vgl. BecklBeck-Gemsheim, Individualisierung in modemen Gesellschaften. S. 34 f. "Wo alte Gesellschaftlichkeit »verdampft«. muß Gesellschaft neu erfunden werden. Integration wird hier also dann möglich, wenn man nicht versucht. den Aufbruch der Individuen zurückzudrängen", BecklBeck-Gemsheim, Individualisierung in modemen Gesellschaften, S. 35. 26 Der "Innenbauplan der religiösen Integrationsarchitektur" beruht auf einer Art Vertragsverhältnis: "Hinnahme diesseitiger Miserabilitäten gegen allgemeinen Aufstieg in die Glückseligkeit im Jenseits", vgl. Beck, Was hält modeme, individualisierte Gesellschaften zusammen?, in: Voß/Pongratz (Hrsg.), Subjektorientierte Soziologie, 1997, S. 227. 27 Blutopfer und Feindbilder stellen auf die integrative Wirkung von Gewalt und Kriegen ab. "Krieg und Kriegsbereitschaft schaffen und schärfen nicht nur eindeutige Zugehörigkeiten zum Entweder-Oder von Freund und Feind. Sie erneuern und erzeugen auch dramatische Erfahrungen erlittener und angetaner Gewalt", Beck, Was hält modeme, individualisierte Gesellschaften zusammen?, S. 228 f. 28 Die Integration durch "Erwerbsarbeit und Massenkonsum ist vielschichtig. Sie beruht auf der "Pflichterfahrung" der Arbeit und ihrer sozialen Kooperationszwänge, aber auch in den sozialen Sicherheiten in der und nach der Erwerbsarbeit, die allerdings eben auch durch diese und nur durch diese gewährt werden", vgl. Bede, Was hält modeme, individualisierte Gesellschaften zusammen?, S. 230. 29 Beck, Was hält modeme, individualisierte Gesellschaften zusammen?, S. 236. 30 Beck, Was hält modeme, individualisierte Gesellschaften zusammen?, S. 238. 31 Vgl. Münch, Die Struktur der Modeme, S. 262 ff. 32 Vgl. Münch, Elemente einer Theorie der Integration moderner Gesellschaften, in: Heitmeyer (Hrsg.), Was hält die Gesellschaft zusammen?, 1997, S. 66. 33 Münch, Elemente einer Theorie der Integration moderner Gesellschaften, S. 66. 24

25

9*

132

3. Teil: Moderne und Abstrakte Gesellschaft

von vielen Tauschvorgängen und ihnen korrespondierenden Vertragsbeziehungen, so dass sie an die Stelle der gesellschaftlichen Einbindung des Einzelnen durch feststehende Stände oder Klassen die Vertragsfreiheit als bindendes Element setzen?4 Theorien der politischen Integration setzen an möglichen negativen Begleiterscheinungen des Marktes an, welche durch wohlfahrts staatliche Maßnahmen korrigiert werden müssen, und betonen damit die integrative Rolle der Politik. 35 Aus der Perspektive von Theorien der kulturellen Integration greifen die beiden vorher genannten Ansätze zu kurz, und an die Stelle des Tauschs und des politischen Zwangs tritt die Verständigung auf Basis gemeinsam geteilter Vernunft. 36 Im Lichte der Systemtheorie erfolgt die Integration der Gesellschaft, die sich aus einer Vielzahl von autopoietisch operierenden Teilsystemen zusammensetzt, allein durch die Parallelität von wechselseitiger Geschlossenheit und Offenheit?? Ein deutliches Manko der systemischen Integrationstheorie, aber auch der anderen bereits genannten Modi ist deren Vernachlässigung der Solidarität, Gruppenzugehörigkeit und des Gemeinschaftsgefühls als wesentliche Elemente der Sozialintegration. 38 Probleme wie Ethnizität oder Nationalismus können durch sie nur unzureichend erklärt werden, so dass es notwendig ist, auch auf Elemente von Theorien der solidarischen Integration zurückzugreifen. 39 Jürgen Friedrichs und Wolfgang Jagodzinski systematisieren die Integrationsoptionen moderner Gesellschaften mittels eines makro- / mikroperspektivischen Einstiegs in das Problemfeld. 4o Makrotheoretiker spezifizieren nach ihrer Auffassung vor allem Bedingungen, wie die Existenz eines Kollektivbewusstseins, den Grad 34 Für Münch, Elemente einer Theorie der Integration moderner Gesellschaften, S. 77 ff. sind John Locke, David Hume, Adam Smith, Jeremy Bentham, John Stuart Mill und Herbert Spencer die bekanntesten Vertreter ökonomischer Integrationstheorien. 35 Vor allem Arthur Pigou hat nach Münch, Elemente einer Theorie der Integration moderner Gesellschaften, S. 82 ff. mit seiner Wohlfahrtsökonomik den liberalen Glauben an die Integrationskraft des Marktes erschüttert, wobei Karl Marx und Niccolo Machiavelli für ihn weitere Repräsentanten des politischen Ansatzes sind. 36 Der Bogen der Vertreter dieser Auffassung spannt sich für Münch, Elemente einer Theorie der Integration moderner Gesellschaften, S. 84 ff. von Georg W. F. Hegel über Immanual Kant bis hin zu Max Horkheimer, Theodor Adorno und Jürgen Habermas. 37 Für diesen Ansatz steht namentlich Niklas Luhmann sowie in abgewandelter Form Max Weber und Talcott Parsons, vgl. Münch, Elemente einer Theorie der Integration moderner Gesellschaften, S. 86 ff. 38 Vgl. Münch, Elemente einer Theorie der Integration moderner Gesellschaften, S. 95 ff.; siehe dazu auch Hondrichl Koch-Arzberger, Solidarität in der modernen Gesellschaft, 1992. 39 Nach Münch, Elemente einer Theorie der Integration moderner Gesellschaften, S. 95 ff. liegen die Wurzeln einer solchen Theorie zur Integration moderner Gesellschaften in den Arbeiten von Emile Durkheim und Ferdinand Tönnies; der von Durkheim begriindete Ansatz ist insbesondere von Parsons fortgeführt worden, für den die moderne Gesellschaft nicht durch die Auflösung von Solidarität im Zuge der Ausdifferenzierung von Funktionssystemen, sondern durch die gleichzeitige Entwicklung einer freien Bürgergemeinschaft als solidarischer Kern einer äußerst differenzierten und pluralistischen Gesellschaft gekennzeichnet ist. 40 Vgl. Friedrichsl Jagodzinski, Theorien sozialer Integration, in: dies. (Hrsg.), Soziale Integration, 1999, S. 9 ff.

5. Kap.: Die Situation des Individuums in der modernen Gesellschaft

133

der Arbeitsteilung oder das Maß an sozialer Ungleichheit, die für soziale Integration notwendig und hinreichend sein sollen, wobei sie allerdings die zugrunde liegenden Mikroprozesse weitgehend ausblenden. 41 Umgekehrt definieren Mikrotheorien, wie die Rational-Choise-Theorie, bestimmte menschliche Verhaltensweisen ex-ante als integrativ und kooperativ, wobei die makrostrukturellen Konsequenzen oftmals nicht ausreichend beriicksichtigt werden. 42 Unter der Prämisse, dass ein Grundkonsens für den Fortbestand einer Gesellschaft unabdingbar ist, gelangen Friedrichs / Jagodzinski über die Fragestellung, ob ein solcher in differenzierten, modemen Gesellschaften überhaupt noch möglich ist, zu einer Verknüpfung zwischen Mikro- und Makroebene. 43 Zwei Bereichen messen sie in diesem Zusammenhang eine zentrale Bedeutung bei. Zum einen der Religion, welche eine durch die Sozialisation im Individuum verankerte Instanz ist und die einen Konsens der Gesellschaftsmitglieder über grundlegende Werte enthält. 44 Und zum anderen dem Recht, das für alle Mitglieder einer Gesellschaft verbindlich ist und das von ihnen gewollt und akzeptiert wird. 45 Die Integration moderner Gesellschaften lässt sich für Bernhard Peters als die gelungene Lösung von drei grundlegenden Problemen des sozialen Lebens interpretieren. 46 Erstens das Problem der Orientierung und des Eingreifens in die Welt. Zweitens die Notwendigkeit, konfligierende Anspriiche Einzelner auszugleichen und das Wohl sowie die Integrität aller betroffenen Individuen angemessen zu beriicksichtigen. Und drittens das Problem der Befriedigung von Bedürfnissen, Lebenszielen und -plänen sowie die Bildung von individuellen und kollektiven Identitäten. Entsprechend lassen sich die Dimensionen "Funktionale Koordination", "Moralische Integrität" und "Expressive Gemeinschaft" unterscheiden, in denen soziale Integration gelingen oder scheitern kann. 47 Bei der funktionalen Koordination ist das Ziel, soziale Einheiten oder die in ihnen ablaufenden Prozesse so zu gestalten, dass ihre unterschiedlichen Leistungen sich zu einem positiven Gesamtergebnis zusammenfügen. 48 Die Erfolgsbedingun41 Friedrichsl Jagodzinski, Theorien sozialer Integration, S. 22 ff. explizieren dies am Beispiel der Theorie von Durkheim. 42 Vgl. Friedrichs I Jagodzinski, Theorien sozialer Integration, S. 27 ff. 43 Vgl. Friedrichs I Jagodzinski, Theorien sozialer Integration, S. 32 f. 44 Für Friedrichs I Jagodzinski, Theorien sozialer Integration, S. 35 stellt sich für moderne Gesellschaften "die Frage, ob denn wenigstens eine Zivilreligion möglich bleibt, die sich auf die Fixierung der Grundwerte beschränkt. Sie hätte mit einer Religion im engeren Sinne allenfalls dann etwas zu tun, wenn man die Grundwerte sakralisiert, sie etwa in den Status von unverbrüchlich, ewig geltenden Werten erhebt". 45 Vgl. FriedrichslJagodzinski, Theorien sozialer Integration, S. 35 ff. 46 Vgl. Peters, Integration moderner Gesellschaften, 1993, S. 93 ff. 47 Alle Zitate: Peters, Integration moderner Gesellschaften, S. 96. 48 In einem schwächeren Sinn kann für Peters, Integration moderner Gesellschaften, S. 96 Koordination auch bedeuten, dass Aktivitäten lediglich kompatibel gemacht werden, um dadurch negative Auswirkungen auf andere Handlungen zu vermeiden.

134

3. Teil: Modeme und Abstrakte Gesellschaft

gen können dabei von den Handelnden selbst oder von einem Beobachter definiert werden. 49 Koordination muss nicht unbedingt ein bewusster Vorgang sein, sondern kann auch "durch intuitive Koorientierung ... oder durch andere, nichtintentionale Mechanismen erfolgen,,5o. Die Prinzipien Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit, die sich auf individuelle Handlungsspielräume und soziale Kooperation beziehen, machen den Kern dessen aus, was unter der moralischen Integrität einer Gemeinschaft zu verstehen iSt. 51 Der Begriff beinhaltet somit auch die Auffassung, dass eine Art symbolisches Band zwischen den Mitgliedern einer sozialen Gemeinschaft besteht und insofern die moralische Integrität an intentionale Beziehungen gebunden ist, deren Grad des Bewusstseins jedoch außerordentlich variieren kann. 52 Expressive Gemeinschaft basiert auf Formen kollektiver Identitätsbildung, Selbstverwirklichung und Bedürfnisbefriedigung. 53 Es handelt sich dabei beispielsweise "um gemeinsame Sinndeutungen, Konzeptionen guten Lebens, kollektive Projekte oder die Verfolgung genuin kollektiver Ziele,,54, also von Zielzuständen, die auf die Gemeinschaft im Ganzen bezogen sind, und nicht nur um kollektiv zu schaffende Voraussetzungen individueller Lebensführung. Die expressive Gemeinschaft verwirklicht sich insbesondere in spezifischen Arten des Zusammenseins und Zusammenhandelns, wie z. B. bei Festen, Ritualen oder Spielen. 55 3. Die Integrationsmodi der Abstrakten Gesellschaft

In welchem Verhältnis stehen die beschriebenen Integrationskategorien zu den im Modell der Abstrakten Gesellschaft genannten Optionen? Unter Rückgriff auf die im Rahmen der Überlegungen zur individuellen Angepasstheit spezifizierten Individuentypen lassen sich folgende Aussagen treffen. Vgl. Peters, Integration moderner Gesellschaften, S. 97. Peters, Integration moderner Gesellschaften, S. 98. 51 Nach Peters, Integration moderner Gesellschaften, S. 100 betreffen solche Prinzipien zum Beispiel "den Schutz der Person, ihre Bewahrung vor körperlichen oder symbolischen ... Verletzungen, die Garantie gleicher Handlungsfreiheiten, positiv auch gleiche Rechte auf Teilnahme an verschiedenen Formen des sozialen und politischen Lebens", aber auch "Normen für die soziale Verteilung von Pflichten und Rechten, von Leistungen und Gegenleistungen, von Chancen und Sicherheiten, die das Gemeinwohl bietet, und von Ansprüchen, die es an die Mitglieder stellt". 52 Für Peters, Integration moderner Gesellschaften, S. 101 muss dieses "symbolische Band nicht auf persönlicher Bekanntschaft beruhen - moralische Solidarität kann auch anonyme Fremde einbeziehen .... Jeder Mensch, auch der Fremde, gilt als Subjekt moralischer Rechte und Verpflichtungen und insofern als Mitglied einer universellen moralischen Gemeinschaft. Die Rede von »Menschenrechten« macht das sinnfällig". 53 Vgl. Peters, Integration moderner Gesellschaften, S. 104. 54 Peters, Integration moderner Gesellschaften, S. 104. 55 Vgl. Peters, Integration moderner Gesellschaften, S. 104. 49

50

5. Kap.: Die Situation des Individuums in der modemen Gesellschaft

135

Individuen des Typs I, die biologisch auf einfach strukturierte Gesellschaftsverhältnisse eingestellt sind und sich noch nicht sozio-kulturell an die neuen, komplexen Rahmenbedingungen der modemen Gesellschaft angepasst haben, müssen zuerst ihr soziales und ökonomisches Überleben sicherstellen. Mittels Egozentrierung56 begegnen sie insbesondere den Anforderungen der gegenwärtigen, auf Kurzfristigkeit, Flexibilität und Verdrängung ausgerichteten Arbeitswelt 57 • Seine wohl deutlichste Ausprägung findet das ökonomische Durchsetzungs- und Verdrängungsstreben der Individuen in der beabsichtigten Optimierung ihres Marktwertes. 58 Da sie sich auf Grund von Dispositionen im fundamentalen Bereich der wirtschaftlichen Lebenssicherung gleich verhalten, das heißt, denselben biologischen Grundprogramrnierungen folgen und damit auch über ein gemeinsames Merkmal verfügen, könnte kollektive Egozentrierung als ein neuer Modus der Vergesellschaftung verstanden werden. Diese Art der Reintegration ist nicht geplant, sondern stellt sich als spontane Ordnung auf Grund der Handlungen der Individuen von selbst ein. Entscheidend ist jedoch auch, ob die betroffenen Personen diesen Sachverhalt überhaupt erkennen können. 59

56 Für Beck, Jenseits von Stand und Klasse?, 1994, S. 45 entstehen "der Tendenz nach individualisierte Existenzformen und Existenzlagen, die die Menschen dazu zwingen, sich selbst - um des eigenen materiellen Überlebens willen - zum Zentrum ihrer eigenen Lebensplanung und Lebensführung zu machen"; an anderer Stelle betont ders., Risikogesellschaft, S. 217, dass "für die Zwecke des eigenen Überlebens ein ichzentriertes Weltbild entwickelt werden muß"; Brähler / Richter, Die Deutschen am Vorabend der Wende - Wie hatten sie sich seit 1975 verändert?, in: Brähler/Wirth (Hrsg.), Entsolidarisierung, 2000, S. 11 kommen in ihrer Studie zu dem Ergebnis, dass eine Entwicklungstendenz ganz besonders hervorsticht: Der "erhöhte Drang, sich egozentrisch kämpferisch durchzusetzen". 57 Der Bericht des Club of Rome von Giarini/Liedtke, Wie wir arbeiten werden, 1997 und die kritischen Analysen von Rifkin, Das Ende der Arbeit, 1998 liefern zwei umfassende Studien zur gegenwärtigen und zukünftigen Situation am Arbeitsmarkt; Sennett, Der flexible Mensch, 2000 beschreibt, wie die auf Kurzfristigkeit und Elastizität ausgerichtete modeme Ökonomie einen flexiblen, Ich-orientierten Menschen fordert, der stets bereit ist Arbeitsinhalt, Arbeitsstelle, Arbeitsform und Wohnort zu wechseln; Englisch, Jobnomaden, 2001 schildert das gleiche Phänomen. Maurer / M. Müller / Siegert, Die Dominanz der Ökonomie Reflexionen zur Ökonomisierung verschiedener Lebensbereiche in modemen Gesellschaften, in: Reimann/H.-P. Müller (Hrsg.), Probleme moderner Gesellschaften, 1994, S. 99 sehen modeme Gesellschaften "durch eine Dominanz der Ökonomie charakterisiert", die sich ihrerseits wiederum auf alle anderen Lebensbereiche des Individuums auswirkt. 58 Lanthaler/Zugmann, Die ICH-Aktie, 2000, S. 7 sind der Auffassung, dass sich mit "den Rezepten und Strategien der alten Industriegesellschaft . .. die neuen Herausforderungen" der Ökonomie nicht bewältigen lassen; statt dessen sollten die Individuen als ,JCH-Aktie" agieren und ihren Marktwert optimieren; dies., ebd., S. 9 wurden durch die "vielen positiven und außerordenlich interessanten Rückmeldungen von Personalmanagern, Beratern und Arbeitsmarktexperten" in ihrer Ansicht bestärkt, mit der "ICH-Aktie die richtige Antwort auf die Herausforderungen des neuen Wirtschaftens" gefunden zu haben. 59 Beck, Jenseits von Stand und Klasse?, 1983, S. 42 spricht in Bezug auf die Individualisierung von einer ,,kollektiv individualisierte[n] Existenzweise", die sich allerdings ihrer Kollektivität nicht ohne weiteres bewusst wird.

136

3. Teil: Modeme und Abstrakte Gesellschaft

Wie bereits ausführlich dargelegt, besteht das Problem der Reintegration über spontane Ordnungen darin, dass diese nicht direkt wahrgenommen werden können, sondern der gedanklichen Rekonstruktion bedürfen. Schaffen es die Individuen, sich an die komplexere Umwelt durch Lernprozesse anzupassen, so können sie sich den vorher beschriebenen Sachverhalt erschließen und dadurch einen Ausgleich des Sicherheitsverlustes erreichen. Dies ist die Ausgangssituation, in der sich die Individuen des Typs 2 befinden. Aber zuerst nochmals zurück zu Typ 1. Gelingt ihm die Anpassung nicht, so wird er nach Wiedereingliederung in ein weniger komplexes Kollektiv streben. Das bedeutet, dass die Individuen die Komplexität der sie umgebenden Sozialstruktur durch aktives, geplant-rationales Handeln so weit reduzieren müssten, dass sie wieder in Übereinstimmung mit ihrem eigenen Anpassungsgrad kommen. Um eine möglichst große Anzahl von Individuen zu reintegrieren, müsste dies über einen kleinsten gemeinsamen Nenner (also eine niedrige Komplexitätsstufe) erfolgen, was seinerseits immense Gefahren in sich birgt. Vor allem der Typus der Geschlossenen Gesellschaft wartet mit Reintegrationsoptionen auf, die an einfache und direkt wahrnehmbare Merkmale, wie z. B. Geschlecht, Hautfarbe oder Abstammung, gekoppelt sind. Kompensatorische Ideale, Nationalbewusstsein, politische und kulturelle Integration sowie expressive Gemeinschaft sind in diesem Kontext relevante Integrationskategorien der vorher zitierten Autoren. Offene Gesellschaften müssen auf Grund der ihnen immanenten Charakteristika auf andere Modi zurückgreifen, denn die Vergesellschaftung erfolgt dort mit höherer Komplexität. Ökonomische gekoppelt mit solidarischer oder sozialer Integration sowie die von Peters beschriebene moralische Integrität sind an dieser Stelle besonders hervorzuheben. Dreh- und Angelpunkt der Monokollektivierung ist das Bedürfnis des Individuums nach konkreten Bindungen,60 die es in der Abstrakten Gesellschaft nicht mehr im genügendem Maße erfahren hat. Ist das individuelle Wiedereingliederungsbedürfnis besonders hoch oder schlägt es gar in Angst um, so besteht die Gefahr der individuellen Rückorientierung zu geschlossenen Entitäten. Angst infantilisiert den Menschen und fördert seine Bindungsbereitschaft an Ranghöhere und (Gruppen-)Führer. 61 Individuen des Typs 2 sind zwar ebenfalls nicht für die neuen, komplexen sozialen Gegebenheiten vordisponiert, haben sich allerdings bereits über Lernprozesse 60 Nach Wickler; Gruppenbildung bei Tier und Mensch, in: Altner (Hrsg.), Kreatur Mensch, 1969, S. 105 kann biologisch gesehen Vergesellschaftung von einer reinen Ansammlung dadurch unterschieden werden, dass sie auf Artgenossen anziehend wirkt; hierbei scheinen wahrnehmbare Signale, wie z. B. bestimmte (auch frei konvertierbare) Verhaltenselemente oder Körperstrukturen, von wesentlicher Bedeutung zu sein, vgl. ders., ebd., S. 117. 61 Vgl. Eibl-Eibesfeldt, Der Mensch - das riskierte Wesen, S. 85, 121 f.; "Das Gefolgschaftsphänomen ist eine Tatsache. In seiner krassesten Form ist es Führerkult, hingebungsvolle Verehrung des starken Mannes. In seiner mildesten Form ist es Bewunderung eines fernen Idols, Anhänglichkeit an Personen, denen in geregelten Prozeduren Verantwortung übertragen wurde.", Zimmer; Unsere erste Natur, 1979, S. 284.

5. Kap.: Die Situation des Individuums in der modemen Gesellschaft

137

sozio-kulturell angepasst. Daraus resultiert ein für sie niedrigerer Problemlösungsdruck, der ihnen ein primär geplant-rationales Handeln ermöglicht. Dieses kann einen deutlich egozentrierten Charakter annehmen, falls sie ihre Vorteile gegenüber den nicht-angepassten Individuen nutzen. Als Reintegrationsmodus steht ihnen somit die kollektive Egozentrierung offen. 62 Zudem zieht die ökonomische und soziale Auseinandersetzung untereinander und mit den Individuen des Typs 1 mannigfaltige Konflikte nach sich, so dass die von Sander / Heitmeyer vorgeschlagene Integrationsform der permanenten Konfliktregulierung eine weitere Einbindungsoption darstellt. Auf Grund der von ihnen bereits erreichten Adaption können Individuen des Typs 2 aber auch über Multikollektivierung einen Ausgleich ihres Sicherheitsverlustes erreichen und dadurch ihrer Disposition zur Prosozialität Rechnung tragen. Jenseits der traditionellen Container-Theorie haben sie die Fähigkeit, sich simultan und partiell in mehrere Gruppen zu integrieren. 63 Der Einzelne kann sich in ortsgebundene Gesellschaften (wie die einer Stadt, einer Region oder eines Landes) und gleichzeitig in verschiedene nicht notwendigerweise territorial abgegrenzte Gesellschaften (wie Interessens-, Ziel- oder Erfahrungsgemeinschaften) integrieren. 64 Letztere wären z. B. Web-Communities, Fangemeinden, Selbsthilfegruppen, virtuelle Unternehmen oder Umweltschutzorganisationen. 65 Die einzelnen Gesellschaften müssen dabei nicht unbedingt in einem komplementären, sondern können auch in einem neutralen oder gar konfliktären Verhältnis zueinander stehen. Dass Vergesellschaftung nicht mehr rein an ein bestimmtes physisches oder nationales Territorium gebunden ist, wurde erst durch die rapide Entwicklung der modemen Kommunikationstechnolgien möglich, mittels deren in einem noch nie dagewesenen Maße raum-zeitliche Grenzen überbriickt werden können. 66 Dass ein 62 Gross, Ich-Jagd, 1999, S. 264 geht so weit, eine "dritte Moderne" auszurufen, die sich in einer "Icherweckungsbewegung " manifestiert. 63 Veith, Das Selbstverständnis des modernen Menschen, 2001, S. 310 ff. spricht von Individuen mit flexiblem Selbst und polykontextureller Fitness. 64 Zur ortsgebundenen Integration über Vereine und Verbände sowie interpersonale Netzwerke siehe Immerfall, Soziale Integration in westeuropäischen Gesellschaften: Werte, Mitgliedschaften und Netzwerke, in: Hradil/ ders. (Hrsg.), Die westeuropäischen Gesellschaften im Vergleich, 1997, S. 150 ff. 6S Für Hitzler; Verführung statt Verpflichtung, in: Honegger/Hradil/Trax1er (Hrsg.), Grenzenlose Gesellschaft, Bd. 1, 1999, S. 226 besteht das wesentlichste Kennzeichen solcher Gruppierungen "vermutlich darin, daß sich ihre vergemeinschaftende Kraft nicht länger auf ähnliche soziale Lagen griindet, sondern auf ähnliche Lebensziele und ähnliche ästhetische Ausdrucksformen"; die verschiedenen Reintegrationsmöglichkeiten haben für ihn aber unterschiedliche Reichweiten: "Manche sind, zumindest oberflächlich betrachtet, kaum mehr als elaborierte technische Anweisungen zur Bewältigung spezifischer Probleme ... Andere greifen abstrakte Kategorien von »Betroffenheit« auf (z. B. ökologische, geschlechtliche, generationelle, ethnische, nationale, mitunter auch ökonomische). Gemeinsam ist ihnen aber, daß sie kaum allgemeine, existenzübergreifende Gewißheiten vermitteln oder gar Verbindlichkeit beanspruchen.", ders., ebd., S. 227.

138

3. Teil: Moderne und Abstrakte Gesellschaft

Individuum auch ohne seine physische Präsenz einer Gesellschaft angehören kann,67 wird insbesondere durch die Existenz von virtuellen Gesellschaften anschaulich. 68 Die Individuen bedienen sich we1tumspannender Computernetzwerke und des Internets, um neue Formen der Sozialität, wie Web-Communities, Foren, Newsgroups oder Chatrooms, zu erzeugen. 69 Die "virtuelle Realität,,70 hat dabei bereits in fast allen Bereichen des Lebens Einzug gehalten. Computermediatisierte Kommunikation und Vergesellschaftung darf aber nicht isoliert, sondern muss als in die bestehenden sozialen Strukturen eingebettet betrachtet werden. 71 Vor allem das Internet dient dabei nicht allein der Kommunikation innerhalb der digitalen Welten, sondern unterstützt gleichzeitig den Aufbau und die Aufrechterhaltung von ,face to face'-Kontakten. 72 Bei Internetnutzern "überschneiden sich die On66 Auf die bereits bestehenden Möglichkeiten und antizipierten Potentiale der neuen Kommunikationstechnologien kann im Rahmen dieser Arbeit nicht im Detail eingegangen werden. Exemplarisch seien die folgenden Punkte genannt: Nutzung des Internets als passives, aktives oder interaktives Kommunikationsmedium, E-Mail als alltägliches Kommunikationsmittel, Diskussionsforen und Gesprächsplattformen für Echtzeitkommunikation, Steigerung der Datenübertragungsgeschwindigkeiten und Informationsversorgung über Kabel-, Satelliten- und Online-TV. Siehe dazu ausführlich Hinner, Gesellschaftliche Auswirkungen moderner Kommunikationstechnologien am Beispiel des Internets, 2. Auf!. 1998. 67 Albrow, Abschied vorn Nationalstaat, 1998, S. 257 unterstreicht, dass in "der Spätrnoderne ... die Bedeutung der Anwesenheit, des unmittelbaren physischen Kontakts, für die Konstitution sozialer Beziehungen überbetont" wurde und auch die "zeitliche und räumliche Entfernung, die Unterbrechung der Anwesenheit und des Kontakts" für eine Beziehung konstitutiv sind. Siehe aber auch die kritische Diskussion bei Heintz, Gemeinschaft ohne Nähe?, in: Thiedeke (Hrsg.), Virtuelle Gruppen, 2000, S. 188 ff. 68 Bühl, Die virtuelle Gesellschaft, 1997, S. 70 ff. entwirft ein Modell virtueller Gesellschaften und deren Charakteristika. Eine fundamentale Studie über soziale Beziehungen im Computerzeitalter liefert Rheingold, Virtuelle Gemeinschaft, 1994, S. 16 für den soziale Zusammenschlüsse "im Netz entstehen, wenn genug Leute ... öffentliche Diskussionen lange genug führen und dabei ihre Gefühle einbringen, so daß im Cyberspace ein Gefühl persönlicher Beziehungen entsteht". 69 Siehe dazu die empirische und theoretische Studie von Stegbauer, Die Struktur internetbasierter Sozialräume, in: Honegger/Hradil/Traxler (Hrsg.), Grenzenlose Gesellschaft, Bd. 1, 1999, S. 675 ff., der die Unterschiede in den äußeren Bedingungen zwischen Zusammenkünften in (physischen) ,face to face' Situationen und (virtuellen) internetbasierten Sozialräumen sowie die Ursachen für die Bildung jeweils spezifischer Binnenstrukturen untersucht. Knorr Cetina, Sozialität mit Objekten, in: Rammert (Hrsg.), Technik und Sozialtheorie, 1998, S. 83 weist darauf hin, dass "die Bindungsverluste moderner Individuen" auch durch die "Bindung an nicht-menschliche Objektwelten ... , die an die Stelle der menschlichen Formen von Sozialität treten", kompensiert werden können. 70 Bühl, CyberSociety, 1996, S. 115. Zur "Virtualität als Realitätsform" siehe Paetau, Sozialität in virtuellen Räumen, in: B. Becker / ders. (Hrsg.), Virtualisierung des Sozialen, 1997, S. 118 ff. 71 Vgl. Paetau, Computernetzwerke und die Konstitution des Sozialen, in: Honegger/Hradil/Traxler (Hrsg.), Grenzenlose Gesellschaft, Bd. 2, 1999, S. 272. 72 Vgl. Dollhausen/Wehner, Virtualität und Modernität - Zum Verhältnis von elektronischen Medien und sozialer Integration, in: Honegger/Hradil/Traxler (Hrsg.), Grenzenlose Gesellschaft, Bd. 2, 1999, S. 243; auch Hamman, Computernetze als verbindendes Element

5. Kap.: Die Situation des Individuums in der modernen Gesellschaft

139

line-Netze oft mit den Offline-Netzen, wobei sich diese "multimedialen" Beziehungen gegenseitig stabilisieren,m. Trotzdem darf das Phänomen nicht unterschätzt werden, dass durch die Nutzung digitaler Kommunikationsrnedien soziale Strukturen geschaffen werden, die zwar meist nicht vollkommen unabhängig von existierenden geographischen Ordnungen entstehen, aber mit ihrer Verbreitung immer stärkere Autonomie erlangen. 74 Durch das oben Gesagte wird deutlich, dass an die Stelle der vorher durch Geburt determinierten Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft nun die Notwendigkeit des Einzelnen tritt, sich aktiv eine individuelle, integrative Sozialstruktur zu konstruieren, welche aus Komponenten verschiedenster Gesellschaften besteht. Damit werden die starken, vormals weitgehend vorgegebenen sozialen Bindungen zwar nicht vollkommen durch schwächere, auf Freiwilligkeit und Temporalität basierende ersetzt, allerdings um diese ergänzt und damit auch in ihrer Bedeutung relativiert. 75 Wenn Vergesellschaftung also nicht mehr nur in eine oder wenige Richtungen, sondern netzwerkartig und immer stärker technikbasiert vonstatten geht, bedeutet dies, dass die Zahl der individuellen Wahloptionen und -obligationen zunimmt und die soziale Situation für das Individuum dadurch deutlich komplexer wird?6 Da alle Individuen kontinuierlich versuchen, sich besser an ihre Umwelt anzupassen, resultiert daraus ununterbrochene Interaktion und somit eine Erhöhung der sozialen Gesamtkomplexität sowie eine permanente Veränderung der sozialen Mikro- und Makrostrukturen. Veränderung wird zum Normalfall, was zur Folge hat, dass moderne Ordnungen vor allem durch ihre leichte Revidierbarkeit gekennzeichnet sind. 77 "An die Stelle des Wandels im Rahmen einer kontinuitätsgarantierenden von Gemeinschaftsnetzen, in: Thiedeke (Hrsg.), Virtuelle Gruppen, 2000, S. 221 weist darauf hin, dass viele User das Internet dazu nutzen, mit Personen aus bereits vorhandenen sozialen Netzwerken zu kommunizieren; vor allem "Chats sind dabei in den meisten Fällen nicht Ersatz für bestehende soziale Bindungen, sondern ergänzen diese. Die Kommunikationsdienste des Intemets ermöglichen den Aufbau von neuen Bekanntschaften und leisten damit einen Beitrag zur Erweiterung des sozialen Netzes.", vgl. Ch. Müller, Soziale Netzwerke im Internet, http://www.soz.unibe.ch/ii/virt/unipress.htrnl(17. 10.2001). 73 Heintz, Fallstudie 'Die Sozialwelt des Internet', http://www.soz.unibe.ch/ii / virt_d.html (17. 10.2(01). 74 Vgl. Stegbauer, Die Struktur internetbasierter Sozialräume, S. 680. 75 Vgl. Dollhausen/Wehner, Virtualität und Modernität, S. 242; Weyer/Kirchner/Riedl/ Schmidt, Technik, die Gesellschaft schafft, 1997, S. 97 weisen in diesem Kontext darauf hin, dass die "temporäre Stabilität" dieser neuen sozialen Bindungen "auf einem Interessenkonsens der beteiligten Akteure" basiert, "der sich im Alltag jedoch immer wieder bewähren muß". 76 Für Weyer/Kirchner/Riedl/Schmidt, Technik, die Gesellschaft schafft, S. 98 entstehen komplexe, technikbasierte soziale Netzwerke "in einem Prozeß der Selbstorganisation, der von intentionalen Handlungen getragen wird und dennoch eine emergente Struktur hervorbringt, die ihre eigenen, d. h. von den Akteurintentionen unabhängigen Charakteristika, besitzt". 77 Vgl. Giesen, Die Entdinglichung des Sozialen, S. 73. Für Stehr; Die Zerbrechlickeit moderner Gesellschaften, S. 51, 138 nimmt durch die permanenten Veränderungen in modernen Gesellschaften "die generelle Zerbrechlichkeit sozialer Strukturen ... auffallend zu".

140

3. Teil: Modeme und Abstrakte Gesellschaft

Ordnung tritt die Verzeitlichung von Ordnung ,,78. Diese macht "die Bühne frei für eine Gesellschaftstheorie, [die] ... nicht mehr Vertragstheorie, sondern Evolutionstheorie,,79 ist. Hier schließt sich der Kreis zur Theorie der spontanen Ordnungen. Die Betrachtung der Integrationsmodi soll mit einem Blick auf die Individuen des Typs 3 und 4, welche bereits dispositiv auf komplexe soziale Verhältnisse eingestellt sind, beschlossen werden. Auf Grund ihrer Dispositionen sind sie auch bei komplexen Umweltbedingungen einem nur sehr geringen existenziellen Problemlösungsdruck ausgesetzt und handeln daher vorwiegend auf geplant-rationaler Basis. Sie fokusieren ihre Aktivitäten auf die Reintegration, wobei sie diese am einfachsten in den zu ihren Anlagen passenden Gesellschaftsstrukturen erreichen. Als geeigneter Modus der Wiedereinbindung bietet sich für sie daher ebenfalls die bereits vorher erläuterte Form der Multikollektivierung an. Ein weiterer, auch auf die Individuen des Typs 2 zutreffender Punkt muss in diesem Kontext ebenfalls angesprochen werden. Dass die Individuen des Typs 3 und 4 zu einer komplexen Vergesellschaftung fähig sind, bedeutet nicht, dass für sie eine monokollektive Wiedereinbindung, insbesondere auch in eine Geschlossene Gesellschaft, unmöglich ist. Die Entwicklung von der Geschlossenen in Richtung Abstrakte Gesellschaft muss aus evolutorischen Gründen gemäß dem Schema ,GG ---- OG ---- AG ---- ?' über die Offene Gesellschaft laufen. In die andere Richtung ist dies jedoch nicht zwingend. Das bedeutet, dass sich reintegrierende Individuen direkt von abstrakten in geschlossene Gesellschaftsverhältnisse zurückbewegen können.

11. Das Individuum zwischen biographischer Freiheit und ökonomischem Determinismus

Was kann für die biographischen Entwicklungsmöglichkeiten der Individuen in modernen Gesellschaften konstatiert werden? Auf den ersten Blick zeichnen sich zwei gegensätzliche Tendenzen ab. Neben der Institutionalisierung des Lebenslaufs (1.) scheint durch die strukturellen Auswirkungen der Globalisierung ein aus der Makroebene auf das Individuum wirkender ökonomischer Determinismus (2.) zu folgen. Auf der Mikroebene dagegen haben die in modernen Gesellschaften lebenden Individuen eine noch nie dagewesene Gestaltungsfreiheit der eigenen Lebensläufe erreicht, welche ihren Ausdruck in einem Wandel von der Normal- zur Wahlbiographie findet (3.). Die folgenden Ausführungen beschäftigen sich mit diesen Phänomenen und sollen Klärung bringen.

78 79

Giesen. Die Entdinglichung des Sozialen, S. 78. Giesen. Die Entdinglichung des Sozialen, S. 75.

5. Kap.: Die Situation des Individuums in der modemen Gesellschaft

141

1. Die 1nstitutionalisierung des Lebenslaufs

Die Bedeutung der Institutionalisierung des Lebenslaufs als Teil der Herausbildung moderner Gesellschaftsstrukturen wurde als erstes von Martin Kohli breit dokumentiert, analysiert und theoretisch begründet. 80 Er konzeptioniert dabei den Lebenslauf als eine soziale Institution, und zwar nicht im Sinn einer Gruppierung von Individuen, sondern als Verhaltens- und Regelsystem, das einen zentralen Bereich des menschlichen Lebens ordnet. 81 Der Prozess der Institutionalisierung des Lebenslaufs umfasst im Wesentlichen drei Aspekte: 82 Kontinuität im Sinne von verlässlichen und auch materiell gesicherten Lebensabschnitten, Sequenzialität als Synonym für einen geordneten und chronologisch festgelegten Ablauf der wesentlichen Lebensereignisse und Biographizität als Code von persönlicher Entwicklung und Emergenz. Kohli betont, dass er die Institutionalisierung des Lebenslaufs nicht deterministisch, sondern als Antwort auf spezifische gesellschaftliche Problemlagen sieht. 83 Als solche Problemlagen der modernen Nachkriegsgesellschaft nennt 80 Vgl. Kohli, Die Institutionalisierung des Lebenslaufs, KZfSS 1985, S. 1 ff. und grundlegend ders. (Hrsg.), Soziologie des Lebenslaufs, 1978. Siehe aber auch die Arbeit von Levy, Der Lebenslauf als Statusbiographie, 1977; an anderer Stelle fasst ders., Zur Institutionalisierung von Lebensläufen, in: Behrens/Voges (Hrsg.), Kritische Übergänge, 1996, S. 90 ff. acht Indikatoren zusammen, an denen sich die "Institutionalisiertheit von Lebenslaufmustem" ablesen lässt. Eine Übersicht über die verschiedenen quantitativen sowie qualitativen Methoden und Konzepte der Biographie- und Lebenslaufforschung erhält man anhand Kluge / Kelle (Hrsg.), Methodeninnovation in der Lebenslaufforschung, 2001 und Voges (Hrsg.), Methoden der Biographie- und Lebenslaufforschung, 1987. 81 Vgl. Kohli, Die Institutionalisierung des Lebenslaufs, KZfSS 1985, S. 1. Zur analytischen Unterscheidung der Sozialstrukturforschung nach den Konzepten Lebenslagen, Lebensstile und Lebensläufe siehe zusammenfassend P. A. Berger; Individualisierung und sozialstrukturelle Dynamik, in: Beck/ Sopp (Hrsg.), Individualisierung und Integration, 1997, S. 83 f.: Mit Lebenslagen kann das Bestreben bezeichnet werden, der Vielgestaltigkeit alter wie neuer sozialer Ungleichheiten sowie der Pluralisierung von Lebensformen und Lebensführung, durch den Entwurf differenzierender Modelle gerecht zu werden; unter der Überschrift Lebensstile lässt sich die weit verzweigte Diskussion zu Begriffen wie Lebensführung, Lebensgewohnheiten oder Milieus zusammenfassen und unter das Stichwort Lebensläufe sind alle theoretischen und empirischen Arbeiten einzuordnen, die das Leben nicht nur im Quer- sondern auch im Längsschnitt zu analysieren versuchen. 82 Vgl. Kohli, Institutionalisierung und Individualisierung der Erwerbsbiographie, in: Beck/Beck-Gernsheim (Hrsg.), Riskante Freiheiten, 1994, S. 220. P. A. Berger; Individualisierung, S. 77 ff. greift in seinem Modell zur Darstellung der Struktur von Lebensläufen auf ähnliche Elemente wie Kohli zurück, denn sein Schema basiert erstens auf den "Zeitpunkten von Statuspassagen, Lebensereignissen oder Übergängen zwischen Positionen", zweitens auf der "Dauer von Lebensphasen, Status oder Zuständen" und drittens auf den "Sequenzen als zeitlich geordnete Reihenfolge von Passagen, Ereignissen, Statuswechse1 oder Phasen"; er interpretiert "Lebenverläufe als "äußere" Gestalten von Sequenzen" und "Biographien als innere, "subjektive" Repräsentation ... dieser Verlaufsformen". Zur Differenzierung zwischen Lebenslauf und Biographie siehe auch Hahn, Biographie und Lebenslauf, in: Brose/Hildenbrand (Hrsg.), Vorn Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende, 1988, S. 93 f. und Siebers, Zwischen Normalbiographie und Individualisierungssuche, 1996, S. 39 ff. 83 Vgl. Kohli, Die Institutionalisierung des Lebenslaufs, KZfSS 1985, S. 13.

142

3. Teil: Modeme und Abstrakte Gesellschaft

er die Felder Rationalisierung, soziale Kontrolle, Nachfolgeregelungen und Integration. 84 Erst die Entwicklungen in jüngerer Zeit brachten deutlich zum Vorschein, dass sich über die letzten Jahrzehnte hinweg in westlichen Industriegesellschaften etwas vollzogen hatte, was offenbar für normal gehalten wurde und als Standard eine gewisse Allgemeinverbindlichkeit beanspruchen konnte. 85 Durch den in den 50er Jahren einsetzenden Individualisierungsprozess lösten sich zwar die Menschen aus traditionellen Strukturen heraus, wurden aber auch gleichzeitig in ein neu entstandenes, allgemeines institutionelles Muster eingebunden 86 . Ständisch geprägte, klassenspezifische oder familiale Lebensverläufe wurden durch institutionelle Lebenslaufmuster überlagert oder ersetzt. 87 Als Folge verbürgte nicht mehr, wie vorher in traditionellen Gesellschaften, "eine stabile Lebenslage . .. soziale Ordnung bzw. Kontrolle, sondern ein rege1hafter - und damit verläßlich erwartbarer - Lebenslauf,88. Wie kann diese Verlässlichkeit nachvollzogen werden? Neben der Verlängerung der Lebenszeit gilt die Dreiteilung in eine Vorbereitungs-, eine Erwerbs- bzw. Aktivitäts- und eine Ruhephase als hervorstechendes Charakteristikum moderner Lebensläufe. 89 Der Lebenslauf ist dabei in der Regel 84 Bei Rationalisierung denkt Kohli, Die Institutionalisierung des Lebenslaufs, KZfSS 1985, S. 14 an "die Ebene der Rationalisierung der staatlichen Leistungssysteme", wobei sich chronologisches Alter "offenbar besonders gut für diese Art von Rationalisierung" eignet, da es "den Lebenslauf - und damit den Durchlauf der Individuen durch soziale Systeme - regelhaft und berechenbar" macht; was die soziale Kontrolle anbelangt, so "ist die Institutionalisierung des Lebenslaufs das notwendige Korrelat zur Freisetzung des Individuums, das funktionale Aquivalent zur früheren äußeren Kontrolle", vgJ. ders., ebd., S. 15; da heute familiale und ökonomische Sukzession nicht mehr ineinandergreifen, ist die Nachfolgeregelung ein "Prozeß der Rekrutierung von einem Markt freier Arbeit", vgJ. ders., ebd., S. 16; Unternehmen und Individuum treten auseinander und es entstehen "Kohorten mit beliebigen Zeitabständen und einer Fülle unterschiedlicher zeitlicher Bezugspunkte", welche mit institutionalisierten Lebensläufen wieder synchronisiert werden können, vgJ. ders., ebd., S. 16 f.; die Problernlage ,Integration' stellt die Unternehmen vor die Aufgabe, die individuelle Lebenszeit ihrer Mitarbeiter in die Zeitstruktur des Betriebs einzupassen, und die Individuen müssen ihre berufliche und private Entwicklung aufeinander abstimmen, vgJ. ders., ebd., S. 17. 85 VgJ. Osterland, "Normalbiographie" und ,,Normalarbeitsverhältnis", in: P. A. Berger/ Hradil (Hrsg.), Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile, 1990, S. 351. 86 VgJ. Kohli, Normalbiographie und Individualität: Zur institutionellen Dynamik des gegenwärtigen Lebenslaufregimes, in: Brose/Hildenbrand (Hrsg.), Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende, 1988, S. 37. 87 VgJ. Beck, Risikogesellschaft, S. 211; Kohli, Gesellschaftszeit und Lebenszeit, in: J. Berger (Hrsg.), Die Modeme - Kontinuitäten und Zäsuren, 1986, S. 184. 88 Kohli, Normalbiographie und Individualität, S. 37. Für K. U. Mayer, Gesellschaftlicher Wandel, Kohortenungleichheit und Lebensverläufe, in: P. A. Berger / Sopp (Hrsg.), Sozialstruktur und Lebenslauf, 1995, S. 28 impliziert die Institutionalisierung des Lebenslaufs "eine auf Dauer gestellte und subjektiv fest kalkulierbare zeitliche Gliederung und ein klar definiertes Muster von Übergängen". 89 VgJ. Kohli, Die Institutionalisierung des Lebenslaufs, KZfSS 1985, S. 3; P. A. Berger; Individualisierung, S. 75.

5. Kap.: Die Situation des Individuums in der modernen Gesellschaft

143

"um das Erwerbssystem herum organisiert,,9o. Das Wirtschaftswachstum und die Stabilität der Arbeitsverhältnisse in der Nachkriegszeit dürften daher die entscheidenden Voraussetzungen dafür gewesen sein, dass sich, gestützt auf ein bestimmtes Gerüst der Lebensführung, eine Normalbiographie herausbildete. 91 Während der Zeitraum der Erwerbstätigkeit seit jeher primär der Gestaltung durch den Einzelnen unterlag, wurde mit dem Bildungssystem die Phase davor und mit dem Rentensystem die nachfolgende von staatlichen Systemen strukturiert. 92 Und obgleich die Einteilung des Lebenslaufs in klar abgegrenzte Abschnitte um die Erwerbsphase herum natürlich in gewisser Weise eine Diskontinuität darstellt und es auch innerhalb der Erwerbszeit eine Vielzahl von möglichen Brüchen und Übergängen gibt, so ist doch die folgende Tatsache von entscheidender Bedeutung: Alle Etappen des Lebenslaufs bildeten "Teile eines einheitlichen, übergreifenden und als solches antizipierbaren Ablaufprogramms ... , das Kontinuität über die diskontinuierlichen Teile hinweg herstellt,,93. Der Hauptgrund dafür ist, dass die beiden an den Erwerbszeitraum angrenzenden Phasen durch staatliche Maßnahmen exakt auf die Erwerbsperiode zugeschnitten waren und dabei sich herausbildende Vorstellung von einem Normalarbeitsverhältnis unterstellt wurde. 94 Das bedeutet, dass von einem Arbeitsverhältnis in Form einer arbeits- und sozialrechtlich abgesicherten, in Einklang mit tarifrechtlichen Vereinbarungen stehenden, kontinuierlichen und auf Dauer angelegten Vollzeitbeschäftigung ausgegangen wurde. 95 Die Gesamtzusammenhänge der einzelnen Phasen werden insbesondere dann deutlich, wenn man die Organisation der Erwerbstätigkeit im Zusammenhang mit der darauf gerichteten Sozialpolitik betrachtet. Die Geschichte des modemen staatlichen Sozialversicherungs- und Wohlfahrts systems kann als historische Konstruktion eines kontinuierlichen Lebenslaufs gedeutet werKohli, Die Institutionalisierung des Lebenslaufs, KZfSS 1985, S. 3. Vgl. Osterland, "Norma1biographie" und "Normalarbeitsverhältnis", S. 351. Nach Wohlrab-Sahr; Über den Umgang mit biographischer Unsicherheit - Implikationen der "Modernisierung der Moderne", SozW 1992, S. 220 entstand eine "geteilte Vorstellung, wie und mit welcher Gewichtung zentrale Lebensbereiche ... im Zeitablauf miteinander verknüpft werden sollen". 92 Vgl. Kohli, Institutionalisierung und Individualisierung der Erwerbsbiographie, S. 222. 93 Kohli, Institutionalisierung und Individualisierung der Erwerbsbiographie, S. 222. Zur Strukturierungskraft des Berufs innerhalb der Erwerbsphase und in den Phasenübergängen siehe Sackmannl Rasztar; Das Konzept 'Beruf' im lebenslaufsoziologischen Ansatz, in: Heinz/DresseIlBlaschke/Engelbrech (Hrsg.), Was prägt Berufsbiographien?, 1998, S. 30 ff. 94 Vgl. Kohli, Institutionalisierung und Individualisierung der Erwerbsbiographie, S. 222. Für Beck, Risikogesellschaft, S. 215 ist "das Normal-Arbeitsverhältnis" das "Rückgrat der Normalbiographie". 95 Vgl. Osterland, "Normalbiographie" und "Normalarbeitsverhältnis", S. 351. "Das Normalarbeitsverhältnis hat in der Prosperitätsphase der Bundesrepublik" nach Heinzl Behrens, Statuspassagen und soziale Risiken im Lebensverlauf, 1991, S. 2 "als Leitbild der Arbeitsmarktpolitik an Geltung und Verbreitung gewonnen". Zur Bestimmung des Inhalts des Attributs "normal" im Kontext des Arbeitsverhältnisses siehe auch Mückenberger; Die Krise des Normalarbeitsverhältnis, ZSR 1985, S. 422 ff. 90 91

144

3. Teil: Modeme und Abstrakte Gesellschaft

den. 96 Indem die Sozialpolitik die Arbeitsverhältnisse normalisiert, normalisiert sie auch die Biographie des Erwerbstätigen, denn sie sichert Kontinuität auch dort, wo das Erwerbssystem Lücken lässt. 97 Auf Basis sozialstaatlicher Regulierungen eröffnete also die Normierung lebenslaufbezogener Erwartungen die individuelle Antizipation von wahrscheinlichen und als normal erachteten Ereignisfolgen,98 aber auch die politische Gestaltbarkeit von Lebensläufen99 . Die oben analysierte Institutionalisierung des Lebenslaufs in modernen Gesellschaften ist komplementär mit den Annahmen und Aussagen des Modells der Abstrakten Gesellschaft. In ihrer evolutorischen sozio-kulturellen Entwicklung haben sich die Menschen aus geschlossenen Verhältnissen befreit und in Offenen Gesellschaften wieder zusammengefunden. Der Platz des Einzelnen innerhalb der Binnengrenzen der Gesellschaft ist zwar infolgedessen nicht mehr ex ante durch eine geplante Ordnung determiniert, aber dennoch findet er sich in bestimmten Schichten, wie z. B. Klassen oder Milieus, wieder. Der einsetzende Individualisierungsprozess führte dazu, dass sich die Individuen aus traditionellen Gesellschaftsstrukturen lösten, was jedoch einen Sicherheitsverlust zur Folge hatte, der im ersten Schritt temporär über geplante Ordnungen in Form von wohlfahrtsstaatlichen Systemen ausgeglichen werden konnte. Normalbiographien waren das Ergebnis dieser Entwicklung. Mittlerweile hat sich die Situation allerdings gewandelt, denn die aus erkenntnistheoretischen Gründen beschränkte Gestaltungskraft geplanter Ordnungen ist nicht mehr in der Lage, die aus den Folgen individueller Handlungen in der Erwerbsphase resultierenden spontanen Ordnungen, welche prinzipiell keine Komplexitätsgrenzen aufweisen, in einer intendierten Art und Weise zu strukturieren. Da das im Tages-, Wochen-, Monats-, Jahres- oder Lebensphasenrhythmus variierende Ausmaß der Einbindung in die Erwerbstätigkeit in modernen Gesellschaften nach wie vor der dominierende Bezugspunkt ist, an dem die meisten Menschen ihre Lebenslaufplanung, aber auch ihr tägliches Leben, ausrichten,l00 ist eine Tendenz zur De-Institutionalisierung 101 zu verzeichnen. Aus der Perspektive des IndiVgl. Kohli, Institutionalisierung und Individualisierung der Erwerbsbiographie, S. 223. V gl. Kohli, Institutiona1isierung und Individualisierung der Erwerbsbiographie, S. 223. 98 Vgl. Wohlrab-Sahr, Über den Umgang mit biographischer Unsicherheit, SozW 1992, S. 219. Zur Normalbiographie als individuelles psychologisches Regulativ siehe Kalicki, Lebensverläufe und Se1bstbilder, 1996. 99 Vgl. Beck, Risikogesellschaft, S. 212. !OO Vgl. P. A. Berger; Individualisierung, S. 75; auch Kohli, Gesellschaftszeit und Lebenszeit, S. 186 weist deutlich auf die individuelle Bedeutung von Arbeit hin. 101 Vgl. Kohli, Normalbiographie und Individualität, S. 42 ff.; Wohlrab-Sahr, Über den Umgang mit biographischer Unsicherheit, SozW 1992, S. 220; für Heinzl Behrens, Statuspassagen und soziale Risiken im Lebensverlauf, S. 2 sind die "Indizien für die Herausbildung diskontinuierlicher Lebensläufe massiv". Durchaus kritisch gegenüber der De-Institutionalisierungsthese ist K. U. Mayer; Soziale Ungleichheit und die Differenzierung von Lebensläufen, in: Zapf (Hrsg.), Die Modemisierung der modemen Gesellschaft, 1991, S. 667. 96 97

5. Kap.: Die Situation des Individuums in der modemen Gesellschaft

145

viduums "läßt sich dieser Prozeß als Zunahme von Unsicherheit . .. [und als] ein gesteigertes Maß an sozialer Komplexität,.!o2 beschreiben. Hier zeigt sich ein weiteres Spiegelbild der Situation in der Abstrakten Gesellschaft. Welche Folgen sich hieraus für den Einzelnen in Abhängigkeit von seiner individuellen Angepasstheit ergeben, werde ich im übernächsten Punkt genauer untersuchen. Zunächst muss noch das Problem beleuchtet werden, ob es, wie häufig unterstellt, einen ökonomischen Determinismus gibt, dem die Globalisierung folgt. Ware das der Fall, so hätte dieser direkte Auswirkungen auf den Entscheidungs- und Handlungsspielraum der Individuen, welcher dann rein durch wirtschaftliche Erwägungen bestimmt wäre.

2. Globalisierung und ökonomischer Determinismus

Die Zahl der Publikationen zum Thema Globalisierung hat mittlerweile einen kaum mehr zu überblickenden Umfang angenommen. 103 Trotz einer starken Divergenz in der inhaltlichen Verwendung des Globalisierungsbegriffs lO4 ist ein Phänomen sehr auffällig: Der Globalisierung wird häufig, implizit oder explizit, ein eigengesetzlicher, ökonomisch-deterministischer Charakter unterstellt. 105 Dies äußert sich besonders offensichtlich in Titeln, wie "Die neue Logik der Weltwirtschaft" 106, "Der Prozeß der Globalisierung ist unurnkehrbar,,107 oder die "Logik der Globalisierung,,108. Die Implikationen einer solchen Sichtweise sind nicht zu 102 Vgl. Wohlrab-Sahr, Über den Umgang mit biographischer Unsicherheit, SozW 1992, S.220. 103 Siehe dazu die Bibliographie Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (Hrsg.), Globalisierung der Weltwirtschaft, 2000 mit einer nach Themengebieten geordneten Auswahl von insgesamt über 1000 verschiedenen Publikationen. 104 Zu verschiedenen Dimensionen der Globalisierung siehe Beck, Was ist Globalisierung?, S. 61 ff.; nach den Ergebnissen der Analysen von Germann/Raab/Setzer, Messung der Globalisierung: ein Paradoxon, in: Steger (Hrsg.), Facetten der Globalisierung, 1999, S. 1 herrscht "in der öffentlichen Diskussion als auch in der wissenschaftlichen Literatur ... unverändert eine unübersehbare Konzeptionslosigkeit hinsichtlich des Bedeutungsinhalts von ,Globalisierung'" . 105 Albrow, Abschied vom Nationalstaat, S. 157 merkt kritisch an, dass die Behauptung, wonach die Modeme und ihre wirtschaftliche Entwicklung die Globalisierung antreibe, "letztere zum notwendigen Produkt eines Prozesses" macht, "der einem inneren Entwicklungsgesetz folgt"; vor dem Hintergrund "Poppers Auffassung von der Unmöglichkeit, die Zukunft vorherzusagen" erscheint eine solche "Globalisierungstheorie als ein widersinniger Rückfall in die Vergangenheit .. . [und] als Versuch, einer erloschenen Denkweise neues Leben einzuhauchen. Einige ihrer wichtigsten Verfechter neigen dazu, die Globalisierung als Fortsetzung einer Meistererzählung anzusehen, die mit der Modeme oder sogar noch früher begann", vgl. ders., ebd., S. 155 f. 106 Ohmae, Die neue Logik der Weltwirtschaft, 1992. An andere Stelle spricht ders., Der neue Weltmarkt, 1996, S. 43 von "der Logik eines globalen Marktes", dem sich die Staaten anzupassen hätten. 107 Reif, Der Prozeß der Globalisierung ist unumkehrbar, Universitas 1999, S. 1212 ff.

