Sowjetisch wohnen: Eine Literatur- und Kulturgeschichte der Kommunalka [1. Aufl.] 9783839416624

Als Quintessenz sowjetischen Alltagslebens stellt die Kommunalwohnung einen »intimen« und liminalen Raum dar, in dem es

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Sowjetisch wohnen: Eine Literatur- und Kulturgeschichte der Kommunalka [1. Aufl.]
 9783839416624

Table of contents :
Inhalt
Einleitung
Zone des Übergangs
Liminale Ges(ch)ichtspunkte einer ambivalenten Wohnform
Historischer Kontext
Ausnahmezustand
Verdichtungsraum
Praktiken des ›Sichdurchwurstelns‹
Ambivalenzen
Urbane Gemeinschaftlichkeit
Visionen städtebaulicher Planung und Architektur
Wohnraumverteilung und Denunzationsverhalten
Das autonom-handelnde Subjekt
Theoretische Grundlage
Neue Lebensformen und neue Lebenstheatralik
Interaktive Rituale
Liminale Gemeinschaftlichkeit
Der dramatische Kampf um Wohnraum
Liminalität, Literatur und innovative kulturelle Reflexion
Zeit/Raum(losigkeit)
Suspendierte (T)Räume
Systemstabilisierende Magie
Die unvergängliche Vergangenheit
Chronologische (An-)Ordnung
Müll, Unordnung und Chaos
Müll als Anti-Struktur
Im dynamischen Kräftefeld der Kommunalwohnung
Die Erfassung des Dings an sich
Solidarischer Eigen-Sinn oder eigensinnige Solidarität?
Eigen-Sinn versus Widerstand
Solidarität
Geistig intime Gemeinschaften
Kommunale Fraternité
Multidimensionale Interpretationsund Wissensgemeinschaften
Flüchtige und brüchige Lebens- und Wohnverhältnisse
Schicksalsgemeinschaft
Dialektik von Privatheit und Öffentlichkeit
Die gespaltene Öffentlichkeit
Das gespaltene Subjekt
Omnipräsenz und -transparenz
Die Aggressivität und Anonymität der öffentlichen Sphäre
Der dubiose Moment des Übergangs
Kommunale Öffentlichkeit umdenken
Bewegungen in Zeit und Raum
Die 1950er
Die 1980er
Schlussbemerkungen
Literaturverzeichnis

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Sandra Evans Sowjetisch wohnen

Lettre

Sandra Evans (Dr. phil.) ist am Slavischen Seminar der Universität Tübingen tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Film, Wohnen und Kultur (Sowjet-)Russlands.

Sandra Evans

Sowjetisch wohnen Eine Literatur- und Kulturgeschichte der Kommunalka

Zugleich: Dissertation an der Eberhard Karls Universität Tübingen 2008 im Rahmen des DFG-Projekts »Intime Texte, intime Räume. Intimität und Nähe in der russischen Kultur«.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2011 transcript Verlag, Bielefeld

Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Kommunalka Kitchen, Asmund HavsteenMikkelsen, 2009 Korrektorat: Kirsten Hellmich, Bielefeld Satz: Sandra Evans Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1662-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt

Einleitung | 7

Zone des Übergangs | 11 Liminale Ges(ch)ichtspunkte einer ambivalenten Wohnform | 15 Historischer Kontext | 23

Ausnahmezustand | 24 Verdichtungsraum | 28 Praktiken des ›Sichdurchwurstelns‹ | 33 Ambivalenzen | 42 Urbane Gemeinschaftlichkeit | 45 Visionen städtebaulicher Planung und Architektur | 50 Wohnraumverteilung und Denunzationsverhalten | 60 Das autonom-handelnde Subjekt | 74 Theoretische Grundlage | 83

Neue Lebensformen und neue Lebenstheatralik | 83 Interaktive Rituale | 87 Liminale Gemeinschaftlichkeit | 91 Der dramatische Kampf um Wohnraum | 93 Liminalität, Literatur und innovative kulturelle Reflexion | 101 Zeit/Raum(losigkeit) | 109

Suspendierte (T)Räume | 110 Systemstabilisierende Magie | 130 Die unvergängliche Vergangenheit | 136 Chronologische (An-)Ordnung | 142 Müll, Unordnung und Chaos | 147

Müll als Anti-Struktur | 148 Im dynamischen Kräftefeld der Kommunalwohnung | 158 Die Erfassung des Dings an sich | 165

Solidarischer Eigen-Sinn oder eigensinnige Solidarität? | 181

Eigen-Sinn versus Widerstand | 181 Solidarität | 186 Geistig intime Gemeinschaften | 191 Kommunale Fraternité | 194 Multidimensionale Interpretationsund Wissensgemeinschaften | 200 Flüchtige und brüchige Lebens- und Wohnverhältnisse | 204 Schicksalsgemeinschaft | 208 Dialektik von Privatheit und Öffentlichkeit | 217

Die gespaltene Öffentlichkeit | 219 Das gespaltene Subjekt | 222 Omnipräsenz und -transparenz | 226 Die Aggressivität und Anonymität der öffentlichen Sphäre | 237 Der dubiose Moment des Übergangs | 246 Kommunale Öffentlichkeit umdenken | 253 Bewegungen in Zeit und Raum | 257

Die 1950er | 260 Die 1980er | 274 Schlussbemerkungen | 287 Literaturverzeichnis | 297

Einleitung

»А… где же вы будете жить?« »В вашей квартире.« [»Aber wo wollen sie wohnen?« »In Ihrer Wohnung.«]1 Dieser kurze aber eindringliche Dialog in Bulgakovs Klassiker Master i Margarita (Der Meister und Margarita, 1929-1940) zwischen Berlioz, dem Vorsitzenden einer Literaturvereinigung, und Voland, dem Teufel, reflektiert die einzig- und eigenartigen Wohnverhältnisse des urbanen Sowjetrussland. In diesem Austausch wird die offensive und mitunter bedrohliche Grenzüberschreitung (des Staates, des Städtischen und der Nachbarn) deutlich, die sich in der Lösung der Wohnungsnot und der parallel stattfindenden Alltagsumgestaltung vollzog. Im Dialog wird die Veröffentlichung des Intimen dargestellt und gleichzeitig die Wucht dieser prägenden Grenzüberschreitung, die bis in das Innere eines Körpers reicht, imaginär erfahrbar gemacht. Der Hauptschauplatz der Wohnraumkrise und der Gestaltung der neuen sowjetischen Lebensweise ist die Kommunalwohnung (auf Russisch kommunal’naja kvartira, kurz kommunalka). Als Quintessenz des stalinistischen Alltags, als fortschrittliches Labor für den zukünftigen Kommunismus,2 als stalinistische Kollektivierung des Alltags,3 als dominante städtische Wohnform

1

Bulgakov, Michail: Master i Margarita, Moskva 2005, S. 39; Der Meister und Margarita, Übers. von Thomas Reschke, in: ders. Gesammelte Werke, 3. Bd., 5. Aufl., Berlin 1997, S. 58.

2

Vgl. Stites, Richard: Revolutionary Dreams: Utopian Vision and Experimental Life in the Russian Revolution, Oxford University Press, New York 1989.

3

Vgl. Kharkhordin, Oleg: The Collective and the Individual in Russia, Berkley 1999.

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der Sowjetunion4 und schließlich prägende Erfahrungs- und Lebenswelt5 bietet dieses sowjettypische Wohnarrangement einen ›intimen Raum‹, der als analytischer Behälter die komplexe Beziehung zwischen dem Staat und seinen Subjekten, zwischen dem Kollektiv und dem Individuum, und die daraus entstehende Komplexität zwischenmenschlicher Beziehungen in einem total(itär)en und hoch politisierten, aber gleichzeitig unbestimmten Wohnraum herausfordert und veranschaulicht. Gravierende soziokulturelle Veränderungsprozesse entwurzelten im Sowjetrussland der 1920er und 1930er Jahre ganze gesellschaftliche Schichten, setzten gewohnte Strukturen außer Kraft und entfesselten gleichzeitig gesellschaftliche Kräfte (letztendlich eine Symbiose politischer wie kultureller Kräfte), die Krisen, Chaos und Unordnung zur Norm werden ließen. Im urbanen Raum machten sich die Auswirkungen dieses soziokulturellen und -politischen Übergangs von einer alten zu einer neuen Lebensordnung besonders bemerkbar. Anfänglich war die Kommunalka als Not- und Übergangslösung gedacht, um die postrevolutionäre Wohnungskrise zu beheben, die durch die massenhafte Zuwanderung ehemaliger Bauern in die Städte ausgelöst wurde. Nach der Machtergreifung der Bolschewiken wurden die großen Wohnungen der Aristokraten und des Bürgertums in den Stadtzentren mit den Schlagwörtern uplotnenie (bessere Nutzung; intensive Auslastung) und kvartirnyi peredel (Wohnungsauf- bzw. -umverteilung) enteignet und an Arbeiter umverteilt. Die Enteignung und Umverteilung von Wohnraum verdeutlicht die vielschichtige Grenzüberschreitung: Der Staat überschreitet Grenzen durch die ideologische Anordnung der

4

Vgl. Martiny, Albrecht: Bauen und Wohnen in der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg. Bauarbeiterschaft, Architektur und Wohnverhältnisse im sozialen Wandel, Berlin 1983.

5

Für Irina Paperno gilt die kommunalka als Meistermetapher für die sowjetische Gesellschaft. Entsprechend verortet Victor Tupitsyn die Geschichte der gegenwärtigen russischen Kunstszene in einem kommunalen Paradigma. Seiner Meinung nach wurde sie von unterschiedlichen kommunalen Phänomenen, wie z.B. kommunalem Wohnen, allemeinen kommunalen Perspektiven und kommunalen Sprechverhalten, geprägt. Vgl. Irina Paperno: Stories of the Soviet Experience: Memoirs, Diaries, Dreams, Cornell 2009, S. 41; Victor Tupitsyn: The Museological Unconscious: Communal (Post)Modernism in Russia, MIT 2009.

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lebensräumlichen Umordnung und -verteilung, die städtischen Behörden überschreiten Grenzen in der praktischen Ausführung und durch die forcierte Einquartierung überschreiten Nachbarn zwangsläufig die Grenzen der anderen Nachbarn. Außerdem herrschten in den Wohnungen unzumutbar beengte und teils chaotische Zustände, da es keinen Wohnraum für je eine Person gab, sondern nur für je eine Familie, die manchmal aus bis zu drei Generationen bestand. Aus dem Provisorium zur Lösung der Wohnraumkrise wurde ein permanenter lebensweltlicher Ausnahmezustand, der die Rolle der Sozialisations- und Disziplinierungsinstanz übernahm. Eine Mehrheit der urbanen Sowjetgesellschaft gestaltete ihren Alltag in dieser Wohnform, auch in der späten Sowjetzeit, wobei ich dabei besonders die aktive Rolle der Menschen in der Alltagsgestaltung unter den außerordentlichen Umständen betonen möchte. Die umfangreiche gesellschaftliche Reichweite der sowjetrussischen Kommunalwohnung wird in der folgenden, von Steven E. Harris aufgeführten Definition beschrieben: [A] central foundation of a typical Soviet citizen’s everyday life, social relations, and values; as the unintended product of ideological programs aimed at transforming the everyday; as the outcome of massive housing shortages brought on by war, revolution, and the industrialization drive; as the state’s allpurpose tool for exerting ideological, social and economic control over its citizens; and ultimately, as a space to which some residents have unexpectedly clung, claiming it as their own after the Soviet Union’s collapse.6

In der neuesten Forschung zur Alltags- und Kulturgeschichte wird zunehmend deutlich, dass Wohn- und Lebenswelten nicht nur soziale Beziehungen prägen, sondern auch Aspekte gesellschaftlicher Verhältnisse reflektieren. Entsprechend nimmt das wissenschaftliche Interesse an der berühmt-berüchtigten Kommunalwohnung in der sowjetischen Alltags- und Kulturgeschichte deutlich zu.7 Während sich bisherige

6

Harris, Steven E.: »In Search of ›Ordinary‹ Russia: Everyday Life in the NEP, the Thaw, and the Communal Apartment« in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 6, 3 (Summer 2005), 583-614, S. 584.

7

Allerdings ist die Kommunalwohnung nicht nur als Forschungsgegenstand interessant, sondern auch als filmisches Sujet. Derzeit häufen sich quasidokumentarische Filme, die sich mit dem Phänomen der Kommunalwoh-

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Studien primär der Genese des Phänomens der Kommunalka und seinen gesellschaftlichen Implikationen widmen8 und somit an der Tür-

nung auseinandersetzen, wie z.B. Kommunalka von Françoise Huguier (FR 2008), pereSTROIKA – umBAU einer Wohnung von Christiane Büchner (D 2008) und 92 qm Russland von Andrea Schramm (D 2004). Tendenziell wird eine westliche Perspektive auf diese Wohnform präsentiert, die sich dem Thema mit einer gewissen, im Freud’schen Sinne ›unheimlichen‹ Verwunderung stellt. 8

Il’ja Utechin hat eine maßgebliche anthropologische Studie über die Kommunalwohnung im postsowjetischen Kontext erstellt. Seine ausführliche Untersuchung schafft einen eindrücklichen Einblick in die Komplexität der Regelungen, der Ordnungen sowie des nachbarlichen Austausches. Anhand der Mikrostudie eines kommunal verwalteten Hauses in St. Petersburg beleuchtet Julia Obertreis die unbeständige Wohnungspolitik und die daraus entstehenden administrativen Herausforderungen. Im Gegensatz dazu hat Philipp Pott eine umfassende Makrostudie in der deutschsprachigen Osteuropaforschung vorgelegt, in der er versucht, mithilfe der materiellen Kultur, der Erfahrungen und der Erinnerungen die Lebenswelt der Menschen und ihren Wohnalltag nachzuzeichnen. Die russischen Historiker Natalia Lebina und Aleksandr Čistikov beschreiben ausführlich das alltägliche Leben und die materielle Kultur der Leningrader Bevölkerung während der NĖP (Neue Ökonomische Politik) der 1920er Jahre und während des ›Tauwetters‹ der 1950er und 1960er Jahre. Mittels einer soziologischen Perspektive etabliert Ekaterina Gerasimova die Kommunalwohnung als ›soziale Institution‹ in der sowjetischen Gesellschaft in ihrem umfassenden Überblick der Kommunalwohnung während der Sowjetzeit. Eines ihrer wichtigsten Ergebnisse ist, dass die Bewohner selbst die alltägliche Interaktion und sozialen Hierarchien innerhalb der jeweiligen Kommunalwohnung (um)formieren und bestimmen. Im Gegensatz hierzu schreibt Mark Meerovič mit seiner Studie aus einer architektonischen Perspektive dem Staat mehr Einfluss und Kapazität zu und beschreibt die Wohnungspolitik als Instrument gesellschaftlicher Kontrolle. Auch Svetlana Boym betrachtet die Kommunalwohnung unter anderem als ein Instrument gesellschaftlicher Kontrolle. Obwohl ihr Beitrag kein wissenschaftlicher im herkömmlichen Sinne ist, da sie persönliche Erfahrungen und Erinnerungen mit akademischen Konventionen verbindet, gibt das Buch einen Insider-Einblick, der eine unabdingbare Lektüre für die Kommunalkawissenschaft darstellt. Siehe Utechin, Il’ja: Očerki kommunal’nogo byta,

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schwelle stehen bleiben9 – wortwörtlich wie metaphorisch –, möchte ich mit meiner Studie einen Schritt weiter gehen und im übertragenen Sinne die Schwelle der Eingangstür überschreiten und in die Schwelle selber eindringen. Mit der Schwelle impliziere ich einen sich im Wandel befindlichen Raum und den darin alltäglich zwangsläufig stattfindenden, mitunter intimen zwischenmenschlichen Austausch. Was mich interessiert, ist die Dynamik, die Praxis und der Raum, die im Dazwischen entstehen, besonders unter den notorisch konfliktreichen, unbeständigen und unsicheren gesellschaftlichen Verhältnissen, die sich in der dicht besiedelten und skurrilen Verhältnissen ausgesetzten Kommunalwohnung verschärfen und in der Intimität des zwischenmenschlichen Austausches ihren Ausdruck finden.

Z ONE

DES

Ü BERGANGS

Mit dem ursprünglichen Anliegen, die akute urbane Wohnungsnot zu bewältigen, war die Kommunalwohnung von Anfang an eine ›Zone des Übergangs‹ (transition zone):10 Die Bewohner lebten in einem

Moskva 2004; Obertreis, Julia: »Tränen des Sozialismus«. Wohnen in Leningrad zwischen Alltag und Utopie, 1917 – 1937, Köln u.a. 2004; Pott, Philipp: Moskauer Kommunalwohnungen 1917 bis 1997: Materielle Kultur, Erfahrung, Erinnerung, Basler Studien zur Kulturgeschichte Osteuropas, Zürich 2009; Lebina, Natalia/Čistikov, Aleksandr: Obyvatel’ i reformy: Kartiny povsednevnoi žizni gorožan v gody nepa i chruščevskogo desiatiletiia, St. Petersburg 2003; Boym, Svetlana: Common Places: Mythologies of Everyday Life in Russia, Harvard 1994; Gerasimova, Ekaterina: Sovetskaja kommunal’naja kvartira kak social’nyi institut: Istoriko-sociologičeskii analiz (na materialach Leningrada, 1917-1991), Candidate of Sciences diss., European University at St. Petersburg 2000; Meerovich, Mark: Očerki istorii žiliščnoi politiki v SSSR i ee realizatsii v architekturnom proektirovanii (1917-1974 gg.), Irkutsk 2003. 9

Mit Ausnahme von Utechins ethnologisch-anthropologischer Studie.

10 Lawrence, Roderick: »Public, Collective and Private Space: A Study of Urban Housing in Switzerland« in: Kent, Susan (Hg.): Domestic Architecture and the Use of Space. An Interdisziplinary Cross-Cultural Study, Cambridge University Press 1990, S. 73-91.

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›verkommenen Gemeinschaftsghetto‹11 und warteten in ihrer Antioder Pseudowohnung12 auf die eigentliche urbildliche Heimat,13 welche ihnen im Zuge der Industrialisierung abhanden gekommen war. Nicht nur in der Hoffnung auf bessere Wohnverhältnisse wurden die Menschen verzweifelt und kreativ, sondern auch aufgrund einer Diskrepanz zwischen der Ideologie und der Wirklichkeit vor Ort. Die Bewohner mussten zwangsläufig (in)offizielle Strukturen schaffen, um be- und entstehende Widersprüche in der Wohnpolitik oder den allgemeinen ideopolitischen Anforderungen des neuen sowjetischen Lebens zu kompensieren. Dabei gehe ich von der These aus, dass in den Räumen der Kommunalwohnung eine ›systemimmanente‹ Ambivalenz herrscht, die nicht nur darauf zurückzuführen ist, dass es sich um eine sich neu konstituierende Nation handelte, die sich selbst in einem ›Dazwischen‹ zwischen der petrinischen Vergangenheit und einer kommunistischen Zukunft befand (die sie bekanntlich nie erreichte), son-

11 Tupitsyn, Victor: »Civitas Solis. Die Kommunalwohnung als Paradies des Neuen Menschen« in: Lettre International, 30, 1995. 12 Lotman, Jurij: »Dom v ›Mastere i Margarite‹« in: ders.: O russkoj literature: stat’i i issledovanija (1958 – 1993); istorija russkoj prozy; teorija literatury, St. Petersburg 2005, 748-754, S. 753. 13 Bulgakovs dominierendes Leitmotiv während der 1920er und 1930er Jahre ist die Wohnungsfrage (kvartirny vopros). In seinen literarischen Werken wiederholt sich die Metapher der Wanderung und der Obdachlosigkeit, wie z.B. im folgenden Beispiel: »Wo bist du zuhause?« / »Ich habe kein Zuhause«, antwortete der Gefangene schüchtern, »ich ziehe von Stadt zu Stadt.« / »Das hättest du auch mit einem Wort sagen können: Du bist ein Vagabund«, sagte der Prokurator… [Где ты живешь постоянно?/У меня нет постоянного жилища, – застенчиво ответил арестант – я путешествую из города в город./Это можно выразить короче, одним словом – бродяга – сказал прокуратор…]; Bulgakov, 2005, a.a.O., S. 18; dt. Übersetzung, S. 34. In Einklang mit der von Georg Lukacs formulierten Metapher der ›transzendentalen Obdachlosigkeit‹ (Die Theorie des Romans, 1916), mit der Lukacs den Verlust einer ›urbildlichen Heimat‹ bezeichnet, thematisiert Bulgakov den Verlust eines urbildlichen Zuhauses. Die Kommunalkabewohner befinden sich auf einer transzendentalen Suche nach dem verlorenen Heim.

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dern auch auf die Undurchdachtheit und ausgeprägte Ideologisierung14 des Alltags, die unter den speziellen Umständen des allgemeinen, aber auch staatlichen »Sichdurchwurstelns«15 einen vielschichtigen und mithin komplexen Raum schuf. Als provisorische Übergangslösung, die später eine zentrale Rolle in der offiziellen Wohnungspolitik einnimmt, entwickelte die Kommunalka ihre eigene Dynamik und ermöglichte somit die unkontrollierte und zwangsläufige Gegenentwicklung eines autonom-handelnden Subjekts, so meine These. Die Kommunalwohnung war ein gesellschaftlicher Knotenpunkt, der als Medium zwischen dem Staat und dem Subjekt fungierte, zwischen einem Oben und einem Unten. Der analytische Schwerpunkt dieser Arbeit liegt weder beim repressiven Parteistaat noch beim unterdrückten Subjekt, sondern beim lebensweltlichen (Zwischen-) Raum der Kommunalwohnung in seinen mentalen, materiellen und soziokulturellen Auswirkungen auf die alltägliche soziale Praxis. Im Rahmen dieser Studie ist das Eindringen in die Privatsphäre von Seiten des Staates weniger relevant als die zwischenmenschliche Interaktion und die gemeinschaftsbildende Intimität sich mitunter fremder Menschen, die erst unter repressiven Umständen möglich und notwendig wurde. Mithilfe kulturanthropologischer und literaturwissenschaftlicher Methoden und Theorien dringe ich in die Schwelle ein, um dieses liminale Phänomen der Kommunalwohnung, diese Zone des Übergangs von innen zu beleuchten und von außen zu umkreisen. Literarische Texte und soziale Praxis werden zusammengebracht, um aus Zwischenräumen Schnittstellen entstehen zu lassen und bisher noch nicht

14 Kabakov thematisiert das ideologisierte Leben in der Sowjetgesellschaft, in dem Idee und Realität miteinander verflochten werden und die eindeutige Grenze zwischen diesem romantischen Gegensatz von Wirklichkeit und Phantasie aufgehoben wird. Entsprechend verlieren sich der Gegensatz von echt und unecht, von Gesicht und Maske. Vgl. Ilja Kabakov, Boris Groys: Die Kunst des Fliehens. Dialoge über Angst, das heilige Weiß und den sowjetischen Müll, Übers. von Gabriele Leupold, München 1991. 15 Schlögel, Karl: »Kommunalka – oder Kommunismus als Lebensform. Zu einer historischen Topographie der Sowjetunion« in: Historische Anthropologie, Jahrgang 6, Heft 3, 1998, S. 329-346.

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erfasste Dimensionen zu dekodieren.16 Ein dezidiert multidimensionaler Blick, der die mentale (das Phänomen der Kommunalka), die materielle (die Architektur der Kommunalka) und die soziokulturelle Dimension (die Kommunalka als gesellschaftliche Institution)17 erfasst, lässt dabei die räumliche Vielschichtigkeit des Alltags in den Vordergrund treten. Mit diesem Blick soll der Raum verräumlicht und zugleich enträumlicht werden, um die zwischenmenschliche Produktion von Räumlichkeit in einem totalen Raum zu beschreiben und erfahrbar zu machen. Die satirische Literatur der 1920er und 1930er Jahre griff die ambivalente und dynamische Interaktion von Mächten und Kräften auf. In den eigentlichen Räumlichkeiten der Kommunalka wurden Symbole zwangsläufig uneindeutig aufgrund einer maßgeblichen Diskrepanz zwischen der oktroyierten virtuellen Ideologie und der vorhandenen räumlichen Wirklichkeit. Somit entstand eine interessante Verbindung zwischen literarischen und extraliterarischen kulturellen Faktoren, die ich näher betrachten werde. Anhand der Analyse literarischer Texte wird ein Einblick in die mentale Kultur der sowjetischen Gesellschaft ermöglicht, um den Gesamtkomplex kollektiver Sinnkonstruktionen zu rekonstruieren. Die mentale Kultur verdichtet sich dabei nicht nur in literarischen Texten, sondern auch in den Organisationsformen und Regelungen des Alltags in der Kommunalwohnung als einem intimen Knotenpunkt und somit einer eindringlichen und enthüllenden Schnittstelle der sowjetischen Gesellschaft. Die Kommunalka war insofern

16 Literatur verstehe ich nicht als rein ästhetisches Phänomen, sondern als Bestandteil der Kultur und demnach als ein »Medium des Transfers kultureller Formen«. Siehe Fuß, Peter: Das Groteske: ein Medium des kulturellen Wandels, Köln 2001, S. 13; mein Ansatz ist also entweder einer literaturorientierten Kulturwissenschaft oder einer kulturorientierten Literaturwissenschaft zuzuordnen. Nur indirekt und bedingt betrachte ich historische Prozesse und Strukturen sowie die ästhetische Dimension literarischer Texte. Literatur verstehe ich weder als rein ästhetisches Phänomen noch als historische Quelle, sondern als Gegenstand kultureller Selbstwahrnehmung und -thematisierung. Als kritisches Reflexionsmedium verkörpern literarische Texte nicht nur ein Symbolsystem oder ein Sozialsystem, sondern eine komplexe Mischung der beiden, die die Komplexität der Kommunalwohnung widerspiegelt. 17 Vgl. Gerasimova, a.a.O.

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demokratisch, als sie ein schichten- und milieuübergreifendes Phänomen war und den Großteil der urbanen Sowjetbevölkerung in die Geschichte(n) der Kommunalka einschloss.

L IMINALE G ES ( CH ) ICHTSPUNKTE AMBIVALENTEN W OHNFORM

EINER

An der Schwelle zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Öffentlichkeit und Privatheit und der ›gewohnten‹ wie ›ungewohnten‹ Lebensweise verhandelten Kommunalkabewohner und -nachbarn den Alltag nach ihrem eigenen, (inter)subjektiven Verständnis und ihren Vorstellungen von Normen und Werten. Während der stalinistischen Kollektivierung der Alltagskultur und der kul’turnost’-Kampagnen entwickelten sich organisatorisch-praktische Haushaltspläne sowie Handlungs- und Verhaltensweisen, die von den Bewohnern ritualisiert und letztendlich institutionalisiert wurden. Prägende, noch heutzutage bestehende Regelungen des Kommunalkawohnens und der damit einhergehenden Ordnung bieten einen besonders wertvollen Einblick in die bestimmende Kollektivmentalität dieser besonderen Gemeinschaftlichkeit. Nicht nur formierten sich die stereotypischen Verhaltensweisen der Mieter unter dem Einfluss der sowjetischen Alltagskultur, sondern die Mitbewohner formten und beeinflussten umgekehrt auch die Regeln, Rituale und Routinen des alltäglichen Zusammenlebens. Großer Unsicherheit ausgesetzt entwickelten Kommunalkabewohner intersubjektiv, d.h. in Interaktion miteinander – relational und situationsbedingt – eine eigene Ordnung und eigene Wertvorstellungen: eine sowjetische Normalität unter außergewöhnlichen und extremen Lebensverhältnissen. Ähnlich wie in einem Ökosystem gab es in der sich neu formierenden sowjetischen Kultur bestimmte kulturelle Ideen und Werte, die entweder komplementär waren oder in Konkurrenz zueinander standen. Ob Ideen und Werte überlebten, sich anpassten oder starben kam darauf an, wie sich die politischen und sozialen Bedingungen im historischen Kontext ausspielten.18 Der politisierte häusliche Bereich im wohnräumlichen Übergangs- und Ausnahmezustand

18 Vgl. Clark, Katerina: Petersburg: Crucible of Cultural Revolution, Cambridge 1995; bezüglich der Alltagsrituale und -regeln siehe Utechin, a.a.O., 2004.

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wurde in jeder zwischenmenschlichen Interaktion (re)konstruiert, und speziell unter diesen (Über-)Lebensformen kam mithin ein besonders intensiver sozialer Austausch zustande. Mithilfe der ethnologischen Ritualforschung von Viktor Turner möchte ich das liminale Dazwischen als Denkfigur und Metapher für diese Untersuchung anwendbar machen, für die ich hauptsächlich Texte und Stücke von Michail Bulgakov, Daniil Charms und Michail Zoščenko analysiert habe, die in den 1920er und 1930er Jahren verfasst wurden. In diesen turbulenten Jahren war die Satire ein beliebtes Genre im sowjetischen Russland. Durch die Brille der absurden oder grotesken Fiktion wird dahingegen direkt auf die harte und mitunter unbegreifliche Realität verwiesen. Daniil Charms, als ein Vertreter des russischen Modernismus, hat dabei versucht, die noumenale, eigentliche Welt auf speziell nichtanalytische Weise zu erfassen. Er war Teil einer allgemeinen russischen romantischen und Anti-Aufklärungsbewegung, der sich sowohl Westler als auch Slavophile verschrieben. Die Künstler des russischen Modernismus reagierten auf die negativen Aspekte des Materialismus und des Positivismus in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wobei ihr Interesse nicht auf der Ratio lag, sondern auf der Erfassung der externen Welt auf nichtraditionale bzw. intuitive und mitunter unbegreifliche Weise. Charms prosaisches Absurde will die Entfremdung der Menschen innerhalb der Gesellschaft, die Dekomposition der Sprache und die damit einhergehende Unmöglichkeit der Kommunikation und allgemein die Inkohärenz der neuen stalinistischen Lebensweise darstellen.19 Charms ist bekannt für seine absurde und brutale Darstellung des sowjetischen Alltags, die sich an der unangenehmen Grenze zwischen Komik und entsetzlicher Tragik bewegt. Jaccard bemerkt, dass »absurd laughter [is] above all else, the result of a tragic lucidity«.20 In der Kunst und im Absurden sucht Charms die Wahrheit, wenn nicht die wahre Illusion, die eine Hoffnung auf die Überwindung totaler Sinnleere aufleben lässt: Vielleicht schlägt letzt-

19 Vgl. Fink, Hillary: »The Kharmsian Absurd and the Bergsonian Comic: Against Kant and Causality« in: Russian Review, Vol. 57, No. 4, Oktober 1998, S. 526-538. 20 Jaccard, Jean-Philippe: »De la réalité au teste: L’Absurde chez Harms« in: Cahiers du Monde russe et soviétique, 26 July-December 1985, S. 298; zitiert von Fink, a.a.O., S. 529.

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endlich das Widersinnige und Absurde in eine unerwartete Sinnhaftigkeit um. Bulgakovs bevorzugte Form der literarischen Darstellung ist die phantastische Groteske, die eine starke Abweichung bzw. Verfremdung der Lebenswelt ist. Dabei überschneiden sich bei Bulgakov die Darstellung der vertrauten Alltagswelt und bedrohliche, phantastische Situationen, wobei es sich als schwierig erweist, in seinen Texten die verschiedenen Darstellungsebenen klar zu unterscheiden. Phantastische und realistische Elemente werden so undurchschaubar miteinander verknüpft, dass der Leser dazu veranlasst wird, hinter dem Geschehen einen anderen, symbolischen oder allegorischen Sinnzusammenhang zu suchen. Auch bei Zoščenko berühren sich die komischen und tragischen Attribute des sowjetischen Alltags. In der literaturwissenschaftlichen Sekundärliteratur ist Zoščenkos literarische Intention noch heutzutage nicht unumstritten, denn seine Texte können einerseits als selbstironisch gelesen werden oder auch direkt als Satire, die eine Komponente des Diskurses beinhaltet und gleichzeitig als ein soziokulturelles Gesellschaftsprofil verstanden werden kann. Kurzum: Zoščenkos Œuvre ist von thematischen Invarianten geprägt, genauso wie die sowjetische Kultur, innerhalb der er sich bewegte und innerhalb der er versuchte sich als Subjekt zu verstehen.21 To shield himself from chaos, the Zoshchenkovian persona looks to all possible guarantors (or at least symbols of) »order«: preventive tricks, masks, art, culture, science (in particular, medicine and psychoanalysis), and even state power. All of these, however, prove tragi-comically unreliable. In this light, the readiness of both Zoshchenko’s comic heroes and his autobiographical persona to accept blame in exchange for the powerful protection of authority makes profound existential sense.22

Zoščenkos invariante Narrative sind ein Zeichen der invarianten Welt. Seine Kurzgeschichten sind von einer Komik durchdrungen, die jedoch nicht den entscheidenden Moment der oft verzwickten und ab-

21 Vgl. Zholkovsky, Alexander: »What is the Author Trying to Say With his Artistic Work?: Rereading Zoshchenko’s Oeuvre« in: The Slavic and East European Journal, Vol. 40, No. 3, Autumn 1996, S. 458-474. 22 Ebd., S. 470.

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surden Situationen im sowjetischen Alltag ausmacht. Die Geschichten sollen nicht nur zum Lachen bewegen, sondern zugleich auf die Gefährdung des Menschlichen in einer Gesellschaft hinweisen, die sich in einem Durcheinander von Halbwahrheiten befindet und sich dort hoffnungslos zu verirren droht. Seine Texte sind ›Fakt-Fiktion-Hybride‹, die für die Sowjetzeit nicht unüblich sind23 und von Morson als »Schwellentexte« bezeichnet werden. Morson konstatiert, dass Zoščenkos Texte create hermeneutic perplexity […] by generic incompatibility, that is, by embedding or juxtaposing sections of radically heterogeneous material. The generic conventions governing individual sections may be clear, but the laws of their combination are not. Attempting to understand the entire text as a single literary work, the reader postulates hierarchical relations among its constituent parts, but discovers that the text sustains radically different hierarchies and therefore admits contradictory meanings.24

Es sind diese unterschiedlichen, wenn nicht widersprüchlichen Leseweisen, um die es mir hier geht, und weshalb der Begriff ›Schwellentext‹ angebracht ist. Der Schwellenzustand beschreibt das Dilemma, mit dem sich der Leser und der Wissenschaftler (sowie der Kommunalkabewohner) gleichermaßen konfrontiert sieht. Wir werden dazu gezwungen, sich einander ausschließende Lesestrategien gleichzeitig anzuwenden und für uns selber auszuwerten. Anhand von Interaktionsritualen in einer von Umbrüchen und Widersprüchen geprägten Kultur möchte ich die performativen, kreativen und transformativen Eigenschaften der in der Literatur reflektierten Kultur aufzeigen. Darüber hinaus reflektiert die Auswahl der hier primär untersuchten Schriftsteller drei unterschiedliche Ebenen der Analyse und Gesellschaftskritik der Autoren selber, die entsprechend die Texte prägen: Zoščenko setzt sich in seinen Texten mit seinen eigenen Neurosen und seinen eigenen bourgeoisen Verhaltensweisen auseinander, mit Blick auf den gesamtgesellschaftlichen Kontext;25 Bulgakovs

23 Vgl. Carleton, Gregory: The Politics of Reception: Cultural Constructions of Mikhail Zoshchenko, Northwestern University Press 1998, S. 103. 24 Morson, Gary Saul: The Boundaries of Genre: Dostoevsky’s »Diary of a Writer« and the Traditions of Literary Utopia, Austin 1981, S. 50. 25 Vgl. Zholkovsky, a.a.O.

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Hauptanliegen ist das Aufeinandertreffen pre- und postrevolutionärer gesellschaftlicher Kräfte, wobei er in gewisser Weise der alten russischen Tradition nachtrauert und sich somit insbesondere mit dem zeitgenössischen Verfall der russischen Gesellschaft und speziell der Wohnraumfrage beschäftigt; Charms wiederum kritisiert die modernen gesellschaftlichen Tendenzen, speziell den Verfall zwischenmenschlicher Beziehungen. Außerdem verhandelt er auf der literarischen Ebene das konventionelle, logische Verhältnis von Wort und Bedeutung.26 Ausgewählte satirische Texte und Dramen der oben genannten Autoren, die entweder die Kommunalwohnung als Kulisse haben oder das Phänomen Kommunalka thematisieren, werden im Mittelpunkt dieser Analyse stehen. Nach einer historischen Kontextualisierung und theoretischen Erörterung werde ich satirische Texte der oben erwähnten Autoren vorstellen, die ich im Hinblick auf ihre Darstellung des Liminalen untersucht habe. Hierbei haben sich vier thematische Themenkomplexe herauskristallisiert, die jeweils in einem Kapitel verhandelt werden: • Zeit/Raum(losigkeit) – hier entstehen illusorische, (alp)traumhafte raum- und zeitlose Räume, in denen Magie und Fetische die (Un-) Ordnung stabilisieren. • (Un-)Ordnung und bedingtes Chaos – Müll bietet ein wichtiges Analyseinstrument in der Bestimmung gesellschaftlicher Ordnung, in der die unordentliche sowjetische Kultur als ewige Baustelle die Rolle von Objekten in ihren Beziehungen zum Menschen und objektivierten Menschen entstellt. • Solidarischer Eigen-Sinn oder eigensinnige Solidarität? – die scheinbar unanfechtbare Grenze zwischen inoffizieller privater und offizieller öffentlicher Sphäre wird in spontanen Zusammenschlüssen der Kommunalkabewohner hinterfragt. Auf der Suche nach Ordnung, Sinn und Wahrheit unter extremen, von Widersprüchen geprägten Lebensverhältnissen in einem total(itär)en Raum entsteht eine dialektische gegenseitige Verbindung und daraus entstehende Abhängigkeit in Konfliktsituationen, welche durch das scheinbar unvereinbare Konzept der eigensinnigen Solidarität veranschaulicht werden sollen. • (In-)Offizielle Privatheit/(in)offizielle Öffentlichkeit – an der unbestimmten Grenze zwischen der privaten und der öffentlichen

26 Vgl. Fink, a.a.O.

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Sphäre entsteht ein liminaler Raum, in dem diese Grenze in der zwischenmenschlichen Interaktion im offenen und potentialträchtigen Raum der Kommunalwohnung verhandelt wird, in dem monologische Ambitionen der Regierung unbeabsichtigterweise dialogisch werden. Um sich eine Vorstellung über die dynamischen Interaktionen und den Wandel in der Zeit machen zu können, werde ich in einem weiteren Kapitel zwei Texte aus den 1950er Jahren und den 1980er Jahren analysieren: Boris Jampol’skijs Roman Moskovskaja ulica (Kommunalka. Ein Moskauer Roman, 1954) und Vjačeslav P’ecuchs Roman Novaja moskovskaja filosofia (Neue Moskauer Philosophie, 1989). Fragen, die in dieser Arbeit im Mittelpunkt stehen, sind: Welche Rolle spielen Literatur und literarische Texte als Medium kultureller Transfers für kulturelle Selbstreflexivität, -deutung und Innovation? Inwiefern bestimmen literarische und außerliterarische Faktoren einander? Welche Auswirkungen hatten chaotische und unsichere Lebensbedingungen auf die Interaktion zwischen dem Bürger (Privatheit) und der Gesellschaft (Öffentlichkeit)? Wie wurde Intimität im kulturellen Raum der Kommunalka, in Wechselbeziehung und -wirkung von Nähe und Distanz und in Abgrenzung zur und im Zusammenspiel mit einer totalen Öffentlichkeit27 hergestellt? Inwiefern hatten Bewohner Anteil an der Gestaltung der totalen Öffentlichkeit bzw. von Intimität? Auf welche Weise wurden soziokulturelle und politischideologische Dynamiken in Räume eingeschrieben und welche Wirkung hatten sie auf die Konstruktion bzw. Umkodierung von Intimität? Inwiefern wurde die sowjetische Gesellschaft durch offizielle und inoffizielle räumliche (An-)Ordnungen sowie kulturelle bzw. soziale Praxis strukturiert? Welchen Einfluss hatte das Zusammenleben mit

27 Der Begriff ›totale Öffentlichkeit‹ und auch ›totale Intimität‹ wird hier in Anlehnung an Kabakov verwendet. Ilja Kabakov ist einer der prominentesten postsowjetischen russischen Konzept-Künstler, der sich in seinen Arbeiten vor allem mit dem sowjetischen Alltag auseinandersetzt. Eine seiner dominanten Kunstformen ist die ›totale Installation‹, in der in einem Raum über direkte und indirekte Anweisungen Kontrolle über den Betrachter ausgeübt wird, die an die vergangene Sowjetmacht erinnert. Siehe Kabakov, Ilja: The Rope of Life and Other Installations, Museum für Moderne Kunst, Frankfurt a.M. 1995, S. 85.

E INLEITUNG | 21

fremden Menschen auf Werte, Pläne, Verhalten und das Verständnis von traditionellen Normen des Einzelnen?

Historischer Kontext

[…] Aber die Kellerwohnung des Armen ist eine feindliche, als fremde Macht an sich haltende Wohnung, die sich ihm nur hingibt, sofern er seinen Blutschweiß ihr hingibt, die er nicht als seine Heimat, – wo er endlich sagen könnte, hier bin ich zu Hause – betrachten darf, wo er sich vielmehr in dem Haus eines andern […] befindet, der täglich auf der Lauer steht […]. Ebenso weiß er der Qualität nach seine Wohnung im Gegensatz zur jenseitigen, im Himmel des Reichtums residierenden menschlichen Wohnung.1

Die russische Kellerwohnung ist im Wesentlichen der Vorreiter der Kommunalwohnung, und beide Begriffe können im angeführten Zitat von Marx nicht nur problemlos ausgetauscht werden, sondern die Umstände verschlechterten sich sogar noch wesentlich in der Kommunalwohnung, indem diese zur aussichtslosen ›Normalität‹ im extremen

1

Marx, Karl: Der historische Materialismus, Landshut und Mayer (Hg.), Leipzig 1932; zitiert in Benjamin, Walter: »Das Interieur, die Spur« in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. V/1: Das Passagen-Werk, hg. von Rolf Tiedemann, Frankfurt a.M. 1991, 281-300, S. 295.

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Alltag einer andauernden Ausnahmesituation wurde.2 Durch die außerordentliche Enge und den unvermeidbaren Kontakt mit Fremden war eine bedrohliche und feindliche Kraft in die Wände der Kommunalwohnungen eingeschrieben, die sich auf die Bewohner übertrug. So wurde der Nachbar zum symbolischen Feind, der täglich auf der Lauer liegt. Ebenso war es unmöglich, unter diesen Umständen die Kommunalwohnung als ein Zuhause im gewöhnlichen Sinne zu betrachten, und so stand sie tatsächlich, wie Marx in seiner Ausführung zur Kellerwohnung betonte, in ihrer Qualität »im Gegensatz zur jenseitigen, im Himmel des Reichtums residierenden menschlichen Wohnung«. Unmenschliche Lebensverhältnisse waren jedoch allgemein eine Begleiterscheinung in den Anfängen von Industrialisierungs- und Urbanisierungsprozessen, speziell in Arbeiterquartieren.3

AUSNAHMEZUSTAND Schon vor der Oktoberrevolution herrschten Wohnungsnot und verheerende Zustände in den Stadtzentren Russlands, vor allem aber in Moskau und Petrograd.4 Beide Hauptstädte beherbergten zusammen etwa ein Drittel der städtischen Industriearbeiter, und mit der explodierenden Stadtbevölkerung entwickelten sich beide Städte zu einem ›modernen Moloch‹.5 Im Zuge der Industrialisierung und Urbanisierung

2

Der einzige Bruch in dieser Einstellung setzte mit der baupolitischen Planung und Kampagne der ebenso berühmt-berüchtigten Chruščoby ein, der den Umzug in eine Einfamilienwohnung zu einer Hoffnung auf bessere Wohnverhältnisse werden lies, die allerdings nur bedingt erfüllt wurde. Mehr dazu in den Schlussbemerkungen.

3

Diese stehen nichtsdestotrotz in relativem Verhältnis zu vormodernen Lebensstandards und -bedingungen. Vgl. Reinhard, Wolfgang: Lebensformen Europas. Eine historische Kulturanthropologie, München 2004.

4

Beispielsweise gab es im Petrograd der vorletzten Jahrhundertwende einen Wursthändler, dessen 16 Angestellte und Lehrlinge zusammen in einem Zimmer wohnten, in dem auch die Wurst hergestellt wurde. Vgl. Obertreis, Julia: Tränen des Sozialismus. Wohnen in Leningrad zwischen Alltag und Utopie 1917-1937, Köln 2004, S. 50.

5

In St. Petersburg war die Situation besonders gravierend, denn kurz vor dem Ersten Weltkrieg gehörten zwei Drittel der Einwohner formell dem

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entstanden Arbeiterviertel und -ghettos, in denen zugezogene Arbeiter und Arbeiterfamilien extremen Wohnverhältnissen ausgesetzt waren. Neben Schmutz und Elend war auch Mangel an bzw. Abwesenheit von Privatheit charakteristisch für die unzulänglichen und erbärmlichen Zustände. Um die vorletzte Jahrhundertwende schildert der Textilingenieur F.P. Pavlov die Lebensbedingungen in einer Arbeiterkaserne in einer Fabriksiedlung: In den Arbeiterkasernen gab es zwei Typen der Unterbringung. Alleinstehende waren in grossen Schlafsälen zusammengepfercht, wo sie sich im Takt des Schichtbetriebs jeweils zu zweit eine der auf einer langen Holzpritsche seitlich mit niedrigen Brettern abgeschrankten Kojen nebst Strohsack teilten. Arbeiter mit Familien lebten in Zimmern: Auf jedem Stockwerk der Kaserne zweigten von einem rund hundert Meter langen Flur beidseits Zimmer mit zwei Betten ab; ein Tisch mit vier Stühlen am Fenster vervollständigte das Mobiliar. Wenn Alleinstehende das Zimmer bewohnten, mussten sie sich zu viert schichtweise die beiden Betten teilen. Paare ohne Kinder hatten ein Bett für sich allein und suchten sich hinter einem Vorhang ein Minimum an Intimsphäre zu sichern.6

In den urbanen Räumen entwickelten sich ähnliche Wohnwelten. Laut einer statistischen Erfassung der Wohnungslage in Moskau durch städtische Behörden wohnte 1899 ein Drittel der Bevölkerung Moskaus in Kellerwohnungen oder in Winkeln bzw. Ecken (ugly) von Souterrainwohnungen. Es wurden 16.140 Winkelwohnungen registriert, in denen 171.000 Menschen wohnten.7 Die verheerenden Zustände wurden in einem Bericht folgendermaßen beschrieben: The stuffiness is insupportable because of the dense population. In a closet where there are three cots altogether, thirteen people live. […] Upon entering the apartment, it seems that one has gone into an outhouse, the stench is so

Bauernstand an, und ein Drittel der Bevölkerung waren nicht gebürtige St. Petersburger. Vgl. Goehrke, Carsten: Russischer Alltag. Eine Geschichte in neuen Zeitbildern, Bd. 2: Auf dem Weg in die Moderne, Zürich 2003, S. 292, 306. 6

Ebd., S. 297.

7

Vgl. Thurston, Robert: Liberal City, Conservative State: Moscow and Russia’s Urban Crisis, 1906-1914, New York 1987, S. 18.

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strong […] all the children are sick. […] The ceiling is covered with mold, the apartment is cold, there is a stench from the slop pit.8

Im Vergleich zu Berlin und London, wo der Durchschnitt 3,9 bzw. 4,5 Bewohner pro Wohnung betrug, lag der ermittelte Mittelwert der beiden Hauptstädte Russlands (St. Petersburg und Moskau) bei 8,4 bzw. 8,7 Bewohnern. 1912 wohnten nur 29,3 Prozent der Bevölkerung unter normalen, gesundheitsgerechten Umständen.9 Der Rest der Bevölkerung teilte Lebensräume mit einer Mehrzahl von Untermietern. Mit der Wohnraumkrise entwickelte sich im vorrevolutionären Russland eine große Vielfalt an provisorischen und einzigartigen Wohnkonstellationen, in denen sich einander fremde Menschen unterschiedlicher Herkunft gemeinsamen Wohnraum teilten.10 Dabei können die möblierte Zimmervermietung, die Kellerwohnungen, aber mehr noch die Vermietung von Zimmerecken (ugolki oder ugly)11 als

8

Ebd., S. 18. Zitiert von Thurston, Robert aus Karžanskij, N.: Kak izbiralas‛ i rabotala Moskovskaja duma, 2. Ausgabe, Moskau 1950, S. 30.

9

Vgl. Obertreis, a.a.O., S. 102; Sosnovy, Timothy: The Housing Problem in the Soviet Union, New York 1954, S. 288.

10 Für eine ausführliche Darstellung einzelner Wohn- und Lebenswelten siehe Goehrke, a.a.O., S. 290-407. Siehe auch Thurston für eine ausführliche Schilderung der urbanen Geschichte Moskaus. Richard Stites konstatiert ebenfalls, dass es lange vor der Revolution bereits kooperative-kommunale Wohnungen gab (artel'nye kvartiry), die gemeinsam von so genannten Zeitarbeitern gemietet wurden. Vgl. Stites, Richard: Revolutionary Dreams: Utopian Vision and Experimental Life in the Russian Revolution, New York 1989. 11 Goehrke beschreibt Wohnverhältnisse und Lebensbedingungen in den Zimmern mit ugolki folgendermaßen, in einem emotional befrachteten Tonfall: »In jedem Zimmer drängten sich mehrere Personen oder gar Familien, die in ihren ›Ecken‹ oder ›Winkeln‹ (ugolki) durch vorgehängte Decken ein Minimum an eigenem ›Heim‹ zu schaffen suchten und dennoch nicht darum herumkamen, selbst ihre intimsten Freuden allen Personen im Zimmer zu Gehör zu bringen. Auch wenn man in Rechnung stellt, dass die meisten Bewohner vom Lande stammten und es daher gewohnt waren, zu mehreren Personen in ein und demselben Raum zu nächtigen, hatte es sich dabei um Familienangehörige gehandelt, während man es nun mit Fremden zu tun hatte. Außerdem befand man sich nun nicht innerhalb

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eigentliche Vorreiter der Kommunalwohnung betrachtet werden. In beiden Fällen nahmen hauptsächlich die Menschen diese Option in Anspruch, die sich außerhalb der urbanen gesellschaftlichen Ordnung befanden.12 Notgedrungen wurde die breite Bevölkerung nach der Oktoberrevolution so den Wohnverhältnissen der gesellschaftlichen Unterschichten und der Obdachlosen des vorrevolutionären Russlands ausgesetzt. Im Folgenden wird die räumliche Gestaltung der ›Ecken‹ von Nekrasov in seiner physiologischen Darstellung Peterburgskie ugly beschrieben: То была точно такая же комната, как и наша, но убранная несколько иначе и лучше. В двух углах стояли кровати, а два остальные были загорожены ширмами, с которыми соединено было то удобство, что можно было заниматься чтением [»Северной пчелы«], которую ширмы были оклеены. На пол-аршина от потолка во всю длину стен были прибиты, как в крестьянских избах […].13 Es war genauso ein Zimmer wie unseres, nur anders und besser ausgestattet. In zwei Ecken standen Betten, und die beiden anderen waren mit Wandschirmen abgetrennt, so dass so eine Bequemlichkeit zustande kam und man sich dem Lesen widmen konnte [severnaja pčela – vorrevolutionäre literarische Zeitschrift aus St. Petersburg] mit der die Wandschirme beklebt waren. Eine Elle von der Decke entfernt waren sie über die ganze Länge der Wand angenagelt, wie in Bauernhäusern […].

der eigenen vier Wände mit der Möglichkeit, jederzeit und direkt an die frische Luft und in die freie Natur zu gelangen, sondern man war eingesperrt in eine riesige lebensfeindliche Wohnmaschine mit Tausenden von Leidensgenossinnen und -genossen.« Siehe Goehrke, a.a.O., S. 317. 12 Schamma Schahadat weist darauf hin, dass in der realistischen Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts die ›Ecke‹ ein Chronotop für diesen sozialen Typus ist. Vgl. Schahadat, Schamma: »Nähe, Zwang. Projekte kommunalen Wohnens von den Chlysten bis zu Kabakov« in: Menzel, Birgit (Hg.): Kulturelle Konstanten Rußlands im Wandel. Zur Situation der russischen Kultur heute, Bochum 2004, S. 90-109. 13 Nekrasov, Nikolaj: »Peterburgskie ugly« in: Nedzveckij, Valentin (Hg.): Fiziologija Peterburga, Moskva 1984, S. 149; eigene Übersetzung.

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Ähnlich versucht sich der Dichter Joseph Brodsky als junger Mann im Kommunalkazimmer seiner Familie zu arrangieren, was er in seinen Erinnerungen in dem Text In eineinhalb Zimmern beschreibt: Man mußte eine lindernde Lösung entwerfen, und damit war ich seit meinem fünfzehnten Lebensjahr beschäftigt. Ich habe alle Sorten von schwachsinnigen Arrangements ausprobiert […]. Die Lösung war dann, immer mehr Bücherregale auf meiner Seite und mehr und dazu dickere Schichten von Vorhängen auf der Seite meiner Eltern.14

Obwohl beide Beispiele Jahrzehnte auseinanderliegen – das erste fand im vorrevolutionären und das zweite im sowjetischen Russland statt –, haben die Probleme des Zusammenlebens dennoch dieselbe Qualität: Vorhänge oder Wandschirme dienten dazu, wenn auch nur symbolisch, einen nicht vorhandenen Privatraum zu schaffen und die Transparenz des Raums zu brechen. So haben sich im Zuge der vorrevolutionären Industrialisierung in der urbanen Topographie Russlands Tendenzen etabliert, die im sowjetischen Kontext übernommen bzw. fortgesetzt wurden. Rhetorisch auf der politischen Ebene wie mental auf der persönlichen Ebene bedeutete der Übergang in kollektive und kommunale Lebensformen keine gravierende Umwälzung grundlegender gesellschaftlicher Verhältnisse.

V ERDICHTUNGSRAUM Mit Beginn der Revolution erhofften sich viele Menschen dennoch eine Lösung oder zumindest eine Verbesserung der katastrophalen Wohnungslage.15 Während der Revolutions- und Bürgerkriegsjahre

14 Brodsky, Joseph: »In eineinhalb Zimmern« in: ders.: Erinnerungen an Leningrad, Frankfurt a.M. 1990, Übers. von Marianne Frisch, 47-119, S. 84. 15 Der Wohnraum einer in der Stadt lebenden Person betrug zwischen 1912 und 1914 im Durchschnitt 5,47 m². Die von den Bolschewiki vorgegebene Pro-Kopf-Wohnraumnorm wurde 1928 von 14 m² pro Person auf 10 m² gesenkt, allerdings betrug der reale Wohnraum pro Person 1928/29 unionsweit im Durchschnitt 6 m² und stellt somit keinen signifikanten

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entspannte sich die Wohnungskrise vorübergehend, nicht nur wegen der vom Krieg ausgelösten Gefahr, sondern auch aufgrund einer verheerenden Versorgungslage, die einer verfehlten Landwirtschaftspolitik zu verdanken war – viele verließen die von Krieg und Elend heimgesuchten Städte.16 Mit Beginn der Neuen Ökonomischen Politik (NĖP) um 1921 und der massenhaften Zuwanderung ehemaliger Bauern in die Städte verschärfte sich das Wohnungsproblem jedoch erneut. Um die eskalierende Wohnungskrise schnellstmöglich zu beheben, musste notgedrungen ein Provisorium entwickelt werden. Unter dem Vorwand, dass eine Lösung der Wohnraumkrise nur durch eine staatlich kontrollierte Verwaltung des vorhandenen Wohnraums möglich sei, begann 1918 mit der Jahreswende in Petrograd die Umverteilung (kvartirnyj peredel) und Verdichtung (uplotnenie) von Wohnraum an Wohnraumsuchende. Generell wurde die autokratische Diktatur der Partei von Lenin damit gerechtfertigt, dass der politische Wille aufgrund der spezifischen Umstände in Russland über die objektiven Gegebenheiten gesetzt werden müsse. Interessen von Partei und Staat wurden konzeptionell zusammengeführt, wobei sich die Partei zu einer machtorientierten ›organisatorischen Waffe‹ entwickelte – womöglich begann mit dieser Grundhaltung die eigentliche Kluft zwischen Ideologie und Wirklichkeit.17 In einer demonstrativen, symbolisch aufgeladenen Inszenierung der neuen sowjetischen Machthaber wurden die großen Wohnungen der Aristokratie und des Bürgertums vom Staat beschlagnahmt und im Sinne von Engels an die Angehörigen der Arbeiterschaft umverteilt:18

Unterschied zu vorrevolutionären Zuständen dar. Siehe Obertreis, a.a.O., S. 41. 16 Diejenigen, die eine Verbindung mit dem Lande hatten, verließen die Städte, und der Rest – das eigentliche Stadtproletariat – blieb. In Petrograd verringerte sich die Einwohnerzahl zwischen 1917 und 1920 um 72 Prozent (von 2,5 Millionen auf 722.000) und in Moskau um 40 Prozent (von 2.017.000 auf 1.028.000). Siehe Obertreis, a.a.O., S. 41. 17 Vgl. Bronner, Stephen Eric: »›Was tun?‹ und Stalinismus« in: UTOPIE kreativ, H. 151, Mai 2003, S. 425-434 und Tucker, Robert C.: »Lenin’s Bolshevism as a Culture in the Making« in: Bolshevik Culture: Experiment and Order in the Russian Revolution, Indiana University Press 1985, S. 25-37. 18 Am 8. November 1917 wurde das Dekret über die »Beschlagnahmung der Wohnungen Wohlhabender zur Versorgung der Bedürftigen mit Wohn-

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Soviel aber ist sicher, dass schon jetzt in den großen Städten hinreichend Wohngebäude vorhanden sind, um bei rationeller Benutzung desselben jeder ›wirklichen‹ Wohnungsnot sofort abzuhelfen. Dieses kann natürlich nur durch Expropriation der heutigen Besitzer resp. durch Bequartierung ihrer Häuser mit Obdachlosen oder in ihren bisherigen Wohnungen übermäßig zusammengedrängten Arbeitern geschehen.19

Engels’ Vorschlag zur Beseitigung einer Wohnraumkrise wurde in Sowjetrussland umgesetzt. Allerdings blieben die Obdachlosen nach der ›Bequartierung‹ im übertragenen Sinne von Georg Lukacs’ (Die Theorie des Romans, 1916) formulierten ›transzentendalen Obdachlosigkeit‹ weiterhin ›obdachlos‹. Infolge der Umquartierungskampagne herrschten in den beschlagnahmten Wohnungen unzumutbar enge und teilweise chaotische Zustände. Allerdings wurden diese im Rahmen eines revolutionären Ausnahmezustandes von einem Teil der städtischen Bevölkerung vorläufig hingenommen. Michail Bulgakov verhandelt das Thema der Umquartierungskampagne in seinem Roman Sobače serdce (Hundeherz):20 Извиняюсь – перебил его Швондер, вот именно по поводу столовой и смотровой мы и пришли поговорить. Общее собрание просит вас добровольно, в порядке трудовой дисциплины, отказаться от столовой. Столовых нет ни у кого в Москве. Даже у Айседоры Дункан, звонко

raum« bekannt gegeben. Die Mietshäuser wurden in Petrograd Anfang Dezember 1917 enteignet und den Mietern zur Selbstverwaltung übergeben. Vgl. Bodenschatz, Harald/Post, Christiane (Hg.): Städtebau im Schatten Stalins. Die internationale Suche nach der sozialistischen Stadt in der Sowjetunion 1929-1935, Berlin 2003, S. 370. Dabei teilte sich die Randund Arbeiterbevölkerung in zwei unterschiedliche Gruppen: in eine untere Schichte von Stadtbewohnern und in Migranten aus dem Dorf. Siehe Gerasimova, Ekaterina/Čukina, Sofia: »Ot kapitalističeskogo Peterburga k socialističeskomu Leningradu: Izmenenie social’no-prostranstvennoj struktury goroda v 30-e gody« in: Vichavajnen, Timo (Hg.): Normy i cennosti povsednevnoj žizni: Stanovlenie socialističeskogo obraza žizni v Rossii, 1920-1930-e gody, St. Petersburg 2000, S. 27-74. 19 Zitiert von Obertreis, a.a.O., S. 36. 20 Vgl. Bulgakov, Michail: Sobač’e serdce, Paris 1985; ders.: Hundeherz, 8. Aufl., Übers. von Giesela Drohla, Darmstadt 1984.

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крикнула женщина. С Филииппом Филипповичем что-то сделалось, вследствие чего его лицо нежно побагровело и он не произнес ни одного звука, выжидая, что будет дальше. И от смотровой также, продолжал Швондер, смотровую прекрасно можно соединить с кабинетом. Угу, молвил Филипп Филиппович каким-то странным голосом, а где же я должен принимать пищу? В спалне, хором ответили все четверо. Багровость

Филиппа

Филипповича

приняла

несколько

сероватый

оттенок. В спальне принимать пищу, заговорил он слегка придушенным голосом, в смотровой читать, в приемной одеваться, оперировать в комнате прислуги, а в столовой осматривать. Очень возможно, что Айседора Дункан так и делает. Может быть, она в кабинете обедает, а кроликов режет в ванной. Может быть. Но я не Айседора Дункан! ›Entschuldigen Sie‹, fiel ihm Schwonder ins Wort, ›wir sind gekommen, weil wir mit Ihnen über das Esszimmer und das Untersuchungszimmer reden wollten. Die Generalversammlung bittet Sie, aus Gründen der Arbeitsdisziplin freiwillig auf Ihr Esszimmer zu verzichten. Niemand in ganz Moskau hat ein Esszimmer.‹ ›Nicht mal Isidora Duncan!‹, schrie die Frau. In Filipp Filippowitsch ging irgend etwas for, was zur Folge hatte, daß er rot anlief und kein Wort mehr sagte, sondern wartete, was weiter passieren würde. ›Und auf das Untersuchungszimmer müssen Sie auch verzichten‹, fuhr Schwonder fort, ›Sie können Ihr Arbeitszimmer sehr gut als Untersuchungszimmer benutzen.‹ ›Soso‹, sagte Filipp Filippowitsch in seltsamem Ton, ›und wo soll ich denn essen?‹ ›Im Schlafzimmer‹, antworteten die vier im Chor. Die Röte wich aus den Wangen Filipp Filippowitschs. ›Im Schlafzimmer essen‹, sagte er mit etwas belegter Stimme, ›im Untersuchungszimmer lesen, sich im Sprechzimmer ankleiden, im Mädchenzimmer operieren, im Esszimmer Patienten untersuchen. Möglich, dass Isidora Duncan das macht. Vielleicht isst sie in ihrem Arbeitszimmer und schlachtet im Bad Karnickel, vielleicht. Aber ich bin nicht Isidora Duncan!‹21

Im Rahmen der ›sozialistischen Umgestaltung der Lebensweise‹ wurde der Wohnraum vom Staat einerseits beschlagnahmt, andererseits wurde aber erwartet, dass die Wohnungseigentümer freiwillig ihre Zimmer aufgeben, die danach ordnungsgemäß als Allzweckzimmer umfunktioniert wurden. Dies galt bei Bedarf auch für Badezimmer, Küche und Korridor, die in der Anfangsphase gelegentlich als Wohnraum fungier-

21 Bulgakov, a.a.O., S. 39f.; dt. Übersetzung S. 35f.

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ten.22 Während der Verdichtung und Umgestaltung dieses ›neuen‹ und speziell sowjetischen Wohnarrangements wurden die übliche Aufteilung des häuslichen Bereichs und damit einhergehende Grenzen ver-rückt und pervertiert. Grund dafür war eine Entfremdung und Zerstörung der bourgeoisen häuslichen bzw. familiären Strukturen, die den Weg für die neuen Strukturen der proletarischen Kameradschaftlichkeit bereiteten. Nun war es tatsächlich notwendig, im (Schlaf-)Zimmer zu essen, sich im (Wohn-)Zimmer an- und auszuziehen und im (Gemeinschafts-)Zimmer seine Intimität und Sexualität auszuleben. Es wurde ein totaler Raum geschaffen, in dem nicht nur der Alltag, sondern auch das sowjetische Leben in all seinen Facetten verdichtet wurde. Während eine moderne Planung zukünftiger Gesellschafts- und Lebensverhältnisse propagiert wurde, degenerierten bürgerliche Räumlichkeiten letztendlich zu frühindustriellen Arbeiterquartieren, wie sie unter anderem in französischen innerstädtischen Arbeitervierteln üblich waren:23 Es gab keinen Wohnraum für je eine Person, sondern für je eine Familie, und die Wohnverhältnisse waren meist unhygienisch, gesundheitsschädlich und von sozialen Missständen geprägt. Was die Kommunalwohnung einzigartig unter den (früh)industriellen Arbeiterquartieren macht, sind nicht nur die unmenschliche Dichte einander fremder Men-

22 Zošĉenko thematisiert diese Umstände in seiner Erzählung Krisis oder Familienglück im Badezimmer. In dieser Kurzgeschichte findet der Protagonist nach wochenlanger Suche endlich Wohnraum, allerdings stellt sich heraus, dass dieser Raum sich im Badezimmer befindet. Da er keine andere Option hat und sich irgendwo niederlassen muss, nimmt er das Angebot an. Nach einem Monat heiratet er eine Frau (ohne Zimmer). Sie zieht zu ihm und zusammen leben sie nun im Badezimmer dieser Kommunalwohnung und bauen dort ihr gemeinsames Leben miteinander auf, trotz alltäglicher Störungen von Seiten der Nachbarn, die sich in seinem ›Zimmer‹ waschen möchten. Nach einiger Zeit kommt die Schwiegermutter aus der Provinz und der Bruder der Frau hat sich auch schon angekündigt. Noch vor dessen Ankunft verlässt er die Wohnung, seine Frau und Moskau und sendet der Familie regelmäßig Geld per Post. Zoščenko, Michail: »Krisis« in: ders.: Nervnye ljudi. Rasskazy i fel’etony 1925-1927, St. Petersburg 2003, S. 46-48. 23 Gegenwärtig gibt es ähnliche Wohnverhältnisse zum Beispiel in südafrikanischen Townships oder in deutschen Spätaussiedlerheimen. Vgl. Reinhard, a.a.O., S. 504.

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schen, die von sozialen und gesundheitlichen Missständen geprägten Wohnverhältnisse, der Zwangscharakter des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlichster Bildung, Schichten, Altersgruppen, Religionen, Herkunft etc., sondern die extreme Ideologisierung, Politisierung und Kollektivisierung des Alltags, die unter den speziellen Umständen des allgemeinen, aber auch staatlichen ›Sichdurchwurstelns‹ einen vielschichtigen und mithin komplexen Raum schuf.

P RAKTIKEN

DES

›S ICHDURCHWURSTELNS ‹

Anfänglich waren die Bezirkssowjets dafür zuständig, den überflüssigen oder leerstehenden Wohnraum, der von Geflüchteten hinterlassen wurde, zu registrieren und dann an Wohnraumsuchende weiterzuverteilen. Da sich diese Aufgabe jedoch als kompliziert und sehr aufwendig erwies, wurde diese Tätigkeit von den Hauskomitees (domkom) bzw. den Wohngenossenschaften (žiliščno-arendno kooperativnoe tovariščestvo, kurz ŽAKT)24 übernommen, die in den 1920er Jahren als Mittelinstanz zwischen dem Regime und einzelnen Hausbewohnern entstanden. Als eine Form der kollegialen Kooperation und Selbstverwaltung waren Wohnungsgenossenschaften nicht nur für die Registrierung und Umverteilung von Wohnraum verantwortlich, sondern auch für die Verwaltung und Instandhaltung der Häuser sowie für revolutionäre Kulturarbeit. Wie noch nie zuvor wurde von der Bevölkerung erwartet, aktiv an wohnungsbaupolitischen Fragen teilzunehmen. Allerdings handelte es sich hier eher um eine Notwendigkeit, die sich aus der tatsächlichen Wohnungslage ergab, als um ein Ziel wohnungspolitischer Richtlinien. Eine weiteres Beispiel nicht nur für die Devise des ›Sichdurchwurstelns‹ in der sowjetischen Gesellschaft, sondern auch dafür, dass vom einzelnen Subjekt eine aktive bzw. autonome Teilnahme an der Politik gefordert und gefördert wurde.

24 Zwischen den Aufgabenbereichen des Domkom und des ŽAKT gibt es nur kleine Unterschiede, denn beide übernahmen Verwaltungsaufgaben durch ein Komitee, das im Wesentlichen von den Bewohnern selbst besetzt war. Einen größeren Wandel gab es mit dem Übergang zu einem einzigen Verwalter. Siehe hierzu Block, Alexander: »Soviet Housing – The Historical Aspect: Some Notes on Problems of Policy« in: Soviet Studies, III, 1951, S. 243.

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Vielen ŽAKT-Mitgliedern war der Nutzen des Genossenschaftsverbandes nicht klar, und wie das folgende Beispiel eines Vorsitzenden einer Wohngenossenschaft zeigt, widersprachen sich Erwartungen und die eigentlichen Verhältnisse vor Ort: Das Einkommen des Hauses war 120 R. im Monat. Viele Löcher, noch mehr Sorgen. Jede Kopeke ist für die Abrechnung teuer. Plötzlich heißt es: bis zum 15. den Müll aus den Kellern räumen, die Luken sauber machen. Befehl vom Exekutivkomitee des Gouvernements – muß gemacht werden. Der Verband nimmt dafür 110 Rub. Sie transportierten es ab. Dann wieder Kummer. Einen neuen Plan machen. Auch dafür nimmt der Verband 82,50 R. Ein Bauer hätte für das erste 50 Rub. genommen, ein privater Ingenieur für das zweite 30 Rub. Aber ich habe bewußt die Kooperative unterstützt. Und es kam die Stunde der Abrechnung, des Berichts über die jährliche Arbeit. Es wurde verordnet: die Arbeit als schlecht einstufen, mit der Begründung, daß dem Verband sehr viel für den Müll und den Plan bezahlt wurde. Ich klage nicht darüber, daß ich keine Dankbarkeit bekommen habe. Das ist nicht meine Schuld. Es geht darum, 25

dass der Verband die Preise senken muss.

Selbst ŽAKT-Mitglieder waren impraktikablen und unsinnigen Voraussetzungen von Seiten der Regierung ausgesetzt. Außerdem waren die Žakty mit den vielfältigen administrativen Anforderungen und gesellschaftlichen Erziehungsmaßnahmen im Wohnbereich vollkommen überfordert: Es fehlten nicht nur die Finanzen und vorteilhafte Bedingungen, sondern auch das Interesse und die adäquate Kommunikation zwischen den jeweiligen Komitees und Behörden.26 Kreativität für alternative Lösungen und Geschicklichkeit in Verwaltungssachen waren schließlich notwendige Fähigkeiten, über die ŽAKT-Mitglieder in dieser Position als zuständige Autorität für Wohnraumangelegenheiten verfügen mussten, um sie erfolgreich auszuführen. Mit der Einführung der Mietsgenossenschaften öffnete sich also eine Möglichkeit, dem staatlichen Monopol und dessen Anordnungen im Wohnbereich zu entkommen: Dank der NĖP öffnete sich eine offizielle ›Freizone‹.27

25 Zitiert und übersetzt von Obertreis, a.a.O., S. 157, aus Žiliščnoe Delo, 1925, Nr. 10, S. 34. 26 Vgl. ebd., S. 186. 27 Gerasimova, 2000, a.a.O., S. 46.

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Trotz oder gerade wegen der offiziellen Freizone herrschte ein gewisses Misstrauen gegenüber den Žakty von Seiten der staatlichen und städtischen Behörden, und das nicht zu Unrecht: Es kam durchaus vor, dass ŽAKT-Mitglieder ihre eigene Wohnungspolitik betrieben. Wohnraum wurde an Wohlhabende verschachert, oder Baumaterialien, die eigentlich für hauseigene Reparaturen und Renovierungen bestimmt waren, wurden auf dem freien Markt verkauft.28 Als Reaktion darauf wurde wiederholt diskutiert, wie viel Verantwortung und Selbstständigkeit den Žakty zugestanden werden sollte, die zum größten Teil kaum zu kontrollieren waren. Die Existenz dieser Art der Wohngenossenschaften bis 1937 bezeichnet Obertreis als ein »unbeachtetes Fortdauern der NĖP im Wohnwesen«.29 Im Zuge der grundlegenden Umquartierung der städtischen Bevölkerung standen lokale Bezirkssowjets (rajsovet) mit Vertretern der Hauskomitees vor Ort in Verbindung. Wer mehr als ein Zimmer pro Person zur Verfügung hatte, sollte diese(s), wie es eindringlich von Bulgakov in seinem Roman Hundeherz (Sobač’e serdce) geschildert wird, freiwillig über die Žakty dem zuständigen Bezirkssowjet melden. Demjenigen, der dieser Verordnung nicht folgte, standen Maßnahmen wie beispielsweise der Verlust der Wohnung sowie des gesamten Besitzes bevor.30 Eine Option war dabei die ›Selbstverdichtung‹ (samouplotnenie): Verwandte und Bekannte konnten überschüssigen Wohn-

28 In einem Vorwort (preamble to the Act of October 17th, 1937 »On the preservation of the Housing Fund and the Improvement of Housing in Towns«) werden die vorhergehende Gesetzgebung und ihre Folgen kritisiert: »The fund of 53 million sq. metres administered by the Zhakty is in a quite unsatisfactory condition. The overwhelming majority of the zhakty do not in fact manage the houses, do not look after repairs, and do not keep the houses in a civilized condition. Neglect of management frequently reduces the houses to a tumble-down state. […] In addition to this, not a few of the zhakty are abetting speculation in housing space. The co-operative housing societies’ associations or unions with numerous branches […] were spending some forty million rubles a year to maintain their administrative apparatus without securing proper management and preservation of the housing fund.« Block, a.a.O., S. 242. 29 Obertreis, a.a.O., S. 407. Inwieweit dieses Phänomen ›unbeachtet‹ war, möchte ich hier hinterfragen, dennoch existierte dieser ›Freiraum‹. 30 Vgl. ebd., S. 53.

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raum beziehen. Wenn diese Praxis auch legal war,31 betrachtet Gerasimova die Selbstverdichtung nichtsdestotrotz als eine Form taktischen Widerstands.32 Um unerwünschte Einquartierungen völlig fremder Menschen zu vermeiden, griffen Wohnungseigentümer auf Taktiken und Tricks jeglicher Art zurück. Den während der Verdichtungs- und Umquartierungskampagne geleisteten taktischen Widerstand greift Bulgakov in seinem 1926 verfassten Schauspiel Sojas Wohnung (Zojkina kvartira) auf. Das Stück gibt ein vielschichtiges Zeitbild Russlands während der NĖP (19211930) wieder und hebt extreme Widersprüche sowie eine Unbestimmtheit hervor, die soziopolitische und alltagskulturelle Veränderungsprozesse prägten.33 Der Vorsitzende des Hauskomitees Alliluja kommt zu Zoja, um den Rauminhalt ihrer Wohnung zu messen und dem lokalen Bezirkssowjet zu melden. Um der offiziellen Visite zu entkommen, bittet Zoja ihre Dienerin Manjuška vorzugeben, dass sie nicht da sei, und versteckt sich im Schrank. Nachdem Alliluja Manjuška allein glaubt, macht er Manjuška unverhohlen Avancen: ЗОЯ (в шкафу). Аллилуя, вы свинья. … Хорош, хорош председатель домкома. Очень хорош! АЛЛИЛУЯ: Я думал, что вас в самом деле нету. Чего ж она врет? И какая вы, Зоя Денисовна, хитрая. На все у вас прием… ЗОЯ: Да разве с вами можно без приема, вы же человека без приема слопаете и не поморщитесь. Неделикатный вы фрукт, Аллилуйчик. Гадости, во-первых, говорите. … АЛЛИЛУЯ: Я человек простой, в университете не был… ЗОЯ: Жаль. Во-вторых, я не одета, а вы в спальне торчите. И в третьих, меня дома нет. АЛЛИЛУЯ: Так вы ж дома. ЗОЯ: Нет меня.

31 Vgl. ebd., S. 56. 32 Vgl. Gerasimova, 2000, a.a.O., S. 35. 33 Ausgangspunkt seines Stückes ist die wahre Geschichte von Zoja Bujalskaja, die in ihrer Wohnung unter dem Deckmantel einer Schneiderwerkstatt eine ›Spielhölle‹ betrieben hatte, die 1925 von der Miliz ausgehoben wurde. Vgl. Schröder, Ralf: »Literaturgeschichtliche Anmerkungen« in: Bulgakow. Sojas Wohnung. Die Purpurinsel. Stücke, Übers. von Thomas Reschke, Berlin 1993, S. 184 – 218, S. 215.

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АЛЛИЛУЯ: Дома ж вы. ЗОЯ: Нет меня. АЛЛИЛУЯ: Довольно-таки странно… ЗОЯ: Ну, говорите коротко – зачем я вам понадобилась. АЛЛИЛУЯ: Насчет кубатуры я пришел. ЗОЯ: Манюшкиной кубатуры? АЛЛИЛУЯ: Само собой. Вы одна, а комнат шесть. ЗОЯ: Как это одна? А Манюшка? АЛЛИЛУЯ: Манюшка прислуга. Она при кухне шестнадцать аршин имеет. Soja: im Schrank Halleluja, Sie sind ein Schurke. … Einen schönen Vorsitzenden hat das Hauskomitee. Sehr schön. Halleluja: Ich dachte, Sie sind wirklich nicht da. Warum lügt sie? Und Sie sind mächtig schlau, Soja Denissowna. Für alles haben Sie einen Trick. Soja: Kommt man bei euch etwa ohne Tricks durch? Ihr kriegt es fertig, einen Menschen aufzufressen, ohne mit der Wimper zu zucken, wenn er keine Tricks kennt. Ein taktloses Früchtchen sind Sie, Halleluja. Erstens reden Sie Gemeinheiten … Halleluja: Ich bin ein einfacher Mensch, war nicht auf der Universität. Soja: Schade. Zweitens bin ich nicht angezogen, und Sie stehen hier im Schlafzimmer herum. Drittens bin ich nicht zu Hause! Halleluja: Aber Sie sind ja zu Hause! Soja: Nein, ich bin nicht da. Halleluja: Sie sind zu Hause! Soja: Nein, bin ich nicht. Halleluja: Sehr merkwürdig … Soja: Also, machen Sie’s kurz – was wollen Sie von mir? … Soll ich mich schon wieder einschränken? Halleluja: Selbstredend. Sie sind allein und haben sechs Zimmer. Soja: Wieso allein? Und Manjuschka? Halleluja: Manjuschka ist Ihre Dienerin. Sie hat das Kämmerchen bei der Küche.34

34 Bulgakov, Michail: »Zojkina kvartira« in: ders.: P’esy 1920-x godov, 'Iskusstvo Leningradskoe otdelenie 1989, 161-214, S. 163; »Sojas Wohnung« in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 9, Berlin 1993, 8-96, S. 10f.

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In diesem Austausch werden zwei wichtige gesellschaftliche Positionen repräsentiert, die unvermittelt aufeinanderprallten und mithin entscheidende soziokulturelle Spannungen erzeugten: das gebildete Kleinbürgertum, welches seine gesellschaftliche Stellung bzw. sein Privateigentum behalten wollte, und das ungebildete, aber dennoch gesellschaftlich aufsteigende Proletariat. Wie Obertreis hervorhebt und Bulgakovs Schauspiel Zojkina kvartira sowie der vorangegangene Ausschnitt aus seinem Roman Sobač’e serdce bestätigt, wurde die Kommunalwohnung zur »Sozialisationsinstanz, die den Migranten vom Land den Eintritt ins Stadtleben ermöglichte«.35 Vertreter der Hausverwaltung nahmen die Rolle des Mittlers zwischen Politik und den Bewohnern ein. Dabei versuchten sie sich gegenüber der Regimepolitik pragmatisch oder praktisch zu positionieren und dementsprechend Dekrete in ihrer Härte oder Milde den Umständen anzupassen. Ungebildete Menschen fanden sich plötzlich in einer sehr mächtigen Position: Gestern Bauer, heute Kommissar oder gestern Schafhirte, heute Vorsitzender der Hausverwaltung. Der russische Schriftsteller Andrej Sinjavskij verweist auf ein Erwachen schöpferischer Energie im Volk, die sich während dieser Zeit aufgrund von Aufstiegsmöglichkeiten und sozialer Mobilität abzeichnete.36 Diese schöpferische Energie hat enormes Erkenntnispotential und bleibt in der Osteuropaforschung dennoch eine zu selten berücksichtigte Qualität der chaotischen und widersprüchlichen Lebensverhältnisse, die sich besonders in den Räumlichkeiten der Kommunalwohnung in den unterschiedlichsten Zusammenhängen bemerkbar machte. Bei Zojkina kvartira wird eine schöpferische Kraft in der zwischenmenschlichen Auseinandersetzung deutlich. Soja weigert sich, Wohnraum aufzugeben, und zwischen ihr und dem Vertreter der Hausverwaltung entsteht ein soziokulturelles wie politisches Kräfteringen, bei dem es um die Entscheidung geht, wer gewandter mit den neuen Lebensbedingungen und der offiziellen politischen Linie umgehen kann.37 Desgleichen könnte man diese rivalisierende Begegnung

35 Obertreis, a.a.O., S. 414. 36 Vgl. Sinjawskij, Andreij: Der Traum vom neuen Menschen oder Die Sowjetzivilisation, Übers. von Svetlana Geier, Frankfurt a.M. 1989, S. 62-63. 37 In den Häusern kamen kleine Foren zustande, in denen die offizielle Politik rezipiert wurde, obwohl sich die Aufgaben der Wohngenossenschaftsvorstände meist »auf die Verwaltung und Instandhaltung der Immobilie, nicht

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mit einem Strategiespiel vergleichen. Beide sind mit kompromittierenden Informationen über die andere Person ausgestattet, die abwechselnd in taktischen Angriffs- und Verteidigungssequenzen angewandt werden. Im nächsten Ausschnitt werden die (arglistigen) Spielzüge beurteilt und offen angesprochen: Верьте моей совести, Зоя Денисовна, Манюшку невозможно. Весь дом знает, что прислуга, и, стало быть, ее загонят в комнату при кухне. А мифическую личность можно: у него документ. Glauben Sie mir auf Ehr’ und Gewissen, Soja Denissowna, bei Manjuschka ist das unmöglich! Das ganze Haus weiß, daß sie Ihre Dienerin ist, darum kriegt sie niemals mehr als das Kämmerchen bei der Küche. Bei der mythischen Person geht das: Der Mann hat ein Dokument.38

Wie bei einem Übungskampf werden verschiedene Fertigkeiten der Kampfmethodik angewandt und in ihrer Umsetzung gegenseitig begutachtet. Als Zoja eine Genehmigung vorzeigt, die sie dazu berechtigt, eine Schneiderei mit Lehrbetrieb zu eröffnen, ist Alliluja von Zojas genialer hinterhältiger Handlung offenbar beeindruckt: Елки-палки! Виноват. Это… это кто же вам достал? … Да, с такой бумашкой что же. Donnerwetter! Verzeihung. Wer hat Ihnen das besorgt? … Und dann mit so einem Papier.39

Dementsprechend hat Zoja die Oberhand gegenüber Alliluja, indem sie ihn darauf aufmerksam macht, dass ihr die persönliche Zahlung, die er erhalten hat, damit eine Person im Hause alleine sieben Zimmer bewohnen kann, bekannt ist. Mit der Nebenbemerkung, dass das Hauskomitee ein Auge hat, und dass auf dem Hauskomitee ein weiteres Auge ruht [Домком – око, а над домком еще око] – nämlich ihres –, balanciert Zoja die Machtverhältnisse aus und verleiht der Auseinan-

aber auf die ›Revolutionierung‹ der ›häuslichen Lebensweise‹« konzentrierte. Siehe Obertreis, a.a.O., S. 186. 38 Bulgakov 1989, a.a.O., S. 165; dt. Übersetzung S. 14. 39 Ebd., S. 165; dt. Übersetzung S. 14-15.

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dersetzung einen herausfordernden, aber freundlichen Charakter. Alliluja ist erleichtert, als notwendige ›offizielle‹ Papiere vorhanden sind, die er dem Hauskomitee und den restlichen Hausbewohnern vorzeigen kann: Теперь это проще ситуация. У меня как с души скатилось. Das vereinfacht die Situation. Mir fällt ein Stein vom Herzen.40

Ein Aspekt der Sachlage ist jedoch noch nicht geklärt, nämlich Manjuškas Raum. Zoja bittet Alliluja, sich den angeblich gefälschten Fünfzigrubelschein anzusehen, der ihr in einem Geschäft angedreht wurde. Nachdem ihr Alliluja ritualgemäß versichert, dass der Schein echt sei, besteht sie auf der Gefälschtheit des Scheins: ЗОЯ: Не спорьте с дамой, возьмите эту гадость и выбросите. АЛЛИЛУЯ: Ладно, выбросим. (Бросает бумашку в свой портфель.) А может, и Манюшку удастся отстоять. Soja: Streiten Sie nicht mit einer Dame, nehmen Sie das Dreckding und schmeißen Sie’s weg. Halleluja: Gut. Wird weggeschmissen. Schmeisst den Geldschein in seine Aktentasche. Vielleicht können wir auch Manjuschka durchsetzen.41

In der Hoffnung auf bessere Lebens- bzw. Wohnungsverhältnisse wurden Menschen im sowjetischen Kontext nicht nur kreativ, sondern auch hinterlistig, (be)trügerisch und in manchen Fällen verbrecherisch. Alexej Popov, der Regisseur des Vachtangov-Theaters, erklärte zu der Inszenierung dieses Stückes: »Niedrigkeit, Laster und Verbrechen ist das unheimliche Dreieck, das die Personen dieses Stückes zusammenschließt.«42 In diesem Sinne bilden Zoja und Alliluja eine moralische und durchaus intime Wertegemeinschaft, die durch unzumutbar schlechte Wohnungsverhältnisse und eine daraus hervorgehende, zwangsläufige Hinterlist verbunden ist. Allerdings handeln beide innerhalb des Rahmens eines offiziellen Rituals.

40 Ebd., S. 166; dt. Übersetzung S. 15. 41 Ebd. 42 Schröder, a.a.O., S. 218.

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Um Täuschungsversuchen jeglicher Art entgegenzuwirken, legte die Regierung ein Gesetz fest, nach dem Wohnungseigentümern zwei Wochen Zeit gegeben wurde, überflüssigen Wohnraum zu besetzen. Im Falle, dass Wohnraum innerhalb des vorgegebenen Zeitraums nicht selbst verdichtet wurde, wurden Wohnraumsuchende verpflichtend einquartiert.43 Ohne auf soziokulturelle oder andere Unterschiede bzw. Gemeinsamkeiten Rücksicht zu nehmen, wurde Wohnraum von Angestellten der Bezirkssowjets wahllos an Wohnraumsuchende umverteilt. Dabei kam es zu den unterschiedlichsten Gemeinschaftskonstellationen. In einem Brief an ihre Verwandten schrieb eine Generalswitwe 1931, dass ihre Kommunalwohnung in Leningrad »dem Brynsker Wald ähnlich geworden [sei], wo es von jedem Tier ein Exemplar gibt«.44 Das folgende Beispiel zeigt zwar die Zusammensetzung einer großen Wohnung mit möblierten Zimmern um 1909, dennoch vermittelt diese Textstelle die skurrilen Wohnverhältnisse, die in den Kommunalwohnungen in den 1920er und 1930er Jahren mitunter herrschten: In den möblierten Zimmern wohnen: ein vom Geliebten verlassenes, 18jähriges, schönes Frauenzimmer, ein kranker, arbeitsloser Alter, eine Prostituierte mit Kater, eine Hebamme, zwei Schwestern, alte Jungfern und Professorentöchter, ein armer Student, Coupletsänger in einem Café-chantant, zwei Chorsängerinnen von ebendaher, ein jüdischer Handlungsreisender, der Pförtner und eine Bedienstete mit ihrem Mann. Alle Bewohner der möblierten Zimmer kennen einander, vertreiben sich oft die Freizeit zusammen, trinken Bier, streiten sich, tratschen. Alle sind über die intimen Seiten des hoffnungslosen Lebens ihrer Nachbarn gut informiert. Sie lästern, kritisieren, empfinden Mitgefühl, helfen – wie es gerade kommt.45

Die erzwungene physische wie psychische Nähe in einer extrem heterogenen Gruppe von Menschen evozierte zwar gewisse authentische Formen der Gemeinschaftlichkeit, es herrschten allerdings überwiegend herausfordernde, konfliktreiche Situationen sowohl zwischen

43 Vgl. Gerasimova, 2000, a.a.O., S. 36. 44 Svin’ina, Pis’ma v Pariž, S. 71, Brief vom 31.10.1931, zitiert von Obertreis, a.a.O., S. 223. 45 Novye perterburgskie truščoby. Očerki stoličnoj žizni, Bd. 1-4. St. Petersburg 1909, hier Bd. 2, S. 42, zitiert von Obertreis, a.a.O., S. 223-224.

