Souveränitätsprobleme der Neuzeit: Freundesgabe für Helmut Quaritsch anlässlich seines 80. Geburtstages [1 ed.] 9783428533169, 9783428133161

Die vorliegende Freundesgabe für den 80. Geburtstag von Helmut Quaritsch am 20. April 2010 befasst sich mit verschiedene

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Souveränitätsprobleme der Neuzeit: Freundesgabe für Helmut Quaritsch anlässlich seines 80. Geburtstages [1 ed.]
 9783428533169, 9783428133161

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Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 58

Souveränitätsprobleme der Neuzeit Freundesgabe für Helmut Quaritsch anlässlich seines 80. Geburtstages Herausgegeben von Hans-Christof Kraus Heinrich Amadeus Wolff

a Duncker & Humblot · Berlin

Souveränitätsprobleme der Neuzeit

Wissenschaftliche Abhandlungen und Reden zur Philosophie, Politik und Geistesgeschichte Band 58

Souveränitätsprobleme der Neuzeit Freundesgabe für Helmut Quaritsch anlässlich seines 80. Geburtstages

Herausgegeben von Hans-Christof Kraus Heinrich Amadeus Wolff

a Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten # 2010 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-5200 ISBN 978-3-428-13316-1 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 * Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Helmut Quaritsch gehört zu den wohl eindrucksvollsten deutschen Staatsrechtslehrern der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seine Neigungen und Fähigkeiten scheinen unbeschränkt zu sein: Seine Abhandlungen zum Staat und zur Verfassung weisen ihn als Staatsrechtler aus, seine Darlegungen zum Verwaltungsrecht und Verwaltungsprozessrecht als Öffentlich-Rechtler, seine Untersuchungen zur Souveränität und zu Carl Schmitt als Staatstheoretiker, seine Studien zur jüngeren Geschichte als Verfassungshistoriker und seine Beiträge zur Revolution sowie zur Wiedervereinigung als politisch denkenden Juristen. Am 20. April 2010 jährt sich der Geburtstag von Helmut Quaritsch zum 80. Mal. Viele seiner Kollegen, Schüler und Freunde haben ihm zu seinem 70. Geburtstag eine umfangreiche Festschrift gewidmet (Staat – Souveränität – Verfassung, Berlin 2000). Die vorliegende kleine Freundesgabe ist dagegen als eine persönliche Darreichung und Danksagung der sechs Autoren gedacht, die sich Helmut Quaritsch in besonderer Weise verbunden fühlen – als Kollegen und weil sie ihm vieles zu verdanken haben. Die Deutsche Hochschule für Verwaltungswissenschaften, langjährige Wirkungsstätte des Jubilars, hat, noch unter dem Rektorat von Karl-Peter Sommermann, für diese Publikation einen Druckkostenzuschuss gewährt, wofür ihr ganz herzlich gedankt sei. Passau und Frankfurt (Oder), im Februar 2010

Die Herausgeber

Inhaltsverzeichnis Piet Tommissen, Über Julien Freunds ,Entdeckung‘ von Carl Schmitt und einige ihrer Folgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Wolfgang Schuller, Souveränitätsbeschränkungen neuen Typus . . . 29 Hans-Christof Kraus, Eine Monarchie unter dem Grundgesetz? Hans-Joachim Schoeps, Ernst Rudolf Huber und die Frage einer monarchischen Restauration in der frühen Bundesrepublik . . . . . . 43 Gerd Roellecke, Menschenrechte und Souveränität erneut bedacht 71 Dietrich Murswiek, Der Grundsatz der souveränen Staatlichkeit als unabänderliches Verfassungsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 Heinrich Amadeus Wolff, Die Wehrverfassung als Beispiel eigener Souveränitätsbeschränkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

Über Julien Freunds ,Entdeckung‘ von Carl Schmitt und einige ihrer Folgen Von Piet Tommissen Als ich vom Kollegen Heinrich A. Wolff (geb. 1965) gebeten wurde, für die (zweite) Festschrift Quaritsch einen Beitrag zur Verfügung zu stellen, habe ich mich sofort einverstanden erklärt. Die Kontakte, die ich seit einigen Dezennien mit dem verehrten Jubilar pflege, sind dermaßen gut, daß von einer Ablehnung einfach nicht die Rede sein konnte. Freilich stand ich abermals dem schwierigen Problem der Themawahl gegenüber, aber gottlob ist Carl Schmitt ein unerschöpfliches Reservoir. Darüber hinaus ist Herr Quaritsch vor fünf Jahren in einem empfehlenswerten Buch des luxemburgischen Kollegen Norbert Campagna (geb. 1963) als „einer der großen Spezialisten des Werkes von Schmitt“ bezeichnet worden1. Um dieselbe Zeit lieferte der Jubilar mittelbar den Beweis der Richtigkeit der Meinung Campagnas, indem er den Stab über eine bestimmte Spielart der Sekundärliteratur in Sachen Schmitt brach. Er nahm Publikationen ins Visier, „die irgendeinen zeitgenössischen Autor zu Schmitt in Beziehung setzen, auch wenn nicht einmal gelegentliche gegenseitige Lektüre sicher ist: . . . Solche Bücher muß man nicht lesen“2. Herr Quaritsch rechnet Freund bestimmt nicht zu den von ihm gemeinten Autoren, so daß ich mich ohne Zögern für 1 N. Campagna, Le droit, le politique et la guerre. Deux chapitres sur la doctrine de Carl Schmitt, Québec (Kanada): Presses de l’Université Laval, 2004, V-176 S., in der Reihe ,Dikè‘, cf. S. 10. 2 H. Quaritsch, „Über Aktualität und Historizität Carl Schmitts“, in Carl Schmitt Studien (Rom), Nr. l, 2000, S. 93 – 111; cf. S. 96.

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eine Darstellung einiger Aspekte seines Falles entschlossen habe, die teilweise auch für die Schmitt-Forschung von Nutzen sind. Außer vom eminenten Schmitt-Forscher Günter Maschke (geb. 1943)3 wird Freund in Deutschland kaum zur Kenntnis genommen, obschon ich ihn bereits vor Jahren kurz vorgestellt4 und später die an ihn gerichteten Schmitt-Briefe fast lükkenlos ediert habe. Es ist durchaus möglich, daß die Sprachbarriere eine Rolle spielt, und im Hinblick auf diese Möglichkeit werde ich im nachstehenden Text die französischen Zitate frei, aber sinngemäß ins Deutsche übertragen. Mit meinem Thema habe ich mich bereits in spanischer Sprache befaßt5, aber der nachfolgende Beitrag ist selbstverständlich nicht identisch mit dem spanischen. Ich verwende die Kürzel J.F. = Julien Freund, und C.S. = Carl Schmitt. Zitate ohne Quellenangabe sind unveröffentlichten Briefen und Dokumenten entnommen. * Infolge wiederholter Schwierigkeiten mit der Gestapo setzte der damalige Schullehrer J.F. (1921 – 1993) sich in die sog. freie Zone Frankreichs ab und immatrikulierte sich an der 1940 nach Clermont-Ferrand verlegten Universität Straßburg. Bereits im Januar 1940 trat er der von seinem Professor Jean 3 Er betrachtet J.F. gleichzeitig als den „wirklichen Nachfolger von Carl Schmitt“ und als „den größten französischen politischen Denker des XX. Jahrhunderts“; beide Zitate in J.F., „La décomposition du droit international. Entretien avec Günter Maschke“, in Krisis. Revue d’idées et de débats (Paris), Nr. 26, Febr. 2005, S. 43 – 66; cf. S. 57. Für eine ausführliche Notiz, cf. C.S., Frieden oder Pazifismus? Arbeiten zum Völkerrecht und zur internationalen Politik 1924 – 1978 (hg. von G. Maschke), Berlin: Duncker & Humblot, 2005, XXX-1010 S.; cf. S. 918 (die ganze Seite: Kleindruck!). 4 P. Tommissen, „Julien Freund. Ein Hinweis“, in: Criticón (München), 7. Jg., Nr. 41, Mai – Juni 1977, S. 141 – 142 (Text) und 142 – 144 (die erste thematische Bibliographie). 5 P. Tommissen, „Julien Freund y Carl Schmitt. Algunos elementos para una reconstrucción de su amistad“, in: Empresas politicás (Murcia), 3. Jg., Nr. 5, 2. Semester 2004, S. 117 – 124.

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Cavaillès (1903 – 1944) mitbegründeten Widerstandsgruppe Libération-Sud (= Befreiung [Süd-Frankreich]) bei. Genau ein Jahr später gehörte er dem Freikorps Combat (= Kampf) an und nahm an Attentaten teil. Es war jedoch eine hektische Zeit: Tagsüber war er Hörer an der Universität, nachts als Mitglied der Résistance (= Widerstand) tätig. Eines Tages wurde J.F. von einer deutschen Streife gefangen genommen und inhaftiert. Er verbrachte seine Haftzeit in mehreren Gefängnissen und grübelte mit Freunden über eine ehrlichere demokratische Politik als diejenige, die das Vaterland bis zum Abgrund geführt hatte. Nach seiner Flucht aus der Forteresse von Sisteron im Juni 1944 schloß sich J.F. notgedrungen der kommunistischen Widerstandsbewegung F.T.P. (= Franc-Tireurs et Partisans Français [Französische Franktireure und Partisanen]) an. Sowohl die eherne Disziplin und die scheußlichen Ungerechtigkeiten, die er kennenlernte, als auch der Kampf um Einfluß und Macht zwischen kommunistischen und nicht-kommunistischen bewaffneten Widerstandsgruppen waren für J.F. bittere Enttäuschungen. Während des Rückzugs der deutschen Truppen, im September 1944, wurde J.F. zum Direktor der Zeitung der Résistance von Montluçon Le Mur bestellt. Er war mit dabei, als der General, bzw. der spätere Marschall Philippe Leclerc (1902 – 1947) in Straßburg einzog. Im Frühling 1945 avancierte J.F. zum Sekretär der U.D.S.R. (= Union démocratique et socialiste de la Résistance [Demokratische und sozialistische Union der Résistance]). Er wurde mit parteipolitischen Intrigen konfrontiert, u. a. anläßlich der Zusammenstellung der Wählerlisten: Sie entsprachen keineswegs der idealistischen Vorstellung, die er und einige Freunde sich in der Gefangenschaft vom politischen Betrieb nach dem Kriegsende gemacht hatten. Infolge dieser neuen Enttäuschung reichte J.F. im Juni 1946 seinen Abschied ein und unterrichtete ab September 1946 Philosophie, erst am Lyzeum Magin in Sarrebourg (hier wurde er auch Stadtabgeordneter), dann am Lyzeum Fabert in Metz. Schließlich – vier Jahre später – wurde er Titular der Oberprima in Straßburg.

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Für mein Vorhaben ist jedoch die Folge der zweiten Enttäuschung von J.F. besonders wichtig: „Es war mein Ziel, mich einer tiefschürfenden und so objektiv wie möglich, sich auf die historische Erfahrung der Menschen stützenden Studie zu widmen und eventuell meine früheren Auffassungen [über den politischen Betrieb] ganz und gar zu revidieren.“6 (A S. 16) Er studierte mit Gewinn Autoren, die sich mit dem Thema Politik auseinandergesetzt haben, vor allem Aristoteles (384 – 322 v.C.), Machiavelli (1469 – 1527), Max Weber (1864 – 1920). Von dem in seiner Studienzeit von seinen Professoren völlig vernachlässigten Aristoteles7 lernte er, daß die Metaphysik keine Wissenschaft ist und daß er die Dialektik nicht im Sinne von Friedrich Hegel (1770 – 1831) und Karl Marx (1818 – 1883) als eine Trias (Thesis, Antithesis, Synthesis) auffaßte: „Sein und Nicht-Sein sind Gegensätze. Es gibt keinen dritten Begriff, der sie transzendiert. Es gibt die Position und die Negation. Die Theorie der Gegensätze ist für die Metaphysik des Aristoteles grundsätzlich.“8 Das opus magnum von Machiavelli führte J.F. zu dem Unterschied zwischen ,Machivellisten‘ (die in der praktischen Politik aktiven Personen) und ,Machiavellianen‘ (diejenigen, die das politische Geschehen rein wissenschaftlich studieren)9. M. Weber hatte J.F. als Student in einem Buch von Raymond Aron (1905 – 1983) entdeckt10, aber der Einfluß der Lektüre der Bücher Webers war 6 J.F., „Ebauche d’une autobiographie intellectuelle“, S. 7 – 47 in: P. Tommissen und Giovanni Busino (geb. 1932) (Hg.), Etudes en l’honneur de Julien Freund [zugleich: Revue européenne des sciences sociales (Genf), 19. Jg., Nr. 54 – 55, 1981], Genf: Droz, 1981, 403 S.; cf. S. 16. 7 J.F., L’Aventure du politique. Entretiens avec Charles Blanchet [geb. 1923], Paris: Critérion, 1991, 249 S.; cf. S. 36. 8 Dennoch hat der Historiker Pierre Vidal-Naquet (1930 – 2006) ihn als einen Platonisten hingestellt: „Tradition de la démocratie grecque“, S. 7 – 44 in: Moses I. Finley (eigt. Finkelstein; 1912 – 1986), Démocratie antique et démocratie moderne, Paris: Payot, 1976, 182 S.; cf. S. 8 – 11. 9 J.F., op. cit. (FN 7), S. 37. 10 R. Aron, Introduction à la philosophie de l’histoire. Essai sur les limites del’objectivité historique, Paris: Gallimard, 1938, 335 S. (mehrere Herausgaben, einige mit Anlagen).

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dermaßen groß, daß er als der erste französische Übersetzer wichtiger Schriften des deutschen Gelehrten auf den Plan trat und als einer seiner besten französischen Interpreten gilt. Das gründliche Studium dieser und anderer Autoren sowie Überlegungen, die er während langer Wanderungen anstellte, haben J.F. zu einer logisch-konsistenten, aber noch nicht lükkenlosen Theorie verholfen11. Aufgrund des Platzmangels kann ich nur die Grundgedanken herausschälen. Das menschliche Handeln ist auf sechs ,Aktivitäten‘ (essences) zurückzuführen, ohne sie gäbe es keine Menschheit. Jede ,Aktivität‘ entspricht einer im Menschen verankerten, also universellen und unveränderlichen Tatsache, in casu einer unentbehrlichen ,Gegebenheit‘ (donnée). Diese ,Gegebenheit‘ setzt für jede ,Aktivität‘ eine oder mehrere nicht reduzierbare und sachgemäß gegensätzliche ,Voraussetzungen‘ (présupposés) voraus. Die sechs ,Aktivitäten‘ sind: das Politische, das Ökonomische, das Religiöse, das Wissenschaftliche, das Ästhetische und das Ethische. J.F. hat anfänglich auch das Juridische als eine selbständige ,Aktivität‘ aufgefaßt – bis ihm klar wurde, daß er einem Irrtum unterlag: das Juridische setzt das Politische und das Ethische voraus, hat also keine ,Gegebenheit‘! Es ist in seiner Terminologie eine ,Dialektik‘ (dialectique), genauso wie das Pädagogische, das Soziale und das Technische ,Dialektiken‘ sind. Einer ,Dialektik‘ fehlt zwar die ,Gegebenheit‘, aber sie hat wohl ,Voraussetzungen‘, die ebenfalls gegensätzlich sind. Daß alle ,Aktivitäten‘ und obendrein zwei der vier ,Dialektiken‘ einem konkreten ,Zweck‘ (finalité) entsprechen, liegt auf der Hand12. 11 Die beste Analyse dieser Theorie ist ein Vortragszyklus von J.F., Philosophie et sociologie (mit einem bio-bibliographischen Anhang von P. Tommissen), Louvain-la-Neuve: Cabay, 1985, 456 S., Nr. 6 in der Reihe ,Perspectives sur l’homme‘. 12 J.F. hat das Problem der Übersetzung der französischen Termini seiner Theorie teilweise thematisiert in seinem Aufsatz „Wie Enttäuschung zur Erfahrung führt“, in: ders., Was meinem Leben Richtung gab. Bekannte Persönlichkeiten berichten über entscheidende Erfahrungen, Frei-

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Angesichts der Tatsache, daß in diesem Beitrag lediglich das Politische zur Geltung kommt, brauche ich bloß die sich auf diese ,Aktivität‘ (essence) beziehenden Überlegungen von J.F. zusammenzufassen. Das Politische ist eine ,Aktivität‘ (essence) im oben gemeinten Sinn, denn es kann unmöglich mit einer der anderen ,Aktivitäten‘ (essences) verwechselt werden. Die ,Gegebenheit‘ (donnée) des Politischen ist ,die Gesellschaft‘ (la société), seine ,Finalität‘ dementsprechend ,die Protektion der Gesellschaft und ihrer Mitglieder‘ (la protection de la société et de ses membres). Das Politische verfügt über drei ,Voraussetzungen‘ (présupposés): Befehl und Gehorsam, Privat und Öffentlich, Freund und Feind. Es ist übrigens diese dritte Voraussetzung, die J.F. dazu verleitet hat, C.S. zu kontaktieren. ** Während des Krieges war die Straßburger Universität eine deutsche Universität. Der bedeutende C.S.-Schüler Ernst Rudolf Huber (1903 – 1990) hat dort seit 1941 gelehrt13. Als C.S.s früherer Freund und ab 1933 ,Entlarver‘ Waldemar Gurian (1902 – 1954) sich nach Kriegsende bei Goetz Briefs (1889 – 1974) nach dem Los des Gelehrten erkundigte, gab der Theoretiker der Gewerkschaften am 26. Dezember 1945 diese erstaunliche Antwort: „. . . Zu seinem [sc. C.S.s] Glück hatte ihn sogar die NS schließlich mehr oder weniger abgeschoben nach Straßburg, wo seine Rectorzeit einige Wochen dauerte, bis die 44. Div.[ision] einrückte, bei deren Stabschef mein ältester Sohn Secretär war. Von Schmitt keine Spur.“14 Der Unsinn kennt bekanntlich keine Grenzen . . .

burg i. Br.: Herder, 1982, 189 S., Nr. 940 in der Reihe ,Herderbücherei‘; cf. S. 48 – 56. 13 Über ihn, u. a. die gekürzte Bochumer Dissertation von Ralf Walkenhaus, Konservatives Staatsdenken. Eine wissenssoziologische Studie zu Ernst Rudolf Huber, Berlin: Akademie Verlag, 1997, 442 S. 14 Dieser Brief befindet sich im Institut für Zeitgeschichte (München): Signatur = ED 163 / 28 (Nachlaß Karl Otto Thieme [1902 – 1963]). Er ist

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Aber Spaß beiseite. Sofort nach dem Einmarsch der Alliierten machte sich der Pöbel an die Arbeit und warf u. a. aus der Bibliothek viele Bücher auf die Straße. Als J.F. eines Tages vorbeikam, konnte er ein anscheinend von interessierten Vorbeigängern vernachläßigtes Bändchen, in casu C.S.s Begriff des Politischen mitnehmen und es seiner Bibliothek einverleiben. Gelesen hat er es damals nicht, denn erst 1952 ,entdeckte‘ er in der Universitätsbibliothek das Büchlein von C.S., dessen Name er schon vergessen hatte. Er hat es drei oder vier Tage später im Bett gelesen und war von dieser Lektüre buchstäblich hingerissen. Einige Tage später begegnete er dem Philosophen Paul Ricoeur (1913 – 2006) und vertraute ihm sein eigenes Büchlein an. Drei Wochen später brachte Ricoeur es zurück und teilte mit, der Autor sei der Kronjurist des Nationalsozialismus gewesen und noch am Leben. Diese Auskunft hat J.F. – immerhin Mitglied der Résistance! – aufs tiefste erschüttert. Im Jahre 1956, während einer universitären Zusammenkunft, erfuhr J.F. vom Germanisten Pierre-Paul Sagave (1913 – 2006), daß der Jesuit Naphta im Roman von Thomas Mann (1875 – 1955) Der Zauberberg (1924) in physischer Hinsicht dem kommunistischen Denker Georg Lukács (geb. György Szegedy von Löwinger; 1885 – 1971)15 und in intelerstmals herangezogen worden von Dirk van Laak (geb. 1961), Gespräche in der Sicherheit des Schweigens. Carl Schmitt in der politischen Geistesgeschichte der frühen Bundesrepublik, Berlin: Akademie Verlag, 1993, 311 S.; cf. S. 34 – 35. 15 P.-P. Sagave, (a) Réalité sociale et idéologie religieuse dans les romans de Thomas Mann (Les Buddenbrooks, La Montagne magique, Le Docteur Faustus), Paris: Les Belles lettres, 1954, IV-168 S., Nr. 124 in der Reihe ,Publications de la Faculté des lettres de l’Université de Strasbourg‘ (vor allem S. 143 – 144); (b) „Huit lettres inédites de Thomas Mann“, in: Cahiers du Sud (Marseille), 43. Jg., Nr. 340, April 1958, S. 373 – 386 (vor allem S. 382 – 383). – Mann hatte Sagave vergebens gebeten, Lukács nicht zu nennen. Zum Thema vorsichtig, aber nicht ablehnend, cf. Judith MarcusTar, Thomas Mann und Georg Lukács. Beziehung, Einfluß und ,Repräsentative Gegensätzlichkeit‘, Köln / Wien: Böhlau, 1982, 208 S., Nr. 24 in der neuen Folge der Reihe ,Literatur und Leben‘ (vor allem in dem langen Zauberberg-Kapitel [S. 54 – 157], sowie S. 159 FN 4).

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lektueller Hinsicht C.S.16 ähnele. Er fügte hinzu, daß er C.S. besucht hatte, teilte sogar dessen Anschrift mit und empfahl, dem deutschen Gelehrten einen Besuch abzustatten17. Es hat aber noch drei Jahre gedauert, bis J.F. sich dazu entschloß, mit C.S. in Verbindung zu treten. Der Schlußabsatz seines anderthalbseitigen Briefes vom 4. September 1959 ist symptomatisch: „Es ist, um Ihnen die Hochachtung und die Zufriedenheit des Lesers mitzuteilen, daß ich diesen Brief abfasse, und um meinen Dank für die Freude abzustatten, die Sie mir zuteil werden ließen. Kurzum, er soll meine Dankesschuld abtragen.“18 Der Schlußsatz legt die Idee nahe, daß J.F. mit keiner Antwort gerechnet hat. Aber es traf eine Antwort ein, in der C.S. schrieb, daß das Urteil über seine persönlichen politischen Positionen unrichtig seien. J.F. betrachtete die Angelegenheit als erledigt, aber etwa drei Monate später erhielt er ein Telegramm von C.S. mit dem Vorschlag, sich am selben Tag, um 16 Uhr herum, in Colmar zu begegnen. J.F. war überrascht, aber: „Nachdem ich mich mit meiner Frau über die Risiken des Gesprächs unterhalten habe, fuhr ich mit dem Zug nach Colmar.“19 In Anwesenheit des Professors Joseph H. Kaiser (1921 – 1998), des späteren ersten Nachlaßverwalters von C.S., wurde in einem Restaurant gegessen und fleißig und offen diskutiert: „Ich verließ sie um 11 Uhr abends. Wir waren Freunde geworden.“20 Seitdem beendete J.F. seine Briefe an C.S. mit einem Freundesgruß. 16 Die Ähnlichkeit C.S.s wird auch behauptet von Toni Tholen, „Neues vom Dunkelmann Leo Naphta“, in: Heinrich-Mann-Jahrbuch (Lübeck), Nr. 8, 1990, S. 81 – 99, jedoch als problematisch hingestellt von Barbara Beßlich, Faszination des Verfalls. Thomas Mann und Oswald Spengler, Berlin: Akademie Verlag, 2002, 171 S. (dort S. 105 FN 257). 17 Diese Kontakte (Ricoeur, Sagave) erwähnt J.F. in art. cit. (FN 6), S. 29 – 30. 18 Dieser Brief findet sich in meiner Reihe Schmittiana, Brüssel: EHSAL, Bd II, 1990, 164 S., Nr. 79 – 80 in der Reihe ,Eclectica‘; cf. S. 33 – 34; der Schlußsatz ist von mir frei übersetzt worden. 19 J.F., art. cit. (FN 6), S. 30. 20 J.F., art. cit. (FN 6), S. 30.

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An dieser Stelle muß ich ein delikates Thema erörtern. Ich habe J.F. dermaßen gut gekannt, daß ich mir sicher bin, daß seine Gesinnungsänderung nur mit einer Erläuterung C.S.s über sein Benehmen im Dritten Reich zustande gekommen sein kann. Vermutlich ist das heikle Thema bereits in Colmar zur Sprache gekommen. Aber es ist später in Plettenberg Gegenstand einiger Gespräche gewesen. Bislang ist m. E. nur ein Satz von C.S. über seine braune Vergangenheit bekannt. Ich meine die Aussage, die wir dem Journalisten Jens Litten (geb. 1944) verdanken. Der hatte, zusammen mit dem C.S.Schüler Rüdiger Altmann (1922 – 2000), im Juni 1970 im 3. Fernsehprogramm des Norddeutschen Rundfunks mit C.S. über die Frage: „Ist der Parlamentarismus noch zu retten?“ diskutiert und den Gelehrten nachher in Plettenberg besucht. Über diesen Besuch hat Litten in einer Zeitung kurz Bericht erstattet. Und in diesem Bericht erwähnte C.S. seinen „Sündenfall“, begnügte sich aber mit der mageren Feststellung: „Er habe ihn begangen und nun Punkt.“21 Aus ihrer Sicht haben Leuchten der Wissenschaft den Sündenfall rekonstruiert, oder wenigstens nach ihrer Art und Weise zu rekonstruieren versucht: in Deutschland Professor Bernd Rüthers (geb. 1930), in Frankreich Professor Yves Charles Zarka (geb. 1950) [vgl. infra]22. Es befindet sich 21 „Geschmäht und auch bewunderet. Jens Litten über ein Gespräch mit Professor Carl Schmitt“, in: Deutsches Allgemeines Sonntagsblatt (Hamburg), 23. Jg. Nr. 26, 28. Juni 1970, S. 8. 22 (a) B. Rüthers, Carl Schmitt im Dritten Reich. Wissenschaft als Zeitgeist-Verstärkung?, München: Beck, 1989, 107 S. (eine ergänzte zweite Aufl. ist 1990 erschienen); cf. die Rezension von Henning Ritter in die Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. April 1991. Rüthers hat sich abermals mit dem Thema befaßt in einem Aufsatz, der zweimal unverändert erschienen ist, ohne Erwähnung des ersten bzw. des zweiten Abdrucks: „Carl Schmitts politisches Denken“, in: Die neue Ordnung (Walberberg), 54. Jg. Nr. 6, Dez. 2000, S. 435 – 450, und Zeitschrift für Rechtsphilosophie (Konstanz), 1. Jg. Nr. 1, 2002, S. 63 – 71; neuerdings hat er das Thema nochmals erörtert: „Entfesselte Jurisprudenz? Zur Wirkung Carl Schmitts“, in: Joachim Lege (Hg.), Greifswald – Spiegel der deutschen Rechtswissenschaft 1815 bis 1945, Tübingen: Mohr Siebeck, 2009, XIV554 S.; cf. S. 401 – 415. – (b) Y. Ch. Zarka, Un détail nazi dans la pensée de

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jedoch in meinem Besitz ein mit der Aufschrift „Le cas Carl Schmitt“ versehener schmaler Aktendeckel, der zwei maschinenschriftliche Texte enthält: „Notice biographique sur Carl Schmitt concernant ses rapports avec le nazisme“ (fünf Seiten) und „Le problème Carl Schmitt“ (3 Seiten). Der erste Text ist das Kapitel eines (geplanten) Buchs, denn der erste Abschnitt des zweiten Textes lautet: „In diesem Buch habe ich nur das juridisch-politische Werk von Carl Schmitt herangezogen, ohne seinen persönlichen Stellungnahmen zu den konkreten Phänomenen der täglichen Politik Rechnung zu tragen. Genauso wie das poetische Œuvre von Villon, Baudelaire oder Verlaine aus dem poetischen Blickpunkt Meisterwerke sind, unabhängig von den Abenteuern und Widerwärtigkeiten ihrer Autoren, die manchmal moralisch verwerflich sind, so ist das wissenschaftliche Œuvre von Carl Schmitt brauchbar, unabhängig von der Person, die sich zwischen 1934 und 1936 mit dem Nazi-Regime hat kompromittieren können.“ S. 4 des Textes enthält zwischen Anführungszeichen eine lange Aussage von C.S. Ich übersetzte sie vollständig, aber ohne Kommentar: Bislang habe ich [d. h. Freund] bloß eine persönliche Interpretation der Geschehnisse mitgeteilt an Hand der Dokumentation, die ein jeder verifizieren kann. Während eines Aufenthalts in Plettenberg habe ich Carl Schmitt diese Frage gestellt: „Ich kenne das Pro und das Contra und ich weiß, daß Sie das Objekt einer zähen Feindseligkeit sind. Wie lautet Ihre Meinung?“ Carl Schmitt hat mir diese Erklärung gegeben, die ein jeder interpretieren kann, wie er es versteht: „Sie sind sehr eng in die Widerstandsbewegung in Frankreich verwickelt gewesen. Was bedeuten die Dokumente, wenn Sie das Gefühl haben, gehandelt zu haben wie Sie meinten handeln zu müssen. Morgen wird man andere Dokumente gegen und für mich auftreiben. Man kennt einen Menschen nur, wenn man seine Richtschnur kennt.

Carl Schmitt, Paris: P.U.F., 2005, 96 S., in der Reihe ,Intervention philosophique‘.

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Als Hitler an die Macht kam, gab es zwei Lösungen, die sich beide justifizieren lassen: – entweder emigrieren und sein Land verlassen – oder bleiben und das Los des deutschen Volkes teilen. Ich habe die zweite Lösung gewählt, da sie meinen Überzeugungen persönlich, als Deutscher entsprach, während die erste für mich einfacher gewesen wäre, auf Grund meiner Feindschaft gegen Hitler, bevor er an die Macht kam. Demjenigen, der sich dazu entschlossen hat, in Deutschland unter Hitler zu bleiben, standen zwei Möglichkeiten gegenüber: – entweder das Gewitter vorüber ziehen lassen und mit den Wölfen heulen – oder sich für eine aktive Haltung entscheiden, mit dem Risiko sich zu kompromittieren. Ich habe die zweite, von Risiken erfüllte Haltung gewählt. Wiederum ergab sich eine andere Alternative: entweder Hitler öffentlich oder heimlich bekämpfen (es war der seltsame Fall, wenigstens bis 1943) oder mit ihm zusammenarbeiten, um zu versuchen, seine Politik zu orientieren. Ich wählte den zweiten Weg aus verschiedenen Gründen, und letzten Endes stand ich, wider meinen Willen, in der Opposition. Ich sage deutlich: ich habe den ersten Weg nicht gewählt, diesen des offenen Widerstandes; ich bin hinein geraten durch die Kraft der Dinge, weil wir verloren haben. Es ist billig, hinterher über die verschiedenen Alternativen zu streiten, die ich aufgezählt habe. Jeder hat gemäß seinem Temperament und seinen Überzeugungen reagiert, ohne daß man mit absoluter Gewißheit sagen kann, daß die eine Lösung besser gewesen wäre als die andere. Das wichtigste war – oft unbewußt – eine Richtschnur zu wählen. Die Dokumente, die sich in Ihrem Besitz befinden, verurteilen mich und andererseits sprechen sie für mich. In Wirklichkeit sind sie nur von Interesse aus einer historischen Sicht heraus, denn sie bestätigen unsere Unschlüssigkeiten, unsere Kompromisse, d. h. daß wir vielleicht einen Weg gesucht haben, der womöglich abenteuerlich war, vielleicht auch unvorsichtig und schließlich aller Wahrscheinlichkeit nach nicht angepaßt an die Persönlichkeit Hitler. Jedoch kann man solche Vorwürfe erst hinterher machen. Die einzige Sache, die ich absolut ablehne, ist die Haltung des Richters, der nach dem Ablauf eines Geschehens entscheidet, nach der Missetat oder sonstwie. Ich verweigere, mich mit denen zu messen, die nach

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Piet Tommissen dem Fall Hitlers aus dem Antinazismus ein Geschäft zu machen. Mir steht das Recht nicht zu, auf eine solche lamentabele Weise meine Freunde von Marx und Popitz23 zu verraten. Jeder Kampf geht mit Unsicherheiten und Risiken einher. Sie spielen jetzt in meinem Nachteil. Umso schlimmer für mich. Ich beschränke mich darauf, in meinem Schlupfwinkel Plettenberg über alle diese Sachen zu meditieren. Erst mit dem ,recul‘ wird die Geschichte erfaßbar. Im Moment müssen wir die Szene der Passion der ,zurücklaufenden‘ Vernunft überlassen.“

*** Bis J.F. mit seiner Dissertation fertig wurde, sind viele Jahre verflossen. Vor allem hat ihm die Voraussetzung (présupposé) Freund-Feind merkwürdige Überraschungen bereitet. Als sein Doktorvater Jean Hyppolite (1907 – 1968), Sozialist und Pazifist, im Manuskript den Satz „Politik gibt es nur, wo es einen Feind gibt“ las, entschied er: „Dann müssen Sie sich eben einen anderen Doktorvater suchen.“24 Es wurde Raymond Aron (1905 – 1983), der hinreichend mit dem Denken C.S.s vertraut war25. Er hat am 1. Oktober 1963 angeregt, die dritte Voraussetzung (présupposé) – Freund und Feind – an dritter Stelle zu diskutieren, eine Anregung, die J.F. sich zu eigen gemacht hat. Die Promotion war in mancher Hinsicht ein erstaunliches Ereignis: (a) Aron eröffnete die Sitzung folgendermaßen: „. . . Daß ein Mitglied der Résistance eine derartige Dissertation abfassen konnte, ist außergewöhnlich. Aus diesem Grunde bitte ich sie, sich zu erheben.“; (b) Hyppolite intervenierte: „So verbleibt die Freund-Feind-Kategorie als 23 (a) Wer mit ,von Marx‘ gemeint ist, weiß ich nicht. – (b) Johannes Popitz (1884 – 1945 hingerichtet) war der damalige preußische Finanzminister und seit 1929 mit C.S. befreundet. 1933 holte er C.S., der auf dem Weg nach Italien war (Urlaub), nach Berlin; cf. die Tagebuchnotizen C.S.s in: Paul Noack (1925 – 2003), Carl Schmitt. Eine Biographie, Berlin: Propyläen, 1993, 360 S.; cf. S. 170 – 177. Es stimmt also nicht, daß C.S. sich den Nazis angebiedert hat. 24 J.F., op. cit. (FN 7), S. 43 [meine deutsche Übersetzung: art. cit. (FN 26), S. 88]. 25 P. Tommissen, „Raymond Aron face à Carl Schmitt“, in meiner Reihe Schmittiana, Berlin: Duncker & Humblot, Bd VII, 2001, 418 S.; cf. S. 111 – 129.

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Definition der Politik. Sollten Sie wirklich recht haben, dann bleibt mir nichts anderes übrig, als meinen Garten zu bestellen.“; (c) J.F. antwortete: „. . . so wie alle Pazifisten der Meinung sind, daß Sie den Feind bestimmen. In dem Augenblick, da wir keine Feinde mehr haben wollen, gibt es auch keine mehr: so räsonnieren Sie. Aber Sie werden vom Feind bestimmt. . . . In dem Augenblick, da er will, daß Sie sein Feind sind, sind Sie es. Und er wird Sie daran hindern, Ihren Garten zu bestellen.“; (d) Hyppolite kapitulierte: „Ergebnis: es bleibt mir nichts anderes übrig, als Selbstmord zu verüben.“26 Die Einleitung der Buchausgabe seiner Dissertation schließt mit dem Satz: „Ich hatte zwei große Meister“; J.F. meinte Raymond Aron und C.S. 27. Seine Rolle in der Annäherung zwischen Aron und C.S. steht einwandfrei fest28: Es trifft zu, daß Aron es abgelehnt hat, für die C.S.-Festschrift 1968 einen Beitrag zur Verfügung zu stellen, aber es trifft ebenfalls zu, daß er seine Mitarbeit an der folgenden C.S.-Festschrift (1978) zugesagt hat. Dennoch hat Jean-Claude Monod (geb. 1970) nur das erste Faktum registriert – Anno 200729! Die Dissertation hat 26 Das Promotionsverfahren erzählt J.F. in op. cit. (FN 7), S. 42 – 47. Ich habe es vollständig ins Deutsche übertragen in meinem Band Schmittiana, Berlin: Duncker & Humblot, Bd IV, 1994, 304 S.; cf. S. 87 – 91. – Mit der Formel „den Garten bestellen“ schließt bekanntlich Candide ou l’Optimisme (1759) von Voltaire (eigt. François Marie Arouet; 1694 – 1778). 27 J.F., L’essence du politique, Paris: Sirey, 1965, IV-764 S. + separat einen 47seitigen index nominum et rerum, in der Reihe ,Philosophie politique‘; cf. S. 6. 28 Für die Zitate, cf. P. Tommissen, art. cit. (FN 5). 29 J.-Cl. Monod, Penser l’ennemi, affronter l’exception. Réflexions critiques sur l’actualité de Carl Schmitt, Paris: La Découverte, 2007, 192 S., in der Reihe ,Armillaire‘; cf. S. 11 (in der Einleitung); cf. die Bedenken von Zarka in Le Monde (Paris), 2. Febr. 2007, S. 2 – Von diesem Autor erschien fast gleichzeitig eine andere Studie: „La sécularisation et ses limites: entre théologie politique et positivisme juridique“, in: ders. (Hg.), Modernité et sécularisation. Hans Blumenberg, Karl Löwith, Carl Schmitt, Leo Strauss, Paris: CNRS Editions, 2007, 173 S.; cf. S. 155 – 168. Der Autor hat vor kurzem dem Thema C.S.- Peterson eine Studie gewidmet (cf. FN 37).

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jedenfalls ihren Weg gemacht: das Buch ist viermal verlegt worden und von jeder Edition hat es mehrere Auflagen gegeben; jedesmal erschienen Rezensionen. Sogar der Portugiese José Manuel Durao Barroso (geb. 1956), der Präsident der Europäischen Gemeinschaft, hat sich wohlwollend geäußert und nebenbei C.S. herangezogen . . . 30. Die von J.F. eingeleitete und von Marie-Louise Steinhauser (geb. 1924) übersetzte Schrift C.S.s Der Begriff des Politischen ist übrigens in einer von Aron herausgegebenen Reihe erschienen31. In seiner Einleitung widmet J.F. dem von C.S. gesprächsweise erörterten Unterschied zwischen ,Substanz‘ und ,Instanz‘ einen langen Abschnitt. Aber kurz bevor J.F.s Einleitung gedruckt wurde, erläuterte C.S. jenen Unterschied zum ersten Mal schriftlich, und zwar in seinem letzten Buch: J.F. konnte diese Stelle noch in einer Fußnote erwähnen. C.S. schrieb: „Ein Konflikt ist immer ein Streit von Organisationen und Institutionen im Sinne konkreter Ordnungen, ein Streit von Instanzen und nicht von Substanzen. Die Substanzen müssen erst eine Form gefunden, sie müssen sich irgendwie formiert haben, ehe sie überhaupt als streitfähige Subjekte, als parties belligérantes, einander entgegentreten können.“32 Diese Thematik bestätigt, daß C.S. und J.F. den Begriff des Politischen unterschiedlich in Angriff genommen haben, eine Tatsache, die C.S. in der soeben herangezogenen Schrift expressis verbis unterstrichen hat: „Julien Freund, L’Essence du Politique, Paris, Ed. Sirey, 1965, verwendet die Unterscheidung von Freund und Feind nicht (wie das bei mir geschieht) als Kriterium, sondern als eines der drei présupposés (drei 30 J. M. D. Barroso, „Julien Freund et la redécouverte du politique“, in: Cadmos (Genf), 4. Jg., Nr. 14, Sommer 1981, S. 29 – 35. 31 C.S., La notion de politique / Théorie du partisan, Paris: CalmannLévy, 1972, 331 S., in der Reihe ,Liberté de l’esprit‘; ich benutze die Taschenbuchedition: Paris, Flammarion, 1992, 323 S., Nr. 259 in der Reihe ,Champs‘; die „Préface“ von J.F. dort S. 7 – 38 (das Thema ,Substanz‘,Instanz‘: S. 19 – 22; cf. S. 19 FN 1). 32 C.S., Politische Theologie II. Die Legende von der Erledigung jeder politischen Theologie, Berlin: Duncker & Humblot, 1970, 98 S.; cf. S. 83.

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Begriffspaare: Befehl-Gehorsam, Privat-Öffentlich, FreundFeind), diese als wesenhafte Voraussetzungen für eine systematisch strukturierte Theorie des Politischen; vgl. dazu meinen Aufsatz Clausewitz als politischer Denker, in der Zeitschrift: Der Staat, 6 (1967), S. 500).“33 **** Es ist jammerschade, daß es J.F. nicht vergönnt gewesen ist, seine Pfeile gegen die derzeitige französische Anti-C.S.-Hetze zu richten und ebenso wenig neueren französischen Deutungsversuchen entgegenzutreten. 1. Der C.S. in Frankreich mit Verspätung zuteil gewordene Erfolg (Übersetzungen, Monografien, Artikel)34 hat den schon erwähnten Professor Zarka entweder geärgert oder beunruhigt. Jedenfalls erschien 2002 von ihm in der weit verbreiteten Zeitung Le Monde ein kurioser Artikel35. Die Quintessenz dieses Artikels hat er seitdem verfeinert, u. a. in der Zeitschrift Cités (Paris) und zu einer ,Theorie‘ ausgebaut. Ihr zufolge umfaßt die intellektuelle Produktion zwei Klassen: Werke und Dokumente. Werke übersteigen den Kontext ihres Entstehens, d. h. sie sind sowohl für die Zeit ihrer Genese als auch für die spätere Zeit relevant. Dokumente sind nur für das Verständnis der historischen Lage ihres Entstehens interessant, eventuell sogar nützlich. Also: „Hobbes ist der Autor eines Werkes, während Schmitt der Autor von Dokumenten ist.“36 33 C.S., op. cit. (N 32), S. 93 FN 4. – Tatsächlich hatte er die Differenz bereits 1967 ausführlicher erwähnt in seinem Clausewitz-Aufsatz aus dem Jahr 1967, jetzt in op. cit. (FN 3), S. 897 und S. 909, sowie im Schlußabsatz der ausführlichen Notiz von G. Maschke. 34 Cf. das informative aber bereits überholungsbedürftige Buch von Pierre Muller, Carl Schmitt et les intellectuels français. La réception de Carl Schmitt en France, Mulhouse: Editions de la FAEHC, 2003, 242 S. 35 Y. Ch. Zarka, „Carl Schmitt, nazi philosophe?“, in: Le Monde (Paris), 6. Dez. 2002. Diesem Artikel und weiteren Artikeln in der Zeitschrift Cités (Paris) liegen ein ausführliches und detailliertes Dossier von Alain de Benoist (geb. 1943) zugrunde: „L’ahurissante campagne de diffamation. Carl Schmitt et les sagouins“, in: Eléments pour la civilisation européenne (Paris), Nr. 110, Okt. 2003, S. 24 – 34. – Cf. auch FN 29.

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Es unterliegt keinem Zweifel, daß zahlreiche Schriften – besonders juridische – auf Grund eines konkreten Anlasses entstehen. Diese Feststellung gilt auch für viele Publikationen von C.S. Aber der Begriff des Politischen, das Buch über den Nomos der Erde, die Diskussion über die politische Theologie37, das Büchlein über die Werte38, ja sogar die Texte über Zarkas Steckenpferd Thomas Hobbes (1588 – 1679) sind beileibe keine Dokumente im Sinne Zarkas39. Sonst sind die Forscher und Interpreten, die sich weltweit mit diesen (und noch anderen) Büchern des Gelehrten auseinandergesetzt haben, Fachidioten (wie bestimmte Professoren 1968 von linken deutschen Studenten genannt wurden) – und das geht m. E. entschieden zu weit. Warum ist Zarka, der C.S. vorher keine einzige Zeile gewidmet hatte, plötzlich aktiv geworden? Die einzige logische Ant36 Y. Ch. Zarka, „Le mythe contre la raison: Carl Schmitt ou la triple trahison de Hobbes“, S. 47 – 70 in: Y. Ch. Zarka (Hg.), Carl Schmitt ou le mythe du politique, Paris: P.U.F., 2009, 198 S., in der Reihe ,Débats philosophiques‘; cf. S. 47 – 48. Der Autor hat seine Theorie elaboriert nach dem Erscheinen von op. cit. (FN 21, Punkt b): „Die Tatsache, daß momentan in Frankreich eine scharfe Debatte stattfindet, deutet an sich schon auf eine Änderung der Geisteshaltung hin. Ich hoffe, daß aus der Debatte eine genauere Definition hervorgehen wird, eine kritische Definition der Haltung die wir dem Text des deutschen Juristen gegenüber haben müssen.“ (S. 92). 37 In diesem Zusammenhang erlaube ich mir hinzuweisen auf einen rezenten französischen Sammelband über den Theologen Erik Peterson (1890 – 1960), mit dem C.S. sich auseinandersetzte; cf. Jean-Luc Blaquart (geb. 1948) und Bernard Bourdin o.p. (geb. 1959) (Hg.), Théologie politique: une relation ambivalente. Origine et actualisation d’un problème, Paris: L’Harmattan, 2009, 196 S.; vor allem das Kapitel von J.-Cl. Monod (cf. FN 29), S. 139 – 157: „Le débat Peterson-Schmitt: une ,polémique bien ajustée‘“. 38 Zufälligerweise ist vor kurzem in Deutschland eine französische Übersetzung dieses Büchleins erschienen und zwar als Anlage des Sammelbandes von Isabelle Koch und Norbert Lenoir (Hg.), Démocratie et espace public: quel pouvoir pour le peuple?, Hildesheim: George Olms, 2009, 268 S.; cf. S. 211 – 237: „La tyrannie des valeurs“. 39 Auf Grund seiner bibliographischen Angaben befürchte ich, daß Zarka keine blasse Ahnung hat von den vielen Publikationen und längeren Äußerungen von C.S. über bw. zu Hobbes, ja nicht mal vom Hobbes-Kristall.

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wort verdanken wir N. Campagna: „Bedenkt man, daß Zarka mehrere Bücher über Hobbes veröffentlicht hat, so versteht man, wieso er gerade an der Übersetzung von Schmitts Hobbes-Buch Anstoß nimmt: Indem das französische Publikum die Namen Hobbes und Schmitt assoziert, fällt der dunkle Schatten des zweiten auf den ersten zurück.“40 In England wird Zarkas Räsonnement jedenfalls Lügen gestraft: die Hobbes-Forscherin Gariella Slomp hat sich in einem wichtigen Buch der Partisanentheorie angenommen.41 2. Als ein Musterbeispiel der halsbrecherischen Deutungsversuche die dann und wann in Frankreich in Umlauf gesetzt werden, kommt bestimmt eine ,Filiation‘ in Betracht, die neuerdings in einem an sich lehrreichen Buch über Rassentheorien verbreitet wurde. Dem Autor zufolge sollen C.S. und sein französischer ,Diszipel‘ J.F. beim österreichischen Soziologen Ludwig Gumplowicz (1838 – 1909) in die Lehre gegangen sein42. Ich habe mich mit Peter Boßdorf (geb. 1962), dem besten Kenner dieses Gelehrten in Verbindung gesetzt und ein Exemplar seiner ungedruckten Bonner Dissertation erhalten. In dieser Dissertation lehnt der Forscher die These eines österreichischen Kollegen ab: „Sind die Übereinstimmungen zwischen Gumplowicz und Gaetano Mosca noch bemerkenswert, so sind jene mit Carl Schmitt (bzw. dessen ,Unterscheidung von Freund und Feind‘) ein Mißverständnis.“43 Tatsächlich steht die Syngenismus-These gar nicht zentral im Denken des 40 N. Campagna, Carl Schmitt. Eine Einführung, Berlin: Parerga Verlag, 2004, 333 S.; cf. S. 282 FN 17. 41 G. Slomp, Carl Schmitt and the Politics of Hostility, Violence and Terror, Basingstoke (Hampshire, Engl.): Palgrave Macmillan, 2009, VIII182 S. 42 André Pichot, Aux origines des théories raciales. De la Bible à Darwin, Paris: Flammarion, 2008, 520 S., in der Reihe ,Bibliothèque des savoirs‘; cf. S. 325 – 327. 43 P. Boßdorf, Ludwig Gumplowicz als materialistischer Staatssoziologe. Eine Untersuchung zur Ideengeschichte der Soziologie, Bonn: Universität, 2003, VIII-453 hektographierte S. Es wird die These abgelehnt, die Heimo O. Mauczka in seiner (mir nicht vorliegenden) Grazer Dissertation (1967) aufgestellt hatte.