10 Tiefel

146

3. Teil: Moderne und Abstrakte Gesellschaft

unterschätzen. Falls man Globalisierung als quasi unveränderliche, exogene ökonomische Kraft betrachtet, dann beschneidet sie in Folge "die Autonomie der Staaten und zwingt zu drastischen Veränderungen bestehender Politiken; sie untergräbt die Demokratie und damit die Legitimität des politischen Systems; sie verändert die Natur der Souveränität und transformiert letztlich die Grundstrukturen des internationalen Systems,,109. So verstanden würde Globalisierung generell soziale Strukturen in einer Weise bestimmen, dass die Individuen keine wirkliche Entscheidungsfreiheit zur Gestaltung ihrer Lebensumstände mehr hätten und somit determiniert wären. Aber ist dem wirklich so? Analysiert man den Inhalt der Diskussion um die ökonomische Globalisierung genauer, so fällt auf, dass die weltweite Vernetzung der Wirtschaft, die früher unter der volkswirtschaftlichen Überschrift ,Außenwirtschaft und internationale Arbeitsteilung' bearbeitet wurde, heute lediglich mit einem anderen, modischeren Begriff belegt ist. 110 Der grenzüberschreitende Austausch von Waren, Dienstleistungen oder Kapital ist keine spezifische Erfindung der letzten Jahrzehnte, sondern findet schon viel länger statt. 111 Ein chronologischer Blick auf klassische Handelstheorien hilft also bei der Klärung der oben gestellten Determinismusfrage. Dogmenhistorisch ist das Werk von Adam Smith von besonderer Bedeutung für die Außenhandelstheorie. 112 In seiner Hauptschrift ,An Inquiry into the Nature and Causes ofthe Wealth ofNations' geht er ausführlich auf die Vorteile der internationalen Arbeitsteilung für die Individuen eines Landes ein. 113 Smith überträgt die 108 v. Weizäcker, Logik der Globalisierung, 1999, S. 162; dieser weist deutlich darauf hin, dass er den im Rahmen der Globalisierung zu beobachtenden "Trend zu vermehrter Arbeitsteilung, zur Professionalisierung für unurnkehrbar und für universell" hält. 109 Beisheim/Dreher/Walter/Zangl/Züm, Im Zeitalter der Globalisierung?, 1999, S. 15. 110 Der neue Begriff der Globalisierung zieht für Beyfuß / Fuest / Grämling / Klös / Kroker / Lichtblau/Weber, Globalisierung im Spiegel von Theorie und Empirie, 1997, S. 5 seine Rechtfertigung lediglich aus der Tatsache, dass sich in den letzten Jahrzehnten das Tempo, die Formen und die Teilnehmer an der internationalen Arbeitsteilung verändert haben. 111 Darauf weisen auch Germann/Raab/Setzer, Messung der Globalisierung: ein Paradoxon, S. 1 ausdriicklich hin; so liegen nach ihren Untersuchungen beispielsweise die Exportund Importquoten Deutschlands oder Großbritanniens heute bei der gleichen Größenordnung wie bereits 1913. 112 Söllner, Die Geschichte des ökonomischen Denkens, 1999, S. 29 ff. hebt hervor, dass Smiths Werk in engen Zusammenhang mit seiner grundsätzlichen philosophischen und epistemologischen Position zu sehen ist; dieser war ein Anhänger der utilitaristischen Philosophie Humes und glaubte an eine Ordnung der Tauschwirtschaft, innerhalb derer die unsichtbare Hand des Wettbewerbs dafür sorgen würde, dass durch die Verfolgung von Einzelinteressen gleichzeitig das Gesamtinteresse gefördert wird; diese Ordnung müsste nach Smiths Auffassung nicht durch die Vernunft erkannt und konstruiert werden, sondern würde sich durch die Handlungen der Marktteilnehmer von selbst herausbilden; dem Eigennutzstreben der Individuen müsse allerdings durch die Fähigkeit sich in andere hineinzuversetzen und durch die Stimme des Gewissens Grenzen gesetzt werden, da andernfalls nicht Harmonie, sondern Anarchie das soziale Resultat wäre.

5. Kap.: Die Situation des Individuums in der modernen Gesellschaft

147

Argumentation von den Vorteilen der Arbeitsteilung zwischen einzelnen Personen auf die internationale Arbeitsteilung. Das folgende Zitat soll dies verdeutlichen: "Ein Familienvater, der weitsichtig handelt, folgt dem Grundsatz, niemals selbst etwas herzustellen versuchen, was er sonstwo billiger kaufen kann. So sucht der Schneider, seine Schuhe nicht selbst zu machen, er kauft sie vielmehr vom Schuhmacher. Dieser wird nicht eigenhändig seine Kleider nähen, sondern läßt sie vom Schneider anfertigen . ... Was aber vernünftig im Verhalten einer einzelnen Familie ist, kann für ein mächtiges Königreich kaum töricht sein,,114. Hieraus leitet Smith ab: "Kann uns also ein anderes Land eine Ware liefern, die wir selbst nicht billiger herzustellen imstande sind, dann ist es für uns einfach vorteilhafter, sie mit einem Teil unserer Erzeugnisse zu kaufen, die wir wiederum günstiger als das Ausland herstellen können"lI5. Der Jahresertrag einer Volkswirtschaft mit entsprechendem Güteraustausch ist daher höher als derjenigen ohne - allerdings nur, wenn die Austauschverhältnisse nicht festgesetzt werden, sondern dem freien Spiel der Kräfte des Marktes überlassen bieibenY6 Wie man leicht erkennen kann, geht Smith in seinen Beispielen davon aus, dass die Produktionsvoraussetzungen in den betrachteten Ländern so sind, dass das eine Land bei dem einen Gut und das andere Land bei einem anderen Gut absolute Kostenvorteile in der Produktion hat. 117 Damit ist allerdings noch die Frage ausgeklammert, was ein Land machen soll, wenn es bei keinem Produkt einen Kostenvorteil hat. David Ricardo greift diese Frage auf und stellt in seiner Theorie der komparativen Kostenvorteile heraus, dass für den internationalen Handel nicht die absoluten Preise, sondern die Preisverhältnisse der einzelnen Güter in verschiedenen Ländern entscheidend sind, wobei die Preisverhältnisse auf den Relationen der Produktionskosten beruhenYs In seinem beriihmten Beispiel über den Handel von Wein und Tuch zwischen Portugal und England versucht er nachzuweisen, dass internationaler Handel auch dann von Vorteil für ein Land ist, wenn es absolute Kostenvorteile bei beiden Gütern besitzt. 119 Ricardo kommt zu dem Ergebnis, dass die Individuen beider Länder vom Außenhandel profitieren, wenn sie sich auf die Produktion des Gutes spezialisieren, das sie verhältnismäßig (aber nicht zwingend absolut) billiger herstellen können, und für das jeweils andere Gut einen Teil ihrer Produktion ein113 A. Smith, An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, 1776; ders., Der Wohlstand der Nationen, 1983. 114 A. Smith, Der Wohlstand der Nationen, S. 371 f. 115 A. Smith, Der Wohlstand der Nationen, S. 372. 116 Vgl. A. Smith, Der Wohlstand der Nationen, S. 373 f. 117 Vgl. Seil, Einführung in die internationalen Wirtschaftsbeziehungen, 1991, S. 126; zur mathematischen und graphischen Darstellung von absoluten Kostenvorteilen siehe Siebert, Außenwirtschaft, S. 17 ff. 118 Ricardo, On the Principles of Political Economy and Taxation, 1817; ders., Über Grundsätze der politischen Ökonomie und der Besteuerung, 1994. 119 Vgl. Ricardo, Über Grundsätze der politischen Ökonomie und der Besteuerung, S. 114 ff.

10*

148

3. Teil: Moderne und Abstrakte Gesellschaft

tauschen. 120 Das daraus resultierende Theorem lautet: Jedes Land spezialisiert sich auf die Produktion des Gutes, bei dem es einen komparativen Kostenvorteil besitzt, und tauscht die nicht selbst verbrauchten Überschüsse gegen andere Güter, die nur mit komparativen Nachteilen erzeugt werden könnten. 121 Führt man die Gedanken Ricardos konsequent zu Ende, so käme es zu einer vollkommenen Spezialisierung der Länder auf die Produktion jeweils nur eines Gutes, wodurch die Frage nach den Produktionskapazitäten der beteiligten Länder eine entscheidende Bedeutung für das Ausmaß des internationalen Handels erhält. 122 Wurden die Kosten- und Produktionsvorteile eines Landes bisher allgemein mit Produktivitätsunterschieden in einzelnen Branchen erklärt, so weist Bertil Ohlin auf die Bedeutung der ungleichen Ausstattung der Länder mit den Produktionsfaktoren Arbeit, Kapital und Boden hin, von der wiederum auch die Produktionskapazität der einzelnen Volkswirtschaften direkt abhängt. 123 Elin Heckseher kam in seinen Analysen zu ähnlichen Ergebnissen, setzte aber darüber hinaus den Außenhandel noch in Beziehung zu der Einkommensverteilung. 124 Daraus entwickelte sich das Heckscher-Ohlin-Theorem, welches besagt, dass ein Land jene Güter produzieren und exportieren wird, die vor allem Produktionsfaktoren benötigen, mit denen es relativ reichlich ausgestattet iSt. 125 Aus der Aussage des Theorems kann weiterhin abgeleitet werden, dass bei Unterlassung staatlicher Interventionen eine Tendenz zum internationalen Ausgleich der Faktorpreise besteht und der freie Handel die fehlende Mobilität der Produktionsfaktoren ersetzen kann. 126 Die Diskussionen um das Leontief-Paradoxon l27 haben zudem deutlich werden lassen, dass in vielen Fällen nicht die Mengenrelationen (also der quantitative 120 Vgl. Söllner, Die Geschichte des ökonomischen Denkens, S. 46 sowie die ausführlichen mathematischen und graphischen Herleitungen bei Borchert, Außenwirtschaftslehre, 6. Aufl. 1999, S. 26 ff., Sieben, Außenwirtschaft, S. 29 ff. und Ethier, Moderne Außenwirtschaftstheorie, 4. Aufl. 1997, S. 9 ff. 121 Vgl. Rose/Sauemheimer, Theorie der Außenwirtschaft, 13. Aufl. 1999, S. 381. 122 Vgl. Borchert, Außenwirtschafts lehre, S. 55. 123 Vgl. Ohlin, Interregional and International Trade, 1933. 124 Vgl. Heckseher, The Effect of Foreign Trade on the Distribution of Income, Ekonomisk Tidskrift 1919, S. 497 ff. 125 Vgl. Sieben, Außenwirtschaft, 6. Aufl. 1994, S. 60; Rose/Sauemheimer, Theorie der Außenwirtschaft, S. 414 sprechen synonym vom "Faktorproportionentheorem"; eine umfassende mathematische Herleitung des Heckscher-Ohlin-Theorems findet sich bei Broll/Gilroy, Außenwirtschaftstheorie, 1989, S. 9 ff. 126 Vgl. Ethier, Modeme Außenwirtschaftstheorie, 4. Aufl. 1997, S 149, der auch vom "Faktorausgleichstheorem" spricht; Borchert, Außenwirtschaftslehre, S. 69 formuliert: Ein Gleichgewicht ist im internationalen Handel dann erreicht, wenn das Verhältnis der Grenzprodukte der Produktuinsfaktoren in allen Ländern gleich ist, was bedeutet, dass die Grenzrate der Substitution dK / dA international identisch ist. 127 Nach der Ansicht von Heckscher und Ohlin spezialisiert sich ein Land auf die Herstellung von Waren, bei deren Produktion vor allem Faktoren benötigt werden, die relativ reichlich in diesem Land vorhanden sind. Die allgemeine Auffassung nach dem zweiten Weltkrieg war, dass die USA relativ reich mit Kapital und relativ knapp mit Arbeitskräften ausgestattet

5. Kap.: Die Situation des Individuums in der modemen Gesellschaft

149

Aspekt), sondern die Qualität der vorhandenen Produktionsfaktoren von großer Bedeutung ist. Unterscheidet man in Konsequenz zwischen einfacher und qualifizierter Arbeit und führt ein hohes Qualifikationsniveau auf besonders hohe Investitionen in Humankapital zurück, so lässt sich bei Verwendung eines erweiterten Kapitalbegriffs (Sachkapital plus Humankapital) jedoch das Leontief-Paradoxon auflösen und mit dem Heckscher-Ohlin-Theorem vereinbaren. 128 Dieser kurze Abriss der klassischen Außenwirtschaftstheorien soll deutlich machen, dass nicht ein historizistischer Mechanismus oder Automatismus hinter der Internationalisierung oder Globalisierung des Handels steckt, sondern die wirtschaftliche Vorteilhaftigkeit solcher Aktivitäten für alle beteiligten Personen. Die Individuen haben die freie Entscheidung, am Handel teilzunehmen oder es zu lassen. Wenn sie primär kurzfristigen und ökonomischen Erwägungen folgen, werden sie internationalen Handel betreiben. Sollten sie aber der Ansicht sein, dass die daraus resultierenden mittel- oder langfristigen Konsequenzen, ob intendiert oder nicht, unvorteilhaft sind, so haben sie die Möglichkeit, mittels politischer Einflussnahme die entsprechenden gesetzlichen Rahmenbedingungen zu verändern. Durch staatliche Maßnahmen könnte dann der internationale Handel entsprechend reglementiert werden. Für die Individuen hat die Globalisierung also nicht zur Folge, dass sie gezwungen werden rein ökonomisch zu handeln und ihr Leben danach auszurichten. Sie beeinflusst zwar die sozialen Rahmenbedingungen, unter denen die Individuen ihre Lebensverlaufsentscheidungen treffen, determiniert diese allerdings nicht. Das bedeutet, dass die Lebensläufe der Individuen in modemen Gesellschaften nicht durch die Globalisierung festgelegt, sondern allenfalls durch die aus ihr resultierenden volkswirtschaftlichen Erwerbs- und Wohlfahrtseffekte geprägt sind. 3. Von der Normal- zur Wahlbiographie

Es wurde bereits beschrieben, wie sich im Rahmen der Institutionalisierung des Lebenslaufs Normalbiographien herausbildeten, die den Individuen nach ihrem Lösen aus traditionellen Gesellschaftsstrukturen eine erste Stabilisierung der eigenen Lebensverhältnisse ermöglichten. Die Normalbiographien basierten auf der Vorstellung von Normalarbeitsverhältnissen innerhalb der Erwerbsphase und auf ist. Demnach müssten die Vereinigten Staaten kapitalintensive Produkte exportieren und arbeitsintesive Güter importieren. Leontief (Hrsg.), Studies in the Structure of American Economy, 1953 und ders., Domestic Production and Foreign Trade: The American Capital Position Reexamined, Econornica Intemazionale 7/1954 kam in seinen empirischen Studien über den Außenhandel der USA jedoch zu einem entgegengesetzten Ergebnis: Die Exporte waren relativ arbeitsintensiv und die Importe relativ kapitalintensiv; zu den Methoden und Ergebnissen Leontiefs siehe auch Borchert, Außenwirtschaftslehre, S. 87 ff. 128 Nach Rose/Sauernheimer, Theorie der Außenwirtschaft, S. 415 f. lassen sich die nach Leontief als arbeitsintesiv geltenden USA-Exporte im Sinne eines erweiterten Kapitalbegriffs als kapitalintensiv beschreiben.

150

3. Teil: Modeme und Abstrakte Gesellschaft

den staatlichen Maßnahmen der vorgelagerten Bildungs- und der nachfolgenden Rentenphase, welche genau auf ein solches Erwerbsverständnis ausgerichtet waren. Mittlerweile hat sich die Lage allerdings verändert, denn durch die nichtintentionalen Folgen absichtsvoller individueller Handlungen, nicht zuletzt im Rahmen internationaler Aktivitäten, bildeten sich auf dem (Arbeits-)Markt spontane Ordnungen von hoher Komplexität heraus. 129 Die Einheitlichkeit des Normalarbeitsverhältnis wurde durch die Vielfalt neuer Erwerbsformen (wie z. B. befristete Arbeitsverhältnisse, verschiedene Arten der Teilzeit- oder Leiharbeit), neuer Formen der Arbeitsorganisation und des Personaleinsatzes und durch die steigende Zahl an selbstständig tätigen Personen abgelöst. 130 Die technische Entwicklung und die Arbeitsteilung in modernen Gesellschaften lassen zudem immer neue Berufsfelder entstehen, wodurch die steigende Differenzierung der Berufsstrukturen auch eine größere Vielfalt beruflicher Laufbahnen impliziert. 131 Es konnte gezeigt werden, dass "Erwerbsverläufe nach einer vor allem bei Männern ausgeprägten Periode der "Ruhe" in den 50er und 60er Jahren instabiler und vielfältiger werden und sich mit zunehmender Gegenwartsnähe seltener geschlechtsspezifisch aus geformten "NormalmodelIen" fügen,,132. Welche Auswirkungen hat dies auf die Lebenslaufgestaltung der Individuen? Peter Berger charakterisiert die gegenwärtige Situation anband seines Eisenbahn / Automodells sehr anschaulich: 133 Bildhaft ausgedrückt kann sie als Wechsel oder zumindest Gewichtsverlagerung zwischen zwei Verkehrssystemen, die jeweils einem unterschiedlichen Organisationsprinzip folgen, beschrieben werden. Es gibt nicht lediglich neue Anfangs-, Zwischen- und Endstationen, auch werden nicht nur die Sitz- und Stehplätze umverteilt und es treten zudem nicht bloß neue Fahr129 Zapf! Breuer I Hampell Krause I Mohr IWiegand. Individualisierung und Sicherheit, 1987, S. 133 kommen in ihrer Studie zu dem Ergebnis, dass "die klare Strukturierung der Gesellschaft" und "die klare Gliederung des Lebenslaufs in Ausbildung, Erwerbstätigkeit und Ruhestand .... durch vielfältigere Muster ersetzt" wurde. 130 Vgl. Osterland. ,,Normalbiographie" und ,,Norma1arbeitsverhältnis", S. 353; nach K. U. Mayer. Soziale Ungleichheit und die Differenzierung von Lebensläufen, S. 669 führt der "Strukturwandel der Wirtschaft ... immer seltener zu lebenslangen Beschäftigungen und zum Normalarbeitsverhältnis"; auch nach Mutz. Erwerbsbiographische Diskontinuitäten in West- und Ostdeutschland, in: P. A. Berger / Sopp (Hrsg.), Sozialstruktur und Lebenslauf, 1995, S. 205 wurde das Normalarbeitsverhältnis "als dominierendes "Sozialmodell" abhängiger Erwerbsarbeit ... empirisch seltener"; siehe dazu die umfassende Studie von MutzlLudwig-Mayerhofer I Koenenl Eder I Bonß. Diskontinuierliche Erwerbsverläufe, 1995. 131 Vgl. BuchmannlSacchi, Zur Differenzierung von Berufsverläufen, in: P. A. Berger/ Sopp (Hrsg.), Sozialstruktur und Lebenslauf, 1995, S. 50; zur Struktur und Entwicklung der Berufsgruppen in Deutschland siehe Schäfers. Sozialstruktur und sozialer Wandel in Deutschland, 7. Auf!. 1998, S. 187 ff. 132 P. A. BergeT; Mobilität, Verlaufsvielfalt und Individualisierung, in: ders. / Sopp (Hrsg.), Sozialstruktur und Lebenslauf, 1995, S. 65. Siehe auch die empirische Studie von Siebers, Zwischen Normalbiographie und Individualisierungssuche, S. 54 ff., die gestörte normalbiographische Verläufe untersucht. 133 Vgl. P. A. BergeT; Individualisierung, S. 51 ff.

5. Kap.: Die Situation des Individuums in der modernen Gesellschaft

151

pläne in Kraft. Vielmehr scheint es sich um einen prinzipiellen Übergang von einem Eisenbahnmodell kollektiver Lebensverläufe, das zwar unterschiedliche Routen und einige Optionen enthält, diese jedoch an ein fixes Streckennetz und vorgegebene Kursbücher bindet, zu einem Automodell zu handeln, das weit mehr Wahlmöglichkeiten vorsieht. Dieses verfügt über eine Vielzahl denkbarer Abfahrtszeitpunkte, Straßen, Routen und wählbare Geschwindigkeiten. Anders als im Eisenbahnmodell genügt nicht schon ein Blick auf die Streckenkarte oder in den Fahrplan, um mit hinreichender Sicherheit feststellen zu können, wo sich Individuen, Paare oder Familien, die in einen bestimmten Zug eingestiegen sind, zu einem späteren Zeitpunkt befinden. Der Weg ist nicht mehr durch die Wahl des Ausgangs- und Zielpunktes vorgegeben, da auch außerhalb von Bahnhöfen spontane Richtungsänderungen vorgenommen werden können und sich so eine riesige Anzahl von Kombinationsmöglichkeiten für die Erstellung des individuellen Reiseplans ergibt. Mit Hilfe dieses in einigen Bereichen sicherlich nicht vollkommen zutreffenden Vergleichs zweier idealtypisch überzeichneter Modelle können die Grundzüge der gegenwärtigen Debatte über Lebenslaufmuster sehr gut verortet werden. 134 Das Automodell zeichnet ein "Bild zeitgenössischer Lebenslaufmuster ... [und riickt] die Vielfalt von Biographien und Lebensläufen, die individuellen Wahlmöglichkeiten und Entscheidungszwänge in den Vordergrund" 135. Da sich "die objektiv gegebenen und subjektiv verfügbaren biographischen Horizonte ausgeweitet,,136 haben, steht den Individuen ein bisher noch nie dagewesenes Maß an Freiheit zur eigenen Lebenslaufgestaltung zur Verfügung. 137 Aus der zumindest partiellen Auflösung der bisher institutionalisierten Verlaufsmuster des Lebens folgt eine Biographisierung der Lebensführung, das heißt, die Möglichkeit und Notwendigkeit einer eigenständigen biographischen Orientierung. 138 Die Menschen "müssen heute durchschnittlich mehr Entscheidungen treffen, 134 Da an dieser Stelle nicht alle Aspekte der Stimmigkeit des gezogenen Vergleichs ausführlich diskutiert werden können, seien ergänzend und exemplarisch nur die metaphorischen Stichwörter Stau, Gesamtreisezeiten, Transportsicherheit, Transportkosten, Transportmittelgröße oder maximales Transportvolumen genannt. Auch P. A. Berger; Individualisierung, S. 51 f. weist darauf hin, dass seine Metapher sicherlich nicht in allen Punkten zutrifft. 135 P. A. Berger; Individualisierung, S. 52. 136 Kudera, Lebenslauf, Biographie und Lebensführung, in: P. A. BergerlSopp (Hrsg.), Sozialstruktur und Lebenslauf, 1995, S. 94. 137 Vgl. K. U. Mayer/W. Müller; Lebensverläufe im Wohlfahrtsstaat, in: Weymann (Hrsg.), Handlungsspielräume, 1989, S. 41 ff. Einen nach biographischen Abschnitten, gesellschaftlichen Bereichen und theoretischen Ansätzen gegliederten Überblick über die Forschungsliteratur zu diesem Thema liefert Weymann, Handlungsspielräume im Lebenslauf, in: ders. (Hrsg.), Handlungsspielräume, 1989, S. 20 ff. 138 Vgl. Kohli, Institutionalisierung und Individualisierung der Erwerbsbiographie, S. 232; Brose/Wohlrab-Sahr/Corsten, Soziale Zeit und Biographie, 1993, S. 69. Zur Variation und Auflösung von Normalbiographien siehe auch den Aufsatzband von Leisering/Geissler/ Mergner/Rabe-Kleberg (Hrsg.), Moderne Lebensläufe im Wandel, 1993.

152

3. Teil: Moderne und Abstrakte Gesellschaft

mehr Informationen verarbeiten und mehr Wandel bewältigen als in früheren Zeiten" I 39. Das Leben wird sozial indeterminierter, denn vorher gesellschaftsstrukturell vorgegebene Biographien werden in selbst herzustellende transformiert. 140 Das bedeutet, dass sich die Individuen nicht mehr über ihre Zugehörigkeit zu einer spezifischen sozialen Gruppe oder eine standardisierte Biographie, sondern über ein eigenständiges Lebensprogramrn und eine entsprechende eigenverantwortliche Lebensgestaltung konstituieren. 141 Entscheidungen wie Bildungsweg, Berufs- und Wohnortwahl, Familienform oder Kinderzahl können nicht nur, sondern müssen getroffen werden l42 und es entstehen "Bausätze biographischer Kombinationsmöglichkeiten ,,143. Die Normal- wird dadurch zur individuellen Wahlbiographie. 144 Der Mensch muss demiurgisch handeln, ob er will oder nicht. Es kann also nur die Frage sein, wie aktiv und reflexiver von seinen Lebensgestaltungsspielräumen Gebrauch macht. Dies hängt nach dem Modell der Abstrakten Gesellschaft entscheidend von seiner biologischen Disposition und seiner sozio-kulturellen Anpassung ab. Ist das Individuum (Typ 2 bis 4) auf die neuen komplexen gesellschaftlichen Verhältnisse eingestellt und kommt mit dem Verlust der Einbettung in traditionelle Sozialstrukturen und normalbiographische Verläufe zurecht, so kann es die sich ihm bietenden Möglichkeiten in seine Lebenswirklichkeit verwandeln. Das individuelle Ausschöpfen von Chancen und Optionen hängt "weniger von der Motivation und Intention des Individuum ab, mit der es gegebenen Verhältnissen begegnet, als von lebens geschichtlich bereits erworbenen und verfestigten Kompetenzen 139 Zapf/ Breuer / Hampel/ Krause / Mohr /Wiegand, Individualisierung und Sicherheit, S.138. 140 Vgl. Beck, Risikogesellschaft, S. 216. 141 Vgl. Kudera, Lebenslauf, Biographie und Lebensführung, S. 94. Siehe zudem das Konzept der "Selbstsozialisation" von Heinz, Selbstsozialisation im Lebenslauf, in: Hoerning (Hrsg.), Biographische Sozialisation, 2000, S. 165 ff. 142 Auf Grund der gestiegenen Optionalität des Lebens wird nach Witzel! Kühn, Biogra-

phiemanagement und Planungschaos, in: Born! Krüger (Hrsg.), Individualisierung und Verflechtung, 2001, S. 55 f. das individuelle "Biographiemanagement" zunehmend zur Hauptaufgabe des Einzelnen; insbesondere für ,junge Erwachsene stellt sich die Aufgabe, sich im Berufsleben zu etablieren, einen Partner zu finden, familiale Lebensformen zu antizipieren und mit beruflichen Überlegungen zu kombinieren, ohne dass sie dabei auf historisch gewachsene, eher verbindliche und Sicherheit gewährende Modelle für die Gestaltung des Übergangs in Familie und Beruf zurückgreifen können". 143 Beck, Risikogesellschaft, S. 217. Zum Wandel des Lebenslaufs und der Pluralisierung der Lebensstile siehe H.-P. Müller, Sozialstruktur und Lebensstile, 1992, S. 29 ff. 144 Die Frage, ob nicht die neue Beweglichkeit der Individuen und die daraus resultierende Vielfalt an Lebensverlaufsformen mittlerweile den Normalzustand moderner Gesellschaften darstellt und die neuen Verlaufsmuster (schon wieder) institutionalisiert sind, verneint Kohli, Institutionalisierung und Individualisierung der Erwerbsbiographie, S. 232 aus zwei Gründen: Erstens sind die neuen Muster weniger stabil, daher auch weniger institutionalisiert als die alten und zweitens ist das Spektrum möglicher sowie zugänglicher Alternativen viel breiter geworden, so dass den Individuen nicht mehr nur einige wenige, sondern extrem viele unterschiedliche Verlaufsmuster zur Wahl stehen.

5. Kap.: Die Situation des Individuums in der modernen Gesellschaft

153

und Strategien des Überlebens,,145. Ein kurzer Blick zurück an den Anfang dieses Kapitels verdeutlicht dies. Angepasste Individuen können sich auf vielfältige Weise reintegrieren. Individuen (Typ 1), welche die entsprechende Adaption noch nicht geschafft haben, müssen schnellstens umweltadäquate Fähigkeiten und Wissen aufbauen, oder die Optionen werden zu Obligationen. Die Lebensverlaufssituation von (noch) nicht-angepassten Menschen in modernen Gesellschaften charakterisiert Ronald Hitzier mit dem Wort "Bastelexistenz .. 146 • Normalbiographien werden für sie nicht zu Wahl-, sondern zu Bastelbiographien. Die alltägliche Lebenswelt "zersplittert in eine Vielzahl von Entscheidungssituationen, für die es ... keine verläßlichen >Rezepte< mehr gibt,,147. Eines der zentralen Probleme des Existenzbastlers wird die Frage nach den Möglichkeiten der Vergemeinschaftung unter den vorher geschilderten Bedingungen. 148 Aus den Fragmenten der verbliebenen traditionellen Sozialstrukturen versuchen die Individuen, Lösungen für ihre aktuellen Lebens-, Überlebens- und Reintegrationsprobleme zusammenzusetzten. 149 Ohne das vorherige Durchlaufen von Lernprozessen 150 kann ihnen dies aus zwei Gründen jedoch nur bedingt gelingen. Erstens müssen sie erkennen, dass die für sie aus den komplexeren Gesellschaftsstrukturen resultierenden Probleme nicht mit dem Rückgriff auf traditionel1e Sozialmuster zu lösen sind. Mit anderen Worten: Die alten Vergesellschaftungsformen passen nicht zu den neu entstandenen und entstehenden spontanen Sozialordnungen. Zweitens müssen sie die Fähigkeit erwerben, sich nicht nur (wie bisher) innerhalb bereits vorhandener, relativ stabiler Sozialstrukturen zu entfalten, sondern sie müssen auch in der Lage sein, aktiv neue zu entwerfen und zu errichten. Da vielen Menschen heute diese Eigenschaft noch fehlt, hat Hitzier "den Bastler als Metapher zur Beschreibung der spezifisch modernen Lebensführung gewählt ... und nicht etwa den Konstrukteur"151 . 145 146

Weymann, Handlungsspielräume im Lebenslauf, S. 23. Hitzler/Honer, Bastelexistenz. Über subjektive Konsequenzen der Individualisierung,

in: Beck/Beck-Gernsheim (Hrsg.), Riskante Freiheiten, 1994, S. 311; äquivalent, aber in anderer Schreibweise siehe Hitzier, Die Bastei-Existenz, Psychologie Heute 7/1996, S. 30 ff. An früherer Stelle spricht ders., Sinnwelten, 1988, S. 147 vom ,,sinn-Basteln". Der letztgenannte Ausdruck ist dem Themenbereich der Identitätsdiskussion (siehe dazu später ausführlich 6. Kap. 1.) zuzuordnen, wobei Keupp, Riskante Chancen, 1988, S. 141 in diesem Kontext den Begriff "Patchworkidentität" präferiert und Bauman, Flaneure, Spieler und Touristen, 1997 seine Interpretation der gegenwärtigen Situation der modernen Individuen in den Metaphern seines Buchtitels zum Ausdruck bringt. 147 Hitzler/Honer, Bastelexistenz, S. 308. 148 Hitzier, Verführung statt Verpflichtung, S. 224. 149 Ein solches Vorgehen hat für Hitzier / Honer, Bastelexistenz, S. 310 etwas von einer "Collage". 150 Hitzier, Verführung statt Verpflichtung, S. 224 betont, dass "immer mehr Menschen immer häufiger, eher früher als später im Laufe ihres Lebens nicht nur zwangsläufig lernen müssen, sondern - sozusagen auf Grund der Umstände - eben auch lernen können ". 151 Hitzler/Honer, Bastelexistenz, S. 310.

154

3. Teil: Modeme und Abstrakte Gesellschaft

III. Das Individuum zwischen Wertesubstitution, Werteverlust und Wertesynthese

Wertewandel als tiefgreifendes soziales Phänomen, von dem mehr oder minder alle modemen westlichen Gesellschaften betroffen sind, ist seit circa drei Jahrzehnten in das Zentrum des wissenschaftlichen Interesses gerückt. Alte normative und moralische Grenzen haben zumindest teilweise ihre Gültigkeit verloren und traditionelle Selbstverständlichkeiten und Gewissheiten sind einer neuen Unübersichtlichkeit gewichen. Ohne an dieser Stelle auf die Fülle der in den verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen verwendeten Wertebegriffe eingehen zu können, muss doch einführend kurz expliziert werden, was im Rahmen der folgenden Ausführungen im empirisch-sozialwissenschaftlichen Sinn unter Werten verstanden werden S0l1. 152 Werte sind dauerhafte Orientierungen oder Vorstellungen des Individuums in Bezug auf sozial Wünschenswertes und besitzen eine hohe Änderungsresistenz und Reichweite. 153 Sie steuern als Führungsgrößen durch die Beeinflussung der individuellen Ziele und der Wahl der zu ihrer Erreichung notwendigen Mittel, neben anderen Faktoren, das menschliche Handeln. 154 In der Werteforschung besteht eine gewisse Einigkeit dahingehend, dass Werte durch die soziale Umwelt bestimmt werden, ihren Ausdruck in gesellschaftlichen Institutionen finden und vom Individuum über Sozialisations- und Lernprozesse aufgenommen werden. 155 Wertewandel kann sich zum einen darin äußern, dass bestimmte Werte im Zeitverlauf auf der Rangskala der Individuen auf- oder absteigen. 156 Zum anderen kann Wertewande1 aber auch 152 Übersichten zum Inhalt und der Entwicklung des Wertebegriffs finden sich bei Baran, Werte, in: Sandkühler (Hrsg.), Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 4, 1990, S. 805 ff., Friedrichs, Werte und soziales Handeln, 1968, S. 5 ff. und Meulemann, Werte und Wertewandel, 1996, S. 48 ff. Zur Problematik der Definition von Werten siehe Jaide, Wertewandel? Grundfragen zur Diskussion, 1983, S. 13 ff. Zur breiten Verwendung des Begriffs "Wert" in der Diskussion über den Wertewandel in modemen Gesellschaften siehe Regenbogen, Werte, in: Sandkühler (Hrsg.), Enzyklopädie Philosophie O-Z, 1999, S. 1447 f. 153 Vgl. KaaseIMüller-Rommel, Wert/Wertewandel, in: Nohlen (Hrsg.), Wörterbuch Staat und Politik, 1996, S. 870; Pappi, Wert, in: Nohlen (Hrsg.), Lexikon der Politik, Bd. 7, 1998, S.722. 154 Vgl. Klages, Werte und Wertewandel, in: Schäfers/Zapf (Hrsg.), Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, 1998, S. 698; Meulemann, Wertwandel in modemen Gesellschaften, in: Janssen/Möhwald/Ölschleger (Hrsg.), Gesellschaft im Umbruch?, 1996, S. 43. 155 Vgl. KaaseIMüller-Rommel, Wert/Wertewandel, S. 871, die anmerken: "Offen ist, inwieweit menschliche Vergesellschaftung stets nur eine begrenzte Zahl von Wertdimensionen hervorbringen kann; Übereinstimmung besteht hingegen über die Annahme von Raum-Zeitabhängigen und kulturabhängigen Unterschiedlichkeiten in der relativen Bedeutung spezifischer Werte". 156 Die Rangverschiebungen können sowohl zu graduellen Umgewichtungen als auch zu prinzipiellen Umkehrungen bestehender Wertre1ationen (z. B. Arbeit ist wichtiger als Freizeit, Wirtschaftswachstum ist wichtiger als Umweltschutz oder Freiheit ist wichtiger als Gleichheit) führen, vgl. Hepp, Wertewandel, 1994, S. 8.

5. Kap.: Die Situation des Individuums in der modemen Gesellschaft

155

bedeuten, dass sich trotz konstanter Präferenz eines Wertes der Inhalt, welcher sich hinter ihm verbirgt, entscheidend verändert. 157 Es gilt nun, die Frage zu erörtern, welches Verständnis des Wertewandels in modernen Gesellschaften vorherrscht. Hierzu ist zuerst die Darstellung und Analyse der vieldiskutierten Postmaterialismus-Theorie von Ronald Inglehart (1.) notwendig. Daraus wird dann im nächsten Schritt die innere Kritik (2.) an diesem Ansatz abgeleitet. Im Anschluss daran werden mit der Theorie des anthropozentrischen Wandels (3.) und der Wertesynthese-Theorie (4.) alternative Konzeptionen des Wertewandels untersucht und mit dem Modell der Abstrakten Gesellschaft in Verbindung gebracht. 1. Die Postmaterialismus-Theorie

Die klassische Studie, die den inhaltlichen Gang und die Diskussion um die Veränderung von Werten entscheidend geprägt hat, stammt von Ronald Inglehart, der in den siebziger Jahren erstmals sein Modell des Wertewandels in modernen westlichen Gesellschaften vorlegte. 158 Demnach vollzieht sich dort eine "stille Revolution,,159, in der langsam, aber kontinuierlich materialistische durch postmaterialistische Werte substituiert werden. 160 Unter materialistischen Werten versteht Inglehart jene, die im Zusammenhang mit der Befriedigung von physischen Bedürfnissen, insbesondere von Sicherheits- und Versorgungsbedürfnissen, stehen. 161 Bei postmaterialistischen Werten stehen dagegen soziale Bedürfnisse, vor allem der Zugehörigkeit, der Achtung, der Ästhetik sowie des Intellekts, und die individuelle Selbstverwirklichung im Mittelpunkt. 162 Zur Messung der zwei Wertetypen griff Inglehart auf die Bedürfnisstrukturen zuriick, die hinter ihnen stehen sollen, und verwendet zu deren Operationalisierung einen Katalog mit zwölf Items, an dem er (einschließlich der darin enthaltenen Begriffs- und Interpretationsschemata) bis heute in fast unveränderter Form festhält. 163 Die folgende Abbildung veranschaulicht Ingleharts Ansatz. 157 Für Hepp, Wertewandel, S. 8 veranschaulicht der Wert ,Familie' diese Art des Wertewandels sehr gut, denn trotz konstanter Präferenz der Familie haben sich die dahinterstehenden Leitbilder und konkreten Ausprägungen im Zeitablauf stark verändert. 158 Vgl. Inglehart, The Silent Revolution in Europe: Intergenerational Change in Post-Industrial Societies, APSR 1971, S. 991 ff.; ders., The Silent Revolution, 1977; ders., Wertwandel in westlichen Gesellschaften: Politische Konsequenzen von materialistischen und postmaterialistischen Prioritäten, in: Klages / Kmieciak (Hrsg.), Wertwandel und gesellschaftlicher Wandel, 1979, S. 279 ff. 159 Inglehart, Wertwandel in westlichen Gesellschaften, S. 279. 160 Vgl. Inglehart, Wertwandel in westlichen Gesellschaften, S. 284; "Die Werte der westlichen Gesellschaften scheinen sich von einer beinahe ausschließlichen Betonung der materiellen und physischen Sicherheit in Richtung auf eine höhere Bewertung von immateriellen Aspekten des Lebens verlagert zu haben.", ders., ebd., S. 279. 161 Vgl. Inglehart, Wertwandel in westlichen Gesellschaften, S. 286. 162 Vgl. Inglehart, Wertwandel in westlichen Gesellschaften, S. 286.

156

3. Teil: Modeme und Abstrakte Gesellschaft Wertetyp postmaterialistisch

Bedürfoisstruktur soziale Bedürfnisse und Selbstverwirklichung

Ästhetisch Intellektuell

Zugehörigkeit Achtung

- Weniger unpersönliche Gesellschaft - Mehr Mitspracherecht am Arbeitsplatz - Mehr politische Mitbestimmung

Sicherheitsbedürfuisse

- Starke Verteidigungskräfte - Kampf gegen Verbrechen - Aufrechterhaltung der Ordnung

Versorgungsbedürfnisse

- Stabile Wirtschaft - Wirtschaftswachstum - Kampf gegen steigende Preise

physische Bedürfnisse materialistisch

Items - Schöne Städte / Natur - Ideen zählen mehr als Geld - Redefreiheit

Abbildung 13: Wertetypen und Bedürfnisstrukturen nach R. Inglehart

Bei der Konstruktion seines Wertewandelmodells geht Inglehart von der Richtigkeit zweier zentraler Basishypothesen aus. Als erstes formuliert er die "Mangelhypothese"l64, nach der die Individuen in Reflexion ihrer sozio-ökonomischen Umwelt diejenigen Dinge am meisten schätzen, welche verhältnismäßig knapp sind. Er lehnt sich mit dieser Auffassung an das Maslowsche Konzept einer Bedürfnishierarchie an, welche von einer festen Rangordnung von Bedürfnissen ausgeht. 165 Dieser Hierarchie entsprechend stehen auf der untersten Stufe physiologische, auf der zweiten sicherheits bezogene, auf der dritten prosoziale und auf der vierten Achtungs-Bedürfnisse, wobei schließlich das Bedürfnis nach Selbstverwirklichung die Spitze der Pyramide darstellt. 166 Je weiter Bedürfnisse auf den unteren Ebenen befriedigt sind, um so mehr verlieren sie im Sinne eines abnehmenden Grenznutzens an Bedeutung - umgekehrt erfahren dagegen höherstehende Bedürfnisse einen Bedeutungszuwachs. 167 Auf die Werteentwicklung in den moder163 Vgl. lnglehart, Wertwandel in westlichen Gesellschaften, S. 286; ders., Kultureller Umbruch, 1995, S. 173; ders., Modemisierung und Postmodernisierung, 1998, S. 158 ff. 164 lnglehart, Wertwandel in westlichen Gesellschaften, S. 280; ders., Modernisierung und Postmodernisierung, S. 191. An anderer Stelle spricht ders., Zusammenhang zwischen sozioökonomischen Bedingungen und individuellen Wertprioritäten, KZfSS 1980, S. 145 synonym von der "Knappheits-Hypothese". 165 Vgl.lnglehart, Wertwandel in westlichen Gesellschaften, S. 281. 166 Vgl. Maslow, Motivation und Persönlichkeit, 2. Aufl. 1978, S. 74 ff.; lnglehart, Wertwandel in westlichen Gesellschaften, S. 282 zu der Maslowschen Konzeption: "In seiner einfachsten Form wird der Gedanke einer dem menschlichen Verhalten zugrundeliegenden Bedürfnishierarchie wahrscheinlich beinahe allgemeine Zustimmung finden. Die Tatsache, daß unbefriedigte physiologische Bedürfnisse Priorität vor sozialen, intellektuellen oder ästhetischen Bedürfnissen haben, hat sich in der Geschichte der Menschheit nur allzuoft gezeigt". 167 Für lnglehart, Wertwandel in westlichen Gesellschaften, S. 281 stimmt die Mangelhypothese "mit dem wirtschaftstheoretischen Begriff des sich vermindernden Grenznutzens überein"; ders., Modemisierung und Postmodemisierung, S. 191.

5. Kap.: Die Situation des Individuums in der modernen Gesellschaft

157

nen westlichen Gesellschaften übertragen, ergibt sich für Inglehart daraus, dass auf Grund des dort vorherrschenden hohen Wohlstandsniveaus die materiellen Grundbedürfnisse als weitestgehend befriedigt betrachtet werden können und somit postmaterielle Werte kontinuierlich eine höhere Priorität erhalten. 168 Ein so verstandener Wertewandel läuft also quasideterrninistisch in Korrelation mit dem Wachstum des Wohlstands einer Gesellschaft ab. Ihre volle Bedeutung erfährt die mit der wirtschaftlichen Entwicklung einhergehende Verschiebung der Basiswertorientierung allerdings erst durch die von Inglehart vorgenommene Verknüpfung der Mangel- mit seiner "Sozialisationshypothese,,169. Diese besagt, dass das "Verhältnis zwischen sozioökonomischer Umwelt und den Wertprioritäten ... keines der unmittelbaren Anpassung,,170 ist, da die in der formativen Jugendphase erfahrene Sozialisation lebensprägende Bedeutung hat. 171 Wertorientierungen, die in diesem Lebensabschnitt übernommen wurden, bleiben nach seiner Auffassung stabil oder ändern sich nur marginal. 172 Wahrend "die Mangelhypothese unterstellt, daß Wohlstand zur Ausbreitung postmaterialistischer Werte führt, impliziert die Sozialisationshypothese, daß sich weder die Werte eines Individuums noch die einer Gesellschaft über Nacht ändern"173. Dieser bestechend einfache und vielleicht deswegen so plausibel erscheinende Erklärungsansatz hätte, wenn er die Wirklichkeit treffend beschriebe, weitreichende soziale Konsequenzen. Nach Ingleharts Theorie würden Generationen, die in Phasen materieller Not geboren und sozialisiert wurden, in der Mehrheit materialistische Werte aufweisen, während Jahrgänge, die unter den Bedingungen ökonomischer Prosperität, steigenden Lebensstandards, sozialer Sicherheit sowie inneren und äußeren Friedens aufgewachsen sind, zunehmend postmaterielle Werte vertreten. 174 Da sich die Wohlstandsentwicklung in den modemen westlichen Gesell168 Vgl. lnglehart, Wertwandel in westlichen Gesellschaften, S. 281; ders., Modernisierung und Postmodernisierung, S. 191. 169 lnglehan, Wertwandel in westlichen Gesellschaften, S. 280; ders., Modernisierung und Postmodernisierung, S. 191. 170 lnglehart, Modernisierung und Postmodernisierung, S. 191. "Wenn der Prozeß der Anpassung unmittelbar erfolgen würde, hätten wir es nicht mit Wenvorstellungen zu tun, die als relativ tiefverwurzelt und stabil begriffen werden, sondern mit kurzfristigen Verhaltensänderungen.", ders., Wertwandel in westlichen Gesellschaften, S. 280. 171 Nach lnglehart, Wertwandel in westlichen Gesellschaften, S. 280 ist einer "der am meisten verbreiteten Gedanken in der Sozialwissenschaft ... die Annahme einer Grundstruktur im Persönlichkeitsbild, die sich bis zum Erreichen des Erwachsenenalters herauskristallisiert und sich danach kaum noch verändert. Frühe Sozialisation scheint ein viel größeres Gewicht zu haben als spätere". 172 In diesem Sinne auch Kaase/Müller-Rommel, Wert/Wertewandel, S. 872: "Einmal in der »formativen Phase des Lebens« (die ersten 20 Jahre) angenommene Wertprioritäten werden als relativ tief verwurzelt und stabil angesehen. Sie unterliegen keinen kurzfristigen Veränderungen, sondern dienen »lebenslänglich« als Wertmaßstab zur Beurteilung von politischen und sozialen Entwicklungen". 173 lnglehan, Modernisierung und Postmodernisierung, S. 191.

158

3. Teil: Moderne und Abstrakte Gesellschaft

schaften nach dem Zweiten Weltkrieg verfestigt hat und auf Grund der natürlichen Sterblichkeit ältere durch jüngere Generationen abgelöst werden, rechnet Inglehart damit, dass die Postmaterialisten langfristig die Mehrheit der dort ansässigen Bevölkerung repräsentieren werden. 175 Dieser Trend ist nach seiner Einschätzung auch durch Periodeneffekte, wie die zwischenzeitliehe Verschlechterung der materiellen Rahmenbedingungen (z. B. Rezession, Inflation oder Arbeitslosigkeit), nicht aufzuhalten, denn diese führen lediglich zu einer vorübergehenden Reduktion des Postmaterialistenanteils, da auf Grund der Prägung in der formativen Jugendphase langfristig gesehen "die Werte einer bestimmten Geburtenkohorte auffrulig stabil" 176 sind. 2. Die innere Kritik an der Postmaterialismus-Theorie

Obgleich Ingleharts Thesen auch außerhalb der Wissenschaft große Aufmerksamkeit fanden, so blieb seine Theorie nicht unwidersprochen und wurde Gegenstand teilweise sehr deutlicher Kritik. 177 Dabei lassen sich zwei unterschiedliche Strategien der Auseinandersetzung mit seinem Ansatz eruieren. Der eine Teil der Kritiker geht daran, Inglehart gewissermaßen mit seinen eigenen Waffen zu schlagen, und weist auf Inkosistenzen innerhalb seiner Theorie hin oder versucht zu zeigen, dass die mit dem Inglehart-Index und seinen Items erhobenen Daten im Widerspruch zu den Implikationen des Modells der stillen Revolution stehen. 178 Aus der Fülle der inneren Kritik seien an dieser Stelle nur die wichtigsten Punkte skizziert. Ingleharts Theorie ist durch die Verbindung der Mangel- mit der Sozialisationshypothese mit einem fundamentalen Konsistenzproblem konfrontiert, welches dar174 Vgl. Hirsche" Wertewandel in Bayern und Deutschland, 1995, S. 5; Müller-Rommel, Die Postmaterialismusdiskussion in der empirischen Sozialforschung: Politisch und wissenschaftlich überlebt oder noch immer zukunftsweisend, PVS 1983, S. 219. 175 Siehe dazu die graphische Darstellung des langfristigen Trends der Werteänderung zwischen 1970 und 1994 in westlichen Staaten hin zu postmaterialistischen Werten in Inglehart, Modernisierung und Postmodernisierung, S. 199 und die Kohortenanalysen der Wertprioritäten in Westeuropa zwischen 1970 und 1988 in ders., Kultureller Umbruch, S. 111 ff. 176 Inglehart, Modernisierung und Postmodernisierung, S. 198; nach seiner Auffassung halten trotz "der Fluktuationen, die mit den ökonomischen Bedingungen verknüpft sind ... die intergenerationellen Differenzen an: fast jede jüngere Kohorte ist beinahe zu jedem Zeitpunkt signifikant weniger materialistisch als alle älteren". Zu seiner Interpretation der Auswirkungen des Geburtenkohorten-, Perioden- und Lebenszykluseffekts siehe ders., Kultureller Umbruch, S. 173. 177 Vgl. Hepp, Wertewandel, S. 16; Hillmann, Zur Wertewandelforschung: Einführung, Übersicht und Ausblick, in: Oesterdiekhoff / Jegelka (Hrsg.): Werte und Wertewandel in westlichen Gesellschaften, 2001, S. 20, 22; Kreutz, Änderungen der politischen und gesellschaftlichen Wertvorstellungen, in: ders. (Hrsg.), Pragmatische Soziologie, 1988, S. 196. 178 Vgl. Klein/ Pötschke, Gibt es einen Wandel hin zum ,,reinen" Postmaterialismus?, ZfS 2000, S. 202.

5. Kap.: Die Situation des Individuums in der modemen Gesellschaft

159

in besteht, dass aus den beiden voneinander unabhängigen Ansätzen sich widersprechende Schlüsse bezüglich des individuellen Wertewandels abgeleitet werden können. 179 Die sich aus der Maslowschen Konzeption ergebende Annahme einer situativen Anpassung an die sozio-ökonomische Lage ist kaum vereinbar mit dem aus der Sozialisationshypothese abgeleiteten Postulat stabiler Wertprioritäten. 18o Um diesen Widerspruch zu umgehen, kann man versuchen, die Mangelhypothese dahingehend einzuschränken, dass sie nur noch spezifiziert, unter welchen Bedingungen materialistische und postmaterialistische Werte sozialisiert werden. 181 Aber auch durch diese Modifikation wird das Problem nicht gelöst, da diese Interpretation dann zwar logisch richtig, jedoch empirisch falsch ist. 182 Ein weiterer Kritikpunkt besteht in Ingleharts "weitgehend unreflektierte[r] Übernahme der Maslowschen Theorie der Bedürfnishierarchie" 183. In diesem Kontext ist vor allem auf die unzureichende Differenzierung zwischen und auf die Gleichsetzung von Werten und Bedürfnissen hinzuweisen. 184 Ein wesentliches Problem bei der Rückführung von Werten auf Bedürfnisse liegt darin, dass ein Bedürfnis möglicherweise durch verschiedene Werte repräsentiert wird und dass ein Wert verschiedene Bedürfnisse befriedigen kann. 18s Ferner lassen sich nur ex post (und auch dann nicht immer eindeutig) spezifische Werte den verschiedenen Bedürfnissen zuordnen. 186 179 Vgl. Lehner, Die "stille Revolution": Zur Theorie und Realität des Wertwandels in hochindustrialisierten Gesellschaften, in: Klages/Kmieciak (Hrsg.), Wertwandel und gesellschaftlicher Wandel, 1979, S. 320 ff. Da Sozialisation von vielen Autoren als lebenslanger Prozess verstanden wird, wurde daneben die Richtigkeit der Inglehartschen Sozialisationsthese auch ganz grundsätzlich in Frage gestellt, vgl. Puschner, Materialismus und Postmaterialismus in der Bundesrepublik Deutschland 1970 - 1982, in: Oberndörfer I Rattinger I Schrnitt (Hrsg.), Wirtschaftlicher Wandel, religiöser Wandel und Wertwandel. Folgen für das politische Verhalten in der Bundesrepublik Deutschland, 1985, S. 361. 180 Vgl. Lehner, Die "stille Revolution", S. 320. 181 Vgl. Jagodzinski, Die zu stille Revolution, in: Oberndörfer I Rattinger I Schrnitt (Hrsg.), Wirtschaftlicher Wandel, religiöser Wandel und Wertwandel. Folgen für das politische Verhalten in der Bundesrepublik Deutschland, 1985, S. 337. 182 Jagodzinski, Die zu stille Revolution, S. 337 ff. verweist auf mehrere empirische Kohortenanalysen sowie Ingleharts eigene Andeutungen und untersucht zudem drei weitere Interpretationsansätze, die allerdings alle einer eingehenden Prüfung nicht standhalten. 183 Müller-Rommel, Die Postmaterialismusdiskussion in der empirischen Sozialforschung, PVS 1983, S. 222. 184 Vgl. Jagodzinski, Die zu stille Revolution, S. 334; Klein, Wieviel Platz bleibt im Prokrustesbett?, KZfSS 1995, S. 207; Herz, Der Wandel der Wertvorstellungen in westlichen Industriegesellschaften, KZfSS 1979, S. 286; zur gegenseitigen Durchdringung von Werten und Bedürfnissen siehe Hillmann, Wertwandel, 2. Aufl. 1989, S. 60 ff. 185 Vgl. Herz, Der Wandel der Wertvorstellungen in westlichen Industriegesellschaften, KZfSS 1979, S. 286. 186 Vgl. Herz, Der Wandel der Wertvorstellungen in westlichen Industriegesellschaften, KZfSS 1979, S. 286; Friedrichs, Werte und soziales Handeln, S. 47 weist darauf hin, dass Werte und Bedürfnisse in einern komplizierten und komplexen Verhältnis gegenseitiger Strukturierung stehen.

160

3. Teil: Moderne und Abstrakte Gesellschaft

Eine Kontroverse besteht auch hinsichtlich der von Inglehart angenommenen Dirnensionalität von Materialismus und Postmaterialismus. Er entwirft Materialismus und Postmaterialismus als die beiden Pole eines eindimensionalen Kontinuums, so dass sich dementsprechend Wertewande1 innerhalb seines Konzepts ausschließlich als Wertesubstitution vollzieht. 187 Gewinnt einer der bei den einander gegenübergestellten Wertebereiche an Gewicht, so erleidet der andere durch die Anwendung des dem Inglehart-Index inhärenten Rankingverfahrens automatisch einen Bedeutungsverlust. 188 Materialismus und Postmaterialismus unterliegen folglich auch einem einheitlichen Wandlungsmuster. 189 Diese Phänomene rühren daher, dass ein möglicherweise in der Realität vielschichtiger und mehrdimensionaler Wertewandelprozess messtechnisch in die theoretisch antizipierte Eindimensionalität des Modells gezwängt wird und es so zu gravierenden inhaltlichen Verzerrungen kommt. 190 Die von Inglehart angewandten Messverfahren und Testitems sind in mehrfacher Hinsicht problematisch. Als äußerst fraglich gilt, ob sein Zwölf-Item-Katalog überhaupt in der Lage ist, den gesamten menschlichen Werteraum in geeigneter Weise abzubilden. l9l Die Auswahl der Items zur Bestimmung der Werteorientierung ist 187 Vgl. Duncker; Verlust der Werte, 2000, S. 7 f.; Klein, Wieviel Platz bleibt im Prokrustesbett?, KZfSS 1995, S. 207; Herz, Der Wandel der Wertvorstellungen in westlichen Industriegesellschaften, KZfSS 1979, S. 283. 188 Vgl. Klein, Wieviel Platz bleibt im Prokrustesbett?, KZfSS 1995, S. 216; Jagadzinski, Die zu stille Revolution, S. 334; "Der Mischtyp, der gewissermaßen zwischen den beiden Polen des Wertekontinuums steht und Eigenschaften der beiden "reinen" Wertetypen in sich vereinigt ... stellt im Ing1ehartschen Konzept folglich auch nicht mehr als ein bloßes "Durchgangsstadium" bei der Entwicklung vom Materialisten zum Postrnaterialisten dar.", Klein/ Pötschke, Gibt es einen Wandel hin zum "reinen" Postmaterialismus?, ZfS 2000, S. 203. Zur Diskussion um die Messung von Wertorientierung mittels des Rating- oder Rankingverfahrens siehe Hallerbach, Ranking oder Rating? Die Wahl der Skala in der Werteforschung, in: M. Häder / S. Häder (Hrsg.), Sozialer Wandel in Ostdeutschland, 1998, S. 221 ff., Klein/ Arzheimer; Ranking- und Rating-Verfahren zur Messung von Wertorientierungen, untersucht am Beispiel des Inglehart-Index, KZfSS 1999, S. 550 ff., dies., Einmal mehr: Ranking oder Rating?, KZfSS 2000, S. 553 ff. und Sacchi, Messung von Wertorientierungen: Ranking oder Rating?, KZfSS 2000, S. 541 ff. 189 Vgl. Klein, Wieviel Platz bleibt im Prokrustesbett?, KZfSS 1995, S. 216. 190 Welche schwerwiegenden Folgen es hat, wenn die mehrdimensionale Wertewirklichkeit in eine eindimensionale Modellstruktur hineinprojeziert wird zeigt Klein, Wieviel Platz bleibt im Prokrustesbett?, KZfSS 1995, S. 216 ff.; nach Klages, Die gegenwärtige Situation der Wert- und Wertwandelforschung - Probleme und Perspektiven, in: ders./ Hippier / Herber (Hrsg.), Werte und Wandel, 1992, S. 26 ist insbesondere die Anwendung des Rankingverfahrens nur "unter der Bedingung gerechtfertigt, daß der mentale Sachverhalt, um dessen Sichtbarmachung es geht, in der Realität eben dieselbe unilineare hierarchische Struktur besitzt"; zur Problematik einer explorativen Faktoranalyse von Präferenzdaten siehe Bacher; Eindimensionalität der Postmaterialismusskala von Inglehart - Ein Methodenartefakt?, in: Kreutz (Hrsg.), Pragmatische Soziologie, 1988, S. 215 ff. 191 Vgl. Müller-Rammel, Die Postmaterialismusdiskussion in der empirischen Sozialforschung, PVS 1983, S. 223; Klages, Die gegenwärtige Situation der Wert- und Wertwandelforschung, S. 25.