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Familienmitgliedern als auch unter Mitbewohnern. Dabei kam es nicht zu der propagandistisch angestrebten sozialen Nähe durch räumliche Nähe, sondern ganz im Gegenteil: Auf kleinstem Raum prallten die größten Gegensätze aufeinander. In den von gravierenden soziokulturellen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen geprägten 1920er und 1930er Jahren bildeten sich Elemente des besonderen und komplexen Charakters sowohl der Kommunalka als Lebensform als auch der Kommunalkabewohner selbst heraus, die mit den Widersprüchen, Diskrepanzen und Uneindeutigkeiten der offiziellen Rhetorik konfrontiert waren und mit diesen in der tatsächlichen Realität vor Ort umgehen mussten.

AMBIVALENZEN Aufgrund der anhaltenden Wohnungsnot, unklarer Regelungen und der Forderung, den Wohnraum bzw. den Alltag und seine Gestaltung zu beherrschen, wurden Verordnungen und Gesetze von der Staatsmacht regelmäßig modifiziert – keine Regierung verabschiedete mehr Gesetze als die der Sowjetunion, insbesondere hinsichtlich Wohnraumangelegenheiten.46 Somit war die Entwicklung und Durchsetzung einer angemessenen Verwaltungsstruktur im Wohnungswesen von strategischen und taktischen Kompromissen geprägt.47 Und obwohl ständig neue Dekrete, Verordnungen und Behörden, d.h. offizielle Interaktionsstrukturen, geschaffen wurden, um den fortwährenden Kontrollverlust der Regierung in der Durchsetzung der neuen Gesellschaftsordnung zu beheben, erwiesen sich politische und juristische Maßnahmen dennoch oft als unkoordiniert, widersinnig und unwirksam.48 Aufgrund einer ambivalenten, widersprüchlichen, uneindeutigen und sich ständig ändernden Wohnungspolitik mussten die Bewohner paradoxerweise zwangsläufig inoffizielle Strukturen schaffen, um be- und entstehende Diskrepanzen, Widersprüche und Uneindeutigkeiten zu kompensieren. Wer nicht den offiziellen Richtlinien folgte, auch wenn dies faktisch nicht möglich war, befand sich automatisch in einem als inoffi-

46 Vgl. Block, a.a.O., S. 232. 47 Vgl. Gerasimova, 2000, a.a.O., S. 39. 48 Siehe hierzu Block, a.a.O. und Sosnovy, a.a.O.

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ziell kodierten Bereich. Die Historikerin Lynne Viola weist darauf hin, dass sowjetische Politik – egal ob offiziell oder inoffiziell, von oben, unten oder von der ›Mitte‹ kommend – zwar immer angefochten, aber ausgeführt, geformt und verändert wurde. Darüber hinaus befand sich die sowjetische Politik, laut Viola, in einem vieldeutigen Grenzland zwischen Staatsmacht, Gesellschaft(en) und soziopolitischen Akteuren.49 Ähnlich war es mit der Umquartierungskampagne: Auf verschiedensten Ebenen stießen die Bolschewiki nicht nur auf Widerstand, sondern auch auf zahlreiche Konflikte, Verwirrungen und Probleme, da keine einheitliche Wohnungspolitik von der Stadtregierung betrieben wurde und die einzelnen Akteure oft auf eigene Faust handelten bzw. handeln mussten. So versuchten zuständige Behörden, Wohnungsgenossenschaften, Wohnungseigentümer und nicht zuletzt die Einquartierten selbst, sich im Wohnraumdschungel zurechtzufinden und, im wahrsten Sinne des Wortes, sich ›durchzuschlagen‹.50 Mit der Anfang der 1930er Jahre eingeleiteten Wende in der politisch-ideologischen Propaganda begann die Parteiführung, in die Auseinandersetzung um den richtigen Weg zur sozialistischen Lebensweise einzugreifen, zum Teil aus einer erzwungenen wirtschaftspolitischen Neuorientierung im Schatten einer wirkungslosen NĖP heraus, aber auch, um einem vermeintlichen Kontrollverlust entgegenzuwir-

49 Vgl. Viola, Lynne: »Introduction« in: dies. (Hg.): Contending with Stalinism: Soviet Power and Popular Resistance in the 1930s, Ithaca und London 2002. 50 In Zošženkos Erzählungen bekommen Leute oft ›eins auf die Fresse‹, womit Zošženko die Schlagfertigkeit der Menschen unter den komplizierten und uneindeutigen Lebensbedingungen darstellt. Ein gutes Beispiel hierfür ist die Erzählung »Nervöse Menschen« (Nervnye ljudi), in der es unter den Mitbewohnern der Kommunalwohnung zu einer regelrechten Schlägerei kommt, weil Maria Vasil’evna Ščipcova Dar’ja Petrovna Kobylinas Stahlwolle benutzt, um ihren verrußten Spirituskocher zu säubern. Scheinbar sind die Regeln des Zusammenlebens noch nicht etabliert worden, und diese Uneindeutigkeit führt zu ungehemmten und unkontrollierten Situationen bzw. Schlägereien unter den Bewohnern. Siehe Zoščenko, Michail: »Nervnye ljudi« in: Nervnye ljudi. Rasskazy i fel’etony 1925-1927, St. Petersburg 2003, S. 51-53.

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ken.51 Mit diesem Übergang gingen bedeutsame Eingriffe in die Wohnungspolitik einher: 1937 wurden die Wohnungsgenossenschaften unionsweit durch den Erlass diverser Verordnungen mit der Begründung aufgelöst,52 dass die Verwaltungsarbeit unverantwortlich sei und dass klassen- und parteipolitische Inhalte unzulänglich durchgesetzt würden. Mit dieser maßgeblichen Umwälzung im Wohnungswesen ersetzte die Regierung das Prinzip der kollegialen Kooperation durch das der individuellen Verantwortung dem Staat gegenüber. Von nun an begann der Staat, direkt mit einzelnen Personen zu verhandeln und die intermediären Agenturen wie die Wohngenossenschaften auszuschließen53 – ein wichtiger Schritt in der strategischen Machtkonsolidierung der Bolschewiki im häuslichen Bereich. Mit dem Anspruch, eine totale Ordnung zu etablieren, war der Staat auf Verständlichkeit, Übersichtlichkeit und Beständigkeit angewiesen, um eine notwendige gesellschaftliche wie häusliche Stabilität für eine reibungslose Führung zu gewährleisten. Ungewissheit, Widerspruch, Unübersichtlichkeit oder Unbeständigkeit – Eigenschaften, die trotz unzähliger Gesetzesmodifizierungen weiterhin Bestand hatten – erzeugten eine für den Staat bedrohliche Komplexität. Gleichzeitig stellt sich allerdings die Frage, inwiefern sich die indeterminierbare Komplexität nicht als ein Nachteil, sondern eher als ein Vorteil für die

51 Mit der berühmten Rede des Parteiführers Kaganovič auf dem Juni-Plenum des ZK der Kommunistischen Partei 1931 wurde eine allgemeine Zügelung der Wohnungspolitik deutlich und es setzte sich die Erkenntnis durch, dass die sozialistische Neuorganisation der Städte nicht möglich war. Die radikalen linken Pläne einer schnellen Durchsetzung der neuen Lebensweise wurden von der Opposition angeprangert und der Wirklichkeitsfremdheit beschuldigt, was auch die parteiinternen Konflikte zwischen Rechten und Linken widerspiegelte. Der Schwerpunkt verlagerte sich auf wirtschaftliche und soziale Fragen. Siehe dazu Bodenschatz, a.a.O. 52 Postanovlenie CIK i SNK »O sochranenii žiliščnogo fonda i ulučšenii žiliščnogo chozjajstva v gorodach« vom 5.11.1937 und Postanovlenie SNK »O porjadke likvidacii žiliščnych kooperativov i ich sojuzov, peredači imi domov, dač, predprijatij i imuščestva i rasčeta s pajščikami« vom 1.12.1937 in: Sobranie zankov i rasporjaženij rabočekrest’janskogo pravitel’stva SSSR na 1937 g., 1. Teil, Nr. 69, 74., zitiert in Obertreis, a.a.O., S. 170. 53 Vgl. Block, a.a.O., S. 243.

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Machthaber erwies. Weitere Fragen, die sich in diesem Zusammenhang ergeben, sind: Wie wurde gesellschaftliche Stabilität unter unbeständigen historischen Umständen hergestellt? Wie konstituierte sich Alltag als Normalität und stabilisierender Faktor in (andauernden) Ausnahmesituationen? Wie etablierte sich ein stabilisierender Alltag im gesellschaftlichen und politischen Chaos unter einer widersprüchlichen Verflechtung von Zwang und Kreativität? Eine meiner Leitthesen ist die im urbanen Raum enthaltene Ambivalenz, die auf den totalen Raum übertragen bzw. in diesem widergespiegelt wird. Unter Ambivalenz verstehe ich eine Doppel- oder Uneindeutigkeit, die laut Zygmunt Bauman dem Leben immanent ist,54 allerdings unter modernen Umständen verdeutlicht und – so meine These – unter sowjetischen Umständen radikalisiert wird. Rational konzipierte moderne Gesellschaften müssen lernen, mit dieser dem modernen Leben eigenen Ambivalenz umzugehen. Trotzdem waren es die faktischen, praktischen und pragmatischen Widersprüche des Systems, also systemimmanente Ambivalenzen, die eine signifikante destabilisierende Spannung in der Gesellschaft erzeugten und mithin eine besondere Dynamik freisetzten. Das sowjetische System war von Ambivalenzen unterschiedlichster Art durchdrungen, deren Vielschichtigkeit und Reichweite ich im Folgenden anhand ausgewählter Beispiele aufzeigen möchte.

U RBANE G EMEINSCHAFTLICHKEIT Der Raum des in den 1920er Jahren provisorisch zusammengesetzten neuen kommunalen Wohnarrangements war in jeder Hinsicht ein urbaner Raum. Konstitutiv war die für Städte grundsätzliche Komple-

54 Auf vergleichbar zwiespältige Diskrepanzen deutet Zygmunt Bauman in der Moderne hin: Rationale moderne Gesellschaften werden stets mit einer immanenten Ambivalenz konfrontiert und müssen lernen, mit diesem Phänomen umzugehen. Eine der Ambivalenzen der Moderne, die Bauman erwähnt, ist einerseits der verzweifelte Versuch, Unordnung vollkommen zu beseitigen und das Unbekannte zu begrenzen, während in der Gesellschaft gleichzeitig Vielfalt und Pluralität hochgehalten werden. Hier wird der binäre Gegensatz von Ausgrenzung und Assimilierung des ›Anderen‹ deutlich. Vgl. Bauman, Zygmunt: Modernity and Ambivalence, Ithaca, N.Y. 1991.

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xität topographischer, institutioneller, sozialer, kultureller, politischer und symbolischer Strukturen. Im übertragenen Sinne wurde der urbane Raum bewohnbar gemacht bzw. der Wohnraum wurde urban: Die Stadt und städtische, d.h. öffentliche Angelegenheiten wurden in den häuslichen Bereich, in den gewöhnlich als privat betrachteten Wohnraum, getragen, und das wortwörtlich. Im vorrevolutionären Russland wurde die Begrifflichkeit mesta obščego pol’zovanija (›Orte der gemeinsamen Nutzung‹) von der Verwaltung benutzt, um damit Straßen, Gassen und andere städtische Plätze zu bezeichnen. Seit den 1920er Jahren wurden in der Kommunalwohnung darunter Küche, Bad, Toilette und Korridor verstanden,55 die in dieser Hinsicht zu städtischen Plätzen wurden. Man wusste nie, wem man morgens auf dem Weg zum Bad im Korridor begegnen würde: Orte der gemeinsamen Nutzung waren auch Orte der spontanen und flüchtigen Begegnung mit bekannten wie fremden Menschen, ähnlich wie auf der öffentlichen Straße, nur würde man dort gewöhnlich nicht im Bademantel spazieren gehen. Im Kommunalkaraum verliert die Öffentlichkeit ihre Anonymität und wird intim. Oder entsteht dabei eine intime Anonymität oder gar eine anonyme Intimität? Im Kommunalkaraum mischten sich Öffentlichkeit und Privatheit in einem Wechselspiel von Distanz und Nähe, die in ihrer Eigendynamik eine relationale Beziehung eingingen. Der hochpolitisierte Raum der Kommunalka und dessen Öffentlichkeit enthielt verschiedene Teilaspekte der klassischen (›westlichen‹) Differenzierung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit: 1) die der bürgerlichen Öffentlichkeit und politischen Meinungsbildung nach Habermas und Arendt, 2) die des ›öffentlichen Platzes‹ für spontane Begegnungen und der ›fluid sociability‹ heterogener Individuen und Gruppen, im Sinne von Ariès und Sennett, und 3) die grundsätzliche Ambivalenz von Privatheit in ihrer emanzipatorischen und repressiven Funktion, die unter anderem in einer politisch-philosophischen Diskussion der feministischen Theorie behandelt wird.56 Anhand dieser unterschiedlichen Diskurse verschiedener Disziplinen lässt sich die vielschichtige und komplexe Zusammensetzung von Öffentlichkeit und Privatheit in der Kommunalka er-

55 Vgl. Obertreis, a.a.O., S. 224. 56 Vgl. Weintraub, Jeffrey: »The Theory and Politics of the Public/Private Distinction« in: ders./Kumar, Krishan (Hg.): Public and Private in Thought and Practice, Chicago 1997, S. 1-42.

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kennen und weist somit auf den hybriden und polymorphen Charakter gewöhnlich als binär anerkannter Denkmodelle hin. Dazu kommen einschlägige Merkmale der Urbanität, die generell als ›städtische Lebensweise‹ bezeichnet wird, mit der Bildung, zivilisierte Umgangsweisen, Sitten, Freiheit, aufgeklärte Mentalität, Weltoffenheit und politisches Engagement57 in Verbindung gebracht werden. Rhetorisch erinnern diese Eigenschaften an die Anforderungen des sowjetischen Regimes, die im Namen von kul’turnost’ im Aufbau der ›neuen Lebensweise‹ während der 1920er Jahre angetrieben wurden: Die Kultivierung und Assimilierung der Bevölkerung war ein wichtiger Aspekt der sowjetischen Urbanisierung.58 Die im heutigen urbanen

57 Vgl. Schroer, Markus: Räume, Orte, Grenzen. Auf dem Weg zu einer Soziologie des Raums, Frankfurt a.M. 2006, S. 229. 58 Die Sowjetunion verfolgte pragmatische und ideologische Ziele mit der anvisierten Kultivierung: Einerseits diente die praktische Aneignung von Fertigkeiten des Kultiviertseins objektiv als ein ›weiches‹ Instrument, um die Bevölkerung im Alltagsleben zu disziplinieren; andererseits übernahm die ideologische Komponente des Kultiviertseins die Funktion der Integration unterer Schichten in das System quasi-elitärer Werte. Siehe Volkov, Vadim: »Koncepcija kul’turnosti, 1935-1938 gody: sovetskaja civilizacija i povsednevnost’ stalinskogo vremeni« in: Sociologičeskij žurnal, 1-2, 1996, S. 194-213. Auch Gerasimova verweist auf die Idee der ›Disziplinierung im Alltag‹, die in den 1930er Jahren entstand, um die Alltagsgestaltung in der Kommunalwohnung zu regulieren. Vgl. Gerasimova, Ekaterina: »Public Spaces in the Communal Apartment« in: Rittersporn, Gábor T./Rolf, Malte/Behrends, Jan C. (Hg.): Sphären von Öffentlichkeit in Gesellschaften sowjetischen Typs. Zwischen partei-staatlicher Selbstinszenierung und kirchlichen Gegenwelten, Frankfurt a.M. 2002: 165-193, S. 186. In seinem Essay über kul’turnost’ beschreibt Volkov die Zivilisierungskampagne unter Stalin, die individuelles Verhalten propagierte und sich mit dem Konzept des »Kultiviertseins« (kul’turnost’) verband, als nicht-gewalttätige Disziplinierungsmethoden (bzw. Formen der Selbstdisziplinierung). Einen weiteren Aspekt des ›Kultiviertseins‹ hat Gronow in seinem Buch beschrieben, in dem er die strategische Entwicklung und Markteinführung von Konsumgütern unter Stalin untersucht, dessen Akkulturationskampagne den Lebensstandard erhöhen und einen kultivierten Sowjetbürger mit einem verfeinerten Geschmack für luxuriöse Konsumgüter entstehen lassen sollte. Vgl. Volkov, Vadim: »The Concept of Kulturnost: Notes on the Stalinist Civilizing Process« in: Fitzpa-

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Raum als positive Attribute gehandelten Eigenschaften sind: »Vielfalt, Mischung und Dichte […] Begegnungen mit Fremden; an einem Ort, der pulsiert und in dem ein lebhaftes Treiben stattfindet. Ob man dabei nun an Paris, London, Berlin […]«59 oder an die Kommunalwohnung denken mag.60 Lediglich ein Austausch mit Fremden trägt zu einer aufgeklärten, weltoffenen und darüber hinaus kreativen bzw. schöpferischen Mentalität des Einzelnen bei – eine Erkenntnis, die Talcott Parsons schon 1935 formulierte, indem er den sozial Handelnden als ein »aktives, schöpferisches und wertendes Wesen«61 betrachtet. Dass die urbanen Räumlichkeiten in der Kommunalwohnung ›kreatives und schöpferisches Potential‹ innehatten, ist eine meiner wesentlichen Thesen: Die vermeintlich institutionell gebundenen alltäglichen sozialen Praktiken der Handelnden entwickelten eine gewisse Eigendynamik, insbesondere unter den gegebenen systemimmanenten Ambivalenzen. Dabei lässt sich fragen, inwiefern diese schöpferischen Momente Auswirkungen urbaner, total(itär)er oder lediglich zwischenmenschlicher Art waren. Im Gegensatz zu hochgehaltenen zivilisatorischen Eigenschaften ist die Stadt gleichzeitig auch ein Ort des Verfalls und der Barbarei: Städte sind Orte der Auseinandersetzung zwischen rivalisierenden Gruppen, unterschiedlichen Ethnien, verfeindeten Gangs oder unterschiedlichen Lebensstilen. Die Kriminalität ist hoch, die Luft schlecht […].62

Eigentlich könnten die Bedingungen in der Kommunalwohnung nicht besser beschrieben werden. Die schlechte Luft in der Kommunalwoh-

trick, Sheila (Hg.): Stalinism: New Directions, London, New York 2000, S. 210-230; und Gronow, Jukka: Caviar with Champagne. Common Luxury in Stalin’s Russia, Bloomington 2002. 59 Schroer, a.a.O., S. 230. 60 Dieses pulsierende, lebhafte und hektische Treiben in einer Kommunalwohnung wird besonders in Alekseij Germans Filmen Xrustalev mašinu (1998) und Moj drug Ivan Lapšin (1984) exemplarisch dargestellt. 61 Eine »active, creative, evaluating creature«, zitiert von Gerhardt, Uta: »Die zwei Gesichter des Rituals. Eine soziologische Skizze« in: Harth, Dietrich/ Schenk, Gerrit Jasper (Hg.): Ritualdynamik. Kulturübergreifende Studien zur Theorie und Geschichte rituellen Handelns, Heidelberg 2004, 49-72, S. 67. 62 Schroer, a.a.O., S. 230.

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nung – wortwörtlich wie metaphorisch – ist ein häufig eingesetztes Motiv der Satiren, die die russische Gesellschaft im Laufe der Sowjetzeit begleitet haben: sei es aufgrund des »Kohlgeruchs und Dunstes von gebratenem Fisch, nasser Wäsche und brodelnden Kochtöpfen in der Nase«63 oder der konfliktreichen monatlichen Stromabrechnung. Sie war ein moderner, urbaner Ort, an dem sich eine Art PatchworkWohngemeinschaft gebildet hat: Einzelne, individuelle Bestandteile waren unter den historischen, architektonischen, soziokulturellen und politischen Umständen nicht mehr ohne weiteres zu einer kohärenten und stimmigen Einheit zusammenzuführen,64 eine Gemeinschaftlichkeit bildete sich dennoch. Die bunt zusammengesetzten Wohngemeinschaften vereinten gewöhnlich eine vertikale Differenzierung von Milieus im Wohnraum, die vorher eine räumliche Absonderung implizierte: Es lebten (ehemalige) Angehörige der Eliten mit weniger Privilegierten zusammen, Menschen aus der Peripherie mischten sich mit denen aus dem Zentrum – in unterschiedlicher Hinsicht65 – und Maximen des Vielvölkerstaates wurden in vielen der Kommunalkas ausgelebt. Die gesellschaftliche Vielschichtigkeit, damit einhergehende zwischenmenschliche Spannungen und Konflikte und Dynamiken sozialer Beziehungen, die aus diesen Spannungen entstanden, hatten zwar urbane Merkmale, die allerdings im diametralen Gegensatz zu den Intentionen sowjetischer Machthaber standen.

63 Jampol’skij, Boris: »Moskovskaja ulica« in: Znamja, No. 2 und 3; 46-114 und 121-174, S. 48-49; ders.: Kommunalka. Ein Moskauer Roman, Übers. von Erich Ahrndt, Leipzig 1991, S. 11-13. 64 Vgl. Schroer, a.a.O., S. 237. 65 Neben der gewöhnlichen Zentrum-Peripherie-Dichotomie hat jede Gesellschaft ein weiteres Zentrum: ein zentrales Verständnis von Werten. Mitgliedschaft in einer Gesellschaft wird somit von der Stellung diesen Werten gegenüber bestimmt, und die Nähe zum Zentrum ist mithin keine geographische, sondern eine normative Beziehung zwischen Zentrum und Peripherie. Selbstidentifikation und Bewusstsein sind somit wichtiger als die physische Position, denn jemand kann sich im Fernen Osten wie im Zentrum Moskaus an der Peripherie einer Gesellschaft befinden. Und somit werden in urbanen Gesellschaften Städte wie Arbeits- und Wohnplätze – und nicht Regionen oder Staaten – ein Ort der konfliktreichen Auseinandersetzung zwischen Zentrum und Peripherie. Vgl. Ruble, Blair S.: »Ethnicity and Soviet Cities« in: Soviet Studies, Vol. XLI, No. 3, July 1989, S. 401-414.

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V ISIONEN STÄDTEBAULICHER P LANUNG UND ARCHITEKTUR Im Rahmen einer »selbstgeschaffenen Umwelt«66 wird in der Stadtplanung von der allgemeinen Planbarkeit des menschlichen Lebens ausgegangen, um neuen Lebensraum zu gestalten und im Sinne von Le Corbusier wie eine Maschine zu konstruieren. Industrialisierungspolitische Schlüsselfragen bezüglich der Überwindung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land und der Verwirklichung einer neuen sozialistischen Lebensweise prägten damit einhergehende städtebauliche Diskussionen. Des Weiteren sollte kommunales Zusammenleben kollektivistische Verhaltensmuster hervorbringen und auf diese Weise die soziale Umwelt des ›neuen Menschen‹ von Grund auf neu konstruieren. Hierfür galten das Kommunehaus und das Wohnkombinat als Wohnmodelle, die das utopische Konzept ›Sozialismus in einem Haus‹67 und allgemeine sowjetsozialistische Ideale verkörperten68 – darunter allerdings auch den Plan, jedem einen privaten Raum sowie großzügige kommunale Einrichtungen zur Verfügung zu stellen. Anfänglich war der antiindividualistische Zug des Wohnens für die konzeptionellen Entwürfe der neuen Lebensverhältnisse keineswegs charakteristisch. Die Vorzüge und Vorteile individueller Familienwohnungen und Lebensgestaltung wurden durchaus umfassend diskutiert und hervorge-

66 Giddens, Anthony: Die Konstitution der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1997, S. 40. 67 Diese Bauten sollten als beispielhafte Schulen des Kollektivismus fungieren, als die ideale Wohnform für Arbeiter, in der die Frauen nicht mehr die Sklavinnen der Hausarbeit waren, als Fördermittel für die Auflösung der Familie sowie der Neuorganisation der Alltagsgestaltung. Vgl. Stites, 1989, a.a.O.; Gerasimova, Ekaterina: »The Soviet Communal Apartment« in: Smith, Jeremy (Hg.): Beyond the Limits: The Concept of Space in Russian History and Culture, Helsinki 1999, S. 165-193. 68 Insgesamt wurden etwa zehn Kommunen und Kollektivhäuser errichtet, hauptsächlich in Moskau und Leningrad. Laut Gradow war unter ihnen nicht ein Haus, »welches über ein konsequentes und zu Ende gedachtes System der Vergesellschaftung des Wohnens und der Erziehung der Kinder verfügte«. Siehe Gradow, Georgij: Stadt und Lebensweise, dt. Bearbeitung Gert Gibbels, Berlin 1970, S. 48.

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hoben.69 Auch Kaganovič erwähnte in seinem Vortrag auf dem Plenum des CK der VKP(b) vom 11. bis 15. Juni 1931 die notwendige »Linderung der krassen Wohnungsnot« der Arbeiter und forderte den Bau verbilligter Standardhäuser. Dabei räumte er ein: Es ist selbstverständlich, dass wir in den nächsten paar Jahren noch nicht in der Lage sein werden, alle diese Aufgaben zu lösen. Wir stehen jetzt vor der Hauptaufgabe – wir müssen dem Arbeiter eine Wohnung geben. […] [A]ber auch jetzt schon [müssen] Häuser [gebaut werden], die als Vorbild für eine neue Lebensweise dienen können. […] Was den Häusertyp anbetrifft, so bevorzugen wir vierstöckige Häuser mit Zwei-, Drei- und Vierzimmerwohnungen. Diese Wohnungen sind jetzt am bequemsten.70

In den Auseinandersetzungen um neue Wohnformen, um die angemessene Planung künftiger Gesellschafts- und Lebensformen und um die Planung eines uniformen Wohnungstyps, also um die totale Umgestaltung der Gesellschaft, kristallisierten sich mehrere kreative Strömungen in der sowjetischen Avantgarde der Baukunst heraus.71 Die wich-

69 Vgl. Martiny, Albrecht: Bauen und Wohnen in der Sowjetunion nach dem Zweiten Weltkrieg. Bauarbeiterschaft, Architektur und Wohnverhältnisse im sozialen Wandel, Berlin 1983, S. 140 und May, a.a.O., S. 65. 70 Siehe Kaganovič, Lazar: »Die sozialistische Rekonstruktion Moskaus und anderer Städte der UdSSR«, Rede von Kaganovič auf dem Plenum des CK der VKP(b) vom 11. bis 15. Juni 1931, Übers. in: Harald Bodenschatz und Christiane Post (Hg.), a.a.O., 370. 71 In den kulturrevolutionären Vorstellungen stand der Status der Stadt als Ganzes im Mittelpunkt, nicht nur einzelne Gebäude bzw. Gebäudetypen: Neben fachspezifischen Kriterien wurden auch soziale und gesellschaftliche Belange in der Planung der gebauten menschlichen Umwelt berücksichtigt. Nach 1928 wurden immer mehr ausländische Fachleute für die Planung und Realisierung von Großprojekten des Städte- und Industriebaus eingeladen. Moskau war zu dieser Zeit das ›Mekka der Architekten‹, und renommierte Architekten wie z.B. Le Corbusier, Mendelsohn und Gropius nahmen nicht nur an Wettbewerben teil, sondern hatten dazu noch die Möglichkeit, ihre eigenen Entwürfe zu verwirklichen. Die utopischen und umgestaltenden Eigenschaften der Architektur hatten eine gesamteuropäische Dimension – hier darf man die Bauprojekte anderer autoritärer Systeme nicht aus dem Blick verlieren, die etwa zur gleichen Zeit in Deutschland, Italien und Spanien entworfen

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tigsten Strömungen waren die Rationalisten und die Konstruktivisten sowie die Urbanisten und Desurbanisten, wobei die Konstruktivisten

wurden. Neue Technologien der Industrialisierung sollten unter anderem durch die Ausarbeitung rationaler, praktischer und ästhetischer Ansätze in Architektur und Stadtplanung zu einer besseren Welt führen. Ludwig Mies van der Rohe konstatierte 1926: »Bauen ist für mich eine geistige Tätigkeit, also schöpferisch sein, und zwar nicht in Kleinigkeiten, sondern im Wesentlichen.« Vgl. Schirren, Matthias: »Geist und Tat: Architektur und Städtebau der Avantgarde im Berlin der zwanziger Jahre« in: Antonowa, Irina/Merkert, Jörn (Hg.): Berlin – Moskau 1900-1950, München 1995, S. 211-215. Im breiteren europäischen Kontext leisteten beispielsweise auch tschechoslowakische Architekten einen Beitrag zu den architektonischen Entwicklungen und Bewegungen der 1920er und frühen 1930er Jahre. Einer der wichtigsten Befürworter der Verwissenschaftlichung von Architektur und Stadtplanung war Karel Teige. Er stand im Mittelpunkt internationaler Kontakte und erntete mit seinen Werken Aufmerksamkeit von der ›westlichen‹ Gruppe, die sich um das Schweizer Magazin ABC formte, dem deutschen Bauhaus und den sowjetischen Konstruktivisten wie Ginzburg, Burov, Leonidov, Pasternak, Vladimirov und anderen. Hier sei zusätzlich darauf hingewiesen, dass zu Beginn der 1930er Jahre vor dem Hintergrund gesamteuropäischer gesellschaftlicher Veränderungsprozesse der Zwischenkriegszeit, die europaweit extremen Wohnraummangel bewirkten, andere Länder sich die Idee des kollektiven Wohnens zu eigen machten. Laut Gradov wurde in Wien das »Haus mit einer Küche« gebaut, 1932 entstand das erste Kollektivhaus in Prag und 1935 ein ähnliches in Stockholm. In den USA und in England wurden kollektivierte Appartementhäuser errichtet, Gradov nennt das Hotel »Arlington« in New York als Beispiel, sowie die Gebäude des Verbandes der christlichen Jugend. Am weitesten ist laut Gradov der Bau von Kollektivhäusern in Schweden verbreitet, wo seit 1935 15 solcher Gebäude entstanden sind, also tatsächlich mehr als in der Sowjetunion. Siehe Gradov, a.a.O., S. 48 und 63. Mehr zu Kollektivhäusern in Prag, dem wissenschaftlichen Funktionalismus und dem konzeptionellen Austausch tschechischer Architekten mit westeuropäischen und sowjetischen Kollegen vgl. Švácha, Rostislav/Ryndová, Soňa/Pokorná, Pavla (Hg.): Form Follows Science: Teige, Gillar, and European Scientific Functionalism, 1922-1948, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, Prag 2000. Somit hatten die Architektur der Avantgarde im Osten und die ›Moderne‹ im Westen mehr Gemeinsamkeiten und direkte Zusammenhänge, als heute oft eingeräumt wird.

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die breiteste theoretische Tragweite genossen. Nachdem sich gegen Ende der 1920er Jahre die unterschiedlichen Verfechter der sowjetischen Architektur zu konsolidieren schienen, entstand in Moskau 1929 die Allunionsvereinigung der proletarischen Architekten (VOPRA), deren Führer die »fruchtbaren Meinungsverschiedenheiten der Architekten untereinander zu deren politischer Beurteilung missbrauchten«.72 So lässt sich in der ersten Hälfte der 1930er Jahre ein ausschlaggebender Stilwechsel in der sowjetischen Architektur erkennen, der mit dem generellen Wechsel von einer horizontalen zu einer vertikalen Orientierung des sowjetischen Regierungsstils einhergeht. Während ebendieser Zeit nimmt auch der Metabegriff ›sozialistischer Realismus‹ Gestalt an. Die Hauptmethode des sozialistischen Realismus, die »Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung wahrhaftig und historisch konkret«73 darzustellen, wurde in dieser Definition auf unterschiedliche Künste – inklusive Literatur und Architektur – übertragen. Während die 1920er Jahre eine Zeit der großen und tollkühnen architektonischen Experimentalentwürfe waren, hatte die politisch-ideologische und künstlerisch-(lebens)gestaltende Wende, die Anfang der 1930er Jahre im Zuge der forcierten Kollektivisierung und Industrialisierung und der Konzentration der Macht im politischen Zentrum – insbesondere durch den Übergang zum Stalinismus − stattfand, eine entsprechende Auswirkung auf Städtebau und Planung: Die Inszenierung der Macht floss in die formal-stilistischen Belange der städtebaulichen Architektur ein.74 Bezüglich der repräsentativen Funk-

72 Chan-Magomedov, Selim: »Moskauer Architektur von der Avantgarde bis zum stalinistischen Empire« in: Antonowa, a.a.O., 205-209, S. 207. Für eine ausführliche Beschreibung der öffentlichen Debatte und der wichtigsten Auseinandersetzungen siehe: Starr, Frederick: »Visionary Town Planning« in: Fitzpatrick, Sheila (Hg.): Cultural Revolution in Russia, 19281931, Bloomington, London 1978, S. 207-240. 73 Ikonnikov, Andrej: »Architektur und Utopie« in: Noever, Peter (Hg.): Tyrannei des Schönen. Architektur der Stalin-Zeit, München 1994, 28-36, S. 30. 74 Katharina Clark hat gezeigt, dass es in der Literatur eine ähnliche Wende gab: Der horizontale, brüderliche Charakter der ›kleinen Familie‹, die bis 1931 das gesellschaftliche wie literarische Bild prägte (jede Person war ein wichtiger Teil der gesellschaftlichen Maschinerie), steht im Gegensatz zu dem vertikalen, hierarchischen Charakter der ›großen Familie‹. Von nun an

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tion von Architektur im urbanen Raum hatte der russische Schriftsteller Nikolaj Gogol relevante und aufschlussreiche Gedanken, wenn auch aus einer anderen Epoche stammend: Gewaltige, kolossale Türme werden in einer Stadt unbedingt gebraucht. […] Sie bieten nicht nur ein stattliches Bild, sie sind auch nötig als Leuchtturm, der jedem den Weg weist. […] Noch notwendiger sind sie in Hauptstädten zur Beobachtung der Umgebung. […] Das Gebäude soll ins Unermessliche sich erheben, geradezu überm Kopf des Betrachters, damit er innehalte, überwältigt von plötzlichem Staunen, kaum imstande, mit den Augen die Höhe zu fassen. Die Menschen sollen ganz dicht an seinen Mauern stehen und mit ihrer Kleinheit seine Größe steigern.75

Gogol scheint im Wesentlichen die quasi-panoptischen Grundkonzepte76 und die Grundeinstellung der architekturtheoretischen Wende im Übergang zum Stalinismus zu beschreiben. Während in den städtebaulichen Entwürfen der 1920er und frühen 1930er Jahre noch der Neue Mensch und eine sozialistische Gesellschaft im Fokus stand, kam in den 1930er Jahren der Selbstinszenierung der Staatsmacht ein größeres Gewicht zu: Es ging um die Demonstration stalinistischer Ideologie, die Glorifizierung der neuen Lebensweise im Alltag und die Inszenierung der sozialistischen Zukunft. Während die stalinistische Architektur einen wichtigen Beitrag zur Architektur des 20. Jahrhunderts lieferte, bleibt sie jedoch ein »monumentales Paradoxon«.77 Filmisch bzw. bildlich wird dies in Valerij Pendrakovskijs Film Samoubijca (1990) eindrücklich dargestellt, einer Verfilmung der 1928 verfassten gleichnamigen satirischen Komödie von Nikolaj Ėrdman. Da es mir hier primär um die filmische Darstellung der Kommunalka geht, werde ich nicht weiter auf den Inhalt ein-

waren Personen in führenden Positionen die Helden in literarischen Handlungen. Siehe Clark, Katharina: »Stalinskij mif o ›velikoj sem’e‹« in: Gjunter, Gans (Hg.): Socrealističeskij kanon, St. Petersburg 2000, S. 785796. 75 Zitiert von Schlögel, 1984, a.a.O., S. 60. 76 Vgl. Bentham, Jeremy: The Panopticon Writings, London 1995. 77 Noever, Peter: »Architektur zwischen ›Tyrannei der Unterdrückung‹ und ›Tyrannei des Schönen‹« in: ders. (Hg.): Tyrannei des Schönen. Architektur der Stalin-Zeit, München 1994, 11-12, S. 11.

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gehen. Die erste Einstellung, der establishing shot des Films, dessen Rolle es ist, die Stimmung und den Kontext des Films sowie die Beziehung der Figuren zu ihrem Umfeld zu etablieren, erinnert an Science-Fiction-Filme und an computergenerierte phantastische Städte. Im Vordergrund der totalen Einstellung, in der die dunkle Tiefe und unübersehbare Weite des städtischen Raumes dargestellt wird, steht ein modernes, futuristisch anmutendes Gebäude, das eine ähnliche Tiefe und Weite verkörpert. In diesem Gebäude befindet sich die Kommunalwohnung als zentraler dramatischer Handlungsort. Die Kamera führt den Zuschauer von der Weite des urbanen Raumes in das enge Innere des Gebäudes, in die Intimität des Schlafzimmers bzw. direkt in das Bett des Protagonisten, der mit seiner Frau darin ein intimes Gespräch führt. Der Blick wird nicht nur dadurch entfremdet, weil man sich plötzlich an der Bettkante einer fremden Person befindet, sondern es scheint – der Innenausstattung nach –, als ob man sich in einer izba, einem traditionellen russischen Holzhaus, befände, welches im krassen Gegensatz zur futuristischen Außenarchitektur steht. Auch die Kleidung mancher Figuren erinnert an bäuerliche Gewänder. Hier treibt der Regisseur den inhaltlich-ideologischen Widerspruch der Sowjetunion ins Extreme, allerdings wich die Wirklichkeit nicht weit von dieser scheinbar absurden Übertreibung ab. Nach dem intimen Raum des Zimmers werden wir in die renovierungsbedürftige Kommunalwohnung geführt, die einer disparaten Baustelle gleicht: Offengelegte, tropfende Rohre des Sanitärsystems hinterlassen große Pfützen im Korridor. Durch diesen Bildinhalt wird es schwierig, zwischen Innen und Außen zu unterscheiden. Der Korridor als mesto obščego pol’zovanija (Ort der gemeinsamen Nutzung) gleicht tatsächlich den vor der Revolution durch diesen Begriff beschriebenen Straßen, Gassen und anderen städtischen Plätzen. In seinem aufschlussreichen Aufsatz über ›die gebaute Ideologie‹ hebt Groys hervor, dass die Lehre der Einheit sich widersprechender Gegensätze ein signifikanter Unterbau des Stalinismus war und eine wichtige Grundposition im Diskurs des dialektischen und historischen Materialismus widerspiegelt.78 Eine ähnlich ambivalente, aber dennoch innervierende Mischung von Konformismus und Widerstand zeigt sich laut Groys in der Ästhetik des sozialistischen Realismus nach Stalins

78 Vgl. Groys, Boris: »Die gebaute Ideologie« in: Noever, a.a.O., 15-21, S. 17.

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Tod: »Als künstlerisch gut galt nur das, was die Grenzen der Zensur weiter verschob und gleichzeitig offiziell anerkannt wurde.«79 Jedoch war schon vor Stalins Tod ein vergleichbarer Handlungsmodus im gesellschaftlichen Kontext (überlebens)notwendig. So wie die Bestimmungen für die architektonische Gestaltung widersprüchlich und undefinierbar waren, gewährleisteten sie einerseits der Parteiführung eine Flexibilität in der Beurteilung und förderten andererseits (paradoxerweise) die künstlerisch-ästhetische Herausforderung, das Unmögliche möglich zu machen. In diesem Zusammenhang werden erneut die kreativitätsfördernden Eigenschaften uneindeutiger Umstände deutlich. Demnach reflektiert ein logischer Widerspruch seinem Wesen nach den wahren und lebendigen Konflikt des Lebens und somit die Wirklichkeit. Sergej Ėjzenštejn gilt als ›Dialektiker des Films‹, und der zeitgenössische Dialektik-Diskurs ist sowohl in seinen filmischen als auch in seinen theoretischen Werken eingeschrieben, welcher wiederum schließlich in der dialektischen Struktur des Sozrealismus reflektiert ist. Ėjzenštejn verstand: Bestehen als ständiges Entstehen aus der Rückwirkung zweier konträrer Widersprüche. Synthese die im Widerspruch von These und Antithese entsteht. Im Gebiete der Kunst verkörpert sich dieses dialektische Prinzip der Dynamik im Konflikt […]. Aufgabe der Kunst ist, die Widersprüche des Existierenden zu offenbaren.80

Diese dialektische wie dynamisch produktive Beziehung fließt in seine Montagetheorie, mit der Ėjzenštejn (paradoxerweise) einen unverkennbar signifikanten Beitrag zur internationalen Filmgeschichte geleistet hat, der heute noch relevant ist. Er formulierte eine vollkommen moderne Montagetheorie, in der durch eine Art Zusammenprall oder Kollision zweier unterschiedlicher Bilder ein dynamisch-produktiver Konflikt ausgelöst wird, der den Zuschauer zu eigenständigen Interpretationsvorgängen zwingt.

79 Vgl. ebd., S. 15. Diese Entwicklung ist eine Erweiterung eines schon ergriffenen Bewegungsraumes innerhalb kodierter kultureller Symbolisierungen in der sozrealistischen Literatur. Vgl. Clark, Katerina: The Soviet Novel: History as Ritual, 3rd ed., Indiana University Press 2000. 80 Schlegel, a.a.O., S. 201.

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So wie den sowjetischen Architekten die Vereinigung von Monumentalität und Intimität abverlangt wurde, haben auch Ėjzenštejns Filmkonstrukte einen ähnlichen Anspruch: In ihrer Monumentalität sollten sie anhand ihrer filmisch-psychischen Wirkung gleichzeitig Kontakt mit den einzelnen Zuschauern aufnehmen und diese manipulativ zur Teilnahme animieren. Dementsprechend betrachteten Lenin wie Stalin den Film als ein bedeutsames Mittel in der Agitation und Umerziehung der Massen. Zum 15-jährigen Jubiläum des sowjetischen Films bekennt Stalin: In den Händen der Sowjetmacht stellt das Kino eine enorme und unschätzbare Kraft dar. Mit seinen einmaligen Möglichkeiten der Einflussnahme auf die Massen, hilft der Film der Arbeiterklasse und ihrer Partei die Arbeiter im Geiste des Sozialismus zu erziehen, die Massen zu organisieren und sie zu einem hohen kulturellen Niveau und politischer Kampfkraft zu führen.81

Beispielsweise wurde in Grigorij Aleksandrovs Musikfilmkomödie Vesëlye rebjata (Die lustigen Burschen, 1934), im stalinistischpropagandistischen Musikfilm Svetlyj put’ (Der helle Weg, 1940) oder in Stalins Lieblingsfilm Volga, Volga (1938) das, was erstrebenswert und was Glück war, dargestellt, während unzulängliche Wohnverhältnisse und existentielle Wohnungsnot in der Gesellschaft weiterhin Bestand hatten. In den Richtlinien des sozialistischen Realismus für Literatur und bildende Kunst (wie auch Musik) wurde vorgeschrieben, das zukünftige Leben darzustellen und nicht die gegenwärtige Wirklichkeit.82 Demnach könnte der sozrealistische Film und auch die sozrealis-

81 Zitiert und übersetzt von Schattenberg, Susanne: »Als die Geschichte laufen lernte – Spielfilme als historische Quelle? Das Beispiel sowjetischer Werke der 30er Jahre« in: Digitales Handbuch zur Geschichte und Kultur Russlands und Osteuropas, im Internet unter: http://www.vifaost.de/textematerialien/digitale-reihen-und-sammlungen/handbuch/handbuch-filme/ [Zugang: 26.11.2010] 82 In dieser Hinsicht war es darüber hinaus eine stalinistische Mentalität, die die sowjetische Gesellschaft prägte. Siehe auch Fitzpatrick, Sheila: Everyday Stalinism. Ordinary Life in Extraordinary Times: Soviet Russia in the 1930s, Oxford University Press 1999; dies.: »Becoming Cultured: Socialist Realism and the Representation of Privilege and Taste« in: dies.: The Cultural Front. Power and Culture in Revolutionary Russia, Ithaca 1992.

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tische Literatur als eine Form der ›Gegen-Geschichte‹ betrachtet werden: jene Geschichten oder Meistererzählungen, die nicht dem Herrschaftsdiskurs entgegengestellt werden, sondern – im Falle der Sowjetunion – der Wirklichkeit. Durch die dialektische Struktur des sozrealistischen Kanons entwickelte sich allerdings eine weitere Schichtung von Gegengeschichten im gewöhnlichen Sinne, die in der Plotentwicklung der sozrealistischen Literatur enthalten ist: Die Logik des Sozrealismus basierte auf der Überwindung von Problemen und Krisen, und so war es zwingend, Probleme und Krisen darzustellen. Es wurde notwendig, die tatsächlichen, unvorteilhaften Aspekte der sowjetischen Lebensverhältnisse abzubilden,83 und so sind die im Film enthaltenen Bilder, Symbole und Zeichen latent ambivalent und können Botschaften tragen, die mit der Hauptaussage des Films nicht übereinstimmen und somit Gegengeschichten innerhalb von Gegengeschichten entfalten. In seinem Essay Civitas Solis thematisiert Victor Tupitsyn diese Diskrepanzen und eine daraus entstehende Frustration der Bewohner, die unter den minderwertigen Wohnverhältnissen und Lebensbedingungen in der Kommunalka − einem »verkommenen Gemeinschaftsghetto«84 – entstanden. Beispielsweise überschatteten die triumphalen, teilweise größenwahnsinnigen architektonischen Anlagen des stalinistischen Pomps der 1930er und 1940er Jahre die vereinzelten Experimente der sozialistischen Gemeinschaftsprojekte der 1920er und frühen 1930er Jahre. Eine der Aufgaben dieser prunkvollen stalinistischen Bauten oder Kathedralen, wie sie oft genannt werden, sowie der Kunst des sozialistischen Realismus war, von der Misere unter anderem auch in den Kommunalwohnungen abzulenken und auf bessere Zeiten in der Zukunft hinzuweisen. Durch die qualvolle Existenz der Sowjetbürger in der Kommunalka und den gravierenden Unterschied zu dieser Großartigkeit sowie durch das propagierte perfekte sozialistische Leben wurde in der sowjetischen Gesellschaft eine paradoxe Spannung geschaffen, die machtsteigernd und zugleich aber machtunterminierend wirkte: Einerseits war es für die Regierung wichtig, rhetorisch von den Unterschieden abzulenken und die Erfolge des Kommunismus vor allem im architektonischen Bereich hervorzuheben, um sich selber damit zu legitimieren. Andererseits aber trugen diese offensichtlichen

83 Vgl. Schattenberg, a.a.O. 84 Tupitsyn, a.a.O.

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Diskrepanzen zu einer allgemeinen Frustration bei. Obwohl sich in der Rhetorik der 1930er Jahre eine Privatisierung der Lebensweise und eine Ästhetisierung der alltäglichen Lebensumwelt85 erkennen lässt, um schließlich die Aufmerksamkeit des Volkes von den erbärmlichen materiellen und sozialen Bedingungen abzulenken, blieb die Kommunalwohnung mit ihren extremen und skurrilen Lebensumständen bis in die 1960er Jahre86 dennoch die dominante städtische Wohnform.87 Im Schatten der stalinistischen Industrialisierungspolitik, die mit dem ersten Fünfjahresplan (1928-1932) eine ungeahnte Intensivierung erfuhr, wurden wohnungsbaupolitische Prioritäten aufgrund der wirtschaftlichen Krise, des Mangels an Ressourcen für den Bau neu entwickelter Wohnmodelle und aufgrund des Vorrangs anderer Projekte aus der Gründungsphase des Sowjetstaates in den Hintergrund gedrängt.88 Anfangs als Übergangslösung betrachtet, erwies sich die Kommunalwohnung letztendlich als soziale Institution bzw. als Sozialisationsinstanz der Sowjetunion und dazu als ein wichtiges Instrument für die Bestimmung und den Aufbau von Interaktionsstrukturen zwischen dem Staat und seinen Subjekten. Die sowjetischen Machthaber erkannten das sozialtechnologische Potential der Kommunalwohnung und verknüpften ihre Propagierung mit ideologisch-politischen Zielsetzungen89 – ein weiteres Beispiel für die ideologisch-politische Relevanz der Kommunalwohnung und des darin gestalteten Alltags bzw. der neuen Lebensweise.

85 Vgl. Schlögel, Karl: Moskau lesen, Berlin 1984, S. 18. 86 Zu diesem Zeitpunkt gab es einen Massenexodus in die Chruščoby, die unter Chruščev billig und schnell erbauten Wohnhäuser, die kleine, aber private Familienwohnungen boten. Vgl. Gerasimova, 2002, a.a.O., S. 168. 87 Vgl. Martiny, a.a.O., S. 140. 88 Bei den Bemühungen zur Neuordnung der Lebensweise wurden Argumente gegen die von den Desurbanisten in den 1920er Jahren propagierten »utopischen Grundsätze« vorgebracht, unter anderem der unzureichende »Grad der Vorbereitung der Bevölkerung« und die unzureichenden »materiellen Ressourcen«. Außerdem sollten die Ressourcen für die »schnellstmögliche Industrialisierung« nicht in den Wohnungsbau fließen. Siehe Bodenschatz /Post, a.a.O., S. 368. 89 Vgl. Meerovich, a.a.O.

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W OHNRAUMVERTEILUNG UND D ENUNZATIONSVERHALTEN In der Lenin-Verfassung von 1918 (Zweiter Abschnitt, 5. Kapitel, Art. 9) wurde als Ziel genannt: полного подавления буржуазии, уничтожения эксплуатации человека человеком и водворения социализма, при котором не будет ни деления на классы, ни государственной власти. die vollständige Unterdrückung der Bourgeoise, der Vernichtung der Ausbeutung eines Menschen durch den anderen Menschen und der Herstellung des Sozialismus, unter dem weder eine Klasseneinteilung noch eine Staatsgewalt sein wird.90

An der Rekonstruktion und Entwicklung der Stadt St. Petersburg, die sich hauptsächlich nach der Transformation der ›kapitalistischen‹ Strukturen der Stadt richtete,91 können beispielsweise klassenpolitische Widersprüche festgemacht werden. Mehr als in anderen Städten92 waren die sozialen Strukturen in der ehemaligen petrinischen Hauptstadt St. Petersburg sehr ausgeprägt und bildeten eine übliche urbane Zentrum-Peripherie-Dichotomie: Das reiche, bürgerliche Zentrum stand im Gegensatz zu den armen Rand- und Arbeiterbezirken. Während die neue Hauptstadt Moskau eine städtebauliche Projektionsfläche sowjetischer Zukunftsvisionen repräsentierte, fungierte im Gegensatz hierzu Petrograd als eine klassenpolitische Projektionsfläche: Hier inszenierte die siegreiche Arbeiterklasse den Triumph über das europäisch geprägte Bürgertum und die Nivellierung klassenpolitischer Hierarchien. Es schien, als ob die Bolschewiki ihren Kampf gegen die Repräsentanten der zaristischen Gesellschaftsordnung, gegen Angehörige der ehemali-

90 Vgl. Torke, Hans-Joachim (Hg.): Historisches Lexikon der Sowjetunion. 1917/22 bis 1991, München 1993, S. 72; russische Version im Internet unter: http://www.hist.msu.ru/ER/Etext/cnst1918.htm#5 [Zugang: 15.03.08]. 91 Vgl. Gerasimova, 2000, a.a.O., S. 31. 92 Dem vorpetrinischen, orthodoxen Moskau fehlen die klassizistischen Fassaden und die kapitalistischen Großbetriebe des petrinischen, aufgeklärten und imperialistischen St. Petersburgs. Siehe Schlögel, 1984, a.a.O., S. 28.

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gen Oberschichten (byvšie ljudi)93 in Petrograd, austrugen. Hierfür wurde auch der zweifelsohne negativ belastete Begriff ›Bourgeoise‹ als Macht-Wort (vlastnoe slovo)94 eingesetzt, durch welches per definitionem Herrschaft über den physischen, konkreten wie sozialen, abstrakten Raum durch die Macht der Definition ausgeübt wurde. Obwohl die Zentrum-Peripherie-Dichotomie in Petrograd als beispielhafte Ausgleichung klassenpolitischer Auseinandersetzungen diente, waren jedoch im sowjetischen Raumverständnis Zentrum (Moskau) und Peripherie (der Rest Sowjetrusslands) klar voneinander getrennt.95 Die mit der Propaganda für die Umverteilungspolitik verbundene ›Klassenkampf-Rhetorik‹ stand im Gegensatz zu der von der Regierung propagierten Erreichung einer klassenlosen Gesellschaft und der Entwicklung des Kollektivismus.96 Wie Obertreis hervorhebt, wurde diese Klassenkampf-Rhetorik schnell von den Untermietern aufgegriffen.97 Von Seiten des Staates entwickelte sich eine ungleiche Verteilung von Wohnraum an unterschiedliche soziale Gruppen, die sich im

93 Eine genaue Begriffsbestimmung, wer eigentlich zu den ›Ehemaligen‹ gehörte, blieb aus und führte darüber hinaus zu breiter und willkürlicher Auslegung dieses Begriffs. Eine weitere Gruppe von entrechteten und minderprivilegierten Menschen waren die lišency (lišennye izbiratel’nych prav), diejenigen, denen das Wahlrecht entzogen ist. Die per definitionem etablierten Berührungspunkte dieser beiden außerhalb der Gesellschaft befindlichen Gruppen überschnitten sich häufig, so dass diese Begriffe oft miteinander assoziiert und abwechselnd benutzt wurden. Mehr hierzu siehe Obertreis, a.a.O., S. 208-219. 94 Vgl. ebd., S. 219. 95 Vgl. Dobrenko, Evgeny/Naiman, Eric: The Landscape of Stalinism. The Art and Ideology of Soviet Space, Seattle 2003. In diesem Zusammenhang wäre es auch angebracht, die ambivalente Beziehung des Zentrums zur Peripherie hervorzuheben, die in diesem Sammelband angesprochen wird. Die Peripherie wird einerseits als unentwickelter, rückständiger Raum betrachtet, andererseits fungiert sie jedoch als potentieller Raum für die Entwicklung sowjetischer utopischer Zukunftsvisionen. 96 Eines der wichtigsten Ergebnisse des Aufbaus des Kommunismus laut dem durch den XXII. Parteitag angenommenen Programm der KPdSU war die Auflösung der sozialökonomischen, kulturellen und materiellen Unterschiede zwischen Stadt und Land. Siehe Gradow, a.a.O., S. 19. 97 Vgl. Obertreis, a.a.O., S. 72.

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urbanen Umfeld der neu gegründeten Sowjetmacht herausgebildet hatten: Beispielsweise wurden Fabrikarbeitern im Durchschnitt 4,5 m² und höheren Angestellten 6,3 m² Wohnraum zur Verfügung gestellt.98 In den 1930er Jahren wurde eine private Wohnung als Auszeichnung für besondere Verdienste gegenüber dem Staat genutzt. Ein populärer Slogan war: »Bessere Wohnungen den besseren Stoßarbeitern!« [Лучшие квартиры – лучшим рабочим-ударникам!] Der legendäre Arbeiter Stachanov bekam schon am Tag nach seinem berühmten Rekord eine Drei-Zimmer-Wohnung »mit weichen Möbeln, Klavier und Vorhängen« [с магкой мебелью, роялем и коврами].99 Diese Gegebenheit war ein Teilaspekt der kul’turnost’-Kampagne, die vorher verachtete bourgeoise Werte wie Status und Besitz legitimierten. Kul’turnost’ rechtfertigte und verschleierte zugleich gesellschaftliche Hierarchien und Privilegien der neuen stalinistischen Elite. Der Regierung dienten Wohnprivilegien als Instrument zur Formung und Stratifikation der Gesellschaft, was paradoxerweise ein individuelles Moment mit sich brachte, denn es waren Einzelpersonen, die mit mehr Wohnraum ausgezeichnet wurden. Als Instrument der gesellschaftlichen Herausbildung und Stratifikation diente nicht nur vorteilhafte Zuteilung, sondern auch Entzug von Wohnraum.100 Ein Aspekt des Überlebenskampfes unter dem gravierenden Wohnraummangel während der NĖP war die weite Verbreitung von Denunziation. An dieser Stelle möchte ich das Thema der Denunziation ausführlicher behandeln, da Denunziationsverhalten als potentiell lebensgefährliche Waffe ein determinierender Faktor für zwischenmenschliche Beziehungen in der Kommunalkagemeinschaft war. Außerdem bedarf Denunziation in gewisser Weise einer Handlungsautonomie, denn der Denunziant muss selber entscheiden, ob und aus welchem Grund er denunziert. spontaneous communications from individual citizens to the state (or to another authority as the church) containing accusations of wrongdoing by other citizens or officials and implicitly or explicitly calling for punishment. 101

98

Vgl. Sosnovy, a.a.O., S. 291.

99

Vgl. Gerasimova, 2000, a.a.O., S. 63.

100 Vgl. ebd. 101 Fitzpatrick, Sheila/Gellately, Robert: »Introduction to the Practices of Denunciation in Modern European History« in: The Journal of Modern

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Beweggründe für Beschuldigungen dieser Art waren meist die Ausschaltung unerwünschter Gegenüber, (heimliche) Rache, Erlangung von Vorteilen oder der eigene Schutz durch Ablenkung und werden in der Gegenwart überwiegend negativ betrachtet. Während die russischen Revolutionäre diese Traditionen mit der Korruption des alten Regimes verbanden,102 wurde die Notwendigkeit revolutionärer Denunziation deutlich, wie schon die Jakobiner der französischen Revolution erkannt hatten: Es durfte keine Geheimnisse in der Gemeinschaft der Heiligen geben.103 Mit der Zeit setzte sich eine Routinisie-

History, Vol. 68, No. 4, Practices of Denunciation in Modern European History, 1789-1989, Dec. 1996, 747-767, S. 747. 102 Laut Irina Šerbakova haben Denunziationen in der russischen Geschichte Tradition, und schon unter Peter dem Großen gab es anonyme Anzeigen, mit denen sich die Bevölkerung gegen die örtlichen Machtverhältnisse wehrte. Auch in der vorrevolutionären Stimmung entstehender Kampforganisationen nahmen laut Šerbakova Verrat und Denunziationen eine wichtige Stellung in der Erreichung revolutionärer Ziele ein. Als wichtigste Gründe für die verbreitete Anwendung von Denunziationen nennt sie Angst, aber auch persönliche Motive wie Neid, Rache, Missgunst etc. Generell ist es schwierig, festzulegen, wie hoch die Prozentzahl der persönlich motivierten Denunziationen im Vergleich zu denen ist, die aus Angst oder politischer Überzeugung geschahen. Für mehr Informationen über Denunziationen im sowjetischen und postsowjetischen Russland siehe Šerbakova, Irina: »Die Denunziation in der Sowjetunion und im postsowjetischen Russland« in: Marszolek, Inge/Stieglitz, Olaf: Denunzation im 20. Jahrhundert. Zwischen Komparatistik und Interdisziplinarität, Sonderheft Historical Social Research, Vol. 26, 2001, No. 2/3, S. 170-178. 103 Vgl. Fitzpatrick, Sheila:, »Signals from Below: Soviet Letters of Denunciation of the 1930s« in: The Journal of Modern History, Vol. 68, No. 4, Practices of Denunciation in Modern European History, 1789-1989, Dec. 1996, 831-866, S. 832. Fitzpatrick verweist hier auf das einflussreiche Buch Revolution of the Saints von Michael Walzer, in dem er die Puritaner als die ersten voll entwickelten politischen Radikalen in Europa bezeichnet und diese mit den revolutionären Ambitionen der Bolschewiki in Russland und der Jakobiner in Frankreich gleichsetzt. Die Puritaner, wie die Bolschewiki und die Jakobiner, waren eine entfremdete Gruppe Intellektueller, die in Konflikt mit dem etablierten System standen. Er er-

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rung, Ritualisierung bzw. Institutionalisierung von Denunziationen ein. Denunziation war eine Form sozialer Kontrolle, die sich generell von oben nach unten, aber bedingt auch von unten nach oben bewegte. Aufsichtsbehörden und Berichterstatter für Zeitungen (rabkory und sel’kory) behielten freiwillig ein Auge auf die Tätigkeiten der Sowjetbeamten. Außerdem hatte die Praxis der ›Selbstkritik‹ das Ziel, Fehlverhalten von Seiten der Leitung und der Spezialisten in den Betrieben aufzudecken. Dabei bildeten Denunziationen nicht nur ein wichtiges Element in der Stabilisierung einer Staatsführung (wie dies über Jahrzehnte im vorrevolutionären Russland der Fall gewesen war), sondern auch einen Ersatz für fehlende soziale Institutionen.104 In der Planung des Wohnungswesens ist es die Rolle der Staatsführung, die Wohnungsnot durch die Beschaffung von Wohnungen bzw. durch Wohnungsbau zu beheben. Da die Wohnungsnot weiterhin Bestand hatte und die Bewohner extremen Wohnverhältnissen ausgesetzt waren, mussten die Bewohner auf eigene Faust versuchen, die Wohnungsnot zu beheben und sich mehr Wohnraum zu beschaffen. Mit ihrem Denunziationsverhalten überbrückten Bewohner in gewisser Weise Lücken in der institutionellen Struktur. Indirekt hatten diese Lücken, d.h. die Staatsführung selbst, die eigentliche Not des Wohnens hergestellt. Vereinzelt übernahmen Subjekte die Rolle des Staates, für sich das Problem des Wohnraummangels zu beseitigen, und im Zuge der sozialen Praxis der Denunziation infolgedessen auch Mitbewohner. Neben der Stabilisierungs- und Ersatzfunktion stellte Denunziation darüber hinaus ein entscheidendes Instrument aktiver und autonomer politischer Mitwirkung von unten dar. Ohne unterschiedliche Formen

fasst das Hervortreten von speziellen radikalen Eigenschaften in politischen gemeinschaftlichen Zusammenschlüssen wie die absolute Ablehnung einer existierenden Ordnung, Bildung einer neuen sozialen Ordnung und die freiwillige Unterwerfung unter eine unpersönliche Gruppendisziplin. Siehe Walzer, Michael: The Revolution of the Saints: A Study in the Origins of Radical Politics, Cambridge 1965. 104 Vgl. Kozlov, Vladimir A.: »Denunciation and its Functions in Soviet Governance: A Study of Denunciations and Their Bureaucratic Handling from Soviet Police Archives, 1944-1953« in: The Journal of Modern History, Vol. 68, No. 4, Practices of Denunciation in Modern European History, 1789-1989, Dec. 1996, 867-898, S. 897.

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der Denunziation in der Sowjetgesellschaft weiter auszuführen,105 möchte ich dennoch einen weiteren wichtigen Aspekt hervorheben: Zeitungen, die viele Denunziationen von Lesern erhielten, veröffentlichten ›informative‹ Briefe unter der Rubrik Signale von der Basis (Signaly s mest) oder Signale von unten (Signaly snizu).106 Die von der Bevölkerung durchgeführte Überwachung der Bürokratie war weit verbreitet und wurde als eine Form demokratischer Partizipation betrachtet,107 die Hoffnung verlieh, der Gerechtigkeit Genüge zu tun.108 In der Wechselbeziehung zwischen der Gesellschaft (unten) und dem Staat (oben) befinden sich Denunziationen im Dazwischen. Als soziale Praxis wurden Denunziationen vom sowjetischen Regime weitestgehend befürwortet, doch Denunziationsverhalten kann von zwei unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werden: als eine solidarische Verpflichtung dem Staat gegenüber oder als eine solidarische Verpflichtung den Mitbürgern gegenüber.109 Somit stellte auch das Denunziationsverhalten im sowjetischen Kontext eine hoch ambivalente Handlung dar. Einerseits kann der Akt der Denunziation als beispielhafte Handlung ziviler Courage und allgemeinen Interesses am Gemeinwohl verstanden werden. In der internen Kultur der Kommunistischen Partei wurde gegenseitige Denunziation als tugendhafte Pflicht

105 Hierfür bieten die Essays von Sheila Fitzpatrick sowie Vladimir Kozlov in der Sonderausgabe »Practices of Denunciation in Modern European History« des Journal of Modern History einen ausführlichen und aufschlussreichen Überblick. 106 Fitzpatrick, 1996, a.a.O., S. 835. Fitzpatrick vermerkt, dass es keinen substantiellen Unterschied gab, ob der Denunziationsbrief an die Redaktion einer Zeitung verschickt wurde oder an das NKVD oder eine ähnliche Behörde. 107 Vgl. ebd., S. 833. 108 Gegenwärtig ist das jedoch nicht mehr der Fall. Vladimir Kozlov bemängelt, dass der traditionelle Zugriff der Unterdrückten und Schwachen auf Gerechtigkeit nun geschwunden ist, obwohl er trotzdem Denunziationen als Instrument politischer Auseinandersetzung im Wesentlichen kritisch gegenübersteht. Er konstatiert, dass es in Russland – dem Land der Paradoxe – notwendig ist, zu erkennen, dass das Verschwinden der Massendenunziation nicht nur ein offensichtlicher Segen ist, sondern mehr noch ein subtiler Unsegen. Kozlov, a.a.O., S. 897. 109 Vgl. ebd., S. 763.

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angesehen. Gegenseitige, vor allem nachbarliche Überwachung war Alltag, das heißt in gewisser Weise eine alltägliche Praxis sozialer Kollaboration.110 Und so konnte eine nicht getätigte Denunziation mitunter erhebliche Konsequenzen nach sich ziehen. Andererseits wird unter Denunziation ein boshafter Akt des Verrats und der Bloßlegung verstanden. Und da die Sowjetregierung sehr effizient und empfänglich für Denunziationen jeglicher Art war, wurden diese oft zum eigenen Nutzen manipuliert. Dabei unterscheidet Kozlov hauptsächlich zwischen ›interesselosen‹ (disinterested) und ›interessierten‹ (interested) Denunziationen, d.h. zwischen jenen, von denen der Denunziant selbst keinen persönlichen Vorteil hat, und solchen, mit denen der Denunziant versucht sein persönliches Interesse voranzubringen. Ein Beispiel hierfür waren Denunziationen für die Erlangung von mehr Wohnraum. Mit der Verhaftung denunzierter Menschen wurde gleichzeitig wertvoller Wohnraum zur Verfügung gestellt. Für die Akquisition von Wohnraum gingen Menschen an vorher unvorstellbare moralische und ethische Grenzen der Zwischenmenschlichkeit, die sonst nur unter extremen Umständen, wie beispielsweise in Krisen- und Kriegssituationen, zustande kommen: Eheschließungen und Verwandtschaften wurden erfunden, Schwiegermütter gehandelt und Morde begangen – das Bedürfnis nach Wohnraum kostete viele Menschen die Freiheit und sogar das Leben. Obertreis bringt Verhaftungen, Verbannungen und Erschießungen in Zusammenhang mit den schwierigen und belastenden Wohnverhältnissen, die in der Sowjetunion der 1920er und 1930er Jahre herrschten. Da Denunziation der Nachbarn als Volksfeinde ein leicht verfügbares Mittel war, an mehr Wohnraum zu kommen, bedeuteten mehr Volksfeinde letztendlich mehr Wohnraum. Auch in Solženicyns Ende der 1960er verfassten Roman Rakovyj korpus (Krebsstation) setzt eine Denunziation Wohnraum frei. Die Geschichte handelt vom verdienten Parteifunktionär Rusanov, der nun Patient in einer Krebsklinik ist und sich nicht nur mit einer lebensbedrohenden Krankheit konfrontiert sieht, sondern auch mit der Rehabili-

110 Hier wäre es wichtig zu unterscheiden zwischen von den Behörden eingesetzten regulären Informanten, die in der Sowjetunion verachtet wurden, und Briefen von der Bevölkerung, die als eine alltägliche, moralisch neutrale Handlung akzeptiert wurden. Siehe Fitzpatrick/Gellately, a.a.O., S. 758-759.

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tierung von Roditčev, einem von ihm Denunzierten. Das durch Roditčevs Verbannung freigewordene Zimmer bewohnt inzwischen Minaj, der Bruder seiner Frau Kapa. Die erste Frage, die seine Frau ihm nach der Bekanntgabe von Roditčevs Freilassung stellt, ist: И неужели он теперь может отнять у Миная комнату? Kann er etwa jetzt Minaj das Zimmer wegnehmen?111

Hier liegt die Priorität nicht bei der Rehabilitierung oder beim eigentlichen Verbrechen, das von Kapa und Rusanov begangen wurde, sondern bei dem möglichen Verlust von schwer erkämpftem Wohnraum. Im Roman waren Rusanov und Roditčev ursprünglich befreundet gewesen und haben nicht nur zusammen in einer Komsomolgruppe gearbeitet, sondern gemeinsam in einer Fabrikwohnung gewohnt. Erst kam es zu Spannungen unter den Frauen, dann unter ihnen, und: А тут еще Русановым стало и тесно жить – двое детей, одна комната. Ну, да все сошлось, и погорячились, конечно, и дал на него Павел Николаевич такой материал: что в частном разговоре с ним Родичев одобрительно высказывался о деятельности разгромленной Промпартии и предполагал у себя на заводе сколотить группу вредителей, только Русанов очень просил, чтоб имя его нигде не фигурировало в деле, и чтобы не было очной ставки: его страх обнимал при мысли о такой встрече. Но следователь гарантировал, что по закону и не требуется открывать Русанова, и не обязательна очная ставка – достаточно будет признания самого обвиняемого. [...] Капа так намечала: как только Родичева арестуют, так Катьку Родичеву сейчас же выселить, и захватить всю квартиру, и балкон тогда будет весь их. (Теперь смешно, что комната в восемнадцать метров и квартира без газа могла иметь такое значение). [A]ußerdem war die Wohnung schnell zu klein geworden für Rusanows Familie: zwei Kinder in einem Raum. Eines kam zum andern, sie wurden ausfallend gegeneinander, und Pawel Nikolajewitsch reichte folgendes Material über ihn

111 Solženicyn, Alexandr: Rakovyj korpus, Paris 1968, S. 163; ders.: Krebsstation, Übers. von Christiane Auras, Agathe Jais und Ingrid Tinzmann, Berlin 1968, S. 269.

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ein: Roditschew habe sich im privaten Gespräch wohlwollend über die zerschlagene Industriegruppe geäußert und den Vorschlag gemacht, in der Fabrik eine Gruppe von Schädlingen zu bilden. Rusanow bat nur dringend darum, daß sein Name in dieser Angelegenheit unerwähnt blieb und er nicht zur Gegenüberstellung mußte: Bei dem bloßen Gedanken an eine solche Begegnung packte ihn die Angst. Aber der Untersuchungsrichter versicherte ihm, daß beides gesetzlich nicht erforderlich sei – das Geständnis des Angeklagten reiche aus. [...] Damals hatte Kapa vorgeschlagen, Katja Roditschew aus der Wohnung ausweisen zu lassen, sobald ihr Mann verhaftet sei, und die ganze Wohnung samt Balkon zu übernehmen. (Jetzt konnte man sich kaum noch vorstellen, welche Bedeutung ein Zimmer von 18 Quadratmetern und eine Wohnung ohne Gasanschluß damals hatten.)112

Dieser Ausschnitt thematisiert die skrupellosen Taten, zu denen Menschen unter extremem Wohnraummangel fähig waren.113 Im oben angeführten literarischen Beispiel ist ein Konflikt der Auslöser für den zwischenmenschlichen moralischen Bruch, der Denunziation zu einer Möglichkeit der Lösung dieses Konflikts werden lässt. Nun ist allerdings nicht klar, ob die Entscheidung, Denunziation als konfliktlösende Maßnahme einzusetzen, materielle oder immaterielle Hintergründe hat: War die Notwendigkeit von zusätzlichem (Wohn-)Raum ausschlaggebend [außerdem war die Wohnung schnell zu klein geworden für Rusanows Familie: zwei Kinder in einem Raum/А тут еще Русановым стало и тесно жить – двое детей, одна комната] oder waren normale, konfliktlose Beziehungen unmöglich [Eines kam zum andern, sie wurden ausfallend gegeneinander/Ну, да все сошлось, и погорячились]? Der Konflikt ist letztendlich auf die unzulänglichen Räumlichkeiten zurückzuführen, die zu wünschen übrig ließen. Denunziation für die Erlangung von mehr Wohnraum ist ein Beispiel für

112 Ebd., S. 273-275; dt. Übersetzung S. 165-166. 113 Hier möchte ich auf den Witz von Andreij Sergeev verweisen: Ein Mann sagt zum anderen: »›Ich tausche meine vierzigjährige Frau für zwei Zwanzigjährige!‹ Der andere antwortet: ›Ich tausche meine Frau für ein Zimmer in einer Kommunalwohnung!‹« Dies ist leider nicht nur ein geschmackloser Witz, sondern bedauerlicherweise in manchen Fällen harte und kalkulierte Realität. Siehe Sergejev, Andrej: Stamp Album, Moskau 2002, S. 81.

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›interessierte‹ Denunziationen, bei denen der Denunziant versucht sein persönliches Interesse voranzubringen. Hierbei ist die Versicherung von Anonymität von Seiten des Staates ausschlaggebend, denn die Meisten, wie das literarische Beispiel von Solženicyn bestätigt, waren nicht daran interessiert, ihre Identität preiszugeben. Dafür waren sie aber bereit, moralische und rechtliche Grenzen zu überschreiten, allerdings nur im Heimlichen. In den mitunter tödlichen Auseinandersetzungen ging es oft lediglich um die Erlangung eines größeren und besseren Zimmers, wie dies beispielsweise in der Kommunalwohnung auf der Ul’janovskaja ulica in Moskau der Fall war. In der historischen Darstellung des Alltags im stalinistischen Moskau der 1920er und 1930er Jahre114 wird der Fall von Ermakova berichtet, die unbedingt das Zimmer von Ivanova erlangen wollte. Am liebsten hätte sie Ivanova vergiftet, um sie aus dem Weg zu schaffen. Ende der 1930er Jahre war es indessen nicht notwendig, die Nachbarin zu vergiften: Es reichte lediglich ein anonymer Denunziationsbrief an die Behörden. Eine weitere Geschichte erzählt vom Agenten Gridin, der am Arbeitsplatz mit Bajkova zusammengekommen war. Um ein Treffen mir ihr zu vereinfachen, mietete er in der Kommunalwohnung, in der Bajkova lebte, eine ugol’ (Ecke) im Nachbarzimmer. Leider war es jedoch unmöglich, sich mit ihr zu treffen, da nachmittags Kinder in der Wohnung waren und am Abend ihr Mann. Aus Verzweiflung denunzierte Gridin im April 1937 Bajkovas Ehemann. Nach eineinhalb Jahren, entgegen Gridins Erwartungen, wurde Bajkovas Ehemann entlassen und die Qual begann erneut. Er reichte eine zweite Denunziation ein, die jedoch nicht half, denn er selber wurde ein Opfer der Ežovščina115 und wurde verurteilt.116 Auch in Master i Margarita behandelt Bulgakov dieses Thema: Es verschwinden regelmäßig Menschen aus der unheimlichen Wohnung, in der

114 Andreevskij, Georgij: ›Povsednevnaja žizn‹: Moskvy v stalinskuju ėpoxu 1920-1930e gody, Moskva 2003. 115 Diese Phase der Säuberungen, die als staatliche Maßnahme zur Entfernung schädlicher Elemente eingesetzt wurde, ist nach dem NKVD-Leiter N. I. Ežov genannt. 116 Vgl. Andreevskij, a.a.O., S. 450-451.

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у них началось черт знает что. Именно, в течение одного месяца пропали обе супруги. etwas nicht mit rechten Dingen zuging! Im Verlauf eines einzigen Monats verschwanden beide Ehefrauen.117

Mit dem Verschwinden von Ehefrauen kodiert Bulgakov die Angelegenheit als intim. Die repressive sowjetische Öffentlichkeit verletzt eindeutig die Grenzen der Privatsphäre, die mit dem Verlust einer familiären Intimität die Reichweite dieser Öffentlichkeit deutlich erweitert. Dazu scheint sie mitunter unkalkulierbar sowie sehr dynamisch zu sein, denn es verschwinden zwei Frauen innerhalb eines relativ kurzen Zeitraums. Hiermit thematisiert Bulgakov den dynamisierenden Wandel im Verhältnis zwischen Raum und Zeit, der mit dem Verlust einer familiären Intimität einhergeht. Mit dem Verschwinden der Ehefrauen nimmt man als Leser an, dass die Grenzüberschreitung vom Staat, also von oben, ausgeht. Allerdings war eine der Ehefrauen die des Varietédirektors, welcher es используя свои бесчисленные знакомства, ухитрился добыть ей комнату, но с одним условием, чтобы духу ее не было на Садовой улице […]. mit Hilfe seiner zahllosen Bekanntschaften fertig gebracht hatte, ihr ein Zimmer zu besorgen, unter der Bedingung freilich, dass sie sich nie wieder in der Sadowaja blicken ließ […].118

So ist die Grenzüberschreitung nicht nur auf die repressive Öffentlichkeit zurückzuführen, sondern darüber hinaus auf die extreme Wohnraumknappheit, welche die Räumlichkeiten bedingt. Hiermit nivelliert Bulgakov in gewisser Weise den Verlust der familiären Intimität – die Räume werden letztendlich den gesellschaftlichen und persönlichen Bedingungen angepasst. In Bulgakovs Beispiel instrumentalisiert der Varietédirektor die ideopolitischen Gegebenheiten mit Erfolg und schließt sich somit, entsprechend seiner Interessenlage, indirekt der repressiven Öffentlichkeit an. Ähnlich funktionieren Denunziationen.

117 Bulgakov, 1968, a.a.O., S. 124-125; dt. Übersetzung S. 68. 118 Ebd.

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Aus diesem Zusammenhang lässt sich erschließen, dass mit der Beschaffung von zusätzlichem Wohnraum also Menschen verschwinden bzw. aus dem Weg geräumt werden. Oder im Umkehrschluss: Sobald Menschen verschwinden, wird Wohn- bzw. Freiraum zugänglich. Dieses skrupellose Verhandeln von Wohnraum findet allerdings nicht nur unter Mitbürgern oder Familienmitgliedern statt. Das Skrupellose kommt auch von oben: Voland dringt in die Wohnung des Varietédirektors ein und verkündet, dass sein Gefolge Platz brauche: Так что кое-то из нас здесь лишний в квартире. И мне кажется, что этот лишний – именно вы! Demnach ist einer von uns zuviel in der Wohnung. Ich glaube, dieser eine sind Sie.119

Auch der Staat und seine Repräsentanten hatten Interesse an den materiellen oder immateriellen Vorteilen von zusätzlichem Wohnraum. In Bulgakovs Beispiel bedienen sich Voland und sein Gefolge allerdings inoffizieller Maßnahmen bei der Beschaffung von zusätzlichem Wohnraum und nehmen somit, entsprechend ihrer Interessenlage, indirekt an der repressiven Öffentlichkeit teil. Beide Seiten also – der Staat und das Subjekt bzw. das Oben und das Unten – lassen in ihrer Interaktion im Raum – im Dazwischen, in der Schwelle – eine Dynamik entstehen, anhand derer sie sich, entsprechend ihrer Interessenlagen, die Öffentlichkeit aneignen und sie zugleich fragmentieren. Diese Flexibilität im dynamisierten Raum charakterisiert diese ›Zone des Übergangs‹. An einer anderen Stelle geht Bulgakov direkt auf das Phänomen der Denunziation ein: Die Hauptfigur des Romans, der Meister, wird vom Nachbarn Aloizja Mogaryč, der in seine Wohnung ziehen will, denunziert. Am Ende des Romans wird der Meister aus seiner Verbannung in der Nervenanstalt entlassen und begegnet seinem Denunzianten persönlich. Asasello, der die Konfrontation leitet, fragt den aus der Anonymität hervorgebrachten Mogaryč: Это вы, прочитав статью Латунского о романе этого человека, написали на него жалобу с сообщением о том, что он хранит у себя нелегальную литературу? – спросил Азазелло. Новаявившийся гражданин посинел и

119 Bulgakov, a.a.O., S. 135; dt. Übersetzung S. 106.

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залился слезами раскаяния. – Вы хотели переехать в его комнаты? – как можно задушевнее прогнусли Азазелло. … Я ванну пристроил, – стуча зубами, кричал окровавленный Могарыч и в ужасе понес какую-то околесицу, – одна побелка… купорос… ›Sie haben damals den Artikel von Latunski über den Roman dieses Mannes hier gelesen und ihn daraufhin wegen Besitzes illegaler Literatur angezeigt?‹ … Der Mann lief blau an und zerfloß in Reuetränen. ›Sie wollten in seine Wohnung ziehen?‹, näselte Asasello so herzlich wie nur möglich. … ›Ich habe ein Bad eingebaut‹, brüllte der blutüberströmte Mogaryč zähneklappernd und wirr vor Entsetzen, ›allein schon das Tünchen…die Farbe…‹120

Der Missetäter bereut offensichtlich seine unmenschliche Tat in der Gegenwart des von ihm Denunzierten und versucht sie mit getätigten Verbesserungs- und Renovierungsarbeiten zu verniedlichen. Wäre er jedoch nochmals mit einer ähnlichen Situation oder Gelegenheit konfrontiert gewesen, besseren Wohnraum für sich und seine Familie zu ergattern, würde er anders handeln? Was hier einerseits auffällt, ist, dass Voland den Denunziant Mogaryč nicht bestraft, denn die Diagnose wurde schon gestellt: квартирный вопрос испортил иx. die Wohnraumfrage hat sie verdorben. 121

Andererseits werden in beiden Situationen diejenigen, die versuchten die Wohnraumfrage zu ihren Gunsten zu nutzen, vom Leben selbst bestraft. Hiermit deutet Bulgakov auf die Hoffnung auf eine Gerechtigkeit hin, die sich außerhalb und überhalb des Systems befindet und nach dem Rechten sieht. Letztendlich kommt es in der Geschichte zu keiner strafrechtlichen Verfolgung, und die ausbleibende Verurteilung von Seiten des Staates ist womöglich ein Zeichen dafür, dass es entweder keine strafrechtliche Basis für die Verurteilung gibt oder dass der eigentliche Schuldige seine Schuld verbergen möchte. So werden die kuriosen und skurrilen Umstände der Wohnraumfrage samt dem rätselhaften Verschwinden von Menschen in Bulgakovs Roman in ge-

120 Ebd., S. 473-474; dt. Übersetzung S. 256. 121 Zerkalov, Aleksandr: Ėtika Mixaila Bulgakova, Moskau 2004, S. 150.

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wisser Weise mystifiziert. Auch im wirklichen Leben wurden Missetäter üblicherweise früher oder später entlarvt, das aber meist vom Staat und seinem Gefolge. Obwohl der gewöhnliche Bürger einen aktiven Anteil an Denunziationen122 und der folgenden Verhaftung und Verbannung angeblicher Volksfeinde hatte, waren es dennoch die vom Staat etablierten Strukturen, die solche Handlungen nicht nur propagierten und ermutigten, sondern auch rechtlich stützten, indem sie dem Denunzianten Anonymität gewährleisteten. Obwohl Fitzpatrick konstatiert, dass anonyme Denunziationsbriefe aufgrund mangelnder Seriosität der Denunziation eher die Ausnahme waren,123 ist dennoch anzunehmen, dass die Gewähr von Anonymität von Seiten der Autorität ein wichtiger Impetus im institutionalisierten und ritualisierten Denunziationssystem war. Vor dem Hintergrund der erbärmlichen Lebensumstände und des Wohnungsmangels spricht Irina Šerbakova von einer ›Denunziationspsychose‹ und weist auch darauf hin, dass, ungeachtet der verbreiteten Auffassung, nicht die eigentlichen Denunzianten einen materiellen Vorteil davontrugen, sondern die Mitglieder des NKWD. Zum Beispiel wurden in Moskau zwischen August 1937 und Februar 1938 7517 Zimmer konfisziert und davon gingen 4327 an Mitarbeiter des NKWD.124 Darüber hinaus wurden viele der freiwilligen und unfreiwilligen oder gezwungenen Denunzianten verhaftet.125

122 Einen sarkastischen Einblick in die gesellschaftlichen und zwischenmenschlichen Beziehungen im sowjetischen Alltag der 1920er und 1930er Jahre in Bezug auf Denunziationen bietet Il’f und Petrovs Erzählung »Recept spokojnoj žizni«, zuerst veröffentlicht in dem Journal Krokodil, No. 13, 1934; auch in: Sobranie sočinenij v 5 tomach, Tom 3, Moskva 1961. 123 Fitzpatrick, 1996, a.a.O., S. 857. In ihrem Beitrag verschafft Fitzpatrick einen guten Überblick über die unterschiedlichen Formen der Denunziation und das Denunziationsverhalten der Sowjetgesellschaft. 124 Vgl. Šerbakova, a.a.O. 125 Vgl. ebd., S. 175.

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D AS

AUTONOM - HANDELNDE

S UBJEKT

Der häusliche Bereich war ein zentraler Ort, an dem die kulturelle Revolution und die Schaffung neuer Formen sozialistischen Lebens stattfand. Dass die Umgestaltung der Lebensweise und die damit verbundene häusliche Kulturarbeit kein leichtes Unterfangen sein werde, betont der folgende Ausschnitt aus einem 1925 veröffentlichten Artikel der Zeitung Žilec (Der Mieter): Die häusliche Lebensweise ist die sicherste Festung jeglicher Verknöcherung; alte Gewohnheiten, alte Angewohnheiten umgarnen sie wie ein klebriges Spinnennetz, verbinden sie durch abertausende Wurzeln mit der ganzen Fauligkeit der Traditionen vergangener Generationen. Die häusliche Lebensweise ist die dunkle Kraft [kosaja sila], auf die unausweichlich jede Bewegung nach vorne trifft. Die häusliche Lebensweise zerschlagen, sie revolutionieren, die neue Lebensweise anstelle der alten vermitteln, das ist eine der wichtigsten, grundlegendsten Aufgaben der Sowjetmacht. In diesem Sinne ist es völlig offensichtlich, dass die 10-12 Stunden, die der Arbeiter getrennt vom Kollektiv bei sich zu Hause verbringt, uns durchaus nicht gleichgültig sind. Es ist offensichtlich, dass wir die Formen seiner häuslichen Lebensweise neu organisieren müssen, wir müssen die Wände des Schneckenhauses des ›persönlichen‹, ›privaten‹ Lebens, das ›niemanden etwas angeht‹, einreißen und den Menschen auch hier, und nicht nur in der Fabrik und im Betrieb, lehren, sich im großartigen menschlichen Kollektiv zu fühlen. […] In diesem Sinne ist das Haus durchaus nicht nur eine Versammlung einander fremder Leute. In diesem Sinne sind die proletarischen Vorstände durchaus nicht nur Beamte der Hausverwaltung. Auf ihnen, auf diesen Vorständen, liegt eine große Verantwortung: bei sich im Haus neue Formen der menschlichen Beziehungen schmieden.126

Byt – die »allgemeine Lebensweise; die Gesamtheit von Bräuchen, Sitten und Gewohnheiten«127 – soll mit der Einführung der neuen Lebensweise ›zerschlagen‹ und ›revolutioniert‹ werden, so dass neue Formen menschlicher Beziehungen geschmiedet werden können. Der russische Schriftsteller Andrej Sinjavskij betrachtet die neue Lebensweise als ein Oxymoron, d.h. als ein Verbinden sich gegenseitig aus-

126 Žilec, 1925, Nr. 18, S. 129, zitiert von Obertreis, a.a.O., S. 173-174. 127 Mokienko, Valerij/Nikitina, Tat’jana: Tolkovyj Slovar’ Jazyka Sovdepii, St. Petersburg 1998, S. 71.

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schließender Konzepte, da eine Lebensweise an sich Beständigkeit und Stabilität suggeriert und mit Gewohnheiten, Traditionen und grundlegenden Formen der menschlichen Existenz verbunden ist. Laut Sinjavskij kann die sowjetische Lebensweise aus diesem Grunde nicht neu und revolutionär sein.128 In diesem kulturrevolutionären Vorhaben wurden Misserfolge und gesellschaftliche Probleme generell mit der ›dunklen Kraft‹ der alten Lebensweise in Verbindung gebracht. Da sich die vorangetriebene ›neue Lebensweise‹ nach keinem einheitlichen Programm richtete und in verschiedenen Kontexten ihre Ausrichtung änderte, wurde sie oft im Gegensatz zur ›alten Lebensweise‹ angeführt und definiert. Letztendlich allerdings konnte die neue Lebensweise die alte Lebensweise nicht vollkommen beseitigen, da sie lediglich im Vergleich mit der alten existierte. Dennoch bewirkte diese scheinbar unversöhnliche Gegenüberstellung und die fluktuierende politische Linie in den 1920er und 1930er Jahren ein für die Machthaber brauchbares gesellschaftliches Spannungsfeld, dem Einzelne in seiner Unberechenbarkeit und Willkür bedingungslos ausgesetzt waren. Grundlegende Ziele der neuen Lebensweise waren primär: die Erneuerung der Beziehung zwischen den Geschlechtern, die Abkehr von Religiosität, die Alphabetisierung der gesamten sowjetischen Bevölkerung129 sowie die Anerziehung eines Kollektivgeistes und die Korrektur individualistischer Tendenzen.130 Im Wohnbereich handelte es sich beispielsweise um die Überwindung alter Angewohnheiten wie Fluchen, Alkoholkonsum sowie Gewalt gegen Frauen und Kinder. Die Frage hinsichtlich der Alltagsgestaltung löste verbitterte gesellschaftliche Diskussionen aus, da jeder seine eigene Meinung darüber hatte, wie Alltag und Lebensordnung des neuen sowjetischen Menschen auszusehen hatten, wie man diese am besten umgestaltet, inwiefern die Umgestaltung revolutionär im Sinne von Lenin war und inwiefern diese überhaupt überarbeitet werden musste. Einer der wichtigsten Theoretiker

128 Zitiert von Boym, 1994, a.a.O., S. 33. 129 Die Volkszählung von 1926 gibt eine Alphabetisierungsrate von 57 Prozent der sowjetischen Bevölkerung zwischen 9 und 49 Jahren an. 1939 waren es schon 81 Prozent der Gesamtbevölkerung. Siehe Fitzpatrick, 1999, a.a.O., S. 70. 130 Vgl. Obertreis, a.a.O., S. 173.