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Soziologen; in seinem Brief vom 16. Juni 2009 trifft Boßdorf den Nagel auf den Kopf: „Interessant ist er [sc. Gumplowicz] in erster Linie als jemand, der Fragestellungen nachging, aus denen sich die Soziologie als wissenschaftliche Disziplin entwickelte.“ Es freut mich, eine Frage von Herrn Boßdorf beantworten zu können. In seinem Brief schreibt er: „Ich kann natürlich nicht ausschließen, daß Schmitt Gumplowicz zur Kenntnis genommen hat, . . .“. Jawohl, C.S. wußte um Gumplowicz, wie sich aus diesem Satz aus dem Jahr 1923 ergibt: „. . . und Gumplowicz, Soziologie und Politik, Leipzig 1892, S. 116, schreibt in voller Begriffsauflösung: „Der Charakter und das Merkmal asisatischer Kultur ist Despotismus, europäischer parlamentarisches Regime.“44 ***** Zu guter Letzt noch ein stiller Wunsch. Daß die Literatur über C.S. im allgemeinen und über seine Schrift Der Begriff des Politischen im besonderen nach wie vor anwächst, ist eine Binsenwahrheit (die französische Formel une vérité à la Palice ist eleganter). Die umgekehrte Feststellung trifft auf J.F. und sein Buch L’Essence du politique zu. Mir sind bislang nur eine unveröffentlichte flämische Diplomarbeit, zwei unveröffentlichte französische Dissertationen und eine als Buch erschienene (gekürzte) spanische Dissertation bekannt45. Wie ich 44 C.S., Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus, Berlin: Duncker & Humblot, (1923) 8. Aufl. = 1996, 90 S.; cf. S. 62 FN 1. 45 (a) Pieter Leemans, Eric Weil, Julien Freund. De tegenstelling privé / publiek. Moderniteit en totalitarisme, Löwen: Universiteit, 1990, II-146 S.; (b) Alain Cambier, Pouvoir et puissance dans la philosophie politique de Julien Freund, Lille: Université, 2000, 3 Bde = 1319 hektographierte S.; (c) Jerónimo Molina Cano (geb. 1968), Julien Freund. Le político y la política, Madrid: Sequitur, 2000, XVI-367 S., Nr. 6 in der Reihe ,Libro del proceder‘; (d) Olivier Arnaud (geb. 1961), La signification du libéralisme à partir de la philosophie politique de J. Freund, Paris: EHESS, 2001, 243 S. – Außerdem gibt es von Pierre-André Taguieff (geb. 1946), Julien Freund. Au cœur du politique, Paris: La Table ronde, 2008, 154 S., in der Reihe ,Contretemps‘.

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schon sagte, ist das Hauptwerk öfter neuaufgelegt worden, und mehrere Artikel dürfen allerdings nicht übersehen werden. Die Lage verspricht sich jedoch zu bessern. Von Herrn Tristan Storme (geb. 1984), Assistent der frankophonen Universität Brüssel, erfuhr ich, daß die Universität Straßburg der Konfliktlehre von J.F. Mitte März 2010 ein Kolloquium widmen wird (Brief vom 1. Juli 2009 + Anlage). Möge diese Initiative die längst fällige wissenschaftliche Beschäftigung mit dem Denken Julien Freunds zur Folge haben!

Souveränitätsbeschränkungen neuen Typus Von Wolfgang Schuller In Erinnerung an unsere Fahrt nach Thüringen im März 1990

I. Carl Schmitt ist der Autor, der in Heinrich August Winklers Geschichte des Westens durchgehend zitiert wird,1 gelegentlich auch indirekt. Karl Marx übertrifft ihn, was die Menge betrifft, bei weitem, aber die Berufung auf Marx beginnt – mit einer Ausnahme bei Martin Luther2 – erst mit der Industriellen Revolution in England. Schmitts Politische Theologie leitet das Buch sogar ein,3 wenn Winkler den Monotheismus, 1 Heinrich August Winkler, Geschichte des Westens. Von den Anfängen in der Antike bis zum 20. Jahrhundert, München 2009. – Es mag interessieren, daß der Autor im Vorwort mitteilt, das Buch sei geschrieben worden um zu zeigen, wie nicht nur Deutschland lange Zeit auf verschlungenen Wegen gebraucht hat, um nicht nur kulturell, sondern auch politisch „westlich“ zu werden (so aber noch der Tenor von „Der lange Weg nach Westen“, siehe Fußnote 13). 2 Winkler, Westen, S. 127. 3 Winkler, Westen, S. 26 f. – Es sei jedoch darauf hingewiesen, daß Helmut Quaritsch daran erinnert, bereits Carl Schmitt habe seinen Satz, alle prägnanten Begriffe der modernen Staatslehre seien säkularisierte theologische Begriffe, „umgekehrt“, wenn er schon in „Politische Theologie“, 1934, S. 59 / 60 sagt: „Das metaphysische Bild, das sich ein bestimmtes Zeitalter von der Welt macht, hat dieselbe Struktur wie das, was ihr als Form ihrer politischen Organisation ohne weiteres einleuchtet“; Helmut Quaritsch, Souveränität. Entstehung und Entwicklung des Begriffs in Frankreich und Deutschland vom 13. Jh. bis 1806, Berlin 1986, S. 19 Fußnote 37.

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Jan Assmann folgend, in einer bestimmten Epoche des Alten Ägypten beginnen läßt. Weiter beruft Winkler sich auf Schmitt, wenn er den Westfälischen Frieden als das „wichtigste Fundament des Jus Publicum Europaeum“ bezeichnet4 und wenn er Schmitt für seine Aussage wörtlich zitiert, die Völkerrechtslehren der spanischen Spätscholastiker, insbesondere Vitorias, hätten die Funktion gehabt, den päpstlichen Missionsauftrag und die Landnahme in Übersee zu rechtfertigen.5 Es überrascht nicht, daß bei der Behandlung von Hobbes mehrfach Schmitt zur Sprache kommt,6 aber durchaus bemerkenswert ist, daß sich Winkler selbst noch bei der Haager Landkriegskonferenz von 1907 ausführlich mit Schmitts Nomos der Erde auseinandersetzt.7 Aus der Natur der Sache ergibt es sich, wenn von den neuen Vereinigten Staaten von Amerika berichtet wird, der novus ordo saeclorum sei in das Staatswappen aufgenommen worden,8 wobei dieses Zitat aus der 4. Ecloge Vergils auch in der Gedankenwelt Schmitts gelegentlich eine Rolle spielt. Unmittelbar Schmitt meint man in dem Bericht Winklers zu hören, der britische Außenminister George Canning habe hinsichtlich der Vereinigten Staaten entschieden eine „Politik der Nichtintervention“ vertreten, „wohl wissend, daß dies auf eine andere Art der Intervention, nämlich zugunsten der Unabhängigkeitskämpfer, hinauslief“.9 Zumindest parallel mit Schmitts Wortprägung vom „dilatorischen Formelkompromiß“ ist dann die Bezeichnung des Indemnitätsbeschlusses des Preußischen Landtages von 1866 als Kompromiß mit aufschiebendem Charakter.10

Winkler, Westen, S. 125. Winkler, Westen, S. 132. 6 Winkler, Westen, S. 140, 1217 Anm. 44. 7 Winkler, Westen, S. 1010 f. 8 Winkler, Westen, S. 304. 9 Winkler, Westen, S. 492. 10 Winkler, Westen, S. 902. 4 5

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Wichtig für die Frage der Souveränität schließlich ist die Frage danach, ob und auf welche Weise Herrschaft eines Staates über einen anderen, formal souveränen, ausgeübt werden kann. In den zwanziger und frühen dreißiger Jahren variiert Carl Schmitt dieses Thema sowohl hinsichtlich der politischen und völkerrechtlichen Lage des Rheinlandes, mittelbar hinsichtlich des Völkerbundes, aber auch systematisch in Bezug auf die Formen des nordamerikanischen Imperialismus.11 In jedem Fall geht es darum, daß Herrschaft auch und vor allem nicht mehr durch militärisches Eingreifen, sondern durch subtilere Mittel ausgeübt werden und dadurch die Souveränität auf weniger sichtbare Weise eingeschränkt werden kann. Daß das ökonomisch geschehen kann, ist schon längst bewußt gewesen, Schmitt zieht zudem neben vielem anderen etwa auch die Interventionsverträge heran, die den USA legales Eingreifen in die inneren Angelegenheiten zahlreicher nach außen hin völlig souveräner lateinamerikanischer Staaten ermöglichten. Winkler nennt diese und ähnliche Mittel „informelle Vorherrschaft“ und fügt hinzu, auf sie habe sich Großbritannien schon „seit langem besser als alle seine europäischen Konkurrenten“ verstanden.12

II. Das Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg – also das, was von Deutschland übrig war – war in vielfältiger Weise das 11 Carl Schmitt, Die Rheinlande als Objekt internationaler Politik, 1925; Der status quo und der Friede, 1925; Völkerrechtliche Probleme im Rheingebiet, 1928; Die politische Lage der entmilitarisierten Rheinlande, 1930; USA und die völkerrechtlichen Formen des modernen Imperialismus; Arbeiten, die sich mit dem Völkerbund befassen: Die Kernfrage des Völkerbundes, 1924; Die Kernfrage des Völkerbundes, 1926; Der Völkerbund und Europa, 1927. Sie sind sämtlich wieder abgedruckt in Carl Schmitt, Frieden oder Pazifismus? Arbeiten zum Völkerrecht und zur internationalen Politik 1924 – 1978. Herausgegeben, mit einem Vorwort und mit Anmerkungen versehen von Günter Maschke, Berlin 2005. 12 Winkler, Westen, S. 1192, siehe auch S. 876.

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Objekt mehr oder weniger subtiler Einschränkungen der Souveränität, die bei näherem Hinsehen umso deutlicher hervortraten, je lauter verkündet wurde, nunmehr sei die volle Souveränität erreicht worden. Was die Bundesrepublik mit dem Beinamen Deutschland betraf – negativ gedeutet und weithin so verstanden als Verzicht auf alles, was jenseits der Zonengrenze lag, positiv als Kernstaat eines zukünftigen wiedervereinigten Restdeutschland –, so sei auf die Pariser Verträge hingewiesen, die am 5. Mai 1955 in Kraft traten. Mit ihnen wurde die Bundesrepublik souverän, wie es allenthalben hieß.13 Allerdings mußte die Bundesrepublik verschiedene Abkommen schließen, an die die Gewährung der Souveränität geknüpft war – „Junktim“ war ein Begriff, der zu dieser Zeit weite Verbreitung fand. Dazu gehörte etwa die Aufstellung einer westdeutschen Armee, deren Bewaffnung aber eingeschränkt zu sein hatte, die Bundesrepublik trat gleichzeitig der NATO bei und mußte mit Frankreich ein Abkommen schließen, das das Saargebiet als Saarland von (West-) Deutschland abtrennte.14 Zudem war die Gewährung der Souveränität selbst nicht vollständig: Sie bezog sich nicht auf „Deutschland als Ganzes“ und auf Berlin,15 in Bezug worauf die Bundesrepublik also keine eigenständige Politik treiben durfte oder besser: konnte. So wünschenswert diese Regelungen gewesen sein mochten – mit Ausnahme des Saar-Abkommens, das alsbald durch die Entscheidung der Saar-Bevölkerung obsolet wurde –, so sehr bedeuteten sie gleichzeitig, daß die Bundesrepublik nur „begrenzt souverän“ war,16 wobei sich die Frage stellt, ob eine eingeschränkte und unter Bedingungen von anderen Mächten 13 Rudolf Morsey, Die Bundesrepublik Deutschland. Entstehung und Entwicklung bis 1969, München 2000, 4. Aufl., S. 38 – 40; Heinrich August Winkler, Der lange Weg nach Westen. Zweiter Band. Deutsche Geschichte vom „Dritten Reich“ bis zur Wiedervereinigung, München 2005, 6. Aufl., S. 164 – 166. 14 Morsey, a. a. O. 15 Morsey, S. 39; Winkler, Weg, S. 164. 16 Morsey, S. 40.

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verliehene Souveränität überhaupt so bezeichnet werden kann. Diese Frage stellt sich umso mehr, als im Zuge der Wiedervereinigung als Errungenschaft gefeiert wurde, daß die durch den Beitritt der DDR neu gebildete Bundesrepublik – die nun den Namen Deutschland zu Recht führte – nunmehr souverän sei, was sie angeblich schon seit über dreißig Jahren war. Doch mag das hier auf sich beruhen bleiben.

III. Deutlicher und doch qualitativ anders stellt sich die Sachlage im Fall des wenig dauerhaften Staates Deutsche Demokratische Republik dar. Nach außen wurde ihm nach seiner Gründung in ähnlichen allmählichen Schritten wie der Bundesrepublik allerlei Rechte bei gleichzeitiger vertraglicher Einbindung in überstaatliche Organisationen Ost- und Ostmitteleuropas verliehen, einschließlich der Aufstellung bei gleichzeitiger Integrierung einer Armee in das Militärbündnis Warschauer Pakt.17 Darauf kam es aber nur in zweiter Linie an. Die entscheidenden Vorgänge fanden nämlich andernorts statt. Schon die Gründung dieses in vielerlei Beziehung künstlichen Staates geschah durch eine Instanz, die seine weitere Existenz – und Nichtmehrexistenz – in ausschlaggebendem Maße bestimmte. Das war zunächst die deutsche kommunistische Partei, genannt Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, SED; sie wurde dann jedoch ihrerseits maßgeblich bestimmt durch die Kommunistische Partei der Sowjetunion, KPdSU. Es soll nicht verkannt werden, daß die politische Struktur auch Westdeutschlands im Großen derjenigen der anderen westlichen Staaten entsprach, die sich, ebenfalls großzügig gerechnet, in der NATO zusammengeschlossen hatten. Das Charakteristikum dieser Entsprechung bestand aber darin, daß – im Rah17 Hermann Weber, Die DDR 1945 – 1990, München 2000, 3. Aufl., S. 47.

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men des praktisch Denkbaren – die unterschiedlichen politischen und sozialen Kräfte frei miteinander konkurrierten und gegenseitig ihre Kompatibilität anerkannten. Natürlich gab es unterschiedliche und unterschiedlich gewichtige politische und auch wirtschaftliche Machtzentren, natürlich hing viel von den internen Entscheidungen verschiedener politischer Parteien ab, aber ein einziges Zentrum, eine einzige Partei, die die Politik vorgegeben hätte, gab es nicht. Das war anders in dem Teil Europas, in dem nach dem Zweiten Weltkrieg die KPdSU vermittels der jeweiligen kommunistischen Parteien die Herrschaft ausübte, und das war entscheidend für die Frage der jeweiligen Souveränität und somit auch derjenigen der DDR. Gewiß war es nicht so, daß die KPdSU immer nur befahl, und die anderen Parteien hatten alles auch im Detail auszuführen, und ebenfalls herrschte keine Uniformität in Bezug auf die jeweilige konkrete Ausprägung der nationalen kommunistischen Herrschaft. Je größer der sowjetische Herrschaftsbereich außerhalb der UdSSR wurde und je krisenanfälliger er daher wurde, umso mehr mußte auch verhandelt werden, und Parteien wie der polnischen und der rumänischen gelang es, eine jeweils besondere Stellung einzunehmen, ja, selbst die SED bildete sich gelegentlich ein, sie könne den sowjetischen Genossen Lehren erteilen. Alles geschah jedoch immer noch unter Anerkennung einer enger oder weiter gefaßten Vorherrschaft der sowjetischen Partei. Die deutsche Partei – und damit ihr Staat, die DDR – war in besonderer Weise von der sowjetischen Partei und deren Staat abhängig. Schon in der Weimarer Republik hatte sich eine fast sklavische Unterordnung unter die sowjetische Partei und deren Instrument, die 1919 geschaffene Komintern – Kommunistische Internationale – herausgebildet. Schon zu Beginn der zwanziger Jahre war es die Komintern durch ihr sowjetisch beherrschtes Exekutivkomitee – EKKI – , die die Politik der KPD maßgeblich lenkte und ihr sogar konkrete Anweisungen erteilte. Das nahm in dem Maße zu, in dem die innersowjetischen Machtkämpfe zu einer Alleinherrschaft Stalins führten,

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der direkt auch in die Personalpolitik der deutschen Kommunisten eingriff. Auf diese Weise wurde etwa der Hamburger Ernst Thälmann zum Führer der KPD, und um ihn entwikkelte sich ein Personenkult, der dem Stalins in der UdSSR entsprach. Immer schon hatten zudem die deutschen Kommunisten überdeutlich in aller Öffentlichkeit die nachgeordnete Rolle ihrer Partei gegenüber der sowjetischen verkündet, die immerhin die erste sozialistisch-kommunistische Revolution zum Siege geführt habe. „Sowjetdeutschland“ war das proklamierte Ziel, und der offizielle Kampfruf der deutschen Kommunisten lautete „Heil Moskau“.18 Den deutschen Kommunisten, die mit der siegreichen Roten Armee aus der Moskauer Emigration wieder nach Deutschland zurückkamen und in der Sowjetischen Besatzungszone und dann in der von ihnen geschaffenen DDR die Macht ergriffen, war all das in Fleisch und Blut übergegangen. Vor allem aber war es der sowjetischen Seite selbstverständlich, daß sie, und zumeist Stalin selbst, gefragt oder ungefragt die Befehlsgewalt hatten. Das sowjetische Herrschaftssystem einschließlich des schon psychopathischen Stalinkultes wurde eingeführt, sowjetische Partei- und Staatsstellen erteilten zunächst sogar detaillierte Anweisungen, und erst allmählich ergab sich schon aus praktischen Gründen die Möglichkeit einer begrenzten Eigeninitiative. Das sowjetische System wurde in der Weise übernommen, daß, wie in der Sowjetunion selbst, nicht nur im Sinne eines Doppelstaates die Partei über den Staat gelegt, sondern daß der Staat (-sapparat) selbst von der Partei geschaffen wurde und von ihr durchdrungen war.19 18 Siehe Eberhard Kolb, Die Weimarer Republik, München 1998, 4. Aufl., S. 47, 214, 215, 254, 332, 423, 449, 460 und Heinrich August Winkler, Weimar 1918 – 1933. Die Geschichte der ersten deutschen Demokratie, München 1998, 3. Aufl., S. 214, 350, 399, 423, 449. 19 Siehe Helmut Quaritsch, Positionen und Begriffe Carl Schmitts, München 1995, 3. Aufl., S. 37 Fn. 56: „Die offenen und versteckten Kollisionen zwischen Partei und Staat waren bekanntlich vom ersten bis zum letzten Tage des Dritten Reiches ein Dauerthema . . . In den kommunistischen Staaten war dieser Gegensatz kaum spürbar, weil zu Beginn der

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Die Partei war die herrschende Instanz, sei es unmittelbar, sei es vermittels des Staates. All das galt in unterschiedlicher Ausprägung für alle kommunistisch regierten Staaten, sowohl im Inneren als auch hinsichtlich der letztlichen Unterordnung unter die sowjetische Partei und damit die UdSSR. Natürlich hatte im Verhältnis der kommunistischen Parteien untereinander ein Begriff wie der der Souveränität keinen Platz. Die Abhängigkeit von der sowjetischen Partei war etwas Selbstverständliches, jedoch ließen die Erfordernisse der konkreten Politik die Durchsetzung dieses Anspruches nicht reibungslos vor sich gehen. Das zeigt sich, kurz und beispielhaft benannt, in der Art und Weise, in der gegen gelegentliches Aufbegehren vorgegangen wurde. Dem Aufstand des 17. Juni 1953 in der DDR wurde sozusagen in sehr elementarer Weise begegnet: Die sowjetische Besatzungsmacht fragte die DDRPartei und -Regierung nicht, sondern unterdrückte ihn durch militärisches Vorgehen. Anders war es bereits bei dem ungarischen Aufstand im Herbst 1956. Die jetzt zugänglichen Aktenfunde zeigen, wie intensiv im Moskauer Politbüro über das Vorgehen diskutiert und zunächst durchaus auch die Aufgabe Ungarns ins Auge gefaßt wurde.20 Dennoch wurde die militärische Niederschlagung begleitet von einem inszenierten Hilferuf aus der ungarischen Partei unter dem nach Moskau gebrachten János Kádár, so daß hier besonders deutlich die Abhängigkeit von der sowjetischen Partei zutage trat. Strukturell ähnlich verhielt es sich dann zwölf Jahre später in der Tschechoslowakei. Es gab sich lange hinziehende quälende Gespräche nun nicht mehr nur im Politbüro, sondern mit den meisten Parteiführern der kommunistisch regierten Staaten, und das schließliche militärische Eingreifen eines Teils dieser Staaten unter sowjetischer Führung wurde wieder durch den Hilferuf einer Gruppe der tschechoslowakischen kommunistischen Herrschaft die alten Verwaltungs- und Gerichtsstrukturen zerschlagen und das Personal gänzlich ausgewechselt wurden.“ 20 Géza Alföldy, Ungarn 1956. Aufstand, Revolution, Freiheitskampf, Heidelberg 1998, 2. Aufl., S. 96 – 101.

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Partei gerechtfertigt. Um diese Zeit wurde die eingeschränkte Souveränität der Staaten des Ostblocks mit einer neuen Bezeichnung charakterisiert, die offiziell nie beschlossen worden war. Sie wurde nach dem Generalsekretär der sowjetischen Partei Leonid Iljitsch Breshnew Breshnew-Doktrin genannt und hatte zum Inhalt, daß die Sowjetunion eingreifen werde, wenn einer dieser Staaten die Gemeinschaft dieser Staaten, den Warschauer Pakt, verlassen wollte, selbst wenn das dem Wortlaut des Paktes nach möglich gewesen wäre. Die polnischen Unruhen 1981 dann wurden dadurch unterdrückt, daß nach ausgiebigem Taktieren innerhalb des Ostblocks der General Jaruzelski das Kriegsrecht verhängte – seine wichtigere Funktion war aber die des Generalsekretärs der polnischen Partei, so daß es nicht nötig war, sich durch eine kleine Gruppe zu Hilfe rufen zu lassen; diese Aufgabe erfüllte die polnische Partei selbst. Mit dem 1985 neu bestellten sowjetischen Generalsekretär Gorbatschow änderte sich die Situation. Die innersowjetischen Schwierigkeiten nahmen in einem Maße zu, daß die unmittelbare Herrschaft außerhalb der Sowjetunion zur Belastung zu werden schien. Ganz allmählich scheint sich Gorbatschow dazu entschlossen zu haben, nicht mehr außen einzugreifen. Ein Beispiel ist der Beschluß des ungarischen Zentralkomitees vom Februar 1989, die eigene Herrschaft durch ein Mehrparteiensystem mit freien Wahlen aufzugeben. Gorbatschow akzeptierte diese Abkehr vom Kommunismus dadurch, daß er dem Ministerpräsidenten Németh versicherte, solange er Generalsekretär sei, werde es kein 1956 geben.21 Dabei ist aber zu beachten, daß ein derartiges Eingreifen wegen des Ausscherens aus dem aparterweise so genannten sozialistischen Lager im Prinzip immer noch militärisches Eingreifen gerechtfertigt hätte, und daß Gorbatschow den Verzicht darauf in einer einseitigen persönlichen Äußerung erklärte und von seinem offensichtlich prekären Verbleiben in 21

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Wolfgang Schuller, Die deutsche Revolution 1989, Berlin 2009, S. 63,

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der Position des Generalsekretärs abhängig machte, das sich ja ändern konnte. Die sowjetische Partei verzichtete anscheinend endgültig auf die eingeschränkte Souveränität der kommunistisch regierten Staaten auf einem Treffen aller Parteien im August 1989 in Bukarest.22 Die dort verabschiedete Erklärung proklamierte das Recht einer jeden Partei, ohne Einmischung von außen ihren eigenen Weg zu gehen. Skepsis war dennoch angebracht, weil ähnliche Erklärungen seit Jahrzehnten abgegeben worden waren, und nur die allgemeine politische Lage erhöhte die Wahrscheinlichkeit, daß diese zukünftige Respektierung der Souveränität ernst gemeint sei. Dennoch gab es weiterhin die Auffassung, daß die Souveränität weiter eingeschränkt bleiben solle, etwa wenn der Oberbefehlshaber der sowjetischen Truppen in Deutschland, Armeegeneral Snetkow, dem Generalsekretär Egon Krenz versicherte, „daß die Waffenbrüderschaft zwischen den Angehörigen der Westgruppe und der Nationalen Volksarmee vertieft und der Bruderbund zwischen beiden Armeen gefestigt werden“, und „sollte es Provokationen geben“ – so Krenz –, sei „die Westgruppe bereit, ihre Verpflichtungen gegenüber der DDR zu erfüllen“; „Die Westgruppe der Sowjetischen Streitkräfte wird unter allen Bedingungen ihre internationalistischen Aufgaben in der DDR erfüllen.“23 Immerhin bekräftigte die Zusammenkunft in Bukarest zum letzten Mal, daß es immer noch in letzter Instanz die Partei war, die auch über diese Fragen die Entscheidung traf – entsprechend der für Carl Schmitts Denken entscheidenden Frage quis iudicabit?

Ehrhart Neubert, Unsere Revolution, München 2008, S. 28. Egon Krenz, Herbst ’89. Mit einem aktuellen Text, Berlin 2009, S. 197, 281. 22 23

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IV. Carl Schmitt hatte in den Nachkriegsjahrzehnten seltsamerweise von der Existenz der DDR wenig Kenntnis genommen. Wie Ernst Jünger ging ihm, aus den Briefwechseln und dem Glossarium zu schließen, die Abtrennung Ostdeutschlands und die zum Teil mörderische Vertreibung von dessen Bewohnern, die kommunistische Herrschaft in dem, was dann die DDR wurde und die daraus folgende Teilung Restdeutschlands anscheinend wenig zu Herzen – daß Mecklenburg, Magdeburg, die historische Mitte und der Ostteil Berlins – mit der Handelshochschule und der Universität –, Weimar, Leipzig und Dresden so gut wie unzugänglich geworden und von Westdeutschland abgeschnitten waren, darunter hat er nicht gelitten. Die intellektuellen Kämpfe, die er ausfocht, bezogen sich auf die Weimarer und die nationalsozialistische Vergangenheit oder auf die bundesrepublikanische Gegenwart als einer Fortsetzung dieser Epochen. Er war, womöglich hätte er diese Bezeichnung als Schmähung empfunden, völlig zum Bundesrepublikaner geworden. Sie trifft aber zu. Damit hängt es wohl zusammen, daß er wie die meisten anderen auch die seltsame Struktur des politischen Lebens dort nicht wahrgenommen hatte. Nach außen hin wurde durchaus Staat gespielt, mit allen Attributen neuzeitlicher Staatlichkeit, mit Verfassung, Gesetze beschließendem Parlament, anscheinend normaler Gerichtsbarkeit, und neben vielem anderen auch mit einer eigenen Armee, die sogar eigene charakteristische Uniformen trug. Der Staat nahm normalen diplomatischen Verkehr auf, schloß Verträge, darunter auch Bündnisverträge wie andere Staaten auch. Daß über allem und auf allen Ebenen die Partei mit ihrer Organisation stand und in allem die letzte – oft auch erste – Entscheidung hatte, geriet nicht ins Bewußtsein Carl Schmitts und auch der meisten, die sich mit der DDR beschäftigten. Auch jetzt noch werden die politischen Entscheidungen und Entscheidungsprozesse in der DDR zu sehr nach dem beurteilt, was nach außen hin Staat spielte.

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Nicht beachtet wird nämlich, daß über den geschriebenen Gesetzen immer noch der Wille der Partei stand, am makabersten am DDR-Grenzregime zu sehen: Das offizielle und im Gesetzblatt veröffentlichte Grenzgesetz unterschied sich kaum von rechtsstaatlichen Gesetzen dieser Art, es kam aber auf die von der Partei vorgegebene mündliche Instruktion der Grenzsoldaten an, die weit eher auf das „Vernichten“ von Flüchtlingen abstellte. Auch die Personen, die als Richter zu Gericht saßen, sollten in erster Linie Parteifunktionäre sein und handelten in wichtigen Fällen auch danach. Am krassesten ist die komplette Irrelevanz des geschriebenen Rechts gegenüber dem Willen der Partei daran zu sehen, daß nahezu die gesamte Tätigkeit des Ministeriums für Staatssicherheit nach dem Strafgesetzbuch strafbar gewesen wäre.24 Wenn Anfang Dezember 1989 mit großem publizistischen Aufwand der Artikel aus der Verfassung gestrichen wurde, der die führende Rolle der Partei festlegte, dann wird vergessen, daß vor dem Inkrafttreten dieser Verfassung die schlimmste Phase der Parteidiktatur unter Ulbricht herrschte, die sehr gut ohne einen solchen Artikel ausgekommen war. Genauso ist die Gewährung der Souveränität für die sozialistischen Staaten zu bewerten. In allen offiziellen staatlichen Dokumenten war sie festgeschrieben, darüber stand aber der Wille der Partei, von der die anderen abhingen, und der dann, wenn es ernst wurde, das Entscheidende war. Ich habe schon vor langer Zeit diesen Sachverhalt als „Parteivorbehalt“ gekennzeichnet. 24 Wichtige Bestimmungen, gegen die systematisch verstoßen wurde, jetzt abgedruckt bei Klaus Marxen und Gerhard Werle (Hrsg.), Strafjustiz und DDR-Unrecht. Band 7: Gefangenenmisshandlung, Doping und sonstiges DDR-Unrecht, Berlin 2009, S. 466 – 471; siehe die ausführliche Expertise von Wolfgang Schuller, Repressive Strukturen in der SBZ / DDR – Strategien der Zersetzung durch Staatsorgane der DDR gegenüber Bürgern der DDR und Möglichkeiten strafrechtlicher und rehabilitationsrechtlicher Bewältigung, in: Deutscher Bundestag (Hrsg.), Materialien der Enquete-Kommission „Überwindung und Folgen der SED-Diktatur im Prozeß der deutschen Einheit“, Band II / 1, Baden-Baden 1999, S. 251 – 288.

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Das ist eine strukturell andere Situation gegenüber allen anderen Formen der Souveränitätseinschränkung und der indirekten Herrschaft, wie sie – nicht nur – in der neuzeitlichen Geschichte an vielen Stellen anzutreffen sind und wie sie Carl Schmitt und ganz zuletzt Hermann August Winkler geschildert oder benannt haben. Sie beruhte auf der a priori gegebenen Unterordnung aller staatlichen Gewalt unter die der Partei, die das Grundelement der öffentlichen Gewalt war. Das wäre schon damals – vor zwanzig Jahren und früher – wert gewesen, analysiert zu werden, mit Begriffen, die nicht mehr denen des üblichen Staatsrechts gewesen wären. Eine damals vorgenommene Analyse wäre jedoch auf die große praktische Schwierigkeit gestoßen, daß die kommunistischen Staaten doppelgleisig verfuhren. So unverhüllt sich der Vorrang der Partei als erste und letzte Instanz darbot, so extrem gesetzespositivistisch operierte das, was sich als Rechtswissenschaft gab.25 Dort kam die Partei nicht vor. Das hatte auch den Sinn, je nach taktischer Situation argumentieren zu können, wie die Darstellung des Grenzregimes mit der ausschließlichen Hervorhebung des Grenzgesetzes am besten demonstriert. Dasselbe gilt für die Souveränität der kommunistisch regierten Staaten. In allen staatlichen Texten war jeder dieser Staaten im traditionellen Sinne souverän, aber gleichzeitig war es die sowjetische Partei, die in unterschiedlicher Intensität, jedesmal aber offen und selbstverständlich das jeweilige Ausmaß dieser Souveränität bestimmte. Es war, wie alle anderen rechtlichen Institute auch, eine Souveränität neuen Typus, um die für die kommunistische Partei verwandte Bezeichnung abzuwandeln. Zwar hat sich das seit 1989 / 1991 erledigt. Eine Aufgabe wäre es gewesen unter rechtswissenschaftlichen Gesichtspunkten das Verhältnis zwischen der tatsächlichen und durchorganisiert-of25 Ich bestreite den Wissenschaftscharakter dessen, was in der DDR Rechtswissenschaft hieß. Ein Mindesterfordernis – notwendig, nicht hinreichend – für jede Wissenschaft ist die offene Diskussion von Problemen und Streitfragen. Der Inhalt der wenigen DDR-Zeitschriften mit diesem Anspruch zeigt, daß das dort nicht der Fall war.

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fensichtlichen Macht und der Fassade zu bestimmen26. Vielleicht nehmen sich jetzt Rechtshistoriker der Sache an.

26 Womöglich wird der Sachverhalt in China deutlicher beim Namen genannt. Beispielsweise wird in der offiziellen Publikation, die über die Fudan-Universität in Schanghai informiert, zunächst der Parteisekretär vorgestellt, dann der Präsident, beide sonst in derselben Ausführlichkeit und mit Fotografie. Freilich bleibt das Verhältnis beider zueinander auch hier unklar.

Eine Monarchie unter dem Grundgesetz? Hans-Joachim Schoeps, Ernst Rudolf Huber und die Frage einer monarchischen Restauration in der frühen Bundesrepublik Von Hans-Christof Kraus I. Am 9. November 1918 ging in Deutschland das Zeitalter der Monarchie, die hier seit unvordenklichen Zeiten die vorherrschende politische Form gewesen war, zu Ende. Unter dem Druck der revolutionären Ereignisse in der Reichshauptstadt Berlin veröffentlichte der letzte kaiserliche Reichskanzler, Prinz Max von Baden, an diesem Tag eine Erklärung, die mit den Worten begann: „Der Kaiser und König hat sich entschlossen, dem Throne zu entsagen. Der Reichskanzler bleibt noch solange im Amt, bis die mit der Abdankung des Kaisers, dem Thronverzicht des Kronprinzen des Deutschen Reiches und von Preußen und der Einsetzung der Regentschaft verbundenen Fragen geregelt sind“1. Der Versuch Wilhelms II., nur in seiner Eigenschaft als Deutscher Kaiser, nicht aber als König von Preußen abzudanken2, konnte unter diesen Um1 Erklärung Max von Badens (9. 11. 1918), in: Ursachen und Folgen. Vom deutschen Zusammenbruch 1918 und 1945 bis zur staatlichen Neuordnung Deutschlands in der Gegenwart. Eine Urkunden- und Dokumentensammlung zur Zeitgeschichte, hrsg. v. Herbert Michaelis / Ernst Schraepler, Bd. 2, Berlin o. J. (1958), 570. 2 Vgl. die Entschließung des Kaisers (9. 11. 1918), in: ebenda, Bd. 2, S. 570; siehe auch Kaiser Wilhelm II., Ereignisse und Gestalten aus den Jahren 1878 – 1918, Leipzig / Berlin 1922, 243 f.

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ständen nur illusorisch sein. Bereits im niederländischen Exil in Amerongen, unterzeichnete er am 28. November des Jahres eine offizielle, anschließend im „Reichsanzeiger“ abgedruckte Erklärung, in der er „für alle Zukunft auf die Rechte an der Krone Preußens und die damit verbundenen Rechte an der deutschen Kaiserkrone“ verzichtete. Und Kronprinz Wilhelm hatte drei Tage später ebenfalls eine Erklärung zu unterschreiben, in der es hieß: „Ich verzichte hiermit ausdrücklich und endgültig auf alle Rechte an der Krone Preußens und an der Kaiserkrone, die Mir, sei es auf Grund der Thronentsagung Seiner Majestät des Kaisers und Königs, sei es aus einem anderen Rechtsgrunde, zustehen mögen“3. Auch die anderen deutschen Könige und regierenden Fürsten verloren in diesen Tagen ihren Thron4. Es ist auf den ersten Blick nicht einfach zu sagen, warum von der großen Mehrzahl der damals lebenden Deutschen der Untergang der Monarchie, der zugleich den Abschied von einer mehr als ein Jahrtausend alten Tradition bedeutete, fast ohne jeden Widerspruch akzeptiert worden ist. Die allgemeine Erschöpfung nach den ungeheuren Anstrengungen des verlorenen Krieges wird hierfür ebenso verantwortlich zu machen sein wie eine weitverbreitete tiefe Desillusionierung und das hiermit wohl verbundene Bestreben, mit der soeben beendeten Geschichtsepoche auch im Hinblick auf die Staats- und Regierungsform abzuschließen. Der durchaus national-konservativ eingestellte Verfassungshistoriker Fritz Hartung, im Kaiserreich überzeugter Anhänger der konstitutionellen Monarchie, gab vermutlich dem Empfinden weiter Kreise des damaligen deutschen Bürgertums Ausdruck, als er am 20. No3 Verzichterklärung Wilhelms II. (28. 11. 1918), Verzichterklärung des Kronprinzen Wilhelm (1. 12. 1918), beide abgedruckt in: Ursachen und Folgen, Bd. 2 (wie Anm. 1), 579 f. 4 Vgl. Helmut Neuhaus, Das Ende der Monarchien in Deutschland 1918, in: Historisches Jahrbuch 111 (1991), 102 – 136; zum Gesamtzusammenhang auch Ernst Rudolf Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte seit 1789, Bde. 1 – 8, Stuttgart / Berlin / Köln / Mainz 1960 – 1990, hier Bd. 5, 656 – 706.

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vember 1918 in einem Privatbrief feststellte, man habe seiner Überzeugung nach nunmehr „keine andere Wahl als die Umwälzung anzuerkennen. Ich halte es nicht für möglich, die Monarchien wiederherzustellen, die sang- und klanglos zusammengebrochen sind. Der Nimbus des Gottesgnadentums ist endgültig dahin, und den Glauben, daß die Monarchie die stärkste Staatsform für Deutschland darstellt, kann ich auch nicht mehr aufbringen“5. Gleichwohl gab es in den Jahren der Weimarer Republik durchaus ernsthafte monarchistische Bestrebungen, die sich auf die Wiederherstellung der Monarchie der Hohenzollern oder auch der Wittelsbacher in Bayern richteten6. Es waren nicht zufällig Persönlichkeiten, die schon vor 1933 zu den schärfsten Kritikern des Nationalsozialismus zählten und während des „Dritten Reichs“ verfolgt wurden, wie etwa die christlich-konservativen Edelmänner Ewald von KleistSchmenzin in Preußen oder Erwein von Aretin in Bayern, die nach 1918 entschieden für eine monarchische Restauration eintraten, weil sie in der Monarchie „die Voraussetzung eines daseinswürdigen Staates“ und „die Voraussetzung für die Zukunft unseres Volkes“7 sahen und daher ihre Bestrebungen darauf richteten, aus der nach ihrer Auffassung „untauglichen Staatsform der Republik in die taugliche der Monarchie über5 Zitiert nach: Werner Schochow, Ein Historiker in der Zeit – Versuch über Fritz Hartung (1883 – 1967), in: Jahrbuch für die Geschichte Mittelund Ostdeutschlands 32 (1983), 219 – 250, hier 224 f. 6 Allgemein hierzu im knappen Überblick: Joachim Selzam, Monarchistische Strömungen in der Bundesrepublik Deutschland 1945 – 1989, Diss. Erlangen-Nürnberg 1994, 8 – 15, sodann Bodo Scheurig, Deutscher Konservatismus zwischen Kaiserreich und Nationalsozialismus, in: Gerd Klaus Kaltenbrunner (Hrsg.), Die Herausforderung der Konservative. Absage an Illusionen (Herderbücherei Initiative, 3), Freiburg i. Br. 1974, S. 17 – 33; Axel Schildt, Konservatismus in Deutschland. Von den Anfängen im 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, München 1998, 131 – 181. 7 Ewald von Kleist-Schmenzin, Grundsätze und Aufgaben konservativer Arbeit [1929], neu abgedruckt in: Bodo Scheurig, Ewald von Kleist-Schmenzin. Ein Konservativer gegen Hitler, Oldenburg / Hamburg 1968, 245 – 254, die Zitate: 251.

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zugehen“8. Die Vergeblichkeit aller dieser norddeutschen wie süddeutschen neumonarchischen Bestrebungen ist ebenso bekannt wie die Tatsache, dass es unter den führenden Verschwörern der Widerstandsbewegung des 20. Juli 1944 nicht wenige Vertreter der Idee einer monarchischen Restauration in Deutschland nach Hitler gegeben hat, zu denen nicht zuletzt Carl Friedrich Goerdeler zählte9. II. Nach der Katastrophe von 1945 schien eine Rückkehr zur Monarchie auf den ersten Blick vollkommen ausgeschlossen. Zunächst einmal musste es darum gehen, die Staatlichkeit Deutschlands zu retten und einer Rechtsauffassung zum Durchbruch zu verhelfen, die davon ausging, dass auch nach Kapitulation und Besetzung des Deutschen Reiches dessen Existenz als Staatswesen keineswegs ausgelöscht war10. Über die Grundzüge einer neuen Staatsform entschieden die Besatzungsmächte, und es konnte von Anfang an kein Zweifel daran bestehen, dass von ihnen – und hierin waren sich die drei westlichen Besatzungsmächte ebenso einig wie die östliche – eine Rückkehr zur Monarchie weder vorgesehen noch gewünscht war. Die ersten Aktivitäten zur Wiederherstellung einer monarchischen Staatsform, die kleinere monarchistische Gruppen bereits in der Besatzungszeit, wenn auch nur in den 8 Erwein von Aretin, Krone und Ketten. Erinnerungen eines bayerischen Edelmannes, hrsg. v. Karl Buchheim / Karl Otmar von Aretin, München 1955, 25; vgl. zum Zusammenhang auch Karl Otmar von Aretin, Der bayerische Adel. Von der Monarchie zum Dritten Reich, in: derselbe, Nation, Staat und Demokratie in Deutschland. Ausgewählte Beiträge zur Zeitgeschichte, hrsg. v. Andreas Kunz / Martin Vogt (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz, Abt. Universalgeschichte, Beiheft 27), Mainz 1993, 7 – 63, bes. 18 ff. u. passim. 9 Vgl. Gerhard Ritter, Carl Goerdeler und die deutsche Widerstandsbewegung, Stuttgart 1956, 296 ff.; Selzam, Monarchistische Strömungen (wie Anm. 6), 23 ff. 10 Das seinerzeit grundlegende Werk hierzu war: Rolf Stödter, Deutschlands Rechtslage, Hamburg 1948.

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Westzonen, zu entfalten versuchten, wurden von den neuen Herren in Deutschland zumeist recht bald rigoros unterbunden11. Was sprach eigentlich gegen und was sprach eventuell auch für eine Wiedereinführung der Monarchie in Deutschland? Das wenig rühmliche Ende der deutschen Monarchien im November 1918, auch das geringe persönliche Ansehen, über das die meisten der in Frage kommenden Prätendenten der früheren deutschen Herrscherhäuser – mit der einen bemerkenswerten Ausnahme des bayerischen Kronprinzen Rupprecht12 – verfügten, kann hier ebenso angeführt werden wie die Tatsache, dass die alliierten Siegermächte das frühere Deutsche Kaiserreich, das ihr Kriegsgegner in den Jahren 1914 – 1918 gewesen war, in keiner besonders guten Erinnerung behalten hatten; eine Restauration der Hohenzollernherrschaft kam für sie nicht in Frage. Nicht zuletzt waren die Besatzungsmächte, mit der einen bekannten Ausnahme Großbritanniens, selbst republikanische Staatswesen. Und sprach nicht ebenfalls die Tatsache der deutschen Teilung – von der Abspaltung der Ostgebiete einmal ganz zu schweigen – gegen eine monarchische Restauration? Endlich gab es gleich mehrere Fürstenhäuser, die Ansprüche auf eine Krone hätten geltend machen können; neben den Hohenzollern und den Wittelsbachern waren dies die Welfen, und in Österreich wiederum die Habsburger. Endlich waren die Deutschen in den ersten Jahren nach dem Zusammenbruch zu sehr mit dem eigenen Überlebenskampf beschäftigt, als dass sie an der Frage: Monarchie oder Republik besonderen Anteil hätten nehmen können. Was wiederum konnte für eine Monarchie sprechen? Das monarchisch verfasste Deutschland war ein stabiler Rechts11 Hierzu ausführlich Selzam, Monarchistische Strömungen (wie Anm. 6), 25 ff., 140 ff. u. passim. 12 Über Rupprecht siehe neuerdings die grundlegende und detaillierte Lebensdarstellung von Dieter J. Weiß, Kronprinz Rupprecht von Bayern. Eine politische Biographie, Regensburg 2007; zu Rupprechts Rolle nach 1945 vgl. ebenda, 326 ff.

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staat gewesen, während die schwache Republik bekanntlich auf formalrechtlich legalem Weg in einen Unrechtsstaat, eine Diktatur hatte transformiert werden können. Die Erinnerung an – vermeintlich oder wirklich – bessere Zeiten schien ebenso für eine Monarchie zu sprechen wie ein allgemeines Bedürfnis nach politischer Stabilität, das nach den gravierenden Umbrüchen von 1918, 1933 und 1945 zu verspüren war. Schließlich gab es das Vorbild demokratisch-parlamentarischer Monarchien in den Beneluxstaaten, in Großbritannien und in Skandinavien, in denen die Monarchie gerade im 20. Jahrhundert sowohl Tradition und Kontinuität wie auch Rechtsstaatlichkeit und Freiheit in einem zu verkörpern schien. Sollte dies nicht auch ein Weg für die Deutschen sein können, um aus der größten Krise ihrer neueren Geschichte wieder herauszufinden? So vollkommen abwegig, wie es aus heutiger Perspektive vielleicht erscheinen mag, waren die um eine monarchische Restauration kreisenden Überlegungen und Bemühungen, die kurz nach dem Krieg in Westdeutschland unternommen wurden, also keineswegs. Der Religionswissenschaftler und Historiker Hans-Joachim Schoeps kann als die bekannteste und wohl auch bedeutendste Persönlichkeit des bundesdeutschen Nachkriegsmonarchismus angesehen werden. Er konnte zu diesem Zeitpunkt bereits auf ein sehr bewegtes Leben zurückblicken: 1938 hatte er als rassisch Verfolgter nach Schweden emigrieren müssen, war aber bald nach Kriegsende zurückgekehrt und hatte vom bayerischen Staat ad personam einen Lehrstuhl für Religionsund Geistesgeschichte an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen erhalten13. Der durch die Jugendbewegung geprägte 13 Vorzüglicher Überblick über Leben und Werk: Frank-Lothar Kroll, Hans-Joachim Schoeps (1909 – 1980), in: Fränkische Lebensbilder, Bd. 16, Würzburg 1996, 287 – 306; derselbe, Geistesgeschichte in interdisziplinärer Sicht. Der Historiker Hans-Joachim Schoeps, in: derselbe, Das geistige Preußen. Zur Ideengeschichte eines Staates, Paderborn / München / Wien / Zürich 2001, 219 – 240. – Zahlreiche Einzelbeiträge zu Leben und Werk enthält ein demnächst erscheinender Sammelband: Gideon Botsch / Joachim H. Knoll / Anna-Dorothea Ludewig (Hrsg.), „Wider den Zeitgeist“.

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gebürtige Berliner Schoeps, der sich selbst als preußischer Jude empfand14, hatte in den Jahren seiner schwedischen Emigration die preußische Monarchie neu entdeckt und erforscht; als wichtigste Frucht seiner Studien erschien zu Beginn der 1950er Jahre sein Buch „Das andere Preußen“, in dem er die Geschichte jener dem Gedächtnis fast vollständig entschwundenen konservativen Gestalten und Probleme um den „Romantiker auf dem preußischen Thron“, König Friedrich Wilhelm IV., erstmals rekonstruierte und – keineswegs ohne Sympathie – darstellte15. Am 18. Januar 1951, dem 250. Jubiläumstag der ersten preußischen Königskrönung, hielt Schoeps im Auditorium Maximum der Universität Erlangen seine rasch berühmt gewordene und als Broschüre mehrfach neu aufgelegte Rede über „Die Ehre Preußens“, in der er die nunmehr beendete Geschichte dieses Staates, seiner Höhen und Tiefen, seiner Leistungen und Versäumnisse noch einmal Revue passieren ließ – keineswegs unkritisch, aber doch geprägt von einer unverkennbaren Grundsympathie und zudem von dem Bestreben, den Nachwirkungen der Siegerpropaganda, die in Preußen den „Hort der Reaktion und des Militarismus“ in Deutschland sehen zu können glaubte, entschieden entgegenzutreten: „Preußen ist gestorben, aber nicht der klassische preußische Geist“, schloss Schoeps seine Rede: „Auch von ihm zehrt unser neuer Staat. Es ist ein sehr verpflichtendes Erbe, das hier verwaltet wird, das hohe Ansprüche an die Repräsentanten stellt“16. Nicht zuletzt berief sich der Redner Studien zum Leben und Werk von Hans-Joachim Schoeps (1909 – 1980), Hildesheim 2009. – Zu Schoeps’ Bemühungen um eine monarchische Restauration ab 1951 vgl. auch Selzam, Monarchistische Strömungen (wie Anm. 6), 43 ff. u. passim. 14 Siehe hierzu v. a. die sehr aufschlussreiche Selbstbiographie: HansJoachim Schoeps, Rückblicke. Die letzten dreißig Jahre (1925 – 1955) und danach, 2. Aufl., Berlin 1963, hier bes. 9. 15 Hans-Joachim Schoeps, Das andere Preußen – Konservative Gestalten und Probleme im Zeitalter Friedrich Wilhelms IV., 5. Aufl., Berlin 1981 [zuerst erschienen 1952].