5. Kap.: Die Situation des Individuums in der modernen Gesellschaft

161

im Wesentlichen auf den ökonomischen und politischen Bereich beschränkt und klammert beispielsweise religiöse oder familiäre Aspekte vollkommen aus. l92 Ein mit diesem Aspekt eng verbundener Kritikpunkt ist die mangelnde Begrundung der Indexkonstruktion und der Itemauswahl, die folglich einen äußerst eklektischen und apodiktischen Eindruck hinterlässt. 193 Des weiteren unterstellt Inglehart aus semantischer Perspektive über Generationen und Länder hinweg einen konsistenten Bedeutungszusammenhang zwischen den Items und den abstrakten Werten, welcher kaum haltbar ist. 194 Als entscheidender Punkt ist zudem umstritten, ob die als Indikatoren für Werte bezeichneten Items tatsächlich das messen, was sie vorgeben, nämlich allgemeine und langfristige Wertprioritäten. 195 Vieles spricht dafür, dass Inglehart mit seinem Messverfahren lediglich an der Oberfläche befindliche, situations spezifische Einstellungen und nicht tiefer liegende Wertorientierungen erfasst. 196 Abschließend sei noch auf ein übergreifendes Problem hingewiesen. Inglehart kennt zwar nur den eindimensionalen Wertewandel vom Materialismus zum Postmaterialismus, muss aber damit zwei Übergänge in seinem historischen Dreistadienmodell von der vorindustriellen Gesellschaft über die kapitalistische Industriegesellschaft hin zur postkapitalistischen (oder postmaterialistischen) Gesellschaft erklären. 197 Da weder er noch Maslow eine unterhalb des Materialismus angesiedelte Bedürfnis- oder Wertstufe kennen, bleibt die Frage nach dem Inhalt des Wertewandels beim Übergang von vorindustriellen Gesellschaften zu Industriegesellschaften offen. 198 192 Herz, Der Wandel der Wertvorstellungen in westlichen Industriegesellschaften, KZfSS 1979, S. 288 ff. weist auf diesen Sachverhalt deutlich hin. 193 Vgl. Müller-Rommel, Die Postmaterialismusdiskussion in der empirischen Sozialforschung, PVS 1983, S. 223. 194 Vgl. R. Meyer, Wertforschung im systematischen internationalen Vergleich, in: Klages/Kmieciak (Hrsg.), Wertwandel und gesellschaftlicher Wandel, 1979, S. 50 f. 195 Vgl. Mehlkop, Methodische Probleme bei der Analyse von Wertvorstellungen und Wirtschaftswachstum, ZfS 2000, S. 220. 196 Für Lehner, Die "stille Revolution", S. 321 bezeichnen "die von Inglehart aufgeführten empirischen Befunde nicht langfristig relativ stabile Werte, sondern lediglich situative Einstellungen"; ebenso Schumann, Postmaterialismus: Ein entbehrlicher Ansatz?, in: Falter I Rattinger I Troitzsch (Hrsg.), Wahlen und politischen Einstellungen in der Bundesrepublik Deutschland, 1989, S. 59 für den "Ingleharts Postmaterialismusskalen ... nicht, wie immer wieder behauptet wird, ein "tieferliegendes" Merkmal, sondern in erster Linie spezielle politische Einstellungen" messen und somit ,,kaum geeignet sind, den theoretisch angenommenen "Wertwandel" zu erfassen"; auch für Puschner, Materialismus und Postmaterialismus in der Bundesrepublik Deutschland 1970-1982, S. 379 verstärkt sich bei seinen Analysen der Eindruck, "daß das Inglehartsche Meßinstrumentarium eher Einstellungen als stabile Werte erfaßt". 197 Vgl. Oesterdiekhoff, Soziale Strukturen, sozialer Wandel und Wertewandel. Das Theoriemodell von Ronald Inglehart in der Diskussion seiner Grundlagen, in: ders. I Jegelka (Hrsg.): Werte und Wertewandel in westlichen Gesellschaften, 2001, S. 43 ff. 198 Vgl. Oesterdiekhoff, Soziale Strukturen, sozialer Wandel und Wertewandel, S. 44.

II Tiefel

162

3. Teil: Moderne und Abstrakte Gesellschaft

Der andere Teil der Kritiker stellt Ingleharts Konzeption einen eigenen, konkurrierenden Entwurf entgegen und verlässt sich bei den empirischen Tests ihrer Theorien auf alternativ erhobene Daten. Neben dem Amerikaner Scott Flanagan,199 der primär in seinem Heimatland ins Zentrum der wissenschaftlichen Diskussion getreten ist, haben sich auch mehrere deutsche Wissenschaftler dieser Strategie bedient. Ihre Ansätze werden in den nächsten beiden Punkten dargestellt.

3. Die Theorie des anthropozentrischen Wertewandels Aus der Kritik an Ingleharts eindimensionalem Verständnis des Wertewandels und an seiner durch die Sozialisationshypothese bedingten Absolutierung des Kohorteneffekts konstruieren Wilhelm Bürklin, Markus Klein und Achim Ruß ein alternatives Model1. 2OO Sie gehen zum einen davon aus, dass "die Orientierungen auf die verschiedenen Werte bzw. Wertbereiche nicht in einer hierarchischen Ordnung zueinander stehen, voneinander folglich weitgehend unabhängig sind und zwar selbst dann, wenn die betreffenden Werte inhaltlich zueinander im Widerspruch stehen,,201. Neben der schon bekannten Möglichkeit der Werte substitution eröffnen sich dadurch zudem die beiden Wandlungsoptionen Wertesynthese und Werteverlust. 202 Zum anderen lehnen sie die von Inglehart postulierte Wertestabilisierungsthese der formativen Jugendphase (im Sinne einer reinen Generationen-Hypothese) ab und messen der Lebenszyklus- und der Perioden-Hypothese eine mindestens ebenso große Bedeutung bei. 203 199 Vgl. Flanagan. Value Change and Partisan Change in Japan: The Silent Revolution Revisited, Comp Polit 1979, S. 253 ff.; ders., Measuring Value Change in Advanced Industrial Societies, Comp Polit St 1982, S. 99 ff.; ders., Changing Values in Advanced Industrial Societies, Comp Polit St 1982, S. 403 ff.; ders., Value Change in Industrial Societies. APSR 1987, S. 1303 ff. 200 Vgl. Bürklin/ Klein/Ruß. Dimensionen des Wertewandels, PVS 1994, S. 580. 201 Bürklin/ Klein/Ruß. Dimensionen des Wertewandels, PVS 1994, S. 582. 202 Wertesynthese bezeichnet die gleichzeitige und gleichrangige Orientierung des Individuums auf verschiedene Werte (d. h. bereits bestehende und neue Werte werden von ihm parallel vertreten), wogegen Werteverlust dadurch gekennzeichnet ist, dass das Individuum seine alten Wertvorstellungen aufgibt, ohne sich an neuen zu orientieren, vgl. Bürklin/Klein/Ruß. Dimensionen des Wertewandels, PVS 1994, S. 582. 203 Bürklin/Klein/Ruß. Dimensionen des Wertewandels, PVS 1994. S. 583 f. zum Inhalt der einzelnen Hypothesen: Gemäß der Generationen-Hypothese findet nach der Festlegung der Werteorientierung in der formativen Jugendphase des Individuums kein wesentlicher Wandel der Wertestruktur auf der Mikroebene des Einzelnen mehr statt. Für den Wertewandel auf der Makroebene bedeutet dies, dass die Veränderung des gesellschaftlichen Wertesystems typischerweise über die Generationensukzession mit gewandelten Wertprioritäten vermittelt wird. Im Gegensatz dazu lässt die Lebenszyklus-Hypothese eine Veränderung der Werteorientierung auf der Mikroebene in Abhängigkeit der Stellung des Individuums innerhalb seines Lebenszyklus zu. Auf der Makroebene käme es somit im Aggregat zu einem Nullsummenspiel, außer die demographische Altersstruktur verändert sich oder die relative Dauer der verschiedenen Phasen des Lebenszyklus würde sich verschieben. Die Perioden-Hypothese

5. Kap.: Die Situation des Individuums in der modernen Gesellschaft

163

Zur Operationalisierung ihrer Überlegungen bedienen sich Biirklin I Klein I Ruß der durch das Institut BasisResearch auf Grundlage eines 20-Item-Katalogs und Rankingverfahrens seit 1984 jährlich erhobenen Datensätze. 204 Als Ergebnis ihrer Analysen gelangen sie zu einem Werteraum, der mit traditionellen, acquisitiven, individualistischen, gemeinschaftlichen und christlichen Werten fünf signifikante Dimensionen aufweist, die unterschiedliche Wandlungsverläufe erkennen lassen. 205 Traditionelle Werte folgen einem lebenszyklischen Verlaufsmuster. 206 Für die Veränderung acquisitiver Werte lassen sich in erster Linie ebenfalls Lebenszykluseffekte verantwortlich machen, wobei auffällig ist, dass diese Werte in den höheren Phasen des Lebenszyklus an Bedeutung gewinnen und sich keine signifikanten Generationseffekte beobachten lassen, was im direkten Widerspruch zu den Aussagen Ingleharts steht. 207 Individualistische Werte weisen weder eine generationale noch eine lebenszyklische Veränderungsdynarnik auf - allenfalls sind schwache Periodeneffekte erkennbar. 2os Fiir gemeinschaftliche Werte gilt das gleiche wie für individualistische. 209 Der Wert christliche Gesellschaft erleidet einen über die Generationensukzession vermittelten Bedeutungsverlust. 210 Im Rahmen ihrer Antwort auf die harsche Kritik Ingleharts 211 zu dem obigen Befund, dass sich seine "als ,materialistisch' bezeichneten Werte nicht generational, sondern lebenszyklisch wandelten und der Wandel der ,postmaterialistischen ' Werte besser über ein periodentypisches Muster beschrieben werden kann . .. [und zudem] sich die Annahme einer Wertehierarchie zwischen materiellen und nichtmateriellen Werten empirisch nicht halten läßt,,212, entwickelten Biirklin/Kleinl postuliert schließlich, dass sich auf der Mikroebene durch situative Faktoren bei allen Individuen, unabhängig von deren Generationenzugehörigkeit und Stellung im Lebenszyklus, ein Wertewandel vollziehen kann. 204 Vgl. Bürklin/ Klein/Ruß, Dimensionen des Wertewandels, PVS 1994, S. 585 ff. 205 Vgl. Bürklin/ Klein/Ruß, Dimensionen des Wertewandels, PVS 1994, S. 594, 599 ff.; Test-Items für traditionelle Werte: Starker Staat, autarker Staat, internationale Anerkennung und Pflicht/ Akzeptanz; Test-Items für acquistive Werte: Sicherheit, Wohlstand und Leistung; Test-Items für individualistische Werte: Freiheit, Bildung, Daseinsgenuss, zwischenmenschliches Vertrauen und politische Mitgestaltung; Test-Items für gemeinschaftliche Werte: politische Beteiligung, Herausforderungen, nationale und internationale Verantwortung; Test-Item christliche Gesellschaft: entspricht dem Wert. 206 V gl. Bürklin/ Klein/Ruß, Dimensionen des Wertewandels, PVS 1994, S. 601 f. 207 Vgl. Bürklin/Klein/Ruß, Dimensionen des Wertewandels, PVS 1994, S. 599 f. 208 Vgl. Bürklin/ Klein/Ruß, Dimensionen des Wertewandels, PVS 1994, S. 603. 209 Vgl. Bürklin/Klein/Ruß, Dimensionen des Wertewandels, PVS 1994, S. 603. 210 Vgl. Bürklin/Klein/Ruß, Dimensionen des Wertewandels, PVS 1994, S. 603. 211 lnglehart/Klingemann, Dimensionen des Wertewandels. Theoretische und methodische Reflexionen anläßlich einer neuerlichen Kritik, PVS 1996, S. 319 ff. kritisierten die angeblich mangelnde Brauchbarkeit der erhobenen Daten, die Verwendung des nach ihrer Auffassung ungeeigneten Rankingverfahrens, die Verzerrung der Ergebnisse durch sogenannte Response-Sets, das mutmaßliche Vorliegen mehrerer analytischer Trugschlüsse und ein für ihr Dafürhalten zu empirisches, nicht genügend theoriegeleitetes Vorgehen. 11*

164

3. Teil: Moderne und Abstrakte Gesellschaft

Ruß ihr Modell zu einer Theorie des anthropozentrischen Wertewandels weiter. Diese basiert zum einen auf der Hypothese, dass die individuelle Wertorientierung sich an verändernde funktionale Erfordernisse anpasst, und zum anderen auf der bereits bekannten Mangelhypothese. 213 Die funktionale Hypothese geht davon aus, dass der Einzelne stets versucht, seine persönlichen Entfaltungsmöglichkeiten unter den jeweils gegebenen Lebensbedingungen zu maximieren, und Wertewandel somit als Ergebnis sich auf individueller Ebene lebenszyklisch und auf gesellschaftlicher Makroebene periodisch verändernder sozialer Handlungsrestriktionen zu verstehen ist. 214 Nach Bürklin/ Klein/Ruß weisen diese Entwicklungen in modemen Gesellschaften auf der Mikro- und der Makroebene allerdings gegenläufige Tendenzen auf, da die sozialen Zwänge und Verpflichtungen für den Einzelnen ab dem Eintritt in die Erwerbsphase zunehmen, aber gleichzeitig sich die kollektive Einbindung des Individuums von Not- in Wahlgemeinschaften gewandelt hat, was eine relativ geringe persönliche Ein- und Unterordnung verlangt. 215 Aus der Perspektive der Mangelhypothese kann den Individuen zwar keine Sättigung ihrer materiellen Bedürfnisse unterstellt werden, allerdings ist für sie der Schutz und die Sicherheit, welche sich vorher aus der Einbindung in traditionelle kollektive Bezüge ergab, geringer geworden. 216 Durch den Verzicht auf klassische Formen der sozialen Einbindung sind für die Individuen auch die damit verbundenen traditionalistischen Werte obsolet geworden. Bürklin/Klein/Ruß leiten aus dem oben Gesagten ihre Kemthese ab, dass das Charakteristische des Wertewandels in modemen Gesellschaften nicht in der abnehmenden Bedeutung materieller Prioritäten, sondern im Verfall gemeinschaftsbezogener Werte gesehen werden muss?17 Parallel zum Abstieg kollektiver Werte gewinnen nach ihrer Überzeugung jene an Bedeutung, die den Rechten des Individuums Priorität vor den Rechten jeglicher Gemeinschaftlichkeit einräumen, so dass für sie der Wertewandel nicht mehr länger als postmateriell, sondern als postkollektiv zu interpretieren und mit dem Adjektiv anthropozentrisch zu charakterisieren ist. 218 212 Bürklin/ Klein/Ruß, Postmaterieller oder anthropozentrischer Wandel?, PVS 1996, S.517. 213 Vgl. Bürklin/Klein/Ruß, Postmaterieller oder anthropozentrischer Wandel?, PVS 1996, S. 527. 214 Bürklin/Klein/Ruß, Postmaterieller oder anthropozentrischer Wandel?, PVS 1996, S. 527 f. interpretieren "den Prozeß der Sozialisation als lebenslangen Prozeß der produktiven Verarbeitung von Lebensrealität", was im diametralen Gegensatz zu Ingleharts Auffassung von der Prägung des Individuums im Jugendalter steht. 215 Vgl. Bürklin/Klein/Ruß, Postmaterieller oder anthropozentrischer Wandel?, PVS 1996, S. 528. 216 Vgl. Bürklin/Klein/Ruß, Postrnaterieller oder anthropozentrischer Wandel?, PVS 1996, S. 529. 217 Vgl. Bürklin/Klein/Ruß, Postmaterieller oder anthropozentrischer Wandel?, PVS 1996, S. 518.

5. Kap.: Die Situation des Individuums in der modernen Gesellschaft

165

Die von Bürklin / Klein / Ruß vorgetragenen empirischen Befunde und die daraus entwickelte Theorie kann in ihren wesentlichen Aussagen in Einklang mit den Inhalten und Implikationen des Modells der Abstrakten Gesellschaft gebracht werden. Drei Punkte sind in diesem Kontext von besonderer Bedeutung. Erstens können sich nach ihrer Einschätzung (und entgegen der Inglehartschen Auffassung) Werte sowohl generational und lebenszyklisch als auch periodisch verändern, was im Kern kompatibel mit dem Modell der individuellen Angepasstheit und des Lernen ist. Zweitens stützt die Diagnose des Wandels weg von gemeinschaftlichen hin zu individualistischen Werten die These der Egozentrierung als Mittel zum Ausgleich des je nach Höhe des individuellen Anpassungsgrades erlittenen Sicherheitsverlustes. Und drittens kann der Sachverhalt, dass gemeinschaftliche Werte nicht hoch im Kurs stehen, noch mit einem weiteren Aspekt der Abstrakten Gesellschaft verknüpft werden. Wenn die neuen Gesellschaftsformen sich primär spontan bilden und somit von vielen Individuen nicht direkt erkannt werden, tritt das fundamentale Problem auf, dass die gemeinschaftlichen Werte mit keinem korrespondierenden realen, sozialen Phänomen in Verbindung gebracht werden können und dadurch bedeutungslos werden.

4. Die Werte synthese-Theorie

Ein weiterer vehementer Kritiker der Postmaterialismus-Theorie ist der Speyerer Soziologe Helmut Klages.z 19 Er und seine Forschungsgruppe vertreten den zu Ingleharts Entwurf konkurrierenden Standpunkt, dass in Deutschland und anderen modernen Gesellschaften nach dem Zweiten Weltkrieg sukzessive ein "Wandel von Pflicht- und Akzeptanz- zu Selbstentfaltungswerten •.220 eingesetzt hat. Klages konzipiert sein Modell nicht eindimensional, sondern siedelt die beiden Pole des Wertewandels auf zwei getrennten Dimensionen an. 221 Die erste Dimension, welche er mit dem Etikett ,Pflicht- und Akzeptanz' benennt, konstituiert sich 218 Vgl. Bürklin/Klein/Ruß, Postmaterieller oder anthropozentrischer Wandel?, PVS 1996, S. 529; obwohl für Hepp, Wertewandel und Bürgergesellschaft, APuZ B52+53/1996, S.4 Wertewandel nicht einfach mit Werteverfall gleichzusetzen ist, weist er deutlich darauf hin, dass "in unserer Gesellschaft problemerzeugende Entnormativierungs- und Entsolidarisierungstendenzen, deutliche Symptome eines ausufernden Egoismus und Individualismus" sowie "eine sich ausbreitende Ellenbogenmentalität" festzustellen ist; so im Ergebnis auch Brähler / Richter, Die Deutschen am Vorabend der Wende, S. 11 ff. 219 Siehe dazu insbesondere Klages, Die gegenwärtige Situation der Wert- und WertwandeIforschung, S. 12 ff. 220 Klages, Der Wertewandel in der Bundesrepublik Deutschland, in: Janssen/Möhwald/ Ölschleger (Hrsg.), Gesellschaft im Umbruch?, 1996, S. 66. Für Meulemann, Wertwandel als Diagnose sozialer Integration, in: Friedrichs/Lepsius/K. U. Mayer (Hrsg.), Die Diagnosefähigkeit der Soziologie, 1998, S. 273 charakterisiert seine Formel "von Akzeptanz zu Selbstbestimmung" den gleichen Prozess. 221 Vgl. Klages, Wertorientierungen im Wandel, 1984, S. 22 ff.

166

3. Teil: Modeme und Abstrakte Gesellschaft

aus Werten wie z. B. Disziplin, Gehorsam, Leistung, Ptlichterfüllung, Treue, Unterordnung, Fleiß, Selbstbeherrschung und Selbstlosigkeit. 222 Die zweite Dimension der ,Selbstentfaltung' setzt sich aus drei eher heterogenen Wertekomplexen zusamrnen. 223 Erstens aus den Werten eines gesellschaftsbezogenen Idealismus (z. B. Emanzipation gegenüber Autoritäten, Demokratie, Gleichheit, Partizipation), zweitens aus hedonistischen (z. B. Genuss, Spannung, Ausleben emotionaler Bedürfnisse) und drittens aus individualistischen Werten (z. B. Selbstverwirklichung, Ungebundenheit, Eigenständigkeit).224 Vor diesem Hintergrund entwickelte Klages auf konstruktivistischem Wege eine Systematik, in deren Rahmen Ende der 70er und Anfang der 80er Jahre vier Wertetypen unterschieden werden konnten. 225 Erstens die ,Nonkonformen Idealisten' mit stark ausgeprägten Selbstentfaltungswerten und schwachen Pflicht- und Akzeptanzwerten, bei denen sich der Wandel gewissermaßen umsturzartig vollzogen hat. Zweitens die meist älteren ,Ordnungsliebenden Konventionalisten', die umgekehrt hohe Pflicht- und Akzeptanz-, aber kaum Selbstentfaltungswerte aufweisen, da bei ihnen der Wertewandel nicht oder nicht mehr gezündet hat. Neben diesen beiden ,reinen' Wertetypen existieren aber auch zwei ,gemischte': Die ,Perspektivlos Resignierten', die dadurch charakterisiert sind, dass bei ihnen beide Wertdimensionen gering ausgeprägt sind, was mit einem Werteverlust synonym ist, und die ,Aktiven Realisten', die sowohl starke Selbstentfaltungs- als auch Ptlicht- und Akzeptanzwerte aufweisen, da bei ihnen offensichtlich eine Wertesynthese stattgefunden hat. Die Forschungsgruppe geht davon aus, dass die Mischtypen nicht lediglich als Übergangszustände in einem linearen Prozess des Austausches alter durch neuer Wertorientierungen zu verstehen sind, sondern durchaus Typen eigenständiger sozialer Persönlichkeiten darstellen. 226 Diese Auffassung wurde durch verschiedene empirische Analysen weitgehend bestätigt, denn es zeigte sich, dass die vier Wertetypen jeweils spezifische soziodemographische Merkmale aufweisen. 227 Nachdem Klages mit der Formel ,Von Pflicht- und Akzeptanz- zu Selbstentfaltungswerten ' gewissermaßen den Megatrend des Wertewandels kennzeichnete, difVgl. Klages, Wertorientierungen im Wandel, S. 18; ders., Wertedynamik, 1988, S. 57. Vgl. Klages, Wertorientierungen im Wandel, S. 18; ders., Wertedynarnik, S. 57. 224 Vgl. Klages, Wertorientierungen im Wandel, S. 18; ders., Wertedynamik, S. 57. 225 Vgl. Klages, Wertedynarnik, S. 120; ders., Traditionsbruch als Herausforderung, 1993, S. 33; Franz/Herbert, Werttypen in der Bundesrepublik: Konventionalisten, Resignierte, Idealisten und Realisten, in: Klagest dies. (Hrsg.), Sozialpsychologie der Wohlfahrtsgesellschaft, 1987, S. 41 ff. 226 Die empirisch vorgefundenen Wertetypen sind für Franz/ Herbert, Werttypen in der Bundesrepublik: Konventionalisten, Resignierte, Idealisten und Realisten, S. 42 "Typen sozialer Persönlichkeiten, bei denen das Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft . . . in unterschiedlicher Weise abgebildet ist". 227 Vgl. Klages, Wertedynamik, S. 122 ff.; Herbert, Wandel und Konstanz von Wertstrukturen, 1991, S. 40 ff. 222 223

5. Kap.: Die Situation des Individuums in der modemen Gesellschaft

167

ferenzierte er innerhalb eines mehrdimensionalen Wertewandelraumes anschließend auf der Mikroebene die zahlreichen individuellen Nuancierungen, welche die folgende Abbildung zusammenfassend systematisieren und veranschaulichen soll.

Wertedimensionen Wertetypen Nonkonforme Idealisten Ordnungsliebende Konventionalisten Perspektivlos Resignierte Aktive Realisten

Pflicht- und Akzeptanzwerte

Se1bstentfa1tungswerte

niedrig

hoch

hoch

niedrig

niedrig

niedrig

hoch

hoch

Abbildung 14: Wertetypen und Wertedimensionen nach H. Klages

Ende der 80er Jahre wiederholte die Forschungsgruppe um Klages ihre Untersuchungen und konnte zunächst die vier bereits früher eruierten Wertetypen wiederentdecken. 228 Zudem ließ sich jedoch die Entstehung einer neuen hedo-materialistischen Wertedimension beobachten. 229 Besonders auffallend war, dass diese sich aus zwei Wertbereichen konstituierte, die bislang voneinander unabhängigen Wertedimensionen angehörten, denn Materialismus war bis dahin Bestandteil der Pflicht- und Akzeptanzwertedimension und Hedonismus gehörte zur Dimension der Selbstentfaltungswerte. 230 Offensichtlich hatte sich ein Prozess des sukzessiven Herauslösens des Materialismus aus der Dimension konventioneller Werte und dessen gleichzeitige Synthese mit hedonistischen Selbstverwirklichungswerten vOllzogen. 231 Materielle Werte stellen somit nicht länger einen Wert an sich dar, sondern werden in zunehmendem Maße in den Dienst individualistischer Selbstverwirklichung gestellt. 232 Das Hervortreten einer weiteren grundlegenden WerteVgl. Klages, Traditionsbruch als Herausforderung, S. 33. Vgl. Herbert, Wertstrukturen 1979 und 1987: Ein Vergleich ihrer politischen Implikationen, in: Klages / Hippier / ders. (Hrsg.), Werte und Wandel, 1992, S. 75. 230 Vgl. Herbert, Wertstrukturen 1979 und 1987, S. 75. 231 Vgl. Herbert, Wertstrukturen 1979 und 1987, S. 80. 232 Auch nach der Auffassung von KleinlPötschke, Gibt es einen Wandel hin zum ,,reinen" Postmaterialismus?, ZfS 2000, S. 206 können auf individueller Ebene materialistische Werte "sowohl mit traditionellen als auch mit modernisierten Werten synthetisieren. In dem Maße, in dem nun traditionelle Werte auf Grund des sozio-ökonomischen Strukturwandels an Bedeutung verlieren, löst sich der Wertbereich Materialismus daher aus seinen Bezügen zu diesen Werten". 228 229

168

3. Teil: Modeme und Abstrakte Gesellschaft

dimension musste aber zwangsläufig auch Veränderungen bei der Ermittlung der bis dahin auf der Existenz von zwei fundamentalen Dimensionen basierenden Wertetypenbildung zur Folge haben. Die verwendeten Analyseverfahren wurden an den nun dreidimensionalen Werteraum angepasst und ließen den neuen Typus des ,Hedonistischen Materialisten' oder kurz ,HedoMat' zum Vorschein kommen?33 Als Gesamtergebnis der modifizierten Auswertungen wurde die "Speyerer Typologie,,234 präsentiert, welches die folgende Abbildung zusammenfasst.

Werte dimensionen Wertetypen

Ptlicht- und Akzeptanzwerte

Hedonistischmaterialistische Selbstentfaltungswerte

Idealistische Selbstentfaltungswerte

niedrig

niedrig

hoch

hoch

niedrig

niedrig

Hedonistische Materialisten

niedrig

hoch

niedrig

Perspektivlos Resignierte

niedrig

niedrig

niedrig

hoch

hoch

hoch

Nonkonforme Idealisten Ordnungsliebende Konventionalisten

Aktive Realisten

Abbildung 15: Wertetypen und Wertedimensionen nach der Speyerer Typologie

Wertewandel ist demnach weder ein eindimensionaler noch ein ununterbrochener Veränderungsprozess, der von der Vergangenheit über die Gegenwart geradewegs in die Zukunft hineinführt. 235 Verschiedene Wertdimensionen können, aber müssen keinen Gegensatz darstellen, so dass sich Wertewandel durchaus nicht nur als Wertesubstitution, sondern vor allem auch als Wertesynthese vollziehen kann. 236 233 Vgl. Herbert, Wertstrukturen 1979 und 1987, S. 71 ff., 75, der explizit darauf hinweist, "daß die Etablierung hedonistisch-individualistischer und materialistischer Werte als einheitliche Dimension tatsächlich ein Phänomen neueren Datums ist, das etwa ab Mitte der 80er Jahre beobachtet werden kann"; zum dreidimensionalen Werteraum und dem neuen Wertetypus ,HedoMat' siehe auch ders., Wandel und Konstanz von Wertstrukturen, S. 35 ff. 234 Klages, Der Wertewandel in der Bundesrepublik Deutschland, S. 78. Gensicke, Deutschland im Wandel, 1995, S. 25 spricht synonym von dem "Speyerer Typenschema für Wertetypen". 235 Herbert, Wertstrukturen 1979 und 1987, S. 70 weist in diesem Kontext vehement auf die Unterschiede zwischen dem Speyerschen und dem Inglehartschen Wertewandelverständnis hin. 236 Vgl. Gensicke, Deutschland am Ausgang der neunziger Jahre - Lebensgefühl und Weiten, in: Klages/ders. (Hrsg.), Wertewandel und bürgerschaftliches Engagement an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, 1999, S. 33 f.

5. Kap.: Die Situation des Individuums in der modemen Gesellschaft

169

Von dieser Überzeugung ausgehend macht Klages sich daran, die mittlerweile von weiten Kreisen als gängige Wahrheit akzeptierte These, dass in der deutschen und in anderen modernen Gesellschaften "Mitmenschlichkeit und Gemeinsinn aussterben, daß purer Materialismus, Egoismus und egozentrischer Ich-Bezug die Herrschaft ergreifen,,237, zu hinterfragen. Durch die Verallgemeinerung dieser Aussagen wird oftmals die Entwicklung hin zu einer Ego- oder Ellenbogengesellschaft konstatiert, welche wiederum mit einem angeblichen Verfall der Werte in Verbindung gebracht wird. 238 Eine kritische Prüfung erscheint ihm nicht zuletzt deshalb so wichtig, weil durch diese Sicht der Dinge in gefährlicher Weise Richtiges und Falsches miteinander vermischt werden?39 Pflicht- und Akzeptanzwerte gehen zwar teilweise zurück, sterben aber im Rahmen des derzeitigen Wertewandels keinesfalls aus, sondern gehen Synthesen mit Selbstentfaltungswerten ein. 24o Gemäß empirischen Untersuchungen stellen die selbstentfaltungsorientierten ,Nonkonformen Idealisten' und ,Hedonistischen Materialisten' in Summe nur 35 % / 26% der west- / ostdeutschen Bevölkerung, wogegen auf den stetig wachsenden Wertetyp der ,Aktiven Realisten' derzeit allein schon 30% / 35% kommen. 241 237 Klages, Chancen des Wertewandels, in: Teufel (Hrsg.), Was hält die modeme Gesellschaft zusammen?, 1996, S. 45. 238 Vgl. Klages, Zerfällt das Volk? - Von den Schwierigkeiten der modemen Gesellschaft mit Gemeinschaft und Demokratie, in: ders./Gensicke (Hrsg.), Wertewandel und bürgerschaftliches Engagement an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, 1999, S. 2; in einer Untersuchung des Instituts für Demoskopie, Allensbach aus dem Jahr 1997 meinten 76% der Befragten, dass die Werte in der Gesellschaft verfielen, und 82 % glaubten, dass die Menschen sich immer egoistischer entwickelten, vgl. Oesterdiekhoff, Soziale Strukturen, sozialer Wandel und Wertewandel, S. 42; Duncker, Verlust der Werte?, S. 92 f. kommt in seiner aktuellen Studie zu dem Ergebnis, dass in der öffentlichen Meinung ein Bild des Wertewandels vorherrscht, das überwiegend einen Werteverfall beschreibt; auch Meulemann, Wertwandel als Diagnose sozialer Integration, S. 274 konstatiert, dass die Beurteilung des Wertewandels in Deutschland überwiedend negativ ist: .. Der Wertwande1 ist so gut wie immer ..Wertverfall" oder ..Wertverlust": Die Selbstbestimmung gewinne auf Kosten von Gemeinsinn."; ähnliche Thesen zum Bild von der ..Ellenbogengesellschaft" und der ..Individualität als Maßstab aller Dinge" finden sich bei Heiderich/Rohr, Wertewande1, 1999, S. 61 ff. 239 Vgl. Klages, Chancen des Wertewandels, S. 46. 240 Vgl. Klages, Chancen des Wertewandels, S. 46. 241 Gensicke, Deutschland am Ausgang der neunziger Jahre, S. 33 präsentiert auf Basis eines 1997 durchgeführten Wertesurveys die folgenden Zahlen - Wertetyp (Anteil West 1Anteil Ost): Konventionalisten (16%/19%), Resignierte (19%/20%), Realisten (30%/35%), HedoMats (14%/14%) und Idealisten (21%/12%). Bereits in einer früheren Studie zu den Wertetypen in Westdeutschland kam ders., Deutschland im Wandel, S. 26, 56 zu ähnliche Ergebnisse: Konventionalisten 17%, Resignierte 15%, Realisten 34%, HedoMats 17% und Idealisten 17%, wobei für ihn die ..Tendenz zur Ego-Gesellschaft ... nicht ganz aus der Luft gegriffen" ist, da vor allem in der Gruppe der 18- bis 30-Jährigen die Neigung zum HedoMat (31 %) deutlich stärker ausgeprägt ist als in der Gesamtbevölkerung; .. Allerdings ist gerade bezüglich der jüngeren Menschen Vorsicht geboten, ob hier nicht eher eine vom Zeitgeist gesteuerte Wertemode vorliegt als eine Dauerprägung.", ders., ebd., S. 27. Siehe ergänzend ders., Sozialer Wandel durch Modemisierung, Individualisierung und Wertewandel, APuZ B421 1996, S. 13 ff. und ders., Deutschland im Übergang, 2000, S. 73 ff.

170

3. Teil: Modeme und Abstrakte Gesellschaft

Hier tut sich eine interessante Schnittstelle zum Modell der Abstrakten Gesellschaft auf. Auf der Mikroebene kann die jeweilige Werteorientierung der einzelnen Gesellschaftsmitglieder als deren individuelle Angepasstheit und der von ihnen vollzogene Wertewandel als das Ergebnis von individuellen Lernprozessen interpretiert werden. In diesem Sinne repräsentieren die oben beschriebenen Wertetypen unterschiedliche Grade und Fonnen der Anpassung an die gegenwärtige Situation in modernen Gesellschaften. Führt man vor diesem Hintergrund Klages Wertetypen mit den vier Individuentypen im Modell der Abstrakten Gesellschaft zusammen, so ergeben sich annäherungsweise die folgenden Verknüpfungen: Die ,Konventionalisten' und die ,Resignierten' kommen mit den neuen Gesellschaftsverhältnissen nur sehr schwer zurecht und sind dem Typ 1 zuzuordnen. 242 Die ,HedoMats ' und die ,Idealisten' haben sich bereits jeweils spezifisch angepasst und sind folglich Typ 2 zuzurechnen. Die ,Realisten' weisen hohe Ausprägungen in allen Wertedimensionen auf, was ein deutliches Indiz dafür ist, dass es sich bei ihnen um Individuen des Typs 3 und 4 oder um umfassend angepasste Individuen des Typs 2 handelt. Den innerhalb des Modells der Abstrakten Gesellschaft zentralen Aspekt der individuellen Angepasstheit oder Anpassungsfaltigkeit bearbeitet Klages mittels der Frage nach einem optimalen Wertemuster. 243 Dieses "muß seinen Träger dazu befaltigen, in wechselnden Situationen ohne Umstellungsnöte und Identitätskrisen unterschiedlichen oder sogar gegensätzlichen Anforderungen zu entsprechen, oder solche gegensätzlichen Anforderungen innerhalb ein und derselben Situation ohne Streßüberflutung "auszubalancieren,,244. Setzt man diese Charakterisierung des optimalen Wertemusters mit der Systematik der Speyerer Typologie in Verbindung, dann ist klar, dass die Bedingung der Optimalität nur dort erfüllt ist, wo in einem individuellen Wertemuster alle drei Dimensionen hoch ausgeprägt sind?45 Folglich sind alle Wertetypen, die nur zwei oder gar nur eine Wertedimension in hoher Ausprägung aufweisen, nicht optimal. Die zu diesen Wertetypen gehörenden Wertemuster weisen substantielle Defizite auf, die dazu führen, dass ihre Träger hinter den Anforderungen der modernen Gesellschaft zurückbleiben oder sich auf Teilsegmente dieser Anforderungen zurückziehen, was in beiden Fällen erhebliche Probleme nach sich zieht. 246 Das bedeutet, dass allein die ,Aktiven Realisten' ein Profil aufweisen, das es ihnen ennöglicht, die Aufgaben, welche die moderne Umwelt an sie stellt, unter einem relativ geringen Problemlösungsdruck erfolgreich zu lösen. 247 242 Gensicke, Deutschland im Wandel, S. 24 bezeichnet die ,Konventionalisten' auch als die" Verweigerer" und die ,Resignierten' als die" Verlierer". 243 Vgl. Klages, Der Wertewandel in der Bundesrepublik Deutschland, S. 74 ff. 244 Klages, Der Wertewandel in der Bundesrepublik Deutschland, S. 76. 245 Vgl. Klages, Der Wertewandel in der Bundesrepublik Deutschland, S. 78 f. 246 Vgl. Klages, Der Wertewandel in der Bundesrepublik Deutschland, S. 79. 247 Vgl. Klages, Der Wertewandel in der Bundesrepublik Deutschland, S. 79. Es kann angenommen werden, dass es sich bei Klages' ,Aktiven Realisten' zu einem Teil um diejenigen

6. Kap.: Identitätsentwicklung und gesellschaftliche Entwicklung

171

6. Kapitel

Identitätsentwicklung und gesellschaftliche Entwicklung Popper fasst das Grundproblem moderner Gesellschaften folgendermaßen zusammen: Obwohl "die Gesellschaftsform abstrakt geworden ist, hat sich doch die biologische Struktur des Menschen nicht sehr verändert,,248. Welche weitreichenden Problemkreise sich aus diesem Sachverhalt entwickeln können, soll mit Hilfe von Untersuchungen zum Orientierungsverlust und zur Identitätssuche der Individuen (I.) sowie zum Fortschrittscharakter gesellschaftlichen Wandels (11.) gezeigt werden.

I. Orientierungsverlust und Identitätssuche

Das Leben in modemen Gesellschaften kann für die Individuen schwerwiegende Orientierungsprobleme mit sich bringen. Um mögliche Ursachen für diesen Sachverhalt zu analysieren, werden zuerst klassische Ansätze der Identitätsforschung (1.) zusammengefasst, welche als Richtschnur für die weiteren Überlegungen dienen sollen. Im Anschluss daran wird die Identität einer Person aus wissenstheoretischer Perspektive (2.) betrachtet und dabei in Ich- und Wir-wissensbezogene Komponenten zerlegt. Vor dem Hintergrund eines solchen Identitätsverständnisses werden danach natürliche und soziale Identitätsmerkmale (3.) unter die Lupe genommen. Abschließend erfolgt die Rückführung von Orientierungsproblemen auf Erkenntnisprobleme des Individuums beim Aufbau von Wir-bezogenem Wissen und damit auf Probleme bei der Bildung der kollektiven Komponente seiner Identität (4.).

1. Klassische Ansätze der Identitätsforschung

Als einem Wesen, das die Fähigkeit besitzt, sich selbst zum Gegenstand seiner Bewusstseinsprozesse zu machen, wird dem Menschen in der Natur eine Sonder"starken Menschen" handelt, die Noelle-Neunumn, Erinnerungen an die Entdeckung des Wertewande1s, in: Kreyher/Böhret (Hrsg.), Gesellschaft im Übergang, 1995, S. 27 bei ihren Untersuchungen entdeckte; diese "Menschen mit Persönlichkeits stärke" sind "von einem eigentümlichen Selbstvertrauen erfüllt" bereit, "Verantwortung zu übernehmen", "Lasten zu tragen", "Durststrecken durchzuhalten", und fallen anders als erwartet "nicht durch Härte und Brutalität, sondern genau umgekehrt" auf. 248 Popper; Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 209. Auch für Radnitzky, Die ungeplante Gesellschaft, in: Gutowski/Molitor (Hrsg.), Hamburger Jahrbuch für Wirtschaftsund Gesellschaftspolitik, 1984, S. 26 kann weder "die abstrakte Gesellschaft noch die offene Gesellschaft ... die "Instinkte" und Emotionen, die dem Leben in der kleinen Horde angepaßt sind ... zufriedenstelIen".

172

3. Teil: Modeme und Abstrakte Gesellschaft

stellung zugewiesen. 249 Er ist in der Lage, Aussagen über seine eigene Person zu machen, so dass die elementarste Definition von Identität in die Frage ,Wer bin ich?' gefasst werden kann?50 Da sich heute die verschiedensten Disziplinen mit jeweils unterschiedlichen Bezügen, Schwerpunkten und Ansätzen mit dem Begriff der Identität auseinandersetzen, existiert mittlerweile eine so große definitorische Vielfalt, dass die terminologische Lage fast unüberschaubar geworden iSt. 251 Eine Zusammenfassung wichtiger klassischer Ansätze soll zu mehr Übersichtlichkeit beitragen und als Richtschnur für die weiteren Überlegungen dienen. Die wissenschaftliche Tradition, die sich mit dem Problemkreis der Identitätstheorie beschäftigt, geht auf den Amerikaner William James 252 zuriick. Er führte Ende des 19. Jahrhunderts als erster die Unterscheidung zwischen der Innenperspektive des ,I' und der Außenperspektive des ,me' ein?53 Das ,I' repräsentiert für ihn das ,selbst erfahrene Ich' (Subjekt und Objekt der Identifizierung sind in einer Person vereint), wogegen das ,me' das ,von anderen erlebte Ich' (Subjekt und Objekt der Identifizierung sind getrennt) darstellt. 254 Auf diese Differenzierung aufbauend hob Charles Cooley255 die Soziogenese von Identität noch stärker hervor, denn im Rahmen seines Modells des ,looking-glass self' konstituiert sich die Identität eines Individuums aus den Vorstellungen, die seiner Meinung nach andere von ihm haben. Die Identitätsbildung eines Menschen bedarf somit der Widerspiegelung seiner Handlungen in den Reaktionen anderer und der eigenen Auseinandersetzung mit diesen Rückmeldungen. 256 Auch William Thomas257 und George H. Mead 258 betonen in ihren Überlegungen, dass Identität auf Grund von sozialen Wechselbeziehungen zustande kommt. 259 Letzterer geht in seiner Kritik an der behavioristischen Psychologie260 249 Zur Reflexivität als humanspezifische Grundtatsache siehe Frey/Haußer, Entwicklungslinien sozialwissenschaftlicher Identitätsforschung, in: dies. (Hrsg.), Identität, 1987, S. 5 und Luckmann, Persönliche Identität und Lebenslauf - gesellschaftliche Voraussetzungen, in: Brose/Hildenbrand (Hrsg.), Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende, 1988, S.74f. 250 Vgl. Levita, Der Begriff der Identität, 1971, S. 8 f.; Bevers, Identität, in: Reinhold (Hrsg.), Soziologie-Lexikon, 1991, S. 276. 251 Vgl. Lohauß, Modeme Identität und Gesellschaft, 1995, S. 27; Krappmann, Soziologische Dimensionen der Identität, 7. Aufl. 1988, insb. S. 16 ff.; Schmieder, Identität, in: Kerber I ders. (Hrsg.), Handbuch Soziologie, 1984, S. 229 ff. 252 Vgl. fames, The Principles of Psychology Vol. I, 1891; ders., The Principles ofPsychology Vol. II, 1891. 253 Vgl. Haußer, Identität, in: Endruweit/Trommsdorf (Hrsg.), Wörterbuch der Soziologie, Bd. 2,1989, S. 280. 254 V gl. fames, The Principles of Psychology Vol. I, S. 400 f. 255 Vgl. Cooley, Human nature and the socia! order, 1902. 256 Vgl. Haußer, Identität, S. 280. 257 Vgl. Thomas, Person und Sozialverhalten, 1965. 258 Vgl. Mead, Mind, Se!f & Society, 1963. 259 Vgl. Bevers, Identität, S. 276.

6. Kap.: Identitätsentwicklung und gesellschaftliche Entwicklung

173

davon aus, dass ,,»Identität« [»self«] ... ausschließlich in einem gesellschaftlichen Prozeß,,261 entsteht. Für Mead besitzt ein Individuum Identität, weil und sofern es über die Fähigkeit verfügt, sich selbst zum Objekt zu machen und ein Bewusstsein der eigenen Bedeutung für andere zu entwickeln. 262 In diesem Sinne ist die Identität eines Menschen sowohl Ursache und Auslöser sozialer Interaktionen als auch deren Folge und Produkt?63 Diesen Standpunkt arbeitet Mead weiter aus, indem er an James' und Cooleys Ansätze anknüpft und folgende zwei Komponenten der Identität (des ,Self') unterscheidet: Das ,Me' und das ,1,.264 Das ,Me' ist gesellschaftlichen Ursprungs und verkörpert die sozialen Rollen und die Erwartungen anderer Menschen an eine Person?65 Diese werden vom Individuum während seiner sozialen Interaktionen verinnerlicht, wobei dem ,Sich-in-die-Rolle-anderer-Hineinversetzen-Können' eine entscheidende Bedeutung zukommt. 266 Daneben existiert aber noch das ,I', welches "auf die Identität [reagiert], die sich durch die Übernahme der Haltungen anderer entwickelt,,267. Dieser aktive zweite Teil der Identität ist Bedingung für die Identifikation mit und für die Internalisierung von sozialen Rollen, ermöglicht aber auch gleichzeitig eine kritische Distanzierung vom ,Me'. 268 Identitätsbildung ist demnach ein permanenter Prozess, der sich aus einer zyklischen Rückkopplung zwischen ,Me' und ,I' konstituiert, wobei das ,Me' den Anlass für die Reaktion des ,I' liefert und diese ihrerseits, gespiegelt durch das Feed-Back der anderen darauf, zu einem Teil des ,Me' wird, auf das wiederum das ,I' reagiert. 269 Durch dieses 260 Die behavioristische Psychologie versucht, menschliches Verhalten ohne Bezugnahme auf die innere Erfahrung der Handelnden zu definieren und als Folge ursächlich wirkender objektiver Reize zu erklären, vgl. Preglau, Symbolischer Interaktionismus: George Herbert Mead, in: Morel / Bauer / Meleghy / Niedenzu / ders. / Staubmann, Soziologische Theorie, 7. Auf!. 2001, S. 52. 261 Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, 1968, S. 18. 262 Vgl. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, S. 178 ff. 263 Nach Bevers, Identität, S. 276 geht Mead davon aus, dass Sinnerfahrung, Bewusstsein und Identität keine apriori existenten menschlichen Eigenschaften sind, sondern erst durch wechselseitige soziale Handlungen entwickelt werden. 264 In der deutschen Ausgabe von ,Mind, Self & Society' wird ausdrücklich darauf hingewiesen, dass die Differenzierung zwischen dem ,I' und dem ,Me' im Grunde nicht übersetzbar ist - ,I' wird dort mit ,,»Ich«" und ,Me' mit ,,»ICH«" wiedergegeben, vgl. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, S. 216. 265 Vgl. Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, S. 218. 266 Für Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, S. 214 f. entsteht durch "die Übernahme oder das Erfühlen der Haltung des anderen gegenüber sich selbst ... ein Selbst-Bewußtsein" und bis "zum Auftreten eines Selbst-Bewußtseins im gesellschaftlichen Erfahrungsprozeß erfährt der Einzelne seinen Körper ... nur als unmittelbaren Teil seiner Umwelt, nicht als zu ihm gehörig, nicht im Rahmen eines Selbst-Bewußtseins. Erst wenn sich Identität und ihr Bewußtsein entwickelt haben, können diese Erfahrungen eindeutig mit der Identität verknüpft und dieser zugeschrieben werden". 267 Mead, Geist, Identität und Gesellschaft, S. 217. 268 Vgl. Abels, Interaktion, Identität, Präsentation, 1998, S. 33; Bevers, Identität, S. 276. 269 Vgl. Preglau, Symbolischer Interaktionismus: George Herbert Mead, S. 61.

174

3. Teil: Modeme und Abstrakte Gesellschaft

Wechselspiel zwischen ,Me' und ,I' vollzieht sich für Mead die Vermittlung zwischen Individuum und Gesellschaft. 27o Die Auffassung, dass im Identitätsbegriff die eigene Person und die soziale Umwelt miteinander verknüpft sind, ist in Anlehnung an Mead in der Folgezeit von verschiedenen Wissenschaftlern (mit teils sehr unterschiedlicher Gewichtung auf das ,Me' oder das ,I') weiter ausgearbeitet worden.271 Namentlich sollen an dieser Stelle Herbert Blumer272 , Alfred Schütz273 , Peter L. Berger und Thomas Luckmann274 sowie Erving Goffmann 275 , auf den später noch näher eingegangen wird, genannt werden. Für Erik Erikson beruht "persönliche Identität . .. auf zwei gleichzeitigen Beobachtungen: der unmittelbaren Wahrnehmung der eigenen Gleichheit und Kontinuität in der Zeit, und der damit verbundenen Wahrnehmung, daß auch andere diese Gleichheit und Kontinuität erkennen,,276. Daneben existiert für ihn noch eine ,,»Ich-Identität«"277, die darin zum Ausdruck kommt, "daß das Ich wesentliche Schritte in Richtung auf eine greifbare kollektive Zukunft zu machen lernt und sich zu einem definierten Ich innerhalb einer sozialen Realität entwickelt,m8. Zusammenfassend stellt Identitätsbildung für ihn somit die spezifische Syntheseleistung eines Individuums dar, die in der Aufgabe besteht, neue Erfahrungen mit der sozialen Umwelt in den Bestand alter Erlebnisse zu integrieren, ohne das Gefühl von persönlicher Kontinuität und Konsistenz zu verlieren. 279 Eine entscheidende Rolle bei der Bestimmung und Auseinandersetzung eines Menschen mit seiner Identität spielt daher nicht nur die von ihm wahrgenommene Stabilität, sondern auch die eigene Veränderung, welche in biographischen Diskontinuitäten ihren Ausdruck findet. 280 Wichtige Perioden sind in diesem Kontext die Kindheit, die Pubertät, die Adoleszenz und der Übergang ins frühe Erwachsenenalter. 281 Vgl. Preglau, Symbolischer Interaktionismus: George Herbert Mead, S. 61. Eine guten Überblick liefert hier Abels, Interaktion, Identität, Präsentation, S. 43 ff. 272 Vgl. Blumer; Symbolic Interactionism, 1969. 273 Vgl. Schütz, Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, 1932. 274 Vgl. P. L. Berger/Luckmann, The Social Construction ofReality, 1967. 275 Vgl. Goffman, Wir alle spielen Theater, 1969; ders., Stigma, 1975. 276 Erikson, Identität und Lebenszyklus, 6. Auf!. 1980, S. 18. 277 Erikson, Identität und Lebenszyklus, S. 17. Zu Eriksons Differenzierung zwischen persönlicher und Ich-Identität siehe auch Levita, Der Begriff der Identität, S. 71 f. 278 Erikson, Identität und Lebenszyklus, S. 17. 279 So verstanden ist für Frey / Haußer; Entwicklungslinien sozialwissenschaftlicher Identitätsforschung, S. 7 Identität "die Strukturierung von Erfahrungsinhalten der verschiedensten Art. In diesem Sinne ist auch der Synthesebegriff akzeptabel. Denn Strukturierung bedeutet nicht notwendigerweise die Herstellung eines stabilen oder harmonischen Gleichgewichtes. Identität ist nicht eine dieser Erfahrungen, sondern die Struktur aller dieser Erfahrungen, d. h. das Relationsgefüge, das zwischen den oben skizzierten Erfahrungen als den Elementen der Struktur hergestellt wird. (Identität ist ein "Prozeßbegriff')". 280 Vgl. Haußer; Identität, S. 279. 270

271

6. Kap.: Identitätsentwicklung und gesellschaftliche Entwicklung

175

In Anlehnung an Eriksons Definitionen umschreibt Goffman Identität als "das subjektive Empfinden seiner eigenen Situation und seiner eigenen Kontinuität und Eigenart, das ein Individuum allmählich als ein Resultat seiner verschiedenen sozialen Erfahrungen erwirbt,,282. Er unterscheidet dabei zwischen "sozialer und persönlicher Identität,,283. Persönliche Identität bezieht Goffman auf die Einzigartigkeit eines jeden Individuums, was mit der Vorstellung zu tun hat, dass jede Person in positiver Weise von allen anderen differenziert werden kann. 284 Die soziale Identität hingegen umfasst die Eigenschaften, welche einer Person von anderen zugeschrieben werden, und manifestiert sich in Rollen und Rollenerwartungen, die das Individuum in Interaktionen mit seiner Umwelt vorfindet. 285 Beide Seiten der Identität konfrontieren den Einzelnen mit Erwartungen und stellen somit zwei Dimensionen dar, die das Individuum ausbalancieren muss. 286 Auf Goffmans metaphorischen Bühne des alltäglichen menschlichen Zusammenlebens halten folglich die Akteure ihre persönliche und soziale Identität im Rollenspiel (mit seinen mannigfaltigen Techniken und Taktiken der Selbstdarstellung) erfolgreich im Gleichgewicht oder geraten in persönliche Schwierigkeiten. 287 Einen anderen Balanceakt beschreibt Norbert Elias. Nach seinen Überlegungen kann beim Menschen zwischen seiner "Ich-Identität,,288 und seiner "WirIdentität,,289 differenziert werden. In der ersten manifestiert sich, "wodurch sich 281 Vgl. ausführlich Erikson, Identität und Lebenszyklus, S. 55 ff. und zusammenfassend Höring / Klima, Identität, in: Fuchs-Heinritz / Lautmann / Rammstedtl Wienold (Hrsg.), Lexikon der Soziologie, 3. Auf!. 1994, S. 286. Zu Eriksons Phasenlehre der Identitätsentwicklung siehe Haußer; Identitätsentwicklung, 1983, S. 114 ff. 282 Goffman, Stigma, S. 132. 283 Goffman, Stigma, S. 132. 284 Vgl. Goffman, Stigma, S. 73 f.; Krappmann, Soziologische Dimensionen der Identität, S. 73 f. weist ausdriicklich auf drei mögliche Varianten des Einzigartigkeitsbegriffs hin, wobei für ihn Goffman allerdings nur die ersten bei den Vorstellungen mit seinem Begriff der persönlichen Identität verbindet: "Unter der Einzigartigkeit eines Individuums könnte verstanden werden, daß es nur ein Individuum gibt, das bestimmte besondere Kennzeichen aufweist. Einzigartigkeit könnte zum zweiten im Hinblick darauf bestehen, daß sich viele, durchaus nicht allein diesem Individuum eigene Fakten insgesamt zu einer einmaligen Kombination zusammenschließen, die es erlaubt, das Individuum von allen anderen zu unterscheiden. Nach einer dritten Auffassung sind die Individuen in ihrem innersten Wesen und nicht nur auf der Ebene identifizierbarer Merkmale einzigartig". 285 Vgl. Goffman, Stigma, S. 10 ff.; Lenz, Erving Goffman - Werk und Rezeption, in: Hettlage/ ders. (Hrsg.), Erving Goffman - ein soziologischer Klassiker der zweiten Generation, 1991, S. 44. 286 Vgl. Lenz, Erving Goffman - Werk und Rezeption, S. 72; für Krappmann, Soziologische Dimensionen der Identität, S. 78 verlangt die soziale Identität, sich den allgemeinen Erwartungen unterzuordnen, wogegen die persönliche Identität es notwendig macht, sich von allen anderen zu unterscheiden - d. h. es "wird also zugleich gefordert, so zu sein wie alle und so zu sein wie niemand". 287 Vgl. Goffman, Wir alle spielen Theater, 1969. 288 Elias, Die Gesellschaft der Individuen, 2. Auf!. 1994, S. 210. 289 Elias, Die Gesellschaft der Individuen, S. 210.