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in den frühen 1920er Jahren war Leo Trockij,131 der in seinem Beitrag Čtoby perestroit’ byt, nado poznat’ ego (Um das Leben umzugestalten, muss man es erst kennenlernen) byt als »Lebensverhältnisse und Lebensordnung« [обстановка и обиход жизни] definiert, den er als »furchtbar konservativ« [страшно консервативен] einschätzte. Dennoch scheint er die Lage in seinen theoretischen Texten realistisch einzuschätzen, denn sogar die innovativste Regierung ist, seiner Meinung nach, ohne die selbstständige Teilnahme der Bevölkerung nicht in der Lage, das Alltagsleben radikal umzugestalten. Die politische Idee und den Alltag definiert er als zwei vollkommen unterschiedliche Angelegenheiten: Но одно дело – политическая идея, а другое – быт. Политика гибка, а быт неподвижен и упрям. Eine politische Idee einerseits und das Alltagsleben andererseits ist aber zweierlei. Die Politik ist elastisch, das Alltagsleben aber ist unbeweglich und widerspenstig.132

Die flexible Politik steht im Gegensatz zum unbeweglichen und widerspenstigen Alltag, und obwohl aus seiner Sicht die kommunistische Theorie ›unserem Alltagsleben‹ Jahrzehnte und in manchen Bereichen Jahrhunderte voraus ist, kann nur ein gradueller Prozess der Umgestaltung eingeführt werden. In einem weiteren Artikel Die Kunst der Revolution und die sozialistische Kunst bemerkt er: Der kommunistische Alltag wird nicht – wie Korallenriffe – blindlings wachsen, sondern wird bewusst errichtet, durch das Denken überprüft, gelenkt und

131 Zum Beispiel wurden Lev Trockijs Texte, die 1923 in der Pravda und als Buch mit dem Titel Voporsy byta (Fragen des Alltags) veröffentlicht wurden, so stark rezipiert, dass noch im gleichen Jahr eine zweite Auflage und 1925 eine dritte in Druck gehen musste. Siehe Zimmermann, Wolfgang: »Vorwort« in: Trockij, Leo: Fragen des Alltags, Essen 2001, vii – xv, S. vii. 132 Trockij, Leo: »Čtoby perestroit’ byt, nado poznat’ ego« im Internet unter: http://www.kommunalka.spb.ru/lib/lib5.htm [Zugang: 29.11.2007]; »Um das Leben umzugestalten, muss man es erst kennenlernen« in: ders.: Fragen des Alltags, Essen 2001, 25-31, S. 27.

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korrigiert werden. Wenn der Alltag aufgehört hat, eine Elementargewalt zu sein, wird er auch nicht mehr stagnieren. […] Die Hülle des Alltags wird – soeben erst entstanden – unter dem Druck neuer technisch-kultureller Erfindungen und Errungenschaften zerbersten.133

Erneut wird eine ambivalente Einstellung dem Alltag gegenüber deutlich, denn die ›Elementargewalt‹ des Alltags stellt er den technischkulturellen Erfindungen gegenüber, ein Paradox an sich. Wie Trockij im Titel des ersten Aufsatzes andeutet, ist es zunächst wichtig zu wissen, was Alltag ist, um ihn ›konstruieren‹ zu können. Er weist darauf hin, dass es nicht möglich ist, die neue Lebensweise »aus den Fingern zu saugen« [Но из пальца новый быт нельзя высосать], der Alltag kann »aus seinen Elementen zusammengesetzt« [Его можно строить из элементов] werden, die vorhanden und entwicklungsfähig sind. Trotz neuer wissenschaftlicher und technischer Erkenntnisse ist die Gesellschaft gezwungenermaßen ein historisches Produkt: Быт накапливается стихийным опытом людей, изменяется стихийно же, под действием толчков со стороны техники или попутных толчков со стороны революционной борьбы, и в итоге отражает гораздо больше прошлое человеческого общества, чем его настоящее. Das Alltagsleben setzt sich zusammen aus der angesammelten spontanen Erfahrung der Menschen, es verändert sich ebenso spontan unter der Wirkung von Stößen, die von der Technik ausgehen, oder von gelegentlichen Stößen vonseiten des revolutionären Kampfes, und spiegelt in Summe viel mehr die Vergangenheit der menschlichen Gesellschaft als ihre Gegenwart wider.134

Futuristische Elemente ersetzen nicht einfach die Vergangenheit und das Vergangene, sondern in der Gegenwart entsteht ein Gemisch, welches sich aus Elementen der Zukunft und der Vergangenheit zusam-

133 Trockij, Lev: »Die Kunst der Revolution und die sozialistische Kunst« in: Groys, Boris/Hagemeister, Michael unter Mitarbeit von Anne von der Heiden (Hg.): Die Neue Menschheit. Biopolitische Utopien in Russland zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2005, S. 416-421, org.: Trockij, Lev: »Iskusstvo revoljucii i socialističeskoe iskusstvo« in: ders.: Literatura i revoljucija, Moskva 1923, 169-190, S. 184-190. 134 Trockij, 2001, a.a.O., S. 25.

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mensetzt. Obwohl Trockij das Vergangene als eine Elementargewalt darstellt, will er sie dennoch kontrolliert und gezielt lenken, ihre Elemente bewusst zusammensetzen. Aus dem Alten und dem Neuen wird ein Hybrid geschaffen, welches dialektisch zwei konträre Elemente vereint. Hierfür betont Trockij im oben angeführten Zitat die ausschlaggebende Rolle des Einzelnen in seiner Lebenswelt sowie in der sozialistischen Entwicklung der Gesellschaft – jede allgemein bewusste menschliche Tätigkeit, die sich am Aufbau des Lebens beteiligt.135 Dieser bewussten menschlichen Tätigkeit liegt ein lebensimmanentes Wissen zugrunde, d.h. eine Gesamtheit von Informationen in ihren wechselseitigen Zusammenhängen, die im Leben erworben, formuliert und tradiert werden. Menschen orientieren sich an intersubjektivem Wissen und wenden dieses bewusst (aber auch unbewusst) in ihren Handlungen situationsbedingt an. Noch ausführlicher geht Trockij auf den Punkt der bewussten Handlung im zweiten Artikel ein: Der Mensch wird sich das Ziel stellen, seiner eigenen Gefühle Herr zu werden, die Instinkte auf die Höhe des Bewusstseins zu heben, sie transparent zu machen, die Drähte seines Willens bis ins Unterschwellige und Untergründige hinein zu verlegen und damit eine neue Stufe zu erklimmen – einen höheren gesellschaftlich-biologischen Typus zu erschaffen, einen – wenn man so will – Über-Menschen. […] Bis zu welchem Maß an Selbststeuerung es der Mensch der Zukunft bringen wird, ist heute ebenso schwer zu prognostizieren wie jenes Niveau, das er mit seiner Technik erreichen wird. Der gesellschaftliche Aufbau und die psychophysische Selbsterziehung werden zwei Seiten ein und desselben Prozesses sein.136

Mit seinem Verweis auf eine gewisse ›Selbsterziehung‹, ›Selbststeuerung‹, man könnte es auch als eine gewisse Eigendynamik individueller Handlungen im Alltag formulieren, stellt Trockij durchaus keine Ausnahme unter zeitgenössischen einflussreichen Theoretikern dar.

135 Dieser Trend bzw. Paradigmenwechsel spiegelt sich gegenwärtig im Zuge der Globalisierung und der mit ihr einhergehenden Individualisierung in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen wider, er hat sich im Gegensatz zu den dominierenden nationalen System-, Ideologie-, Parteiund Herrschaftsanalysen etabliert. 136 Trockij, 2005, a.a.O., S. 420.

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Ein ähnliches Menschenbild formuliert Černyševskij in seinem 1863 erschienenen Roman Čto delat’? Iz rasskazov o novych ljudjach (Was tun? Aus Erzählungen von neuen Menschen), in dem er der Frage nachgeht, wie idealistische neue Menschen die Welt im Kleinen verändern können. Dieser programmatische Roman diente als Basis für Lenins gleichnamiges Hauptwerk und theoretischen Kanon und war einer der bedeutungsvollsten und prägenden Romane seiner Zeit. In seinem Roman geht Černyševskij davon aus, dass der Neue Mensch ein Individuum freien Willens sei, der einerseits dazu erzogen werden müsse, zu erkennen, was im Leben nützlich ist. Andererseits habe er dennoch die Kapazität, selbst zu erkennen, was nützlich und somit gut ist.137 Ähnlich erläutert Lenin in seinen Werken, dass die Sowjets und Gewerkschaften keine Zwangsmittel seien, sondern als Schulungsorganisation, als Schulen der Verwaltung und Schulen des Kommunismus dienen sollten. Hier könnten Menschen durch praktische Erfahrung und nicht durch Bücher lernen, wie Sozialismus konstruiert und eine neue öffentliche Disziplin entwickelt werde.138 Lenin führte die Idee des Taylorismus am Arbeitsplatz ein, die er NOT (Naučnaja organizacija truda/Wissenschaftliche Organisation der Arbeit) nannte. Anstatt NOT wurde der Begriff NOŽ (Naučnaja organizacija žizni/Wissenschaftliche Organisation des Lebens) auf den häuslichen Bereich übertragen.139 Einerseits steht diese wissenschaftliche Organisation von oben im Gegensatz zur praktischen Erfahrung – quasi von unten –, andererseits aber reflektiert dieses Verhältnis die dialektischparadoxe Vereinigung von Einheit und Differenz. Neben den Gewerkschaften und Sowjets als Schulen des Kommunismus betrachtet Trockij in seiner Schrift Čtoby perestroit’ byt, nado

137 Vgl. Schahadat, Schamma: »Zusammenleben: Mensch und (Wohn)Raum im Russland der 1920er Jahre« in: Bröckling, Ulrich/Bühler, Benjamin u.a (Hg.): Disziplinen des Lebens, Tübingen 2004, S. 149-169. Hierbei sollten später allerdings Filme die Funktion übernehmen, ein gemeinsames bzw. kollektives Verständnis dessen herzustellen, was als schön und als hässlich bzw. gut und schlecht, wichtig und unwichtig und gut und böse zu gelten hatte. 138 Vgl. Tucker, Robert C.: »Lenin’s Bolshevism as a Culture in the Making« in: Bolshevik Culture: Experiment and Order in the Russian Revolution, Indiana University Press 1985, 25-37, S. 33. 139 Vgl. Clark, 1995, a.a.O., S. 252.

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poznat’ ego Schriftsteller in dieser Hinsicht als Lehrer des Kommunismus: Это относится не только к воздейство на быт, но и ко всякой вообще сознательной человеческой деятельностьи. Нужно знать, что есть, и в каком

направлении

существующее

изменяется,

чтобы

получить

возможность участвовать в созидании быта. Покажите нам, – и сами себе прежде всего, – что делается на фабрике, в рабочей среде, в кооперативе, в клубе, в школе, на улице, в пивной, сумейте понять, сто там делается, т.е. найти необходимую перспективу для осколков прошлого и заролышей будущего. Этот призыв относмтся в одинаковой мере и к беллетристам, и к публицистам, е к рабкорам, и к репортерам. Показывайте нам жизнь, какую она вышла из революционной печи. Das gilt nicht nur für die Beeinflussung des Alltagslebens, sondern überhaupt für jede bewusste menschliche Tätigkeit. Man muss wissen, was vorhanden ist und in welcher Richtung das Bestehende sich verändert, um in die Lage versetzt zu werden, sich am Aufbau des Lebens zu beteiligen. Zeigt uns erst – und vor allem euch selbst –, was in der Fabrik, im Arbeitermilieu, im Kooperativ, im Klub, in der Schule, auf der Straße, in der Gewerkschaft vorgeht, lernt verstehen, was dort geschieht, d.h. lernt die notwendige Einstellung zu den Bruchstücken der Vergangenheit und dem Keimen der Zukunft. Dieser Aufruf gilt in gleicher Weise sowohl für die Belletristen als auch für die Publizisten, sowohl für die dArbeiterkorrespondenten als auch für die Reporter. Zeigt uns das Leben, wie es aus dem Schmiedeofen der Revolution hervorgegangen ist.140

Allerdings ist Trockij zuversichtlich, dass die ›tausendjährigen konservativen Traditionen‹ nicht mit den progressiven wirtschaftlichen Ressourcen und Möglichkeiten Schritt halten können und es zu einer schnellen ›Vergesellschaftung‹ [обобществления] des All. Obwohl Trockij neben Karl Marx, Friedrich Engels und V. I. Lenin einer der Begründer des wissenschaftlichen Sozialismus ist, wird aus seinen Ausführungen deutlich, dass er eine biopolitisch141 kontrollierte Opti-

140 Trockij, 2001, a.a.O., S. 27. 141 Foucault hat den Begriff der Biopolitik bzw. der Biomacht geprägt. Während vorher Macht durch den Tod hergeleitet wurde, steht das Leben und dessen Erhalt im Fokus des modernen souveränen Staates. Das ewige Leben soll für jeden ermöglicht werden. Im russischen Kontext hat Niko-

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mierung der Gesellschaft und die damit verbundene Bewältigung des Alltags nicht befürwortet.142 Darüber hinaus hebt er die prägende Wechselbeziehung zwischen Leben und Literatur hervor. Insofern Menschen und Natur als biologische Entitäten und deshalb als unorganisiert und chaotisch gelten, die, laut avantgardistischer Vorstellungen, durch Technik und Kunst organisiert werden müssen, schreibt Trockij Schriftstellern eine erzieherische und moralische Führungsrolle in der Umformung der sozialen und kulturellen Ordnung und allgemeinen Alltagsgestaltung zu. Während es die Aufgabe der Schriftsteller war, die Elementargewalt zu zügeln, bewirkte ein Misslingen, was des Öfteren geschah, genau das Gegenteil – die Freisetzung einer Elementargewalt. Interessant ist in dieser Hinsicht nicht nur die wichtige Rolle, die Trockij Schriftstellern und der Literatur als einer Form kultureller Performanz allgemein zuschreibt, sondern interessant sind auch Fragen nach der subjektiven Gestaltbarkeit der Wirklichkeit, die in diesem Zusammenhang gestellt werden können. Im Sinne von Trockijs sowie Lenins und Černyševskijs Ausführungen ist gesellschaftliche Wirklichkeit somit nicht objektiv, sondern interaktiv – ein dynamischdialektisches, technisch-kulturelles Konstrukt. Alltägliche Handlungen

laj Fedorov Ende des 19. Jahrhunderts die ›Philosophie der gemeinsamen Tat‹ entwickelt. Für ihn ist der materielle Körper technisch manipulierbar und sozial organisierbar. So ist die symbolische Unsterblichkeit der Gesellschaft und des Individuums eine Frage der passenden Technik und der richtigen sozialen Organisation. Diese Vorstellung einer biopolitischen Utopie bzw. einer Biomacht wurde von großen Kreisen der russischen Intellektuellen und Künstler der Sowjetunion aufgegriffen. Mehr hierzu siehe Groys, Boris: »Unsterbliche Körper« in: Groys /Hagemeister, a.a.O., S. 8-18. 142 Nicht nur Trockij machte auf eine Vergesellschaftung aufmerksam, die aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt ist. Auch Lenin und Engels waren sich in ihren Werken jeweils einig, dass es eine Angleichung der ländlichen und städtischen, d.h. traditionellen und modernen Lebensbedingungen und -gewohnheiten geben müsse: Es sollten sich die Vorteile der städtischen und ländlichen Lebensweise vereinigen und die Abgeschiedenheit der auf dem Lande Lebenden und die Konzentration von Menschenmassen in den Großstädten überwunden werden. Vgl. Gradow, a.a.O., S. 19.

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im Kommunalkaraum waren im sowjetischen Kontext nicht mehr alltäglich, sondern nahmen eine ethisch-politische Dimension an. Mit dem unbewussten Medium des alltäglichen Verhaltens wurde ein bewusstes (mitunter anti-)ideologisches System von Kodes in der Kommunalwohnung konstruiert. Jede Tat hatte eine Bedeutung und war deshalb in ihrer Auswirkung, die einen theatralischen Aspekt der alltäglichen individuellen Handlungsweise mit sich brachte – welchen Trockij gewissermaßen prophezeiend ankündigte: »Die Formen des Alltagslebens werden zu dynamischer Theatralik finden«143 – nicht nur sehr aussagekräftig, sondern ließ darüber hinaus ein autonom-handelndes Subjekt entstehen.

143 Trockij, 2005, a.a.O., S. 421.

Theoretische Grundlage

N EUE L EBENSFORMEN UND NEUE L EBENSTHEATRALIK Um bei Trockij zu bleiben: Seinen Artikel Sem’ja i obrjadnost’ (Familie und Zeremoniell) leitet Trockij mit dem Anspruch des Arbeiterstaates ein, die Menschen vom konservativen Kirchenzeremoniell zu befreien. Allerdings bemerkt er, dass es den Menschen schwerer als dem Staat fällt, sich vom Zeremoniell loszureißen. In der Gesellschaft scheint es ein Bedürfnis nach Zeremonien zu geben, die der neue Staat mit neuen Ritualen und Symbolen zu ersetzen sucht: Рабочее государство уже имеет свои праздники, свои процессии, свои смотры

и

парады,

свои

символические

зрелища,

свою

новую

государственную театральность. Правда, она еще во многом слишком тесно

примыкает

к

старым

формам,

подражая

им,

отчасти

непосредственно продолжая их. Но в главном революционная символика рабочего государства нова, ясна и могущественна: красное знамя, серп и молот, красная звезда, рабочий и крестьянин, товарищ, интернационал. Der Arbeiterstaat hat bereits seine eigenen Feiertage, seine Prozessionen, seine Paraden, seine symbolischen Schauspiele, seine eigene neue staatliche Theatralik. Zwar schließt sie sich in vielem noch allzu eng an die alten Formen an, ahmt sie nach und führt sie teilweise unmittelbar fort. Aber im Wesentlichen ist die revolutionäre Symbolik des Arbeiterstaates neu, klar und mächtig: die rote Fahne, Hammer und Sichel, der rote Stern, Arbeiter und Bauer, Genosse, Internationale.1

1

Trockij, Leo: »Familie und Zeremoniell« in: ders.: Fragen des Alltags, Essen 2001, 47-51, S. 47; »Sem’ja i obrjadnost’« im Internet unter: http://www.

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Obwohl die revolutionäre Symbolik (die rote Fahne, Hammer und Sichel, der rote Stern etc.) angeblich ›neu und klar‹ ist, ist diese im Alltag noch nicht vorhanden, so dass Einzelne auf alte Sitten, Gebräuche und Symbole zurückgreifen (müssen). Laut Trockij müssen dem alten Zeremoniell neue Formen entgegengesetzt werden, vor allem im Familienleben. Zusätzlich zu theoretischen Argumenten, die lediglich auf den Verstand wirken, dient, seiner Ansicht nach, das theatralische Zeremoniell der Inanspruchnahme des Gefühls und der Einbildung. An dieser Stelle möchte ich kurz auf Sergej Ėjzenštejns theoretische Schriften eingehen. Grund dafür ist nicht nur, dass Trockij im Kino einen Verbündeten in der Überwindung dieser Differenzen bzw. dieses Konflikts sieht, sondern auch, dass Ėjzenštejn die Überwindung des Konflikts zwischen Pathos und Intellekt, dem Emotionalen und dem Rationalen in theoretischen Schriften sowie in Filmen (vor allem Oktjabr) thematisiert. Mithilfe der Montage emotionaler und intellektueller Attraktionen2 sollen »sozial nützliche Effekte« im Zuschauer bewirkt werden. Ėjzenštejn schreibt hierzu: Dem Dualismus der Sphären »Gefühl« und »Vernunft« muss die neue Kunst Einhalt gebieten […] Dem intellektuellen Prozeß ist seine Entflammtheit und Leidenschaftlichkeit […] zurückzugeben. Der abstrakte Denkprozeß ist in die Lebendigkeit praktischer Wirklichkeit zu tauchen.3

Laut Ėjzenštejn steht die Kunst am Schnittpunkt von Natur und Industrie: Die Logik organischer Form gegen die Logik rationeller Form ergibt im Aufeinanderprall die Dialektik der Kunstform. Die Aufeinan-

1917.com/Marxism/Trotsky/CW/Trotsky-XXI/XXI-01-01-07.html [Zugang: 26.01.08]. 2

Attraktionen sind selbstständige und primäre Konstruktionselemente einer Aufführung, die in ihrem Zusammenführen eine Emotion im Zuschauer auslösen. Für Ėjzenštejn bedeuten ›Attraktion‹ jedes aggressive Moment des Films, welches auf die Sinne der Zuschauer einwirkt.

3

Ėjzenštejn, Sergej M.: »Was war das Prinzip des ›intellektuellen Films?‹« in: Schlegel, Hans-Joachim (Hg.): Sergej M. Ėjzenštejn, Schriften 3, Reihe Hanser 184, München 1975, 243-244, S. 244; russisches Original nicht aufgefunden.

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derwirkung der beiden erzeugt und bedingt Dynamik,4 ähnlich wie in seiner Montagetheorie, wo ein Gedanke erst »im Zusammenprall zweier voneinander unabhängiger Stücke ENTSTEHT«5. Darüber hinaus betont Ėjzenštejn: Eine Idee in emotional packenden Bildern darstellen… Das wollte schon der alte Goethe. Strittig und neu war das Moment der ›unmittelbaren‹ Umschmelzung der Idee in ein System plastischer Darstellungen, denen die Fähigkeit zugeschrieben wurde, in bestimmten, durch die Montage erzielten, Kombinationen jenen ›magischen‹ [meine Hervorhebung] Effekt zu erzielen. Die Polemik kümmerte mich wenig. Mich interessierte die Methodik.6

Kunst diente also der Lebenserkenntnis und der Lebenskonstruktion und letztendlich der emanzipatorischen Umgestaltung des Menschen und seiner (Um-)Welt. Trockijs und Ėjzenštejns Überlegungen reflektieren den zeitgenössischen gesellschaftlichen Diskurs. Beiden Theoretikern geht es um das dialektische Wechselverhältnis von Symbolhaftem und Realem, von Gefühl und Vernunft, Pathos und Intellekt, Natur und Industrie/Technik – allesamt Gegensatzpaare. Dieses Wechselverhältnis möchten sowohl Ėjzenštejn als auch Trockij durch Kunst (oder doch eine [system]stabilisierende Magie? Siehe dazu Unterkaptiel »systemstabilisierende Magie«, S. 134 - 141) in eine bestimmte Richtung lenken. Beide beschreiben in ihren theoretischen Ausführungen ein Bewegungsmuster dynamischer Art, das sich in praktischen zwischenmenschlichen Beziehungen in der Kommunalwohnung wiedererkennen lässt. Es lassen sich also gewisse Parallelen nicht nur unter den Künsten erkennen, sondern auch in deren Beziehung zum eigentlichen Leben. Im folgenden Ausschnitt beschreibt Trockij diesen Prozess: Творчество новых форм быта и новой театральности быта пойдет в гору вместе с распространением грамотности и ростом материальной обеспеченности. У нас есть все основания следить за этим процессом с

4

Ėjzenštejn, Sergej M.: »Dramaturgie der Film-Form« in: Schlegel, a.a.O.,

5

Ebd., S. 205.; Hervorhebung im Original.

6

Ėjzenštejn, Sergej M.: »Die Geburt des intellektuellen Films« in: Schlegel,

S. 200-225, S. 202; russisches Original nicht aufgefunden.

a.a.O., S. 169-178, S. 176; russisches Original nicht aufgefunden.

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величайшим вниманием. Не может быть, конечно, и речи о каком-либо принудительном вмешательстве сверху, т.-е. о бюрократизации новых бытовых явлений. Только коллективное творчество самых широких кругов населения, с привлечением к этому делу артистической фантазии, творческого

воображения,

художественной

инициативы,

может

постепенно, в течение годов и десятилетий, вывести нас на дорогу новых, одухотворенных,

облагороженных,

проникнутых

коллективной

театральностью форм быта. Die Schaffung neuer Lebensformen und einer neuen Lebenstheatralik wird zunehmen mit der Verbreitung des Lesens und Schreibens und mit der Zunahme der materiellen Sicherstellung. Wir haben allen Grund, diesen Prozess mit der größten Aufmerksamkeit zu verfolgen. Von irgendeiner zwangsmässigen Einmischung von oben her, d.h. von einer Bürokratisierung der neuen Lebenserscheinungen kann natürlich gar keine Rede sein. Nur die kollektive, schöpferische Tätigkeit der breitesten Bevölkerungskreise unter Hinzuziehung der künstlerischen Fantasie, der schöpferischen Einbildung, der künstlerischen Initiative zu dieser Arbeit, kann uns allmählich im Laufe von Jahren und Jahrzehnten auf die Bahn neuer, vergeistigter, veredelter, von kollektiver Theatralik durchdrungener Lebensformen führen.7

Nicht nur die einflussreiche Beziehung von und entscheidende Wechselwirkung zwischen Kunst und Leben hebt Trockij hervor, sondern auch das daraus entstehende schöpferische Potential der Bevölkerung, deren Aufgabe es ist, neue Lebensformen zu schaffen. Weiterhin verweist Trockij auf die Notwendigkeit, diesen gesellschaftlichen Prozess aufmerksam zu verfolgen, jedoch ohne das private alltägliche Leben von oben zwangsmäßig zu bürokratisieren. Trockijs Erwägungen haben eine erstaunliche kulturwissenschaftliche Aktualität, denn er betont die performativen, kreativen und transformativen Eigenschaften der Kultur, die letztendlich in der Übergangs- bzw. Schwellenphase eines Rituals ausgehandelt werden. Diese Eigenschaften waren wiederum in zwischenmenschlichen Interaktionen in der Kommunalwohnung und gleichzeitig in der satirischen Literatur der 1920er und 1930er Jahren eingeschrieben.

7

Trockij, 2001, a.a.O., S. 50; russische Version im Internet unter: http://www. 1917.com/Marxism/Trotsky/CW/Trotsky-XXI/XXI-01-01-07.html [Zugang: 26.01.08].

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I NTERAKTIVE R ITUALE Im Kontext der allgemeinen und beständigen Unbeständigkeit, Ungewissheit und Unübersichtlichkeit des sowjetischen Lebens (und überdies des Wohnungswesens) ermöglichen besonders Interaktionsrituale die symbolische Auseinandersetzung mit Grundfragen der menschlichen Existenz, wie zum Beispiel dem Streben nach Sicherheit, Ordnung, Vernunft, Sinn und Wahrheit in unsicheren, unordentlichen, unvernünftigen und scheinbar sinnlosen Situationen und Momenten. Als ein allgemeines Phänomen der Interaktion des Einzelnen oder eines intimitätsstiftenden Kollektivs mit der gesellschaftlichen Umwelt sind Rituale kulturell in die Gesellschaft eingebunden und bedienen sich ordnender und strukturierender Mittel, um die Bedeutung einer sozialen Handlung zur Geltung kommen zu lassen. Hierbei werden durch rituelle Performanzen Bedeutungs- oder Sinnzusammenhänge symbolisch dargestellt, die über deren Alltagsbedeutung hinausweisen. Turner bezeichnet dieses Wissen als obskur und geheimnisvoll, welches in der liminalen Phase angeeignet wird und Teilnehmende im Innersten ihres Wesens verändert.8 Die Soziologin Uta Gerhardt skizziert zwei unterschiedliche Formen und Ebenen des Rituals sowie damit verbundene gesellschaftliche Strukturen: das Interaktionsritual und das Repräsentationsritual. Während im Interaktionsritual unter Handelnden gemeinsam und kooperativ Wirklichkeit gestaltet wird, wird im Repräsentationsritual eine subjektiv empfundene gesellschaftliche Einheit erzeugt und dargestellt. Demnach bezeichnet Gerhardt Repräsentationsrituale als paradigmatische Rituale mit autoritären Ordnungsstrukturen und Interaktionsrituale als Reziprozitätsrituale, d.h. als Strukturen der situativen Gegenseitigkeit und Anerkennung, die demokratische Ordnungsstrukturen einer Gesellschaft aufzeigen. Während sie diese beiden Denkfiguren dichotomisiert, folgert sie allerdings, dass in traditionellen Gesellschaften wie in Industriegesellschaften sowohl die einen als auch die anderen Formen des Rituals vorkommen. Laut Gerhardt unterscheidet sich die Gewichtung der Konstellation je nach Gesellschaftsstruktur und Herr-

8

Vgl. Turner, Victor: »Betwixt and Between: The Liminal Period in Rites of Passage« in: Mahdi, Louise Carus/Foster, StevenLittle, Meredith (Hg.): Betwixt and Between: Patterns of Masculine and Feminine Initiation, La Salle, Illinois 1987, 3-19, S. 11.

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schaftstyp: Repräsentationsrituale dominieren eher autoritäre Systeme und Interaktionsrituale entsprechend demokratische.9 Obwohl Repräsentationsrituale als Handlungsstrukturen in der Sowjetgesellschaft vorherrschten, waren Interaktionsrituale – so meine These – nicht weniger von Bedeutung. In der sowjetischen Gesellschaft kam es zu einer komplexen Verflechtung beider Handlungsstrukturen, die im urbanen Wohnraum einander gegenseitig bedingten. Generell regeln Rituale Herausforderungen für die soziale Ordnung, die sich unter gesellschaftlichen Übergängen und individuellen Sozialisationsprozessen in der Gesellschaft bzw. Gemeinschaft bilden können. Als Analyseinstrument bietet das Ritual einen Einblick in gesellschaftliche Veränderungsprozesse auf verschiedenen Ebenen. Entsprechend möchte ich an den von den Ethnologen ausgearbeiteten Begriff der Liminalität anknüpfen, um ihn erweiternd für den sowjetischen Kontext im kommunalen Raum als Metapher sowie Denkgebilde geltend zu machen, besonders in Bezug auf die im Ritual stattfindende Interaktion von Kommunalkabewohnern. Der Erste, der sich mit dem Konzept der Liminalität innerhalb ritueller Prozesse auseinandergesetzt hat, ist der Ethnologe Arnold van Gennep. In seinem wissenschaftlichen Hauptwerk hat er drei Phasen von Übergangsriten (Les Rites de Passage, 1909) identifiziert, deren Phänomenologie alle Übergangsriten zeigt: Trennung, Übergang und (Wieder-)Eingliederung. Turners Neuinterpretation dieses Ansatzes, der auch in den Kultur- und Literaturwissenschaften vermehrt angewendet wird, setzt Rituale in jeder Phase an, denn nicht in jedem Ritual sind alle Phasen gleichermaßen ausgeführt.10 Die Entstehung der Sowjetunion, die von gravierenden gesellschaftlichen Veränderungsprozessen gekennzeichnet war, kann dementsprechend als ein gesellschaftliches Ritual betrachtet werden. In der ersten Phase lösen sich Personen aus ihrem gewohnten sozialen Umfeld heraus und trennen sich von ihrem früheren Status und ihren sozialen Bindungen – im Wesentlichen ein Prozess, der allgemein mit der Industrialisierung einherging. Die zweite Phase, die des Übergangs von der alten zur neuen Lebensweise, konfrontierte Menschen

9

Vgl. Gerhardt, a.a.O.

10 Vgl. Turner, Victor: Das Ritual. Struktur und Anti-Struktur, Frankfurt a.M. 1989; ders.: From Ritual to Theatre: The Human Seriousness of Play, New York 1982.

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mit einer neuen Symbolwelt und neuen Formen politischer Theatralität, die aufgrund der Unbeständigkeit und Uneindeutigkeit einen besonderen, anregenden soziokulturellen Prozess zwischenmenschlicher Interaktion veranlasste. Im Zuge des Wandels soziokultureller und politischer Darstellungs- und Handlungsformen befanden sich Einzelne und Gruppen in einem Schwellenzustand, in der Liminalität, zwischen zwei unterschiedlichen und letztendlich gegensätzlichen Polen, die in Konflikt miteinander standen. Laut Mary Douglas ist Verunreinigung eine Möglichkeit, geschätzte Prinzipien und Kategorien vor Gegensätzen und Widersprüchen zu schützen und zu bewahren.11 Douglas setzt Unreinheit mit Unklarheit und Widerspruch gleich. Im kommunalen Alltag wird diese Verbindung vor allem im Zusammenprall der neuen mit der alten Lebensweise relevant, so dass Müll, Schmutz und Unordnung eine bezeichnende Rolle sowohl im extraliterarischen als auch im literarischen Kontext spielen (hierzu mehr im Kapitel »Müll, Unordnung und Chaos«). In Anlehnung an Turner ist in der Schwellenphase »das rituelle Subjekt von Ambiguität gekennzeichnet; es durchschreitet einen kulturellen Bereich, der wenig oder keine Merkmale des vergangenen oder künftigen Zustands aufweist«.12 Liminalität ist demnach eine Erfahrungs- und Handlungsform des Dazwischen, in der Unbestimmtheit und Uneindeutigkeit durch zwei gegensätzliche Zustände hervorgebracht werden, sie ist also hochgradig ambivalent. An dieser Stelle möchte ich auf Walter Benjamin verweisen, der als Erster auf den Unterschied zwischen Grenze und Schwelle aufmerksam gemacht und versucht hat, den Begriff und das Konzept der Schwelle für historische Erkenntnis brauchbar zu machen: Die Schwelle ist ganz stark von der Grenze zu scheiden. Schwelle ist eine Zone. Wandel, Übergang, Fluten liegen im Worte »schwellen« und diese Bedeutung hat die Etymologie nicht zu übersehen. Andererseits ist es notwendig, den unmittelbaren tektonischen und zeremonialen Zusammenhang festzustellen, der das Wort zu seiner Bedeutung gebracht.13

11 Vgl. Douglas, Mary: Purity and Danger, London 1966. 12 Turner, 1989, a.a.O., S. 94. 13 Benjamin, Walter: Gesammelte Werke. Das Passagen-Werk, unter Mitw. von Theodor Adorno, hg. von Rolf Tiedemann, V. Band/I. Teil, 3. Aufl., Frankfurt a.M. 1989, S. 618.

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Die Schwelle also ist keine Grenzlinie, die Unterschiede markiert und Bereiche trennt. Sie ist eher ein Moment, ein Raum oder eine Phase, in dem bzw. der Unterschiede und Gegensätze aufeinanderstoßen und sich miteinander mischen. An der lebensräumlichen Schwelle der Kommunalwohnung stießen sowohl in der Wohnpolitik und der neuen Lebensweise enthaltene systemimmanente Ambivalenzen, Widersprüche und Diskrepanzen als auch die Vorstellungen, Gewohnheiten und Werte der Kommunalkabewohner aufeinander und mischten sich. Hier kreuzen sich nicht nur das topographische Überschreiten einer Schwelle und das Überschreiten von Bewusstseinsgrenzen, sondern auch das Überschreiten von Grenzen des Gewohnten, der Logik und des Verstandes. In der Schwellenphase, die mit der Konzeption der Kommunalwohnung als Übergangslösung einhergeht und all diese Dimensionen der Grenzüberschreitung beinhaltet, mussten sich die Bewohner von ihren bisherigen Gewohnheiten und ihrem soziokulturellen Verständnis lösen und sich in der interstrukturellen Situation, die in der Schwellenphase entstanden war, und dem damit einhergehenden obskuren Wissen der neuen Wohnkultur orientieren und entsprechend anpassen. Wie Benjamin aufzeigt, bildet die Schwelle keine Grenze – ein passives Moment –, sondern einen Wandel – ein aktives Moment. Hier wird die Ungleichzeitigkeit der Gleichzeitigkeit deutlich. Und so lässt sich die Frage stellen, inwiefern ambivalente Umstände unabhängig von rituellen Prozessen an sich einen Zustand der Liminalität erzeugen. Mit der Einführung des Stalinismus Anfang der 1930er Jahre und dem damit einhergehenden Anspruch an Kontrolle und ordnende Systematisierung bzw. Strukturalisierung des Alltags – in der Wohnpolitik kennzeichnete beispielsweise die Auflösung der Wohnungsgenossenschaften diese maßgebliche Reorientierung – setzte formal die dritte Phase der (Wieder-)Eingliederung ein, die versuchte, die Subjekte in eine neue, stabile Symbolwelt zu integrieren. Die Literaturwissenschaftlerin Katerina Clark weist in ihrem grundlegenden Buch zum sowjetischen Roman bzw. zum Sozialistischen Realismus The Soviet Novel: History as Ritual darauf hin, dass während der 1930er Jahre alle öffentlichen Ereignisse und Aktivitäten ritualisiert wurden, um den stalinistischen Staat zu legitimieren und den Zusammenhang zum Leninismus herzustellen.14 In dieser gesellschaftlichen Ritualisierung war

14 Vgl. Clark, 2000, a.a.O., S. 9.

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die Rolle des sozrealistischen Romans in der gesellschaftlichen Transformation inbegriffen. Mit Anbruch des Stalinismus und dem damit einhergehenden Machtanspruch wurde die Transformationsphase auf der Makroebene allerdings nicht vollkommen abgeschlossen. Ambivalente und widersprüchliche Zustände dauerten an, und somit setzte sich die Schwellenphase fort.

L IMINALE G EMEINSCHAFTLICHKEIT Laut Turner entsteht in einem Ritual unter den Teilnehmern, die gemeinsam die Liminalität durchlaufen, eine besondere Gemeinschaftlichkeit, die er als Communitas bezeichnet. Diese besondere Gemeinschaftlichkeit kann sich auf der gesellschaftlichen genauso wie auf der kommunalen bzw. zwischenmenschlichen Ebene bilden. Turner beschreibt zwei Hauptmodelle menschlicher Sozialbeziehungen, die in Gesellschaften gleichzeitig und nebeneinander bestehen und in ihrer Bestimmung der gesellschaftlichen Zustände oszillieren. Eines der Modelle versteht Gesellschaft als strukturiertes und hierarchisch gegliedertes System politischer, rechtlicher und wirtschaftlicher Positionen, aufgrund dessen Menschen bewertet und entsprechend differenziert werden. Das andere Modell wird in der Schwellenphase erkennbar und zeichnet sich dadurch aus, dass die Gesellschaft »als unstrukturierte oder rudimentär strukturierte und relativ undifferenzierte Gemeinschaft, comitatus, oder auch als Gemeinschaft Gleicher, die sich gemeinsam der allgemeinen Autorität der rituellen Ältesten unterwerfen«15 erkannt wird. Turner betont in diesem Zusammenhang den kollektiven Charakter der Rituale. Im rituellen Prozess ist das Zwischenstadium der Statuslosigkeit für gesellschaftliche Veränderungsprozesse, die sich im Zuge der Modernisierung vollziehen, von besonderer Bedeutung. Communitas überbrückt Lücken in der Struktur und tritt nur dort auf, wo Sozialstrukturen als Denk- und Ordnungsmodelle nicht vorhanden sind. In dieser Hinsicht steht Communitas der Struktur als rituelle Anti-Struktur gegenüber. Im Moment der liminalen Überbrückung kommt es zu einer Wechselbeziehung und Verschmelzung entgegengesetzter Positionen, die sich in einer Art dynamischem Prozess vereinen: »This co-

15 Ebd., S. 96.

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incidence of opposite processes and notions in a single representation characterizes the peculiar unity of the liminal: that which is neither this nor that, and yet is both.«16 Im sowjetischen Beispiel bewegten sich Subjekte, aufgrund existentieller und systemimmanenter Diskrepanzen, gezwungenermaßen zwischen entgegengesetzten Polen: zwischen der sowjetischen Ideologie und der verbleibenden bürgerlichen Wirklichkeit vor Ort, die in ihren entgegengesetzten Positionen darüber hinaus chronologische (Vergangenheit und Zukunft) und hierarchische (unten und oben bzw. Zentrum und Peripherie) Dimensionen vereinen. Auf der Makroebene befand sich die sowjetische Gesellschaft in einer Übergangsphase und demnach in einem Zustand der Liminalität, an der historischen, politischen und soziokulturellen Schwelle von einem alten zu einem neuen (Ordnungs-)System. Es lag im ideopolitischen und soziokulturellen Interesse der Staatsmacht, die unbeständige Übergangsphase (eine zwangsläufig kreativ innervierende Schwellenphase) zu überwinden. Auf der Mikroebene kamen verschiedene Vorstellungen und Auslegungen der neuen Lebensweise im banalen und gleichzeitig hochpolitisierten Alltag hinzu. Auf unterschiedlichsten Ebenen und in unterschiedlichsten Dimensionen manifestierten sich freigesetzte Formen des Experiments, der Statusumkehr, der Ironie und Entfremdung sowie der Sinneserfahrung im Schwellenzustand, die zu einer Verwandlung der Symbole führten. Im Prozess der Überwindung entgegengesetzter Positionen oder in der Lösung des rituellen Konflikts kam es zu einer Transformation: »Im Zustand der Liminalität werden neue Handlungsweisen, neue Kombinationen von Symbolen ausprobiert, die dann verworfen oder akzeptiert werden.«17 Und in dieser Transformation erkennt Turner eine vierte Phase, die er mit dem Konzept des sozialen Dramas beschreibt: die eigentliche Reintegration nach der Bewältigung der Konflikte und die damit einhergehende Transformation.

16 Turner 1987, S. 9. 17 Turner, Victor: »Variations on a Theme of Liminality« in: Moore, Sally Falk/Myerhoff, Barbara: Secular Ritual, 36-52, S. 40, zitiert in BachmannMedick, Doris: »Kulturelle Spielräume: Drama und Theater im Licht ethnologischer Ritualforschung« in: ders. (Hg.): Kultur als Text. Die anthropologische Wende in der Literaturwissenschaft, Frankfurt a.M. 1996, 98121, S. 104.

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D ER

DRAMATISCHE

K AMPF

UM

W OHNRAUM

Turners Konzeption von Ritualen als ›soziale Dramen‹ und ›transformative Performanzen‹ ist ein hilfreiches methodisches Analyseinstrument zur Beschreibung der Handlungs- und Performanzabläufe im dichten, heterogenen und konfliktreichen Raum der Kommunalwohnung. Er betrachtet das ›soziale Drama‹ als einen spontanen sozialen Prozess, der generell innerhalb von Gruppen stattfindet, die gemeinsame Werte, Interessen sowie eine gemeinsame Geschichte haben. Rituale als eine auf Öffentlichkeit bezogene Handlungsform sind Bestandteile ›sozialer Dramen‹, die einen stabilisierenden Rahmen für den Übergang von einem vor allem konfliktreichen Zustand zu einem weniger konfliktreichen Zustand bilden. Wichtig im Zusammenhang mit der Kommunalwohnung ist die inszenierte und rituelle Regelung gesellschaftlicher bzw. gemeinschaftlicher Konflikte. Turner hat über die übliche Abfolge ›sozialer Dramen‹ ein Modell erstellt, welches in vier Phasen gestaltet wird: • Bruch (sozialer Normbruch oder moralische, rechtliche oder gebräuchliche Regelverletzung im öffentlichen Bereich) • Krise (Fraktionen werden gebildet und es kommt zu einer Ausweitung und Zuspitzung des Bruchs bis hin zum Wendepunkt) • Bewältigung (Strategien der Konfliktlösung durch rituelle Akte und mitunter auch Rechtsverfahren) • Wiedereingliederung oder Spaltung (Beilegung der Konflikte oder Anerkennung einer unüberwindbaren Diskrepanz)18 In der Kommunalwohnung kam es ständig zu Brüchen sozialer, ideologischer und persönlicher Normen, die eine moralische, rechtliche oder gebräuchliche Regelverletzung repräsentierten. In der Folge eines solchen Normbruchs bilden sich entgegengesetzte Lager. Dabei trägt jedes Subjekt den Konflikt in sich, hat ein friedliches und ein feindliches Gesicht und ist zur Kooperation bereit, aber zugleich auch dazu, in den Konflikt einzusteigen, insbesondere wenn es um die Verteidigung und/oder Aneignung hart umkämpften (Wohn-)Raums geht. Turner beschwört die Allgemeingültigkeit des ›sozialen Dramas‹ als eine universale prozessuale Form zwischenmenschlicher Interaktion. Für den Anspruch einer perfekten sozialen und politischen Orga-

18 Vgl. Turner, 1982, a.a.O.

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nisation repräsentiert das soziale Drama eine fortwährende Herausforderung.19 Er schreibt: In social dramas, false friendship is winnowed from true communality of interests; the limits of consensus are reached and realized; real power emerges from behind the facade of authority. […] Social dramas are in large measure political processes, that is, they involve competition for scarce ends – power, dignity, prestige, honor, purity – by particular means and by the utilization of resources that are also scarce – goods, territory, money, men and women.20

Der Konflikt in der Kommunalwohnung war primär ein territorialer Kampf: Es ging um die Beherrschung des Raums. In diesem Kampf ging es nicht in erster Linie um Konfliktlösung, sondern um die Bemächtigung der im geringen Maße zur Verfügung stehenden Ressourcen. Zu den Ressourcen gehörten allerdings nicht nur (Lebens-)Mittel, Raum und Geld, sondern auch (obskures oder weniger obskures) Wissen und (kompromittierende) Informationen über andere Nachbarn. Diese wurden bei jeder Gelegenheit gesammelt (in Gesprächen, die in der Küche, in der Toilettenschlange, im Korridor, in der Telefonschlange oder durch die Sperrholzwand ›zufällig‹ mitgehört wurden) und in entsprechenden Situationen strategisch angewandt. In dieser Hinsicht entspricht der Konflikt und die Konkurrenz im kommunalen Raum dem Wesen nach einem Spiel, nämlich einem Strategiespiel. In strategischen Spielen werden meist feindliche Situationen simuliert, und somit ist das Spiel eine modellhafte, experimentelle Form der Wirklichkeit, die eine Verbindung von Realem und Symbolhaftem herstellt. Einerseits gehört das Spiel der Sphäre des Scheins an – man tut so als ob: Ein Ast täuscht ein Schwert vor oder das Schachspiel simuliert den Krieg. Andererseits wird aber gleichzeitig ein Ereignis oder eine Situation nachgespielt oder eine Interaktionsdimension eröffnet. Das Spiel bietet einen Erfahrungsraum für soziales Handeln, und so mischt sich die Welt des Spiels mit der Lebenswelt. »Die Unwirklichkeit des dem Spiel impliziten Scheins veranlasst und vermittelt gerade die Wirklichkeit der Spielbewegung«, schreibt die Pro-

19 Ebd., S. 71. 20 Ebd., S. 71-72.

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fessorin für Philosophie Sybille Krämer.21 Im Spiel finden wir deshalb die außerordentliche Koppelung des Symbolischen und des Realen – zweier entgegengesetzter Pole. Im Wesentlichen ist das Spiel ein Bewegungsphänomen, eine Bewegung, die zwischen zwei gegensätzlichen Polen bzw. feindlichen Gruppen oszilliert und ein sich wiederholendes Hin und Her beschreibt. Ein weiterer ausschlaggebender Aspekt, der dem Spielgeschehen eigen ist, ist die Ambivalenz des Wechselverhältnisses von Hervorbringen und Geschehenlassen.22 Einerseits sind wir aktive, bestimmende Teilnehmer am Spielgeschehen, reagieren andererseits im spielerischen Konflikt aber lediglich auf die Bewegung des Gegenübers. So ist das Spiel ein Ort der Zwiespältigkeit, in der man sich selbstbestimmt, aber gleichzeitig auch fremdbestimmt erfährt. Zur Zwiespältigkeit des Spiels erläutert Krämer: Das Spiel bestärkt und überschreitet die Souveränität des Ich. Es wird zur elementaren Erfahrung des Verwobenseins von Autonomie und Heteronomie. Daher auch kann – ins Extrem gewendet – das Spiel der Verzauberung durch agonale Meisterschaft ebenso bereithalten wie da Verfallen an die Dämonie der Maske und an die Leidenschaft des Rausches. Wer spielt, bewegt sich also in einer Region, die begrenzt ist vom hellen apollinischen Moment der freien Selbstheit wie vom dunklen dionysischen Moment panischer Selbstaufgabe. In dieser dem Spielen eigenen Ambivalenz vermutet Buytendijk eine grundlegende dramatische Struktur.23

Diese grundlegende dramatische Struktur lässt sich mit der von Trockij aufgegriffenen ›dynamischen Theatralik‹ vergleichen, die im kommunalen Alltag ihre Bühne fand. Im Aufeinandertreffen des Gegensätzlichen und im daraus entstehenden Konflikt wird durch die dabei freigesetzte Dynamik eine produktive Beziehung erzeugt, die Widersprüche überwindet.24

21 Krämer, Sybille: »Die Welt, ein Spiel? Über die Spielbewegung als Umkehrbarkeit« in: Cantz, Hatje: Spielen. Zwischen Rausch und Regel, Deutsches Hygiene Museum Dresden 2005, 11-17, S. 14. 22 Vgl. ebd. 23 Ebd., S. 13. 24 In diesem Zusammenhang möchte ich nochmals kurz auf Ėjzenštejns Montagetheorie verweisen, die in den 1920er Jahren in einem marxistisch-dialektischen Umfeld entwickelt wurde. Das Dialektische bedeutet Gegensätzlich-

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Die im gesellschaftlichen Ritual der Sowjetunion entstandenen systematischen Lücken und daraus entstehenden Konflikte wurden auf zwischenmenschliche Beziehungen übertragen. Konflikte waren in der uneindeutigen Dichte und sozialen Heterogenität der Kommunalwohnung25 unvermeidbar. Unter den ausgesprochen spannungsträchtigen Bedingungen löste jede minutiöse Kleinigkeit eine regelrechte Krise aus. Einer der üblichen Konfliktherde war beispielsweise die Abrechnung des Stromverbrauchs. Als ein Manko der unzureichenden Infrastruktur erinnerte dieses monatliche Ritual die Bewohner nicht nur an die Mängel der Wohnsituation, sondern auch systematisch an die Mängel des (Ordnungs-)Systems im Allgemeinen. Über diesen konfliktschürenden Sachverhalt schrieb Michail Zoščenko 1929 die Erzählung Letnaja peredyška (Die kleine Sommererholung): Надо жить в коммунальной квартире. […] Конечно, имеются свои недочеты. Например, электричество дает неудобство. Не знаешь, как рассчитываться. С кого сколько брать. […] Для примеру, у нас девять семей. Один провод. Один счетчик. В конце месяца надо к расчету строиться. И тогда, конечно, происходят сильные недоразумения и другой раз мордобой.

keit und die Erforschung der Wahrheit durch das Aufweisen und Überwinden von Widersprüchen. Ėjzenštejn verstand Filmmontage als eine Art Kollision oder Aufeinanderstoßen zweier Bilder. Durch diesen Konflikt wollte Ėjzenštejn die gewohnte Sichtweise des Zuschauers herausfordern und ihn folglich zu schwierigeren Interpretationsvorgängen zwingen. Im Aufeinandertreffen des Gegensätzlichen – wie z.B. Mensch und Ding, die neue und die alte Lebensweise, Öffentlichkeit und Privatheit oder Widerstand und Solidarität – und im daraus entstehenden Konflikt werden für Ėjzenštejn Widersprüche überwunden und die dabei freigesetzte Dynamik erzeugt eine produktive Beziehung. Hier geht es also um die Dynamik der Dialektik, die in der Interaktion, im Dazwischen freigesetzt wird und produktives Potential entwickelt. Das Dazwischen befindet sich zwischen zwei Polen, die jeweils eine Grenze bezeichnen und das Bewegungsmuster eines Hin und Her erlauben. Siehe Eisenstein, 1975, a.a.O., S. 201. 25 Je größer die Kommunalwohnung, desto verschiedenartiger die Bewohner. Siehe Utechin, Il’ja: K semiotike strastej kommunal’nogo čeloveka« in: Wiener Slawistischer Almanach 54, 2004, 291-308, S. 292.

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Ну, хорошо, вы скажете: считайте с лампочки. Ну, хорошо, с лампочки. Один сознательный жилец лампочку-то, может, на пять минут зажигает, чтоб раздеться или блоху поймать. А другой жилец до двенадцати ночи чего-то там жует при свете. И электричество гасить не хочет… Man wohnt einträchtig in der Kommunalwohnung. […] Gewiß, es hat auch seine Nachteile. Zum Beispiel macht das elektrische Licht einige Schwierigkeiten. Man weiß nicht, wie man miteinander abrechnen soll. Und wer was zu zahlen hat. […] Zum Beispiel sind bei uns neuen Familien. Aber nur eine Lichtleitung! Ein Zähler! Am Monatsende muss man zur Abrechnung antreten. Und dabei entstehen dann natürlich große Mißverständnisse – und manchmal auch Mord und Totschlag! Ihr werdet sagen: »Berechnet nach den Lämpchen!« Nun gut, nach den Lämpchen. Ein einsichtiger Mieter zündet sein Lämpchen vielleicht für fünf Minuten an. Um sich auszuziehen oder einen Floh zu fangen. Ein zweiter Mieter aber ißt da irgend etwas bis zwölf Uhr nachts bei Beleuchtung. Und will das Licht nicht löschen […]26

In dieser Erzählung schlägt Zoščenko mögliche Lösungen vor, das Unausführbare ausführbar zu machen. Ein Beispiel wäre eine pauschale Stromabrechnung pro Glühbirne. Allerdings verwandelt sich dieses monatliche, indirekt vom Staat angeordnete Ritual der Stromabrechnung zwangsläufig in ein ›soziales Drama‹, da es letztendlich nicht möglich ist, den Stromverbrauch genau abzurechnen. In der Erläuterung, warum eine konfliktlose Abrechnung nicht funktioniert, stellt Zoščenkos Erzähler gegensätzliche Positionen im Konflikt auf: Es gibt den pflichtbewussten Bürger und den Schmarotzer. Unter diesen Umständen werden bestimmte Nachbarn, wenn nicht die gesamte Mitbewohnerschaft, des Betrugs verdächtigt. In diesem Zusammenhang möchte ich Utechins ethnographischanthropologischen Artikel über die Semiotik des kommunalen Menschen heranziehen, in dem er betont, dass sich vor allem im Bereich

26 Zoščenko, Michail: Sobranie sočinenij v trex tomax, Leningrad 1986, 430432; ders.: Bleib Mensch, Genosse. Satiren und Grotesken, Übers. von Grete Willinsky, München 1972, S. 22.

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des persönlichen Besitzes und Eigentums ein paranoides Verhalten der Bewohner bemerkbar macht: Бредовая интерпретация реальности заставляет повсюду усматривать »нарочность« – злые намерения окружающих и свидетельства действий, наносящих ущерб имуществу и личности субъекта; в результате он видит себя средоточием забот окружающих – жертвой краж, порчи имущества, подмен и издевательств. Все то, что делал бы нормальный коммунальный житель, окажись он жертвой таких систематических злонамеренных действий, только с удвоенной энергией: изобретает сложные способы защиты, строит ответные кохни, мстит, пишет многочисленные жалобы во все инстанции. Однако он отталкивается от своей, только ему видимой реальности и, в сущности, борется с собственной тенью. Иначе говоря, анализ стереотипов нормального поведения позволяет утверждать, что логика поведения патологического субъекта в принципе не отличает от нормальной логики поведения в коммунальном сообществе, а лишь представляет собой перенесение нормальных смысловых моделей на бредовую субъективную реальность, некритически воспринимаемую больными.27 Durch die illusorische Interpretation der Wirklichkeit werden überall »Absichtlichkeiten« gesehen – böse Absichten der Mitmenschen sowie Beweise für ihre Verhaltensweisen, die das Eigentum sowie der Persönlichkeit von Subjekten beschädigen; im Endeffekt sieht er sich selber im Zentrum der Aufmerksamkeit der Mitmenschen – als das Opfer von Diebstahl, Beschädigung von Eigentum, Vertauschung und Verspottung. All das, was der normale Kommunalkabewohner tun würde, wenn er ein Opfer solcher systematischer, böswilliger Verhaltensweisen wäre, nur mit doppelter Energie: er erfindet schwierige Arten der Verteidigung, schmiedet Gegenintrigen, rächt sich, schreibt zahlreiche Beschwerden an alle Instanzen. Aber er stößt sich selber vor den Kopf, nur seine scheinbare Realität und, im Grunde genommen, kämpft er mit dem eigenen Schatten. Mit anderen Worten, durch die Analyse von Stereotypen normaler Verhaltensweisen lässt sich bestätigen, dass die Logik der Verhaltensweisen eines pathologischen Subjekts sich im Prinzip nicht von der normalen Logik der Verhaltensweisen in einer Kommunalka-Gemeinschaft unterscheidet, sondern ist die Verlagerung normaler Bedeutungsmodelle auf die illusorische, subjektive Realität, die diese Kranken kritiklos annehmen.

27 Utechin, 2004, a.a.O., S. 307-308; eigene Übersetzung ins Deutsche.

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Als ein Opfer systematischer und böswilliger Handlungen scheint der Bewohner einer Kommunalwohnung – berechtigt oder nicht – seine eigene Version der intriganten kommunalen Lebenswelt zu konstruieren und sich dementsprechend zu verhalten. Ob (Wahn-)Vorstellungen der Kommunalkabewohner nun Phantasie oder Realität sind oder Verhaltensweisen eines pathologischen Subjekts – was bleibt, sind unüberbrückbar gestörte, aber prägende zwischenmenschliche Beziehungen, die eine konfliktgeladene Atmosphäre im Alltag und im intimen Wohnraum perpetuieren. Ähnliche konfliktreiche Verhaltensweisen bestätigt der Schriftsteller Andrej Sinjavskij aus eigener Erfahrung. Als Intelligenzler verbrachte Sinjavskij Nächte lesend am Schreibtisch. Auf Drängen der Mitbewohner erklärte er sich bereit, für den Strom seiner Schreibtischlampe, für den er in seinem Zimmer einen separaten Zähler installieren lies, doppelt zu bezahlten. Trotz seiner Nachgiebigkeit fanden die Nachbarn einen weiteren Streitpunkt: seinen Hund, den er zweimal täglich spazieren führte, denn Sinjavskij musste über den gemeinsamen Korridor laufen, um mit seinem Hund Gassi zu gehen. Mit der Begründung der Nachbarn, dass der Hund ein Vierbeiner wäre und deshalb zweimal so viel Dreck erzeugen würde wie Menschen, erklärte sich Sinjavskij auch hier bereit, den Bewohnern der Kommunalwohnung entgegenzukommen und den Korridorboden häufiger zu schrubben. Allerdings war auch dieses Übereinkommen vergebens. Die Nachbarn ließen sich nicht zufriedenstellen. Sein Fazit: […] es tobte ein Krieg, in dem ein Sieg ebenso unmöglich war wie Friede oder Waffenstillstand. Denn je mehr Geld und Kräfte ich aufwandte, um den Forderungen der Nachbarn entgegenzukommen, desto glühender haßten Sie mich. Tja, das ist mir ein feiner Herr! Mit eigenem Zähler und Hund, der für das Schrubben der Böden im Korridor und so weiter viel Geld ausgibt, andere Nachbarn schrubben die Korridorböden selbst und der läßt eine Putzfrau kommen, woher hat er bloß das Geld? Warum bleibt er so lange auf? Und warum brennt bei ihm immer Licht? Ich verdiente nicht schlecht und genoß als Wissenschaftler und Mitglied des Schriftstellerverbandes gewisse sowjetische Privilegien – aber hier konnte mir nichts helfen, denn meine Lebensgewohnheiten unterschieden sich von den durchschnittlichen Lebensgewohnheiten in einer Kommunalwohnung und erweckten Neid und Mißtrauen.28

28 Sinjawskij, a.a.O., S. 243.

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Unterschiedlichste soziokulturelle und alltagspragmatische Gründe sowie verzerrte Wirklichkeitswahrnehmungen führten wegen der außerordentlichen Enge und im Kontakt mit fremden Menschen zu mitunter unlösbaren Feindseligkeiten in der existentiell angespannten Atmosphäre der Kommunalka.29 Somit befanden sich die Bewohner fortwährend in der autonomen strategischen Position eines Strategiespiels. Gleichzeitig musste man jedoch hoffen, sich auf der richtigen Seite zu befinden, denn wie in einem Spiel war das Ergebnis unberechenbar und die bereits erkämpfte Gunst konnte schlagartig umgekehrt werden. Kulturelle Bedeutung wurde in der Kommunalwohnung im Konflikt, in seiner sich wiederholenden, kreativen und zugleich differenzbewussten Ausgestaltung von Repräsentation und Handlungsmacht hergestellt. Konflikt war nicht nur eine Strategie soziokultureller und politischer Auseinandersetzung unter den Kommunalkabewohnern, sondern darüber hinaus eine Widerstandsäußerung und -handlung gegenüber dem Staat. Diese Auseinandersetzung war ein Aspekt repräsentativer Selbstdarstellung, in der indirekt systematischer Widerstand gegen die unzulänglichen Lebens- und Wohnverhältnisse und mithin gegen das System und die Regierung geleistet wurde. Deshalb war es notwendig, konfliktreiche Spannungskonstellationen aufrechtzuerhalten und Widerstandsbewegungen im Konflikt zu ritualisieren. In gewisser Weise kann man dies als Inszenierung eines Gegenrituals betrachten.

29 1929 wurden Kameradschaftsgerichte (tovariščeskie sudy) eingeführt, in der Hoffnung, Konflikte außergerichtlich lösen zu können. Die Kameradschaftsgerichte waren für Fälle zuständig, »die alltägliche negative Seiten des Lebens der Bevölkerung widerspiegeln (Fälle von Trunkenheit, die mit Störung der öffentlichen Ruhe einhergehen, Skandale, Wohnungsrowdytum, das erstmalig begangen wird, u.ä.)« sowie für zivilrechtliche Streitigkeiten hinsichtlich der gemeinschaftlichen Nutzung von Küche und Korridoren und »über die innere Ordnung in den Wohnungen (Saubermachen, Öffnen und Schließen der Eingangstür u.ä.)«. Siehe Obertreis, a.a.O., S. 247.

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L IMINALITÄT , L ITERATUR INNOVATIVE KULTURELLE

UND R EFLEXION

Schon der russische Kultur- und Literaturkritiker Michail Bachtin bringt den Chronotopos30 der Schwelle mit dem Motiv der Begegnung in Verbindung und mit seiner wesentlichsten Ergänzung: dem Chronotopos der Krise und des Wendepunkts im Leben. Dabei führt Bachtin als Beispiel die von Dostojevskij eingesetzten Schwellen auf – wie die Treppe, das Vorzimmer, den Korridor sowie die Straße und den Platz – welche die wichtigsten Schauplätze seiner Werke bilden. Ähnlich sind in der Kommunalka die Treppe, der Korridor und die Küche – charakteristisch für die Straße und den Platz –: »die Orte, an denen es zu Krisen kommt, zum Fiasko und zur Auferstehung, zur Erneuerung, an denen Menschen sehend werden und Entschlüsse fassen, die ihr ganzes Leben bestimmen.«31 Wie die literarischen Beispiele im Folgenden zeigen werden, findet die gesellschaftliche wie die intime Auseinandersetzung an den Orten gemeinsamer Nutzung statt. Ähnlich heftet Turner der Liminalität ein signifikantes Vermögen kultureller Reflexion an und bezeichnet diese Phase als einen der wichtigsten und produktivsten Antriebe für kulturelle Innovation und Erneuerung. Turner schreibt: »Indeterminacy should not be regarded as the absence of social being; it is not negation, emptiness, privation. Rather it is potentiality, the possibility of becoming.«32 Die Liminalität und den Schwellenzustand hat Turner als seedbed of cultural creativity identifiziert, ein Moment, in dem die Regeln und

30 Bachtins Konzept des Chronotopos charakterisiert den Zusammenhang zwischen dem Ort und dem Zeitverlauf einer Erzählung. Als Analyseinstrument offenbaren Chronotopoi, wie menschliche Beziehungen, Handlungen und Bewusstseinsvorgänge in die Umwelt eingebettet sind und auf diese wirken. Das gleiche geschieht allerdings auch umgekehrt: Unterschiedliche Chronotopoi, d.h. historische Rahmenbedingungen, wirken auf zwischenmenschliche Beziehungen, Handlungen, Bewusstseinsvorgänge und Sinnzusammenhänge an bestimmten Orten. Dabei ist die zeitliche Komponente des Bachtin’schen Chronotopos mit dem Augenblick verhaftet, dem Moment der Begegnung. Siehe Bachtin, Michail: Formen der Zeit im Roman: Untersuchungen zur historischen Poetik, Frankfurt a.M. 1989. 31 Ebd., S. 198. 32 Turner, 1982, a.a.O., S. 77.

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Vorschriften vorübergehend suspendiert und gesellschaftliche sowie gemeinschaftliche Normen und Symbole (neu) bewertet und (neu) konzipiert werden.33 Liminalität bietet die Möglichkeit, symbolische Ordnungen durch Inversion und Entfremdung zu dekonstruieren, während gleichzeitig kulturelle Innovation vorangebracht wird. Turners dynamisches Ritualmodell bringt darüber hinaus die Wandlungsfähigkeit kultureller Bedeutungen und Symbole zum Ausdruck. Diese Gegebenheit wird von Clark für den sowjetischen Kontext bestätigt: If a writer wanted his novel to be published, he had to use the proper language […] and syntax […]. To do so was effectively a ritual act of affirmation of loyalty to the state. Once the writer had accomplished this, his novel could be called »party-minded«. But he had room for play in the ideas these phenomenon expressed because of the latent ambiguities of the signs themselves.34

Die Teilnahme am (offiziellen) Ritual schaffte also einen gewissen Bewegungsraum, der ein kodiertes Spiel mit Ideen und Gedanken erlaubte. Auch Turner sieht in der Literatur, die er als ein pseudoliminales Genre komplexer Gesellschaften bezeichnet, eine Interventionsmöglichkeit für den Prozess kultureller Symbolisierungen.35 Während es in der offiziellen sozrealistischen Literatur die Möglichkeit gab, von gewohnten Symbolisierungsvorgängen (inoffiziell) abzuweichen, war die satirische Literatur des Absurden und des Grotesken hingegen als Genre an sich pseudo-liminal. Satirische Werke begehen oft das ›Ritual der Inversion‹, in dem durch den Bruch der Konvention und einer damit ausgelösten Unordnung indiziert wird, dass Unordnung kein dauerhafter Ersatz für Ordnung ist.36 Mit Hinblick auf die Kapazität kultureller Selbstreflexivität, -deutung und Innovation spielen liminale kulturelle Performanzen, worunter Turner Literatur im Folgenden fasst, eine signifikante Rolle in komplexen Gesellschaften. Turner erläutert:

33 Vgl. ebd. 34 Clark, 2000, a.a.O., S. 13. Ein ähnliches Phänomen wurde im historischen Teil dieser Arbeit für den sozrealistischen Film beschrieben. Vgl. Schattenberg, a.a.O. 35 Vgl. Bachmann-Medick, 2006, a.a.O., S. 117. 36 Vgl. Turner, 1982, S. 40.

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The social drama, […] I regard as the experiential matrix from which the many genres of cultural performance, beginning with redressive ritual and juridical procedures, and eventually including oral and literary narrative, have been generated.37

Clark hingegen zeigt, dass die Zeichen der sowjetischen Literatur nicht die gleichen bleiben, weil sie einen vorgefertigten kulturellen Kode vertreten, sondern weil die gleichen Zeichen mit der Zeit die Polemik und das Dilemma der russischen Intelligenzler herausstellen, beginnend im mittleren 19. Jahrhundert und bis heute andauernd.38 In dieser Hinsicht ist die komplexe Beziehung zwischen literarischen und außerliterarischen Aspekten bezeichnend: Einerseits ist Literatur ein autonomes System mit eigenen Traditionen, welches neue Formen innerhalb dieser Traditionen entwickelt, andererseits jedoch ist die Interaktion mit außerliterarischen Elementen maßgeblich. Laut Katerina Clark interagiert Literatur mit vielen anderen Aspekten der Kultur, nicht nur mit dem Politischen und dem Ideologischen. In diesem Zusammenhang zitiert sie Bachtin (alias Medvedev), da er die Prozesshaftigkeit der Interaktion als dialektisch erkennt: The artistic work is […] drawn into the […] conflicts and contradictions [within the ideological horizon]. It is penetrated by and absorbs some elements of the ideological environment and turns away other elements external to it. Therefore, in the process of history, ›extrinsic‹ and ›intrinsic‹ dialectically change places, and, of course, do not remain unchanged as they do so. That which is extrinsic to literature today, is an extra-literary reality, can enter literature as an intrinsic, constructive factor tomorrow. And that which is literary today can turn out to be an extra-literary reality tomorrow.39

Das Leben und das Literarische durchdringen einander (also) ebenso, wie literarische und außerliterarische Faktoren einander wechselseitig bestimmen – in der offiziellen genauso wie in der inoffiziellen Literatur, die letztendlich beide pseudo-liminale Genres sind. Während die

37 Ebd., S. 78. 38 Vgl. Clark, 2000, a.a.O. 39 Medvedev, Pavel/Bakhtin, Michail: The Formal Method in Literary Scholarship: A Critical Introduction to Sociological Poetics, Übers. von Albert J. Wehrle, Baltimore 1978, S. 154.

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Haupthandlung des sozrealistischen Romans einem Ritual gleicht, das den Roman wie eine Parabel formt, die den Erfolg des MarxismusLeninismus in der Geschichte ritualgemäß wiederholt darstellt,40 möchte die Satire genau das Gegenteil erzielen, nämlich die gesellschaftskritische Auseinandersetzung mit der bestehenden Kultur und Gesellschaftsordnung. Dementsprechend gleicht sie einem Gegenritual oder einem Entgegenwirken oder der Aufhebung eines anderen Rituals und zeigt eine literarische Verbindung mit außerliterarischen Faktoren auf. Im Wesentlichen reflektiert Literatur Rituale, markiert Entfremdungen und Umkehrungen ritueller Inszenierungsstrukturen, parodiert sie oder bringt Fragmente ins Spiel. Die Beziehung der beiden entgegengesetzten Genres könnte man mit der Idee der Dichotomisierung des Raums bzw. des Territorialen verbildlichen: Der sozrealistische Roman territorialisiert, indem Grenzen definiert und vorgegeben werden, während die Satire de- oder entterritorialisiert und den (literarischen) Raum öffnet. Dennoch kann in beiden Genres eine innovative Öffnung des Territorialen stattfinden, wie Clark konstatiert. In diesem Zusammenhang möchte ich nochmals das Spiel hervorheben und betonen, dass für die sich wiederholende Spielbewegung des Hin und Her Grenzen und Regeln notwendig sind. Im Spiel gibt das einerseits als einschränkend wahrgenommene Regelwerk den Raum an, innerhalb dessen man sich bewegen muss, um das Spiel zu meistern und zu gewinnen. Zu Grenzen und dem Kulturellen schreibt Bachtin: Каждый культурный акт существенно живет на границах: в этом его серьезность и значительность; отвлеченный от границ, он теряет почву, становится пустим, заносчивым, вырождается и умирает. Jeder kulturelle Akt lebt wesentlich an Grenzen: Darin liegt seine Ernsthaftigkeit und Bedeutsamkeit; abstrahiert von den Grenzen, verliert er seinen Boden, wird leer, hochmütig, degeneriert und stirbt ab.41

40 Vgl. Clark, 2000, a.a.O. 41 Bachtin, Michail: »Problema soderžania, materiala i formy v slovensom chodožestvennom tvorčestve« in: ders.: Voprosy literatury i ėstetiki, Moskva 1975, 6-71, S. 25; dt. Version »Das Problem von Inhalt, Material und Form im Wortkunst-Schaffen« in: ders.: Die Ästhetik des Wortes, hg. von Rainer Grübel, Frankfurt a.M. 1979, 35-153, S. 111.

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Selbst Bachtin, dessen bezeichnendes Schlüsselkonzept unter anderem das Offene bzw. Nicht-Beendete ist, betont die Notwendigkeit von Grenzen, die für den kulturellen Akt eine definierende und bestimmende Akzentuierung enthalten. In ähnlicher Manier verweist Heidegger auf die Griechen, die erkannten, dass die Grenze keine Markierung ist, mit der etwas beendet wird, sondern jenes, »von woher etwas sein Wesen beginnt«.42 In diesem Zusammenhang möchte ich mich nochmals auf Katerina Clark beziehen, die nämlich genau diesen paradoxen Umstand des Sozrealismus erläutert: The system of signs is, simultaneously, the components of a ritual and a surrogate for the Aesopean language to which writers resorted in tsarist times when they wanted to outwit the censors. Thus, paradoxically, the very rigidity of Socialist Realism’s formations permits freer expression than would be possible if the novel were less ritualized.43

Erneut zeichnet sich ein dynamisches Bewegungsmuster zweier entgegengesetzter und sich widersprechender Pole ab. Im Außerliterarischen reflektieren das Konzept der ›Dualität von Struktur‹ (duality of structure) des Soziologen Anthony Giddens und das der ›Doppelfunktion von Widersprüchen‹ des Medientheoretikers Niklas Luhman diese dynamische Bewegung. Wie im kulturwissenschaftlichen Verständnis von Kultur als ›veränderungsorientiertem Prozess‹ wird in sozialtheoretischen Überlegungen von einem kreativen und konstitutiven, d.h. offenen und unbestimmten Charakter menschlichen Handelns ausgegangen, das im Gegensatz zu restriktiven Tendenzen bestehender Strukturen steht. Giddens geht nicht von einem von Gegensätzlichkeiten geprägten Dualismus aus, sondern von einer ›Dualität von Struktur‹, also einem doppelten Charakter von Strukturen: Strukturen wirken eingrenzend und zwanghaft, können jedoch auch eine befreiende Wirkung haben. Bezüglich Giddens’ Modell kommentiert der Soziologe Schroer:

42 Heidegger, Martin: »Bauen, Wohnen, Denken« in: ders.: Gesamtausgabe. I. Abteilung: Veröffentlichte Schriften 1910-1976, Bd. 7, Vorträge und Aufsätze, Frankfurt a.M., S. 156; Hervorhebung im Original. 43 Clark, 2000, a.a.O., S. 13.

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Strukturen setzen den Handelnden nicht nur Grenzen, sondern eröffnen ihnen auch Möglichkeiten, indem sie einen bestimmten Rahmen abstecken, innerhalb dessen ihnen die Gründe ihres Handelns bewusst sind und sie die Folgen ihres Tuns überschauen können. Die Strukturen stehen den Handelnden nicht mehr gegenüber, vielmehr fließen sie unmittelbar in ihre Handlungen ein, die wiederum zu neuen Strukturen führen.44

Hier wird auf eine gewisse Hybridität hingewiesen, d.h. eine Konstellation, in der sich zwei oder mehrere heterogene Handlungselemente vermischen und ein neues Handlungsverständnis bzw. einen neuen Handlungsablauf innerhalb gegebener Strukturen bilden und somit auf die dynamische Prozesshaftigkeit von Systemen hinweisen. Eine weitere Prozesshaftigkeit erkennt Luhman in der Reproduktion von Instabilität. Er hingegen konstatiert: Komplexe Systeme benötigen […] ein recht hohes Maß an Instabilität, um laufend auf sich selbst und auf ihre Umwelt reagieren zu können. […] [Widersprüche sind] Spezialeinrichtungen der Unsicherheitsamplifikation. […] Sie artikulieren die Kontingenzen, die dem System als doppelte Kontingenz zugrunde liegen […] [und forcieren Strukturwandel, indem sie] die Strukturen sprengen und sich selbst für einen Moment an ihre Stelle setzen.45

In der Kommunalwohnung wurde die Herstellung von Unsicherheit von beiden Seiten eingesetzt, die Mitbewohner untereinander und mit Repräsentanten des Systems in Dialog treten ließ: Monologische Ambitionen der Staatsmacht wurden im urbanen Alltag also unbeabsichtigt und zwangsläufig dialogisch. Mit dialogisch möchte ich nicht nur auf das zwischenmenschliche Gespräch verweisen, sondern auch auf das Dialogische im Sinne von Bachtin, der auf eine gesellschaftskritische Hinterfragung mitunter auch der eigenen Position innerhalb dieses unbestimmten und widersprüchlichen Systems hinweist. Hierbei ist jedes Wort eine Entgegnung im endlosen Dialog aller mit allen. Und in diesem Wort klingt die Stimme des Anderen mit. In seinem Manifest Kunst und Verantwortung verweist Bachtin darauf, dass Einzelne für

44 Schroer., S. 109. 45 Luhman, Niklas: Soziale Systeme. Grundriß einer allgemeinen Theorie, Frankfurt a.M. 1984, zitiert von Fuß, Peter: Das Groteske: ein Medium des kulturellen Wandels, Köln 2001, S. 24.

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die Architektonik ihres Lebens verantwortlich sind.46 Für Bachtin bedeutet Architektonik nicht nur die Systematisierung von Wissen im philosophischen Sinne, sondern auch die Konstruktion der eigenen Lebenswelt mit unterschiedlichen Fertigkeiten, die in der Interaktion mit Kunst und im konstanten Dialog mit der Umwelt und mit dem Anderen erlangt werden. An der kulturellen Grenze zwischen der alten und der neuen Lebensweise, der historischen Grenze zwischen der Vergangenheit und der Zukunft, der räumlichen Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, der systematischen Grenze zwischen Ordnung und Chaos und an der gesellschaftlichen Grenze zwischen Solidarität und Widerstand begeben sich die Bewohner in den Kommunalwohnungen in ein kulturelles Vakuum der momentanen Gesetzlosigkeit, der Liminalität: Die gegenwärtige Ordnung und ihre ›gewohnten‹ Grenzen zwischen offiziell und inoffiziell, oben und unten, Leben und Kunst, innen und außen werden momentan aufgelöst. Ein Moment, in dem der Literaturund Kulturwissenschaftlerin Doris Bachmann-Medick zufolge »die Vergangenheit für kurze Zeit negiert, aufgehoben oder beseitigt ist, die Zukunft aber noch nicht begonnen hat – einen Augenblick reiner Potentialität, in dem gleichsam alles im Gleichgewicht zittert.«47 Eine Liminalität dieser Art ist in den zwischenmenschlichen Beziehungen der Kommunalkabewohner, in der zeitgenössischen satirischen Literatur wie in die Wände der Kommunalwohnung eingeschrieben, die unterschiedlichste Dimensionen fusioniert: erstens die räumlich-topographische Zone des Übergangs an der tatsächlichen Türschwelle, der urbanen Übergangszone zwischen Öffentlichkeit und Privatheit und letzten Endes auch der gesamtgesellschaftlichen Übergangsphase von einem unmöglichen Wohnarrangement zu einer erhofften besseren Wohnsituation. Zweitens gibt es eine (räumlich-)zeitliche Dimension, in der sich die Vergangenheit in der Gegenwart mit Zukunftsvisionen an der Schwelle zur Zukunft vereint. Die neue und die alte Lebensweise kreuzen einander in dieser räumlichen und zeitlichen Überlagerung und beeinflussen entsprechend die dritte Dimension des Schwellenzustands, nämlich die (räumlich-)mentale Dimen-

46 Vgl. Bachtin, Michail: »Kunst und Verantwortung« in: ders.: Die Ästhetik des Wortes, Übers. von Rainer Grübel und Sabine Reese, Frankfurt a.M. 1979, S. 93-94. 47 Bachmann-Medick, 2006, a.a.O., S. 289.

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sion des Bewusstseins. Hier bewegen sich die literarischen Motive zwischen Traum und Wirklichkeit, und außerliterarische Faktoren bewegen sich zwischen Ideologie und Realität. Viertens ergibt der soziale Status im kommunalen und urbanen sowjetrussischen Raum eine weitere literarische wie außerliterarische Schwelle. Nicht zuletzt gibt es eine mediale Dimension der Schwelle: Das eigentliche Medium, in dem Informationen vom Künstler zum Leser übertragen werden, bedingt den Produktions- und Rezeptionsprozess, d.h. hier geht es um den Übergang von der produktiven Konstruktion zur rezeptiven Rekonstruktion.48 Als Übergangslösung der Wohnraumkrise wurde die Kommunalwohnung zunächst als vorübergehende Ausnahmesituation im Wohnungswesen betrachtet, denn durch den weiteren Bestand dieses speziellen Wohnarrangements wurde nicht nur die liminale Phase verlängert, sondern auch das Warten auf die laut Marx »im Gegensatz zur jenseitigen, im Himmel des Reichtums, residierenden menschlichen Wohnung«.49 Dieser kommunale Raum wurde von der Staatsmacht selbst ursprünglich als eine Übergangslösung und deswegen als eine Übergangszone kodiert. Turner konstatiert, dass ein Übergang von einem sozialen Status zu einem anderen oftmals von einem räumlichen Übergang begleitet wird – eine geographische Bewegung von einem Ort zu einem anderen. An dieser Schnittstelle wird Intimität mit dem Alltag verbunden, da das alltägliche Leben nicht vollkommen in abstrakten, virtuellen oder imaginierten Orten stattfinden kann.

48 Vgl. Overthun, Rasmus: »Freud’scher Witz und Kafkas Lachen. Täuschung und Entlarvung in Kafkas Die Sorge des Hausvaters« in: Geisenhanslüke, Achim/Mein, Georg (Hg.): Grenzräume der Schrift, Bielefeld 2008, 189-226, S. 196. 49 Marx zitiert in Benjamin, a.a.O., 1991.

Zeit/Raum(losigkeit)

[…] imaginings, freed from the constraints of bounded spaces and from the dictates of unilinear time, might dream of becoming, in Lenin’s words, ›as radical as reality itself‹.1

In Černyševskijs Roman Čto delat’? (Was tun? 1863) – einer der einflussreichsten Romane seiner Zeit, der wie kein anderer in der Geschichte der russischen Literatur das Leben der Menschen prägte – wird die komplexe und widersprüchliche Beziehung zwischen Illusion und Realität in die narrative Struktur des Romans eingeflochten. Eines der wichtigsten Leitmotive des Romans ist die Kluft zwischen täuschendem S(ch)ein und den wirklichen Bedeutungen von Dingen, die generell verborgen und uneindeutig sind.2 Hinter dem Anschein von Situationen steckt, laut Černyševskij, eine zweite ›eigentliche‹ Wirklichkeit, die meist das Gegenteil von der ursprünglichen ist. Die Narrationsstruktur des Romans reflektiert nicht nur seine Grundeinstellung, sondern auch eine strukturelle Komponente des zeitgenössischen gesellschaftlichen Diskurses über die räumlich-zeitliche Beziehung zwischen Realität und Illusion.

1

Buck-Morss, Susan: Dreamworld and Catastrophe: The Passing of Mass

2

Vgl. Paperno, Irina: Semiotika povedenija: Nikolaj Černyševskij – čelovek

Utopia in East and West, Cambridge, Massachusetts 2002, S. 278. ėpoxi realizma, Moskva 1996, S. 164; dies: Chernyshevsky and the Age of Realism, Stanford 1988, S. 192.

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Der bereits erwähnte Anspruch der sowjetischen Machthaber, Zeit und Raum zu überwinden und die spannungsreiche Gegenwart zwischen industrieller Modernisierung und agrarkultureller Rückständigkeit zu überspringen, um in der sowjetischen Moderne zu landen, setzte nicht nur entgegengesetzte und unkontrollierbare Kräfte des Aufbaus und der Zerstörung frei. Zwei gegenläufige Bewegungen in Zeit und Raum kamen zustande: einerseits eine enträumlichende Suspendierung und andererseits eine verräumlichende Stabilisierung. Beide Bewegungen erforderten eine gezielte Lenkung der dem Leben immanenten Ambivalenz. Raffinierte Täuschungsmanöver – die letztendlich vom offiziellen Oben wie vom inoffiziellen Unten eingesetzt wurden – schöpften ihre entscheidende Dynamik aus Gegensätzen und dienten einer spezifischen (stalinistischen) Sinnestäuschung, um eine innere Kohärenz der Sowjetideologie bzw. des Alltags herzustellen. Wenngleich eine gewisse Kontrolle von Seiten des Staates für das Regieren maßgeblich war, war es dennoch notwendig, gleichzeitig Räumlichkeiten zu entgrenzen sowie die lineare Struktur der Zeit zu überwinden. Diese Form der Entgrenzung forderte eine graduelle Überwindung, eine ästhetisch-sinnliche Bewegung von linear zu nonlinear hin zu multidimensional, die Personen in einen Schwebezustand zwischen Schein und Sein versetzte. Der orientierungslose Schwebezustand in einem »strukturlosen wogenden energetischen Kraftfeld«3 ist im Begriff des Werdens, im Liminalen und im Zwischenraum reiner Potentialität, an der zeit- und raumlosen Grenze zum Magischen.

S USPENDIERTE (T)R ÄUME Lebensweltliche Wahrnehmungsschemata werden in den hier analysierten Stücken Blaženstvo: son inženera Rejna (Glückseligkeit. Der Traum des Ingenieurs Rein, 1929-1934) und Ivan Vasil’evič (19341936) von Bulgakov widergespiegelt: Beide Stücke handeln von »geträumten Visionen alptraumhafter Realitäten«. 4 In beiden Stücken wird Zar Ivan der Schreckliche jeweils durch die Ingenieure Rejn und Timofeev, die beide in ihren Kommunalkazimmern mithilfe einer selbst

3

Böhme, Hartmut: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne, Hamburg 2006, S. 126.

4

Schröder, a.a.O., S. 79.

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konzipierten und selbstgebauten Zeitmaschine die Zeit erforschen wollen, in die Gegenwart katapultiert. Im Gegenzug dazu begeben sich die Ingenieure zusammen mit anderen Menschen, die sich gerade in der Kommunalwohnung befinden, auf geistige, multidimensionale Reisen. In Bezug auf seinen erfundenen Mechanismus erklärt Timofeev dem Sekretär der Hausverwaltung sein Vorhaben so: Просто-напросто я делаю опыты […] четырехмерное пространство, движение…

И

вообще…

я,

например,

хочу

пронизать

сейчас

пространство и пойти в прошлое. Ich mache schlicht und einfach Experimente […] vierdimensionaler Raum, Bewegung… und überhaupt… Ich will zum Beispiel jetzt den Raum durchdringen und in die Vergangenheit zurückgehen.5

Letztendlich kommt es zu unzähligen Missverständnissen und Pannen, so dass sich Rejn und Timofeev und ihre jeweiligen »zufälligen Gefährten«6 [случайных спутников] unvermittelt zwischen den »drei Wirklichkeiten«7 bewegen. Die Willkür der Maschine ist auf die unvollkommene Ordnung der Räumlichkeiten, in denen beide Schöpfer jeweils arbeiten und wohnen, zurückzuführen. Außerdem sind nicht nur die Räume, in denen sie wohnen (und arbeiten) unordentlich, sondern auch die Schöpfer selbst: Rejn trägt ölverschmierte Kleidung, ist unrasiert und vollkommen übernächtigt; Timofeevs Haare sind zerrauft und seine Augen rot vor Schlaflosigkeit. Jedoch werden auch diejenigen, die Ordnung schaffen wollen, in einen unordentlichen Zustand versetzt. Auf seinem gewöhnlichen Rundgang, um die Miete einzusammeln, erscheint der Sekretär der

5

Bulgakov, Michail: »Ivan Vasil’evič« in: ders.: Sobranie cočinenij, tom. ced’moj: Poslednie dni, Moskva 1999, 199-247, S. 208; »Iwan Wassiljewitsch« in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 10, Übers. von Thomas Reschke, Berlin 1994, 132-182, S. 141.

6

Bulgakov, Michail: »Blaženstvo« in: ders.: Sobranie cočinenij, tom. ced’moj: Poslednie dni, Moskva 1999, 34-82, S. 67; »Glückseligkeit« in: ders.: Gesammelte Werke, Bd. 10, Übers. von Thomas Reschke, Berlin 1994, 78-130, S. 115.

7

Ein von Gorkij geprägter Begriff für Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Siehe Schröder, 1994, a.a.O., S. 205.