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auf die übernationalen Traditionen des aus verschiedenen Völkerschaften zusammengesetzten alten Königreichs, dessen Existenzgrundlagen jedem extremen Nationalismus der neuesten Zeit diametral entgegengesetzt gewesen seien. Diese Rede, die seinerzeit ein von Schoeps nicht vorausgesehenes Aufsehen in Westdeutschland erregte und größte Beachtung fand – in gedruckter Fassung verkaufte sie sich binnen kurzem zehntausend Mal17 –, wurde zugleich zum Auslöser für weitere politische Aktivitäten des Redners. Zu den Lesern des Vortrags hatte Prinz Louis Ferdinand von Preußen gehört, der daraufhin Kontakt zu Schoeps aufnahm: „Ich lernte“, so der Historiker später, „den neuen Chef des Hauses Hohenzollern als einen für alle Fragen der Zeit aufgeschlossenen Menschen kennen, der wirklich in der Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts lebt. Da das Königtum stets die Substanz des preußischen Staates gewesen war, begann ich nunmehr ernstlich über die Möglichkeiten seiner Erneuerung nachzudenken“18. Und er beließ es nicht beim Nachdenken, sondern begann schon in der zweiten Jahreshälfte 1951 mit den Vorbereitungen für eine Sammlung und Organisierung aller derjenigen Kräfte und Persönlichkeiten, die für eine Mitwirkung an der Aufgabe einer Wiedererrichtung der Monarchie in Frage kamen. Für Schoeps war es von Anfang an klar, dass ein solcher Versuch auf streng legalem Wege unternommen werden müsste, also nicht etwa gegen die bestehende politische Ordnung, sondern auf dem Boden des noch sehr jungen, gerade erst einmal zwei Jahre alten Grundgesetztes der Bundesrepublik Deutschland. Wie eine solche „legale Restauration“ mit dem Grundgesetz aber zu bewerkstelligen sein könnte, darüber besaß er nur vage und im Ganzen unzureichende Vorstellungen. Dies war der Grund, warum er einen alten Bekannten aus gemeinsamen 16 Hans-Joachim Schoeps, Die Ehre Preußens, Stuttgart 1951, 46; vgl. dazu auch Schoeps’ eigenen Bericht in: derselbe, Rückblicke (wie Anm. 14), 164 ff. 17 Vgl. Schoeps, Rückblicke (wie Anm. 14), 167. 18 Ebenda, 168; vgl. auch Selzam, Monarchistische Strömungen (wie Anm. 6), 44 f.

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jugendbewegten Zeiten um Rat fragte, und zwar nicht irgendeinen Juristen, sondern – Ernst Rudolf Huber.

III. Warum gerade Ernst Rudolf Huber? Dass Schoeps sich an ihn wandte, mag überraschen, denn auf den ersten Blick konnte der aus Deutschland vertriebene Jude Schoeps, dessen Eltern von den Nationalsozialisten in Theresienstadt und Auschwitz ermordet worden waren19, mit dem führenden nationalsozialistischen Verfassungsrechtler wahrlich nur wenig gemein haben20. Indessen hatten beide während der Weimarer Zeit der Jugendbewegung angehört, Schoeps der „Freideutschen Bewegung“21 und Huber dem „Nerother Wandervogel“22. Hierauf dürfte ihre Bekanntschaft zurückzuführen sein und auch die Tatsache, dass sie sich (wie in der Jugendbewegung allgemein üblich) duzten, auch noch nach 1945. Und dies wird ebenfalls der Grund dafür gewesen sein, warum Schoeps sich nicht etwa an Hubers noch bekannteren – wenngleich damals politisch nicht weniger kompromittierten – akademischen Lehrer Carl Schmitt wandte, obwohl er diesem die Druckfassung seiner Rede zur „Ehre Preußens“ im Sommer 1951 zugeschickt und einen sehr bemerkenswerten Dankbrief erhalten hatte23. Huber konnte damals tatsächlich als Experte 19 Vgl. Kroll, Hans-Joachim Schoeps (wie Anm. 13), 287, und Schoeps, Rückblicke (wie Anm. 14), 19 f. 20 Zu Huber vgl. neben der ersten umfassenden Darstellung von Ralf Walkenhaus, Konservatives Staatsdenken. Eine wissenssoziologische Studie zu Ernst Rudolf Huber, Berlin 1999, neuerdings auch Ewald Grothe, Zwischen Geschichte und Recht. Deutsche Verfassungsgeschichtsschreibung 1900 – 1970, München 2005, 172 ff., 250 ff. u. passim (zu diesem in mancher Hinsicht nicht unproblematischen Buch siehe meine Rezension in: Zeitschrift für Politik 52 [2006], S. 490 – 493). 21 Vgl. Schoeps, Rückblicke (wie Anm. 14), 32 ff. u. passim. 22 Vgl. Walkenhaus, Konservatives Staatsdenken (wie Anm. 20), 11. 23 Der Brief Carl Schmitts an Hans-Joachim Schoeps, datiert Plettenberg, 13. 9. 1951, sei hier im Wortlaut mitgeteilt; er befindet sich in:

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Hans-Christof Kraus

für die Staatsform der konstitutionellen Monarchie angesehen werden (Schoeps spielt in seinem Brief an ihn darauf an), weil er 1940 eine ebenso kenntnisreiche wie kritische Studie hierzu verfasst hatte24, die allerdings, wie ebenfalls gesagt werden muss, nicht an Carl Schmitts glänzende verfassungsrechtliche Analyse der Monarchie von 1928 heranreichte25. Im November 1951 machte sich Schoeps daran, sein monarchisches Projekt durch eine Zusammenkunft Gleichgesinnter vorzubereiten, die zu Anfang Januar 1952 stattfinden sollte. Zur Vorbereitung dieser Tagung gehörte auch die Anforderung eines juristischen Gutachtens von Ernst Rudolf Huber zur Frage der Möglichkeit einer legalen Wiederherstellung der Monarchie in der Bundesrepublik. Der Briefwechsel zwischen Schoeps und Huber, der sich heute im Nachlass des ersteren befindet26, wird im folgenden im Wortlaut mitgeteilt27: Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz (künftig: SBBPK), Nachlass Hans-Joachim Schoeps, K 86: „Sehr verehrter Herr Prof. Schoeps! Meinen Dank für Ihr Schreiben vom 23. August und für die freundliche Zusendung Ihrer Schrift Die Ehre Preussens spreche ich Ihnen erst heute aus, weil ich Ihnen als Antwort und als Zeichen meiner Beteiligung an diesem Thema eine Fotokopie des Schlusses meiner Rede vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig 1932 schicken wollte. Dort ist nämlich gegen Ende auch von der Ehre Preussens die Rede. Ich gebe Ihnen Recht, wenn Sie sagen, dass Preussen eigentlich nicht 1933 oder 1947, sondern am 9. November 1918 aufhörte zu existieren. Das ist richtig und treffend, wie viele andere bedeutende Aussagen Ihres Buches. Aber ein Staat stirbt nicht so schnell und in manchen Menschen lebt er weiter. So ist z. B. mit der Hinrichtung meines Freundes, des letzten preussischen Staatsministers, Prof. Johannes Popitz, am 2. Februar 1945, noch ein Stück Preussen zerstört worden. Und da die Leichen heute nicht mehr begraben werden, sondern die Asche in die Luft gestreut wird, so bleibt die Atmosphäre voll von seltsamen und unerwarteten Formen des Weiterlebens. – Erlauben Sie mir, dass ich Ihnen, wenn auch vielleicht nur für Ihr Archiv, diese Zeilen von S. 184 der beiliegenden Fotokopie übersende, als Ausdruck meines Dankes und meiner aufrichtigen Hochachtung. Ich wünsche Ihnen von Herzen guten Erfolg für Ihre Arbeit und Ihr Werk und bin mit den besten Empfehlungen Ihr Carl Schmitt.“ 24 Ernst Rudolf Huber, Verfassungskrisen des Zweiten Reiches (Leipziger Universitätsreden, 1), Leipzig 1940. 25 Vgl. Carl Schmitt, Verfassungslehre (1928), 6. Aufl., Berlin 1983, 282 – 292.

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23. November 1951 Lieber Freund Huber! Der Brief, den ich Dir heute schicke, geht mir sehr schwer aus der Hand. Ich hätte Dir alles viel lieber mündlich gesagt. Aber da ich keine Möglichkeit sehe, in den nächsten Wochen nach Freiburg zu kommen, die Sache aber eilt, vertraue ich es unter dem Siegel der Verschwiegenheit dem Papier an. Es handelt sich um folgendes: Meine Rede vom 18. 1. 1951 hat ungeahnte Nach- und Fernwirkungen gehabt. Ich bin durch sie in das Vertrauen des derzeitigen Chefs des Hauses Hohenzollern gezogen worden, und mir ist in einer Reihe von Gesprächen die Aufgabe immermehr angetragen worden, die politische Situation zu analysieren in Bezug auf die Möglichkeiten einer monarchischen Restauration. Zur Lösung dieser Aufgabe habe ich eine Reihe von Freunden, vornehmlich aus dem Freideutschen Kreis, herangezogen, und vor 14 Tagen haben wir (Kreppel, Schütte, Reemtsen und ich) eine Aussprache im Hause des Prinzen Louis Ferdinand in Bremen gehabt. Wir wollen am ersten Januarwochenende des neuen Jahres in Marburg einen Kreis von politischen Experten zusammenrufen, für die die Frage nach der Wünschbarkeit einer Monarchie bereits klarsteht und die lediglich die Frage möglicher Wege zur künftigen Realisierung prüfen wollen. Das Hauptproblem ist ein verfassungsrechtliches, und deshalb ist es der einmütige Wunsch aller hierüber Befragten, dass ich Dich bitten soll, Dich als den besten Kenner des Verfassungsrechts der konstitutionellen Monarchie bei der gegenwärtigen Republik an die Ausarbeitung eines Exposés zu machen, ob und welche Wege vom Boden der bestehenden Bonner Verfassung aus möglich oder denkbar sind. Völlig unmassgeblich und laienhaft will ich Dir wenigstens andeuten, welche Wege ich mir überlegt habe. Ob sie gangbar sind oder nicht, wage ich nicht zu entscheiden. 26 SBBPK, Nachlass Schoeps, K 86. – Der Brief von Schoeps liegt im maschinenschriftlichen Durchschlag vor, die Antwort von Huber im ebenfalls maschinenschriftlich verfassten Original (mit handschriftlichen Korrekturen und Unterschrift); der ungekürzte Abdruck erfolgt genau nach den Vorlagen. 27 Für die Genehmigung zum Abdruck der folgenden beiden Texte habe ich nicht nur der Staatsbibliothek Berlin Preußischer Kulturbesitz zu danken, sondern auch den Inhabern der Rechte an den Nachlässen Ihrer Väter, Herrn Prof. Dr. Julius H. Schoeps / Potsdam, Herrn Landesbischof Prof. Dr. Wolfgang Huber / Berlin und Herrn Prof. Dr. Ulrich Huber / Bonn.

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Hans-Christof Kraus 1. Man versucht, ähnlich wie die Kommunisten es in Westdeutschland versucht haben, eine Art Volksbefragung zustande zu bringen, ob der entsprechende Passus des Bonner Grundgesetzes, dass der Westdeutsche Staat eine Bundesrepublik sei, abgeändert werden solle. Das liefe also auf eine Volksabstimmung hinaus über die Frage ob Republik oder Monarchie erwünscht sei. 2. Die zweite Möglichkeit wäre, einen Bundestagsbeschluss oder, falls das unmöglich sein sollte, eine Volksabstimmung herbeizuführen, ob hinsichtlich der Wahl des Bundespräsidenten das Bonner Grundgesetz rückwärts revidiert werden soll auf den Status der Weimarer Republik, welche eine plebiszitäre Wahl des Präsidenten vorsah. In diesem Fall würde man versuchen, durch einen überparteilichen Wahlblock die Präsidentschaftskandidatur aufzustellen und den Weg Louis Napoleons zu wiederholen. Während ich diese Andeutungen diktiere, wird mir völlig klar, wie schwierig das ist, Dir die Schlussglieder längerer Überlegungen mitzuteilen, ohne dass Du an den vorangegangenen Besprechungen teilgenommen hast. Möglicherweise stimmst Du mir gar nicht in allen Voraussetzungen zu. Ich werde Dir in den nächsten Tagen das Manuskript eines Vortrages schicken, mit dem ich den Schritt über die damalige Broschüre hinaus zu dem heutigen Plan gegangen bin, aus dem dann alles deutlicher wird. Aber Du verstehst gewiss die Intention und kannst mir die Frage beantworten, ob Du überhaupt bereit bist, an diesen Plänen mitzuwirken, d. h. eine Art staatsrechtliches Exposé über die uns bewegende Frage zu verfassen und sie zu dem Treffen nach Marburg mitzubringen. Ich versichere Dir, dass alles streng vertraulich ist und behandelt wird. Unsere Pläne befinden sich vorläufig und wahrscheinlich noch auf lange Sicht im Stadium theoretischer Überlegungen und politischer Lagediagnosen. Gleichwohl ist auch für dieses Stadium die Rückendeckung28 insofern gegeben, als die in Frage kommenden Bonner Stellen über das, was wir überlegen, Bescheid wissen. Es handelt sich ja hier nicht um eine Freideutsche Angelegenheit, wenn auch einige unserer Freunde aus Überzeugung daran interessiert sind. Anliegend übersende ich Dir eine vorläufige Namensliste der Herren, die wir nach Marburg einladen wollen. Die Liste erbitte ich aber wieder zurück, wenn Du sie durch Namen ergänzt hast, die Du hierfür noch eingeladen haben willst. Aber der Personenkreis soll möglichst nicht dreissig Teilnehmer übersteigen. Vorwerk bat mich Dich zu fragen, ob Du bereit wärst, das neue Buch aus seinem Verlag für die Zeitschrift für Religions- und Geistes-

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Im Original: „Rückedeckung“.

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geschichte zu besprechen, allerdings kann ich Dir nur 30 – 40 Zeilen bewilligen. Es handelt sich um das Werk von Werner Weber: Spannungen. . . . Bitte äussere Dich bald hierzu. Für heute einen herzlichen Gruss Dein Sch

Hierauf antwortete Ernst Rudolf Huber mit dem folgenden Schreiben: Freiburg, 2. Dezember 1951 Lieber Jochen Schoeps, Ich habe Dir sehr für das Vertrauen zu danken, das Dein Brief vom 23. November mir entgegenbringt. Wir sind uns wohl einig darüber, daß die Zeiten abgelaufen sind, in denen es uns gestattet war, romantischen Utopien anzuhängen; auch für bloße historische Apotheosen oder für eine Metaphysik der Staatsformen ist die Frage, die in Deinem Brief angeschnitten ist, zu ernst. Ich nehme an, daß Du in dieser Sache jede Aktivität ablehnen würdest, wenn Du nicht die Gewißheit hättest, daß sie mit einem äussersten Maß von politischem Realismus betrachtet und behandelt würde. Royalismus, der keine Flucht in Romantik, Utopie, Historismus oder Metaphysik ist, scheint mir von folgender Einsicht bestimmt zu sein: In einer Welt, die daran krankt, daß sie der echten Legitimität und Autorität entbehrt, ist es notwendig, den politischen Zentralpunkt wiederherzustellen, von dem eine neue Legitimität und Autorität ausstrahlen könnten. Das wird im Wege einer bloßen Restauration niemals möglich sein; die monarchische renovatio setzt mehr als eine faktische Machtergreifung oder eine legale Ueberleitung voraus. Sie könnte nur gelingen, wenn sie die staatsrechtliche Formgebung einer geistigen und sozialen Wandlung wäre, die sich im ausser-staatsrechtlichen Raum zu vollziehen hätte. Die spezifisch staatsrechtlichen Probleme sind daher von sekundärem Rang. Wenn ich mich auf Deine Frage hin ihnen doch29 zuwende, so wäre in aller Kürze Folgendes zu sagen: 1) Art. 79 des Grundgesetzes schließt jede Verfassungsänderung schlechthin aus, durch die die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ angetastet wird. Es wird nicht wenige geben, die in dieser Unantastbarkeits-Klausel eine absolute Garantie des republikanischen Prinzips sehen. Ich halte diese Ansicht zwar für nicht begründet, meine 29

Im Original: „soch“.

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Hans-Christof Kraus vielmehr, daß eine parlamentarische Monarchie nach englischem Modell, ja daß sogar eine konstitutionelle Monarchie im Sinne der deutschen Tradition staatsrechtlich legal auf dem Wege der Verfassungsänderung würde eingeführt werden können. Immerhin liegt hier eine erste Schwierigkeit. (Zur Entscheidung wäre das Bundesverfassungsgericht zuständig). 2) Einen Volksentscheid, wie ihn die WeimRVerf. kannte, hat das Grundgesetz bewußt ausgeschlossen; insbesondere kann die Verfassung nicht im Wege der Volksabstimmung geändert werden. Eine staatsrechtlich anerkannte Volksbefragung über „Monarchie oder Demokratie“ kann daher nicht durchgeführt werden. Der Versuch, eine extra-konstitutionelle (sozusagen „private“) Volksbefragung durchzuführen, würde wahrscheinlich als „verfassungsfeindlich“ unterdrückt werden. 3) Es gibt daher auch keine Möglichkeit, das Grundgesetz auf dem Weg der Volksabstimmung dahin zu ändern, daß die plebiszitäre Präsidentschaft wiedereingeführt wird. 4) Verfassungsänderungen können auf keinem anderen Weg als durch Beschluß des Bundestages (2 / 3 der gesetzlichen Mitgliederzahl) unter Zustimmung des Bundesrates (ebenfalls 2 / 3 der Stimmen) durchgeführt werden. Es erscheint rebus sic stantibus ziemlich ausgeschlossen, die qualifizierte Mehrheit im Bundestag und Bundesrat auch nur für eine plebiszitäre Präsidentschaft zu gewinnen. Parteien und Länder sind in gleichem Maße daran interessiert, daß der Präsident ohne unmittelbare plebiszitäre Legitimität, ohne ursprüngliche Autorität und ohne eigene Macht ist. 5) Diese Erwägungen stehen auch im Schatten des fortdauernden Anspruchs der Alliierten Mächte auf Verfassungskontrolle und Verfassungsintervention gegenüber allen Vorgängen in Deutschland, die sie als eine Störung der freiheitlich-demokratischen Ordnung (wie sie sie verstehen) ansehen könnten. 6) Es gibt, wenn ich es recht sehe, nur einen einzigen legalen Weg zu dem Ziel, das Du verfolgst, das ist der Weg über die Wiedervereinigung Deutschlands. Mit ihr wird das Grundgesetz, wie es selbst bestimmt, obsolet. Es wäre m. E. aus vielen Gründen angezeigt, in einer gesamtdeutschen Verfassung die plebiszitäre Wahl des Reichspräsidenten und das in der WeimRVerf. vorgezeichnete Minimum präsidialer Kompetenzen wiederherzustellen, darunter vor allem militärischer Oberbefehl30, auswärtige Gewalt, Recht zur Ernennung und Entlassung des

30

Im Original: „militäOberbefehl“.

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Kanzlers und der Minister, Recht zur Ernennung der Beamten und Richter, Verfügung über den Ausnahmezustand und über die Bundesexekution. Der Weimarer Reichspräsident war (wie ursprünglich auch der amerikanische und der französische Präsident) ein Ersatz-Monarch. Es wäre logisch und realistisch, diesen Weg über eine präsidiale Platzhalterschaft (oder Verweserschaft) zurückzugehen. 7) Mir scheint, daß auch aus anderen Gründen der Weg zur Monarchie nur über das Plebiszit gehen kann (also weder über die parteienstaatliche Parlaments-Oligarchie noch über den von anderen oligarchischen Gruppen getragenen Staatsstreich). Der Weg müßte über eine legitimierende und autoritätsbegründende historische Leistung führen. Dafür gibt es nur einen entscheidenden Ansatzpunkt: Wiederherstellung der Einheit und Freiheit. 8) Auch die massen-plebiszitäre Legitimation hat ihre spezifische Problematik. Ueberhaupt gibt es Bedenken gegen die royalistische Restauration, die aus Royalismus kommen. . . . Insbesondere ist das Bedürfnis, das Amt des Staatsoberhauptes zu neutralisieren und dem Pluralismus der Massenkräfte ein von der Masseneinheit konstituiertes Symbol des Ganzen überzuordnen, eine bloß technisch-rationale Motivation. Wenn diese nicht von irrationalen Energien durchdrungen und verwandelt wird, wäre das Ergebnis im Grunde kein Königtum, sondern eine Art Erb- oder Wahl-Präsidentschaft. Allerdings haben die Erfahrungen gelehrt, daß einem technisch-rational begründeten Herrschaftssystem leicht mehr an echter Legitimität und Autorität zuwachsen kann als einer pseudo-charismatischen Diktatur. Ich überlasse es Deiner Entscheidung, ob Du Dir nach diesen Andeutungen von meiner Teilnahme etwas versprichst. Für eine Unterhaltung im31 vertrauten Kreise stehe ich immer zur Verfügung. Die Namensliste, die Du angekündigt hast, lag Deinem Brief nicht bei. Meine Teilnahme würde in gewissem Umfang auch von der Zusammensetzung des Marburger Kreises abhängig sein. Herzliche Grüße Dein Ernst Rudolf Huber

Diese beiden Schreiben erfassen tatsächlich wie in einem Brennspiegel den Kernaspekt der Möglichkeiten einer legalen monarchischen Restauration im Nachkriegsdeutschland. Hans-Joachim Schoeps hatte letztlich genau erkannt, dass in 31

Im Original: „in“.

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der Tat „das Hauptproblem ein verfassungsrechtliches“ war und dass deshalb juristischer Rat eingeholt werden musste. Er hätte hierfür allerdings – vielleicht mit der Ausnahme Carl Schmitts – kaum einen kompetenteren Ratgeber als Huber gewinnen können, dessen Antwortschreiben im Grunde nichts weniger als eine eigenständige kleine Abhandlung darstellt, eine überaus scharfsinnige juristische Deduktion, die aus der Perspektive des Rückblicks nach sechs Jahrzehnten des Bestehens der verfassungsrechtlichen Ordnung des Grundgesetzes zugleich genau aufzeigt, warum eine monarchische Restauration in Deutschland nach 1945 zu keiner Zeit eine ernsthafte Möglichkeit gewesen ist und sein konnte. Huber legt sehr genau dar, dass nach den Bestimmungen der westdeutschen provisorischen Verfassung eine plebiszitäre Verfassungsänderung auf legalem Weg nicht möglich wäre, und dass wiederum der Versuch einer legalen Änderung durch Zweidrittelmehrheiten in Bundestag und Bundesrat unter den gegebenen Bedingungen und Mehrheitsverhältnissen – der Vorherrschaft einer „parteienstaatlichen Parlaments-Oligarchie“, wie er sagt – als ausgeschlossen betrachtet werden könne. Und selbst dann, wenn diese Schwierigkeiten nicht bestünden, habe man immer noch die Oberherrschaft der alliierten Besatzungsmächte über die im Jahr 1951 noch nicht wieder souveräne junge Bundesrepublik zu bedenken. Insofern erscheint es folgerichtig, dass Huber im weiteren Verlauf seiner Darlegung mit dem bekannten Artikel 146 des alten Grundgesetzes argumentiert, nach welchem eben jenes seine Gültigkeit an dem Tage verliere, „an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“. Er deutet die Möglichkeit wenigstens an, dass in einem Falle eine neue monarchische Legitimität in Deutschland eventuell neu entstehen könnte, nämlich dann, wenn sich in einer gewandelten weltpolitischen Lage die Möglichkeit für eine deutsche Wiedervereinigung ergäbe und sich in diesem Fall ein deutscher Thronprätendent aus altem Herrscherhaus an die Spitze der Einheitsbewegung setzte und eventuell sogar diese

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Wiedervereinigung erfolgreich herbeiführte. Huber nennt diese Möglichkeit nicht explizit, doch er deutet sie, wie gesagt, zwischen den Zeilen recht deutlich an – aber selbst hier bleibt er skeptisch, wenn er auf das allgemeine gegenwärtige Bedürfnis nach politischer „Neutralisierung“ des Staatsoberhaupts zu sprechen kommt, wenn er sodann die Möglichkeit einer monarchischen Restauration, die „aus Royalismus“ komme, in Frage stellt, oder wenn er überhaupt – natürlich vor dem Hintergrund jüngster historischer Erfahrungen, die er hier nicht eigens zu erwähnen braucht – in Anknüpfung an die bekannte Herrschaftstypologie Max Webers32 anmerkt, heute könnte einem technisch-rational begründeten Herrschaftssystem im Zweifelsfall durchaus mehr Legitimität und Autorität zuwachsen als einer auf unklaren Emotionen beruhenden „pseudo-charismatischen Diktatur“. Aufschlussreich bleibt freilich Hubers in diesem Text zum Ausdruck kommende unverkennbare Skepsis gegenüber manchen Bestimmungen des gerade erst einmal zwei Jahre alten Bonner Grundgesetzes, darunter sein recht unzweideutiges Plädoyer für eine künftige deutsche Präsidialverfassung in Anlehnung an manche Regelungen der (damals als gescheitert geltenden) Weimarer Reichsverfassung. Eine Stellungnahme für eine monarchische Restauration hat er hier allerdings nicht – weder direkt noch indirekt – formuliert, sondern lediglich den verfassungsrechtlich legalen Rahmen aufgezeigt, unter dessen Bedingungen eine solche Wiederherstellung der monarchischen Staatsform unter bestimmten Umständen und unter der Voraussetzung einer vollkommen gewandelten weltpolitischen Lage eventuell denkbar wäre. Man darf wohl vermuten, dass Huber (auch wenn er dies aus Rücksicht auf Schoeps im Brief nicht ausgesprochen hat) die aktuellen Bemühungen seines alten Bekannten aus der Jugendbewegung wohl doch eher unter den Rubriken Romantik, Utopie, Historismus und Me32 Vgl. Max Weber, Die drei Typen der legitimen Herrschaft (1922), in: derselbe, Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre, hrsg. v. Johannes Winckelmann, 4. Aufl., Tübingen 1973, 475 – 488.

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taphysik zu verbuchen geneigt gewesen ist, denn die aktuelle Lage des Jahres 1951 schloss die Möglichkeit einer aus freiem Willen der Deutschen erfolgenden Wiedervereinigung Deutschlands unbedingt aus. IV. Insofern verwundert es auch nicht, dass Huber an den weiteren Bestrebungen von Schoeps, auch an den von diesem geleiteten Zusammenkünften deutscher Monarchisten zu Anfang 1952 und 1953, nicht mehr teilgenommen hat. Das hängt vermutlich ebenfalls mit der Tatsache zusammen, dass der in dieser Zeit wegen seiner Tätigkeit und seiner Publikationen aus der Zeit zwischen 1933 und 1945 privatisierende, teilweise noch anonym publizierende und inzwischen ebenso vorsichtig wie langsam seine Wiederkehr an die Universität vorbereitende Rechtsgelehrte nicht daran interessiert sein konnte, in irgendeiner Weise durch Teilnahme an einer etwas zweifelhaften politischen Unternehmung öffentlich aufzufallen33. Obwohl man Huber, auch mit Blick auf einige seiner späteren Publikationen, eine gewisse persönliche Sympathie für die – von den meisten anderen, vor allem jüngeren Rechts- und Verfassungshistorikern nachträglich deutlich kritisierte – Staatsform der deutschen konstitutionellen Monarchie des 19. Jahrhunderts, wie sie vor allem in der Bismarckschen Reichsverfassung zum Ausdruck kam, wohl nicht absprechen kann34, 33 Vgl. dazu neben Walkenhaus, Konservatives Staatsdenken (wie Anm. 20), 13, auch Grothe, Zwischen Geschichte und Recht (wie Anm. 20), 317 ff., sowie derselbe, Eine „lautlose“ Angelegenheit? Zur Rückkehr des Verfassungshistorikers Ernst Rudolf Huber in die universitäre Wissenschaft nach 1945, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 47 (1999), 980 – 1001; derselbe, Über den Umgang mit Zeitenwenden. Der Verfassungshistoriker Ernst Rudolf Huber und seine Auseinandersetzung mit Geschichte und Gegenwart 1933 und 1945, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft 53 (2005), 216 – 235. 34 Vgl. Ernst Rudolf Huber, Die Bismarcksche Reichsverfassung im Zusammenhang der deutschen Verfassungsgeschichte, in: derselbe, Bewahrung und Wandlung. Studien zur deutschen Staatstheorie und Verfas-

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wird man ihn sicher nicht als Monarchisten und erst recht nicht als ernsthaften Verfechter einer monarchischen Restauration in Deutschland bezeichnen können. Hans-Joachim Schoeps dagegen ist seinen Weg weiter gegangen; den vorläufigen Höhepunkt stellte eine Zusammenkunft zu Anfang des Jahre 1952 dar, die am 5. Januar wohl nicht nur aus geographischen Gründen in Marburg stattfand, sondern auch deswegen, weil sich damals die Särge der preußischen Könige Friedrich Wilhelm I. und Friedrich der Große in der dortigen Elisabethkirche befanden. Diese Tagung war bereits prominent besetzt35; als der wohl wichtigste Teilnehmer kann Hans-Joachim von Merkatz angesehen werden, zu dieser Zeit Staatssekretär im Bundesministerium für Angelegenheiten des Bundesrates, später bis 1962 mehrfach Bundesminister in den Regierungen Konrad Adenauers36. Tatsächlich hat Schoeps im Verlauf dieser Tagung das hier als „Exposé“ bezeichnete briefliche Gutachten Hubers verlesen37, doch dieser Text hat erstaunlicherweise, wie dem sungsgeschichte, Berlin 1975, 62 – 105; vgl. auch derselbe, Deutsche Verfassungsgeschichte (wie Anm. 4), Bd. 1, 651 – 656, Bd. 3, 3 – 26; zur Kritik v. a. Ernst-Wolfgang Böckenförde, Der deutsche Typ der konstitutionellen Monarchie, in: derselbe, Staat, Gesellschaft, Freiheit. Studien zur Staatstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a. M. 1976, 112 – 145; neuerdings grundlegend: Martin Kirsch, Monarch und Parlament im 19. Jahrhundert. Der monarchische Konstitutionalismus als europäische Verfassungsform – Frankreich im Vergleich, Göttingen 1999; dazu vgl. auch Hans-Christof Kraus, Monarchischer Konstitutionalismus. Zu einer neuen Deutung der deutschen und europäischen Verfassungsentwicklung im 19. Jahrhundert, in: Der Staat 43 (2004), 595 – 620. 35 Hierzu ist ein 19-seitiges Protokoll vorhanden in: SBBPK, Nachlass Schoeps, K 86, das die optimistische Überschrift „Die monarchische Renovatio“ trägt, dort auf Bl. 1 eine Anwesenheitsliste. 36 Vgl. Heinz-Siegfried Strelow, Konservative Politik in der frühen Bundesrepublik – Hans-Joachim von Merkatz (1905 – 1982), in: HansChristof Kraus (Hrsg.), Konservative Politiker in Deutschland. Eine Auswahl biographischer Porträts aus zwei Jahrhunderten, Berlin 1995, 315 – 334; Frank-Lothar Kroll, Hans-Joachim von Merkatz, in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 17, Berlin 1994, 142 – 143. 37 Vgl. SBBPK, Nachlass Schoeps, K 86, „Die monarchische Renovatio“ (wie Anm. 35), Bl. 6.

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Protokoll zu entnehmen ist, keine nachhaltige Rolle im Rahmen der weiteren Debatte des Kreises gespielt, und dies, obwohl neben Hans-Joachim von Merkatz noch ein weiterer Jurist, der an der Universität Münster lehrende (und sich ebenfalls als überzeugter Monarchist präsentierende) Kirchenrechtler und Rechtsphilosoph Arthur Wegner38, daran teilgenommen hat. Die Redner verloren sich eher in ausschweifende Spekulationen darüber, ob vielleicht „eine westdeutsche Monarchie eine attraktive Wirkung auf den deutschen Osten haben könne“, oder dass eventuell „bei einer Mobilisierung der Volksstimmung die Verfassungsbarriére in Wegfall“ kommen könne (so sogar Merkatz)39. Heraus kam indessen, wie zu konstatieren ist, nicht besonders viel: Immerhin wurde neben der Fortführung der gemeinsamen Planungen und einer Vertiefung der Kontakte zum Haus Hohenzollern auch die Vorbereitung einer konservativ-monarchistischen Broschürenreihe beschlossen40. Außerdem stellte sich der Chef des ehemals regierenden Kaiserhauses, Prinz Louis Ferdinand von Hohenzollern, in einem allerdings vorsichtig und eher allgemein gehaltenen Schreiben an Schoeps für eine monarchische Restauration zur Verfügung – freilich ausschließlich auf der Grundlage einer demokratischen Legitimation41. 38 Arthur Wegner war als Gegner des NS-Regimes 1937 seiner Professur in Halle enthoben worden und nach Großbritannien emigriert; seit 1946 lehrte er an der Universität Münster. Ende der 1950er Jahre wechselte er unter etwas dubiosen Umständen in die DDR und kehrte dort an die Universität Halle zurück. Wegners bekanntestes Buch ist seine „Einführung in die Rechtswissenschaft“, 2. Aufl., Berlin 1948, in der seine Vorliebe für die Monarchie nicht verschwiegen wird; vgl. etwa ebenda, 173 – 176 u. a., siehe ebenfalls Lieselotte Steveling, Juristen in Münster. Ein Beitrag zur Geschichte der Rechts- und Staatswissenschaftlichen Fakultät der Westfälischen Wilhelms-Universität, Münster 1999, 607 – 629. 39 SBBPK, Nachlass Schoeps, K 86, „Die monarchische Renovatio“ (wie Anm. 35), Bl. 8 f. 40 Vgl. ebenda, Bl. 17 f. 41 SBBPK, Nachlass Schoeps, K 86: Louis Ferdinand an Schoeps, Dezember 1952 (das Schreiben enthält zwei verschiedene Datierungen: oben

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Hans-Joachim Schoeps hat seine Bestrebungen für eine Restauration der Monarchie in Deutschland in den folgenden Jahren weiter betrieben und intensiviert, zum einen, indem er noch einmal, am 3. / 4. Januar 1953 in Eltville, eine Zusammenkunft ähnlich derjenigen in Marburg im Vorjahr veranstaltete; das Einleitungsreferat hielt dieses Mal ein damals sehr bekannter Journalist und Schriftsteller, der Mitherausgeber und Chefredakteur des Berliner „Tagesspiegels“, Erik Reger. In seinem Vortrag wies Reger auf aktuelle (wenngleich auch von ihm eher skeptisch bewertete) Umfragen „à la Gallup“ hin, nach denen ein Drittel der westdeutschen Durchschnittsbevölkerung eine Rückkehr zur Monarchie befürwortete, ein Drittel eben diese ablehnte und wiederum ein weiteres Drittel „ohne Meinung“ zu dieser Frage stehe. Als „einzig möglicher Weg“ zur Erreichung des Zieles einer monarchischen Restauration erschien ihm die Bildung einer „Partei ad hoc“ mit einem „einzigen Programmpunkt: Änderung des Staatsoberhaupts“; als entsprechende Persönlichkeit komme hierfür niemand anderes als Louis Ferdinand von Hohenzollern in Frage. Im Blick auf diesen Namen waren sich die Anwesenden einig, aber eine Parteigründung in dem von Reger vorgeschlagenen Sinne hielt die Mehrheit der Versammlung – in wohl durchaus realistischer Einschätzung der gegebenen Lage – jedenfalls für nicht durchführbar42. 18. 12. und unten 12. 12. 1952): „Lieber Herr Professor Schoeps: Von der Absicht Ihrer Eltviller Zusammenkunft habe ich mit grossem Interesse Kenntnis genommen. Ich begruesse jede Bestrebung, die der Festigung der Demokratie in Deutschland dient. – Den ererbten Anspruch auf die preussische Königskrone und die deutsche Kaiserkrone habe ich niemals aufgegeben. Mein Anspruch ruht freilich so lange, bis ein Ruf des deutschen Volkes an mich ergeht. Mein Hauptziel ist die Sicherung der persoenlichen Freiheit und des Rechts fuer jeden Staatsbuerger. Ich stehe ausserhalb aller politischen Parteien und muss daher auch unabhaengig bleiben von den von Ihnen beabsichtigten Bestrebungen. Das Wohl des deutschen Volkes wird fuer mich immer den Vorrang vor allen anderen Erwaegungen haben. Wenn durch Ihre Bestrebungen oder andere Umstaende mir von der Mehrheit des deutschen Volkes ein Amt angetragen werden sollte, werde ich mich dem nicht entziehen. Louis Ferdinand“.

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Im gleichen Jahr 1953 publizierte Schoeps, gewissermaßen als vorläufige Zusammenfassung seiner bisherigen Überlegungen und Aktionen, ein Bändchen mit dem sprechenden Titel „Kommt die Monarchie? Wege zu einer neuen Ordnung im Massenzeitalter“, in dem er ein entschiedenes Plädoyer für eine demokratisch-parlamentarische Monarchie nach angelsächsischem Vorbild vorlegte43. Er griff dabei nicht etwa auf die traditionelle Legitimationsidee des Gottesgnadentums zurück44, sondern argumentierte funktional und lagebezogen, indem er betonte: „Die Monarchie als Institution erhält in der Welt der Massendemokratien eine ganz andere Bedeutung als in früheren Jahrhunderten. Im Zeitalter der eingetretenen Volkssouveränität erscheint sie nämlich als Schutzdamm für die Legislative gegen den häufigen Wechsel, gegen ,dynamische Politik‘ und plötzliche Exzesse. Gerade durch ihre traditionelle Amtsautorität vermag heute eine Monarchie den demokratischen Staatsaufbau zu stützen und absolutistische oder faschistische Gefahren abzuwehren. Eine neutrale und moderierende Gewalt an der Spitze des Staatsaufbaus ist dem Funktionieren der Parteiendemokratie ungemein zuträglich, weil im Widerstreit der politischen Kräfte, im ewigen Hin und Her der öffentlichen Meinung ein ruhender Pol durch sie gegeben wird“45. Tatsächlich hat Schoeps in diesem Buch auch die von Huber in dessen Brief vom 2. Dezember 1951 formulierte Ver42 Vgl. das achtseitige Protokoll dieser Zusammenkunft (fälschlicherweise auf 1952 datiert), in: SBBPK, Nachlass Schoeps; K 86. 43 Hans-Joachim Schoeps, Kommt die Monarchie? Wege zu einer neuen Ordnung im Massenzeitalter, Ulm 1953. 44 Vgl. ebenda, S. 65 f. 45 Ebenda, 51; vgl. auch derselbe, Rückblicke (wie Anm. 14), 169 f.: „Der aktuell-politische Sinn einer Krone für uns kann aber nur der sein, die parlamentarische Demokratie zu stabilisieren, sie zu stützen und zu sichern gegen die latente Führersehnsucht des deutschen Volkes, gegen absolutistische und totalitäre Entwicklungen . . . Die monarchische Staatsform ist für mich aber nur dann ein Desideratum, wenn durch sie die Demokratie, das heißt der Rechtsstaat und die Freiheit, noch wirksamer gestützt werden kann, als dies in einer Republik möglich ist“.

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knüpfung von Wiedervereinigung und einer in diesem Zusammenhang vielleicht möglichen monarchischen Erneuerung aufgegriffen – freilich ohne den (seinerzeit noch immer kompromittierten) Namen Hubers zu erwähnen –, wenn er feststellt, nur Artikel 146 des Bonner Grundgesetzes weise den „einzigen legalen und legitimen Weg, zu einer Monarchie zu kommen“, und wenn er anschließend darauf hinweist, dass allein „die Wiedervereinigung Deutschlands den Zeitpunkt darstellt, an dem die Monarchie rechtlich in einer gesamtdeutschen Verfassung verankert werden könnte. Jeder vorzeitige Restaurationsversuch würde die größte Chance der Monarchie verspielen, die Klammer um das ganze geeinte Deutschland werden zu können und alsdann auch einen dieser Einheit angepaßten und besser funktionierenden Föderalismus herauszustellen“. Hierbei würde es sich indessen, so Schoeps weiter, „schwerlich um eine bloße Restauration handeln können, sondern es müßte eine echte Renovatio werden, die über eine legitimierende und Autorität begründende historische Leistung des Prätendenten führt. Das Hervortreten des Thronanwärters in geschichtlicher Schicksalsstunde könnte ihn in den Augen der Nation zum unentbehrlichen Garanten der Reichseinheit machen, weil Kaiser und Reich innerlich zusammengehören und die Monarchie noch mehr ist als nur der historische Begriff für das Deutsche Reich“46.

46 Die Zitate: Schoeps, Kommt die Monarchie? (wie Anm. 43), 62 f.; vgl. auch die spätere rückblickende Äußerung in: derselbe, Rückblicke (wie Anm. 14), 170 f.: „Eine etwaige Erneuerung der Monarchie in Deutschland wird . . . schwerlich etwas anderes bedeuten können als eine allerdings wünschenswerte Retardierung, die eine sich heißlaufende Maschine in ein ruhigeres und weniger gefahrenvolles Tempo bringt. Aber weder kommt dadurch der Zug zum Stehen, noch wird er rückwärts fahren, noch zu einem anderen Bestimmungsziel als es das Schicksal uns bereit hält. Als gedanklich wenigstens vorstellbar faßte ich eine solche Möglichkeit für den Zeitpunkt der Wiedervereinigung ins Auge, weil dann eine Krone die stärkste Klammer um die beiden getrennten Landeshälften werden kann. Nur solch eine plastische Schicksalsstunde könnte den Thronanwärter als Repräsentanten für die wiedererlangte Einheit des Deutschen Reiches in den geschichtlichen Vordergrund treten lassen“.

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Das schon seinerzeit viel belächelte Eintreten von HansJoachim Schoeps für die Monarchie erscheint aus der Perspektive der frühen 1950er Jahre jedoch nicht unbedingt so abseitig, wie es aus heutiger Sicht allenfalls erscheinen mag. Immerhin lag der Untergang der Monarchie in Deutschland gerade erst einmal eine Generation zurück (es waren im Jahr 1953 nicht mehr als fünfunddreißig Jahre seit der Abdankung des Kaisers und der deutschen regierenden Fürsten vergangen), und Umfragen innerhalb der westdeutschen Bevölkerung ergaben damals vermutlich tatsächlich eine nicht geringe Minderheit, die sich für eine Rückkehr zur Monarchie aussprach. Ein großer Teil der damals lebenden erwachsenen Deutschen war immerhin noch im Kaiserreich geboren und aufgewachsen; die Erinnerung an die Zeit vor 1918 war um 1952 trotz aller vorangegangenen Umbrüche noch keineswegs vollständig verblasst47. Und dennoch ergab sich eine ernsthafte politische Option für die Monarchie weder jetzt noch später; auch Schoeps selbst, der zu Beginn der 1970er Jahre unter veränderten Bedingungen noch einmal den Versuch unternahm, eine konservative Sammlungsbewegung zu begründen, hat in dieser Zeit bereits darauf verzichtet, die Wiederherstellung der Monarchie erneut in das Programm einer solchen Gruppierung aufzunehmen48.

47 In diesem Zusammenhang aufschlussreich ist auch eine wohl nur halb ironisch gemeinte Äußerung Golo Manns, der am 4. April 1947 an Karl Jaspers schrieb: „Für Deutschland (um Ihnen doch noch einen Spass zu machen) bin ich geschworener Föderalist und würde am liebsten die Wittelsbacher in Bayern und die Braunschweiger in Hannover sehen. Die konstitutionelle Monarchie ist die beste Regierungsform für Europa und das sicherste Bollwerk für die Rechte des Einzelnen gegen totalitäre Tyrannei. Leider wird sie nie wieder kommen“; Golo Mann, Briefe 1932 – 1992, hrsg. v. Tilmann Lahme / Kathrin Lüssi, Göttingen 2006, 89. 48 Vgl. Hans-Joachim Schoeps, Ja – Nein – und trotzdem. Erinnerungen – Begegnungen – Erfahrungen, Mainz 1974, 159 – 200.

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V. In der heutigen deutschen Staats- und Verfassungslehre wird das Problem der Monarchie kaum noch thematisiert – allenfalls dann, wenn es um eine vermeintlich präzisere Bestimmung des staatsrechtlichen Republikprinzips im Rahmen eines demokratischen Verfassungsstaats geht. So ist etwa argumentiert worden, dass die „Republik als formaler Begriff . . . aus dem Gegensatz zur Monarchie“ lebe, denn: „Der Staat als Republik ist dadurch gekennzeichnet, daß er Nicht-Monarchie ist“49. Neuere Autoren haben, diese Argumentation noch verschärfend, daraus sogar ein eigentliches „Monarchie-Verbot“ des demokratischen Verfassungsstaates ableiten wollen, indem die Auffassung vertreten wird, dass eine wirkliche Demokratie zum einen eine „ununterbrochene Legitimationskette vom Volk zu allen Staatsorganen und ihren Handlungen“ erfordere, die „mit der Errichtung einer Erbmonarchie zerrissen“50 würde, während andererseits nicht einmal eine Wahlmonarchie mit der repräsentativen Demokratie vereinbar sei, da eine solche „für die Legitimation der Staatsorgane nicht nur bloß Wahlen, sondern periodisch wiederkehrende Wahlen“ erfordere, und zwar aus dem Grunde, weil jede „vom Volk ausgehende, demokratische Herrschaft . . . Herrschaft auf Zeit“ sei; eine Wahlmonarchie könne „diesen Anforderungen nicht gerecht“51 werden. Vergleicht man derartige Auffassungen mit der Sachlichkeit, Klarheit, Stringenz und Unbefangenheit, mit der Ernst Rudolf Huber vor fast sechs Jahrzehnten das Monarchieproblem im Verfassungsstaat des Grundgesetzes thematisierte, dann fällt vor allem eines auf: die Unbeholfenheit neuerer staatsrecht49 Ernst Wolfgang Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: derselbe, Staat, Verfassung, Demokratie. Studien zur Verfassungstheorie und zum Verfassungsrecht, Frankfurt a. M. 1991, 289 – 378, hier 373. 50 So – im Anschluss an Böckenförde – Peter Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes. Eine verfassungsrechtliche Rekonstruktion (Jus Publicum. Beiträge zum öffentlichen Recht, 82), Tübingen 2002, 574. 51 Ebenda, 575.

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licher Scholastik, die nicht einmal mehr imstande ist, den Kern der Monarchiefrage im heutigen Verfassungsstaat herauszuarbeiten: nämlich die Notwendigkeit, aber eben auch die Möglichkeit der demokratischen Legitimation einer Monarchie. Huber hat seinerzeit genau erkannt, dass eine Monarchie heute nur noch dann möglich ist, wenn sie über eine klare demokratische Legitimation verfügt, d. h. konkret: von der Mehrheit des Volkes gewünscht wird. Hierin liegt die Zentralfrage des Problems – und nicht darin, ob durch eine Monarchie vielleicht „Legitimationsketten“ zerrissen werden oder „periodisch wiederkehrende Wahlen“ eines Staatsoberhaupts unmöglich werden. Und hierin liegt ebenfalls die Antwort auf die Frage, warum die konkrete Möglichkeit zur Wiedereinführung der Monarchie in Deutschland nach 1945 nun einmal nicht mehr gegeben war: eine Mehrheit der Deutschen hat diese Staatsform offensichtlich nicht gewollt – eine Tendenz, die seit den 1960er Jahren und auch infolge des Generationenwandels fraglos noch zugenommen hat52. Mit dieser nicht zu bestreitenden Tatsache haben sich auch Monarchisten wie Schoeps abfinden müssen. Das ändert aber nichts daran, dass es Monarchien gab und heute noch gibt, die mit Selbstverständlichkeit als integraler Bestandteil demokratischer Verfassungsstaaten angesehen werden können. Eine Staatsrechtslehre, die im bundesdeutschen Grundgesetz und dessen „Verfassungsbegriff“ offenbar das Maß aller demokratischen Dinge sieht und deshalb die Auffassung vertreten zu können meint, im Rahmen einer Monarchie sei selbst bei ministerieller „Gegenzeichnungspflicht für amtliche Handlungen eines Monarchen gegenüber einem demokratisch legitimierten Staatsorgan . . . das erforderliche Niveau demokratischer Legitimität (jedenfalls bezogen auf den Verfassungsbegriff des Grundgesetzes) nicht erreicht“53, neigt jedenfalls dazu, (trotz 52 Vgl. dazu auch Selzam, Monarchistische Strömungen (wie Anm. 6), 352 f. 53 Unruh, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes (wie Anm. 49), 574 f.