176

3. Teil: Modeme und Abstrakte Gesellschaft

Menschen voneinander unterscheiden,,29o, was zur Herausbildung des Bewusstsein der eigenen unverwechselbaren Person führt?91 Da dieses Bewusstsein jedoch nur in einem (vergleichenden) Interaktionsprozess mit anderen Individuen gewonnen werden kann, erkennen die Menschen dabei auch, "was sie miteinander gemein haben,,292. Hieraus resultiert die für sie ebenso wichtige und unverzichtbare WirIdentität,293 welche in dem Wissen, bestimmten Kollektiven anzugehören und nicht ohne Bindungen zu seiner sozialen Umwelt sein zu können, zum Ausdruck kornmt. 294 Beide Identitäten stehen in einem bestimmten Verhältnis zueinander, von dem Elias als die "Wir-Ich-Balance,,295 spricht. Was sich nach seiner Ansicht im Rahmen des gesellschaftsgeschichtlichen Prozesses geändert hat, ist die Gewichtung in diesem Balanceverhältnis: Nachdem in friiheren Gesellschaften die Wir-Identität einen größeren Stellenwert einnahm, ist für modeme Gesellschaften eine zu ungunsten der Kollektivorientierung gehende Betonung der Ich-Identität bezeichnend. 296 Im Zuge der Bedeutungsverschiebung zwischen den beiden Identitätskomponenten bildet sich für Elias langfristig ein neues Gleichgewicht auf einer höheren Integrationsstufe heraus, wobei es vor allem in Übergangssituationen zu Identitätsproblemen kommen kann. 297

Elias, Die Gesellschaft der Individuen, S. 210. Vgl. Lohauß, Modeme Identität und Gesellschaft, S. 79. 292 Elias, Die Gesellschaft der Individuen, S. 210. Siehe in diesem Kontext auch Heller, Das Alltagsleben, 2. Aufl. 1978, S. 82: "Das »Wir-Bewußtsein« entwickelt sich parallel zum »Ich-Bewußtsein«. Damit soll nicht geleugnet werden, daß die affektive Kraft der Partikularität im Fall des »Ich-Bewußtseins« nachdrücklicher hervortritt. Das »Wir« erhält dadurch seine elementare Affektivität, daß das »Ich« sich mit ihm identifiziert. Das gilt selbstverständlich nicht nur für Gemeinschaften, sondern jede Sozialform, auch ganz zufällige Gruppenbildungen". 293 Elias, Die Gesellschaft der Individuen, S. 258 betont, dass schon die "biologische Organisation" des Menschen "auf ein Leben miteinander abgestellt" ist. 294 Vgl. Lohauß, Modeme Identität und Gesellschaft, S. 79; MeleghylNiedenzu, Prozeßund Figurationstheorie: Norbert Elias, in: Morel! Bauer! dies.! Preglau! Staubmann, Soziologische Theorie, 7. Aufl. 2001, S. 201. 295 Elias, Die Gesellschaft der Individuen, S. 210. 296 Vgl. Elias, Die Gesellschaft der Individuen, S. 210 ff., 272 f.; MeleghylNiedenzu, Prozeß- und Figurationstheorie: Norbert Elias, S. 201. 291 Vgl. Elias, Die Gesellschaft der Individuen, S. 269 ff.; ders., Was ist Soziologie?, 5. Auflage 1986, S. 110 f. bezeichnet Zusammenhänge und Ereignisse des physikalischen Naturgeschehens als Vorgänge auf der "relativ einfachsten Intergrationsebene" und setzt davon als nächste Stufe die "Ebene der Organismen" ab, von der sich für ihn wiederum die darüberliegende "Integrationsstufe der menschlichen Gesellschaften" abhebt; diese Einteilung beruht auf seiner Auffassung, "daß höher organisierte Geschehenszusarnmenhänge gegenüber weniger organisierten relativ autonom sein können". Siehe zu dieser Vorstellung von Elias auch Bevers, Identität, S. 278. 290

291

6. Kap.: Identitätsentwicklung und gesellschaftliche Entwicklung

177

2. Identität aus wissenstheoretischer Perspektive

In den Sozialwissenschaften wird Identität als notwendige Voraussetzung für die Handlungsfähigkeit des Einzelnen gesehen und längerfristige Interaktionsbeziehungen, wie beispielsweise Gesellschaften, nur für möglich erachtet, wenn der andere weiß, wer ich bin?98 "Dazu muß ich dem anderen deutlich machen, wer ich bin. Das kann ich nur, wenn ich "weiß", wer ich bin, und das wiederum hängt davon ab, was ich bislang aus meiner Umwelt erfahren habe über mich und wie ich diese Erfahrung über mich selbst zu einem Bild über mich selbst zusammenfüge, von dem ich sage: "Das bin ich!,,299 Aus dem angeführten Zitat und den Ausführungen zu den klassischen Ansätzen der Identitätsforschung wird deutlich, dass ein Individuum bei der Bestimmung seiner Identität auf seine von der Außenwelt vorgenommene Verortung angewiesen ist,300 was wiederum bedeutet, dass man sich diesem Untersuchungsgegenstand nicht nur aus rein psychologischer, sondern auch aus sozialwissenschaftlicher Perspektive nähern kann. Was soll im Rahmen der weiteren Betrachtungen unter Identität verstanden werden? Da sich hinter dem Identitätsbegriff in seiner allgemeinsten Form die Beantwortung der Frage ,Wer bin ich?' verbirgt, kann Identität in diesem Sinne auch als das Wissen eines Individuums über seine eigene Person interpretiert werden. Dabei ist es "von erheblicher Bedeutung, daß wir nicht als Ich geboren werden, sondern daß wir lernen müssen, daß wir ein Ich haben; ja, wir müssen erst lernen, ein Ich zu sein,,301. Das Wissen über die eigene Person, also seine Identität, ist einem Individuum nicht apriori gegeben, sondern wird von ihm erst in besonderen, probleminduzierten Lernprozessen entwickelt. 302 Identitätsbildung erfolgt hierbei 298

S.6.

Vgl. Frey / Haußer; Entwicklungslinien sozialwissenschaftlicher Identitätsforschung,

Frey / Haußer, Entwicklungslinien sozialwissenschaftlicher Identitätsforschung, S. 6. Für Popper / Eccles, Das Ich und sein Gehirn, 2. Aufl. 1982, S. 76 bildet sich die Identität einer Person "in Wechselwirkung mit dem Ich anderer sowie mit den Erzeugnissen und Dingen seiner Umwelt"; so auch Luckmann, Lebenswelt und Gesellschaft, 1980, S. 131: "Wechselseitige Spiegelung ist eine Grundbedingung für die Herausbildung persönlicher Identität". 301 Popper/Eccles. Das Ich und sein Gehirn, S. 144. In diesem Prozess lernt das Individuum nach Poppers Drei-Welten-Lehre etwas über die Welt 1, Welt 2 und vor allem Welt 3 sowie deren Wechselwirkungen untereinander, vgl. dies., ebd., S. 144, 147; Welt 1 repräsentiert die Welt der physischen Gegenstände, die in belebte und unbelebte Körper unterschieden werden können, Welt 2 steht für die Summe allen sowohl bewussten als auch unbewussten subjektiven Erlebens bzw. Wissens und Welt 3 beinhaltet die objektiven Produkte des menschlichen Geistes (wie z. B. Theorien, Kompositionen oder Kunstwerke), vgl. zur DreiWelten-Lehre ausführlich dies., ebd., S. 61 ff., Popper, Objektive Erkenntnis, S. 75 ff., 109 ff., ders., Ausgangspunkte, S. 264 ff. und ders., Erkenntnis und Gestaltung der Wirklichkeit: Die Suche nach einer besseren Welt, in: ders., Auf der Suche nach einer besseren Welt, 5. Aufl. 1990, S. 17 ff. Siehe ergänzend Meleghy. Karl Poppers Logik der Sozialwissenschaften, Ang Sozf 3+4/1997, S. 97 ff. 302 Auch für Luckmann. Lebenswelt und Gesellschaft, S. 131 ist "Identität ... das Ergebnis eines sozialen Lernprozesses". 299

300

12

Tiefel

178

3. Teil: Modeme und Abstrakte Gesellschaft

über Selbstidentifikation, welche sich auf die Innenperspektive und die über Interaktionsprozesse mit der sozialen Umwelt wahrgenommene Außenperspektive beschränkt. Mit anderen Worten: Die Entwicklung der Identität eines Menschen ist ein spezifischer individueller Lernprozess, der dadurch gekennzeichnet ist, dass Subjekt und Objekt der Erkenntnis gleich sind. Das Individuum entwickelt Vorstellungen, Erwartungen, Vermutungen oder gar Theorien bezüglich seiner eigenen Person,303 welche es mittels eigener, interner Kritik und den empirischen Erfahrungen mit anderen Individuen einer Prüfung unterzieht. Aus dem Ergebnis der Prüfung resultiert gegebenenfalls die Notwendigkeit der Modifikation und Anpassung. 304 Fundamentale Schwierigkeiten treten für ein Individuum folglich dann auf, wenn ihm in Abhängigkeit von seiner sozialen Umwelt bestimmte Wissenskomponenten bezüglich der eigenen Person fehlen und es die zur Schließung dieser Lücke notwendigen Lernprozesse in quantitativer, qualitativer und/ oder zeitlicher Hinsicht nicht vollziehen kann. Ordnet man dieses Wissen in das Modell der individuellen Angepasstheit ein, so stellt es einen Bestandteil der sozio-kulturellen Adaption eines Individuums dar?05 Diese Angepasstheit bestimmt sich in Abhängigkeit vom Komplexitätsgrad der Gesellschaft. Hier ist ein zweifacher Brückenschlag zu Elias' Identitätsverständnis möglich. Erstens kann beim Wissen über sich selbst ebenfalls zwischen Ich-bezogenen Komponenten, die das Wissen über die spezifischen Charakteristika der eigenen Person repräsentieren, und Wir-bezogenen Komponenten, welche das Wissen einer Person über ihre Gemeinsamkeit mit und ihre Zugehörigkeit zu bestimmten Kollektiven beinhalten, unterschieden werden. Dies entspricht der Differenzierung zwischen der Ich- und der Wir-Identität, wobei letztere in der weiteren Betrachtung synonym auch als kollektive Identität bezeichnet werden soll.306 Und zweitens können die verschiedenartigen Anteile an Ich- und Wir-bezogenen Wissenskomponenten als unterschiedliche Wir-Ich-Balanceverhältnisse begriffen werden. 303 Für Popper/Eccles, Das Ich und sein Gehirn, S. 145 "erlangen wir ein Wissen von uns selbst ... [indem] man Theorien über sich selbst entwickelt". 304 Für Popper / Eccles, Das Ich und sein Gehirn, S. 170 verändert sich das "Ich ... allmählich durch Altem und Vergessen; viel schneller noch durch Lernen aus Erfahrung". 305 Keupp, Identitätskonstruktionen, 1999, S. 215 betont, dass "Identität ... stets eine Passungsarbeit" ist, wobei die Individuen in "ihrer Selbstkonstruktion ... Bezug auf soziale, lebensweltlich spezifizierte Anforderungen" nehmen. 306 Eine ähnliche Differenzierung nehmen Bahn/Hahn, Selbstbeschreibung und Se1bstthematisierung: Facetten der Identität in der modemen Gesellschaft, in: Willerns/Hahn (Hrsg.), Identität und Modeme, 1999, S. 36 f. vor, die zwischen der "biographischen" und der "partizipative[n] Identität" einer Person unterscheiden: Die "Selbstbeschreibung von Personen kann nämlich an den behaupteten Eigenschaften ansetzen, von denen die Betroffenen Personen meinen, sie seien ihnen persönlich eigentümlich, und zwar im Gegensatz zu anderen Personen. Die Selbstbeschreibung kann aber auch an der Zugehörigkeit verankert werden .... Man macht in ... diesen Fällen eine Identität geltend, die man mit anderen gemeinsam hat"; siehe auch Hahn, Partizipative Identitäten, in: Münkler (Hrsg.), Furcht und Faszination, 1997, S. 115 ff.

6. Kap.: Identitätsentwicklung und gesellschaftliche Entwicklung

179

Mit den oben getroffenen Festlegungen lässt sich Identität klar von den Nachbarkonzepten der Rolle (als Bündel gesellschaftlicher Verhaltenserwartungen an einen Menschen) und der Persönlichkeit (als Gesamtheit der psychologischen Merkmale eines Individuums) abgrenzen?07 Daneben fügt sich dieses Identitätsverständnis auch stringent in das modifizierte Modell des situationsgerechten Handelns ein. Dort ist die subjektive Umweltsituation, in der sich das Individuum befindet, durch die von ihm wahrgenommenen anderen Individuen, Interaktionsbeziehungen, Institutionen und raum-zeitlichen Gegebenheiten gekennzeichnet. In ihr spiegelt sich die vom Individuum wahrgenommene Außenperspektive der Identitätsbildung wider. Dieser Umweltstruktur steht das in sozio-kulturellen Lernprozessen aufgebaute Wissen, das Zielsystem und die biologisch-organische Konstitution des Individuums gegenüber. Auch hier können die vorher verwendeten Begriffe schlüssig eingeordnet werden. Bereits gewonnene Erkenntnisse über die eigene Person fallen unter die Kategorie erlerntes Wissen. Die gegebenenfalls notwendige Schließung von Wissenslücken gehört in den Bereich Zielsystem und die aus der Identitätsbetrachtung herausgenommene Persönlichkeitsfrage findet in den individuellen Persönlichkeitsmerkmalen ihre Berücksichtigung.

3. Natürliche und soziale Identitätsmerkmale

Bevor die Verbindung zum Problemkreis des Orientierungsverlustes hergestellt werden kann, bedarf es noch einiger weiterführender Überlegungen zur Ich- und zur kollektiven Identität. Die elementarsten Identitätsmerkmale eines Menschen sind seine Abstammung, sein Alter und sein Geschlecht. 308 Diese zeichnen sich gegenüber anderen Merkmalen dadurch aus, dass sie nicht frei gewählt werden können, sondern mit der Geburt angenommen werden müssen und somit als natürlich gelten. 309 In vielen Staaten werden diese Identitätskomponenten sofort registriert und sind für Dritte leicht erkennbar?10 Aus dem Geburtsdatum ergibt sich das Alter, welches die individuelle Generationenzugehörigkeit determiniert, und die zwei Bestandteile des Namens weisen einen Menschen zugleich als Angehörigen einer bestimmten Gruppe und als einzigartig aus?ll Der Nachname gibt über die familiäre Herkunft und Zugehörigkeit Auskunft, und da die Eltern in den meisten Ländern verpflichtet sind, für den Vornamen einen eindeutig geschlechtsbestimmenden Ausdruck zu wählen, macht dieser sowohl die Identifikation des Geschlechts als auch eine individuelle Differenzierung möglich. 312 307

Zur Abgrenzung zwischen den Konzepten Identität, Rolle und Persönlichkeit siehe

Haußer; Identitätsentwicklung, S. 21. 308 Lohauß, Modeme Identität und Gesellschaft, S. 84 spricht von "grundlegende[n] Iden-

titätsfigurationen". 309 Vgl. Lohauß, Modeme Identität und Gesellschaft, S. 84. 310 Vgl. Elias, Die Gesellschaft der Individuen, S. 246. 311 Vgl. Elias, Die Gesellschaft der Individuen, S. 246.

12*

180

3. Teil: Moderne und Abstrakte Gesellschaft

Alle oben genannten elementaren Identitätsmerkmale definieren die individuelle Person und grenzen gleichzeitig Gemeinschaften ab. Grundlegend kann davon ausgegangen werden, dass Identität weder als reine Ich- noch als reine kollektive Identität möglich ist, sondern immer der Ausprägung beider Komponenten bedarf. 313 Dies wird auch bei erlernten und eng mit der Abstammung verbundenen Identitätsmerkmalen, wie beispielsweise der Sprache, deutlich. Verbale Kommunikation bedarf zum einen der gemeinsamen Sprache, welche den inhaltlichen Austausch mit anderen Menschen überhaupt erst möglich macht, und beinhaltet zum anderen aber auch die individuelle Abgrenzung einer Person von der Gemeinschaft durch ihren eigenen Sprachsti1. 314 Aus sozial wissenschaftlicher Perspektive wird kollektive Identität in modernen Gesellschaften nicht nur als natürlich gegeben oder biologisch bedingt betrachtet, sondern gilt vielmehr als bewusst sozial hervorgebracht, wobei die hinter dieser Auffassung stehenden Theorieansätze als konstruktivistisch bezeichnet werden?15 Zusammenfassend unterscheidet Bernhard Giesen in diesem Kontext zwischen vier Modellen zur Erzeugung von gemeinschaftlicher Identität: 316 Im "Modell des Priestertrugs,,317 versuchen Ideologen Gemeinschaftsideen, von denen sie selbst nicht überzeugt sind oder zumindest nicht überzeugt sein müssen, für ein glaubensbereites und identitätssuchendes Publikum zu inszenieren und zu imaginieren. Das "Versicherungsgesellschaftsmodell"318 dagegen reduziert kollektive Identität auf den Aspekt der freiwilligen Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft, wobei davon ausgegangen wird, dass aus Griinden der individuellen, rationalen Nutzenabwägung der Einzelne derjenigen Gemeinschaft beitritt, bei der er die größtmögliche Sicherheit und Solidarität bei den relativ geringsten Kosten erwarten kann. Nicht die nutzenorientierte Entscheidung eines Individuums für die Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft, sondern gerade die Ausblendung dieses Gesichtspunktes erzeugt kollektive Identität in der "Gerneinschaft durch Rituale"319, welche innergemeinschaftliche Unterschiede nivelliert oder ausschließt und gleichzeitig eine 312 Für Elias, Die Gesellschaft der Individuen, S. 246 f. zeigt die "Doppelform des Namens ... recht deutlich das im Grunde Offensichtliche an, daß jeder einzelne Mensch aus einer Gruppe von anderen Menschen hervorgeht, deren Namen er als Nachnamen im Verein mit dem individualisierenden Vornamen trägt". 313 Vgl. Elias, Die Gesellschaft der Individuen, S. 247. 314 Vgl. Meleghy / Niedenzu, Prozeß- und Figurationstheorie: Norbert Elias, S. 202. 315 Vgl. Giesen, Identität und Versachlichung: unterschiedliche Theorieperspektiven auf kollektive Identität, in: Willems I Hahn (Hrsg.), Identität und Moderne, 1999, S. 391 f. 316 Vgl. Giesen, Identität und Versachlichung, S. 391 ff. 317 Giesen, Identität und Versachlichung, S. 391. 318 Giesen, Identität und Versachlichung, S. 393. 319 Giesen, Identität und Versachlichung, S. 394; die Form des Rituals (z. B. das Singen der Nationalhymne oder das Sprechen eines Gebets) erscheint den Mitgliedern "als weitgehend alternativenlos, muß nicht in Hinblick auf ein bestimmtes Ziel begründet werden, sie läßt sich aus der Perspektive des rituell Handelnden nicht verbessern oder kritisieren und sie macht keinen Unterschied zwischen den Individuen".

6. Kap.: Identitätsentwicklung und gesellschaftliche Entwicklung

181

scharfe Trennlinie zu Nichtmitgliedern zieht. Das letzte Modell baut auf "Gemeinschaftlichkeit ... im Rahmen kultureller Symbolisierungen,,320, wobei symbolisch vermittelte Verständigung, die von anderen geteilt werden muss, den elementaren Prozess darstellt, aus dem kollektive Identität entstehen kann. Nachdem bis zu diesem Punkt sowohl natürliche als auch soziale Quellen kollektiver Identitätskomponenten skizziert wurden und dabei deren fundamentale Bedeutung für das Individuum deutlich wurde, soll der von Thomas Luckmann angestellte Vergleich zwischen den Grundbedingungen für die Identitätsentwicklung in archaischen und modemen Gesellschaften das Bindeglied zum nächsten Schritt der Erklärung der gegenwärtigen Orientierungsproblematik bilden. Archaische Gesellschaften sind erstens dadurch gekennzeichnet, dass sich fast alle sozialen Handlungen des Einzelnen in den natürlich-historischen Zusammenhang verwandtschaftlicher Beziehungen einfügten und folglich keine voneinander abgegrenzten sozialen Funktionalbereiche existierten. 321 Zweitens entfaltete sich Identität fast ausschließlich in konkreten ,face to face' Beziehungen. 322 Drittens war die Wirklichkeit durch ein Höchstmaß an Übereinstimmung von objektivem und subjektivem Sinn bestimmt und daher für den Einzelnen relativ leicht zu überschauen. 323 Ein wesentliches Charakteristikum moderner Gesellschaften ist dagegen ihre hochdifferenzierte Sozialstruktur mit spezialisierten Teilbereichen, welche auf spezifische und abgegrenzte Grundfunktionen ausgerichtet sind. 324 Die Mehrheit der sich innerhalb dieser Strukturen ergebenden zwischenmenschlichen Beziehungen ist nicht mehr unmittelbarer, sondern nur noch mittelbarer oder indirekter Natur. 325 Aus den Implikationen der beiden vorher genannten Punkte folgt ein drittes Merkmal: Es gibt keine einheitliche Weitsicht und somit auch keinen einstimmig ver320 Die kulturellen Symbolisierungen ermöglichen nach Giesen, Identität und Versachlichung, S. 396 "nicht nur Außenstehenden einen verstehbaren Nachvollzug der Gemeinschaft, sondern sie ergeben sich auch für die Gemeinschaftsangehörigen selbst, wenn sie versuchen, sich über sich selbst zu verständigen und ihre Stellung, ihre Besonderheit, ihren Blickwinkel im Verhältnis zu anderen zu bestimmen". 321 Luckmann, Persönliche Identität und Lebenslauf, S. 80 verdeutlicht diesen Sachverhalt anhand des folgenden Beispiels: "Wenn man ... auf die Jagd ging, war dies nicht nur ein für die wirtschaftliche Basis der Gesellschaft bedeutsames Verhalten, sondern es bekundete zugleich auch die Herrschaftsstruktur dieser Gesellschaft, verkörperte deren Verwandtschaftsordnung und stellte eine religiös bedeutsame Handlung dar". 322 Vgl. Luckmann, Persönliche Identität und Lebenslauf, S. 80. 323 Die leichte Überschaubarkeit der Wirklichkeit bedeutet für Luckmann, Persönliche Identität und Lebenslauf, S. 80 f. natürlich nicht, dass das Leben einfach oder individuelles Handeln grundsätzlich unproblematisch war; vielmehr ist für ihn darunter zu verstehen, dass ein Individuum, das in die archaische Gesellschaft hineinwuchs, gewöhnlich fähig war, alle Probleme (sofern sie überhaupt im Rahmen der Weltauffassung dieser Gesellschaft als grundsätzlich lösbar galten) zu bewältigen. 324 Vgl. Luckmann, Persönliche Identität und Lebenslauf, S. 81. 325 Für Luckmann, Persönliche Identität und Lebenslauf, S. 82 resultiert dieser Sachverhalt aus der Tatsache, dass in modernen Gesellschaften anonym vordefinierte Organisationszusarnmenhänge existieren, in denen die Identität des Einzelnen in den Hintergrund und seine Funktion in den Vordergrund tritt.

182

3. Teil: Moderne und Abstrakte Gesellschaft

bindlichen Sinnhorizont. Denn obgleich die Teilsysteme der Sozialstruktur voneinander natürlich nicht völlig unabhängig sind, so verfolgen die Individuen doch im Wesentlichen die jeweils auf die Maximierung der Funktion ihres Bereiches ausgerichteten Ziele, welche untereinander weder komplementär noch neutral sein müssen. 4. Orientierungsprobleme als Erkenntnisund Identitätsbildungsprobleme

Die Diagnose bezüglich der gegenwärtigen Lebenssituation in westlichen, (post)industriell geprägten Staaten scheint mittlerweile eindeutig: "Das Leben der Menschen in modemen Gesellschaften ist durch zunehmende Orientierungsverluste gekennzeichnet,,326. Interpretiert man den obigen Befund im Rahmen der bisherigen Erkenntnisse und des Modells der Abstrakten Gesellschaft, so lassen sich verschiedene Gründe für die "schwierige Suche des modemen Menschen nach seiner Identität,,327 herleiten. Dort steht das Individuum nach seiner Freisetzung aus einfachen, traditionellen Gesellschaftsstrukturen vor dem Problem, dass es in Abhängigkeit von seiner individuellen Angepasstheit einen (temporären) Sicherheitsverlust erlitten hat und daher zu dessen Ausgleich nach Wiedereingliederung strebt, aber auf Grund der deutlich gestiegenen Gesamtkomplexität die sich neu und teilweise spontan bildenden Integrationsoptionen nicht ohne weiteres erkennen kann. 328 Aus dieser Perspektive verfügen die Individuen im Hinblick auf ihre Identität über ein bestimmtes Ich-bezogenes und ein spezifisches, durch traditionelle Kollektive vermitteltes Wir-bezogenes Wissen. Zu solchen Kollektiven zählen insbesondere die Familie, die Geschlechts- und Generationszugehörigkeit, lokale Gemeinschaften (Regionen, Städte, Dörfer oder Gemeinden), Sprachgemeinschaften, die nationale Zugehörigkeit, die Staatsangehörigkeit, Glaubensgemeinschaften, soziale Klassen oder Berufsgruppen. Die Ermittlung der bisherigen individuellen Gruppeninklusion oder -exklusion erfolgte anhand der Kenntnis der jeweiligen Grenzkonstruktionsverfahren. Hierbei kann zwischen den folgenden drei Codes, die in Reinform oder in Kombination auftreten, unterschieden werden. "Primordiale Codes,,329 binden die grundlegende Differenz zwischen Gruppenmitgliedern und den Außenstehenden an ursprüngli326 Weiden/eId, Orientierungsverlust, in: ders.1 Rumberg (Hrsg.), Orientierungsverlust Zur Bindungskrise der moderner Gesellschaften, 1994, S. 5. Keupp, Ambivalenzen postmodernerIdentität, in: Beck I Beck-Gemsheim (Hrsg.), Riskante Freiheiten, 1994, S. 337 spricht vom "Verlust von Verortung". Für Hitzler/ Honer; Bastelexistenz, S. 308 bewirkt die ,,»zersprungene Einheit der Welt« ... , daß der moderne Mensch in eine Vielzahl von disparaten Beziehungen, Orientierungen und Einstellungen verstrickt" ist. 327 Weiden/eId, Orientierungsverlust, S. 7. 328 Für Grass, Die Multioptionsgesellschaft, S. 32 ängstigt sich der moderne Mensch "zwischen Verlorenem und noch nicht Erreichtem". 329 Giesen, Kollektive Identität, 1999, S. 32.

6. Kap.: Identitätsentwicklung und gesellschaftliche Entwicklung

183

che und scheinbar natürliche Unterscheidungen, die als gegeben betrachtet werden und von einer Veränderung ausgeschlossen sind. "Traditionale Codes,,33o dagegen schaffen die Homogenität einer Gemeinschaft nicht durch die Vorstellung einer natürlichen Gleichheit der Angehörigen, sondern durch die Vertrautheit mit den Regeln und Traditionen einer lokalen Lebenswelt oder durch die Annahme einer gemeinsamen Geschichte. "Universalistische Codes,,331 bilden den dritten Typus und setzen an der besonderen Idee der Erlösung an, wobei von einer Spannung zwischen dem jenseitigen Bereich des Heiligen und dem diesseitigen des unvollkommenen Weltlichen, den es im Namen einer Überzeugung zu transformieren gilt, ausgegangen wird. Betrachtet man nun die veränderte soziale Situation in der Abstrakten Gesellschaft, so kann man daran das Problem der individuellen Herstellung einer neuen Wir-Ich-Wissensbalance, aus der sich die Identität eines Menschen konstituiert, gut herleiten. Um sich den neuen Bedingungen anzupassen, sind alle vier Individuentypen gezwungen, sich ein entsprechend neues Wir-bezogenes Wissen aufzubauen. Ein Blick auf die Reintegrationsoptionen eines freigesetzten Individuums lässt sofort erkennen, auf welche Kollektive sich dieses Wissen beziehen kann oder muss. Wir-bezogenes Wissen im Rahmen der Multikollektivierung zu entwickeln bereitet offensichtlich größte Schwierigkeiten. Woran kann dies liegen? Fünf Hauptgriinde lassen sich eruieren. Der erste Grund ist die für den Einzelnen kaum mehr zu überschauende Vielzahl verschiedener sozialer Partial strukturen, welche ihm als Integrationsoptionen dienen könnten. 332 Der zweite Grund geht auf die Frage nach der grundsätzlichen individuellen Erkennbarkeit von Teilen dieser Strukturen zuriick - vor allem wenn sich jene spontan gebildet haben und somit einer direkten Wahrnehmung nicht zugänglich sind. Die dritte Ursache resultiert aus dem bereits oben angesprochenen Rückgang der direkten ,face to face' Beziehungen und somit tendenziell auch der Abnahme der Intensität der Kontakte. 333 Der vierte Grund hängt eng mit dem dritten zusammen und ist in der abnehmenden zeitlichen Konstanz moderner sozialer Strukturen zu sehen. 334 Der letzte, aber si330 Giesen, Kollektive Identität, S. 42; ein wesentliches Element traditiona1er Codes ist die Herstellung von Kontinuität, wobei jedoch nicht die tatsächliche Kontinuität zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sondern der Versuch, die eigene Gegenwart in ein solches Kontinuitätsmuster einzureihen und damit zu begründen, entscheidend ist. 331 Giesen, Kollektive Identität, S. 54; Außenseiter erscheinen als identitätsschwache und unterlegene Wesen, die der Hilfestellung bedürfen, um zur Not auch gegen ihren Willen zum richtigen Bekenntnis bekehrt und in die Gemeinschaft eingegliedert zu werden; missionarischer Inklusionsdrang hält folglich die Grenzen solcher universalistischen Gemeinschaften oftmals in Bewegung. 332 Lübbe, Erfahrungen von Orientierungskrisen in modemen Gesellschaften, in: Weidenfeld I Rumberg (Hrsg.), Orientierungsverlust - Zur Bindungskrise der moderner Gesellschaften, 1994, S. 13 spricht von der "Hyperkomplexität moderner Lebensverhältnisse"; Grass, Die Multioptionsgesellschaft, 1994 prägte den Begriff der "Multioptionsgesellschaft". 333 An dieser Stelle sei nur auf die bereits erörterte Zunahme der computermediarisierten Kommunikation und die daraus resultierenden neuen Formen der Vergesellschaftung hingewiesen; siehe dazu 5. Kap. I. 3.

184

3. Teil: Moderne und Abstrakte Gesellschaft

cherlieh nicht unwichtigste Grund ist die Tatsache, dass die quantitative und qualitative Lernfähigkeit des Menschen limitiert ist und er zudem seine Lerngeschwindigkeit nicht unbegrenzt steigern kann. Folglich ist das Wissen der Individuen über die Eigenschaften und Merkmale der verschiedenen Kollektive zunehmend fragmental. Der Umstand, dass an die Stelle vorher überschaubarer, festgelegter und eindeutig bestimmbarer sozialer Kollektivmuster nun die Notwendigkeit der Eigenkonstruktion solcher Strukturen getreten ist, verändert die Rahmenbedingungen für die Bildung der kollektiven Identität eines Individuums grundlegend. 335 Bell pointiert diese Entwicklung folgendermaßen: "Auf die klassische Frage nach der Identität: »Wer bist Du?« hätte der Mensch früher geantwortet: »Ich bin der Sohn meines Vaters.« Reute erklärt er: »Ich bin ich, ich verdanke alles mir selbst und schaffe mich durch eigene Wahl und Tat.« Dieser Identitätswandel ist das Kennzeichen unserer Modernität,,336. Für Reiner Keupp entwickelt der moderne Mensch auf seiner "Suche nach der verlorenen Identität,,337 zunehmend eine aus "multiplen Identitäten,,338 bestehende "Patchwork-Identität,,339. Wissenstheoretisch ausgedrückt, bastelt sich das Individuum (so gut es eben kann) seine kollektive und somit auch seine Gesamt-Identität aus den Wissensbruchstücken bezüglich der ihm bereits bekannten und der verschiedenen sich ihm neu erschließenden Kollektive zusammen. 340 Um diese Aufgabe erfolgreich zu bewältigen, bedarf es der Fähigkeit, permanent umfassende Erkenntnis- und Syntheseleistungen zu erbringen?41 Zygmunt Bauman sieht in die334 Nach Lübbe, Erfahrungen von Orientierungskrisen in modernen Gesellschaften, S. 13 ist die gegenwärtige Veränderungsgeschwindigkeit in der modernen Gesellschaft so hoch wie in keiner anderen Gesellschaft zuvor; dieses Phänomen bezeichnet er auch mit dem Ausdruck " Gegenwartsschrumpfung ". 335 Auch für Keupp, Diskursarena Identität: Lernprozesse in der Identitätsforschung, in: ders./Höfer (Hrsg.), Identitätsarbeit heute, 1997, S. 13 f. stellen die gegenwärtigen gesellschaftlichen Prozesse, "die vor allem mit Begriffen wie »Risikogesellschaft« oder »Postmoderne«" betitelt sind, "die bislang vertrauten Rahmenbedingungen für Anerkennung und Zugehörigkeit, die »Wir-Schicht« . .. oder »Wir-Identitäten« ... grundlegend in Frage"; siehe dazu auch ders., Bedrohte und befreite Identitäten in der Risikogesellschaft, in: Barkhaus / M. Mayer/Roughley/Thürnau (Hrsg.), Identität, Leiblichkeit, Normativität, 1996, S. 382 f.; Zoll, Alltagssolidarität und Individualismus, 1993, S. 161 geht noch weiter, denn fUr ihn gehört das ,,Fehlen organischer kollektiver Identitäten .. . zu den nicht normalen Bedingungen der Identitätsbildung". 336 Bell, Die Zukunft der westlichen Welt, 1976, S. 114. 337 Keupp, Auf der Suche nach der verlorenen Identität, in: ders./Bilden (Hrsg.), Verunsicherungen - Das Subjekt im gesellschaftlichen Wandel, 1989, S. 47. 338 Keupp, Identitätsverlust oder neue Identitätsentwürfe?, in: Zoll (Hrsg.), Ein neues kulturelles Modell, 1992, S. 101. 339 Keupp, Riskante Chancen, S. 141 verwendet diese Metapher in seinen Arbeiten seit 1988 durchgängig. 340 Zum Bild des modernen Menschen als Bastler und Heimwerker siehe auch 5. Kap. H. 3. 341 So auch Keupp, Identitätskonstruktionen, S. 267 ff.

6. Kap.: Identitätsentwicklung und gesellschaftliche Entwicklung

185

sem Kontext die Gefahr, dass die Individuen zu postmodernen Nomaden werden und auf Grund des Verlustes gesicherter gesellschaftlicher Gefüge und ungefährdeter Gemeinschaftseinbindungen nur noch instabile ,Augenblicks-Identitäten', ,Identitäten für Heute' oder ,Identiäten bis auf weiteres' konstruieren können?42 Menschen, die nicht in der Lage sind, sich unter den neuen Rahmenbedingungen gruppenbezogenes Wissen aufzubauen, können mit Egozentrierung reagieren. Dies trifft insbesondere auf Individuen des Typs I zu. Ein Rückzug auf die Ich-Komponente der Identität ist jedoch nur eine kurzfristige Lösung, da, wie bereits erläutert, die Entwicklung der Gesamtidentiät einer Person auch der kollektiven Komponente bedarf. Mittelfristig sind die Individuen somit gezwungen, Lernprozesse zu initiieren, die es ihnen ermöglichen mit der gesteigerten Umweltkomplexität zurechtzukommen. Scheitern sie bei diesem Vorhaben, können Identitätskrisen (als weitgehender Verlust der kollektiven Identität) die Folge sein und es beginnt die Suche nach Wir-bezogenem Wissen auf monokollektiver und weniger komplexer Ebene. Da der Mensch offensichtlich ein Bedürfnis nach unverriickbaren Fundamenten für sein Leben hat, geht in dieser Situation vom Gedankengut Geschlossener Gesellschaften eine besonders große Anziehungskraft und damit Gefahr aus. Vor allem ein Verständnis der Nation, welche das Kriterium der territorialen Grenzen und das elementare Identitätsmerkmal der Abstammung als stabile Bezugspunkte kollektiver Selbstverortung bereithält, konstituiert auf der Grundlage von biologischen Koordinaten eine quasi natürliche Basis, die dem Einzelnen leicht zugänglich ist und nicht ohne weiteres streitig gemacht werden kann?43 Ein solcher Ansatz baut zum einen auf den Sachverhalt, dass der Bezug auf ein Gebiet und die damit verbundene Grenzziehung dominierende und notwendige Bestandteile kollektiver Identitätsbildung sind,344 und dass zum anderen primordiale Codes einen unabdingbaren Bestandteil der kollektiven Identität einer Person darstellen,345 da die damit verbundene Zusammengehörigkeit als naturgegeben empfunden wird. Vor diesem Hintergrund erwachsen berechtigte Zweifel, ob abstrakte Ideen (wie die der Vernunft, Freiheit, Gleichheit oder Rechtstaatlichkeit) überhaupt 342 Bauman, Soil, blood and identity, Sociol R 1992, S. 694 spricht im Original von "momentary' identities", "identities' for today'" und "until-further-notice identities". An anderer Stelle geht ders., Flaneure, Spieler und Touristen, S. 146 im Rahmen seiner PostmoderneLehre noch weiter und führt aus, dass für ihn "nicht Identitätsbildung, sondern Vermeidung jeglicher Festlegung" der "Angelpunkt der postmodernen Lebensstrategie" sei. Siehe zudem ders., Unbehagen in der Postmoderne, 1999, S. 160. 343 Vgl. Bauman, Soil, blood and identity, Sociol R 1992, S. 684 ff. Einen guten Überblick über die verschiedenen Ansätze und Positionen in der derzeit sehr breiten wissenschaftliche Diskussion zum Themenkreis ,Nation und Identität' erhält man anband der Aufsatzbände von Berding (Hrsg.), Nationales Bewußtsein und kollektive Identität, 1994, Giesen (Hrsg.), Nationale und kulturelle Identität, 1998, Hettlage/Deger/S. Wagner (Hrsg.), Kollektive Identität in Krisen, 1997 und Voigt (Hrsg.), Der neue Nationalstaat, 1998, insb. S. 71 ff. 344 Vgl. M. Albert, Territorium und Identität, ÖZP 1999, S. 256 ff. Zur Territorialität des Menschen siehe 6. Kap. 11. 3. 345 Vgl. M. Albert, Territorium und Identität, ÖZP 1999, S. 262 ff.

186

3. Teil: Moderne und Abstrakte Gesellschaft

für sich alleine primäre Quellen kollektiver Identität sein können oder ob diese, um erfolgreich zu sein, nicht vorher mit einem notwendigen biologischen Fundament untermauert werden müssen. Das bedeutet: Um sein Sicherheitsbedürfnis zu befriedigen, muss der Mensch anhand eines direkt erkennbaren und möglichst unveränderlichen Kriteriums in der Lage sein, seine Zugehörigkeit zu einem Kollektiv zu erkennen und als identitätsbildendes Wir-bezogenes Wissen zu speichern. Die durch mangelndes Wissen bezüglich der individuellen Zugehörigkeit zu einem Kollektiv hervorgerufenen Identitätskrisen können sich auch als Sinnkrisen äußern. Sinnhaftes Handeln ist nur innerhalb eines sozialen Deutungsrahmens möglich, in dem der Zusammenhang zwischen dem persönlichen Tun und dem sozialen Kontext hergestellt wird, wobei die Sinnhaftigkeit einer Handlung danach bemessen wird, inwieweit sie sich auf gemeinsame, geteilte Deutungsmuster bezieht und sich innerhalb eines sozialen Kontextes bewährt. 346 Die Freisetzung der Individuen aus traditionellen Gesellschaftsstrukturen hat zum "Verlust eines schützenden, das Dasein überwölbenden, kollektiv und individuell verbindlichen SinnDaches,,347 geführt. Die zersprungene Einheit der Welt hat zur Folge, dass bisher vertraute und in einem Lebensraum anerkannte Deutungsmuster brüchig werden und der modeme Mensch nunmehr mit einer ungemein heterogenen und komplexen Umweltsituation, die von nicht aufeinander abgestimmten Deutungs- und Handlungsschemata geprägt ist, umgehen muss. 348 Im Angesicht eines so gearteten "Orientierungswirrwarrs,,349 wird für den Einzelnen vieles von dem, was für ihn relevant ist, vom ehemals vorgeregelten zum situativ und individuell zu bewältigenden Entscheidungsproblem. Daraus resultiert, dass in der modemen Gesellschaft Sinnfindung und -gebung eine primäre Angelegenheit des Einzelnen geworden ist. 350 Individuelle Krisen entstehen dann, wenn eine Person nicht mehr in der Lage ist, intersubjektive Sinnzusammenhänge zu erkennen oder zumindest zu erleben. 351 Die Suche nach neuen Sinngehalten ist somit ein Hauptproblern derjenigen geworden, die sich aus den alten Sozialstrukturen gelöst haben und sich in den neuen nicht zu Hause fühlen. 352 Vgl. Lohauß, Moderne Identität und Gesellschaft, S. 95. Hitzler/Honer, Bastelexistenz, S. 307. 348 Vgl. Hitzier, Orientierungsprobleme, Leviathan 1996, S. 279 f.; Frey/Haußer, Entwicklungslinien sozialwissenschaftlicher Identitätsforschung, S. 13. 349 Hitzier, Verführung statt Verpflichtung, S. 225; dieser führt an, dass "keines der bereitstehenden Weltdeutungsangebote, auch solche, die allgemeine soziale Verbindlichkeit beanspruchen, ... eine wirklich umfassende, personen- und situationenübergreifende Sinnstiftung zu leisten" vermag; Sinn steht nach seiner Ansicht zwar bereit, aber "die bislang sozusagen »normale«, umgreifende kulturelle Dauerorientierung ist zerbrochen". 350 Vgl. Hitzier, Die Entdeckung der Lebens-Welten, in: Willems/Hahn (Hrsg.), Identität und Moderne, 1999, S. 239. 351 Vgl. Zijderveld, Die abstrakte Gesellschaft, 1972, S. 49. 352 Vgl. Zijderveld, Die abstrakte Gesellschaft, S. 49; für Lübbe, Erfahrungen von Orientierungskrisen in modernen Gesellschaften, S. 25 treten "Sinnfragen auf die Tagesordnung", wenn die Individuen nach dem Lösen aus traditionellen Sozialstrukturen die entstehenden 346 347

6. Kap.: Identitätsentwicklung und gesellschaftliche Entwicklung

187

11. Gesellschaftliche Entwicklung ohne Fortschritt Unter dieser Überschrift soll zuerst die Frage erläutert werden, warum der Wandlungsprozess von der Geschlossenen über die Offene hin zur Abstrakten Gesellschaft nicht als eine apriori gerichtete Höherentwicklung aufgefasst werden kann und daher nicht zum vorherrschenden Entwicklungsverständnis in modemen Gesellschaften passt. Zu diesem Zweck erfolgt im ersten Schritt die chronologische Rekonstruktion der Geschichte des menschlichen Fortschrittsglaubens (1.). In Abgrenzung zu dieser Auffassung wird dann im zweiten Schritt die Ungerichtetheit der biologischen und sozio-kulturellen Evolution hergeleitet (2.) und die Verbindung zum Modell der Abstrakten Gesellschaft hergestellt. In diesem Kontext wird auf die Gefahr hingewiesen, dass es durch die konsequente Anwendung des Offenheitsprinzips zu einer Selbstgefährdung der Offenen Gesellschaft kommen kann. Vor allem die Nichtberiicksichtigung der Tatsache, dass der Mensch noch archaische Strukturen in sich trägt, stellt eine wesentliche Gefahr für die Stabilität moderner Gesellschaften dar, so dass konsequenterweise bei der Entwicklung geplanter Ordnungen und bei der Lösung gesellschaftlicher Probleme sozio-biologischen Aspekten (3.) mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden muss.

1. Die Entwicklung des Fortschrittsglaubens

Fortschritt ist ein zentraler, vielfach verwendeter und die Geschichte moderner Gesellschaften kennzeichnender Begriff. 353 In ihm spiegelt sich die Überzeugung wider, dass diese der vorläufige Abschluss einer trotz vieler Widrigkeiten und Rückschläge vollzogenen, stetigen biologischen und sozio-kulturellen Höherentwicklung sind?54 Technische Innovationen, wirtschaftliches Wachstum, steigende Lebensstandards oder sinkende Arbeitszeiten gelten als Indikatoren und Beleg für diese Auffassung. 355 Wie kam es dazu, dass diese Idee, die allerdings heute keine plausiblen Erklärungen für viele soziale Phänomene mehr liefern kann, allgegenwärtig geworden ist? Ihre Urspriinge reichen weit in die Menschheitsgeschichte zuriick und liegen in dem Glauben an eine Weltordnung und die Unabkömmlichkeit eines WeltarchitekFreiheitsräume mit selbstbestimmten Inhalt füllen müssen. Zum Verhältnis zwischen Sinnfindung und Entfremdung siehe auch Zihlmann, Sinnfindung als Problem der industriellen Gesellschaft, 1980, S. 15 ff. 353 Vgl. Ruppert, Die Idee des Fortschritts in der Neueren Geschichte, 2000, S. 5. 354 Vgl. Ruppert, Die Idee des Fortschritts in der Neueren Geschichte, S. 5; R. Lewin, Spuren der Menschwerdung, S. 14. 355 Vgl. Huber, Fortschritt, in: Lienemann/Tödt (Hrsg.), Fortschrittsglaube und Wirklichkeit, 1983, S. 16. Zum Sozialprinzip als Entscheidung für gesellschaftlichen und ökonomischen Fortschritt siehe Schachtschneider, Das Sozialprinzip, 1974, S. 40 ff. und ders., Res publica res populi, S. 234 ff.

188

3. Teil: Modeme und Abstrakte Gesellschaft

ten. 356 Bereits beim prähistorischen Menschen können Formen der Religiösität nachgewiesen werden?57 Große Naturschauspiele, wie z. B. heftige Gewitter, furchterregende Vulkanausbriiche oder eindrucksvolle Sonnenuntergänge, haben bei ihm wohl Gefühle der Verwunderung und Angst hervorgerufen und ihn an die Offenbarung einer höheren Macht glauben lassen. 358 Ob in der Antike die Idee des Fortschritts im allgemeinen Sinn existierte und, falls dies zugestanden wird, von wann ab sie begann, im Bewusstsein der Menschen eine Rolle zu spielen, ist ein vieldebattierter Punkt?59 Es kann allerdings festgehalten werden, dass sowohl Platon (427 - 347 v. Chr.) als auch Aristoteles (384 - 322 v. Chr.) den Kosmos und die Welt als wohlgeordnet betrachteten und der Erstgenannte diese Ordnung auf die schöpferische Kraft eines Demiurgen zuriickführte?60 Das damals typische Zeitverständnis eines zyklischen Wandels, der immer wieder zu demselben Ausgangspunkt zuriickkehrt,361 erfuhr allerdings eine grundlegende Revision, als während des Niedergangs des Römischen Reiches mit dem Christentum eine neue Weltanschauung die Führung des abendländischen Denkens übernahm. 362 Dem Begriff des Fortschritts wohnt seit diesem Zeitpunkt eine Orientierung an Erfüllung und Vollendung inne, der seine Wurzeln in der jüdischen und christlichen Eschatologie hat. 363 Es verfestigte sich der Glaube an einen göttlichen Schöpfer, an eine vorherbestimmte Ordnung und an einen transzendentalen Sinn, aber das ewig zyklisch Wiederkehrende wich der Vorstellung der Endlichkeit, Linearität und Gerichtetheit des menschlichen Lebens?64 Demzufolge trägt das Leben nach einer bereits von Augustinus (354-430) ausgearbeiteten Auffassung den Charak356 Mann, Schöpfungsmythen, 1982 liefert eine umfassende Übersicht über die unterschiedlichsten, aber in allen Perioden der Menschheitsgeschichte gegenwärtigen Weltentstehungsmythen. 357 Vgl. Facchini, Der Mensch, 1991, S. 170 f. 358 V gl. Facchini, Der Mensch, S. 172. 359 Vgl. Sambursky, Das physikalische Weltbild der Antike, 1965, S. 371; Sattler, Der griechische Fortschrittsbegriff, dargestellt an Platon, 2000. Ekschmitt, Weltrnodelle, 1989 liefert eine zusammen-hängende Darstellung der Entwicklung griechischer Weltbilder über 800 Jahre, angefangen von den tastenden Versuchen der Vorsokratiker bis zu den großen Ordnungssystemen von Aristoteles, Platon und Ptolemäus. 360 Vgl. Bannert, Weltbild, in: Kroll/Mittelhaus (Hrsg.), Paulys Realencyclopädie der classichen Altertumswissenschaft Supplement XV, 1978, S. 1574; Llyod, Weltbilder und Weltmodelle, in: Brunschwigl ders. (Hrsg.), Das Wissen der Griechen, 2000, S. 52 ff. 361 Vgl. Strip/, Evolution - Geschichte einer Idee, 1989, S. 16 f. 362 Vgl. Mayr, Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, 1984, S. 245; Wright, Progress: Fact and Fiction, in: Burgen I McLaughlin I MitteistraB (Hrsg.), The Idea of Progress, 1997, S. 2. 363 Wright, Progress: Fact and Fiction, S. 2 f. hebt in diesem Kontext die Bedeutung des Alten und Neuen Testaments besonders hervor, denn dort findet sich eine Vielzahl von Anspielungen auflineare Abfolgen (z. B. die sechs Schöpfungstage). 364 Vgl. Baecker, Fortschrittseuphorie, Sinnverfinsterung und die Wiederentdeckung des Natürlichen, 1988, S. 85; siehe ergänzend GTÖbl-Steinbach, Fortschrittsidee und rationale Weltgestaltung, 1994, S. 132 ff.

6. Kap.: Identitätsentwicklung und gesellschaftliche Entwicklung

189

ter des Fortschritts, der auf ein über die Geschichte hinausgehendes Ziel ausgerichtet ist, in sich. 365 In der Geschichte des Christentums wurde diese Vorstellung des menschlichen Lebens als Fortschritt in immer neuen Varianten aufgenommen und in die Geschichte hineininterpretiert. 366 Eine solche Vergeschichtlichung des Fortschritts lag insbesondere in der Lehre Thomas von Aquins (1225-1274), nach welcher Gott mit seinem Schöpfungsplan die Natur so geordnet hat, dass in ihr das Ziel der Vervollkommnung eingeschrieben ist und somit im Zeitablauf alles Unvollkommene in Richtung Vollendung strebt. 367 Eine neue Qualität bekam das Fortschrittsverständnis mit Anbruch der Neuzeit. 368 Francis Bacon (1561-1626) begründete das Zeitalter der Wissenschaft und des Fortschritts, welcher sich für ihn darin zeigt, in welchem Maß der Mensch von seinen Fähigkeiten selbstständig Gebrauch macht. 369 Nach seiner Sichtweise wurde die Welt durch neue Entdeckungen und Erfindungen bereichert, wobei sich die Gewissheit des Fortschritts für ihn aus der Zunahme der wissenschaftlichen Kenntnisse und der technischen Möglichkeiten ergab?70 Zum Wandel des Fortschrittsverständnisses in einen Glauben an die menschliche Fähigkeit, durch seine eigenen Aktivitäten die Welt zu verbessern, trug auch Rene Descartes (15961650) mit seiner Lehre von den zwei Substanzen (Materie und Bewusstsein), die bis heute die Grundlage eines mechanistischen Naturverständnisses bildet, entscheidend bei. 371 Auf dieser aufbauend formulierte Descartes sein Programm des sozialen Fortschritts durch systematische Naturbeherrschung. 372 Interessanterweise brachte aber die sogenannte wissenschaftliche Revolution des 16. und 17. Jahrhunderts kaum eine Veränderung gegenüber dem Schöpferglauben mit sich?73 365 Für Augustinus stand nach C. Mayer, Aurelius Augustinus, in: Volpi (Hrsg.), Großes Werklexikon der Philosophie, 1999, S. 104 ff. und Schöpf Augustinus, 1970, S. 86 ff. am Ende der Weltgeschichte, welche für ihn analog der sechs Schöpfungstage in sechs Stufen abläuft, die Trennung der sich vorher überschneidenden Reiche ,Gottesstaat' und ,teuflischer oder irdischer Staat'; auf der einen Seite befinden sich dann die Menschen, welche Gott zur ewigen Seligkeit bestimmt hat, und auf der anderen jene, die mit ewiger Verdammnis bestraft werden; die Verwirklichung des reinen Gottesstaates und die Erlösung seiner Bürger ist das gottgewollte Ziel und Ende aller Geschichte. 366 Vgl. Huber, Fortschritt, S. 17. 367 Vgl. Scherer; Thomas von Aquin, in: Lutz (Hrsg.), Metzler Philosophenlexikon, 2. Aufl. 1995, S. 882 ff.; Pesch, Thomas von Aquin, 1988, S. 284 ff. 368 Vgl. Wright, Progress: Fact and Fiction, S. 3. 369 Vgl. F. Wagner, Weg und Abweg der Naturwissenschaft, 1970, S. 67. 370 Vgl. Krohn, Francis Bacon, 1987, S. 9. Siehe ergänzend Vickers, Francis Bacon, 1978. 371 Zur Dualismusthese von Descartes siehe Perler, Rene Descartes, 1998, S. 169 ff. und Mahnke, Der Aufbau des philosophischen Wissens nach Descartes, 1967, S. 15 ff. 372 Vgl. Rapp, Fortschritt, 1992, S. 136. 373 Nach Mayr; Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, S. 246 glaubten alle führenden Physiker und Mathematiker, allen voran Descartes, Boyle und Newton, weiterhin an einen Gott und waren strenge Anhänger des Schöpfungsglaubens. Gräbl-Steinbach, Fortschrittsidee und rationale Weltgestaltung, S. 140 merkt an, dass allerdings durch das nunmehr

190

3. Teil: Moderne und Abstrakte Gesellschaft

Im folgenden Jahrhundert entwarf Immanuel Kant (1724 - 1804) den Begriff des Fortschritts als ein Postulat der praktischen Vernunft. 374 In diesem Sinne steht Fortschritt für Vervollkommnung, welche sich allerdings nicht automatisch einstellt, sondern eine Aufgabe des autonomen, seiner Freiheit bewussten Individuums ist. 375 Das Ziel des Fortschritts ist ein politischer Zustand, in dem die Freiheit eines jeden Einzelnen mit der Freiheit eines jeden Anderen zusammenstimmen kann, was in der Forderung nach einer republikanischen Verfassung in den Staaten und dem ewigen Frieden zwischen den Staaten zum Ausdruck kommt. 376 Kant stützt seine Lehre auf die Annahme, dass der vom Menschen gemachte Fortschritt und die geheime Absicht der Natur (oder Teleologie der Natur) miteinander korrespondieren. 377 Er ging dabei davon aus, dass der Natur und dem menschlichen Leben ein Schöpfungsplan zugrunde liegt und der Mensch sich als Endzweck der Schöpfung begreifen darf. 378 "mechanistische Weltbild ... die Rolle Gottes auf die ursprüngliche Schöpfung beschränkt" blieb und er sich "im Weltbild des neuzeitlichen Rationalismus aus dem Lauf der Welt" heraushält. 374 Für Kant, Über die von der König!. Akademie der Wissenschaften zu Berlin für das Jahr 1791 ausgesetzte Preisfrage: Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wollfs Zeiten in Deutschland gemacht hat, in: Werke, ed. WeischedeI, Bd. 5, 1983, S. 647 berechtigt zur Annahme, dass "die Welt im Ganzen immer zum Bessern fortschreite ... keine Theorie, aber wohl die reine praktische Vernunft". 375 Nach Gröbl-Steinbach, Fortschrittsidee und rationale Weltgestaltung, S. 141 ist die Deutung des Fortschritts als Prozess der Vervollkommnung für das Zeitalter der Aufklärung kennzeichnend; dem Menschen wurde dabei explizit eine "Fähigkeit zur Vervollkommnung" zugeschrieben, vg!. Rohbeck, Die Fortschrittstheorie der Aufklärung, 1987, S. 58. 376 Im ersten und zweiten Definitivartikel zum ewigen Frieden werden diese Forderung besonders deutlich, vg!. Kant, Zum ewigen Frieden, in: Werke, ed. Weischedei, Bd. 9, 1983, S. 204, 208. Zu Kants Lehre von der republikanischen Staatlichkeit als Notwendigkeit der Freiheit siehe Schachtschneider, Prinzipien des Rechtsstaates, 5. Aufl. 2001, S. 43 ff. und ders., Freiheit in der Republik, Manuskript 2000, S. 14 ff. 377 Für Kant, Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Werke, ed. Weischedel, Bd. 9, 1983, S. 45 kann man "die Geschichte der Menschengattung ... als die Vollziehung eines verborgenen Plans der Natur ansehen, um eine innerlich- und, zu diesem Zwecke, auch äußerlich-vollkommene Staatsverfassung zu Stande zu bringen, als den einzigen Zustand, in welchem sie alle ihre Anlagen in der Menschheit völlig entwickeln kann"; siehe ergänzend ders., Der Streit der Fakultäten, in: Werke, ed. Weischedel, Bd. 9, 1983, S. 361. 378 Kant, Kritik der Urteilskraft, in: Werke, ed. Weischedel, Bd. 8, 1983, S. 558 f. dazu explizit: "Von dem Menschen ... kann nicht weiter gefragt werden: wozu (quem in finem) er existiere. Sein Dasein hat den höchsten Zweck selbst in sich, dem, so viel er vermag, er die ganze Natur unterwerfen kann, wenigstens welchem zuwider er sich keinem Einflusse der Natur unterworfen halten darf. - Wenn nun Dinge der Welt, als ihrer Existenz nach abhängige Wesen, einer nach Zwecken handelnden obersten Ursache bedürfen, so ist der Mensch der Schöpfung Endzweck; denn ohne diesen wäre die Kette der einander untergeordneten Zwecke nicht vollständig gegründet; und nur im Menschen, aber auch in diesem nur als Subjekte der Moralität, ist die unbedingte Gesetzgebung in Ansehung der Zwecke anzutreffen, welche ihn also allein fähig macht, ein Endzweck zu sein, dem die ganze Natur teleologisch untergeordnet ist".

6. Kap.: Identitätsentwicklung und gesellschaftliche Entwicklung

191

Da das in der Aufklärung angenommene Prinzip der Vervollkommnung eines entsprechenden Maßstabes bedurfte, bildete sich im Laufe des 18. Jahrhunderts ein Modell der Stufenleiter heraus, das die gesamte Natur, von den leblosen Körpern über die niedrigen Lebewesen bis hin zum Menschen, hierarchisch ordnen sollte. 379 Bereits Aristoteles hatte den nachfolgenden Naturforschern den Gedanken mitgegeben, zumindest alle Lebewesen ihrem Grade an Vollkommenheit gemäß in einer einzigen aufsteigenden scala naturae anzuordnen. 38o Diese vage Konzeption einer Stufenleiter wurde später um das Prinzip der durchgängigen und linearen Abstufung ergänzt. 381 Georges de Buffon (1707 - 1788) nahm in seinem Werk ,Histoire naturelle' zwar den Menschen aus der Stufenordnung der Naturdinge noch heraus, legte aber äußersten Wert auf die Aspekte Lückenlosigkeit, Kontinuität und sukzessive Vervollkommnung. 382 Der Schweizer Naturhistoriker Charles Bonnet (1720-1793) ging noch einen Schritt weiter, denn er machte den Grad der Vollkommenheit an der Komplexität und Zweckmäßigkeit eines Organismus fest und positionierte folglich den Menschen auf die oberste Stufe der Leiter?83 Auch in den Schriften Johann Herders (1744-1803), die großen Einfluss auf Kant und Johann Wolfgang Goethe ausübten, kommt die Vorstellung eines stufenweisen Aufbaus der Natur, auf dessen oberster Komplexitätsebene der Mensch steht, deutlich zum Ausdruck. 384 Das Modell der Stufenleiter kumuliert somit die Vorstellung eines kontinuierlichen, schrittweisen, linearen und gerichteten Aufstiegs des Lebens, an dessen Spitze der Mensch steht, und die Idee der Vervollkommnung, die ihr Spiegelbild im steigenden Komplexitätsgrad der Organismen findet. Im Jahr 1809 veröffentlichte Jean Baptiste de Lamarcks (1744-1829) mit dem Buch ,Philosophie zoologique' erstmals seine phylogenetische Theorie, in der er 379 Vgl. Rohbeck, Die Fortschrittstheorie der Aufklärung, S. 59; R. Lewin, Spuren der Menschwerdung, S. 12 f. 380 Vgl. Lovejoy, Die große Kette der Wesen, 1993, S. 77. 381 Vgl. Lovejoy, Die große Kette der Wesen, S. 77 f., der die Geschichte des abendländischen Gedankens, dass alle Wesen der Erde durchgängig und aufsteigend miteinander verbunden sind, in seinem interdisziplinär angelegten Werk aus den verschiedensten Perspektiven darstellt. 382 Vgl. Mayr, Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, S. 145; zum Aufbau der Stufenleiter Buffons siehe Zimmermann, Evolution, 1953, S. 219 ff. 383 Vgl. Zimmermann, Evolution, S. 210 ff. zu Bonnets "Stufenleiter der irdischen Körper"; siehe knapp Wuketits, Evolutionstheorien, S. 21 und Rohbeck, Die Fortschrittstheorie der Aufklärung, S. 59. 384 Herder, Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 1966, S. 131 fasst seine Grundüberzeugung folgendermaßen zusammen: "Vom Stein zum Kristall, vom Kristall zu den Metallen, von diesen zur Pflanzenschöpfung, von den Pflanzen zum Tier, von diesen zum Menschen sahen wir die Form der Organisation steigen, mit ihr auch die Kräfte und Triebe des Geschöpfs vielartiger werden, und sich endlich alle in der Gestalt des Menschen ... vereinen. Bei dem Menschen stand die Reihe still; wir kennen kein Geschöpf über ihm, das vielartiger und künstlicher organisiert sei; er scheint das höchste, wozu eine Erdorganisation gebildet werden konnte". Zu Herders Leben und Gesamtwerk siehe Baur, Johann Gottfried Herder, 1960.