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Hausverwaltung, Bunša-Korezki, im Hut seiner Frau, den der versehentlich aufgesetzt hat. In gesellschaftlichen Grundstrukturen, in denen Ehe, Familie und verwandtschaftliche Beziehungen dominieren, spielen Geschlechterdifferenzen eine wichtige, strukturierende Rolle. Entsprechend werden in liminalen Situationen Spezifika der Geschlechter durcheinandergebracht.8 Es mischen sich männliche und weibliche Merkmale im Raum, vergleichbar mit der Vermengung des Privaten und des Öffentlichen. In einer weiteren Szene wird dieses Durcheinander in ähnlicher Weise thematisiert. Aus Michelsons Kommunalkazimmer ruft Miloslavskij Michelson am Arbeitsplatz an, während er ihn ausraubt. Während des Telefongesprächs gibt er sich als eine mysteriöse Schauspielerin aus, die Michelson gern kennenlernen möchte. Durch das Telefonat und das Verstellen seiner Stimme suspendiert Miloslavskij nicht nur Michelsons räumliche Orientierung, indem er das Private (sein Zimmer) mit dem Öffentlichen (seinem Arbeitsplatz) räumlich und zeitlich verbindet, so dass Michelson zur gleichen Zeit in beiden Räumen gegenwärtig ist, sondern auch die Geschlechterordnung. Dabei täuscht Miloslavskij weibliche Eigenschaften vor, und in diesem liminalen Moment der zwischenmenschlichen Interaktion ist Miloslavskij weder männlich noch weiblich, sondern vereint beide Eigenschaften miteinander und erzeugt somit Verwirrung und Verunsicherung. In Bulgakovs grostesk-phantastischen Stücken kostümieren sich Menschen wie im Theater, wechseln Rollen – bewusst oder unbewusst – in einem unter den widersprüchlichen Umständen zeitlich und räumlich suspendierten Raum, ohne wirkliche Anhaltspunkte. Im außerliterarischen Kontext unterliegt der Raum dem Versuch der sowjetischen Regierung, ein allumfassendes Ordnungssystem herzustellen. Dieser Gegensatz reflektiert die verkehrte Welt, aus der Bulgakov in seinen phantastischen Stücken zwar eine genüssliche Verwechslungskomödie entstehen lässt, die im wirklichen Leben aber Orientierungslosigkeit und existentielle Verunsicherung erzeugt. Mit einer verkehrten Welt wird nicht nur das Groteske assoziiert, sondern auch Vorstellungen der Hölle und des Jenseits:

8

Vgl. Turner, 1987, a.a.O., S. 11.

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Die Angst, beim Schritt über die Todesschwelle aus aller klaren, vertrauten Ordnung der Schöpfungswelt ins Bodenlose hinauszufallen, ist tief in der Menschenseele verwurzelt.9

Dieses Bild des Bodenlosen erzeugt Bulgakov in seiner Beschreibung von Glückseligkeit (Blaženstvo), einem Stadtteil des zukünftigen Moskau: »In gewaltiger Höhe über der Erde eine riesige Terrasse mit Kolonnade.« [На чудовищной высоте над землей громадная терраса с колонадой.]10 Die Terrasse mit Kolonnade in gewaltiger Höhe über der Erde ist architektonisch gesehen ein Freisitz, eine Plattform, die zum Aufenthalt im Freien, d.h. in der Öffentlichkeit vorgesehen ist. Überdies deutet die Terrasse mit ihren Kolonnaden auf einen offenen, freien Raum sokratisch-platonischer Interaktion hin. In Bulgakovs phantastischen Stücken nimmt die verkehrte Welt unterschiedliche Dimensionen an, so dass die Grenzen zwischen Schein und Sein verschwimmen. Im wirklichen kommunalen Leben gab es unzählige Situationen unter den Kommunalkamitbewohnern in der Alltagsgestaltung und -bewältigung, die in ähnlicher Weise die Grenzen zwischen Schein und Sein verschwimmen ließen. In der folgenden, bezeichnenden Schilderung einer Informantin in Il’ja Utechins anthropologischer Studie wird diese Verflüchtigung der Grenzen im Raum widergespiegelt: … стоял холодильник около кухни, так он подменил апельсины, хорошие на гнилые. Количество штук было столько же … но все были гнилые. -- Что ему сказали? -- Он сказал, что он не менял. Ну, что ему я сказал? Я сказал, что апельсины подменены, что тут скажешь? Он же отрицает.11 … der Kühlschrank stand in der Küche, so hat er Orangen ausgetauscht, gute für verfaulte. Die Anzahl war die gleiche … aber alle waren verfault. Was haben Sie ihm gesagt? Er meinte, dass er sie nicht ausgetauscht hat. Nun, was sollte ich ihm dann noch sagen? Ich habe gesagt, dass Orangen ausgetauscht wurden, was sagt man dann? Er bestreitet doch alles.

9

Zitiert von Schulz, a.a.O., S. 382.

10 Bulgakov, a.a.O., S. 43; dt. Übersetzung, S. 89. 11 Utechin, 2004, a.a.O., S. 163; eigene Übersetzung ins Deutsche.

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Diese Art geringfügigen Diebstahls unter Kommunalkabewohnern war verbreitet, denn er war nur schwer nachvollziehbar, wenn der Täter nicht am Tatort auf frischer Tat ertappt wurde. Der Täter muss lediglich seine Schuld leugnen, so wird der Anklägerin jegliches Argumentationsmittel genommen. Auch wenn die ausgetauschten Lebensmittel in der Öffentlichkeit verwendet werden, kann der eigentliche Austausch nicht bewiesen werden. Der Angeklagte könnte erwidern, dass die Unterstellung lediglich eine (verfaulte) ›Frucht‹ der lebendigen Phantasie der Anklägerin sei (diese Taktik war nur bedingt mit gleichartigen Lebensmitteln möglich, nicht aber mit persönlichen Dingen). Hier versucht der vermutliche Täter eine Illusion zu erzeugen, indem er die Anklägerin wiederum einer starken Einbildungskraft beschuldigt und diese somit verunsichert. Mit einer derartigen Handlungsstrategie werden gewünschte Wirkungen hervorgerufen: einerseits eine sinnestäuschende Illusion den Nachbarn gegenüber und andererseits für sich selbst eine Steigerung im Wert der ›Lebens-Mittel‹. Durch die geschaffene Illusion wird der Überblick suspendiert, welche Orangen die ›wirklichen‹ Orangen sind. Es verschwimmen die Grenzen zwischen Eigentlichem und Falschem, zwischen Eigenem und Fremdem. In Bulgakovs phantastischen Stücken verschwimmen nicht nur Grenzen, sondern sie verschwinden sogar. Der literarische (T)Raum, den Bulgakov in seinem Theaterstück kreiert, ist, obwohl er für die Bühne gedacht ist, dennoch ein sehr offener Raum, der durch entsprechende literarische Zeichen vermittelt wird. Es verschränken sich das Imaginäre mit dem Sichtbaren sowie das Gedankliche mit dem Erlebten, für die Figuren genauso wie für den Rezipienten. Nachdem die jeweiligen Protagonisten ihre Maschinen das erste Mal vor anderen Menschen testen, bleibt beispielsweise eine dunkle Öffnung, wo die Wände zu den Nachbarzimmern waren. In dieser Öffnung erscheint in beiden Stücken Miloslavskij mit der Uhr des Nachbarn unterm Arm – eine unverkennbare Veranschaulichung der Schwelle von Raum- und Zeitlosigkeit. In Blaženstvo ist Miloslavskij konsterniert: Я извиняюсь, это я куда-то не туда вышел. У вас тут стенка, что ли, провалилась? Виноват, как пройти на улицу?

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Pardon, ich bin hier falsch. Hier ist wohl die Wand verschwunden? Pardon, wie komme ich hinaus?12

Obwohl der Raum entgrenzt worden ist, sucht Miloslavskij dennoch einen Ausweg. Rejn fragt den aus dem Nichts erschienenen Fremden: Да вы какой эпохи? Как вас зовут? Welcher Epoche gehören Sie an? Wie heißen Sie?13

In dieser mehrdeutigen und -dimensionalen Szene thematisiert Bulgakov das (Ver-)Schwinden der Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, eine generell empfundene Orientierungslosigkeit in Raum und Zeit, die fortwährende Suche nach einem Aus- oder Fluchtweg sowie die Uneindeutigkeit von Schein und Sein. Nun können suspendierte Grenzen einerseits die intendierte Grenzüberschreitung des Staatsapparates repräsentieren: die Einschränkung der Rechte des Einzelnen durch die Veröffentlichung des Privaten. Andererseits wird eine nicht intendierte Öffnung des Raumes von Seiten des Staatsapparats impliziert: die Suspension der Gesetze zu Gunsten des Einzelnen. In seinem gleichnamigen Buch benennt Agamben den Ausnahmezustand als einen leeren Raum, in dem Rechte und Gesetze aufgehoben sind, ein Zustand außerhalb und jenseits des Rechts. Ironischerweise kam ein rechtlicher ›Leerraum‹ gerade in der Kommunalwohnung zustande, die aufgrund ihrer unmenschlichen Menschendichte14 als eine Perversion des sowjetischen Lebens und Alltags betrachtet wird. Aufgrund der systemimmanenten Diskrepanzen und Ambivalenzen hatte dieser leere Raum relevante Auswirkungen sowohl auf das Subjekt als auch auf den Staatsapparat. Beide erlitten Verluste: Das Subjekt verlor seine Rechte und der Staat verlor seine Gesetze und somit Kontrolle.

12 Bulgakov, 1999, a.a.O., S. 41; dt. Übersetzung, S. 86. 13 Ebd., S. 41; dt. Übersetzung, S. 86f. 14 Umso mehr Mitbewohner ihren Alltag gestalten wollen, umso intensiver ist die Spannung innerhalb der Kommunalka. In einem Raum, in dem z.B. vor 40 Jahren 56 Menschen ihren Alltag zu gestalten versuchten, waren es vor 15 Jahren 33 und heute sind es nur noch 20. Vgl. Utechin, 2001, a.a.O.

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Neben Magie fungiert auch der Traum als ein Motiv der Kompensierung verlorener Kontrolle und der Suche nach einem Ausweg aus der Sinnlosigkeit: In Bulgakovs hier angeführten phantastischen Stücken geben sich Menschen einem vorgeschriebenen utopischen Pathos (Rausch? Delirium?) hin, das die »Wahr-Nehmung«,15 im eigentlichen Sinne des Wortes, beeinflusst: Sie sprechen wie im Fieber [вы бредите!], sind außer sich [Я вне себя!] und befinden sich allgemein in einem Ausnahmezustand. In dieser Hinsicht ist der Untertitel von Blaženstvo bezeichnend: сон инженера Рейна (Der Traum des Ingenieurs Rein). Im Traum als metapsychologischem Konzept ist die Grenze zwischen psychischem Erleben und körperlicher Sinneswahrnehmung aufgehoben, wodurch innere, psychische Prozesse auf die äußere, physische Realität übertragen werden. In Černyševskijs Roman Čto delat’? fungiert der Traum als ein Modell, welches die Beziehung zwischen Realität und Illusion im Roman darstellt, denn laut Paperno: во сне реальность получает адекватный »перевод« и рткрывается истинное значение событий, прячущихся под маской видимости. Все эти эпизоды проводят общую мысль о том, что иллюзия, или псевдореальность, тогда как истинная реальность открывается лишь благодаря

сложным

уственным

манипуляциям.

Таким

образом,

реальность становится доступной и управляемой лишь благодаря воздействию посредством инструментов сознания. in the dream reality is ›translated‹ to uncover the true meaning of events hidden by the mask of appearance. [It is] the general idea that the appearance of things points to illusion, or pseudo-reality, and leads to misunderstanding, whereas the true reality is revealed only by a mental manipulation of the elements of experience. Thus, reality becomes accessible to the instruments of mental control.16

Die Verhältnisse werden hier umgedreht: Der Augenschein weist auf eine Illusion hin, wobei die eigentliche Wirklichkeit nur anhand psychischer Manipulation des Erfahrenen deutlich wird. In diesem unein-

15 Noever, Peter: »Zum Thema« in: ders., a.a.O., S. 11. 16 Paperno, 1996, a.a.O., S. 166; engl. Übersetzung S. 195.

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deutigen Zustand wird das Unmögliche möglich, besonders wenn das Geträumte die Realität überschattet. Dennoch gibt es unterschiedliche Wahr-Nehmungen in der erlebten Wirklichkeit, obwohl der Traum lediglich eine Imagination ist. Im erweiterten Sinne weisen TraumWahr-Nehmungen auf Wünsche hin, werden aber auch als Prophezeiungen der Zukunft gedeutet. Träume bewegen sich demnach zwischen den drei von Gorkij spezifizierten Wirklichkeiten: Träume haben einen Gegenwartsbezug, in dem das Unbewusste reflektiert wird, zugleich werden Träume auch als Vorhersage der Zukunft interpretiert, in die Elemente aus der Vergangenheit aufgenommen werden. In Bulgakovs Stücken kehren der/die Protagonist(en) und der Leser nach einem traumhaften Exkurs, der Hauptgegenstand der jeweiligen Stücke ist, wieder in die ursprüngliche, wirklich gefährliche Situation zurück. Die Metapher des Traums nimmt hier zwei unterschiedliche, wenn nicht gegensätzliche Funktionen an: als Fluchtmöglichkeit (für die Figuren sowie die Rezipienten) vor der Gegenwart, aber auch als Kritik des Autors an einer apathisch-passiven Gesellschaft. Bulgakov setzt diese Thematik literarisch ein, um eine überlebenswichtige Funktion des Traums zu suggerieren: Verleugnung als Abwehrmechanismus. Allerdings weist er gleichzeitig auf die Passivität der Gesellschaft hin, auf den Widerwillen, aus einem Traum aufzuwachen, denn das Gegenstück zum Traum ist die Wirklichkeit. Und zwischen Traum und Wirklichkeit ist das Erwachen angesiedelt, jener liminale Moment, in dem Spuren des Traums noch nicht vollkommen verflogen sind, in dem man aber schon von der Traumwelt in die wirkliche, gegenwärtige Welt gezerrt wird. In dieser Hinsicht hat das Erwachen einen sehr starken Vergangenheitsbezug. Charms thematisiert die allgemein disparate Situation des hilfsund orientierungslosen Individuums in einer Welt ohne traditionelle ethische Grenzen, die unbeabsichtigt anarchisch geartet war. Dabei bildet das Absurde für Charms ein wichtiges Stilmittel, lebensweltliche Wahrnehmungs- und Erfahrungsschemata darzustellen: Absurde Literatur kostet Widersprüche aus oder baut widersinnige bis eigenlogische, hermetisch wirkende Welten auf. Diese Widersprüche können Momentaufnahmen aus dem Alltag sein oder das Verhältnis des Einzelnen zu einem ihm nicht mehr durchschaubaren ›System‹ betreffen; sie können den

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Prozeß einer Ich-Spaltung meinen oder das Mißverhältnis von Ideal und Wirklichkeit.17

Im Wesentlichen versucht das Absurde in der Literatur die (Zer)Störung des Sinns und Verstandes symbolisch darzustellen, indem es das Widersinnige oder Unsinnige bezeichnet. Charms thematisiert meist banale, alltägliche Situationen, in denen das Verhältnis des Einzelnen zu dem von Diskrepanzen durchdrungenen und mithin undurchschaubaren System geschildert wird. Hinzu kommt die Auflösung der persönlichen Identität, was in diesem Zusammenhang dem Gefühl nahekommt, nicht ein (ver)handelndes Subjekt zu sein, sondern ein verhandeltes.18 Menschen bewegen sich an einer menschlichen Grenze zum Bodenlosen, an der dem Subjekt die Unzulänglichkeit seines Wissens sowie seiner rationalen Methoden bewusst wird. In Charms’ Erzählung Son (Traum, 1936), die ich im Folgenden als Ganzes wiedergeben werde, ist der Protagonist Kalugin zwischen (Alp-)Traum und alptraumhafter Wirklichkeit angesiedelt: Калугин заснул и увидел сон, будто он сидит в кустах, а мимо кустов проходит милиционер. Калугин проснулся, почесал рот и опять заснул, и опять увидел сон, будто он идет мимо кустов, а в кустах притаился и сидит милиционер. Калугин проснулся, положил под голову газету, чтобы не мочить слюнями подушку, и опять заснул, и опять увидел сон, будто он сидит в кустах, а мимо кустов проходит милиционер. Калугин проснулся, переменил газету, лег и заснул опять. Заснул и опять увидел сон, будто он идет мимо кустов, а в кустах сидит милиционер. Тут Калугин проснулся и решил больше не спать, но моментально заснул и увидел сон, будто он сидит за милиционером, а мимо проходят кусты. Калугин закричал и заметался в кровати, но проснуться уже не мог. Калугин спал четыре дня и четыре ночи подряд и на пятый день проснулся таким тощим, что сапоги пришлось подвязывать к ногам

17 Görner, Rüdiger: Die Kunst des Absurden. Über ein literarisches Phänomen, Darmstadt 1996, S. 137. 18 Vgl. Kippenberg, Hans: »Magie« in: Cancik, Hubert (Hg.): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Stuttgart, Berlin, Köln 1998, 8598, S. 91.

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веревочкой, чтобы они не сваливались. В булочной, где Калугин всегда покупал пшеничный хлеб, его не узнали и подсунули ему полуржаной. А санитарная комиссия, ходя по квартирам и увидя Калугина, нашла его антисанитарным и никуда не годным и приказала жакту выкинуть Калугина вместе с сором. Калугина сложили пополам и выкинули его как сор. Kalugin schlief ein und träumte, er sitze in einem Gebüsch, und an dem Gebüsch gehe ein Polizist vorbei. Kalugin erwachte, wischte sich den Mund ab, schlief wieder ein und träumte wieder, er gehe an einem Gebüsch vorbei, und in dem Gebüsch sitze ein Polizist und verstecke sich. Kalugin erwachte, legte sich eine Zeitung unter den Kopf, um mit seinem Speichel nicht das Kopfkissen naß zu machen, und schlief wieder ein, und wieder träumte er, er sitze in einem Gebüsch, und an dem Gebüsch gehe ein Polizist vorbei. Kalugin erwachte, wechselte die Zeitung aus, legte sich wieder hin und schlief ein. Schlief ein und träumte wieder, er gehe an einem Gebüsch vorbei und in dem Gebüsch sitze ein Polizist. Hier erwachte Kalugin und beschloß, nicht weiterzuschlafen, schlief aber augenblicklich wieder ein und träumte, er sitze hinter einem Polizisten und vorbei gehe ein Gebüsch. Kalugin schrie auf und warf sich im Bett hin und her, aber aufwachen konnte er nicht mehr. Kalugin schlief vier Tage und vier Nächte lang, und am fünften Tag wachte er so abgemagert auf, daß er die Stiefel mit einer Schnur an den Beinen festbinden mußte, um sie nicht zu verlieren. In der Bäckerei, wo Kalugin immer sein Weißbrot kaufte, erkannte man ihn nicht und packte ihm heimlich ein Mischbrot ein. Und die Hygienekommision, die die Runde durch die Wohnungen machte, befand Kalugin für unhygienisch und überhaupt für unbrauchbar und befahl dem Mieterkollektiv, ihn zusammen mit dem Müll wegzukippen. Kalugin wurde in der Mitte zusammengelegt und wie Müll weggekippt. 19

19 Charms, Daniil: »Son« in: ders. Tom. I, Moskau 1994, S. 268; ders.: »Traum«, in: Fälle. Russisch/Deutsch, Übers. von Kay Borowsky, Stuttgart 1995, S. 30-33.

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Durch das Absurde findet Entfremdung auf unterschiedlichen Ebenen und Dimensionen dieser Erzählung Ausdruck. In den ersten Zeilen treffen Bedrohliches und Verspieltes aufeinander, was Charms literarisch gekonnt, fast akrobatisch, vertauscht und letztendlich vereint. In der Vereinigung weicht das Spiel mit dem Bedrohlichen der Allgegenwärtigkeit des Bedrohlichen – es wird unmöglich, zwischen Alptraum und alptraumhafter Wirklichkeit zu unterscheiden. Anfänglich ist das Spiel noch lustig, und es macht Spaß, Kalugin hinter dem verträumten Wortvorhang von Charms zu lokalisieren, der in seinem Traum nicht nur mit dem Polizisten, sondern auch mit dem Rezipienten Versteck spielt. Auf diese Weise wird der Leser aktiv am Versteckspiel beteiligt und muss aufpassen, nicht selbst im Gebüsch zu landen. Trotz der scheinbar gefahrlosen und unschuldigen Spielerei verbreitet sich dennoch schleichend ein unheimliches Gefühl. Diese wahrgenommene Unheimlichkeit bestätigt sich, indem eine natürliche Funktion des Körpers zum Zwang wird und der Mensch die Kontrolle über seinen eigenen Körper und dessen herkömmliche biologische Funktionen verliert. Der uneindeutige Verlust der körperlichen Kontrolle wird in diesem Text als vollkommen natürlicher Vorgang dargestellt, ohne bewussten Einfluss von außen. Eines der wichtigsten Merkmale total(itär)er Systeme ist meines Erachtens nicht nur der unbewusste, stete Verlust der Kontrolle (mitunter des eigenen Körpers), sondern auch die systematische Penetration und Aneignung des Körpers. Die äußere physische Realität wird auf innere psychische Prozesse übertragen. Für dystopische Literatur ist der Traum ein zentrales Motiv und wird primär mit der philosophischen Problematik der Kognition verbunden. Der prototypische dystopische Alptraum repräsentiert die staatliche Übernahme der Träume.20 Zuerst wird diese (alp)traumhafte Begebenheit in Charms’ folgendem befremdlichen Satz deutlich: Калугин закричал и заметался в кровати, но проснуться уже не мог. (Kalugin schrie auf und warf sich im Bett hin und her, aber aufwachen konnte er nicht mehr.) Obwohl er versucht sich vehement zu wehren, ist Kalugin hilflos dem Traum ausgeliefert, aufwachen kann er nicht mehr. Im Schlaf wie im wachen Zustand befindet sich Kalugin in einem Grenzzustand, gleichermaßen erfährt er allerdings eine Raumlosigkeit und somit eine

20 Vgl. Zholkovsky, Alexander: Text Counter Text: Rereadings in Russian Literary History, Stanford 1994, S. 252.

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Grenzenlosigkeit in Zeit und Raum. Tatsächlich scheint für Kalugin die Befindlichkeit im Dazwischen, im Moment des Erwachens, der sicherste Ort zu sein. Eigentlich will sich Kalugin genauso wie der Rezipient nicht auf das Versteckspiel und den Traum einlassen, denn wie sich herausstellt ist die Wirklichkeit nicht weniger bedrohlich. Während man beim Erwachen gewöhnlich von der Traumwelt in die wirkliche, gegenwärtige Welt gezerrt wird, ver-rückt Charms diese Perspektive und zerrt Kalugin wieder in die bedrohliche, absurde Traumwelt: Der Gegensatz von (alptraumhafter) Wirklichkeit ist hier der (Alp-)Traum. Im Zustand des Träumens verändert sich Kalugins Körper in der Wirklichkeit, und mit diesem nun verkommenen Körper kann er nach dem Erwachen nicht mehr am Alltagsleben teilnehmen, ein weiteres Merkmal des dystopischen Genres.21 Kalugins Bewusstsein scheint gleichfalls aus einem Traum zu erwachen und muss sich seinem in der Wirklichkeit verbliebenen Körper anpassen. Hier ist der Traum eine Metapher für das Unbewusste, im eigentlichen und übertragenen Sinne: für das Nichtwissende, Ohnmächtige sowie das Bewusstlose. Nachdem er zu sich kommt und sein Bewusstsein mit seinem Körper in Einklang ist, wird Kalugin nicht nur von seinen Mitmenschen und den Angestellten in der nachbarlichen Bäckerei nicht erkannt und wie ein Ausgegrenzter behandelt, sondern auch von den staatlichen Behörden wird er nicht anerkannt, die ihn schließlich verstoßen und wie einen unbrauchbaren, wertlosen Gegenstand vernichten. Charms’ Text funktioniert wie eine Spirale, deren ungewohnte Bewegung anfangs amüsierend ist, den Leser aber erfasst und mit zunehmender Geschwindigkeit und Enge immer tiefer mit in den Abgrund zieht. In dieser Erzählung behandelt Charms das Verhältnis des Einzelnen zu einem ihm nicht mehr durchschaubaren System, das sich aktiv seinen Körper aneignet, absorbiert und vernichtet. Kalugin erliegt dem System, indem er mit ihm identisch wird. Ein weiterer sich wiederholender Themenkomplex in den Texten von Charms ist die Automatisierung und Depersonalisierung des Menschen. Hier scheint Charms das Leben im Sinne des französischen Philosophen Henri Bergson zu konzeptionalisieren: Automatisierung und eine daraus entstehende Wiederholung ist ein Zeichen der Abwesenheit einer eigentlichen Lebenskraft. Entsprechend ist für Charms die

21 Vgl. ebd.

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Wiederholung ein entscheidendes literarisches Stilmittel, das seine grundlegende philosophische Einstellung widerspiegelt. Mit der mechanischen Wiederholung verbindet er die Isolierung und Leblosigkeit von Menschen, die durch eine daraus entstehende Automatisierung nicht mehr im Stande sind am gesellschaftlichen Leben teilzuhaben. Oft geht damit die Transfiguration einer Person zu einem Ding oder Objekt einher.22 Eine andere Erzählung, die das nicht durchschaubare System thematisiert sowie die unwillentliche Wiederholung, ist Charms’ Erzählung Optičeskij obman (Optische Täuschung, 1934). Die Erzählung beginnt im Stile seiner üblichen literarischen, sich wiederholenden Spielereien: Семен Семенович, надев очки, смотрит на сосну и видит: на сосне сидит мужик и показывает ему кулак. Семен Семенович, сняв очки, смотрит на сосну и видит, что на сосне никто ни сидит. Semjon Semjonowitsch setzt die Brille auf, schaut zur Kiefer und sieht: Auf der Kiefer sitzt ein Kerl und droht ihm mit der Faust. Semjon Semjonowitsch nimmt die Brille ab, schaut zur Kiefer und sieht, daß auf der Kiefer niemand sitzt.23

Diese Sequenz wird dreimal wiederholt und endet damit, dass Semen Semenovič »dieser Erscheinung nicht glauben [will] und […] sie für eine optische Täuschung [hält]« [не желает верить в это явление и считает это явление оптическим обманом].24 Erneut treffen das Bedrohliche und das Verspielte aufeinander, und im Dazwischen ist das Absurde angesiedelt: in diesem Falle zwischen Schuld und den im Verborgenen bleibenden Gründen der Schuld. Der Kerl im Baum, der Semen Semenovič von oben herunter droht, kann den Staat, die Gesellschaft oder das eigene Gewissen repräsentieren, aber auch gleichzeitig alle drei Ebenen. Indem der Kerl nicht weiter identifiziert wird, bleibt die Quelle der Drohung offen und unbestimmt. Auf der Suche

22 Vgl. Fink, a.a.O., S. 537. 23 Charms, Daniil: »Optičeskij obman« in: ders. Tom. I, Moskau 1994, S. 119; dt. Übersetzung, ders. 1995, a.a.O., S. 14-15. 24 Ebd.

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nach Wissen, Gewissen und Wahrheit setzt Semen Semenovič seine Brille auf, um sich der Wirklichkeit zu vergewissern. Allerdings vertraut er seinen (bebrillten) Augen nicht, denn bei manchen optisch getäuschten Sinneseindrücken können Objekte wahrgenommen werden, die in Wirklichkeit nicht vorhanden sind. Das wahrgenommene oder nicht wahrgenommene Objekt ist hier die herumlungernde, nicht identifizierbare Schuld, die letztendlich eine Spaltung der Persönlichkeit erzeugt, die von der Spaltung zwischen ideologischem Anspruch und alltäglicher Wirklichkeit herrührt. Semen Semenovič ist gezwungen, sich an den strengen sowjetischen Normkodex zu halten, der sowohl unantastbar als auch unausführbar ist. Und diese Unausführbarkeit im Schatten dieses strengen Normkodex ist es, die Schuldgefühle im durchschnittlichen Sowjetbürger auslöst, weil sich gleichermaßen die eigene Vorstellung von ›gut‹ und ›böse‹, von ›richtig‹ oder ›falsch‹ verflüchtigt. Zu diesem Zustand schreibt Joseph Brodskij: Ich meine die Ablehnung einer moralischen Hierarchie, nicht um einer anderen Hierarchie, sondern um eines Nichts willen. […] Ich meine nicht die gegenseitige Zerstörung zweier grundlegender menschlicher Kategorien – gut und böse –, das Ergebnis des Kampfes zwischen ihnen, sondern ihre gegenseitige Auflösung als Ergebnis ihrer Koexistenz. Genauer gesagt, meine ich ihre gegenseitige Annäherung.25

In dieser Passage beschreibt Brodskij einen dialektischen Prozess, die gegenseitige Auflösung und Vereinigung entgegengesetzter Pole in ihrer notwendigen und zwangsläufigen Koexistenz. Die Haltung der einzelnen Subjekte diesen Normen gegenüber ist ein moralisches Rätsel, das keine eindeutigen Lösungen hat. Indem sich grundlegende menschliche Kategorien auflösen, werden sie unscharf und können nicht mehr klar erkannt werden. Und wenn man meint sie zu erkennen, dann ist es, wie Semen Semenovič beteuert, eine optische Täuschung oder eine bedrohliche Illusion, die er eigentlich nicht wahr-nehmen möchte. Das gleiche gilt allerdings umgekehrt in Form von Wunschvorstellungen.

25 Zitiert von Guldimann, Tim: Moral und Herrschaft in der Sowjetunion. Erlebnis und Theorie, Frankfurt a.M. 1984, S. 229.

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Bulgakovs Untertitel zu Blaženstvo (Glückseligkeit), Der Traum des Ingenieurs Rein [сон инженера Рейна], deutet auf eine Wunschvorstellung von Rejn hin, die unter anderem von BunšaKorezki in der folgenden absurden Behauptung tatsächlich reflektiert wird: »In der Wohnung vierzehn [wird] schon geredet, Sie hätten eine Maschine gebaut, um damit der Sowjetmacht davonzufliegen« [Её зарегистрировать надо, а то в четырнадцатой квартире уже говорили, что вы токой аппарат строите, чтобы на нем из-под советской власти улететь].26 Rejn und seine zufälligen Gefährten fliegen an einen zeitlich weit entfernten Ort und finden dort eine traumhafte Welt, in der reiner Alkohol aus dem Hahn läuft [Но вот кран. По нему течет чистый спирт], wo soziale Herkunft keine Rolle spielt [Происхождение не играет роли] und wo es weder Genossenschaften (und damit verbundene Beitragsgebühren) noch eine Miliz gibt – der letzte Milizionär, ein Überbleibsel der letzten Epoche, »steht hinter Glas im Museum« [стоит под стеклом в музее].27 Die zufälligen Gäste aus der Vergangenheit interagieren mit den Einheimischen in der Zu(sammen)kunft und vergleichen die beiden Lebenswelten miteinander. Anna aus der zukünftigen, traumhaften Welt versteht die vergangene Welt, aus der Miloslavskij und Bunša kommen, überhaupt nicht: Простите, что я улыбаюсь, но я ни одного слова не понимаю из того, что вы говорите. Вы кем были в прошлой жизни? Entschuldigen Sie mein Lächeln, aber ich verstehe kein Wort von dem, was Sie sagen. Was waren Sie im früheren Leben?28

Gleichermaßen gibt es Unverständnis bei den Zeitreisenden: Милиц нет? Ну, это ты выдумал. А где же нас пропишут? Es gibt keine Miliz? Na, das bildest du dir ein. Wer soll uns denn sonst hier eintragen?«29

26 Bulgakov, 1999, a.a.O., S. 39; dt. Übersetzung S. 83. 27 Ebd., S. 69; dt. Übersetzung S. 117. 28 Ebd., S. 51; dt. Übersetzung S. 98. 29 Ebd.

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Nachdem Miloslavskij und Bunša für Anna darlegen, welche Verantwortung ein Sekretär der Hausverwaltung einer Mietergenossenschaft trägt, kommentiert sie nur: АННА (хохочет). Вы шутите! Ведь так с ума можно сойти! МИЛОСЛАВСКИЙ. Он и сошел! АННА. У меня голова закружилась. Я пьяна. А вы сказали, что от спирта нельзя опьянеть. ANNA lachend Sie scherzen! Dabei kann man ja verrückt werden! MILOSLAWSKI Er [Bunša] ist es auch geworden! ANNA Mir schwirrt der Kopf. Ich bin betrunken. Und Sie haben gesagt, von Sprit wird man nicht betrunken.30

Ob Annas Kopf nun wegen der verwirrenden und ver-rückten vergangenen Welt schwirrt oder aufgrund des Genusses reinen Alkohols, ist nicht klar. Diese Information wird dem Rezipienten vorenthalten. Durch die Aneinanderreihung der jeweiligen Äußerungen wird jedoch der Eindruck verliehen, dass Annas Kopf aufgrund der unglaublichen Zustände der Vergangenheit schwirrt. Auch Auroras Kopf schwirrt, seitdem sie in Kontakt mit den Reisenden aus der Vergangenheit ist, vor allem aber mit Rejn: Ты знаешь, я одержима мыслью, что мы с тобой улетим. И как только я подумаю об этом; У меня кружится голова […] Я хочу опасностей, полетов! Рейн, ты понимаешь ли, какой ты человек! Weisst du, ich bin von dem Gedanken besessen, mit dir wegzufliegen. Wenn ich nur daran denke, schwirrt mir der Kopf. […] Ich wünsche mir Gefahren, Flüge! Rein, weißt du überhaupt, was für ein Mensch du bist?31

Aurora wird von Gedanken besessen, mit anderen Worten: Sie wird von Gedanken verzaubert und ist ihnen gegenüber machtlos. Aurora lässt sich von ihren Gedanken verführen und vom Ort ewiger und unvergänglicher Glückseligkeit sowie sicherer Lebensverhältnisse wegführen: Sie sucht Gefahr und möchte fliegen bzw. fliehen. Mit dieser Abweichung und Verfremdung herrschender, mitunter auch morali-

30 Ebd. 31 Ebd., S. 58f.; dt. Übersetzung S. 105.

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scher Sinnes- und Wertsysteme wird der Rezipient irritiert und gleichzeitig dazu verleitet, die Widersinnigkeiten in der von Bulgakov entworfenen fiktiven Welt zu durchschauen. Seitdem sie in Berührung mit der Vergangenheit kam, schwirrt Auroras Kopf – die vergangene verrückte Welt provoziert auch in der Zukunft (magische) Auswirkungen. Wie im Traum ist es nicht immer eindeutig, in welcher Wirklichkeit sich Menschen bewegen, sogar die Miliz hat damit Probleme. Auch die Charms’schen Milizionäre bzw. Verfolger in Pobeda Myšina (1940) und Elizaveta Bam (1927), beides Erzählungen auf die ich später noch eingehen werde, geben dem Rezipienten in dieser Hinsicht keinen Anhaltspunkt. Die Haltung der offiziellen Repräsentanten des Systems ist nicht deutlich einzuordnen: Sie oszillieren scheinbar zwischen den zwei Fronten und suchen verzweifelt nach Grenzen im grenzenlosen, suspendierten Raum. Dem Rezipienten geht es genauso. Im Falle der Abwesenheit einer objektiven Instanz, besonders in Krisensituationen im Alltag, muss die Bevölkerung diese auf volkstümliche Art und Weise mit magischen Praktiken (z.B. Ritualen) und Kräften bewältigen. In diesem Zusammenhang bietet Carl Schmitt in seiner Auseinandersetzung mit der politischen Romantik anschlussfähige Überlegungen. Schmitt verwendet den Begriff der occasio, den er mit Anlass, Gelegenheit oder vielmehr mit Zufall umschreibt, um ihn zu definieren. Im Folgenden macht er einen faszinierenden Exkurs, inwiefern: das Occasionelle die Relation des Phantastischen ist […] des Rausches oder des Traumes, des Abenteuers, des Märchens und des zauberhaften Spiels. Aus immer neuen Gelegenheiten entsteht eine immer neue, aber immer nur occasionelle Welt, eine Welt ohne Substanz und ohne funktionelle Bindung, ohne feste Führung, ohne Konklusion und ohne Definition, ohne Entscheidung, ohne letztes Gericht, unendlich weitergehend, geführt nur von der magischen Hand des Zufalls, the magic hand of chance. In ihr kann der Romantiker alles zum Vehikel seines romantischen Interesses machen und – auch hier bald harmlos, bald perfide – die Illusion haben, dass die Welt nur ein Anlaß ist. In jeder andern geistigen Sphäre, auch in der alltäglichen Wirklichkeit, würde diese Haltung sofort lächerlich und unmöglich.32

32 Schmitt, Carl: Politische Romantik, München und Leipzig 1925, S. 25.

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Schmitt war kein Freund der entgrenzten Romantik, vielleicht eher ihr Feind. Allerdings hätte er die Folgen und Auswirkungen einer fehlenden Instanz und eines damit einhergehenden Abgleitens in das Grenzenlose und Unfassbare für den sowjetischen Kontext nicht besser beschreiben können. Im angeführten Zitat bringt Schmitt den Traum und das Phantastische mit Magie in Verbindung. Zwar sind magische Praktiken im eigentlichen Sinne keine ausgeführte Magie, sondern eher zukunftskündende, hilfs- oder schutzbringende Praktiken, dennoch erhoffen sich Praktizierende von Alltagsmagie ohne besondere magische Absichten33 eine Verwirklichung der jeweiligen Wunschvorstellungen. In Bulgakovs analysierten Stücken gibt es nicht nur ein Wechselspiel von Nähe und Distanz zwischen Menschen, sondern auch zwischen Mensch und Ding. Obwohl Rejn die Maschine hergestellt hat, ist es ihm nicht möglich, eine organische Nähe zu diesem Ding zu entwickeln. Die Maschine scheint unabhängig von Rejn zu agieren und eine eigene innere, natürliche Kraft zu haben. Solch eine gewaltige Krafterfülltheit ist ein Element des magisch-animistischen Weltbildes, eine Überzeugung, die der Ethnologe Marcel Mauss und der Soziologe Émile Durkheim mit dem Ethnologen Edward B. Tylor teilen: Unsichtbare Kräfte durchdringen alle Dinge und Lebewesen sowie die Welt als Ganzes.34 Rejns Maschine bestimmt als Aktant den Verlauf der Geschichte, d.h. als ein am Prozess der Handlung beteiligtes Ding. Die Maschine scheint entweder einem magischen Dynamismus zu folgen oder ihre (Eigen-)Macht auszuüben. Der magische Dynamismus speist sich aus einen Glauben an übernatürliche Eigenschaften eines bestimmten auserwählten und selbst angefertigten Gegenstandes sowie der Hoffnung, durch das funktionierende Objekt die Unordnung zu ordnen bzw. das Subjektive zu objektivieren. Hier kommt die Funktion des Gegenstandes der eines Fetischs nahe. Laut Hartmut Böhme wird der Begriff des Fetischs mit einer korrupten Objektbeziehung in Verbindung gebracht, ein Umstand, der auf Rejn und seine Maschine zutrifft. In der Definition des Fetisch-Begriffs fährt Böhm fort:

33 Vgl. Ruff, Margarethe: Zauberpraktiken als Lebenshilfe. Magie im Alltag vom Mittelalter bis heute, Frankfurt, New York 2003, S. 295. 34 Vgl. Böhme, 2006, a.a.O., S. 232.

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Vom Standpunkt säkularisierter Aufklärung wird mit Fetisch ein Ding bezeichnet, an das Individuen oder Kollektive Bedeutungen und Kräfte knüpfen, die diesem Ding nicht als primäre Eigenschaft (im Locke’schen Sinn) zukommen. Sondern sie werden ihm in einem projektiven Akt beigelegt – und zwar so, dass das Ding für den Fetischisten diese Bedeutungen und Kräfte inkorporiert wie ausstrahlt. Das aber sei Selbsttäuschung. Als ein bedeutendes und kraftgeladenes Objekt wird das Fetisch-Ding für den Fetischisten zu einem Agens, an das dieser fortan durch Verehrungs-, Furcht- oder Wunschmotive gebunden ist. Das Ding erhält damit Wirk- und Bindungsenergien. Diese Obligation durch eine pseudo-objektive Macht verhindert die Einsicht, dass es der Fetischist selbst ist, der den Fetisch und die Beziehung zu ihm kreiert.35

Die von Rejn gebaute Maschine repräsentiert die sowjetische Gesellschaft. Darin ist jede Person, um Stalins Worte zu gebrauchen, eine Schraube im riesigen Staatsapparat. Um das Funktionieren dieses Apparats in allen Bereichen zu sichern, müssen alle Schrauben gleich angezogen sein. Wenn dies nicht der Fall ist, dann gehen unterschiedliche Kräfte von den jeweiligen Schrauben/Menschen aus. Dies geschieht in einem Akt der Projektion: Innere Wünsche und Interessen werden in die Außenwelt bzw. in das Ding verlagert. Somit nimmt der Apparat bzw. die Gesellschaft unterschiedliche Funktionen für den jeweiligen Fetischisten an. Für Fetischisten ist der Animismus ein wichtiges Element ihrer Selbsttäuschung, und Magie ist die operative Seite des Animismus. Dieser Modus gilt gleichermaßen für Stalin wie für einzelne Bürger. Ein wichtiger Aspekt für Fetische ist ein magisches Milieu, szenische Einbettung und situative Präsenz,36 denn nur so werden sie zu einem produktiven Ereignis. Ihre Wirkkraft wird szenisch entfaltet, muss gewissermaßen erlebt werden, um den bestimmten Effekt zu haben. In ähnlicher Manier versuchte die russische Avantgarde ein magisches Milieu herzustellen, ein Moment, das in ihrem rationalistischen und konstruktiven Texten und Ankündigungen übersehen wurde und verloren ging. Laut Groys gab es ein kolossales Potential an Wünschen und Unbewusstem […]. Die Maschinen der russischen Avantgarde waren […] in Wirklichkeit Maschinen des Unbewuss-

35 Ebd., S. 17. 36 Vgl. ebd., S. 256.

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ten, magische Maschinen, Wunschmaschinen: Sie sollten das Unbewusste des Künstlers und des Betrachters bearbeiten […].37

Auch hier wird das immanente Paradox des Stalinismus deutlich. Während die einen Mitglieder der sowjetischen Gesellschaft zukunftsorientiert waren und die anderen vergangenheitsorientiert, blieb die Gegenwart auf der Strecke: Sie bildete nur eine Zwischenstation auf dem Weg in die Zukunft, eine Illusion der imaginierten Wirklichkeit. Diese Kondition ist in der Kunst der Avantgarde bzw. des sozialistischen Realismus reflektiert. Indem die Kunst (und mithin die Kultur und der Alltag) laut Groys »projektiv und nicht mimetisch« ist, »versinnbildlicht [sie] den kollektiven Traum von einer neuen Welt […] [und] sucht den aktiven Eingriff ins Leben.«38 Unter den gravierenden Diskrepanzen des alltäglichen Lebens in der Kommunalwohnung wurde automatisch der Versuch gestartet, Sinn herzustellen, was im Gegenzug in einem wenn auch unerträglichen, aber dennoch liminalen Vakuum vermutlich zwangsläufig zur »Supposition von Größen, die die vakante[n] Stellen zu besetzen imstande sind« führte.39 Nach Frankfort (Mythos und Wirklichkeit) ist das spekulative Denken bemüht, »das Chaos der Erfahrung zu unterbauen, so daß es sich als organische Struktur darstellt, als Ordnung, Zusammenhang und Sinn«,40 und so versuchen Menschen laut Malinowski, »die Unberechenbarkeit des Schicksals zu kompensieren und sich gegen Unglück zu wappnen«.41 So wird die Relevanz der Kondition, sich eine illusorische Wirklichkeit zu imaginieren, nicht nur für den Staat und die Kunst sichtbar, sondern auch für die Kommunalkabewohner.

37 Groys, Boris: Gesamtkunstwerk Stalin. Die gespaltene Kultur in der Sowjetunion, Übers. von Gabriele Leupold, München 1988, S. 130. 38 Ebd., S. 124. 39 Schulz, 2000, a.a.O., S. 390. 40 Ebd., S. 392. 41 Ebd.

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S YSTEMSTABILISIERENDE M AGIE Magie und Elemente des Magischen spielten eine maßgebliche Rolle in der radikalen Umbruchsphase, in der Raum- und Zeitkategorien der sich neu etablierenden Sowjetgesellschaft umgeworfen, umgekehrt und umdefiniert wurden. Laut Stockhammer hat Magie mehr Ähnlichkeiten mit Wissenschaft als mit Religion. Carl du Prel, ein deutscher Philosoph, definiert Magie als »unbekannte Naturwissenschaft.«42 Obwohl das Magische und das Religiöse mit dem Symbolischen, dem Rituellen und dem Spirituellen, also mit dem Transzendenten, in Verbindung gebracht werden, gibt es einen wesentlichen Unterschied: Während im Religiösen Einzelne religiösen Strukturen und Eliten untergeordnet sind, entwerfen im Magischen Einzelne eigene Deutungssysteme und damit assoziierte Rituale. Das Magische findet Ausdruck in der Bündelung realer, symbolischer und imaginärer Kräfte, die eine praktische Wirksamkeit oder einen erwünschten Zustand hervorbringen kann und soll. Im Rahmen dieser Studie ist es meine Annahme, dass im sowjetischen Kontext Phänomene der Magie und des Magischen sowohl für Machthaber als auch einzelne Bürger die Funktion übernommen haben, das Unbegreifliche und Irrationale einerseits fassbar und begreifbar zu machen und andererseits das aus den Fugen geratene Umfeld zu kontrollieren. In dieser Hinsicht sind die Absichten der Magier und Illusionisten mit denen der sowjetischen Regierung zu vergleichen: Sie versuchen Sinnestäuschungen zu erzeugen, um die Wahrnehmung ihres Publikums bzw. Bürger in eine vorgegebene Richtung zu lenken. Die forcierte Umsetzung utopischer Pläne und Konzeptionalisierungen führte somit nicht nur zu dystopischen Auswirkungen in der sowjetischen Gesellschaft, sondern auch zu illusorischen, die in inner- und außerliterarischen Konventionen aufzufinden sind. So wie Černyševskijs Narrationsstruktur strukturelle Komponenten des gesellschaftlichen Diskurses reflektiert, so spiegeln Bulgakovs und Charms’ Texte die grotesk-phantastische und absurde Poetik der Wirklichkeit wieder. Beide Autoren greifen Magie und Elemente des Magischen als literarische Motive auf. In Bulgakovs Texten überschneidet sich die Darstellung der vertrauten Alltagswelt mit bedrohlichen und

42 Stockhammer, Robert: Zaubertexte. Die Wiederkehr der Magie und die Literatur 1880 – 1945, Berlin 2000, S. 7.

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phantastischen Situationen: Das Phantastische wird mit realistischen Elementen so undurchschaubar verknüpft, dass der Leser dazu gezwungen wird, einen Sinnzusammenhang zu finden. Mithilfe der Phantastik und der extremen Übersteigerung kreiert Bulgakov eine undurchschaubare und absurde Welt, in der die Repräsentanten des sowjetischen Systems ebenso den Mechanismen einer entfremdeten, hochbürokratisierten Lebenswelt unterworfen sind wie die gewöhnlichen Bürger. Charms’ Geschichten sind bekannt für die Darstellung des sowjetischen Alltags in seiner Absurdität und Brutalität, die sich an der unangenehmen Grenze zwischen Komik und entsetzlicher Tragik bewegt. In der Kunst und im Absurden sucht Charms die wahre Illusion, ein Ansatz, der den mit Widersprüchen durchdrungenen Alltag widerspiegelt. Durch das Absurde wird in der Literatur die (Zer-) Störung des Sinns und Verstandes symbolisch dargestellt, indem es das Widersinnige oder Unsinnige bezeichnet. Das Wider- und Unsinnige ist aber Realität. In ihren Dramen und Erzählungen vereinen beide Künstler Form und Motivik, so dass die Doppeldeutigkeit ihrer Motivik und die des sowjetischen Alltags zum Vorschein kommt: Sie thematisieren die absurden und illusionistischen Eigenschaften der utopischen Vorhaben der Staatsmacht, gleichzeitig aber bieten Magie und Illusion in ihrem literarischen Verfahren und in ihren Geschichten einen Ausweg aus utopischen Zwängen. Illusionisten und Zauberer sind in gewisser Weise auf magische Kräfte angewiesen, um Sinnestäuschung oder eine gestörte Wahrnehmung realer Dinge zu erzielen: Mithilfe von Magie sollen Kenntnisse über die geheimen Kräfte der Natur erlangt und diese durch geeignete Techniken beherrscht werden.43 Unterschiedliche wissenschaftliche Untersuchungen schreiben Magie, insbesondere im Alltag, eine maßgebliche Rolle nicht nur in historischen, ›primitiven‹ und peripheren Kulturen zu, sondern auch in gegenwärtigen modernen.44 Das bezeichnende Fazit: Magie leistet eine gesellschafts- bzw. gemeinschaftsstabi-

43 Vgl. Haarmann, Harald: Die Gegenwart der Magie, Frankfurt a.M. 1992, S. 10. 44 Vgl. ebd.; Schulz, Monika: Magie oder Die Wiederherstellung der Ordnung, Frankfurt a.M. 2000; Haubrichs, Wolfgang (Hg.): »Magie und Zauber« in: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik, Heft 130 Jg. 33, Stuttgart u.a. 2003.

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lisierende Funktion. Schon in der hellenistischen Zeit wurde Magie die soziale Funktion der Krisenbewältigung im Alltag zugeschrieben.45 Im folgenden Ausschnitt von Charms’ Elizaveta Bam wird eine vergleichbar lebendige Naturkraft gebändigt: ПЁТР НИКОЛАЕВИЧ: […] Я у дверей расставил стражу, и при малейшем толчке Иван Иванович икнет в сторону. ЕЛИЗАВЕТА БАМ: Покажите. Пожалуйста, покажите. ПЁТР НИКОЛАЕВИЧ: Ну, смотрите. Предлагаю отвернуться. Раз, два, три. (Толкает тумбу.) ЕЛИЗАВЕТА БАМ: Еще раз, пожалуйста! Как это вы делаете? ПЁТР НИКОЛАЕВИЧ: Очень просто. Иван Иванович, покажите. ИВАН ИВАНОВИЧ: С удовольствием. ЕЛИЗАВЕТА БАМ: Да ведь это же прелесть как хорошо (кричит) Мама! Пойди сюда! Фокусники приехали. Pjotr Nikolaevič: […] Ich habe vor der Tür eine Wache stehen lassen, und bei der geringsten Bewegung bekommt Ivan Ivanovič den Schlucken. Elizaveta Bam: Zeigen Sies mal. Bitte zeigen Sie es mir. Pjotr Nikolaevič: Also schauen Sie zu. Drehen Sie sich um. Eins, zwei, drei. (Schlägt auf den Tisch.) Elizaveta Bam: Noch einmal. Bitte. Wie machen Sie denn das? Pjotr Nikolaevič: Ganz einfach. Ivan Ivanovič, zeigen Sie es ihr. Ivan Ivanovič: Mit Vergnügen. Elizaveta Bam: Aber das ist ja wunderbar, wie schön das ist. (Ruft) Mamaša, komm doch mal! Die Gaukler sind da.46

Petr Nikolaevič droht mit der körperlichen Reaktion von Ivan Ivanovič auf im Raum nicht erlaubte Bewegungen. Der Schluckauf entsteht demnach in einer zwischenmenschlichen Interaktion im Raum. Auf die Drohung der Verfolger reagiert Elizaveta spielerisch, indem sie Ivan Ivanovičs banale körperliche Funktion in ein Kunststück verwandelt: »Wie machen Sie denn das? Bitte zeigen Sie es mir.« Im gewöhnlichen Sinne ist eine Bündelung körperlicher Kräfte dieser Art keine

45 Vgl. Ruff, a.a.O., S. 13. 46 Charms, Daniil: »Elizaveta Bam« in: ders.: Polnoe sobranie sočinenij, Bd. 2, Sankt-Peterburg 1997, S. 238-269; ders.: Fälle. Prosa, Szenen, Dialoge, Übers. von Peter Urban, Frankfurt a.M. 1970, S. 82.

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außerordentliche Leistung, die dazu selten einschüchternd wirkt oder großen Respekt bewirkt. In Betracht der oben aufgeführten Definition von Magie jedoch ist dieser Schluckauf theoretisch wohl ein magischer Akt, denn Ivan Ivanovič beherrscht die geheimen Kräfte der Natur und macht sie sich zunutze, wie auch Elizaveta, indem sie die Perspektive ver-rückt und Gefahr in ein Spiel verwandelt und dabei kurzzeitig die Gefahr entschärft. Historisch wurde Magie und Zauberei als ein konzeptuelles System zur Beherrschung und Kontrolle von unterschiedlichsten Naturkräften eingesetzt, unter anderem zum Schutz der eigenen Person oder zur Abwehr feindlicher Mächte. Als Schutzwirkung erfüllt magisches Handeln nicht nur für Einzelne eine wichtige psychologische Funktion, sondern stärkt und stabilisiert darüber hinaus den gemeinschaftlichen Zusammenhalt. Laut Malinowski übernimmt Magie die Aufgabe, »den Optimismus der Menschen zu ritualisieren und seinen Glauben an den Sieg der Hoffnung über die Furcht zu stärken.«47 Das absurde Theaterstück Elizaveta Bam ist zum Beispiel eine Momentaufnahme aus der Alltagswelt von Elizaveta, der Moment, in dem es an der Tür klopft und die Stimmen der Verfolger Elizaveta in die politische Rhetorik und in das Machtgefüge integrieren.48 Genau in diesem Augenblick spielt sich in ihrem Kopf der Hauptteil des Theaterstücks ab. In ihrer momentanen Illusionsbereitschaft und -fähigkeit zeigt sich der Trieb zum Absurden inmitten totaler Sinnleere und eines Überwältigtseins vom Sinnlosigkeitsgefühl – Raum, Zeit und Handlung sowie Wirklichkeit und Illusion fallen zusammen und bilden eine Einheit.

47 Zitiert von Haarmann, a.a.O., S. 44. 48 Diese Stimme ist eine normative, aggressive wie repressive Stimme, eine Stimme des Gesetzes. Im Moment der Anrufung wird das Subjekt automatisch in die politische Rhetorik integriert, und in dieser Begegnung sieht Judith Butler neben verletzenden auch befähigende Wirkungen, denn gerade durch die Integration in das Machtgefüge, dem es entgegentritt, erlangt das Subjekt Handlungsvermögen und Potential. Dabei stützt Butler sich auf Althussers Konzept der Anrufung bzw. Interpellation. Vgl. Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg, Berlin 1977; Butler, Judith: Körper von Gewicht: Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, dt. Übersetzung von Karin Wördemann, Frankfurt a.M. 1997.

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In Elizaveta Bam werden zwei unterschiedliche Darstellungsebenen erkennbar: erstens der von Charms kreierte absurde Raum als Produkt Elizavetas eigener Einbildung und stabilisierender Vision mit dem »Glauben an den Sieg der Hoffnung über die Furcht«,49 und zweitens die Absurdität als Folge zwischenmenschlicher Interaktionen in einem ungeklärten, ambivalenten totalen Raum, der sich zwischen Sinn und Unsinn, Vernunft und Unvernunft sowie zwischen Ordnung und Unordnung bewegt. In diesem Zusammenhang fungiert das literarische Motiv der Magie und Zauberei nicht nur als Gegenpol einer von Technik und Wissenschaft bestimmten Lebenswelt, sondern auch als ein zeitloser, visionärer Raum der Potentialität, in dem Wissen, Gewissen und Wahrheit eine Frage der offenen Interpretation in der zwischenmenschlichen Alltagsgestaltung im Wohnraum der Kommunalka sind. In dieser Einheit, in der Raum, Zeit, Handlung, Wirklichkeit und Illusion konvergieren – einem zeitlosen, visionären Raum der Potentialität –, findet eine perspektivische Verschiebung statt, und Elizaveta entwickelt solidarische Reflexionen. Sie ist in der Lage, sich vorzustellen, dass nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Verfolger Ivan Ivanovič und Petr Nikolajevič Angst haben. Diese Angst tritt aufgrund eines Überlebenstriebs und einer inhärenten Existenzangst auf: ИВАН ИВАНОВИЧ: Такой уж я человек, что все меня гоняют. За что, спрашивается? Украл я, что ли? Ведь нет! Елизавета Эдуардовна, я честный человек. У меня дома жена. У жены ребят много. Ребята хорошие. Ivan Ivanovič: Ich bin nun eben ein Mensch, der von allen gejagt, von allen verfolgt wird. Fragt sich nur – warum. Habe ich gestohlen? Nein. Elizaveta Eduardovna, ich bin ein anständiger Mensch. Ich habe Familie. Meine Frau hat viele Kinder. Gute Kinder.50

Elizavetas Verfolger ist lediglich ein Mensch, der genauso unter Existenzangst leidet. Existenzangst ist auch der Grund, warum es im Stück Elizaveta Bam unter den Verfolgern zu konfliktreichen Auseinandersetzungen kommt. Eigentlich ist es Ivanovičs und Nikolajevičs Aufga-

49 Malinowski zitiert von Haarmann, a.a.O., S. 44. 50 Charms, 1997, a.a.O., S. 245; dt. Übersetzung S. 83.

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be, Elizaveta eines Verbrechens anzuklagen und sie zu verhaften, aber sie verfallen in einen Rausch gegenseitiger Beschuldigungen. Ivan Ivanovič vertritt verstärkt die Ansicht, dass sie alle schließlich anständige, gute Menschen sind, die zu unanständigen und unvernünftigen Dingen gezwungen werden. Seine Frau ist eine Metapher für ›Mütterchen‹ Russland, die viele Kinder hat, gute Kinder. Sie alle gehören der gleichen Familie an und bilden somit in gewisser Weise eine Schicksalsgemeinschaft. In diesem Textfragment hebt Charms das ambivalente Oszillieren zwischen familiärer Nähe und gesellschaftlicher Distanz hervor und verbindet damit eine intensive Erfahrungssimulation. Magisches Denken und magische Handlungen werden als eine rückständige, abergläubische und primitive Weltanschauung betrachtet. Genau das Gegenteil trifft allerdings zu: Magische Verhaltensweisen entsprechen einer mitunter rationalen Handlungsstrategie, die eine Person anwendet, um gewünschte Wirkungen zu erreichen. Frühe Anthropologen und Ethnographen wie Tylor, Malinowski und EvansPritchard51 haben versucht, die Rolle der Magie als ein methodisches Paradigma für nicht-westliche bzw. fremde Denkformen zu nutzen. In ihrer gesellschaftlichen Rolle übernimmt Magie eine rationale Funktion, die, wie Malinowski konstatiert, »ein zweckrationales Verhalten gegenüber übernatürlichen Mächten«52 sein kann. Laut EvansPritchard unterliegt »jedem magischen Ritual […] ein rationaler Denkprozeß. Das Ritual der Magie folgt aus der Ideologie.«53 Rationalität ist im Wesentlichen kontextuell bedingt und wird zu Zwecken eingesetzt, die von Handelnden selbst determiniert werden. In der soeben beschriebenen Szene bei Elizaveta Bam werden beispielsweise die Kräfte von zwei entgegengesetzten Seiten, d.h. von Petr Nikolaevič

51 Vgl. Evans-Pritchard, Edward: Witchcraft, Oracles and Magic among the Azande, Oxford 1937; Malinovski, Bronisław (1925): Magie, Wissenschaft und Religion. Und andere Schriften, Frankfurt a.M. 1973; Tylor, Edward Burnett (1871): Religion in Primitive Culture, Reprint, New York, London 1958. 52 Zitiert von Kippenberg, Hans G.: »Einleitung: Zur Kontroverse über das Verstehen fremden Denkens« in: ders./Luchesi, Brigitte (Hg.): Magie. Die sozialwissenschaftliche Kontroverse über das Verstehen fremden Denkens, Frankfurt a.M. 1978, 9-51, S. 28. 53 Ebd., S. 32.

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und von Elizaveta, angewandt und situationsbedingt für eigene Zwecke umkodiert. Laut Brückner ist Magie der Inbegriff menschlicher Handlungen, die auf gleichnishafte Weise ein gewünschtes Ziel zu erreichen suchen; dann die dahinstehende magische Denkform; im besonderen Sinne ein rationalisiertes und konventionalisiertes System von zwingenden Handlungen, bei denen naturwissenschaftlich nicht fassbare, aber von den Handelnden angenommene ›übernatürliche‹ Kräfte beansprucht werden.54

Im tendenziell hoffnungslos ungeordneten sowjetischen Raum bietet Magie ein kleines bisschen Hoffnung. Laut dem Soziologen Hans Kippenberg werden Hoffnung und Optimismus in der Magie ritualisiert, hierbei treiben Emotionen […] den Menschen zu Ersatzhandlungen und hinterlassen bei ihm eine tiefgreifende Gewissheit ihrer Wirklichkeit. Diese Illusion wird aber durch die Erfahrung nicht diskreditiert.55

Jede Handlung hat, laut Max Weber, direkt oder indirekt den Zweck, biologische oder kulturelle Befriedigung herzustellen.56 Im sowjetischen Fall ist es ein biologisches und kulturelles Bedürfnis, die Missstände in der Gesellschaft aufzuheben. Angewandte Magie ist nicht nur ein kompensierendes Ersatzverhalten, sondern soll die ver-rückte Weltordnung wieder zurechtrücken. Zur Orientierung dient dabei die Vergangenheit als sinnsetzende und normative mythische Geschichte.57

D IE

UNVERGÄNGLICHE

V ERGANGENHEIT

Für Bulgakov ist die Vergangenheit eine richtungsweisende Instanz, und besonders ausgeprägt ist sein Rückbezug in den zueinander in Beziehung stehenden phantastischen Stücken Blaženstvo: son inženera

54 Zitiert von Haarmann, 1992, a.a.O., S. 18; Brückner, 1970, a.a.O., S. 786. 55 Kippenberg, 1995, a.a.O., S. 27f. 56 Zitiert von ebd., S. 29. 57 Vgl. Schulz, 2000, a.a.O., S. 388.

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Rejna (Glückseligkeit. Der Traum des Ingenieurs Rein, 1929-1934) und Ivan Vasil’evič (1934-1936). In beiden Stücken wird Zar Ivan der Schreckliche durch die jeweiligen Ingenieure Rejn und Timofeev, die beide in ihren Kommunalkazimmern mithilfe einer selbst konzipierten und selbstgebauten Zeitmaschine die Zeit erforschen wollen, in die Gegenwart katapultiert. Im Gegenzug dazu formen die drei Hauptfiguren – der eigensinnige, von Idealen getriebene Wissenschaftler, der tollpatschige Funktionär sowie der raffinierte Überlebenskünstler – eine Schicksalsgemeinschaft, die in der als Kulisse fungierenden Kommunalwohnung aufeinandertrifft und unverhofft zusammen auf Zeitreisen geht: einmal in die Zukunft (Blaženstvo: son inženera Rejna) und einmal in die Vergangenheit (Ivan Vasil’evič). Alle haben ihre eigene Wahr-Nehmung der er- und gelebten Wirklichkeit: Entweder wird die sowjetische Version der Wahr-Nehmung anerkannt und befürwortet, wie vom Funktionär; oder es wird nach der ›nackten Wahrheit‹58 gesucht, wie es sich die beiden Ingenieure mithilfe der Wissenschaft vornehmen; oder beide Varianten werden geschickt situationsund interessenbedingt miteinander vereint, verkörpert durch den Lebenskünstler Miloslavskij, eine pikareske Figur. Alle drei Figuren befinden sich nichtsdestotrotz auf der Suche nach der (nackten) Wahrheit, jeder auf seine eigene Weise. In den Stücken will Bulgakov zeigen, dass niemand der Vergangenheit entkommen kann, egal wie er oder sie geartet ist oder zu welcher Wahr-Nehmung sie sich bekennen. Auch andere sowjetrussische Schriftsteller nehmen die Metapher der unvergänglichen Vergangenheit auf. So wird zum Beispiel bei Il’f und Petrov in Zolotoj telënok (Das goldene Kalb, 1931) das große sowjetische Staatsunternehmen ›Herkules‹ in einem ehemaligen Hotel mit einer bürgerlichen Vergangenheit untergebracht, das in folgender Weise charakterisiert wird:

58 Agambens Philosophie von rechtsfreien Räumen und der Reduzierung von Menschen auf ihr ›nacktes Leben‹ möchte ich auf die Redewendung ›nackte Wahrheit‹ übertragen. In diesem (Ausnahme-)Zustand der widersprüchlichen Gegensätze in aufgrund der Widersprüche rechtsfrei gewordenen Räumen, die zugleich hochpolitisiert und -ideologisiert sind, werden Menschen dazu gezwungen, auf ihren gesunden Menschenverstand zurückzugreifen, um im Prinzip der Vernunft die eigentliche Wahrheit zu finden, die nackte, ihrer ideologischen Bestimmungen entkleideten Wahrheit. Siehe Agamben, 2002, a.a.O.; 2004, a.a.O.

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Как ни старались часто сменявшиеся начальники изгнать из »Геркулеса« гостиничный дух, достигнуть этого им так и не удалось. Как завхозы ни замазывали старые надписи, они все-таки выглядывали отовсюду. То выскакивало в торговом отделе слово »Кабинеты«, то вдруг на матовой стеклянной двери машинного бюро замечались водяные знаки »Дежурная горничная«, то обнаруживались нарисованные на стенах золотые указательные персты с французским текстом »Для дам«. Гостиница перла наружу. So sehr sich auch die oft wechselnden Vorgesetzten bemühen mochten, dem »Herkules« den Hotelgeist auszutreiben, es wollte ihnen einfach nicht gelingen. So oft auch die Hausmeister die alten Aufschriften übermalten, sie schauten überall wieder hervor. Bald sprangen einem in der Warenabteilung die Worte »Chambres separèes« entgegen, bald machten sich auf der matten Glastür des Maschinenraums die Wasserzeichen »Diensthabendes Stubenmädchen« bemerkbar, dann zeigten sich an den Wänden die goldenen Zeigefinger mit der Aufschrift »Pour les dames«. Überall trat das Hotel wieder an die Oberfläche.59

In diesem Textfragment soll das alte Gebäude lediglich durch Überstreichen mit Farbe umfunktioniert werden. Dabei kommt das Alte aber immer wieder zum Vorschein, es wird eine fast aggressive Unbeständigkeit oder eine beständige Vergangenheit beschrieben. Die Veranlagung, alte Gegenstände zu verwerten und umzufunktionieren, hatte auch Benjamin in seinen Moskauer Aufzeichnungen (1927) beobachtet, ein Thema, auf das ich im nächsten Kapitel ausführlicher eingehen werde. Als provisorische Übergangslösung der bestehenden Wohnraumkrise wurde die Kommunalwohnung auf vergleichbare Art und Weise umfunktioniert. Auch Boris Jampol’skij beschreibt ca. zwei Jahrzehnte später eine gewisse hartnäckige Unvergänglichkeit, die sich, auch wenn sie zeitlich später einzuordnen ist, aufgrund der unendlichen gesellschaftlichen und baupolitischen Missstände bemerkbar macht: Давным-давно, пожалуй, с тех пор как хозяин особняка, чайный фабрикант, сбежал от революции в Париж, ни маляры, ни плотники, ни кровельщики не касались стен дома, и давно отпала гипсовая лепка […].

59 Il’f, Il’ja/Petrov, Evgenij: Zolotoj telenok, Moskva 1971, S. 115; ders.: Das Goldene Kalb, Übers. von Alexander Schmidt, Wiesbaden 1966, S. 130.

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Только под 1 Мая приходили маляры с длинными кистями и, вися в подвешенных к крыше люльках, распевая песни, красили фасад в старый, барский фисташковый цвет, правда, не в чистый, благородный фисташковый XVIII века, а в несколько грубый, несколько нахальнояркий, аляповатый […]. Дождь скоро смывал эти румяна, и дом стоял, как пожилая красуля, вдруг вздумавшая румянить щеки, и слези текли грязными старческими подтеками. Seit unvordenklichen Zeiten, wohl schon seit der Besitzer der Villa, ein Teefabrikant, vor der Revolution nach Paris geflüchtet war, hatte das Haus weder Maler noch Zimmerleute noch Dachdecker gesehen, der Gipsstuck war längst abgefallen […]. Nur zum Ersten Mai kamen Maler mit langen Pinseln und strichen singend in am Dach befestigten Hängesitzen die Fassade mit dem alten herrschaftlichen Pistaziengrün, das freilich nicht das reine, edle Pistaziengrün des 18. Jahrhunderts, sondern ziemlich grob, aufdringlich grell und geschmacklos war […]. Der Regen spülte die Schminke bald wieder ab, und das Haus stand da wie eine in die Jahre gekommene Schöne, der es plötzlich eingefallen ist, sich die Wangen zu schminken, und der die Tränen schmutzige Bahnen auf die Greisenhaut ziehen.60

Jedoch ist die Unvergänglichkeit der Vergangenheit nicht nur auf die baupolitischen Missstände zurückzuführen, sondern, wie beide oben aufgeführten Beispiele von unterschiedlichen Autoren veranschaulichen und bekräftigen, Geschichte ist in die Wände der Räumlichkeiten eingeschrieben. Dabei widerfährt der Sowjetregierung das Gleiche wie der in die Jahre gekommenen Schönen: Sie kann ihr Alter bzw. ihre Vergangenheit nicht verbergen. Es findet eine zeitliche Vermengung der ›drei Wirklichkeiten‹ im Raum statt. Bulgakov versinnbildlicht diese interagierenden Kräfte als einen Wirbel der Maschine, von dem die drei Protagonisten gepackt und in den Stadtteil ›Glückseligkeit‹ des zukünftigen Moskaus geschleudert werden. Sie kommen an einem Ort »in gewaltiger Höhe über der Erde [auf] eine[r] riesige[n] Terrasse mit Kolonnade« an [На чудовищной высоте над землей громадная терраса с колонадой].61 Miloslavskij muss erneut fragen: »Wo bin ich nur hingeraten?« [Куда ж это меня занесло?] Nun hat auch Rejn jegliche Orientierung verloren: »Wo sind

60 Jampol’skij, a.a.O., S. 49; a.a.O., S. 12. 61 Bulgakov, 1999, a.a.O., S. 43; dt. Übersetzung S. 89.

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wir?« [Где мы?]62 Hier spielt Bulgakov nicht nur mit dem Vorstellungsvermögen seiner Helden, sondern auch mit dem des Lesers: In beiderlei Hinsicht erzeugt und überträgt er eine labile Beziehung zu Raum und Zeit. Hier verschmelzen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – Zeitmodi fallen zusammen und die einheitliche Raum-ZeitStruktur wird zerstört. Wir befinden uns als Rezipienten also in Moskau in gewaltiger Höhe über der Erde auf einer Terrasse, eigentlich in der Zukunft, aber die Terrasse ist mit einer Kolonnade ausgestattet, die als architektonisches Element wiederum stark mit der Vergangenheit in Verbindung gebracht wird und vielmehr noch mit Orten der Mythologie. Dies leuchtet ein, insofern der Hauptgegenstand mythologischer Geschichten die Erschaffung der Welt sowie Prozesse der Zerstörung und Erneuerung sind. Primär werden diese (Schaffens-)Prozesse in Verbindung mit dem Kampf unterschiedlicher Mächte bzw. Kräfte ausgetragen. So wird in der zukünftigen ›Glückseligkeit‹ die gegenwärtige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit ausgetragen, die durch die Kampfansage der sowjetischen Regierung gegen die rückständige Agrarkultur und das bourgeoise Bürgertum akut wird. Als die drei Zeitreisenden ankommen, weist zerbrechendes Glas auf eine offensive und mitunter bedrohliche Grenzüberschreitung. Die Zeitreisenden werden nämlich unverhofft in den intimen Wohnraum der in der zukünftigen ›Glückseligkeit‹ wohnenden Familie katapultiert. Momentan und unverhofft wird der private Wohnraum zur Öffentlichkeit. Hier erzeugt Bulgakov eine bedrohliche Situation im Alltag und verbindet sie, ähnlich wie Charms in Elizaveta Bam (1927), mit dem öffentlichen Platz und den in diesem Raum stattfindenden illusorischen Inszenierungen und Spielereien. Beide Gruppierungen sind durch die Begegnung und durch die räumlich-zeitliche Verschiebung vorerst irritiert und verwirrt, stehen allerdings plötzlich im Austausch miteinander. In diesen Zusammenhang ist die Reaktion der in der Zukunft befindlichen Figuren bezeichnend, als sie im öffentlich kodierten privaten Raum auf die aus ihrer Perspektive aus der Vergangenheit stammenden Besucher treffen. Mit dem Versuch der Aufklärung dieser Wahr-Nehmung erläutert Aurora: Погоди, папа. Это карнавальная шутка. Они костюмированы.

62 Ebd., S. 45; dt. Übersetzung S. 91.

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Lass Papa. Das ist ein Karnevalsscherz. Sie sind kostümiert.63

Laut Bachtin ist der Karneval ein Schauspiel ohne Bühne; es gibt keine Zuschauer, sondern nur Akteure. Ferner ist das karnevalistische Leben ein aus den gewöhnlichen Fugen geratenes Leben. Der Karneval ist eine umgestülpte Welt, die auf die Sowjetunion in dieser Hinsicht übertragbar ist. In der einschränkungslosen Totalität des von Bachtin beschriebenen Karnevals sieht Boris Groys einerseits den »Pathos der Zerstörung der Autonomie des menschlichen Körpers und der menschlichen Individualität.«64 Andererseits werden jedoch die Gesetze, Verbote und andere Beschränkungen der gewöhnlichen Lebensordnung für die Dauer des Karnevals außer Kraft gesetzt. Es werden jegliche Distanzen zwischen Menschen aufgehoben und an ihre Stelle tritt ein besonderes Element des Karnevals, nämlich der intim-familiäre, zwischenmenschliche Kontakt einander fremder Menschen. Egal, welche Perspektive eingenommen wird: der zwischenmenschliche Kontakt ist entscheidend. Und in diesem Aufeinandertreffen in Glückseligkeit löst der zwischenmenschliche Kontakt unberechenbare Kräfte aus. Als Rejn herausfindet, dass sie sich im 23. Jahrhundert befinden, verliert er das Bewusstsein. Oder anders formuliert: Er erleidet eine Bewusstseinsstörung, die durch eine extreme Ver-rückung der gewohnten, erlebten Wirklichkeit und damit verbundene psychische Vorgänge herbeigeführt wird. Wenn Menschen aus dem 20. und dem 23. Jahrhundert aufeinandertreffen, dann können nur Teufeleien im Spiel sein, wie der Volkskommissar für Erfindungen Radamanov im Stück bemerkt. Es wird also Ver(w)irrung erzeugt und es ist nicht klar, ob diese Teufeleien ein bösartiger Scherz, ein Werk des Teufels oder die unberechenbaren (magischen) Kräfte des von Rejn/Timofeev konstruierten Mechanismus sind.

63 Ebd. 64 Groys, Boris: »Grausamer Karneval: Michail Bachtins ›ästhetische Rechtfertigung‹ des Stalinismus«, in: Frankfurter Allgemeiner Zeitung, 1989, Juni, 21 (Nr. 140), S. 3.

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C HRONOLOGISCHE (A N -)O RDNUNG Manchmal ist es nicht möglich, sich gegen Unglück zu wappnen und das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen. Roy Geigin muss dies auf Umwegen in Majakovskijs Stück Klop (Die Wanze, 1929) erfahren. Während seiner Hochzeitsfeier bricht ein Feuer aus, und 50 Jahre später wird Geigin in einem vereisten Keller aufgefunden. Versehentlich wurde er im Löschwasser eingefroren. Auf diese Weise ist Geigin in die kommunistische Zukunft geraten, wo er durch einen demokratischen Mehrheitsbeschluss aufgetaut und danach wiederbelebt wird. Mit ihm überlebt ein zufälliger Zeitmitreisender: eine Wanze. Als »Folge einer unbedachten Aufenthaltserlaubnis« [результатом неосмотрительного допущения к пребыванию] werden die beiden »Parasiten« zusammen in einem Käfig als überbleibender »Abglanz der Vergangenheit« [слабым напоминанием прошлого] und als »Schrecken der überwundenen Zeit« [ужас поверженного времени] zur Schau gestellt.65 Sowohl bei Bulgakov als auch bei Majakovskij gibt es bezeichnende Bewegungen in Zeit und Raum. Beide wetteifern dabei um die korrekte Darstellung dieser gesellschaftlichen Kategorien in ihren jeweiligen phantastischen Stücken, denn beide Schriftsteller waren nicht nur im Billardspiel ehrgeizige Rivalen.66 Der zukunftsorientierte Majakovskij stand dem vergangenheitsorientierten Bulgakov entgegen, der am Vergangenen festhielt und davon überzeugt war, dass Russland immer Russland bleiben würde. Trotz der Unterschiede hatten beide jedoch eines gemeinsam: Die Gegenwart sahen beide mit einer gewissen Ambivalenz und stellen sie dementsprechend in ihren literarischen Werken dar. Bei beiden Autoren steht die Verhandlung der Vergangenheit mit der Zukunft in der Gegenwart im Mittelpunkt. Bei Bulgakov treten die Figuren – die zeitreisenden Besucher und die empfangenden Bewohner der Zukunft – in offenen Dialog miteinander und stellen interes-

65 Majakovskij, Vladimir: »Klop« im Internet unter: http://az.lib.ru/m/maja kowskij_w_w/text_0700.shtml [Zugang: 27.04.2008]; Majakovskij, Vladimir: »Die Wanze« in: ders.: Die Wanze. Schwitzbad und andere satirische Dichtungen aus den Jahren 1928-1929, Übers. von Rainer Kirsch, Darmstadt 1980, 7-56, S. 52-53. 66 Vgl. Schröder, 1994, a.a.O., S. 205.

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siert Fragen über die jeweilig ›andere‹ Lebensweise. Obwohl für beide Seiten die ›andere‹ Welt befremdlich ist, möchte Anna lieber mit Rejn in die Vergangenheit fliegen als in der Zukunft zu bleiben. Es ist ihre eigene Entscheidung, die sie frei trifft. Im Gegensatz dazu gehen die Menschen der Zukunft in Majakovskijs Stück Die Wanze mit dem ›Anderen‹ ganz anders um: Во имя исследования трудовых навыков рабочего человечества, во имя наглядного сравнительного изучения быта требуем воскрешения. Im Namen der Erkundung der produktiven Fähigkeiten der arbeitenden Menschheit, zwecks anschaulicher vergleichender Erforschung der Sitten und Gewohnheiten verlangen wir die Wiederbelebung.67

Der eigentliche Zweck der Wiederbelebung ist die wissenschaftlichvergleichende Erforschung der alten Lebensweise: Geigin und die Wanze sind lediglich Forschungsobjekte. Zur Vorbeugung gegen bakterielle Kontamination werden die zeitreisenden Gefährten in einen Käfig gesperrt, denn nach der Wiederbelebung wurde festgestellt, dass das vor 50 Jahren eingefrorene Individuum ein schrecklicher menschenförmiger Simulant ist – kein Mensch, sondern ein Tier. Und nicht nur irgendein Tier, sondern eines der niedrigsten Art, nämlich ein Parasit. Der Begriff des Parasits als Schädling und Schmarotzer ist ein altes Konzept, das im Laufe seines begriffsgeschichtlichen Werdegangs durchgehend zwischen Natur und Gesellschaft, Biologie und Politik oszilliert.68 Das Soziale wird hierdurch biologisiert. Mit dieser Praxis wird die Angst vor Verunreinigung mit dem Anspruch einer absolut reinlichen Gesellschaft verbunden und letztendlich zur kulturellen Metapher gemacht. Um absolute Reinheit zu erlangen, muss das von innen oder von außen schädigende Element (ähnlich wie Müll) mithilfe unterschiedlicher Prinzipien und Prozesse des Ein- und Ausschlusses ausgegrenzt werden. In Majakovskijs Stück wird der Zoodirektor herangezogen, um die entdeckten Spezies wissenschaftlich und typologisch zu klassifizieren:

67 Ebd., S. 33. 68 Vgl. Enzensberger, Ulrich: Parasiten, Frankfurt a.M. 2001.

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Их двое – разных размеров, но одинаковых по существу: Это знаменитые »клопус нормалис« и… и »обывателиус вульгарис«. Оба водятся в затхлых матрацах времени. »Клопус нормалис«, разжирев и упившись на теле одного человека, падaeт пoд кровать. »Oбывателиус вульгарис«, разжирев и упившись на теле всего человечества, падает на кровать. Вся разница! Es sind zwei – von unterschiedlichem Wuchs, doch dem Wesen nach gleich –: der berühmte WANZUS NORMALIS und … und SPIESSERUS VULGARIS! Beide kommen vor in den modrigen Matratzen der Zeit. WANZUS NORMALIS, der sich mästet und vollsäuft am Körper eines Menschen, fällt unter das Bett. SPIESSERUS VULGARIS, der sich mästet und vollsäuft am Körper der ganzen Menschheit, fällt aufs Bett. Das ist der ganze Unterschied!69

Beide Exponate der Vergangenheit werden wie in einem Museum oder einem Zoo auf einer Tribüne feierlich zur Schau gestellt. Die Hauptfunktion des Raumes ist nicht eindeutig: Ist die Tribüne eine staatliche, theatralisch anmutende Bühne, die gleichzeitig als Laborraum für eine teilnehmende Beobachtung dient, oder ist sie ein kontrollierter Museumsraum zur öffentlichen Bildung? Oder alles zugleich? In dieser Hinsicht ist der von Majakovskij beschriebene Raum offen und nimmt nach Bedarf unterschiedliche Funktionen an: die der wissenschaftlichen Forschung, der Ausgrenzung und der öffentlichen Bildung zugleich. Die Zuschauer als Mitglieder der Gesellschaft nehmen an der teilnehmenden Beobachtung teil, um Erkenntnisse über das Handeln und Verhalten einzelner Personen aus der Vergangenheit in der Zukunft bzw. Gegenwart zu gewinnen. Modrige Matratzen sind nicht nur unrein und ungesund, sondern wertlos und letztendlich unbrauchbar, genauso wie Parasiten, die nur stören und überflüssig sind. Sie stören die gesundheitliche sowie die gesellschaftliche Ordnung, und infolgedessen stören modrige Matratzen das zeitliche Ordnungssystem. Um die kulturelle Metapher der Biologisierung des Sozialen beizubehalten: Bei Bulgakov leidet Miloslavskij an Kleptomanie, an einer krankhaften, ja chronischen Sucht, Uhren zu stehlen, was im Laufe des Stücks eindeutig wird. In dieser schlechten Angewohnheit sind unterschiedliche Dimensionen enthalten: Einerseits, wie Utechin in seinen ethnologischen Untersuchungen

69 Ebd., S. 54.

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zur Kommunalwohnung hervorhebt, weisen Sowjetmenschen besondere pathologische Verhaltensweisen in Gemeinschaftssituationen auf. Andererseits wird Michelson bzw. den sowjetischen Menschen die (zeitliche) Orientierung genommen. Aus der Sicht der empirischen Wissenschaften hilft Zeit dabei, periodische Vorgänge zu vermessen. Durch Messungen erlangt das Flüchtige der Zeit eine gewisse Stabilität und Struktur. Dies wird beispielsweise in der wiederkehrenden Abfolge von Tag und Nacht, der Mondphasen und des Jahresablaufs reflektiert. Somit ist die gemessene Zeit eine Norm, eine mathematische Richtlinie, die der Normierung von Bewegungen dient, wie Aristoteles konstatiert: »Zeit ist das Zahlmoment an der Bewegung.«70 Objektive Zeit ist eine strukturierte Aneinanderreihung von periodischen Einheiten, und diese zeitlichen Prozesse werden anhand von Uhren gemessen. In gewisser Weise repräsentiert das Zeitmessen ein Bestreben, durch Wiederholung der Stunden, Tage und Monate die Zeit zu bestimmen und zu beherrschen. Jean Baudrillard macht durch die Armbanduhr auf eine Tendenz moderner Gegenstände aufmerksam: Miniaturierung und Individualisierung. Durch die eigene Uhr, im Gegensatz zur (Kirch-)Turmuhr als Zentrum der dörflichen Gemeinschaft, die den Rhythmus des Tagesablaufs angibt und zum sonntäglichen Gottesdienst aufruft, hat man die Zeit in der eigenen Hand und besitzt somit Zeit. Laut Baudrillard macht dieser Umstand ein »Grundnahrungsmittel unserer Zivilisation« aus: ein »Gefühl der Sicherheit«.71 In dieser Hinsicht lässt sich Michelsons chronische Tendenz, Uhren zu stehlen, folgendermaßen verstehen und einordnen: Es handelt sich um einen Versuch, nicht nur den Raum zu ordnen, sondern für sich ein Gefühl der Sicherheit herzustellen, indem er die Zeit selbst in der Hand hat. Ein weiterer Versuch, Zeitlichkeit zu beherrschen, kommt von Kabakov in seiner (An-)Sammlung und Ordnung von Müll (mehr dazu im nächsten Kapitel). In der Sammlung nämlich sieht Baudrillard die Funktion, »die reale Zeit in eine systematische Dimension aufzulösen

70 Falkenburg, Brigitte: »Zeit und Perspektivität« in: Aspekte der Zeit, Münster 2004, 89-108, S. 92. 71 Baudrillard, Jean: Das System der Dinge. Über unser Verhältnis zu den alltäglichen Gegenständen, Frankfurt a.M. 2001, 2. Auflage, S. 121-122.

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[…]. Sie bleibt auf jeden Fall im strengen Sinne ein ›Zeit-Vertreib‹. Sie hebt einfach die Zeitlichkeit auf.«72 Im Gegensatz dazu steht die subjektiv erlebte Zeit, die aus einem immanenten, wenn auch latenten Bewusstsein von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft besteht. Mit dem Bewusstsein, dass nur der Moment real ist, die Vergangenheit schon vorbei ist und die Zukunft noch nicht begonnen hat, wird dennoch die bewusste Gegenwart aus vergangenen und zukünftigen Ereignissen innerhalb eines bestimmten raum-zeitlichen Zusammenhangs miteinander verknüpft. Indem Miloslavskij die Uhr zum Lesen von Zeit entwendet, öffnet sich der Raum. Merleau-Ponty behauptet: Die Zeit ist weder in den Dingen noch im Bewusstsein. Sie wird durch unser Bewusstsein entfaltet und ist Dimension unseres Seins […]. [D]ie Zeit als Ordnung der Sukzession oder Aufeinanderfolge ist untrennbar von der Ordnung der Koexistenz oder des Nebeneinander, also der räumlichen Ordnung der Dinge, deren Veränderung zeitliches Geschehen ausmacht.73

72 Ebd., S. 122-123. 73 Falkenburg, 2004, a.a.O., S. 103.

Müll, Unordnung und Chaos

Это была одна из тех барских квартир, […] с широкой беломраморной лестницей, на которой некогда лежал ковер, а теперь ступени давно потемнели, были сбиты, заплеваны, обшарпаны, […] и двери, изрезанные любовными и нахальными, и цементный кухонный пол, […] ванная, в которой хранились капуста и картофель, а потом стояла постель молодого начинающего и обещающего быть гениальным художника, и карболочный вокзальный туалет, к которому в зимние темные утра, когда все просыпаются поздно и все спешат на работу, выстраивалась очередь, и скандалы, и интриги, и с некоторых пор комиссия содействия домоуправлению стала с вечера раздавать порядковые номерки. […] А потом широкий, темный, пропахший нафталином, свечными огарками, мышиным пометом коридор, весь заставленный старыми рассыпающимися шкафами с ненужными книгами, окованными железными полосами сундуками, о которые вы всегда обиваете себе коленки, какими – то тюками и корзинами, набитыми всякой ветошью и дребеденью, а может быть, даже камнями, окованными железными полосами сундуками, о которые вы всегда обиваете себе коленки, какими-то тюками и корзинами, набитыми всякой ветошью и дребеденью, а может быть, даже камнями, лишь бы там что-то стояло, лишь бы мешало людям жить. Es war eine jener Kommunalkas, jener Gemeinschaftswohnungen, […] mit breiter weißer Marmortreppe, auf der einst ein Teppichläufer lag – jetzt aber waren die Stufen längst dunkel geworden und abgestoßen, bespuckt und zerkratzt […] die Türen voll von eingekratzten Liebessymbolen und Rüpeleien, der betonierte Küchenfußboden, […] ein Badezimmer, in dem Kohl und Kartoffeln lagerten und auch noch das Bett eines vielversprechenden jungen Malers stand, und eine nach Karbol stinkende Bahnhofstoilette, vor der sich an dunklen Wintermorgen, wenn alle spät aufwachten und eilig zur Arbeit muss-

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ten, eine Schlange bildete und Mord und Totschlag herrschte, weshalb die Kommission zur Unterstützung der Hausverwaltung seit einiger Zeit abends Nummern ausgab. […] ein breiter, dunkler, nach Naphthalin, Kerzenstummeln und Mäusedreck riechender Flur, vollgestopft mit alten zerfallenen Schränken voll unnützer Bücher, mit eisenbeschlagenen Truhen, an denen Sie sich stets die Knie stoßen, und irgendwelchen Bällen und Körben, gefüllt mit Lumpen und Trödelkram, vielleicht sogar Steinen: Hauptsache, es steht was dort und ist den Leuten im Wege.1

Wir durchqueren unterschiedliche Räumlichkeiten einer gewöhnlichen Kommunalwohnung. Währenddessen werden wir mit unerwarteten Faktoren konfrontiert, wie etwa mit dem im Badezimmer verstauten Bett eines Malers nebst Kohl und Kartoffeln, mit dem Geruch einer Bahnhofstoilette oder der Vergabe von Nummern für die Toilettenschlange. Die von Mängeln und absurden Zuständen gekennzeichnete, provisorisch umfunktionierte Kommunalwohnung sollte als Sprungbrett in die Zukunft dienen. Nach der Überquerung der Türschwelle kommt dem Bewohner nicht nur ein abscheulicher Geruch von »Naphthalin, Kerzenstummeln und Mäusedreck« entgegen, sondern auch unterschiedlichste ›Dinge‹, die den Weg (in die Zukunft) behindern oder zumindest erschweren. In den Räumlichkeiten der Kommunalwohnung wollte die Sowjetregierung den häuslichen Alltag bzw. die Gegenwart erobern und die darin enthaltenen Relikte der vergangenen Kultur beseitigen und mit einer neuen Lebensweise ersetzen. Die vermüllte und bespuckte Schwelle in die Zukunft ist eine maßgebliche Metapher für die sowjetische Realität, insbesondere im Alltag und im häuslichen Bereich. In diesem Kapitel soll Müll und Unordnung als liminales Phänomen in der sowjetischen Gesellschaft, in der Kommunalwohnung und in der Literatur dargestellt werden.