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gegenteiliger Bemerkungen) den bestehenden demokratischparlamentarischen Monarchien wie in Großbritannien, Spanien, den Beneluxländern und den skandinavischen Staaten ihre demokratische Legitimation54 wenigstens implizit zu bestreiten55. Ohne jeden Zweifel ist das Zeitalter der Monarchie in Deutschland vorbei; eine monarchische Restauration dürfte heute wie künftig kaum noch denkbar sein. Das sollte jedoch nicht dazu führen, diese Staatsform, die mehr als ein Jahrtausend deutscher Geschichte bestimmt und geprägt hat und die noch heute in vielen Staaten mit demokratischer Tradition besteht, zu verkennen oder in ihrer Bedeutung zu unterschätzen.

54 Vgl. nur zur heutigen britischen Monarchie aus der neueren Literatur u. a. Vernon Bogdanor, The Monarchy and the Constitution, Oxford 1995, passim; Ian Loveland, Constitutional Law. A Critical Introduction, London / Dublin / Edinburgh 1996, 102 – 133; Anthony King, The British Constitution, Oxford 2007, 341 – 343. 55 Vgl. dazu auch die kuriose Fußnote Unruhs, Der Verfassungsbegriff des Grundgesetzes (wie Anm. 50), 575, Anm. 706, in der eben jene Monarchien allen Ernstes als „Abweichungen zur spezifischen Ausgestaltung des demokratischen Verfassungsstaates im Verfassungsbegriff des Grundgesetzes“ bezeichnet werden! Sind diese Länder damit automatisch Demokratien minderer Ordnung?

Menschenrechte und Souveränität erneut bedacht Von Gerd Roellecke Das Problem ist so alt wie die beiden Errungenschaften. Souveränität und Menschenrechte passen schlecht zueinander. Souveränität bedeutet unabgeleitete Staatsgewalt. Menschenrechte begrenzen Staatsgewalt und können sie legitimieren, zum Beispiel bei humanitären Unternehmen oder, wenn man sie als Teilhaberechte versteht. Die Auflösung des Widerspruches ist schwer zu konstruieren, weil er die offene Frage nach der Rolle des Individuums in der Gesellschaft spiegelt. Durchweg gibt man aber bei einem echten Widerstreit der Souveränität den Vorzug.1 Das lässt sich leichter begründen, entspricht dem Bild, das sich jeder von den Kräfteverhältnissen macht, und besänftigt Existenzängste. Die Diskussion ist noch nicht abgeschlossen.

1 Vgl. M. Herdegen, Der Universalitätsanspruch des Rechtsstaates: Menschenrechtsmission?, in: Hans-Martin Pawlowski / Gerd Roellecke (Hrsg.), Der Universalitätsanspruch des demokratischen Rechtsstaates, ARSP Beiheft 65, Stuttgart 1996, S. 117 – 127, 124. Neuerdings etwas zurückhaltender derselbe, Souveränität heute, in: Herdegen / Klein / Papier / Scholz (Hrsg.), Staatsrecht und Politik. Festschrift für Roman Herzog zum 75. Geburtstag, München 2009, S. 116 – 130, 129. Im gleichen Sinne bereits U. K. Preuss, Der Universalitätsanspruch der konstitutionellen Demokratie und das Völkerrecht: Humanitäre Interventionen und christlicher Missionarismus, in: Manfred Brocker / Tine Stein (Hrsg.), Christentum und Demokratie, Darmstadt 2006, S. 197 – 211.

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I. Schwäche überwindet Stärke Zwei Beispiele. Das Asylrecht (Art. 16a GG) war einmal das Recht eines Staates, Flüchtlingen Asyl zu gewähren. 1987 konnte Kay Hailbronner2 eine Analyse der damaligen Asylpolitik überschreiben: „Vom Asylrecht zum Asylbewerberrecht“. Inzwischen hat die Rechtsprechung das Asylrecht im Sinne des Grundgesetzes längst zur Verleihung eines subjektiven öffentlichen Rechtes erklärt.3 Das Asylrecht wird von einem Begehren auf Hilfe in der Not zu einem subjektiven Menschenrecht auf Einreise. Dahinter steckt sogar ein verständliches Anliegen. Hannah Arendt4 hat unter dem Eindruck der nationalsozialistischen Judenverfolgung und -vertreibung das Menschenrecht postuliert, wenigstens Rechte haben, das heißt, einem Staat angehören zu können. Aber Mitgliedschaft kann nicht nur das abstrakte Recht eines Subjektes sein. Organisationen haben Aufgaben, deren Erfüllung grundsätzlich nicht durch rechtlich aufgedrängte Mitgliedschaften gestört werden darf. Und gerade wenn Mitgliedschaften für den Einzelnen existenziell notwendig sind, muss man dafür sorgen, dass Organisationen bestehen und sich entwickeln können. Würdigt man Organisationen allein unter dem Aspekt der „Weiterentwicklung der Menschenrechte“, das heißt, der Schutzbedürftigkeit des Individuums, so ruiniert man nicht nur die Organisationen, sondern beeinträchtigt auch die Menschenrechte. Das zweite Beispiel knüpft nicht an den Einzelnen, sondern an Gruppen an. Normalerweise bindet das westliche Kriegsvölkerrecht, das sich etwa seit dem Dreißigjährigen Krieg entwickelt hat und heute weltweit den Ton angibt, beide krieg2 Vom Asylrecht zum Asylbewerberrecht, in: Fürst / Herzog / Umbach (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Zeidler Band 1, Berlin / New York 1987, S. 919 – 937. 3 A. Randelzhofer in: Maunz / Dürig, Komm. zum GG, Art. 16a Abs. 1 Randnr. 27. 4 Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft 1951, Studienausgabe München 1986, S. 460.

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führenden Parteien. Aber die Anerkennung des Kriegsvölkerrechtes war von vornherein mit einem Kulturvorbehalt und einem Vorbehalt zugunsten der schwächeren Partei versehen. Guerillas, Partisanen und Widerständler aller Art nutzen die psychologische Wirkung, die jede terroristische Roheit hat, um sich taktische Vorteile zu verschaffen. Noch im Balkankrieg 1995 haben sich bosnische Serben dadurch gegen Luftangriffe geschützt, dass sie waffenlose UN-Soldaten als menschliche Schutzschilde an militärisch wichtigen Punkten angekettet und Bilder der Angeketteten über ihren Fernsehsender veröffentlicht haben.5 Andere Gruppen versuchen, aus unterschiedlichen kulturellen Wertungen, etwa der Rolle der Frau, Vorteile im Kampf zu ziehen. In Afghanistan sind Taliban bei Feuer der NATO-Truppen hinter lebenden Frauen und Kindern in Deckung gegangen. Vergleichbares sollen Hamas-Mitglieder im letzten Gaza-Krieg Anfang 2009 getan haben. Genaueres konnte man der Tagespresse aber nicht entnehmen. Dafür konnte man wiederholt lesen, dass die Israelis die palästinensische Zivilbevölkerung geschädigt und das Gebot der Verhältnismäßigkeit missachtet haben. Das bedeutet, die kriegerischen Akte der Israelis hat man sorgfältig beobachtet und dokumentiert, die Handlungen der Hamas aber kaum registriert. Auseinandersetzungen wie die im Gaza-Streifen zwischen den weit überlegenen Israelis und der militärisch und organisatorisch unterentwickelten Hamas nennt man seit einiger Zeit „asymmetrische Kriege“. Neu ist das Phänomen aber nicht. Im 18. und 19. Jahrhundert sprach man von „Kleinen Kriegen“ und meinte damit Aufstände in Kolonien oder besetzten Ländern. Man wusste auch immer, dass Guerillas häufig Kampfesweisen anwenden, die reguläre Truppen nur als barbarisch verstehen können. In der Regel hat man aber darüber hinweg gesehen.6 Häufig hat man sogar die wilden FAZ Jahreschronik 1995, S. 39 f. Näher G. Roellecke, Krieg und Terror, Festschrift für Roman Herzog (Anm. 1), S. 394 – 406. 5 6

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Haufen von Kosaken, Husaren, Panduren, Jägern oder schottischen Hochländern als „Leichte Truppen“ in den eigenen Dienst genommen. Vielleicht wollte man sich die schockierende Wirkung ihrer Roheiten zunutze machen. Jedenfalls, „Terrorismus war immer schon eine Waffe der Schwachen“, schreibt Samuel P. Huntington7 gewohnt sarkastisch. Michael Pawlik8 hat treffend daraus abgeleitet, dass Schwäche variabel, Asymmetrie ein Konstrukt und Terrorismus eine Strategie ist. Man kann gleichsam auf die eigene Schwäche spekulieren. Auch das ist keine neue Einsicht. Der englische Parlamentarier William Gerard Hamilton (1729 – 1796)9 hat es für politische Auseinandersetzungen bereits gesagt: „Wenn jemand mächtig ist, muss er verhasst gemacht werden, wenn hilflos – verächtlich, wenn böse – abscheulich“. Helfen kann offenbar ein so starker Beweggrund sein, dass er nur durch persönliche Diskreditierung des Hilfesuchenden überwunden werden kann. Im 18. Jahrhundert war es aber auch möglich, dass Hilfe von vornherein nicht mehr als Tugend galt, sondern als „Ausbeutung der Mildtätigen“.10 Damit ist die Vergleichsbasis der beiden Beispiele dargelegt. Es ist die – natürlich immer relative – Schwäche und Hilflosigkeit. Darin gleichen sich Asylanten und Widerständler. Als Unterlegene, die um ihre Existenz kämpfen, scheint ihnen die Sympathie der (westlichen) Weltöffentlichkeit sicher zu sein. Deshalb gibt es viele Leute in Ämtern und Ministerien, die über „Unzulänglichkeiten“ großzügig hinwegsehen oder den Schwachen sogar kleine Vorteile zuschanzen, und andere, die gezielt solche Leute in Amt und Würden bringen. Ein Beispiel erleben wir derzeit (2009) auf europäischer Ebene. Die EUKampf der Kulturen, deutsch München / Wien 1996, S. 299. Der Terrorist und sein Recht, München 2008, S. 10: „Terrorismus als Kriegführung“. 9 Die Logik der Debatte, hrsg. von G. Roellecke, 3. Aufl., Heidelberg 1978, S. 54. 10 N. Luhmann, Formen des Helfens im Wandel gesellschaftlicher Bedingungen, in: derselbe, Soziologische Aufklärung 2, Opladen 1975, S. 134 – 149, 138. 7 8

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Kommission schlägt die Einrichtung eines Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen vor,11 um „die praktische Zusammenarbeit zwischen den Mitgliedstaaten im Bereich Asyl zu erleichtern und zu intensivieren“,12 in der Sache eine weitere teuere europäische Agentur. Der Ausschuss für bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres des Europäischen Parlamentes hat nichts Besseres zu tun, als eine Änderung des Regelungsvorschlages zu verlangen, um Nichtregierungsorganisationen eine satte Beteiligung an dem neuen Büro zu sichern. Begründung: „Unabhängige Fachleute aus dem Asylbereich, etwa nichtstaatliche Organisationen (NGO), Personen, die in der Praxis mit dieser Problematik zu tun haben, Richter und Hochschulen, können einen wesentlichen Teil zur Tätigkeit des EASO leisten“.13 Richter und Hochschulen auf eine Ebene mit NGOs zu stellen, soll wahrscheinlich die Sachverständigen-Autorität der NGOs erhöhen. Das ist auch erforderlich. Eine der wichtigsten Sachfragen in Asylverfahren ist die nach den Verhältnissen in den Herkunftsländern, und wer könnte darüber besser Auskunft geben als die „Personen, die in der Praxis mit dieser Problematik zu tun haben“, weil sie aus den Herkunftsländern emigriert sind. Auf diese Weise erhalten Emigranten Gelegenheit, ihren Befreiungskampf im Gastland fortzusetzen. Ein Effekt dieser Einstellung dürfte der der altgriechischen Phalanx sein, in der die Krieger dicht an dicht mit dem Schild in der Linken und dem Schwert in der Rechten kämpften und Schutz auch hinter dem Schild des Nachbarn suchten. Eine Phalanx, die sich bewegte, neigte deshalb unweigerlich nach rechts. Zwei gegeneinander drängende Phalangen schienen sich daher um eine unsichtbare Achse zu drehen.14 Ähnlich Zeitschrift für Ausländerrecht und Ausländerpolitik 2009, S. 116 f. Vorschlag der Kommission vom 20. Februar 2009, Kom(2009) 66 endg., Ratsdok. 6700 / 09, S. 2. 13 Bericht vom 29. 4. 2009, A6 – 0279 / 2009, S. 7 f. 14 Nach J. Keegan, Die Kultur des Krieges, deutsch Hamburg 1997, S. 359. 11 12

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muss man sich die Wirkung der Bewegung denken, die an den Institutionen nagt, um armen Schwachen zu helfen, selbst wenn die Hilfe Schwachen zugute kommt, denen man den Schutz der Schwachen lieber nicht anvertrauen möchte.15 Von der Phalanx unterscheidet sich diese Bewegung vornehmlich dadurch, dass ihr kein gleichartiger Gegner gegenüber steht. Gegner sind die Reichen und Mächtigen, die durch das do-utdes-Prinzip in ihre Position gelangt sind, nicht durch Caritas. Sie sollen bluten. Aber was dann? Schon Hegel16 hat in seiner fundamentalen, aber wenig berücksichtigten Kritik am Kategorischen Imperativ Kants gespottet: „Wird es aber gedacht, dass den Armen allgemein geholfen werde, so gibt es entweder gar keine Armen mehr oder lauter Arme, und da bleiben keine, die helfen können, und so fiele in beiden Fällen die Hilfe weg“. Und wenn die Hilfe wegfällt? Unterscheiden die Menschen dann nicht mehr zwischen Mein und Dein? Erhält dann jeder das Gleiche oder Dasselbe wie im Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg?17 Oder hat Hegel mit Recht weiter in der Wunde gebohrt: „Wenn Armut bleiben soll, damit die Pflicht, Armen zu helfen, ausgeübt werden könne, so wird durch jenes Bestehenlassen der Armut unmittelbar die Pflicht nicht erfüllt“. II. Die Stärke der Schwäche Selbstverständlich glaubt Hegel nicht, man könne das Armutsproblem mit logischen Spielereien lösen. Das wirft er im Grunde genommen Kant vor. Hegel selbst hält Armut (und 15 Wie hier O. Depenheuer, Risiken und Nebenwirkungen menschenrechtlicher Universalität, in: Josef Isensee (Hrsg.), Menschenrechte als Weltmission, Berlin 2009, S. 81 – 100, 87. 16 Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften, in: G. W. F. Hegel, Werke in zwanzig Bänden, Band 2, Frankfurt 1970, S. 434, 466. 17 Ausführlicher G. Roellecke, Gerechtigkeit und Soziale Gerechtigkeit, Zeitschrift für Rechtsphilosophie 2004, S. 17 ff.

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Schwäche) für ein gesellschaftliches Phänomen, das zuerst durch die Familie abgearbeitet werden müsse. Da aber die bürgerliche Gesellschaft das Individuum aus der Familie gerissen habe und die Individuen einander fremd geworden seien, „so ist das Individuum Sohn der bürgerlichen Gesellschaft geworden, die ebensosehr Ansprüche an ihn, als er Rechte auf sie hat“. Die Gesellschaft soll dem Armen aber nicht nur helfen, weil er ein Recht auf Hilfe hat, sondern auch, um „die Erzeugung des Pöbels“ zu vermindern. Pöbel ist „die mit der Armut sich verknüpfende Gesinnung, . . . die innere Empörung gegen die Reichen, gegen die Gesellschaft, die Regierung usw.“ Bei Hegel ist es also letztlich das Eigeninteresse der gesamten Gesellschaft an einer guten Ordnung, das zur Hilfe verpflichtet. Hegel deutet aber auch an, was die Durchsetzung des Eigeninteresses antreibt: die Empörung, der Protest, soziale Unruhe.18 Niklas Luhmann verschiebt das Thema von Armut auf Hilfe und ändert die Perspektive vom denkenden Subjekt auf die Ordnung der Gesellschaft, argumentiert in der Sache aber parallel zu Hegel. Luhmann19 geht davon aus, „dass Helfen nur zustande kommt, wenn und soweit es erwartet werden kann“. Hilfe sei zeitlicher Bedarfsausgleich, dessen Formenvielfalt sich aus den unterschiedlichen Bedingungen ergebe. In archaischen, segmentär nach Familien, Clans oder Stämmen differenzierten Gesellschaften werde reziproke persönliche Hilfe unter Stammesangehörigen institutionalisiert. In hochkulturellen Gesellschaften mit Schichtendifferenzierung kommt es nicht mehr auf die Reziprozität des Helfens an. Jetzt werde Hilfe von oben nach unten gewährt und zum Statussymbol. Wer oben sitzt, muss freigebig sein. Die moderne, funktionsorientierte Gesellschaft beginnt, die unmittelbaren, personorientierten Not-, Hilfs- und Dankverhältnisse aufzulösen, und „konstituiert eine Umwelt, in der sich organisierte Sozialsys18 Hegel, Grundlinien der Philosophie des Rechts, §§ 238 – 244, Werke (Anm. 16), Band 7, S. 386 – 389. 19 Formen des Helfens (Anm. 10), S. 143 – 149.

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teme bilden können, die sich aufs Helfen spezialisieren“. Armenpflege wird zur Sozialarbeit. Da Organisationen allgemeine Programme benötigen, entwickelt jetzt die Politik Programme, nach denen die Organisationen verteilen. Das verbessert die Hilfe, aber es hat schädliche Folgen und Nebenwirkungen. Vor allem fallen mit Sicherheit Notfälle durch das Raster der Programme, die möglicherweise Skandale auslösen, die wiederum der Politik angelastet werden und Hilfe zum politischen Problem machen. Dass nicht die Not, sondern Programme und Organisationen über die Gewährung von Hilfe entscheiden und manche Not unbeachtet bleibt, zwingt zu der Frage: Welcher Grund bewirkt, dass Programme und Organisationen wirklich zu helfen versuchen und ihre Mittel nicht einfach versickern lassen? Moral oder soziale Unruhen sind keine zureichenden Antworten, weil sie zu unspezifisch sind. Sie können sich auch gegen Programme und Organisation überhaupt richten, wie die Globalisierungsgegner belegen. Was also ist der spezifische Grund für Hilfe? Darauf hat Luhmann später eine überzeugende Antwort gefunden. Die moderne, funktionsorientierte Gesellschaft – und nur um die geht es im Folgenden – muss die Beachtung von Funktionen und damit die Berücksichtigung der speziellen Fähigkeiten jedes einzelnen ständig durchsetzen. Das erreicht sie, indem sie allen anderen Unterscheidungen eine gleich / ungleich-Unterscheidung vorschaltet.20 Das Gleichheitsurteil setzt einen Vergleichsmaßstab voraus. Vergleichsmaßstab ist jetzt nicht mehr die Zugehörigkeit zu einem Clan oder ein hoher Rang, sondern die Funktionserfüllung. Funktionieren kann die Funktionserfüllung aber nur, wenn alle mitmachen, sei es, dass sie auslesen, sei es, dass sie sich auslesen lassen. Die Allgemeinheit des Mitmachens wird durch die gleich / ungleich-Unterscheidung aber offenkundig erschwert. Der Vergleichsmaßstab produziert ungeeignete und nicht integrierbare 20 Im Einzelnen N. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1987, S. 611 – 618.

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Personen, die eigentlich an den Rand der Gesellschaft gedrängt und ausgeschaltet werden müssten. Das würde aber die Funktionserfüllung erschweren. Um diese Schwierigkeit zu beheben, werden alle Personen mit einer Inklusion / Exklusion-Unterscheidung inkludiert, eingeschlossen, damit der Geeignetste an die richtige Stelle kommen kann. Aber wo es Inklusion gibt, gibt es auch Exklusion. Auch wenn die großen Funktionssysteme für alle offen sind und alle zulassen wollen, gibt es nicht integrierbare Personen und Personen, die nicht das Mindestmaß an Kulturtechniken beherrschen, das die meisten Systeme für die Teilnahme voraussetzen. Exklusionen kann die moderne Gesellschaft jedoch streng genommen nicht dulden. Sie versucht, sie auf Biegen oder Brechen zu vermeiden. Deshalb sollen geistig behinderte Kinder mit gesunden Kindern zusammen erzogen werden, obwohl es in Sonderschulen Spezialisten gibt, die sich der behinderten Kinder annehmen. Ist die Nichtintegrierbarkeit zu deutlich, werden die Nichtintegrierbaren im wörtlichen Sinne ausgeschlossen, für krank erklärt, weggeschlossen, versteckt, in Ghettos geschickt und am Ende möglicherweise getötet.21 Auf diese Weise wird die Inklusion dann doch universalisiert. Basis der modernen Gesellschaft ist also der nicht aufzulösende und deshalb laufend klein zu arbeitende Widerspruch zwischen Funktionserfüllung und der Beteiligung aller an allen Funktionssystemen. Klein arbeiten kann man den Widerspruch mit allen Traditionen und historischen Erfahrungen, auch mit Moral. Man wird deshalb immer wieder feststellen können, dass archaische oder hochkulturelle Verhaltensweisen noch in der Moderne eingesetzt werden, zum Beispiel um Personal zu rekrutieren. Aber normalerweise regiert die Funktionserfüllung. Niklas Luhmann22 hat auch die Entwicklung der Menschenrechte in diesem Licht beobachtet: „Die Funktion einer Inklusionssemantik wird noch im 18. Jahrhundert 21 Zum Problem eindrucksvoll H. Bude, Die Ausgeschlossenen. Das Ende vom Traum der gerechten Gesellschaft, München 2008. 22 Gesellschaft (Anm. 20), S. 628.

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durch das Postulat der Menschenrechte übernommen. Deren Stoßrichtung geht gegen die alten Differenzierungen, und zugleich werden damit die Inklusionsbedingungen aller Funktionssysteme zusammengefasst, wird also wiederum ein differenzneutrales ,menschliches‘ Prinzip vertreten“. Aber die Exklusion wird auch hier „unbeleuchtet mitgeführt“. Als die Menschenrechte erfunden wurden, begann die hohe Zeit des Sklavenhandels, nicht als Folge, sondern zeitgleich. Der berühmteste Beleg sind die Grundrechte von Virginia vom 12. Juni 1776, in denen das gute Volk von Virginia die Menschen für frei und gleich an Rechten erklärte, als nebenan auf den Feldern noch Sklaven arbeiteten. Die Quelle, aus der die Schwachen ihre Stärke schöpfen, – die Starken sind ohnehin stark – ist also die Inklusion, der Gedanke, dass alle an allem teilhaben sollen, natürlich auch an politischen Entscheidungen. Deshalb gibt es Demokratie. Inklusion ist eine unerlässliche Voraussetzung für die Erfüllung gesellschaftlicher Funktionen. Es ist daher das Sosein der Gesellschaft selbst, das Hilfe erzwingt. Selbstverständlich heißt das nicht, dass die moderne Gesellschaft besonders gut oder moralisch wäre, sondern nur, dass sie der Logik ihrer eigenen Strukturen folgen muss.

III. Menschenrechte Diese Einsichten sind unmittelbar erheblich für das Verständnis der Menschenrechte. Menschenrechte leiden an einem Legitimationsdefizit. Sie sind das Ergebnis einer Kritik des älteren Naturrechtes und können sich nicht mit höheren Normen rechtfertigen. Deshalb passen sie schlecht in eine Ordnung, die mit positivem, gesetztem, das heißt: jederzeit in alle Richtungen änderbarem Recht arbeitet und damit eine unglaublich große Problemlösungskapazität entwickelt hat. Menschenrechte sind nicht gesetzt und prinzipiell nicht änderbar. Soweit sie positiviert sind, gilt die Positivierung als schlichte Bestätigung von – Menschenrechten. Das ist

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aber in einer positivistischen Ordnung eine schwache Argumentation.23 Deshalb versuchen einige Autoren immer wieder, zu zeigen, dass schon die Antike ähnliche Normen kannte und die modernen Menschenrechte eigentlich christlichen Ursprungs seien. Repräsentativ, wenn auch besonders stark vereinfachend, ist Dieter Blumenwitz24: „Erfolgversprechende Ansätze für die Entwicklung der Menschenrechte gab es in vielen (außerklassischen) Rechtskreisen, aber nur von den Grundlegungen des klassischen Altertums her lässt sich in Ideengeschichte und Übung eine ununterbrochene Entwicklung – das Wechselspiel von Thesis und Antithesis, von Verunsicherung und Neubestätigung mit einbezogen – bis zur Verfassungs- und Staatenpraxis der Gegenwart beobachten“. Diese Ansicht vernachlässigt die spezifische Modernität der Menschenrechte. Selbstverständlich haben die Menschen schon vor der verbreiteten Anerkennung von Menschenrechten individuelle Rechte gehabt, sogar angeborene. Das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 (ALR) ist in dieser Frage ein besonders gutes Zeugnis, weil es einerseits an der mittelalterlichen Standesidee festhält und andererseits zeigt, dass sich die alte Standesordnung nicht mehr in die politische und rechtliche Praxis umsetzen lässt. Das Gesetz beschreibt die drei Stände Adel, Bürger und Bauern ohne viel Rücksicht auf die Konsequenzen: „Unter dem Bauernstande sind alle Bewohner des platten Landes begriffen, welche sich mit dem unmittelbaren Betrieb des Ackerbaus und der Landwirthschaft beschäftigen, in so fern sie nicht durch adliche Geburt, Amt oder besondre Rechte von diesem Stand aus23 Zu dem ganzen Komplex N. Luhmann, Das Paradox der Menschenrechte und drei Formen seiner Entfaltung, in: derselbe, Soziologische Aufklärung 6, Opladen 1995, S. 229 – 236, 232. 24 Die historische Entwicklung der Menschenrechte im Vergleich unterschiedlicher Weltanschauungen und Kulturen, in: Eduard J. M. Kroker / Bruno Dechamps (Hrsg.), Das Menschenbild der freien Gesellschaft. Globalisierung und Europäische Integration, Frankfurt a. M. 2000, S. 29 – 41, 32; treffender H. Bielefeldt, Der Universalitätsanspruch der Menschenrechte und die Pluralität der Kulturen, daselbst, S. 43 – 63, 54.

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genommen sind“ (ALR II 7 § 1). „Der Bürgerstand begreift alle Einwohner des Staats unter sich, welche, ihrer Geburt nach, weder zum Adel, noch zum Bauernstande gerechnet werden können“ (ALR II 8 § 1). „Zum Adelsstande werden nur diejenigen gerechnet, denen der Geschlechtsadel durch Geburt oder Landesherrliche Verleihung zukommt“ (ALR II 9 § 2). Das bedeutet, vor den Erklärungen der Menschenrechte erhielten die Menschen Rechte durch eine Ordnung, in die hinein sie geboren wurden und die als göttlich geschaffen oder natürlich geworden gedacht wurde. Diese Ordnung war durch die Entkoppelung von Religion, Politik und Recht25 jedoch unglaubwürdig geworden. Die Erklärungen der Menschenrechte – darunter werden hier vor allem die amerikanischen Grundrechte von Virginia vom 12. Juni 1776 und französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte vom 26. August 1789 verstanden – wollten diese Ordnung daher durch Selbstbestimmung aller Menschen, also durch Selbstbezug aufheben.26 Insofern waren die Erklärungen revolutionär und dürfen daher nicht als Fortsetzung der alten Ordnung gedacht und in ihrem Sinne interpretiert werden.27 Aber die Menschenrechte wollten die alte Ordnung nicht nur beseitigen, sie wollten sie durch eine neue, bessere Ordnung ersetzen. Der andere Teil der Menschenrechtserklärungen ist daher eine kurze Verfassung mit „Grundrechten“, Gewaltenteilung, Demokratie, Gesetzmäßigkeit bis zur Souveränität und zum Ewigkeitsanspruch. Er fasst die Prinzipien zusammen, die für ein neues Gemeinwesen als unerlässlich galten. 25 Im Einzelnen G. Roellecke, Die Entkoppelung von Recht und Religion, JZ 2004, S. 105 – 110. 26 Treffend Depenheuer, Risiken und Nebenwirkungen (Anm. 15), S. 84. 27 Überzeugend H. Hofmann, Zur Herkunft der Menschenrechtserklärungen (1988), in: derselbe, Verfassungsrechtliche Perspektiven. Aufsätze aus den Jahren 1980 – 1994, Tübingen 1995, S. 3 – 22; vor allem derselbe, Menschenrechtliche Autonomieansprüche – Zum politischen Gehalt der Menschenrechtserklärungen, daselbst, S. 51 – 72.

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In diesem zweiten Teil erweisen sich die Menschenrechte als nicht so revolutionär, wie sie vorgeben. „Frei und gleich an Rechten werden die Menschen geboren und bleiben es“, dieser Satz gewinnt sein Pathos aus dem Gedanken, der Herr über Leben und Tod verteile Schicksal und Stand, der freilich jetzt der Stand der Gleichheit ist. Souveränität galt – allerdings nur auf dem Kontinent, nicht in England und daher auch nicht in den USA – als königliches Recht. Und den Gesetzesvorbehalt, das Leistungsprinzip, die Möglichkeit, die Regierung zu beseitigen, die Gewaltenteilung, Geschworenengerichte, die Einrichtung von Armeen und „das strenge Festhalten an der Gerechtigkeit, Mäßigung, Enthaltsamkeit, Sparsamkeit und Tugend“ versteht man mit Hasso Hofmann28 wohl besser nicht als Menschenrechte, sondern als deren Sicherung, als deren institutionelle Umhegung. Ihren Sinn gewinnt die institutionelle Umhegung allerdings aus den Menschenrechten. Sie legitimieren Institutionen. Damit sind wir bei der dritten Dimension der Menschenrechte, auf die wiederum besonders Hasso Hofmann29 aufmerksam gemacht hat. Menschenrechte begründen Herrschaft, aber nicht jede, sondern nur die, die der Verwirklichung der Menschenrechte dient.30 Ob eine Herrschaft den Menschenrechten dient, hängt davon ab, ob sie die organisatorischen Vorkehrungen trifft, welche die Menschenrechtserklärungen vorgeben. Wegen des Universalitätsanspruches der Menschenrechte läuft diese Argumentation eigentlich auf einen Weltstaat hinaus. So konsequent sind die Menschenrechtserklärungen aber nicht. Die französische von 1789 betont vielmehr: „Jegliche Souveränität liegt im Prinzip und ihrem Wesen nach in der Menschenrechtliche Autonomieansprüche (Anm. 27), S. 57. Menschenrechtliche Autonomieansprüche (Anm. 27), S. 58 f. 30 Ähnlich die Demokratie-Denkschrift der Evangelischen Kirchen von 1985 in der Interpretation von W. Vögele, Mäßigung der Macht durch Mitverantwortung und Recht, in: Brocker / Stein, Christentum und Demokratie (Anm. 1), S. 131 – 146, 137. 28 29

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Nation“. Daraus hat die französische verfassunggebende Nationalversammlung gefolgert, „dass die Nation das unveräußerliche Recht hat, ihre Verfassung zu ändern“ (Französische Verfassung von 1791 Titel VII Art. 1 Satz 1). Genau hier setzt Edmund Burkes31 Kritik der französischen Revolution ein. Es gebe kein historisch unbeschränktes Recht zur Verfassungsänderung. In der Petition of Rights von 1627 habe das englische Parlament dem König erklärt, durch „Gesetz und Statuten dieses Reiches haben Eure Untertanen diese Freiheit ererbt“. Nicht irgendwelche abstrakten „Rechte des Menschen“ sicherten die Freiheit, sondern das, was jeder von seinen Vätern ererbt habe. „Wenn bürgerliche Gesellschaft zum Besten des Menschen gestiftet ist, so erwirbt der Mensch ein Recht auf alle die Vorteile, welche die Gesellschaft zum Zweck hat. Bürgerliche Gesellschaft ist ein Institut, dessen Essenz Wohltätigkeit ist, und das Gesetz selbst ist nichts anderes als Wohltätigkeit nach einer Regel. Es ist das Recht des Menschen, unter dieser Regel zu leben, es ist sein Recht, immer nach Gesetzen behandelt zu werden, weil er sich ständig unter seinesgleichen findet, diese mögen nun in öffentlichen Funktionen oder in Privatbeschäftigungen begriffen sein. Der Mensch hat ein Recht auf die Früchte seiner Industrie [Fleiß] und auf die Mittel, seine Industrie fruchtbringend zu machen. . . . und außerdem hat er seine gerechten Ansprüche auf einen billigen Anteil an allem, was die Gesellschaft mit allen ihren Mitteln, Kräfte und Geschicklichkeit zu vereinigen, zu seiner Beglückung beitragen kann“.32 Burke geht es um Rechte jedes wirklichen Einzelnen in seiner konkreten Umwelt, gleichsam in „seiner Gesellschaft“. Dieser Einzelne kann und soll Rechte haben, auch gleiche, aber nur nach Maßgabe dessen, was er selbst einzahlt oder bereit ist, einzuzahlen. Erst vor dem Hintergrund der Kritik Burkes wird deutlich, wie die Menschenrechtserklärungen die Souveränität der Na31 Betrachtungen über die französische Revolution, deutsch von F. Gentz, Frankfurt a. M. 1967, S. 67 ff. 32 Betrachtungen (Anm. 31), S. 104 f.

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tion herbei gezaubert haben. Sie haben den abstrakten Menschen der Menschenrechte per Analogie zur Nation abstrahiert und konnten dann der Nation jene autonome Freiheit zusprechen, die jeder Mensch als Einzelner besitzt: „alles zu tun, was anderen nicht schadet“, wie die französische Erklärung unter III formuliert. Aber die Analogie widerspricht der Tatsache, dass jeder einzelne Mensch für sich grundsätzlich erwarten darf, dass ihm die Gesellschaft das gibt, was sie ihm versprochen und was er sich verdient hat. Das Recht der Nation, ihre Verfassung zu ändern, ist daher genau so beschränkt wie politische Macht überhaupt. Auch Verfassungsänderungen gegenüber hat der Mensch „ererbte“, das heißt jeweils geltende Rechte. „Souveränität der Nation“ hebt daher den Grundwiderspruch zwischen den Rechten des Einzelnen und den Ansprüchen des Gemeinwesens nicht auf.

IV. Souveränität Dass die französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte umstandslos auf den Souveränitätsbegriff zurückgreift, obwohl Souveränität damals von Fürsten beansprucht wurde, darf nicht überraschen. Im Mittelalter bezeichnete Souveränität umfassende Herrschaftsgewalt über Land und Leute.33 Aber diese Vorstellung hat Jean Bodin34 (1529 – 1596) radikal modernisiert, indem er definierte: „Das hervorragendste Merkmal der fürstlichen Souveränität besteht in der Machtvollkommenheit, Gesetze für alle und für jeden einzelnen zu erlassen, und zwar, wie ergänzend hinzuzufügen ist, ohne dass irgendjemand – sei er nun höhergestellt, ebenbürtig oder von niederem Rang – zustimmen müsste“.35 Damit hat 33 Im Einzelnen H. Quaritsch, Staat und Souveränität, Frankfurt a. M. 1970, S. 249. 34 Six Livres de la République 1576, Auswahl bei Reclam: J. Bodin, Über den Staat, übersetzt und herausgegeben von G. Niedhart, Stuttgart 1976. 35 Bodin, Über den Staat (Anm. 34), S. 42; siehe auch Quaritsch, Staat und Souveränität (Anm. 33), S. 252.

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Bodin das Recht, das Recht zu ändern, von allen traditionellen, natürlichen und religiösen Rechtfertigungsgründen abgelöst und allein mit seinem Selbstbezug gerechtfertigt. Auf Stände, Natur und Kirche kam es nicht mehr an. Wie Helmut Quaritsch eindringlich gezeigt hat, hat Bodin dadurch einen Strukturwandel der Politik eingeleitet. Macht wurde von Herrschaft auf Befehl umgestellt, personale Treue auf formellrechtlich bezahl- und spezialisierbare Ermächtigungen, und die politische Theorie erhielt ein Instrument, mit dem sie untersuchen konnte, wer wirklich über die höchste Macht im Staate verfügte. Besonders die Umstellung von Herrschaft auf Befehl hatte weit reichende praktische Konsequenzen. Beispielsweise kehrte sie die alte Regel, nach der das ältere Recht das bessere war, um in die neuere Regel, dass jüngeres Recht älteres verdrängt, und ermöglichte dadurch die radikale Positivierung des Rechts. Vor allem konnte die Theorie jetzt zwei grundlegende Beziehungen unterscheiden. Die politische Einheit, die man Staat nannte, konnte als Befehlshierarchie konstruiert und dann auf ihre Außenbeziehungen wie auf ihre Innenbeziehungen überprüft werden. In diesem Sinne unterschied man zwischen äußerer Souveränität als einem Begriff des Völkerrechtes und innerer Souveränität als einem Begriff des Staatsrechtes.36 Mit ihrer Einfügung in das Völker- und Staatsrecht konnten sich innere und äußere Souveränität dann zu Ge- und Verbotsnormen mit Rechtsfolgen entwickeln. Souveränität wurde zu einem „Argument“. Ihre Normativität gewann sie aber nicht als Begriff oder Beschreibung, sondern als Teil des Völkeroder Staatsrechts. Nicht die Souveränität bestimmt also die Grenzen des Völker- oder Staatsrechtes, sondern das Völkeroder Staatsrecht bestimmt die Grenzen der Souveränität.37 36 Kurze klare Darstellung bei H. Dreier, Artikel „Souveränität“, Staatslexikon der Görres-Gesellschaft, Vierter Band, 7. Aufl., Freiburg i. Br. 1988, Spalte 1203 – 1209. 37 So treffend zur Frage der europäischen Integration Ch. Möllers, Staat als Argument, München 2000, bes. S. 387 ff. Der Fall der Souveränität zeigt freilich, dass Beschreibung, sogar Legitimation, etwas anderes ist als

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Dass sich auch die Menschenrechte bei dieser Unterscheidung entwickeln konnten, folgt einmal daraus, dass auch sie wie die Souveränität eine Reaktion auf die Entkoppelung von Religion, Recht und Politik waren, und zum anderen daraus, dass die Menschenrechte von der Kraft der Inklusion / Exklusion-Unterscheidung getragen wurden. Das musste zu dem Konflikt führen, der im Westen „humanitäre Intervention“ genannt wird. Zwar wurden Recht und Politik jetzt als religiös neutral gedacht. Aber die Inklusion aller Menschen galt natürlich auch für Recht und Politik. Deshalb lag sie quer zur Souveränität, besonders zur äußeren. Die Menschenrechte zwangen deshalb zu der Frage, ob die Völkerrechtsgemeinschaft zuschauen muss, wenn eine Regierung ihre eigene Bevölkerung massakriert.38 Diese Frage ist immer noch offen. Aber die Zulässigkeit humanitärer Interventionen hat in den letzten einhundert Jahren deutlich an Zustimmung gewonnen.39 Kein Wunder, sollte man meinen, steckt hinter den Menschenrechten doch der Gedanke der Inklusion. Gleichwohl ist das Wachsen an Zustimmung nur eine Momentaufnahme. Man kann die Entwicklung der Durchsetzung der Menschenrechte nicht gradlinig in die Zukunft verlängern. Die Erfahrung lehrt, dass eine humanitäre Intervention die nächste auslöst40, also nicht unbedingt den Frieden fördert,41 von der Gerechtigkeit nicht zu reden. Und die Logik zwingt zu der Einsicht, dass die Beschneidung der Souveränität durch Argument. Zum Fall der europäischen Integration ist bemerkenswert, dass Bodin (Souveränität I 8, Über den Staat, S. 28 f., Anm. 34) meinte, der Souverän dürfe nicht über die eigene Souveränität verfügen. Aber das hängt mit dem ständischen Problem zusammen, bei einer monarchischen Herrschaft die Nachfolgeregelung zu sichern. Vgl. Quaritsch, Staat und Souveränität (Anm. 33), S. 347 ff. 38 Wendung von Christopher Greenwood nach D. Murswiek, Souveränität und humanitäre Intervention, STAAT 35 (1996), S. 31 – 44, 44. 39 Herdegen, Souveränität heute (Anm. 1), S. 119 ff.; Preuß, Der Universalitätsanspruch (Anm. 1), S. 209. 40 Murswiek, STAAT 35 (1996), S. 44. 41 Depenheuer, Risiken und Nebenwirkungen (Anm. 15), S. 94 f., spricht mit Recht von „polemogenen Implikationen der Menschenrechte“.

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die Menschenrechte nicht endlos weiter gehen kann, weil es sonst eines Tages keine Souveränität und damit kein Völkerrecht mehr gibt, sondern nur noch einen Weltstaat, für den sich die Frage der humanitären Intervention nicht mehr stellt,42 weil er Menschenrechtsverletzungen begrifflich ausschließt. Wie die weitere Entwicklung verläuft, ist schwer zu prognostizieren. „Souveränität mit voller Verfassungsautonomie“ (Herdegen), also mit uneingeschränkter Macht über die eigene Rechtsordnung, ermöglicht immerhin eine äußere Gleichheit der Staaten und schließt die Möglichkeit von Retorsionen ein. Der „Schutz von Grundwerten der Völkerrechtsordnung“ (auch Herdegen) stößt dagegen erfahrungsgemäß auf wenig Gegenliebe. Man hat sogar den Eindruck, als ob „der Schutz von Grundwerten“ die Völker der – sagen wir – problematischen Staaten eher zusammendränge und zum Widerstand provoziere. Um den Gegensatz von Verfassungsautonomie und Grundwerten auf die Spitze zu treiben: Souveränität und Menschenrechte gelten als Grundlagen des Friedens in der Welt. Welche dogmatischen und normativen Gründe gibt es, bei einem Konflikt zwischen beiden die Menschenrechte vorzuziehen? Den soziologischen Grund kennen wir: Inklusion. Bei Inklusion geht es aber genau genommen nicht um „den Menschen“, sondern um die Funktionstüchtigkeit der Gesellschaft, und zwar der modernen Gesellschaft. In Jäger- und Sammlergesellschaften ist an Menschenrechte nicht zu denken. Was man der Souveränität entgegenhalten kann, hängt auch von ihrer rechtfertigenden Kraft ab. Der bin ich in einem anderen Beitrag43 für den Jubilar nachgegangen mit dem Ergebnis: Souveränität rechtfertigt das Recht, das Recht zu ändern, indem sie schon die Rechtfertigungsfrage zurückweist. Siehe auch Herdegen, Souveränität heute (Anm. 1), S. 121. Souveränität, Staatssouveränität, Volkssouveränität, in: Murswiek / Storost / Wolff (Hrsg.), Staat – Souveränität – Verfassung. Festschrift für Helmut Quaritsch zum 70. Geburtstag, Berlin 2000, S. 15 – 30, 21. 42 43

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„Sie gewinnt ihre legitimierende Kraft aus ihrer Fähigkeit, Rechtsänderungen zu legitimieren, die sich ihrerseits der legitimierenden Kraft der Souveränität verdanken. Die Souveränität ist selbstbezogen. Ihre Begründung endet in einem Zirkel“. Das kann auch nicht anders sein. Nur radikale Selbstreferenz kann sich von Religion und Politik distanzieren, nur sie schließt andere (mögliche) Rechtfertigungen und damit politischen Streit aus. Radikale Selbstreferenz ist indessen nicht leicht durchzuhalten. Bodin hatte mit der Unterscheidung von souveräner Herrschaft und Tyrannei zu kämpfen. Wenn man für souveräne Herrschaft um des Friedens willen auf alle materialen Rechtfertigungen verzichten muss, um jeden Anlass für Streitigkeiten auszuräumen, wie kann man sie dann noch von der Tyrannei unterscheiden? Eigentlich gar nicht. Im Falle der Tyrannei ersetzt Bodin denn auch formale Legalität einfach durch den Besitzstand, durch die Wahrung der Kontinuität. Diesen Rechtsgedanken kennen wir heute noch: Eigenmacht ist auch gegenüber fehlerhaftem Besitz verboten (§§ 858, 861 BGB).44 Thomas Hobbes hat sich ähnlich aus der Schlinge der Unterscheidung zwischen Souveränität und Willkür gezogen. Zwar schreibt er ausdrücklich, „die Rechte und Folgen der elterlichen wie der despotischen Gewalt sind völlig dieselben wie die eines Souveräns durch Einsetzung“.45 Aber im Unterschied zu Bodin betont er, dass jede Gewalt natürliche Grenzen hat. Deshalb gilt der Satz: „Die Verpflichtung der Untertanen gegen den Souverän dauert nur so lange, wie er sie auf Grund seiner Macht schützen kann, und nicht länger. Denn das natürliche Recht des Menschen, sich selbst zu schützen, wenn niemand anderes dazu in der Lage ist, kann durch keinen Vertrag aufgegeben werden“.46 Bei Souveränität geht es Im Einzelnen Roellecke, FS-Quaritsch (Anm. 43), S. 18. Th. Hobbes, Leviathan, hrsg. von Iring Fetscher, Neuwied und Berlin 1966, 20. Kap., S. 159. 46 Leviathan, 21. Kap., S. 171. 44 45

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indessen nicht um Natur, sondern um Gesellschaft, und der Gesellschaftsvertrag wird durch natürliche Grenzen nicht berührt. Radikale Selbstreferenz war jedoch auch ein radikaler Bruch mit dem mittelalterlichen Herrschaftsverständnis, das den Herrscher an göttliches und natürliches Recht und an seine eigenen Versprechen gebunden sah. Auf diese Furcht vor der Willkür der Mächtigen hat Bodin keine Rücksicht genommen. Die Religionskriege schienen fürchterlicher als der übelste Herrscher und waren es wohl auch. Zudem ließ die Furcht vor Willkür in der Hoffnung auf die Durchsetzung von Menschenrechten allmählich nach. Die politischen Verbrechen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sorgten aber dafür, dass die Furcht wieder stieg. Das wirkte sich auf das Souveränitätskonzept aus: „Gerade Staaten mit schwacher Präsenz der staatlichen Ordnung, mit schweren menschenrechtlichen Defiziten oder zweifelhafter demokratischer Legitimität ihrer Regierung beschwören besonders nachdrücklich die ,Souveränität‘ als Bollwerk gegen von außen angeforderte Standards“.47 Die Berufung auf Souveränität beginnt, unglaubwürdig zu werden. V. Menschenrechte und Souveränität haben beide die religiös grundierte mittelalterliche Ordnung aufgehoben. Heute sind sie wesentliche Momente der Modernisierung der Gesellschaft. „Das Prinzip der modernen Welt fordert [freilich], dass, was jeder anerkennen soll, sich ihm als Berechtigtes zeige“.48 Mit ihrer Rechtfertigung haben beide Prinzipien aber Schwierigkeiten, die Souveränität wegen ihrer Leere, die Menschenrechte wegen ihrer ungelösten Probleme mit Vergemeinschaftungen.49 Für die Menschenrechte meint Herdegen, Souveränität heute (Anm. 1), S. 118. Hegel, Philosophie des Rechts (Anm. 18), § 317 Zusatz, Band 7, S. 485. 49 Ebenso Depenheuer, Risiken und Nebenwirkungen (Anm. 15), S. 85. 47 48

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Luhmann50 denn auch, Menschenrechte würden daran erkannt, dass sie verletzt werden. „Die Geltung der Norm erweist sich an ihrer Verletzung“. Die rechtswissenschaftliche Menschenrechtsliteratur bestätigt Luhmanns Beobachtung. Wegen der Begründung von Menschenrechten setzt sie auf Evidenz, Moralisierung, Katastrophendrohungen und Totschlagsargumente. Samuel P. Huntingtons „Kampf der Kulturen“ erntet nur Verachtung. Für die Souveränität kann man Ähnliches diagnostizieren. In der Diskussion spielt weder die Leere des Begriffs eine Rolle noch die Bedeutung der Innen / Außen-Unterscheidung für die Politik. Die Souveränität wird als Faktum brutum den Evidenzbehauptungen der Menschenrechtskämpfer ausgesetzt. Nur bei skandalösen Angriffen, die auch noch einen Nationalstolz verletzen und erhebliche Geschäftsinteressen beeinträchtigen wie beim Angriff auf das World Trade Center in New York am 11. September 2001 wird die abstrakte Souveränität zu einem Argument. Dann erhält die Politik auch Zustimmung zu menschenrechtsbeschränkenden Sicherheitsmaßnahmen. Diese Lage ist nicht nur theoretisch unbefriedigend, sie ist auch polemogen, streitstiftend und belastet die Ordnungsfunktion des modernen Völkerrechtes. Deshalb sollte sie theoretisch geklärt werden, damit man Verständigungschancen entwickeln und einschätzen kann. An der Grundkonstellation lässt sich nichts ändern. Souveränität und Menschenrechte sind in gleichem Sinne Ausdruck der Modernität der Gesellschaft, und die kann man nur rückgängig machen, wenn man bereit ist, „rückständig“ zu werden und die unabsehbaren Kosten einer gesellschaftlichen Regression zu zahlen. Den Fall, dass sich die Gesellschaft ändert, klammern wir deshalb aus. Auch Pluralismus-Theorien oder Moralisierungen des Problems klären die Lage nicht. Die moralische Aufladung der Menschenrechte gehört gerade zu ihren Schwierigkeiten. Erziehung und „Bewusstseinsänderung“ sind gleichfalls keine Lösung. Sie setzen voraus, dass irgend50

Das Paradox der Menschenrechte (Anm. 83), S. 234.