192

3. Teil: Modeme und Abstrakte Gesellschaft

die Ansätze Bonnets und Buffons sowie die damals mechanistische Erklärungsweise des Lebendigen mit seinen eigenen umfassenden Kenntnissen der Verwandtschaftsbeziehungen der Organismen verband und in der sich die oben beschriebene Idee der Vervollkommnung der Natur deutlich widerspiegelte?85 Über die Idee der Stufenleiter kam er zu dem Schluss, dass die einzelnen Stufen entwicklungsgeschichtlich zu deuten sind, wobei er allerdings nicht von einer gemeinsamen Abstammung der verschiedenen Arten ausging. 386 Als Ursachen des evolutorischen Wandels identifizierte er zum einen die Fähigkeit der Organismen zur Erlangung immer größerer Perfektion und für ihn damit zum Erwerb immer größerer Komplexität,387 und zum anderen deren Vermögen, auf spezielle Bedingungen der Umwelt zu reagieren 388 . Vor diesem Hintergrund legte Lamarck mit dem Gesetz vom Gebrauch und Nichtgebrauch von Organen und der These der Vererbung erworbener Eigenschaften zwei Mechanismen vor, nach denen sich die Veränderung der Arten vollziehen soll?89 Die exorbitante Zunahme wissenschaftlicher Erkenntnisse und deren technischindustrielle und wirtschaftliche Verwertung führten dazu, dass in allen davon partizipierenden Gesellschaften seit dem 19. Jahrhundert bis in die heutigen Tage hinein ein breiter Fortschrittsglaube entstand. 39O Besonders charakteristisch für diesen Vgl. Zimmermann, Evolution, S. 339 f.; Wuketits, Evolutionstheorien, S. 35 f. In seiner "Tafel der Anordnung und Eintheilung der Thiere" unterschied LaTTUJrck, Zoologische Philosophie, 1876, S. 66 ff., 145 ff., 501 sechs Organisationsstufen mit insgesamt vierzehn Klassen, welche er mittels seiner "Tabelle der Abstammung der verschiedenen Thiere" miteinander zu verbinden versuchte; für ihn hatten sich zwei evolutorische Hauptlinien entwickelt, die allerdings keinen gemeinsamen Ursprung haben. 387 Nach Mayr; Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, S. 275, 281 beurteilte Lamarck Perfektion nicht nach der Angepasstheit an die Umwelt, sondern nach dem Komplexitätsgrad eines Organismus, wobei er "die Fähigkeit, fortschreitend komplexere Organisationsformen anzunehmen, für ein dem Tierreich innewohnendes Potential hielt. Es war ein Naturgesetz, das keiner besonderen Erklärung bedurfte". 388 Für Lamarck war jedoch auch die Annahme notwendig, dass die Organismen die Fähigkeit haben, auf die Umwelt zu reagieren, denn "wenn der innere Trieb zur Perfektion die einzige Ursache der Evolution wäre, .. . so fände man eine einzige, schnurgerade, lineare Stufenfolge in Richtung auf die Vollkommenheit vor", vgl. Mayr; Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, S. 281. 389 Lamarcks Versuche, die Mechanismen der Evolution zu ergründen, sind bei Oeser; System, Klassifikation, Evolution, 1974, S. 55 ff., Termier; Die Geschichte der Evolutionslehre, in: Romer (Hrsg.), Die Enzyklopädie der Natur, Bd. 2, 1970, S. 259 ff. und Zimmermann, Vererbung "erworbener Eigenschaften" und Auslese, 2. Aufl. 1969 beschrieben. Zwei Vorstellungen werden nach Mayr; Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, S. 284 häufig mit der Lamareksehen Theorie in Verbindung gebracht, obgleich sie nicht enthalten sind: Erstens die Annahme der direkten Erzeugung neuer Organismusmerkmale durch die Umwelt und zweitens die Überzeugung, dass die Willenskraft eines Organismus neue Strukturen hervorbringen könnte. In engem Zusammenhang mit der zweiten Vorstellung steht für Wuketits, Evolutionstheorien, S. 42 die als "Psycholamarckismus" bezeichnete Theorie, welche davon ausgeht, dass ein innerer Vervollkommnungswille gerichtete Veränderungen im Organismus bewirken könne. 385

386

6. Kap.: Identitätsentwicklung und gesellschaftliche Entwicklung

193

Glauben ist die von Auguste Comte (1798 -1857) vertretene These, dass der Fortschritt im gesellschaftlichen Zusammenleben sich nach den gleichen Gesetzmäßigkeiten vollzieht, VOn denen auch die Natur bestimmt ist, so dass es nur darauf ankommt, die Physik der Gesellschaft richtig zu erkennen. 391 Es wurde vielfach der Versuch unternommen, den Werdegang des organischen Lebens auf der Erde als Grundlage für die Darstellung der Entwicklung der menschlichen Kultur heranzuziehen. Ein prominenter Protagonist dieser Auffassung war Ernst Haeckel (18431919), der meinte, dass "die Stammesgeschichte der Pflanzen und Thiere, ebenso wie die Kulturgeschichte des Menschen, im Großen und Ganzen eine aufsteigende Stufenleiter darstellt und sich VOn niederen zu höheren Stufen erhebt,,392. Trotz der vor allem in Deutschland bekannten Folgen, die eine solche Theorie des sozio-kulturellen Fortschritts mit sich bringt, zählt der Umstand, dass zwischen niederen und höheren Kulturen unterschieden wird, immer noch zu den markanten Merkmalen des abendländischen Verständnisses von Kulturgeschichte?93 Trotz des Scheiterns organismischer Kulturtheorien, wie die Oswald Spenglers 394 (1880-1936), Arnold J. Toynbees 395 (1889-1975), aber auch Karl Marx.396 (1818-1883), blieb die Vorstellung, dass die Kulturen sich im Wesentlichen nach denselben Prinzipien höher entwickeln wie Lebewesen, bis in die Gegenwart erhalten. 2. Evolution ohne Fortschritt

Hoffnungen und Illusionen, die es dem Einzelnen ennöglichen, sein Dasein erträglicher zu machen, begleiten die gesamte Menschheitsgeschichte. Religiöse Strömungen und Heilsversprecher jeglicher Couleur haben es seit jeher verstanden, mittels der Sehnsucht des Menschen auf ein besseres Leben, ihre Anhänger zu rekrutieren und an sich zu binden. In den großen Bereich des illusionären Denkens gehört auch der Fortschrittsglaube, welcher in funktionaler Hinsicht auf derselben 390 Huber; Fortschritt, S. 19 spricht sogar davon, dass der Fortschrittsglaube seit dem 19. Jahrhundert den Charakter einer säkularen Ersatzreligion annahm. 391 Vgl. Huber; Fortschritt, S. 19 f. 392 Haeckel, Die Lebenswunder, 2. Aufl. 1904, S. 448. Ders., ebd., S. 451 stellt eine Klassifikation der menschlichen Rassen auf und postuliert daraus eine Hierarchie der Völker. Zu Haeckels Theorien siehe auch Stripf, Evolution - Geschichte einer Idee, S. 93 ff. und Sandmann, Ernst Haeckels Entwicklungslehre als Teil seiner biologistischen Weltanschauung, in: Engels (Hrsg.), Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert, 1995, S. 326 ff. 393 Vgl. Wuketits, Naturkatastrophe Mensch, 2001, S. 120. 394 Spengler; Der Untergang des Abendlandes I, 1923, S. 68 ff. vergleicht in seinen Tafeln zur vergleichenden Morphologie der Weltgeschichte den Entwicklungsgang von Kulturen mit den jahreszeitlichen Rhythmen der Natur. 395 Vgl. Toynbee, Kultur am Scheidewege, 1949. 396 Siehe dazu I. Kap. 11. 3. und zum Fortschrittsgedanken des Marxismus Meissner; Fortschrittsgedanke und gesellschaftliche Transformation in der marxisitisch-Ieninistischen Ideologie, in: Burck (Hrsg.), Die Idee des Fortschritts, 1963, S. 105 ff. sowie Lefevre, Darwin, Marx und der garantierte Fortschritt, 1998, S. 19 ff.

13

Tiefel

194

3. Teil: Moderne und Abstrakte Gesellschaft

Stufe wie die Ideen der Vorsehung und der individuellen Unsterblichkeit steht und die Aussicht auf eine bessere Zukunft nährt. 397 Offensichtlich fällt es vielen Menschen schwer, die Evolution und damit auch die individuelle und die gesellschaftliche Entwicklung, als einen Vorgang zu begreifen, der keine apriori festgelegte Richtung kennt, und somit in Konsequenz anzuerkennen, dass diese ohne Fortschritt abläuft und dass es keinerlei Hinweise auf irgendwelche zielgerichtete, leitende Kräfte gibt. 398 In der Evolution kommt es eben nicht darauf an, dass Organismen sich teleologisch höher entwickeln, sondern dass sie Lösungen für ihre, wie auch immer gearteten Lebens- und Überlebensprobleme finden. 399 Ein Rückblick auf die Aussagen der bis heute einflussreichsten Evolutionstheorie soll die oben geäußerte Auffassung untermauern und verdeutlichen. Charles Darwins400 (1809-1882) Theorie enthält zwei voneinander getrennte Hauptthesen: Zum einen, dass alle Organismen durch Modifikation von gemeinsamen Vorfahren abstammen, und zum anderen, dass die treibende Kraft der Evolution die natürliche Selektion der individuellen Variationen iSt. 401 Zu dieser Überzeugung kam Darwin, da er sich im Gegensatz zu Lamarck nicht primär mit vertikalen, sondern mit horizontalen Entwicklungsphänomenen beschäftigte. 402 Der Evolutionsprozess besteht nämlich nicht nur aus der Anagenese, dem (vertikalen) Wandel innerhalb einer Abstammungslinie, sondern auch aus der Kladogenese, der (horizontalen) Verzweigung des stammesgeschichtlichen Baumes durch Artbildung, und verläuft daher nicht linear oder monodimensional, sondern netzwerkartig. 403 Da regelmäßig einzelne Linien der Stammesverzweigung wieder absterben, wird das Entwicklungsschema der Lebewesen daher auch nicht durch das Bild eines mit gleichmäßig nach oben strebenden Ästen wachsenden Baumes wiedergegeben. 404 397 Vgl. Rapp, Der Fortschrittsgedanke, Wiss u Fort 42/ 1992, S. 13 ff. Nach Ruppert, Die Idee des Fortschritts in der Neueren Geschichte, S. 8 f. wurden seit dem 19. Jahrhundert die vorher getrennt betrachteten Fortschritte in Technik, Kultur, Politik und Moral durch einen kollektivsingulären Fortschrittsbegriff miteinander verbunden und da dieser "Fortschritt als das eigentliche Gesetz erkannt worden war, lag im Vertrauen auf bisherige Leistungen menschlicher Fähigkeiten und im Glauben an deren Vervollkommnung der Schluß nahe, dass auch die Zukunft fortschrittlich sein würde. Diese Struktur des Fortschrittsbegriffs ist in der gesamten Neuzeit prägend geblieben". 398 Vgl. Wuketits, Naturkatastrophe Mensch, S. 17, 22; auch Lorenz, Der Abbau des Menschlichen, S. 21 stellt fest, dass es offensichtlich vielen Menschen undenkbar erscheint, dass "es im Universum Vorgänge gibt, die nicht nach bestimmten Zwecken ausgerichtet sind". 399 Popper, Alles Leben ist Problemlösen, 4. Aufl. 1995 fasst diesen Sachverhalt im Titel seines Buches zusammen. 400 Darwin, Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, 1993. 401 Vgl. Futuyma, Evolutionsbiologie, 1990, S. 7. 402 Vgl. Mayr, Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, S. 320. 403 Zur Anagense und Kladogene siehe ausführlich Dobzhansky / Ayala/ Stebbins / Valentine, Evolution, 1977, S. 236 ff., Futuyma, Evolutionsbiologie, S. 324 und Renseh, Neuere Probleme der Abstammungslehre, 2. Aufl. 1954, S. 103 ff., 302 ff.

6. Kap.: Identitätsentwicklung und gesellschaftliche Entwicklung

195

Ein weiterer grundlegender Unterschied zwischen dem Evolutionsverständnis Darwins und Lamarcks liegt darin, dass für letzteren die Organismen auf die speziellen Bedingungen der Umwelt reagieren, sich anpassen und adaptive Variationen weitervererben. Für Darwin dagegen kommt zuerst die zufällige Variation und danach folgt in Form der natürlichen Auslese die ordnende Tätigkeit der Umwelt. 405 Nach seiner Theorie stehen die Organismen in einem Wettbewerb ums Dasein, wobei es zum Überleben der am besten Angepassten sowie zur Elimination der übrigen Varianten durch den Selektionsmechanismus der natiirlichen Auslese kommt, und dieser stetige Prozess über viele Generationen hinweg schließlich zur Veränderung der Arten führt. 406 Überleben wird zum Richtwert eines jeden Organismus,407 was zur Folge hat, dass Anagenese nicht zwingend Komplexitätserhöhung bedeuten muss, da aus funktionaler Perspektive die Komplexitätsreduktion408 eines Organismus genauso sein Überleben sichern kann. Höherentwicklung mit einer Zunahme an Komplexität gleichzusetzen,409 ist also weder richtig noch sinnvoll, da es generell fraglich ist, ob dieser Begriff im Rahmen der Evolutionstheorie überhaupt geeignet ist, den Entwicklungsstatus verschiedener Organismen zu beschreiben. Die Neodarwinistische Schule, welche auf August Weismann (1834-1914) zuriickgeht und auch heute noch weit verbreitet ist, schließt eine direkte Anpassung 404 Zu Darwins Vorstellung von einem netzwerkartigen Stammbaum siehe Oeser; System, Klassifikation, Evolution, S. 89. Nach Rensch, Neuere Probleme der Abstammungslehre, S. 102 ff., 104 ff., 120 ff., 240 ff. lässt die Kladogenese vieler Organismusgruppen drei Phasen erkennen: Zuerst die Phase der Fonnentfaltung (Virenzperiode), dann die Spezialisierungsphase und schließlich die Phase der Überspezialisierung oder Degeneration, die letztlich zum Aussterben führt. 405 Vgl. Mayr; Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, S. 282. Nach Wuketits, Evolutionstheorien, S. 48 f. lehnt Darwin zwar weder das Gesetz vom Gebrauch und Nichtgebrauch von Organen, noch die These der Vererbung erworbener Eigenschaften ab, ist allerdings überzeugt, dass die natürliche Auslese der wichtigste Evolutionsfaktor ist. Zu Darwins Vererbungstheorie und seiner Hypothese der Pangenesis siehe Janich/Weingarten, Wissenschaftstheorie der Biologie, 1999, S. 250 ff. 406 Nach Storch/Welsch, Evolution, 6. Aufl. 1989, S. 159 f. und Stripf, Evolution - Geschichte einer Idee, S. 76. ging Darwin bei der Fonnulierung seiner Theorie von folgenden Beobachtungen aus: 1. Alle Angehörigen einer Art sind nie vollkommen gleich (d. h. jedes Individuum ist einzigartig). 2. Alle Lebewesen erzeugen mehr Nachkommen, als zur Erhaltung der Art notwendig ist. 3. Trotzdem bleibt die Populationsgröße, von temporären Schwankungen abgesehen, relativ stabil. 4. Die natürlichen Ressourcen sind begrenzt. 407 Zum "Überleben als Richtwert" siehe Eibl-Eibesfeldt, Der Mensch - das riskierte Wesen, S. 13 ff. 408 Die Komplexitätsreduktion eines Organismus kann zum Beispiel über die in der Natur nicht selten auftretende Involution (Rückbildung von Organen) erfolgen, vgl. Herder Lexikon der Biologie, Bd. 4, 1985, S. 382 und Meyers Taschenlexikon Biologie, Bd. 2, 3. Aufl. 1994, S.51. 409 Dies wird auch in der modemen Biologie immer noch getan; so lässt sich beispielsweise für Steitz, Die Evolution des Menschen, S. 32 Höherentwicklung "als spezifische Weiterentwicklung bezüglich der Zunahme der Vielfalt in einer Einheit" charakterisieren.

13*

196

3. Teil: Moderne und Abstrakte Gesellschaft

des Organismus auf Umwelteinflüsse sowie die Vererbung erworbener Eigenschaften komplett aus und identifiziert folglich die Selektion als den zentralen Evolutionsfaktor. 410 Übersetzt man diese Aussage in die Sprache der modernen Molekularbiologie, so ergibt sich daraus einer ihrer Hauptsätze, welcher besagt, dass Gene Merkmale bedingen und nicht umgekehrt. 411 Als Erweiterung der Theorie Darwins und der Neodarwinistischen Theorie ist die Synthetische Theorie zu verstehen, welche die verschiedensten Resultate aus allen biologischen Teildisziplinen berücksichtigt und Evolution als das Zusammenspiel primärer und sekundärer Faktoren interpretiert. 412 Folgt man der Synthetischen Theorie, so ist kaum eine Rückwirkung der Mikro- auf die Makrowelt zu erwarten, und da sowohl Mutationen als auch Variationen völlig planlos und zufällig entstehen und die Selektion wiederum in gleichsam opportunistischer Weise das gerade am besten Angepasste fördert, entsteht der Eindruck, dass die Evolution ein blinder Prozess mit Kurzfristcharakter iSt. 413 Eine Relativierung des Neodarwinismus und der Molekularbiologie ergibt sich aus den Forschungsergebnissen der Embryologie, welche darauf hindeuten, dass die Beziehung zwischen Geno- und Phänotypus nicht einseitig-linear, sondern wechselseitig-netzwerkartig angenommen werden kann. 414 Rupert Riedl hat schließlich eine Systemtheorie der Evolution vorgelegt, die sowohl mit der Synthetischen Theorie kompatibel ist als auch die evolutive Eigendynamik und die strukturelle Organisation des Genoms berücksichtigt. 415 410 Für Weismann gibt es zwei getrennte Zellarten: Das Keimplasma, welches die Fortpflanzungszellen umfasst, und das Körperplasma oder Soma, welches dazu dient, die Organe des Körpers zu bilden, vgl. Meyers Taschenlexikon Biologie, Bd. 3, 3. Aufl. 1994, S. 277, Tennier, Die Geschichte der Evolutionslehre, S. 272 f. und Ridley, Evolution, 1990, S. 38 f.; das Keimplasma ist für Weismann vererblich und unsterblich, wogegen das Körperplasma aus dem Keimplasma hervorgeht und vernichtet wird, wenn der Organismus stirbt; da er davon ausgeht, dass das Körperplasma in keiner Weise auf das Keimplasma einwirken kann, ist für ihn ein Fluss biologischer Informationen nur in der Richtung vom Keimplasma zum Körperplasma möglich (Keimplasma -> Information -> Körperplasma). 411 Nach Eigen, Stufen zum Leben, 1987, S. 175 fließt die Information "von der DNA über die RNA zu den Proteinen, die alles weitere bewerkstelligen". Das Schema lautet daher ,DNA -> RNA -> Protein --> Organismus' oder ,Genotypus --> Information -> Phänotypus', wodurch die Fließrichtung der genetischen Information festgelegt ist. Detaillierte Ausführungen zur DNA als Informationsträger und zum Informationsfluss von der DNA über die RNA zum Protein finden sich bei B. Lewin, Molekularbiologie der Gene, 1998, S. 43 ff., 125 ff. 412 Die primären Evolutionsfaktoren sind Variation (genetische Rekombination), Mutation sowie Selektion und als sekundäre Faktoren werden mehrere Mechanismen (Schwankung der Populationsdichte, Isolationsmechanismen, Einnischung und Bastardisierung) angeführt, welche die primären beeinflussen sollen, vgl. Wuketits, Evolutionstheorien, S. 67 ff. und Stebbins, Evolutionsprozesse, 1968, S. 2 f. Einen guten Überblick über die verschiedenen Aspekte der Synthetischen Theorie liefern der umfangreichen Aufsatzband von Junker/Engels (Hrsg.), Die Entstehung der Synthetischen Theorie, 1999 und Eckardt, Die "Synthetische Theorie der Evolution", 1990. 413 Vgl. Wuketits, Evolutionstheorien, S. 80. 414 Vgl. Wuketits, Evolutionstheorien, S. 147 f.; eine Zusammenfassung verschiedener Erklärungsansätze des wechselseitigen Zusammenwirkens zwischen Geno- und Phänotypus findet sich bei J. M. Smith/Szathrruiry, Evolution, 1996, S. 59 ff.

6. Kap.: Identitätsentwicklung und gesellschaftliche Entwicklung

197

Als Ergebnis aus dem bisher Gesagten kann festgehalten werden, dass die Evolution kein auf dem Bauplan eines Weltarchitekten basierender, apriori gerichteter, linearer, teleologischer Fortschrittsprozess der sukzessiven Höherentwicklung mit dem Ziel der Vervollkommnung ist, sondern ungerichtet, mehrdimensional, netzwerkartig und nach dem mechanistischen Prinzip der zufälligen Variation und anschließenden Selektion abläuft, ohne dass es dazu eines Planers oder Schöpfers bediirfte. 416 Für Ernst Mayr ist es "etwas überraschend, wie viele Philosophen, Physiker und gelegentlich sogar Biologen immer noch mit dem Konzept einer teleologischen Deterrninierung der Evolution liebäugeln,,417. Für ihn belohnt die natürliche Auslese "vergangene Ereignisse, das heißt die Produktion erfolgreicher Genkombinationen, aber sie plant nicht für die Zukunft. ... Im Gegensatz zur Orthogenese legt sich die natürliche Selektion angesichts der unaufhörlich wandelnden Umwelt niemals auf ein zukünftiges Ziel fest. Sie ist niemals zielgerichtet,,418. Was nun die sozio-kulturelle Evolution anbelangt, so unterscheidet sie sich in verschiedenen Punkten von der biologisch-organischen.419 Der erste Unterschied besteht darin, dass die organische Evolution nicht zielgerichtet ist, wogegen die soziokulturelle auf Grund der gestalterischen Fähigkeiten des Menschen auch teleologische Elemente enthalten kann. Zweitens erfolgt die Informationsspeicherung im Rahmen der organischen Evolution durch genetische Codes und im kulturellen Bereich mittels Theorien, Modellen, Erfahrungsberichten oder Beschreibungen. Drittens läuft die organische Weitergabe von Informationen über den Prozess der Fort415 Vgl. Riedl, Die Ordnung des Lebendigen, 1990; siehe zudem Storch/Welsch, Evolution, S. 190 f. und Weingarten, Organismen - Objekte oder Subjekte der Evolution?, 1993, S. 250 f. 416 Für Engels, Biologische Ideen von Evolution im 19. Jahrhundert und ihre Leitfunktionen, in: dies. (Hrsg.), Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert, 1995, S. 23 bot bereits "Darwin eine nichtteleologische Erklärung der Zweckmäßigkeit des Lebendigen und der Entstehung neuer Arten an .... Er berief sich nicht mehr auf eine der Natur immanente Finalität oder auf einen die Arten nach seinem göttlichen Plan jeweils einzeln kreierenden Schöpfer, sondern erklärte Zweckmäßigkeit und Artenentstehung als das Resultat von blinden Naturprozessen, die Nützliches hervorbringen, ohne daß dieses in irgendeiner Form als antizipiert betrachtet werden müßte. Evolutionärer Wandel ... stellt sich daher in diesem Sinne als ZuJallsprozeß dar, daß die individuelle Variation der Organismen, an der die natürliche Selektion jeweils ansetzt, nicht in Hinblick auf einen für den betreffenden Organismus zu erfüllenden Zweck oder eine bestimmte Richtung der Evolution als ganzer erfolgt. Variation erfolgt ziel- und richtungslos". 417 Mayr, Eine neue Philososphie der Biologie, 1991, S. 57. Viele Buchtitel, wie z. B. Campbell, Entwicklung zum Menschen, 2. Auf!. 1979, Dobzhansky, Die Entwicklung zum Menschen, 1958, Drenhaus, Evolution zum Menschen, 1979 oder Laskowski, Der Weg zum Menschen, 1968, suggerieren jedoch, dass die Evolution des Lebendigen insgesamt ein Weg zum Menschen war und ist. 418 Mayr, Eine neue Philososphie der Biologie, S. 58. 419 Die genannten Punkte basieren auf den Zusammenfassungen von Wuketits, Biologische und kulturelle Evolution - Analogie oder Homologie?, S. 247 f., Osche, Die Sonderstellung des Menschen in biologischer Sicht: Biologische und kulturelle Evolution, S. 500 ff. und Vogel, Von der Natur des Menschen in der Kultur, S. 52 ff.

198

3. Teil: Modeme und Abstrakte Gesellschaft

pflanzung, wogegen sozio-kulturell die Möglichkeit eines extrasornatischen Informationsaustausches über Wort, Ton, Bild und Schrift besteht. Daher ist viertens im Gegensatz zur organischen Evolution, die keine Vererbung erworbener Eigenschaften kennt, in der sozio-kulturellen Evolution auch eine direkte Übertragung von Informationen zwischen Generationen möglich. Daraus erklärt sich fünftens wiederum die Differenz zwischen dem rasanten Tempo der sozio-kulturellen Evolution und der vergleichsweise langsamen Geschwindigkeit der organischen Evolution. Auf der anderen Seite ist, wie Popper gezeigt hat, nicht nur das Ergebnis der biologisch-organischen, sondern auch der sozio-kulturellen Evolution offen. 420 Zudem ist zu berücksichtigen, dass die biologische und die kulturelle Evolution keine getrennten und voneinander autonomen Evolutionstypen darstellen, sondern sich in wechselseitiger Abhängigkeit befinden und somit die Bestandteile eines koevolutionären Prozesses der menschlichen Entwicklung sind. 421 Obgleich die kulturelle Evolution (wie oben gezeigt) in einem gewissen Sinne von der biologischen abgehoben ist, bleibt sie aber dennoch untrennbar mit ihr verbunden, da das informations- und kulturproduzierende Organ, das Gehirn, selbst ein Resultat der organischen Evolution ist. 422 Es sei an dieser Stelle nochmals darauf hingewiesen, dass sich die Struktur und Leistungsfähigkeit des menschlichen Gehirns seit 40000 Jahren nicht mehr maßgeblich verändert hat. 423 Vor dem oben beschriebenen Hintergrund werden in Verbindung mit dem Modell der Abstrakten Gesellschaft und dem darin enthaltenen Entwicklungsschemas ,GG ..... OG ..... AG ..... ?' drei Dinge besonders deutlich. Erstens, dass auch der Prozess des gesellschaftlichen Wandels weder linear, noch apriori gerichtet oder mit immer gleicher Geschwindigkeit verläuft. Auch kann ihm keine grundsätzlich fortschrittliche oder aber auch rückschrittliche Tendenz unterstellt werden. Zwar steigt die soziale Gesamtkomplexität von der Geschlossenen über die Offene hin zur Abstrakten Gesellschaft immer weiter an, aber wie bereits gezeigt, stellt dieses Kriterium keinen geeigneten und eindeutigen Maßstab für Fortschritt dar. Vor allem Individuen, die nicht über eine entsprechende Anpassung an die neue Situation verfügen, werden diese nicht als Fortschritt interpretieren. Symptome und Ursachen für diesen Sachverhalt, wie (Re-)IntegraSiehe dazu 1. Kap. 1. Siehe dazu auch 4. Kap. 11. 1. 422 Zum menschlichen Gehirn als Produkt der Evolution siehe Leakey/R. Lewin, Wie der Mensch zum Menschen wurde, 1985, S. 187 ff., R. Lewin, Spuren der Menschwerdung, S. 141 ff., Seitelberger, Neurobiologische Aspekte der Intelligenz, in: Lorenz/Wuketits (Hrsg.), Die Evolution des Denkens, 1983, S. 168 ff. und Zimmer, Unsere erste Natur, S. 287 ff. Für Heschl, Das intelligente Genom, 1998, S. 18 entsteht der Eindruck, dass "das menschliche Gehirn das erste biologische Organ ist, das sich seiner niederen Herkunft zu schämen scheint. Eine denkbare evolutionäre Funktion dieser Überheblichkeit könnte darin bestehen, als regulatorisch übergeordnete Zentralinstanz des menschlichen Körpers so wenig wie möglich die Kontrolle über eben denselben aus der Hand zu geben". 423 Vgl. Kuli, Evolution des Menschen, S. 23; siehe dazu auch 4. Kap. 11. 1. 420 421

6. Kap.: Identitätsentwicklung und gesellschaftliche Entwicklung

199

tionsprobleme 424, Schwierigkeiten im Bereich der individuellen Biographieentwicklung425 , das Phänomen des Werteverlusts 426 und Probleme bei der Bildung einer kollektiven Identität427 , wurden bereits ausführlich erläutert. Zweitens wird sichtbar, dass die Frage, ob es sich bei dem geschilderten gesellschaftlichen Entwicklungsprozess um einen Fortschrittsprozess handelt, nur normativ beantwortet werden kann. Die Antwort hängt somit von dem gewählten Kriterium und vom Standpunkt der eigenen Bewertung ab. Auf der Grundlage der von Popper proklamierten Wertevorstellung 428 ergibt sich zusammenfassend folgendes Bild: Da von ihm die Offene Gesellschaft in negativer Abgrenzung zur Geschlossenen als ein erstrebens- und wünschenswerter Gesellschaftstyp angelegt wurde,429 ist für den ersten Entwicklungsschritt das Urteil eindeutig. Es handelt sich um eine Verbesserung der gesellschaftlichen Form des menschlichen Zusammenlebens und somit um einen Fortschritt. Für die darauf folgende Entwicklungsphase von der Offenen zur Abstrakten Gesellschaft, die innerhalb moderner Gesellschaften abläuft, ist ein eindeutiger Befund nicht möglich. Neuen Chancen der individuellen Reintegration wie die Multikollektivierung, stehen Risiken, wie der Rückfall in geschlossene gesellschaftliche Verhältnisse, gegenüber. Individualisierung kann Egozentrierung, aber auch die Erkenntnis der Einheit der Menschheit zur Folge haben. Für Popper ergibt sich aus diesem Spannungsfeld "eine Last, die von allen getragen werden muß, die in einer offenen und teilweise abstrakten Gesellschaft leben und die sich bemühen müssen, vernünftig zu handeln, zumindest einige ihrer emotionalen und natürlichen sozialen Bedürfnisse unbefriedigt zu lassen,,43o. Drittens wird klar, welche große Bedeutung dem Sachverhalt zukommt, dass der Mensch auf Grund seiner Entwicklungsgeschichte, die sich vorwiegend in Stammes- und Kleinstgesellschaften abgespielt hat, noch archaische Strukturen in sich trägt. Diese hatten sich durch die natürliche Auslese als für die früheren Lebensbedingungen vorteilhaft heraus selektiert, beeinflussen jedoch auch heute noch auf Grund der langsamen Veränderungsgeschwindigkeit der biologischen Evolution das soziale Verhalten des Menschen wesentlich. Popper ist sich bewusst, dass "die Menschen ... soziale Bedürfnisse [haben], die sie in einer abstrakten Gesellschaft nicht befriedigen können,,431. Eine Auffälligkeit in seinem Werk ,Die offene Gesellschaft und ihre Feinde' besteht darin, dass er zwar die Freunde geschlossener gesellschaftlicher Verhältnisse angreift, jedoch die Bedrohung Offener Gesellschaften von innen außer Acht lässt. Die Anhänger von totalitären Ideen und Ideo424 425 426 427 428 429

430 431

Siehe dazu 5. Kap. I. Siehe dazu 5. Kap. 11. 3. Siehe dazu 5. Kap. III. 3. u. 4. Siehe dazu 6. Kap. I. 4. Siehe dazu 2. Kap. 11. 4. Siehe dazu zusammenfassend 2. Kap. 11. 7. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 21l. Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 209.

200

3. Teil: Modeme und Abstrakte Gesellschaft

logien sind äußere Feinde, auch wenn sie innerhalb Offener Gesellschaften leben. Stellt sich jedoch heraus, dass die aus der konsequenten Anwendung des Offenheitsprinzips resultierenden Entwicklungen zu fundamentalen gesellschaftsstrukturellen Destabilisierungserscheinungen führt, so muss von einer Geflihrdung von innen oder Selbstgefährdung432 gesprochen werden. Eine solche Gefahr resultiert vor allem aus der mangelnden Berücksichtigung sozio-biologischer Aspekte, welche entscheidenden Einfluss auf die Bildung und Stabilität menschlicher Sozietäten haben. Dieser Punkt wird daher im letzten Abschnitt näher beleuchtet.

3. Berücksichtigung sozio-biologischer Aspekte

Die Forschungsrichtung der Soziobiologie hat ihren Ursprung in dem Werk ,Sociobiology' von Edward Wilson, der in diesem die Auffassung vertrat, dass das menschliche Sozialverhalten im Wesentlichen von genetischen Faktoren bestimmt ist. 433 Er definiert Soziobiologie als das systematische Studium der biologischen Basis allen sozialen Verhaltens. 434 Obgleich die Soziobiologie heute zum Sammelbegriff für verschiedenste fächerübergreifende Forschungsansätze geworden ist, welche auf den Disziplinen Evolutionstheorie, Populationsbiologie, Genetik, Ethologie, Physiologie, Neurobiologie, Spieltheorie, Anthropologie, Soziologie und Psychologie aufbauen und in sie hineinwirken,435 so ist ihr Kern doch gleich geblieben. Sie ist "die Wissenschaft von der biologischen Angepasstheit des tierlichen und menschlichen Sozialverhaltens,,436, wobei sie sich mit der "Erforschung der biologischen Grundlagen des Sozialverhaltens unter Anwendung der Evolutionsbiologie"437 beschäftigt. Im Gegensatz zur klassischen Verhaltensforschung stellen die Vertreter der Soziobiologie nicht die Art oder die Arterhaltung, sondern Gruppen, Individuen und Gene in den Mittelpunkt ihrer Erklärungen. 438 432 So auch Kolakowski, Selbstgefährdung der offenen Gesellschaft, in: Bossle / Radnitzky (Hrsg.), Die Selbstgefährdung der Offenen Gesellschaft, 1982, S. 9. Für Radnitzky, Die ungeplante Gesellschaft, S. 26 besteht eine akute Gefahr für die freiheitliche Ordnung "vor allem in der Selbstgefährdung der offenen Gesellschaft durch Totalisierung der Ideen des klassischen Liberalismus". 433 Vgl. Wilson, Sociobiology, 6. Auf!. 1978. 434 "Sociobiology is defined as the systematic study of the biological basis of all social behavior.", Wilson, Sociobiology, S. 4; an anderer Stelle führt ders., ebd., S. 575 zu den zukünftigen Aufgaben der Soziobiologie aus: "sociobiology will be to monitor the genetic basis of social behavior". 435 Vgl. Wuketits, Soziobiologie, S. 20. Für Koslowski, Evolution und Gesellschaft, 1984, S. 17 ist es offensichtlich, "daß "Soziobiologie" kein einheitlicher methodischer Ansatz, sondern ein Programm mit unterschiedlichen ontologischen und epistemologischen Ausgangspositionen ist". 436 Voland, Grundriß der Soziobiologie, 2. Auf!. 2000, S. 1. 437 Barash, Soziobiologie und Verhalten, 1980, S. 315. Nach Vogt, Der lange Weg der Soziobiologie, Naturw Rs 1999, S. 391 versucht die Soziobiologie, "die biologischen Gesetze für das Zusammenleben von Gruppen bei Tier und Mensch aufzudecken".

6. Kap.: Identitätsentwicklung und gesellschaftliche Entwicklung

201

Soziobiologen versuchen im Grunde genommen nicht mehr, als allgemeine Prinzipien für das soziale Verhalten von Lebewesen zu finden und diese auf die Erklärung menschlichen HandeIns (mit all seinen Spezifika) anzuwenden. 439 Dieser Ansatz rief teilweise sehr harsche und oftmals undifferenzierte Kritik hervor, wobei die wichtigsten Argumente lauteten, dass Soziobiologen einem platten Reduktionismus und biologischen Fatalismus huldigen, da sie angeblich versuchen, die komplexen menschlichen Verhaltensphänomene auf der Genebene aufzulösen, und dass sie den Menschen in deterministischer Weise zu einer Marionette seiner Gene degradieren würden. 44o Zudem wurde der Soziobiologie implizit und explizit unterstellt, eine Wissenschaft zu sein, die gefährliche Ideologien unterstütze oder ihnen Vorschub leiste. 441 Die Gegenposition der Soziobiologen ist unspektakulär einfach: Die Soziobiologie ist eine deskriptive und analytische Wissenschaft, die sich um ein Verständnis des Einflusses der Erbfaktoren auf das Sozialverhalten bemüht; sich für die evolutorischen Ursachen und Konsequenzen sozialer Phänomene (wie z. B. auch Konkurrenz oder Aggression) zu interessieren, bedeutet selbstverständlich weder diese zu rechtfertigen oder für gut zu befinden noch für sie verantwortlich zu sein. 442 Vgl. Wuketits, Verdammt zur Unmoral?, S. 252. Vgl. Wuketits, Soziobiologie, S. 3. 440 Eine Zusammenfassung der geäußerten Kritikpunkte findet sich bei Zimmer, Unsere erste Natur, S. 129 ff. und Hemminger, Der Mensch - eine Marionette der Evolution?, 1983. Koslowski, Evolution und Gesellschaft, S. 16 f. berücksichtigt in seiner Kritik zumindest, dass es unter den Soziobiologen fundamentale Unterschiede hinsichtlich der Auffassung von der Übertragbarkeit der Erkenntnisse aus der Tier- auf die Humansoziobiologie gibt: Ein Teil der Wissenschaftler geht davon aus, dass in menschlichen Gesellschaften dieselben Gesetze wie in tierischen gelten, der andere räumt jedoch einen erheblichen Unterschied zwischen tierischer und humaner Soziobiologie ein. Für E.-M. Winkler, "We are just modelling". Zur Bedeutung der Soziobiologie für die Anthropologie, in: Ehalt (Hrsg.), Zwischen Kultur und Natur, 1985, S. 53 geht die Soziobiologie von den irrigen Annahmen aus, "daß es so etwas wie "unabhängige" Gene gäbe", und dass die Selektion nur an der Ebene der Gene oder der Individuen angreift. 441 Vor allem linksorientierte Kritiker werfen den Soziobiologen vor, "biologischen Determinismus zu propagieren und sahen in den soziobiologischen Konzepten einen erneuten Versuch, rassische, ökonomische und sexuelle Ungleichheit mit der Berufung auf die Natur und die genetischen Wurzeln von Verhalten zu rechtfertigen", vgl. Sommer, Von Menschen und anderen Tieren, 2000, S. 15; zusammengefasst finden sich solche Vorwürfe und die bereits genannten Argumente gegen die Soziobiologie bei Lewontin/Rose / Kamin, Die Gene sind es nicht ... , 1988, S. 1 ff., 190 ff. 442 Vgl. Voland, Grundriß der Soziobiologie, S. 27. P. Winkler, Zwischen Kultur und Genen?, A&K 1994, S. 105 betont, dass die Soziobiologie zwar eine Disziplin repräsentiert, "die sich mit dem Einfluß der Gene auf das menschliche Verhalten beschäftigt" und damit zwar "eine genetische, jedoch keine deterministische Theorie" ist. Paul/Voland/ P. Winkler, Die biologische Angepaßtheit des Menschen: Hindernis oder Orientierungshilfe auf dem Weg zu einer besseren Welt?, in: Voland (Hrsg.), Evolution und Anpassung, 1993, S. 307 f. wehren sich vehement gegen den Vorwurf des naturalistischen Fehlschlusses; für sie existiert alles, was natürlich ist, auf Grund der Tatsache, dass es von der Selektion begünstigt wurde und demnach adaptiv sein muss, was jedoch nicht bedeutet, dass das Adaptive automatisch gut ist. Für Zimmer, Unsere erste Natur, S. 133 ist es genauso "unmöglich, »für« oder »ge438 439

202

3. Teil: Moderne und Abstrakte Gesellschaft

Akzeptiert man, dass der Mensch, genau wie alle anderen Lebewesen, ein Resultat der biologischen Evolution ist, dann ist es auch nahe liegend, seine Sozialstrukturen unter evolutionärem Aspekt zu untersuchen. Da die Soziobiologie Selbsterhaltung und Vermehrung als das Grundinteresse des Menschen betrachtet, versucht sie die vielfältigen Phänomene der menschlichen Daseinsbewältigung und soziokultureller Entwicklung vor dem Hintergrund biologischer Funktionalität zu erklären. 443 Es besteht mittlerweile kaum mehr ein Zweifel daran, dass die Grundmuster des Sozialverhaltens unter einem bestimmten Selektionsdruck in der Evolution entstanden sind und sich genetisch gefestigt haben. 444 Die Soziobiologie verwirft in diesem Kontext das Paradigma der Gruppenselektion und betrachtet nicht die Art, sondern das Individuum (Merkmalsträger) als die Ebene der Selektion und das Gen (Informationsträger) als die Einheit der Variation. 445 Um den genetischen Erklärungsanspruch der Soziobiologie nicht zu überdehnen, soll für die weiteren Überlegungen davon ausgegangen werden, dass jedes Lebewesen durch genetische Merkmale charakterisiert ist, welche in der Evolution durch natürliche Auslese stabilisiert wurden und die dazu führen, dass das Individuum seine eigenen Interessen verfolgt. 446 Aus soziobiologischer Perspektive resultiert der genetisch verankerte gen« die Soziobiologie zu sein, wie es unmöglich wäre für oder gegen die Klimakunde zu sein".

Vgl. Voland, Grundriß der Soziobiologie, S. 1. Vgl. Wuketits, Soziobiologie, S. 132; Erben, Die Entwicklung der Lebewesen, 2. Aufl. 1976, S. 354 f. Kompakte Einführungen in die (Human)Verhaitensgenitk liefern v. Schilcher, Vererbung des Verhaltens, 1988, S. 214 ff. und McFarland, Biologie des Verhaltens, 2. Aufl. 1999, S. 34 ff. Eine Übersicht über Studien, die dazu dienen, erbliche Verhaltenselemente und -konstellationen zu finden und das Zusammenspiel von genetischer Anlage und Umwelt zu erkunden, findet sich bei Plomin/DeFries/McCleam/Rutter, Gene, Umwelt und Verhalten, 1999, S. 82 ff. Deutliche Kritik an den klassischen Vorstellungen der Möglichkeiten der Erziehung leistet Rowe, Genetik und Sozialisation, 1997. 445 Vgl. P. Winkler, Zwischen Kultur und Genen?, A&K 1994, S. 107. Nach der klassischen biologischen Auffassung ist das Gen die Einheit der Variation, das Individuum die Einheit der Selektion und die Art die Einheit der Evolution, vgl. Wuketits, Soziobiologie, S. 16. Für Dawkins, Das egoistische Gen, S. 63 ist das Gen sowohl die Ebene der Variation als auch der Selektion, denn Gene bieten für ihn gegenüber Arten oder Individuen eine Reihe von Differenzierungsmerkmalen, die sie als Grundeinheit der Selektion geeignet erscheinen lassen; sie sind insbesondere äußerst langlebig und haben eine sehr hohe Kopiergenauigkeit. Barash, Soziobiologie und Verhalten, S. 81 zeigt, dass Gruppenselektion zwar theoretisch möglich ist, jedoch in der Realität daran scheitert, dass die Wahrscheinlichkeit für das Vorliegen aller hierfür notwendigen Bedingungen äußerst gering ist. 446 Um nochmals einem mechanistischen oder gen-deterministischen Verständnis vorzubeugen möchte ich auf die Ausführungen von Wuketits, Soziobiologie, S. 116 verweisen, welche sich zusammengefasst wie folgt darstellen: Nach der heute vorherrschenden Auffassung codieren Gene bestimmte Strukturen, Funktionen und natürlich auch Verhaltensweisen eines Organismus auf sehr komplexe Weise. Dabei kann das genetische System nicht als lineare Kette von Genen gedacht werden, die unabhängig voneinander jeweils ein bestimmtes anatomisches Merkmal erzeugen oder Verhaltensmerkmal bewirken. Einerseits können mehrere Gene an der Erzeugung eines Merkmals beteiligt sein und andererseits kann ein und dasselbe Gen die Bildung mehrerer Merkmale beeinflussen. Außerdem wird davon ausgegangen, dass 443

444

6. Kap.: Identitätsentwicklung und gesellschaftliche Entwicklung

203

Egoismus aus dem ausgeprägten Interesse aller Lebewesen zu überleben und sich zu reproduzieren. 447 Wie kann es aber in einer Welt von Egoisten unter der Bedingung eines permanenten Wettbewerbs um begrenzte Ressourcen nicht nur zu aggressiven Auseinandersetzungen, sondern auch zu Gruppenbildung kommen? Soziobiologisch stellt sich die Entscheidung, ob in einer Konkurrenzsituation aggressive Mittel eingesetzt werden, als konditionierte Kosten/Nutzen-Abwägung der Individuen dar. 448 Dabei sind der erwartete Nutzen (z. B. der Streitwert), die Einschätzung der Gewinnchancen und die Kosten, welche durch die aggressive Auseinandersetzung entstehen können (z. B. Verletzungen, Rang- oder Gebietsverlust), die wichtigsten Einflussfaktoren. 449 Genauso verhält es sich bei der Gruppenbildung, denn auch sie hat sich während der Evolution als stabile Strategie herauskristallisiert, welche die Chancen des individuellen Überlebens und der Reproduktion erhöhen kann. 45o Gruppenleben findet sich bei sehr vielen Lebewesen und hat allgemein ausgedrückt in Abhängigkeit von der jeweiligen Umwelt gegenüber einer solitären Lebensweise folgende Gene mit ihrer Umwelt interagieren. Zwar herrscht unter den Soziobiologen keine Übereinstimmung darüber, wie hoch die Macht der Gene ist, aber praktisch sind sich alle Forscher darüber einig, dass die genetische Programmierung von Organismen nicht bedeuten kann, dass individuelles Lernen unbedeutend ist. Die Soziobiologen sehen ihre genetische Erklärung von bestimmten Verhaltensweisen nicht als Widerspruch zur Lernfähigkeit. Auch Voland, Grundriß der Soziobiologie, S. 13 wehrt sich vehement gegen den Vorwurf, die "Theorie des egoistischen Gens" würde gesellschaftliche Gegebenheiten als Bedingung und Ursache menschlichen Verhaltens weitestgehend herunterspielen oder gar ganz ausblenden und daher einer biologistischen Auffassung von Verhaltensdeterrnination Vorschub leisten, in der die soziale Umwelt praktisch keine erklärende Rolle mehr spielt; dieser Einwand basiert für ihn auf einem falschen Verständnis von der Wirkweise von Genen, von denen irrtümlicher Weise angenommen wird, sie würden biologische Merkmale unabhängig von Umwelteinflüssen festlegen, was jedoch nicht der Fall ist, da die Phänotypen (einschließlich der Verhaltensmerkmale) immer aus einer Wechselbeziehung zwischen dem Gen und seiner Umgebung entstehen. 447 Nach Wickler/Seiht, Das Prinzip Eigennutz, S. 1 geht es im "Kampf ums Überleben ... nicht in erster Linie um die Erhaltung der Art, wie man seit Darwin annahm, sondern um die Sicherung und möglichst weite Verbreitung der Gene des einzelnen Exemplars". Es erscheint schon fast paradox, dass egoistisches Verhalten im täglichen Leben permanent auftritt und gleichzeitig stark verpönt ist. Diese Paradoxie hat dazu geführt, dass sich die verschiedensten wissenschaftlichen Disziplinen mit dem Phänomen Egoismus beschäftigen, was die umfangreiche Aufsatzsarnm1ung von Heck (Hrsg.), Das Prinzip Egoismus, 1994 eindrucksvoll belegt. 448 M. a. W. werden je nach der Konstellation der Konfliktsituation unterschiedliche Verhaltensoptionen eingesetzt, wobei bewusstes Planen oder absichtliches Handeln nicht zwingend vorausgesetzt wird, vgl. Paul, Von Affen und Menschen, 1998, S. 36; siehe zudem Barash, Soziobiologie und Verhalten, S. 204 ff., 220 ff. Obwohl Lorenz, Das sogenannte Böse, 1963 ein anderes Verständnis von der Wirkweise der Aggressionsmechanismen hat, sieht auch er diese als ein Hauptprodukt der Evolution an. 449 Vgl. Paul, Von Affen und Menschen, S. 36; Barash, Soziobiologie und Verhalten, S. 220 f. 450 Vgl. Wuketits, Soziobiologie, S. 43.

204

3. Teil: Moderne und Abstrakte Gesellschaft

Vorteile: Verringerung des Feinddrucks, effizienterer Nahrungserwerb, gemeinsame Verteidigung von knappen Ressourcen und Vermeidung hoher Abwanderungskosten. 451 Es birgt aber auch Nachteile in sich: Erhöhtes Infektionsrisiko, stärkerer Wettbewerb um begrenzte Ressourcen, reproduktive Konkurrenz zwischen den einzelnen Gruppenmitgliedern und die Gefahr der Degeneration. 452 Erkennt man die Gene oder das Individuum als die formende Kraft des evolutionären Geschehens an, dann kann es nur zur Gruppenbildung kommen, wenn die Kosten/Nutzen-Bilanz aller Mitglieder positiv ausfällt. 453 Im Fall von Gruppenbildung auf Basis von Kooperation ist die Entstehung von Sozietäten leicht nachzuvollziehen, denn dabei investieren alle Beteiligten unter unmittelbarer Gewinnerwartung in ein gemeinsames Ziel, das zusammen leichter oder effizienter erreicht werden kann als solitär. 454 Aber warum fördert die Selektion auch gruppenbildende Verhaltensmuster wie Altruismus, die auf den ersten Blick nicht dem Überleben des Individuums dienen? Eine der überzeugendsten Erklärungen für die Biologie des Altruismus ist durch das Modell der Verwandtschaftsselektion bekannt geworden. 455 In diesem Kontext ist es wichtig, das genzentrierte Konzept der Gesamtfitness zu kennen. 456 Die Gesamtfitness eines Individuums als Maß der relativen Zunahme von persönlichen Genreplikaten innerhalb einer Population, auf deren Maximierung alle Organismen ausgerichtet sind, ist die Summe aus der durch eigene Fortpflanzung erreichten direkten Fitness und der durch den mit dem Verwandtschaftskoeffizienten gewichteten Fortpflanzungserfolg der Verwandten erlangten indirekten Fitness. 457 Als nepotistischen Altruismus bezeichnet man folglich die Inkaufnahme

451

S.50.

Vgl. Voland, Grundriß der Soziobiologie, S. 29 ff.; Wuketits, Gene, Kultur und Moral,

452 Vgl. Voland, Grundriß der Soziobiologie, S. 50 ff.; R. Lewin, Spuren der Menschwerdung, S. 58. 453 Kooperatives Verhalten setzt nach Wuketits, Soziobiologie, S. 63 nicht die Existenz einer Gruppe voraus, sondern führt erst zur Bildung einer solchen. Allgemeine Ausführungen zur evolutionären Optimierung über Kosten/Nutzen-Bilanzen der Individuen finden sich bei McFarland, Biologie des Verhaltens, S. 390 ff. 454 Vgl. Voland, Grundriß der Soziobiologie, S. 99. Zum Grundproblem der Kooperation unter Egoisten siehe Axelrod, Die Evolution der Kooperation, 5. Aufl. 2000 und kritisch Schüßler; Kooperation unter Egoisten: Vier Dilemmata, 1990. 455 Vgl. Barash, Soziobiologie und Verhalten, S. 84; Kliemt, Der avancierte Affe, A&K 1994, S. 7 f.; Zimmer; Unsere erste Natur, S. 165. 456 Das Modell der Gesamtfitness ("inc1usive fitness") wurde in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts von dem amerikanischen Biologen Hamilton, Narrow roads of geneland Vol. 1, 1996, S. 31 ff. entwickelt; siehe auch die Originalartikel: ders., The genetical evolution of social behaviour I, J Theor Biol 7/1964, S. 1 ff. und ders., The genetical evolution of social behaviour 11, J Theor Biol 7/ 1964, S. 17 ff. 457 Vgl. Hamilton, Narrow roads of geneland Vol. 1, S. 32 ff.; Voland, Grundriß der Soziobiologie, S. 8 f.; Wickler/Seiht, Das Prinzip Eigennutz, S. 96 f.; P. Winkler; Zwischen Kultur und Genen?, A&K 1994, S. 107; Zimmer; Unsere erste Natur, S. 165 ff.