M ÜLL

ALS

ANTI -S TRUKTUR

Müll steht im Gegensatz zu Ordnung und Struktur. Als Element der Anti-Struktur2 bestimmt Müll die Grenze zwischen wertvoll und wertlos, zwischen rein und unrein, zwischen dem Innen und Außen einer

1

Jampol’skij, 48-49; S. 11-13.

2

Böhme, 2006, a.a.O., S. 132.

M ÜLL, UNORDNUNG

UND

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strukturierten Ordnung. Alle Gesellschaften erzeugen Müll, ein Prozess, sich von wertlosen und überflüssigen Gegenständen zu befreien. Im Idealfall gäbe es in einer Gesellschaft überhaupt keinen Müll, denn entweder durch Vernichtung, Abschaffung oder durch Musealisierung würde (im Idealfall) der unweigerlich generierte Müll beseitigt. Was bedeutet dies jedoch im gesellschaftlichen Kontext? Mary Douglas konstatiert, dass jede Kultur eine eigene Definition von Schmutz und Unreinheit formuliert und somit jeweils ihren eigenen Müll erzeugt. Die ausgegrenzten, als unbrauchbar oder auch bedrohlich definierten Gegenstände stehen der positiven Struktur entgegen.3 Im Rahmen gesellschaftlicher Herrschaftsstrukturen ist die Definition und Beseitigung von Müll ein Akt der Herstellung und Aufrechterhaltung von Ordnung, der auch ambivalente Gegebenheiten mit sich bringt: Die Produktion von Müll ist in Wirklichkeit eine Voraussetzung für und gleichzeitig eine Folge von Ordnungsschaffung. Auf der einen Seite der ordnungsschaffenden Grenze ist positive Bestimmtheit, Klarheit, Sauberkeit, Begrenzung. Auf der anderen Seite ist die Negation dieser und jeder Identität, das Nicht-Identische, das Chaos, das Unreinliche, das Ungeschiedene, das Unbegrenzte.4 Als Nebenprodukt der Herstellung von Ordnung bilden Müll und mithin Chaos sowie ein ungeordnetes, chaotisches Dasein die andere Seite der Ordnung. Sie sind eine natürliche Begleiterscheinung des Ordnens und demzufolge ein notwendiger und konstanter Aspekt gesellschaftlichen Lebens. Darüber hinaus ist Ordnungsschaffen ein soziales Ritual. Ein Ding, das nicht in die etablierte Ordnung passt und folglich eine Bedrohung darstellt, muss beseitigt bzw. bereinigt werden. Dieser Prozess erinnert an Aussortierungs- und Säuberungsmechanismen nicht nur der sowjetischen und nationalsozialistischen Ordnungen, in denen Menschen als bedrohlich, als fremd eingestuft und letztendlich beseitigt wurden. Noch immer werden Formen der gesellschaftlichen Exklusion in unterschiedlichsten Arten praktiziert.5 Wel-

3

Vgl. Douglas, Mary: Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreiningung und Tabu, Übers. von Brigitte Luchesi, Frankfurt a.M. 1988, S. 207.

4

Vgl. Hauser, Susanne: Metamorphosen des Abfalls. Konzepte für alte In-

5

Vgl. Bauman, Zygmunt: Wasted Lives. Modernity and its Outcasts, Cam-

dustrieareale, Frankfurt a.M. 2001, S. 32. bridge 2004.

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che Bedeutung kommt in diesem Zusammenhang Müll und Gerümpel in der Kommunalwohnung und in der sowjetischen Kultur zu? Für die Untersuchung dieser Frage soll die Rolle von Müll in der gegenwärtigen bzw. postsowjetischen Kunst wegweisend sein. Il’ja Kabakov ist einer der prominentesten postsowjetischen russischen Konzeptkünstler, der sich in seinen Werken vor allem mit der russischen Mentalität, mit gesellschaftlichen Bedingungen und dem sowjetischen Alltag auseinandersetzt. Für Kabakov repräsentiert Müll nicht nur eine Metapher für das sowjetische Leben, sondern die sowjetische Kultur ist »durch Unfertigkeit, Unvollendetheit in der Form, Undurchdachtheit, Unaufgeräumtheit gekennzeichnet.«6 Was bedeutet in dieser Hinsicht jedoch seine eingehende Beschäftigung mit und fast pedantisches Ordnen von sowjetischem Müll? Möchte er diesen, seines Erachtens möglicherweise zu Unrecht als Müll gekennzeichneten Gegenständen Wert und Würde zurückgeben? Ist es seine Art und Weise, durch Sammeln, Ordnen und Aufbewahren mit dem Übergang in ein neues Zeitalter umzugehen? Wiederverwertung, auch mittels Musealisierung, richtet sich gegen das Vergehenlassen, das Vernutzen, gegen Endlichkeit, Verschwindenlassen, das Vergebliche, auch gegen den Ablauf der Zeit.7 Was also ist der Grund für Kabakovs ›Müllealisierung‹? In Kabakovs Installation We Live Here verdichtet Kabakov die sozio- und baupolitische Geschichte der Sowjetunion und spricht zu alltäglicher Normalität gewordene, hauptsächlich häusliche Unzulänglichkeiten an. Im einleitenden Text auf seiner Internetseite, in dem er wesentliche Gedankenzüge für diese Installation vorstellt, schreibt Kabakov: The installation represents a large construction site where the building of a grandiose structure has already begun, perhaps a »marvelous palace of the future« […]. But, taking a closer look at the ›construction site‹, the viewer discovers that it was stopped long ago, neglected, everything together – the scaffolding and all the materials that were brought here – all represent a heap of garbage that was abandoned a long time ago. But the life of people inside these

6

Kabakov/Groys, 1991, a.a.O., S. 105.

7

Vgl. Hauser, a.a.O., S. 33.

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temporary construction houses, on the contrary, proceeds at its own pace, it has been transformed into everyday reality in all of its diverse forms.8

Der mit der Revolution avisierte große gesellschaftliche Bau am ›Palast der Zukunft‹ blieb lediglich eine Baustelle, eine Ausnahmesituation, die Alltag wurde und letztendlich kulturelle Wirklichkeit. Kabakovs Wahl der Worte deutet auf die im normalen, alltäglichen Leben vorhandenen Unzulänglichkeiten, denn der anfänglich erwähnte ›construction site‹ wird gegen Ende des Ausschnitts zu ›construction houses‹ – ein deutlicher Verweis nicht nur auf die Verlagerung der öffentlichen Sphäre in den häuslichen Bereich, sondern auch auf die fortwährend mangelhaften Zustände in der Kommunalwohnung. Ein sich wiederholendes Thema bei Kabakov ist die Idee, das Unbewohnbare bewohnbar zu machen. Um die vorletzte Jahrhundertwende wurden Bürgerwohnungen vorübergehend provisorisch mit Sperrholzwänden in Kommunalwohnungen umfunktioniert. Sie blieben eine strukturelle Realität, die den urbanen Raum der Sowjetunion prägte. Das Alte wurde für die Zukunft überholt und in Stand gesetzt. Walter Benjamin hat während seines berühmten Aufenthalts in Moskau die Begebenheit der konstanten Ausnahme, besonders in der Herstellung von struktureller Ordnung, erstaunlich treffend beschrieben und in seinem Essay Moskau (1927) festgehalten: Verordnungen werden verändert von Tag zu Tag, aber auch Trambahnhaltestellen wandern, Läden werden zu Restaurants und ein paar Wochen später zu Büros. Diese erstaunliche Versuchsanordnung – man nennt sie hier »Remonte« [sic!] – betrifft nicht Moskau allein, sie ist russisch.9

In diesem Ausschnitt schildert Benjamin die Unordentlichkeit und daraus entstehende Anpassungsnotwendigkeit und -fähigkeit, die seiner Meinung nach der russischen Kultur eigen ist. Ständig müssen Räume ihre Rolle und Funktion wechseln. Im postrevolutionären Prozess des gesellschaftlichen Ordnens waren baupolitische wie kommunale Verordnungen, wie anfänglich schon erwähnt, allgemein unbeständig.

8

Im

Internet

unter:

http://www.ilya-emilia-kabakov.com/

[Zugang:

15.08.2007]. 9

Benjamin, Walter: »Moskau« in: ders: Gesammelte Schriften VI.1, Frankfurt a.M. 1972, 316-348, S. 325.

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Entsprechend war die Bestimmung und Definition von Unordnung variabel, was wiederum Chaos erzeugte. Die Versuchsanordnung wird von Benjamin als russische Eigenschaft gedeutet und von den Russen selbst als ›Remont‹ bezeichnet, was als Reparatur bzw. Renovierung ins Deutsche übersetzt werden kann. Ob das Wort ›Versuchsanordnung‹ von Benjamin im Sinne von Planung, Formierung, Anpassung, Anweisung oder Anleitung – alles Synonyme – verwendet wird, bleibt unklar. Während vor einem Jahrhundert mit Müll hauptsächlich der häusliche Abfall und Straßenschmutz bezeichnet wurde, hat sich das Verständnis von Müll inzwischen den Umständen angepasst: Müll wird in der Gegenwart entwertet (und beseitigt) und zusätzlich verwertet.10 Dennoch ist Benjamins Passage im Rahmen dieser Überlegungen sehr bezeichnend: Unter dem Begriff der Remont oder der Renovation wird der Vorgang verstanden, bei dem ein defekter Gegenstand in den ursprünglichen, funktionsfähigen Zustand zurückversetzt wird. Teile werden entweder ausgetauscht, hinzugefügt oder neu geordnet, d.h. alte Gegenstände werden entsprechend wiederverwendet, neu in Stand gesetzt, ver- und umbewertet. Dabei lässt sich fragen, inwiefern in der sowjetischen Realität eine unweigerliche Gegebenheit der Kultur sichtbar wird. Kunst wie Kultur sind lediglich eine Reaktion auf die Gegenwart, eine Um- oder Verwertung der gesellschaftlichen Gegebenheiten. Entgegen der Intentionen der sowjetischen Regierung, die alte Lebensweise grundsätzlich durch die neue Lebensweise zu ersetzen, scheint sich über die Zeit die von Benjamin beobachtete Eigenschaft in der russischen Kultur fortzusetzen. In Bezug auf Müll ist die Verwertung bzw. das Recycling ein Zeichen der Zeit. Kabakov, der während der Sowjetzeiten im Untergrund tätig war, repräsentiert als Konzeptkünstler einen anderen, wenn nicht gegensätzlichen gesellschaftlichen Standpunkt zu Aleksandr Prochanov, einem nationalpatriotischen Autor und Redakteur im gegenwärtigen postsowjetischen Russland. Beide thematisieren Müll in ihrer Kunst und in ihren Texten. In Kabakovs Installation We Live Here hat sich dieser Zustand des von Benjamin erwähnten Reparierens und Renovierens nicht verändert: Bei genauerem Hinsehen bemerkt man, dass die gesellschaftliche, soziokulturelle Baustelle nicht nur brachliegt, sie ist darüber hinaus zu einer Müllhalde geworden. Diese Metapher wird

10 Vgl. Hauser, a.a.O., S. 23.

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von Prochanov in Krejcerova Sonata11 literarisch fortgesetzt, allerdings im postsowjetischen Russland: Penner, die vor kurzem noch Sowjetmenschen mit Rang und Namen gewesen waren, besiedeln in dieser Geschichte eine Müllhalde Moskaus und sortieren den postsowjetischen Müll. Mit den auf dem Müll gefundenen und gesammelten Gegenständen, die die vergangene sowjetische Ordnung symbolisieren, wollen die Penner die Sowjetunion mit den Methoden der Gentechnik sowie des sozialen und historischen Ingenieurwesens wiederherstellen. Dabei sollen Menschen genauso wie Gegenstände wieder in Stand gesetzt werden: Andropov soll beispielsweise mithilfe seiner konservierten Leber wiederbelebt werden. Die Skeptiker unter ihnen behaupten allerdings, dass in der gefundenen Konservendose mit dem Etikett ›Leber‹ eher normale Dorschleber aufbewahrt würde, die auf den Tisch gebracht werden sollte.12 In Prochanovs Geschichte werden die auf der Müllhalde gefundenen und gesammelten, als Müll bezeichneten Gegenstände (und Menschen) nicht vernichtet oder musealisiert. Sie sollen hingegen für das Leben wiederverwertet und wiederbelebt werden. Hauptgegenstand der Beschreibung ist hier nicht der Akt des Ordnens und Aussortierens, sondern der Akt des Wiederherstellens kaputter Gegenstände (und Menschen). Kabakovs Ansatz ist vergleichbar mit Prochanovs: Müll und Abfall der Gesellschaft bilden ein Fundament ihrer künstlerischen Auseinandersetzung. Dabei wird die Müllhalde von Prochanov nicht als Museum verhandelt, sondern als Labor (im Sinne einer Versuchsanordnung?). In diesem Zusammenhang lässt sich fragen, inwiefern Kabakov den Museumsraum auch als Labor verhandelt. Um sein eigenes Verhältnis zur sowjetischen Kultur zu verarbeiten und zu verstehen, sammelt Kabakov belanglose Gegenstände aus der Sowjetzeit, die inzwischen ihren materiellen und ideellen Wert verloren haben und somit in der MüllKategorie angeordnet werden. Im Allgemeinen gelten sie selten als ausstellungswürdige Besonderheiten. In seinen Müllansammlungen, die an eine Museumskollektion erinnern, wird ordinärer Müll aufbewahrt, durchnummeriert und fast pedantisch geordnet. Kabakov be-

11 Prochanov, Aleksandr: »Kreuzersonate«, Auszüge aus dem gleichnamigen Roman in: Groys, Boris/von der Heiden, Anne/Weibel, Peter: Zurück aus der Zukunft. Osteuropäische Kulturen im Zeitalter des Postkommunismus, Frankfurt a.M. 2005, S. 823-843. 12 Vgl. ebd., S. 832-833.

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schreibt den Müll-Teil seines Installations-Projektes We are All Leaving Here [sic!] folgendermaßen: Tied to each rope with a fine string, spaced 30 cm apart from each other, are ›trashy‹ objects: a small empty box, a jar lid, old crumbled bags, and so on. Under each of them is placed a small marker with text. The text consists of two or three lines – fragments of statements made by the children who are gathered in the courtyard and awaiting their future. The texts are extremely tense, tragic, and full of the most contradictory feelings expectation, hope, pain.13

Hier weist Kabakov nicht nur auf die Signifikanz des Insignifikanten, der Ambivalenz der Dinge und des Lebens sowie auf die nie erreichte Zukunft hin. In gewisser Weise werden die von Kabakov verwendeten diversen trivialen Gegenstände in der Gegenwart wiederbelebt, aber nur in dem Moment, in dem der Betrachter sich mit den einzelnen Gegenständen auseinandersetzt und mit ihnen interagiert. Für den Betrachter wird die Installation ein lebendiger Raum, der ihn aufnimmt und mit in diesen Moment integriert. In der Installationskunst ist der Betrachter ausschlaggebend für das Werk – ähnlich wie in der Literatur spielt der Betrachter bzw. Leser eine integrale Rolle in der eigentlichen Vervollkommnung des Werkes. Ein weiterer besonderer Moment der Installationskunst besteht darin, dass im Museumsraum laborartig eine spezielle Situation hergestellt wird. Bei der von Kabakov angewandten Installationskunst geht der Betrachter eine reziproke Beziehung mit dem Werk ein, das Werk mit dem Raum und der Raum wiederum mit dem Betrachter.14 Es wird also eine symbiotische Beziehung hergestellt, in welcher der Betrachter nicht teilnahmslos bleiben kann. In seiner totalen Installation möchte Kabakov Zugang zu einer repressiven, kommunalen Zone herstellen, um die Psyche sowie den Realitätssinn zu manipulieren. Somit übt er eine sehr große Macht auf den Betrachter des Kunstwerks aus. Kabakovs Raum der Installationskunst ist in dieser Hinsicht kein Laborraum, in dem experimentiert wird, sondern eher ein kontrollierter Museumsraum. Oder vielleicht kann die Auseinandersetzung des Betrachters mit der Kunst sowie mit

13 Im

Internet

unter:

http://www.ilya-emilia-kabakov.com/

[Zugang:

15.08.2007]. 14 Vgl. Reiss, Julie: From Margin to Center: The Spaces of Installation Art, Cambridge, Massachusetts 1999, S. 156.

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dem Prozess der Kunstproduktion als eine laborartig kontrollierte künstlerische Forschung bzw. Versuchsanordnung verstanden werden? Zum Thema des kontrollierten Raums bietet der einflussreiche Medientheoretiker Lev Manovič in seinem Essay On Totalitarian Interactivity eine interessante Perspektive.15 Er verweist auf einen Unterschied im Verständnis von Interaktivität zwischen Ost und West: Im Westen wird Interaktivität als ein Vehikel demokratischer Werte und Gleichwertigkeit betrachtet, wohingegen im Osten Interaktivität als eine weitere Form der Manipulation verstanden wird. Obwohl er das Internet als ein wichtiges Interaktionsmedium sieht, setzt Manovič es dennoch mit einer totalen Installation gleich und vergleicht es interessanterweise mit der Kommunalwohnung und mit einer gigantischen Müllhalde: In contrast, as a post-communist subject, I cannot but see Internet as a communal apartment of Stalin era: no privacy, everybody spies on everybody else, always present line for common areas such as the toilet or the kitchen. Or I can think of it as a giant garbage site for the information society, with everybody dumping their used products of intellectual labor and nobody cleaning up. Or as a new, Mass Panopticum (which was already realized in communist societies) – complete transparency, everybody can track everybody else.16

In diesem kurzen, aber dennoch prägnanten Essay weist er als jemand, der aus dem ›Osten‹ kommt, auf die lauernden Gefahren interaktiver Computermedien hin:

Mental processes of reflection, problem solving, memory and association are externalized, equated with following a link, moving to a new image, choosing a new scene or a text. […] In short, in what can be read as a new updated version of Althusser’s ›interpolation,‹ we are asked to mistake the structure of somebody’s else [sic!] mind for our own.17

Ähnlich oszilliere ich zwischen diesen beiden Polen in Bezug auf die liminale Sphäre im Kommunalkaraum: Interaktivität verstehe ich als 15 Vgl. Manovich, Lev: »On Totalitarian Subjectivity« im Internet unter: http://www.manovich.net/TEXT/totalitarian.html, [Zugang: 26.11.2010]. 16 Ebd. 17 Ebd.

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ein Vehikel demokratischer Werte und Gleichwertigkeit, allerdings auch als eine mögliche Form der Manipulation. Es ist meine Annahme, dass beide Elemente im Kommunalkaraum gleichzeitig existieren. Ähnlich wie im Spiel erfährt der Einzelne sich als eigen- und fremdbestimmt. Obwohl Installationen meist als raumgreifende, ortsgebundene und oft auch ortbezogene Kunstwerke benutzt werden, ist der Raum bei Kabakovs Installationen dennoch losgelöst von Zeit und Raum – man befindet sich in einem raum- und zeitlosen Vakuum. In den für diese Arbeit analysierten Texten von Bulgakov und Charms wird der Kommunalkaraum ähnlich behandelt. Margarita Tupitsyn beschreibt den wesentlichen Aspekt einer totalen Installation: […] to separate itself from the world, to become an autonomous metaphor, democratic in form but otherwise closed. The installation vision of the world is a magic crystal in which everything can be surveyed. And that’s what we mean when we speak of totality.18

Über den (Anordnungs-)Versuch oder den Bedarf, das sowjetische Chaos nachträglich zu ordnen, entwickelt Kabakov mithin ein totales System, eine totale Installation, die beim Rezipienten Einfühlungsvermögen befähigt. Kabakov gibt selbst zu, eine ambivalente Beziehung zum totalen sowjetischen System zu hegen: Auf der einen Seite betrachtet er das sowjetische Projekt als eine düstere Unterdrückung, die dem Untergang geweiht war; auf der anderen Seite jedoch führt, kontrolliert und ordnet er als Künstler in ganz ähnlicher Weise wie das totalitäre politische Projekt (es zumindest vorhatte) in einem geschickten Wechselspiel von Nähe und Distanz.19

18 Kabakov, Il’ja/Tupitsyn, Margarita/Tupitsyn, Victor: »About Installation« in: Art Journal, Vol. 58, No. 4, Winter 1999, 62-73, S. 66. 19 Nicht ohne Grund bezeichnet Kabakov seine Installationen als ›total‹. Laut Kabakov ist es notwendig, das Bild oder die Kunst als eine Realität wahrzunehmen, um in dieses eindringen zu können. So bewegt er sich in seiner Kunst an der Grenze zwischen dem archivierenden, ordnenden Museum als kontrollierende Instanz von außen und innerlich empfundener Realität in einem Wechselspiel von Nähe und Distanz. Vgl. Kabakov, 1995, a.a.O., S. 85; Kabakov, 1999, a.a.O.

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Ist der Bedarf, das vermeintliche Chaos zu ordnen, eine Form pathologischen Verhaltens20 oder ist es eine natürliche Reaktion (im Sinne einer guten Natur, die die Ordnung selbst erzeugt, welche im Gegensatz zur bösen und schlechten Natur steht)? Wie ist dieses Verhalten Kabakovs einzuordnen? Diese Frage könnte man weiterführen und fragen, inwiefern selbst ich mich als Wissenschaftler ähnlich wie Kabakov verhalte, indem ich den Bedarf hege, Sachen und Dinge (ein) zu ordnen. Zwar ist es in gewisser Weise hilfreich und notwendig, den wissenschaftlichen Gegenstand in einem kontrollierten Umfeld zu betrachten, d.h. ein konkretes methodisches Analyseinstrument herzustellen, ähnlich wie das von Tupitsyn beschriebene Verfahren einer totalen Installation: eine autonome Metapher zu formulieren, die demokratisch in Form,21 aber andererseits geschlossen ist. Es soll also ein kontrolliertes Vakuum hergestellt werden, innerhalb dessen bestimmte Beobachtungen gemacht werden können. Dennoch muss diese totale und geschlossene Vorgehensweise in Frage gestellt werden, wie dies immer öfter in den Kulturwissenschaften der Fall ist.22 Totalität und Geschlossenheit sind beides Begriffe und Konzepte, die auf Vollständigkeit und somit auf Begrenztheit und mithin Stagnation hindeuten. Schon Bachtins Literatur- und Kulturtheorie umkreist das Konzept der Offenheit.23 Im Gegensatz zu Geschlossenheit wird

20 Ein Verhalten, das Il’ja Utechin im gewöhnlichen Kommunalkabewohner erkennt? Utechin sieht die Kommunalwohnung als Lebensform mit ihren besonderen Praktiken der Alltagsgestaltung, als die Quintessenz der sowjetischen Lebensweise und als Schlüssel zu stereotypischen Gedankenverläufen und Verhaltensweisen des Sowjetmenschen. Er konstatiert sogar, dass die Logik und Verhaltensweisen eines pathologischen Subjekts sich nicht sehr von der normalen Verhaltenslogik in der kommunalen Gemeinschaft unterscheiden. Siehe Utechin, 2004, a.a.O. 21 An dieser Stelle möchte ich Tupitsyns Verweis auf die demokratische Form im totalen Raum hervorheben, der im letzten Kapitel dieser Arbeit zum Wandel der literarischen Darstellung des Kommunalkaraums im Laufe der Zeit an Relevanz gewinnt. 22 Vgl. Bachmann-Medick, 2006, a.a.O. 23 In Bachtins literatur- und kulturtheoretischem Œuvre spielen Performanz, Geschichte, Wirklichkeit und die Offenheit des Dialogs im Gegensatz zu einer geschlossenen Dialektik der strukturalistischen, binären Oppositionen eine wichtige Rolle. Vermehrt wird auf die Notwendigkeit hingewiesen,

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Offenheit als eine positive und fruchtbare Eigenschaft betrachtet und im Allgemeinen mit Transparenz, Potentialität, Kreativität und Freiraum für Veränderung in Verbindung gebracht. In Reinheit (bzw. in Ordnung) sieht Mary Douglas beispielsweise den »Feind aller Veränderungen, Mehrdeutigkeiten und Kompromisse«.24 In anderen Worten: Chaos und Unordnung sind kreativitätsfördernd.

IM

DYNAMISCHEN K RÄFTEFELD DER K OMMUNALWOHNUNG Der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme definiert Chaos als »ein Leeres und doch Mächtiges, ein strukturloses wogendes energetisches Kraftfeld […].«25 Michail Bulgakovs einleitender Prolog im ersten Akt seines Stücks Blaženstvo beginnt mit den Worten: Весенний день. Московская квартира. Передная с телефоном. Большая комната Рейна в полном беспорядке. Frühlingstag. Wohnung in Moskau. Diele mit Telefon. Reins großes Zimmer in völliger Unordnung.26

In diesem unordentlichen Raum baut der Ingenieur Rejn ein Ding, mit dem er die Zeit studieren möchte. In Rejns Raum herrscht nicht nur chaotische Unordnung, sondern auch ein unordentlicher Chronos – in der griechischen Mythologie ist Chronos der Gott der Zeit, der aus dem primordialen Chaos entsteht. Rejn fährt fort:

Spannungsfelder binärer Denkfiguren zu überwinden, wie z.B. öffentlich/privat, Eigene/Andere, offiziell/inoffiziell, Individuum/Kollektiv etc. Neben der Auflösung bzw. Öffnung von diesen binären Denkfiguren sollen diese gleichzeitig unweigerlich verbunden werden, um den Charakter der Beziehung zu veranschaulichen. Für einen Überblick siehe Clark/Holquist, 1984, a.a.O.; Bauer, Matthias: Romantheorie und Erzählforschung. Eine Einführung, 2. Auflage, Stuttgart 2005, S. 114-136. 24 Douglas, 1988, a.a.O., S. 210. 25 Böhme, 2006, a.a.O., S. 126. 26 Bulgakov, 1999, a.a.O., S. 36; dt. Übersetzung S. 79.

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Ах, я идиот! Нет, я не изобретатель, я кретин! Да ведь если шифр оборотный, значит, я должен включить плюс! А если плюс, то и цифру наоборот! Ach, ich Idiot! Nein, ich bin kein Erfinder, ich bin ein Schwachkopf! Wenn die Zahl rückwärts läuft, muß ich doch plus schalten! Und wenn ich plus schalte, steht die Zahl andersherum!27

Hier ist ein eindeutiger Hinweis auf die von Widerspruch und Ambivalenz gekennzeichnete sowjetische Kultur – so, wie sie in der Literatur vorzufinden ist –, die zu chronisch uneindeutigen Verhältnissen zwischen Menschen führen muss. Unlogik, Inkohärenz, Irrationalität und Mehrdeutigkeit dominieren und prägen den Alltag. Sogar Zahlen, die gewöhnlich mit Sinn und Vernunft verbunden werden und eine gewisse logische (An-)Ordnung repräsentieren, funktionieren rückwärts. Zu Zahlen und der von ihnen repräsentierten vernünftigen Ordnung schreibt Charms: Wir wissen nicht, was sie sind, sehen aber, daß man sie aufgrund einiger ihrer Eigenschaften in einer strengen und völlig klar definierten Ordnung aneinanderreihen kann. Und viele von uns sind sogar der Meinung, die Zahlen seien nur Ausdruck dieser Ordnung und außerhalb dieser Ordnung sei die Existenz von Zahlen – sinnlos.28

Und was passiert, wenn sogar Zahlen keine Ordnung mehr haben? Es passieren komische Dinge, wie beispielsweise bei Ingenieur Timofeev in Ivan Vasil’evič, der mit seiner Maschine durch die Wände hindurch in eine andere Zeit eindringen kann. Bei der ursprünglichen Tätigung der Maschine werden der Zar und sein Schreiber in die Gegenwart (deren Zukunft) befördert. Die erste Reaktion auf die Verwirrung und Unsicherheit ist eine Fluchtbewegung: Der Zar rennt davon. Mit der Maschine werden offensiv (zeitliche aber auch räumliche) Grenzen überschritten; ähnlich wie bei Daniil Charms’ Elizaveta Bam (1927) und seinen Kurzgeschichten Pomecha (1940) und Neožidannaja popojka (1935), die im späteren Kapitel zu Öffentlichkeit und Privatheit analysiert werden. Mit dem Zaren kommt aber auch sein schlagfertiger

27 Ebd., S. 46; S. 84. 28 Charms, 1992, S. 34.

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Leibwächter samt Axt, der ein Symbol einer beidseitigen aggressiven Grenzüberschreitung ist. Während Timofeev den geflüchteten Zaren sucht, lässt er Bunša und Miloslavskij alleine mit der Maschine. Um die Ankunft weiterer Streitmächte aus der Vergangenheit zu vermeiden, drückt Bunša Knöpfe und zieht den Schlüssel ab: В то же мгновение – звон. Занавеска на окне вздувается, понесло бумаги, Буншу потащило в палату, он роняет очки. […] Понесло Милославского. Тьма. Свет. Нет палаты. Стенка на месте. В комнате нет ни Бунши ни Милославского. Im selben Moment ertönt Geläut. Der Fenstervorhang bläht sich, Papiere wirbeln, Bunscha wird in das Gemach geweht, verliert die Brille. […] Auch Miloslawski wird hinausgeweht. Dunkelheit. Licht. Die Wand ist an Ort und Stelle. Bunscha und Miloslawski sind nicht im Zimmer.29

Im unordentlichen Zimmer des Ingenieurs lösen sich zeitliche und räumliche Grenzen auf (sowie die Grenzen zwischen Technik und Natur) und es scheint, als ob sein Raum tatsächlich ein »strukturloses wogendes energetisches Kraftfeld« ist. Es ist ein natürliches Kraftfeld, das natürliche Kraftfeld der neuen sowjetischen Lebensverhältnisse. Zum Thema natürlicher Kraftfelder konstatiert Kabakov, dass die Gesellschaft den Stalinismus »wie einen Schneesturm« hinnehmen musste. Die Zustände in der Sowjetunion ließen also kein soziales Leben zu, sondern nur ein soziales Klima, auf das man keinen Einfluss nehmen konnte.30 Ein bezeichnender Aspekt ist die Hilflosigkeit des Menschen in der kulturellen Begegnung und im Umgang mit der Naturgewalt. Bulgakov verwendet die Metapher eines Wirbelsturms, welcher Menschen in unbekannte räumliche und zeitliche Dimensionen schleuderte, denn wie Bunša bemerkt: Dieses Experiment überschreitet sämtliche Grenzen. [Этот опыт переходит границы!]31 In dieser mehrdeutigen und -dimensionalen Szene thematisiert Bulgakov das Verschwinden von Grenzen im Allgemeinen. Grenzen sind ein Aspekt von Struktur, und Struktur kennzeichnet nicht nur Grenzen, sondern auch Ordnung. Eine geordnete Lebenswelt ist eine Welt, in der man weiß,

29 Bulgakov, 1999, a.a.O., S. 213; dt. Übersetzung S. 146. 30 Vgl. Kabakov/Groys, 1991, a.a.O., S. 61. 31 Bulgakov, 1999, a.a.O., S. 234; dt. Übersetzung S. 166.

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wie man sich zurechtfindet, wie man die Wahrscheinlichkeit eines Ereignisses berechnet sowie die Verbesserung bzw. Verschlechterung der Chancen in bestimmten Situationen. Vorerst werden die ambivalenten Verhältnisse als Unbehagen und als Bedrohung wahrgenommen, dann jedoch wird mit dieser Vergegenwärtigung eine Öffnung erzielt und das Unmögliche möglich gemacht. Der von Rejn gebaute Gegenstand in Blaženstvo zum Beispiel befördert Menschen in die Zukunft: Ivan den Schrecklichen aus der Vergangenheit in die Gegenwart bzw. in die für Ivan den Schrecklichen wahrgenommene Zukunft und Rejn mit seinem Gefolge aus der Gegenwart in das zukünftige Moskau. Dinge und Menschen befinden sich in Bulgakovs phantastischgrotesken Stücken also in Bewegung und in einem Zustand des Werdens. Hartmut Böhmes Definition von Chaos fährt fort: »ein Leeres und doch Mächtiges, ein strukturloses wogendes energetisches Kraftfeld, das dem Werden der abgrenzbaren Dinge weit vorausliegt.«32 Am Anfang ist also das Chaos und am Ende der übriggebliebene und ausgegrenzte Müll. Was im Dazwischen in diesem dynamischen Kraftfeld passiert, sind nicht nur die sinnbildlichen Zeitreisen von Bulgakov, sondern es findet ein Prozess statt, in dem Gegenstände und Dinge mit dem Anspruch, Ordnung zu schaffen, als wertvoll oder wertlos eingestuft werden. Und in dieser berüchtigten Übergangsphase von der alten zur neuen Lebensweise in der Sowjetunion gab es dementsprechend alte und neue Dinge, deren Status als wertvoll oder wertlos nicht eindeutig geklärt war. Wichtig ist hierbei, zu unterscheiden, aus welcher Perspektive und von wem Dinge eingeschätzt und bewertet werden. Wenn also als wertlos eingestufte Dinge nicht beseitigt werden oder es nicht eindeutig ist, welches Ding wertlos und welches wertvoll ist, dann häufen sich Gegenstände an und erzeugen erneut Unordnung und Chaos. Eine Art und Weise, mit Chaos und Unordnung kreativ umzugehen, zeigen uns Kommunalkabewohner im eigentlichen Kommunalkaraum. Wie in den Kunstwerken von Kabakov und Prochanov manifestierte sich die Tendenz, mitunter alte und wertlose Gegenstände zu verwerten und umzubewerten, in den Verhaltensweisen der Kommunalkabewohner. Wertlose oder wertlos gewordene Dinge, die nicht in

32 Böhme, 2006, a.a.O., S. 126.

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die sowjetische ›Ordnung der Dinge‹33 passten und im Korridor, wie von Jampol’skij beschrieben, scheinbar nutz- und wertlos herumstanden, wurden von den Bewohnern unter den angespannten Verhältnissen umfunktioniert. Reiner Keller beschreibt Müll als »Gegenstand unmittelbarer lebensweltlicher Erfahrungen«,34 was im politisierten Raum der Kommunalwohnung neue Dimensionen annahm. Diese Gegenstände fanden ihre Anwendung an Orten der gemeinsamen Nutzung, in als öffentlich kodierten Räumen. Es wurden strukturierende Grenzen zwischen dem gezogen, was als gemeinschaftlich (öffentlich) angesehen wurde, und dem, was symbolisch als das Eigene (privat) markiert wurde. Diese Grenzen mussten von allen Mitbewohnern respektiert werden. Im öffentlichen Raum wurden annektierte private Orte entweder durch persönliche Gegenstände gekennzeichnet oder durch räumliche Aufteilung festgelegt. Gegenstände und ihre unmittelbare Umgebung waren symbolische Repräsentanten einer Privatsphäre, in die unter keinen Umständen einzudringen war.35 Privatsphäre war darüber hinaus unmittelbar an bewegliche Gegenstände gebunden: Die Verlagerung eines privaten, persönlich genutzten Gegenstandes (wie etwa ein Glas, ein Teller, ein Stück Seife, ein kaputter Stuhl etc.) ging mit einer gleichzeitigen Verlagerung der jeweiligen Privatsphäre einher. Laut der russischen Soziologin Ekaterina Gerasimova wurden diverse häusliche Gegenstände dazu benutzt, sich in gemeinschaftlichen Räumen weiteren Lebensraum anzueignen.36 In diesem Umstand werden politische Bestrebungen deutlich: Jeder Einzelne und jede Familie war daran interessiert, gemeinschaftlichen

33 Hier soll die von Foucault aufgestellte These, dass Wissen aus der Struktur des Diskurses entsteht, auf das Müll-Konzept übertragen werden. Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (Les mots et les choses), Übers. von Ulrich Köppen, Frankfurt a.M. 1971. 34 Keller, Reiner: Müll – Die gesellschaftliche Konstruktion des Wertvollen, Wiesbaden 1998, S. 11. 35 Vgl. Evans, Sandra: »Geschichte(n) der Kommunalka: Zur Recodierung von Intimität« in: Grigor’eva, Nadežda/Schahadat, Schamma/Smirnov, Igor’ (Hg.): Nähe schaffen, Abstand halten. Zur Geschichte von Intimität und Nähe in der russischen Kultur, München 2005 (Wiener Slawistischer Almanach, Sonderband 62), S. 439-456. 36 Vgl. Gerasimova, 2002, a.a.O.

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Raum zu annektieren, und das nicht nur, weil es im Allgemeinen relativ wenig Raum gab, sondern auch, um den eigenen Raum und somit das häusliche Territorium strategisch auszuweiten. Oft wurden leere Regale oder Schränke zur Markierung von Grenzen aufgestellt, um somit symbolisch auf die Präsenz ihrer Besitzer sowie deren Rechte und Ansprüche auf Privatsphäre zu verweisen. Darüber hinaus galt die Präsenz diverser Gegenstände in den gemeinschaftlichen Räumen als Recht des Besitzers auf eine Stimme in Kommunalkaangelegenheiten. Wer beispielsweise keinen Tisch in der Gemeinschaftsküche hatte, musste auf seine Rechte und Privilegien hinsichtlich des byt verzichten.37 Unter den uneindeutigen und ungeklärten Umständen in der Kommunalwohnung mussten die Mitbewohner kreativ werden, und so überrascht es nicht, dass im höchst politisierten Wohnraum sogar Müll politische Bedeutung annahm: in der Definition der (An-)Ordnung, als Instrument zur Aneignung von zusätzlichem Raum und als Stimmrecht in Kommunalkaangelegenheiten. In diesem Sinne wurden materielle und ideelle Dinge sowie soziale Praktiken im sowjetischen Umfeld umkodiert: Als Müll oder als banal und wertlos betrachtete Gegenstände des Alltagslebens nahmen im häuslichen Bereich eine neue Funktion an und ergaben soziokulturellen sowie ideopolitischen Sinn. Dass der Prozess der Regelung des Alltagslebens nicht immer friedlich vonstatten ging, insbesondere wenn alltägliche Gegenstände eine gesellschaftspolitische Bedeutung annahmen, zeigt die Erzählung Nervnye ljudi (Nervöse Menschen, 1925-1927) von Michail Zoščenko. In der Kommunalwohnung Ecke Glazova und Borova bricht ein Streit, ja eine regelrechte Schlacht um die Nutzung einer Stahlwolle in der gemeinschaftlichen Küche aus, in der einer der Bewohner schwer verletzt wird. Was unter ›normalen‹, vorrevolutionären Umständen ein harmloser Wortwechsel gewesen wäre, endet im postrevolutionären Kontext in einer Prügelei. Grund dafür sind nicht nur die Nerven der Leute, die nach dem Bürgerkrieg vermeintlich schwach sind. [Оно, конечно, после гражданской войны нервы, говорят, у народа завсегда расшатываются.]38 Die schwachen Nerven und die Streit-

37 Im übertragenen Sinne impliziert bytie (Sein, Dasein) im philosophischen und geistigen Sinne eine sinnvolle Existenz. Vgl Kiaer, Christina: »Everyday Life and the Culture of the Thing (Toward the Formulation of the Question)« in: October, Vol. 81, Summer 1997, S. 119-128. 38 Zoščenko, 2003, a.a.O., S. 51; eigene Übersetzung.

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freudigkeit der Sowjetbürger sind überdies auf die neuen, horrenden und uneindeutigen Wohnverhältnisse zurückzuführen. In Zoščenkos Erzählung will Maria Vasiljevna Ščipzova ihren verrußten Spirituskocher, der nicht zündet, mit der benannten Stahlwolle säubern. Sie wird von ihrer Mitbewohnerin Darja Petrovna Kobylina, dessen Stahlwolle sie in der Hand hält, aufgefordert, diese wieder an ihren Platz zurückzulegen: Хочет она чистить, берет в левую руку ежик, а другая жиличка, Дарья Петровна Кобылина, -- чей ежик, посмотрела, чего взято, и отвечает: Ежик-то, уважаемая Марья Васильевна, промежду прочим, назад положите. 39 Sie will reinigen, nimmt die Stahlwolle in ihre linke Hand, und die andere Bewohnerin, Dar’ja Petrovna Kobylina, dessen Stahlwolle es ist, hat zugeschaut, was genommen wurde und antwortet: Diese Stahlwolle, meine liebe Mar’ja Vasil’evna, apropos, legen Sie sofort wieder zurück.

Mar’ja Vasil’evna dringt in der Gemeinschaftsküche eindeutig in die Privatsphäre der Nachbarin Dar’ja Petrovna ein. Den gleichen Effekt hätte sie erzielt, wenn sie einfach, ohne anzuklopfen, in Dar’ja Petrovnas Zimmer gegangen wäre und einen persönlichen Gegenstand mitgenommen hätte. Dabei repräsentiert diese gewöhnliche Stahlwolle nicht nur die überschrittene Grenze einer Privatsphäre und den Verstoß gegen die offizielle Ordnung in der Kommunalwohnung, sondern sie ist in dieser Situation zu einem Politikum geworden. Laut Dar’ja Petrovnas Mann darf die von seinem hart erarbeiteten Geld erkaufte Stahlwolle nicht von einer unbefugten Fremden benutzt werden: […] на трудовые гроши ежики себе покупаю, и нипочем, то есть, не разрешу

постороннему

чужому

персоналу

этими

ежиками

воспользоваться.40 […] von hart erarbeiteten Groschen kaufe ich mir diese Stahlwolle, und so ist es, dass ich es unbefugtem fremden Personal nicht erlaube, sich diese Stahlwolle zu Nutze zu machen.

39 Ebd.; eigene Übersetzung. 40 Ebd., S. 52; eigene Übersetzung.

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Mit dieser Behauptung wird der Wert einer alltäglichen Stahlwolle sofort erhöht. Das Gespräch zwischen den beiden Frauen und dem Mann wird laut, und folglich sammeln sich die restlichen Mitbewohner der Kommunalwohnung, um an den strittigen Geschehnissen teilzuhaben. In der Enge der Küche kommt es unweigerlich zu Handgreiflichkeiten, und letztendlich prügeln sich alle Mitbewohner der Kommunalka wegen der Benutzung einer gewöhnlichen Stahlwolle.

D IE E RFASSUNG

DES

D INGS

AN SICH

41

Gemeinhin ist eine Veränderung in der Beziehung zwischen Mensch und Ding zu verzeichnen: von einer traditionellen Handwerkskultur des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu einem symbolischen Zeichenwert von Dingen als dominierendem Attribut in der heutigen Zeit. Während der Handwerkskultur haben Handwerker nicht nur einen Teil ihrer Persönlichkeit mit in den Gegenstand hineingearbeitet – einerseits ist der hergestellte Gegenstand die Entstehungsform des NichtIch, andererseits sind Gegenstände einem Subjekt, das sie herstellt, das Nächste und Vertrauteste42 –, sondern diverse Gegenstände wurden mit ihrem Erwerb ein langjähriges, wenn nicht lebenslanges Gebrauchsobjekt und ein Wegbegleiter. Dahingegen ist Abfallerzeugung in gegenwärtigen modernen Gesellschaften ein Grundbestandteil einerseits eines Beschleunigungs- und andererseits eines Entwertungsprozesses von Dingen.43 Wenn die Grenze zwischen wertvollen und wertlosen Gegenständen nicht klar markiert ist, besteht die Gefahr, dass Gegenstände überhandnehmen. Ein markantes Beispiel hierfür ist das Vermüllungssyndrom.44 Seit Mitte der 1980er Jahre bezeichnet dieses Syndrom ein pathologisches Verhalten von Menschen, die den Wert von Dingen nicht einschätzen können und deshalb nichts weg-

41 Das ›Ding an sich‹ ist eine von Kant entwickelte Begriffsbildung, die das Seiende bezeichnet, welches durch räumlich oder zeitlich bestimmbare Tatsachen oder Gegenstände erfasst wird. 42 Vgl. Bataille, Georges: Theorie der Religion, Übers. von Andreas Knop, München 1997, S. 26. 43 Vgl. Keller, a.a.O., S. 14. 44 Vgl. Dettmering, Peter, Pastenaci, Renate: Das Vermüllungssyndrom. Theorie und Praxis, Frankfurt a.M. 2001.

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werfen. In dieser Verhaltensstörung kann es dazu kommen, dass Menschen von dem überhandnehmenden Müll tatsächlich aus ihrer eigenen Wohnung ausquartiert werden. Ein Anzeichen dafür, dass Dinge eine gewisse Kraft innehaben, so dass in der Beziehung zwischen Mensch und Ding nicht immer eindeutig ist, wer Subjekt und wer Objekt ist. Ein literarisches Beispiel für den Wandel in der Rolle des Dings sowie für deren immanente oder transzendente Macht in der sich etablierenden Sowjetunion zeigt die Satire О čem pel solovej (Was die Nachtigall sang, 1927) von Michail Zoščenko. Diese satirische Erzählung handelt von einer prototypischen Kommunalka-Romanze, die durch die Wohnraumknappheit zustande kam. Denn Darja Vassilena Rundukova hat, aus Angst vor einer Zwangseinweisung, ein Zimmer an den Bürger Bylinkin vermietet. Dieser umwirbt Liza, die Tochter der Vermieterin: [В] ней была та очаровательная небрежность и, пожалуй, даже неряшливость той русской женщины […]. [S]ie hatte etwas von der liebenswerten Nachlässigkeit und, mag sein, von der noch liebenswerteren Unordentlichkeit einer russischen Frau […].45

Fast nostalgisch beschreibt der Verfasser diese liebenswerten und vertrauten Eigenschaften einer russischen Frau, speziell auch die Tendenz zur Unordentlichkeit. Seine Stimmung kippt leicht im nächsten Absatz: В сущности, нет ничего в них хорошего, в этих полных, с ленивым взглядом женщинах. Нет в них ни живости, ни яркости темперамента […]. Так – мало двигается, в мягких туфлях, непричесанная […]. Вообще говоря, пожалуй, даже противно. Im Grunde nichts Schönes an diesen fülligen, träge blickenden Frauen. Sie sind weder lebhaft noch haben sie ein ausgeprägtes Temperament […]. Bewegen

45 Zoščenko, Michail: »O čem pel solovej« in: ders.: Sobranie sočinenij, Tom. II, Leningrad 1986, 106-123, S. 113; Zoščenko, Michail: Was die Nachtigall sang. Satiren, Übers. von Ottomar Schwechheimer und Walter Richter-Ruhland, Stuttgart 1957, 46-72, S. 58.

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sich träge in weichen Filzpantoffeln, ungekämmt […]. Im allgemeinen gesprochen – sogar widerlich.46

Der Hang zur innerlichen Unordentlichkeit wird auf das Äußerliche übertragen, ähnlich wie bei Bulgakov, der seine Ingenieure ölverschmiert, unrasiert und übernächtigt auftreten lässt. Verdeutlicht wird hier das grundlegende Zusammenspiel von Innen und Außen, auch inner- und außerliterarischer Elemente. Des Weiteren wird durch die zwei vorangehenden Ausschnitte die Ambivalenz und Willkür der Menschen und somit des Lebens thematisiert. Trotz dieser eher emotionalen und ambivalenten Beziehung zu Frauen, und im übertragenen Sinne zum Mütterchen Russland, ist diese Frau besser als какая-нибудь кукольная дамочка, так сказать – измышление буржуазной западной культуры. irgend so ein puppenhaftes Dämchen, sozusagen eine Erfindung der bourgeoisen westlichen Kultur.47

Neben der ironischen Verhandlung ideologischer Grundsätze wird in den aufgeführten Segmenten auf leblose, vernachlässigende und unordentliche Elemente der russischen Menschen hingewiesen, die sich den Umständen anpassen und diese entsprechend rechtfertigen. Demnach kann dies auch als Kritik des Autors an einer apathisch-passiven Gesellschaft gelesen werden, die eine extreme Widerstandsfähigkeit aufzeigt, insbesondere infolge dieser Leblosigkeit, die in Ausnahmesituationen aus pragmatischen Gründen in Unmenschlichkeit dem Anderen gegenüber umschlägt. In der Erzählung tragen Bylinkins Annäherungsversuche bald Früchte, und die Eheschließung steht bevor. Als Bylinkin und seine Zukünftige jedoch gemeinsam die räumliche Anordnung ihres Zimmers und der darin enthaltenen Gegenstände planen wollen, entbrennt ein für die noch jungfräuliche Beziehung fataler Streit. Liza möchte eine Frisierkommode in die Ecke des Zimmers stellen, für Bylinkin ein Anzeichen absoluter Spießbürgerlichkeit. Anstelle der Frisierkommode erhofft er sich, dass die Truhe seiner künftigen Schwiegermutter die

46 Ebd. 47 Ebd.

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Ecke schmücken wird. Die Vermieterin will aber die Truhe nicht hergeben, und die Situation eskaliert zu gegenseitigen Beleidigungen und Beschuldigungen. Letztendlich zieht Bylinkin aus und heiratet schicksalhaft die Tochter einer anderen Vermieterin. Noch lange nach seinem Umzug besucht er Liza und они

вдвоем,

потрясенные

своим

несчастьем,

сидели

рядом,

перебрасываясь незначительными словами. Иногда, впрочем, перебирая в своей памяти тот или иной счастливый эпизод и случай из прошлого, говорили о нем с грустной и жалкой улыбкой, сдерживая слезы. beide saßen, erschüttert von ihrem Unglück, zusammen und sagten sich belanglose Worte. Manchmal kam auch die Mutter zu ihnen ins Zimmer, und dann beklagten sie alle drei gemeinsam ihr Schicksal.48

In seinen Schlussworten beteuert Zoščenko den Ausgang dieser Erzählung: Но жизнь диктует свои законы (Doch das Leben diktiert seine Gesetze).49 Und da in der sowjetischen Gesellschaft Gegenstände eine primäre Rolle einnahmen, im Gegensatz zum Menschen, könnte man den letzten Satz auch so formulieren: Doch die Gegenstände diktieren die Gesetze des Lebens. Leb- und hilflos müssen Bylinkin, Liza und ihre Mutter zusehen, wie ein bloßer Gegenstand ihr Schicksal bestimmt. Alle drei sind ohnmächtig im soziokulturellen und -politischen Schatten der Kommode. So endet diese Satire, aber noch bevor die eigentliche Erzählung begonnen hat, tritt Zoščenko als Verfasser in seiner gewöhnlichen gesellschaftskritischen, mitunter auch prophetischen Art in Dialog mit seiner Leserschaft. Dabei schreibt er: Автор честно и открыто просит: -- Не мешайте, товарищи! Дайте человеку высказаться хотя бы в порядке дискуссии!

48 Ebd., S. 123; dt. Übersetzung S. 71. 49 Ebd., S. 122; dt. Übersetzung S. 71.

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Der Verfasser bittet offen und ehrlich: Stört nicht, Genossen! Gestattet einem Menschen, seine Meinung zu äußern, wenn auch nur auf dem Wege der Diskussion.50

Eine Bitte, die geradezu an Bachtin und sein literaturtheoretisches Konzept der Dialogizität erinnert, die er als Zoščenkos Zeitgenosse formulierte.51 Bachtins Konzept liefert einen Anstoß zur Entgrenzung, indem jeder literarische Text als Dialog zwischen Autor und Leser und deren Beziehung als offenes, dynamisches System verstanden wird. Dialogizität ermöglicht nicht nur einen Einblick in das dynamische Wechselverhältnis des Produktions- und Rezeptionsprozesses, sondern verlangt dem Leser ein gewisses Maß an Selbstreflexion ab. Diese Selbstreflexion erfordert Offenheit und die Fähigkeit, mit gesellschaftlichen Diskrepanzen und Widersprüchen umzugehen. Selbst reflektiert Zoščenko seine Rolle als Autor und Schriftsteller im Schaffensprozess in der gegenwärtigen Sowjetunion folgendermaßen: Фу! Трудно до чего писать в литературе! Потом весь изойдешь, покуда продерешься через непроходимые дебри. И ради чего? Ради какой-то любовной истории гражданина Былинкина. Uff! Was ist es doch schwer, Literatur zu machen! Du löst dich in Schweiß auf, bevor du dich durch das undurchdringliche Gestrüpp hindurchgearbeitet hast. Und weswegen? Wegen irgendeiner Liebesaffäre des Bürgers Bylinkin.52

Die Grenzen zwischen Fiktion und Realität verschwimmen: Er beschwert sich einerseits, dass es schwer ist, Literatur zu machen, wäh-

50 Ebd., S. 108; dt. Übersetzung S. 50. 51 Ein Hinweis auf eine Affinität zu Bachtin ist Zoščenkos Anspielung auf die Unzulänglichkeit der formalistischen Methode in dieser Erzählung. Er zitiert das Gedicht seines Helden Bylinkin und kommentiert dazu als Verfasser: »Vom Gesichtspunkt der formalen Methode scheinen die Verschen nicht übel zu sein. Doch, im allgemeinen, sind es recht lausige Verse und, tatsächlich, dem Rhythmus der Epoche nicht angemessen.« [точки зрения формального метода стишки эти как будто и ничего себе. Но вообще же стишки - довольно паршивые стишки и, действительно, несозвучны и несоритмичны с эпохой.] Ebd., S. 118; S. 62. 52 Ebd., S. 108; dt. Übersetzung S. 50.

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rend er angeblich aus dem romantischen Leben des Bürgers Byklinkin Bericht erstattet und demnach einer journalistischen, dokumentarischen Tätigkeit nachgeht. Der Verfasser, also der Autor alias Zoščenko, will in diesem Vorhaben eine Wirklichkeit schildern. Dabei hegt er ein atypisches Verhältnis zu seinem Helden, indem er ihn folgendermaßen vorstellt: Der Held ist dem Autoren eigentlich zutiefst gleichgültig [глубоко безрахличен].53 Seine Beziehung zu den restlichen Figuren der Erzählung, die vor den Blicken des Verfassers fast unbemerkt vorübergegangen sind [прошли перед вхором автора малозамеченные],54 ist nicht viel anders. Hier thematisiert er selbstreflexiv seine eigene unmenschliche Beziehung zu seinen Figuren, die ähnlich leblos sind und bleiben. Nachdem er jedoch versucht, die Person Bylinkin zu beschreiben, kommentiert er frustriert: Черт его разберет! Во всякую психологию не влезешь. Der Teufel soll aus seiner Seele schlau werden! ‘s ist unmöglich, in eine jede Psychologie reinzukriechen.55

Hier möchte ich kurz Bachtins Konzeptionalisierung des Verhältnisses zwischen Autor und Held heranziehen, um die Bedeutung dieses wohl ver-rückten Verhältnisses zu veranschaulichen. Die ästhetische Tätigkeit des Autors in seiner Beziehung zu seinem Helden gleicht laut Bachtin einem ethischen Verhältnis. In dieser Hinsicht ist der Romanheld für den Autor eine Möglichkeit, das eigene Dasein in eine kritische Distanz zu rücken, gleichzeitig muss er sich aber in den Helden einfühlen können. Der Held und seine Welt sind für Bachtin das ›Wertezentrum‹ der ästhetischen Tätigkeit, sie besitzen ihre eigene, unabhängige und ›elastische‹ Realität und können nicht einfach durch die kreative, schöpferische Tätigkeit des Autors ›geschaffen werden‹. Laut Bachtin geht es in der ästhetischen Tätigkeit um das Einfühlungsvermögen in das Objekt bzw. den Helden. Indem Zoščenko jedoch darauf hinweist, dass er keinen Zugang zu (s)einem Helden in Form von Einfühlungsvermögen hat, scheint Zoščenko demnach nicht nur auf die Eingrenzung der literarischen Tätigkeit in der sowjetischen Gesell-

53 Ebd. 54 Ebd., S. 108; dt. Übersetzung S. 50-51. 55 Ebd., S. 112; dt. Übersetzung S. 54.

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schaft hinzuweisen. Durch seine thematisierte und bewusste Distanzierung vom Helden weist er auch darauf hin, dass der Held lediglich ein Objekt bleibt, ein Instrument für den Autor. Ähnlich wie die Regierung degradiert Zoščenko seinen Helden und die restlichen Gestalten seiner Erzählung zu bloßen Objekten, verdinglicht und entrechtlicht sie. Ein Beispiel dieser Degradierung ist seine Beschreibung der Mutter von Bürger Bylinkins Liebhaberin: Что же касается самой старухи, так сказать, мамаши Рундуковой, то читатель и сам вряд ли выразит претензию, ежели мы старушку и вовсе обойдем в своем описании. Тем более что старушек вообще трудновато художественно описывать. Старушка и старушка. Was jedoch die Alte angeht, die Mama Kundukowa sozusagen, so wird der Leser wohl kaum Einspruch erheben, wenn wir die Alte in unserer Schilderung ganz übergehen, um so mehr, da es ziemlich schwierig ist, alte Frauen künstlerisch zu gestalten. ‘ne alte Frau ist ‘ne alte Frau.56

Zoščenko offenbart eine regelrechte Verachtung dieser Figur gegenüber, die den Leser erschaudern lässt. Dabei führt er im nächsten Abschnitt aus: Конечно, автор не взялся бы писать художественные повести, если бы были у него только такие скудные и ничтожные сведения о героях. Сведений у автора хватает. Например, автору очень живо рисуется вся ихняя жизнь. Ихний небольшой рундуковский домишко. Этакий темненький, в один этаж. […] Повыше на досочке багор нарисован. На предмет пожара. Gewiß, der Verfasser würde sich nicht anmaßen, schöngeistige Novellen zu schreiben, besäße er nur derartig spärliche und unzureichende Informationen über seine Helden. Der Verfasser verfügt über genügend Informationen. Zum Beispiel: Der Verfasser vermag sich sehr lebhaft ihren Alltag vorzustellen. Ihr kleines Rundukoffsches Häuschen. So ein einstöckiges, finsteres. […] Etwas höher, auf einem Brettchen, ist ein Bootshaken aufgemalt. Für den Fall, daß es brennt.57

56 Ebd., S. 109; dt. Übersetzung S. 51. 57 Ebd.

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Mit dem Hinweis, dass er sich den Alltag lebhaft vorzustellen vermag, deklariert Zoščenko eine soziokulturelle und -politische Universalität. Menschen werden zu leblosen Objekten degradiert, der Alltag jedoch ist lebendig und lebhaft. Die in diesen Alltag involvierten Gegenstände und Dinge beschreibt er ausführlich und mit einer gewissen liebevollen Geduld. Jedoch bestreitet er dies im nächsten Zug: Только пущай не думает читатель, что автор описывает эти мелкие мелочи с любовью и восхищением. Нету! Нету в этих мелких воспоминаниях ни сладости, ни романтизма. Doch der Leser soll nicht etwa denken, daß der Verfasser diese nichtigen Kleinigkeiten mit Liebe und Begeisterung beschreibt! Nee! In diesen Erinnerungen an alltäglichen Kleinkram liegt weder Süße noch Romantik.58

Nun distanziert er sich auch vom Alltag und den involvierten Gegenständen, denn auch er, der Verfasser dieses Textes, hat selbst schon unter diesen Umständen gelebt: Ничего в этом нету хорошего, так – жалкая жалость. Ну, войдешь в эту кухню – и ведь непременно мордой в мокрое белье угодишь. Да еще спасибо, ежели в благородную часть туалета, а то в мокрый чулок какойнибудь, прости господи! Противно же мордой в чулок! Ну его к черту! Такая гадость. Es ist nichts Erbauliches dran, ist nur so eine ärmliche Armseligkeit. Du kommst in so eine Küche rein und rennst unweigerlich mit der Schnauze gegen die Wäsche. Ein Glück, wenn’s ein edler Teil der Bekleidung ist. Es kann aber auch ein feuchter Strumpf sein. Ist doch ekelhaft, mit der Schnauze an einen nassen Strumpf zu geraten. Hol’s der Teufel! So eine Schweinerei!59

Der Verfasser ist entrüstet darüber, was der degradierte Mensch im Alltag erleiden muss. Die Universalität der Umstände wird hier persönlich und deutet auf die soziokulturellen Unzulänglichkeiten der sowjetischen Gesellschaft hin. Ironisch bemerkt er:

58 Ebd., S. 109-110; dt. Übersetzung S. 52. 59 Ebd., S. 109; dt. Übersetzung S. 52.

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Все равно не увидит, вероятно, автор полностью этой будущей прекрасной жизни. Да будет ли она прекрасна – это ещё вопрос. Для собственного успокоения автору кажется, что и там много будет ерунды и дряни. Der Verfasser wird diese herrliche Zukunft ja doch nicht erleben. Ob sie aber gar so herrlich sein wird, das ist noch die Frage. Zur eigenen Beruhigung tröstet sich der Verfasser damit, dass es auch dann viel Unsinn und Dreck geben wird.60

In diesem Abschnitt macht er auf den Unsinn und den darin enthaltenen Dreck des Lebens in der sowjetischen Gegenwart aufmerksam, die auch in der Zukunft nicht beseitigt werden können, ein weiterer Verweis auf die leblosen, vernachlässigenden und unordentlichen Elemente russischer Menschen bzw. einer apathisch-passiven Gesellschaft. Er fährt fort: Впрочем, может, эта ерунда будет мелкого качества. Ну, скажем, в когонибудь, извините за бедность мысли, плюнули с дирижабля. Или комунибудь пепел в крематории перепутали и выдали заместо помершего родственничка какую-нибудь чужую и недоброкачественную труху. Übrigens, der Unsinn wird, vielleicht, unbedeutender Art sein. Nu, sagen wir mal, es wird jemandem – entschuldigen Sie die Armut des Einfalls! – von einem Flugzeug aus auf den Kopf gespuckt. Oder jemandem wird die Asche im Krematorium vertauscht, und anstatt eines verstorbenen Verwandten wird ihm ein fremdes, minderwertiges Zeug ausgehändigt.61

Der Ab- oder Ver-Fall des Menschen bzw. des Menschlichen wird hier einerseits durch Spucke verbildlicht, eine körperliche Ausscheidung, die den Kopf bzw. die Gedanken eines Anderen beschmutzt. Der menschliche Dreck fällt, mithilfe neuer technischer Errungenschaften, wortwörtlich vom Himmel und veranlasst eine bezeichnende Symbolik. Der Dreck kommt von oben, wobei das Immanente das Transzendente simuliert und durcheinanderbringt. Am Boden nämlich wird die Asche Verstorbener vertauscht, das Sakrale wird profaniert. Im Zusammenhang mit dem Entwertungsprozess des Menschlichen, hier im übertragenen Sinne 60 Ebd., S. 106; dt. Übersetzung S. 147. 61 Ebd.

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des Sakralen, ist die Szene im Krematorium ein gewaltiger tragikomischer Bedeutungsträger: Der verstorbene menschliche Körper ist ein entwerteter, austauschbarer Gegenstand, ein »minderwertiges Zeug«, das von der Gesellschaft beseitigt wird, in vollkommen gleichgültiger Manier. Hier wird die Beziehung von Mensch und Ding angeschnitten, die ich im folgenden Abschnitt näher betrachten werde. Mit der Beziehung zwischen Mensch und Ding beschäftigten sich Kulturtheoretiker der frühen Phase der Sowjetunion, allen voran Boris Arvatov, ein Kunsthistoriker und -kritiker, der sich für die utilitaristische Ausrichtung der avantgardistischen Produktionskunst einsetzte. Er allein schien eine außerordentliche Überzeugung vom Transformationspotential des Alltags zu haben, das er auf die Beziehung des Menschen mit seinem Ding projizierte. Diese Beziehung entspricht dominierenden Normen und Werten der Kultur: einer mythisch geprägten [Kultur] als ›Heiligung‹, in einer magisch geprägten als ›Zauber‹, in einer naturverbundenen als gefühlsmäßig Erlebtes, in einer rational geprägten als unkontrollierte, gegengewichtige Unterströmung.62

In dieser Formulierung wird deutlich, warum es eine Priorität der Moderne war, den wilden Fetischismus zu bezwingen und unser Verhältnis zu den Dingen rein sachlich und pragmatisch zu gestalten, zumindest rhetorisch, und eine gewisse Kontrolle über die Dinge wieder zurückzuerlangen. Den Glauben an die Kontrolle über Dinge weist der Kulturwissenschaftler Hartmut Böhme jedoch zurück, indem er Gegenständen vormoderne, primitive Energien und Kräfte zuschreibt, die weiterhin alle Ebenen der modernen liberalen Gesellschaft durchziehen.63 Dementsprechend ist nicht nur das Verhältnis selbst von einer gewissen Lebendigkeit durchdrungen, sondern auch das Ding. Das Kernstück von Arvatovs Essay Alltag und die Kultur der Dinge [Byt i kul’tura vešči]64 aus dem Jahre 1926 ist die Transformation

62 Kramer, Karl Sigismund: »Zum Verhältnis zwischen Mensch und Ding. Probleme der volkskundlichen Terminologie« in: Schweizerisches Archiv fuer Volkskunde, Heft 58, 1962, 91-101, S. 99. 63 Vgl. Böhme, 2006, a.a.O. 64 Veröffentlicht in Al’manach proletkul’ta 1925 in Moskau (S. 75-82), nur zugänglich in Übers. von Christina Kiaer »Everyday Life and the Culture

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des passiven kapitalistischen Dings in ein aktives sozialistisches Objekt. Für ihn gibt es ein fundamentales und grundlegendes Verhältnis zwischen dem Individuum und dem Ding, welches wiederum gesellschaftliche Verhältnisse definiert.65 Wenn wir das Phänomen der Kultur betrachten wollen, müssen wir die Gesamtheit der Formen analysieren, die Dinge annehmen können: The material forms of culture, precisely as forms, that is, as detached skeletal formation, represent an extraordinarily conservative force known as the everyday [byt]. Understanding the developing tendencies of material byt means being able to direct them, to transform them systematically, i.e., to turn byt from a conservative force into a progressive one. And this in turn guarantees the progressive reformation of two other areas of byt: the social and the ideological.66

Im Gegensatz zu den konservativen Kräften des alten und verachteten Alltags, der meist mit den ähnlich verachteten bourgeoisen Werten (meščanstvo) assoziiert wird, verleiht Arvatov dem sozialistischen Ding eine aktive, progressive (oder doch prämoderne?) Kraft und heftet ihm ein transformierendes Potential im Alltag an – ein Ort, an dem menschliches und gesellschaftliches Bewusstsein in Einklang mit den Dingen realisiert wird. Darüber hinaus konstatiert Arvatov, dass gesellschaftliches Bewusstsein und mithin der Alltag im Prozess der materiellen Produktion und im materiellen Konsum hergestellt werden. Im Prozess der materiellen Produktion entwickelt der Mensch eine organische Nähe zum Gegenstand, wobei im Gegensatz dazu die Beziehung der Bourgeoisie zum Gegenstand von einer gewissen Distanz gekennzeichnet ist, da diese gewöhnlich nicht am Herstellungsprozess teilhat und somit den Gegenstand lediglich als Ware betrachtet: The Thing as an a-material category, as a category of pure consumption, the Thing outside its creative genesis, outside its material dynamics, outside its social process of production, the Thing as something completed, fixed, static, and, consequently, dead – this is what characterizes bourgeois material culture.67 of the Thing (Toward the Formulation of the Question)« in: October, Vol. 81, Summer 1997, S. 119-128, russisches Original nicht auffindbar. 65 Ebd., S. 120. 66 Ebd., S. 121. 67 Ebd., S. 122.

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Arvatov assoziiert die Passivität des nicht-sozialistischen Dings mit bloßem Konsum und Verbrauch. Im Gegensatz dazu sieht er die Dynamik des sozialistischen Dings in seiner Funktion: The mechanism of a thing, the connection between the elements of a thing and its purpose, were now transparent, compelling people practically, and thus also psychologically, to reckon with them, and only with them. Form as a readymade pattern could no longer be considered here. Coordination with form ceded its place to coordination with a thing’s function and its methods of construction. The thing was dynamized. Collapsible furniture, moving sidewalks, revolving doors, escalators, automat restaurants, reversible outfits, and so on constituted a new stage in the evolution of material culture. The Thing became something functional and active, connected like a co-worker with human practice.68

Bei Arvatov wird der Gegenstand geradezu anthropomorphisiert, wobei die Beziehung zwischen Mensch und Ding eine pragmatischfunktionelle ist. Dennoch errichten sie zusammen den gesellschaftlichen »Palast der Zukunft«, und indem der Mensch das Ding schafft, setzt er seine Funktion und somit seinen gesellschaftlichen wie sozialen Stellenwert fest. In der Produktion eines Gegenstandes sieht Arvatov eine Quelle menschlicher Kreativität. In diesem Sinne könnte man fragen, inwiefern die Umfunktionierung eines alten Gegenstandes auch als Produktionsprozess betrachtet werden kann. Kommunalkabewohner setzten alte, wertlose und mitunter bourgeoise Gegenstände für ihre eigenen Zwecke in Stand: Sie wurden ein Bedeutungsträger für die jeweiligen Bewohner und ihre Angehörigen in Kommunalkaangelegenheiten. Mit ihren Schöpfern gingen die Gegenstände also eine symbiotische Beziehung ein, denn die Gegenstände wurden nicht als Müll beseitigt und vernichtet, sondern ihr Wert wurde durch die Umfunktionierung sogar erhöht, indem sie nicht nur als bloße Ware instrumentalisiert wurden, wie das in ihrem früheren Leben der Fall war, sondern sie füllten eine wichtige Position in den Verhandlungen des Wohnraums als politischstrategische Figur: einerseits als Repräsentanten und andererseits als Vermittler. Was ist jedoch, wenn der Mensch zum Gegenstand gemacht wird?

68 Ebd., S. 126-127.

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In der Kurzgeschichte Pobeda Myšina (Myšins Sieg, 1944) von Charms zeichnet sich eine weitere umgedrehte Lebenswelt im Kommunalkaraum ab, die jedoch die sowjetische Wirklichkeit reflektiert. Myšin besetzt im gemeinsam benutzten Korridor einen Ort als privaten Wohnraum, da in der Wohnung, die ihm von den Behörden zugewiesen wurde, kein Zimmer für ihn vorhanden ist. [Он прописан в нашей квартире, а комнаты не имеет.]69 Sein Herumliegen im Korridor stört die Mitbewohner. Sie wissen, dass ihm eine nicht existierende Wohnung zugewiesen wurde, insistieren jedoch, dass er sich ordnungswidrig verhält, wenn er sich im Korridor breitmacht. Gerne möchten die Mitbewohner dieses menschliche Ding beseitigen und ihn wie einen Gegenstand aus dem Weg räumen. Besser noch wäre es, ihn zu verbrennen, so dass keine Spur seiner Existenz zurückbleibt. [Они давеча хотели его керосином пожечь.]70 Indirekt symbolisiert er die Unaufgeräumtheit der sowjetischen Kultur und macht somit auf die Mängel des Systems und mithin auf die eigene systematische Unterdrückung der Mitbewohner von Seiten der Regierung aufmerksam. Neben der Unaufgeräumtheit zeigen sich auch Ungeklärtheiten in Bezug auf das Verhältnis oder die Verflechtung von privat und öffentlich: Auf dem Weg vom intimen Ort des Betts im privaten Zimmer in die gemeinsam benutzte, öffentliche Toilette stolpern die Mitbewohner mitten in der Nacht im öffentlichen Raum über Myšin: Als ein zum Gegenstand gewordener, auf dem Korridor verstauter Mensch ist Myšin eine groteske Erinnerung an allgemeine Unzulänglichkeiten des sowjetischen Systems. Er verkörpert die Undurchdachtheit und Unaufgeräumtheit des Systems und der darin enthaltenen Diskrepanzen, Ambivalenzen und Widersprüche. Beide Seiten – das Regime und die Bewohner – möchten Myšin jeweils aus ihren eigenen Gründen und für eigene Zwecke beseitigen. Denn aus der Perspektive der Mitbewohner wie auch der Regierung verstößt Myšin gegen die ›offizielle‹ Ordnung der neuen Lebensweise, die eigentlich Myšin selbst in ihrer systemimmanenten Diskrepanzen und Widersprüchlichkeit verkörpert. Eine zusätzliche Komponente ist, dass im Prinzip gegen die für die

69 Charms, Daniil: »Pobeda Myšina« in: Daniil Charms [techn. red. Avdeev Aleksandr Sergeevic], Tom. II, Moskva 1994, S. 108-110, S. 108; »Myšins Sieg« in: Debüser, Lola (Hg.): Zwischenfälle, Übers. von Ilse Tschörtner, Berlin 1992, S. 217-220, S. 218. 70 Ebd. S. 109; dt. Übersetzung S. 218.

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Kommunalwohnung etablierte Ordnung der Bewohner verstoßen wird, von Myšin genauso wie von der Regierung. Myšin verstößt gegen die Ordnung, weil er ordnungswidrig im Korridor herumliegt. Die Regierung verstößt gegen die Ordnung der Bewohner, da sie Myšin falsch zugeordnet haben. Beide Seiten – die Bewohner und die Regierung – wollen weitere Zeichen der systematischen Mängel eliminieren. Die gequälte Existenz der Sowjetbürger, die durch den gravierenden Wohnraummangel in den Kommunalwohnungen verursacht wurde, stand im gravierenden Gegensatz zu der Großartigkeit und dem propagierten perfekten sozialistischen Leben. Hierdurch wurde in der sowjetischen Gesellschaft eine paradoxe Spannung geschaffen, die machtsteigernd und zugleich aber auch machtunterminierend wirkte: Einerseits war es für die Regierung wichtig, rhetorisch von den Unterschieden abzulenken und die sowjetischen Erfolge, besonders im architektonischen Bereich, hervorzuheben und sich selbst damit zu legitimieren. Andererseits aber trugen diese offensichtlichen Diskrepanzen zu einer allgemeinen Frustration bei, die es galt in Schach zu halten. In Charms’ Erzählung müssen sich die Bewohner nun entscheiden, wie sie mit dieser Situation und mit Myšin umgehen. Vom Staat wird Myšin aufgrund der Wohnraumknappheit automatisch ausgegrenzt, indem es den ihm zugewiesenen Wohnraum nicht gibt und er infolgedessen auf dem Korridor schlafen muss. Mit dem Anspruch, den häuslichen Innenraum in Abgrenzung zum urbanen Außenraum gemäß der neuen Lebensweise zu ordnen, war es notwendig, Klarheit, Sauberkeit und Bestimmtheit in den chaotischen, unbestimmten und unreinlichen Innenraum einzubringen. Chaos bedeutet hier das noch nicht Ausgegrenzte, während Ordnung im Gegensatz dazu Disjunktion und das Abgegrenzte bedeutet. Es ist die Aufgabe der Mitbewohner, Myšins Status in ihrer Ordnung zu definieren und festzulegen. Sie sind die eigentlichen Entscheidungsträger darüber, ob sie Myšin ausgrenzen und somit als Abfall bezeichnen oder nicht. Schließlich entscheiden sie sich für das Erstere: Die Mitbewohner möchten diesen zum Gegenstand gewordenen Menschen aus dem Weg räumen und beseitigen. Nachdem der Hausmeister dem Milizionär von dem grausamen Vorhaben berichtet, Myšin durch Verbrennen zu eliminieren, weisen die Mitbewohner diese Absicht einstimmig ab: Es sei ja nur eine Einschüchterungstaktik gewesen und sie würden niemals einen lebendigen Menschen verbrennen.

M ÜLL, UNORDNUNG

UND

C HAOS | 179

Мы его только для страха облили, а поджечь и не собирались. -- Да я бы не позволила в своем присутствии живого человека жечь, сказала Селизнева. Mit Petroleum haben wir ihn nur zum Schreck begossen, anzünden wollten wir ihn nicht. Aber ich hätte auch gar nicht geduldet, einen lebendigen Menschen 71

zu verbrennen in meinem Beisein, sagte Frau Selisnjowa.

Die Grenzen an der Schwelle zwischen dem Offiziellen und Inoffiziellen verschwimmen auf problematische, wenn nicht absurde Weise, und die Intentionen der Bewohner scheinen zwischen diesen beiden Sphären zu oszillieren. Eigentlich ist die Schwelle selbst die Grenze, die in diesem Sinne jedoch noch nicht existiert. Der Korridor, als ein Ort der gemeinsamen Nutzung, repräsentiert oder vermittelt eine Schwelle – er ist ein Ort der flüchtigen Begegnung mit anderen Menschen. In diesem historisch kritischen Moment und Ort begegnen sich unterschiedliche Menschen und fassen einen Entschluss, wie der Problemfall Myšin bewältigt werden soll. Für Myšin ist es in dieser Hinsicht bedauerlich, dass er keine politischen Vorteile mit sich bringt, nicht angeeignet und umfunktioniert werden kann. Im Gegensatz zu Magie und Fetischen, die (Un-)Ordnung stabilisieren sollen, reflektieren Müll und der objektivierte Mensch als antistrukturelle Elemente die Unaufgeräumtheit der (sowjetischen) Kultur. Müll fungiert hierbei als ein wichtiges Analyseinstrument in der Bestimmung gesellschaftlicher Ordnung. In der Umfunktionierung und somit Umbestimmung der Dinge bestimmen Mitbewohner eigenständig bzw. -sinnig die Kommunalkaordnung mit.

71 Ebd., S. 109; dt. Übersetzung S. 219.

Solidarischer Eigen-Sinn oder eigensinnige Solidarität?

Eine Facette der eigenständigen und eigensinnigen Ordnungsbestimmung sind solidarische Verhaltensmuster, die im Folgenden in ihren verschiedenartigen Ausprägungen im Kommunalkaraum beleuchtet werden.

E IGEN -S INN

VERSUS

W IDERSTAND For me this space of radical openness is a margin – a profound edge. Locating oneself there is difficult yet necessary. It is not a »safe« place. One is always at risk. One needs a community of resistance.1

Als Form gesellschaftlicher und politischer Auseinandersetzung ist Widerstand eine wichtige Ausdrucksform, die je nach gesellschaftlicher Ordnung aktive oder passive sowie individuelle und kollektive Dimensionen annehmen kann. Aktiver Widerstand kann konkret in Gestalt von kritischen Bewegungen und Protesten zum Vorschein kommen und gar in Revolutionen ausarten. Im Gegensatz dazu ist passiver Widerstand unterschwellig und nicht konkret – er umfasst eine

1

Hooks, Bell: »Choosing the Margin as a Space of Radical Openness« in: dies.: Yearning: Race, Gender, and Politics, Boston 1990, 145-153, S. 149.

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Reihe von Handlungen, Verhaltensweisen und Einstellungen, die vorübergehend, periodisch oder durchgehend gegen ein Objekt oder einen Umstand eingesetzt werden können. Aktiver, offener Widerstand wurde vorbehaltlos vom Sowjetregime unterdrückt,2 und so erwies sich eine Form passiven Widerstands als Möglichkeit, dennoch am Politischen teilzuhaben. Allerdings ist das Wort ›Widerstand‹ im deutschsprachigen Raum aufgrund der nationalsozialistischen Geschichte normativ extrem aufgeladen, weswegen eine alternative und differenziertere Begrifflichkeit für den sowjetischen Kontext angebracht ist. Aufgrund der systemimmanenten Ambivalenz reflektiert die mit Bindestrich geschriebene Begrifflichkeit ›Eigen-Sinn‹ vielmehr das von den ›offiziellen‹ Normen abweichende kollektive, aber auch intersubjektive Handeln sowie die gemeinsame Suche nach Vernunft und ›nackter‹ Wahrheit. Abweichendes Handeln nahm die passive Form einer überlebensnotwendigen Abwehr, einer defensiven Widersetzlichkeit oder lebenspraktischen Ungehorsams an; Beispiele dafür waren beispielsweise das Umfunktionieren von Gegenständen, Diebstahl,3 Sabotage, Vernachlässigung und Intrige, aber auch Solidarität. Widersetzlicher Eigen-Sinn war nur eine Form gesellschaftlicher Reaktion auf die gewalt(tät)igen Transformationsabsichten des Stalinismus, aber dennoch eine wichtige. Bei näherer Betrachtung kann diese gesellschaftliche Ausdrucksform viel über den Stalinismus und über die sowjetische Gesellschaft an sich aussagen. Laut Viola gab es

2

Aktiver, politisch motivierter und organisierter Widerstand kam durchaus zustande, vor allem während des ersten Fünfjahres-Plans. Laut Viola gab es im Jahre 1930 um die 13.754 Massenaufstände, über 1.000 Attentate auf Beamte, unzählige Proteste und Gewaltausbrüche während Kollektivisierungsveranstaltungen und eine breite Vielfalt von anderen Formen des Widerstands. Siehe Viola, Lynne: »Popular Resistance in the Stalinist 1930s: Soliloquy of a Devil’s Advocate« in: dies. (Hg.): Contending with Stalinism: Soviet Power and Popular Resistance in the 1930s, Ithaca and London 2002, S. 19.

3

Hier stellt Osokina in ihrem Beitrag »Economic Disobedience under Stalin« in: Viola, a.a.O., eine wichtige Frage: War Kriminalität eine Manifestation alltäglichen Widerstands, war es alltägliche Kriminalität oder lediglich eine Realität des alltäglichen Lebens? Wie können wir den romantisierten Helden Ostap Bender in Il’fs und Petrows literarischen Werken Das goldene Kalb und Zwölf Stühle verstehen?

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neben der offiziellen politischen Linie eine ganz andere, teilautonome Dimension vieler Schichten, Kulturen und Sprachen der Existenz, der Erfahrung und des Überlebens. Diese Elemente koexistierten und entfalteten sich untereinander und interagierten miteinander, so dass die größere und omnipräsente Wirklichkeit des Stalinismus umgangen werden konnte.4 Im Wesentlichen existierte in der sowjetischen neuen Lebensordnung eine inoffizielle autonome oder halbautonome Sphäre, die neben und zugleich aber mit der offiziellen Sphäre existierte und interagierte. Aus diesem Grunde umfasst der Terminus ›Eigen-Sinn‹ eine Form von passivem Widerstand, wobei sich die Bestimmung und Definition von Eigen-Sinn relational aus einem bestimmten Kontext oder einer Situation zusammensetzt. Der Versuch der Regierung, die alltägliche kulturelle Praxis der Gesellschaft zu beeinflussen, war ebenso erfolgreich, wie sie wirkungslos war. Einerseits wurde aktiv versucht, das kulturelle Niveau der Bevölkerung anzuheben, andererseits wurde gleichzeitig das Ziel verfolgt, Traditionen und Sitten zu unterbinden, die möglicherweise in Konflikt mit der Moderne und der angestrebten neuen Lebensweise treten könnten – es entstanden also polare Kräfte der Zerstörung und des Aufbaus, die in dynamischer Wechselwirkung aufeinander einwirkten. Teil dieser modernen, neuen Lebensweise war auch Kommerzialisierung und Konsum, die Entfaltung einer modernen Individualität mit sich brachten.5 Dennoch waren traditionelle kulturelle Praktiken, die von der Regierung als rückständig eingestuft wurden, für einen Großteil der Bevölkerung ein wichtiger Bestandteil der Alltagsgestaltung. Traditionelle Praktiken wurden von den Kommunalkabewohnern

4

Vgl. Viola, Lynne: »Introduction« in: dies. (Hg.): Contending with Stalinism: Soviet Power and Popular Resistance in the 1930s, Ithaca,London 2002.

5

Vgl. Kelly, Catriona/Smith, Steve: »Commercial Culture and Consumerism« und Kelly, Catriona/Volkov, Vadim: »Directed Desires: Kul’turnost’ and Consumerism« in: Kelly, Catriona/Shepherd, David (Hg.): Constructing Russian Culture in the Age of Revolution: 1881-1940, Oxford University Press 1998, S. 106-155, 291-313; Reid, Susan: »Cold War in the Kitchen: Gender and the De-Stalinization of Consumer Taste in the Soviet Union under Khrushchev« in: Crowley, David/Reid, Susan (Hg.): Socialist Spaces: Sites of Everyday Life in the Eastern Bloc, Oxford 2002, S. 211252.

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bewusst oder unbewusst fortgesetzt, oft aufgrund fehlender, widersprüchlicher oder unklarer Anweisungen von oben. Indem diese traditionellen Praktiken fortgesetzt wurden, nahmen Bewohner der Kommunalka sowohl auf der sozialen und zugleich auch auf der politischen Ebene an einer Form des Eigen-Sinns und des lebenspraktischen Ungehorsams teil. Im sowjetischen Kontext umfasst die Begrifflichkeit des widerständigen Eigen-Sinns zwar politisch oder wirtschaftlich motivierte Opposition, kann allerdings auch religiöser, kultureller oder geschlechtsspezifischer Herkunft sein, bis hin zu sozialem und wirtschaftlichem Ungehorsam sowie Strategien des Selbstschutzes und Überlebens.6 Für James Scott sind hidden transcripts versteckte und verborgene gesellschaftskritische Diskurse von mächtigen und ohnmächtigen Gesellschaftsgruppen, die er als arts of resistance benennt, während Mitglieder unterschiedlicher Gesellschaftsgruppen allerdings ihren öffentlichen Rollen nachgehen. Osokina weist darauf hin, dass die Bezeichnung arts of resistance von Scott dem sowjetischen Beispiel nicht vollkommen entspricht, da Handlungen des Ungehorsam im Wesentlichen nicht eingesetzt wurden, um das System zu vernichten, sondern um in ihm zu überleben. An Stelle dessen entsprechen ihrer Meinung nach die Bezeichnungen arts of survival oder arts of enrichment mehr den eigentlichen Umständen.7 Viola thematisiert, inwiefern Gruppen oder Individuen alternative Identitäten in einer eigensinnigen Position annahmen. In diesem Zusammenhang lässt sich fragen, inwiefern solche alternativen Identitäten unausweichlich und überdies kulturell übermittelt wurden. Waren widersetzliche, eigensinnige Identitäten oder Gemeinschaften eine immanente Komponente des stalinistischen Systems? Wie ließen sich diese inhärenten widersetzlichen, eigensinnigen Identitäten mit den offiziellen Vorgaben der neuen Lebensweise in der häuslichen Kommunalkagemeinschaft vereinen? In seiner Einleitung zu Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen8 schreibt Joseph Vogl der Gemeinschaft eine wichtige politische Bedeutung zu. Historisch und im Tönnies’schen Verständnis von Gemeinschaft und Gesellschaft gesehen steht die

6

Vgl. Viola, 2002.

7

Vgl. Osokina, a.a.O.

8

Vgl. Vogl, Joseph: »Einleitung« in: ders. (Hg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a.M. 1994, S. 7-27.

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Gemeinschaft als ein Ort potentieller gegenkultureller und utopischer Projekte in Opposition zur Gesellschaft. Das Gemeinschaftliche ist ohne das Gesellschaftliche nicht denkbar, und laut Vogl sind westliche Gesellschaften auf der Basis von Vertraglichkeit, Rechtsförmigkeit, Persönlichkeit und kontrolliertem Austausch aufgebaut. Im Gegensatz zur Gesellschaft erzeugen Gemeinschaften – als Orte, an denen verborgene traditionelle, aber auch biologische Bande existieren, die man auch als humanitäre, moralische Grundsätze verstehen kann – eine (notwendige) Spannung. Hierbei verstehe ich humanitäre und moralische Grundsätze im sowjetischen Kontext als eine gemeinsame Suche nach Vernunft und nackter Wahrheit im Schatten widersprüchlicher Lebensbedingungen, die sich im polaren Kräftefeld der Zerstörung und des gleichzeitigen Aufbaus eines gesellschaftlichen Ordnungssystems ergaben. Mitbewohner der Kommunalka begaben sich also auf eine gemeinsame Suche nach humanitären Grundsätzen. Ursprünglich wurde die Sowjetunion und deren Ordnung als utopisch verhandelt, etablierte sich aber letztendlich im Gegensatz dazu als eine autoritär konservative Ordnung. In Anlehnung an das von Vogl vorgeschlagene Verständnis einer Gemeinschaft fungierte die kommunale Gemeinschaft unter der widersprüchlichen wie unbeständigen Lebensordnung als ein Ort gegenkultureller Handlungen und stellte eine notwendige Spannung in der Gesellschaft her. Im heutigen Kontext sieht Vogl die »verlorene Gemeinschaft und ihre Wiederkehr als kritische Stelle und unüberschreitbaren Horizont politisch-sozialen Handelns«.9 An diesen wichtigen Punkt möchte ich anknüpfen und die besondere (Wohn-)Gemeinschaft, die sich in den Räumlichkeiten der Kommunalka entwickelte und etablierte, hervorheben: Die Kommunalwohnung war ein Ort, an dem politisch-sozial gehandelt wurde, auch solidarisch und in Opposition zu den unmenschlichen (Wohn-)Verhältnissen und mithin im Gegensatz zum Staat. Mithilfe einer Begriffsbestimmung von Solidarität und Intimität und mit literarischen Beispielen werde ich die Wechselbeziehung von Nähe und Distanz, das Spannungsverhältnis von literarischen und nicht-literarischen Geschichten sowie Mechanismen der Inklusion in und Exklusion von Wissens- und Interpretationsgemeinschaften im Folgenden veranschaulichen und analysieren.