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jemand weiß, wie Menschenrechte und Souveränität aufeinander abgestimmt werden könnten und müssten. Das kann aber niemand wissen, weil sich beide Prinzipien allein auf sich selbst beziehen. Souveränität ist höchste Macht der höchsten Macht, und Menschenrechte sind Forderungen der Menschen. Mangels anderer erfolgversprechender Lösungsansätze bleibt nichts übrig als eine systemtheoretische Analyse.51 Um das Verhältnis von Souveränität und Menschenrechten näher bestimmen zu können, ist nach der Einheit ihrer Unterscheidung zu fragen. Beide verhalten sich zur politischen Macht, Souveränität eher affirmativ, Menschenrechte eher kritisch. Machthaben oder Machtnichthaben ist die Grundunterscheidung der Politik. Politik muss sich rechtfertigen. Um sich zu rechtfertigen, bedient sie sich der Souveränität ebenso wie der Menschenrechte. Beide Prinzipien sind daher im politischen System anzusiedeln, gehen aber nicht darin auf. Sie sind – immer bezogen auf die Politik – flexibel, begrenzen sich gegenseitig und verweisen die Politik auf die öffentliche Meinung. Da sie sich am politischen Code der Macht orientieren, ist aus der Sicht der Macht Souveränität die stärkere Kraft. Sie ist schärfer formalisiert und hinter ihr stehen politische Apparate. Die Menschenrechte erscheinen als ein vergleichsweise weiches Medium, das allerdings auf Souveränität wirkt wie Gummi auf Stahl. Stahl wird stumpf, wenn er Gummi schneiden muss. Unter diesen Umständen dürfen Menschenrechte nicht zu positivem Recht erstarren. Ihre Positivierung ist auch so paradox, dass sie die Menschenrechte eher schwächt als stärkt. 51 In Anlehnung an N. Luhmann, Selbstlegitimation des Staates, in: Norbert Achterberg / Werner Krawitz (Hrsg.), Legitimation des modernen Staates, ARSP Beiheft 15, Wiesbaden 1981, S. 65 – 83; derselbe, Die Politik der Gesellschaft, hrsg. von André Kieserling, Frankfurt a. M. 2000, S. 369 ff.; vgl. bereits G. Roellecke, Ewigkeit im Kontext der Rechtfertigung von Verfassungen, in: Magiera / Sommermann / Ziller (Hrsg.), Verwaltungswissenschaft und Verwaltungspraxis in nationaler und transnationaler Perspektive, Festschrift für Heinrich Siedentopf zum 70. Geburtstag, Berlin 2008, S. 313 – 330, 318 ff.

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Denn die Positivierung macht sichtbar: Die Menschenrechte selbst haben die göttliche oder natürliche Ordnung aufgehoben, in der sie wurzeln könnten.

Der Grundsatz der souveränen Staatlichkeit als unabänderliches Verfassungsprinzip Von Dietrich Murswiek I. Souveräne Staatlichkeit – ein Verfassungsprinzip? In seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon1 hat das Bundesverfassungsgericht erstmals den Grundsatz der souveränen Staatlichkeit als Verfassungsprinzip anerkannt, und zwar als zum unabänderlichen Verfassungskern des Art. 79 Abs. 3 GG gehörendes Prinzip, über das nicht der verfassungsändernde Gesetzgeber, sondern allein das Volk als Subjekt der verfassunggebenden Gewalt verfügen kann. Dieses Prinzip zieht der Weiterentwicklung der europäischen Integration eine Grenze, die zwar rechtlich nicht unüberwindbar ist, die jedoch nicht ohne Zustimmung des Volkes im Wege einer verfassunggebenden Entscheidung überwunden werden kann. Die Vereinigten Staaten von Europa können also nicht auf dem Wege geschaffen werden, auf dem bislang Schritt für Schritt die Brüsseler Zentrale ihre Kompetenzen anreichern konnte: durch Vertragsänderungen und interpretative Vertragserweiterungen, die von Berufspolitikern beschlossen wurden, die sich um Zustimmung des Volkes für die jeweilige Kompetenzübertragung nicht bemühen mußten. Mit der Anerkennung des Prinzips der souveränen Staatlichkeit hat das Bundesverfassungsgericht sich besonders scharfe Kritik seitens der Verfechter uneingeschränkter Europaoffenheit zugezogen. Carl Otto Lenz war empört: „Das Grundgesetz benutzt den Begriff ,souverän‘ nicht, das Bun1

BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009 – 2 BvE 2 / 08 u. a. – Lissabon.

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desverfassungsgericht dreiunddreißigmal.“ Solche Feststellungen machen Eindruck bei juristischen Laien und werden in der rüden Kampagne, die der ehemalige Generalanwalt des Europäischen Gerichtshofs und frühere CDU-Bundestagsabgeordnete mit seiner von der FAZ publizierten Philippika gegen das Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts2 wenn nicht ausgelöst, so doch angeheizt hat, immer wieder gerne aufgegriffen. Weder Lenz noch seine Mitstreiter kümmert es, daß es für den Europäischen Gerichtshof zur täglichen Arbeit gehört, mit Rechtsbegriffen und Rechtsprinzipien zu operieren, von denen in den EU-Verträgen keine Rede ist; es kümmert sie beispielsweise nicht, daß das Wort „Vorrang“ des EG- beziehungsweise EU-Rechts in den Verträgen nicht vorkommt, sondern vom Europäischen Gerichtshof erfunden worden ist, oder daß es eine „Direktwirkung“ von Richtlinien weder nach dem Wortlaut der Verträge noch nach der vertraglichen Funktion der Richtlinien gibt, wohl aber nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs. Es kümmert sie auch nicht, daß das Wort „Verhältnismäßigkeitsprinzip“ im Grundgesetz nicht vorkommt, aber selbstverständlich und von niemandem beanstandet von der Rechtsprechung angewendet wird, oder daß – um nur noch ein einziges weiteres Beispiel zu nennen – das „informationelle Selbstbestimmungsrecht“ dem Grundgesetztext fremd ist und dennoch gilt. Für Lenz und andere Propagisten einer unbegrenzten europäischen Integration bedeutet die Ableitung von Grenzen der europäischen Integration aus dem Grundgesetz „Blockade der Europapolitik Deutschlands“, „Regierung durch Richter“, Schwächung des vereinten Europas, Schwächung „der politischen Institutionen des Staates – Bundesregierung, Bundestag und Bundesrat“3. Solche Töne hat man von den jetzigen Kritikern des Bundesverfassungsgerichts nicht gehört, als andere Prinzipien, die im Wortlaut des Grundgesetzes nicht vorkommen, vom Bun2 3

Carl Otto Lenz, Ausbrechender Rechtsakt, FAZ v. 8. 8. 2009, S. 7. Alles Zitate von Lenz (Fn. 2).

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desverfassungsgericht entwickelt wurden, und man hat sie erst recht nicht gehört, als der Europäische Gerichtshof in extensiver Ausübung seiner Kompetenzen, die mit „Auslegung“ der Verträge kaum noch etwas zu tun hatte, die Kompetenzen der Europäischen Gemeinschaft immer weiter ausdehnte. Das spricht dafür, daß es Leuten wie Lenz nicht um eine ernsthafte juristische Debatte, sondern um politische Polemik geht. Daß Souveränität „abdingbar“ sei, weil das Wort im Grundgesetz nicht vorkomme, ist juristisch ein albernes Argument. Natürlich muß der Text der Verfassung ernst genommen werden, aber nicht nur dann, wenn es dem Interpreten politisch in den Kram paßt. Den Text ernst zu nehmen, heißt, ihn methodengerecht zu interpretieren. Wie also steht es mit ernsthaften Argumenten? Ob die Kritik an der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts berechtigt ist oder ob die These des Bundesverfassungsgerichts zutrifft, hängt nicht davon ab, ob das Wort „Souveränität“ im Grundgesetz vorkommt, sondern ob der Grundsatz der souveränen Staatlichkeit bei systematischer Betrachtung eines der verfassungsrechtlichen Fundamentalprinzipien des Grundgesetzes ist. Dieser Frage ist die vorliegende Abhandlung gewidmet. Ich habe mit einem Gutachten zum Vertrag von Lissabon4, auf das die Verfassungsbeschwerde des Beschwerdeführers Gauweiler gestützt war, sowie später als Prozeßvertreter mit verschiedenen Schriftsätzen dem Bundesverfassungsgericht Argumente dafür unterbreitet, daß das Prinzip der souveränen Staatlichkeit zu den unabänderlichen Verfassungsprinzipien gehört. Im folgenden stelle ich zunächst meine Argumentation anhand eines Auszugs aus dem erwähnten Gutachten dar (II.), sodann gebe ich die Argumentation des Bundesverfassungsgerichts im Lissabon-Urteil wieder (III.), bevor ich zu einem Resümee (IV.) komme. 4 Dietrich Murswiek, Der Vertrag von Lissabon und das Grundgesetz. Rechtsgutachten über die Zulässigkeit und Begründetheit verfassungsgerichtlicher Rechtsbehelfe gegen das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon und die deutsche Begleitgesetzgebung, 2. Aufl. 2008, www.freidok.uni-freiburg.de/volltexte/6472.

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II. Der Grundsatz der souveränen Staatlichkeit im Grundgesetz – im Lissabon-Verfahren von mir vertretene Position 1. Der Grundsatz der souveränen Staatlichkeit als unabänderliches Verfassungsprinzip

Der Grundsatz der souveränen Staatlichkeit5 ist in Art. 79 Abs. 3 GG nicht ausdrücklich erwähnt. Dennoch gehört er nach herrschender Auffassung in der staatsrechtlichen Literatur zu den unabänderlichen Verfassungsprinzipien6 und bildet damit auch eine Grenze der Integrationsermächtigung7. 5 Hierzu eingehend Dietrich Murswiek, Maastricht und der Pouvoir Constituant. Zur Bedeutung der verfassunggebenden Gewalt im Prozeß der europäischen Integration, Der Staat 32 (1993), S. 161 (162 ff.). 6 Josef Isensee, Staat und Verfassung, HStR II, 3. Aufl. 2004, § 15 Rn. 30 ff., 196; Paul Kirchhof, Die Identität der Verfassung, in: HStR II, 3. Aufl. 2004, § 21 Rn. 84; ders., Deutsches Verfassungsrecht und Europäisches Gemeinschaftsrecht, EuR 1991, Beiheft 1, S. 11 (13); Albrecht Randelzhofer, Stellungnahme, in: Gemeinsame Verfassungskommission, StenBer., 1. Öffentliche Anhörung „Grundgesetz und Europa“ v. 22. 5. 1992, S. 15; ders., in: Maunz / Dürig, GG, Art. 24 I Rn. 204; Matthias Herdegen, EuGRZ 1992, S. 589 (592); Murswiek (Fn. 5), S. 161 (162 ff.); Udo Di Fabio, Der neue Art. 23 des Grundgesetzes. Positivierung vollzogenen Verfassungswandels oder Verfassungsneuschöpfung, Der Staat 32 (1993), S. 191 (199 ff.); Peter Michael Huber, Die Anforderungen der Europäischen Union an die Reform des Grundgesetzes, ThüVBl. 1994, S. 1 (2); Rüdiger Breuer, Die Sackgasse des neuen Europaartikels (Art. 23 GG), NVwZ 1994, S. 417 (423 f.); Udo Fink, Garantiert das Grundgesetz die Staatlichkeit Deutschlands?, DÖV 1998, S. 133 ff.; Streinz, in: Sachs, GG, 4. Aufl. 2007, Art. 23 Rn. 84; Rojahn, in: v. Münch / Kunig, GG Bd. 2, 5. Aufl. 2001, Art. 23 Rn. 15 m. w. N.; Classen, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG Bd. 2, 4. Aufl. 2000, Art. 23 Rn. 4; Christian Hillgruber, Der Nationalstaat in übernationaler Verflechtung, HStR II, 3. Aufl. 2004, § 32 Rn. 41, 108. – A.A. z. B. Rupert Scholz, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 23 (Stand: 1996), Rn. 63; Ingolf Pernice, in: Dreier, GG Bd. 2, 1998, Art. 23 Rn. 35, 94; Stephan Hobe, in: Friauf / Höfling (Hrsg.), Berliner Kommentar zum GG, Art. 23 (Stand: 2008), Rn. 53 f.; Manfred Zuleeg, in: AKGG, Art. 23 (Stand: 2001), Rn. 51 ff. – Angesichts dieser Literaturlage ist es entweder ignorant oder bewußt irreführend, wenn manche Kritiker jetzt den Eindruck zu erwecken suchen, das BVerfG habe im LissabonUrteil in richterlicher Selbstherrlichkeit ein neues Prinzip erfunden, um den ständigen Fortschritt der europäischen Integration zu stoppen.

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Dies ergibt sich aus folgenden Gesichtspunkten: – Die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland wird vom Grundgesetz als Grundlage des Grundgesetzes vorausgesetzt. – Textlich wird sie in Art. 20 Abs. 1 GG sowie in der ursprünglichen Fassung der Präambel zum Ausdruck gebracht, deren Aussage zur Staatlichkeit durch die Änderung der Präambel nach der Wiedervereinigung nicht berührt wurde. – Auch der Umstand, daß das Grundgesetz die verfassunggebende Gewalt dem deutschen Staatsvolk zuweist, läßt zwingend darauf schließen, daß die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland ein unabänderlicher Verfassungsgrundsatz ist. – Art. 21 Abs. 2 GG zeigt ebenfalls, daß der Grundsatz der souveränen Staatlichkeit als unabänderlicher Verfassungsgrundsatz garantiert wird. – Außerdem folgt aus dem Status des Grundgesetzes als der Verfassung eines souveränen Staates, daß die souveräne Staatlichkeit nicht im Wege der Verfassungsänderung aufgegeben werden darf.

Dies wird im folgenden näher begründet. a) Die souveräne Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland als rechtliche Verfassungsvoraussetzung und als Grundentscheidung des Verfassunggebers

Die Bundesrepublik Deutschland ist Staat im Sinne des Völkerrechts, des Staatsrechts und der Allgemeinen Staatslehre. 7 Vgl. z. B. Theodor Maunz, in: Maunz / Dürig, GG, Präambel (Stand: 1977), Rn. 24; Manfred Zuleeg, in: AK-GG, 2. Aufl. 1989, Präambel Rn. 60; Siegfried Broß, Verfassungssystematische und verfassungspolitische Überlegungen zum Erfordernis eines nationalen Referendums über die Verfassung der Europäischen Union, in: FS Hablitzel, 2005, S. 55 (57 f., 60); sowie die oben in Fn. 6 zitierte, die Unabänderlichkeit des Staatlichkeitsprinzips bejahende Literatur.

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Die Verfassung auch des Verfassungsstaates hat den Staat nicht nur zum Gegenstand, sondern zugleich zur Voraussetzung8. Staatsgründung und Verfassunggebung können theoretisch in eins fallen. In der Regel aber wird mit der verfassungsstaatlichen Verfassung ein bereits existierender Staat konstituiert. So ist auch mit der Verabschiedung des Grundgesetzes nicht etwa ein neuer Staat gegründet, sondern der völkerrechtlich existierende Staat Deutschland (auf einem Teilgebiet) neu konstituiert worden9. Dies ist auch die explizite Sicht des Grundgesetzes. Die Präambel brachte das mit den Formulierungen zum Ausdruck, „von dem Willen beseelt, seine . . . staatliche Einheit zu wahren“ und „um dem staatlichen Leben . . . eine neue Ordnung zu geben“, sei das Grundgesetz beschlossen worden. Die Existenz des Staates wird vom Grundgesetz vorausgesetzt; sie wird durch das Grundgesetz in eine konkrete, verfassungsstaatliche Form gebracht. Die Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland als souveränes Völkerrechtssubjekt ist somit die Grundlage des Grundgesetzes. Sie sollte durch die Schaffung des Grundgesetzes nicht angetastet10, sondern bewahrt und befestigt und zugleich gestaltet werden. Daher ist die souveräne Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nicht nur eine faktische Verfassungsvoraussetzung, nicht einfach einer der faktischen Umstände, welche die Verfassunggebung prägten und die daher bei der Verfassungsinterpretation zu berücksichtigen sind, sondern sie ist eine rechtliche Verfassungsvoraussetzung: Sie ist Gegenstand einer verfassunggebenden Grundentscheidung. Sie ist zwar nicht Regelungsgegenstand des Verfassunggebers, denn sie wird durch die Verfassung nicht hervorgebracht, sondern eben vorausgesetzt. Aber sie ist Bezugs- und Angelpunkt der verfassunggebenden Entscheidung. Der Parlamentarische Rat hat sich entschieden, einen Staat zu verfassen, nicht etwa ein ProVgl. Isensee (Fn. 6), Rn. 33; Kirchhof, Identität (Fn. 6), Rn. 25, 69. BVerfGE 36, 1 (16) – Grundvertrag. 10 Isensee (Fn. 6), § 15 Rn. 33. 8 9

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tektorat, eine Provinz oder einen Gliedstaat, der in einen Bundesstaat eingeordnet ist. Die souveräne Staatlichkeit als rechtliche Verfassungsvoraussetzung war also Gegenstand der verfassunggebenden Grundentscheidung. Diese Grundentscheidung wird besonders deutlich in dem Kontrast zur faktischen Lage, in der sich Deutschland im Zeitpunkt der Grundgesetzentstehung befand. Denn damals war Deutschland nicht souverän, sondern stand unter Besatzungsherrschaft11. Wenn der Verfassunggeber also kontrafaktisch von der souveränen Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland ausging, dann hat er damit in besonders eindringlicher Weise zum Ausdruck gebracht, daß er die souveräne Staatlichkeit nicht nur als Faktum vorausgesetzt hat, sondern daß es seinem verfassunggebenden Willen entsprach, daß die Verfassung, über die er entschied, die Verfassung eines souveränen Staates sein sollte und daß die Existenz dieses Staates auch rechtlich die Grundlage des ganzen Verfassungswerkes sei. Da also das Grundgesetz von dieser Staatlichkeit ausgeht und auf sie aufbaut, muß sie selbst zu den tragenden Verfassungsstrukturelementen gerechnet werden12, auch unabhängig von einer ausdrücklichen textlichen Grundlage im Grundgesetz. Es gibt im übrigen einen textlichen Anhaltspunkt, der es ermöglicht, die Grundentscheidung für die souveräne Staatlichkeit den Grundsätzen des Art. 79 Abs. 3 GG zuzuordnen: Das Grundgesetz bezeichnet die Bundesrepublik Deutschland in Art. 20 Abs. 1 als demokratischen und sozialen Bundesstaat. Damit werden in dieser Staatsstrukturbestimmung nicht nur die Staatsformprinzipien der Demokratie, der Republik und des Bundesstaates sowie das soziale Staatsziel zum Ausdruck gebracht, sondern zugleich das Selbstverständnis der Bundesrepublik Deutschland als Staat13. Vgl. Murswiek, BK, Präambel (Stand: 2005), Rn. 243. Vgl. Kirchhof, Identität (Fn. 6), Rn. 84; ders., EuR 1991, Beiheft 1 (Fn. 6), S. 11 (13). 11 12

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Dies ist keine Textklauberei. Vielmehr ergibt sich die Fundamentalentscheidung für die souveräne Staatlichkeit auch aus zwingenden systematischen Gründen, die in anderen der Verfassungsänderung entzogenen Bestimmungen ihre Grundlage haben, vor allem aus der Legitimationsquelle, auf die das Grundgesetz als auf seinen Geltungsgrund verweist: Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, kraft derer das Grundgesetz der Präambel gemäß beschlossen worden ist, ist die verfassunggebende Gewalt des deutschen Staatsvolkes14. Und das deutsche Staatsvolk ist auch innerhalb der vom Grundgesetz verfaßten Ordnung die Quelle der demokratischen Legitimation aller Staatsgewalt, Art. 20 Abs. 2 S. 1 GG15. Die Entscheidung über die Auflösung des Staates, z. B. durch Eingliederung in einen übernationalen Bundesstaat, wäre zugleich die Entscheidung über die Auflösung des Staatsvolkes. Dies ist eine Entscheidung, die gem. Art. 79 Abs. 3 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 und 2 GG nicht dem – verfassungsändernden – Gesetzgeber zusteht, da das Subjekt der verfaßten Staatsgewalt in Art. 20 Abs. 2 GG unabänderlich festgelegt ist und das Subjekt der verfassunggebenden Gewalt der Verfügung der verfaßten Staatsgewalten aus logisch-systematischen Gründen entzogen ist. Somit kann eine solche Entscheidung nur vom Volk selber – kraft seiner verfassunggebenden Gewalt – getroffen werden. Die Grundentscheidung für den Grundsatz der souveränen Staatlichkeit kam außerdem in der ursprünglichen Fassung der Präambel dadurch zum Ausdruck, daß der Verfassunggeber dort formuliert hatte, das Deutsche Volk als Subjekt der verfassunggebenden Gewalt habe das Grundgesetz geschaffen „von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Ein13 Kirchhof, Identität (Fn. 6), Rn. 84; ders., EuR 1991, Beiheft 1 (Fn. 6), S. 11 (13); Murswiek (Fn. 5), S. 161 (162); ders. (Fn. 11), Rn. 243; Hillgruber (Fn. 6), Rn. 41. 14 Dazu im einzelnen Dietrich Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes nach dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, 1978, S. 32 ff., 58 ff. 15 BVerfGE 83, 37 (50 f.) – Ausländerwahlrecht.

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heit zu wahren“16. Diese Formulierung hatte das Bundesverfassungsgericht nicht nur als unverbindliche politische Deklaration gewertet, sondern ihr – als Bestandteil des Wiedervereinigungsgebots – den Charakter einer verbindlichen verfassungsrechtlichen Rechtspflicht zugesprochen. Wenn dieses „Wahrungsgebot“ – das Gebot, die nationale und staatliche Einheit zu bewahren – in der Zeit der Teilung Deutschlands darauf gerichtet war, die noch vorhandenen faktischen und vor allem die rechtlichen Grundlagen der Existenz Deutschlands als eines einheitlichen Staates zu erhalten (dazu gehörte die völkerrechtliche Fortexistenz des früher „Deutsches Reich“ genannten Völkerrechtssubjekts als vom Grundgesetz vorgegebene Staatsdoktrin der Bundesrepublik Deutschland), dann implizierte dies notwendigerweise, daß die Staatlichkeit Deutschlands als Gesamtstaat ein oberster Verfassungswert war und ist. Überhaupt konnte das Wiedervereinigungsgebot17 im ganzen als Bestätigung des Prinzips der souveränen Staatlichkeit verstanden werden. Kein Verfassungsorgan durfte nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts „die Wieder16 Vgl. z. B. auch Kirchhof, EuR 1991, Beiheft 1 (Fn. 6), S. 11 (13). Er weist auch darauf hin, daß der Unterschied zwischen dem Auftrag zur Wahrung der Staatlichkeit und der Offenheit für ein vereintes Europa besonders deutlich durch die Präambel des Grundgesetzes in ihrer ursprünglichen Fassung zum Ausdruck gebracht wurde: Das Grundgesetz wurde beschlossen von dem Willen beseelt, die „nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Nationale Einheit – so Kirchhof – werde als staatliche gedacht; in das vereinte Europa hingegen werde der deutsche Staat als gleichberechtigtes Glied eingefügt. 17 Zum Wiedervereinigungsgebot BVerfGE 5, 85 (127) – KPD-Urteil; BVerfGE 36, 1 (17 f.) – Grundvertrag; BVerfGE 77, 137 (150) – Teso; ausführlich zur rechtlichen Begründung des Wiedervereinigungsgebots Georg Ress, Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes, in: Fünf Jahre Grundvertragsurteil, 1979, S. 265 ff. m. w. N.; Dietrich Murswiek, Das Staatsziel der Einheit Deutschlands nach 40 Jahren Grundgesetz, 1989, insb. S. 11 ff.; ders., Wiedervereinigung Deutschlands und Vereinigung Europas – zwei Verfassungsziele und ihr Verhältnis zueinander, in: Dieter Blumenwitz / Boris Meissner (Hrsg.), Die Überwindung der europäischen Teilung und die deutsche Frage, 1986, S. 103 (107 ff.).

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herstellung der staatlichen Einheit als politisches Ziel aufgeben“; alle Verfassungsorgane waren verpflichtet, „in ihrer Politik auf dieses Ziel hinzuwirken [ . . . ] und in ihrer Politik alles zu unterlassen, was die Wiedervereinigung vereiteln würde“18. Die staatliche Einheit Deutschlands war Staatsfundamentalziel und stand nicht zur Disposition des verfassungsändernden Gesetzgebers19. Auch darin kommt der Wille des Verfassunggebers, die Staatlichkeit Deutschlands zu bewahren, und die verfassungsrechtliche Verpflichtung, diese Staatlichkeit zu erhalten, zum Ausdruck. Das Wiedervereinigungsgebot ist mit der Wiedervereinigung obsolet geworden. Deshalb wurde im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung die Präambel geändert, um nicht den falschen Eindruck entstehen zu lassen, daß – im Hinblick auf die ehemaligen deutschen Ostgebiete – die Wiedervereinigung noch nicht abgeschlossen sei und daß immer noch Gebietsansprüche erhoben würden20. Nicht obsolet war jedoch das „Wahrungsgebot“ geworden, also das Gebot, die nationale und staatliche Einheit zu bewahren und alles zu unterlassen, was die Existenz Deutschlands als eines selbständigen souveränen Staates zunichte machen würde. Zwar wurde die oben zitierte Formulierung des Präambeltextes, die das Wahrungsgebot zum Ausdruck bringt, durch das Zustimmungsgesetz zum Einigungsvertrag ebenso aufgehoben wie diejenigen Formulierungen, die zu einer aktiven Wiedervereinigungspolitik verpflichteten. Jedoch war nach der klaren Regelungsintention des verfassungsändernden Gesetzgebers damit nicht beabsichtigt, das Wahrungsgebot zu tilgen21. Die Abschaffung des BVerfGE 36, 1 (17 f.). Ausführliche Begründung hierzu bei Dietrich Murswiek, Das Wiedervereinigungsgebot des Grundgesetzes und die Grenzen der Verfassungsänderung, 1999, S. 15 – 42; ders. (Fn. 11), Rn. 180 – 184; vgl. auch ders., Wiedervereinigung Deutschlands und Vereinigung Europas (Fn. 17), S. 120 f.; ders., Das Staatsziel (Fn. 17), S. 17 ff., 39. 20 Die Änderung der Präambel gehörte zu den „beitrittsbedingten Änderungen des Grundgesetzes“, die der Einigungsvertrag in Art. 4 vorsah. 18 19

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Wahrungsgebotes, wäre – wenn sie denn beabsichtigt gewesen wäre – verfassungswidrig gewesen, weil sie die Grenzen der Verfassungsänderung überschritten hätte22. Sofern man nicht schon die Textänderung der Präambel als solche für verfassungswidrig hält23, muß die Präambel daher verfassungskonform dahin ausgelegt werden, daß das Wahrungsgebot nach wie vor gilt24. Die staatliche Einheit zu wahren, ist nicht nur ein Gebot, das sich gegen separatistischen Zerfall richtet; sondern dieses Gebot richtet sich denknotwendig auch in die entgegengesetzte Richtung: gegen das Aufgeben der Staatlichkeit, gegen das Aufgehen in einer größeren Einheit. Außerdem hat Randelzhofer zutreffend gefolgert: Wenn schon die Verfassung im Kern gem. Art. 79 Abs. 3 GG dem Zugriff des verfassungsändernden Gesetzgebers entzogen ist, dann erst recht die Existenz der Staatlichkeit der Bundesrepublik Deutschland25. Diese Selbstverständlichkeit bringt auch Art. 21 Abs. 2 S. 1 GG zum Ausdruck. Nach dieser Bestimmung sind Parteien, die darauf ausgehen, den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu gefährden, verfassungswidrig. Art. 21 Abs. 2 GG stellt somit die Wahrung des Bestandes der Bundesrepublik Deutschland neben die Wahrung der in Art. 79 Abs. 3 GG ausdrücklich einer Verfassungsänderung entzogenen freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Das Verbot einer Partei wegen ihrer Zielsetzung läßt sich aber nur rechtfertigen, wenn das Ziel auf legalem Wege – auch mit verfassungsändernder 21 Vgl. Denkschrift zum Einigungsvertrag, BT-Drs. 11 / 7760, S. 358; wie hier Peter M. Huber, in: Sachs, GG, 4. Aufl. 2007, Präambel Rn. 41. 22 Zur Begründung verweise ich auf die ausführlichen Darlegungen bei Murswiek (Fn. 19). 23 So im Hinblick auf die authentische Formulierung durch den Verfassunggeber Murswiek, Das Wiedervereinigungsgebot (Fn. 19), S. 58 f.; ders. (Fn. 11), Rn. 184, 194 f. 24 Vgl. Murswiek (Fn. 11), Rn. 195; Huber (Fn. 21). 25 Albrecht Randelzhofer, Stellungnahme, in: Gemeinsame Verfassungskommission, StenBer, 1. Öff. Anhörung „Grundgesetz und Europa“, 22. 5. 1992, S. 15.

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Mehrheit – nicht angestrebt werden darf. Art. 21 Abs. 2 GG bestätigt somit, daß die Existenz der Bundesrepublik Deutschland als unabhängiger Staat zum „absolut“ geschützten Verfassungskern des Grundgesetzes gehört26. Zu Recht geht die staatsrechtliche Literatur deshalb ganz überwiegend davon aus, daß die Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in einen europäischen Bundesstaat die Grenzen überschreiten würde, die Art. 79 Abs. 3 GG der Integrationsgewalt des (verfassungsändernden) Gesetzgebers setzt und daß hierfür ein verfassunggebender Akt des Volkes in seiner Funktion als pouvoir constituant notwendig sei27. b) Das Grundgesetz als Verfassung eines souveränen Staates

Das Grundgesetz ist die Verfassung eines Staates, und zwar eines Staates im völkerrechtlichen Sinne. Ein solcher „souveräner“ Staat hat einen völlig anderen völkerrechtlichen und staatsrechtlichen Status als ein Gliedstaat eines Bundesstaates, also etwa ein Bundesland der Bundesrepublik Deutschland. Der Beitritt der Bundesrepublik Deutschland zu einem europäischen Bundesstaat würde den Status der Bundesrepublik Deutschland grundlegend ändern. Die Bundesrepublik Deutschland verlöre ihre völkerrechtliche Rechtspersönlichkeit. Aus einem selbständigen Staat würde ein Gliedstaat. Als Völkerrechtssubjekt ginge Deutschland unter. Durch Fusion mit anderen europäischen Staaten bzw. durch Verdichtung der zuvor lockereren Integration zu einem europäischen Zentral26 Vgl. Murswiek (Fn. 5), S. 161 (163); Hillgruber (Fn. 6), Rn. 41; wohl auch Huber (Fn. 21). 27 Vgl. z. B. neben der oben in Fn. 6 und Fn. 7 zitierten Lit. Christian Tomuschat, BK, Art. 24 (Stand: 1985), Rn. 46; Klaus Stern, Stellungnahme, in: Gemeinsame Verfassungskommission, StenBer, 1. Öff. Anhörung „Grundgesetz und Europa“, 22. 5. 1992, S. 48, Anhang S. 9; Josef Isensee, Stellungnahme, ebd., S. 49 f.; Randelzhofer, Stellungnahme, ebd., S. 15, 51, Anhang S. 3, 4; a.A. Tomuschat, ebd., S. 52, Anhang S. 8 (entgegen seiner im BK vertretenen Auffassung).

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staat ginge Deutschland in dem übergeordneten europäischen Bundesstaat auf. Damit würde sich auch der verfassungsrechtliche Status des Grundgesetzes grundlegend ändern, und zwar selbst dann, wenn der Inhalt des Grundgesetzes wortwörtlich derselbe bliebe: Aus der Verfassung eines („souveränen“) Staates würde die Verfassung eines bloßen Gliedstaates, der kein Staat im Sinne des Völkerrechts mehr wäre, dessen Organe nicht mehr in der Lage wären, das Schicksal des Volkes betreffende Fragen zu entscheiden, sondern nur noch von außen begrenzte Kompetenzen hätten. Das Grundgesetz würde auf den Status zurückgedrängt, den jetzt die Landesverfassungen haben28: Es wäre der Verfassung der Europäischen Union untergeordnet, und nicht nur dieser. Nach dem Grundsatz „Bundesrecht bricht Landesrecht“ ginge jedes beliebige Gesetz, jede Verordnung oder Richtlinie der Europäischen Union dem Grundgesetz vor. Einen Vorrang des Gemeinschaftsrechts vor dem Grundgesetz gibt es zwar schon jetzt, aber dieser beschränkt sich auf die begrenzten (wirtschaftlichen) Materien, für die die europäischen Gemeinschaften zuständig sind. Eine so fundamentale Statusänderung wie die Umwandlung eines Staates in einen bloßen Gliedstaat hat mit einer Verfassungsänderung nichts mehr gemein. Es geht hier nicht um eine bloße Abänderung einzelner Grundgesetzbestimmungen, sondern um die völlige Neubestimmung des verfassungsrechtlichen Status. Das Grundgesetz wird sozusagen als Staatsverfassung außer Kraft gesetzt und zugleich zur Verfassung eines Gliedstaates gemacht. Das ist ein Akt der Verfassunggebung im Unterschied zur bloßen Verfassungsänderung29. Das Grundgesetz ermächtigt in Art. 79 den verfassungsändernden Gesetzgeber nur zu Verfassungsänderungen, also zu einzelnen 28 So auch Randelzhofer, Stellungnahme (Fn. 25), S. 51; Dieter Grimm, Der Mangel an europäischer Demokratie, Der Spiegel Nr. 43 v. 19. 10. 92, S. 57 (59). 29 Zur Unterscheidung von Verfassunggebung und Verfassungsänderung ausführlich Murswiek, Die verfassunggebende Gewalt (Fn. 14), S. 168 ff. m. w. N.

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Änderungen des Grundgesetzes, die die Identität des Grundgesetzes30 unberührt lassen. Dies macht besonders der Kontrast zu Art. 146 GG deutlich, der jedenfalls in seiner ursprünglichen Fassung das Grundgesetz im ganzen zur Disposition gestellt hat – zur Disposition freilich nicht des verfassungsändernden Gesetzgebers, sondern der verfassunggebenden Gewalt des Volkes. Art. 79 Abs. 1 GG erlaubt nur Änderungen des Grundgesetzes, setzt also voraus, daß das Grundgesetz als Verfassung bestehen bleibt. Eben dies ist nicht mehr der Fall, wenn das Grundgesetz nicht mehr einen souveränen Staat verfaßt, sondern nur noch einen Gliedstaat. Dann ist es nicht mehr „dieses Grundgesetz“ (Art. 79 Abs. 3), sondern ein ganz anderes Grundgesetz, nämlich eine bloße Gliedstaatsverfassung mit vermindertem Status. Die Umwandlung der Staatsverfassung in eine Gliedstaatsverfassung ist also nicht eine bloße Verfassungsänderung, sondern ein verfassunggebender Akt. Dazu ist nicht der verfassungsändernde Gesetzgeber, sondern nur der pouvoir constituant befugt. Die demokratische Legitimation des verfassungsändernden Gesetzgebers reicht ebenso wie die Legitimation aller anderen verfaßten Staatsgewalten nur für das Handeln im Rahmen der Verfassung aus, nicht für die Verfügung über die Verfassung als solche31. Die Eingliederung Deutschlands in einen europäischen Bundesstaat bedürfte daher auch aus diesem Grunde der Zustimmung des Volkes kraft seiner verfassunggebenden Gewalt32.

30 31 32

Vgl. Kirchhof, Identität (Fn. 6). Murswiek (Fn. 5), S. 161 (164 f.). Ebenso Randelzhofer, Stellungnahme (Fn. 25), S. 51.

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2. Der Grundsatz der souveränen Staatlichkeit und die Grundsätze der offenen Staatlichkeit und Europafreundlichkeit des Grundgesetzes

Um die inhaltliche Reichweite des Grundsatzes der souveränen Staatlichkeit richtig zu verstehen, muß man ihn in seinem Kontext mit den Grundsätzen der offenen Staatlichkeit und der Europafreundlichkeit des Grundgesetzes verstehen. Aus diesen Grundsätzen folgen gewisse Relativierungen und Begrenzungen der souveränen Staatlichkeit, die vom Verfassunggeber von vornherein mit gemeint waren und die daher das unabänderliche Verfassungsprinzip „souveräne Staatlichkeit“ mit prägen. Während die „offene Staatlichkeit“ vom Verfassunggeber in Art. 24 GG zum Ausdruck gebracht wurde, der die Übertragung von Hoheitsrechten auf zwischenstaatliche Einrichtungen erlaubt (Abs. 1) und zur Einordnung des Bundes in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einschließlich damit verbundener Beschränkungen von Hoheitsrechten ermächtigt (Abs. 3), kam die Europafreundlichkeit in der Präambel zum Ausdruck. Dort hieß es: „. . . von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“, habe das Deutsche Volk das Grundgesetz beschlossen. Diese Formulierung machte zugleich deutlich, daß die Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten in Art. 24 GG in erster Linie der europäischen Einigung diente. Die „offene Staatlichkeit“ des Art. 24 GG war in erster Linie Offenheit für die europäische Integration. Die Formulierungen der ursprünglichen Präambel und des Art. 24 GG sind Formulierungen des Verfassunggebers, auf die es für die Bestimmung der Grenzen der Verfassungsänderung ankommt. Die Neufassung der Präambel sowie der neue Art. 23 GG, der jetzt das Staatsziel der europäischen Einigung sowie eine diesbezügliche Integrationsermächtigung formuliert, geben für sich genommen für die Bestimmung der Gren-

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zen der Verfassungsänderung nichts her, da sie Produkte des verfassungsändernden Gesetzgebers sind, der die von ihm beschlossenen Regelungen auch wieder ändern kann, während Art. 24 GG von vornherein den unabänderlichen Verfassungsgrundsatz der souveränen Staatlichkeit (Art. 79 Abs. 3 i. V. m. 20 Abs. 1 und Präambel) modifiziert, nämlich überhaupt erst – aber eben nur in den von dieser Norm vorgegebenen Grenzen – für die Übertragung von Hoheitsrechten geöffnet hat. Darüber hinausgehende „Öffnungen“ des Prinzips der souveränen Staatlichkeit stehen dem verfassungsändernden Gesetzgeber nicht zu. Deshalb konnten Vorschriften wie der neue Art. 23 GG oder die neugefaßte Präambel nicht zu einer Erweiterung der Übertragungsbefugnisse führen; sie müssen im Lichte der unabänderlichen Grundentscheidungen des Verfassunggebers ausgelegt werden33. Das Grundgesetz konstituiert also einerseits die Bundesrepublik Deutschland als souveränen Nationalstaat (als Staat, in dem das „Deutsche Volk“ sich seine politische Form gibt), ermächtigt aber andererseits zur „Übertragung“ sowie zur „Beschränkung“ eigener Hoheitsrechte zugunsten „zwischenstaatlicher Einrichtungen“ und kollektiver Sicherheitssysteme. Diese Übertragungen sind notwendigerweise mit Souveränitätseinbußen verbunden. Der Verfassunggeber wollte die Bundesrepublik Deutschland also nicht als einen Staat konstituieren, der in jeder Hinsicht uneingeschränkte äußere und innere Souveränität hat, sondern als einen Staat, der zwar – wie alle anderen Staaten auch – Souveränität besitzt, aber sich kraft seiner souveränen Entscheidung international bindet und durch „Übertragung von Hoheitsrechten“ auf die Ausübung seiner Souveränität teilweise verzichtet. In dieser Weise lassen sich das Prinzip der souveränen Nationalstaatlichkeit und das Prinzip der Europaoffenheit zum Prinzip der europaoffenen 33 Ausführliche Begründung dafür, daß es für die Bestimmung der nach Art. 79 Abs. 3 GG unabänderlichen Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten auf Art. 24 GG und nicht auf den neuen Art. 23 GG ankommt, bei Murswiek (Fn. 5), S. 161 (176 – 179).

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Nationalstaatlichkeit zusammenfassen34. Souveräner Nationalstaat und europäische Integration sind für den Verfassunggeber keine Gegensätze, sondern bedingen einander35. Über die organisatorische Struktur des anzustrebenden „vereinten Europas“ sagt die Präambel nichts. Ihr läßt sich nur entnehmen, daß bei der Vereinigung Europas die deutsche Staatlichkeit gewahrt bleiben muß36. Die Präambel drückt den Willen Deutschlands aus, sich in ein vereintes Europa einzugliedern, ohne damit Staat und Verfassung aufzugeben. Deutschland soll als Staat – nämlich als „gleichberechtigtes Glied“ unter anderen Staaten – an der Einigung Europas mitwirken37. Im übrigen überläßt die Präambel es der Politik, die geeigneten Gestaltungsformen zu wählen38. Dies gilt auch für Integrationsziele und Integrationsdichte. Art. 24 GG stellt dazu klar, daß Hoheitsrechte an „zwischenstaatliche Einrichtungen“ übertragen werden können. Damit hat der Verfassunggeber zweierlei deutlich gemacht: zum einen, daß es um die Übertragung einzelner Hoheitsrechte, nicht der Souveränität im ganzen geht, zum anderen, daß die Hoheitsrechte nicht an einen Staat, sondern an eine „zwischenstaatliche Einrichtung“, also an eine internationale Organisation, in der souveräne Staaten kooperieren, übertragen wird. Diese Begrenzung der Integrationsermächtigung konnte auch nicht durch die Neufassung von Art. 23 GG, der jetzt eine spezielle Ermächtigungsgrundlage für die europäische Integration darstellt, erweitert werden. Denn die Öffnung zur internationalen und speziell zur europäischen Integration ist eine Modifikation des durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützten Grundsatzes der souveränen Staatlichkeit, die nur vom Verfassunggeber Murswiek (Fn. 11), Rn. 245. Murswiek (Fn. 11), Rn. 213 ff., insb. 216; Hillgruber (Fn. 6), Rn. 1 – 3. 36 Murswiek (Fn. 11), Rn. 213 ff., 243, 251. 37 Paul Kirchhof, Der deutsche Staat im Prozeß der europäischen Integration, HStR VII, 1992, § 183 Rn. 23; zustimmend H. Dreier, in: ders., GG Bd. 1, 2. Aufl. 2004, Präambel Rn. 50 m. w. N. 38 Vgl. z. B. Dreier (Fn. 37), Rn. 38 f. m. w. N. 34 35

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selbst vorgenommen werden konnte39. Die von der Präambel und von Art. 79 Abs. 3 i. V. m. Art. 20 Abs. 1 GG gesetzte Grenze für die Politik der europäischen Integration ist die Wahrung der souveränen Staatlichkeit Deutschlands. Diese Grenze zu konkretisieren, bereitet freilich Schwierigkeiten, zumal ja das Grundgesetz zur Übertragung von Hoheitsrechten ausdrücklich ermächtigt und somit auch zu der damit verbundenen Einschränkung der Souveränität40. Auf diese Abgrenzungsschwierigkeiten ist im folgenden einzugehen. 3. Die inhaltliche Reichweite des Grundsatzes der souveränen Staatlichkeit

Leichter zu bestimmen als die genaue Reichweite des Grundsatzes der souveränen Staatlichkeit ist das, was eindeutig nicht mit diesem Grundsatz vereinbar wäre: – die Gründung eines europäischen Bundesstaates, in dem Sinne, daß die Europäische Union ein Staat im völkerrechtlichen Sinne würde und die Mitgliedstaaten ihren Status als Staaten im Sinne des Völkerrechts (als uneingeschränkte Völkerrechtssubjekte) verlören (zur Begründung s. o. 1., 2.) – der Übergang der verfassunggebenden Gewalt an die Europäische Union (zur Begründung s. o. 1. a im Text bei Fn. 14 f., 1. b) – die Aufgabe der Kompetenz-Kompetenz zugunsten der Europäischen Union41, denn eine Organisation ohne Kompetenz-Kompetenz kann unter keinem Aspekt mehr als unabhängiger Staat verstanden werden – die Ersetzung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung42 durch eine Generalzuständigkeit der Europäischen Union Dazu ausführlich Murswiek (Fn. 5), S. 161 (166 ff., insb. 176 – 179). Dazu eingehend Murswiek (Fn. 5), S. 161 (168 ff.), und z. B. Di Fabio (Fn. 6), S. 191 (200 ff.). 41 Vgl. BVerfGE 89, 155 (194); Di Fabio (Fn. 6), S. 191 (201). 39 40

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Über diese Punkte dürfte Einigkeit unter allen Staatsrechtlern bestehen, die den Grundsatz der souveränen Staatlichkeit als unabänderliche Grenze der europäischen Integration betrachten. Jedes einzelne dieser Ereignisse wäre mit dem Grundgesetz unvereinbar. Ein solcher Schritt könnte auch vom verfassungsändernden Gesetzgeber nicht vorgenommen werden, sondern könnte nur auf der Basis einer verfassunggebenden Entscheidung des Volkes erfolgen. Daraus kann man aber nicht ohne weiteres umgekehrt folgern, daß die unabänderlichen Grenzen der grundgesetzlichen Integrationsermächtigung noch nicht überschritten sind, solange keines dieser Ereignisse eingetreten ist. Die souveräne Staatlichkeit ist kein messerscharfer Grenzbegriff, sondern bedarf der Konkretisierung aus dem Verfassungszusammenhang heraus. Die oben genannten Kriterien können nur sagen, wann die souveräne Staatlichkeit Deutschlands auf jeden Fall beseitigt ist, aber sie beschreiben nicht umfassend, unter welchen Voraussetzungen dieses Verfassungsprinzip verletzt ist. Die Schwierigkeit, die Grenze des mit diesem Prinzip noch zu Vereinbarenden konkret zu bestimmen, ergibt sich aus dem oben dargelegten Umstand, daß das Grundgesetz Einschränkungen der Souveränität zugunsten der europäischen Integration einerseits zuläßt, andererseits aber die Bundesrepublik Deutschland ein souveräner Staat bleiben muß. Ich versuche daher zunächst, mich der Problematik dadurch anzunähern, daß ich im folgenden prüfe, ob die oben genannten Kriterien sich in der Weise umkehren lassen, daß das Prinzip der souveränen Staatlichkeit solange gewahrt ist, wie die mit diesen Kriterien benannten Ereignisse noch nicht eingetreten sind.

42 Auf dieses Prinzip hat das BVerfG im Maastricht-Urt. besonderen Wert gelegt, BVerfGE 89, 155 (192, 209 f.).

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a) Souveräne Staatlichkeit als Staatlichkeit im Sinne des Völkerrechts?