6. Kap.: Identitätsentwicklung und gesellschaftliche Entwicklung

205

eigener, direkter Fitnessverluste durch die Investition in einen Verwandten, wobei aber die Erwartung eines Gewinns in indirekter Fitness besteht. 458 Je näher zwei Individuen miteinander verwandt sind, um so größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie Gene gemeinsam haben und um so mehr lohnt sich altruistisches Verhalten zwischen ihnen. 459 Altruismus tritt aber auch zwischen Individuen auf, die nicht verwandt sind. In diesem Fall spricht man von reziprokem oder wechselseitigem Altruismus. 460 Dieser kann als die Inkaufnahme eigener, direkter Fitnessverluste durch gegenwärtige Investion in ein anderes Individuum bei einer erst in der Zukunft liegenden Gewinnerwartung an direkter oder indirekter Fitness (und somit als Tausch von momentaner gegen spätere Überlebens- und Reproduktionsfähigkeit) interpretiert werden. 461 Fasst man die Faktoren zusammen, welche aus sozio-biologischer Sicht die Wahrscheinlichkeit für altruistisches und damit solidarisch und gruppenstabilisierend wirkendes Verhalten beeinflussen, so lassen sich die folgenden drei Hauptparameter eruieren: Erstens die Höhe des Verwandtschaftsgrades, wobei es zu den kulturübergreifenden Kennzeichen menschlicher Gemeinschaften gehört, verwandtschaftliche Beziehungen zu erkennen, sie differenziert zu benennen, zu bewerten und im täglichen Verhalten zu berücksichtigen.462 Zweitens das Alter der Individuen, wobei vor allem bei zunehmendem Generationenabstand die Solidarität sinken kann, was wiederum bedeutet, dass Verwandtschaftsbeziehungen zwar eine Triebkraft der sozialen Evolution darstellen, aber nicht unbegrenzt wirken. 463 Vgl. Voland, Grundriß der Soziobiologie, S. 100. Vgl. Wickler/Seibt, Das Prinzip Eigennutz, S. 96; Zimmer, Unsere erste Natur, S. 165 ff.; siehe ergänzend McFarland, Biologie des Verhaltens, S. 75. 460 Vgl. Barash, Soziobiologie und Verhalten, S. 99; Kliemt, Der avancierte Affe, A&K 1994, S. 11 f. 461 Vgl. Voland, Grundriß der Soziobiologie, S. 99 f.; für Paul, Von Affen und Menschen, S. 15 ist reziproker Altruismus durch drei Merkmale gekennzeichnet: Erstens muss das Verhalten "dem Empfänger nützen (also geeignet sein, seine Überlebens- und Fortpflanzungschancen zu erhöhen) und gleichzeitig mit Kosten für den Altruisten verbunden sein", zweitens muss das "Geben .. . erwidert werden" und drittens muss "eine Zeitverzögerung zwischen Geben und Erwidern stattfinden (ansonsten würden sich Kosten und Nutzen gegenseitig ausmitteln)". 462 Für Voland, Grundriß der Soziobiologie, S. 116 ist das Verhältnis zwischen Altruismus, Konkurrenz und Aggression in einer Bevölkerungsgruppe von den verwandtschaftlichen Beziehungen ihrer Mitglieder geprägt; unter Bezug auf eine große Anzahl von internationalen Studien zur Solidarität in lebensbedrohlichen Situationen und zur Mithilfe bei der Subsistenzsicherung sowie zur Unterstützung in Kontexten der alltäglichen Lebensbewältigung weist er der "Verwandtenbevorzugung eine hervorgehobene Bedeutung" zu; siehe zudem die Studien von Voland/ Paul, Vom "egoistischen Gen" zur Familiensolidarität - Die soziobiologische Perspektive von Verwandtschaft, in: M. Wagner I Diewald (Hrsg.), Verwandtschaft, 1998, S. 35 ff. und Marbach, Verwandtschaftsbeziehungen und Abstammung - Eine Prüfung soziobiologischer Thesen mit Hilfe familiensoziologischer Daten in: M. Wagner/Diewald (Hrsg.), Verwandtschaft, 1998, S. 91 ff. Kritisch äußert sich Kopp, Soziobiologie und Familiensoziologie, KZfSS 1992, S. 489 ff. 463 Vgl. Wuketits, Soziobiologie, S. 99. 458 459

206

3. Teil: Moderne und Abstrakte Gesellschaft

Als dritter solidaritätsstiftender Faktor wirkt räumliche Nähe, auf Grund derer auch ohne genetische Verwandtschaft die Wahrscheinlichkeit zu gegenseitiger Hilfe steigt. 464 Die drei eruierten Einflussgrößen machen deutlich, dass der Mensch sowohl in genetischer, in zeitlicher als auch in räumlicher Hinsicht ein nahbereichsorientiertes Wesen ist. 465 Hier schließt sich der Kreis zur Identitätsbildung, denn dort gelten neben dem Geschlecht die Abstammung und das Alter als die elementaren Identitätsmerkmale eines Individuums. 466 Diese Merkmale definieren die fundamentale Ich-Identität einer Person, schließen gleiche Merkmalsträger ein und grenzen gleichzeitig andere ab. Zudem ist der Bezug auf ein Gebiet sowohl ein wesentlicher und notwendiger Bestandteil der Bildung der kollektiven Identität eines Menschen,467 als auch 464 Vgl. Wuketits, Soziobiologie, S. 98. Nach Voland, Grundriß der Soziobiologie, S. 120 gelten die gemeinsame Konkurrenzminimierung und Ressourcensicherung als die zwei wesentlichen Triebkräfte in der Evolution von Territorialität; die Inbesitznahme und Verteidigung eines Territoriums durch eine Gruppe ist dabei wiederum eine individuelle Kosten/Nutzen-Abwägung, da die Sicherstellung der exklusiven Nutzungsmöglichkeit eines Gebiets auch mit einern Aufwand an Energie und Zeit verbunden ist und nur erfolgt, wenn die individuelle Bilanz posititv ist, was wiederum nicht unwesentlich von Umweltfaktoren abhängt. Eibl-Eibesfeldt, In der Falle des Kurzzeitdenkens, S. 85 betont ausdrücklich, dass die Territorialität des Menschen nicht etwas kulturell Erlerntes, sondern etwas dispositiv Verankertes ist; an anderer Stelle äußert sich ders., Die Biologie des menschlichen Verhaltens, S. 481 wie folgt: "Menschengruppen grenzen sich territorial voneinander ab. Sie beanspruchen in ihrem Gebiet gewisse Vorrechte und sind auch bereit, diese notfalls zu verteidigen. Territorialität karn nicht erst mit der Feldbestellung in die Welt. Wir finden sie auch bei Jäger- und Sarnrnlervölkern. Da überdies auch unsere nächsten Primatenverwandten territorial sind, dürfte es sich bei diesem Merkmal um eine stammesgeschichtlich erworbene Disposition handeln". Zimmer; Unsere erste Natur, S. 283 f. weist ausdrücklich darauf hin, dass der Mensch alle drei Hauptformen der Territorialität (persönliche Distanz, Revier / Heim und Gruppenwohngebiet / Heimat) aufweist, die auch im Tierreich anzutreffen sind; für ihn ist Territorialität beim Menschen ein "flexibles Prinzip", so dass über deren individuelle Stärke und Ausdrucksform keine allgemeingültigen Prognosen abgegeben werden können - "Vorhersagen läßt sich nur, daß sich irgendein territoriales Verhalten finden wird". Eine umfassende, kritische und ideologiefreie Dokumentation zur Bedeutung der Territorialität beim Menschen fmdet sich bei dem schwedischen Biologen und Geographen Malmberg, Human Territoriality, 1980, insb. S. 317, der in seinen Analysen zu dem Ergebnis kommt, dass menschliche Verhaltensmuster zur Bindung an und zur Verteidigung von einem Gebiet genauso genetisch verankert sind wie bei Tieren. Eine detaillierte sowohl sozial- als auch naturwissenschaftliche Analyse zur menschlichen Gebietsbezogenheit liefert Seidl, Die Territorialität des Menschen, 1985. Geographische Aspekte der biologischen und kulturellen Evolution beleuchtet Dürrenberger; Menschliche Territorien, 1989. Zum Verhältnis von Individuum, Kollektiv und räumlicher Umwelt siehe den Aufsatzband von Jüngst (Hrsg.), Identität, Aggressivität, Territorialität, 1996. Zum staatsrechtlichen Territorialtätsprinzip und zum existenziellen Staat als territoriale Rechtsgemeinschaft siehe Schachtschneider; Prinzipien des Rechtsstaates, S. 53 ff. 465 Nach Kliemt, Der avancierte Affe, A&K 1994, S. 14, 16 soll die Staffelung der menschlichen Solidarität nach verwandtschaftlicher, zeitlicher und räulicher Nähe nicht als Gesetz, sondern als Tendenzaussage verstanden werden, da sie im Einzelfall durchbrochen werden kann. 466 Siehe dazu 6. Kap. I. 3. 467 Siehe dazu 6. Kap. I. 4.

6. Kap.: Identitätsentwicklung und gesellschaftliche Entwicklung

207

für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Kooperationen und Altruismus. Eine auf diese Weise entstandene Gruppenstabilität wirkt wiederum positiv auf das reziprok altruistische Verhalten der Individuen zurück, denn diese werden ein solches nur zeigen, wenn sie davon ausgehen können, dass der gegenwärtige Nutznießer auch später noch Teil der Gruppe ist und sich dann durch eine in der Zukunft liegende Gegenleistung erkenntlich zeigt. Damit eine Gesellschaft auf Dauer Bestand hat, ist es folglich unerlässlich, diese stabilisierenden Faktoren zur Kenntnis zu nehmen und bei voll- oder teilgeplanten sozialen Ordnungen entsprechend zu berücksichtigen. Dies ist in modernen Gesellschaften insbesondere dann notwendig, wenn (spontane) funktional-ökonomische Bindungen nachlassen, Wertepluralismus und die damit verbundenen Wertekonflikte zum Normalzustand werden468 und gemeinsame Erfahrungen durch stark variierende Biographieverläufe verschwinden,469 da ansonsten die Gefahr besteht, dass Feindbilder und Gewalt an integrativer Bedeutung gewinnen.

468 469

Siehe dazu 5. Kap. III. 3. u. 4. Siehe dazu 5. Kap. 11. 3.

Zusammenfassung Ziel der Arbeit war es, das von Popper angesprochene Phänomen, dass sich eine "offene Gesellschaft ... allmählich in eine sogenannte ,abstrakte Gesellschaft' verwandeln"! kann, theoretisch zu fassen und in Bezug zu der Situation in modernen Gesellschaften zu bringen. Den Ausgangspunkt zur Bewältigung dieser Aufgabe bildete die Inhaltsbestimmung der dichotomisch angelegten Gesellschaftstypen ,Geschlossen' und ,Offen '. Da hierzu auf keinen bereits von Popper explizierten, systematischen Merkmalskatalog zurückgegriffen werden konnte, musste ein solcher zunächst im ersten Teil der Arbeit entwickelt werden. Zu diesem Zweck wurde ein primärtextorientierter Analyseansatz gewählt, der berücksichtigt, dass Popper die Charakteristika der beiden Gesellschaftstypen an den unterschiedlichsten Stellen in seinen Hauptwerken behandelt. Die Kenntnis seiner Auffassung von Geschichte und der epistemologischen Ergebnisse, zu denen er in seinem Werk ,Das Elend des Historizismus' kommt, bildete dabei die notwendige Grundlage für das Verständnis seiner weiteren Ausführungen in der Folgeschrift ,Die offene Gesellschaft und ihre Feinde'. Unter Historizismus versteht Popper jene Einstellung zu den Sozialwissenschaften, die annimmt, historische Voraussagen seien ihr Hauptziel, welches sich dadurch erreichen lasse, dass man die Gesetze erkennt, die der geschichtlichen Entwicklung zugrunde liegen. Seine antihistorizistische Grundthese ist, dass der Verlauf geschichtlicher und gesellschaftlicher Entwicklungen keinen universellen Gesetzen folgt und somit aus streng logischen Gründen auch nicht wissenschaftlich voraussagbar ist. Dies gilt für ihn sowohl für die antinaturalistische als auch für die pronaturalistische Form des Historizismus, die zwar beide die gleiche Intention verfolgen, sich allerdings in den angewandten Methoden unterscheiden. Vor diesem theoretischen Hintergrund setzt sich Popper in ,Die offene Gesellschaft und ihre Feinde' mit den Freunden Geschlossener Gesellschaften auseinander. Er entlarvt Platon als Protagonist autoritären Denkens, der sich in seiner historizistischen Lehre geschickt kollektivistischer, essentialistischer, monistischer, utopistischer und holistischer Elemente bedient, um seine totalitäre Ideologie des vollkommenen Staates zu begründen. Platons vollkommener Staat ist für Popper das Spiegelbild einer Geschlossenen Gesellschaft. Die vom Mythos der Horde, von Nationalismus und Dialektik geprägte Geschichtsphilosophie Hegels wird von ihm nicht minder vehement verurteilt. Sie stellt für ihn das Bindeglied zwischen Platon

!

Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1, S. 208.

Zusammenfassung

209

und modemen Fonnen totalitären Gedankengutes dar. In der detenninistischen Theorie Marx' identifiziert Popper schließlich die für ihn bisher reinste Fonn des Historizismus. Marx sieht den Schlüssel zum Verständnis des geschichtlichen Prozesses ausschließlich in den ökonomischen Verhältnissen und gelangt über seine Theorie des Klassenkampfes zur Ohnmacht des Staates und wie schon Platon und Hegel zum moralischen Positivismus. Aus der Analyse der popperschen Beschreibung der Lehren Platons, Hegels und Marx' konnten anhand eines Kriterienkatalogs sechs Charakteristika Geschlossener Gesellschaften textimmanent abgegrenzt und systematisiert werden: 1. Das gesellschaftliche Entwicklungs- und das Geschichtsverständnis ist historizistisch. 2. Der Essentialismus stellt die dominierende Erkenntnismethode dar. 3. Der moralische und juridische Positivismus verdeutlicht das vorherrschende Verständnis von Recht und Moral. 4. Der Kollektivismus beschreibt die Position des Einzelnen gegenüber der Gemeinschaft. 5. Der Holismus identifiziert den spezifischen Blickwinkel auf die Gesellschaft. 6. Der Utopismus zeigt den gewünschten Grad der gesellschaftlichen Re- oder Umstrukturierung. Im zweiten Kapitel wurde dazu übergegangen, Poppers Vorstellung von einer Offenen Gesellschaft zu ennitteln. Um diese adäquat verstehen zu können, war es notwendig, sich die erkenntnistheoretischen Grundlagen seiner Sozialphilosophie zu vergegenwärtigen. Das Fundament von Poppers Kritischem Rationalismus ist seine Überzeugung, dass wir aus Fehlern lernen können. Das menschliche Wissen wächst dadurch, dass Vennutungen an der Erfahrung scheitern, wodurch Probleme entstehen, die ihrerseits wiederum den Anstoß geben, neue und bessere Theorien zu entwickeln. Dieser Prozess kann als ständiger Wechsel von Vennutungen und Widerlegungen aufgefasst werden, welchen Popper in der Fonnel ,Problem 1 -> Vorläufige Theorie -> Fehlerelimination -> Problem 2' zum Ausdruck bringt. In seinem auf Rechtfertigung verzichtenden Kritischen Rationalismus geht es im Kern darum, nicht nur aus Zufall über einen Irrtum zu stolpern, sondern jede Theorie oder Hypothese mit Hilfe des Falsifikationskriteriums bewusst und aktiv einer möglichst strengen deduktiven Priifung zu unterziehen, um auf diesem Wege eine Annäherung an die Wahrheit zu erreichen. Das Ergebnis dieser Vorgehensweise ist Vennutungswissen. Sicherheit und Gewissheit können jedoch nicht erlangt werden. Popper betont, dass die Anwendung der oben beschriebenen, allgemeinen wissenschaftstheoretischen Methode des Kritischen Rationalismus auf den speziellen Bereich der politischen und sozialen Probleme das wesentliche Charakteristikum für seine Sozialphilosophie ist. Auf dieser Grundlage legt er als Gegenpol zur Geschlossenen Gesellschaft seine Konzeption der Offenen Gesellschaft an, deren Charakteristika ebenfalls anhand des vorher eruierten Kriterienkatalogs systematisiert wurden. Diese sind: 1. Ein konsequenter Indeterminismus bildet die Gegenposition zum Historizismus. Im Kern besagt er, dass die Geschichte zwar keinen Sinn hat, jedoch die Menschen ihr durch ihre Entscheidungen und Handlungen einen solchen verleihen können. Diese Auffassung ist ein Ausdruck des Glaubens an den !4 Tiefe!

210

Zusammenfassung

freien Willen des Menschen und der Ansicht, dass die Zukunft offen ist. 2. Der methodologische Nominalismus wird dem Essentialismus gegenübergestellt. Dies hängt eng mit Poppers epistemologischen Überlegungen zusammen, in denen er Was- und Begründungsfragen als nicht geeignet beurteilt, um zu Erkenntniszuwächsen und Problemlösungen zu gelangen. Statt dessen sollte die kritisch-rationale Methode angewandt werden. 3. Der kritische Dualismus tritt an die Stelle des moralischen und juridischen Positivismus. Er steht für die Trennung zwischen normativen Gesetzen, die ein ausschließliches Produkt des Menschen sind, und Naturgesetzen. Daneben vertritt Popper die Auffassung des Dualismus von Tatsachen und Werten. Die vorgenommenen Trennungen verdeutlichen, dass allein der Mensch durch seine Entscheidungen die Verantwortung für die gewählten Normen trägt. Die Entscheidungen müssen jedoch nicht willkürlich sein, denn die Vernunft ermöglicht dem Menschen eine rationale Analyse, ohne determiniert zu sein. Diese Auffassung wird durch Poppers Bekenntnis zu den Werten der Aufklärung, insbesondere der Idee der Freiheit und der Autonomie des Willens, voll verständlich. Politische Freiheit ist nur möglich, wenn sie durch den Rechtsstaat geschützt wird, wobei Popper den Ansatz, Institutionen zur Vermeidung von Herrschaft zu entwickeln, als das demokratische Prinzip bezeichnet. 4. Der Individualismus bildet den Gegenpol zum Kollektivismus und Holismus. Da alle gesellschaftlichen Phänomene auf Aktionen und Interaktionen von Individuen zurückführbar sein müssen, bedeutet dies, dass an die Stelle einer unveränderlichen Geschichtslogik und eines dem gesellschaftlichen Ganzen den höchsten Stellenwert beimessenden Kollektivismus das bewusste Engagement und die Verantwortung des Einzelnen tritt. Poppers Individualismus betont aber auch die Vernunftbegabung als wichtigste Eigenschaft des Menschen, aus welcher das Band der rationalen Einheit der Menschheit abgeleitet werden kann. 5. Die Stückwerk-Sozialtechnik ist die Alternative zu der holistisch-utopistischen Variante. Die Technik des schrittweisen Umbaus der Gesellschaft erkennt die beschränkte Erkenntnisfähigkeit und den Fallibilismus des Menschen an und setzt daher an die Stelle der ganzheitlichen, revolutionären Umgestaltung der Gesellschaft sukzessive und vorsichtige Veränderungen von gesellschaftlichen Strukturen, bei denen es stets verantwortungsbewusst die möglichen Konsequenzen in Rechnung zu stellen gilt. In Analogie zu Poppers Schema des Wissenswachstums kann die Stückwerk-Sozialtechnik mit der Formel ,zu beseitigendes Übel 1 --> Vorläufige Lösungshypothese --> Übelelimination --> neues Übel 2' beschrieben werden. Nachdem ein systematischer Merkmalskatalog für Geschlossene und Offene Gesellschaften erarbeitet wurde, konnte im zweiten Teil der Arbeit dazu übergegangen werden, Poppers Anmerkung, dass sich eine offene in eine abstrakte Gesellschaft verwandeln kann, genauer zu untersuchen. Seine Aussage impliziert, dass es für ihn nicht nur zwei, sondern drei Gesellschaftstypen gibt und dass die einzelnen Typen die Folge gesellschaftlicher Veränderungsprozesse sind. Im dritten Kapitel wurden daher mit Poppers Modell der Situationsanalyse (Mikroebene) und v. Hayeks evolutionärem Ordnungsansatz (Makroebene) zwei

Zusammenfassung

211

komplementäre Theorien dargestellt, die helfen, gesellschaftliche Wandlungsprozesse zu erklären. Da aus Poppers Perspektive jede menschliche Aktivität als ein Problemlösungsversuch interpretiert werden kann, erklärt sein Modell der Situationsanalyse individuelles Handeln mittels der Rekonstruktion der Problemsituation, in der sich der Handelnde befand. Das bedeutet, dass die in einer Situation vorliegenden individuellen Probleme und Ziele sowie das vorhandene Wissen und die Rahmenbedingungen modelliert werden müssen. Dabei werden scheinbar subjektive, psychologische Faktoren in objektive Situationselemente verwandelt. Situationsgerechtigkeit wird als das Selektionskriterium zwischen verschiedenen Handlungsoptionen in einer Problemsituation erachtet. Das bedeutet, es wird davon ausgegangen, dass sich die betrachtete Person rational verhält, also nicht willkürlich handelt, sondern abwägt und die für sich beste Option wählt. Durch die Beschreibung der Situation mittels objektiver Situationselemente und die Annahme rationalen Se1ektionsverhaltens entwickelt Popper ein Modell, das nach seiner Auffassung gegenüber psychologischen Theorien den großen Vorteil hat, dass es falsifizierbar oder zumindest kritisierbar ist und somit zur Annäherung an die Wahrheit beitragen kann. Er bietet damit einen Lösungsansatz für zwei unterschiedliche Fragestellungen: Erstens die Erklärung individueller Handlungen aus den Situationsbedingungen heraus und zweitens die mögliche Ableitung eines bestimmten sozialen Gesamtresultates aus dem Zusammenwirken einer Vielzahl von Einzelaktivitäten in einer Situation. Als Ergänzung auf der Makroebene diente v. Hayeks evolutionäre Ordnungstheorie. Aus seiner Kritik am konstruktivistischen Rationalismus und an der falschen, antiken Dichotomie zwischen natürlichen und künstlichen Ordnungen heraus entwickelte er sein neues, dreigeteiltes Ordnungstypenschema: 1. Natürliche Ordnungen, welche nicht vom Menschen geplant sind und nicht aus seinen Handlungen hervorgehen. 2. Geplante Ordnungen, welche durch einen Plan oder Entwurf vom Menschen gestaltet werden. 3. Spontane Ordnungen, welche nicht vom Menschen geplant sind, sondern unbeabsichtigt aus seinen intentionalen Handlungen hervorgehen. Für v. Hayek lassen sich soziale Gebilde, wie beispielsweise eine Gesellschaft, als geplante oder als spontane Ordnungen begreifen. Im Gegensatz zu geplanten Ordnungen haben spontane keinen bestimmten Zweck, keine Komplexitätsgrenze, können nicht direkt, sondern nur durch theoretische Rekonstruktion wahrgenommen werden und ihre Koordination beruht nicht auf Befehlen, sondern auf Regeln. Zur Entstehung spontaner Ordnungen müssen die Individuen in Reaktion auf Umwelt- und Problemsituation spezifischen Regeln folgen, welche negativ, allgemeingültig und abstrakt sind. Dabei ist es weder notwendig, dass diese Regeln in artikulierter oder schriftlicher Form vorliegen, noch dass sie den Individuen bewusst sind. Der Schwerpunkt des vierten Kapitelslag im Entwurf meines Modells der Abstrakten Gesellschaft. Dieses dient dazu, die Erklärungslücken zu schließen, welche Poppers lediglich fragmentalen Ausführungen zur Materie der abstrakten Gesellschaft hinterließen. Aus seinen skizzenhaften Ausführungen konnten die fol14*

212

Zusammenfassung

genden seine Vorstellungen reflektierenden Punkte eruiert werden: 1. Mit der Offenen Gesellschaft ist das Ende der gesellschaftlichen Gesamtentwicklung noch nicht erreicht. 2. Durch den Verlust ihres organischen Charakters kann sich eine Offene in eine abstrakte Gesellschaft verwandeln. 3. Auf Grund der Tatsache, dass sich die biologische Struktur des Menschen nicht wesentlich verändert hat, kann die abstrakte Gesellschaft verschiedene soziale Bedürfnisse nicht erfüllen, woraus wiederum schwerwiegende Probleme resultieren können. 4. Die modeme Gesellschaft ist der abstrakten in vieler Hinsicht sehr ähnlich. 5. Dem Phänomen der abstrakten Gesellschaft ist eine große Bedeutung beizumessen. Vor diesem Hintergrund und auf der Grundlage von mir getroffener Annahmen wurde dann mein Modell der Abstrakten Gesellschaft expliziert. Dieses basiert auf einem individualistischen Ansatz und der Integration mehrerer Teilmodelle. Als Basismodell der Makroebene diente das Evolutionsschema ,GG -+ OG -+ AG -+ ?'. Der Übergang von offenen gesellschaftlichen Verhältnissen in abstrakte wird darin als ein gleichzeitig ablaufender Prozess des Auflösens traditioneller Binnengrenzen innerhalb Offener Gesellschaften und des Verschmelzens oder Verwischens von Außengrenzen zwischen verschiedenen Gesellschaften dieses Typs interpretiert. Die Offenen Gesellschaften öffnen sich so weit, dass sie ihre Innen- und Außenstrukturen verlieren und ineinander übergehen. In der Abstrakten Gesellschaft steht das Individuum folglich vor dem Problem, dass es nicht mehr in oder mit einer Gesellschaft lebt, sondern diese ihm als etwas Fremdes gegenübersteht. Um dieses Phänomen aus individualistischer Sicht zu erklären und die Verbindung zur bisher rein gesellschaftsstrukturellen Sicht herzustellen, war die Integration des ahistorischen Modells der Individualisierung notwendig. Dessen Schema ,Freisetzung -+ Stabilitätsverlust -+ Reintegration' verdeutlicht die Problemlage des Individuums sehr gut. Es hat sich auf Grund der Charakteristika einer Offenen Gesellschaft, die insbesondere einen Anstieg an individuellen Handlungsoptionen und materiellem Wohlstand mit sich bringen, aus deren traditionellen Binnenstrukturen und Bindungen gelöst. Dies hat zur Folge, dass die Innen- wie Außengrenzen der Offenen Gesellschaft zu erodieren beginnen. Das bedeutet jedoch nicht, dass alle alten Strukturen vollkommen verschwinden, sondern lediglich, dass der Einzelne sich ihnen nicht mehr zugehörig fühlt. Er hat sich aus ihnen gelöst und kann sie aber, obgleich sie ihm zunehmend fremd werden, noch wahrnehmen. Da der individualisierte Mensch nur noch bruchstückhaft mit den traditionellen Gesellschaftsstrukturen verbunden ist, verliert er die von ihnen gelieferte Sicherheit und sieht sich auf sich alleine gestellt. Um die für ihn entstandene Sicherheitslücke zu schließen, sucht er nach neuen Möglichkeiten der sozialen Einbindung. Solche neuen Sozialstrukturen und Formen der Wiedereingliederung entstehen zwar, können aber in ihren Zusammenhängen nicht ohne weiteres erkannt werden. Bildlich gesprochen steht in einer Abstrakten Gesellschaft das Individuum bei seinem Reintegrationsbestreben zwischen den direkt wahrnehmbaren verbliebenen traditionellen Gesellschaftsstrukturen, aus denen es sich gerade gelöst hat, und den sich neu bildenden Gesellschaftsformen, die es allerdings (noch) nicht identifizieren kann.

Zusammenfassung

213

In Abhängigkeit von seiner individuellen Angepasstheit an eine von Unsicherheit und hoher Komplexität geprägten Gesellschaftssituation stehen dem Einzelnen vier grundsätzliche Optionen zur Reintegration und damit Restabilisierung der eigenen Lebenssituation zur Verfügung. Die erste Möglichkeit ist Egozentrierung, bei der der Einzelne weitestgehend auf Gruppensolidarität verzichtet und sich in seiner Problembewältigung in Konkurrenz zu allen anderen nur auf sich konzentriert. Als weitere Option, um Sicherheit zurückzugewinnen, kann sich das Individuum multikollektivieren. Das heißt, es kann sich gleichzeitig oder temporär mit anderen Individuen zu verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zusammenschließen. Die Möglichkeiten drei und vier sind Formen der Monokollektivierung, und zwar zum einen das Bestreben der Rückkehr in die traditionellen Sozialstrukturen der Offenen Gesellschaft oder zum anderen in die der Geschlossenen Gesellschaft. Aus den vorherigen Ausführungen und dem Modell der individuellen Angepasstheit wurde deutlich, dass für die Wahl der Reintegrationsform im Speziellen und für das menschliche Sozialverhalten im Allgemeinen sowohl die individuellen biologisch-organischen Dispositionen als auch die Fähigkeit zur sozio-kulturellen Anpassung eine entscheidende Rolle spielen. Als Basis für die weiteren Überlegungen wurden vier Grundtypen individueller Angepasstheit gebildet. Interpretiert man die Diskrepanz zwischen der Angepasstheit des Einzelnen und den Anforderungen an ihn, welche sich aus seiner gesellschaftlichen Umwelt ergeben, als Problemsituation, die er zu lösen hat, so kann sozio-kulturelle Adaption als Problemlösungsprozess und somit als Wissensgewinnungs-, also Lernprozess beschrieben werden. Beim Entwurf des Lemkurvenmodells wurde zwischen ,Basiswissen " das zu einem bestimmten Zeitpunkt bereits vorhanden ist, und ,Zusatzwissen " das zur Lösung eines auftretenden Problems erst noch aufgebaut werden muss, sowie zwischen multifunktionalem ,Allgemeinem Wissen' und monofunktionalem ,Speziellem Wissen' unterschieden. Als Determinanten des Verlaufs der Lernprozesse wurden die Höhe und die Zusammensetzung des ,Basiswissens ' sowie die individuelle Lerngeschwindigkeit und Verblassungsrate des Wissens eruiert. Die Überlegungen zu den beiden vorigen Modellen machten eine Modifikation des Modells des situationsgerechten Handelns notwendig. Zum einen wurde berücksichtigt, dass der Mensch sowohl Teil der biologischen als auch der sozio-kulturellen Evolution ist. Ersteres findet seine Abbildung in den spezifischen Persönlichkeitsmerkmalen und dem genetisch verankerten Wissen eines jeden Einzelnen, das zweite schlägt sich in seinem individuellen Zielsystem und seinem Bestand an erlerntem Wissen nieder. Zum anderen wurde bedacht, dass der Mensch auf Grund biologischer Merkmale nicht nur geplant-rational, sondern auch auf dispositiver Basis handelt. Diese Handlungsweise ist um so ausgeprägter, je höher der Problemlösungsdruck ist, unter dem das Individuum steht, welcher wiederum von der individuellen Angepasstheit an die Umwelt abhängt. Zur eigenen Entlastung greift das Individuum in Situationen der fehlenden Anpassung auf genetisch (vor-)disponierte Problemlösungspotentiale zurück und handelt somit funktional-rational. Das bedeutet jedoch nicht, dass die durch den Rückgriff induzierten Handlungen wirk-

214

Zusammenfassung

lich ziel gerichtet sind und automatisch zu einer erfolgreichen Problemlösung führen. Dies gilt vor allem für den Fall, dass eine gegenwärtige Problemsituation stark von der Umweltsituation abweicht, in der ein erfolgreiches Problemlösungspotential durch die Evolution selektiert und genetisch verankert wurde. Betrachtet man in diesem Kontext die jeweilige Situation der vier im Modell der individuellen Angepasstheit abgegrenzten Individuentypen, so ergibt sich folgendes Bild: Individuen des Typs 3 und 4, die bereits durch biologische Disposition auf komplexe Umweltsituationen eingestellt sind, haben einen sehr geringen Problemlösungsdruck, handeln primär geplant-rational, sind reintegrationsorientiert und streben nach Multikollektivierung. Individuen des Typs 2, welche genetisch nicht auf komplexe Sozialstrukturen eingestellt sind, sich aber bereits über Lernprozesse sozio-kulturell angepasst haben, sind einem geringen Problemlösungsdruck ausgesetzt, agieren primär geplant-rational und zielen zum Ausgleich ihres Sicherheitsverlustes zuerst auf temporäre Egozentrierung und dann auf Multi- oder Monokollektivierung. Individuen des Typs 1, die genetisch nur auf einfache Sozialstrukturen disponiert sind und sich noch nicht über Lernprozesse an die neuen, komplexen Bedingungen angepasst haben, unterliegen einem sehr hohen Problemlösungsdruck, handeln häufig funktional-rational, sind zur Sicherung ihres sozialen und ökonomischen Überlebens egozentriert und werden versuchen, falls sie nicht in der Lage sind sich anzupassen, den Weg der Monokollektivierung einzuschlagen. Aus dem oben Gesagten und der Verknüpfung des modifizierten Modells des situationsgerechten Handeins mit der Konzeption spontaner Ordnungen ergaben sich grundlegende Auswirkungen auf das Modell der spontanen Ordnungen. Es konnte gezeigt werden, dass spontane Ordnungen nicht nur das Resultat der nicht intendierten Folgen von geplant-rationalen, absichtsvollen Handlungen unter Befolgung spezifischer sozio-kultureller Regeln sind, sondern auch aus den generellen Konsequenzen von funktional-rationalen Handlungen, die von dispositiven Regeln geleitet werden, hervorgehen. Daraus konnte wiederum abgeleitet werden, dass durch die Folgen der Handlungen aller beschriebenen Individuentypen eine permanente Zunahme spontaner Ordnungen zu erwarten ist. Da es für die Individuen aus Erkenntnis- und Umsetzungsgriinden nicht möglich ist, dieser Entwicklung durch geplante Ordnungen längerfristig wirksam zu begegnen, lässt sich als Ergebnis ein Trend zum kontinuierlichen Wachstum der sozialen Gesamtkomplexität konstatieren. Da nach Poppers Auffassung die moderne Gesellschaft einer abstrakten Gesellschaft in vieler Hinsicht sehr ähnlich ist, beschäftigte sich der dritte Teil der Arbeit mit der Fragestellung, wie verschiedene dort auftretende Phänomene in das Modell der Abstrakten Gesellschaft einzuordnen sind. Im fünften Kapitel wurde zu diesem Zweck die Situation des Individuums in modernen Gesellschaften genauer analysiert. Dabei wurde zuerst auf das Verhältnis zwischen dem Individuum und der Gesellschaft als Ganzes eingegangen. Moderne Gesellschaften weisen eine sehr hohe Heterogenität und Komplexität auf und sind zudem durch eine Erosion traditionel-

Zusammenfassung

215

ler Sozialstrukturen und die damit verbundene Tendenz zur Desintegration geprägt. In der Frage nach der Lösung des Integrationsproblems liegt somit die Schnittstelle zum Modell der Abstrakten Gesellschaft. Daher wurden im nächsten Schritt grundlegende Antworten, die den Sozialwissenschaften zu entnehmen sind, dargestellt. Die vorgeschlagenen Intergrationsmodi moderner Gesellschaften wurden dann mit denen des Modells der Abstrakten Gesellschaft in Verbindung gebracht. Die Individuen stehen dort in Abhängigkeit von ihrer jeweiligen Angepasstheit vor den Optionen Egozentrierung, Mono- und Multikollektivierung. Für die Individuen des Typs 1 kann die Egozentrierung als ein zumindest temporärer Modus der Vergesellschaftung verstanden werden. Gelingt ihnen danach die Anpassung an komplexere Sozialstrukturen nicht, so werden sie über Monokollektivierung nach einer Reintegration auf niedrigerer Komplexitätsstufe streben. Vor allem Geschlossene Gesellschaften warten mit Reintegrationsoptionen auf, die an einfache und direkt wahrnehmbare Merkmale gekoppelt sind. Die im Rahmen der Überlegungen zu modemen Gesellschaften herangezogenen Autoren benennen in diesem Kontext Nationalbewusstsein, politische und kulturelle Integration sowie expressive Gemeinschaft als relevante Integrationskategorien. Offene Gesellschaften müssen auf Grund der ihnen immanenten Charakteristika auf andere Modi zurückgreifen, denn die Vergesellschaftung erfolgt dort mit höherer Komplexität. Ökonomische gekoppelt mit solidarischer oder moralischer Integration ist an dieser Stelle besonders hervorzuheben. Auf Grund der von ihnen bereits erreichten Adaption können Individuen des Typs 2 neben der Egozentrierung und Monokollektivierung auch über Multikollektivierung einen Ausgleich ihres Sicherheitsverlustes erreichen und dadurch ihrer Disposition zur Prosozialität Rechnung tragen. Jenseits der traditionellen Container-Theorie der Gesellschaft haben sie die Fähigkeit, sich simultan und partiell in mehrere Gruppen zu integrieren. Der Einzelne kann sich in verschiedene ortsgebundene Gesellschaften, wie die einer Stadt, einer Region oder eines Landes, und gleichzeitig in nicht notwendigerweise territorial abgegrenzte Gesellschaften, wie Interessens-, Ziel- oder Erfahrungsgemeinschaften, integrieren. Dass ein Individuum aber auch ohne seine physische Präsenz einer Gesellschaft angehören kann, wird insbesondere durch die Existenz von internetbasierten virtuellen Gesellschaften anschaulich. Durch das oben Gesagte wird deutlich, dass an die Stelle der vorher durch Geburt determinierten Zugehörigkeit zu einer Gesellschaft nun die Notwendigkeit des Einzelnen tritt, sich aktiv eine individuelle, integrative Sozialstruktur zu konstruieren, welche aus Komponenten verschiedenster Gesellschaften besteht. Damit werden die starken, vormals weitgehend vorgegebenen sozialen Bindungen zwar nicht vollkommen durch schwächere, auf Freiwilligkeit und Temporalität basierende ersetzt, allerdings um diese ergänzt und damit auch in ihrer Bedeutung relativiert. Insbesondere die Individuentypen 3 und 4, welche bereits auf komplexe Sozialstrukturen eingestellt sind, vermögen diese Aufgabe zu erfüllen.

216

Zusammenfassung

Die zweite Fragestellung des fünften Kapitels beschäftigte sich mit den biographischen Entwicklungsmöglichkeiten der Individuen in modernen Gesellschaften. Es konnte gezeigt werden, dass nach dem 2. Weltkrieg in den westlichen Industriegesellschaften ständisch geprägte, klassenspezifische oder familiale Lebensläufe durch institutionelle Lebenslaufmuster überlagert oder ersetzt wurden. Der einsetzende Individualisierungsprozess führte dazu, dass sich die Individuen aus traditionellen Gesellschaftsstrukturen lösen konnten, was für sie einen Sicherheitsverlust zur Folge hatte, der über geplante Ordnungen in Form von am Arbeitsmarkt orientierten, wohlfahrtsstaatlichen Systemen ausgeglichen werden konnte. Normalbiographien waren die Folge dieser Entwicklung. Mittlerweile hat sich die Situation allerdings gewandelt, denn die aus erkenntnistheoretischen Gründen beschränkte Gestaltungskraft staatlich geplanter Ordnungen ist nicht mehr in der Lage, die aus den Folgen individueller Erwerbshandlungen resultierenden spontanen Ordnungen in einer intendierten Art und Weise zu strukturieren. Da das Ausmaß der Einbindung in die Erwerbstätigkeit in modernen Gesellschaften nach wie vor der dominierende Bezugspunkt ist, an dem die meisten Menschen ihre Lebenslaufplanung ausrichten, ist eine Tendenz zur De-Institutionalisierung zu verzeichnen. Aus der Perspektive des Individuums lässt sich dieser Prozess als Zunahme von Unsicherheit und als ein gesteigertes Maß an sozialer Komplexität beschreiben, was ein Spiegelbild der Situation des Einzelnen in der Abstrakten Gesellschaft ist. Ein Abriss der klassischen Außenhandelstheorie machte deutlich, dass die Individuen durch die Globalisierung nicht gezwungen werden, ihr Leben rein ökonomisch orientiert auszurichten. Sie beeinflusst zwar die sozialen Rahmenbedingungen, unter denen die Individuen ihre Lebensverlaufsentscheidungen treffen, determiniert diese allerdings nicht. Das bedeutet, dass somit die Lebensläufe der Individuen in modernen Gesellschaften nicht durch die Globalisierung festgelegt, sondern allenfalls durch die aus ihr resultierenden volkswirtschaftlichen Erwerbsund Wohlfahrtseffekte geprägt sind. Aus der zumindest partiellen Auflösung der bisher institutionalisierten Verlaufsmuster des Lebens folgt eine Biographisierung der Lebensführung, das heißt die Möglichkeit und Notwendigkeit einer eigenständigen biographischen Orientierung. Das Leben wird sozial vielfältig und unbestimmt, denn vorher gesellschaftsstrukturell vorgegebene Biographien werden in selbst herzustellende transformiert. Das bedeutet, dass sich die Individuen nicht mehr über ihre Zugehörigkeit zu einer spezifischen sozialen Gruppe oder eine standardisierte Biographie, sondern über ein eigenständiges Lebensprogramm und eine entsprechend eigenverantwortliche Lebensgestaltung konstituieren. Für an komplexe Situationen angepasste Menschen (Individuentyp 2 bis 4) wird dadurch die Normal- zur Wahlbiographie, für nichtangepasste Individuen (Typ 1) allerdings zur Bastelbiographie. Überlegungen zum Wertewandel als ein tiefgreifendes soziales Phänomen, von dem mehr oder minder alle modernen Gesellschaften betroffen sind, beschlossen

Zusammenfassung

217

das fünfte Kapitel. Die klassische Studie, welche die Diskussion um die Veränderung von Werten entscheidend geprägt hat, stammt von Ronald Inglehart, der in den siebziger Jahren erstmals sein Modell des Wertewandels in modemen westlichen Gesellschaften vorlegte. Demnach vollzieht sich in modemen Gesellschaften eine stille Revolution, in der langsam, aber kontinuierlich materialistische durch postmaterialistische Werte abgelöst werden. Diese Aussage blieb nicht lange unwidersprochen. Die interne Kritik an Ingleharts Theorie bezog sich vor allem auf ein fundamentales Konsistenzproblem, das sich bei der Verbindung der in ihr enthaltenen Mangel- und Sozialisationshypothese ergibt. Für heftigen Widerspruch sorgte aber auch die weitgehend unreflektierte Wiedergabe der Maslowschen Bedürfnishierarchie, die Eindimensionalität des Modells sowie die angewandten Messverfahren und die gewählten Testitems. Der andere Teil der Kritiker baut auf eigene, konkurrierende Modelle und verlässt sich auf alternativ erhobene empirische Daten. Wilhelm Bürklin, Markus Klein und Achim Ruß leiten aus ihrem Modell des anthropozentrischen Wertewandels die Kemthese ab, dass das Charakteristische des Wertewandels in modemen Gesellschaften nicht in der abnehmenden Bedeutung materieller Prioritäten, sondern im Verfall gemeinschaJtsbezogener Werte gesehen werden muss. Für sie ist der Wertewandel nicht mehr länger als postmateriell, sondern als postkollektiv zu interpretieren. Die von ihnen vorgetragenen Befunde stehen im Einklang mit dem Modell der Abstrakten Gesellschaft. Ihre Auffassung, dass sich Werte sowohl generational, lebenszyklisch als auch periodisch verändern, ist sowohl mit dem Modell der individuellen Angepasstheit als auch mit dem des Lernens kompatibel. Zudem stützt die Diagnose des Wandels von gemeinschaftlichen zu individualistischen Werten die These der Egozentrierung. Dass gemeinschaftliche Werte nicht hoch im Kurs stehen, kann noch mit einem weiteren Phänomen der Abstrakten Gesellschaft in Verbindung gebracht werden. Wenn die neuen Gesellschaftsformen sich primär spontan bilden und somit von vielen Individuen nicht direkt erkannt werden, tritt das fundamentale Problem auf, dass die gemeinschaftlichen Werte mit keinen korrespondierenden realen sozialen Phänomen in Verbindung gebracht werden können und dadurch für die Individuen an Bedeutung verlieren. Auch der Soziologe Helmut Klages ist ein vehementer Kritiker der Postmaterialismus-Theorie. Für ihn ist der betrachtete Wertewande1 durch die Formel ,Von Pflicht- und Akzeptanz- zu SelbstentJaltungswerten' gekennzeichnet. Dieser stellt weder einen eindimensionalen noch einen ununterbrochenen Veränderungsprozess, der von der Vergangenheit über die Gegenwart geradewegs in die Zukunft hineinführt, dar. Verschiedene Wertdimensionen können, müssen aber keinen Gegensatz darstellen, so dass sich Wertewandel durchaus nicht nur als Wertesubstitution, sondern auch als Wertesynthese vollziehen kann. Interpretiert man auf der Mikroebene die jeweilige Wertorientierung der einzelnen Personen als deren individuelle Angepasstheit und den von ihnen vollzogenen Wertewande1 als das Ergebnis von Lernprozessen, so können die von Klages ermittelten Wertetypen ,Idealisten', ,Konventionalisten', ,HedoMats', ,Resignierte' und ,Realisten' mit den Individuentypen im

218

Zusammenfassung

Modell der Abstrakten Gesellschaft in Einklang gebracht werden. In diesem Sinne repräsentieren die genannten Wertetypen unterschiedliche Formen und Grade der Anpassung an die gegenwärtige Situation in der modemen Gesellschaft. Im sechsten Kapitel wurden zwei Problemfelder moderner Gesellschaften genauer beleuchtet, die aus der Tatsache resultieren, dass sich die biologische Grundstruktur des Menschen trotz seiner sozio-kulturellen Entwicklung nicht grundlegend verändert hat. Überlegungen zum Orientierungsverlust und zu der damit verbundenen Identitätssuche der Individuen bildeten den Anfang der Betrachtung. Um mögliche Ursachen für diesen Sachverhalt zu ermitteln, wurden zuerst klassische Ansätze der Identitätsforschung analysiert. Dabei konnte gezeigt werden, dass ein Individuum bei der Bestimmung seiner Identität auf eine von der Außenwelt vorgenommene Verortung angewiesen ist. Dies bedeutet, dass sich dem Untersuchungsgegenstand nicht nur aus psychologischer, sondern auch aus sozialwissenschaftlicher Perspektive genähert werden kann. Da sich hinter dem Identitätsbegriff in seiner allgemeinsten Form die Beantwortung der Frage ,Wer bin ich?' verbirgt, kann Identität auch als das Wissen eines Individuums über seine eigene Person interpretiert werden. Dieses ist einem Individuum nicht apriori gegeben, sondern wird von ihm erst in probleminduzierten Lernprozessen entwickelt. Es kann in Ich-bezogene Komponenten, die das Wissen über die spezifischen Charakteristika der eigenen Person repräsentieren und damit die .Ich-Identität konstituieren, und in Wir-bezogene Komponenten, welche das Wissen einer Person über ihre Gemeinsamkeit mit und ihre Zugehörigkeit zu bestimmten Kollektiven beinhalten und damit ihre kollektive Identität hervorbringen, differenziert werden. Ordnet man dieses Wissen in das Modell der individuellen Angepasstheit ein, so stellt es einen Bestandteil der sozio-kulturellen Adaption eines Individuums dar. Fundamentale Schwierigkeiten treten für ein Individuum folglich dann auf, wenn ihm in Abhängigkeit von seiner sozialen Umwelt bestimmte Wissenskomponenten bezüglich der eigenen Person fehlen und es die zur Schließung dieser Lücke notwendigen Lernprozesse in quantitativer, qualitativer oder zeitlicher Hinsicht nicht vollziehen kann. Die elementaren Identitätsmerkmale eines Menschen, welche sich gegenüber anderen dadurch auszeichnen, dass sie nicht frei gewählt werden können und dadurch als natürlich erscheinen, sind seine Abstammung, sein Alter und sein Geschlecht. Auffällig ist, dass diese Merkmale gleichzeitig die individuelle Person definieren und Gemeinschaften abgrenzen. Identität ist weder als reine Ich- noch als reine kollektive Identität möglich, sondern bedarf immer der Ausprägung beider Komponenten. In den Sozialwissenschaften wird davon ausgegangen, dass in modemen Gesellschaften kollektive Identität nicht nur auf natürlichen Gegebenheiten basiert, sondern auch von den Individuen bewusst und geplant hervorgebracht wird. Nach einem Vergleich zwischen den Grundbedingungen der Identitätsentwicklung in archaischen und in modemen Gesellschaften wurde die Diagnose, dass das Leben der Menschen in modemen Gesellschaften durch zunehmenden Orientierungs ver-

Zusammenfassung

219

lust gekennzeichnet ist, in den bisherigen Erklärungsrahmen und das Modell der Abstrakten Gesellschaft eingeordnet. Dort stehen die Individuen nach ihrer Freisetzung aus einfachen traditionellen Gesellschaftsstrukturen vor dem Problem, dass sie in Abhängigkeit von ihrer individuellen Angepasstheit einen Sicherheitsverlust erlitten haben und daher zu dessen Ausgleich nach Wiedereingliederung streben, aber auf Grund der deutlich gestiegenen Gesamtkomplexität die sich neu und teilweise spontan bildenden Integrationsoptionen nicht ohne weiteres erkennen können. Aus dieser Perspektive verfügen die Individuen im Hinblick auf ihre Identität über ein bestimmtes Ichbezogenes und ein spezifisches, durch traditionelle Kollektive vermitteltes Wir-bezogenes Wissen. Um sich den nunmehr veränderten Bedingungen anzupassen, sind sie gezwungen eine neue /ch- Wir- Wissensbalance herzustellen und insbesondere neues Wir-bezogenes Wissen aufzubauen. Dies bereitet im Rahmen der Multikollektivierung die größten Schwierigkeiten, so dass das Wissen der Individuen um die Eigenschaften und Merkmale der verschiedenen Kollektive zunehmend fragmental wird und sogenannte Patchwork-Identitäten entstehen können. Menschen, die nicht in der Lage sind, multikollektives Wissen aufzubauen, können mit Egozentrierung reagieren. Dies trifft insbesondere auf Individuen des Typs 1 zu. Ein Rückzug auf die Ich-Komponente der Identität ist jedoch nur eine kurzfristige Lösung, da die Entwicklung der Gesamtidentität einer Person auch der Wir-Komponente bedarf. Mittelfristig sind die Individuen somit gezwungen Lernprozesse zu initiieren, die es ihnen ermöglichen, mit der gesteigerten Umweltkomplexität zurechtzukommen. Scheitern sie bei diesem Vorhaben, können Identitätskrisen (als weitgehender Verlust der kollektiven Identität) die Folge sein und es beginnt die Suche nach Wir-bezogenem Wissen auf monokollektiver und weniger komplexer Ebene. Da der Mensch offensichtlich ein Bedürfnis nach unverrückbaren Fundamenten für sein Leben hat, geht in dieser Situation vom Gedankengut Geschlossener Gesellschaften eine besonders große Anziehungskraft aus. Vor diesem Hintergrund erwachsen berechtigte Zweifel, ob abstrakte Ideen (wie die der Vernunft, Freiheit, Gleichheit oder Rechtstaatlichkeit) überhaupt für sich alleine primäre Quellen kollektiver Identität sein können oder ob diese, um erfolgreich zu sein, nicht vorher mit einem notwendigen biologischen Fundament untermauert werden müssen. Das zweite Problemfeld mit der Überschrift ,Gesellschaftliche Entwicklung ohne Fortschritt' beschäftigte sich mit dem Sachverhalt, dass der Wandlungsprozess von Geschlossener über Offene hin zur Abstrakten Gesellschaft nicht als eine apriori gerichtete Höherentwicklung aufgefasst werden kann und daher nicht zum Fortschrittsverständnis vieler Menschen in modemen Gesellschaften passt. Fortschritt ist ein zentraler, vielfach verwendeter und die Geschichte moderner Gesellschaften kennzeichnender Begriff. In ihm spiegelt sich die Überzeugung wider, dass diese der vorläufige Abschluss einer trotz vieler Widrigkeiten und Rückschläge vollzogenen, stetigen biologischen und sozio-kulturellen Höherentwicklung ist.

220

Zusammenfassung

Die Ursprünge des modernen Fortschrittsglaubens reichen bis in die Antike zurück, wobei dem Fortschrittsbegriff erst seit der Ausbreitung des Juden- und Christentums der Glaube an einen göttlichen Schöpfer, eine vorherbestimmte Ordnung, einen transzendentalen Sinn und die Endlichkeit, Linearität und Gerichtetheit des menschlichen Lebens innewohnt. Mit Anbruch der Neuzeit bekam das Fortschrittsverständnis eine neue Qualität und während der Aufklärung wurde der Fortschrittsgedanke um das Prinzip der Vervollkommnung ergänzt. Da das Vervollkommnungsprinzip eines Maßstabs bedurfte, bildete sich im Laufe des 18. Jahrhunderts das Modell der Stufenleiter heraus. Dieses kumuliert die Vorstellung eines kontinuierlichen, schrittweisen, linearen und gerichteten Aufstiegs des Lebens, an dessen Spitze der Mensch steht, und die Idee der Vervollkommnung, die ihr Spiegelbild im steigenden Komplexitätsgrad der Organismen findet. Die exorbitante Zunahme wissenschaftlicher Erkenntnisse und deren technisch-industrielle und wirtschaftliche Verwertung führten dazu, dass in allen davon partizipierenden Gesellschaften seit dem 19. Jahrhundert bis in die heutigen Tage hinein ein breiter Fortschrittsglaube entstand. Offensichtlich fällt es vielen Menschen schwer, die Evolution, und damit auch die individuelle und gesellschaftliche menschliche Entwicklung, als einen Vorgang zu begreifen, der ohne Fortschritt abläuft. In der Evolution kommt es nicht darauf an, dass Organismen sich zielgerichtet höher entwickeln, sondern dass sie Lösungen für ihre wie auch immer gearteten Lebens- und Überlebensprobleme finden. Ein Rückblick auf die bedeutendsten Evolutionstheorien verdeutlichte, dass die Evolution kein apriori gerichteter, linearer, teleologischer Fortschrittsprozess der suzessiven Höherentwicklung mit dem Ziel der Vervollkommnung ist, sondern ungerichtet, mehrdimensional, netzwerkartig und nach dem mechanistischen Prinzip der zufälligen Variation und anschließenden Selektion abläuft, ohne dass es dazu eines Planers oder Schöpfers bedürfte. Obgleich die kulturelle Evolution in einem gewissen Sinne von der biologischen abgehoben ist, bleibt sie dennoch untrennbar mit ihr verbunden, denn das informations- und kulturproduzierende Organ, das seit 40000 Jahre nahezu unveränderte menschliche Gehirn, ist selbst ein Resultat der organischen Evolution. Die organische und die kulturelle Evolution stellen keine getrennten und voneinander autonomen Evolutionstypen dar, sondern befinden sich in wechselseitiger Abhängigkeit und sind somit die Bestandteile eines koevolutionären Prozesses der menschlichen Entwicklung. Vor diesem Hintergrund wird klar, welch große Bedeutung dem Sachverhalt zukommt, dass der Mensch auf Grund seiner Entwicklungsgeschichte, die sich vorwiegend in Stammes- und Kleinstgesellschaften abspielte, noch archaische Strukturen in sich trägt, die sein heutiges Verhalten in modernen Großgesellschaften beeinflussen. Folglich kann die mangelnde Berücksichtigung sozio-biologischer Aspekte bei konsequenter Anwendung des Offenheitsprinzips zu fundamentalen gesellschaftsstrukturellen Destabilisierungserscheinungen führen. Da der Mensch, genau wie

Zusammenfassung

221

alle anderen Lebewesen, ein Resultat der Evolution ist, ist es auch nahe liegend, seine Sozialstrukturen und die vielfältigen Phänomene der Daseinsbewältigung vor dem Hintergrund biologischer Funktionalität zu untersuchen. Erkennt man die Individuen und deren Gene als die formende Kraft der Evolution an, so kann es unter ihnen nur zur Gruppenbildung kommen, wenn bei kooperativem, nepotistisch altruistischem oder reziprok altruistischem Verhalten die Kosten / Nutzen-Bilanz aller Mitglieder positiv ist. Hierbei beeinflussen die Höhe des Verwandtschaftsgrades, das Alter der Individuen und die räumliche Nähe, die Solidarität und somit die Gruppenstablität entscheidend. Hier schloss sich der Kreis zum modemen Identitätsproblem, denn dort gelten neben dem Geschlecht die Abstammung und das Alter als die elementaren Identitätsmerkmale eines Individuums. Diese Merkmale definieren die Ich-Identität einer Person, schließen gleiche Merkmalsträger ein und grenzen gleichzeitig alle anderen ab. Zudem ist der Bezug auf ein Gebiet sowohl ein wesentlicher und notwendiger Bestandteil der Bildung der kollektiven Identität eines Menschen als auch für die Entstehung und Aufrechterhaltung von Kooperationen und Altruismus. Eine auf diese Weise entstandene Gruppenstabilität wirkt wiederum positiv auf das reziprok altruistische Verhalten der Individuen zurück, denn diese werden ein solches nur zeigen, wenn sie davon ausgehen können, dass der gegenwärtige Nutznießer auch später noch Teil der Gruppe ist und sich dann durch eine in der Zukunft liegende Gegenleistung erkenntlich zeigt. Damit eine Gesellschaft auf Dauer Bestand hat, ist es folglich unentbehrlich, bei geplanten sozialen Ordnungen diese stabilisierenden Faktoren entsprechend zu berücksichtigen. Dies ist in modemen Gesellschaften insbesondere dann notwendig, wenn (spontane) funktional-ökonomische Bindungen nachlassen, Wertepluralismus und die damit verbundene Wertekonflikte zum Normalzustand werden und gemeinsame Erfahrungen durch stark variierende Biographieverläufe verschwinden, da ansonsten die Gefahr besteht, dass Feindbilder und Gewalt an integrativer Bedeutung gewinnen.

Literaturverzeichnis Abels, Heinz: Interaktion, Identität, Präsentation, Opladen 1998. Acton, H. B.: Negative Utilitarianism I, Aristotelian Society Supplementary 1963, S. 83 -94. Adomo, Theodor W.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied 1969. Agassi, Joseph: Science and Society, Dordrecht 1981.

- Scientific philosophy today, Dordrecht 1982. - Rationality, Dordrecht 1986. - An introduction to philosophy, Delmar 1990. - A philosopher's apprentice, Amsterdam 1993. Albert, Hans: Der kritische Rationalismus Karl Raimund Poppers, Archiv für Rechts- und Soziaphilosophie 1960, S. 391-415.

- (Hrsg.): Theorie und Realität, Tübingen 1964. - Plädoyer für kritischen Rationalismus, München 1971. - Konstruktion und Kritik, 2. Aufl. Hamburg 1975. - Kritische Vernunft und menschliche Praxis, Stuttgart 1984. - (Hrsg.): Ökonomisches Denken und soziale Ordnung, Tübingen 1984. - Freiheit und Ordnung, Tübingen 1986. - Kritischer Rationalismus, in: Seiffert, Helmut/Radnitzky, Gerhard (Hrsg.): Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, München 1989, S. 177 -182. - Erkenntnis und soziale Ordnung, in: Leser, Norbert/Seifert, JoseflPlitzner, Klaus (Hrsg.): Die Gedankenwelt Sir Karl Poppers, Heidelberg 1991, S. 204-229. - Traktat über kritische Vernunft, 5. Aufl. Tübingen 1991. - Karl Popper (1902-1994), Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 1995, S. 207225. - Kritischer Rationalismus, Tübingen 2000. Albert, Hans / Salamun, Kurt (Hrsg.): Mensch und Gesellschaft aus der Sicht des Kritischen Rationalismus, Amsterdam 1993. Albert, Mathias: Territorium und Identität, Österreichische Zeitschrift für Politikwissenschaft 1999, S. 255-268. Albertz, Jörg (Hrsg.): Evolution und Evolutionsstrategien in Biologie, Technik und Gesellschaft, 2. Aufl. Hofheim 1990. Albrecht, Reinhardt: Sozialtechnologie und ganzheitliche Sozialphilosophie, Bonn 1973.

Literaturverzeichnis

223

Albrow, Martin: Abschied vom Nationalstaat, Frankfurt a. M. 1998. Alt, Jürgen August: Die Frühschriften Poppers, Frankfurt a. M. 1982.

- Karl R Popper, Frankfurt a. M. 1992. Altner; Günter (Hrsg.): Kreatur Mensch, München 1969.

- (Hrsg.): Die Welt als offenes System, Frankfurt a. M. 1986. Amann, Anton: Soziologie, Wien 1986. Andersson, Gunnar I Radnitzky, Gerard I Popper, Karl R: Falsifizierbarkeit, in: Seiffert, Helmut/Radnitzky, Gerhard (Hrsg.): Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, München 1989, S.80-82. Austeda, Franz: Lexikon der Philosophie, 6. Auf!. Wien 1989. Axelrod, Robert: Die Evolution der Kooperation, 5. Auf!. München 2000. Bacher, Johann: Eindimensionalität der Postmaterialismus-Materialismusskala von Inglehart - Ein Methodenartefakt?, in: Kreutz, Henrik (Hrsg.): Pragmatische Soziologie, Opladen 1988, S. 215-219. Bachrach, Peter: Die Theorie demokratischer Elitenherrschaft, Frankfurt a. M. 1967. Baecker, Roland: Fortschrittseuphorie, Sinnverfinsterung und die Wiederentdeckung des Natürlichen, Oldenburg 1988. Ballestrem, Karl: Vertragstheoretische Ansätze in der politischen Philosophie, Zeitschrift für Politik 1983, S. 1-17. Ballestrem, Karll Ottmann, Henning (Hrsg.): Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts, München 1990. Bannert, Herbert: Weltbild, in: Kroll, Wilhelm/Mittelhaus, Karl (Hrsg.): Paulys Realencyclopädie der classichen Altertumswissenschaft Supplement XV, München 1978, S. 15571583. Baran, Pavel: Werte, in: Sandkühler, Hans Jörg (Hrsg.): Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 4, Hamburg 1990, S. 805 -815. Barash, David P.: Soziobiologie und Verhalten, Berlin 1980. Barkhaus, Annette I Mayer, Matthias I Roughley, Neill Thümau, Donatus (Hrsg.): Identität, Leiblichkeit, Normativität, Frankfurt a. M. 1996. Barloewen, Constantin v. : Der Mensch im Cyberspace, München 1998. Bartley, William Warren: Flucht ins Engagement, Tübingen 1987. Baruzzi, Arno: Einführung in die politische Philosophie der Neuzeit, Darmstadt 1983. Baum, Wilhelm I Gonzalez, Kay E.: Karl R Popper, Berlin 1994. Bauman, Zygmunt: Soil, blood and identity, The Sociological Review 1992, S. 675 - 701.