9

Ebd., S. 22

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S OLIDARITÄT A message from that space in the margin that is a site of creativity and power, that inclusive space where we recover ourselves, where we move in solidarity […] Marginality is the space of resistance.10

Seinen Ursprung als moderner politischer und sozialer Begriff hat Solidarität11 in den Begriffen ›Brüderlichkeit‹ und ›Verbrüderung‹ der Arbeiterbewegung 1848 im deutschen Kontext und in fraternité als einem der revolutionären Gründungskonzepte der Französischen Republik. Einerseits ist dieser Begriff eine Kampfparole der Bürger- und Arbeiterrevolution, andererseits wird Brüderlichkeit als eine ethische Tugend verstanden, die zu Hilfsbereitschaft und Toleranz gegenüber den ›Anderen‹ führt. Dabei ist es maßgeblich, zwischen Altruismus und Sympathie – sich die Interessen anderer zu eigen machen – und Solidarität zu unterscheiden. Bei den Begriffen ›Altruismus‹ und ›Sympathie‹ besteht kein Einheitsbewusstsein mit dem ›Anderen‹, welches zu Hilfsbereitschaft und Verfolgung gemeinsamer Interessen führen würde. Bei Solidarität geht es hauptsächlich um ein Zusammengehörigkeitsgefühl und die gegenseitige Hilfsbereitschaft einer Gruppe sich fremder Menschen, die durch eine Sache und gemeinsame Ziele verbündet sind. Solidarität wie Eigen-Sinn sind Bewegungen, die die identitäre Wechselbeziehung und Ordnung von Distanz und Nähe

10 Hooks, a.a.O., S. 148. 11 Schon in der Antike fanden sich kultische und berufliche Genossenschaften zusammen, die sich durch fraternitas verbunden fühlten. Auch politische und rechtliche gesinnungsgemeinschaftliche Bündnisse wie brüderliche Haus- und Erbgemeinschaften und ritterliche Orden verfolgten meist religiöse Zielsetzungen. Im Zuge der europäischen Aufklärung wandelte sich der Brüderlichkeitsbegriff, indem er allgemeinen Säkularisierungsprozessen unterzogen wurde. Mehr zu der Genese des modernen Brüderlichkeitsbegriffs bei Schieder, Wolfgang: »Brüderlichkeit« in: Brunner, Otto/Conze, Werner/Koselleck, Reinhard (Hg.): Geschichtliche Grundbegriffe, Vol. 1, Stuttgart 1972, S. 552-581.

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vor allem in konfliktreichen Ausnahmesituationen herausfordern, zerstören, aber auch intensivieren. Nun lässt sich fragen, wie dieses Zusammengehörigkeitsgefühl und eine gegenseitige Hilfsbereitschaft, die zu zwischenmenschlichen Zusammenschlüssen führt, unter bunt zusammengemischten Menschen und unter Fremden entstehen kann. Gegenüber Fremden, im Vergleich zu Verwandten und Bekannten, sind Hilfsbereitschaft und Solidarität nicht ausgesprochen ausgeprägt. Entgegen der weitverbreiteten Annahme, dass Egoismus in extremen Lebensumständen, wie beispielsweise in Kriegs- oder Krisensituationen, zunimmt, zeigt sich eine scheinbar widersprüchliche Bewegung: In Ausnahmesituationen steigt unter Mitgliedern einer Gruppe das Gruppenbewusstsein und die Opferbereitschaft. Der eigentliche Sinn des Verhaltens ist es, nicht einzelnen Menschen zu helfen, sondern der Gruppe als Einheit – entweder als Inbegriff aller (»uns allen helfen wir«) oder in abstrakter Form, losgelöst von einzelnen Menschen (»der Gruppe helfen wir«).12 Durch einen Zusammenschluss sollen bedrohliche Gefahren abgewendet werden, dabei entwickelt sich ein gewisser ›Kollektivegoismus‹.13 Durch dieses Verhalten sorgt die Gruppe als Ganzes für sich, sei es auf dem Schlachtfeld, am Arbeitsplatz oder in einer Wohngemeinschaft. Eine korrespondierende Kollektivität wird mit Ritualen oder Handlungen rituellen Charakters verbunden, die einerseits eine erfahrene und wahrgenommene Realität schaffen und andererseits durch Symbole und Embleme eine Möglichkeit der Identifikation für Gruppenangehörige bieten. Laut Soeffner wird die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe durch Alltagsrituale ausgedrückt, die eine sich gegenüber anderen abgrenzende exklusive Gemeinschaft, d.h. eine »Interpretationsgemeinschaft«14 der Wissenden bilden. Er konstatiert: Embleme sind bezogen auf eine Interpretationsgemeinschaft. Sie erhalten diese Gemeinschaft, der sie immer wieder das gemeinsame Orientierungssystem vor Augen führen. Sie definieren die Interpretationsunfähigen als die Außenstehenden […]. Geschlossene emblematische Systeme reklamieren eine bestimmte Ordnung, erinnern an das verbindliche Auslegungsmuster und dienen als

12 Vierkandt, Alfred: »Gruppe« in: ders. (Hg.): Handwörterbuch der Soziologie, Stuttgart 1959, 239-253, S. 251. 13 Ebd. 14 Gerhardt, a.a.O., S. 52.

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Grenzmarkierungen einer Gemeinschaft nach innen – Zugehörigkeit – und nach außen – Ausschluß.15

Für die Veranschaulichung des sowjetischen Kontexts möchte ich diese Mechanismen der In- und Exklusion in Form von Interpretationsgemeinschaften anwenden. Allerdings werden nicht nur Interpretationsunfähige, sondern auch Interpretationsunwillige aus der Gemeinschaft ausgeschlossen. Wenn auch die Mitglieder einer Wissensgemeinschaft überwiegend der gleichen Interpretationsgemeinschaft angehören, möchte ich für den Rahmen dieser Arbeit zusätzlich zwischen Interpretationsgemeinschaften und Wissensgemeinschaften unterscheiden, um einen multidimensionalen Denk- und Analyseraum entstehen zu lassen. Denn im liminalen und ambivalenten Raum der Kommunalka müssen Wissende nicht unbedingt der gleichen Interpretationsgemeinschaft angehören, da, abhängig von der Situation und der Konstitution der am Raum Teilnehmenden, je nach Perspektive offizielle oder inoffizielle Werte und Normen den zwischenmenschlichen Austausch bestimmen. Eine Wissens- bzw. Interpretationsgemeinschaft bilden beispielsweise Zoja und der Vorsitzende des Hauskomitees in Michail Bulgakovs Stück Zojkina kvartira. Obwohl sie eigentlich gegensätzliche Positionen in der sowjetischen Gesellschaft vertreten – Alliluja innerhalb und Zoja außerhalb des offiziellen Systems; Alliluja der Unterschicht angehörig und Zoja der Oberschicht – folgen sie dennoch als Interpretationsfähige einem gemeinsamen Orientierungssystem. Hier wird die einzigartige wie fließende zwischenmenschliche Dynamik unter einzelnen Subjekten deutlich: Der Vorsitzende vermittelt Zoja, dass sie für ihr Verhalten schnell in Bedrängnis geraten würde, wenn er eine andere Person wäre. Darauf antwortet Zoja: Вот в том-то и дело, что вы на своем месте, а не другой. Das ist es ja gerade, dass Sie an Ihrer Stelle sind und nicht ein anderer.16

15 Zitiert von ebd., S. 52. 16 Bulgakov, 1989, a.a.O., S. 164; dt. Übersetzung S. 13.

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In diesem Austausch wird eine situative zwischenmenschliche Dynamik deutlich, in der trotz entgegengesetzter gesellschaftlicher Positionen eine Bindung unter den Figuren entsteht. Diese hat in gewisser Weise den Charakter eines Zweckbündnisses: Zoja als Besitzerin einer Wohnung möchte die Kontrolle über ihren Wohnraum beibehalten, der für sie eine wichtige finanzielle Quelle darstellt, und als bestechlicher Vorsitzender des Hauskomitees hat auch Alliluja eine lukrative Einkommensquelle. Im Austausch versuchen allerdings beide, die Grenzüberschreitung des Anderen festzulegen und sich jeweils von der offiziellen Grenze auszuschließen, um somit jenseits der offiziellen Grenze ein Zusammengehörigkeitsgefühl herzustellen, mit dem sie den Raum bestimmend verhandeln: ЗОЯ: У вас во внутреннем кармане жилетки червонцы лежат серии Бэ-Эм, номера от 425900 до 425949 включительно. Выпуска 1922 года. (А л л и л у я расстегнулся, достал деньги, побледнел.) Алле-гоп! Домком – око. Недреманное. Домком – око, а над домкомом еще око. АЛЛИЛУЯ: Вы, Зоя Денисовна, с нечистой силой знаетесь, я уж давно заметил. Вы социально опасный элемент! ЗОЯ: Я социально опасный тому, кто мне социально опасный, а с хорошими людьми я безопасный. АЛЛИЛУЯ: Я к вам по-добрососедски пришел, как говорится, а вы мне сюрпризы строите. ЗОЯ: А! Ну, это другое дело. Прошу садиться. Soja: Sie haben in der Innentasche Ihrer Weste Zehnerscheine – Serie B-M, Nummer 425 900 bis 425 949. Ausgegeben neunzehnhundertzweiundzwanzig. Halleluja knöpft die Weste auf, holt das Geld hervor, erbleicht. Allez hopp! Das Hauskomitee hat ein Auge, und auf dem Hauskomitee ruht noch ein Auge. Halleluja: Sie sind ein sozial gefährliches Element. Soja: Sozial gefährlich bin ich nur für Leute, die mir sozial gefährlich werden, bei guten Menschen bin ich ganz ungefährlich. Halleluja: Ich bin aus guter Nachbarschaft zu Ihnen gekommen, wie man so sagt, und Sie bereiten mir solche Überraschungen… Soja: Ach! Das klingt schon anders. Nehmen Sie bitte Platz.17

17 Ebd. S. 164; dt. Übersetzung S. 13f.

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Mit kompromittierenden Informationen über Alliluja hat Zoja eine vorteilhafte Verhandlungsbasis für ihr eigenes, dubioses Vorhaben geschaffen. Die erste Reaktion Allelujas ist, sich mit den offiziellen Werten und Normen und der damit korrelierenden Sprache zu schützen. Zoja baut auf der zwischenmenschlichen Interaktion auf und will zusammen mit Alliluja eine Wissens- und Interpretationsgemeinschaft gründen. Infolgedessen unterdrückt er den offiziellen Schutzmechanismus und erklärt, dass er in ›guter Nachbarschaft‹ gekommen sei. Mit diesem Sprechakt öffnet sich der Raum, und beide befinden sich nun in einem Schwellenzustand: in einem nebulösen Gemenge von offiziell und inoffiziell. In ihrer spannungsgeladenen Interaktion wird diese Grenze offengehalten, da die Grenze nie festgelegt sowie die eigentliche Grenzüberschreitung nie artikuliert wird. Zoja und Alliluja bilden eine Interpretationsgemeinschaft unter Wissenden in dieser bestimmten und bestimmenden Situation, indem sie sich immer wieder das gemeinsame Orientierungssystem vor Augen halten, nämlich die jeweilige Kontrolle über den Raum. Die gleichzeitige Existenz beider scheinbar unvereinbaren, gegensätzlichen und gegenkulturellen Positionen wird ermöglicht, solange Zoja und Alliluja die Intentionen des Anderen anerkennen, respektieren und letztendlich zulassen. Unter diesen Umständen können beide ideologischen und soziokulturellen Standpunkte zur gleichen Zeit im gleichen Raum existieren und eine Einheit bilden. Zoja kann ihren durch dubiose Dokumente gesicherten Wohnraum vorläufig behalten, solange sie Allilujas Position als Vorsitzender des Hauskomitees anerkennt und respektiert, und umgekehrt kann Alliluja seine dubiose Wohnpolitik im Haus vorerst fortsetzen, solange er Zoja als berechtigte Inhaberin einer Schneiderei zulässt. In diesem Zusammenhang wird Solidarität als ein Grundprinzip zwischenmenschlichen Zusammenlebens verstanden, als eine Bindung gemeinsamer Interessen, Zweckbestimmungen und Werteinstellungen zwischen Personen oder Mitgliedern einer Gruppe, die durch gegenseitigen Beistand und Unterstützung gekennzeichnet ist. Hier werden Gemeinsamkeiten zwischen Solidarität und dem Intimitätsbegriff deutlich: Menschen erfahren eine besondere Nähe aufgrund gemeinsamer Werteinstellungen und Sympathien und lassen sich somit auf entsprechende diskursive und kommunikative Strategien ein. Und es ist das Sicheinlassen auf eine Situation, auf eine Interpretationsgemeinschaft oder eine Person, die eine Beziehung im öffentlichen Raum intim werden lässt. Im Sicheinlassen wird die Mitgliedschaft in einer Wissensgemeinschaft und die Stel-

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lung der Interpretationsgemeinschaft dem herrschenden Werteverständnis gegenüber etabliert. Sobald sich Abweichungen oder Unklarheiten abzeichnen, wird der intime Austausch relevant, welcher die Qualität eines spielerischen Hin und Hers annimmt, und regelt Unstimmigkeiten. ›Offizielle‹ Werteinstellungen können dabei schützende oder gefährliche Eigenschaften annehmen, das Gleiche gilt für ›inoffizielle‹ Werteinstellungen. Hier wird die multidimensionale, situationsbedingte und perspektivenabhängige Qualität von Solidarität im sowjetischen Kontext und besonders in der Kommunalwohnung deutlich.

G EISTIG INTIME G EMEINSCHAFTEN Um einen weiterführenden Einblick in die solidarischen Verhaltensmuster und die geistige Nähe im zwischenmenschlichen Austausch zu bekommen, ist es hilfreich, kulturelle Veränderungsprozesse von Intimität nachzuzeichnen. Begrifflich ist Intimität auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelt und hat demnach keinen eindeutigen Gegenbegriff. Allerdings wird Intimität hier überwiegend mit dem Privaten und dem Eigenen assoziiert, im Gegensatz zum Öffentlichen und Politischen. Im Zusammenhang der Kommunalwohnung als soziale Institution der sowjetischen Gesellschaft kann man von sozialer oder gemeinschaftlicher Intimität sprechen wie auch von der Kommunalwohnung selbst als identitäts- bzw. intimitätsstiftende Institution.18 Für den Rahmen dieser Untersuchung allerdings ist das Eindringen in die Intim- und Privatsphäre des Einzelnen durch den Staat weniger relevant als die zwischenmenschliche Intimität, die erst unter solchen Umständen nicht nur unter Familienmitgliedern und im freundschaftlichen Kreis, sondern auch mit Fremden möglich bzw. notwendig wird. Es ist die Form der Intimität, die im liminalen Moment des Austausches zustande kommt, die näher betrachtet werden soll. Der Kultursemiotiker Jurij Lotman weist darauf hin, dass für Bulgakov wie für Puškin Kultur untrennbar vom intimen, verborgenen Leben ist.19 Kultur braucht eine private Sphäre, in der sie sich ungestört entwickeln kann. Unter den Lebensbedingungen in der Kommu-

18 Vgl. Streisand, Marianne: Intimität. Begriffsgeschichte und Entdeckung der »Intimität« auf dem Theater um 1900, München 2001, S. 35. 19 Vgl. Lotman, 2005, a.a.O., S. 753.

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nalwohnung, in der private Gegenstände genauso wie private bzw. intime Beziehungen im Namen der propagierten neuen Lebensweise nach außen auf den öffentlichen Platz getragen und somit veröffentlicht wurden, versuchten die Bewohner, veröffentlichte Bereiche im Zwischenmenschlichen zu (re)intimisieren. In dieser Hinsicht kann die von Theodore Zeldin dreigeteilte, begriffsgeschichtlich chronologische Entwicklung von Intimität hilfreich sein, die er im Materiellen, im Sexuellen und letztendlich im Geistigen festmacht.20 Ursprünglich bezog sich der Begriff Intimität auf konkrete Räume und Objekte: Ein Zimmer galt als ein intimer Rückzugsort, an dem man sich vor Blicken, Lärm und Beurteilungen anderer schützte. Außerdem galten spezifische Objekte, wie beispielsweise Federhalter, Kopfkissen oder sogar Haarlocken von verstorbenen Autoren, Komponisten und Dichtern, als intime Andenken und Relikte einer Person. Zwar ist sie nicht vergleichbar mit Mozarts Locke, dennoch kann Kobylinas Stahlwolle in Zoščenkos Nervnye ljudi (1925) den Prozess der (Re-)Intimisierung im Kommunalkaraum verdeutlichen. Kobylinas Stahlwolle befindet sich an einem öffentlichen Ort der gemeinsamen Nutzung, an dem jeder Zugang zu diesem begehrten und raren Objekt hat. Letztendlich wird die (Re-)Intimisierung, die mit einer Bedeutungszuweisung vergleichbar ist, in der Küche fast rituell inszeniert. An der Inszenierung nimmt die ganze Bewohnerschaft der Kommunalwohnung teil, so dass das reterritorialisierende Geschehen in einen größeren räumlichen (Bedeutungs-)Zusammenhang eingebettet werden kann. Die zweite Form des Intimitätsbegriffes wird von den Romantikern durch ein liebendes Paar, Mann und Frau, definiert und als höchste geistige und körperliche Verbindung betrachtet. Zu diesem Zeitpunkt galt diese Erweiterung des Verständnisses von Intimität als revolutionär, da generell nur Männer die Ebene der geistigen Nähe und Vertrautheit erreichen konnten. Außerdem bezeichneten die Romantiker Geschlechtsverkehr als Mittel dieses höchsten Grades geistiger und körperlicher Verbindung. Laut Zeldin gab es im 18. Jahrhundert eine lange Debatte, in der hinterfragt wurde, inwiefern Freundschaft oder eine leidenschaftliche Liebesbeziehung Ausdruck dieser seelischen Verschmelzung sei. Noch heute ist der Begriff der Intimität weitgehend mit dem Körper verbunden. Darüber hinaus wird in der wissen-

20 Vgl. Zeldin, Theodore: An Intimate History of Humanity, London 1994.

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schaftlichen wie in der alltagssprachlichen Nutzung der Begriff Intimität überwiegend mit Liebe, Nähe und Fürsorge verbunden und dadurch verengt. Eine genauere und differenziertere Begriffsbestimmung stellt Marianne Streisand her, die konstatiert, dass Intimität mit der kleinen Privatheit, mit den inneren Gefühlen und Geständnissen, mit den Liebes- und Freundschaftsbeziehungen, mit der Familiarität, mit Körperlichkeit und Körpergefühlen, mit Sexualitäten und Genitalien, mit Voyeurismus und Nahblicken, mit Blickrichtungen nach innen und reflektierten Selbstreflexionen, mit ›entäußerter‹ oder ›veräußerlichter‹ Innerlichkeit, mit Räumen und Kommunikationssituationen21

zu tun hat. Jean Cohen hat den Begriff der ›persönlichen Beziehungsprivatheit‹ konzipiert, der diese unterteilte, persönlichere und intimere Ebene umschreibt.22 Sie definiert Privatheit als den unhintergehbaren Bereich einer Person, der sie befähigt, sich in zwischenmenschlichen und öffentlichen Beziehungen zu behaupten. Die Selbstwahrnehmung, verbunden mit der eigenen Körperwahrnehmung, ist in diesem Falle intersubjektiv vermittelt. Charms behandelt in seiner Kurzgeschichte Pomecha (Hindernis, 1940) die verhinderte, gestörte ›persönliche Beziehungsprivatheit‹ eines Liebespaares, die ich im nächsten Kapitel näher betrachten werde. Die dritte Form der Intimität ist laut Zeldin eine Intimität des Geistes. In seiner Auslegung von Intimität spricht er von einer Partnerschaft auf der gemeinsamen Suche nach Wahrheit, einer Vereinigung geistiger Partner- oder Gemeinschaften, »enabling one to see the world twice over, through the other’s eyes as well as one’s own«.23 Auffallend ist, dass die geistige Intimität erst in der Öffentlichkeit zustande kommen kann, im Austausch mit anderen Menschen. Diese Ansicht erinnert an Bachtin und sein eng verflochtenes Konzept der Dialogizität, die aber auch in der Beziehung zwischen dem Autoren und seinem 21 Streisand, a.a.O., S. 66. 22 Vgl. Cohen, Jean: »Das Öffentliche und das Private neu denken« in: Brückner, Margrit/Meyer, Birgit (Hg.): Die sichtbare Frau. Die Aneignung der gesellschaftlichen Räume, Freiburg 1994, zitiert von Eckart Christel: »Zeit für Privatheit. Bedingungen einer demokratischen Zeitpolitik« in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 31-32/2004, S. 13 - 18. 23 Zeldin 1994, a.a.O., S. 326.

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Helden im literarischen Schaffen ansatzweise erkennbar ist. Der Romanheld ermöglicht es dem Autor, sich sich selbst aus einer kritischen Perspektive zu nähern, gleichzeitig muss er aber Einfühlungsvermögen dem Helden gegenüber aufbringen. Es werden zwei lebendige Bewusstseinsebenen geschaffen: Die Realität des Helden ist, laut Bachtin, kein bloßes objektiviertes Element des künstlerischen Schaffens des Autors, sondern der Autor geht eine lebendige und dynamische Beziehung mit seinem Helden ein, die in ihrer Beschaffenheit offen und unabgeschlossen ist. Dennoch ist der »Autor der Träger der spannungsvollen, aktiven Einheit des vollendeten Ganzen, des Ganzen des Helden und des Ganzen des Werks«.24 Der Held und seine Welt sind für Bachtin das »Wertezentrum« der ästhetischen Tätigkeit, sie besitzen ihre eigene, unabhängige und »elastische« Realität und können nicht einfach durch die kreative schöpferische Tätigkeit des Autors »geschaffen werden«.25 Der Autor muss sich also im kreativen Schaffensprozess in eine intime Beziehung des Austausches mit dem Gegenüber begeben; er geht eine Partnerschaft auf der gemeinsamen Suche nach Wahrheit ein, einer Vereinigung geistiger Partner- oder Gemeinschaften. In der Kommunalwohnung entsteht eine soziale bzw. gemeinschaftliche Intimität oder ein Einheitsbewusstsein mit anderen, die auf der geistigen Ebene im zwischenmenschlichen, mitunter konfliktreichen Austausch zustande kommen. In diesem Austausch werden die kommunikativen und interaktiven gesellschaftlichen Prozesse der Inklusion in oder Exklusion von Wissens- und Interpretationsgemeinschaften etabliert. Für solidarische Verhaltensmuster sind geistig intime Gemeinschaften eine entscheidende Voraussetzung.

K OMMUNALE F RATERNITÉ Ein geeigneter Solidaritätsbegriff für die Kommunalwohnung lässt sich mit den ursprünglichen Gründungsideen der Französischen Revolution bilden, insofern als eine brüderliche (familiale und somit intime), solidarische Bindungskraft unter Gleichgesinnten eine gewisse

24 Bachtin, Michail: »Autor und Held in der ästhetischen Tätigkeit« in: Kunst und Literatur N. 6 und 7, 6/1979, S. 590-601; 7/1979, S. 760-781. 25 Ebd., S. 765.

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Handlungsfreiheit bewirkt. Der politische Gesinnungsbegriff, der die Bürger der Französischen Republik durch fraternité demokratisch verbinden sollte, war durch ›Freiheit‹ und ›Gleichheit‹ gekennzeichnet: »Mittels ihrer vereinigenden Kraft sollte die politische Freiheit und Gleichheit der ›citoyens‹ verwirklicht werden.«26 Dieser Aspekt lässt sich mit Turners Konzept der Communitas vergleichen: als unstrukturierte oder rudimentär strukturierte und relativ undifferenzierte Gemeinschaft oder auch als Gemeinschaft Gleicher. Immanuel Kant stimmte mit den revolutionären Ideen in Frankreich überein, sah jedoch in fraternité eine ›innerliche‹ Voraussetzung von Selbstständigkeit und Eigenwilligkeit, »ohne contract«.27 In einem unbeschränkten Programm der Brüderlichkeit sah er die Gefahren einer demokratischen Despotie, die nicht minder gefährlich als andere absolutistische Regierungssysteme wäre. Diese demokratische Despotie kann durch das undiplomatische deutsche Sprichwort: ›Und willst du nicht mein Bruder sein, so schlag’ ich dir den Schädel ein‹ veranschaulicht werden. Diese in gewisser Weise gezwungene Brüderlichkeit kann neben den genannten negativen auch positive Auswirkungen haben: Unterdrückte Gleichgesinnte schließen sich in einer Krisensituation zusammen und entwickeln das Potential einer innerlichen, verbindenden Kraft, die sich unabhängig und somit dynamisch in Opposition zum Unterdrücker formt. Es entsteht ein inniger Lebensverband von Menschen, der auf humanitären Grundsätze oder auf gesundem Menschenverstand aufgebaut ist, wobei diese innerliche, verbindende Kraft eher emotionalen Ursprungs ist und deswegen nur schwer nachweisbar und nachvollziehbar. Dennoch ist die liberalisierende Kraft entscheidend, um Solidarität und die assoziierte zwischenmenschliche Dynamik, vor allem in extremen Situationen und Lebensumständen, zu verstehen. Der Soziologe Alfred Vierkandt definiert Solidarität als »Gesinnung einer Gemeinschaft mit starker innerer Verbundenheit […] ein Zusammengehörigkeitsgefühl, das praktisch werden kann und soll.«28 Das Zweckbündnis von Zoja und Alliluja bildet ein Beispiel hierfür.

26 Schieder, 1972, a.a.O. 27 Kant, Imanuel: »Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis«, 1793, 2. Abhandlung (gegen Hobbes), AA Bd. 8, 1912, S. 290, zitiert nach: Schieder 1972, a.a.O., S. 571. 28 Vierkandt 1959, a.a.O., S. 252.

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In Charms’ Erzählung Pobeda Myšina (Myšins Sieg, 1940) bildet sich in diesem Sinne eine exemplarische kommunale Interpretationsgemeinschaft in einer konfliktreichen Situation. Als kommunale Gemeinschaft schließen die Bewohner sich solidarisch zusammen und markieren somit die Grenze ihrer Gemeinschaft nach innen. Obwohl sie wissen, dass Myšin eine nichtexistierende Wohnung zugewiesen wurde, beschuldigen sie ihn nichtsdestotrotz einer Ordnungswidrigkeit. Aus diesem Grund schließen sie Myšin aus ihrer Interpretationsgemeinschaft aus. Die von der Gemeinschaft gemeinsam gezogene Grenze zwischen innen und außen und der folgliche Ausschluss Myšins sollen vom gerufenen Milizionär bestätigt werden. Er verweigert sich indes einer eindeutigen Stellungnahme. Erneut befinden sich Sowjetbürger an der Schwelle, in einem nebulösen Gemenge von offiziell und inoffiziell, da die Grenze abermals von offizieller Seite offengehalten wird. Infolgedessen entsteht eine dynamische Dreiecksbeziehung zwischen den Kommunalkabewohnern, Myšin und dem Milizionär. Die Gemeinschaft der Kommunalwohnung, die sich zusammengefunden hat, befindet sich im Folgenden in einem Zustand der Communitas: А потому что у него нет другой жилплощади: вот в этой комнате я живу, в той – вот они, в этой – вот он, а уж Мышин тут, в коридоре живет. – Это не годится, – сказал милиционер. – Надо, чтобы все на своей жилплощади лежали. – А у него нет другой жилплощади, как в коридоре, сказал Калугин. – Вот именно, сказал Коршунов. Вот он вечно тут и лежит, сказала Селезнева. – Это не годится – сказал милиционер и ушел вместе с дворником. Weil er eben keinen anderen Wohnraum hat: Hier in diesem Zimmer wohne ich, in dem die da, in diesem der da, und Myschin wohnt demnach im Korridor. Das ist unzulässig, sagte der Milizionär. Jeder hat in seinem Wohnraum zu liegen. Er hat aber keinen anderen Wohnraum als den im Korridor, sagte Kulygin. So ist es, sagte Korschunow. Darum liegt er nun immerzu hier, sagte Frau Selisnjowa. Das ist unzulässig, sagte der Milizionär und ging mit dem Hauswart.29

29 Charms, 1994, a.a.O., S. 109; dt. Übersetzung S. 219.

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Myšin schwebt in einem Zwischenstadium der Statuslosigkeit und die Bewohner der Kommunalwohnung in einem Schwellenzustand. Auch der gerufene Milizionär schafft keine Eindeutigkeit. Bei seiner Bemerkung »das ist unzulässig« ist der Bezug uneindeutig: Meint der Milizionär das Herumliegen auf dem nackten Boden im Korridor oder das Fehlen von privatem Wohnraum für Myšin? Nachdem er nach den Erläuterungen der Bewohner nochmals wortkarg wiederholt, dass das nicht zulässig sei, verlässt der Milizionär zusammen mit dem Hausmeister den Raum, der indeterminiert und offen bleibt. Der Milizionär entzieht sich dem Prozess, in dem Myšin auszugegrenzt werden soll, und somit bleibt das offizielle Urteil aus. Auch die Mitbewohner möchten sich der Urteilsaussprechung entziehen, denn dafür ist eigentlich der Staat zuständig. Ähnlich uneindeutig sind die Aussagen der Mitbewohner, und obwohl sie Myšin des Herumliegens im Korridor beschuldigen und einen Polizisten zur Klärung der Situation gerufen haben, kann ein gewisses Mitgefühl oder eine latent solidarische Gemütsbewegung herausgelesen werden. Dazu sind Kalugins Worte kennzeichnend: Он даже кровати не имеет и валяется на голом полу. Nicht einmal ein Bett hat er und wälzt sich auf dem kahlen Boden.30

Wenn diese Worte auch als vorwurfsvoll gelten können, haben sie doch eher einen bemitleidenden Laut: Myšin wird eine Grundlage des Lebens verweigert, denn im Bett beginnt und endet nicht nur der Tag, sondern gewöhnlich auch das Leben. Im Moment des Zusammenschlusses von Mitgliedern einer Gruppe wird generell gefordert, sich solidarisch den allgemeinen Wertvorstellungen und Leitsätzen der Gruppe unterzuordnen: Der Solidaritätstrieb betätigt sich endlich auch als Wille zu Erhaltung der Werte und der Ordnung der Gruppe und demgemäß auch als Wille, Werttrübungen und Störungen im Innern der Gruppe zu beseitigen. Wer sich dem herrschenden Gruppenwillen hinreichend empfindlich widersetzt oder widerstrebt, erfährt Mißbilligung, Strafe oder Ausstoßung. Die Innehaltung der Lebensord-

30 Ebd.

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nung der Gruppe (insbesondere auch der Moral bei einem Stamm) beruht we31

sentlich hierauf.

Dieser Druck, der von der Gemeinschaft ausgeht, kann, wie dieses Zitat verdeutlicht, absolutistische Züge annehmen. Hierbei entsteht eine Handlungsstrategie nach innen und nach außen, die sich entsprechend der gegebenen Situation entwickelt. In der Gruppe, die Myšin ausschließt, werden vergleichbare Tendenzen deutlich: Чего у вас тут? – спросил милиционер. Полюбуйтесь, – сказал Коршунов, но его перебил Кулыгин и сказал: Вот. Этот гражданин все время лежит тут на полу и мешает нам ходить по коридору. Мы его и так и эдак… Но тут Кулыгина перебила Селезнева и сказала: – Мы его просили уйти, а он не уходит. - Да, – сказал Коршунов. »Was ist hier los?«, fragte der Milizionär. »Sehen Sie sich das an«, sagte Korschunow, doch Kulygin fiel ihm ins Wort und sagte: »Also: dieser Mann liegt hier fortwährend auf dem Fußboden, und wir können nicht durch den Korridor gehen. Wir haben’s ihm so rum und so rum…« Da fiel Frau Selisnjowa Kulygin ins Wort und sagte: »Wir haben ihn gebeten, sich wegzubegeben, aber er macht es nicht.« »Ja«, sagte Korschunow.32

Nach innen haben sich Mitglieder verpflichtend den praktischen Zielen der Gruppe unterzuordnen. In Pobeda Myšina scheint es, als ob Koršunov zwar unterbrochen, aber seine Äußerung nicht vollständig unterbunden wird. Im Akt der Unterbrechung wird der Sprecher untergeordnet, während die Unterbrechung jedoch gleichzeitig die Front bzw. die Grenze nach außen stärkt. Nach außen wirkt die Gruppe in ihren Zielen und mit ihrem entwickelten ›Kollektivegoismus‹ als Einheit und nimmt eine Form der defensiven Widersetzlichkeit und des lebenspraktischen Ungehorsams gegenüber dem Unterdrücker oder dem Konflikt an. Hier wendet sie sich als Gruppe gegen Myšin und

31 Vierkandt, a.a.O., S. 252. 32 Charms, a.a.O., S. 109; dt. Übersetzung S. 217f.

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gegen den Milizionär (und indirekt gegen den Staatsapparat). Myšin verhält sich eigensinnig gegenüber der Gruppe und dem Milizionär (und indirekt gegen den Staatsapparat), wobei der Milizionär sich sowohl von der Gruppe als auch von Myšin (und indirekt vom Staatsapparat) distanziert. Zugleich werden wiederum solidarische Neigungen untereinander deutlich, nicht direkt aber gegenüber dem Staat: Die Gruppe sympathisiert zwar mit Myšin, sucht aber gleichzeitig Rückhalt vom Milizionär, während der Milizionär durch seine Zurückhaltung eine gewisse solidarische Neigung gegenüber Myšin andeutet. Als Streitpunkt bewegt sich Myšin im Zentrum der beiden Pole und wird von beiden Seiten zwar aus- aber gleichzeitig auch eingeschlossen. Auch hier wird die multidimensionale, situationsbedingte und perspektivenabhängige Qualität von Solidarität in der Kommunalwohnung deutlich. Dabei sind diese momentanen, aber dennoch uneindeutigen Zwecksolidarisierungen ein literarisches Beispiel lebenspraktischen Ungehorsams und Eigen-Sinns. Ein Ausgangspunkt solidarischer Handlung im Kommunalkaraum oder eine Bedingung dafür scheinen Konflikte zu sein, von denen es nicht nur in der Kommunalwohnung, sondern auch in der sowjetischen Gesellschaft genügend gab. Diesem Umstand entsprechend stellt sich die Frage nach dem dialektischen Vereinen von Konflikten, Unstimmigkeiten und Diskrepanzen im Solidaritätskonzept: Inwiefern unterscheidet sich Solidarität im sowjetischen Kontext von der Solidarität in anderen sozialen und politischen Kontexten? Welche Eigenschaften hatten die zwischenmenschlichen Beziehungen der voneinander abhängigen Nachbarn in der Kommunalwohnung untereinander? Solidarität nimmt eine vereinende Funktion unter diversen, heterogenen und fragmentierten Gegebenheiten ein, die als ein Anker für soziale und systematische Integration wirkt.33 Wichtig ist, dass Solidarität durch kommunikative und interaktive gesellschaftliche Prozesse, wie zum Beispiel soziale, rituelle Handlungen, generiert wird. Die Tatsache, dass Repräsentanten des offiziellen Systems und der Lebensordnung die Grenze nicht eindeutig ziehen (wollten) und mithin offenhalten, suggeriert, dass auch von offizieller Seite eigensinnige bzw. solidarische Anzeichen ausgingen. Die Zusammensetzung der solidarischen Gemeinschaften war nicht immer eindeutig. Spontan kamen neue Mit-

33 Vgl. Brunkhorst, Hauke: Solidarität. Von der Bürgerfreundschaft zur globalen Rechtsgenossenschaft, Frankfurt a.M. 2002, S. 15.

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glieder dazu, die für neue Konstellationen sorgten. In konfliktreichen Ausnahmesituationen wurde die Wechselbeziehung von Distanz und Nähe sowie das Spannungsverhältnis zwischen offiziell und inoffiziell herausgefordert, aber auch intensiviert.

M ULTIDIMENSIONALE I NTERPRETATIONS UND W ISSENSGEMEINSCHAFTEN In Bulgakovs Stück Zojkina kvartira erfüllt Ametistov, Zojas Cousin, die Rolle des pikaresken Lebenskünstlers. Mit dieser Figur wird die gesellschaftliche Fähigkeit verkörpert, alte und neue Lebensweisen und Wertvorstellungen geschickt situations- und interessenbedingt miteinander zu vereinen. Ähnlich wie Miloslavskij in Bulgakovs Stücken Blaženstvo: son inženera Rejna (Glückseligkeit. Der Traum des Ingenieurs Rein, 1929-1934) und Ivan Vasil’evič (1934-1936) muss Ametistov zum (Über-)Leben schauspielerische Fertigkeiten anwenden: Пардон-пардон, Александра Тарасовича. Вы удивлены? Это, видите ли, мое сценическое имя, отчество и фамилия. По сцене – Василий Иванович Путинковский, а в жизни Александр Тарасович Аметистов. Известная фамилия, многие представители расстреляны большевиками. Тут целый роман. Вы прямо будете рыдать, когда я расскажу. Pardon, Pardon. Alexander Tarassowitsch! Sie sind verwundert? Schauen Sie, das ist mein Bühnenname. Auf der Bühne heiße ich Wassili Iwanowitsch Putnikowski und im Leben Alexander Tarassowitsch Amethystow. Das ist ein bekannter Name, viele Träger dieses Namens wurden von den Bolschewiken erschossen. Ein ganzer Roman ist das. Wenn ich Ihnen das erzähle, werden Sie Tränen vergießen.34

Ametistovs soziale Lebenswelt verweigert ihm die Bildung einer narrativen Identität, die er nur mit einer bestimmten Rolle und dem damit einhergehenden Namen ausleben kann. Da er auf (s)eine soziale Lebenswelt angewiesen ist und sein Name historisch und ideopolitisch belastet ist, kann er eine eigene Identität nur bedingt verwirklichen.

34 Bulgakov, 1989, a.a.O., S. 175; dt. Übersetzung S. 33.

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Um sich frei bewegen zu können, nimmt er eine weitere Rolle mit einem anderen Namen an und passt sich den Anforderungen seiner sozialen Lebenswelt entsprechend an. Für Ametistov übernimmt die fiktive Identität die Funktion eines Schutzmechanismus, ähnlich kann über das gesellschaftliche Schauspiel nur in Romanform geschrieben werden.35 Hier veranschaulicht Bulgakov das aufschlussreiche Spannungsverhältnis zwischen Fiktivem und Nicht-Fiktivem. Die zusätzliche Dimension der Fiktion erweitert für Bulgakovs Figuren den Bewegungs- und Denkraum, der in gewisser Weise eine alternative, exklusive Interpretationsgemeinschaft ist. Eine ähnliche Funktion übernimmt das Spannungsverhältnis zwischen fiktiven und nicht-fiktiven Geschichten für diese Arbeit – es entsteht ein erweiterter Denk- und Analyseraum. In Zojkina kvartira (schau)spielen allerdings nicht nur Figuren, die sich außerhalb der Ordnung befinden, sondern auch Repräsentanten des Ordnungs- und Orientierungssystems. Sie sind gekommen, um die Spielhölle aufzudecken: ВАНЕЧКА (шепотом). Товарищ Пеструхин, так невозможно. Ну, хорошо, на горничную напали, на дуру, а будь Аметистов здесь, ведь это безобразие. Я ему говорю: давай, говорю, наркомпросовскую бородку клинышком, чтоб под Главполитпросвет была сделана, а он сует спецовскую экономическую жизнь. (Снимает бородку.) Натереть ему морду этой бородой. Халтурщик. Гнать таких надо парикмахеров. Wanetschka: flüsternd Genosse Pestruchin, so geht das nicht. Zum Glück sind wir an ein Stubenmädchen geraten, eine dumme Gans, aber wenn Amethystow hier gewesen wäre? Das ist doch eine Schweinerei. Ich hab dem Mann gesagt, mach mir einen Spitzbart à la Volksbildung, damit ich nach Hauptverwaltung für Politaufklärung aussehe, und was pappt er mir an? Einen Bart à la Wirtschaftsfachmann. Nimmt den Bart ab. Den sollte man ihm um die Ohren hauen. Solche Pfuscher gehören weggejagt.36

35 Im Vergleich hierzu behauptet der Professor Preobrašenskij in Sobače serdce: »Alle Patienten, die keine Zeitungen lesen, fühlen sich ausgezeichnet, die anderen dagegen, die ich die ›Pravda‹ lesen ließ, verloren Gewicht.« In: dt. Ausgabe, S. 44. 36 Bulgakov, 1989, a.a.O. S. 199; dt. Übersetzung S. 71.

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Hier bilden die zwei Repräsentanten eine solidarische Interpretationsund Wissensgemeinschaft. Sie sind sich ihrer eigenen Grenzüberschreitung bzw. der des Gesetzes bewusst. Ametistovs vorläufige Abwesenheit gibt den Repräsentanten Bewegungsfreiheit. Er ist nämlich nicht präsent, um die beiden während ihrer Inszenierung zu demaskieren. Zwar befinden sie sich in unterschiedlichen Interpretationsgemeinschaften, dennoch haben sie als Schauspielerkollegen Gemeinsamkeiten und sind daher Mitglieder einer Wissensgemeinschaft. In diesem literarischen Beispiel wird nicht nur die Multidimensionalität von Mitgliedschaften in offiziellen und inoffiziellen Interpretationsund Wissensgemeinschaften sowie die der damit einhergehenden Normen und Werteinstellungen deutlich, sondern auch, inwiefern Interpretations- und Wissensgemeinschaften momentan schützende oder auch gefährliche Eigenschaften annehmen können. Unter diesen Umständen lässt sich fragen, wo sich der Raum für tatsächliche Wirklichkeit befindet. Wo kann diese entstehen und sich entsprechend entfalten? Ein weiteres Beispiel für ein multidimensionales Netzwerk von offiziellen und inoffiziellen Interpretations- und Wissensgemeinschaften ist Zojas Wissensgemeinschaft. Zoja hat Schlüsselfiguren innerhalb des gesellschaftspolitischen Systems von der nationalen wie der kommunalen, behördlichen Ebene in ihr geniales Konstrukt eingebaut und eingebunden, um die Legalität der Nutzung ihrer Räumlichkeiten vorzuweisen und gegen die Einquartierung Fremder vorzubeugen. Teil dieser Wissensgemeinschaft war die Beziehung zwischen Zoja und Gus’: ЗОЯ: Вы обидите меня отказом. Ни слова. Вы так много сделали для меня. Мастерская обязана вам своим существованием. ГУСЬ: Ах, это пустяки. Кстати о мастерской. Я ведь к вам отчасти по делу. Только это между нами. Мне нужен парижский туалет. Знаете, какой-нибудь крик моды, червонцев на двадцать или двадцать пять. ЗОЯ: Понимаю. Подарок. ГУСЬ: Между нами. ЗОЯ: Ах, плутишка! Влюблен! Ну, сознавайтесь. Влюблен? ГУСЬ: Между нами. ЗОЯ: Не бойтесь. Не скажу супруге. Ах, мужчины, ах, мужчины! ГУСЬ: Замечательный художник.

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Soja: Wenn Sie ablehnen, würden Sie mich kränken. Kein Wort mehr! Sie haben so viel für mich getan. Meine Schneiderei verdankt Ihnen ihre Existenz. Fuchs: Ach Kleinigkeit! Apropos Schneiderei. Ich komme ja teilweise geschäftlich. Aber bitte unter uns. [hervorgehoben von SE] Ich brauche ein Pariser Modellkleid. Wissen Sie, nach dem letzten Schrei der Mode, so um zweihundertfünfzig Rubel. Soja: Verstehe… ein Geschenk Fuchs: Unter uns. Soja: Ach, Sie Schlimmer! Verliebt? Gestehen Sie nur! Verliebt? Fuchs: Unter uns. Soja: Keine Sorge. Ihre Gattin erfährt kein Wort. Ach, diese Männer! Fuchs: Glänzender Künstler.37

Einerseits beteuert Zoja nochmals ihre exklusive Beziehung zu Gus’ und gesetzlich-rechtlich gesehen ihre Abhängigkeit von ihm. Allerdings schließt sie Gus’ gleichzeitig in eine solidarische Wissensgemeinschaft ein, indem sie indirekt und kodifiziert die inoffizielle Färbung ihrer Beziehung einarbeitet, nämlich durch die (in)offizielle Existenz ihrer Schneiderei. Da diese erst durch ihn ermöglicht wird, stellt sie Gus’ hiermit bloß, der wiederum den Einschluss in ihre geheime und exklusive Gemeinschaft annehmen muss. Gus’ verrät Zoja eines seiner intimen Geheimnisse – er ist nicht nur ein geschickter Schauspieler, insbesondere was offizielle Angelegenheiten anbelangt, sondern auch ein brillanter Künstler im Liebesleben. Dessen ungeachtet haben beide einen Ausgleich erreicht, indem sie nun nicht nur über kompromittierende Informationen, sondern auch über Geheimnisse des Anderen verfügen. Laut Svetlana Boym spielen Geheimnisse eine wichtige Rolle in der illusorischen Aufrechterhaltung einer Privatheit in der sowjetischen Gesellschaft und in der kommunalen Gemeinschaft. Ihrer Meinung nach waren Heimlichkeit und Verborgenheit spielerische Methoden, um alternative Gemeinschaften zu finden bzw. herzustellen,38 die in gewisser Weise auch eine exklusive Gemeinschaft repräsentieren. Eine entscheidende Komponente dieser Exklusivität ist die Selbstbestimmung in der Fremdbestimmung, mit der sich die Person eigenständig von anderen abgrenzt und demnach eine eigene Interpretationsgemeinschaft gründet. Wer in dieses

37 Ebd., S. 189; dt. Übersetzung S. 55f. 38 Vgl. Boym, 1994, a.a.O., S. 146.

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Geheimnis eingeweiht und somit zum Mitglied der Interpretationsgemeinschaft wird, entscheidet allein der Besitzer dieses Geheimnisses und Gründer der Interpretationsgemeinschaft. Darüber hinaus erzeugen Geheimnisse Freiheit und Unabhängigkeit, und in ihrer Offenbarung erzeugen sie einen gewissen Grad an Authentizität, Aufrichtigkeit und exklusiver Zwischenmenschlichkeit, die nirgendwo anders in der sowjetischen Gesellschaft möglich war. In diesem Zusammenhang ist das Ritual des Verbergens und des Verheimlichens ebenso wichtig wie das Ritual des Enthüllens, denn erst die Entscheidung, ob und mit wem dieses Geheimnis geteilt wird, ist ein ungezwungener und freier Akt. Ähnliches gilt in dieser Hinsicht für das Ritual der In- und Exklusion. Ein Beispiel für das Ritual des Enthüllens und der Offenbarung ist der bereits aufgeführte Ausschnitt, in dem Ametistov seine Doppelidentität enthüllt. Mithilfe einer intimen ästhetischen Kommunikation einem anderen gegenüber versucht er eine eigene narrative Identität zu etablieren und sich im Schaffensprozess des gesellschaftlichen (Schau)Spiels zu positionieren. Dabei ist diese Handlung nicht nur ein Verweis auf das erwähnte Spannungsverhältnis zwischen fiktionalen und nicht-fiktionalen Geschichten und Identitäten, sondern auch auf Ametistovs eigene Stellung innerhalb dieses Spannungsverhältnisses. Seine Stellungnahme geschieht im Rahmen einer Offenbarung, welche zusätzlich eine Ritualfunktion übernimmt, um eine geistig intime Gemeinschaft bzw. eine Interpretationsgemeinschaft zu gründen. Mit dem Aufdecken seines Geheimnisses macht er sich auch auf die Suche nach Wahrheit, nach humanitären, moralischen Grundsätzen und nach Selbstverwirklichung in einer alternativen Wissensgemeinschaft, die sich im polaren Kräftefeld der Zerstörung und des gleichzeitigen Aufbaus eines gesellschaftlichen Ordnungssystems befindet.

F LÜCHTIGE UND BRÜCHIGE L EBENS UND W OHNVERHÄLTNISSE Bulgakov behandelt in Zojkina kvartira indessen die Anfälligkeit geheimer Wissensgemeinschaften. In der von Zoja errichteten ›Spielhölle‹ bildet Gus’ eine Säule und Alliluja eine weitere. Andere Figuren sind in diese besondere Wissensgemeinschaft mit eingeschlossen, in der jeder eine Funktion hat und demnach daran interessiert ist, dieses (in)offizielle Konstrukt aufrechtzuerhalten. Als Mitglieder einer natio-

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nalen Gemeinschaft und als Sowjetbürger sind die Menschen an dieses Ordnungs- und Orientierungssystem und die damit einhergehenden Regelungen und Lebensweisen gebunden. Eine Figur, die nicht an diese Regeln gebunden ist, ist der Fremde. In Bulgakovs Stück übernimmt Cherubim (Engelchen), ein 28-jähriger Chinese, als exotischer Fremder diese Rolle. Er ersticht Gus’ mit einem Messer und flieht. Durch den Mord bricht das sorgfältig konstruierte System in jeder Hinsicht zusammen: АМЕТИСТОВ: […] Как же теперь быть? Все засыпались, разом крышка, гроб! Херувим, Херувим! Ну, конечно: ограбил и ходу дал. А я-то идиот! Что теперь делать, дорогие товарищи? Деньги на текущем. Завтра его хватятся. Вот тебе и Ницца, вот тебе и заграница. Аминь! Чего же это я сижу? А? Ходу! Верный мой товарищ, чемодан. Опять с тобою вдвоем, но куда? Объясните мне, теперь куда податься? Судьба ты моя, судьба! Звезда ты моя горемычная! Прикупил к пятерке-дамбле. Ходу! Ну, Зоечка, прощай! Прощай, Зойкина квартира! Ametistov: […] Was jetzt? Aus, wir sitzen drin, jetzt ist Sense! Engelchen, Engelchen! Na klar, er hat ihn beraubt und Leine gezogen. Was mach ich jetzt, liebe Genossen? Das Geld ist auf dem Konto, morgen wird er vermißt. Nichts ist mit Nizza, nichts ist mit Ausland. Amen! Warum sitze ich noch hier? Abhauen! Mein treuer Kamerad, der Koffer. Wieder sind wir beide allein, bloß wohin? Erklär mir das einer! Ach, mein Schicksal! Ach du mein Unglücksstern! Zu einer Fünf dazugekauft, und d’emblée. Abhauen. Na, Sojalein, leb wohl! Leb wohl, Sojas Wohnung!39

In dieser Passage proklamiert Ametistov die überirdischen Kräfte, die mit im Spiel sind. Er verteufelt sowohl Engelchen als auch sein eigenes Schicksal in dieser unberechenbaren (Lebens-)Welt, in der er versucht, einen Alltag zu gestalten und eine Stabilität herzustellen, auch wenn es eine illegale Stabilität ist. Lediglich auf seinen kameradschaftlichen Koffer ist Verlass, der ihn auf seinen hoffnungslosen und verdrossenen Reisen von Wohnung zu Wohnung stets treu begleitet. Und von der Wohnung verabschiedet sich Ametistov persönlich, von Soja nur geistig. Bulgakov anthropomorphisiert den Koffer und die Wohnung in Ametistovs innerem Dialog. Hier mischen sich das Wirkliche

39 Bulgakov, 1989, a.a.O., S. 209; dt. Übersetzung S. 91.

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und das Imaginäre sowie das Lebendige und das Nichtlebendige. Wie bereits erwähnt ist die geistige wie tatsächliche Wanderung ein sich wiederholendes Motiv bei Bulgakov. In dieser Hinsicht kann die von Georg Lukacs (Die Theorie des Romans, 1916) formulierte Metapher der transzendentalen Obdachlosigkeit direkt auf den sowjetischen Zusammenhang übertragen werden: auf das Verschwinden der urbildlichen Heimat sowie auf die Sehnsucht nach einem überschaubaren und trotzdem allumfassenden Sinnzusammenhang, nach Vernunft und Wirklichkeit im heimatlich abgeschlossenen Erfahrungskreis, zu dem neben den ›gewohnten‹ räumlichen Eigenschaften auch die ›gewohnten‹ zwischenmenschlichen Beziehungen zählen. Der Name des Fremden ist in dieser Hinsicht bezeichnend: Der Engel als ein Himmelsbewohner kann als ein göttlicher Bote gesehen werden, der diese unmoralische Lebensweise und die Lebensbedingungen verdammt und schließlich zerstört. Als eine Figur mit Flügeln kann er der Situation jederzeit entfliehen, er ist der gesellschaftlichen Lebensordnung nicht ausgesetzt – für ihn gelten andere, übersystematische Regeln. Er kann sich frei bewegen, denn als Bürger eines anderen Landes bzw. einer alternativen Interpretationsgemeinschaft bewegt er sich außerhalb der politischen und soziokulturellen Ordnung. Ametistov verteufelt Engelchen, da er selbst gerne vor der Unbeständigkeit des sowjetischen Lebens flüchten würde. Dies ist für ihn aber nur im Rollenspiel realisierbar, indem er einen Anderen, einen sich auf der Reise befindlichen Fremden, spielt. Das Thema der Flucht behandelt Bulgakov in seinem Roman Sobače serdce, allerdings aus einer anderen, wenn nicht sogar entgegengesetzten Perspektive: Опять! – Горестно воскликнул Филипп Филиппович, – ну, теперь стало быть, пошло, пропал калабуховский дом. Придается уезжать, но куда спрашивается. Все будет, как по маслу. Вначале каждый вечер пение, затем в сортирах замерзнут трубы, потом лопнет котел в паровом отоплении и так далее. Крышка Калабухову. […] Я – человек фактов, человек наблюдения. Я – враг необоснованных гипотез. И это очень хорошо известно не только в России, но и в Европе. Если я что-нибудь говорю, значит, в основе лежит некий факт, из которого я делаю вывод. И вот вам факт: вешалка и калошная стойка в нашем доме.

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Na, jetzt ist das Kalabuchowsche Haus verloren. Man muß wegfahren, aber es fragt sich, wohin. Jetzt wird alles wie geschmiert gehen: zuerst jeden abend Singerei, dann gefrieren die Wasserleitungen in den Toiletten, dann platzt der Heizkessel und so weiter. Das Kalabuchowsche Haus ist erledigt. […] Ich bin ein Mensch der sich nur auf Tatsachen und auf Beobachtungen verläßt. Ich hasse unbegründete Hypothesen. Das ist nicht nur in Rußland, sondern auch in Europa bestens bekannt. Wenn ich etwas sage stütze ich mich auf Tatsachen, aus denen ich meine Schlüsse ziehe. Eine solche Tatsache ist der Kleider- und Galoschenständer in unserem Haus.40

Unter den uneindeutigen Umständen – sogar der Wodka ist zusammengepanscht und deshalb nicht mehr so klar, wie er es einmal war – will Professor Preobrašenskij seine Wohnung verlassen, die durch die neuen offiziellen Nachbarn und deren grenzüberschreitenden Gesang nicht mehr genießbar ist – ähnlich wie der Wodka. Das einzige, auf das man sich ›tatsächlich‹ verlassen kann, ist das Ding: der Kleiderund Galoschenständer in ›ihrem‹ Haus. In beiden inneren Dialogen werden beim Abschied von der Wohnstätte die verlässlichen Gegenstände betont, allerdings auch die transzendentale Obdachlosigkeit, denn beide Figuren fragen sich, wohin sie flüchten sollen. Während Professor Preobrašenskij selbst entscheidet, das verlorene Haus zu verlassen, muss im Gegensatz dazu Ametistov in Zojkina kvartira den vorübergehend gefundenen Wohnplatz bei seiner Cousine Zoja aus seinerseits unbeherrschbaren Gründen verlassen. Bulgakov beschreibt zwar zwei verschiedene Ursprünge und Gründe der (Fort-)Bewegung, prinzipiell liegt aber der Anlass für die Bewegung darin, dass es in Wirklichkeit keinen stabilen alltäglichen Wohnraum mehr gibt: Lebens- und Wohnverhältnisse sind instabil und deswegen gestört. Bulgakov verweist hiermit auf Verfallsformen bzw. Perversionen menschlichen Zusammenlebens, was sich einerseits in der Substanz der Architektur und in den Lebensbedingungen bemerkbar macht. Erst werden die Sanitäreinrichtungen, dann die Heizung und danach das Gebäude vernachlässigt, allesamt Grundsteine des menschlichen Lebens. Andererseits wandelt sich die Beziehung zwischen Mensch und Ding in bezeichnender Weise. Nicht nur als Wissenschaftler, sondern auch als Mensch braucht man Tatsachen und Grundwahrheiten, um in einer

40 Bulgakov, 1985, a.a.O., S. 55; dt. Übersetzung S. 48.

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Gesellschaft funktionieren zu können. Dies ist nicht nur ein russisches, sondern auch ein gesamteuropäisches und universelles Bedürfnis. In den Kulturwissenschaften wird die Tendenz deutlich, ›Kultur‹ in ihrem »lebenspraktischen Zusammenhang, statt als tragendes Zeichensystem zu analysieren […], d.h. in den sozialen Praktiken, die mit einer gewissen Beständigkeit und Kompetenz ausgeführt werden und in denen kulturelle Vorannahmen und Wissensbestände eine große Rolle spielen.«41 Es sind kulturelle Vorannahmen und Wissensbestände, die als Basis eines kollektiven Bedeutungs- und Handlungsrahmens dienen, innerhalb dessen sich Akteure bewegen und den Alltag verhandeln und innerhalb dessen sich ein gemeinsamer Zusammenhang und Wertvorstellungen bilden können. Die kollektiven Bedeutungsund Handlungsrahmen schaffen ein intimitätsstiftendes Gefühl der Verbundenheit, das in seiner Erfahrung im intimen Raum der Kommunalwohnung einerseits verdichtet und pervertiert wird, und das andererseits gleichzeitig verbündend auf andere Kommunalkabewohner der Sowjetunion übertragen wird.

S CHICKSALSGEMEINSCHAFT In einem unsicheren und chaotischen, von paradoxen Widersprüchen durchdrungenen Umfeld waren Kommunalkagemeinschaftsmitglieder aufeinander angewiesen und einer gegenseitigen, oft existentiellen Abhängigkeit ausgesetzt. Für die Wahrnehmung einer Wechselbeziehung und gegenseitigen Abhängigkeit von Menschen in Gemeinschaften ist das folgende Zitat aufschlussreich: Rational choice theory42 is a powerful tool for explaining behavior in response to preferences inhabiting the well-defined space within the walls separating one self from an ›other‹. Solidarity, on the other hand, refers to a phenomenon made possible because these walls are more porous than rational choice theory

41 Hörning, Karl: »Kultur als Praxis« in: Handbuch der Kulturwissenschaften, Bd. 1, Stuttgart 2004, 139-151, S. 139. 42 Rational choice theory oder Rationale Entscheidungstheorie ist eine Handlungstheorie der Wirtschafts-, Sozial- und Politikwissenschaften, laut der handelnde Akteure sich rational verhalten und stets versuchen, den höchsten Nutzen zu erreichen.

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would permit; it alludes to a series of human interactions unfolding in the space between these walls [hervorgehoben von den Autoren], in a kind of no man’s land where the plight of others inspired us to experiment with violations of our current ›preferences‹, rationally toy with alternatives to the prevailing constraints of ›rationality‹, throw away the masks of self-sufficiency, reach out for one another, re-discover something ›real‹ and authentic about our nature and, at rare moments, believe that there is more to us than some weighted sum of desires. Those of a romantic disposition may even conclude that solidarity-withothers is a prerequisite for throwing out a bridge over to our ›better‹ self.43

Solidarität ist ein Aspekt menschlicher Motivation, wobei Menschen in einem bestimmten unzulänglichen Zustand oder einer Situation eine Art Zweckverband bilden und/oder mit anderen sympathisieren, egal wer die ›Anderen‹ sind. Im oben beschriebenen liminalen Moment gibt es die Möglichkeit, beispielsweise einen Perspektivenwechsel vorzunehmen und somit Grenzen zu überschreiten, vor allem die eigenen Grenzen. In diesem ›transgredienten‹, sich außerhalb der inneren Welt des Eigenen und des Anderen befindlichen, Moment erweitert sich nicht nur die Sichtweise, sondern mit dieser Fähigkeit der Selbstbestimmung wird ein Grad an individueller Autonomie und Macht erworben, mit der eine eigene Lebenswelt konstituiert werden kann. Dieser Perspektivenwechsel kann auch von einem Täter gegenüber seinem Opfer eingenommen werden, der sich in die Situation des ›Anderen‹ versetzt, wie dies von Charms in Elizaveta Bam veranschaulicht wird. In dem von Charms beschriebenen ambivalenten Raum ist nicht immer eindeutig, wer sich auf der offiziellen oder inoffiziellen Seite der Grenze befindet. Charms verhandelt diesen Raum als einen ausgelassenen, karnevalesken Raum, in dem sich die üblichen gesellschaftlichen Grenzen auflösen. Unterhaltsame Kunststücke werden aufgeführt – Ivan Ivanovič kann spontan einen Schluckauf inszenieren – und Elizaveta unterbricht und ruft ihrer Mutter zu: »Mamaša, komm doch mal! Die Gaukler sind da.« [Мама! Пойди сюда! Фокусники приехали!]44 Elizaveta setzt ihre Spielereien mit den Repräsentanten der Staatsmacht fort und bittet Ivan Ivanovič, auf allen vieren zu gehen. Dieser bewegt sich allerdings nicht auf allen vieren, sondern an

43 Arnsperger, Christian/Varoufakis, Yanis: »Toward a Theory of Solidarity« in: Erkenntnis, Vol. 59 (2), September 2003, S. 157-188, S. 188. 44 Charms 1997, a.a.O., S. 136; dt. Übersetzung S. 82.

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der gefährlichen Grenze zwischen Sinn und Unsinn bzw. Macht und Eigen-Sinn. Ivan Ivanovič erfährt in diesem Moment eine signifikante, zum Anderen bekennende, solidarische und mithin eigen-sinnige Charakterenthüllung – die Grenze zwischen privatem Empfinden und öffentlichem Ausdruck dieses Empfindens hat sich erneut verflüchtigt: ИВАН ИВАНОВИЧ: Если позволите, Елизавета Таракановна, я пойду лучше домой. Меня ждет жена дома. У ней много ребят, Елизавета Таракановна. Простите, что я так надоел Вамю Не забывайте меня. Такой уж я человек, что все меня гоняют. За что, спрашивается? Украл я, что ли? Ведь нет! Елизавета Эдуардовна, я честный человек. У меня дома жена. У жены ребят много. Ребята хорошие. Каждый в зубах по спичечной коробке держит. Вы уж простите меня. Я, Елизавета Михайловна, домой пойду. Ivan Ivanovič: Wenn Sie gestatten, Elizaveta Tarakanovna, dann gehe ich jetzt besser nach Hause. Zu Hause erwartet mich meine Frau. Sie hat viele Kinder, Elizaveta Tarakanovana. Verzeihen Sie, daß ich Sie so gelangweilt habe. Vergessen Sie mich nicht. Ich bin nun eben ein Mensch, der von allen gejagt, von allen verfolgt wird. Fragt sich nur – warum. Habe ich gestohlen? Nein. Elizaveta Eduardovna, ich bin ein anständiger Mensch. Ich habe Familie. Meine Frau hat viele Kinder. Gute Kinder. Jedes von ihnen hält eine Streichholzschachtel zwischen den Zähnen. Verzeihen sie mir schon, aber ich, Elizaveta Michajlovna, ich gehe nach Hause.45

Hier verflüchtigt sich nicht nur die Grenze zwischen privatem Empfinden und öffentlichem Ausdruck dieses Empfindens, sondern auch die Trennung von und Grenze zwischen Mensch und Tier. Auf Elizavetas Verlangen hin weigert sich Ivan Ivanovič, sich wie ein Tier bzw. eine Kakerlake (auf Russisch Tarakan) auf allen vieren fortzubewegen, spricht Elizaveta jedoch gleichzeitig mit dem Patronym Tarakanovna an. Obwohl er das Tier-Sein in seinem privaten Leben aufgrund der erbärmlichen Wohnverhältnisse nicht unterbinden kann (ähnlich wie Kakerlaken hat auch seine Frau viele Kinder und ist, wie in einem tierischen Zustand, mit dem eigenen Überleben beschäftigt), versucht er jedoch zumindest im beruflichen Leben das Tier-Werden zu vermei-

45 Ebd., S. 83; dt. Übersetzung S. 137.

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den. Indem er seinen Zustand auf sein Gegenüber projiziert und Elizaveta als Tier bezeichnet, umgeht er sein eigenes Tier-Sein. Dennoch bietet dieses allgemeine Potential des Tier-Werdens eine weitere vereinende Verbindung46 zwischen Elizaveta und ihrem Verfolger, Ivan Ivanovič: den Verlust der Sprache. Auch Ivan Ivanovič hat seine Wählerstimme verloren. Er selbst wird aus unerklärlichen Gründen wie ein Tier verfolgt, obwohl er ein anständiger Mensch ist und eigentlich ein ganz normales und ehrliches Familienleben genießen möchte. Dies wird ihm jedoch verweigert, denn seine Kinder halten Streichholzschachteln zwischen den Zähnen. Hier wird auf einen weiteren banalen und alltäglichen Gegenstand hingewiesen, der in diesem Raum politische Dimensionen annimmt: das gewöhnliche Streichholz. Diese Metapher deutet darauf hin, dass seine Kinder (wie er) gezwungen sind, sich letztendlich selbst wie Ungeziefer zu vernichten, auszulöschen und sich von aller zugewiesenen Schuld zu säubern. In diesem Zusammenhang ist das Streichholz ein Motiv für die Säuberung und die fundamentale Macht des Individuums, den ultimativen widerständigen Eigen-Sinn gegen die herrschende Ordnung zu leisten und sich letztendlich selbst zu vernichten. In diesem Zusammenhang möchte ich auf Georges Bataille verweisen, der in der Flamme, welche er mit dem Heiligen vergleicht, eine Entfesselung des Gefesselten in der Ordnung der Dinge erkennt. Unaufhaltsam und ansteckend verzehrt die Flamme das Holz und kennt keine Grenzen: [E]s breitet sich aus, strahlt Hitze und Licht aus, es entflammt und blendet, und der von ihm Entflammte und Geblendete entflammt und blendet plötzlich seinerseits.47

Neben dem möglichen Widerstand, der von Individuen ausgeht, besteht auch die Gefahr der Ansteckungskraft, die es zu unterbinden gilt. Das durch die sowjetische Ordnung der Dinge gefesselte Subjekt darf eigentlich keine Streichhölzer zwischen den Zähnen halten, denn das Streichholz verleiht Handlungsvermögen und Potential: Im eigensinnigen Akt weist das Subjekt in seiner Interaktion mit der Ideologie seine gesellschaftspolitische Subjektposition zurück. Indem sich das Subjekt selbst opfert, will es nicht nur seine Unschuld beteuern, son-

46 Vgl. Kabakov/Groys, 1991, a.a.O., S. 61. 47 Bataille, 1997, a.a.O., S. 46f.

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dern in seinem Opferakt handelt es ausschließlich und solidarisch für das Gute, die Aufrechterhaltung allgemeiner Normen und Werte, die im Prinzip der Vernunft als Erkenntnisgewinn und geistige Reflexion vertreten sind. Im eigen-sinnigen Opferakt negiert das Subjekt die fesselnde Ordnung und bestätigt die Allgemeingültigkeit universeller Wahrheiten. In der oben angeführten Passage spricht Ivan Ivanovič Elizaveta mit unterschiedlichen Patronymen an. Es stellt sich die Frage, ob damit die Allgemeingültigkeit seiner verkündeten Wahrheit deklariert wird. Laut Kabakov verkündete Stalin das allgemeine Glück und schuf das allgemeine Unglück, und so ist die eigene Situation des Einzelnen die Beschreibung der Situation aller anderen sowjetischen Menschen – es bildete sich in gewisser Weise eine Schicksalsgemeinschaft. Zoščenko nimmt einen ähnlichen Modus an, indem er seine eigene Erfahrung im Kommunalkaalltag in Form einer persönlichen Aussage hinsichtlich der unglaublichen Zustände schildert. Dadurch verleiht er dem Text Glaubhaftigkeit, Zuverlässigkeit und Allgemeingültigkeit. Durch das Phänomen des Leidens werden die sowjetischen Menschen miteinander verbunden: Das stalinistische System befreite Menschen vom Leiden am Leiden, indem es das Leiden an sich universalisiert hat.48 Das Universale am sowjetischen System greift Charms in Elizaveta Bam auf unterschiedliche Weise auf. Petr Nikolaevič beispielsweise erzählt von einem Traum, den er als junger Mann gehabt hat, in dem er einer Frau begegnete: Во всяком случае, я видел хорошо ее лицо. Это была вот кто. (Показывает на Елизавиту Бам.) Тогда она была похожа …. Ihr Gesicht habe ich jedenfalls sehr genau gesehen. Es war – sie: Elizaveta Bam. (Zeigt auf Elizaveta.) Damals ähnelte sie ….49

Und alle im Stück antworten: Mir! [На меня!] Diesmal ist es nämlich Elizaveta, welche die Grenze zu Petr Nikolaevičs privater Sphäre hinter verschlossener Tür problemlos überschreitet. Im Traum, einem intimen Raum des inneren Ichs, betritt Elizaveta Bam nicht nur die intime Privatsphäre des Schlafzimmers, während er schläft, sondern auch

48 Vgl. Kabakov/Groys, 1991, a.a.O., S. 61. 49 Charms 1997, a.a.O., S. 87; dt. Übersetzung S. 141.

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seinen Körper. Ähnlich wie in dem Moment, in dem sich bei Ivan Ivanovič die Grenze zwischen privatem Empfinden und öffentlichem Ausdruck dieses Empfindens verflüchtigt und er eine sich zum Anderen bekennende Charakterenthüllung durchläuft, werden hier das Gute und das Böse vereint und somit neutralisiert, denn wie kann ein Feind als böse bezeichnet werden, wenn seine Grundbedürfnisse und sein entsprechendes Verhalten sich mit den eigenen decken? Charms bietet dem Leser einen Einblick in innere Gedankenvorgänge der Repräsentanten der jeweiligen totalen Systeme, die durch ihren Kontakt mit eigen-sinnigen Personen im offiziellen, öffentlichen Raum nicht nur Einfühlungsvermögen entwickeln, sondern gesellschaftskritisch ihre eigene Position hinterfragen. Zusätzlich wird hier eine übliche Lektürehaltung, nämlich die Solidarität zwischen dem Leser und den Opfern totalitärer Systeme sowie dem Helden der Geschichte, durch die Erzählperspektive in den Texten irritiert und subvertiert: Es entsteht ein unerwartetes Verständnis für, wenn nicht Solidarität mit dem Täter. Mit dieser formalistischen Entautomatisierung und Verfremdung kommt es zu einer mimetischen Öffnung des Lesers dem Text gegenüber, und der Leser wird in diesem Prozess dazu verleitet, seine eigene Position zu hinterfragen, die durch diesen Konflikt sichtbar gemacht wird. Somit nimmt Elizavetas Erfahrung der unverständlichen Verfolgung und des unerwarteten Unglücks in diesem absurden Theaterstück eine allgemeine Gültigkeit in der Sowjetunion an, wie auch das Hadern mit Sinn und Unsinn, Vernunft und Gesetzlichkeit. Niemandem kann vertraut werden, die Nähe und damit verbundene Sphären und Räume sind zerstört worden. Sogar die eigene Mutter beschuldigt Elizaveta am Schluss des Stücks: »Nur wegen dir ist die gute alte Zeit untergegangen.« [Все из-за тебя евонная жизнь окончилась вничью.]50 Ein noch klarer, mit Sinn behafteter Satz, bevor sich die Mutter in tiefe psychische Abgründe stürzt, sich selbst als einen Tintenfisch bezeichnet und Multiplikationen aufsagt. Das Aufsagen von Multiplikationen deutet hier auf einen letzten Versuch hin, Sinn und Vernunft in Zahlen zu finden, die eine gewisse logische (An-)Ordnung repräsentieren. Es scheint tatsächlich, als ob der Mensch, genau wie die Zahlen, ohne eine logische Ordnung nicht existieren kann – das Leben wird sonst unvernünftig und absurd.

50 Charms 1997, a.a.O., S. 98; dt. Übersetzung S. 153.

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Nachdem sich die Mutter in einen mathematisch orientierten Tintenfisch verwandelt, findet sich der Leser am Anfang der Geschichte wieder: an dem Zeitpunkt, an dem Elizaveta Bam mit der harten Realität des Kommens der Repräsentanten der herrschenden Ordnung konfrontiert ist – ein sich ständig wiederholender Teufelskreis. Die Grenzen zwischen erlebter und vorgestellter Wirklichkeit bleiben für die Figuren im Theaterstück wie für die Rezipienten fließend, die Täter/Opferrollen uneindeutig und das Ende offen, denn als sich Elizaveta in die Gewalt des Gesetzes begibt und abgeführt wird, zündet Ivan Ivanovič ein Streichholz an und sagt: »Folgen Sie mir.« [За мной.]51 Mit dem Streichholz – als Metapher der Säuberung und der letztendlichen Macht und des Handlungsvermögens des Individuums – wird das absurde Theaterstück Elizaveta Bam von Charms beendet und die offene Potentialität dieser Szene wird auf die Rezipienten übertragen. In den bisher analysierten Texten nehmen Formen des gemeinschaftlichen und gesellschaftlichen Zusammenschlusses im Alltag unterschiedliche, unerwartete Dimensionen an, die auf eine zwischenmenschliche Dynamik unter extremen Situationen und Lebensumständen zurückzuführen sind. Ein signifikanter Aspekt, den ich in diesem Zusammenhang hervorheben möchte, ist eine indeterminierbare Offenheit im Zusammenspiel von Distanz und Nähe, die sich nicht nur auf die Bewohner dieses Raums begrenzt, sondern auch auf die Repräsentanten der jeweiligen herrschenden Ordnung übertragen wird. Die extremistische Ästhetik52 dieser Werke erzeugt Übergangsräume zwischen Realität und Fiktion bzw. Illusion, die einen Zusammenhang zwischen sich scheinbar ausschließenden Kontexten herstellen. Zeitgenossen konnten sich mit dem Verhalten der jeweiligen Figuren identifizieren, da sie selbst in gewisser Weise diese Ambivalenz verkörper-

51 Charms 1997, a.a.O., S. 99; dt. Übersetzung S. 155. 52 Hiermit möchte ich Literatur nicht nur als einen Ort des Ästhetischen, sondern auch als Ort des Extremen betrachten sowie als potentiellen, schöpferischen Raum, wobei der Begriff des Extremen meist mit politischem wie gesellschaftskritischem Handeln in Verbindung gebracht wird. Insofern Extremismus allgemein als eine Abweichung von bestehenden und dominanten Normen und Werten verstanden wird, definiere ich das Anliegen eines literarischen Extremismus bzw. extremistischer Ästhetik als indirekten und gesellschaftskritischen Widerstand gegen die herrschende Ordnung.

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ten. In der Gegenwart nehmen die unterschiedlichen ästhetischen Modi der Texte die Funktion einer Entautomatisierung an, indem sie von dominanten Normen und Werten abweichen. Denn eines der wichtigsten Wesensmerkmale der Texte ist, dass der Leser einen Einblick in innere Gedankenvorgänge und Verhaltensmuster der Bewohner sowie der Repräsentanten eines total(itär)en Systems bekommt. Auf der Suche nach Ordnung, Sinn und Wahrheit unter extremen Lebensverhältnissen in einem total(itär)en Raum entsteht eine dialektische gegenseitige Verbindung, aus der wiederum Abhängigkeit in Konfliktsituationen und Widersprüche entstehen. Aus der Abhängigkeit in Konfliktsituationen entstehen solidarische Bewegungen des Ein- und Ausschlusses, die die Form von geistig intimen, multidimensionalen sowie alternativen und geheimen Gemeinschaften annehmen, die sich in den flüchtigen und brüchigen Lebens- und Wohnverhältnissen dieser Schicksalsgemeinschaft bilden. Eine weitere maßgebliche Dialektik zwischenmenschlicher Interaktion im kommunalen Wohnraum ist die dialektische Wechselbeziehung von (in)offizieller Privatheit und (in)offizieller Öffentlichkeit.

Dialektik von Privatheit und Öffentlichkeit

This time we were all in the room, listening to music to tone down the communal noises, and my mother was telling our foreign guests about the beauties of Leningrad: »you absolutely must go to the Hermitage, and then to Pushkin’s apartment-museum, and of course to the Russian Museum.« In the middle of the conversation as the foreign guest was commenting on the riches of the Russian Museum, a little yellow stream slowly made its way through the door of the room. Smelly, embarrassing, intrusive, it formed a little puddle right in front of the dinner table.1

Mit dieser eindrücklichen persönlichen Erinnerung von Svetlana Boym wird der vergebliche Versuch ihrer Familie beschrieben, sich dem totalen Kommunalkageschehen zu entziehen und sich davon abzugrenzen. Den ausländischen Gästen werden die russischen Kulturschätze aus vergangenen Zeiten der erbärmlichen kommunalen Wirklichkeit entgegengestellt. Letztendlich scheitert der Ablenkungsversuch allerdings, denn die bedürftigen Lebensbedingungen sind penetrant und die Grenzen zwischen dem Privaten und den Orten der gemeinsamen Nutzung undicht. Es ist eine groteske Szene, in der die ausgeschiedene körperliche Flüssigkeit des berauschten Onkel Fedja symbolisch für die Omnipräsenz und -potenz des Staates bürgt und die versuchte Distanzierung bzw. Privatisierung sofort zum Scheitern verurteilt. Es scheint, als ob der Staat die alte, große russische Kultur und die Kunst des Abstands mit dieser Geste anpinkeln und somit negieren möchte. Zusätzlich zur enormen Diskrepanz zwischen Leben und Kunst schildert dieses Beispiel die unterschiedlichen Dimensionen der Grenzüber1

Boym, 1994, a.a.O., S. 121.

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schreitung: Dazu gehören nicht nur visuelle und taktile Wahrnehmung, sondern auch auditive, olfaktorische und schließlich die viszerale, d.h. körperinterne Wahrnehmung der anderen. Vor der kommunalen Wirklichkeit gibt es kein Entkommen. Was hier allerdings zum Vorschein kommt, ist nicht nur die Allgegenwart und das Eindringen der (in-) offiziellen Öffentlichkeit in private Räume und Sphären, sondern auch die Öffentlichkeit privater und intimer Angelegenheiten. Der berauschte Onkel Fedja ist von seiner Frau aus seinem eigenen privaten Raum ausgeschlossen worden und muss im kommunalen, öffentlichen Korridor unter der Beobachtung der anderen seinen Rausch ausschlafen. Aufgrund der besonderen Gegebenheiten und Lebensverhältnisse in der Kommunalwohnung wohnt den öffentlichen und privaten Sphären und Räumen ein spezieller Charakter inne, der auf ein verflochtenes Wechselverhältnis von Distanz und Nähe, von monumentalem und minimalem Raum in der sowjetischen Gesellschaft und von den damit verbundenen Bewegungen der Inklusion und Exklusion zurückzuführen ist. Die binäre Denkfigur Öffentlichkeit/Privatheit dient dazu, zwischen dem privaten Bereich der Familie und des Familiären innerhalb der häuslichen Grenzen und dem öffentlichen Bereich außerhalb des Häuslichen, der gewöhnlich mit dem Politischen in Verbindung gebracht wird, zu unterscheiden. In der Kommunalwohnung werden beide Bereiche miteinander vereint und verdichtet: Neben häuslichen prägen außerdem städtische, urbane und somit öffentliche Eigenschaften den Wohnraum, in dem einander fremde und sozial unterschiedliche Menschen an Orten der gemeinsamen Nutzung, die der formal institutionellen Kontrolle und Intervention des Staates unterliegen, aufeinandertreffen und koexistieren. Als Quintessenz des stalinistischen Alltags und als prägende Erfahrungs- und Lebenswelt bildet die Kommunalka einen ›intimen Raum‹, der, als Labor für die Beziehung zwischen dem Staat und seinen Bürgern, wichtige Erkenntnisse über die komplexe Beziehung zwischen privaten und öffentlichen Räumen und Sphären hervorbringen kann. Anhand von Symbolen, Ritualen und Kommunikationssphären, die durch die Organisationsstrukturen des Kommunalkaalltags in den Räumen und zwischenmenschlichen Beziehungen eingeschrieben sind, soll die dialektisch-dynamische Beziehung der privaten und der öffentlichen Sphäre, die einander relational bestimmen, in literarischen und extraliterarischen Kontexten untersucht werden.

D IALEKTIK VON P RIVATHEIT

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GESPALTENE

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Öffentlichkeit in ihrer Funktion als soziale Kommunikationssphäre wird überwiegend mit der Entstehung einer bürgerlichen Gesellschaft und mit freier Meinungsbildung in Verbindung gebracht, gewöhnlich außerhalb des Familiären und außerhalb des Heimes. Dass sich im sowjetischen Russland in dieser Hinsicht spezielle Formen der Öffentlichkeit(en) entwickelten, muss hier nicht weiter ausgeführt werden. Untersuchungen in der Osteuropaforschung – insbesondere die ›inszenierte Öffentlichkeit‹2 – haben zu aufschlussreichen Ergebnissen geführt, die das Ausarten der sowjetischen Öffentlichkeit erklären, allerdings entgegen den in der Forschung entwickelten Konzepten einer repressiven sowjetischen Öffentlichkeit. In erster Linie wird hervorgehoben, dass sich eine Dynamik entwickelte, die von den Beteiligten selbst gesteuert wurde. Dies gilt insbesondere auch für die Öffentlichkeit, die in der Kommunalwohnung Gestalt annahm. Zum Beispiel schreibt Julia Obertreis in ihrer Mikrostudie eines kommunal verwalteten Hauses in St. Petersburg: Die neue ›Hausöffentlichkeit‹ [in der Kommunalka] entstand nicht durch die Teilnahme [der Bewohner] an von oben verordneten, kulturpolitischen Kampagnen, sondern durch die Übernahme von Diskurs-Fragmenten und den Bezug auf offizielle Politik dort, wo ihre Ziele mit den materiellen Interessen der Menschen übereinstimmten.3

Die fragmentierte oder zwischen offiziell und inoffiziell gespaltene Öffentlichkeit im Kommunalkaraum war sozial determiniert, und die Beteiligten kommunizierten miteinander nur nach ihrer Interessenlage.

2

Siehe hierzu die Arbeiten von Rolf, Malte: »Feste der Einheit und Schauspiele der Partizipation. Die Inszenierung von Öffentlichkeit in der Sowjetunion um 1930« in: JbfGOE, N.F., Bd. 50, Heft 2, 2002, S. 447-473; ders.: Das sowjetische Massenfest, Hamburg 2006; Erren, Lorenz: »›Kritik und Selbstkritik‹ in der sowjetischen Parteiöffentlichkeit der 30er Jahre. Ein missverstandenes Schlagwort und seine Wirkung« in: JbfGOE, N.F., Bd. 50, 2002, Heft 2, S. 186-194.

3

Obertreis, a.a.O., S. 337; eigene klärende Einfügungen in [] eingefügt.

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›Häuser des Korridortyps‹4 waren in zwei verschiedene Arten von Räumlichkeiten aufgeteilt: einerseits in Räume für Familien und Personen (svoja žilploščad’) und andererseits in ›Orte der gemeinsamen Nutzung‹ (mesta obščego pol’zovanija). Für diese Untersuchung sind die Orte der gemeinsamen Nutzung besonders interessant. Die Begrifflichkeit mesto obščego pol’zovanija, die von der Verwaltung benutzt wurde, beschrieb vor der Revolution Straßen, Gassen und andere städtische Plätze. Seit den 1920er Jahren wurden darunter Küche, Bad, Toilette und Korridor verstanden, die in gewisser Weise zu städtischen Plätzen geworden waren.5 Diese ›Orte der gemeinsamen Nutzung‹ können wiederum in zwei verschiedene Grade von ›öffentlich‹ unterteilt werden: Die Küche und der Korridor waren ›öffentlicher‹ als das Badezimmer und die Toilette. Dabei war die Küche einer der wichtigsten öffentlichen Räume, der wechselnde Funktionen annahm. Diese waren unter anderem die Verwendung als ›Klub‹, ›Hof‹, ›Badezimmer‹, ›Raucherzimmer‹, ›Kameradschaftsgericht‹, ›Koordinationszentrum‹, und ›Hyde Park‹.6 Die traditionelle Funktion der Küche als ein Ort, an dem gegessen wird, wurde in den Wohnbereich der Zimmer verlegt. Hier möchte ich an die Auseinandersetzung in Bulgakovs Sobač’e serdce erinnern: В спальне принимать пищу, заговорил он слегка придушенным голосом. […] вас прошу вернуться к вашим делам, а мне предоставить возможность принять пищу там, где ее принимают все нормальные люди, то-есть в столовой, а не в передней и не в детской. Im Schlafzimmer essen, sagte er mit etwas belegter Stimme. […] Und Sie bitte ich ergebenst, zu Ihrer Arbeit zurückzukehren und mir die Möglichkeit zu geben, mein Essen einzunehmen, und zwar dort, wo alle normalen Menschen es einnehmen – im Eßzimmer und nicht im Flur oder im Kinderzimmer.7

So war es tatsächlich: Es wurde im Schlaf-/Gemeinschafts-/Wohnzimmer gegessen. Darüber hinaus war der Korridor ein Ort für ungeplante und unvermeidbare Begegnungen heterogener Individuen und

4

In der sowjetischen Baugeschichte wurden die Kommunalwohnungen als

5

Vgl. Obertreis, a.a.O., S. 224.

›Häuser des Korridortyps‹ bezeichnet. Martiny, 1983, a.a.O., S. 143. 6

Vgl. Gerasimova, 2000, a.a.O., S. 76.

7

Bulgakov, 1985, a.a.O., S. 39f; dt. Übersetzung S. 35f.

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Gruppen. Laut Gerasimova wurden hier Alltagsregeln gemacht sowie Macht- und persönliche Verhältnisse offenbart.8 Regeln und Rituale des Zusammenlebens, die nicht durch die Kultur- und Aufklärungsarbeit der Wohngenossenschaften verbreitet wurden, ergaben sich wiederum aus rein praktischen Gründen: Es gab eine Putzordnung, Benutzungspläne und Klingelzeichen – zum Beispiel viermal kurz klingeln für Zoja, zweimal kurz und einmal lang für Semen und dreimal kurz für Petja. Diese Regeln waren Ergebnis eines Prozesses der Selbstregulierung, der notwendigerweise in den Wohnräumen stattfand. Jede Kommunalka entwickelte eine eigene Dynamik und eigene ›Regeln des Hauses‹. In manchen Kommunalkas war es beispielsweise üblich, die Wäsche in der Küche zum Trocknen aufzuhängen; in anderen war dies ausdrücklich verboten und konnte nur in den eigenen Zimmern verrichtet werden. Wie hier deutlich wird, enthielt der hochpolitisierte Raum der Kommunalka verschiedene Teilaspekte der klassischen (›westlichen‹) Differenzierung zwischen Öffentlichkeit und Privatheit: die der bürgerlichen Öffentlichkeit und politischen Meinungsbildung nach Habermas und Arendt,9 die des ›öffentlichen Platzes‹ für spontane Begegnungen und ›fluid sociability‹ heterogener Individuen und Gruppen im Sinne von Ariès und Sennett10 sowie die grundsätzliche Ambivalenz von Privatheit in ihrer emanzipatorischen und repressiven Funktion, die unter anderem in einer politisch-philosophischen Diskussion der feministischen Theorie Thema ist.11 Anhand dieser unterschiedlichen Diskurse bezüglich Öffentlichkeit und Privatheit lässt sich die vielschichtige und komplexe Zusammensetzung von Öffentlichkeit in der Kommunalka erkennen und verweist somit auch auf ihren hybriden und polymorphen Charakter12 – schließlich war die kommunale Öf-

8

Vgl. Gerasimova, 2002, a.a.O., S. 172.

9

Vgl. Habermas, Jürgen: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchung zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Neuwied u. a.: Luchterhand 1976; Arendt, Hannah: The Human Condition, Chicago 1958.

10 Vgl. Sennett, Richard: The Fall of Public Man, New York 1992; Ariès, Philippe: Geschichte des privaten Lebens, Frankfurt a.M. 1995. 11 Vgl. Rössler, Beate: Der Wert des Privaten, Frankfurt a.M. 2001, S. 13. 12 Dietrich Beyrau formulierte den »hybriden Charakter sowjetsozialistischer Öffentlichkeit« in seinem Beitrag »Macht und öffentliche Räume im Sozialismus. Einführung« in: JbfGOE, N.F. Bd. 50, Heft 2, 2002, S. 161-162.