Das Grundgesetz setzt voraus, daß die Bundesrepublik Deutschland ein Staat i.S. des Völkerrechts ist43. Würde sie zugunsten der Europäischen Union diesen Status verlieren, wäre die änderungsfeste Grenze der Integrationsermächtigung überschritten. Ist die Grenze aber eingehalten, solange die Bundesrepublik Deutschland ein Staat i.S. des Völkerrechts bleibt? Um diese Frage zu beantworten, muß man sich vergegenwärtigen, daß das Völkerrecht zugunsten der Annahme der Existenz von Staaten sehr „konservativ“ ist, soweit es um den Fortbestand von Staaten geht, die ursprünglich völkerrechtlichen Kriterien eines Staates erfüllten und in der Staatengemeinschaft als Staaten anerkannt sind. Die Fusion mehrerer Staaten zu einem neuen (Bundes-)Staat führt zwar im Falle eines entsprechenden Vertragsschlusses zum Untergang der sich zusammenschließenden Staaten. Wenn die Staaten jedoch durch Kompetenzübertragung allmählich zusammenwachsen, ohne explizit einen neuen Staat zu gründen, geht die Völkerrechtsordnung vom Fortbestand der bisherigen Statusverhältnisse aus, solange dies nicht völlig absurd wird. Wenn die beteiligten Staaten völkerrechtlich weiterhin als Staaten auftreten wollen, liegt es also in ihrer Hand, durch entsprechende Vertragsgestaltung dafür zu sorgen, daß die äußerlichen Insignien der Staatlichkeit – Bezeichnung als Staat, Flagge, Hymne, Staatspräsident, Befugnis zum Abschluß völkerrechtlicher Verträge, Botschafter usw. – bei ihnen verbleiben. Sie bleiben dann Staaten i.S. des Völkerrechts, auch wenn sie längst nicht mehr unabhängig agieren können, auch wenn ihre außenpolitische Zuständigkeit stark eingeschränkt ist und neben ihren außenpolitischen Organisationsstrukturen sich längst Parallelstrukturen der übergeordneten Ebene gebildet haben, und 43 BVerfGE 1, 351 (368 f.); Murswiek (Fn. 11), Rn. 243 m. w. N.; Hillgruber (Fn. 6), Rn. 40 f.

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auch dann, wenn sie über ihre inneren Angelegenheiten nicht mehr selbst bestimmen können, sondern in allen wesentlichen Fragen die übergeordnete supranationale Ebene entscheidet. Staat im Sinne des Völkerrechts und als solcher Mitglied der UNO kann also auch ein Staat sein, der nur noch die Fiktion eines selbständigen Staates darstellt, weil er dessen Symbole behalten hat, während er macht- und zuständigkeitsmäßig innerlich ausgehöhlt ist und seine Kompetenzen im Hinblick auf alle für das Schicksal seines Staatsvolkes wesentlichen Entscheidungen an eine nicht als Staat bezeichnete, aber Staatsfunktionen wahrnehmende übernationale Organisation abgegeben hat. Es liegt auf der Hand, daß das Grundgesetz mit dem Grundsatz der souveränen Staatlichkeit nicht die Existenz der Bundesrepublik Deutschland als eines nur formalen Staates in dem skizzierten Sinne meint. Das Grundgesetz setzt vielmehr voraus, daß die Bundesrepublik Deutschland eine Organisation ist, die nicht nur die formalen Insignien und Symbole eines Staates trägt, sondern auch funktional ein souveräner, unabhängiger Staat ist und bleibt. Daraus folgt jedenfalls, daß nicht allein darauf abgestellt werden kann, ob die Bundesrepublik Deutschland nach wie vor Staat im Sinne des Völkerrechts – also als solcher von anderen Staaten anerkannt und z. B. auch Mitglied der UNO – ist. Wenn sie dies eines Tages nicht mehr sein sollte, wären die Integrationsgrenzen überschritten, aber auch wenn sie dies noch ist, können sie überschritten sein. Ob dies der Fall ist, läßt sich nicht durch eine rein formale Betrachtung feststellen, sondern allein aufgrund einer Analyse der materiellen Funktionen, die der Bundesrepublik Deutschland im Integrationsprozeß noch geblieben sind. Die förmliche Gründung der „Vereinigten Staaten von Europa“, auf die das Bundesverfassungsgericht im MaastrichtUrteil abhebt44, wäre zwar eine eindeutige Überschreitung 44

BVerfGE 89, 155 (189).

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der unabänderlichen verfassungsrechtlichen Integrationsgrenzen. Der Umkehrschluß, daß die Integration uneingeschränkt zulässig ist, solange dieser förmliche Akt nicht vollzogen wird, ist jedoch nicht zulässig und vom Bundesverfassungsgericht auch nicht beabsichtigt. Vielmehr kann die verfassungsrechtliche Grenze der Integrationsermächtigung schon längst vor einem solchen Akt überschritten sein. b) Souveräne Staatlichkeit im Sinne des Staatsrechts oder der Allgemeinen Staatslehre?

Aber welche Kriterien sind der Konkretisierung dieser Grenze zugrunde zu legen? Ob der Grundsatz der souveränen Staatlichkeit als unabänderliche Grenze der europäischen Integration verletzt ist, ließe sich leichter entscheiden, wenn es einen klar umrissenen staatsrechtlichen Staatsbegriff des Grundgesetzes gäbe beziehungsweise einen unstreitigen Staatsbegriff der Allgemeinen Staatslehre, auf den das Grundgesetz Bezug nähme. Dies ist aber nur hinsichtlich des Begriffskerns, nicht jedoch hinsichtlich der Randbereiche des Begriffs der Fall, um welche es hier geht und bezüglich derer die Abgrenzung vorzunehmen ist. Den Begriffskern bildet die Drei-Elemente-Lehre mit den Elementen Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt, wobei es entscheidend auf die Konkretisierung des dritten Elements ankommt, welches die drei Elemente miteinander verbindet. Hinzu kommt die Souveränität im Sinne innerer und äußerer Unabhängigkeit, die aber aufgrund vertraglicher Bindungen beschränkt sein kann, ohne daß der Staatscharakter verloren geht. Die Drei-Elemente-Lehre aber hilft für die hier vorliegende Problematik nicht weiter, weil sie die Frage, welche Gewalt in Mehr-Ebenen-Systemen noch als eigenständige Staatsgewalt angesehen werden kann, nicht beantwortet. Sie vermag nur, auf das zu lösende Problem hinzuweisen. Jeder Versuch aber, die Abgrenzung anhand bestimmter Staatstheorien oder Staatsdefinitionen, insbesondere anhand

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einer bestimmten Auffassung vom Bundesstaat, vorzunehmen, führt notwendigerweise in Subjektivismen. Denn es gibt ungefähr so viele Begriffe vom Bundesstaat wie es Theoretiker des Bundesstaates gibt. Die Kriterien der Staatstheorie sind aber nicht notwendigerweise diejenigen des Grundgesetzes. Ein Streit darüber, ob die Europäische Union bereits ein Bundesstaat im Sinne der Staatstheorie ist oder noch nicht, mag für die Staatstheorie von Interesse für Kategorisierung und Systembildung sein; für die Beantwortung der Frage, ob die europäische Integration mit dem Vertrag von Lissabon die Grenzen der grundgesetzlichen Integrationsermächtigung überschritten hat, führt er nicht wesentlich weiter. Denn welche Übertragung von Hoheitsrechten das Grundgesetz noch zuläßt, kann nicht davon abhängen, ob Staatstheoretiker nach außerhalb des Grundgesetzes liegenden Kriterien die Bundesrepublik Deutschland noch beziehungsweise die Europäische Union schon als Staat qualifizieren. Es gibt Gründe dafür, die Europäische Union bereits als Bundesstaat anzusehen, obwohl sie es völkerrechtlich noch nicht ist, es gibt auch Gründe dagegen. Das hängt vom Bundesstaatsbegriff ab, den man zugrunde legt. Das Grundgesetz gibt uns in dieser Hinsicht aber keinen subsumtionsfähigen Bundesstaatsbegriff vor. Deshalb scheint es mir nicht weiterführend, zur Lösung des Abgrenzungsproblems in Begriffsstreitigkeiten einzusteigen. Entscheidend ist die Frage: Nach welchen Kriterien können wir entscheiden, ob nach Übertragung von Hoheitsrechten noch hinreichende Hoheitsrechte bei der Bundesrepublik Deutschland verbleiben?45

45 Vgl. zur Problematik der Anwendung klassischer Begriffe wie „Bundesstaat“ usw. auf den europäischen Integrationsprozeß bereits Murswiek (Fn. 5), S. 161 (168 f.). Gegen den Streit um Begriffe statt um Sachfragen im Zusammenhang mit der europäischen Integration und insbesondere der europäischen Staatlichkeit auch Stefan Haack, Verlust der Staatlichkeit, 2007, S. 10 ff., insb. 12 f.

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c) Qualitative und quantitative Ansätze zur Konkretisierung des Grundsatzes der souveränen Staatlichkeit

Haben also die Begriffe „Staat“ und „souveräne Staatlichkeit“ für sich genommen nur begrenzte Aussagekraft, so lassen sich dem Grundgesetz doch einige Kriterien entnehmen, die es ermöglichen, die unabänderlichen Grenzen der verfassungsrechtlichen Integrationsermächtigung über die oben (zu Beginn von Abschnitt 3.) skizzierten Kernelemente hinaus zu konkretisieren. Ansätze hierzu lassen sich in qualitativer und in quantitativer Hinsicht formulieren. aa) Qualitative Ansätze (1) Verfassunggebende Gewalt

Die verfassunggebende Gewalt steht nach der Präambel dem Deutschen Volke zu. Auf ihr beruht die Verfassung. Sie ist es, die den unabänderlichen Verfassungskern (Art. 79 Abs. 3 GG) konstituiert hat. Über sie kann weder der Gesetzgeber noch der verfassungsändernde Gesetzgeber verfügen. Der Übergang der verfassunggebenden Gewalt an die Europäische Union wäre daher nur aufgrund einer verfassunggebenden Entscheidung des Volkes zulässig, nicht jedoch durch ein – verfassungsänderndes – Gesetz. In bezug auf die Europäische Union folgt daraus, daß die eine europäische Verfassunggebung, durch welche die verfassunggebende Gewalt auf die Europäische Union übertragen würde, aus Sicht des Grundgesetzes nur von den Völkern der Mitgliedstaaten ausgehen dürfte. Kann man umgekehrt sagen, solange die verfassunggebende Gewalt bei den Völkern der Mitgliedstaaten liegt, seien die unabänderlichen Grenzen der Integration noch nicht überschritten? Diese Frage muß schon deshalb verneint werden, weil die verfassunggebende Gewalt einerseits die Legitimationsquelle der demokratischen Verfassung bezeichnet, andererseits für den durch diese Gewalt legitimierten Staat nur eine

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Reservefunktion darstellt, die sich nur bei grundlegenden Umgestaltungen der politischen Ordnung aktualisiert. Da auf der Basis der bei den Völkern der Mitgliedstaaten liegenden verfassunggebenden Gewalt von den Mitgliedstaaten Hoheitsrechte an die Europäische Union übertragen worden sind und weiterhin übertragen werden, kommt es im Prozeß der europäischen Integration zu weitreichenden Verschiebungen im Machtgefüge, ohne daß die Völker als Träger der verfassunggebenden Gewalt daran beteiligt sind. Würde – um zwei eindeutige Beispiele zu nennen – die Kompetenz-Kompetenz auf die Europäische Union übertragen, oder würde die Befugnis zur völkerrechtlichen Vertretung gegenüber Drittstaaten vollständig, d. h. unter Ausschluß der Mitgliedstaaten, auf die Europäische Union übertragen, dann wäre auf jeden Fall die Grenze der verfassungsrechtlichen Integrationsermächtigung überschritten, auch wenn die verfassunggebende Gewalt bei den Völkern der Mitgliedstaaten verbliebe. Zwar hätte in einer solchen Situation die Europäische Union immer noch keine eigene verfassunggebende Gewalt; sie könnte sich nicht aus eigenem Recht – legitimiert durch ein europäisches Volk – eine eigene Verfassung geben, und das deutsche Staatsvolk hätte immer noch den Status des pouvoir constituant für Deutschland, dies allerdings nur noch in einem sehr formalen Sinne. Zumindest dann, wenn die Kompetenz-Kompetenz auf die Europäische Union übergeht, haben die Völker der Mitgliedstaaten materiell betrachtet die verfassunggebende Gewalt verloren. Denn angesichts des Vorrangs des Unionsrechts gegenüber nationalem Verfassungsrecht hätte die Union materiell betrachtet die verfassunggebende Gewalt für ganz Europa. Und im Falle des Übergangs der völkerrechtlichen Vertretungsbefugnis an die Union wären die Mitgliedstaaten sogar im völkerrechtlichen Sinne keine Staaten mehr, so daß aus diesem Grunde die Integrationsgrenze auch dann überschritten wäre, wenn man annähme, daß den Völkern der Mitgliedstaaten die verfassunggebende Gewalt verbliebe. Aus dem Umstand, daß die verfassunggebende Gewalt noch nicht der Union zugewiesen worden ist, sondern bei den Völ-

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kern der Mitgliedstaaten verbleibt, kann also nicht geschlossen werden, daß die Grenzen der verfassungsrechtlichen Integrationsermächtigung noch nicht überschritten sind. (2) „Herrschaft über die Verträge“

In engem Zusammenhang mit der verfassunggebenden Gewalt steht die Frage, ob die Mitgliedstaaten die „Herren der Verträge“ sind und ob das Grundgesetz verlangt, daß sie dies bleiben müssen. Das primäre Unionsrecht wird bislang durch völkerrechtliche Verträge seitens der Mitgliedstaaten gesetzt – durch die Gründungsverträge und die vielen Änderungsverträge bis hin zum Vertrag von Lissabon. Diese Methode der Setzung von Unionsrecht entspricht dem Prinzip der souveränen Staatlichkeit der Mitgliedstaaten. Würden diese die „Herrschaft über die Verträge“ verlieren und die Europäische Union aus eigenem Recht heraus primäres Unionsrecht setzen können, dann wäre die Europäische Union eindeutig ein souveräner Staat und die Mitgliedstaaten nicht mehr. Denn dann könnte die Union kraft ihrer Rechtsetzungsgewalt die Mitgliedstaaten in Pflicht nehmen, ohne zuvor von diesen im Wege der Übertragung der entsprechenden Hoheitsrechte ermächtigt worden zu sein. Zu Recht legt das Bundesverfassungsgericht deshalb Wert darauf, daß die Mitgliedstaaten „Herren der Verträge“ sind und bleiben46. Aber umgekehrt: Sind sie souveräne Staaten im Sinne des Grundgesetzes, solange sie „Herren der Verträge“ sind? Auch diese Frage muß verneint werden: Wenn die Mitgliedstaaten in einem solchen Umfang Hoheitsrechte an die Union übertragen, daß ihnen selbst keine wesentlichen Hoheitsrechte mehr verbleiben, sind sie keine souveränen Staaten mehr, auch wenn sie durch Änderung der Verträge – nämlich durch Rückübertragung von Hoheitsrechten an die Mitgliedstaaten – sich selbst wieder zu solchen machen könnten.

46

BVerfGE 89, 155 (190).

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(3) Kompetenz-Kompetenz

Das Bundesverfassungsgericht hat sich im Maastricht-Urteil ausführlich mit der Frage befaßt, ob der Europäischen Union die Kompetenz-Kompetenz zukommt, und diese Frage für den damaligen Rechtszustand verneint47. Es hat zutreffend gesagt, daß es mit dem Grundgesetz unvereinbar wäre, der Europäischen Union die Kompetenz-Kompetenz einzuräumen48. Umgekehrt: Solange die Kompetenz-Kompetenz bei den Mitgliedstaaten liegt, ist dies ein wichtiges Indiz dafür, daß sie noch souveräne Staaten sind. Aber mehr als ein Indiz ist es nicht. Auch hier gilt, was soeben bereits zu dem verwandten Topos „Herren der Verträge“ gesagt wurde: Auch wenn die Kompetenz-Kompetenz noch bei den Mitgliedstaaten liegt, können die Grenzen der verfassungsrechtlichen Integrationsermächtigung überschritten sein, nämlich zumindest dann, wenn so viele oder so gewichtige Hoheitsrechte an die Europäische Union übertragen worden sind, daß die Staatlichkeit der Mitgliedstaaten völlig ausgehöhlt worden ist. (4) Flächendeckende / partielle Kompetenzen

Zur Staatlichkeit gehört die „Omnikompetenz“ des staatlichen Gemeinwesens: Im Unterschied zu sonstigen menschlichen Verbänden ist der Staat nicht auf die Wahrnehmung bestimmter Aufgaben beschränkt, sondern er kann sich seine Aufgaben selbst stellen. Er ist für alles zuständig, was hoheitlicher Regelung zugänglich ist, soweit nicht – im Verfassungsstaat – die Grundrechte als „negative Kompetenznormen“ entgegenstehen. Im Bundesstaat sind die Zuständigkeiten freilich zwischen Bund und Ländern verteilt. Nur der Staat im ganzen ist omniBVerfGE 89, 155 (194 ff.). BVerfGE 89, 155 (194); vgl. bereits oben Fn. 41; ebenso z. B. Di Fabio (Fn. 6), S. 191 (201). 47 48

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kompetent, nicht jede einzelne Ebene. Entsprechendes muß für den europäischen Verfassungsverbund als Mehrebenensystem gelten. Hinsichtlich der Bestimmung der Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten ist aber davon auszugehen, daß das Grundgesetz, wenn es die Bundesrepublik Deutschland als souveränen Staat konstituiert, der Hoheitsrechte auf zwischenstaatliche Einrichtungen übertragen kann, von dem Modell eines Staates ausgeht, der selbst die prinzipielle Omnikompetenz – die sich in Deutschland auf Bund und Länder verteilt – besitzt, und einzelne Hoheitsrechte auf eine zwischenstaatliche Einrichtung überträgt. Diese können in ihrer Summe durchaus beachtlich sein, doch darf die Grundkonzeption des Grundgesetzes nicht angetastet werden: Die flächendeckende Zuständigkeit (also eine Omnikompetenz, die nur durch die Übertragung einzelner Hoheitsrechte durchlöchert wird) muß bei Deutschland bleiben, während die zwischenstaatliche Einrichtung, an welche die Hoheitsrechte übertragen werden, nur sektorale Kompetenzen für einzelne Sachgebiete erhalten darf. Die Unterscheidung einer flächendeckenden Kompetenz (prinzipiellen Omnikompetenz) von partiellen / sektoralen Kompetenzen ist also ein Kriterium, welches das Grundgesetz als Grenze der Übertragung von Hoheitsrechten vorgibt. (5) Kernfunktionen der Staatlichkeit

Die Aufgaben und Funktionen des Staates haben sich im Laufe der Geschichte gewandelt. Aber es gibt Kernfunktionen, die – zusammen mit den Kriterien Territorialität und Gewaltmonopol – den neuzeitlichen Staat auszeichnen und notwendig mit ihm verbunden sind. Dazu gehören die Wahrung der äußeren und der inneren Sicherheit, die Justiz und das Rechtssystem. Dem staatlichen Gewaltmonopol entspricht ein Rechtsetzungs- und Rechtsdurchsetzungsmonopol. Originäre (nicht aus inhaltlich vorgeprägten Ermächtigungen seitens anderer Organisationen abgeleitete) Rechtserzeugung durch

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den Gesetzgeber, verbindliche Streitentscheidung durch die Gerichte, Rechtsdurchsetzung durch die vollziehende Gewalt, Gefahrenabwehr durch die Polizei sind genuine Staatsaufgaben. Ein Gemeinwesen, das diese Aufgaben nicht (oder nicht mehr) eigenverantwortlich wahrnimmt, kann nicht als Staat angesehen werden. Das gleiche gilt für die Selbstverteidigung nach außen. Ein Gemeinwesen, das auf das Recht verzichtet, sich in eigener Verantwortung gegen militärische und sonstige gewaltsame Angriffe von außen zu verteidigen, verzichtet auf seine äußere Unabhängigkeit und stellt letztlich sein Existenzrecht zur Disposition. Als der Parlamentarische Rat das Grundgesetz geschaffen hat und Deutschland als souveränen Staat neu konstituieren wollte, ging er von einem Staatsverständnis aus, das zumindest diese Kernfunktionen umfaßte49. Es gibt viele andere Funktionen und Aufgaben, die der moderne Staat heute erfüllt, die zu den Kernfunktionen im Laufe der Zeit hinzugekommen sind und die auch wieder wegfallen können, ohne daß der Staat seinen Staatscharakter verliert. Von diesen zusätzlichen Funktionen kann man nicht ohne weiteres annehmen, daß der Verfassunggeber sie als unabdingbar angesehen hat. Ohne die genannten Kernfunktionen aber wäre die Bundesrepublik Deutschland nicht der souveräne Staat, den der Verfassunggeber konstituieren wollte50. Dies bedeutet nicht, daß nicht auch im Bereich der Kernfunktionen Übertragungen und Beschränkungen von Hoheitsrechten zulässig sind. So ermächtigt Art. 24 Abs. 2 GG ja ausdrücklich zum Beitritt in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit. Jedoch ermöglicht selbst diese ausdrückliche Ermächtigung nicht, die eigenverantwortliche Wahrnehmung der äußeren Selbstverteidigung, einer fundamentalen Staats49 Soweit diese Kernfunktionen 1948/49 aufgrund der Besatzungsherrschaft und der Vorbehalte der Alliierten noch nicht wahrgenommen werden konnten, war dem Parlamentarischen Rat dies als – zu überwindendes – Souveränitätsdefizit bewußt. 50 Auf die Kernfunktionen stellt auch Di Fabio (Fn. 6), S. 191 (201 f.), ab: Die unwiderrufliche Übertragung „wesentlicher klassischer Staatsaufgaben“ sei verfassungsrechtlich nicht möglich.

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funktion, aufzugeben. Es geht vielmehr darum, diese Funktion in einem internationalen Rahmen effektiver wahrnehmen zu können, als dies ohne die Zusammenarbeit mit anderen Staaten möglich wäre; die Eigenverantwortlichkeit muß aber auch in der internationalen Zusammenarbeit gewahrt bleiben. Erst recht muß die Sorge für die innere Sicherheit als eigenverantwortliche Aufgabe beim Staat bleiben. Was die eigenverantwortliche Rechtsetzung angeht, ergibt sich aus Art. 24 Abs. 1 GG, der jetzt in bezug auf die europäische Integration durch Art. 23 Abs. 1 GG konkretisiert wird, daß diese Befugnis in begrenztem Umfang auf die Europäische Union übertragen werden kann; die Befugnis zur Übertragung von Hoheitsrechten ist vor allem eine Befugnis zur Übertragung von Rechtsetzungsbefugnissen. Jedoch muß dabei im ganzen die Gestaltung der nationalen Rechtsordnung als eigenverantwortliche Aufgabe beim deutschen Gesetzgeber verbleiben. (6) Austrittsrecht

Ein Bundesstaat ist jedenfalls dann gegeben, wenn die Mitgliedstaaten kein Austrittsrecht mehr haben; dann haben sie ihre Souveränität vollständig und endgültig aufgegeben. Beispielsweise haben die Länder der Bundesrepublik Deutschland kein Sezessionsrecht. Kann man aber den Umkehrschluß ziehen? Kann man aus dem Umstand, daß die Mitgliedstaaten der Europäischen Union ein Austrittsrecht haben, darauf schließen, daß sie noch souveräne Staaten sind? Das Beispiel der Sowjetunion, deren Verfassung den Sowjetrepubliken ein Austrittsrecht garantierte, belegt das Gegenteil. Selbst wenn das Sezessionsrecht der Sowjetrepubliken jahrzehntelang nicht nur auf dem Papier gestanden hätte, wäre die UdSSR zweifellos ein souveräner Staat und wären die Republiken nicht souveräne Staaten gewesen. Völkerrechtlich ist es möglich, daß souveräne Staaten zu einem neuen Gesamtstaat fusionieren; so entsteht ein neues Völkerrechtssubjekt. Die bisher souveränen Staaten, die sich zu-

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sammenschließen, verlieren so ihre Völkerrechtssubjektivität. Dies gilt auch dann, wenn die Verfassung des neuen Staates für die bisherigen Staaten ein Sezessionsrecht vorsieht. Wie bei jeder effektiv durchgesetzten Sezession entsteht ein neues Völkerrechtssubjekt. In einem solchen Fall verlieren die Mitgliedstaaten durch die Fusion also ihren Status als Völkerrechtssubjekte, und bei einer Sezession – in Ausübung ihres verfassungsrechtlich garantierten Sezessionsrechts – gewinnen sie diesen Status neu. Schon völkerrechtlich ist das Vorhandensein eines Austrittsrechts für die Beantwortung der Frage, ob die Europäische Union sich zu einem Bundesstaat entwickelt hat, ohne Relevanz. Dies muß erst recht für die Beantwortung der Frage gelten, ob die verfassungsrechtlichen Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten überschritten sind51. Es kann nicht darauf ankommen, ob die Bundesrepublik Deutschland sich durch Austritt aus der Europäischen Union europarechtlichen Bindungen entziehen könnte, die das Maß des verfassungsrechtlich Erlaubten überschreiten, sondern es kommt allein darauf an, ob die Hoheitsrechte, die übertragen worden sind, übertragen werden durften. Wenn Hoheitsrechte übertragen worden sind, die über das vom Grundgesetz vorgesehene Ausmaß hinausgehen, liegt in dem Übertragungsakt ein Verstoß gegen Art. 79 Abs. 3 GG. Daß dieser Verstoß durch Austritt aus der Europäischen Union korrigiert werden könnte – wenn ein Austritt denn gegen die Kraft des Faktischen überhaupt noch möglich wäre –, ändert nichts daran, daß es ein Verstoß ist, der in seiner rechtlichen Wirkung bis zu einem eventuellen Austritt andauert. bb) Quantitative Ansätze (1) Quantität der Rechtsetzungskompetenzen

Soweit es um die Rechtsetzung geht, kann die Abgrenzung der verfassungsmäßigen von der nicht mehr verfassungsmäßi51

Ebenso Broß (Fn. 7), S. 55 (64).

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gen Übertragung von Hoheitsrechten somit nicht rein qualitativ anhand der Unterscheidung Kernfunktionen / sonstige Funktionen vorgenommen werden, sondern muß auch auf quantitative Aspekte abstellen: Die eigenverantwortliche Wahrnehmung der Kernfunktion Rechtsetzung und Gestaltung der nationalen Rechtsordnung wäre jedenfalls dann nicht mehr gewahrt, wenn die Kompetenz zur Rechtsetzung für den überwiegenden Teil der Rechtsetzungsmaterien an die Europäische Union übertragen würde. Auf die Quantität exekutivischer Kompetenzen kommt es dagegen nicht an. Diese liegen – wie das Beispiel Deutschland zeigt – im Bundesstaat üblicherweise auf der unteren Ebene, so daß ein Fehlen umfassender exekutivischer Kompetenzen der Europäischen Union nicht dagegen spricht, daß Deutschland bereits mehr Hoheitsrechte an die Europäische Union übertragen hat als das Grundgesetz zuläßt. (2) Quantität von Elementen der Staatlichkeit

Macht man sich klar, daß es für die Bestimmung der unabänderlichen Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten nicht darauf ankommt, ob die Europäische Union bereits als Bundesstaat mit eigenem Staatsvolk „gegründet“ worden ist, sondern darauf, ob sie bereits so viele Elemente der Staatlichkeit erhalten hat, daß sie nicht mehr als „zwischenstaatliche Einrichtung“ i.S. von Art. 24 Abs. 1 GG angesehen werden kann52, dann ist auch im Hinblick auf die einzelnen staatstypischen Elemente, die die Europäische Union mittlerweile auszeichnen, eine quantitative Analyse geboten. Denn mit jeder Übertragung von Hoheitsrechten erhält eine zwischenstaatliche Einrichtung etwas von dem, was im Zeitalter der klassischen Nationalstaaten exklusiv den souveränen Staaten zu52 Daß es hierauf ankommt und daß der neue Art. 23 Abs. 1 GG keine Erweiterung der Übertragungsermächtigung schaffen konnte, wurde oben (2.) dargelegt; ausführliche Begründung bei Murswiek (Fn. 5), S. 161 (176 – 179).

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stand. Insbesondere die Übertragung von Rechtsetzungskompetenzen ist Übertragung von Staatlichkeitselementen. Wenn Art. 24 Abs. 1 GG (und in dem von ihm gesetzten Rahmen jetzt auch Art. 23 Abs. 1 GG) zur Übertragung von Hoheitsrechten ermächtigt, dann ist damit immer auch die Übertragung von Elementen der Staatlichkeit impliziert. Dies ist vom Grundgesetz so gewollt und nicht zu beanstanden. Die Grenze, die das Grundgesetz dabei setzt53, besteht darin, daß einerseits so viel an Staatlichkeitselementen bei der Bundesrepublik Deutschland bleibt, daß diese noch als souveräner Staat betrachtet werden kann, und andererseits die Europäische Union nur maximal so viele Staatlichkeitselemente erhält, daß sie noch als „zwischenstaatliche Einrichtung“ angesehen werden kann. Unter diesem Aspekt sind neben der Rechtsetzungshoheit Elemente wie Außenzuständigkeit, Währungshoheit, Zuständigkeit für die innere Sicherheit usw. zu berücksichtigen. Das Grundgesetz verlangt also eine wertende Gesamtbetrachtung unter Einbeziehung sowohl qualitativer als auch quantitativer Elemente54. Der Einbeziehung quantitativer Kriterien kann man nicht dadurch ausweichen, daß man neue Begriffe wie „Staatenverbund“ oder „Verfassungsverbund“ auf die Europäische Union anwendet. Dies sind nicht Begriffe des Grundgesetzes. Sie mögen zur Beschreibung dessen, was den Stand der europäischen Integration ausmacht, geeignet sein, nicht jedoch zur Präzisierung der unabänderlichen Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten.

53 Und zwar unter dem Aspekt der souveränen Staatlichkeit; zum Aspekt der Demokratie vgl. Murswiek (Fn. 4), S. 76 ff. 54 Zur Notwendigkeit einer auch quantitativen Herangehensweise im Hinblick auf die fließenden Übergänge zwischen Staatlichkeit und Gliedstaatlichkeit ausführlich Murswiek (Fn. 5), S. 161 (170 ff.).

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cc) Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung als Kriterium für den Ausschluß des Übergangs der Staatlichkeit an die Europäische Union?

Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung wird in der Literatur oft als die Zauberformel angesehen, mit Hilfe derer sichergestellt wird, daß die Mitgliedstaaten der Europäischen Union ihre Staatlichkeit behalten und auch bei weiteren Integrationsschritten die verfassungsrechtlichen Grenzen der Integrationsermächtigung nicht überschritten werden. Auch im Maastricht-Urteil klingt dieser Gedanke an55. In der Tat ist das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ein wichtiges Abgrenzungskriterium: Würde es aufgegeben zugunsten einer unbestimmten Generalermächtigung, dann wäre dies mit dem Grundgesetz unvereinbar56. Aber kann man umgekehrt wirklich sagen, die verfassungsrechtlichen Integrationsgrenzen seien nicht überschritten, solange die Kompetenzzuweisung an die Europäische Union nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung erfolgt? Wer diese Frage bejaht, verkennt, daß das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ein rein formales Prinzip der Kompetenzabgrenzung ist, das über den Umfang der Kompetenzübertragung nichts aussagt. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung verteilt die Kompetenzen in einem Mehrebenensystem zwischen zwei Ebenen nach einem einfachen formalen Regel-Ausnahme-Schema: Die Kompetenzen liegen bei der einen Ebene (hier: bei den Mitgliedstaaten), soweit sie nicht der anderen Ebene (hier: der Europäischen Union) ausdrücklich für bestimmte Gebiete zugewiesen sind. Das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung in der Europäischen Union hat also keine andere Funktion als sie in Deutschland Art. 70 GG für die Abgrenzung der Gesetzgebungskompetenzen zwischen Bund und Ländern hat. Ob das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung zusätzlich eine hinreichend präzise Bestimmung der der Europäischen Union übertra55 56

BVerfGE 89, 155 (189, 192). Vgl. BVerfGE 89, 155 (209 f.).

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genen Rechtsetzungskompetenzen verlangt, die es den nationalen Gesetzgebern ermöglicht, die Verantwortung für die Übertragung der betreffenden Hoheitsrechte zu übernehmen57, ist in diesem Zusammenhang irrelevant. Denn auch wenn die übertragenen Einzelkompetenzen sehr präzise normiert und normativ begrenzt sind, bleibt es dabei, daß es sich um eine formale Verteilungsregel handelt. Diese Verteilungsregel stellt aber keineswegs sicher, daß – wie Art. 24 GG dies verlangt und wie der neue Art. 23 GG dies nicht ändern konnte – nur einzelne Hoheitsrechte, d. h. eine begrenzte Zahl von Hoheitsrechten und auf keinen Fall die überwiegende Zahl der Hoheitsrechte, auf die Europäische Union übertragen werden. Vielmehr ist es möglich, daß im Wege der begrenzten Einzelermächtigung praktisch alle Gesetzgebungskompetenzen auf die Europäische Union übertragen werden, daß also für die Mitgliedstaaten – in Deutschland für Bund und Länder – überhaupt nichts mehr übrig bleibt. Es ist völlig klar, daß dieses Ergebnis mit dem Grundgesetz unvereinbar wäre, sowohl unter dem Aspekt der souveränen Staatlichkeit als auch unter dem Aspekt des Demokratieprinzips. Aus dem Umstand, daß das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nach wie vor das für die Europäische Union maßgebliche Prinzip der Kompetenzverteilung ist, folgt also nichts für die Beantwortung der Frage, ob die Grenzen der nach dem Grundgesetz zulässigen Übertragung von Hoheitsrechten überschritten sind oder nicht. Erst recht nicht läßt sich die hiermit im Zusammenhang stehende, aber nicht hiermit identische Frage, ob die Europäische Union bereits ein Bundesstaat ist, unter Hinweis auf das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung verneinen. Vielmehr ist ein solches Prinzip der Kompetenzverteilung in Bundesstaaten durchaus üblich, wie insbesondere die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland zeigt, wo dieses Prinzip für die Gesetzgebung (Art. 70 GG) und für die gesamte Staatstätig57

Vgl. BVerfGE 89, 155 (191 f.).

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keit (Art. 30 GG) ebenfalls als Kompetenzverteilungsprinzip fungiert. 4. Die europäische Staatswerdung als dynamischer Prozeß

Im Maastricht-Urteil hat das Bundesverfassungsgericht zutreffend festgestellt, daß die Mitgliedstaaten mit dem Vertrag von Maastricht keinen sich auf ein europäisches Staatsvolk stützenden Staat gegründet hätten und daß eine Gründung „Vereinigter Staaten von Europa“ derzeit nicht beabsichtigt sei58. Zu einer solchen Staatsgründung wäre es auch durch den Verfassungsvertrag nicht gekommen und ist es durch den Vertrag von Lissabon ebenfalls nicht gekommen. Es ist auch sehr unwahrscheinlich, daß die Mitgliedstaaten der Europäischen Union sich in absehbarer Zeit zu einem solchen Gründungsakt entschließen. Dafür gibt es viele politische Gründe. Größtenteils wollen die Völker der Mitgliedstaaten ihre souveräne Staatlichkeit behalten. Und ihre politischen Führungen wollen dies entweder ebenfalls, oder sie streben zwar einen europäischen Bundesstaat an, können dies aber mit Rücksicht auf ihre Wähler nicht offen sagen59. Vielen Politikern ist vielleicht gar nicht bewußt, wie stark sich die Europäische Union einem Bundesstaat bereits angenähert hat. Ihnen genügt es, wenn die äußeren Insignien und Symbole der nationalen Staatlichkeit erhalten bleiben und nicht umgekehrt die Europäische Union die Symbole der Staatlichkeit für sich reklamiert. Welch immense Bedeutung die Symbolpolitik im Zusammenhang mit der europäischen Integration hat, ist ganz besonders im Zusammenhang mit der Diskussion um den europäischen Verfassungsvertrag deutlich geworden. Die Kritik BVerfGE 89, 155 (188 f.). Vgl. die Vermutung von Di Fabio (Fn. 6), S. 191 (197) m. Hinw. auf eine Äußerung von Verheugen. 58 59

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an diesem Vertrag, die letztlich auch zu seinem Scheitern führte, war weitgehend Kritik an der Verwendung von Staatssymbolik – Verwendung des Begriffs „Verfassung“, Hymne, Flagge, „Europatag“ als eine Art europäischer Nationalfeiertag. Der Vertrag von Lissabon unterscheidet sich vom Verfassungsvertrag im wesentlichen dadurch, daß er auf diese Symbolik verzichtet. Mit der Sache hat die Symbolik aber nicht viel zu tun. Allein durch die Verwendung der Symbole wäre kein Staat entstanden, wenn nicht die materiellen Voraussetzungen der Staatlichkeit gegeben wären. Umgekehrt führt das Weglassen der Symbole nicht dazu, daß kein Staat entsteht, obwohl die materiellen Voraussetzungen der Staatlichkeit gegeben sind. Für die Öffentlichkeit – und dies gilt weitgehend auch für die politische Klasse – ist die Symbolik freilich von großer Bedeutung. Und viele glauben offenbar, daß ein europäischer Bundesstaat erst dann entstehe, wenn man ihn förmlich „gründet“. Solange es einen solchen Gründungsakt nicht gibt, durch den die Völker der Mitgliedstaaten sich förmlich zu einem europäischen Staatsvolk konstituieren und durch den die Europäische Union expressis verbis zum souveränen Staat ausgerufen wird, könne, so eine verbreitete Meinung, die Europäische Union nicht als Staat angesehen werden. Dies ist ein Irrglaube, wenn auch – wie bereits dargelegt – schon aus Gründen der internationalen Rechtssicherheit ein Staat im völkerrechtlichen Sinne erst dann entstehen kann, wenn er sich selbst so bezeichnet. Für die Frage, ob die Europäische Union materiell die Voraussetzungen der Staatlichkeit erfüllt, sind die Bezeichnung als „Staat“ und ein förmlicher Gründungsakt indes Äußerlichkeiten, auf die es nicht entscheidend ankommen kann. Das Abstellen auf einen Gründungsakt verkennt, daß die Staatswerdung Europas ein dynamischer Prozeß ist, der sich über Jahrzehnte erstreckt. Die Europäische Union wird nicht durch eine einmalige Entscheidung zu einem Staat, sondern ihr wachsen im Laufe der Zeit immer mehr Hoheitsrechte und damit auch Staatsfunktionen zu – teils durch Änderungen der

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Gründungsverträge, teils durch extensive Inanspruchnahme von in den Verträgen gar nicht vorgesehenen oder allenfalls vage angelegten Kompetenzen60. Dieser Kompetenzzuwachs erstreckt sich auf immer mehr Sachgebiete. Er führt in quantitativer und qualitativer Hinsicht dazu, daß die Europäische Union eines Tages funktionell den Charakter eines Staates hat, ohne daß sie förmlich als Staat „gegründet“ worden ist, und möglicherweise hat er bereits dazu geführt. Wenn eines Tages die „Vereinigten Staaten von Europa“ förmlich gegründet werden sollten, dann wird dies ein Formalakt sein, der lediglich förmlich bestätigt, was der Sache nach längst geschehen ist. Für die Beurteilung der Frage, ob die verfassungsrechtlichen Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten überschritten und der Grundsatz der souveränen Staatlichkeit verletzt ist, kommt es also nicht darauf an, ob ein förmlicher Staatsgründungsakt vorliegt, sondern es kommt darauf an, an welcher Stelle des dynamischen Integrationsprozesses wir mittlerweile angekommen sind. Wenn es also zutrifft, daß die europäische Staatswerdung sich nicht in einer einmaligen Entscheidung vollzieht, sondern in einem jahrzehntelangen Prozeß, der aus unzähligen kleinen Schritten besteht, dann hat dies auch Konsequenzen für die verfassungsgerichtliche Überprüfung der Einhaltung der vom Grundgesetz vorgegebenen Grenzen der Übertragung von Hoheitsrechten. Die Fragestellung für das Bundesverfassungsgericht kann nicht sein: Ist ein bestimmter Vertrag – hier der Vertrag von Lissabon – ein Vertrag, der etwas qualitativ völlig Neues schafft, nämlich aus einem „Staatenverbund“ einen „Bundesstaat“ macht? Sondern die Frage muß sein: Hat unter Einbeziehung des zu beurteilenden Vertrages der Integrationsprozeß die Grenze überschritten, die das Grundgesetz der Übertragung von Hoheitsrechten setzt? Bleibt also die Ge60 Ausführlich zum dynamisch-prozeßhaften Charakter der europäischen Integration und zu den daraus sich ergebenden Konsequenzen für ihre verfassungsrechtliche Beurteilung Murswiek (Fn. 5), S. 161 (168 ff.).

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samtheit der bis jetzt übertragenen, der von der Europäischen Union ohne ausdrückliche Übertragung in Anspruch genommenen und der durch den zu beurteilenden Vertrag zusätzlich übertragenen Hoheitsrechte noch im Rahmen dessen, was zu übertragen das Grundgesetz erlaubt? Wie oben bereits dargelegt (3. b), kommt es für die Beantwortung dieser Frage nicht auf die begriffliche Einordnung der Europäischen Union an, insbesondere nicht darauf, ob man sie als „Staatenverbund“61, als „Bundesstaat“62 oder etwa als „Teilbundesstaat“63 bezeichnet64. Man mag sie als „Staatenverbund“ bezeichnen, solange sie sich noch nicht zum souveränen Staat proklamiert hat und sie auf der völkerrechtlichen Ebene noch nicht als Staat agiert, sondern als staatsähnliche Organisation. Dies schließt aber keineswegs aus, daß die oben aufgezeigten Grenzen der Übertragbarkeit von Hoheitsrechten überschritten sind. Verfassungsrechtlich geht es nicht um „Staat“ oder „Nicht-Staat“, sondern um die europäische Staatswerdung und die ihr korrespondierende Entstaatlichung der Mitgliedstaaten, um die Anreicherung von Elementen der Staatlichkeit bei der Europäischen Union und den Verlust von Elementen der Staatlichkeit auf Seiten der Mitgliedstaaten, um 61 So die Begriffsprägung des BVerfG im Maastricht-Urteil, BVerfGE 89, 155 (190). 62 Dies erwägt z. B. Broß (Fn. 7), S. 55 (60). 63 Ebenfalls eine Erwägung von Broß (Fn. 7), S. 61, 62. 64 Dazu Haack (Fn. 45), S. 13: „Wenn das Schrifttum nahezu einhellig die fehlende Staatsqualität der EU beschwört und beteuert, so handelt es sich mehr und mehr um eine begriffliche Absicherung, die dem Sachzusammenhang nur noch begrenzt gerecht werden kann. Der Begriff wird dann bewußt nicht verwendet, obwohl und weil er der Sache nach irgendwie paßt.“ Und Di Fabio (Fn. 6), S. 191 (197), stellte bereits 1993 fest, es deute sich ein Entwicklungsprozeß an, „in dem die europäische Ebene die entscheidende staatliche Rechtsmacht an sich zieht, aus formalen oder institutionellen Gründen dieser Ebene die Staatsqualität jedoch abgesprochen wird“. Dem entspricht der Hinweis von Siegfried Broß, Überlegungen zur europäischen Staatswerdung, JZ 2008, S. 227 (229), auf die Diskrepanz zwischen dem, „was die Vertragsstaaten zwar nach ihrem erklärten Willen nicht anstreben, durch ihr Tun aber gleichwohl materiell erreichen“.

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die Konkretisierung der Grenze, die das Grundgesetz diesem Staatswerdungs- und Entstaatlichungsprozeß setzt, und um die Beantwortung der Frage, ob diese Grenze mit dem Vertrag von Lissabon überschritten ist.

III. Der Grundsatz der souveränen Staatlichkeit im Lissabon-Urteil des Bundesverfassungsgerichts 1. Souveräne Staatlichkeit als Prüfungsmaßstab für die Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union

Das Bundesverfassungsgericht geht im Lissabon-Urteil davon aus, daß der Grundsatz der souveränen Staatlichkeit zu den unabänderlichen Verfassungsprinzipien gehört und wendet diesen Grundsatz als Prüfungsmaßstab für die Beurteilung des Zustimmungsgesetzes zum Vertrag von Lissabon an. „Das Grundgesetz setzt [ . . . ] die souveräne Staatlichkeit Deutschlands nicht nur voraus, sondern garantiert sie auch.“65 Der Senat legt zunächst dar, daß das Grundgesetz Souveränität als völkerrechtlich geordnete und gebundene Freiheit auffasse und im Zusammenhang mit dem Willen, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen – also im Zusammenhang mit „Europafreundlichkeit“ und Friedenswahrungsauftrag – gesehen werden müsse66. Die Ermächtigung zur Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union sei weitreichend, stehe aber unter der Bedingung, daß dabei die souveräne Verfassungsstaatlichkeit gewahrt bleibe67. Das Grundgesetz ermächtige nicht dazu, „durch Eintritt in einen Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität Deutschlands aufzugeben“. Dieser Schritt sei 65 66 67

BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009, Abs.-Nr. 216. Abs.-Nr. 222 – 225. Abs.-Nr. 226.

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wegen der mit ihm verbundenen unwiderruflichen Souveränitätsübertragung auf ein neues Legitimationssubjekt allein dem unmittelbar erklärten Willen des Deutschen Volkes vorbehalten68. Nur kraft einer Entscheidung der verfassunggebenden Gewalt könne Deutschland seine souveräne Staatlichkeit aufgeben69. Die Europäische Union könne nach dem Grundgesetz nur ein Staatenverbund souverän bleibender Staaten sein70. Völker- und staatsrechtliche Souveränität bedeute insbesondere für die konstitutionellen Grundlagen Unabhängigkeit von fremdem Willen. Die Quelle der europäischen Gemeinschaftsgewalt seien die demokratisch verfaßten Völker Europas. Die Mitgliedstaaten müßten „Herren der Verträge“ bleiben. Die funktionelle Verfassung der Europäischen Union sei eine abgeleitete Grundordnung71. Für die europäische Unionsgewalt könne es nach Maßgabe des Grundgesetzes kein eigenständiges Legitimationssubjekt geben, das sich unabgeleitet von fremdem Willen und damit aus eigenem Recht verfassen könne72. 2. Ableitung des Grundsatzes der souveränen Staatlichkeit aus dem Grundgesetz

Zur Ableitung des Grundsatzes der souveränen Staatlichkeit aus dem Grundgesetz sagt das Bundesverfassungsgericht nicht viel. Es diskutiert nicht die verschiedenen oben (II.1.) genannten Begründungsansätze, sondern stützt sich nur auf einen von diesen, nämlich auf den Umstand, daß das Grundgesetz in der Präambel und Art. 146 GG die verfassunggebende Gewalt dem „Deutschen Volk“ zuweist73 und daß das deutsche Staats68 69 70 71 72 73

Abs.-Nr. 228. Abs.-Nr. 179, 263. Abs.-Nr. 229. Abs.-Nr. 231. Abs.-Nr. 232. Vgl. Abs.-Nr. 228, 232, auch 179.

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volk gemäß Art. 20 Abs. 2 GG das Subjekt der demokratischen Legitimation der in Deutschland ausgeübten öffentlichen Gewalt ist74. Eine Gestaltung der europäischen Verfassung, gemäß der die Europäische Union ihre Legitimation nicht mehr von den Völkern der Mitgliedstaaten herleitet, sondern von einem europäischen Unionsvolk, wäre – so das Bundesverfassungsgericht – mit dem Grundgesetz nicht vereinbar75. Solange die Völker der Mitgliedstaaten die alleinigen Legitimationssubjekte sind, kann es aber keinen europäischen Bundesstaat geben. Die durch Art. 20 Abs. 1 und 2 i. V. m. 79 Abs. 3 GG änderungsfeste Garantie der Volkssouveränität impliziert somit mittelbar die Garantie der Souveränität Deutschlands76. Daß das Bundesverfassungsgericht den Grundsatz der souveränen Staatlichkeit im Zusammenhang mit der Prüfung eines Verstoßes gegen das Demokratieprinzip als Maßstab einführt und anwendet und daß es mit der verfassunggebenden Gewalt des Volkes und dem Volk als Subjekt der Volkssouveränität zwei demokratiespezifische Begründungsansätze verwendet, um darzulegen, daß die souveräne Staatlichkeit ein unabänderliches Verfassungsprinzip ist77, während es auf andere Begründungsansätze nicht eingeht, hat offenbar einen prozessualen Grund: Die Verfassungsbeschwerden wurden nur unter dem Aspekt als zulässig angesehen, daß eine Verlet74 Vgl. Abs.-Nr. 232. – Zu beiden Aspekten oben im Text bei Fn. 14 und 15. – Zum Verbot, das Subjekt der demokratischen Legitimation ohne zustimmende verfassunggebende Entscheidung des Volkes auszuwechseln, näher Murswiek (Fn. 4), S. 112 f. 75 Abs.-Nr. 228, 229, 232, 347. 76 Die in Abs.-Nr. 216 noch nicht erläuterte und daher vielleicht zunächst überraschend scheinende These, „damit“ – nämlich mit der unabänderlichen Garantie des Demokratieprinzips in Art. 79 Abs. 3 GG – garantiere das Grundgesetz auch die souveräne Staatlichkeit Deutschlands, wird unter den Aspekten der verfassunggebenden Gewalt und des demokratischen Legitimationssubjekts später konsistent und zwingend begründet (vgl. die Nachw. in Fn. 73, 74, 75). 77 Vgl. auch Abs.-Nr. 248: „Die vom Demokratieprinzip [ . . . ] geforderte Wahrung der Souveränität [ . . . ]“.