- Modeme und Ambivalenz, Frankfurt a. M. 1995. - Flaneure, Spieler und Touristen, Hamburg 1997. - Unbehagen in der Postmoderne, Hamburg 1999.

224

Literaturverzeichnis

Baul'TUlnn, Bernd: Offene Gesellschaft, Marktprozeß und Staatsaufgaben, Baden-Baden 1993. Baur, Ernst: Johann Gottfried Herder, Stuttgart 1960. Beck, Ulrich: Jenseits von Stand und Klasse?, in: Kreckel, Reinhard (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983, S. 35 - 74.

- Risikogesellschaft, Frankfurt a. M. 1986. - Die Erfindung des Politischen, Frankfurt a. M. 1993. - Jenseits von Stand und Klasse?, in: ders./Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hrsg.): Riskante Freiheiten, Frankfurt a. M. 1994, S. 43 -61. - Die "Individualisierungsdebatte", in: Schäfers, Bernhard (Hrsg.): Soziologie in Deutschland, Opladen 1995, S. 185 - 198. - Was hält modeme, individualisierte Gesellschaften zusammen?, in: Voß, Günter/Pongratz, Hans J. (Hrsg.): Subjektorientierte Soziologie, Opladen 1997, S. 223 - 241. - (Hrsg.): Perspektiven der Weltgesellschaft, Frankfurt a. M. 1998. - Was ist Globalisierung?, 4. Aufl. Frankfurt a. M. 1998. Beck, Ulrichl Beck-Gemsheim, Elisabeth: Individualisierung in modemen Gesellschaften Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie, in: dies. (Hrsg.): Riskante Freiheiten, Frankfurt a. M. 1994, S. 10-39.

- (Hrsg.): Riskante Freiheiten, Frankfurt a. M. 1994. Beck, Ulrich I Giddens, Anthony I Lash, Scott: Reflexive Modernisierung, Frankfurt a. M. 1996. Beck, Ulrichl Sopp, Peter: Individualisierung und Integration - Versuch einer Problemskizze, in: dies. (Hrsg.): Individualisierung und Integration, Opladen 1997, S. 9-19.

- (Hrsg.): Individualisierung und Integration, Opladen 1997. Becker, Barbaral Paetau, Michael (Hrsg.): Virtualisierung des Sozialen, Frankfurt a. M. 1997. Becker, Gary S.: Der ökonomische Ansatz zur Erklärung menschlichen Verhaltens, Tübingen 1982. Becker, Wemer: Kritischer Rationalismus oder Kritizismus, in: Salamun, Kurt (Hrsg.): Karl R. Popper und die Philosophie des Kritischen Rationalismus, Amsterdam 1989, S. 203220. Behrens, JohannI Voges, Wolfgang (Hrsg.): Kritische Übergänge, Frankfurt a. M. 1996. Beisheim, MariannelDreher, SabinelWalter, GregorlZangl, Bernhard I Züm, Michael: Im Zeitalter der Globalisierung?, Baden-Baden 1999. Bell, Daniel: Die Zukunft der westlichen Welt, Frankfurt a. M. 1976.

- Die nachindustrielle Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1985. Bellebaum, Alfred: Soziologische Grundbegriffe, 13. Aufl. Stuttgart 2001. Berding, Helmut (Hrsg.): Nationales Bewußtsein und kollektive Identität, Frankfurt a. M. 1994.

Literaturverzeichnis

225

Berger, Johannes (Hrsg.): Die Modeme - Kontinuitäten und Zäsuren, Göttingen 1986. Berger, Peter A.: Mobilität, Verlaufsvielfalt und Individualisierung, in: ders. ISopp, Peter (Hrsg.): Sozialstruktur und Lebenslauf, Opladen 1995, S. 65 - 83.

- Individualisierung, Opladen 1996. - Individualisierung und sozialstrukturelle Dynamik, in: Beck, Ulrichl Sopp, Peter (Hrsg.): Individualisierung und Integration, Opladen 1997, S. 81-95 . Berger, Peter A. I Hradil, Stefan (Hrsg.): Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile, Göttingen 1990. Berger, Peter A.I Sopp, Peter (Hrsg.): Sozialstruktur und Lebenslauf, Opladen 1995. Berger, Peter L. I Luckmann, Thomas: The Social Construction of Reality, New York 1967.

- Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt a. M. 1969. Bergner, Dieter I Mocek, Reinhard: Gesellschaftstheorien, Berlin 1986. Berkson, William I Wettersten, John R.: Lernen aus dem Irrtum, Hamburg 1982. Bemays, Paul: Concerning Rationality, in: Schilpp, Paul Arthur (Hrsg.): The philosophy of Karl Popper 1, La Salle 1974, S. 597 -605. Bevers, Antonius M.: Identität, in: Reinhold, Gerd (Hrsg.): Soziologie-Lexikon, München 1991, S. 276-279. BeYfuß, Jörg I Fuest, Winfried I Grömling, Michael I Klös, Hans-Peter I Kraker, Rolf I Lichtblau, Karl! Weber, Alexander: Globalisierung im Spiegel von Theorie und Empirie, Köln 1997. Bickenbach, Frank I Soltwedel, Rüdiger: Ethik und wirtschaftliches Handeln in der modemen Gesellschaft, Kiel 1996. Blumer, Herbert: Symbolic Interactionism, Englewood Cliffs 1969. Boettcher, Erikl Herder-Domeich, Philippl Schenk, Karl-Ernst (Hrsg.): Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, Bd. 2, Tübingen 1983. Bohm, David: Die implizite Ordnung, München 1985. Bohn, Cornelial Hahn, Alois: Selbstbeschreibung und Selbstthematisierung: Facetten der Identität in der modemen Gesellschaft, in: Willems, HerbertIHahn, Alois (Hrsg.): Identität und Modeme, Frankfurt a. M. 1999, S. 33 -61. Bohnen, Alfred: Individualismus und Gesellschaftstheorie, Tübingen 1975. Bohnen, Alfredl Musgrave, Alan (Hrsg.): Wege der Vernunft, Tübingen 1991. Borchert, Manfred: Außenwirtschaftslehre, 6. Aufl. Wiesbaden 1999. Bom, Claudial Krüger, Helga (Hrsg.): Individualisierung und Verflechtung, Weinheim 2001. Bomschier, Volker: Westliche Gesellschaft - Aufbau und Wandel, Zürich 1998. Bossle, Lothar I Radnitzky, Gerhard (Hrsg.): Die Selbstgefährdung der Offenen Gesellschaft, Würzburg 1982. Boudon, Raymond: Widerspriiche sozialen Handeins, Darmstadt 1979.

- Die Logik gesellschaftlichen Handeins, Neuwied 1980. 15 Tiefel

226

Literaturverzeichnis

Bouillon, Hardy: Ordnung, Evolution und Erkenntnis, Berlin 1991.

- Politische Philosophie im Rahmen einer offenen Gesellschaft, in: Salarnun, Kurt (Hrsg.): Moral und Politik aus Sicht des Kritischen Rationalismus, Amsterdam 1991, S. 141-160. Bouillon, Hardy I Andersson, Gunnar (Hrsg.): Wissenschaftstheorie und Wissenschaften, Berlin 1991. Brähler, Elmar I Richter, Horst-Eberhard: Die Deutschen am Vorabend der Wende - Wie hatten sie sich seit 1975 verändert?, in: Brähler, Elmar/Wirth, Hans-Jürgen (Hrsg.): Entsolidarisierung, Gießen 2000, S. 9-20. Brähler, Elmar I Wirth, Hans-Jürgen (Hrsg.): Entsolidarisierung, Gießen 2000. Braun, Eberhard I Heine, Felix I Opolka, Uwe: Politische Philosophie, Reinbek 1984. Brinkmann, Klaus: Politische Philosophie, Stuttgart 1995. Brock, Ditmar: Der schwierige Weg in die Moderne, Frankfurt a. M. 1991. Broll, Udol Gilroy, Bernhard: Außenwirtschaftstheorie, München 1989. Brose, Hanns-Georgl Hildenbrand, Bruno (Hrsg.): Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende, Opladen 1988. Brose, Hanns-Georgl Wohlrab-Sahr, Monikal Corsten, Michael: Soziale Zeit und Biographie, Opladen 1993. Brunnhuber, Stefan: Die Ordnung der Freiheit, Opladen 1999. Brunschwig, Jacques I Lloyd, Geoffrey (Hrsg.): Das Wissen der Griechen, München 2000. Buchmann, Marlis: Die Dynamik von Standardisierung und Individualisierung im Lebenslauf, in: Weymann, Ansgar (Hrsg.): Handlungsspielräume, Stuttgart 1989, S. 90-104. Buchmann, Marlis I Sacchi, Stefan: Zur Differenzierung von Berufsverläufen, in: Berger, Peter A.I Sopp, Peter (Hrsg.): Sozialstruktur und Lebenslauf, Opladen 1995, S. 49-63. Bühl, Achim: CyberSociety, Köln 1996.

- Die virtuelle Gesellschaft, Opaden 1997. Bürklin, Wilhelm I Klein, Markus I Ruß, Achim: Dimensionen des Wertewandels, Politische Vierteljahresschrift 1994, S. 579-606.

- Postrnaterieller oder anthropozentrischer Wandel?, Politische Vierteljahresschrift 1996, S.517-536. Büschges, Günter: Gesellschaft, in: Endruweit, Günter/Trommsdorff, Gise1a (Hrsg.): Wörterbuch der Soziolgie, Bd. 1, Stuttgart 1989, S. 245 -252. Bunge, Mario Augusto (Hrsg.): The Critical Approach to Science and Philosophy, London 1964. Burck, Erich (Hrsg.): Die Idee des Fortschritts, München 1963. Burgen, Amold I McLaughlin, Peter I Mittelstraß, Jürgen (Hrsg.): The Idea of Progress, Berlin 1997. Burkard, Franz-Bernard I Prechtl, Peter: Institution, in: Prechtl, Peter I Burkard, Franz-Peter: Metzler Philosophie Lexikon, 2. Auf!. Stuttgart 1999, S. 262.

Literaturverzeichnis

227

Burkart, Günter: Eine Gesellschaft von nicht-autonomen biographischen Bastlerinnen und Bastlern?, Zeitschrift für Soziologie 1993, S. 188-191. Burke, T. E.: The philosophy of Karl Popper, Manchester 1983. Campbell. Bernard G.: Entwicklung zum Menschen, 2. Auf!. Stuttgart 1979. Clever, Peter: Die Konzeption des Kritischen Rationalismus, Hagen 1990. Cooley, Charles H.: Human nature and the social order, New York 1902. Comforth, Maurice: The open philosophy and the Open Society, New York 1968. D'Agostino, Fredl Jarvie, Ian C. (Hrsg.): Freedom and Rationality, Dordrecht 1989. Dahms, Hans-Joachim: Philosophie Wissenschaft Aufklärung, Berlin 1985. Dahrendorf, Ralf: Pfade aus Utopia, in: Albert, Hans (Hrsg.): Theorie und Realität, Tübingen 1964, S. 331-350.

- Gesellschaft und Demokratie in Deutschland, 3. Auf!. München 1974. - Die offene Gesellschaft und ihre Ängste, Universitas 1991, S. 170-177. - Liberale und andere, Stuttgart 1994. Danilowa, L. N.: Zur Theorie der "offenen Gesellschaft", Ost-Berlin 1968. Darwin, Charles: Die Entstehung der Arten durch natürliche Zuchtwahl, Stuttgart 1993. Dawkins, Richard: Das egoistische Gen, Heidelberg 1994. Diamond, Arthur M.: Hayek on Constructivism and Ethics, The Journal of Libertarian Studies 1980, S. 353-365. Dicken, Peterl Lloyd, Peter E.: Die modeme westliche Gesellschaft, New York 1984. Dingler, Hugo: Philosophie der Logik und Arithmetik, München 1931. Dobzhansky, Theodosius: Die Entwicklung zum Menschen, Hamburg 1958.

- Dynamik der menschlichen Evolution, Frankfurt a. M. 1965. Dobzhansky, TheodosiuslAyala, Francisco J.IStebbins, Ledyard G.IValentine, James Evolution, San Francisco 1977.

w.:

Döring, Eberhard: Karl R. Popper, 2. Auf!. Hamburg 1992.

- Karl R. Popper: "Die offene Gesellschaft und ihre Feinde", Paderborn 1996. Döring, Eberhard I Döring, Walter: Philosophie der Demokratie bei Kant und Popper, Berlin 1995. Dollhausen, Karin I Wehner, Josef: Virtualität und Modernität - Zum Verhältnis von elektronischen Medien und sozialer Integration, in: Honegger, Claudia I Hradil, Stefan I Traxler, Franz (Hrsg.): Grenzenlose Gesellschaft, Bd. 2, Opladen 1999, S. 240-251. Donagan, Alan: Popper's Examination of Historicism, in: Schilpp, Paul Arthur (Hrsg.): The philosophy of Karl Popper 2, La Salle 1974, S. 905 -924. Drenhaus, Ulrich: Evolution zum Menschen, Tübingen 1979. Drescher, Hans-Georg (Hrsg.): Der Mensch - Wissenschaft und Wirklichkeit, Wuppertal 1966. 15*

228

Literaturverzeichnis

Dürrenberger, Gregor: Menschliche Territorien, Zürich 1989. Düsberg, Klaus Jürgen: Bemerkungen zur Quantenmechanik, in: Keuth, Herbert (Hrsg.): Karl Popper: Logik der Forschung, Berlin 1998, S. 215 -234. Duncker, Christian: Verlust der Werte?, Wiesbaden 2000. Dyczewski, Leon (Hrsg.): Integrationsprozesse in der modemen Gesellschaft, Lublin 1988. Ebeling, Gerhard: Kritischer Rationalismus, Tübingen 1973. Ebers, Nicola: "Individualisierung", Würzburg 1995. Eccles, John c.: Das Gehirn des Menschen, 6. Aufl. München 1990. Eckardt, Irina: Die "Synthetische Theorie der Evolution", Berlin 1990. Eckei, Karl: Das Sozialexperiment, Zeitschrift für Soziologie 1978, S. 39-55. Eder, Klaus: Kulturelle Identität zwischen Tradition und Utopie, Frankfurt a. M. 2000. Ehalt, Hubert Ch. (Hrsg.): Zwischen Kultur und Natur, Wien 1985. Eibl-Eibesfeldt, Irenäus: Liebe und Hass, München 1970.

- Die Biologie des menschlichen Verhaltens, München 1984. - Der vorprogrammierte Mensch, Kiel 1985. - Der Mensch - das riskierte Wesen, München 1988. - Fallgruben der Evolution, Wien 1991. - In der Falle des Kurzzeitdenkens, München 2000. Eichner, Klaus I Habennehl, Werner (Hrsg.): Probleme der Erklärung sozialen Verhaltens, Meisenheim am Glan 1977. Eidlin, Fred: Popper und die demokratische Theorie, in: Salarnun, Kurt (Hrsg.): Moral und Politik aus Sicht des Kritischen Rationalismus, Amsterdam 1991, S. 203-224. Eigen, Manfred: Stufen zum Leben, München 1987. Eisler, Rudolf: Philosophen Lexikon, Vaduz 1977. Ekschmitt, Wemer: Weltrnodelle, Mainz 1989. Elias, Norbert: Zivilisation und Gewalt, in: Matthes, Joachim (Hrsg.): Lebenswelt und soziale Probleme, Frankfurt a. M. 1981, S. 98-122.

- Was ist Soziologie?, 5. Auflage Weinheim 1986. - Die Gesellschaft der Individuen, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1994. Ellinger, Theodor: Industrielle Wechselproduktion, Stuttgart 1985. Endruweit, GünterlTrommsdorff, Gisela (Hrsg.): Wörterbuch der Soziolgie, Bd. 1, Stuttgart 1989.

- (Hrsg.): Wörterbuch der Soziologie, Bd. 2, Stuttgart 1989. Engel, Pascal: Wissen, in: Sandkühler, Hans-Jörg (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie O-Z, Hamburg 1999, S. 1759-1763. Engels, Eve-Marie.: Erkenntnis als Anpassung?, Frankfurt a. M. 1989.

Literaturverzeichnis

229

- Biologische Ideen von Evolution im 19. Jahrhundert und ihre Leitfunktionen, in: dies. (Hrsg.): Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1995, S.13-66. - (Hrsg.): Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1995. Englisch, Gundula: Jobnomaden, Frankfurt a. M. 2001. Erben, Heinrich K.: Die Entwicklung der Lebewesen, 2. Auf!. München 1976. Erikson, Erik H.: Identität und Lebenszyklus, 6. Auf!. Frankfurt a. M. 1980. Esser, Hartmut: Die Definition der Situation, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1996, S. 1-34.

- Die Situationslogik ethnischer Konflikte, Zeitschrift für Soziologie 1999, S. 245 - 262. - Soziologie, Bd. 1: Situationslogik und Handeln, Frankfurt a. M. 1999. - Gesellschaftliche Individualisierung und methodologischer Individualismus, in: Kron, Thomas (Hrsg.): Individualisierung und soziologische Theorie, Opladen 2000, S. 129151 Ethier, Wilfried J.: Moderne Außenwirtschaftstheorie, 4. Auf!. München 1997. Facchini, Fiorenzo: Der Mensch, Augsburg 1991. Falter, Jürgen w./ Rattinger, Hans/Troitzsch, Klaus G. (Hrsg.): Wahlen und politischen Einstellungen in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 1989. Feigl, Herbert/ Brodbeck, May (Hrsg.): Readings in the philosophy of science, New York 1953. Fest, Joachim: Die schwierige Freiheit, Berlin 1993. Feustel, Rudolf: Abstammungsgeschichte des Menschen, 6. Auf!. Jena 1990. Feyerabend, Paul K.: Wider dem Methodenzwang, 3. Auf!. Frankfurt a. M. 1991.

- Erkenntnis für freie Menschen, Frankfurt a. M. 1979. - Irrwege der Vernunft, Frankfurt a. M. 1989. - Über Erkenntnis, Frankfurt a. M. 1992. Flanagan, Scott C.: Value Change and Partisan Change in Japan: The Silent Revolution Revisited, Comparative Politics 1979, S. 253-278.

- Changing Values in Advanced Industrial Societies, Comparative Political Studies 1982, S.403-444. - Measuring Value Change in Advanced Industrial Societies, Comparative Political Studies 1982, S. 99-128. - Value Change in Industrial Societies, American Political Science Review 1987, S. 13031319. Fleischmann, Gerd: Kritischer Rationalismus und Demokratie, in: Lührs, Georg / Sarrazin, Thilo/ Spreer, Friethjof/Tietzel, Manfred (Hrsg.): Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie 1, Berlin 1975, S. 287 -301.

230

Literaturverzeichnis

Flohr, Heiner: Sozialphilosophie und Wissenschaftstheorie - Bemerkungen zu den zwei Konzeptionen Karl R. Poppers, Rechtstheorie 1972, S. 62-74. Franz, Gerhardl Herbert, Willi: Werttypen in der Bundesrepublik: Konventionalisten, Resignierte, Idealisten und Realisten, in: Klages, Helmut! dies. (Hrsg.): Sozialpsychologie der Wohlfahrtsgesellschaft, Frankfurt a. M. 1987, S. 40 - 54. Frey, Hans-Peter I Haußer, Karl: Entwicklungslinien sozialwissenschaftlicher Identitätsforschung, in: dies. (Hrsg.): Identität, Stuttgart 1987, S. 3 - 26.

- (Hrsg.): Identität, Stuttgart 1987. Friedrichs, Jürgen: Werte und soziales Handeln, Tübingen 1968.

- (Hrsg.): Die Individualisierungs-These, Opladen 1998. Friedrichs, Jürgenl Jagodzinski, Wolfgang (Hrsg.): Soziale Integration, Opladen 1999.

- Theorien sozialer Integration, in: dies. (Hrsg.): Soziale Integration, Opladen 1999, S. 943. Friedrichs, Jürgenl Lepsius, Rainer M . I Mayer, Karl Ulrich (Hrsg.): Die Diagnosefähigkeit der Soziologie, Opladen 1998. Fuchs-Heinritz, Werner I Lautmann, Rüdiger I Rammstedt, Otthein I Wienold, Hanns (Hrsg.): Lexikon der Soziologie, 3. Auf!. Opladen 1994. Futuyma, Douglas J.: Evolutionsbiologie, Basel 1990. Gadenne, Volker: Freiheit und Rationalität, in: Sievering, Ulrich O. (Hrsg.): Kritischer Rationalismus heute, 2. Auf!. Frankfurt a. M. 1989, S. 152-180.

- Freiheit und Determinismus, in: Salamun, Kurt (Hrsg.): Moral und Politik aus der Sicht des Kritischen Rationalismus, Amsterdam 1991, S. 43 -57. - Die verschiedenen Falsifikationsprinzipien in der Methodologie Poppers, Angewandte Sozialforschung 3+4/1997, S. 33-43. - Kritischer Rationalismus und Pragmatismus, Amsterdam 1998. Gadenne, Volkerl Wendel, Hans Jürgen (Hrsg.): Rationalität und Kritik, Tübingen 1996. Gallie, W. B.: Popper and the Critical Philosophy of History, in: Bunge, Mario Augusto (Hrsg.) The Critical Approach to Science and Philosophy, London 1964, S. 410-422. Ganslandt, Herbert R.: Gesellschaft, in: Mittelstraß, Jürgen (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie 1, Mannheim 1980, S. 756 - 757. Gehlen, Amold: Die Seele im technischen Zeitalter, Hamburg 1957. Geier, Manfred: Der Wiener Kreis, Reinbek 1992.

- Karl Popper, Reinbek 1994. Gellner, Ernst: Nationalismus und Modeme, Berlin 1991. Gensicke, Thomas: Deutschland im Wandel, Speyer 1995.

- Sozialer Wandel durch Modemisierung, Individualisierung und Wertewandel, Aus Politik und Zeitgeschichte B42/1996, S. 3 - 17.

Literaturverzeichnis

231

- Deutschland am Ausgang der neunziger Jahre - Lebensgefühl und Welten, in: Klages, Helmut! ders.: Wertewandel und bürgerschaftliches Engagement an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Speyer 1999, S. 21-51. - Deutschland im Übergang, Speyer 2000. - Zur Frage der Erosion eines stabilen Wertefundaments in Religion und Familie, in: Oesterdiekhoff, Georg w.! Jegelka, Norbert (Hrsg.): Werte und Wertewandel in westlichen Gesellschaften, Opladen 2001, S. 107 -135. Gerecke, Uwe: Soziale Ordnung in der modemen Gesellschaft, Tübingen 1998. Germann, Harald! Raab, Silke! Setzer, Martin: Messung der Globalisierung: ein Paradoxon, in: Steger, Ulrich (Hrsg.): Facetten der Globalisierung, Berlin 1999, S. 1- 25. Gesang, Bemward: Wahrheitskriterien im Kritischen Rationalismus, Amsterdam 1995.

- Kritischer Rationalismus, in: Prechtl, Peter!Burkard, Franz-Peter: Metzler Philosophie Lexikon, 2. Aufl. Stuttgart 1999, S. 309-310. Geyl, Pieter: The Open Society and Its Enemies, in: Bunge, Mario Augusto (Hrsg.): The Critical Approach to Science and Philosophy, London 1964, S. 423 - 430. Giarini, Orio! Liedtke, Patrick M.: Wie wir arbeiten werden, München 1997. Giddens, Anthony: Die Konstitution der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1988.

- Kritische Theorie der Spätmodeme, Wien 1992. - Soziologie, Graz 1995. - Konsequenzen der Modeme, Frankfurt a. M. 1996. - Leben in einer posttraditionalen Gesellschaft, in: Beck, Ulrich! ders.! Lash, Scott: Reflexive Modemisierung, Frankfurt a. M. 1996, S. 113 -194. Giegel, Hans-Joachim (Hrsg.): Konflikt in modemen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1998. Giesen, Bemhard: Makrosoziologie, Hamburg 1980.

- Die Entdinglichung des Sozialen, Frankfurt a. M. 1991. - (Hrsg.): Nationale und kulturelle Identität, Frankfurt a. M. 1998. - Identität und Versachlichung: unterschiedliche Theorieperspektiven auf kollektive Identität, in: Willems, Herbert!Hahn, Alois (Hrsg.): Identität und Modeme, Frankfurt a. M. 1999, S. 389-402. - Kollektive Identität, Frankfurt a. M. 1999. Goetz, Wilhelm: Das Menschenbild der Biologie, in: Drescher, Hans-Georg (Hrsg.): Der Mensch - Wissenschaft und Wirklichkeit, Wuppertal 1966, S. 11- 52. Goffman, Erving: Wir alle spielen Theater, München 1969.

- Stigma, Frankfurt a. M. 1975. Graf, Hans-Georg: "Muster-Voraussagen" und "Erklärungen des Prinzips" bei F. A. von Hayek, Tübingen 1978. Gray, John: Liberalism, London 1991.

- Freiheit im Denken Hayeks, Tübingen 1995.

232

Literaturverzeichnis

Gröbl-Steinbach, Eve1yn: Von der offenen zur postmodernen Gesellschaft, in: Salarnun, Kurt (Hrsg.): Moral und Politik aus Sicht des Kritischen Rationalismus, Amsterdam 1991, S.123-140.

- Fortschrittsidee und rationale Weltgestaltung, Frankfurt a. M. 1994. Gross, Peter: Die Multioptionsgesellschaft, Frankfurt a. M. 1994.

- Ich-Jagd, Frankfurt a. M. 1999. Gutowski, Annin/ Molitor, Bruno (Hrsg.): Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Tübingen 1984. Habermehl, Wemer: Neuere Einwände gegen die Theorie der Falsifikation, in: Eichner, Klaus / ders. (Hrsg.): Probleme der Erklärung sozialen Verhaltens, Meisenheim am Glan 1977, S. 5-33.

- Historizismus und Kritischer Rationalismus, Freiburg 1980. Haeckel, Ernst: Die Lebenswunder, 2. Auf!. Stuttgart 1904. Häder, Michaeli Häder, Sabine (Hrsg.): Sozialer Wandel in Ostdeutschland, Opladen 1998. Hagiwara, Yoshihisa: Einige Bemerkungen zum kritischen Rationalismus als politische Philosophie, in: Salarnun, Kurt (Hrsg.): Karl R. Popper und die Philosophie des Kritischen Rationalismus, Amsterdam 1989, S. 221-234.

- Zum Verständnis von Liberalismus bei Popper und Hayek, in: Salarnun, Kurt (Hrsg.): Moral und Politik aus Sicht des Kritischen Rationalismus, Amsterdam 1991, S. 59-72. Hahn, Alois: Biographie und Lebenslauf, in: Brose, Hanns-Georg / Hildenbrand, Bruno (Hrsg.): Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende, Opladen 1988, S. 91105.

- Partizipative Identitäten, in: Münkler, Herfried (Hrsg.): Furcht und Faszination, Berlin 1997,S. 115-158. Halfmann, Jost: Makrosoziologie der modernen Gesellschaft, Weinheim 1996. Haller, Max: Soziologische Theorie im systematisch-kritischen Vergleich, Opladen 1999. Haller, Rudolf: Neopositivismus, Darmstadt 1993. Hamilton, William G.: The genetical evolution of social behaviour I, Journal of Theoretical Biology 7/1964, S. 1-16.

- The genetical evolution of social behaviour 11, Journal of Theoretical Biology 7/ 1964, S.17-52. - Narrow roads of geneland Vol. 1, New York 1996. Hamm, Bernd: Struktur moderner Gesellschaften, Opladen 1996. Hamman, Robin B.: Computernetze als verbindendes Element von Gemeinschaftsnetzen, in: Thiedeke, Udo (Hrsg.): Virtuelle Gruppen, Wiesbaden 2000, S. 221-243. Hare, R. M.: A Question about Plato's Theory of Ideas, in: Bunge, Mario Augusto (Hrsg.): The Critical Approach to Science and Philosophy, London 1964, S. 61-81. Hartfiel, Günter/ Hillmann, Karl-Heinz: Wörterbuch der Soziologie, 3. Auf!. Stuttgart 1982. Hartmann, Klaus: Politische Philosophie, Freiburg 1981.

Literaturverzeichnis

233

Haußer, Karl: Identitätsentwicklung, New York 1983.

- Identität, in: Endruweit, Günter/Trommsdorf, Gisela (Hrsg.): Worterbuch der Soziologie, Bd. 2, Stuttgart 1989, S. 279-281. v. Hayek, Friedrich August: The Sensory Order, Chicago 1952.

- The Theory of Complex Phenomena, in: Bunge, Mario Augusto (Hrsg.): The Critical Approach to Science and Philosophy, London 1964, S. 332-349. - Die Irrtümer des Konstruktivismus, München 1970. - Individualismus und wirtschaftliche Ordnung, 2. Auf!. Salzburg 1976. - Liberalismus, Tübingen 1978. - Die drei Quellen der menschlichen Werte, Tübingen 1979. - Missbrauch und Verfall der Vernunft, 2. Auf!. Salzburg 1979. - Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 2: Die Illusion der sozialen Gerechtigkeit, München 1981. - Die überschätzte Vernunft, in: Riedl, Rupert/Kreuzer, Franz (Hrsg.): Evolution und Menschenbild, Hamburg 1983, S. 164-192. - Gespräch mit Friedrich von Hayek, S. 18, in: Markt, Plan, Freiheit 1983, S. 7 -59, zitiert nach Hennecke, Hans Jörg: Friedrich August von Hayek, Düsseldorf 2000, S. 128. - Recht, Gesetzgebung und Freiheit, Bd. 1: Regeln und Ordnung, München 2. Auf!. 1986. - Die Verfassung der Freiheit, 3. Auf!. Tübingen 1991. - Arten der Ordnung, in: ders.: Freiburger Studien, 2. Auf!. Tübingen 1994, S. 32-46. - Arten des Rationalismus, in: ders.: Freiburger Studien, 2. Auf!. Tübingen 1994, S. 75 - 89. - Bemerkungen über die Entwicklung von Systemen und Verhaltensregeln, in: ders.: Freiburger Studien, 2. Auf!. Tübingen 1994, S. 144-160. - Die Ergebnisse menschlichen HandeIns, aber nicht menschlichen Entwurfs, in: ders. : Freiburger Studien, 2. Auf!. Tübingen 1994, S. 97 -107. - Die Sprachverwirrung im politischen Denken, in: ders.: Freiburger Studien, 2. Auf!. Tübingen 1994, S. 206-231. - Dr. Bernard Mandeville, in: ders. : Freiburger Studien, 2. Auf!. Tübingen 1994, S. 126143. - Freiburger Studien, 2. Auf!. Tübingen 1994. - Grundsätze einer liberalen Gesellschaftsordnung, in: ders.: Freiburger Studien, 2. Auf!. Tübingen 1994, S. 108 -125. - Rechtsordnung und Handelnsordnung, in: ders.: Freiburger Studien, 2. Auf!. Tübingen 1994, S. 161-198. Heck, Thomas L. (Hrsg.): Das Prinzip Egoismus, Tübingen 1994. Heckscher, Elin: The Effect of Foreign Trade on the Distribution of Income, Ekonomisk Tidskrift 1919, S. 497 -512. Heiderich, Rolf I Rohr, Gerhart: Wertewandel, München 1999.

234

Literaturverzeichnis

Heine, Wolfgang: Methodologischer Individualismus, Würzburg 1983. Heintz, Bettina: Gemeinschaft ohne Nähe?, in: Thiedeke, Udo (Hrsg.): Virtuelle Gruppen, Wiesbaden 2000, S. 188-218.

- Fallstudie ,Die (17.10.2001).

Sozial welt

des

Internet',

http://www.soz.unibe.ch/ii/virt_d.html

Heinz, Walter R: Widersprüche in der Modernisierung von Lebensläufen: Individuelle Optionen und institutionelle Rahmungen, in: Leisering, Lutz/Geissler, Birgit/Mergner, Ulrichl Rabe-Kleberg, Ursula (Hrsg.): Moderne Lebensläufe im Wandel, Weinheim 1993, S. 1119.

- Selbstsozialisation im Lebenslauf, in: Hoerning, Erika M. (Hrsg.): Biographische Sozialisation, Stuttgart 2000, S. 165 -186. Heinz, Walter R.I Behrens, Johann: Statuspassagen und soziale Risiken im Lebensverlauf, Bremen 1991. Heinz, Walter R.I Dressei, Werner 1Blaschke, Dieter 1Engelbrech, Gerhard (Hrsg.): Was prägt Berufsbiographien?, Nürnberg 1998. Heitmeyer, Wilhelm: Entsicherung. Desintegrationsprozesse und Gewalt, in: Beck, Ulrichl Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hrsg.): Riskante Freiheiten, Frankfurt a. M. 1994, S. 376401.

- Sind individualisierte und ethnisch-kulturell vielfältige Gesellschaften noch integrierbar? in: ders. (Hrsg.): Was hält die Gesellschaft zusammen?, Frankfurt a. M. 1997, S. 9-19. - (Hrsg.): Was hält die Gesellschaft zusammen?, Frankfurt a. M. 1997. - (Hrsg.): Was treibt die Gesellschaft auseinander?, Frankfurt a. M. 1997. Heller, Agnes: Das Alltagsleben, 2. Aufl. Frankfurt a. M. 1978. Helling, Ingeborg: Das Erkenntnismodell der Situationslogik bei Popper, Archives Europeennes de Socio1ogie 1982, S. 198 - 210. Hemminger, Hansjörg: Der Mensch - eine Marionette der Evolution?, Frankfurt a. M. 1983. Henke, Winfriedl Rothe, Hartrnut: Stammesgeschichte des Menschen, Berlin 1998. Hennecke, Hans Jörg: Friedrich August von Hayek, Düsseldorf 2000. Hepp, Gerd: Wertewandel, München 1994.

- Wertewandel und Bürgergesellschaft, Aus Politik und Zeitgeschichte B52+53 1 1996, S. 325. Herbert, Willi: Wandel und Konstanz von Wertestrukturen, Speyer 1991.

- Wertstrukturen 1979 und 1987: Ein Vergleich ihrer politischen Implikationen, in: Klages, HelmutlHippler, Hans-Jürgenl ders. (Hrsg.): Werte und Wandel, Frankfurt a. M. 1992, S.69-99. Herder, Johann G.: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Darmstadt 1966. Herder Lexikon der Biologie, Bd. 4, Freiburg 1985. Hemegger, Rudolf: Anthropologie zwischen Soziobiologie und Kulturwissenschaft, Bonn 1989.

Literaturverzeichnis

235

Herrmann, Joachiml Ullrich, Herbert: Menschwerdung, Berlin 1991. Herz, Thomas: Der Wandel der Wertvorstellungen in westlichen Industriegesellschaften, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1979, S. 282-302. Heschl, Adolf: Das intelligente Genom, Berlin 1998. Hettlage, Robertl Deger, Petral Wagner, Susanne (Hrsg.): Kollektive Identität in Krisen, Opladen 1997. Hettlage, Robertl Lenz, Karl (Hrsg.): Erving Goffman - ein soziologischer Klassiker der zweiten Generation, Bern 1991. Heyt, Friso D.: Karl Poppers Wiener Jahre, Angewandte Sozialforschung 3+4/1997, S. 723. Hillebrandt, Frank: Exklusionsindividualität, Opladen 1999. Hillmann, Karl-Heinz: Wertwande1, 2. Aufl. Darmstadt 1989.

- Gesellschaft, in: Reinhold, Gerd (Hrsg.): Soziologie-Lexikon, München 1991, S. 198206. - Zur Wertewandelforschung: Einführung, Übersicht und Ausblick, in: Oesterdiekhoff, Georg W. 1Jegelka, Norbert (Hrsg.): Werte und Wertewande1 in westlichen Gesellschaften, Opladen 2001, S. 15-39. Hinner, Kajetan: Gesellschaftliche Auswirkungen moderner Kommunikationstechnologien am Beispiel des Internets, 2. Aufl. Berlin 1998. Hinterberger, Norbert: Der kritische Rationalismus und seine antirealistischen Gegner, Amsterdam 1996. Hirscher, Gerhard: Wertewandel in Bayern und Deutschland, München 1995. Hitz/er, Ronald: Sinnwelten, Opladen 1988.

- Die Bastei-Existenz, Psychologie Heute 7/1996, S. 30-35. - Orientierungsprobleme, Leviathan 1996, S. 272-286. - Die Entdeckung der Lebens-Welten, in: Willems, HerbertIHahn, Alois (Hrsg.): Identität und Modeme, Frankfurt a. M. 1999, S. 231 - 249. - Verführung statt Verpflichtung, in: Honegger, Claudia 1Hradil, Stefan 1 Traxler, Franz (Hrsg.): Grenzenlose Gesellschaft, Bd. I, Opladen 1999, S. 223 -233. Hitzier, Ronaldl Honer, Anne: Bastelexistenz. Über subjektive Konsequenzen der Individualisierung, in: Beck, Ulrich 1Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hrsg.): Riskante Freiheiten, Frankfurt a. M. 1994, S. 307 -315. Hoeming, Erika M. (Hrsg.): Biographische Sozialisation, Stuttgart 2000. Höjfe, Otfried: Ethik und Politik, Frankfurt a. M. 1979.

- Politische Gerechtigkeit, Frankfurt a. M. 1989. - Kritischer Rationalismus, in: ders. (Hrsg.): Lexikon der Ethik, 5. Aufl. München 1997, S. 163-165. - (Hrsg.): Lexikon der Ethik, 5. Aufl. München 1997.

236

Literaturverzeichnis

Höring, Edgarl Klima, Rolf: Identität, in: Fuchs-Heinritz, Werner/Lautmann, Rüdigerl Rarnmstedt, Otthein/Wienold, Hanns: Lexikon der Soziologie, 3. Auf!. Opladen 1994, S.286. Hoffmann, Hans-Viktor (Hrsg.): Wertebewußtsein - Wertewandel- Verbindlichkeit von Werten, Strausberg 1997. Hollerbach, Kerstin: Ranking oder Rating? Die Wahl der Skala in der Werteforschung, in: Häder, Michael/Häder, Sabine (Hrsg.): Sozialer Wandel in Ostdeutschland, Opladen 1998, S.221-255. Holtmann, Everhard: Politik-Lexikon, München 1991. Hondrich, KarlOtto: Hinter dem Rücken der Individuen - Gemeinschaftsbildung ohne Ende, in: Honegger, Claudia/Hradil, Stefan/Traxler, Franz (Hrsg.): Grenzenlose Gesellschaft, Bd. 1, Opladen 1999, S. 247 -257. Hondrich, KarlOtto I Koch-Arzberger, Claudia: Solidarität in der modernen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1992. Honegger, Claudial Hradil, Stefanl Traxler, Franz (Hrsg.): Grenzenlose Gesellschaft, Bd. 1, Opladen 1999.

- (Hrsg.): Grenzenlose Gesellschaft, Bd. 2, Opladen 1999. Hradil, Stefan: Differenz und Integration, in: ders. (Hrsg.): Differenz und Integration, Frankfurt a. M. 1997, S. 39-53.

- (Hrsg.): Differenz und Integration, Frankfurt a. M. 1997. Hradil, Stefanllmmerfall, Stefan: Modernisierung und Vielfalt in Europa, in: dies. (Hrsg.): Die westeuropäischen Gesellschaften im Vergleich, Opladen 1997, S. 11-25.

- (Hrsg.): Die westeuropäischen Gesellschaften im Vergleich, Opladen 1997. Huber, Wolfgang: Fortschritt, in: Lienemann, Wolfgang/Tödt, Ilse (Hrsg.): Fortschrittsglaube und Wirklichkeit, München 1983, S. 16-21. Hübner, Kurt: Kritik der wissenschaftlichen Vernunft, 3. Auf!. Freiburg 1986. Hülst, Dirk: Kritischer Rationalismus in: Neumann, Franz (Hrsg.): Handbuch der politischen Theorien und Ideologien, Bd. 2, Opladen 1996, S. 337 - 356. Hume, David: Eine Untersuchung über den menschlichen Verstand, 12. Auf!. Hamburg 1993. Immerfall, Stefan: Soziale Integration in westeuropäischen Gesellschaften: Werte, Mitgliedschaften und Netzwerke, in: Hradil, Stefanl ders. (Hrsg.): Die westeuropäischen Gesellschaften im Vergleich, Opladen 1997, S. 139-173. lnglehart, Ronald: The Silent Revolution in Europe: Intergenerational Change in Post-Industrial Societies, American Political Science Review 1971, S. 991-1017.

- The Silent Revolution, Princeton 1977. - Wertwandel in westlichen Gesellschaften: Politische Konsequenzen von materialistischen und postmaterialistischen Prioritäten, in: Klages, HelmutiKmieciak, Peter (Hrsg.): Wertwandel und gesellschaftlicher Wandel, Frankfurt a. M. 1979, S. 279-316. - Zusammenhang zwischen sozioökonornischen Bedingungen und individuellen Wertprioritäten, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1980, S. 144-153.

Literaturverzeichnis

237

- Kultureller Umbruch, Frankfurt a. M. 1995. - Modernisierung und Postmodernisierung, Frankfurt a. M. 1998. Inglehart, Ronaldl Klingemann, Hans-Dieter: Dimensionen des Wertewandels. Theoretische und methodische Reflexionen anläßlich einer neuerlichen Kritik, Politische Vierteljahresschrift 1996, S. 319-340. Irrgang, B.: Lehrbuch der Evolutionären Erkenntnistheorie, München 1993. Jagodzinski, Wolfgang: Die zu stille Revolution, in: Oberndörfer, Dieter I Rattinger, Hans I Schmitt, Karl (Hrsg.): Wirtschaftlicher Wandel, religiöser Wandel und Wertwandel. Folgen für das politische Verhalten in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1985, S. 333 - 356. Jaide, Walter: Wertewandel? Grundfragen zur Diskussion, Opladen 1983. James, William: The Principles of Psychology Vol. I, London 1891.

- The Principles ofPsychology Vol. 11, London 1891. Janich, Peter I Weingarten, Michael: Wissenschaftstheorie der Biologie, München 1999. Janssen, Edzardl Möhwald, Ulrichl Ölschleger, Hans Dieter (Hrsg.): Gesellschaft im Umbruch?, München 1996. Jarvie, Ian C.: Die Logik der Gesellschaft, München 1974.

- Popper on the Difference between the Natural and Social Society, in: Levinson, Paul (Hrsg.): In Pursuit ofTruth, Atlantic Highlands 1982, S. 83 -107. - Thinking about society, Dordrecht 1986. - Poppers's ideal types: open and closed, abstract and concrete, in: ders./Pralong, Sandra (Hrsg.): Popper's Open Society after fifty years, London 1999, S. 71- 82. Jarvie, Ian C.I Laor, Nathaniel (Hrsg.): Critical Rationalism, Metaphysics and Science, Dordrecht 1995.

- (Hrsg.): Critical Rationalism, the Social Science and the Humanities, Dordrecht 1995. Jarvie, Ian C.I Pralong, Sandra (Hrsg.): Popper's Open Society after fifty years, London 1999. Johanson, Donald C.I Edey, Maitland: Lucy. Die Anfänge der Menschheit, Frankfurt a. M. 1984. Johanson, Donald C.I Shreeve, James: Lucys Kind, München 1990. Jokisch, Rodrigo: Die nichtintentionalen Effekte menschlicher Handlungen, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1988, S. 547 -575. Jüngst, Peter (Hrsg.): Identität, Aggressivität, Territorialität, Kassel 1996. Junge, Matthias: Ambivalente Gesellschaftlichkeit, Opladen 2000. Junker, Thomasl Engels, Eve-Marie (Hrsg.): Die Entstehung der Synthetischen Theorie, Berlin 1999. Kaase, MaxI Müller-Rommel, Ferdinand: Wert I Wertewandel, in: Nohlen, Dieter (Hrsg.): Wörterbuch Staat und Politik, Bonn 1996, S. 870- 874. Kalicki, Bernhard: Lebensverläufe und Selbstbilder, Opladen 1996.

238

Literaturverzeichnis

Kamlah, Wilhelm: Utopie, Eschatologie, Geschichtsteleologie, Mannheim 1969. Kant, Irnrnanuel: Der Streit der Fakultäten, in: Werke, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 9, Sonderausgabe Darmstadt 1983, S. 261-393.

- Idee zu einer al1gemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, in: Werke, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 9, Sonderausgabe Darmstadt 1983, S. 31-50. - Kritik der Urteilskraft, in: Werke, hrsg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 8, Sonderausgabe Darmstadt 1983, S. 233 - 620. - Über die von der König!. Akademie der Wissenschaften zu Berlin für das Jahr 1791 ausgesetzte Preisfrage: Welches sind die wirklichen Fortschritte, die die Metaphysik seit Leibnizens und Wol1fs Zeiten in Deutschland gemacht hat, in: Werke, hrsg. von Wilhelm WeischedeI, Bd. 5, Sonderausgabe Darmstadt 1983, S. 583 -676. - Zum ewigen Frieden, in: Werke, hrsg. von Wilhelm Weischede1, Bd. 9, Sonderausgabe Darmstadt 1983, S. 191-251. Kaupp, Peter: Gesel1schaft, in: Ritter, Joachim (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Base11974, S. 459-465. Keck, Werner: Zwischen evolutionärer und gesel1schaftstheoretischer Fundierung des Staates, Berlin 1998. Kerber, Haraldl Schmieder, Amold (Hrsg.): Handbuch Soziologie, Harnburg 1984. Keupp, Heiner: Riskante Chancen, Heidelberg 1988.

- Auf der Suche nach der verlorenen Identität, in: ders.lBilden, He1ga (Hrsg.): Verunsicherungen - Das Subjekt im gesel1schaftlichen Wandel, Göttingen 1989, S. 47 -69. - Identitätsverlust oder neue Identitätsentwürfe?, in: Zol1, Rainer (Hrsg.): Ein neues kulturelles Model1, Opladen 1992, S. 100 - 117. - Ambivalenzen postmoderner Identität, in: Beck, Ulrich I Beck-Gernsheim, Elisabeth (Hrsg.): Riskante Freiheiten, Frankfurt a. M. 1994, S. 336-350. - Bedrohte und befreite Identitäten in der Risikogesel1schaft, in: Barkhaus, Annette I Mayer, Matthias I Roughley, Neil I Thürnau, Donatus (Hrsg.): Identität, Leiblichkeit, Normativität, Frankfurt a. M. 1996, S. 380-403. - Diskursarena Identität: Lernprozesse in der Identitätsforschung, in: ders.lHöfer, Renate (Hrsg.): Identitätsarbeit heute, Frankfurt a. M. 1997, S. 11-39. - Identitätskonstruktionen, Harnburg 1999. - Eine Gesel1schaft der Ichlinge?, München 2000. Keupp, Heiner I Bilden, He1ga (Hrsg.): Verunsicherungen - Das Subjekt im gesel1schaftlichen Wandel, Göttingen 1989. Keupp, Heinerl Höfer, Renate (Hrsg.): Identitätsarbeit heute, Frankfurt a. M. 1997. Keuth, Herbert: Realität und Wahrheit, Tübingen 1978.

- Erkenntnis oder Entscheidung, Tübingen 1993. - Rationalität und Wahrheit, in: Gadenne, Volker/Wende1, Hans Jürgen (Hrsg.): Rationalität und Kritik, Tübingen 1996, S. 79-97.

Literaturverzeichnis

239

- Einführung in die Logik der Forschung, in: ders. (Hrsg.): Karl Popper: Logik der Forschung, Berlin 1998, S. 1-23. - (Hrsg.): Karl Popper: Logik der Forschung, Berlin 1998. Kippele, Flavia: Was heißt Individualisierung?, Opladen 1998. Klages, Helmut: Wertorientierungen im Wandel, Frankfurt a. M. 1984.

- Wertedynamik, Zürich 1988. - Die gegenwärtige Situation der Wert- und Wertwandelforschung - Probleme und Perspektiven, in: ders./Hippler, Hans-Jürgen I Herber, Willi (Hrsg.): Werte und Wandel, Frankfurt a. M. 1992, S. 5-39. - Traditionsbruch als Herausforderung, Frankfurt 1993. - Chancen des Wertewandels, in: Teufel, Erwin (Hrsg.): Was hält die modeme Gesellschaft zusammen?, Frankfurt a. M. 1996, S. 45 -49. - Der Wertewandel in der Bundesrepublik Deutschland, in: Janssen, Edzard/Möhwald, UIrich/Ölschleger, Hans Dieter (Hrsg.): Gesellschaft im Umbruch?, München 1996, S. 6587. - Werte und Wertewandel, in: Schäfers, Bemhard/Zapf, Wolfgang (Hrsg.): Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands, Opladen 1998, S. 698 - 709. - Zerfallt das Volk? - Von den Schwierigkeiten der modemen Gesellschaft mit Gemeinschaft und Demokratie, in: ders. I Gensicke, Thomas: Wertewandel und bürgerschaftliches Engagement an der Schwelle zum 21. Jahrhundert, Speyer 1999, S. 1- 20. Klages, Helmut! Franz, Gerhardl Herbert, Willi (Hrsg.): Sozialpsychologie der Wohlfahrts-

gesellschaft, Frankfurt a. M. 1987. Klages, Helmut I Gensicke, Thomas: Wertewandel und bürgerschaftliches Engagement an der

Schwelle zum 21. Jahrhundert, Speyer 1999. Klages, Helmut I Herbert, Willi: Wertorientierung und Staatsbezug, Frankfurt a. M. 1983. Klages, Helmut! Hippier;

Hans-Jürgenl Herbert, Willi (Hrsg.): Werte und Wandel,

Frankfurt a. M. 1992. Klages, Helmut I Kmieciak, Peter (Hrsg.): Wertwandel und gesellschaftlicher Wandel,

Frankfurt a. M. 1979. Klauer; Karl C.: Belastung und Entlastung beim Problernlösen, Göttingen 1993. Klein, Markus: Wieviel Platz bleibt im Prokrustesbett?, Kölner Zeitschrift für Soziologie und

Sozialpsychologie 1995, S. 207 - 230. Klein, Markus I Arzheimer; Kai: Ranking- und Rating-Verfahren zur Messung von Wertorien-

tierungen, untersucht am Beispiel des Inglehart-Index, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1999, S. 550-564. - Einmal mehr: Ranking oder Rating?, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 2000, S. 553 - 563. Klein, Markusl Pötschke, Manue1a: Gibt es einen Wandel hin zum "reinen" Postmaterialis-

mus?, Zeitschrift für Soziologie 2000, S. 202-216.

240

Literaturverzeichnis

Kley, Roland: F.A. Hayeks Idee einer spontanen sozialen Ordnung: Eine kritische Analyse, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1992, S. 12-34. Kliemt, Hartrnut: Der avancierte Affe, Analyse & Kritik 1994, S. 3 -19. Kluge, Susannl Kelle, Udo (Hrsg.): Methodeninnovation in der Lebenslaufforschung, Weinheim 2001. Kneer, Georgl Nassehi, Arrrllnl Schroer, Markus (Hrsg.): Soziologische Gesellschaftsbegriffe, München 1997. Knorr Cetina, Karin: Sozialität mit Objekten, in: Rammert, Wemer (Hrsg.): Technik und Sozialtheorie, Frankfurt a. M. 1998, S. 83 -120. Köcher, Renate I Schild, Joachim (Hrsg.): Wertewandel in Deutschland und Frankreich, Opladen 1998. Kößler, Henning (Hrsg.): Wertwande1 und neue Subjektivität, Erlangen 2000. Kohli, Martin (Hrsg.): Soziologie des Lebenslaufs, Darmstadt 1978.

- Die Institutionalisierung des Lebenslaufs, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1985, S. 1-29. - Gesellschaftszeit und Lebenszeit, in: Berger, Johannes (Hrsg.): Die Modeme - Kontinuitäten und Zäsuren, Göttingen 1986, S. 183-208. - Normalbiographie und Individualität: Zur institutionellen Dynamik des gegenwärtigen Lebenslaufregimes, in: Brose, Hanns-Georg/Hildenbrand, Bruno (Hrsg.): Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende, Opladen 1988, S. 33 - 53. - Institutionalisierung und Individualisierung der Erwerbsbiographie, in: Beck, Ulrich I Beck-Gemsheim, Elisabeth (Hrsg.): Riskante Freiheiten, Frankfurt a. M. 1994, S. 219244.

Kolakowski, Leszek: Selbstgefährdung der offenen Gesellschaft, in: Bossle, Lothar I Radnitzky, Gerhard (Hrsg.): Die Selbstgefährdung der Offenen Gesellschaft, Würzburg 1982, S.9-26. Kopp, Johannes: Soziobiologie und Familiensoziologie, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 1992, S. 489-502. Korte, Hermann I Mättig, Lutz: Die Menschen im Spannungsfeld zwischen Individualisierung und Globalisierung, in: Steger, Ulrich (Hrsg.): Facetten der Globalisierung, Berlin 1999, S.153-175. Korte, Hermannl Schäfers, Bemhard (Hrsg.): Einführung in die Hauptbegriffe der Soziologie, 4. Auf!. Opladen 1998. Koslowski, Peter: Evolution und Gesellschaft, Tübingen 1984. Kraft, Susanne: "Modemisierung" und "Individualisierung", Regensburg 1992. Kraft, Viktor: Der Wiener Kreis, 2. Auf!. Wien 1968.

- Popper and the Vienna Circle, in: Schilpp, Paul Arthur (Hrsg.): The philosophy of Karl Popper I, La Salle 1974, S. 185-204. Krappmann, Lothar: Soziologische Dimensionen der Identität, 7. Auf!. Stuttgart 1988.

Literaturverzeichnis

241

Kreckel, Reinhard (Hrsg.): Soziale Ungleichheiten, Göttingen 1983. Kreutz, Henrik: Änderungen der politischen und gesellschaftlichen Wertvorstellungen, in: ders. (Hrsg.): Pragmatische Soziologie, Opladen 1988, S. 195-207.

- (Hrsg.): Pragmatische Soziologie, Opladen 1988. Kreuzer, Franz/ Popper, Karl R.: Offene Gesellschaft, offenes Universum, Wien 1982. Kreyher, Volker J. / Bähret, Carl (Hrsg.): Gesellschaft im Übergang, Baden-Baden 1995. Krohn, Wolfgang: Francis Bacon, München 1987. Kroll, Wilhelm/ Mittelhaus, Karl (Hrsg.): Paulys Realencyclopädie der classichen Altertumswissenschaft Supplement XV, München 1978. Kron, Thomas (Hrsg.): Individualisierung und soziologische Theorie, Opladen 2000. Kudera, Wemer: Lebenslauf, Biographie und Lebensführung, in: Berger, Peter A. / Sopp, Peter (Hrsg.): Sozialstruktur und Lebenslauf, Opladen 1995, S. 85 -105. Kuhn, Thomas S.: Die Entstehung des Neuen, 3. Aufl. Frankfurt a. M. 1988.

- Die Struktur der wissenschaftlichen Revolution, 10. Aufl. Frankfurt a. M. 1990. Kull, Ulrich: Evolution des Menschen, Stuttgart 1979. Kurzowa, Wemer: Problematische Aspekte des Kritischen Rationalismus und die Rationalität des politischen HandeIns, in: Lührs, Georg / Sarrazin, Thilo / Spreer, Friethjofl Tietzel, Manfred (Hrsg.): Theorie und Politik aus kritisch rationaler Sicht, Berlin 1978, S. 203219. Lakatos, Imre: Criticism and the growth ofknowledge, Cambridge 1970.

- Popper zum Abgrenzungs- und Induktionsproblem, in: Lenk, Hans (Hrsg.): Neue Aspekte der Wissenschaftstheorie, Braunschweig 1971, S. 75 -110. Lamarck, Jean Baptiste de: Zoologische Philosophie, Jena 1876. Lanthaler, Wemer / Zugmann, Johanna: Die ICH-Aktie, Frankfurt a. M. 2000. Laskowski, Wolfgang (Hrsg.): Der Weg zum Menschen, Berlin 1968. Leakey, Richard E. / Lewin, Roger: Wie der Mensch zum Menschen wurde, Hamburg 1985.

- Der Ursprung des Menschen, Frankfurt a. M. 1993. Lefevre, Wolfgang: Darwin, Marx und der garantierte Fortschritt, Berlin 1998. Lehner, Franz: Die "stille Revolution": Zur Theorie und Realität des Wertwandels in hochindustrialisierten Gesellschaften, in: Klages, HelmutlKmieciak, Peter (Hrsg.): Wertwandel und gesellschaftlicher Wandel, Frankfurt a. M. 1979, S. 317 -327. Leinfellner; Wemer: Propensitäten, Wahrscheinlichkeit und Poppers Begründung der Wissenschaft, in: Wallner, Fritz (Hrsg.): Karl Popper - Philosophie und Wissenschaft, Wien 1985, S.53-65. Leisering, Lutz/ Geissler; Birgitl Mergner; Ulrich/ Rabe-Kleberg, Ursula (Hrsg.): Modeme Lebensläufe im Wandel, Weinheim 1993. Lenk, Hans (Hrsg.): Neue Aspekte der Wissenschaftstheorie, Braunschweig 1971. !6 Tiefe!

242

Literaturverzeichnis

- Der methodologische Individualismus ist (nur?) ein heuristisches Postulat, in: Eichner, Klaus/Habermehl, Wemer (Hrsg.): Probleme der Erklärung sozialen Verhaltens, Meisenheim am Glan 1977, S. 34-45. - Wissenschaftstheorie und Sozialwissenschaft, Frankfurt a. M. 1986. Lenk, Hans 1Maring, Matthias: Pragmatische Elemente im Kritischen Rationalismus, in: Stachowiak, Herbert (Hrsg.): Pragmatik, Handbuch Pragmatischen Denkens, Bd. 11, Hamburg 1987, S. 257-278. Lenneberg, Eric H.: Biologische Grundlagen der Sprache, 2. Aufl. Frankfurt 1986. Lenz, Karl: Erving Goffman - Werk und Rezeption, in: Hettlage, Robertl ders. (Hrsg.): Erving Goffman - ein soziologischer Klassiker der zweiten Generation, Bem 1991, S. 2593. Leontief, Wassily W.: (Hrsg.): Studies in the Structure of American Economy, New York 1953.