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fentlichkeit genauso heterogen wie die soziokulturelle Zusammensetzung der Kommunalkabewohner selbst. Im chaotischen und extrem dynamischen Kontext war es nicht immer eindeutig, was als legal und illegal, offiziell und inoffiziell oder als öffentlich und privat galt – das sowjetische Subjekt selbst befand sich tatsächlich in einem Konflikt über die Bedeutung, Anwendung und Interpretation (s)einer Kultur, für die keine neutralen, objektiven Kriterien angewandt werden konnten. Dabei änderten sich die Verhältnisse mit jeder offiziellen und inoffiziellen Umbestimmung und Gesetzesmodifizierung. Um unter diesen Umständen nicht als Abweichler bezeichnet zu werden, mussten Bewohner sich regelmäßig ›öffentlich‹ (na ljudjax) verhalten und rituell politische und soziokulturelle Loyalität beweisen. Aufgrund der starken Diskrepanz zwischen den tatsächlichen Lebensbedingungen und dem vorgegebenen sozialistischen Modell der neuen Lebensweise bildete sich gewissermaßen eine vom Staat inspirierte ›zweite Realität‹,13 die mithin als eine zweite, abgespaltene Öffentlichkeit verstanden werden kann.

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GESPALTENE

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Das sowjetische Individuum passte sich diesen ambivalenten Umständen so gut wie möglich an. Die jeweils vorgenommene Umkodierung von dem, was als öffentlich und was als privat galt, wird unter anderem in Il’f und Petrovs Erzählung Zolotoj telёnok (Das goldene Kalb, 1931)14 thematisiert. Zwar spielt die folgende Szene im beruflichen und nicht im häuslichen Kollektiv, dennoch ist sie als zwischenmenschliche Interaktion unter Mitgliedern eines Kollektivs, d.h. unter Personen, die einer offiziellen (polymorphen) Öffentlichkeit angehörten, mit der Kommunalkasituation durchaus vergleichbar. Разве это жизнь? Нет никакого простора индивидуальности. Все одно и то же, пятилетка в четыре года, пятилетка в три года. Да, да, – зашептал

13 Vgl. Shlapentokh, Vladimir: Public and Private Life of the Soviet People: Changing Values in Post-Stalin Russia, New York 1989. 14 Il’f, Il’ja/Petrov, Evgenij: Sobranie sočinenij v pjati tomach. Zolotoj telenok, Moskva u.a. 1996; dies.: Das goldene Kalb: Ein Millionär in Sowjetrussland, aus dem Russischen von Wera Rathfelder, Zürich 1986.

D IALEKTIK VON P RIVATHEIT

UND

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Бомзе, просто ужаз какой-то! Я с вами совершенно согласен. Именно, никакого простора для индивидуальности, никаких стимулов, никаких личных перспектив. Жена, сами понимаете, домашняя хозяйка, и та говорит, что нет стимулов, нет личных перспектив. […] с горячностью воскликнул Бомзе. Именно воля Коллектива! Пятилетка в четыре года, даже в три – вот стимул, который… Возьмите, даже

мою

жену.

Домашная

хозяйка



и

та

отдает

должное

индустриализации. Черт возьми, на глазах вырастает новая жизнь! Ist das vielleicht ein Leben? Kein Raum für die Individualität. Immer ein und dasselbe. Fünfjahresplan in vier Jahren, Fünfjahresplan in drei Jahren. ›Ja, ja‹ flüsterte Bomse, ›es ist wirklich sehr schlimm! Ich gehe mit Ihnen vollkommen einig. Kein Raum für die Individualität, kein Stimulus, keine persönlichen Perspektiven. Meine Frau, Sie verstehen, ist Hausfrau, und sogar sie sagt, dass es keine persönlichen Perspektiven gibt.‹ Bomse holte tief Luft und einem anderen Angestellten entgegnete […] Bomse voller Eifer, ›Wille des Kollektivs, jawohl! Fünfjahresplan in vier Jahren, sogar in drei – das ist ein Stimulus … Nehmen Sie, zum Beispiel meine Frau – eine Hausfrau, aber auch sie leistet ihren Teil für die Industrialisierung. Hol’s der Teufel! Vor unseren Augen wächst das neue Leben!‹15

Das sowjetsozialistische Subjekt entwickelte die Fähigkeit einer quasischizophrenen Spaltung der Persönlichkeit und situationsbedingten Umkodierung von Öffentlichkeit und Privatheit. Bomze, ein Angestellter einer Planungsabteilung, passt die zwischenmenschlichen Beziehungen den jeweiligen Umständen an und nimmt dabei verschiedene Identitäten an. Mit dieser ambivalenten und widersprüchlichen, jedoch überlebenskünstlerischen Tendenz verschaffte sich das sowjetische Subjekt mehr Freiraum. Unter den Lebensverhältnissen und -bedingungen der 1920er und 1930er Jahre bildeten sich, laut Oleg Charchordin, ein offizielles persönliches (ličnaja žizn’) und ein inoffizielles privates Leben (častnaja žizn’) heraus.16 Ersteres identifiziert er als das offiziell zugestandene persönliche Leben, das von der politischen Führung für die Charakterformung des neuen Menschen instrumentalisiert wurde. Es war not-

15 Il’f/Petrow: a.a.O., S. 98f.; dt. Übersetzung S. 158f. 16 Vgl. Kharkhordin, Oleg: The Collective and the Individual in Russia, Berkley 1999, S. 360.

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wendig, sich regelmäßig den Mitgliedern des jeweiligen Kollektivs zu offenbaren, da der neue sowjetische Mensch sich nur unter der Überwachung eines Kollektivs verwirklichen konnte. Andere Formen der persönlichen Verwirklichung, die außerhalb des Kollektivs stattfanden, wurden als verdächtig und regimewidrig eingestuft. Durch das Kollektiv – eine gesellschaftliche Manifestation des Regimes – stellte die sowjetische Führung in den 1930er Jahren den Anspruch auf eine ›gesellschaftliche Intimität‹. Innerhalb der kommunistischen Zelle sollten ein bestimmtes Bewusstsein und ein gemeinsames politisches Interesse an die Stelle familiärer Empfindungen authentischer Intimität treten. Darüber hinaus war die gegenseitige Beurteilung eine moralische und politische Verantwortung nicht nur von Kollektivsondern auch von Familienmitgliedern.17 Das Kollektiv wurde von der Führung als ein überaus wichtiges Instrument der Selbstverwaltung und Kultivierung des einzelnen Individuums angesehen.18 Zwei wichtige Eigenschaften der Kultivierung des sowjetischen Individuums waren, dass der Diskurs einerseits kollektivistisch war, während andererseits das fernere Ziel darin lag, das sowjetische Individuum umzuformen und dadurch, der angestrebten neuen Lebensweise entsprechend, zu verbessern. Unter diesen Umständen waren ›kollektivistische Individuen‹ möglich: Personen, die kollektivistische Werte annahmen und diese in ihre Alltagsgestaltung integrierten, und gleichzeitig jedoch einzeln als Individuen handeln mussten, um den vorgeschriebenen kollektivistischen Prinzipien und Praktiken des sowjetischen Alltags Folge leisten zu können. Diese paradoxen Bedingungen waren die geeignete Grundlage für die ›schizophrene Spaltung‹ einer Person, die einerseits als öffentliche Persönlichkeit kollektivistisch handelt und an öffentlichen Loyalitätsritualen gegenüber dem Staat teilnimmt, sich andererseits aber hinter dem Schutz der provisorischen Sperrholzwän-

17 Vgl. Halfin, Igal: »Intimacy in an Ideological Key: The Communist Case of the 1920s and 1930s« in: ders. (Hg.): Language and Revolution: Making Modern Political Identities, Abdington 2002, 185-214, S. 190. 18 Die Diskussion um die Subjektivität des Individuums im Stalinismus wurde in erster Linie von Jochen Hellbeck und Igal Halfin in Gang gesetzt. Vgl. Hellbeck, Jochen: »Fashioning the Stalinist Soul: The Diary of Stepan Podlubnyi, 1931 – 1938« in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 44, No. 3, 1996, S. 344-373; Halfin, Igal: From Darkness to Light: Class, Consciousness and Salvation in Revolutionary Russia, Pittsburg 2000.

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de in den Kommunalkas zu einem uneingeschränkten Individuum entwickelt.19 Versuche, die öffentliche Sphäre in der Kommunalwohnung begrifflich adäquat zu umschreiben, sind bis dato jedoch nicht in zufriedenstellender Weise erfolgt. Ob die räumlichen Verhältnisse in der Kommunalka nun als öffentliche Privatheit (public privacy)20 oder als ein privat-öffentlicher Raum21 designiert werden, in beiden Fällen scheinen diese Klassifikationen der Öffentlichkeit in Orten der gemeinsamen Nutzung aufgrund ihrer dynamisch-dialektischen Natur unzureichend. Dagegen reflektiert der Begriff einer ›Zone des Übergangs‹ (transition zone),22 gleichzeitig aber auch der Begriff einer ›Zone der Ununterscheidbarkeit‹23 meiner Ansicht nach die Beschaffenheit der Öffentlichkeit in Orten der gemeinsamen Nutzung besser. Grund dafür ist, dass es in den zwischenmenschlichen Interaktionen ständig zu einer Neubestimmung und -gewichtung der gegebenen Situation kam, und das meist aus konfliktreichen Situationen und den mithin entgegengesetzten Positionen heraus. Dabei kann diese Zone des Übergangs und der Ununterscheidbarkeit einen territorialen Zwischenraum zwischen dem Außen der Straße und dem Innen des (Wohn-, Schlaf-, Ess- und Aufenthalts-)Zimmers markieren oder den entterritorialisierten zwischenmenschlichen Raum zwischen dem Eigenen und dem Anderen in der Interaktion. Weintraub hat eingehend

19 Vgl. Kharkhordin, 1999, a.a.O., S. 204. Mit anderen Worten: Es gab eine potentielle Gegenentwicklung zu den Umformungsphantasien der Partei. Paradoxerweise haben die sowjetischen Machthaber mit den Umformungsintentionen, die in den 1920er Jahren bekanntermaßen die Familie zerstören und zu einem ›Neuen Menschen‹ führen sollten, das Subjekt befreit. Einen ›Neuen Menschen‹ hat die Sowjetunion durchaus gebildet, jedoch hatte dieses Exemplar durch seine ›überlebenskünstlerische‹ schizophrene Spaltung das Potential einer Resistenz gegen die zunehmenden Einschränkungen der Privatheit in der Moderne entwickelt. 20 Vgl. Gerasimova, 2002, a.a.O. 21 Vgl. Oswald, Ingrid/Voronkov, Viktor: »Licht an, Licht aus! ›Öffentlichkeit‹ in der (post-)sowjetischen Gesellschaft« in: Rittersporn/Behrends, a.a.O, S. 47. 22 Vgl. Lawrence, a.a.O. 23 Agamben zitiert von Geulen, Eva: Giogria Agamben…zur Einführung, Hamburg 2005, S. 61.

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auf die proteischen Eigenschaften des Begriffspaares Privat/Öffentlich im Allgemeinen hingewiesen und ihre Relationalität, Eigendynamik und Flüchtigkeit bekräftigt.24 Hier möchte ich die Eigenschaft der Liminalität hinzufügen, denn Agamben markiert den Punkt, an dem Einheit und Differenz ineinander übergehen, mit dem Begriff der Schwelle.25 Im Schwellenmoment, im Moment des Übergangs, werden die zwei Zustände des Innen und Außen, des Privaten und Öffentliche etc. voneinander getrennt, allerdings gleichzeitig im Moment des Übergangs miteinander verbunden.

O MNIPRÄSENZ

UND - TRANSPARENZ

Ungeachtet einer zweiten Realität, in der einerseits die (in)offizielle Öffentlichkeit von der offiziell-rituellen Öffentlichkeit und die (in)offizielle Privatheit von der (in)offiziellen Öffentlichkeit gespalten wurde, durchdrangen und vermischten sich diese Sphären. Bewohner befanden sich ständig auf der kommunalen Bühne und unter sozialer Kontrolle – es war nie klar, von welcher Position man beobachtet und entsprechend bewertet wurde. In den Räumlichkeiten der Kommunalwohnung transzendierte das Wissen über das Leben der Nachbarn die räumlichen Grenzen jenseits der privaten und der öffentlichen Sphären. Umgeben von einer permanenten Geräuschkulisse waren die Kommunikationskanäle immer geöffnet: Ob gewollt oder nicht, jeder Mitbewohner wusste, was sich augenblicklich in der Kommunalka abspielte. Für die Bewohner war es unerträglich, dass ihr persönliches und intimes Leben vor den Augen anderer (oft auch Fremder) stattfand. Das Gleiche galt aber auch umgekehrt: Es war für viele unerträglich, das persönliche und intime Leben anderer beobachten zu müssen. In der Kommunalka war die Transparenz der Räumlichkeiten allgegenwärtig, zwangsläufig und unvermeidlich. In dieser Transparenz manifestierte(n) sich die Allgegenwärtigkeit des sowjetischen Regimes und dessen Anforderungen an die Bewohner. Eine Informantin für Utechins anthropologisch-ethnologische Studie des kommunalen Alltags bestätigt dies:

24 Vgl. Weintraub, a.a.O. 25 Vgl. Agamben, 2002, a.a.O.

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Все это на виду. И в какой-то степени это свойственно нам всем. Потому что ты растешь на виду, потому что ты знаешь, что тебя оценивают каждый день с головы до ног. Во что ты одет, где работает твоя мама, кто к тебе приходит. Что ты ешь. Есть ли у тебя свободное время. Что ты стираешь и как выглядят твои трусы, которые висят на веревке.26 Alles passiert vor den Augen der anderen. Und irgendwie ist es für uns alle Normalität geworden. Weil du vor den Augen anderer aufwächst, weil du weisst, dass du täglich von Kopf bis Fuss bewertet wirst. Was du trägst, wo deine Mutter arbeitet, wer dich besucht. Was du isst. Ob du Freizeit hast. Was du wäscht und wie deine Unterhosen aussehen, die an der Leine hängen.

Dazu schreibt Il’ja Kabakov: Natürlich, der sowjetische Mensch fühlt sich ständig beobachtet, er ist immer auf einer Bühne, und wenn er etwas erreicht, so nur durch größte schauspielerische Leistungen.27

Die Kommunalwohnung erwies sich als die ideale Bühne für die Inszenierung der alltäglichen Theatralik und forderte große schauspielerische Leistungen. Bulgakov behandelt den theatralen Aspekt des Lebens in Bezug auf den Wohnraum in seinem phantastisch-grotesken Drama Blaženstvo. Als die drei bekannten Zeitreisenden – der Ingenieur Rejn, der Sekretär der Hausverwaltung Bunša-Korezki und der (Überlebens-)Künstler Milosalwskij – im zukünftigen Moskau im Raum des Volkskommissaren für Erfindungen, Radamanov, ankommen, zerbricht Glas. Glas erlaubt es, innen und außen ununterscheidbar zu machen, und verweist auf eine weitere Ambivalenz der sowjetischen Gesellschaft, denn in diesem Zusammenhang verstehe ich die Metapher des zerbrochenen Glases einerseits als Zeichen für eine nicht vorhandene Transparenz in öffentlichen Angelegenheiten sowie eine daraus entstehende Fragilität des Systems. Andererseits weist Bulgakov auf die unvermeidbare Transparenz in den privaten Räumlichkeiten der Kommunalwohnung hin. Radamanov reagiert verdutzt auf den Auftritt der drei Zeitreisenden mit den Worten:

26 Utechin, a.a.O., S. 110; eigene Übersetzung. 27 Kabakov/Groys, 1991, a.a.O., S. 90.

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Артисты. Что ж это вы стекла у меня бьете? О съемках нужно предупреждать. Это моя квартира. Das sind Schauspieler. Aber warum zerschlagen sie mir die Scheiben? Wenn Filmaufnahmen gemacht werden sollen, muß man vorher Bescheid sagen. Das hier ist meine Wohnung.28

In diesem Sprechakt platziert Radamanov eine weitere Bühne auf der Bühne und bezeichnet seine Mitmenschen als Schauspieler oder als Menschen, die unterschiedliche Rollen in öffentlichen Räumen annehmen. Dadurch wird einerseits auf eine gewisse Künstlichkeit und auf das Unauthentische und Unglaubwürdige des Orientierungssystems hingewiesen – Eigenschaften, welche sich auf der Suche nach Wahrheit als geläufige und mitunter notwendige Kategorien des Wahrnehmungsbezugs unter den Bedingungen der neuen Lebensweise erwiesen haben. Mit dem Verweis auf Filmaufnahmen deutet Bulgakov andererseits auf die Linse der Filmkamera hin und im übertragenen Sinne auf das Fenster zwischen den distanzwahrenden Rezipienten und dem eigentlichen (filmischen) Geschehen, welches zerbricht. Damit kann Bulgakov die grundlegende theoretische Unterscheidung zwischen den Formalisten und den Realisten aufgreifen. In dieser Unterscheidung geht es um die Frage, inwiefern der Film als Kunst betrachtet werden kann, da dieses Medium lediglich mechanisch die Wirklichkeit reproduziert. Die Formalisten verstehen den Film als Konstruktion und Repräsentation, wobei die Realisten den Einblick hervorheben, der dem Rezipienten in die wirkliche, d.h. nicht-mediale Wirklichkeit ermöglicht wird.29 Durch die oben angeführte Szene positioniert sich Bulgakov auf der Seite der Realisten. Dessen ungeachtet scheinen die Grenzen zwischen der Realität und dem Kunstwerk zu verschwimmen, und hiermit macht Bulgakov eine Anspielung auf die Tatsache, dass dieses Kunstwerk die Aufzeichnung und Wiedergabe der Realität ermöglicht. Meines Erachtens ist dies generell das Verständnis und der Anspruch der hier analysierten satirischen Literatur.

28 Bulgakov, 1999, a.a.O., S. 45; dt. Übersetzung S. 91. 29 Vgl. Elsaesser, Thomas/Hagener, Malte: Filmtheorie zur Einführung, Hamburg 2007.

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Außerdem verschwimmen die Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit: Radamanov benennt eine aggressive Grenzüberschreitung öffentlicher Angelegenheiten in den ohnehin transparenten privaten Raum. Im weiteren Verlauf dieses Stücks ist es nicht klar, ob wir uns in Radamanovs Wohn- oder Arbeitsraum befinden. Wahrscheinlich dient dieser Raum im Sinne der Regierung als Allzweckraum, der öffentliche mit privaten Angelegenheiten belanglos mischt: Sowohl Aurora – seine Tochter – wie auch Anna – eigentlich seine Sekretärin, jedoch erfüllt sie vielmehr die Rolle eines Dienstmädchens – verhandeln die Gestaltung des gemeinsamen Raums miteinander und verbinden somit die intim-familiäre mit der öffentlichen Sphäre. Innerhalb dieses institutionalisierten kommunalen Raums bildete sich zwischen den einzelnen Bewohnern ein komplexes Kommunikations- und Regelsystem heraus, dass das Zusammenleben einander fremder Menschen auf engstem Raum und die gemeinsame Nutzung von Küche, Bad und Toilette überhaupt erst ermöglichte. In der Transparenz des Raums war die reale oder metaphysische, symbolische Präsenz der Mitbewohner konstant, es verschränkten sich die paradoxe Begebenheit eines Formgefühls der Unsichtbarkeit und des gesellschaftlichen und gemeinschaftlichen Einschlusses – die direkte Umkehrung des gegenwärtigen Großraumbüros, in dem das Paradoxon von Sichtbarkeit und Isolation ins Extrem getrieben wird.30 Bezeichnend für diesen Zustand sind in meinen Augen die Szenen in Bulgakovs phantastisch-grotesken Stücken Blaženstvo und Ivan Vassilevič, in denen Grenzen transparente Dimensionen annehmen. Der literarische Raum in diesen beiden Stücken ist ohnehin ein sehr offener Raum, der durch entsprechende literarische Zeichen vermittelt wird. Es verschränkt sich das Imaginäre mit dem Sichtbaren sowie das Gedankliche mit dem Erlebten, sowohl für die Figuren und den Rezipienten als auch für die Nachbarn einer Kommunalka im tatsächlichen Wohnraum. Nachdem die Protagonisten der Stücke ihre jeweiligen Zeitmaschinen das erste Mal vor anderen Menschen testen, bleibt beispielsweise eine dunkle Öffnung zurück, wo die Wände zu den jeweiligen Nachbarzimmern waren. Ein eindeutiger Verweis auf die Durchlässigkeit der notorischen Sperrholzwände. In dieser Öffnung erscheint in beiden Stücken Miloslawskij vollkommen verwirrt:

30 Vgl. Sennett, a.a.O., S. 15.

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Я извиняюсь, это я куда-то не туда вышел. У вас тут стенка, что ли, провалилась? Виноват, как пройти на улицу? Pardon, ich bin hier falsch. Hier ist wohl die Wand verschwunden? Pardon, wie komme ich hinaus?31

Nachbarn kamen zwangsläufig in Kontakt miteinander und, wie hier angedeutet wird, in Dialog. In solch einer ausgeprägten Transparenz wurde versucht, die eigene Privatsphäre sowie die der anderen zu wahren. Ein Vermeiden direkten, verbalen Kontakts mit den Nachbarn war tatsächlich ein Zeichen dafür, dass die Privatsphäre des Anderen respektiert wurde, und brachte (generell) eine positive Konnotation mit sich.32 Diese Tendenz bestätigt der Soziologe Richard Sennett, der betont, dass Geselligkeit abnimmt, wenn jeder von jedem beobachtet wird, da Schweigen zu einem wichtigen Instrument des Schutzes wird. Mit anderen Worten: Eine gewisse Distanz ist notwendig, um Geselligkeit zu fördern, und umgekehrt geht die Geselligkeit zurück, sobald Nähe vorherrscht.33 Um sich gesellig zu fühlen, bedürfen die Menschen einer gewissen Distanz. Die latent vorhandenen Kanäle der Kommunikation wurden jedoch aufgrund von Unsicherheit, Verwirrung – wie im obigen Beispiel – oder Verstoß gegen jegliche Regeln des Zusammenlebens oder die Nutzung der gemeinschaftlichen Räume jederzeit geöffnet. Sollte beispielsweise jemand – nach Meinung der in der Toilettenschlange Wartenden – zu viel Zeit auf der Toilette verbringen, wurde der Schuldige durch die allgegenwärtige Transparenz der Privatsphäre umgehend darüber in Kenntnis gesetzt. Auf der anderen Seite kam es auch dazu, dass die Nachbarn der auf der Toilette befindlichen Person Hilfestellung leisteten, wenn beispielsweise die Milch überlief oder diese Person plötzlich Besuch erhielt oder einen Telefonanruf bekam. Aufgrund unzureichender Ressourcen war der Gerechtigkeitssinn der Bewohner sehr stark ausgeprägt, und in diesem Zusammenhang

31 Bulgakov, 1999, a.a.O., S. 41; dt. Übersetzung S. 86. 32 Alltägliche organisatorische Angelegenheiten wurden hauptsächlich mit kleinen Notizen kommuniziert, entweder an einem dafür bestimmten Platz in der Küche, oder sie wurden unter die Tür geschoben. Vgl. Utechin, 2004, a.a.O. 33 Vgl. Sennett, a.a.O., S. 15.

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war beispielsweise das Phänomen der Warteschlange eine Möglichkeit, den öffentlichen Raum gerecht zu ordnen. Die berüchtigte sowjetische Warteschlange begleitete den Sowjetbürger immer und überall, sogar bis in die häusliche Lebenswelt. So war das tägliche Schlangestehen ein Teil der räumlichen Organisation der Kommunalka: für die Toilette, für das Bad, für die Nutzung des Telefons usw.34 Laut Bogdanov befand sich das soziale Zentrum im Kontext der sowjetischen Ideologie traditionell dort, wo es Massen, Ordnung und Raummangel gab, d.h. dort, wo sich eine Warteschlange befand. Auf den ersten Blick erscheint sie als eine gerechte Ordnung der Unordnung, jedoch nahm die Warteschlange im sowjetischen Kontext eine komplexere und vielschichtigere Gestalt an. Auf der einen Seite war sie Teil des ritualisierten Ordnungssystems des Kommunalalltags und der regulierten Interaktionen zwischen Mitbewohnern. Sie war Ausdruck eines Mangels an körperlicher Autonomie und der Unterlegenheit des Bewohners bzw. des Bürgers gegenüber der herrschenden Macht. Auf der anderen Seite symbolisierte die Warteschlange die Beziehung des Einzelnen zur sowjetischen Ideologie und zum Staat und enthielt somit auch autonome Züge. Durch verbale und nichtverbale Kommunikationsmuster und Handlungen wurde unterschwellig viel kommuniziert: Sofern Personen für andere in der Schlange standen, war dies Zeichen einer gewissen Eigenständigkeit sich selbst und anderen gegenüber, aber auch ein Versuch, sich vom System zu befreien und die Situation zu kontrollieren. Obwohl Spielräume sozialer Handlungsprozesse für Akteure im sowjetisch-sozialen Umfeld allgemein sehr eng waren, gab es eine gegenseitige Anerkennung und Kodierung von Verhaltensstrategien, die sich stabilisierend auf die erzwungenen und unausweichlichen zwischenmenschlichen Begegnungen auswirkten. Die Bewohner der Kommunalka schufen mit gegenseitig anerkannten und respektierten Kommunikationskanälen neue Strukturen und entwickelten ein kompliziertes System von Grenzziehungen zum Schutz der eigenen Privatsphäre und der des Anderen. Dabei wurden die von oben vorgeschriebenen Spielregeln nur bedingt angewandt: Manchmal wurden sie zur Verfolgung eigener, persönlicher und materieller Interessen instrumen-

34 Vgl. Gerasimova, 2002, a.a.O.; Bogdanov, Konstantin: Povsednevnost’ i mifologija. Issledovanija po semiotike fol’klornoj dejstvitel’nosti, St. Petersburg 2001.

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talisiert, manchmal aber wurden die geforderten Grenzen der Privatheit, die sich jenseits der Parteilinie befanden, auch respektiert. Im Kommunalkaraum bedurfte es einer ausgeprägten schauspielerischen Fähigkeit, um die unterschiedlichen privaten und öffentlichen Sphären geschickt zu navigieren. In der Kommunalwohnung war es unmöglich, den lästigen Nachbarn zu entkommen und unter diesen Verhältnissen zu leben. Bulgakov behandelt diese störende Begebenheit in seinem essayistischen Text Moskva 20-ch godov (Moskau in den zwanziger Jahren, 1924): Клянусь всем, что у меня есть святого, каждый раз, как я сажусь писать о Москве, проклятый образ Василия Ивановича стоит передо мною в углу. Кошмар в пиджаке и полосатых подштанниках заслонил мне солнце! Я упираюсь лбом в каменную стену, и Василий Иванович надо мной, как крышка гроба. Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist: Jedesmal, wenn ich mich hinsetze, um über Moskau zu schreiben, steht der verfluchte Wassili Iwanowitsch vor mir in der Ecke. Dieser Alptraum in Jackett und gestreifter Unterhose versperrt mir die Sonne. Ich lehne die Stirn an die steinerne Wand, und Wassili Iwanowitsch liegt über mir wie ein Sargdeckel.35

Der allgegenwärtige symbolische Nachbar des Erzählers blockiert die Sonne, die lebensnotwendiges Licht spendet, und beeinträchtigt demgemäß seine kreative, geistige Leistungsfähigkeit. Der Grund, warum der Erzähler nicht über Moskau schreiben kann, ist auf die Unzulänglichkeiten der Wohnungssituation zurückzuführen. Am Anfang seines Essays stellt der Erzähler die rhetorische Frage, wie man im Moskau der 1920er Jahre lebt. Seine Antwort auf diese Frage ist: ohne Wohnung, d.h. ohne Wohnung im gewöhnlichen Sinne des Wortes. Aufgrund der postrevolutionären Wohnungsnot und den daraus entstehenden verheerenden Lebens- und Wohnverhältnissen ist der eigentliche Sinn des Wortes ›Wohnung‹ verlorengegangen. Seiner Meinung nach wird mit diesem Wort mittlerweile alles mögliche als eine Wohnstätte

35 Bulgakov, Michail: »Moskva 20-x godov« in: ders.: Rokovye jajca. Sobranie sočinenij, Tom. II, Moskva 1995, 435-445, S. 439; ders.: »Moskau in den zwanziger Jahren« in: Ich habe getötet. Erzählungen und Feuilletons. Gesammelte Werke 7/I, Berlin 1995, 74-87, S. 79.

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bezeichnet, und die Menschen gehen zu leichtfertig mit der Bestimmung und Definition einer Wohnung um. Einleitend etabliert der Erzähler, dass ein Mensch ohne Wohnung nicht existieren kann, und so ist Vassilij Ivanovič ein Zeichen für die inakzeptablen Wohn- und Lebensumstände – der Erzähler fühlt sich, als ob er lebendig begraben sei, da ihm ein Grundstein des menschlichen Lebens genommen wurde. In einem weiteren feuilletonistischen Beitrag mit dem Titel Ploščad na kolesach. Dnevnik genial’nogo graždanina Polosuchina (Die Wohnung auf Rädern. Tagebuch eines genialen Bürgers Polossuchin, 1924) behandelt Bulgakov erneut die schreckliche Wohnungslage und die dadurch entstehenden unerträglichen Lebensbedingungen. In Moskau gibt es keinen Wohnraum, geschweige denn Wohnungen. In seinem ersten Tagebucheintrag am 21. November verzeichnet der Bürger Polossuchin, dass er drei Nächte in der Wanne eines Bekannten geschlafen hat und zwei Nächte bei einem anderen Bekannten auf dem Gasherd. Aus Verzweiflung kauft er sich eine Fahrkarte für die Linie A und fährt mit dieser Linie die ganze Strecke rundherum sechs mal, und letztendlich übernachtet er im kalten Depot. In den nächsten Tagebucheinträgen wird deutlich, dass sich der Bürger langsam in der Linie A niederlässt, weil sie erstens vom Atem der Leute warm ist und weil er zweitens nicht weiß, wohin er sonst gehen könnte. Zuerst nimmt er sich Stullen mit auf die Fahrt, dann einen Primuskocher; er ist nicht allein, er bekommt Nachbarn: 7 Декабря Пурцман с семейством устроился. Завесили одну половину – дамское – некурящее. Рамы все замазали. Электричество – не платить. Утром тае и сделали: как кондукторша пришла – купили у нее всю книжку. Сперва ошалела от ужаса, потом ничего. И ездим. Контукторша на остановках кричит: »Местов нету!« Контролер влез – ужаснулся. Говорю, извините, никакого правонарушения нету. Заплочено – и ездим. Завтракал с нами у храма Спасителя, кофе пили на Арбате, а потом поехали к Страстном монастырю. 7. Dezember Purzman hat sich mit seiner Familie eingerichtet. Eine Hälfte abgeteilt – für Damen, Nichtraucher. Die Fensterrahmen abgedichtet. Elektrizität gibt’s umsonst. Morgens machen wir’s so: Wenn die Schaffnerin kommt, kaufen wir ihr

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gleich ein ganzes Fahrscheinheft ab. Zuerst war sie entsetzt, dann gewöhnte sie sich daran. So fahren wir. An den Haltestellen ruft die Schaffnerin: »Alles besetzt!« Ein Kontrolleur kam, war ganz verstört. Ich sag zu ihm, entschuldigen Sie, hier gibt’s keine Gesetzesübertretung. Wir haben bezahlt und fahren. Er frühstückte mit uns bei der Erlöserkirche, Kaffee tranken wir am Arbat, dann ging’s zum Strastnoi-Kloster.36

In diesem Ausschnitt werden nicht nur die Grenzen, an die die Menschen getrieben werden, und deren unglaubliches Anpassungsvermögen illustriert, sondern auch die absurden Ausmaße der Wohnraumsitutation und die kreativen Versuche der Menschen, die Wohnraumnot in die eigene Hand zu nehmen und selbst zu lösen. Schließlich machen die Menschen – in Kabakovs Worten – das Unbewohnbare bewohnbar: Sie teilen einfach eine Hälfte des Wagens ab, genauso wie es in den Kommunalkas üblich war. Da es keine Gesetzesüberschreitung gibt, solange Tickets gelöst werden, gewöhnen sich alle – auch die zuständigen Beamten – nach einer anfänglichen Irritation alsbald an die neue Situation und die ungewöhnlichen Umstände – genauso wie in der Kommunalwohnung. Die Bewohner der Linie A haben nicht weniger, sondern vielleicht sogar verhältnismäßig mehr Komfort als in einer Kommunalwohnung – der Wohnraum ist zumindest nicht weniger öffentlich. Hinzu kommt der Vorteil, dass die Elektrizität vom Staat kostenlos bereitgestellt wird und die Bewohner diesen üblichen Konfliktpunkt unter den Kommunalkabewohnern somit umgehen können. In diesem neuen, von den Menschen aus der Not heraus selbst entworfenen Wohnarrangement herrschen erträglichere und vielversprechendere Umstände, vor allem was die zwischenmenschlichen Beziehungen angeht. Die Schaffner zeigen Mitgefühl, und unter diesen Umständen entstehen nicht nur neue Lebens- und Wohnwelten, sondern beispielhafte Formen der Gemeinschaftlichkeit: Одну печку поставил вагоновожатому – симпатичный парнишка попался, как родной в семье. Петю учит править.

36 Bulgakov, Michail: »Ploščad‹ na kolesach« in: ders.: Rokovye jajca. Sobranie sočinenij, Tom. II, Moskva 1995, 175-177, S. 176; ders.: »Die Wohnung auf Rädern« in: Ich habe getötet. Erzählungen und Feuilletons. Gesammelte Werke 7/I, Berlin 1995, 309-312, S. 310.

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Ein Öfchen hab ich dem Wagenführer aufgestellt, das ist ein sympathischer Bursche, gehört schon fast zur Familie. Er bringt Petja das Fahren bei.37

Die kreativen Straßenbahnbewohner und die Beamten formen unter den extremen Umständen eine ›situative Not- und Zwangsgemeinschaft‹.38 In gewisser Weise entsteht ein situatives und vorbildliches Kollektiv einer solidarischen, intimen und schließlich sozialistischen Wertegemeinschaft. Hier schneidet Bulgakov das Thema der systemimmanenten Ambivalenz an, geht allerdings einen Schritt weiter. Nachdem alle glücklich sind und schon Zukunftspläne schmieden – der Erzähler will mit seiner Familie in die Linie 4 umziehen, in ein Doppelzimmer –, kommt die zentrale Wohnungskommission und zerstört alles: А мы-то, говорят, всю Москву изрыли, искали жилищную площадь. А она тут… Всех выпирают. Учреждения всаживают. Дали 3-дневный срок. В моем вагоне участок милиции поместится. У Пурцману школа I степени имени Луначарского. Und wir stellen ganz Moskau auf den Kopf, um Wohnungsraum ausfindig zu machen, sagten sie. Und da ist welcher… Alle rausgeschmissen. Behörden hineingesetzt. Drei Tage Räumungsfrist. In meinen Wagen kommt ein Milizrevier. In Purzmans Wagen wird die Lunatscharski-Schule untergebracht.39

Die kreativen Bewohner haben tatsächlich die Wohnungskommission in ihrem eigenen Spiel besiegt, Wohnraum ausfindig zu machen und zu kontrollieren. Letztendlich haben die Bewohner die Arbeit der Wohnungskommission besser verrichtet, so gut sogar, dass die Bürger den Platz für die Behörden räumen müssen. Die Bürger hatten die Initiative ergriffen und haben den öffentlichen Raum besetzt, für eigene Zwecke umkodiert und intimisiert. Im Gegenzug kommt der Staat, erobert diesen ›privaten‹ Raum zurück und institutionalisiert ihn. Aus

37 Ebd., S. 311; dt. Übersetzung S. 177. 38 Geisthövel, Alex: Orte der Moderne. Erfahrungswelten des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. 2005, S. 361-363. 39 Bulgakov, 1995, a.a.O., S. 177; dt. Übersetzung S. 312.

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der extremen Situation heraus müssen die Menschen gezwungenermaßen kreativ werden, um überleben zu können und, wie schon erwähnt, das Unbewohnbare bewohnbar machen. In dieser Angelegenheit ist der Staat eher ein Hindernis als eine Hilfe. Was mit dieser Erzählung verdeutlicht wird, ist nicht nur die allgemeine Beweglichkeit oder Mobilität40 der öffentlichen und privaten Sphären, sondern auch die Willkür der Umkodierung sowie die Aggressivität der Übernahme und des Eindringens in die private Sphäre. Für die Analyse gesellschaftlicher Formen und Ordnungen bietet die Unterscheidung zwischen Privatheit und Öffentlichkeit ein grundlegendes Paradigma. Dabei bietet der Grad der Autonomie, die den Einzelnen vor staatlicher Intervention schützt, einen entscheidenden Maßstab. Durch Vorschriften und Anordnungen bezüglich der neuen Lebensweise wurde versucht, zwischenmenschliche Interaktionen zu institutionalisieren und intime Beziehungen zu regulieren. Aufgrund der starken Abweichung, die zwischen der wirklichen sowjetischen Lebenswelt und dem offiziellen Modell bestand, waren die Grenzen zwischen der privaten und der öffentlichen Sphäre sowie Grenzüberschreitungen relativ und relational und schließlich liminal. Jegliche Anzeichen einer Privatheit mussten beseitigt werden, und um das private bzw. inoffizielle Leben zu reduzieren, intervenierten regelmäßig staatliche Behörden und angehörige Repräsentanten.

40 Sheller und Urry haben auf die Mobilität der privaten und öffentlichen Sphären aufmerksam gemacht. Eine Zunahme an Mobilität durch Automobilität und durch das Internet und Informations- und Kommunikationstechnologien hat eine ambivalente Auswirkung auf demokratische Gesellschaften: Einerseits tragen beide Technologien zu einem Verfall der öffentlichen Sphäre bei – Autos über ihren Beitrag zur Erosion öffentlicher Räume und Informations- und Kommunikationstechnologien durch die Förderung von Überwachung und Voyeurismus –, andererseits initiieren und unterstützen sie neue Prozesse der Demokratisierung. Vgl. Sheller, Mimi/Urry, John: »Mobile Transformations of ›Public‹ and ›Private‹ Life« in: Theory, Culture & Society 2003, Vol. 20(3), 107-125, S. 114-115. Meines Erachtens hatte die Beweglichkeit der öffentlichen bzw. privaten Sphären im sowjetischen Kontext ähnliche Auswirkungen. Auf Anzeichen dieser Auswirkungen im Kommunalkaraum werde ich im folgenden Kapitel eingehen.

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D IE AGGRESSIVITÄT UND ANONYMITÄT DER ÖFFENTLICHEN S PHÄRE Я вам дверь не не открою, пока вы не скажете, что вы хотите со мной сделать. Ich mache Ihnen die Tür nicht auf, bevor Sie mir nicht sagen, was Sie von mir wollen.41

Das antwortet Elizaveta Bam der Stimme auf der anderen Seite der Tür in dem absurden Theaterstück von Daniil Charms, das den Namen der Heldin trägt. Obwohl die Tür die Grenze zwischen Öffentlichkeit und Privatheit oder offiziell und inoffiziell aufrechtzuerhalten scheint, hat eine anonyme ›Stimme‹ schon längst diese Grenze überschritten und fordert zusätzlich physischen Zugang zur privaten Sphäre. In diesem Beispiel ist die Stimme eine körperlose, eigenständige Entität, die grenzüberschreitend in private Räume eindringt. Diese Stimme ist eine normative, aggressive wie repressive Stimme, eine Stimme des Gesetzes. Im Moment der Anrufung wird das Subjekt automatisch in die politische Rhetorik integriert; in dieser Begegnung sieht Judith Butler neben verletzenden allerdings auch befähigende Wirkungen, denn gerade durch die Integration in das Machtgefüge, dem es entgegentritt, erlangt das Subjekt Handlungsvermögen. Dabei stützt Butler sich auf Althussers Konzept der Anrufung oder Interpellation, wie er dieses Verhältnis begrifflich geprägt hat.42 Der Einzelne wird vom Gesetz angesprochen und muss darauf reagieren. Laut Althusser ist Interpellation der Moment, in dem das Subjekt mit dem System und der einhergehenden Ideologie in Kontakt tritt und interagiert. In diesem Sinne konstituiert Ideologie das Subjekt und gibt ihm die Möglichkeit, sich in der Gesellschaft zu positionieren. Laut Butler sind performative Interpellationen, durch die Individuen in eine spezifische, gesellschaftspolitisch etablierte Subjektposition gezwungen werden, nicht

41 Charms, 1997, a.a.O., S. 237; dt. Übersetzung S. 79. 42 Vgl. Althusser, Louis: Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg, Berlin 1977.

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immer erfolgreich, da sie zurückgewiesen und durch widerständige Sprechakte subvertiert werden können.43 In Elizaveta Bam verfließen die Grenzen zwischen Intimität und Öffentlichkeit, Schein und Sein, und es kommt zu einem intimfamiliären, zwischenmenschlichen Kontakt zwischen der gleichnamigen Protagonistin und ihren Verfolgern, die Einlass in Elizavetas »kleineres, tiefes« Zimmer fordern. Den Lauten bedrohlichen Klopfens an der Tür zu Elizaveta Bams Zimmer folgen ähnlich bedrohliche Stimmen. In dieser Konfrontation versucht Elizaveta ihr Recht auf Selbstbestimmung im Kampf um die Strukturierung der öffentlichen Sphäre im privaten Raum zu verteidigen, indem sie fordert: »Ich mache Ihnen die Tür nicht auf, bevor Sie mir nicht sagen, was Sie von mir wollen.« Die Einschüchterungstaktiken funktionieren nur, solange die ›Stimmen‹ der Verfolger – identifiziert anfangs im Stück als Stimme I und Stimme II – auf der anderen Seite der Tür anonym und unpersönlich bleiben. Sie sind lediglich Stimmen und gewahren somit eine gewisse Distanz. Sobald sich jedoch eine Persönlichkeit enthüllt und der Austausch an Nähe gewinnt, treten unterschiedliche, am öffentlichen Raum teilnehmende Persönlichkeiten in Dialog miteinander und verhandeln den öffentlichen Raum. Dabei kommt es zu einer Überschneidung und Überlagerung unterschiedlicher Stimmen. Laut dem amerikanischen Soziologen Richard Sennett findet in zwischenmenschlichen Interaktionen unwillkürlich eine Charakterenthüllung statt, indem die »line between private feeling and public display of it could be erased […]«.44 Eine Überlagerung dieser Art wird im folgenden Dialog deutlich: ЕЛИЗАВЕТА БАМ: В таком случае, увы, но у Вас нет совести. ВТОРОЙ: Как нет совести? Петр Николаевич, она говорит, что у нас нет совести. ЕЛИЗАВЕТА БАМ: У Вас-то, Иван Иванович, нет никакой совести. Вы просто мошенник. ВТОРОЙ: Кто мошенник? Это я? Это я? Это я мошенник?! ПЕРВЫЙ: Ну подожди, Иван Иванович! Елизавета Бам, прика…

43 Vgl. Butler, Judith: Körper von Gewicht: Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, dt. Übersetzung von Karin Wördemann, Frankfurt a.M. 1997. 44 Sennett, a.a.O., S. 25.

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ВТОРОЙ: Нет, постойте, Петр Николаевич, Вы мне скажите, это я мошенник? Elizaveta Bam: Dann haben Sie überhaupt kein Gewissen. Stimme II: Was heißt hier »kein Gewissen«? Pjotr Nikolajevič, sie sagt, wir hätten kein Gewissen. Elizaveta Bam: Sie, Ivan Ivanovič, haben allerdings kein Gewissen, Sie sind einfach ein Gauner. Stimme II: Wer ist hier ein Gauner?! Ich. Ich …? Ich – »ein Gauner«! Stimme I: Halt, beruhigen Sie sich, Ivan Ivanovič. Elizaveta Bam, ich befehle es Ihnen. Stimme II: Nein, Pjotr Nikolajevič, was bin ich? Ein Gauner, wie? Pjotr Nikolajevič: Nun seien Sie doch nicht gleich beleidigt. Elizaveta Bam, ich befeh… Ivan Ivanovič: Nein, halt, Pjotr Nikolajevič, Sie sagen, ich sei ein Gauner?45

Elizaveta Bam beschuldigt die Repräsentanten, Gauner zu sein. Indem Stimme II (Ivan Ivanovič) die Beschuldigung von Elizaveta Bam auf sich persönlich bezieht und in gewisser Weise seine eigene Position gesellschaftskritisch hinterfragt, wird ihre Beschuldigung durch die Grenzüberschreitung im Sinne von Bachtin dialogisch. Ivan Ivanovičs privates Empfinden, welches eher aus Betroffenheit und gleichzeitigem Hinterfragen dieser Beschuldigung besteht, findet hier öffentlichen Ausdruck, und somit überlagern sich die überschneidenden Stimmen der am öffentlichen Raum Teilnehmenden. Eine weitere Überlagerung der Stimmen findet statt, als Stimme I (Petr Nikolajevič) versucht, Stimme II (Ivan Ivanovič) zu beruhigen, und Elizaveta Bam einen Befehl erteilt. Stimme II bezieht diesen Befehl jedoch auf sich und verweigert ihn. Er besteht darauf, das Urteil anzufechten und beschuldigt nun Petr Nikolajevič, ihn als Gauner zu bezeichnen. Dieser Dialog durchkreuzt die private und öffentliche Sphäre und wird von beiden Sphären überlagert – dabei bleibt es meist uneindeutig, wer sich in welcher Sphäre aufhält und wer wessen beschuldigt wird. Sobald die Stimmen ihren Status als distanzierte, identitätslose Stimmen verloren haben und Namen bzw. Persönlichkeit annehmen, sind sie entblößt und das soweit funktionierende System der Einschüchterung bricht zusammen. Petr Nikolajevič und Ivan Ivanovič

45 Charms, 1997, a.a.O., S. 239; dt. Übersetzung S. 80.

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treten in einen strittigen, konfliktreichen Dialog miteinander, da Ivan Ivanovič verunsichert ist. Petr Nikolajevič scheint die Ansicht von Elizaveta Bam zu teilen, dass er ein gewissenloser Gauner sei. Petr Nikolajevič antwortet später: Убирайтесь вон! Балда какая! Я еще пошел на ответственное дело. Вам слово сказали, а Вы уж и на стену лезете. Кто же Вы после этого? Просто идиот? Scheren Sie sich zum Teufel, Sie Schafskopf! Und so was in verantwortlicher Mission! Ein Wort, und schon gehen Sie in die Luft! Was können Sie schon sein, nach all dem? Ein Idiot, nichts weiter!46

Nicht nur streiten sich die beiden im Beisein von Elizaveta Bam, sondern sie nehmen sporadisch unterschiedliche Seiten ein, um ihren jeweiligen Punkt zu unterstreichen, und es entsteht ein momentanes, offenes dialogisches Dreieck. Die ambivalente Verbindung von Selbstentfaltung und Standardisierung von Intimität und Anonymität wird hier im häuslichen Alltag komödiantisch bzw. tragisch zugespitzt. Im nächsten Moment jedoch nimmt jede Person wieder ihre ursprüngliche Position ein – Ivan Ivanovič und Petr Nikolaevič als Repräsentanten des Ordnungs- und Orientierungssystems und Elizaveta Bam als Beschuldigte –, und gegen Elizaveta Bam wird die ursprüngliche Anschuldigung erhoben. Auf die Nachfrage, warum dies geschehe, wird ihr die Begründung gegeben: »Weil sie keine Stimme mehr haben.« [Потому что Вы лишены всякого голоса.]47 Hier scheint das Wort ›Stimme‹ in der Tat zweistimmig zu sein: Es wird nicht nur auf die hörbare Stimme einer Person verwiesen, sondern auch auf deren Wählerstimme im politischen Sinne. Elizaveta hat ihre Wählerstimme verloren, sie ist dem System ausgeliefert und hat keine Rechte mehr – sie ist laut der Repräsentanten eine Verbrecherin. Auf die erneute Frage, warum sie eine Verbrecherin sei, antworten Petr Nikolaevič und Ivan Ivanovič: Потому что Вы лишены всякого голоса -- Лишены всякого голоса.

46 Ebd. 47 Ebd., S. 242; dt. Übersetzung S. 81.

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Weil – Sie haben Ihre Stimme verloren. – Ihre Stimme verloren haben Sie.48

Tatsächlich hat Elizaveta ihre Stimme verloren, indem sie das ihr verhängte Urteil nicht wörtlich oder logisch anfechten kann. Nachdem Elizavetas Stimmlosigkeit etabliert wird und Petr Nikolaevič und Ivan Ivanovič im Stück ihren Status als bloße Stimmen verloren haben, begeben sich alle in einen Raum der Widersprüche und Gegensätze und des Unsinns, unweigerlich eine Anspielung auf die ›unvernünftigen‹ und ›unordentlichen‹ Gegebenheiten des sowjetischen Systems. Stimme und Stimmlosigkeit können im Zusammenhang des kommunalen Alltags in zweierlei Hinsicht betrachtet werden: Während die polymorphen Stimmen bewertend und bestimmend sein können, kann in diesem Stimmengewirr wiederum der Wunsch ermöglicht werden, auf unbestimmte Stimmen, die im kommunalen Chaos entstehen, zu antworten und dadurch nicht nur die andere, sondern auch die eigene Existenz im Meer der sinnlosen Kommentare zu bestätigen.49 Eine Art und Weise für Kabakov, mit lärmenden, aggressiven und störenden Stimmen umzugehen, ist es, diese in seiner Kunst zum Verstummen zu bringen, aber dennoch aufzubewahren. Hierzu antwortet Groys in ihrem Dialog mit Kabakov: Dann ist die Logik deiner Arbeiten eine Logik der Austreibung, der Schaffung einer toten Zone absoluten Schweigens, einer Zone der Verwandlung der lebendigen Stimme in ein Objekt, von dem man sich abwenden kann. Jede Stimme ist totalitär, denn sie erklingt auch dann, wenn man sie absolut nicht hören will. Die Verwandlung der Stimme in Text macht es möglich, sich von ihr abzuwenden, sie nicht länger ertragen zu müssen, sie nicht zu sehen.50

Eine weitere Kurzgeschichte, in der Charms die Aggressivität der öffentlichen Sphäre thematisiert, ist Pomecha (Störung, 1940). Pronin und Irina Mazer werden in Irinas Zimmer intim, sie kommen einander zunehmend näher: Ирина сказала:

48 Ebd. 49 Vgl. Kabakov/Groys, 1991, a.a.O., S. 25. 50 Ebd., S. 26.

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Зачем вы поднимаете мою юбку еще выше? Я же вам сказала, что я без панталон. Но Пронин все-таки поднял ее юбку и сказал: Ничего, ничего. То есть как это так, ничего? -- сказал Ирина. Но тут в двери кто-то постучал. Ирина быстро одернула свою юбку, а Пронин встал с пола и подошел к окну. Кто там? -- спросила Ирина через двери. Откройте дверь, -- сказал резкий голос. Irina sagte: »Warum heben Sie meinen Rock noch höher? Ich sagte doch, ich habe keine Unterhosen an.« Aber Pronin hob trotzdem den Rock hoch und sagte: »Macht nichts, macht nichts.« »Wieso, wie meinen Sie das – macht nichts?«, sagte Irina. Aber da klopfte es an die Tür. Irina schob hastig den Rock herunter, und Pronin stand vom Fußboden auf und ging zum Fenster. »Wer ist da?«, fragte Irina durch die Tür. »Öffnen Sie«, sagte eine barsche Stimme.51

Kaum sind die zwei Liebhaber alleine im Zimmer und teilen einen intimen Moment miteinander, schon wird die Zweisamkeit unvermittelt und grob unterbrochen. Svetlana Boym konstatiert, dass das Hauptmerkmal der kommunalen zwischenmenschlichen Interaktion die Performanzstörung (performance disruption) ist, die das intime Leben sowjetischer Paare durch die konstante Möglichkeit der Störung sowie durch die eigentliche Störung selbst letztendlich zerstört. Sowjetische Sexologen verweisen auf diesen Umstand als einen Hauptgrund für die sexuelle Unzufriedenheit, die sie letztendlich als Neurose der sowjetischen Gesellschaft designieren.52 Zurück aber zu Irinas Performanzstörung: In Pomecha klopft es an der Tür, und es scheint ein bestimmendes Klopfen zu sein, denn Pronins erste Reaktion ist eine Bewegung in Richtung Fenster. Er sucht eine Möglichkeit der Flucht, eine Öffnung,

51 Charms, Daniil: »Pomecha« in: Daniil Charms [techn. red. Avdeev Aleksandr Sergeevic], Tom. II, Moskva 1994, 110-111, S. 110; Charms, Daniil: »Störung« in: Debüser, Lola (Hg.): Zwischenfälle, Übers. von Ilse Tschörtner, Berlin 1992, 225-227, S. 219. 52 Vgl. Boym, 1994, a.a.O., S. 148.

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durch die er sich von dieser bedrängenden Nähe des eindringenden Gesetzes distanzieren kann. Für Irina ist es unmöglich, zu fliehen, denn durch die Penetration der Stimme und der Interpellation tritt Irina Mazer in Kontakt und interagiert mit der Stimme des Gesetzes, in ähnlicher Manier wie Elizaveta Bam. Nachdem Irina wie gebeten die Tür öffnet, dringt der Körper der schroffen Stimme in ihr privates Zimmer ein, gefolgt von Soldaten des unteren Ranges, die mit Gewehren bewaffnet sind, und dem Hausmeister (dvornik).53 In dieser Szene sind unterschiedliche Ebenen der öffentlichen Sphäre vertreten, die an der Grenzüberschreitung teilnehmen: der Staat, verkörpert von der schroffen Stimme im schwarzen Mantel und in hohen Stiefeln; die diversen Institutionen und Behörden des Staates in Person der bewaffneten Soldaten und schließlich die Gesellschaft, die in ihrer Funktion als öffentliche Person vom Hausmeister verkörpert wird. Die Präsenz des Hausmeisters lässt vermuten, dass er in Erfüllung seiner Aufgabe die inoffizielle Privatheit in Irinas Zimmer der zuständigen Obrigkeit gemeldet hat. In Betracht des Titels dieser Kurzgeschichte lässt sich fragen, wer oder was hier das eigentliche Hindernis gesellschaftlichen Glücks ist. Hindert der Staat das Pärchen daran, Intimität oder familiäres Glück auszuleben, oder ist es die Gesellschaft selbst, die sich unter den ambivalenten Umständen (notwendigerweise) gebildet hat, die ihr Glück verspielt? Wer hindert wen am Glück der sowjetischen Allgemeinheit? Im Zuge der widersprüchlichen Lebensbedingungen und -verhältnisse wurde das Durchsetzungsvermögen der menschlichen Geschicklichkeit darin, Hindernisse zu umgehen, immer wieder bekräftigt. Diese Erzählung zeigt, dass es nicht immer gelang. Ein weiterer Aspekt der Anonymität und auch der Willkür ist, dass es angeblich keinen ausdrücklichen Grund für die Grenzüberschreitung der Angehörigen der öffentlichen Sphäre gibt: Вам придается с нами проехать. Зачем? -- спросила Ирина. Человек в черном пальто не ответил.

53 Im Kommunalkaalltag spielte der Hausmeister eine tragende Rolle, da er neben seinen eigentlichen Pflichten mit den Behörden als Informant kollaborierte und ein wachendes Auge auf die Bewohner richtete. Vgl. Gerasimova, 2002, a.a.O., S. 186.

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»Sie haben mit uns ein Stück zu fahren.« »Weshalb?« fragte Irina. Der Mann im schwarzen Mantel antwortete nicht.54

Die kafkaesk anmutende Szene erinnert stark an Josef K. in Der Prozeß und an seine alptraumhafte Auseinandersetzung mit seinem unangemeldeten frühmorgendlichen Besuch, an dessen strenge, schroffe und grenzüberschreitende Gesetzlichkeit und Ordnung und an die letztendliche Verhaftung von Josef K. Auf die Frage, warum er verhaftet würde, bekommt Josef K. keine befriedigende Antwort, sondern einzig die Auskunft, dass er diese Information zur richtigen Zeit bekommen würde. In gleicher Weise werden Irina wichtige Informationen vom Mann im schwarzen Mantel vorenthalten. Dieser Zustand ist bezeichnend für die Konstitutionsphase der sowjetischen Gesellschaft, in der die Bevölkerung sich in einem Informationsvakuum befand, vor allem aufgrund der unbeständigen Ordnung und ständigen Gesetzesmodifizierungen. Anonymität und Willkür, mit denen Uneindeutigkeit einhergeht, sind Erscheinungsweisen der sowjetischen Gesetzlichkeit. In diesem Zusammenhang möchte ich erneut auf den italienischen Philosophen Giorgio Agamben eingehen, der in seinem bedeutsamen dreibändigen homo sacer-Œuvre den Menschen in Beziehung zum Gesetz und zur Gesetzlichkeit setzt. Wo Carl Schmitt die FreundFeind-Distinktion als Grundlage des Politischen versteht,55 besteht für Agamben eine ähnliche Gewichtung für das Verhältnis von Leben und Recht. Den ursprünglichen Akt der Souveränität lokalisiert Agamben in der Unterscheidung zwischen dem Menschen als Gegenstand des Rechts und dem Menschen als bloßes Lebewesen.56 Seine Überlegungen zu Ausnahmesituationen bieten nicht nur eine wegweisende Perspektive hinsichtlich der Rolle sanktionierter vs. nichtsanktionierter Gewalt, sondern auch hinsichtlich der Dialektik des Einschlusses und des Ausschlusses. Diesen Punkt von Agamben erläutert Eva Geulen folgendermaßen: Im Ausnahmezustand tritt das Gesetz nicht dadurch hervor, dass es eine Überschreitung ahndet, sondern das Gesetz macht sich bemerkbar, indem es sich

54 Charms, 1994, a.a.O., S. 110; dt. Übersetzung S. 226f. 55 Vgl. Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen, Berlin 1963. 56 Vgl. Agamben, 2002, a.a.O.

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insgesamt entzieht. Weil es nichts im Einzelnen vorschreibt, ist es in seiner formalen Leere omnipräsent. In der souveränen Ausnahme gilt die Norm in der spezifischen Form reiner Potenz, als Aufhebung jedes aktuellen Bezuges, der eine Vorschrift oder ein Verbot charakterisiert.57

Unter diesem Gesichtspunkt möchte ich auf die architektonischen Anweisungen von Seiten des Staates als Beispiel für Luhmanns bereits aufgeführte Auffassung verweisen, dass komplexe Systeme auf einen gewissen Grad an Instabilität angewiesen sind, um permanent auf sich selbst und auf die Umwelt reagieren zu können. Die widersprüchlichen und undefinierbaren Bestimmungen der städtebaulichen Gestaltung gewährleisteten der Parteiführung eine Flexibilität in der Beurteilung, während sie gleichzeitig allerdings (paradoxerweise) die künstlerischästhetische Herausforderung, das Unmögliche möglich zu machen, förderten. In diesem Zusammenhang werden erneut kreativitätsfördernde Eigenschaften uneindeutiger Umstände als Form reiner Potenz deutlich, die dem vorgeschriebenen Gesetz entgegenwirken und den Raum öffnen und durch die Exklusion gleichermaßen inklusiv wirken. Herausfordernde, aber gleichzeitig behindernde Formationen der sowjetischen Staatsmacht lassen in einem gesetzlichen Informationsvakuum einen leeren Raum entstehen, der in gewisser Weise ein Raum der Gesetzlosigkeit ist. Es bleibt uneindeutig, welches Gesetz in diesem Moment rechtskräftig ist oder gegen welches Gesetz verstoßen wurde. Gleichermaßen verflüchtigt sich die Grenze zwischen Wahrnehmendem und Wahrgenommenem, innen und außen sowie zwischen Subjekt und Objekt, so dass alles potentiell wichtig sein könnte – vielleicht hat alles eine Bedeutung, vielleicht aber auch nichts. So wird im Akt der Grenzüberschreitung und im waltenden Informationsvakuum der Raum einerseits deterritorialisiert, andererseits wird dieser Raum in der bestimmten und bestimmenden Machtformation gleichzeitig reterritorialisiert. Durch die Trennung und gleichzeitige Wiedereingliederung wird ein Übergang markiert.

57 Geulen, a.a.O., S. 77.

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D ER

DUBIOSE

M OMENT

DES

Ü BERGANGS

Bezeichnend für den Schwellenmoment des Übergangs ist das nächste Fragment des Dialogs zwischen Irina Mazer und dem anonymen Mann im schwarzen Mantel: Мне нужно переодеться, -- сказала Ирина. Нет, -- сказал человек в черном пальто. Но мне нужно еще кое-то на себя надеть, -- сказала Ирина. Нет, -- сказал человек в черном пальто. Ирина молча надела свою шубку. »Ich muß mich umziehen«, sagte Irina. »Nein«, sagte der Mann im schwarzen Mantel. »Aber ich muß mir noch etwas überziehen«, sagte Irina. »Nein«, sagte der Mann im schwarzen Mantel.58

Irina erkennt diesen prekären Augenblick des Übergangs und versucht dem Bann der grenzüberschreitenden Macht vorläufig zu entkommen, sich kurzweilig von ihr zu befreien oder ihr zumindest vorerst entgegenzuwirken, da in dieser Situation ein Fluchtversuch vergebens ist. Zum Bann schreibt Agamben in homo sacer: Der Bann ist wesentlich die Macht, etwas sich selbst zu überlassen und zugleich dem ausgeliefert, der es verbannt und verlässt, zugleich ausgeschlossen und eingeschlossen, entlassen und gleichzeitig festgesetzt.59

Irina befindet sich also im Dazwischen: ausgeschlossen von der Gesellschaft und dem Gesetz, gleichzeitig aber in eine abstrakte Gesetzlichkeit eingeschlossen. Die zwischenmenschliche Interaktion erfüllt hier die Funktion, an der Schwelle zu verharren und diesen noch unbestimmten Moment zu verlängern. Mit der Frage, ob sie sich umziehen könne, signalisiert Irina ein Bedürfnis nach Schutz. Allerdings verweigert der anonyme Mann im schwarzen Mantel Irina diesen Schutz. Irina ist in seinem Bann, ist der grenzüberschreitenden Gesetzlichkeit ausgeliefert und kann den Übergriff nicht abwehren. Einerseits kann

58 Charms, 1994, a.a.O., S. 111; dt. Übersetzung S. 227. 59 Agamben, 2002, a.a.O., S. 119.

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diese Gegebenheit eine Andeutung auf die widersprüchlichen und paradoxen Zustände in der sowjetischen Gesellschaft sein. Andererseits wird Irina in eine schutzlose und verletzbare Position versetzt, in einen quasi-nackten Zustand dem Staat gegenüber. Das ›nackte Leben‹ bei Agamben verweist auf das Verhältnis der Politik in Gestalt des Gesetzes zum nackten, »von seiner jeweiligen Lebensform entblößten Leben«.60 Irinas Nacktheit ist eine Metapher für Schutzlosigkeit angesichts des aggressiven und gefährlichen Gesetzes. Demgegenüber enthüllt Charms in seiner Erzählung Neožidannaja popojka (Unversehenes Besäufnis, 1935) Antonina Alekseevnas Nacktheit als den öffentlichen Charakter privater Angelegenheiten. Die Geschichte beginnt damit, dass Antonina Alekseevna den Kopf ihres Mannes mit der Druckertinte eines Dienststempels markiert (mit dem Stempel der sowjetischen Lebensweise?). Schon in diesem ersten Satz zeigt sich Antonina Alekseevna als die gewaltanwendende und grenzüberschreitende Macht in der intimen Beziehung zu ihrem Mann. Antonina Alekseevna verkörpert hier den Anspruch des Staates, eine ›gesellschaftliche Intimität‹ herzustellen und das Politische an die Stelle familiärer und authentischer Intimität zu setzen. Der höchst beleidigte Mann, Petr Leonidovič, sperrt sich daraufhin in der kommunalen Toilette ein und versucht der plumpen gesellschaftlichen Intimität [Антонина Алексеевна была женщиной довольно полного сложения – Antonina Alekseevna war eine Frau mit ziemlich voller Figur]61 zu entkommen. Somit beeinträchtigt er nicht nur den Toilettenverkehr der Mitbewohner: Indem er die Mitbewohner von der Toilette ausschließt, schließt er sie aber zugleich mit in das private Zerwürfnis mit seiner Frau ein. Hinter der verschlossenen Tür der Toilette versucht Petr Leonidovič eine Form der Privatheit zu erlangen und sich der als öffentlich markierten Privatsphäre zu entziehen. Obwohl er sich gerade in einem (quasi-)privaten Raum befindet, haben die Nachbarn dennoch Anspruch auf diese vorübergehend kreierte Privatheit:

60 Geulen, a.a.O., S. 59. 61 Charms, Daniil: »Neožidannaja popojka« in: Daniil Charms [techn. red. Avdeev Aleksandr Sergeevic], Tom. II, Moskva 1994, 75-76, S. 75; Charms, Daniil: »Unversehenes Besäufnis« in: Debüser, Lola (Hg.), Zwischenfälle, Übers. von Ilse Tschörtner, Berlin 1992, 145-146, S. 145.

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Однако жильцы коммунальной квартиры, имея сильную нужду пройти туда, где сидел Петр Леонидович, решили силой взломать запертую дверь. Die Mieter der Gemeinschaftswohnung hatten aber ein starkes Bedürfnis, dorthin zu gelangen, wo Pjotr Leonidowitsch saß, und beschlossen, die Tür aufzubrechen.62

In der Kommunalwohnung ist man zwangsmäßig vollkommen in die Gemeinschaft eingebunden. Dementsprechend werden die Nachbarn hier dargestellt: Sie stoßen die verschlossene Tür nieder, um den öffentlichen Bereich auszubreiten und den zurückgezogenen Menschen in das gemeinschaftliche Leben zu (re)integrieren. Privatheit muss unterbrochen werden, während ununterbrochene Öffentlichkeit wiederhergestellt wird. So wird der Nachbar, der symbolische Feind, der täglich auf der Lauer liegt, ein Zeichen für die Exklusion aus der Privatsphäre und die Inklusion in öffentliche Angelegenheiten. Während früher die Familie als Zufluchtsstätte in einem nichtöffentlichen Raum galt und als Refugium vor den Schrecken der öffentlichen Sphäre, begibt sich nun Petr Leonidovič, der vom relativ intimen Raum der Toilette verdrängt wird, auf sein Bett, den inzwischen letzten Zufluchts- und Rückzugsort der Intimität. Das Bett repräsentiert den Kern der ›Intimität‹ eines bürgerlichen Hauses, im Bett beginnt und endet das Leben. Im Stehen nimmt man eine ›Haltung‹ ein, innerlich wie äußerlich. Das Gegenteil wird entsprechend im Liegen kommuniziert. Man befindet sich nicht in (Op-)Position zur Welt.63 Allerdings gilt dies nicht für die umstrukturierten bürgerlichen Wohnungen, die zu kommunalen Einrichtungen mutierten. Auch dort wird Petr Leonidovič von seiner Frau gequält. Dieses Mal mit zerrissenen Papierstückchen, die sie ihm auf das Bett streut. Wütend springt er in den Korridor und reißt dort im öffentlichen Raum die Tapete von der Wand. In der Wahrnehmung der Kommunalkabewohner waren Orte der gemeinsamen Nutzung kein kollektives Gut, sondern Eigentum des Staates oder Eigentum des ›großen Nachbarn‹. Demzufolge könnte Petr Leonidovičs Tätigkeit schließlich als Missbrauch sozialistischen Eigentums betrachtet werden. Die (kleinen) Nachbarn versuchen, dem

62 Ebd. 63 Vgl. Ussel, Jos van: Intimität, Giessen 1979, S. 173.

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im öffentlichen Raum wütenden Petr die Kleidung zu zerreißen [накинулись на него и разодрали ни нем жилетку.],64 ihn ohne Schutz zu lassen. Hier thematisiert Charms die gegenseitige Auslieferung dem Staat gegenüber; eine Taktik, die besonders von Kommunalkamitbewohnern praktiziert wurde. Während Petr Leonidovič den Raum verlässt, um den Hausmeister zu holen, zieht sich Antonina Alekseevna vollkommen nackt aus und versteckt sich in der Truhe [разделась догола и спряталась в сундук].65 Dieses Bild ist schwanger an Bedeutung, insbesondere wenn man den oben zitierten Text von Geulen nochmals heranzieht: Im Ausnahmezustand [macht] das Gesetz […] sich bemerkbar, indem es sich insgesamt entzieht. […] In der souveränen Ausnahme gilt die Norm in der spezifischen Form reiner Potenz, als Aufhebung jedes aktuellen Bezuges, der eine Vorschrift oder ein Verbot charakterisiert.66

Antonina Alekseevna entzieht sich dem Geschehen, indem sie sich in der Truhe versteckt, aber dennoch ist sie (omni)präsent. Als nackte Frau ist sie einerseits eine Metapher für Fortpflanzung und Vermehrung; dazu ist sie als Machtinhaberin lebensfördernd, indem sie Leben ermöglicht, und mithin eine Metapher für reine Potenz. Andererseits steht sie gleichermaßen für das Verbot, für die paradiesische Ursünde und die Grenzüberschreitung eines Verbotes oder Gesetzes. Während das Christentum seine Gläubiger auffordert, den ›alten Adam‹ zu überwinden,67 hat die sowjetische Staatsmacht scheinbar die ›neue Eva‹ ins Leben gebracht. Welches Gesetz in dieser Situation übertreten wird, bleibt allerdings unklar: Im Verstoß befindet sich der Bürger außerhalb des Gesetzes und der Ordnung und demzufolge ohne jeglichen Schutz. Nach seiner Rückkehr mit dem Hausmeister glaubt Petr Leonidovič, Antonina Alekseevna sei nicht anwesend, und so entscheiden sich

64 Charms, 1994, a.a.O., S. 75; dt. Übersetzung S. 145. 65 Ebd. 66 Geulen, S. 77. 67 Hiermit verweist Sinjavskij auf den christlichen Anspruch, mithilfe Gottes ein neuer Mensch zu werden und sich letztendlich aus der Gewalt der Sünde zu befreien. Vgl. Sinjavskij, a.a.O., S. 172.

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die beiden Männer, Wodka zu trinken. Während Petr Leonidovič den Wodka holt, zeigt sich Antonina dem Hausmeister: Антонина Алексеевна вылезла из сундука и предстала в голом виде перед управдомом. Потрясенный управдом вскочил со стула и подбежал к окну, но, видя мощное сложение молодой двадцатишестилетний женщины, вдруг пришел в дикий восторг. Antonina Alexejewna [stieg] aus der Truhe und stellte sich dem Hausverwalter nackt zur Schau. Erschüttert sprang der Hausverwalter vom Stuhl auf und flüchtete zum Fenster, aber als er die mächtige Frau sah, ergriff ihn ein wildes Entzücken.68

Der Hausmeister verkennt die junge Frau scheinbar als eine paradiesische Nacktheit in ihrer enthüllten, kreatürlichen Blöße. Eigentlich ist sie in ihrer natürlichen Form eher die nackte (staatliche) Gewalt. Die erste Reaktion des Hausmeisters ist ähnlich wie die von Pronin: Er flüchtet in Richtung Fenster, aber als er die pure Gewaltigkeit sieht, wird er in wilde, unkontrollierte Begeisterung über diese Nacktheit versetzt und unterwirft sich (dem Potential) der Macht. Diese Szene symbolisiert die Politisierung des natürlichen Lebens, und in diesem Zusammenhang ist Foucaults folgender Satz bezeichnend: »Der moderne Mensch ist ein Tier, in dessen Politik sein Leben als Lebewesen auf dem Spiel steht.«69 Ähnlich vermerkt der deutsche Philosoph und Soziologe Helmuth Plessner, dass »jede Schicht unseres Wesens … nach Spiel und Gefahr«70 ruft. Eine Form der Gefahr identifiziert Charms als die Nacktheit von Antonina Alekseevna: Мужчины сели на стулья, Антонина Алексеевна села на стол, и попойка началась. Нельзя назвать это гигиеничным, если молодая голая женщина сидит на ьом же столе, где едят. К тому же Антонина Алексеевна была женщиной довольно полного сложения и не особенно чистоплотной, так

68 Charms, 1994, a.a.O., S. 75; dt. Übersetzung S. 146. 69 Foucault, Michel: Sexualität und Wahrheit, Bd. 1: Der Wille zum Wissen, Frankfurt a.M. 1979, S. 171. 70 Plessner, Helmuth: Grenzen der Gemeinschaft. Eine Kritik des sozialen Radikalismus, Frankfurt a.M 2001, S. 112.

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что было вообще чёрт знает что. Скоро, однако, все напились и заснули: мужчины на полу, а Антонина Алексеевна на столе. Die Männer setzten sich auf die Stühle, Antonina Alexejewna setzte sich auf den Tisch und das Besäufnis begann. Hygienisch kann man das nicht nennen, wenn eine nackte junge Frau auf dem Tisch sitzt, an dem gegessen wird. Obendrein aber war Antonina Alexejewna eine Frau von recht üppiger Statur und nicht besonders reinlich, so daß es überhaupt ein starkes Stück war. Bald aber waren alle betrunken und schliefen ein: die Männer auf dem Fußboden und Antonina Alexejewna auf dem Tisch.71

Antonina Alekseevna setzt sich zu den Männern und trinkt Wodka mit ihnen. Einerseits verstößt sie gegen die sittlichen Prinzipien der Hygiene, indem sie sich nackt auf den Tisch setzt, wo gegessen wird; andererseits schließt sie sich den Männern an und beteiligt sich an der alten russischen Tradition des Wodkatrinkens. Trotz ihrer unterschiedlichen Ansichten bezüglich der neuen Lebensweise und -ordnung können die drei, die jeweils verschiedene Ebenen der Gesellschaft repräsentieren, über das Wodkatrinken zueinanderfinden, sich vereinen und letztendlich verstehen. Mittels der ›unreinlichen‹ Natur von Antonina Alekseevna verweist Charms meines Erachtens auf die Verunreinigung der gesellschaftlichen Lebensordnung, der Formen gemeinschaftlichen Zusammenlebens sowie zwischenmenschlicher Beziehungen. Unreinlichkeit assoziiere ich hier mit Unordnung. Unter den schwierigen und unbeständigen soziokulturellen und -politischen Umständen ist es unmöglich, die Grenzen zwischen öffentlichen und privaten, zwischen offiziellen und inoffiziellen Sphären sauber zu trennen. Mit der Abschlussszene dieser Kurzgeschichte charakterisiert Charms die komplexe Beziehung zwischen der Staatsmacht und ihren Bürgern: Zwar mischen sich die unterschiedlichen Sphären der (in)offiziellen Öffentlichkeit und der (in)offiziellen Privatheit in diesem (unreinen) Besäufnis, allerdings schlafen die Männer auf dem Boden und die nackte Frau auf dem Tisch – lediglich getrennt, aber im gleichen Raum. Innerhalb des häuslichen Bereiches manifestieren sich verschiedene Grade der Intimisierung. Wie Streisand hervorhebt, gab es im 18. Jahrhundert ein ›öffentliches‹ Verhalten innerhalb der häuslichen Pri-

71 Charms, 1994, a.a.O., S. 76; dt. Übersetzung S. 146.

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vatsphäre, das gegen ›Intimität‹ schützte.72 In diesem Sinne möchte ich Sennett anführen, der in seiner historischen Kontextualisierung des Öffentlichen folgendes Paradox hervorhebt: Out in public was where moral violation occurred and was tolerated; in public one could break the laws of respectability. If the private was a refuge from the terrors of society as a whole, a refuge created by idealizing the family, one could escape the burdens of this ideal by a special kind of experience, one passed among strangers, or, more importantly, among people, determined to remain strangers to each other.73

Mit anderen Worten, das Öffentliche war ein Refugium vor den Schrecknissen des Intimen. Diese Überlegung möchte ich mit der sowjettypischen Kommunalwohnung in Verbindung bringen, um der Frage nachzugehen, inwieweit öffentliches, offizielles Verhalten gegen (offizielle) Intimität schützte. In Charms’ Kurzgeschichte Neožidannaja popojka flüchtet Petr Leonidovič in die Öffentlichkeit, um den repressiven, autoritären Zügen seiner intimen Beziehung zu entkommen: auf die Toilette, in den Korridor und letztendlich zum Hausmeister. Hier wird auch eine graduelle Staffelung der Öffentlichkeit deutlich. Dabei stellt sich die Frage, welche öffentlichen Verhaltensweisen, Strukturen und Regelungen Intimität und Privatheit im kommunalen Raum wahrten. Gab es eine korrelierende Verbindung zwischen dem Grad der Rezeption ›offizieller‹ politischer Linien und dem Schutz eigener ›inoffizieller‹ intimer Räume? Was waren wirkungsvolle Abwehrmechanismen, die vor einer unfreiwilligen Charakterenthüllung schützten? Unter dem Gesichtspunkt ineinander übergreifender öffentlicher und privater Sphären lässt sich die folgende These neu überdenken: […] while man made himself in public, he realized his nature in the private realm, above all in his experiences within the family.74

Im transparenten wie liminalen Raum der Kommunalwohnung kann man von einer Art karnevaleskem Zustand sprechen, in dem es zu einer Aufhebung der üblichen Grenzen zwischen oben und unten, offi-

72 Vgl. Streisand, a.a.O., S. 50. 73 Sennett, 1974, a.a.O., S. 23. 74 Ebd. S. 18, Hervorhebung im Original.

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ziell und inoffiziell, innen und außen sowie öffentlich und privat kam. Wenn man im Sinne von Plessner den Raum der Öffentlichkeit als einen repräsentativen, dramaturgischen und sozialen Raum versteht und die Rollenhaftigkeit menschlicher Existenz sowie das Konzept der Communitas, welches strukturelle Lücken überbrückt, anerkennt, so entsteht im Moment der liminalen Überbrückung eine Wechselbeziehung und Verschmelzung entgegengesetzter Positionen, die sich in einem dialektisch-dynamischen Prozess vereinen. Im Sinne von Bachtin wurde der Mensch in oder durch sein karnevaleskes Schauspiel in der zwischenmenschlichen Interaktion für neue, rein menschliche Beziehungen wiedergeboren.75 Dessen ungeachtet: In einer Umgebung, in der die Omnipräsenz der Bewohner und die potentielle Relevanz der Dinge den Raum bestimmen, ist der Rückzug aus ausdrücklichen Gefühlen und Äußerungen nötig, um sich vor unangenehmen Situationen und gegen das Durchschautwerden zu schützen. Hier herrschen gleichzeitig die Paradoxe der Sichtbarkeit und Isolation sowie die der Unsichtbarkeit und des gesellschaftlichen wie gemeinschaftlichen Einschlusses.

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UMDENKEN

In den Diskussionen um das Konzept der öffentlichen Sphäre wird einerseits die jeweils vollkommene Autonomie der öffentlichen sowie der privaten Sphären in Frage gestellt, andererseits wird die öffentliche Sphäre generell in Verbindung mit öffentlicher Reflexion und Debatte gebracht. In der sich neu entwickelnden sowjetischen Gesellschaft, die mit den existierenden Diskrepanzen und systemimmanenten Ambivalenzen konfrontiert war, wurden Menschen regelrecht dazu gezwungen, an einer interaktiven Öffentlichkeit76 teilzunehmen. Ein Aspekt

75 Vgl. Bachtin, Michail: Rabelais und seine Welt: Volkskultur als Gegenkultur, Übers. von Gabriele Leupold, Frankfurt a.M. 1987, S. 58-59. 76 In diesem Zusammenhang möchte ich darauf hinweisen, dass hier die interaktive öffentliche Sphäre maßgeblich ist, da es auch eine öffentliche Sphäre gibt, die als nicht-interaktiv bezeichnet werden kann. In der Kommunalwohnung konnte es durchaus vorkommen, dass Nachbarn zusammen in der Küche bzw. in einem geschlossenen Raum einer Tätigkeit nachgin-

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dieser Ambivalenz war, dass es nicht durch einen offenen und verfahrensrechtlichen Diskurs dazu kam, dass Normen, Werte, Gerechtigkeit, Ordnung und Vernunft umgedeutet, neu verhandelt und artikuliert wurden, sondern durch den zwischenmenschlichen Diskurs, der notwendigerweise unter unsicheren, unordentlichen, unvernünftigen und scheinbar sinnlosen Situationen und Momenten stattfinden musste. Sheller und Urry weisen in ihrem aufschlussreichen Aufsatz darauf hin, dass es eine der wichtigsten Kompetenzen einer aktiven Bürgerschaft im öffentlichen Leben (public citizenship) ist, Sphären zu navigieren, die weder öffentlich noch privat, sondern eine dubiose Vermischung der beiden sind: The future of citizenship, democratic possibility and good social science belongs to those who will navigate new material, mobile worlds, bringing into being ways of communication, mobilization and theory that are both and neither, public and private.77

Dagegen war im sowjetischen Kontext die Aneignung raffinierter und zugleich konformistischer Eigenschaften in den deliberativen Auseinandersetzungen und Verhandlungen paradoxerweise eine wichtige Voraussetzung für das alltägliche (Über-)Leben in der Sowjetunion. Viktor Voronkov und Ingrid Oswald verstehen den vergesellschafteten Raum der Kommunalwohnung, der sich aus dem privaten Raum heraus entwickelte, als: […] Frühform eines typisch sowjetischen Kommunikationsraumes […] als eine Sphäre, die von der offiziellen Sphäre durch eine scharfe Grenze getrennt war. In diesem Raum, einem gewissermaßen »privat-öffentlichen«, konnte praktisch alles diskutiert werden, da er kaum von offizieller Seite kontrolliert wurde beziehungsweise zumindest immer weniger kontrolliert werden konnte. Es ist dies die durch Alltagsnormen regulierte Sphäre der sogenannten »zweiten Öffentlichkeit«, deren idealer topographischer Ort zu Beginn seiner Entstehung die »Küche der Intelligenzia« war.78

gen, wie beispielsweise kochen, rauchen, spülen etc., die sie verbinden, aber auch trennen konnte. Vgl. Gerasimova, 2000, a.a.O. 77 Sheller/Urry, 2003, a.a.O., S. 113. 78 Oswald, Ingrid/Voronkov, Viktor: »Licht an, Licht aus! ›Öffentlichkeit‹ in der (post-)sowjetischen Gesellschaft« in: Rittersporn, Gábor T./Rolf,

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In den berühmten Küchentreffen der 1970er Jahre entwickelte sich in den privaten/öffentlichen Sphären der Kommunalwohnung ein gesellschaftlich-kollektives Handeln. Zwar war an diesen Gesprächen hauptsächlich die Intelligenzia beteiligt, aber im Zusammenhang mit meiner These ist diese Feststellung wichtig. In der Öffentlichkeit, die in der sowjetischen Kommunalwohnung im Laufe der Zeit entstanden war, kam es zunehmend zu einer deliberativen Pluralisierung der öffentlichen Sphäre, in der zahlreiche Geschichten und eine Vielfalt von Stimmen unterschiedliche Lebenswege, unterschiedliche Gemeinschaften und verschiedene soziopolitische und -kulturelle Einstellungen repräsentierten. Während diese Öffentlichkeit ein ständiges Dehnen und Herausfordern der Grenze(n) erlauben musste, war es gleichzeitig notwendig, Gegensätze und Konfliktpunkte zu integrieren – wichtige Voraussetzungen für eine aktive Bürgerschaft im öffentlichen Leben. Den Wandel über die Zeit und die Entwicklungen des besonderen Charakters der öffentlichen Orte im Kommunalkaraum werden zwei Texte, die jeweils aus den 1950er und 1980er Jahren stammen, im Folgenden veranschaulichen. An diesen literarischen Beispielen wird deutlich werden, inwiefern Bewohner Anteil an der Gestaltung der totalen Öffentlichkeit und Intimität hatten und inwiefern die sowjetische Gesellschaft durch offizielle und inoffizielle räumliche (An-) Ordnungen sowie kulturelle bzw. soziale Praxis strukturiert wurde.

Malte/Behrends, Jan C. (Hg.): Sphären von Öffentlichkeit in Gesellschaften sowjetischen Typs. Zwischen partei-staatlicher Selbstinszenierung und kirchlichen Gegenwelten, Frankfurt a.M. 2002, S. 37 – 61, S. 47.

Bewegungen in Zeit und Raum

Demokratie muss zuhause beginnen, und ihr Zuhause ist die nachbarliche Gemeinschaft,1 konstatiert der amerikanische Philosoph und Psychologe John Dewey. In seinem grundlegenden Buch Die Öffentlichkeit und ihre Probleme, in dem er den Ursprung für eine neue Politik und entsprechend eine neue Öffentlichkeit in der lokalen Gemeinschaft sieht, problematisiert er die Öffentlichkeit der Moderne. Seiner Ansicht nach können nur Menschen andere Völker verstehen, die in ihrem unmittelbaren Umfeld ihre Nachbarn verstehen. Obgleich es viele Gründe für nachbarschaftliche Spannungen und Missverständnisse in der Kommunalwohnung gab, hatten die meisten Mitglieder dieser Schicksalsgemeinschaft dennoch ein Verständnis des ›Anderen‹, das aus dieser gemeinsamen Situation heraus entstand. Dieses grundlegende Verständnis konnte sich mit einer ideopolitischen Entspannung in der Gesellschaft und der schwindenden Dichte in der Kommunalwohnung entfalten. Die gravierenden soziokulturellen Veränderungsprozesse der 1920er und 1930er Jahre entwurzelten gesamte gesellschaftliche Schichten, setzten gewohnte Strukturen außer Kraft und entfesselten gleichzeitig gesellschaftliche Kräfte, die Krisen, Chaos und Unordnung zur Norm werden ließen. Im urbanen Raum machten sich die Auswirkungen dieses soziokulturellen und -politischen Übergangs von einer alten zu einer neuen Lebensordnung besonders bemerkbar, vor allem in der Gestaltung des Alltags in den Kommunalwohnungen, die in dieser aus den Fugen geratenen Welt zustande kamen. Während das Motto dieser unsicheren und chaotischen Zeit zu heißen schien: Er-

1

Vgl. Dewey, John (1927): Die Öffentlichkeit und ihre Probleme, Übers. von Wolf-Dietrich Junghanns, hg. von Hans Peter Krüger, Frankfurt a.M. 1996, S. 177.

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laubt ist, was zum Überleben notwendig ist, schien es dennoch symbiotische, von wechselseitigem Nutzen geprägte zwischenmenschliche Beziehungen zu geben, die eine stabilisierende Form des Zusammenlebens von Menschen unterschiedlichster Arten, Schichten, Klassen etc. auf Dauer erlaubten. Von diesem Standpunkt aus möchte ich die Entwicklung des Zusammenlebens im zwischenmenschlichen Austausch in der Kommunalwohnung betrachten. Dabei ist es mein Anliegen, den total(itär)en Raum, in dem eine Form demokratischer, zivilgesellschaftlicher Küchentreffen unter Gleichgesinnten in der späten Sowjetunion stattfinden konnte, in seiner Entwicklung dementsprechend zu lesen. Indem ich diese Prozesse als demokratisch, repräsentativ und konsultativ bezeichne, möchte ich mit dieser Zuspitzung auf den zwangsläufigen zwischenmenschlichen, meist aus Konflikt entstehenden und nach Stabilität strebenden Austausch aufmerksam machen, der unter unsicheren und uneindeutigen Bedingungen entstand. Während der Anlass für die Interaktion eine problematische und konfliktreiche Ausnahmesituation darstellt, befasst sich der eigentliche Austausch mit Konfliktlösung und einer potentiellen Schaffung von Stabilität im Alltag. Über Jahre wandelte sich der kommunale Raum in der literarischen bzw. satirischen Darstellung, die im Wesentlichen drei grob gefasste Phasen aufzeigt, die schwer mit Jahreszahlen gekennzeichnet werden können: 1) Am Anfang gab es das Chaos, aus dem sich 2) mit institutionellen Strukturen und trotz der ausgeprägten Denunziationspraktiken eine Stabilität und Normalität in der kommunalen Wohnsituation entwickelte (oder umgekehrt: Menschen versuchten trotz der zur Normalität gewordenen kommunalen Wohnsituation mit Praktiken der Denunziationen und des Wohnungstauschs ihre Wohnsituation zu verbessern), und 3), in der letzten Phase, nahm die zwischenmenschliche Interaktion im gemeinschaftlichen Raum der Kommunalwohnung die Qualität beratender Debatten unter Mitbewohnern an. In P’ecuchs Roman Novaja Moskovskaja filosofija wird gleich vier Tage lang über das rätselhafte Verschwinden der Aleksandra Sergeevna Pumpjanskaja debattiert, spekuliert und gestritten, allerdings mit Methoden von ›Glasnost und Demokratie‹. Diese Debatten kamen in gewisser Weise einem konsultativen, repräsentativen und demokratischen Prozess nahe, der in der Art und Weise, wie die Sowjetunion sich relativ friedlich auflöste, reflektiert wird. Eine ähnliche zeitliche Aufteilung nimmt P’ecuch in seinem Roman vor, in dem er die Stellung der verschwundenen

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Pumpjanskaja, welche die ursprüngliche Besitzerin einer Wohnung war, in der Kommunalka über die Jahre beschreibt: В двадатые годы, когда за такие штуки людей оттирали на задворки жизни безжалостно, просто и мимоходом, Александра Сергеевна была тише воды, ниже травы, то есть как бы и не была, в предвоенную пору она уже осторожно претендовала на равенство с жильцами пролетарского происхождения, а в новейшие времена последовательно вела себя так, словно она и есть безоговорочная хозяйка. In den zwanziger Jahren, als man für ähnliche Späße erbarmungslos und gewissermaßen beiläufig ins Jenseits befördert werden konnte, verhielt sich Alexandra Sergejewna mucksmäuschenstill und möglichst unauffällig – es war, als ob es sie überhaupt nicht mehr geben würde. In den Jahren unmittelbar vor dem Zweiten Weltkrieg beanspruchte sie – mit einer gewissen Vorsicht – schon eine Art Gleichberechtigung mit den Bewohnern proletarischer Herkunft; und in der letzten Zeit ging sie dann so weit, dass sie sich benahm, als ob sie in Wirklichkeit doch noch die Hausherrin wäre.2

Der Großteil meiner Untersuchung thematisiert die chaotischen und unordentlichen 1920er und 1930er Jahre, in denen eine ambivalente Interdependenz zwischen den Anhängern des sowjetischen Systems und den durchschnittlichen Bürgern herrschte, die beispielsweise in der (Wechsel-)Beziehung zwischen Gus’ und Zoja oder auch zwischen Alliluja und Zoja in Bulgakovs Stück Zojkina kvartira verdeutlicht wird. Beide Seiten konnten innerhalb der neuen sowjetischen Lebensordnung fungieren und passten sich den neuen Lebensbedingungen an, die inzwischen allerdings zu einem wichtigen Rahmen für ihre illegitimen und (in)offiziellen Aktivitäten geworden waren. Ausgehend von den neuen Lebensbedingungen passten die Menschen ihre Umwelt und ihren Alltag an und gestalteten sie aus, entsprechend den Umständen und Bedürfnissen, die wiederum die zwischenmenschlichen Wechselbeziehungen bestimmten. Im Folgenden möchte ich mich nun dem kommunalen Raum der 1950er und 1980er Jahre widmen, wobei die

2

P’ecuch, Vjačeslav: »Novaja moskovskaja filosofija« in: ders.: Novaja moskovskaja filosofija, Moskovskij Rabočij 1989, 165-286, S. 173; ders.: Die neue Moskauer Philosophie. Ein russischer Kriminalroman, Übers. von Natascha Drubek-Meyer und Holt Meyer, München 1991, S. 18.