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zung des Rechts auf Teilhabe an der demokratischen Legitimation der öffentlichen Gewalt (Art. 38 Abs. 1 GG) geltend gemacht wurde78. Folglich konnte der geltend gemachte Verlust der souveränen Staatlichkeit nur insoweit geprüft werden, als er zu einem Verstoß gegen Art. 38 Abs. 1 GG führen würde. Dies ist nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts auch dann der Fall, wenn unter Verstoß gegen Art. 146 GG die verfassunggebende Gewalt an die Europäische Union übertragen wird, etwa indem die Bundesrepublik Deutschland zu einem Gliedstaat eines europäischen Bundesstaates umgebildet wird79. Verstöße gegen objektive Verfassungsprinzipien, die nicht zugleich Art. 38 Abs. 1 GG verletzen, können mit der Verfassungsbeschwerde demgegenüber nicht geltend gemacht werden80. Dem folgt der Aufbau der BegründetheitsAbs.-Nr. 172 ff. Abs.-Nr. 179 f. 80 Außer der Geltendmachung einer Verletzung des Demokratieprinzips hat das BVerfG nur die Geltendmachung einer Verletzung des Sozialstaatsprinzips als zulässig angesehen, allerdings nur unter dem Aspekt, daß geltend gemacht wurde, die demokratischen Gestaltungsmöglichkeiten des Bundestages würden durch den Vertrag von Lissabon derart beschränkt, daß der Bundestag die sich aus Art. 79 Abs. 3 GG ergebenden Mindestanforderungen des Sozialstaatsprinzips nicht mehr erfüllen könne, Abs.-Nr. 182. Insoweit ging es also letztlich ebenfalls um ein Demokratieproblem. Die Geltendmachung einer Verletzung des Rechtsstaatsprinzips wurde demgegenüber als unzulässig angesehen, Abs.-Nr. 183. – Mit dieser Einschränkung des Prüfungsumfangs im Rahmen der Verfassungsbeschwerde setzt sich das BVerfG aber letztlich in Widerspruch zu seiner im Lissabon-Urteil entwickelten Auffassung, Art. 38 Abs. 1 GG i. V. m. Art. 146 GG garantiere auch das Recht jedes Bürgers auf Teilhabe an der verfassunggebenden Gewalt und somit auf Achtung des unabänderlichen Verfassungskerns (Art. 79 Abs. 3 GG) durch die Staatsorgane. Dies wird in Abs.-Nr. 179 f. zwar nur für die Wahrung der souveränen Staatlichkeit ausdrücklich gesagt, doch stellt das BVerfG an anderer Stelle fest, daß jede Verletzung der in Art. 79 Abs. 3 GG für unabänderlich erklärten Prinzipien ein Übergriff in die verfassunggebende Gewalt sei, Abs.-Nr. 218, folglich auch in das vom BVerfG angenommene individuelle Teilhaberecht: „Das Wahlrecht begründet einen Anspruch auf [ . . . ] die Einhaltung des Demokratiegebots einschließlich der Achtung der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes. Die Prüfung einer Verletzung des Wahlrechts umfasst in der hier gegebenen prozessualen Konstellation auch Eingriffe in die Grundsätze, die Art. 79 Abs. 3 GG als Identität der Verfassung (vgl. 78 79

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prüfung81, die nur Verstößen gegen Art. 38 Abs. 1 GG und daher nur Verstößen gegen das Demokratieprinzip und nicht gegen andere durch Art. 79 Abs. 3 GG geschützte Verfassungsprinzipien nachspürt82. Die Ansicht, das Bundesverfassungsgericht habe das Prinzip der souveränen Staatlichkeit zum Bestandteil des Demokratiebegriffs gemacht, um es der Abänderbarkeit durch den verfassungsändernden Gesetzgeber zu entziehen83, ist politische Polemik und hat im Duktus der Urteilsbegründung keine Grundlage. Richtig ist, daß sowohl die Übertragung der verfassunggebenden Gewalt an die Europäische Union ohne zustimmende verfassunggebende Entscheidung des deutschen Volkes als auch die Auswechslung des Subjekts der demokratischen Legitimation mit dem Demokratieprinzip unvereinbar wären, daß aber – wie oben gezeigt (II.) – das Prinzip der souveränen Staatlichkeit auch unabhängig hiervon zu den unabänderlichen Verfassungsprinzipien gehört. 3. Konsequenzen für die Grenzen der europäischen Integration

Welche konkreten Konsequenzen leitet das Bundesverfassungsgericht aus der unabänderlichen Geltung des Prinzips der souveränen Staatlichkeit für die verfassungsrechtlichen Grenzen der europäischen Integration ab? Es gibt ein paar klar zu bestimmende und unverrückbare Eckpfeiler (a), und es gibt im Vorfeld hiervon einen Übergangsbereich zwischen verBVerfGE 37, 271 [279]; 73, 339 [375]) festschreibt“, Abs.-Nr. 208. Das muß konsequenterweise für alle Grundsätze des Art. 79 Abs. 3 GG gelten. 81 Zur Gliederung des Urteils Isabel Schübel-Pfister / Karen Kaiser, Das Lissabon-Urteil des BVerfG vom 30. 6. 2009 – Ein Leitfaden für Ausbildung und Praxis, JuS 2009, S. 767 ff. 82 Das Sozialstaatsprinzip wurde nur im Rahmen des Demokratieprinzips – unter dem Aspekt der Entleerung der Kompetenzen des Bundestages – geprüft, vgl. Abs.-Nr. 257 – 259, 392. 83 So Lenz (Fn. 2).

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fassungsrechtlich erlaubter Übertragung von Hoheitsrechten und nicht mehr erlaubter Aushöhlung der souveränen Staatlichkeit, in welchem die Grenze der grundgesetzlichen Integrationsermächtigung schwer zu konkretisieren ist (b). Deshalb legt das Bundesverfassungsgericht Wert auf die verfahrensrechtliche Absicherung des Prinzips der souveränen Staatlichkeit (c). a) Absolute Grenzen der europäischen Integration

Das Bundesverfassungsgericht formuliert unter dem Aspekt der souveränen Staatlichkeit84 folgende absolute Grenzen der Integrationsermächtigung, die nicht von der verfaßten Staatsgewalt, sondern nur auf der Basis einer verfassunggebenden Entscheidung des Volkes überwunden werden können: 1. Die Integrationsermächtigung des Art. 23 Abs. 1 GG ermächtigt nach dem Lissabon-Urteil nicht dazu, einem europäischen Bundesstaat beizutreten. Die Europäische Union muß eine Union souverän bleibender Staaten sein85. 2. Deshalb müssen die Mitgliedstaaten die „Herren der Verträge“ bleiben; die Verfassung der Europäischen Union darf keine autonome, sondern muß eine von den Mitgliedstaaten abgeleitete Grundordnung sein86. 3. Der Europäischen Union darf nicht die Kompetenz-Kompetenz übertragen werden87. Vielmehr dürfen der Europäischen Union grundsätzlich nur sachlich begrenzte Einzelkompetenzen eingeräumt werden88. 4. Daraus folgert das Bundesverfassungsgericht, daß den Verfassungsgerichten der Mitgliedstaaten das Recht bleiben muß, 84 Unter dem Aspekt der Wahrung der Verfassungsidentität folgen weitere absolute Grenzen aus Art. 79 Abs. 3 GG. 85 Abs.-Nr. 226, 228, 229, 179, 263. 86 Abs.-Nr. 231. 87 Abs.-Nr. 233, 239. 88 Abs.-Nr. 226, 234, 238.

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darüber zu entscheiden, ob die Europäische Union sich mit ihrer Rechtsetzung im Rahmen der von den Mitgliedstaaten erteilten Einzelermächtigungen hält89. 5. Das Bundesverfassungsgericht muß auch zuständig bleiben, darüber zu wachen, daß im Rahmen der europäischen Integration der unantastbare Verfassungskern des Grundgesetzes gewahrt bleibt90. Nur so ist sichergestellt, daß die verfassunggebende Gewalt als zentraler Baustein der Souveränität auf mitgliedstaatlicher Ebene bleibt91. 6. Das Deutsche Volk als Subjekt der demokratischen Legitimation darf nicht gegen ein anderes Legitimationssubjekt – das europäische Unionsvolk – ausgetauscht werden92. 7. Das Recht der Mitgliedstaaten zum Austritt muß gewahrt bleiben93. b) Relative Grenzen der europäischen Integration

Da die förmliche Gründung eines europäischen Bundesstaates oder die ausdrückliche Übertragung der Kompetenz-Kompetenz an die Europäische Union nicht auf der Agenda stehen, ist es für die Praxis wichtiger, was es konkret bedeutet, daß die Mitgliedstaaten souverän bleiben müssen. Souveränität bedeutet ja nicht völlige völkerrechtliche Unabhängigkeit und Ungebundenheit, sondern ist mit der Eingehung völkerrechtlicher Bindungen vereinbar, und nach der Konzeption des Grundgesetzes ist sie insbesondere vereinbar mit der Übertragung von Hoheitsrechten an „zwischenstaatliche Einrichtungen“ (Art. 24 Abs. 1 GG) und speziell an die Europäische Union (Art. 23 Abs. 1 GG). Da aber jede Übertragung von Hoheitsrechten an die Europäische Union den Umfang staatlicher Kompetenzen schmälert, fragt sich, wie weit die Kom89 90 91 92 93

Abs.-Nr. 240, 334, 336. Abs.-Nr. 240, 336. Vgl. Abs.-Nr. 235. Abs.-Nr. 228, 229, 232. Abs.-Nr. 233.

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petenzübertragungen gehen können, ohne daß von der souveränen Staatlichkeit nur noch eine leere Hülle oder ein verfassungsrechtlich nicht mehr hinreichender Rest übrig bleibt. Diese Frage ist mangels präziser Vorgaben im Grundgesetz nicht leicht zu beantworten. Klar ist, daß die Wahrung der oben genannten absoluten Grenzen der Integrationsermächtigung nicht ausreicht, weil es andernfalls zu einer völligen Aushöhlung der souveränen Staatlichkeit bei Wahrung ihrer äußeren Insignien kommen könnte. Aber wie viel Substanz an souveräner Staatlichkeit muß auf der Ebene der Mitgliedstaaten bleiben, und anhand welcher Kriterien läßt sich das entscheiden? Offenbar kann es insoweit nicht um Einzelaspekte gehen. Vielmehr ist eine Gesamtbetrachtung erforderlich, die die verschiedenen Gebiete der Politik und der Staatsfunktionen einbezieht. Da bei einer solchen Gesamtbetrachtung Kompetenzverluste auf einem Sektor möglicherweise gerechtfertigt werden können, wenn auf einem anderen Sektor hinreichende Kompetenzen erhalten bleiben oder sogar gestärkt werden, geht es um relative Grenzen der Integrationsermächtigung. Nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts muß nicht eine „von vornherein bestimmbare Summe oder bestimmte Arten von Hoheitsrechten in der Hand des Staates bleiben“94. Allerdings dürfe die Union nicht so verwirklicht werden, daß den Mitgliedstaaten „kein ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse“ verbleibt. Das gelte insbesondere für Sachbereiche, die die Lebensumstände der Bürger besonders prägen, sowie für politische Entscheidungen, die in besonderer Weise auf kulturelle, historische und sprachliche Vorverständnisse angewiesen sind. Zu wesentlichen Bereichen demokratischer Gestaltung rechnet der Senat unter anderem die Staatsbürgerschaft, das Gewaltmonopol, Einnahmen und Ausgaben, intensive Grundrechtseingriffe wie den strafrechtlichen Freiheitsentzug, „kulturelle Fragen wie die Verfügung über 94

Abs.-Nr. 248.

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die Sprache, die Gestaltung der Familien- und Bildungsverhältnisse, die Ordnung der Meinungs-, Presse- und Versammlungsfreiheit oder der Umgang mit dem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis“95. Die Entscheidung über strafwürdiges Verhalten dürfe daher nur für bestimmte grenzüberschreitende Sachverhalte unter restriktiven Voraussetzungen europäisch harmonisiert werden96. Die Entscheidung über den konkreten Einsatz der Streitkräfte müsse Sache des nationalen Parlaments bleiben97. Die Gesamtverantwortung für den staatlichen Haushalt dürfe dem Bundestag nicht genommen werden98. Auch für die wesentlichen Entscheidungen der Sozialpolitik müsse der nationale Gesetzgeber zuständig bleiben99. Mit seinem Katalog für die demokratische Selbstgestaltungsfähigkeit „besonders sensibler“ Politikbereiche100 versucht das Bundesverfassungsgericht die Grenze der Integrationsermächtigung zu konturieren. Die Kriterien sind teilweise ziemlich exakt, vieles bleibt jedoch offen für Abwägungen. Gerade im Hinblick auf die unvermeidliche Weichheit mancher Kriterien ist die entscheidende Frage für die Wahrung souveräner Staatlichkeit die Frage, wer das letzte Wort hat hinsichtlich der verbindlichen Konkretisierung der Grenzen der Integrationsermächtigung: Quis judicabit? c) Die verfahrensrechtliche Absicherung der souveränen Staatlichkeit

In Deutschland hat das Bundesverfassungsgericht das letzte Wort für die Auslegung der Integrationsermächtigung des Abs.-Nr. 249, auch 252. Abs.-Nr. 253. 97 Abs.-Nr. 255. 98 Abs.-Nr. 256. 99 Abs.-Nr. 259. 100 Abs.-Nr. 252, näher erläutert in 253 ff. 95 96

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Art. 23 Abs. 1 GG. Diese Zuständigkeit wird vor allem bei der verfassungsgerichtlichen Kontrolle eines Zustimmungsgesetzes zu einem Vertrag relevant, durch den Hoheitsrechte übertragen werden; dies ist unproblematisch. Aber wer hat das letzte Wort, wenn es um die Frage geht, ob ein Rechtsetzungsakt der Europäischen Union die Grenzen der Verträge und damit die Grenzen der von den nationalen Parlamenten erteilten Ermächtigung überschreitet? Hier geht es nicht um die Auslegung der nationalen Verfassung, sondern des primären Unionsrechts, und dafür ist nach dem Vertrag von Lissabon – wie schon bisher (Art. 230, 234 EGV) – der Europäische Gerichtshof zuständig (Art. 263, 267 AEUV). Ein Zentralproblem des Verfassungsprozesses um den Vertrag von Lissabon war die Frage, ob das Bundesverfassungsgericht die Kompetenz hat beziehungsweise behält, einem Rechtsakt der Europäischen Union die Anwendbarkeit in Deutschland zu versagen mit dem Argument, er sei durch die Verträge nicht gedeckt und somit ultra vires ergangen, und zwar auch dann, wenn der Europäische Gerichtshof den betreffenden Rechtsakt für vertragsgemäß hält. Hat also der Europäische Gerichtshof oder das Bundesverfassungsgericht bei divergierenden Auffassungen das letzte Wort? Diese Frage stand deshalb im Zentrum des Prozesses, weil der Europäische Gerichtshof jahrzehntelang als „Motor der Integration“ eine expansive Rechtsprechung verfolgt und in Kompetenzfragen meist unter sehr ausdehnender Auslegung der vertraglichen Ermächtigungen dem Unionsgesetzgeber Recht gegeben hatte101. Es war zu befürchten, daß die Europäische Union sich mit Hilfe der expansiven Rechtsprechung des Gerichtshofs – ausgehend von den vielen, durch die Verträge von Amsterdam, Nizza und Lissabon vielfältig angereicherten Einzelkompetenzen – allmählich eine nahezu flächen101 Nachweise der extensiven Rspr. des EuGH z. B. bei Dietrich Murswiek, Die heimliche Entwicklung des Unionsvertrages zur europäischen Oberverfassung. Zu den Konsequenzen der Auflösung der Säulenstruktur der Europäischen Union und der Erstreckung der Gerichtsbarkeit des EU-Gerichtshofs auf den EU-Vertrag, NVwZ 2009, S. 481 (484) Fn. 14.

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deckende Vollkompetenz oder sogar auf der Basis der „Flexibilitätsklausel“ (Art. 352 AEUV), der Bestimmung über die Eigenmittel der Union (Art. 311 AEUV) oder anderer Bestimmungen mit weit gefaßtem Tatbestand sich so etwas wie eine Kompetenz-Kompetenz verschafft. Daß aus vielen Einzelkompetenzen im Wege expansiver Inanspruchnahme eine mit dem Grundgesetz unvereinbare flächendeckende Kompetenz wird, läßt sich nur vermeiden, wenn die Grenzen der Einzelkompetenzen sehr ernst genommen werden, wozu – wie gesagt – der Europäische Gerichtshof nicht sonderlich neigt. „Eine Überschreitung des konstitutiven Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung und der den Mitgliedstaaten zustehenden konzeptionellen Integrationsverantwortung droht, wenn Organe der Europäischen Union unbeschränkt, ohne eine [ . . . ] äußere Kontrolle darüber entscheiden können, wie das Vertragsrecht ausgelegt wird“102, stellt das Bundesverfassungsgericht fest. Hinzu kommt, daß manche Einzelkompetenzen des Vertrages von Lissabon nach dem Lissabon-Urteil nur in einer engen Auslegung mit dem Grundgesetz vereinbar sind103. Das Bundesverfassungsgericht konnte das Zustimmungsgesetz zum Vertrag von Lissabon nur dann für verfassungsgemäß erklären, wenn es sicherstellte, daß die begrenzten Einzelermächtigungen von den europäischen Organen nicht überschritten werden können und daß die vom Bundesverfassungsgericht vorgenommene verfassungskonform-restriktive Auslegung des Vertrages auch durchgesetzt werden kann. Dies hat das Bundesverfassungsgericht getan, indem es für sich selbst die Kompetenz in Anspruch nimmt, die Frage, ob Rechtsakte der Europäischen Union die Grenzen der mit dem Zustimmungsgesetz erteilten Rechtsetzungsermächtigung überschreiten, im Konfliktfall letztverbindlich zu entscheiden104. Abs.-Nr. 238. Vgl. z. B. Abs.-Nr. 358 ff., 364. Das Bundesverfassungsgericht hat an mehreren Stellen betont, daß der Vertrag nur „nach Maßgabe der Gründe“ des Urteils mit dem Grundgesetz vereinbar ist, vgl. Abs.Nr. 207, 273, 420. 102 103

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Die Inanspruchnahme dessen, was das Bundesverfassungsgericht „Ultra-vires-Kontrolle“ nennt105, ist ebenso wie die „Identitätskontrolle“106 (die Kontrolle der Vereinbarkeit europäischer Rechtsakte mit dem die Verfassungsidentität bestimmenden Verfassungskern gemäß Art. 79 Abs. 3 GG) europarechtlich problematisch, aber rechtssystematisch vertretbar107. Darauf soll hier nicht eingegangen werden. Entscheidend ist in unserem Zusammenhang, daß in der Konzeption des Lissabon-Urteils die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts für die „Ultra-vires-Kontrolle“ sowie für die „Identitätskontrolle“ der entscheidende Baustein dafür ist, daß der Vertrag von Lissabon mit dem Grundsatz der souveränen Staatlichkeit vereinbar ist. Das Recht zur letztverbindlichen Entscheidung über das, was als identitätsbestimmender Kern der Verfassung unangetastet bleiben muß, sowie über das, was an Kompetenzen auf die Europäische Union übertragen worden ist und was nicht, ist die Essenz der staatlichen Souveränität. Nur wenn das letzte Wort über die Kompetenzabgrenzung bei den nationalen Verfassungsgerichten bleibt, kann angesichts der Fülle der auf praktisch alle Politikbereiche sich erstreckenden Einzelkompetenzen der Europäischen Union sichergestellt werden, daß die Europäischen Union nicht allmählich die Kompetenz-Kompetenz an sich zieht, und nur wenn das letzte Wort über die identitätsbestimmenden Verfassungsprinzipien den nationalen Verfassungsgerichten zusteht, ist gewährleistet, daß die verfassunggebende Gewalt weiterhin den Mitgliedstaaten zusteht108. Abs.-Nr. 240, 241. Abs.-Nr. 240, 241. 106 Abs.-Nr. 240, 241, 332. 107 Zur Begründung für diese Kompetenz vgl. Abs.-Nr. 331 ff., insb. 339 f., 343. 108 Diese Selbstverständlichkeit war durch den Vertrag von Lissabon in Frage gestellt worden, da dieser die Zuständigkeit des EuGH auf die Beachtung der jetzt „Werte“ genannten Grundprinzipien (Art. 2 EUV) der Europäischen Union durch die Mitgliedstaaten erstreckt (Art. 258, 259, 267 AEUV) und somit dem EuGH die Möglichkeit eröffnet, nationa104 105

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Diejenigen, die jetzt das Bundesverfassungsgericht wegen Inanspruchnahme einer angeblich europarechtswidrigen Kontrollkompetenz kritisieren, sollten bedenken, daß das Bundesverfassungsgericht ohne die Inanspruchnahme dieser Kompetenz – seinem eigenen Begründungskonzept zufolge – den Vertrag von Lissabon hätte für verfassungswidrig erklären müssen. IV. Fazit Das Bundesverfassungsgericht stellt das Prinzip der souveränen Staatlichkeit zu Recht in einen unauflöslichen Zusammenhang mit der Volkssouveränität. Im demokratischen Staat gehört beides zusammen. Es formuliert einige klar zu bestimmende absolute Grenzen der Integration, deren Überschreitung auf jeden Fall das Prinzip der souveränen Staatlichkeit verletzen würde. Mit seinem Verzicht auf eine quantitative und qualitative Analyse des Umfangs der Kompetenzen, die bereits auf die Europäische Union übertragen worden sind und die noch bei den Mitgliedstaaten verbleiben, weicht das Bundesverfassungsgericht der Frage aus, ob der Schwerpunkt der Hoheitsbefugnisse auf der mitgliedstaatlichen Ebene bleiben muß, und behilft sich mit der sehr allgemeinen Formel, den Mitgliedstaaten müsse ein „ausreichender Raum zur politischen Gestaltung der wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebensverhältnisse“ verbleiben. Diese Formel wird imles Recht – einschließlich des nationalen Verfassungsrechts – am Maßstab der europäischen Werte zu kontrollieren, dazu eingehend Murswiek (Fn. 101), S. 481 ff. – Die vom BVerfG in Anspruch genommene „Identitätskontrolle“ beseitigt das aus der Zuständigkeit des EuGH für die Durchsetzung von Art. 2 EUV gegenüber den Mitgliedstaaten resultierende Problem des möglichen Übergriffs in nationales Recht freilich nur teilweise, nämlich hinsichtlich der Garantie des unabänderlichen Verfassungskerns, dazu näher Dietrich Murswiek, Vorprägungen nationaler Verfassungen durch Völker- und Europarecht – Probleme für Selbstbestimmungsrecht und verfassunggebende Gewalt des Volkes? (Vortrag auf dem deutsch-japanischen Symposium in Freiburg am 11. 9. 2009, erscheint demnächst).

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merhin konkretisiert durch die Hervorhebung einiger besonders „sensibler“ Bereiche wie etwa des Strafrechts, die nur in sehr eingeschränktem Umfang europäisiert werden dürfen, und durch die entsprechend restriktive Auslegung einiger Vertragsbestimmungen. Der zentrale Baustein der Gewährleistung des Grundsatzes der souveränen Staatlichkeit in der Konzeption des Bundesverfassungsgerichts ist, daß das Bundesverfassungsgericht selbst das letzte Wort über den Umfang der auf die Europäische Union übertragenen Kompetenzen und somit die Kontrolle darüber hat, daß die beschränkten Einzelkompetenzen nicht über das in den Verträgen von den Mitgliedstaaten eingeräumte Maß hinaus ausgedehnt, sondern nur in ihren rechtlichen Grenzen ausgeübt werden. Und dies heißt dort, wo das Bundesverfassungsgericht die Verträge verfassungskonform interpretiert und nur eine enge Auslegung für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt hat, daß die Kontrolle sich auf die Beachtung dieser engen Auslegung erstreckt. In dieser Konzeption bleibt auch gegenüber dem Vertrag von Lissabon die souveräne Staatlichkeit der Mitgliedstaaten gewahrt. Alles hängt jetzt davon ab, ob das Bundesverfassungsgericht künftig von den im Lissabon-Urteil in Anspruch genommenen Kontrollkompetenzen auch tatsächlich Gebrauch macht – wenn nicht, ist das Urteil in diesem ganz zentralen Punkt Makulatur. Interessierte Kreise unken bereits, daß Hunde, die bellen, nicht beißen, und suchen mit einer Medienkampagne die Karlsruher Richter einzuschüchtern. Die Verfassung braucht jetzt Verfassungsrichter, die dem standhalten und konsequent zu ihrer im Kern richtigen und konsistenten Entscheidung stehen.

Die Wehrverfassung als Beispiel eigener Souveränitätsbeschränkung Von Heinrich Amadeus Wolff I. Die Grundlagen 1. Die Wehrverfassung als Ausdruck beschränkter Souveränität

Seit dem Erlass des Grundgesetzes sind über 60 Jahre vergangen; eine Zeitspanne, die es dem Grundgesetz erlaubte, weitgehend „nachzureifen“ und sein Gepräge als Provisorium, das einem Souverän ohne volle Souveränität zugerechnet wird, immer mehr abzulegen. Vollständig verloren hat es diese Geburtslast aber immer noch nicht, wie insbesondere an der Wehrverfassung zu ersehen ist. Die Wehrhoheit ist historisch betrachtet eine der souveränitätssensiblen Bereiche der allgemein formulierten Hoheitsrechte. Die Kumulierung der Wehrhoheit in einer Hand war eine der Entstehungsbedingungen des modernen Staates.1 Das BVerfG hat diesen Bereich jüngst zu Recht als einen besonders integrationsresistenten Bereich qualifiziert.2 Als Wehrverfassung bezeichnet man die Summe der Verfassungsnormen, die die Streitkräfte und die Bundeswehr zum Gegenstand haben (insbesondere Art. 35 Abs. 2 und 3, Art. 87a, Art. 87b, Art. 115a ff. GG). Die Schaffung verfassungsrechtlicher Regelungen über die Streitkräfte stand im parlamentarischen Rat nicht zur eigen1 Quaritsch, Staat und Souveränität. Bd. 1: Die Grundlagen, 1970, S. 223 ff.; Heinrich Amadeus Wolff, Ungeschriebenes Verfassungsrecht unter dem Grundgesetz, 2000, S. 322 ff. 2 BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009, Az: 2 BvE 2 / 08 (juris Rn. 254).

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verantwortlichen Gestaltung zur Verfügung.3 Grund dafür war insbesondere das zum Erlasszeitpunkt geltende Besatzungsrecht, wobei dieser prägende Umstand im Text des Grundgesetzes selbst so gut wie nicht vorkommt.4 Die fehlende Kompetenz für die Wehrverfassung führte zu einer dogmatischen Besonderheit in dem grundsätzlichen Verhältnis von Verfassungsrecht und Staat nach dem Grundgesetz. Während das Grundgesetz grundsätzlich davon ausgeht, dem Staat Deutschland stünde die Hoheitsgewalt in überliefertem Verständnis zu, d. h. grundsätzlich umfassend und unbeschränkt, und diese würde vom Grundgesetz rechtlich gefasst und vor allem begrenzt und zugleich legitimiert, gilt dieses Modell für die Wehrverfassung nicht. So verleiht das Grundgesetz Deutschland nicht die Strafgewalt, nicht die Finanzgewalt und auch nicht das Recht, Gesetze zu erlassen und vorhandene Gesetze zu ändern,5 aber sehr wohl das Recht, Streitkräfte zu haben (Art. 87a Abs. 1 GG). Im Bereich der Wehrverfassung ist es daher zutreffend, wenn es heißt, der Staat habe nur so viel Befugnisse wie das Grundgesetz ihm verleiht.6 2. Das permanente Ringen um die Wehrverfassung

Die konstitutive Bedeutung der Normen des Grundgesetzes für die Befugnis Deutschlands, Streitkräfte zu haben, zu verwenden und einzusetzen, bereitet der Bundesrepublik Deutschland immer wieder enorme dogmatische Probleme. War der 3 Verfassungskonvent auf Herrenchiemsee vom 10. bis 23. August 1948, in: Der Parlamentarische Rat, 1948 – 1949. Akten und Protokolle, Bd. 2, 1981, Dokument Nr. 14, S. 507 f.; BVerfGE 90, 286, 291. 4 Kritisch aus diesem Blickwinkel H. P. Ipsen, Über das Grundgesetz, 1950, S. 12 ff.; zustimmend H. Quaritsch, Hans Peter Ipsen zum Gedenken, AöR 123 (1998), 1 (6 f.). 5 Vgl. dazu Wolff, Verfassungsrecht (Fn. 1), 2000, S. 325 ff. 6 Häberle, Diskussionsbeitrag, VVDStRL 48 (1990), 129; s. a. ders., Verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre, AöR 111 (1986), 595 (600 f.); vergleichbar Smend, in: Der Kampf um den Wehrbeitrag, Bd. 1, 1952, 148 (152); ders., in: Der Kampf um den Wehrbeitrag, Bd. 2, 1953, 559 (563) und 567 (575).

Die Wehrverfassung

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Erlass der Normen der Wehrverfassung schon mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden, so hat sich der „Kampf um den Wehrbeitrag“ auch nach 60 Jahren nicht gelegt. Die letzten zwei Legislaturperioden waren u. a. geprägt von dem Ringen der Fortschreibung der Normen der Wehrverfassung.7 Bemerkenswert ist dabei, dass eigentlich alle Bereiche, die außerhalb der Einsätze der Streitkräfte im Ausland im Zusammenhang mit dem Aufgabenbereich von Systemen der kollektiven Sicherheit stehen, umstritten sind,8 d. h. – die Einsätze außerhalb eines Mandats eines Systems kollektiver Sicherheit;9 – insbesondere die Evakuierung deutscher Staatsbürger im Ausland;10 – die Abgrenzung der Amtshilfe zum Einsatz; – die Abwehr terroristischer Angriffe von außen und der Schutz ziviler Objekte. 3. Die Bekämpfung der Piraterie mit Unterstützung der Marine als aktuelles Problem a) Die Piraterie als altes und neues aktuelles Problem

Eines der aktuellen Problemfelder, die die Wehrverfassung auf die Probe stellt, ist der Einsatz der Marine als Teil der 7 Vgl. Übersicht bei Peter Dreist, Offene Rechtsfragen des Einsatzes bewaffneter deutscher Streitkräfte, NZWehrr 2002, 133, 134 ff. 8 Zutreffend Torsten Stein, Schutz der deutschen Handelsflotte, in: Festschrift für Dietrich Rauschning, 2001, 487, 492. 9 Vgl. dazu nur Christof Gramm, Glaubwürdigkeitsdefizite der Wehrverfassung, NZWehrr 2007, 221, 223 ff.; Dreist (Fn. 7), NZWehrr 2002, 133, 137 ff. 10 Vgl. dazu BT-Drs. 13 / 7233; s. dazu Christof Gramm, Die Aufgaben der Bundeswehr und ihre Grenzen in der Verfassung, NZWehrr 2005, 139 ff.; Klaus Dau, Die militärische Evakuierungsoperation „Libelle“ – ein Paradigma der Verteidigung?, NZWehrr 1998, 89 ff.; Volker Epping, Die Evakuierung deutscher Staatsbürger im Ausland als neues Kapitel der Bundeswehrgeschichte ohne rechtliche Grundlage?, AöR 32 (1999), 423 ff.

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Streitkräfte zur Abwehr von Piraten auf hoher See außerhalb des Tätigwerdens von Systemen der kollektiven Sicherheit. Piraterie wird hier als rechtswidrige Gewalttat gegen die Besatzung und / oder die Fahrgäste eines privaten Schiffes auf hoher See verstanden.11 Die Piraterie ist ein altes Problem. Sie besitzt eine wechselvolle Geschichte, die von einer zumindest teilweise staatlich unterstützten, über geduldeten, dann verbotenen bis hin zu geächteten Gewaltanwendung reicht.12 Die historische Nachzeichnung der Piraterie ist für sich genommen eine Aufgabe mit wissenschaftlichem Anspruch. Der Gegenstand ist aber nicht nur von historischem Interesse. Die Fallkonstellationen besitzen eine erschreckende Aktualität, da die Übergriffe der Piraten in jüngster Zeit wieder zunehmen. Die Ursachen der Piraterie sind vielfältig und unstreitig der Kern des Problems, den die betreffenden Länder und die internationale Gemeinschaft zu lösen haben. Daher bleibt die Frage, wie die kriminellen Auswüchse sicherheitsrechtlich zu bewältigen sind. b) Die Staatspraxis

Gemeint ist der Fall, dass die deutsche Marine ein Piratenboot daran hindern möchte, ein anderes Schiff in ihre Gewalt zu bringen. Dieser Grundfall kann in zwei Formen abgewandelt werden. Bei der ersten Abwandlung handelt es sich bei dem Boot, das von den Piraten bedrängt wird, um ein Schiff unter deutscher Flagge. Bei der zweiten Abwandlung liegt eine Situation der Nothilfe vor, wie auch immer diese rechtlich zu definieren ist. 11 Vgl. zur Definition der Seeräuberei Art. 101 des Internationalen Seerechtsübereinkommens, für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft seit dem 16. 11. 1994, BGBl. 1995 II, S. 602. 12 Almut Hinz, Die „Seeräuberei der Barbareskenstaaten“ im Lichte des europäischen und islamischen Völkerrechts, VRÜ 2006, 46, 47 f.; Rainer Lagoni, Piraterie und widerrechtliche Handlungen gegen die Sicherheit der Seeschiffahrt, in: Festschrift für Dietrich Rauschning, 2001, 501.

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Die deutsche Staatspraxis beruht auf der Annahme, ein Einschreiten sei den Streitkräften nur im Rahmen des Einsatzes eines Systems der kollektiven Sicherheit und im Bereich der Nothilfe möglich.13 Unbestritten bleibt die Möglichkeit des Einschreitens der Bundespolizei, insbesondere der Spezialeinheit GSG 9.14 Out of area – Einsätze der Bundespolizei werden auf der Grundlage von § 6 BPolG allgemein zu Recht als unproblematisch qualifiziert. Eine ausdrückliche verfassungsrechtliche Grundlage oder eine Zustimmung vom Parlament werden für nicht erforderlich gehalten.15 Auch die Strafverfolgung ist ihr für diesen Bereich zugewiesen – vgl. § 1 Nr. 3, § 4 Seeaufgabengesetz i. V. m. der Verordnung zur Bezeichnung der zuständigen Vollzugsbeamten des Bundes für bestimmte Aufgaben nach der Strafprozeßordnung vom 04. 03. 1994 (BGBl. I 1994, 442).16 Eine verdrängende Wirkung entfalten die Zuständigkeiten der Bundespolizei allerdings nicht.17

c) Die Einsätze im Rahmen eines Systems der kollektiven Sicherheit

Für die Gebiete, in denen die Piraterie am häufigsten auftritt,18 wurde für die Einsatzmöglichkeiten der Marine eine nach überwiegender Ansicht befriedigende Lösung gefunden, 13 Vgl. BT-Drs. 16/9286, S. 3; Stein (Fn. 8), in: FS für Rauschning, 2001, 487, 496. 14 Vgl. Peter Carstens, FAZ vom 07. 05. 2009, S. 3; Reinhard Müller, FAZ vom 15. 04. 2009. 15 Stein (Fn. 8), in: FS für Rauschning, 2001, 487, 494; Andreas FischerLescano, Bundesmarine als Polizei der Weltmeere?, NordÖR 2009, 49, 54; Beckert / Breuer, Öffentliches Seerecht, 1991, Rn. 825. 16 Michael Stehr, Maritime Bedrohungen und deutsche Sicherheitspolitik, ZFAS 2008, 55, 62. 17 s. nur Stehr (Fn. 16), ZFAS 2008, 55, 62 f. 18 s. zu den geographischen Schwerpunkten Wilfried Herrmann, Piraterie, Europäische Sicherheit, 1997, 45, 46 f.

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da entsprechende Beschlüsse der Vereinten Nationen und der EU vorliegen. Der VN-Sicherheitsrat hat auf der Grundlage von Art. 39 VN-Charta im Jahr 2008 eine ganze Reihe von VN-Resolutionen zu Somalia gefasst. In diesen werden alle Staaten, die mit der Übergangsregierung Somalias kooperieren, dazu ermächtigt, in das Hoheitsgebiet Somalias einzufahren oder einzufliegen und alle erforderlichen Maßnahmen im Rahmen des internationalen Rechts gegen Piraterie und bewaffnete Überfälle auf die Seefahrt zu ergreifen.19 Auch die EU hat über Art. 24 Abs. 2 EUV eine gemeinsame Aktion zur Umsetzung der Resolution beschlossen.20 Die Mitwirkung der deutschen Marine ist daher in diesen Bereichen nach der von der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts geprägten herrschenden Meinung grundsätzlich möglich. Grundlage dieser Einschätzung ist die sog. Blauhelmentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, nach der Auslandseinsätze der Streitkräfte auch außerhalb der Verteidigung mit dem Grundgesetz vereinbar sind, sofern sie innerhalb der Organisation und nach den Regeln eines Systems der kollektiven Sicherheit erfolgen.21 Das dogmatisch Besondere 19 S / RES / 1816 (2008) vom 02. 06. 2008 [Die Situation in Somalia]; http: //www.un.org/Depts/german/sr/sr_08/sr1816.pdf; http: //www.un. org/Depts/german/sr/sr_08/sr1816.pdf sowie die anfolgenden etwa S / RES / 1838 (2008) vom 07. 10. 2008; S / RES / 1846 (2008) vom 02. 12. 2008; S / RES / 1851 (2008) vom 16. 12. 2008; s. dazu Michael Allmendinger / Alexander Kess, „Störtebekers Erben“ – Die Seeräuberei und der deutsche Beitrag zu ihrer Bekämpfung, NZWehrr 2008, 60, 65; Fischer-Lescano (Fn. 15), NordÖR 2009, 49, 50 f.; Stehr (Fn. 16), ZFAS 2008, 55, 63; Heinicke, KJ 2009, 178, 181. 20 Gemeinsame Aktion 2008 / 851 / GASP des Rates vom 10. 11. 2008 über die Militäroperation der Europäischen Union als Beitrag zur Abschreckung, Verhütung und Bekämpfung von seeräuberischen Handlungen und bewaffneten Raubüberfällen vor der Küste Somalias, ABl. L 301 vom 12. 11. 2008, S. 33 ff.; s. dazu Fischer-Lescano (Fn. 15), NordÖR 2009, 49, 52; Andreas Fischer-Lescano / Timo Tohidipur, Rechtsrahmen der Maßnahmen gegen die Seepiraterie, NJW 2009, 1243 f.; Heinicke, KJ 2009, 178, 179 ff.

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an diesem Judikat ist: Das Bundesverfassungsgericht hat methodisch unzulässigerweise offengelassen, ob Art. 24 Abs. 2 GG als eine ausdrückliche Einsatzbestimmung i. S. v. Art. 87a Abs. 2 GG anzusehen ist oder ob sein Vorrang auf seiner Eigenschaft als speziellere Verfassungsnorm beruht.22 Über Art. 24 Abs. 2 GG sind zumindest die Maßnahmen gegen die Piraterie zu erklären, die in Übereinstimmung und nach den Bedingungen der NATO und / oder der UNO erfolgen. Nach jüngerer Ansicht ist darüber hinaus auch die EU selbst als ein System kollektiver Sicherheit einzustufen,23 wobei allerdings das BVerfG abweichend davon ausgeht, die EU sei gegenwärtig noch nicht unter Art. 24 Abs. 2 GG zu fassen.24 Pirateriefälle, die außerhalb der Gebiete liegen, auf die sich die relevante Beschlusslage von Systemen kollektiver Sicherheit bezieht, können allerdings unstreitig nicht über Art. 24 Abs. 2 GG verfassungsrechtlich gerechtfertigt werden. d) Offene Rechtsfragen

Für die Situation um Somalia ist mit den genannten Beschlüssen eine eigenständige Lösung geschaffen worden. Die Frage, unter welchen Bedingungen die Marine und auch die Streitkräfte insgesamt – außerhalb der Verteidigung und 21 BVerfG, Urt. v. 12. 07. 1994, Az: 2 BvE 3 / 92, 2 BvE 5 / 93, 2 BvE 7 / 93, 2 BvE 8 / 93; BVerfGE 90, 286 ff.; s. dazu Gerd Roellecke, Bewaffnete Auslandseinsätze – Krieg, Außenpolitik oder Innenpolitik?, Der Staat 34 (1995), 415 ff.; Norbert Riedel, Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Bundeswehreinsatz im Rahmen von NATO-, WEUbzw. UN-Militäraktionen, DÖV 1995, 135 ff.; Martin Kutscha, „Verteidigung“ – Vom Wandel eines Verfassungsbegriffs, KJ 2004, 228 ff.; Georg Nolte, Bundeswehreinsätze in kollektiven Sicherheitssystemen, ZaöRV 54 (1994), 652 ff.; Dieter Wiefelspütz, Der konstitutive wehrverfassungsrechtliche Parlamentsbeschluss, ZParl 2007, 3 ff. 22 BVerfGE 90, 286, 355 f. 23 Vgl. Heintschel v. Heinegg, in: Epping / Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 25, Rn. 33.3; Heinicke, KJ 2009, 178, 188; konkludent ohne Thematisierung offenbar auch Fischer-Lescano (Fn. 15), NordÖR 2009, 49, 52. 24 BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009, Az: 2 BvE 2 / 08 (juris Rn. 254).

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außerhalb eines Systems gegenseitiger kollektiver Sicherheit – eingesetzt werden dürfen, bleibt dennoch wichtig, da erstens die Piraterie örtlich nicht gebunden ist und zweitens die Lösung dieses Problems zugleich die Leistungsfähigkeit der Wehrverfassung aufzeigt. Im Folgenden geht es daher nur um den Einsatz der Streitkräfte außerhalb eines Systems der kollektiven Sicherheit. 4. Die Instrumentalisierung der Probleme zur Erreichung verfassungspolitischer Fernziele

Die Diskussion um die verfassungsrechtliche Bewertung des Einschreitens der Marine besitzt dabei eine Eigentümlichkeit, die nur mit dem Charakter des Verfassungsrechts als politisches Recht zu erklären ist. Die Diskussion um die verfassungsrechtliche Zulässigkeit des Einsatzes der Streitkräfte zur Pirateriebekämpfung außerhalb eines Systems der kollektiven Sicherheit wird zugleich zu einem Streit um die Wehrverfassung als solche. So wird auf der einen Seite die Rechtsprechung des BVerfG streng herangezogen, um das dann naheliegende Ergebnis, der Einsatz der Streitkräfte außerhalb eines Systems der kollektiven Sicherheit sei unzulässig, zum Anlass zu nehmen, eine Verfassungsänderung zu wählen.25 Dem wird entgegengehalten, die Verfassungsänderung sei unnötig, da die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die parlamentarische Kontrolle auch außerhalb eines Systems der kollektiven Sicherheit gestatte,26 und zwar entweder über eine extensive Auslegung des Begriffs der Verteidigung, einen restriktiven Begriff des Einsatzes, eine restriktive Interpretation des Art. 87a Abs. 2 GG oder eine extensive Auslegung des Art. 25 GG. Sofern diese Auslegungsvarianten als Argument gegen die Notwendigkeit einer Verfassungsän25 Gramm (Fn. 9), NZWehrr 2007, 221, 229 f.; Christof Gramm, Die Stärkung des Parlaments in der Wehrverfassung, unter IV., erscheint vorauss. DVBl. 2009; Dreist (Fn. 7), NZWehrr 2002, 133, 140. 26 Antrag der FDP-Fraktion vom 07. 05. 2008, BT-Drs. 16 / 9609.

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derung angeführt werden, ist ihnen vorzuhalten, dass eine Interpretation vertreten wird, deren Chancen im Fall eines verfassungsgerichtlichen Streits beim BVerfG Gehör zu finden, nicht besonders groß sind und dass sie dabei diese Schwäche selbst unzulässigerweise für unbeachtlich halten. Die Leidtragenden dieses Streites sind die Soldaten und die von Piraten bedrängten Schiffe. Weder der Ruf nach einer Verfassungsänderung noch der Verweis auf eine nicht mehrheitlich getragene Verfassungsinterpretation nützen den betroffenen Staaten etwas. Es ist daher nur folgerichtig, dass die Marineführung vor der Einbindung eines Systems der kollektiven Sicherheit davon ausgegangen ist, der Einsatz der Streitkräfte zur Pirateriebekämpfung sei unzulässig. Von dieser Unzulässigkeit macht die Staatspraxis gegenwärtig für den Fall der Nothilfe eine Ausnahme.27 Auch der potentielle Hinweis, die Probleme um Somalia hätten sich jetzt geändert, könnte kaum wohlwollender bewertet werden. Er würde übersehen, dass die Zeitspanne bis zum Erlass der entsprechenden Beschlüsse erheblich war und diese Erfahrungen genützt werden sollten, um eine entsprechende Wiederholung zu vermeiden. Die internen Kompetenzstreitigkeiten wiederum sind nicht förderlich für das Erscheinungsbild des Staates nach außen. Die Frage, wann ein Staat militärisch einschreiten darf, ist für dessen Selbstdarstellung von zentraler Rolle; rechtliche Unsicherheiten von gewichtigem Ausmaß sind insofern ausgesprochen unglücklich.28

BT-Drs. 16 / 9286, S. 3. Vgl. dazu Quaritsch, Probleme der Selbstdarstellung des Staates, 1977, S. 37. 27 28

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II. Die verfassungsrechtliche Bewertung des Einsatzes der Marine zur Bekämpfung der Piraterie 1. Pirateriebekämpfung als Problem des Auslandseinsatzes

Lässt man das Streben, die Besonderheit der Pirateriefälle dazu zu benutzen, um verfassungspolitische Forderungen durchzusetzen, beiseite, dann zeigt sich, wie das methodische Rüstwerk der Verfassungskonkretisierung in der Lage ist, ein Ergebnis zu erzielen, das sowohl den Besonderheiten der deutschen Wehrverfassung Rechnung trägt als auch den Streitkräften die Möglichkeit gibt, der Piraterie auf offener See nicht tatenlos zuschauen zu müssen. Im Einzelnen gilt: 2. Art. 87a Abs. 2 GG

Nach Art. 87a Abs. 2 GG bedarf der Einsatz der Streitkräfte außer zur Verteidigung einer ausdrücklichen Grundlage im Grundgesetz. Mit dieser Norm ist eine besondere Textstrenge verankert. Wenn das Einschreiten der Marine als Teil der Streitkräfte gegen Piraterie ein Einsatz i. S. v. Art. 87a Abs. 2 GG wäre, wäre es nur zulässig, sofern es zur Verteidigung i. S. v. Art. 87a GG erfolgen würde oder das Grundgesetz diesen Einsatz zuließe. Eine Norm, die ausdrücklich die Bekämpfung der Piraterie auf hoher See den Streitkräften ermöglicht, ist im Grundgesetz bekanntlich nicht enthalten. 3. Einsatz

Der Einsatzbegriff ist vom BVerfG bisher nicht verbindlich geklärt worden29 und daher noch umstritten,30 wobei die meisten Meinungsvarianten eng beieinander liegen. Nach eiBVerfGE 90, 286, 355. s. statt vieler nur den Überblick bei Florian Schröder, Das parlamentarische Zustimmungsverfahren zum Auslandeinsatz der Bundeswehr in der Praxis, 2005, S. 168 – 182. 29 30

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ner Mindermeinung bildet jede Verwendung der Streitkräfte einen Einsatz.31 Ebenfalls sehr weit geht die vereinzelt gebliebene Ansicht, wonach jede Verwendung ein Einsatz sei, die ihrem Zweck nach innenpolitisch nicht neutral ist.32 Nach ganz herrschender Ansicht ist entscheidend, ob sich die Verwendung als hoheitliches Handeln darstellt, wobei sich die Beurteilung, ob hoheitlich gehandelt wird, sowohl nach dem Gesichtspunkt der Bewaffnung als auch dem des Grundrechtseingriffs mit bemisst.33 Schließlich wird auch die Meinung vertreten, die Verwendung im Rahmen militärischer Befehlsgewalt und nach militärischen Befehlsgrundsätzen sei entscheidend, und zwar unabhängig von der Frage der Bewaffnung.34 Die Unterschiede bei der Definition des Einsatzbegriffes spielen bei der Beurteilung der Verwendungsmöglichkeiten 31 Vgl. Biner Kurt Wenkholm Bähr, Verfassungsmäßigkeit des Einsatzes der Bundeswehr im Rahmen der Vereinten Nationen, ZRP 1994, 97, 101. 32 Ralf Jahn / Norbert Riedel, Streitkräfteeinsatz im Wege der Amtshilfe, DÖV 1988, 957, 960; vergleichbar Jan-Peter Fiebig, Der Einsatz der Bundeswehr im Inneren, Berlin, 2004, S. 177 ff. 33 BT-Drs. V / 2873, S. 13; BT-Drs. 15 / 3892, S. 2; Henriette Sattler, Terrorabwehr durch die Streitkräfte nicht ohne Grundgesetzänderung, NVwZ 2004, 1286; Daniela Winkler, Die Systematik der grundgesetzlichen Normierung des Bundeswehreinsatzes unter Anknüpfung an die Regelung des LuftSiG, DÖV 2006, 149 f.; Dieter Wiefelspütz, Bundeswehr und Amtshilfe für die Polizei, Bundeswehrverwaltung 2004, 121 ff.; Claus Arndt, Verfassungsrechtliche Anforderungen an internationale Bundeswehreinsätze, NJW 1994, 2197; Stefan Oeter, Einsatzarten der Streitkräfte außer zur Verteidigung, NZWehrr 2000, 89, 97; Martin Kriele, Nochmals – Auslandseinsätze der Bundeswehr, ZRP 1994, 103, 105; kritisch: Juliane Kokott, in: Sachs, GG, 5. Aufl. 2009, Art. 87a Rn. 15. Die Bewaffnung betonend: Frank, AK-GG II, hinter Art. 87a (Stand 2001), Rn. 25. Den Grundrechtseingriff betonend: Daniel Beck, Auslandseinsätze deutscher Streitkräfte, 2008, S. 293 ff.; Heike Jochum, Der Einsatz der Streitkräfte im Innern, JuS 2006, 511 f.; s. a. Christian Fischer / Andreas Fischer-Lescano, Enduring Freedom für Entsendebeschlüsse? Völker- und verfassungsrechtliche Probleme der deutschen Beteiligung an Maßnahmen gegen den Internationalen Terrorismus, KritV 85 (2002) 113, 117 f. (hoheitlich i.d.R. verstanden als militär- bzw. polizeitypische Funktionen). 34 Ferdinand Kirchhof, Verteidigung und Bundeswehr, in: Isensee / Kirchhof, HStR IV, 3. Aufl., 2006, § 84, Rn. 58.