- Domestic Production and Foreign Trade: The American Capital Position Re-examined, Economica Intemazionale 7/1954. Leser; Norbertl Seifert, Josef/ Plitzner; Klaus (Hrsg.): Die Gedankenwelt Sir Karl Poppers, Heidelberg 1991. Levinson, Paul (Hrsg.): In pursuit of truth, Atlantic Highlands 1982. Levison, Amold: Popper, Hume, and the traditional problem of induction, in: Schilpp, Paul Arthur (Hrsg.): The philosophy of Karl Popper 1, La Salle 1974, S. 322-331. Levita, David J. de: Der Begriff der Identität, Frankfurt a. M. 1971. Levy, Rene: Der Lebenslauf als Statusbiographie, Stuttgart 1977.

- Zur Institutionalisierung von Lebensläufen, in: Behrens, Johann/Voges, Wolfgang (Hrsg.): Kritische Übergänge, Frankfurt a. M. 1996, S. 73-113. Lewin, Benjamin: Molekularbiologie der Gene, Heidelberg 1998. Lewin, Roger: Spuren der Menschwerdung, Heidelberg 1992. Lewontin, Richard C.I Rose, Steven 1Kamin, Leon J.: Die Gene sind es nicht ... , München 1988. Ley, Hermann: Kar1 R. Popper Historizismus und erkenntnistheoretischer Mechanizismus, Deutsche Zeitschrift für Philosophie 1968, S. 848-859. Lienemann, Wolfgang 1 1Odt, Ilse (Hrsg.): Fortschrittsglaube und Wirklichkeit, München 1983. Lipp, Wolfgang: Institution, in: Schäfers, Bernhard (Hrsg.): Grundbegriffe der Soziologie, 4. Aufl. Opladen 1994, S. 134-137. Llyod, Geoffrey: Weltbilder und Weltmodelle, in: Brunschwig, Jacques 1ders. (Hrsg.): Das Wissen der Griechen, München 2000, S. 52-67. Lohauß, Peter: Modeme Identität und Gesellschaft, Opladen 1995. Lohse, Detlev: Der Rechtsbegriff "Stand der Wissenschaft" aus erkenntnistheoretischer Sicht, Berlin 1994.

Literaturverzeichnis

243

Lorenz, Konrad: Das sogenannte Böse, Wien 1963.

- Nichts ist schon dagewesen, in: Riedl, Rupert/Kreuzer, Franz (Hrsg.): Evolution und Menschenbild, Hamburg 1983, S. 138 -144. - Der Abbau des Menschlichen, 3. Auf!. München 1985. - Die acht Todsünden der zivilisierten Menschheit, 21. Auf!. München 1989. Lorenz, Konrad 1Kreuzer; Franz: Leben ist Lernen, München 1988. Lorenz, Konradl Wuketits, Franz (Hrsg.): Die Evolution des Denkens, München 1983. Lovejoy, Arthur 0.: Die große Kette der Wesen, Frankfurt a. M. 1993. Luckmann, Thomas: Lebenswe1t und Gesellschaft, Paderborn 1980.

- Persönliche Identität und Lebenslauf - gesellschaftliche Voraussetzungen, in: Brose, Hanns-Georg/Hildenbrand, Bruno (Hrsg.): Vom Ende des Individuums zur Individualität ohne Ende, Opladen 1988, S. 73 - 88. Lübbe, Hermann: Erfahrungen von Orientierungskrisen in modemen Gesellschaften, in: Weidenfeld, Werner/Rumberg, Dirk (Hrsg.): Orientierungsverlust - Zur Bindungskrise der moderner Gesellschaften, Gütersloh 1994, S. 13-29.

- Zwischen Herkunft und Zukunft, Wien 1998. Lührs, Georg 1Sarrazin, ThilolSpreer; Friethjof/TIetzel, Manfred (Hrsg.): Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie 1, Berlin 1975.

- (Hrsg.): Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie 2, Berlin 1976. - (Hrsg.): Theorie und Politik aus kritisch rationaler Sicht, Berlin 1978. Lutz, Bernd (Hrsg.): Metzler Philosophenlexikon, 2. Auf!. Stuttgart 1995. Lyon, David: Postmodernity, 2. Auf!. Buckingham 1999. Magee, Bryan: Karl Popper und der Kritische Rationalismus, in: Lührs, Georg 1 Sarrazin, Thi101 Spreer, Friethjof/Tietzel, Manfred (Hrsg.): Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie 1, Berlin 1975, S. 73 - 87.

- Kritischer Rationalismus - Eine Unterhaltung mit Karl R. Popper, in: Lührs, Georg 1 Sarrazin, Thilo 1Spreer, Friethjof/Tietzel, Manfred (Hrsg.): Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie 1, Berlin 1975, S. 55 - 72. - Karl Popper, Tübingen 1986. Mahnke, Detlef: Der Aufbau des philosophischen Wissens nach Descartes, München 1967. Malmberg, Torsten: Human Territoriality, Den Haag 1980. Mann, Ulrich: Schöpfungsmythen, Stuttgart 1982. Marbach, Jan H.: Verwandtschaftsbeziehungen und Abstammung - Eine Prüfung soziobiologiseher Thesen mit Hilfe farniliensoziologischer Daten in: Wagner, Michael 1Diewald, Yvonne (Hrsg.): Verwandtschaft, Stuttgart 1998, S. 91-126. Martin, Robert D.: Hirngröße und menschliche Evolution, in: Sommer, Volker (Hrsg.): Biologie des Menschen, Heide1berg 1996, S. 2-9. Marx, Wolfgang (Hrsg.): Determinismus - Indeterminismus, Frankfurt a. M. 1990. 16*

244

Literaturverzeichnis

Maslow, Abraham H.: Motivation und Persönlichkeit, 2. Aufl. Olten 1978. Matthes, Joachim (Hrsg.): Lebenswelt und soziale Probleme, Frankfurt a. M. 1981. Maurer, Andreal Müller, Marinal Siegert, Gabriele: Die Dominanz der Ökonomie - Reflexionen zur Ökonomisierung verschiedener Lebensbereiche in modernen Gesellschaften, in: Reimann, Horst/Müller, Hans-Peter (Hrsg.): Probleme moderner Gesellschaften, Opladen 1994, S. 99-121. Mayer, Cornelius: Aurelius Augustinus, in: Volpi, Franco (Hrsg.): Großes Werklexikon der Philosophie, Stuttgart 1999, S. 101-114. Mayer, Karl Ulrich (Hrsg.): Lebensläufe und sozialer Wandel, Opladen 1990.

- Soziale Ungleichheit und die Differenzierung von Lebensläufen, in: Zapf, Wolfgang (Hrsg.): Die Modernisierung der modernen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1991, S. 667687. - Gesellschaftlicher Wandel, Kohortenungleichheit und Lebensverläufe, in: Berger, Peter A.I Sopp, Peter (Hrsg.): Sozialstruktur und Lebenslauf, Opladen 1995, S. 27 - 47. Mayer, Karl Ulrichl Müller, Walter: Lebensverläufe im Wohlfahrtsstaat, in: Weymann, Ansgar (Hrsg.): Handlungsspielräume, Stuttgart 1989, S. 41-60. Mayr, Ernst: Die Entwicklung der biologischen Gedankenwelt, Berlin 1984.

- Eine neue Philososphie der Biologie, München 1991. McFarland, David: Biologie des Verhaltens, 2. Aufl. Heidelberg 1999. Mead, George H.: Mind, Self & Society, Chicago 1963.

- Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1968. Mehlkop, Guido: Methodische Probleme bei der Analyse von Wertvorstellungen und Wirtschaftswachstum, Zeitschrift für Soziologie 2000, S. 217 - 226. Meier, Heinrich I Ploog, Detlev (Hrsg.): Der Mensch und sein Gehirn, München 1997. Meissner, Boris: Fortschrittsgedanke und gesellschaftliche Transformation in der marxisitisch-leninistischen Ideologie, in: Burck, Erich (Hrsg.): Die Idee des Fortschritts, München 1963, S. 105 -125. Meleghy, Tamas: Karl Poppers Logik der Sozialwissenschaften, Angewandte Sozialforschung 3+4/1997, S. 95 -108.

- Zur Logik der Sozialwissenschaften: Überlegungen auf der Grundlage der Drei-WeltenTheorie von Karl Popper, Angewandte Sozialforschung 3+4/1999 - 2000, S. 133 - 154. Meleghy, Tamas I Niedenzu, Heinz-Jürgen: Prozeß- und Figurationstheorie: Norbert Elias, in: Morel, Julius/Bauer, Eva/dies./Preglau, MaxIStaubmann, Helmut: Soziologische Theorie, 7. Aufl. München 2001, S. 190-217. Merton, Robert: The unanticipated consequences of purposive social action, American Sociological Review 1936, S. 894-904.

- Soziologische Theorie und soziale Struktur, Berlin 1995. Messmer, Bernhard: Die Grundlagen von Poppers Sozialphilosophie, Bern 1981. Mestmäcker, Ernst-Joachim: Organisationen in spontanen Ordnungen, Freiburg 1992.

Literaturverzeichnis

245

- Recht in der offenen Gesellschaft, Baden-Baden 1993. Meulemann, Heiner: Werte und Wertewandel, Weinheim 1996.

- Wertwandel in modernen Gesellschaften, in: Janssen, Edzard/Möhwald, Ulrich/Ölschleger, Hans Dieter (Hrsg.): Gesellschaft im Umbruch?, München 1996, S. 41-63. - Wertwandel als Diagnose sozialer Integration, in: Friedrichs, Jürgen/Lepsius, Rainer M./ Mayer, Karl Ulrich (Hrsg.): Die Diagnosefähigkeit der Soziologie, Opladen 1998, S. 256285. Meyer, Peter: Soziobiologie und Soziologie, Darmstadt 1982. Meyer, Ruth: Wertforschung im systematischen internationalen Vergleich, in: Klages, Helmut/Krnieciak, Peter (Hrsg.): Wertwandel und gesellschaftlicher Wandel, Frankfurt a. M. 1979, S. 41-60. Meyers Taschenlexikon Biologie, Bd. 2, 3. Aufl. Mannheim 1994. Meyers Taschenlexikon Biologie, Bd. 3,3. Aufl. Mannheim 1994. Miegel, Meinhard I Wahl, Stefanie: Das Ende des Individualismus, 2. Aufl. Bonn 1994. Mittelstraß, Jürgen (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie I, Mannheim 1980.

- (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie 4, Mannheim 1996. - Wissen, in: ders. (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie und Wissenschaftstheorie 4, Mannheim 1996, S. 717-719. Molitor, Bruno: Piecemeal-Engineering in der Wirtschafts- und Sozialpolitik, in: Ortlieb, Heinz-Dietrich/ders./Krone, Werner (Hrsg.): Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Tübingen 1976, S. 25 -43. Mooser, Joseph: Auflösung proletarischer Milieus, Soziale Welt 1983, S. 270-306. Morel, Juliusl Bauer, Eval Meleghy, Tamasl Niedenzu, Heinz-Jürgenl Preglau, MaxI Staubmann, Helmut: Soziologische Theorie, 7. Aufl. München 200 I. Mückenberger, Ulrich: Die Krise des Normalarbeitsverhältnis, Zeitschrift für Sozialreform 1985, S. 415 -434 und 457 -475. Müller, Christoph: Soziale Netzwerke im Internet, http://www.soz.unibe.ch/ii/virt/ unipress.htrnl (17. 10.2001). Müller, Hans-Peter: Sozialstruktur und Lebensstile, Frankfurt a. M. 1992. Müller-Rommel, Ferdinand: Die Postmaterialismusdiskussion in der empirischen Sozialforschung: Politisch und wissenschaftlich überlebt oder noch immer zukunftsweisend, Politische Vierteljahresschrift 1983, S. 218-228. Müller-Schmid, Peter Paul: Die Philosophie des "kritischen Rationalismus" in K. R. Poppers Konzeption der "offenen Gesellschaft", Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie 1970, S.123-148.

- Die philosophischen Grundlagen der Theorie der "offenen Gesellschaft", Heidelberg 1970. Münch, Richard: Die Struktur der Moderne, Frankfurt a. M. 1992.

246

Literaturverzeichnis

- Elemente einer Theorie der Integration moderner Gesellschaften, in: Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.): Was hält die Gesellschaft zusammen?, Frankfurt a. M. 1997, S. 66-109. - Soziale Integration als dynamischer Prozeß, in: Giegel, Hans-Joachim (Hrsg.): Konflikt in modemen Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1998, S. 190-201. Münkler; Herfried (Hrsg.): Furcht und Faszination, Berlin 1997. Musgrave, Alan: What is Critical Rationalism?, in: Bohnen, Alfred / ders. (Hrsg.): Wege der Vernunft, Tübingen 1991,S. 17-30.

- Alltagswissen, Wissenschaft und Skeptizismus, Tübingen 1993. Mutz, Gerd: Erwerbsbiographische Diskontinuitäten in West- und Ostdeutschland, in: Berger, Peter A. / Sopp, Peter (Hrsg.): Sozialstruktur und Lebenslauf, Opladen 1995, S. 205 - 233. Mutz, Gerd/ Ludwig-Mayerhofer; Wolfgang/ Koenen, Elmar J./ Eder; Klaus/ Bonß, Wolfgang: Diskontinuierliche Erwerbsverläufe, Opladen 1995. Niemann, Hans-Joachim: Die Strategie der Vernunft, Braunschweig 1993. Noelle-Neumann, Elisabeth: Erinnerungen an die Entdeckung des Wertewandels, in: Kreyher, Volker J./Böhret, Carl (Hrsg.): Gesellschaft im Übergang, Baden-Baden 1995, S. 23 - 30. Nohlen, Dieter (Hrsg.): Lexikon der Politik, Bd. 2, München 1994.

- (Hrsg.): Wörterbuch Staat und Politik, Bonn 1996. - (Hrsg.): Lexikon der Politik, Bd. 7, München 1998. Obenneier; Otto-Peter: Poppers "negative Lösung" des Induktionsproblems und die hieraus resultierenden Folgelasten, in: Salamun, Kurt (Hrsg.): Karl R. Popper und die Philosophie des Kritischen Rationalismus, Amsterdam 1989, S. 65 - 82. Obemdörfer; Dieter / Rattinger; Hans / Schmitt, Karl (Hrsg.): Wirtschaftlicher Wandel, religiöser Wandel und Wertwandel. Folgen für das politische Verhalten in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1985. Oerter; Rolf (Hrsg.): Menschenbilder in der modemen Gesellschaft, Stuttgart 1999. Oeser; Erhard: System, Klassifikation, Evolution, Wien 1974. Oesterdiekhoff, Georg W.: Soziale Strukturen, sozialer Wandel und Wertewandel. Das Theoriemodell von Ronald Inglehart in der Diskussion seiner Grundlagen, in: ders. / legelka, Norbert (Hrsg.): Werte und Wertewandel in westlichen Gesellschaften, Opladen 2001,

S.41-54. Oesterdiekhoff, Georg W. / legelka, Norbert (Hrsg.): Werte und Wertewandel in westlichen Gesellschaften, Opladen 2001. Ohlin, Bertil: Interregional and International Trade, Cambridge 1933. Ohmae, Kenichi: Die neue Logik der Weltwirtschaft, Hamburg 1992.

- Der neue Weltmarkt, Hamburg 1996. Ortlieb, Heinz-Dietrich/ Molitor; Bruno/ Krone, Werner (Hrsg.): Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik, Tübingen 1976.

Literaturverzeichnis

247

Osche, Günther: Die Sonderstellung des Menschen in biologischer Sicht: Biologische und kulturelle Evolution, in: Siewing, Rolf (Hrsg.): Evolution, 3. Auf!. Stuttgart 1987, S. 499523. Osterland, Martin: "Normalbiographie" und "Normalarbeitsverhältnis", in: Berger, Peter A.I Hradil, Stefan (Hrsg.): Lebenslagen, Lebensläufe, Lebensstile, Göttingen 1990, S. 351362. Oswald, Margit E.I Baurmann, Michael: Die offene Gesellschaft und ihre Fremden, Bern 1998. Ou, Jörg A.I Wagner, Günter P.I Wuketits, Franz M. (Hrsg.): Evolution, Ordnung und Erkenntnis, Berlin 1985.

o.

v.: Gespräch mit Karl Popper, in: Lührs, Georg I Sarrazin, Thilo I Spreer, Friethjofl Tietzel, Manfred (Hrsg.): Theorie und Politik aus kritisch rationaler Sicht, Berlin 1978, S. 17 - 30.

Pähler, Klaus: Qualitätsmerkmale wissenschaftlicher Theorien, Tübingen 1986. Paetau, Michael: Sozialität in virtuellen Räumen, in: Becker, Barbaral ders. (Hrsg.): Virtualisierung des Sozialen, Frankfurt a. M. 1997, S. 103 - 134.

- Computernetzwerke und die Konstitution des Sozialen, in: Honegger, Claudia/Hradil, Stefan I Traxler, Franz (Hrsg.): Grenzenlose Gesellschaft, Bd. 2, Opladen 1999, S. 270-284. Pannier, Jörg: Gesellschaft, in: Prechtl, Peter/Burkard, Franz-Peter: Metzler Philosophie Lexikon, 2. Auf!. Stuttgart 1999, S. 206. Pappi, Franz Urban: Wert, in: Nohlen, Dieter (Hrsg.): Lexikon der Politik, Bd. 7, München 1998, S. 722.

- Wertewandel, in: Nohlen, Dieter (Hrsg.): Lexikon der Politik, Bd. 7, München 1998, S.722-723. Paul, Andreas: Von Affen und Menschen, Darmstadt 1998. Paul, Andreas I Voland, Eckart I Wink/er, Paul: Die biologische Angepaßtheit des Menschen: Hindernis oder Orientierungshilfe auf dem Weg zu einer besseren Welt?, in: Voland, Eckart (Hrsg.): Evolution und Anpassung, Stuttgart 1993, S. 295-310. Perler, Dominik: Rene Descartes, München 1998. Pesch, Otto Herrnann: Thomas von Aquin, Mainz 1988. Peters, Bernhard: Intergration moderner Gesellschaften, Frankfurt a. M. 1993. Pies, lngo: Theoretische Grundlagen demokratischer Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik Der Beitrag Karl Poppers, in: ders./Leschke, Martin (Hrsg.): Karl Poppers kritischer Rationalismus, Tübingen 1999, S. 1-38. Pies, lngol Leschke, Martin (Hrsg.): Karl Poppers kritischer Rationalismus, Tübingen 1999. Plomin, Robertl DeFries, John C.I McCleam, Gerald E.I Rutter, Michael: Gene, Umwelt und Verhalten, Bern 1999. Pöter, Wolfgang: Wahrheitstheorien und die Stellung des Wahrheitsbegriffs in den Sozialwissenschaften, Münster 1990. Pongs, Armin: In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?, Bd. 1, München 1999.

248

Literaturverzeichnis

- In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich?, Bd. 2, München 2000. Popper; Karl R.: Indetenninism in Quantum Physics and in Classical Physics, British Journal

for the Philosophy of Science 1950, S. 117 - 133 und 173 - 195. - The Poverty of Historicism, 2. Auf!. London 1960. - Naturgesetze und theoretische Systeme, in: Albert, Hans (Hrsg.): Theorie und Realität, Tübingen 1964, S. 87 -102. - Prognose und Prophetie in den Sozialwissenschaften, in: Topitsch, Ernst (Hrsg.): Logik der Sozialwissenschaften, 5. Auf!. Köln 1968, S. 113 -125. - Die Logik der Forschung, 3. Auf!. Tübingen 1969. - Die Logik der Sozialwissenschaften, in: Adorno, Theodor W.: Der Positivismusstreit in der deutschen Soziologie, Neuwied 1969, S. 103 - 123. - Objective Knowledge, Oxford 1972. - Zur Theorie der Politik - Bemerkungen zu einer Arbeit von Heiner Flohr, Rechtstheorie 1973, S. 88-89. - Replies to my critics" in: Schilpp, Paul Arthur (Hrsg.): The philosophy of Karl Popper 2, La Salle 1974, S. 1081-1091. - Wie ich die Philosophie sehe, in: Lührs, Georg I Sarrazin, Thilo I Spreer, Friethjofl Tietzel, Manfred (Hrsg.): Theorie und Politik aus kritisch rationaler Sicht, Berlin 1978, S. 1-16. - Das Elend des Historizismus, 5. Auf!. Tübingen 1979. - Objektive Erkenntnis, 4. Auf!. Hamburg 1984. - Die erkenntnistheoretische Position der evolutionären Erkenntnistheorie, in: Riedl, Rupert/Wuketits, Franz M. (Hrsg.): Die evolutionäre Erkenntnistheorie, Berlin 1987, S. 2940. - Auf der Suche nach einer besseren Welt, 5. Auf!. München 1990. - Erkenntnis und Gestaltung der Wirklichkeit: Die Suche nach einer besseren Welt, in: ders.: Auf der Suche nach einer besseren Welt, 5. Auf!. München 1990, S. 11-40. - Selbstbefreiung durch Wissen, in: ders.: Auf der Suche nach einer besseren Welt, 5. Auf!. München 1990, S. 149-163. - Woran glaubt der Westen?, in: ders.: Auf der Suche nach einer besseren Welt, 5. Auf!. München 1990, S. 231-253. - Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 1,7. Auf!. Tübingen 1992. - Die offene Gesellschaft und ihre Feinde 2, 7. Auf!. Tübingen 1992. - Ich weiß, daß ich nichts weiß - und kaum das, 2. Auf!. Bonn 1992. - Ausgangspunkte, Hamburg 1994. - Die bei den Grundprobleme der Erkenntnistheorie, 2. Auf!. Tübingen 1994. - Vermutungen und Widerlegungen 1, Tübingen 1994. - Alles Leben ist Problemlösen, 4. Auf!. München 1995.

Literaturverzeichnis

249

- Bemerkungen zur Theorie und Praxis des demokratischen Staates, in: ders.: Al1es Leben ist Problemlösen, 4. Auf!. München 1995, S. 215 -238. - Eine Welt von Propensitäten, Tübingen 1995. - Freiheit und intellektuel1e Verantwortung, in: ders.: Alles Leben ist Problemlösen, 4. Auf!. München 1995, S. 239-254. - Gegen den Zynismus in der Interpretation der Geschichte, in: ders.: Al1es Leben ist Problemlösen, 4. Auf!. München 1995, S. 265 - 281. - Über Geschichtsschreibung und über den Sinn der Geschichte, in: ders.: Al1es Leben ist Problemlösen, 4. Auf!. München 1995, S. 173 - 205. - Wissenschaftslehre in entwicklungstheoretischer und logischer Sicht, in: ders.: Alles Leben ist Problemlösen, 4. Auf!. München 1995, S. 15 -45. - Zum Thema Freiheit, in: ders.: Alles Leben ist Problemlösen, 4. Auf!. München 1995, S.155-172. - Zur Theorie der Demokratie, in: ders.: Al1es Leben ist Problemlösen, 4. Auf!. München 1995, S. 207-216. - Vermutungen und Widerlegungen 2, Tübingen 1997. Popper, Karl R.I Eccles, John c.: Das Ich und sein Gehirn, 2. Auf!. München 1982. Popper, Karl R. I Kreuzer, Franz: Offene Gesel1schaft - Offenes Universum, Wien 1982. Popper, Karl R. I Lorenz, Konrad: Die Zukunft ist offen, 4. Auf!. München 1990. Prechtl, Peterl Burkard, Franz-Peter: Metzler Philosophie Lexikon, 2. Auf!. Stuttgart 1999. Preglau, Max: Das "postmoderne" Selbst: Jenseits von Solidarität und Gemeinschaft?, in: Honegger, Claudia/Hradil, Stefan I Traxler, Franz (Hrsg.): Grenzenlose Gesel1schaft, Bd. 1,

Opladen 1999, S. 307 -323. - Symbolischer Interaktionismus: George Herbert Mead, in: Morel, Julius I Bauer, Eva/Meleghy, Tamas I Niedenzu, Heinz-Jürgen I ders. I Staubmann, Helmut: Soziologische Theorie, 7. Auf!. München 2001, S. 52-66. Puschner, Walter: Materialismus und Postmaterialismus in der Bundesrepublik Deutschland

1970-1982, in: Oberndörfer, Dieter/Rattinger, Hans/Schmitt, Karl (Hrsg.): Wirtschaftlicher Wandel, religiöser Wandel und Wertwandel. Folgen für das politische Verhalten in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1985, S. 357 - 389. Radnitzky, Gerhard: Wertfreiheitsthese: Wissenschaft, Ethik und Politik, in: ders. I Andersson,

Gunnar (Hrsg.): Voraussetzungen und Grenzen der Wissenschaft, Tübingen 1981, S. 47126. - Die ungeplante Gesel1schaft, in: Gutowski, Armin/Molitor, Bruno (Hrsg.): Hamburger Jahrbuch für Wirtschafts- und Gesel1schaftspolitik, Tübingen 1984, S. 9-33. - Der kritische Rationalismus in der Erkenntnistheorie und politischen Philosophie in: Salamun, Kurt (Hrsg.): Karl R. Popper und die Philosophie des Kritischen Rationalismus, Amsterdam 1989, S. 179 - 202.

250

Literaturverzeichnis

- Kritischer Rationalismus, soziale Marktwirtschaft und Demokratie, in: Salamun, Kurt (Hrsg.): Moral und Politik aus Sicht des Kritischen Rationalismus, Amsterdam 1991, S.255-280. - Karl R. Popper, Sankt Augustin 1995. Radnitzky, Gerhardl Andersson, Gunnar (Hrsg.): Fortschritt und Rationalität der Wissenschaft, Tübingen 1980.

- Gibt es objektive Kriterien für den Fortschritt?, in: dies. (Hrsg.): Fortschritt und Rationalität der Wissenschaft, Tübingen 1980, S. 3 - 24. - (Hrsg.): Voraussetzungen und Grenzen der Wissenschaft, Tübingen 1981. Rahmeyer, Fritz: Kritik der Politikkonzeption des Kritischen Rationalismus, in: Lührs, Georg/Sarrazin, Thilo 1 Spreer, FriethjoflTietzel, Manfred (Hrsg.): Kritischer Rationalismus und Sozialdemokratie 2, Berlin 1976, S. 267 - 290. Rammen, Werner (Hrsg.): Technik und Sozialtheorie, Frankfurt a. M. 1998. Rapp, Friedrich: Der Fortschrittsgedanke, Wissenschaft und Fortschritt 42/1992, S. 13 - 17.

- Fortschritt, Darmstadt 1992. Regenbogen, Arnim: Werte, in: Sandkühler, Hans Jörg (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie 0Z, Hamburg 1999, S. 1743-1748. Regenbogen, Arniml Meyer, Uwe (Hrsg.): Wörterbuch der philosophischen Begriffe, Hamburg 1998. Reif, Adelbert: Der Prozeß der Globalisierung ist unurnkehrbar, Universitas 1999, S. 12121220. Reimann, Horst 1Müller, Hans-Peter (Hrsg.): Probleme moderner Gesellschaften, Opladen 1994. Reinhold, Gerd (Hrsg.): Soziologie-Lexikon, München 1991. Rensch, Bernhard: Neuere Probleme der Abstammungslehre, 2. Auf!. Stuttgart 1954. Rheingold, Howard: Virtuelle Gemeinschaft, Bonn 1994. Ricardo, David: On the Principles of Political Economy and Taxation, London 1817.

- Über die Grundsätze der politischen Ökonomie und der Besteuerung, Marburg 1994. Richter, Rudolf: Soziologische Paradigmen, Wien 1997. Ridley, Mark: Evolution, Basel 1990. Riedl, Rupert: Die Spaltung des Weltbildes, Berlin 1985.

- Die Ordnung des Lebendigen, München 1990. Riedl, Rupertl Ahrens, Hans-Joachim (Hrsg.): Die Evolutionäre Erkenntnistheorie im Spiegel der Wissenschaften, Wien 1996. Riedl, Rupertl Kreuzer, Franz (Hrsg.): Evolution und Menschenbild, Hamburg 1983. Riedl, Rupertl Wuketits, Franz M. (Hrsg.): Die Evolutionäre Erkenntnistheorie, Berlin 1987. Rifkin, Jeremy: Das Ende der Arbeit, Frankfurt a. M. 1998.

Literaturverzeichnis

251

Ritsert, Jürgen: Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2000. Ritter, Joachim (Hrsg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, Basel 1974. Rössner, Hans (Hrsg.): Der ganze Mensch, München 1986, S. 47 -66. Röttger, Kurt: Sozialphilosophie, Essen 1997. Röwer, Hans-Gerd: Holismus und Elementarismus in der Systemtheorie, Frankfurt a. M. 1985. Rohbeck, Johannes: Die Fortschrittstheorie der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1987. Rolshausen, Claus: Gesellschaftstheorien, in: Kerber, Harald/ Schmieder, Arnold (Hrsg.): Handbuch Soziologie, Hamburg 1984, S. 182-194. Romer, Alfred S. (Hrsg.): Die Enzyklopädie der Natur, Bd. 2, Lausanne 1970. Rose, Klaus/Sauemheimer, Karlhans: Theorie der Außenwirtschaft, 13. Aufl. München 1999. Rothe, Hartmut: Die Stellung des Menschen im System der Primaten, Tübingen 1990. Rowe, David c.: Genetik und Sozialisation, Weinheim 1997. Ruppert, Karsten: Die Idee des Fortschritts in der Neueren Geschichte, Wolnzach 2000. Saage, Richard: Vertragsdenken und Utopie, Frankfurt a. M. 1989. Sacchi, Stefan: Messung von Wertorientierungen: Ranking oder Rating?, Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 2000, S. 541- 552. Sackmann, Reinhold/ Rasztar, Matthias: Das Konzept 'Beruf' im lebenslaufsoziologischen Ansatz, in: Heinz, Walter R. / Dressei, Werner / Blaschke, Dieter / Engelbrech, Gerhard (Hrsg.): Was prägt Berufsbiographien?, Nürnberg 1998, S. 25 -53. . Salamun, Kurt (Hrsg.): Karl R. Popper und die Philosophie des Kritischen Rationalismus, Amsterdam 1989.

- Der Ethos der Aufklärung im Kritischen Rationalismus, in: ders. (Hrsg.): Moral und Politik aus Sicht des Kritischen Rationalismus, Amsterdam 1990, S. 95 -119. - Der Kritische Rationalismus, in: Ballestrem, Karl/Ottmann, Henning (Hrsg.): Politische Philosophie des 20. Jahrhunderts, München 1990, S. 263 - 280. - (Hrsg.): Moral und Politik aus Sicht des Kritischen Rationalismus, Amsterdam 1991. - Befriedetes Dasein und Offene Gesellschaft, in: Albert, Hans/ Salarnun, Kurt (Hrsg.): Mensch und Gesellschaft aus der Sicht des Kritischen Rationalismus, Amsterdam 1993, S.90-120. Sambursky, Shmuel: Das physikalische Weltbild der Antike, Zürich 1965. Sander; Uwe: Die Bindung des Unverbindlichen, Frankfurt a. M. 1998. Sander; Uwe/ Heitmeyer, Wilhelm: Was leisten Integrationsmodi?, in: Heitmeyer, Wilhelm (Hrsg.): Was hält die Gesellschaft zusammen?, Frankfurt a. M. 1997, S. 447 -482. Sandkühler, Hans Jörg (Hrsg.): Europäische Enzyklopädie zu Philosophie und Wissenschaften, Bd. 4, Hamburg 1990.

- (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie A-N, Hamburg 1999.

252

Literaturverzeichnis

- (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie O-Z, Harnburg 1999. Sandmann, Jürgen: Ernst Haeckels Entwicklungslehre als Teil seiner biologistischen Weltan-

schauung, in: Engels, Eve-Marie (Hrsg.): Die Rezeption von Evolutionstheorien im 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1995, S. 326-346. Sattler; Stefan Georg: Der griechische Fortschrittsbegriff, dargestellt an Platon, Berlin 2000. Schachtschneider; Karl Albrecht: Das Sozialprinzip, Bielefeld 1974.

- Res publica res populi, Berlin 1994. - Vom liberalistischen zum republikanischen Freiheitsbegriff, in: ders. (Hrsg.): Wirtschaft, Gesellschaft und Staat im Umbruch, Berlin 1995, S. 418-449. - (Hrsg.): Wirtschaft, Gesellschaft und Staat im Umbruch, Berlin 1995. - Freiheit in der Republik, Manuskript 2000. - Prinzipien des Rechtsstaates, 5. Auf!. 2001. Schäfer; Lothar: Karl R. Popper, 3. Auf!. München 1996. Schäfers, Bernhard: Gesellschaft, in: ders. (Hrsg.): Grundbegriffe der Soziologie, 4. Auf!.

Opladen 1994, S. 95 - 11 o.

- (Hrsg.): Grundbegriffe der Soziologie, 4. Auf!. Opladen 1995. - (Hrsg.): Soziologie in Deutschland, Opladen 1995. - Sozialstruktur und sozialer Wandel in Deutschland, 7. Auf!. Stuttgart 1998. Schäfers, Bernhard I Zapf, Wolfgang (Hrsg.): Handwörterbuch zur Gesellschaft Deutschlands,

Opladen 1998. Scherer; Georg: Thomas von Aquin, in: Lutz, Bernd (Hrsg.): Metzler Philosophenlexikon,

2. Auf!. Stuttgart 1995, S. 882-886. v. Schilcher; Florian: Vererbung des Verhaltens, Stuttgart 1988. Schiller; Karl: Der schwierige Weg in die offene Gesellschaft, Berlin 1994. SchUpp, Paul Arthur (Hrsg.): The philosophy of Karl Popper I , La Salle 1974.

- (Hrsg.): The philosophy of Karl Popper 2, La Salle 1974. Schleichert, Hubert (Hrsg.): Logischer Empirismus - Der Wiener Kreis, München 1975. Schmid, Michael: Die Idee rationalen Handeins und ihr Verhältnis zur Sozialwissenschaft, in:

Wallner, Fritz (Hrsg.): Karl Popper - Philosophie und Wissenschaft, Wien 1985, S. 89107. - Methodologischer Individualismus, Historizismus und Historismus, in: Sievering, Ulrich O. (Hrsg.): Kritischer Rationalismus heute, Frankfurt a. M. 1988, S. 101-126. Schmidt, Berndl Albert, Karll Kämmerer; Horst (Hrsg.): Kritischer Rationalismus und Neue

Kreativität, Passau 1998. Schmidtchen, Dieter: Preise und spontane Ordnung, Saarbriicken 1989. Schmieder; Amold: Identität, in: Kerber, Haraldl ders. (Hrsg.): Handbuch Soziologie, Harn-

burg 1984, S. 229-234.

Literaturverzeichnis

253

Schöpf, Alfred: Augustinus, München 1970. Schroer, Markus: Individualisierte Gesellschaft, in: Kneer, Georg 1 Nassehi, Arrnin 1ders. (Hrsg.): Soziologische Gesellschaftsbegriffe, München 1997, S. 157 -183. Schüßler, Rudolf: Kooperation unter Egoisten: Vier Dilemmata, Oldenburg 1990. Schütz, Alfred: Der sinnhafte Aufbau der sozialen Welt, Wien 1932. Schumann, Siegfried: Postmaterialismus: Ein entbehrlicher Ansatz?, in: Falter, Jürgen W.I Rattinger, Hans/Troitzsch, Klaus G. (Hrsg.): Wahlen und politischen Einstellungen in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 1989, S. 58 - 121. Schumpeter, Joseph Alois: Das Wesen und der Hauptinhalt der theoretischen Nationalökonomie, 2. Aufl. Leipzig 1970. Schurz, Gerhard: Karl Popper und das Induktionsproblem, Angewandte Sozialforschung 3+4/1997, S. 25 -31.

- Das Problem der Induktion, in: Keuth, Herbert (Hrsg.): Karl Popper, Logik der Forschung, Berlin 1998, S. 25 -40. Schweidler, Walter (Hrsg.): Weltweite Werte?, Bochum 2000. Seidl, Otmar: Die Territorialität des Menschen, München 1985. Seiffen, Helmut! Radnitzky, Gerhard (Hrsg.): Handlexikon zur Wissenschaftstheorie, München 1989. Seiler, Martin: Heinrich Gomperz, Karl Popper und die österreichische Philosophie, Amsterdam 1994. Seitelberger, Franz: Neurobiologische Aspekte der Intelligenz, in: Lorenz, Konrad/Wuketits, Franz (Hrsg.): Die Evolution des Denkens, München 1983, S. 167 -196. Seil, Axel: Einführung in die internationalen Wirtschaftsbeziehungen, Berlin 1991. Sennett, Richard: Der flexible Mensch, Berlin 2000. Siebers, Ruth: Zwischen Normalbiographie und Individualisierungssuche, Münster 1996. Sieben, Horst: Außenwirtschaft, 6. Aufl. Stuttgart 1994. Sievering, Ulrich O. (Hrsg.): Kritischer Rationalismus heute, Frankfurt a. M. 1988. Siewing, Rolf (Hrsg.): Evolution, 3. Aufl. Stuttgart 1987. Sman, J. J. c.: Negative Utilitarianism, in: D' Agostino, Fredl Jarvie, Ian C. (Hrsg.): Freedom and Rationality, Dordrecht 1989, S. 35-46. Smith, Adam: An Inquiry into the Nature and Causes of the Wealth of Nations, London 1776.

- Der Wohlstand der Nationen, 3. Aufl. München 1983. Smith, John Maynard 1Szathmary, Eörs: Evolution, Heidelberg 1996. Söllner, Fritz: Die Geschichte des ökonomischen Denkens, Berlin 1999. Sommer, Volker (Hrsg.): Biologie des Menschen, Heidelberg 1996.

- Von Menschen und anderen Tieren, Stuttgart 2000. Speck, Joseph (Hrsg.): Philosophie der Gegenwart 1, Göttingen 1972.

254

Literaturverzeichnis

Spengler; Oswald: Der Untergang des Abendlandes I, München 1923.

- Der Untergang des Abendlandes 11, München 1923. Spinner; Helmut E: Pluralismus als Erkenntnismodell, Frankfurt a. M. 1974.

- Popper und die Politik, Berlin 1978. - Ist der Kritische Rationalismus arn Ende?, Weinheim 1982. - Der ganze Rationalismus einer Welt von Gegensätzen, Frankfurt a. M. 1994. Stachowiak, Herbert (Hrsg.): Pragmatik, Handbuch Pragmatischen Denkens, Bd. 11, Harnburg 1987. Stebbins, Ledyard: Evolutionsprozesse, Stuttgart 1968. Steele, David R.: Hayek's Theory of Cultural Group Selection, The Journal of Libertarian Studies 1987, S.171-195. Stegbauer; Christian: Die Struktur internetbasierter Sozialräume, in: Honegger, Claudia/Hradil, Stefan/Traxler, Franz (Hrsg.): Grenzenlose Gesellschaft, Bd. 1, Opladen 1999, S.675-691. Steger; Ulrich (Hrsg.): Facetten der Globalisierung, Berlin 1999. Stegmüller; Wolfgang: Erklärung Begründung Kausalität, Berlin 1983.

- Das Problem der Induktion: Humes Herausforderung und moderne Antworten, Darmstadt 1986. Stehr; Nico: Die Zerbrechlichkeit moderner Gesellschaften, Weilerswist 2000. Steinherr; Ludwig: Holismus, Existenz und Identität, St. Ottilien 1995. Steitz, Erich: Die Evolution des Menschen, 3. Auf!. Stuttgart 1993. Storch, Volker I Welsch, Ulrich: Evolution, 6. Auf!. München 1989. Streit, Manfred E.: Freiburger Beiträge zur Ordnungsökonomik, Tübingen 1995.

- Konstitutioneller Wissensmangel, Spontane Ordnung und Regel-Orientierung, in: ders.: Freiburger Beiträge zur Ordnungsökonomik, Tübingen 1995, S. 195 - 217. - Wissen, Wettbewerb und Wirtschaftsordnung, in: ders.: Freiburger Beiträge zur Ordnungsökonomik, Tübingen 1995, S. 159-194. Strip/, Rainer: Evolution - Geschichte einer Idee, Stuttgart 1989. Strubl, Christoph: Systemgestaltungsprinzipien, Göttingen 1993. Tegethoff, Hans Georg: Soziale Gruppen und Individualisierung, Neuwied 1999. Termier; Henri: Die Geschichte der Evolutionslehre, in: Romer, Alfred S. (Hrsg.): Die Enzyklopädie der Natur, Bd. 2, Lausanne 1970, S. 257 -277. Teufel, Erwin (Hrsg.): Was hält die moderne Gesellschaft zusammen?, Frankfurt a. M. 1996. Theimer; Walter: Lexikon der Politik, 9. Auf!., München 1981. Thiedeke, Udo (Hrsg.): Virtuelle Gruppen, Wiesbaden 2000. Thomas, Williarn I.: Person und Sozialverhalten, Neuwied 1965.

Literaturverzeichnis

255

Thumher; Rainer: Poppers Platon-Interpretation, in: Wallner, Fritz (Hrsg.): Karl Popper Philosophie und Wissenschaft, Wien 1985, S. 9-16. Topitsch, Ernst (Hrsg.): Logik der Sozialwissenschaften, 5. Aufl. Köln 1968. Toynbee, Amold: Kultur am Scheidewege, Wien 1949. Treibei, Annette: Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart, 4. Aufl. Opladen 1997. Turowski, Jan: Einführung in die Problematik der Integrationsprozesse der modemen Gesellschaft, in: Dyczewski, Leon (Hrsg.): Integrationsprozesse in der modemen Gesellschaft, Lublin 1988, S. 13-22. Ulrich, Peter: Transformation der ökonomischen Vernunft, 2. Aufl. 1987. Utzig, Siegfried: Konjunktur, Erwartungen und spontane Ordnung, Frankfurt a. M. 1987. Vanberg, Viktor: Wissenschaftsverständnis, Sozialtheorie und politische Programmatik, Tübingen 1973.

- Die zwei Soziologien, Tübingen 1975. - Liberaler Evolutionismus oder vertragstheoretischer Konstitutionalismus?, Tübingen 1981. - Der individualistische Ansatz zu einer Theorie der Entstehung und Entwicklung von Institutionen, in: Boettcher, Erik/Herder-Dorneich, Philipp/Schenk, Karl-Ernst (Hrsg.): Jahrbuch für Neue Politische Ökonomie, Bd. 2, Tübingen 1983, S. 50-69. - Evolution und spontane Ordnung, in: Albert, Hans (Hrsg.): Ökonomisches Denken und soziale Ordnung, Tübingen 1984, S. 83-112. - Kulturelle Evolution und die Gestaltung von Regeln, Tübingen 1994. Veith, Hermann: Das Selbstverständnis des modemen Menschen, 2001. Vester; Frederic: Denken, Lernen, Vergessen, 26. Aufl. München 1999. Vickers, Brian: Francis Bacon, Beriin 1978. Vogel, Christian: Von der Natur des Menschen in der Kultur, in: Rössner, Hans (Hrsg.): Der ganze Mensch, München 1986, S. 47 -66.

- Evolution des Menschen, in: Siewing, Rolf (Hrsg.): Evolution, 3. Aufl. Stuttgart 1987, S.415-452. Vages, Wolfgang (Hrsg.): Methoden der Biographie- und Lebenslaufforschung, Opladen 1987. Vogt, Hans-Heinrich: Der lange Weg der Soziobiologie, Naturwissenschaftliche Rundschau 1999, S. 391-399. Voigt, Rüdiger (Hrsg.): Der neue Nationalstaat, Baden-Baden 1998. Voland, Eckart (Hrsg.): Evolution und Anpassung, Stuttgart 1993.

- Grundriß der Soziobiologie, 2. Aufl. Heidelberg 2000. Voland, Eckartl Paul, Andreas: Vom "egoistischen Gen" zur Farniliensolidarität - Die soziobiologische Perspektive von Verwandtschaft, in: Wagner, Michael I Diewald, Yvonne (Hrsg.): Verwandtschaft, Stuttgart 1998, S. 35-58.

256

Literaturverzeichnis

Vollmer, Gerhard: Mesokosmos und objektive Erkenntnis - Über Probleme, die von der evolutionären Erkenntnistheorie gelöst werden, in: Lorenz, Konrad/Wuketits, Franz (Hrsg.): Die Evolution des Denkens, München 1983, S. 29-91.

- Evolutionäre Erkenntnistheorie, 5. Aufl. Stuttgart 1990. - Gelöste, ungelöste und unlösbare Probleme, Göttingen 1992. Volpi, Franco (Hrsg.): Lexikon der philosophischen Werke, Stuttgart 1988.

- (Hrsg.): Großes Werklexikon der Philosophie, Stuttgart 1999. Voß, Günterl Pongratz, Hans J. (Hrsg.): Subjektorientierte Soziologie, Opladen 1997. Wagner, Friedrich: Weg und Abweg der Naturwissenschaft, München 1970. Wagner, MichaelI Diewald, Yvonne (Hrsg.): Verwandtschaft, Stuttgart 1998. Wallner, Fritz (Hrsg.): Karl Popper- Philosophie und Wissenschaft, Wien 1985. Wamke, Carnilla: Die "abstrakte" Gesellschaft, Berlin 1974. Waschkuhn, Amo: Kritischer Rationalismus, München 1999. Watkins, John W. N.: Ideal Types and Historical Explanation, in: Feigl, Herbert/Brodbeck, May (Hrsg.): Readings in the philosophy of science, New York 1953, S. 723 -743.

- Negative Utilitarianism II, Aristotelian Society Supplementary 1963, S. 94-114. - Karl Raimund Popper - Die Einheit des Denkens in: Speck, Joseph (Hrsg.): Philosophie der Gegenwart 1, Göttingen 1972, S. 151-214. - Freiheit und Entscheidung, Tübingen 1978. - Die Poppersche Analyse der wissenschaftlichen Erkenntnis, in: Radnitzky, Gerhardl Andersson, Gunnar (Hrsg.): Fortschritt und Rationalität der Wissenschaft, Tübingen 1980, S. 27 -49. Weidenfeld, Wemer: Orientierungsverlust, in: ders./Rumberg, Dirk (Hrsg.): Orientierungsverlust - Zur Bindungskrise der moderner Gesellschaften, Gütersloh 1994, S. 5 - 11. Weidenfeld, Werner I Rumberg, Dirk (Hrsg.): Orientierungsverlust - Zur Bindungskrise der moderner Gesellschaften, Gütersloh 1994. Weingarten, Michael: Organismen - Objekte oder Subjekte der Evolution?, Darmstadt 1993. Weinheimer, Heinz: Rationalität und Begründung, Bonn 1986. Weinke, Kurt: Einige Probleme in Poppers Sozialphilosophie, in: Wallner, Fritz (Hrsg.): Karl Popper - Philosophie und Wissenschaft, Wien 1985, S. 109 - 117. Weiß, Johannes: Wert, in: Nohlen, Dieter (Hrsg.): Lexikon der Politik, Bd. 2, München 1994, S.540-545. v. Weizäcker, Carl Christian: Logik der Globalisierung, Göttingen 1999. Wellmer, Albrecht: Methodologie als Erkenntnistheorie, Frankfurt a. M. 1972. Welsch, Wolfgang (Hrsg.): Wege aus der Modeme, Weinheim 1988. Wendel, Hans Jürgen: Fallibilismus und Letztbegründung, in: Gadenne, Volker/Wendel, Hans Jürgen (Hrsg.): Rationalität und Kritik, Tübingen 1996, S. 29-55.

Literaturverzeichnis

257

- Das Abgrenzungsproblem in: Keuth, Herbert (Hrsg.): Karl Popper: Logik der Forschung, Berlin 1998, S. 41-66. Wettersten, John R: Eine aktuelle Aufgabe für den kritischen Rationalismus und die Soziologie, in: Gadenne, Volker/Wendel, Hans Jürgen (Hrsg.): Rationalität und Kritik, Tübingen 1996, S. 183-212. Weyer, Johannesl Kirchner, Ulrichl Riedl, Larsl Schmidt, Johannes F. K.: Technik, die Gesellschaft schafft, Berlin 1997. Weymann, Ansgar (Hrsg.): Handlungsspielräume, Stuttgart 1989.

- Handlungsspielräume im Lebenslauf, in: ders. (Hrsg.): Handlungsspielräume, Stuttgart 1989,S. 1-39. - Sozialer Wandel, Weinheim 1998. - Theorie der modemen Gesellschaft, in: Sandkühler, Hans-Jörg (Hrsg.): Enzyklopädie Philosophie A-N, Hamburg 1999, S. 474-480. Wickler, Wolfgang: Gruppenbildung bei Tier und Mensch, in: Altner, Günter (Hrsg.): Kreatur Mensch, München 1969, S. 105-118. Wickler, Wolfgang I Seibt, Uta: Das Prinzip Eigennutz, München 1981. Wiemann, Klaus-Peter: Werte und Wertewandel, Mannheim 1984. Wieser, Wolfgang: Biologie oder Soziobiologie?, Universitas 1997, S. 671-679. Wild, John: Popper's interpretation of Plato, in: Schilpp, Paul Arthur (Hrsg.): The philosophy ofKarl Popper 2, La Salle 1974, S. 859-875. Wilhelm, Friedrich (Hrsg.): Der Gang der Evolution, München 1987. Willems, Herbertl Hahn, Alois (Hrsg.): Identität und Modeme, Frankfurt a. M. 1999. Wilson, Edward 0.: Sociobiology, 6. Auf!. Cambridge 1978. Winch, Peter: Popper and scientific method in social sciences, in: Schilpp, Paul Arthur (Hrsg.): The philosophy of Karl Popper 2, La Salle 1974, S. 889- 904. Winkler, Eike-Meinrad: "We are just modelling". Zur Bedeutung der Soziobiologie für die Anthropologie, in: Ehalt, Hubert Ch. (Hrsg.): Zwischen Kultur und Natur, Wien 1985, S.43-61. Winkler, Paul: Zwischen Kultur und Genen?, Analyse & Kritik 1994, S. 101-115. Wippler, Reinhard: Nicht-intendierte soziale Folgen individueller Handlungen, Soziale Welt 1978, S. 155-179.

- Erklärung unbeabsichtigter Handlungsfolgen: Ziel oder Meilenstein soziologischer Theoriebildung, in: Matthes, Joachim (Hrsg.): Lebenswelt und soziale Probleme, Frankfurt a. M. 1981, S. 246-261. Wissenschaftliche Dienste des Deutschen Bundestages (Hrsg.): Globalisierung der Weltwirtschaft, Bonn 2000. Witschel, Günter: Wertvorstellung im Werk Karl R Poppers, Bonn 1971. 17 Tiefel

258

Literaturverzeichnis

Wittgenstein, Ludwig: Tractatus logico-philosophicus, 13. Aufl. Frankfurt a. M. 1978. Witzei, Andreas / Kühn, Thomas: Biographiemanagement und Planungschaos, in: Born, Claudia/Krüger, Helga (Hrsg.): Individualisierung und Verflechtung, Weinheim 2001, S. 5582. Wohlrab-Sahr; Monika: Über den Umgang mit biographischer Unsicherheit - Implikationen der "Modernisierung der Moderne", Soziale Welt 1992, S. 217 -236.

- Individualisierung: Differenzierungsprozess und Zurechnungsmodus, in: Beck, Ulrich/ Sopp, Peter (Hrsg.): Individualisierung und Integration, Opladen 1997, S. 23-36. Wright, Georg Henrik von: Progress: Fact and Fiction, in: Burgen, Arnold/McLaughlin, Peter/Mittelstraß, Jürgen (Hrsg.): The Idea of Progress, Berlin 1997, S. 1-18. Wuketits, Franz: Evolutionäre Erkenntnistheorie - Die neue Herausforderung, in: Lorenz, Konrad/ ders. (Hrsg.): Die Evolution des Denkens, München 1983, S. 11-28.

- Schlüssel zur Biologie, Düsseldorf 1986. - Evolutionstheorien, Darmstadt 1988. - Biologische und kulturelle Evolution - Analogie oder Homologie?, in: Albertz, Jörg (Hrsg.): Evolution und Evolutionsstrategien in Biologie, Technik und Gesellschaft, 2. Aufl. Hofheim 1990, S. 241-258. - Gene, Kultur und Moral, Darmstadt 1990. - Verdammt zur Unmoral?, München 1993. - Die Entdeckung des Verhaltens, Darmstadt 1995. - Soziobiologie, Heidelberg 1997. - Naturkatastrophe Mensch, München 2001. Zapf, Wolfgang (Hrsg.): Die Modernisierung der modernen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1991. Zapf, Wolfgang / Breuer; Sigrid / Hampel, Jürgen / Krause, Peter / Mohr; Hans-Michaeli Wiegand, Erich: Individualisierung und Sicherheit, München 1987. Zeitler; Christoph: Spontane Ordnung, Freiheit und Recht, Frankfurt a. M. 1995. Zeltner; Hermann: Sozialphilosophie, Stuttgart 1979. Zerger; Frithjof: Klassen, Milieus und Individualisierung, Frankfurt a. M. 2000. Ziegelmayer; Gerfried: Zur phylogenetischen Entwicklung des Menschen, in: Wilhelm, Friedrich (Hrsg.): Der Gang der Evolution, München 1987, S. 193 -214. Zihlmann, Viktor: Sinnfindung als Problem der industriellen Gesellschaft, Diessenhofen 1980. Zijderveld, Anton C.: Die abstrakte Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1972. Zimmer; Dieter E.: Unsere erste Natur, München 1979. Zimmermann, Walter: Evolution, München 1953.

- Vererbung "erworbener Eigenschaften" und Auslese, 2. Aufl. Stuttgart 1969.

Literaturverzeichnis

259

Zintl, Reinhard: Individualistische Theorien und die Ordnung der Gesellschaft, Berlin 1983. Zoebisch, Gisela: Utopie und Historizismus, Bayreuth 1993. Zoll, Rainer (Hrsg.): Ein neues kulturelles Modell, Opladen 1992. - Alltagssolidarität und Individualismus, Frankfurt a. M. 1993.

\7*

Sachwortverzeichnis Anm.: Kursiv gesetzte Seitenzahlen weisen auf folgende bzw. fortfolgende Seiten hin. Adaption 11 0, 118, 124, 178 Aggression 99, 123 Altruismus 66, 204, 207 Angepasstheit 108,117,134,170, 178,200

- modeme 96,100-101,126,171,181,187 - Offene 50, 73, 76,94, 105, 187 - virtuelle 138 Globalisierung 145

Basiswissen 113 Bastelbiographie 153

Handeln, situationsgerechtes 82, 117 Handlungsbasis - funktional-rationale 118, 122 - geplant-rationale 118, 122 Handlungsfolgen 122 Historizismus 19, 25, 26, 30, 34, 35, 38 Höherentwicklung 187, 195, 197 Holismus 21, 28,30,39

Determinismus 35, 37, 54, 145 Dispositionen, biologisch-organische 99, 109, lll, 120, 123 Dominanz 120 Dualismus, kritischer 57, 63, 73 Dualität von Handlung und Struktur 100 Egoismus 29, 66, 202 Egozentrierung 107, 121, 128,135 Essentialismus 23, 27, 30, 38 Evolution - biologische 96, 98,109,117,197 - sozio-kulturelle 98, 117,197 Evolutionsschema, gesellschaftliches 104,105 Evolutionstheorie - Darwins 194 - Lamarcks 191 - Neodarwinistische 195 - Synthetische 196

95,

Fitness 204 Fortschritt 52, 187, 194 Freisetzung 103, 107 Gesellschaft - abstrakte 76, 95, 97, 103, 106, 120, 126, 129,144,165,170,182,198 - allgemein 99 - archaische 181 - Geschlossene 18, 25, 38, 94, 105

Ich-Identität 175, 178, 206 Identität - aus wissenstheoretischer Sicht 177 - kollektive 178, 179, 184, 206 Identitätsforschung 171 Identitätsmerkmale - elementare / natürliche 179, 206 - sozial hervorgebrachte 180 Indeterminismus 52, 73 Individualisierungsthese 101 Individualismus 64, 74,97 Individuum 97 Integrationsmodi - Abstrakter Gesellschaften 134 - moderner Gesellschaften 130 Kollektivismus 29, 32, 39 Komplexität 90, 107,124, 136, 191 Komplexitätszunahme 195 Kooperation 204, 207 Kulturtheorien, organismische 193 Lebenslauf 141,150 Lernen 48,111 Lernprozess 111

Sachwortverzeichnis Monismus 27, 30 Monokollektivierung 108, 121, 128,136 Multikollektivierung 108, 121, 128, 137, 183 Nominalismus 54, 73 Normalbiographie 143, 149 Ordnungen - geplante 88, 100, 124 - künstliche 87 - natürliche 87, 124 - spontane 85, 88, 100,121, 136 Organismus 191,195 Organismustheorie, gesellschaftliche 28, 32, 95 Patchwork-Identität 184 Positivismus 33, 37-39 Problernlösung 46, 118 Problernlösungsdruck 118, 120, 124-125, 137, 140 Problernlösungspotentiale 118, 120 Problernlösungsprozess 104, 111, 113 Problernlösungsversuch 81, 84 Problemlösungswissen 112 Problemsituation 84, 104,111, 118 Prosozialität 99,120, 123, 137

261

Selektionsregel 84, 117 Sicherheitsverlust 103, 107, 120, 136, 137, 144 Situationsanalyse 77, 80, 117 Soziobiologie 200 Stabilitätsverlust 103, 107 Stückwerk-Sozialtechnik 67, 74 Territorialität 185,206 Überleben 195, 203 Überlebenstrieb 99, 120, 123 Utopismus 22, 30, 39 Variation 194, 196, 202 Vervollkommnung 189, 190, 197

Rationalismus - konstruktivistischer 85 - Kritischer 40, 48 - umfassender 50 Reintegration 103, 107, 111, 120, 124, 128, 134, 152 Reproduktion 203

Wahlbiographie 152 Werteintegration 130 Wertesubstitution 155, 168 Wertesynthese 162,165, 168 Werteverfa1l169 Werteverlust 162 Wertewandel - anthropozentrischer 162 - dreidimensionaler 168 - postmaterialistischer 155 - zweidimensionaler 165 Wir-Ich-Balance 176, 178 Wir-Ich-Wissensbalance 183 Wir-Identität 175, 178 Wissen - Allgemeines 113 - Ich-bezogenes 182 - Spezielles 113 - Wir-bezogenes 182

Selektion 194, 196,202,204 Selektionsdruck 202

Zielsystem 117, 120 Zusatzwissen 113