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1950er Jahre Wesensmerkmale der vorhergehenden wie auch der darauffolgenden Phase aufzeigen. In dieser Hinsicht waren die 1950er Jahre demnach eine weitere Zwischen- bzw. Übergangsphase.

D IE 1950 ER Im Unterschied zu den späten 1920er und frühen 1930er Jahren waren die 1950er in der Sowjetunion von Repressionen, Angst und Hoffnungslosigkeit geprägt – alles Attribute, die in Boris Jampol’skijs (1912-1972) Roman Moskovskaja ulica3 vorherrschen. Der Roman wurde zwar 1954 verfasst, aber zur Erstveröffentlichung kam es erst 1988 in der Zeitschrift Znamja, einem monatlichen Journal für Literatur, Kunst und gesellschaftspolitische Angelegenheiten. Einleitend suggeriert die Redaktion des Journals, diesem bedeutsamen Werk als öffentlichem Gut Aufmerksamkeit zu schenken. Die Rezeption dieses Romans sorgte erwartungsgemäß für Furore in der sowjetischen Gesellschaft, da der Autor nicht nur das skurrile Treiben der Kommunalka, sondern auch einen ›endlosen‹ Tag eines ›schuldlos Schuldigen‹ sowie dessen Gedanken und Emotionen ausdrücklich beschreibt. Der unter Beobachtung stehende namenlose Protagonist ermöglicht einen intimen Einblick in sein gequältes Alltagsleben. In seiner Schilderung beschreibt er wichtige Szenen, die sich in seinem Zimmer sowie an Orten der gemeinsamen Nutzung (s)einer Kommunalwohnung ereignen. Beide Räumlichkeiten weisen Merkmale eines einengenden, aber auch offenen Raumes auf, die in der verwobenen, dynamischen Wechselwirkung zwischen der Öffentlichkeit und einer (in)offiziellen Privatheit entstehen und wiederum die soziale Praxis der Bewohner beeinflussen und bestimmen. Soziale Handlungen sind in ihrer grundlegenden Gegebenheit unberechenbar. In einer bestimmten zwischenmenschlichen Interaktion positioniert sich eine Person eigenständig oder per definitionem in der Interaktion mit anderen, abhängig von der jeweiligen Situation und der situationsbedingten Äußerung oder Handlung. Für Steven Greenblatt

3

Jampol’skij, Boris: »Moskovskaja ulica« in: Znamja, No. 2 und 3, S. 46114 und 121-174; ders.: Kommunalka. Ein Moskauer Roman, Übers. von Erich Ahrndt, Leipzig 1991.

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sind Handlungen im Wesentlichen komplex und vielschichtig und letztendlich ambivalent: Handlungen, die einzeln vorzukommen scheinen, werden als vielfach wiederholte enthüllt; die vermeintlich isolierte Kraft des individuellen Genies ist, wie sich herausstellt, an kollektive soziale Energie gebunden; eine abweichende Geste kann sich als Bestandteil eines umfassenderen Legitimationsprozesses entpuppen, während der Versuch, die Ordnung der Dinge festzuschreiben, vielleicht zu ihrem Umsturz führt.4

Dieser von Ambivalenz und Uneindeutigkeiten geprägte Raum bestimmt soziale Handlungen, deren tatsächliche Bedeutung und Wirkung sich meist erst im Austausch bzw. Zusammenprall entfaltet. Als ein Beispiel möchte ich eine Szene anführen, die sich in Jampol’skijs Roman Kommunalka in der Küche der Kommunalwohnung des Protagonisten abspielt, wo eine banale Tätigkeit zu schweren politischen Vorwürfen führt. Die folgende Szene schildert nicht nur die Fluidität, sondern auch die Willkür und Bedeutungsentfaltung im eigentlichen Aufeinandertreffen. Frol Porfirjewič Svisljak öffnet die Küchentür und setzt gleichzeitig abstoßende Gerüche von Kraut und gebratenem Fisch, nasser Wäsche und brodelnden Töpfen frei, die vereint in das private Zimmer des Protagonisten eindringen. Diskret und unauffällig versucht dieser die Küchentür zu schließen, wird aber von Svisljak ertappt. Dieser nutzt das Forum, um den Protagonisten und die Nachbarin Ljubočka, die zufällig dazugestoßen ist und sich auch für das Schließen der Küchentür ausspricht, zu unterrichten: А известно ли вам, что при коммунизме все будут жить с открытыми дверьми, и никакой личной собственности не будет, и никаких личных секретов от общества? […] Или, может быть, вы возвращаете против высшей фазы коммунизма? Ist Ihnen nicht bekannt, dass im Kommunismus alle Wohnungstüren offen bleiben und es kein Privateigentum und keine persönlichen Geheimnisse vor

4

Greenblatt, Stephen: Schmutzige Riten. Betrachtungen zwischen Weltbildern, Frankfurt a.M. 1995, S. 11.

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der Gesellschaft mehr gibt? […] Oder haben Sie vielleicht etwas gegen die höchste Phase des Kommunismus einzuwenden?5

In dieser Interaktion repräsentiert Svisljak die offizielle Sphäre, und aus dieser Begebenheit heraus wird sein Gegenüber, in diesem Falle der Protagonist und die dazugestoßene Nachbarin Ljubočka, automatisch in die inoffizielle öffentliche Sphäre überführt. Im Moment der Überführung befinden sich beide in einer ähnlichen Lage und sind somit in dieser Situation miteinander verbunden. Als Svisljak seine Aufmerksamkeit auf Ljubočka richtet, meint der durch diese Situation empfindungsvoll gewordene Protagonist nachvollziehen zu können, was in Ljubočkas Kopf vorgeht. Sicherlich will sie seiner Meinung nach in inbrünstiger und selbstsicherer Überzeugung Svisljak entgegnen, dass sie die höchste Phase schätze. Da sich die Gesellschaft allerdings noch in einer Übergangsphase befinde, würde sie es bevorzugen, hinter verschlossener Tür zu wohnen und zu atmen sowie sich ungestört an- und auszuziehen und dies nicht vor Svisljaks dreisten Blicken zu tun. Stattdessen wispert sie nur: »Wie können Sie nur so denken, Frol Porfirjewitsch.«6 Ein weiterer Nachbar, der in der Küche tätig ist und bis dato durch sein Schweigen weder an der offiziellen noch an der inoffiziellen Sphäre teilnimmt, lacht höhnisch in Erwiderung auf den bedrohlichen Austausch. Svisljak gibt dem Nachbarn in der Küche einen ›politischen Blick‹, so dass dieser sofort wieder verstummt. Inzwischen ist der in der Küche Tätige kein unbeteiligter Zuschauer mehr, sondern wird durch sein Lachen und den politischen Blick als das Gegenüber von Svisljak in die inoffizielle Sphäre gezerrt. Bedeutungsspezifische Eigenschaften und Kodes ordnen den Beteiligten bestimmte Sphären zu. Dabei wird die Zuordnung von jener Person übernommen, die den spezifischen Raum kontrolliert und sich meist hinter der Fassade der Autorität schützt. Zudem symbolisieren penetrante kulinarische Düfte in Wirklichkeit die offizielle öffentliche Sphäre und eine damit verbundene Ordnung. Indem der Protagonist versucht, das Eindringen dieser Düfte in sein Zimmer (und letztendlich in seinen Körper) zu verhindern, missachtet er somit in Wirklichkeit die offizielle Ordnung. Je nach Auslegung, die mitunter auch willkürlich gestaltet werden kann, ist das Potential der momentanen Fragmentierung des

5

Jampol’skij, 1988, a.a.O., S. 132; dt. Übersetzung S. 182.

6

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Raumes ins Inoffizielle stets gegeben. Aus diesem Grund ist der Alltag von einem maßlosen Schuldgefühl und Angst vor etwas geprägt: Все время как-то беспокойно, отчего-то тревожно, чувствуешь вину без вины виноватого и ждешь наказания. Наказание неминуемо. Рано или поздна оно прийдет. Каждое утро – только отсрочка… все потускнело и исчезло перед этим огромным. Fortwährend bist du voller Unruhe, bist nervös, fühlst die Schuld des schuldlos Schuldigen und wartest auf die Strafe. Die Strafe ist unausweichlich. Früher oder später wird sie kommen. Jeder Morgen ist nur ein Aufschub… alles verblaßte und verschwand hinter diesem gewaltigen Etwas.7

Dieses ›Etwas‹ verkörpert sich für den Protagonisten regelmäßig in einer oder zwei Person(en), die er als seine(n) Henker bezeichnet. Auch wenn er sich außerhalb seines Zimmers in den gemeinschaftlichen Räumlichkeiten der Kommunalka bewegt, wird er von dieser nagenden Schuld verfolgt. Als er in die Gemeinschaftsküche eintritt, spürt er, wie sich die Schuld in den anwesenden Körpern niederlässt und festsetzt: Alle verstummen und weichen ihm aus. Nur die sozial unfähigen, leblosen Primuskocher setzen ungestört ihr Summen fort, und die Beefsteaks in den Pfannen brutzeln weiter. Казалось, все уже знали в чем дело, и казалось, пространство вокруг раздалось и оставило меня в заколдованном круге. Alle schienen schon Bescheid zu wissen, und mir war, als ob der Raum sich ausweitete und mich in einem Teufelskreis zurückließe.8

Der Raum wird von seinem Bewusstsein bestimmt, und dementsprechend beschreibt der Protagonist sein unerklärliches und unbegründetes Schuldgefühl [какая-то неизвестная, неузнанная вина], die Angst vor etwas, »das von oben kam, zum zweiten Ich, zur Natur – … charakterbestimmend« [чем-то высшим стал вторым я, натурой, характером]9 wird.

7

Ebd., S. 95; dt. Übersetzung S. 116.

8

Ebd., S. 125; dt. Übersetzung S. 168.

9

Ebd., S. 68; dt. Übersetzung S. 55.

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Die von Sennett konzipierte Tyrannei der Intimität in ihrer subtilen Form ist hierfür bezeichnend. Sennett weist darauf hin, dass das Wort Tyrannei synonym für Souveränität ist. Wenn eine Gesellschaft den Schwerpunkt auf ein allgemeines, souveränes Prinzip setzt, dann wird die Gesellschaft von diesem Prinzip und damit verbundenen Wertvorstellungen tyrannisiert. Dabei konstatiert Sennett, dass Intimität eine Tyrannei der Art ist, die das Alltagsleben beherrscht. Moderne Gesellschaften werden heutzutage, laut Sennett, in psychologischen Kategorien gemessen und in dem Maße, in dem sich diese Tyrannei durchsetzt, erleidet die Gesellschaft Deformationen.10 Jampol’skij bringt die gesellschaftliche Deformation mit dem Körper des Henkers in Verbindung: Die Gestalt, der Geruch und das Verhalten dieses Menschentyps, von dem der Protagonist glaubt beobachtet zu werden, sind allen vertraut: Похоже, это уже не только было всосано с молоком матери, но начало уже передаваться в генах, какая-то там произошла перемена, какое-то нарушение или перегруппировка, переброска в извечной цепи нуклеидов, может самая крохотная самая микроскопическая, но уже очень живучая и сильно действующая на весь организм. Das war anscheinend nicht mehr nur mit der Muttermilch eingesogen, sondern vererbte sich mittlerweile durch die Gene, in der uralten Nukleidenkette war eine gewisse Störung, Umgruppierung, Umstrukturierung eingetreten, möglicherweise nur eine winzig kleine, aber sehr resistente, die sich bereits auf den ganzen Organismus auswirkte.11

Die Auswirkungen dieser gesellschaftlichen Deformationen wurden zum zweiten Ich, zur Natur, und wurden dadurch auch sehr persönlich und intim. Indem der Protagonist entweder von den schwarzen Zwillingen [черных близнецов],12 von dem Akrobatenzwillingspaar [Цирковая пара]13 oder von seinem Schatten [мой]14 spricht, verlagert er sein zweites Ich nach außen, und in dieser Verlagerung werden die

10 Vgl. Sennett, a.a.O. 11 Ebd., S. 91f.; dt. Übersetzung S. 107. 12 Ebd., S. 83; dt. Übersetzung S. 88. 13 Ebd., S. 83; dt. Übersetzung S. 89. 14 Ebd., S. 85; dt. Übersetzung S. 93.

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Spaltung des Ichs und damit verbundene baufällige Grenzen veranschaulicht. Dieses inhärent ambivalente Verhältnis macht sich in der inneren Einstellung seinem Zimmer gegenüber bemerkbar: Эта комната всегда казалась мне западней, куда меня загнали и откуда уже нет выхода. Но каждый раз после собраний я уползал в эту ненавистную с масляными стенами узкую комнату, в эту чадную нору, набитую прусаками и клопами. Все-таки это была единственная нора во всем городе, а может, сейчас и во всем мире, где я оставался один, один на один с самим собой, со своей гложущей тоской, с удивлением к дикости и бессмыслице того, что делали со мною, и с болью. И тут как-то отлеживался. In diesem Zimmer war ich mir schon immer wie in einer Falle vorgekommen, aus der es kein Entrinnen mehr gab. Trotzdem verkroch ich mich nach den Versammlungen jedesmal wieder zwischen diese verhaßten, engen, fettigen Wände, in dieses von Schaben und Wanzen wimmelnde, stickige Loch. Aber schließlich war es der einzige Winkel in der ganzen Stadt, vielleicht schon in der ganzen Welt, wo ich allein war, allein mit mir und meiner nagenden Schwermut, der Verwunderung über die Ungeheuerlichkeit und Sinnlosigkeit dessen, was man mit mir machte, allein mit meinem Schmerz. Wo ich immer wieder zu mir fand.15

Einerseits empfindet er sein verwahrlostes Zimmer als eine gesellschaftliche Falle, in der er gefangen ist und aus der es keine Fluchtmöglichkeiten gibt. Andererseits ist es für sein Ich aber der einzig mögliche Ort des Rückzugs in der ganzen Welt, wo er alleine sein und schließlich zu sich finden kann. In Verfall und Ende des öffentlichen Lebens umschreibt Sennett eine konstante und unausweichliche gesellschaftliche Sichtbarkeit als brutale Form der Isolierung in öffentlichen Orten, und so können erstrebte Uniformität und Standardisierung eine Grundlage bilden, um individuelle Potenzen zu differenzieren und freizusetzen.16 Sennett konstatiert, dass eine solche brutale Intimität Geselligkeit schließlich hemmt. Daraus entsteht die paradoxe Gegebenheit, dass ein Wunsch nach Geselligkeit nur aus einer gewissen Distanz zu anderen hervorgehen kann. Wenn Menschen sich beobach-

15 Ebd., S. 95; dt. Übersetzung S. 115. 16 Vgl. Sennett, a.a.O.

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tet fühlen, dann fühlen sie sich, als ob sie sich durch Schweigen und Isolierung schützen müssen. Unter diesen Umständen kommt die Herstellung einer Brüderlichkeit oder einer Interpretationsgemeinschaft unter Wissenden, die sich aus dem Ausschluss einer kollektiven ›Wir‹Identität ergibt, nicht zustande – Fragmentierung und innere Spaltung setzen ein. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, auf welcher Ebene sich die kompensatorische Wir-Identität des Einzelnen im sowjetischen Kontext konstituiert: auf der persönlichen, der kommunalen oder der staatlichen Ebene. Allerdings ist der Raum von Jampol’skijs Protagonist nur bedingt ein Raum der Isolation, auch wenn die Ab- und Eingrenzung sowie die Grenzüberschreitung lediglich in der Imagination stattfindet: Я лег на кровать, и тот, стоящий на улице, сквозь стены смотрел на меня. Ich legte mich aufs Bett, und der auf der Straße stand, beobachtete mich durch die Wände.17

Seiner Wahrnehmung nach befand sich das Bedrohliche außerhalb seiner verhassten, engen, fettigen Wände, die allerdings auf allen Seiten des Zimmers durchlässig wie eine Membran sind. Aufgrund des allgegenwärtigen Schuldgefühls ist die notwendige Distanz nicht möglich – die bedrohliche Öffentlichkeit hat jederzeit Zugang zu ihm und zu seiner (in)offiziellen Privatheit. Andauernd setzt der Protagonist sich mit der bedrohlichen Präsenz eines gewaltigen Etwas auseinander. Und als im nächsten Moment die Miliz zufällig an die Tür seines Zimmers klopft, ist es unter diesen Umständen schwierig, den Zufall tatsächlich als Zufall gelten zu lassen und nicht vielmehr als Verfall. Mit dem Klopfen stürzen die Wände momentan ein und der Protagonist hat das Gefühl, als ob er »nackt vor aller Welt« [голый перед всем светом]18 dasteht. So sind die Grenzen des Wohnraums genauso baufällig und verwahrlost wie die vernachlässigte Architektur, die ihn umgibt. Im nächsten Ausschnitt scheint es, als ob die vernachlässigte Architektur schon eingestürzt sei und den Bewohner aus dem Wohnraum in die Öffentlichkeit und wie eine obdachlose Person auf die Straße befördert habe:

17 Ebd., S. 90; dt. Übersetzung S. 103. 18 Ebd., S. 101; dt. Übersetzung S. 128.

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Это была самая шумная, грохочущая, жадная улица, напоминающая аэродинамическую трубу, где проверяют моторы самолетов, от гула которых некуда деться, а в этой трубе и спишь, и ешь постную картошку, читаешь газеты и романы, ссоришься и целуешься, и болеешь гриппом, и тоскуешь… Dies war die lauteste, polterndste, gierigste Straße, die man sich denken konnte, sie erinnerte an einen Windkanal zum Testen von Flugzeugmotoren, vor deren Dröhnen es keine Rettung gibt, und in diesem Kanal schläft man, ißt trockene Kartoffeln, liest, streitet und liebt man sich, hat Grippe oder Sehnsucht…19

Hier wird der öffentliche Raum intimisiert oder der intime Raum veröffentlicht. Es bleibt unklar, ob man sich auf der Straße oder in (s)einem Zimmer befindet, die oder das einem Windkanal gleicht, in dem man schläft, streitet, liest, liebt – und Sehnsucht nach einer menschenwürdigen Wohnung hat. Die Grenzen sind fließend und bieten somit keinen Schutz vor den stürmischen soziokulturellen Veränderungsprozessen. Während Kabakov den Stalinismus mit einem Schneesturm vergleicht, geht Jampol’skij mit der Formulierung eines Windkanals noch einen Schritt weiter: Er weist auf die Technologisierung und eine damit einhergehende Künstlichkeit der Gesellschaft hin, die Zustände in der Sowjetunion herstellten, die kein soziales Leben zuließen, sondern nur ein künstlich hergestelltes soziales Klima, auf das man keinen Einfluss nehmen konnte und dem man hilflos ausgesetzt war. Im Gegensatz zur artifiziellen Gesellschaft steht der gequälte Einzelne: In einem anderen Abschnitt erwähnt der namenlose Protagonist, dass er Angst hat, sein Zimmer zu betreten, Angst vor dem Alleinsein.20 Hier wird deutlich, dass er vor sich selbst Angst hat, vor der Schuld und dem gewaltigen Etwas, das er in sich trägt und das ihn seinem Henker schutzund hilflos ausliefert. In seinem hilflosen Alleinsein und der daraus entstehenden Fragmentierung und inneren Spaltung hat der Protagonist dennoch den Bedarf, eine ergänzende und gleichzeitig schützende WirIdentität herzustellen. Dabei entsteht mangels anderer Optionen eine perverse Ver-rückung der eigenen Grenzen, die in den uneindeutigen gesellschaftlichen Grenzen zwischen offiziell und inoffiziell, öffentlich

19 Ebd., S. 71; dt. Übersetzung S. 63. 20 Vgl. Ebd., S. 88; dt. Übersetzung S. 100.

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und privat, außen und innen reflektiert werden. Hierbei wird das Innerliche veräußerlicht und das Äußere verinnerlicht. Demnach erlebt der Protagonist eine gewisse Form der Außerhalbbefindlichkeit, allerdings nicht im Bachtin’schen Sinne: Я лежал на кровати, и упорно казалось, что все это не со мной, а с кем-то другим. Я опять отделился ои самого себя и стоял где-то в стороне и наблюдал за тем, кто был я, как он лежит на кровати, в этой комнате, сотрясающейся от гула и грохота движения, и ждет, ждет, что за ним прийдут, и даже когда того заберут и поведут, я, тот, который наблюдаю, буду цел и буду только следить за тем, которого повели. Ich lag auf dem Bett und wurde das Gefühl nicht los, alles geschähe nicht mir, sondern jemand anderem. Ich löste mich wieder von mir selbst, stand neben mir und beobachtete den, der ich war, wie er auf dem Bett lag, in diesem vom Tosen und Dröhnen des Verkehrs erschütterten Zimmer, und darauf wartete, daß man ihn holen kam, – und sogar wenn man käme und ihn abführte, würde ich, der Beobachter, ungeschoren bleiben und dem, den sie abführten, nur nachschauen.21

Ein Grund für seine eigene Entfremdung ist möglicherweise die fremde Matratze, auf der er liegt. Als Kern der Intimität ist das Bett die letzte Zufluchtsstätte. Deshalb verwundert es nicht, wenn er weder eine reine, authentische Intimität mit sich selbst noch eine WirIdentität herstellen kann. Darüber hinaus wird hier vom Protagonisten die von Charchordin artikulierte »schizophrene Spaltung« beschrieben, in der er seine Identität in ein offizielles persönliches (ličnaja žizn’) und in ein inoffizielles privates Leben (častnaja žizn’) spaltet. Durch diese Spaltung möchte der Protagonist sich von der als inoffiziell stigmatisierten Privatheit, die ihn letztendlich schutzlos ausliefert, entfernen bzw. entfremden. Er möchte diese stigmatisierte Privatheit und die damit verbundene Schuld des schuldlos Schuldigen loswerden, sie ausgrenzen, um sein Leben unbeschwert weiterzuleben. In Charms Kurzgeschichte Pobeda Myšina hat Myšin auch keine eigene Matratze, und im übertragenen Sinne repräsentieren die Gemeinschaft und Myšin diese gespaltene sowjetische Identität: Die Gemeinschaft versucht, das inoffizielle private Leben, verkörpert von Myšin,

21 Ebd., S. 105; dt. Übersetzung S. 136.

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loszuwerden, ihn auszugrenzen und zu verbrennen. [Они давеча хотели его керосином пожечь.]22 Myšin symbolisiert die inoffizielle Privatheit, die alle in sich tragen. Durch die symbolische Läuterung Myšins soll dieser Aspekt der Persönlichkeit im religiösen Sinne gereinigt werden, so dass die Gemeinschaft schuldlos, aber nicht schutzlos weiterleben kann. Allerdings entsteht durch die Spaltung und die daraus ermöglichte Abwendung von der inoffiziellen Privatheit eine Lücke, die der Protagonist in Jampol’skijs Roman mit einer offiziellen Privatheit zu füllen versucht. Sein Henker repräsentiert das Offizielle, und der Protagonist füllt diese Lücke, indem er Nähe zu seinem Henker sucht. Er versucht sich in dessen Situation hineinzuversetzen, während er ihn von seinem Kommunalkazimmer aus beobachtet. Er wundert sich, wer sein Henker ist und wie er heißt, ob er zu seinen alten Eltern nach Hause gehen wird oder eine Frau und Kinder hat, die mit Heften in die Schule gehen, und er fragt sich auch, ob diese wissen, wo er arbeitet. Weiterhin wundert er sich, ob der Henker seine Macht über andere Menschen satt hat und lieber eine bescheidenere Beschäftigung finden würde, bei der man nicht in Wind und Regen stehen muss. Während seiner Überlegungen dreht der Henker den Kopf plötzlich nach rechts, spuckt drei Mal aus: […] привычка у него была такая, или он что-то задумал про себя. Странно, этим он стал как-то ближе, совсем свой. Еще сегодня утром я его не знал и он обо мне ничего не ведал, теперь не была для меня во всем мире более важного человека, чем он. Вся моя жизнь, все, что я мог еще сделать, увидеть, испить, вся моя любовь, паника, страх, болезни, восторги, открытия были в его власти. […] vielleicht eine Gewohnheit von ihm, oder er hatte an etwas Bestimmtes gedacht. Merkwürdig, dadurch kam er mir irgendwie näher, wurde er mir vertraut. Noch heute morgen hatte ich ihn nicht gekannt und er nichts von mir gewußt, und jetzt gab es auf der Welt für mich keinen wichtigeren Menschen als ihn. Mein ganzes Leben, alles, was ich noch tun, erleben, erdulden konnte, Liebe, Panik, Angst und Begeisterung, Krankheiten, Entdeckungen – alles stand in seiner Macht.23

22 Charms, 1994, a.a.O., S. 109; dt. Übersetzung S. 218. 23 Jampol’skij, 1988, a.a.O., S. 99; dt. Übersetzung S. 125.

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Im sowjetischen Kontext gingen die öffentliche und private Sphäre ineinander über, verschmolzen und wurden zu einer tyrannisierenden Intimität, die sich im kommunalen Wohnraum bemerkbar machte. In diesem Zusammenhang spielten Machtbeziehungen zwischen der einzelnen Person und dem ›offiziell‹ eingerichteten, häuslichen Kollektiv – eine Form der staatlichen Repräsentation – eine wichtige Rolle: Macht innerhalb sozialer Systeme, die sich einer gewissen Kontinuität über Raum und Zeit hinweg erfreuen, setzt geregelte Beziehungen von Autonomie und Abhängigkeit zwischen Akteuren und Kollektiven in sozialen Interaktionskontexten voraus. Aber alle Formen von Abhängigkeit stellen gewisse Ressourcen zur Verfügung, mit denen die Unterworfenen die Aktivitäten der ihnen Überlegenen beeinflussen können. Dies nenne ich [Giddens] die in soziale Systeme eingelassene Dialektik der Herrschaft.24

Demnach können Machtbeziehungen unter Machthabern und Unterlegenen stabilisiert werden. Bourdieu dringt eine Stufe tiefer in zwischenmenschliche Beziehungen ein und beschäftigt sich mit der Herrschaft über den Raum, die für ihn »eine der privilegiertesten Formen von Herrschaftsausübung«25 bildet. Hier lässt sich eine Wechselbeziehung zwischen der Macht über den Raum und der Stellung im Raum selbst beobachten: Die durch Macht erlangte Verfügungsgewalt über den Raum bestimmt die Position im sozialen Raum, und umgekehrt bestimmt die Stellung im sozialen Raum wiederum die Verfügungsgewalt im physischen Raum. Durch soziale Praxis werden soziale Arrangements erzeugt, in denen Menschen ihr Verhältnis zu sich, zu anderen und zur Umwelt darstellen. Dieses Verhältnis wird überwiegend mit Verhaltensweisen in Verbindung gebracht, die von Machtbeziehungen bestimmt werden, die sich vor allem im Kampf um Ressourcen äußern. In der Kommunalwohnung ging es im Wesentlichen um die Erlangung von und Kontrolle über (Wohn-)Raum, jedoch konnte auch Wissen in Form von belastenden Informationen über andere als Instrument der Manipulation wichtige Ressourcen freisetzen. Die Warteschlange vor der Toilette kann hierfür erneut ein Beispiel bereitstellen, wo latente Kommunikationskanäle strategisch genutzt wurden, um mit Absicht vernehmlich über den auf der Toilette Sitzenden zu lästern

24 Giddens, 1997, a.a.O., S. 67; Hervorhebung im Original. 25 Schroer, 2006, a.a.O., S. 90.

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oder ihn in Bedrängnis zu bringen. Ein weiteres Beispiel bietet die Warteschlange für das Telefon, eine Quelle für die Ermittlung inkriminierender Informationen über Nachbarn wie auch eine Form sozialer Überwachung und Kontrolle. Ständig wurden ›kompromittierende Informationen‹ (komprometiruiuščie dannye) gesammelt. Die Nachbarn lebten in unerträglicher Abhängigkeit voneinander. In diesem Sinne war Intimität eine Ursache für Konflikte und außerdem eng, erstickend und defensiv. Sie war keine sichere Zuflucht: Die tyrannisierende Intimität verzehrte die einzelnen Personen: он стал как-то совсем свой. Wie schon erwähnt dominiert diese Ambivalenz den Raum. Einerseits beschreibt Jampol’skij die offiziell-öffentliche Penetranz von Seiten des Staates ähnlich wie Charms: И в это время тройной стук в дверь и голос: -- Милиция. […] Стук повторился. Я накрыл пистолет газетой и, словно лунатик по краю крыши, двинулся к двери, и не своей, как бы замерзшей чужой рукой снял крючок. На пороге стоял милицейский капитан в новой фуражке и щегольской синей шинели, как-то особенно выглаженный, особенно аккуратный, какой-то доже опереточный, словно из кинокартины студии юношеских и детских фильмов, и в комнате запахло »Ландышем«, а за ним гражданский тип в мальчиковой кепочке на макушке, в мальчиковых ботинках. In einem Moment klopfte es dreimal an die Tür, und eine Stimme rief: »Miliz!« […] Das Klopfen wiederholte sich. Ich deckte die Pistole mit einer Zeitung zu, ging wie ein Mondsüchtiger am Dachrand zur Tür, und meine Hand, die mir plötzlich fremd war, wie erfroren, schob mechanisch den Riegel zurück. Auf der Schwelle stand ein geschniegelter und gebügelter, geradezu operettenhafter Milizhauptmann in elegantem blauem Mantel und neuer Mütze, wie aus einem Kinderfilm – das Zimmer roch gleich nach Maiglöckchenparfüm –, und hinter ihm ein Zivilist mit knabenhaft wirkendem Mützchen auf dem Kopf und in Knabenstiefeln.26

26 Jampol’skij, 1988, a.a.O., S. 101; dt. Übersetzung S. 128f.

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Das Bedrohliche wird hier mit einem Kinderfilm verglichen – die unangenehme Grenze bewegt sich zwischen der entsetzlichen Tragik der offiziellen, potentiell fatalen Grenzüberschreitung und der spielerischen Leichtigkeit, die durch die Verniedlichung der grenzüberschreitenden Figuren verursacht wird. Mit diesen Extremen versucht der Protagonist vielleicht eine Lücke zu schaffen, ein großes, endloses schwarzes Loch, in das er in diesem Moment fallen und spurlos verschwinden kann. Der Rückgriff auf die Kindheit repräsentiert zudem ein Verlangen nach Schutz und ein Gefühl der Geborgenheit. Mit dem Verweis auf die Mondsucht als eine Form der Schlafstörung (womöglich aufgrund der fremden oder fehlenden Matratze bzw. Intimität) deutet Jampol’skij auf die traumhaften Qualitäten dieser bedrohlichen Situation: Der Mondsüchtige schlafwandelt ›wie im Traum‹ in der Wohnung herum und scheint allerdings teilweise gezielt zu handeln. Wobei es in diesem Zustand der Mondsucht bzw. der Schwellenposition in der Kommunalwohnung durchaus zu Fremd- oder Selbstgefährdung kommen kann. Der Milizhauptmann steht an der Schwelle zwischen dem angestrebten offiziellen und unschuldigen persönlichen (ličnaja žizn’) Leben und dem inoffiziellen, von Schuldgefühlen entfremdeten privaten Leben (častnaja žizn’) des Protagonisten. Da die Ausweiskontrolle in dieser Begegnung tatsächlich ein Zufall ist, überschreitet der Milizhauptmann die Schwelle nicht und hinterlässt den namenlosen Protagonisten mit (s)einer weiterhin gespaltenen Identität. Im Gegensatz hierzu steht eine weitere Grenzüberschreitung, die in diesem Roman stattfindet: von Seiten der Kommunalkabewohner. In einem intimen Moment, in dem der Protagonist versucht, seine (in)offizielle Privatheit zu ersetzen und Nähe zu seinem Henker herzustellen, dringt die aggressive Stimme der Nachbarin unverhofft in sein Zimmer: -- У вас горит плитка? визгливо закричали из-за дверей. -- Какая плитка? Это была Зоя Фортунатовна, маникюрша в тюрбане из полотенца, и будто ею выстрелили прямо из сумасшедшего дома, такие у нее безумные глаза. -- Смотрите, как верхиться счетчик. »Brennt bei Ihnen eine Kochplatte?« rief es kreischend vor der Tür. »Was denn für eine Kochplatte?«

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Es war Soja Fortunatowna, die Maniküre, mit einem Handtuch als Turban und so irrem Blick, als hätte man sie aus der Anstalt heraus auf mich gehetzt. »Sehen Sie, wie der Zähler rotiert.«27

Hier suggeriert Jampol’ski, dass die (ver)irr(t)en Nachbarn genauso unberechenbar sind wie die Behörden. In dieser Szene wird die Grenzüberschreitung und die Störung der Intimität, die von den Nachbarn ausgeht, als ein vergleichbarer Modus dargestellt. Allerdings war die Nachfrage der Nachbarin Teil eines pragmatischen Ermittlungsverfahrens, um zu eruieren, wer Stromzähler unnötig oder möglicherweise unbemerkt laufen lässt, um dadurch potentielle Konfliktherde zu löschen: Она схватила меня за руку и потянула к счетчику. Он гудел и временами визжал, словно просил пощады. -- А-а! Это, наверно, Пищики включились! И она убежала в своем тюрбане. Sie packte mich am Arm und zog mich zum Zählerkasten. Der surrte nur so und gab ab und zu ein Winseln von sich, das wie ein Flehen um Erbarmen klang. »Aah! Da hängen bestimmt die Pischtschiks dran!« Sie rannte mit ihrem Turban davon.28

Hier zeigen sich meines Erachtens Anzeichen einer zwischenmenschlichen Interaktion, die in ihrer Qualität einem konsultativen, repräsentativen und demokratischen Prozess nahekommt. Die irre Zoja ist es nämlich, die die Initiative ergreift, eine Lösung für dieses potentielle Problem sucht und entsprechend handelt – im tatsächlichen zwischenmenschlichen Austausch, im Dialog mit dem Anderen. Der zwischenmenschliche Austausch nimmt allerdings weitere Dimensionen an, nämlich in Form der Außerhalbbefindlichkeit im übertragenen Bachtin’schen Sinne. Der namenlose Protagonist versucht, sein eigenes Bewusstsein durch das Bewusstsein eines Henkers und dessen Welt zu erweitern. In diesem Moment des Einfühlungsvermögens will er das Bewusstsein des Henkers in der Transgredienz vollenden und sein eigenes Bewusstsein ergänzen. Durch sein Bestre-

27 Ebd., S. 87; dt. Übersetzung S. 97. 28 Ebd., S. 87; dt. Übersetzung S. 98.

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ben, im transgredienten Moment des Sehens seinen Wissensbestand zu entfalten, entsteht in dieser Wechselbeziehung eine Spannung zwischen der Außerhalbbefindlichkeit des Protagonisten und seinem gleichzeitigen emphatischen Moment des Einfühlungsvermögens. Ein ähnliches, lediglich umgekehrtes Muster lässt sich in Charms absurdem Stück Elizaveta Bam erkennen. Hier ist es der Verfolger Ivan Ivanovič, der sich in Elizavetas Opferposition versetzt. In beiden liminalen und kreativen Momenten nehmen die Personen einen Perspektivenwechsel vor, mit dem Grenzen überschritten werden, vor allem die eigene Grenze. Es entsteht ein einfühlsamer Moment, der im folgenden Ausschnitt von Jampol’skij beschrieben wird: Я даже не видел своего палача, может быть, он жил где-то рядом на улице, ежедневно утром проходил мимо моего окна и курил папиросу. Может быть, я сидел рядом с ним в кино и смеялся или плакал вместе с ним, а он будет меня мучить и пытать, и сломает позвоночник, во имя чего, я не знаю, и он не знает, просто потому, что надо кому-то по плану сломать позвоночник, иначе все распустятся, разбалуются. Ich sah meinen Henker ja nicht mal, vielleicht wohnte er ganz in der Nähe, ging täglich, eine Papirossa im Mund, an meinem Fenster vorüber. Vielleicht saß ich neben ihm im Kino und lachte oder weinte mit ihm zusammen, und er würde mich martern und foltern und mir das Rückgrat brechen, weshalb, das wußten weder ich noch er, wohl nur deshalb, weil der Plan vorsah, es jemandem zu brechen, damit nicht alle aufmuckten und über die Stränge schlugen.29

Sowohl Charms als auch Jampol’skij vermitteln eine Allgemeingültigkeit des liminalen, transgredienten Moments in der zwischenmenschlichen Interaktion unter den uneindeutigen, unsicheren und chaotischen Umständen der neuen sowjetischen Lebensordnung und -bedingungen.

D IE 1980 ER Im Vergleich zu den repressiven 1950er Jahren manifestierte sich in den 1980er Jahren eine Entspannung sowie ein gewisses Maß an Offenheit. Diese zeichnen sich zum Beispiel in zwischenmenschlichen

29 Ebd., S. 86; dt. Übersetzung S. 95.

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Beziehungen der Kommunalkabewohnern in Vjačeslav P’ecuchs Roman Die neue Moskauer Philosophie (Novaja moskovskaja filosofia, 1989) ab. P’ecuchs erster Roman kann als eine philosophierende, Dostojevski’sche Alltagssatire im Stile von Zoščenko bezeichnet werden, die nichtsdestotrotz die tatsächlichen Verhältnisse des sowjetischen Alltags reflektiert. In seinen sozialen Satiren oder Seelendramen vereint P’ecuch das Ironische mit dem Grotesken, um moralische Defekte und Deformationen der zeitgenössischen Gesellschaft zu untersuchen. Aus der Kommunalwohnung Nr. 12 verschwindet (wie so oft auch in Bulgakovs Satiren) eine alte Dame auf mysteriöse Weise. Die in einem unaufgeklärten Schwebezustand befindliche Gemeinschaft – ein vertrauter Zustand – rätselt, verdächtigt und diskutiert, um diesen Kriminalfall aufzuklären. Die Bewohner treffen sich in der gemeinschaftlichen Küche, um zu beratschlagen, wem der freigewordene Raum zusteht. Natürlich ist keiner der Teilnehmer unvoreingenommen, und jeder hat ein Interesse daran, den eigenen Wohnraum zu erweitern. Während unter Umständen dieser Art in den 1920er und 1930er Jahren ein(e) weitere(r) Nachbar(in) verschwinden würde, und es in den 1950er Jahren einen Grund gegeben hätte, eine heuchlerische Denunziation einzureichen, gehen die Bewohner der 1980er Jahre einen, wenn auch leicht ironischen, Dialog ein, um das Problem miteinander und untereinander zu lösen: В таком случае, я вижу только один выход из положения: собраться всем миром, как в восьмидесятом году, и решить жилищный вопрос на демократических основаниях. Пусть народ решит, кому оставаться на своих местах, а кому в двух комнатах жировать. Пора, товарищи, осваивать демократию – все-таки на носу семидесятая годовщина Советской власти! In dem Fall sehe ich nur einen Ausweg: Die ganze Wohnung zu versammeln, wie damals, 1980, und die Wohnraumfrage demokratisch zu lösen. Laßt das Volk entscheiden, wer bleibt, wo er ist, und wer sich künftig in zwei Zimmern breit machen darf. Es ist an der Zeit, Genossen, sich die Demokratie anzueignen – immerhin steht der zweiundsiebzigste Jahrestag der Sowjetmacht ins Haus!30

30 P’ecuch, 1989, a.a.O., S. 248; dt. Übersetzung S. 120.

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Trotz der satirischen Elemente bezieht P’ecuch zeitgenössische politische Bewegungen in der sowjetischen Gesellschaft ein, indem die Gemeinschaft versucht, mit den Prinzipien der Glasnost und Demokratie den freigewordenen Wohnraum gerecht zu verteilen. Der kommunale Wohnraum hat Wesensmerkmale, die mit dem politischen Begriff der Glasnost verbunden werden, wie beispielsweise Offenheit und Transparenz. In diesem Roman scheint es, als ob die Mitbewohner keine Entscheidung ohne die Beteiligung der anderen treffen können. Be- und Entschlüsse werden stets unter Beratung mit den anderen Mitbewohnern gefasst, so auch im folgenden Beispiel, nachdem eine Mitbewohnerin angeblich ein Gespenst gesehen hat: Так какая эе все-таки будет резолюция этому случаю с привидением? -спросил, ни к кому отдельно не обращаясь, Генрих Валенчик и картинно сунул руки себе под мышки. А какая тут может быть резолюция… -- сказал Белоцветовю – Не эпидемстанцию же против призраков вызывать. Как справедливо заметила твоя Вера, это все же не тараканы. Резолюция будет такая, -- добавила Анна Олеговна. Крепкого чая на ночь не надо пить! »Also, was für einen Beschluss wollen wir jetzt in Sachen Gespenst fassen?« fragte Genrich Walentschik die versammelte Runde und schob effektvoll die Hände unter die Achseln. »Was für einen Beschluß denn…?« sagte Belozwetow. »Wir können doch keinen Kammerjäger gegen Gespenster rufen? Wie deine Vera ganz richtig gesagt hat, es geht hier schließlich nicht um Kakerlaken.« »Der Beschluß sieht so aus: Vor dem Schlafengehen wird kein starker Tee getrunken!« setzte Anna Olegowna hinzu.31

Es stellt sich heraus, dass das Gespenst das projizierte Foto des angeblichen Vaters der Pumpjanskaja, Sergej Vladimirovijč Pumpjanskij, Kollegienrat und Ordensträger, ist – ein Gespenst der Vergangenheit also? Wie geht man mit einem unerwünschten Gespenst oder mit einer unangenehmen Vergangenheit um, denn, wie Vera bemerkt, weder ein eigensinniges Gespenst noch eine hartnäckige Vergangenheit kann wie Kakerlaken einfach vernichtet werden? In diesem Zusammenhang

31 Ebd., S. 192f.; dt. Übersetzung S. 44.

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symbolisiert das Gespenst der Vergangenheit nicht nur die zaristische Vergangenheit oder die alte Lebensweise, deren Ausrottung in den 1920er Jahren aktiv angetrieben wurde, die aber wie ein Gespenst unentwegt immer wieder auftauchte. Es geht in der Bekämpfung der Vergangenheit außerdem um das Erbe der frühen Sowjetzeit, der Kollektivierung, der forcierten Industrialisierung, des Kriegskommunismus, der Umgestaltung des Wohnungswesens und letztendlich des Alltagslebens. Hier fordert P’ecuch seine Leser dazu auf, sich mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, genauso wie es das ›Kommunalwohnungsvolk‹ tut. Durch ihre beharrlichen Treffen und den ständigen gegenseitigen Dialog lösen die Mitbewohner zusammen den Fall: Mitja, ein Schuljunge, hat Pumpjanskijs Bild auf den Spiegel im Korridor projiziert. Bei näherer Betrachtung spielt der Spiegel in P’ecuchs Werk eine Schlüsselrolle, wenn man die metaphorische Bedeutung von Spiegeln nicht nur als (Selbst-)Wahrnehmung sieht, sondern auch, wie Umberto Eco konstatiert, als ein »Schwellenphänomen, das die Grenzen zwischen dem Imaginären und dem Symbolischen markiert.«32 In seinem Roman über die neue Moskauer Philosophie lässt P’ecuch nicht nur seine Figuren philosophieren, sondern er philosophiert selbst über die Rolle der Literatur in der russischen Gesellschaft und über die Rolle des Imaginären im Vergleich zum Symbolischen. Sein Fazit: Eine vollkommen imaginäre Geschichte wurzelt im Leben und ist letztendlich ein Modell des Lebens, das sich immer wieder wiederholt, genau wie diese Geschichte sich zum zigsten Mal wiederholt. Einleitend behauptet P’ecuch, dass за этим самым словом стоит всего лишь бездыханное отражение действительности, модель. hinter dem Wort nichts anderes als eine leblose Widerspiegelung der Wirklichkeit, ein Modell, steht.33

In der anfänglichen topographischen Beschreibung der Kommunalwohnung erwähnt er den zur Linken der Eingangstür befindlichen

32 Eco, Umberto: Über Spiegel und andere Phänomene, dtv, München 1993, S. 27. 33 P’ecuch, 1989, a.a.O., S. 165; dt. Übersetzung S. 7.

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старинное зеркало выстою чуть ли не до потолка, замутившееся от времени […]. uralten und im Lauf der Zeit blind gewordenen Spiegel […].34

Der Schuljunge, der an sich ein Zeichen der Potenz und des am Anfang seiner Entwicklung stehenden Menschen ist, bringt den blinden Spiegel wieder zum Sehen, er ist der Spiegel einer neuen Zeit: Die Jugend verkörpert die Neuzeit mit ihrem Vorwärtsdrängen. 35 Und dieser Spiegel der Vergangenheit ist es auch, der die Bewohner vereint und untereinander in Dialog treten lässt. Auch hier möchte ich auf Bachtin verweisen, dessen anthropologische Philosophie dem Dialog eine wichtige Rolle zuschreibt. Seine Theorien reflektieren generell Modelle gesellschaftlicher und zwischenmenschlicher Interaktion, und so setzt Bachtin in seinen Formulierungen Literatur und Leben gleich und suggeriert mit seiner Literaturtheorie mithin ein Lebensprogramm. Für Bachtin ist jedes Wort lediglich eine Replik im endlosen Dialog eines jeden Menschen mit allen anderen Menschen. Schließlich konstatiert Bachtin, dass der Sinnzusammenhang des Lebens dem Einzelnen nicht einfach vorgegeben ist, sondern aufgegeben. Es ist die Verantwortung des Einzelnen, selbst einen Bauplan für das architektonische Projekt der eigenen Selbst- und Weltdeutung zu entdecken und zu entwerfen – auch wenn dies in der kommunalen Gemeinschaft stattfindet. Und in diesem Sinne behauptet Valenčik aus P’ecuchs Roman: Так, только давайте, товарищи, без этого… без личностей и угрох. Тем более что все равно наши коммунальники против демократии и гласности не попрут. Побоятся они противопоставить себя народной стихии, потому что это уже будет деятельность самой враждебной пробы […]. Jetzt hört doch auf, Genossen, seid doch nicht so… lassen wir das Persönliche und die Drohungen aus dem Spiel. Um so mehr, als unsere Genossen vom Wohnverwaltungsbüro sich ohnehin nicht gegen Demokratie und Glasnost sperren können. Sie würden es nicht wagen, sich dem elementaren Volkswillen

34 Ebd., S. 172; dt. Übersetzung S. 16. 35 Vgl. ebd., S. 274; dt. Übersetzung S. 146.

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zu widersetzen, weil man das als ein äußerst schädliches Vorgehen bezeichnen müßte […].36

An dieser Stelle möchte ich an die von Trockij beschriebene Elementargewalt des Alltags erinnern, die über die Zeit ihre Kraft nicht verloren hat. Im übertragenen Sinne bedeutet hier die Elementargewalt nicht nur das Vergangene, sondern auch das Volk. Belocvetov definiert die neue Philosophie im Vergleich zur alten Moskauer Philosophie, die er unter dem Zeichen von Čaadaev einordnet, der in seinen philosophischen Briefen darauf bestand, dass aus Russland nichts Gutes komme und kommen könne. Unter der neuen Moskauer Philosophie wird die Gesellschaft vor die Aufgabe gestellt, die ethische Entwicklung weiterzubringen,37 und dies tut sie im Dialog und in Übereinstimmung miteinander. Nicht nur suchen die Mitbewohner untereinander den Dialog, sondern sie handeln präventiv. Schon vor dem eigentlichen Verschwinden der alten Dame wird aufgrund ihres fortgeschrittenen Alters über ihr Zimmer spekuliert, denn alle haben schon ihren eigenen Zwecken entsprechend in ihrem Kopf das Zimmer der Pumpjanskaja umgestaltet. Um der Möglichkeit einer Streiterei zu entgehen, schlägt einer der Nachbarn vor: […] нет, Дмитрий, пришла пора думать, а то потом, как в двадцать второй квартире, начнется изнурительная война. […] wir müssen uns schon jetzt schon darüber Gedanken machen, sonst kommt es zu einem Krieg wie in der Wohnung Nr. 22.38

Hier wird dem potentiellen Konflikt aktiv entgegengewirkt, um wegen eines Zimmers den Ausbruch eines regelrechten Kriegs zu vermeiden – ein literarischer Verweis auf Zoščenko. Ähnlich präventiv geartet, offen und fast zuvorkommend warnt Vonderjavkin seine Mitbewohner, dass er schon jetzt Material sammeln würde, um das Zimmer zu bekommen. Darauf schlägt Genrich Walenčik vor, eine Versammlung

36 Ebd., S. 252; dt. Übersetzung S. 125. 37 Vgl. ebd., S. 147. 38 Ebd., S. 177; dt. Übersetzung S. 23.

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zur Verteilung des freigewordenen Wohnraums einzuberufen, und ermahnt Vonderjavkin: А вот мы сейчас и рассмотрим коллегиально твою претензию на жилье! Или ты противопоставляешь себя общественному мнению? Имей в виду, такого оголтелого индивидуализмом не потерпим – это я тебе искренне говорю! Wir werden jetzt sofort kollegial deine Ansprüche auf den Wohnraum prüfen! Oder widersetzt du dich der Meinung des Kollektivs? Dir ist wohl klar, daß wir einen solchen zügellosen Individualismus nicht dulden werden – ich sag dir ganz offen!39

Der in diesem Roman beschriebene Kommunalkaraum ist ein sehr offener Raum, alle Angelegenheiten sind veröffentlicht, und das eigentliche, auch private Leben scheint sich ungehemmt an den Orten der gemeinsamen Nutzung abzuspielen. Zum Beispiel füllt sich die Küche aufgrund der Mittagszeit, als der kleine Mitja die kleine Ljuba um einen Gefallen bitten möchte. Sie verlegen ihr privates Gespräch in den öffentlichen Korridor, um es dort zu Ende zu führen. An einer anderen Stelle im Roman kommt Vonderjavkin unbemerkt in die Küche, wo Tšinarikov und Belocvetov sich gerade unterhalten: – О чем это вы, ребята? […] Это мы, Лев Борисович, секретничаем с Василием, вы уж нас, пожалуйста, извините… Фондервякин подозрительно посмотрел на обоих, поиграл губами и удалился. »Na, Jungs, worum geht’s denn wieder mal?« […] »Ich und Wassili, wir haben hier etwas Privates zu besprechen, Lew Borisowitsch, würden Sie uns bitte entschuldigen.« Vonderjawkin warf den beiden einen argwöhnischen Blick zu, bewegte stumm die Lippen und entfernte sich.40

Im Vergleich zu dem von Jampol’skij beschriebenen zwischenmenschlichen Austausch in öffentlichen wie privaten Räumen hat sich der Raum und die Interaktion in P’ecuchs Roman merklich entspannt. So-

39 Ebd., S. 187; dt. Übersetzung S. 36. 40 Ebd., S. 185; dt. Übersetzung S. 33.

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gar dann, als es an der Tür zu Tšinarikovs Zimmer klopft, dreht sich dieser nur zu Belocvetov, und beide fragen sich, wer denn zu dieser späten Stunde klopfen könnte. Als der Bezirksinspektor Rybkin an der Türschwelle steht, schreckt aus unerklärlichen Gründen Tšinarikov zusammen, wohl noch eine Angewohnheit aus alten Zeiten. Rybkin kommt jedoch nur, um mit ihnen über den Kriminalfall zu beraten und seine letzten Erkenntnisse weiterzugeben. Es scheinen noch andere Gewohnheiten aus früheren sowjetischen Zeiten zu existieren: Zwar beschweren sich die Bewohner über die unmenschlichen Zustände, gleichzeitig scheint es allerdings, als ob ganz Moskau in das kleine, schmuddelige Zimmerchen der Pumpjanskaja ziehen möchte. Hier manifestiert sich erneut die Ambivalenz des Raums, die speziell bei Jampol’skijs Protagonist auffällt, da er einerseits aus seinem verwahrlosten Zimmer fliehen möchte, gleichzeitig ist es aber der einzige Ort dieser Welt, an dem er zu sich findet. Vera Walenčik beispielsweise kommentiert in P’ecuchs Roman: Уже привидения в квартире завелись! Тараканов мало, так давай теперь привидения! Нет, когда же, наконец, разнесут к чертовой матери этот многоэтажный клоповник и предоставят людям благоустроенное жилье?! Jetzt machen sich auch noch Gespenster in der Wohnung breit. Die Kakerlaken reichen wohl noch nicht, da brauchen wir auch noch Gespenster! Wann zum Teufel wird dieses Wanzennest endlich abgerissen, damit wir menschenwürdige Wohnungen bekommen? 41

Und Vonderjavkin beklagt, dass er als Europäer das Leben eines Tuareg lebt. Trotz all der zwischenmenschlichen und architektonischen Unzulänglichkeiten im Wohnalltag sinnieren die Bewohner über die Verwandtschaft aller Menschen. Tšinarikov bewegt Belozvetov dazu, sich vorzustellen, dass die verschwundene Alexandra Sergejevna Pumpjanskaja vielleicht seine Tante fünften Grades sei. Darauf entgegnet Tšinarikov: Если старуху действительно уходили, то я питьесть не буду, а найду преступника и своими руками ему голову оторву!

41 Ebd., S. 192; dt. Übersetzung S. 43.

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Wenn man die Alte wirklich umgebracht hat, werde ich nicht essen und trinken, bis ich den Verbrecher gefunden und ihm den Hals umgedreht habe.42

Unter den bedrohlichen Umständen entsteht eine intimitätsstiftende Gemeinschaft unter den Kommunalkabewohnern. Es entsteht nicht nur ein kollektiver Bedeutungs- und Handlungsrahmen, sondern auch ein Gefühl der Verbundenheit, das im intimen Raum der Kommunalwohnung einerseits verdichtet und pervertiert wird, andererseits aber gleichzeitig verbündend auf andere Kommunalkabewohner der Sowjetunion übertragen werden kann – als Schicksalsgemeinschaft sind sie auf unterschiedlichen Ebenen und Dimensionen miteinander verbunden. Intimität repräsentiert in diesem Zusammenhang ein überlegenes, exklusives Wissen, ein stilles Verständnis des inoffiziellen Kodes in Bezug zum Offiziellen. Dieses Wissen fungiert zugleich als Symbol und Instrument des hierarchischen Status in der Kommunalwohnung und in der sozio-politischen Auseinandersetzung mit dem Staat. Dabei kann es natürlich zu Mehrdeutigkeiten kommen, die jedoch auf dem allgemeinen Wissen einer Schicksalsgemeinschaft basierend ausgehandelt werden, welche sich über die neuen Lebensumstände und ein sich wandelndes gesellschaftliches und kulturelles Verständnis der neuen sowjetischen Lebensweise konstituiert. Diese Basis der zwischenmenschlichen Interaktion, die sich aus rein pragmatischen und funktionalen Gründen unter den uneindeutigen Lebensbedingungen ergeben hat, scheint Wurzeln geschlagen zu haben. Als die Bewohner feststellen, dass es so gut wie unmöglich ist, den Wohnraum gerecht untereinander zu verteilen, kommt der Vorschlag, den freigewordenen Raum der Pumpjanskaja zu einer Gedenkstätte zu machen. Dieser Beschluss würde die bestimmt nicht konfliktlosen Komplikationen einer abstimmenden Wahl vermeiden: – Не под какой-то мемориал, – пояснил Василий, – а под мемориал коммунальной жизнии, вообще быта маленького салетского человека. Как хотите, товарищи, а все же это были университеты конструктивно новых

человеческих

отношений.

Спору нет:

горькие

это

были

университеты, но вадь не только от них ись кухонные драки и керосин во щах, но и та, я бы ее даже назвал, семейственность, которая покамест еще теплится в наших людях. Скажете, не так? […]

42 Ebd., S. 223; dt. Übersetzung S. 88.

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вспомните, как мы дружили в Олимпиаду! То есть я хочу сказать, что в наашей богоспасаемой двенадцатой квартире не только не было добра без худа, но и охуда не было без добра. Вот вам конкретный пример: вроде бы Петя с Любовью чужие дети, а вроде и как свои. [сказала Анна Олеговна] […] Я вообще полагаю, – сказал Белоцветов, – что коммунальный строй быта сыграл в развитии национального характера настолько большую роль, что историкам в этом деле предстоит еще разбираться и разбираться. Нет, кроме шуток: некоторым образом семейственный стиль нашей жизнии – это, как говориться, факт, и если он хотя бы отчасти следствие коммунальности, то мы должны ей сказать большое спасибо, несмотря на керосин во щах, драки и прочие безобразия. »Nicht irgendeine Gedenkstätte«, präzisierte Wassili, »sondern eine Gedenkstätte für das Leben in der Kommunalwohnung oder überhaupt für den Alltag des kleinen Sowjetmenschen.« […] »Ihr könnt denken was ihr wollt, Genossen, aber immerhin waren dies die Universitäten neuer zwischenmenschlicher Beziehungen. Es gibt keinen Zweifel, es waren bittere Lehrjahre, aber es ist etwas mehr von ihnen geblieben als Küchenzank und Kerosin in der Suppe, nämlich diese familiäre Geborgenheit – ja, so würde ich es nennen –, die man noch heute in unserem Volk finden kann. Ist es nicht so?« […] »Wißt ihr noch, wie freundschaftlich wir zur Zeit der Olympiade miteinander umgegangen sind! Ich will damit sagen, daß es in unserer gottgesegneten Wohnung Nr. 12 kein Gutes ohne Übel, aber auch kein Übel ohne Gutes gab. Hier habt ihr ein konkretes Beispiel: Eigentlich sind Petja und Ljuba nicht unser aller Kinder, aber irgendwie doch.« [meint Anna Olegovna] »Ich denke«, sagte Belozwetow, »daß das Kommunalwohnungswesen in der Entwicklung des nationalen Charakters eine dermaßen große Rolle gespielt hat, daß die Historiker noch lange Zeit über dieses Phänomen nachdenken werden. Nein, Scherz beiseite, es bleibt eine Tatsache, daß unser Leben in gewisser Weise einen familiären Stil hat, und wenn dies auch nur zum Teil eine Folge der Wohnverhältnisse ist, dann müssen wir uns bei ihnen herzlich bedanken, trotz des Kerosins in der Suppe, der Schlägereien in der Küche und anderer Gemeinheiten.«43

43 Ebd., S. 254; dt. Übersetzung S. 127f.

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Obwohl sich aus dem ambivalenten Wohnraum und Wohnalltag entsprechend ambivalente Gefühle entwickelt haben, diesen Umständen oder dem Phänomen der Kommunalwohnung an sich geschuldet, wird diese Meinung dennoch von einem Großteil des ›Kommunalwohnungsvolkes‹, aus dem ein besonderer Menschentyp hervorgegangen ist, geteilt. Hier geht es um die Frage nach praktischen Bindungen und Beziehungen im Schatten unkontrollierbarer Kräfte und Mächte, die aus den unbeständigen und fragmentierenden Lebensverhältnissen entstehen, die diese Epoche der Industrialisierung charakterisieren. Neben der Funktionalität präsentierte sich im intimen Wohnraum allerdings auch der Bedarf nach einer zwischenmenschlichen Bindung, die familiale Qualitäten aufzeigte. Laut Dewey werden »lebendige und feste Bindungen […] nur in der Vertrautheit eines wechselseitigen Verkehrs erzeugt«.44 Darüber hinaus bestätigt Dewey: In ihrem tiefsten und reichsten Sinn muß eine Gemeinschaft immer eine Sache des Verkehrs von Angesicht zu Angesicht bleiben. Das ist der Grund, weshalb die Familie und die Nachbarschaft, bei all ihren Fehlern, immer die Hauptkräfte der Erziehung geblieben sind, – die Mittel, durch die Anlagen ausgeprägt und Ideen erworben werden, welche Wurzeln im Charakter schlagen. Die Große Gemeinschaft45 im Sinne eines freien und erfüllten wechselseitigen Verkehrs ist vorstellbar. Aber sie kann niemals über alle jene Qualitäten verfügen, die eine lokale Gemeinschaft auszeichnen.46

Die lokale kommunale Gemeinschaft hatte durchaus einzigartige Qualitäten. Erstaunlich ist der Wandel, der innerhalb relativ stabiler und fester Kommunikations- und Organisationsstrukturen stattfand, die sich in den Kommunalwohnungen in den 1920er Jahren etablierten und bis Ende der 1930er Jahre weitgehend abgeschlossen waren. Diese Strukturen regulierten das Zusammenleben der Bewohner ebenso, wie sie den Kontakt zu den zuständigen staatlichen oder städtischen Behörden sicherstellten. Die Wohnungspolitik wurde zu einem wichtigen Instrument für die Bestimmung und den Aufbau der Interaktionsstrukturen zwischen dem Staat und seinen Subjekten, nachdem die sowjetischen Machthaber die sozialtechnologischen Potentiale der Kommu-

44 Dewey, a.a.O., S. 176. 45 Im Sinne einer Gesellschaft, Hervorhebung im Original. 46 Ebd., S. 175f.

B EWEGUNGEN

IN

ZEIT

UND

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nalwohnung erkannt hatten und ihre Propagierung mit ideologischpolitischen Zielsetzungen verknüpften. Trotz alledem waren es anonyme Mächte und an sie gebundene Subjekte – die hier gleichermaßen als Objekt und Akteur behandelt werden –, die unkontrollierbare soziokulturelle und politisch-ideologische Dynamiken im kommunalen Wohnraum erzeugten. In jeder Begegnung und zwischenmenschlichen Interaktion musste das Subjekt unterschiedliche Rollen – offiziell und inoffiziell – annehmen, um Machtbeziehungen zu verhandeln und um knappe Waren und Ressourcen zu kämpfen. Es existierte eine gewisse Abhängigkeit zwischen der offiziellen und inoffiziellen Sphäre in dieser Konkurrenz. Allerdings war die Aneignung und angemessene Ausführung von Wissen, das durch praktische und pragmatische Erfahrungen in der jeweiligen Kommunalwohnung gesammelt worden war, eine entscheidende Fertigkeit, um die multidimensionalen und vielschichtigen Sphären und Räume zu navigieren. Die inhärent widersprüchlichen und unbeständigen Lebensbedingungen sowie die gezwungene Intimität im kommunalen Wohnraum hatten zur Folge, dass Subjekte (arg)listige und aber zugleich konformistische Attribute dem System gegenüber annahmen. Unter diesen extremen und außergewöhnlichen Umständen mussten die Bewohner lernen, direkt oder indirekt politisch zu handeln und in gewisser Weise eine Art deliberative Demokratie im kommunalen Wohnraum zu betreiben. In diesem Sinne scheinen sowohl Jampol’skij als auch P’ecuch mit ihren literarischen Werken dem sowjetischen Alltag in seinen Extremen ein Denkmal zu setzen.

Schlussbemerkungen

Im Zuge der kulturpolitischen Entspannung während der Entstalinisierung in der Tauwetter-Periode wurden zahlreiche soziale Missstände diskutiert und durch neue Gesetze behoben. Mangelhafte Wohnverhältnisse in den Kommunalwohnungen sollten mit dem Bau privater Wohnungen kompensiert werden. Durch das von Chruščev initiierte massive Umquartierungs- und Wohnungsbauprojekt in den 1950er und 1960er Jahren stieg tatsächlich der Umfang der Wohnfläche: Es wurden 70 Millionen Wohnungen für 300 Millionen Sowjetbürger gebaut, und die durchschnittliche Wohnraumfläche pro Person verdoppelte sich zwischen 1956 und 1989 von 7,7 auf 15,8 m².1 Diese baupolitische Kampagne war ein großer Einschnitt in die Denkweise und Grundhaltung der Sowjetbürger in Bezug auf die eigene Wohnsituation: Die Perspektivenlosigkeit hinsichtlich der Wohnraumfrage wurde aufgehoben. Nicht nur für die politische Elite war es nun möglich, eine eigene Wohnung zu beziehen. Doch dies wurde zum neuen Maßstab im öffentlichen Diskurs und verursachte folglich Missmut und Unzufriedenheit bei denjenigen, die weiterhin in den Kommunalwohnungen wohnen mussten. Dieser Umstand wird von Philipp Pott als ein zentraler Bruch oder zumindest ein »entscheidender Wendepunkt in der Wahrnehmung«2 der kommunalen Wohnsituation eingeschätzt.

1

Ruble, Blair: »From Khrushcheby to Korobki« in: ders./Brumfield, William Craft (Hg.): Russian Housing in the Modern Age, Cambridge University Press 1993, 232-270, S. 232.

2

Pott, Philipp: Moskauer Kommunalwohnungen 1917 bis 1997. Materielle Kultur, Erfahrung, Erinnerung, Baseler Studien zur Kulturgeschichte Osteuopas 17, Zürich 2009, S. 151.

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In der konkreten Umsetzung scheiterte dieses überschwängliche, fast megalomanische Projekt dahingegen an seiner Größe. Die ursprüngliche Euphorie, die mit der Bereitstellung von separaten Wohnungen einherging, nahm schnell mit der niedrigen Qualität der neuen Wohnungen ab. Oft funktionierten grundlegende Sanitär- und Versorgungseinrichtungen nicht. Mit dem Umzug in die chruščeby – ein Wortspiel mit truščeby (Slums)3 – hatte sich zwar die Wohnfläche pro Kopf letztendlich vergrößert, allerdings waren die Zimmer in den chruščeby kleiner als die in den Kommunalwohnungen.4 Somit unterschieden sich die neuen Wohnverhältnisse in den 1950er Jahren und die Reaktionen der Bewohner nicht sehr von denen der 1920er Jahre. Im Vergleich zu den chruščeby hatte die Kommunalwohnung als Lebensform und soziale Institution zu dieser Zeit einen gewissen Grad an Stabilität und Normalität erreicht. Sogar im postsowjetischen Russland lassen sich Auswirkungen dieses sowjettypischen Wohnarrangements erkennen. Utechin zeigt in seiner aufschlussreichen Studie, inwiefern offizielle und inoffizielle räumliche (An-)Ordnungen sowie die soziokulturelle Praxis den Kommunalkaalltag und mithin zwischenmenschliche Beziehungen strukturiert haben und weiterhin strukturieren. Eine Vielzahl alltäglicher Verhaltensweisen lassen sich in ähnlichen außerhäuslichen Situationen erkennen. Ehemalige Kommunalkabewohner – und das war eine Mehrheit der urbanen Bevölkerung – nahmen bzw. nehmen eine besondere Kollektiv- oder Gemeinschaftsmentaliät an, die sich im postsowjetischen und außerkommunalen Raum erkennen lässt: sei dies am Arbeitsplatz oder in momentanen Gemeinschaften in der Öffent-

3

Vgl. Ruble, a.a.O., S. 240.

4

Die von Widersprüchen durchdrungenen wohnungsbaupolitischen Diskussionen der 1950er Jahre ließen weitere Unsicherheiten entstehen: Während Kosten verringert werden sollten, wurde gleichzeitig eine Verbesserung der Effizienz angestrebt. Diese Erscheinung ist kurios, da die Sowjetideologie die zentrale Planung der Marktinitiative als überlegen ansah, wenn es darum ging, menschliche Grundbedürfnisse zu erfüllen. Dabei hat die zentrale Planung weder menschliche Belange erfüllt, die der sozialistischen Ideologie wichtig waren, noch hat sie die Flexibilität oder die Belastbarkeit eines westlichen Wohnungsmarktes herstellen können. Ferner hatte die Unsicherheit weiterhin Bestand: Falls das Gebäude wirtschaftlicher genutzt werden konnte, wurde den Wohnungsmietern fristlos gekündigt. Vgl. Ebd.

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lichkeit, wie beispielsweise in der Schlange beim Bäcker oder im Zug. Utechin hat die Merkmale, die sich im kommunalen Alltagsleben entwickelt haben und in außerkommunalen Situationen Anwendung finden, folgendermaßen zusammengefasst: [К]оллектив контролирует справедливость распределения материальных и символических благ и усилий, причем нарушение доли трактуется как затрагивающее весь коллектив; взаимодействие происходит в коммуникативно прозрачном пространстве, что позволяет не только легко вступать в контакт, но и использовать эту прозрачность для повышения осведомленности друг о друге, ибо всем до всего есть дело; участники (кваси)коллектива могут рассчитывать на »человеческое« к ним отношение со стороны отдельных членов коллектива и зачастую на успех

неформальных

тактик

поведения

в

общении

с

лицами,

находящимися при исполнении служебных обязанностей.5 Das Kollektiv kontrolliert die Gerechtigkeit der Verteilung materiellen und symbolischen Wohls und erbrachter Bemühungen, wobei die Verletzung einzelner Teilnehmer so behandelt wird, als ob das ganze Kollektiv davon betroffen sei; die Interaktion findet im kommunikativ durchsichtigen Raum statt, was es nicht nur erlaubt, leicht Kontakt aufzunehmen, sondern auch diese Durchlässigkeit dazu zu nutzen, die Informiertheit über die Anderen zu erhöhen, denn alles geht jeden etwas an; jeder Teilnehmer des (Quasi-)Kollektivs kann sich auf eine »menschliche« Haltung ihm gegenüber von Seiten einzelner Mitglieder des Kollektivs verlassen und häufig auf Erfolg informeller Verhaltenstaktiken im Umgang mit Personen, die ihre dienstlichen Pflichten ausführen.

Utechins Ansicht nach ist die Kommunalwohnung unweigerlich eine kollektive Lebensform, die sich die Kommunalkabewohner angeeignet haben. Als Gemeinschaft entwickelten die Bewohner eigene Regelungen und Wertesysteme wie auch eine systematische Verteilung symbolischer und materieller Ressourcen. Mit der Zeit bildete sich eine unabhängige Gemeinschaftsform, die sich ungeachtet soziopolitischer und -kultureller Veränderungen fort-

5

Utechin, 2004, a.a.O., S. 213; eigene Übersetzung.

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setzt. Diese Form der alternativen Gemeinschaftlichkeit baut auf informellen, zwischenmenschlichen, mitunter solidarischen Beziehungen jenseits der ideologisch-politischen, offiziellen Realität auf. In diesen imaginären, alternativen (Zwischen-)Räumen der verlagerten, verlorenen Intimität findet nun die eigentliche, organische Gemeinschaftlichkeit statt. Diese interne, unabhängige, gemeinschaftliche Dynamik wird in P’ecuchs Roman Novaja moskovskaja filosofia verdeutlicht. Einerseits nach innen im zwischenmenschlichen Bereich: Или ты противопоставляешь себя общественному мнению? Имей в виду, такого оголтелого индивидуализмамы не потерпим – это я тебе искренне говорю! Oder widersetzt du dich der Meinung des Kollektivs? Dir ist wohl klar, daß wir einen solchen zügellosen Individualismus nicht dulden werden – ich sag dir ganz offen!6

Und andererseits nach außen im öffentlichen Bereich: Ну уж нет, товарищ Вострякова! […] Это вам все-таки не тридцать седьмой год, и мы не потерпим никакого ведомственного диктата. Nein, nicht mehr, Genossin Wostrjakowa! […] Wir schreiben doch immerhin nicht das Jahr 1937 und ein bürokratisches Diktat werden wir keinesfalls dulden!7

Diese Passagen reflektieren die beiden einander bedingenden, gegensätzlichen gemeinschaftlichen Grundeinstellungen: Individuelle Verhaltensweisen unterliegen generell einer sozialen Kontrolle, die allerdings mit einer informell-menschlichen, im Tönnies’schen Sinne gemeinschaftlichen Einstellung dem Individuum gegenüber vereint wird. In anderen Worten, es wird situationsbedingt und relational gehandelt. Eine alternative8 kommunale, wenn nicht transzendentale Gemeinschaftlichkeit hat sich verselbstständigt, trotz oder gerade wegen der anfänglich herrschenden transzendentalen Obdachlosigkeit. Sowohl in

6

P’ecuch, 1989, a.a.O., S. 187; dt. Übersetzung S. 36.

7

Ebd., S. 252; dt. Übersetzung S. 125.

8

Vgl. Boym, 1994, a.a.O., S. 146.

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den entterritorialisierten literarischen als auch in den territorialisierten außerliterarischen Räumen entstand eine Abhängigkeit nach innen, die sich allerdings durch eine gewisse interne Unabhängigkeit nach außen hin manifestierte. Dementsprechend stellt sich diese transzendentale Gemeinschaftlichkeit der politischen wie gesellschaftlichen Realität. Mit den gesellschaftlichen Veränderungen im postsowjetischen Raum hat die Kommunalwohnung schließlich ihren ursprünglichen, vorrevolutionären Status wieder erreicht: Mitglieder der unteren Schicht oder diejenigen, die sich aus dem einen oder anderen Grund außerhalb der erwünschten gesellschaftlichen Ordnung befinden, nehmen diese kostengünstige Wohnform in Anspruch. Erneut ist die Kommunalwohnung ein Chronotopos für die ärmeren Schichten geworden, unter denen sich neben Alkoholikern und Drogenabhängigen auch ältere Menschen befinden.9 Obwohl sich Mitglieder der älteren Generation in früheren Jahren sicherlich eine eigene Wohnung gewünscht hatten, ist für sie die Kommunalka inzwischen zu einem Heim geworden. Von Seiten der Immobilienagenturen gibt es großes Interesse daran, die verbliebenen Kommunalwohnungen aufzulösen und die wertvollen bürgerlichen Wohnungen, die sich meist in den historischen Zentren der Städte befinden, zu renovieren und an Neureiche zu verkaufen.10 Allerdings erweist sich dies als ein schwieriges Unterfangen, denn die alten Kommunalkabewohner weigern sich auszuziehen, auch wenn ihnen als Kompensation eine private Wohnung am Rande der Stadt angeboten wird. In den Kommunalwohnungen gibt es zumindest Nachbarn, die in die Kommunalkagemeinschaft integriert sind und aushelfen. An der Peripherie würden die älteren Menschen, die inzwischen meist alleinstehend sind und keine andere Wohnform kennen, unbeachtet verwahrlosen.

9

In St. Petersburg zum Beispiel lebt derzeit noch ein Fünftel der Bevölkerung in Kommunalkas. Siehe Utechin, Ilja: »Die Wohngemeinschaft als Schicksal. Kommunalwohnungen in St. Petersburg« in: Schlögel, Karl/ Schenk, Frithjof Benjamin/Ackeret, Markus (Hg.): St. Petersburg. Schauplätze einer Stadtgeschichte, Frankfurt a.M., New York 2007, 349-367, S. 366.

10 Filmisch wird dieser Prozess quasi-dokumentarisch in pereSTROIKA – umBAU einer Wohnung von Christiane Büchner (D 2008) dargestellt.

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Heutzutage werden also von der Kommunalwohnung weiterhin gesellschaftliche und institutionelle Aufgaben übernommen, indem sie unter anderem beispielsweise die soziale Funktion eines Altersheims übernimmt.11 In dieser Hinsicht spielt die in der Kommunalwohnung entstandene Gemeinschaftlichkeit, ähnlich wie in den 1970er und 1980er Jahren, als sich ein gesellschaftlich-kollektives Handeln in den privaten/öffentlichen Sphären der Kommunalka entwickelte, den Vermittler zwischen Staat und Bürgern. So durchdringt P’ecuch in seiner philosophierenden Alltagssatire mit der folgenden Passage den literarischen Raum, indem sein Held konstatiert: [В]се же это были университеты конструктивно новых человеческих отношений. Спору нет: горькие это были университеты, но вадь не только от них ись кухонные драки и керосин во щах […]. [I]mmerhin waren dies die Universitäten neuer zwischenmenschlicher Beziehungen. Es gibt keinen Zweifel, es waren bittere Lehrjahre, aber es ist etwas mehr von ihnen geblieben als Küchenzank und Kerosin in der Suppe […].12

Das als eine »anthropologische Eigenart der Ostslaven«13 benannte Kollektivbewusstsein wurde paradoxerweise durch das oktroyierte sowjetische Kollektivbewusstsein beinahe zerstört. Was blieb, war eine gemeinschaftliche Kollektivmoral, die sich aufgrund dynamischdialektischen oder dynamisch-dialogischen Beziehungen unter den extremen lebensweltlichen Verhältnissen entwickelte. Das Leben, schreibt Hartmut Böhme, ist »eine selbstregulierte und dynamische Verkörperung im Raum«.14 In diesem Sinne versteht er Architektur als ›Territorialisierungsstrategie‹, die allerdings von den Menschen, die sich in diesem Raum bewegen, verfolgt wird. Für Mi-

11 Andere gesellschaftliche Funktionen, die vom Staat nicht erfüllt werden, aber von der Lebensform der Kommunalka, sind beispielsweise die Bereitstellung von Kindergärten, Sozialwohnungen, Gemeinschaftsräumen etc. 12 P’ecuch, a.a.O., S. 254; dt. Übersetzung S. 127f. 13 Ingold, a.a.O., S. 128. 14 Böhme, Hartmut: »Raum – Bewegung – Grenzzustände der Sinne« in: Lechtermann, Christine/Wagner, Kirsten/Wenzel, Horst: Möglichkeitsräume. Zur Performativität von sensorischer Wahrnehmung, Berlin 2007, 5372, S. 57.

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chail Bachtin hingegen bildet der Dialog15 die Grundbedingung sozialen Lebens: Ich stehe in Dialog mit anderen und deshalb bin ich. In diesem Zusammenhang wird der literarische Text, der mit seinem Rezipienten in Dialog tritt (und umgekehrt: der Rezipient mit dem literarischen Text), lebendig. In einer Zeit, in der die soziale Ordnung durch die Gründung des neuen Sowjetstaates auf den Kopf gestellt und die Bedeutung des Einzelnen durch die bedingungslose Übermacht des Kollektivs ersetzt wurde, beschäftigt sich Bachtin mit der Beziehung des Einzelnen zum Anderen. Und in gewisser Weise verkörpert seine Literatur- und Kulturtheorie eine allgemeine, dem (vor allem modernen) Leben immanente Ambivalenz, indem er sich mit der Vereinigung des Entgegengesetzten in Zeit und Raum beschäftigt.16

15 Mündliche wie schriftliche oder literarische wie außerliterarische Verhandlungen bestehen aus dialogisch orientieren Äußerungen, die einander durchdringen und bestimmen. Wichtig ist dabei, dass es keinen starren Gegensatz zwischen monologischen und dialogischen Äußerungen gibt und dass auch schriftliche (literarische) Äußerungen im Prinzip den dynamischen und energetischen Charakter der mündlichen (außerliterarischen oder alltagssprachlichen) Verständigung aufweisen. Denn auch in deutlich monologischen Äußerungen kann ein latent bzw. versteckter dialogischer Charakter entdeckt werden. Auch der innerliche scheinbare Monolog des Einzelnen weist einen Dialog auf. Das Selbstgespräch bleibt nicht von Spannungen, Widersprüchen und einem Wechsel zwischen der Hörer- und Sprecherrolle verschont. Vgl. Bachtin, Michail: Probleme der Poetik Dostoevskijs, Frankfurt a.M., Berlin 1985; Jauss, Hans Robert: »Zum Problem des dialogischen Verstehens« in: Lachmann, Renate (Hg.): Dialogizität, München 1982, S. 11-24; de Man, Paul: »Dialogue and Dialogism« in: Gardiner, Michael (Hg.): Mikhail Bakhtin, Vol. III, London 2003, S. 340348. 16 In einer Zeit, in der die Menschheitsgeschichte abgewertet und zur Naturgeschichte wird, gründet Bachtin die Einheit von Bewusstsein und Tat, von Denken und Handeln, von Theorie und Praxis auf dem Prinzip persönlicher Verantwortung; vergleichbare Ansätze sind in seiner Karnevalstheorie, im Konzept der Polyphonie, in der Dialogizität, aber auch in der Beziehung des Autors zu seinem Helden zu erkennen. Vgl. Clark/Holquist, 1984, a.a.O.; Emerson, Caryl: The First Hundred Years of Mikhail Bakhtin, Princeton University Press 1997; Lachmann, Renate (Hg.): Dialogizität, München 1982.

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Das letzte Jahrhundert befand sich im Bann des Fortschrittsdenkens, die Ordnung der Dinge und der damit verbundene Diskurs wurden von zeitlichen Aspekten beherrscht. Obwohl jede Materialisierung eines Gegenstandes, eines Textes oder eines Menschen zeitliche und räumliche bzw. chronotopische Indizien besitzt, dominierten Modelle der Zeit und der Verzeitlichung von wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Prozessen. In letzter Zeit verschiebt sich allerdings die Vorstellung und Wahrnehmung von Zeit und Raum. Im Gegensatz zur vorhergehenden Epoche ist diese eine Epoche des Raumes, eine Epoche des Simultanen und der Juxtaposition. Es wird nicht mehr an ein durch Zeit entwickeltes Leben gedacht, sondern an Netzwerke, die durch Punkte verknüpft sind.17 Relationen und deren Strukturierung und Wechselbeziehung gewinnen an Bedeutung, wie auch die Anordnung des Aneinandergestellten, des Entgegengesetzten, des Verflochtenen. In den Kulturwissenschaften wird der Anspruch verfolgt, binäre Denkfiguren zu überwinden und in Beziehung zueinander zu setzen.18 Mithilfe literarischer und extraliterarischer Verhältnisse im multidimensionalen Raum der Kommunalka wurden in dieser Studie der liminale Charakter dynamisch-dialektischer oder dynamisch-dialogischer Beziehungen im Dazwischen veranschaulicht. Das Ambivalente und die dynamische Interaktion von Kräften, die gewöhnlich als sich gegenseitig ausschließend verstanden werden, wurden schon in der satirischen Literatur der 1920er und 1930er Jahre von den hier analysierten Autoren aufgegriffen. Unter diesen Ges(ch)ichtspunkten war es nicht ihr Ziel, den Kommunalkaalltag zu erzählen oder ethnographisch zu beschreiben. Die satirische und gesellschaftskritische Darstellung der Wohnraumfrage hat sich als ebenso komplex, vielschichtig, verflochten und ambivalent erwiesen wie die tatsächlichen Wohnverhältnisse im Kommunalkaraum. In der Analyse des literarischen Raums wurde deutlich, dass: • das Imaginäre und Illusorische an der Schwelle in die Zukunft nicht weniger radikal sind als die Realität;

17 Vgl. Castells, Manuel: Das Informationsalter, Bd. 1: Die Netzwerkgesellschaft, Leverkusen 2000; Sassen, Saskia: Global Networks, Linked Cities, New York 2002; Barkhoff, Jürgen/Böhme, Harmut/Riou, Reanne (Hg.): Netzwerke. Eine Kulturtechnik der Moderne, Köln 2004. 18 Vgl. Bachmann-Medick, 2006, a.a.O.

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Müll und der objektivierte Mensch als antistrukturelle Elemente die Unaufgeräumtheit der (sowjetischen) Kultur reflektieren; alternative, transgrediente, solidarische wie widerständige Identitäten unausweichlich waren und darüber hinaus systematisch wie kulturell vermittelt wurden; sich unter extremen Umständen (in)offizielle private und öffentliche Räume vereinten und ein situatives und vorbildliches Kollektiv einer intimen, solidarischen und widerständigen Wertegemeinschaft entstand.

Im eigentlichen Raum der Kommunalwohnung war es für die Bewohner notwendig, Stabilität herzustellen, die mit der Notwendigkeit verbunden wurde, sich an neue historische Umstände, gesellschaftliche Umwälzungen, neue unbeständige und widersprüchliche Lebensweisen sowie erbarmungslose architektonische Umstände anzupassen. Unter den chaotischen und unsicheren Lebensbedingungen verflüchtigten sich nicht nur die Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit, sondern auch die zwischen Gut und Böse und zwischen Wirklichkeit und dem Imaginären. In der dialogischen Kommunikation simultaner Differenz, in der Wechselbeziehung und -wirkung von Nähe und Distanz, dem Spannungsverhältnis zwischen fiktiven und nichtfiktiven Geschichten, in Abgrenzung zur und im Zusammenspiel mit einer totalen Öffentlichkeit wurden neue, alternative intimitätsstiftende Gemeinschaften und Räume geschaffen. Grenzen wurden in Schwellenmomenten im Zwischenmenschlichen ausgehandelt, (re)konzipiert, (re)konstituiert und (re)konstruiert. Dabei waren soziokulturelle und politisch-ideologische Dynamiken in die semiotisch und symbolisch organisierten kommunalen und literarischen Räume eingeschrieben und ermöglichten nicht nur eine orientierte Bewegung innerhalb, sondern auch außerhalb offizieller und inoffizieller Strukturen. Der kommunale Wohnraum in einer sich im Fluss befindlichen Lebensordnung ist ein Möglichkeitsraum, mit all seinen positiven wie negativen Auswirkungen und den damit einhergehenden Ambivalenzen, die sich in gesellschaftlicher, soziokultureller sowie in individueller Hinsicht bemerkbar machen. Es ist ein liminaler Raum, in dem Menschen die Orientierung verlieren, die Perspektive wechseln und sich verändern.

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Lettre Eva Erdmann Vom Klein-Sein Perspektiven der Kindheit in Literatur und Film Dezember 2011, ca. 200 Seiten, kart., ca. 24,80 €, ISBN 978-3-89942-583-3

Markus Fauser (Hg.) Medialität der Kunst Rolf Dieter Brinkmann in der Moderne Mai 2011, 290 Seiten, kart., 31,80 €, ISBN 978-3-8376-1559-3

Irina Gradinari Genre, Gender und Lustmord Mörderische Geschlechterfantasien in der deutschsprachigen Gegenwartsprosa August 2011, ca. 328 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1605-7

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Lettre Ursula Hennigfeld (Hg.) Nicht nur Paris Metropolitane und urbane Räume in der französischsprachigen Literatur der Gegenwart Februar 2012, ca. 250 Seiten, kart., ca. 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1750-4

Rudolf Käser, Beate Schappach (Hg.) Krank geschrieben Rhetoriken von Gesundheit und Krankheit im Diskursfeld von Literatur, Geschlecht und Medizin November 2011, ca. 378 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1760-3

Stephanie Waldow (Hg.) Ethik im Gespräch Autorinnen und Autoren über das Verhältnis von Literatur und Ethik heute Februar 2011, 182 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN 978-3-8376-1602-6

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Lettre Christiane Arndt, Silke Brodersen (Hg.) Organismus und Gesellschaft Der Körper in der deutschsprachigen Literatur des Realismus (1830-1930) April 2011, 218 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1417-6

Christine Bähr Der flexible Mensch auf der Bühne Sozialdramatik und Zeitdiagnose im Theater der Jahrtausendwende Juni 2011, ca. 364 Seiten, kart., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1557-9

Dominic Berlemann Wertvolle Werke Reputation im Literatursystem Februar 2011, 436 Seiten, kart., 38,80 €, ISBN 978-3-8376-1636-1

Evi Fountoulakis, Boris Previsic (Hg.) Der Gast als Fremder Narrative Alterität in der Literatur März 2011, 274 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1466-4

Kentaro Kawashima Autobiographie und Photographie nach 1900 Proust, Benjamin, Brinkmann, Barthes, Sebald Juli 2011, ca. 302 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1764-1

Christian Kohlross Die poetische Erkundung der wirklichen Welt Literarische Epistemologie (1800-2000) 2010, 230 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1272-1

Tabea Kretschmann »Höllenmaschine/ Wunschapparat« Analysen ausgewählter Neubearbeitungen von Dantes »Divina Commedia« September 2011, ca. 244 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1582-1

Ines Lauffer Poetik des Privatraums Der architektonische Wohndiskurs in den Romanen der Neuen Sachlichkeit Juli 2011, ca. 352 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1498-5

Mareen van Marwyck Gewalt und Anmut Weiblicher Heroismus in der Literatur und Ästhetik um 1800 2010, 314 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1278-3

Henrike Schmidt Russische Literatur im Internet Zwischen digitaler Folklore und politischer Propaganda April 2011, 738 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 43,80 €, ISBN 978-3-8376-1738-2

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