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der Streitkräfte für die Piraterie keine Rolle, da nach allen Begriffsvarianten das Vorliegen des Einsatzes anzunehmen wäre.35 Die in der Literatur jüngst geäußerte Einschätzung, es läge kein Einsatz vor, weil das militärische Gepräge fehle,36 legt den Einsatzbegriff zu einseitig aus, wie schon der Vergleich mit den vom GG ausdrücklich zugelassenen Einsatzfällen, denen auch das militärische Gepräge fehlt (Art. 35 Abs. 2 und Abs. 3, Art. 87a abs. 3 und Abs. 4 GG), verdeutlicht.37 Auch ein Rückgriff auf Art. 35 Abs. 1 GG nach dem Motto, die Streitkräfte würden der Bundespolizei helfen, ist daher nicht möglich. 4. Verteidigung

Auch der Begriff der Verteidigung ist in Konturen umstritten. Bei aller Unstimmigkeit im Einzelnen soll im Folgenden Verteidigung – reduziert auf den Kern ihres Gehalts – als Abwehr eines militärischen Angriffs verstanden werden.38 Sofern es sich um Pirateriefälle handelt, bei denen, wie es in der Regel der Fall sein dürfte, Handelsschiffe allein zwecks privater Beutemache angegriffen werden, würde der Einsatz der Streitkräfte nicht zur Verteidigung erfolgen. Demnach wäre der 35 Allmendinger / Kess (Fn. 19), NZWehrr 2008, 60, 66; Fischer-Lescano (Fn. 15), NordÖR 2009, 49, 53. 36 So Lagoni (Fn. 12), in: FS für Rauschning, 2001, 501, 533; Stehr (Fn. 16), ZFAS 2008, 55, 64; Ulrich Fastenrath, Deutsche Kriegsschiffe gegen Piraten?, Ran an den Feind, FAZ-Net vom 19. 06. 2008 (http://www. faz.net/s/RubD5CB2DA481C04D05AA471FA88471AEF0/Doc~E282F57 8353504D23A46E38651396712F~ATpl~Ecommon~Scontent.html), letzter Zugriff 31. 08. 2009. 37 Gramm (Fn. 25 ), DVBl. 2009, unter III 1. 38 Vgl. nur Dieter Wiefelspütz, Der kriegerische terroristische Luftzwischenfall und die Landesverteidigung, Recht und Politik 2006, 71 f. m. w. N.; Sattler, (Fn. 33), NVwZ 2004, 1286; Lutze, Abwehr terroristischer Angriffe als Verteidigungsaufgabe der Bundeswehr, NZWehrr 2003, 101, 109 (m. w. N.); s. a. Christof Gramm, Der wehrlose Verfassungsstaat?, DVBl. 2006, 654, 656; offen gelassen in: BVerfGE 90, 286, 355.

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Einsatz nur zulässig, sofern das Grundgesetz ihn mit hinreichender Deutlichkeit zuließe. 5. Art. 27 GG als Fall der ausdrücklichen Zulassung

Diskutiert wird, Art. 27 GG als eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung solcher Streitkräfteeinsätze zu verstehen, die dem Schutz von unter deutscher Flagge fahrenden Handelsschiffen dienen.39 „Kauffahrteischiffe“ i. S. v. Art. 27 GG sind alle dem Erwerb durch Seefahrt dienende Schiffe, mithin Handels- und Passagierschiffe sowie Fischereiboote, nicht aber Binnenschiffe und Staatsschiffe. Ein Schiff ist „deutsch“, wenn es zum Führen der deutschen Flagge berechtigt ist. Die Feststellung der Verfassung, alle deutschen Kauffahrteischiffe bilden eine einheitliche Handelsflotte, bewirkt zunächst, dass die Schiffe dem Völkerrechtssubjekt Bundesrepublik Deutschland als Flaggenstaat (und nicht den Bundesländern) zugeordnet werden. Darüber hinaus ist Art. 27 GG umstrittener, aber zutreffender Ansicht nach auch eine Einrichtungsgarantie zu entnehmen.40 Im Zusammenhang mit Art. 87a Abs. 2 GG heißt es nun: Wenn Art. 27 GG den Staat verpflichtet, eine Handelsflotte zu ermöglichen und zu schützen und dies nur durch den Schutz der Marine möglich ist, dann müsse Art. 27 GG auch im Verhältnis zu Art. 87a Abs. 2 GG als Grundlage ausreichen. Es könne nicht sein, dass Art. 27 GG dem Staat etwas gebiete, das Art. 87a GG ihm untersage.41 Stein (Fn. 8), in: FS für Rauschning, 2001, 487, 494 f. Heintschel v. Heinegg, in: Epping / Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 25, Rn. 10; Matthias Herdegen, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 27, Rn. 20; Stern, Staatsrecht, III / 1, S. 376; s. a. Christian Koenig, in: v. Mangoldt / Klein / Sachs, GG, 2005, Art. 27, Rn. 11 (Infrastruktureinrichtungsauftrag); a.A. Wilfried Erbguth, in: Sachs, GG, 5. Aufl. 2009, Art. 27, Rn. 8, offengelassen in: BVerfGE 92, 26, 43 = NJW 1995, 2339; Bodo Pieroth, in: Jarass / ders., GG, 10. Aufl. 2009, Art. 27, Rn. 2. 41 Stein (Fn. 8), in: FS für Rauschning, 2001, 487, 494. 39 40

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Es liegt nahe, aus Art. 27 GG eine staatliche Pflicht zum Schutz des Bestands und der Funktionsfähigkeit der deutschen Handelsschifffahrt zu entnehmen. Eine Berechtigung zum Einsatz der Streitkräfte lässt sich aus dieser Pflicht aber nur ableiten, wenn die deutsche Handelsflotte insgesamt in ihrem Bestand bedroht ist. Aber selbst dann führt diese Pflicht noch nicht zu einem notwendigen Einsatz der Streitkräfte, da auch durch andere Mittel, bis hin zur Umstrukturierung der Bundespolizei, ein Einsatz möglich bleibt. Schließlich sei unterstützend genannt: Art. 27 GG und die Existenz der Handelsflotte sind älter als die Existenz der Streitkräfte; es liegt daher die Vermutung nahe, der Verfassungsgeber sei davon ausgegangen, der Schutz der Handelsflotte sei auch ohne Streitkräfte möglich. 6. Art. 25 GG als Fall der ausdrücklichen Zulassung a) Die Parallele zu Art. 24 Abs. 2 GG

Nach einer immer bedeutsamer werdenden Ansicht bietet Art. 25 GG in Verbindung mit dem Internationalen Seerechtsübereinkommen die Grundlage für einen Einsatz der Streitkräfte gegen Piraterie.42 Die Ansicht beruht darauf, die materielle Argumentation der Entscheidung des BVerfG zu Art. 24 Abs. 2 GG auf Art. 25 GG zu übertragen:43 das, was das Grundgesetz Deutschland schon vor der Einfügung des Art. 87a GG völkerrechtlich erlauben wollte, sollte durch Art. 87a Abs. 2 GG nicht verboten werden. Die Parallele liegt nahe. Art. 25 42 So die Position der FDP-Fraktion in dem Beschlussantrag vom 18. 06. 2008, BT-Drs. 16 / 9609; Jochen Abraham Frowein, Deutschlands Marine darf schon jetzt Piraten verfolgen (Interview), Spiegel online vom 26. 11. 2008, abrufbar unter www.spiegel.de/politik/deutschland/0,1518, 592618,00.html; Stehr (Fn. 16), ZFAS 2008, 55, 64; s. a. Rainer Stinner, in: Protokoll der 172. Sitzung des 16. Bundestages vom 26. 06. 2008, S. 18382 f. 43 s. auch Stein (Fn. 8), in: FS für Rauschning, 2001, 487, 493.

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GG hat ebenso wie Art. 24 Abs. 2 GG den Sinn, Deutschland (aus der Sicht des Erlasszeitpunkts des GG: künftig) eine Rolle als aktiven, friedenssichernden Staat zu ermöglichen. Es sollte verfassungsrechtlich gesehen die Chance erhalten, an den Aktivitäten der Völkerrechtsgemeinschaft mitzuwirken. Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts i. S. v. Art. 25 GG, die zu ihrer Erfüllung den Einsatz von Streitkräften nahelegen, könnten daher verfassungsrechtlich die gleiche Funktion wie Art. 24 Abs. 2 GG erfüllen. Aus diesem Blickwinkel sind Art. 24 Abs. 2 und Art. 25 GG in einer Zeit geschaffen worden, in der keine Streitkräfte bestanden, aber vor dem Hintergrund, für den Fall ihrer künftigen Existenz würde Deutschland die Rolle eines aktiven Völkerrechtspartners übernehmen. Die Chance, künftig wieder Streitkräfte besitzen zu können, stand schon 1956 im Horizont der Möglichkeiten.44 Auch die Annahme, es gäbe allgemeine Regeln des Völkerrechts, die das Einschreiten der Staaten gegen Piraten gestatten, liegt nahe. b) Allgemeine Regeln des Völkerrechts

Allgemeine Regeln des Völkerrechts i. S. v. Art. 25 GG sind zumindest Normen des universellen Völkergewohnheitsrechts, mithin die Normen des Völkerrechts, die aufgrund einer allgemeinen Praxis und korrespondierenden Rechtsüberzeugung für die überwiegende Mehrheit der Staaten verbindlich sind. Weiter gehören hierzu die allgemeinen Rechtsgrundsätze. Das sind die Rechtssätze, die sich aus einer Gesamtschau der nationalen Rechtsordnungen ergeben.45 Nicht erforderlich ist eine wie auch immer geartete Anerkennung der betreffenden Norm durch die Bundesrepublik 44 Hans-Ernst Böttcher, Die Länderverfassungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit und das Grundgesetz (1949) als Antwort auf Terror, Krieg und Zerstörung, Schleswig-holsteinische Anzeigen, Teil A, 2008, 340, 345. 45 BVerfGE 23, 288, 317; BVerfGE 94, 315, 328; BVerfGE 96, 68, 86; ebenso Christian Koenig, in: v. Mangoldt / Klein / Sachs, GG, 2005, Art. 25, Rn. 29; Rudolf Streinz, in: Sachs, 5. Aufl. 2009, GG, Art. 25, Rn. 28.

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Deutschland. Das Merkmal „allgemein“ bezieht sich nicht auf den Inhalt, sondern die allgemeine Verbindlichkeit der Regel für die Völkerrechtssubjekte. Normen des Völkervertragsrechts fallen nur dann unter Art. 25 GG, wenn sie allgemeine Regeln nur deklaratorisch wiedergeben.46 c) Die völkerrechtliche Ächtung der Piraterie

Als allgemeine Regel des Völkerrechts, die auch vertraglich nicht abgedungen werden kann, gilt das Piraterieverbot der Staaten.47 Das völkergewohnheitsrechtliche Verbot der Piraterie wird durch die hier in Frage stehende Piraterie allerdings selbst nicht verletzt, da die Gewaltmaßnahmen von Piraten ohne relevante staatliche Unterstützung ausgehen. Allerdings geht man über das Piraterieverbot hinaus davon aus, das Völkerrecht gestatte und verpflichte die Staaten nach ihren Möglichkeiten auch zur Bekämpfung der Piraten. Befugnisse zur Bekämpfung der Piraterie enthält das Internationale Seerechtsübereinkommen der Vereinten Nationen von 1982 (SRÜ), für die Bundesrepublik Deutschland in Kraft seit dem 16. 11. 1994,48 insbesondere mit Art. 99 bis 105.49 Art. 98 SRÜ sieht eine Verpflichtung zur Hilfe in Fällen von Seenot, bei Schiffsunfällen und bei Lebensgefahr für Personen, wenn eine Hilfeleistung ohne ernste Gefährdung möglich ist, vor. Art. 100 SRÜ verpflichtet die Staaten zur größtmöglichen Zusammenarbeit bei der Bekämpfung der Piraterie. Art. 105 SRÜ berechtigt jeden Staat, bei Piraterie im internationalen Gewässer im Rahmen der Nothilfe einzuschreiten, die Piraten zu verfolgen, festzusetzen, festzunehmen und über die Gerichte ihres Staates zu bestrafen. Nach Art. 107 sind dabei nur Kriegsschiffe, Militärluftfahrzeuge oder andere Schiffe, die Hans Jarass, in: Jarass / Pieroth, GG, 10. Aufl., 2009, Art. 25, Rn. 6. Heintschel v. Heinegg, in: Epping / Hillgruber, BeckOK-GG, Art. 25, Rn. 10. 48 BGBl. 1995 II, S. 602. 49 s. dazu Allmendinger / Kess (Fn. 19), NZWehrr 2008, 60, 61 ff. 46 47

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deutlich als im Staatsdienst stehend gekennzeichnet sind, zum Aufbringen wegen Seeräuberei berechtigt. Art. 110 SRÜ erlaubt das Anhalten und die Überprüfung eines der Seeräuberei verdächtigen Schiffes. Zutreffender Ansicht nach bildet dabei das vom SRÜ geschaffene System weder ein eigenes System kollektiver Sicherheit noch einen zur VN gehörigen Teil i. S. v. Art. 24 Abs. 2 GG,50 da es mangels genügend verfestigter Organisation und Struktur nicht ausreichend selbständig verfestigt genug erscheint.51 Nach überwiegender völkerrechtlicher Ansicht erscheint allerdings die Qualifizierung der durch Art. 99 ff. SRÜ normierten Regeln als allgemeines Völkergewohnheitsrecht und somit als allgemeine Regel des Völkerrechts i. S. v. Art. 25 GG möglich,52 wobei allerdings der genaue Inhalt der als Völkergewohnheitsrecht verdichteten Rechtssätze nicht eindeutig ist.53 d) Die Relevanz dieser Regeln für Art. 87a Abs. 2 GG

Eine ausreichende verfassungsrechtliche Grundlage für den Einsatz würde sich aus dem Völkergewohnheitsrecht ergeben, wenn dieses die Staaten zum Einsatz gegen die Piraten verpflichten würde; dies ist aber nach Einschätzung der völkerrechtlichen Literatur, die hier zu Grunde gelegt wird, nicht der Fall.54 Dass Deutschland nach dem SRÜ nicht verpflichtet ist, die Marine einzusetzen, ist unstreitig. 50 Michael Stehr, Piraten und Terroristen: die Befugnisse der Deutschen Marine, Marine-Forum 3 – 2004, S. 18 ff.; Jens Affeld, Der aktuelle Fall: Seeraub und die seepolizeiliche Rolle der Deutschen Marine, Humanitäres Völkerrecht: Informationsschriften, Heft 2 (2000), S. 95, 104. 51 Allmendinger / Kess (Fn. 19), NZWehrr 2008, 60, 66. 52 Allmendinger / Kess (Fn. 19), NZWehrr 2008, 60, 69; Lagoni (Fn. 12), in: FS für Rauschning, 2001, 501, 524; Beck, Auslandseinsätze (Fn. 33), 2008, S. 308 ff.; Tomuschat, in: BK-GG, Art. 25 (Lieferung Juni 2009), Rn. 106; s. a. Fischer-Lescano (Fn. 15), NordÖR 2009, 49, 50; BT-Drs. 16 / 9286, S. 2. 53 Tomuschat, in: BK-GG, Art. 25 (Lieferung Juni 2009), Rn. 106.

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Die fehlende Pflicht schließt allerdings die Qualifizierung als Grundlage nicht vollständig aus, da bei Art. 24 Abs. 2 GG für die verfassungsrechtliche Schlussfolgerung auch nicht Voraussetzung war, dass der militärische Einsatz vom System kollektiver Sicherheit zwingend verlangt würde. Auch der Hinweis, das SRÜ verlange nur den Einsatz, der diesen Staaten gestattet sei, stünde einer Parallelisierung nicht entgegen,55 da es gerade um die Frage geht, ob es dem Art. 25 GG gerecht werden würde, ihn so auszulegen, dass er dem Art. 87a GG insoweit vorausgeht, als er eine aktive Rolle Deutschlands in der Völkerrechtsgemeinschaft gestatte. Ist die Berufung auf Art. 25 GG und die Parallelisierung zu Art. 24 Abs. 2 GG möglich, so ist sie andererseits auch nicht zwingend. So ist zum einen die Einbindung Deutschlands in die Völkerrechtsgemeinschaft, die als Voraussetzung für einen Auslandseinsatz nach dieser Position gegeben sein muss, bei einem System kollektiver Sicherheit klarer und gesicherter. Die Auslegung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts lässt in der Regel mehr Raum als die der Vertragsgrundlage eines Systems kollektiver Sicherheit. Weiter handelt Deutschland bei einem System kollektiver Sicherheit allgemein in Verflechtung mit anderen Staaten, was bei einem Handeln unter Berufung auf die allgemeinen Regeln nicht der Fall sein muss. Schließlich kommt noch ein dritter Aspekt hinzu. Das BVerfG gibt sich in letzter Zeit deutlich Mühe, ein Handeln der Exekutive am Parlament vorbei zu verhindern: die Entscheidung zum AWACS-Einsatz, die zum Lissabon-Vertrag und die zur parlamentarischen Kontrolle der Nachrichtendienste sollen nur als Kronzeugen genannt werden.56 Bei einer 54 Allmendinger / Kess (Fn. 19), NZWehrr 2008, 60, 63; Lagoni (Fn. 12), in: FS für Rauschning, 2001, 501, 521 ff., 533. 55 So aber Fischer-Lescano / Tohidipur (Fn. 20), NJW 2009, 1243, 1245 gestützt auf Art. 107 SRÜ. 56 BVerfG, Urt. v. 07. 05. 2008, Az: 2 BvE 1 / 03; BVerfGE 121, 135 ff. (AWACS-Einsatz); BVerfG, Urt. v. 30. 6. 2009, Az: 2 BvE 2 / 08 (Lissabon-Urteil); BVerfG, Beschl. v. 17. 06. 2009, Az: 2 BvE 3 / 07 (BND-Un-

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Mitwirkung an einem System kollektiver Sicherheit war das Parlament aber zumindest im Rahmen des Zustimmungsgesetzes i. S. v. Art. 59 Abs. 2 GG beteiligt, bei der Auslegung der allgemeinen Regeln des Völkerrechts ist es nicht beteiligt. Es bliebe insofern nur die Sicherung über den Parlamentsvorbehalt für Streitkräfteeinsätze. Abschließend ist noch ein vierter Gedanke zu nennen. Auch wenn man für die Qualifizierung als ausreichende verfassungsrechtliche Grundlage nicht davon abhängig machen möchte, dass das Völkergewohnheitsrecht eine Pflicht statuiert, so ist doch die Nähe des staatlichen Handelns zu einem Militäreinsatz, die von den völkerrechtlichen Normen zumindest erwartet wird, bei einem System kollektiver Sicherheit deutlich enger als bei der Pflicht, allgemeine Regeln des Völkerrechts zu beachten. Wenn Art. 87a GG auch Auslandseinsätze in völkerrechtlicher Einbindung verbieten würde, dann würde Art. 24 Abs. 2 GG in sichtlich größerem Umfang funktionslos werden als Art. 25 GG. Der vom BVerfG angenommene ausdrückliche Normkonflikt ist daher im Verhältnis von Art. 87a GG zu Art. 25 GG nicht in der gleichen Weise gegeben wie im Verhältnis von Art. 87a GG zu Art. 24 GG. Will man die Funktion des Art. 87a GG ernst nehmen, liegt es daher im Ergebnis wohl etwas näher, die Parallelität zu Art. 24 Abs. 2 GG nicht anzunehmen und Art. 25 GG demnach nicht als ausreichende verfassungsrechtliche Grundlage für einen Einsatz gegen die Pirateriebekämpfung anzunehmen.57

tersuchungsausschuss); BVerfG, Beschl. v. 01. 07. 2009, Az: 2 BvE 5 / 06 (Kleine Anfrage). 57 Im Ergebnis ebenso Tomuschat, in: BK-GG, Art. 25 (Lieferung Juni 2009), Rn. 106; Fischer-Lescano (Fn. 15), NordÖR 2009, 49, 53; Beck, Auslandseinsätze (Fn. 33), 2008, S. 296 ff.; Gramm (Fn. 25), unter III 1.

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III. Beschränkung des Art. 87a GG auf Inlandseinsätze 1. Der Diskussionsstand

Fehlt eine Einsatzermächtigung des Grundgesetzes für die Bekämpfung der Piraterie durch die Streitkräfte außerhalb des Tätigwerdens vom System kollektiver Sicherheit, so ist die Bekämpfung nach dem Normtext des Art. 87a Abs. 2 GG unzulässig. Dies gilt aber nicht, wenn der ausdrückliche Verfassungsvorbehalt von Art. 87a Abs. 2 GG nur für Inlandseinsätze gelten würde:58 Das Bundesverfassungsgericht hat diese Frage bisher offengelassen.59 Methodisch ist es möglich, Art. 87a Abs. 2 GG teleologisch einzuschränken und nur auf den Bereich des Einsatzes der Streitkräfte im Inland zu beschränken. Im Inland wäre dann der Einsatz der Streitkräfte nur bei Vorliegen einer ausdrücklichen Zulassung durch das Grundgesetz möglich, im Ausland dagegen immer dann, wenn es völkerrechtlich gestattet wäre. Innerstaatlich wäre nur der ungeschriebene Verfassungssatz des Parlamentsvorbehalts für bewaffnete Einsätze zu beachten, nachdem jeder bewaffnete Einsatz deutscher Streitkräfte 58 Für eine Beschränkung des Art. 87a Abs. 2 GG auf Einsätze im Innern: ausführlich Dieter Wiefelspütz, Der Einsatz bewaffneter Streitkräfte im Ausland, AöR 132 (2007), 44, 48 ff.; Oeter (Fn. 33), NZWehrr 2000, 89, 93; Kirchhof (Fn. 34), HStR IV, 2006, § 84, Rn. 67; Stein (Fn. 8), in: FS für Rauschning, 2001, 487, 496; Klaus Kersting, Enduring Freedom für Entsendebeschlüsse? Völker- und verfassungsrechtliche Probleme der deutschen Beteiligung an Maßnahmen gegen den Internationalen Terrorismus, NZWehrr 1983, 71 ff.; Josef Isensee, Mit blauem Auge davongekommen – das Grundgesetz, NJW 1993, 2583, 2586; Kokott, in: Sachs, GG (Fn. 33), 2009, Art. 87a, Rn. 9 ff.; Matthias Pechstein, Der Golfkrieg, Jura 1991, 461, 467; Randelzhofer, in: Maunz / Dürig, GG, Art. 24, Rn. 63 ff.; s. zu a.A. (Art. 87a Abs. 2 GG gilt auch für Auslandseinsätze): Stefanie Schmahl, in: Helge Sodan, GG, 2009, Art. 87a, Rn. 6.; Winkler (Fn. 33), DÖV 2006, 149, 152; Dieter Hömig, in: ders. / Seifert / Antoni, GG, 8. Aufl. 2007, Art. 87a, Rn. 5; Epping (Fn. 10), AöR 32 (1999), 423, 429 ff. 59 BVerfGE 90, 286, 356; s. a. die Entscheidung über den AWACS-Einsatz in der Türkei vom 7. 5. 2008, BVerfG, Urt. v. 07. 05. 2008, Az: 2 BvE 1 / 03; NJW 2008, 2018 ff.

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die grundsätzlich vorhergehende Zustimmung des Parlaments benötigt. Der Normtext des Art. 87a Abs. 2 GG lässt eine Beschränkung auf Inlandseinsätze ohne weiteres zu, da im Wege der Interpretation fiktiv allein die Worte „im Innern“ nach dem Wort „Streitkräfte“ als zusätzliches Tatbestandsmerkmal eingefügt werden müssten. 2. Die Gründe für eine Reduktion

Im Ergebnis sprechen die besseren Gründe für eine teleologische Reduktion des Art. 87a GG. Zu nennen sind: (a) die Rolle des Art. 87a Abs. 2 GG, den früheren Art. 143 GG (2. Fassung) funktional zu ersetzen; (b) der Entstehungszeitpunkt; (c) die systematische Auslegung: die ausdrücklichen Einsatzermächtigungen sind alle solche, die sich auf Inlandseinsätze beziehen; (d) die Zulässigkeit der Einsätze im Rahmen eines Systems kollektiver Sicherheit; (e) die systematische Stellung des Art. 87a GG im VIII. Kapitel des GG; (f) die Möglichkeit einer sinnvollen Abgrenzung zwischen Art. 87a Abs. 2 GG und dem ungeschriebenen Parlamentsvorbehalt; (g) der Sinn des Art. 87a Abs. 2 GG, die innenpolitische Neutralität der Streitkräfte zu wahren, gebietet keine Ausdehnung auf Auslandseinsätze. a) Verhältnis zu Art. 143 GG (2. Fassung) a. F.

Als Art. 87a GG eingefügt wurde, wurde gleichzeitig Art. 143 GG a. F. aufgehoben. Art. 143 GG in der vom 22. März 1956 bis zum 27. Juni 1968 geltenden Fassung lautete:

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„Die Voraussetzungen, unter denen es zulässig wird, die Streitkräfte im Falle eines inneren Notstandes in Anspruch zu nehmen, können nur durch ein Gesetz geregelt werden, das die Erfordernisse des Art. 79 erfüllt.“

Art. 143 GG (2. Fassung) verlangte für den Einsatz der Streitkräfte im Innern eine (zumindest materielle) verfassungsrechtliche Grundlage. Mit der Notstandsverfassung von 1968 wurde eine ganze Reihe von Einsatzmöglichkeiten der Streitkräfte im Innern geschaffen (Art. 87a Abs. 3 und Abs. 4, Art. 35 Abs. 2 und Abs. 3 GG), wodurch Art. 143 GG (2. Fassung) seinen Sinn verloren hatte und aufgehoben wurde.60 Art. 143 GG galt erkennbar nur bei Einsätzen im Innern; diese Stoßrichtung hat Art. 87a Abs. 2 GG funktional übernommen. b) Entstehungsgeschichte

Die gegenwärtige Fassung erhielt Art. 87a Abs. 2 GG im Jahr 1968, in einer Zeit, in der aufgrund einer Reihe von Naturkatastrophen (Hamburger Flutkatastrophe) die erkannten zu restriktiven Verwendungsmöglichkeiten der Streitkräfte im Innern gemildert werden sollten. Es findet sich kein Anhaltspunkt für das Ziel, auch den Auslandseinsatz zu beschränken.61 c) Verhältnis zu Art. 35 Abs. 2, 3 und Art. 87a Abs. 3, 4 GG

Alle konkreten Einsatznormen, die das Grundgesetz ausdrücklich normiert, beziehen sich auf Inlandseinsätze. Zu nennen ist die gesteigerte Amtshilfe, insbesondere bei schweren Unglücksfällen nach Art. 35 Abs. 2 GG, bei länderübergrei60 Mattias Fischer, Terrorismusbekämpfung durch die Bundeswehr im Inneren Deutschlands? JZ 2004, 376, 381. 61 Stein (Fn. 8), in: FS für Rauschning, 2001, 487, 497; Kokott, in: Sachs, GG (Fn. 33), 2009, Art. 87a, Rn. 12; Allmendinger / Kess (Fn. 19), NZWehrr 2008, 60, 67.

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fenden Gefahrenlagen nach Art. 35 Abs. 3 GG, beim Spannungsfall gem. Art. 87a Abs. 3 GG sowie beim inneren Notstand gem. Art. 87a Abs. 4 GG. Einen Einsatzfall außerhalb der Verteidigung im Ausland lässt das GG ausdrücklich nicht zu. Die Asymmetrie, die darin liegt, dass einerseits vier Einsatzfälle für das Inland, aber keiner für das Ausland vorgesehen ist, spricht dafür, dass das GG das strenge Textgebot des Art. 87a Abs. 2 GG von vornherein nicht auf Auslandseinsätze bezogen wissen wollte. d) Verhältnis zu Art. 24 GG

Streng genommen ist auch nur so die Ansicht des BVerfG, Verwendungen im Zusammenhang mit Art. 24 Abs. 2 GG würden durch Art. 87a Abs. 2 GG nicht untersagt, erklärbar. Art. 24 GG ist keine Norm, die von Streitkräften spricht und im Zusammenhang mit diesen etwas „ausdrücklich“ zulässt. Wäre Art. 87a Abs. 2 GG auf Auslandseinsätze anwendbar, würde er angesichts des klaren Normtextes eigentlich Streitkräfteeinsätze auch im Zusammenhang mit Systemen kollektiver Sicherheit außerhalb der Verteidigung untersagen. e) Stellung im Abschnitt über die Verwaltungskompetenzen

Unterstützend lässt sich auch auf die systematische Stellung des Art. 87a GG im VIII. Kapitel des GG hinweisen. Auch diese deutet in gewisser Form für eine Beschränkung auf Inlandseinsätze. Das Kapitel bezieht sich auf die Verwaltungskompetenzen, demnach auf die Frage, welche Verwaltungskompetenzen der Bund im Verhältnis zum Land hat. Diese Frage wird aber nur bei Inlandseinsätzen relevant. Bei Auslandseinsätzen werden die Kompetenzen der Länder nicht berührt.62 62 Stein (Fn. 8), in: FS für Rauschning, 2001, 487, 498; Kokott, in: Sachs, GG (Fn. 33), 2009, Art. 87a, Rn. 10.

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f) Funktionelle Ergänzung zum Parlamentsvorbehalt

Erhebliches Gewicht besitzt das Argument, durch eine Beschränkung auf Inlandseinsätze würde eine sinnvolle Ergänzung zwischen dem Gebot der ausdrücklichen Ermächtigung i. S. v. Art. 87a Abs. 2 GG und dem ungeschriebenen Parlamentsvorbehalt erreicht werden. Beschränkt man das Gebot der strengen Texttreue des Art. 87a Abs. 2 GG einerseits auf Inlandseinsätze und den ungeschriebenen Parlamentsvorbehalt für den Einsatz bewaffneter Streitkräfte andererseits auf Auslandseinsätze, gewinnt man nicht nur Rechtssicherheit, sondern einen rechtlichen Rahmen, der auf die jeweils besonderen Verhältnisse zugeschnitten ist. Auslandseinsätze würden dann insbesondere durch Art. 26 GG und durch das Völkerrecht begrenzt werden.63 aa) Beschränkung des Parlamentsvorbehalts auf Auslandseinsätze

Das Argument der funktionalen wechselseitigen Ergänzung würde zunächst voraussetzen, dass man den ungeschriebenen Parlamentsvorbehalt auf Auslandseinsätze beschränken könnte. Das BVerfG hat 1994 in seiner Entscheidung über die Auslandseinsätze der Bundeswehr bekanntlich den ungeschriebenen Parlamentsvorbehalt hergeleitet. Danach verpflichtet das Grundgesetz die Bundesregierung, für einen Einsatz bewaffneter Streitkräfte die – grundsätzlich vorherige – konstitutive Zustimmung des Bundestages einzuholen.64 Eine Beschränkung dieses ungeschriebenen Parlamentsvorbehalts auf Auslandseinsätze ist zwar nicht allgemeine Meinung, liegt aber dennoch ausgesprochen nahe.65 Stein (Fn. 8), in: FS für Rauschning, 2001, 487, 499. Vgl. BVerfGE 90, 286, 381; bestätigt BVerfGE 100, 266, 269; 104, 151, 208; 108, 34, 42 ff.; s. dazu statt vieler Dieter Wiefelspütz, Parlamentsheer, 2005, S. 312 ff. 65 Gegen eine Erstreckung auf Inlandseinsätze ausdrücklich Manuel Ladiges, Die Bekämpfung nicht-staatlicher Angreifer im Luftraum, 2007, S. 258 ff.; ders., AWACS-Aufklärung unter Parlamentsvorbehalt, RuP 63 64

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Für eine Beschränkung des ungeschriebenen Parlamentsvorbehalts auf Einsatzformen im Ausland spricht zunächst die Entstehungsgeschichte des Art. 87a Abs. 4 GG. Art. 87a Abs. 4 GG sieht ausdrücklich keine vorherige Zustimmung des Bundestages vor, was wiederum auf einer ausdrücklichen Entscheidung des verfassungsändernden Gesetzgebers beruht. Dieser entschloss sich explizit dazu, einen vorherigen Zustimmungsvorbehalt für diese Form nicht verlangen zu wollen. Er hat es ausdrücklich abgelehnt, das Tätigwerden der Streitkräfte von einer vorherigen Zustimmung des Bundestages abhängig zu machen.66 2009, 29, 32 f.; Yuan-jeh Jou, Einsatz von Streitkräften im Innern für den Notstandsfall nach deutschem Verfassungsrecht, Diss. München, 2000, S. 159 f.; Karsten Nowrot, Verfassungsrechtliche Vorgaben für die Mitwirkung des Deutschen Bundestages bei Auslandseinsätzen gegen den internationalen Terrorismus, NZWehrr 2004, 65, 66; Riedel (Fn. 21), DÖV 1995, 135, 136; Wolfgang Schreiber, Aufgaben und Befugnisse des Bundesgrenzschutzes auf neuer gesetzlicher Grundlage, NVwZ 1955, 521, 524. – Für eine Beschränkung nur auf Verteidigungseinsätze Wiefelspütz, NVwZ 2005, 496; Christian Hillgruber, in: Umbach / Clemens, MK-GG, 2002, Art. 87a, Rn. 34. – Für eine Erstreckung auch auf Inlandseinsätze Christian Lutze, Der Parlamentsvorbehalt beim Einsatz bewaffneter Streitkräfte, DÖV 2003, 972, 976 f.; Daniel Esklony, Das Recht des inneren Notstands, 2000, S. 233 f.; zumindest im Fall von Art. 87a Abs. 4 GG Kokott, in: Sachs, GG (Fn. 33), 2009, Art. 87a, Rn. 60. 66 BT-Drs. V / 2873, S. 14: „Absatz 4 Satz 2 endlich sieht vor, daß sowohl der Bundestag als auch der Bundesrat die Einstellung des bewaffneten Einsatzes der Streitkräfte verlangen können. Der Rechtsausschuß hat auch Anregungen geprüft, den bewaffneten Einsatz von einer vorherigen Zustimmung durch den Bundestag abhängig zu machen oder doch die Dauer des zulässigen Einsatzes zu befristen, sofern ihm nicht der Bundestag binnen bestimmter Frist zustimmt. Der Rechtsausschuß glaubt jedoch, daß gerade im Falle besonders gefährlicher Aufstände eine rasche Reaktion erforderlich ist, soll sie Erfolg haben. Hinge die Zulässigkeit des bewaffneten Einsatzes der Streitkräfte in jedem Falle von einer Mitwirkung des Bundestages ab, so könnte das zur Folge haben, daß die Aufständischen zunächst versuchen würden, das Parlament handlungsunfähig zu machen. Demgegenüber erscheint es dem Rechtsausschuß als eine ausreichende Sicherung der parlamentarischen Kontrolle, wenn sowohl der Bundestag als auch der Bundesrat jederzeit die Befugnis haben, die Einstellung des bewaffneten Einsatzes zu verlangen.“

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„Aus diesem Grund hat sich der Ausschuß auch nicht den Überlegungen angeschlossen, daß ein bewaffneter Einsatz einzustellen ist, wenn der Bundestag nicht binnen 3 Tagen den Einsatz genehmigt.“

Aufgrund der ausdrücklichen Entscheidung scheidet eine interpretatorische Ergänzung des Art. 87a Abs. 4 GG um die Notwendigkeit einer ausdrücklichen Zustimmung des Bundestags aus.67 Der ungeschriebene Parlamentsvorbehalt als ungeschriebenes Verfassungsrecht hat grundsätzlich den Vorrang des geschriebenen Rechts zu beachten. Das ungeschriebene Verfassungsrecht unter dem Grundgesetz kann grundsätzlich nur eine subsidiäre Funktion wahrnehmen. Die Entscheidungen im Zusammenhang mit dem geschriebenen Recht besitzen gegenüber dem ungeschriebenen Recht den Vorrang.68 Auch der starke Kodifikationsgedanke des Grundgesetzes verlangt nach einer grundsätzlich strengen Wortlautbindung an die Normen des Grundgesetzes.69 Art. 87a Abs. 4 GG betrifft zugleich die Einsatzform im Innern, in der die Waffengewalt der Streitkräfte am deutlichsten angesprochen wird. Art. 87a Abs. 4 GG ist gewissermaßen der höchste militärische Fall der ausdrücklich geregelten Einsätze, die nicht zur Verteidigung erfolgen. Wenn schon Art. 87a Abs. 4 GG ausdrücklich vom verfassungsändernden Gesetzgeber nicht einem Zustimmungsvorbehalt unterworfen wurde, dann dürfen die anderen Formen des Einsatzes im Innern (Art. 35 Abs. 2, Abs. 3, Art. 87a Abs. 3 GG) erst recht nicht einem Zustimmungsvorbehalt unterworfen werden.70 67 Jou, Einsatz (Fn. 65), 2000, S. 157; Ladiges, Bekämpfung (Fn. 65), 2007, S. 259; Baldus, in: v. Mangoldt / Klein / Starck, GG, Art. 87a, Rn. 119; a.A. Kokott, in: Sachs, GG (Fn. 33), 2009, Art. 87a, Rn. 60. 68 Detlef Merten, in: Zur verfassungsrechtlichen Herleitung des Verhältnismäßigkeitsprinzips, in: Festschrift für Herbert Schambeck, 1994, 349, 362; ausführlich dazu Wolff, Verfassungsrecht (Fn. 1), 2000, S. 359 ff. 69 Brun-Otto Bryde, Verfassungsentwicklung, 1982, S. 268. 70 Ebenso Ladiges, Bekämpfung (Fn. 65), 2007, S. 259.

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Wegen des Gebotes der strengen Texttreue des Art. 87a Abs. 2 GG bedürfen Inlandseinsätze auch keiner zusätzlichen rechtlichen Eingrenzung. Der rechtliche Rahmen der Verwendungen der Streitkräfte im Innern ist mit einer atemberaubenden Klarheit im Grundgesetz niedergelegt, so dass eine weitere gesetzliche Eingrenzung keinen Sinn mehr hätte. bb) Folgerung für Art. 87a Abs. 2 GG

Ist die Geltung des ungeschriebenen Parlamentsvorbehalts auf Auslandseinsätze beschränkt, liegt es weiter nahe, das Gebot der ausdrücklichen Ermächtigung gem. Art. 87a Abs. 2 GG seinerseits auf Inlandseinsätze zu beschränken. Auf diese Weise würde beiden Verfassungsrechtsätzen ein sinnvoller Anwendungsbereich zugewiesen werden. Auslandseinsätze bedürften einer größeren Flexibilität und beeinträchtigen die auswärtigen Beziehungen stärker als die Inlandseinsätze. Diesem Erfordernis wird man gerecht, wenn man einerseits die zulässigen Einsatzformen offenhält (durch die Nichtanwendung von Art. 87a Abs. 2 GG), anderseits aber (durch die Anwendung des ungeschriebenen Parlamentsvorbehalts) die Entscheidung über das „Ob“ in die Mitverantwortung des Parlaments gibt.71 Den Einsatz der Bundeswehr wiederum wollte der verfassungsändernde Gesetzgeber, wie an den ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Einsatzformen erkennbar ist, offenbar nicht der Entscheidung des einfachen Gesetzgebers überlassen, sondern abschließend selbst bestimmen. Bei einer bestehenden verfassungsrechtlichen Ermächtigung existiert aber kein Grund, die Wahrnehmung dieser ausdrücklichen Kompetenz noch zusätzlich einem Zustimmungsvorbehalt des Parlaments zu unterwerfen. 71 Vgl. Volker Röben, Der Einsatz der Streitkräfte nach dem Grundgesetz, ZaöR 63 (2003), 585, 593 „Sonderstellung“; Andreas Paulus, Die Parlamentszustimmung, in: D. Weingärtner, Einsatz der Bundeswehr im Ausland, 2007, 81, 100.

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Hinzu kommt, dass der ungeschriebene Parlamentsvorbehalt bei Auslandseinsätzen eine wichtige verfassungsprozessuale Aufgabe erfüllt, die in dieser Form bei Inlandseinsätzen nicht besteht. Werden Auslandseinsätze ohne den erforderlichen Parlamentsbeschluss eingesetzt, kann dies der Bundestag über das Organstreitverfahren unterbinden. Den von den Einsätzen selbst Betroffenen stünde ggf. ebenfalls Rechtsschutz vor deutschen Gerichten zu, aber dass diese ihn tatsächlich ergreifen, dürfte eher unwahrscheinlich sein. Anders ist dies beim Einsatz der Streitkräfte im Inland. Hier würde der Individualrechtsschutz eine ausreichende Sicherung vor kompetenzwidrigem Einsatz darstellen. Es bestünden auch ausreichend verfassungsprozessuale Rechtsschutzmöglichkeiten gegenüber einem potentiell kompetenzlosen Verhalten der Exekutive. So können sich zunächst die Länder gegen das kompetenzwidrige Verhalten des Bundes wehren (Bund-Länder-Streit). Bei Grundrechtsbetroffenheit eines Bürgers würde die Verfassungsbeschwerde helfen. g) Wahrung der innenpolitischen Neutralität

Das Gebot der strengen Texttreue des Art. 87a Abs. 2 GG dient vor allem dazu, die sog. innenpolitische Neutralität der Streitkräfte zu wahren. Die Streitkräfte sollen nicht dazu verwendet werden dürfen, um innerstaatlich zum politischen Meinungskampf eingesetzt zu werden. Das Ringen der Meinungen soll unabhängig von dem Eindruck, den die Verwendung von Streitkräften vermittelt, vonstattengehen. Diese Sicherung der innenpolitischen Neutralität ist erkennbar nicht bei Auslandseinsätzen erforderlich, da die politische Opposition sich in der Regel nicht im Ausland befindet. Der Art. 87a GG ist daher auf andere Situationen zugeschnitten als auf die Begrenzung des Auslandseinsatzes.72 Beschränkt man die Reichweite des Art. 87a Abs. 2 GG auf Inlandseinsätze, hat 72 Stein (Fn. 8), in: FS für Rauschning, 2001, 487, 496 f.; Allmendinger / Kess (Fn. 19), NZWehrr 2008, 60, 63.

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dies zur Folge, dass dieser Artikel der Bekämpfung auf hoher See zumindest nicht entgegensteht.73 h) Zwischenergebnis

Nach zutreffender Ansicht bedarf es demnach für Auslandseinsätze keiner ausdrücklichen Grundlage i. S. v. Art. 87a Abs. 2 GG. Eine Zustimmung des Bundestages im Rahmen des Parlamentsvorbehalts ist dagegen erforderlich und ausreichend, sofern der Einsatz völkerrechtlich zulässig ist.74 Das Gebot, die Streitkräfte nur gemäß dem Völkerrecht im Ausland einzusetzen, ist nicht ausdrücklich im GG niedergelegt, folgt aber aus einer extensiven Auslegung der Art. 25, Art. 26, Art. 115a ff. GG.

3. Kein wehrverfassungsrechtliches Trennungsverbot

In der jüngeren Literatur ist der Gedanke formuliert worden, dem GG sei ein striktes Trennungsgebot zu entnehmen, das eine Betrauung der Streitkräfte mit polizeilichen Aufgaben untersage.75 Diese Ansicht ist abzulehnen. Sie verwechselt das Verhältnis der Nachrichtendienste mit der Polizei, mit dem der Streitkräfte zur Polizei. Die Gründe, die für ein Trennungsgebot zwischen Nachrichtendiensten und Polizei sprechen, sind auf das Verhältnis von Militär und Nachrichtendiensten nicht übertragbar. Es gibt keinen „Polizeibrief“ der Alliierten, kein der Geheimpolizei vergleichbares Phänomen, keine Vergleichbarkeit bei der institutionellen Trennung. Weiter sieht das GG mit Art. 35 Abs. 2, Abs. 3, Art. 87a Abs. 3 und Abs. 4 GG ausdrücklich selbst die Betrauung der Streit73 Ebenso Allmendinger / Kess (Fn. 19), NZWehrr 2008, 60, 67; Stein (Fn. 8), in: FS für Rauschning, 2001, 487, 496 f.; zumindest in diese Richtung tendieren Lagoni (Fn. 12), in: FS für Rauschning, 2001, 501, 533. 74 Ausführlich Ladiges (Fn. 65), RuP 2009, 29, 32 f. 75 Fischer-Lescano (Fn. 15), NordÖR 2009, 49, 54; Fischer-Lescano / Tohidipur (Fn. 20), NJW 2009, 1243, 1246.

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kräfte mit polizeilichen Aufgaben vor, so dass der Gedanke, es gelte ein ungeschriebenes Trennungsverbot, nicht überzeugt. 4. Erfordernis einer ausreichend bestimmten Eingriffsgrundlage für die Streitkräfte

Geht man davon aus, Art. 25 GG bilde eine ausreichend verfassungsrechtliche Grundlage oder Art. 87a GG verlange keine ausdrückliche verfassungsrechtliche Ermächtigung, so bleibt die Frage, ob die Streitkräfte einer formalgesetzlichen Eingriffsgrundlage für Gewaltmaßnahmen gegen die Piraten bedürften. Sofern der Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes uneingeschränkt eingreifen würde, wäre dies zu bejahen. Der Vorbehalt des Gesetzes ist eine Freiheitsgarantie rechtsstaatlicher Natur, die im 19. Jahrhundert im Verhältnis zwischen Ständen und Monarchen entstanden ist.76 Sie ist auf das Verhältnis zwischen Streitkräften und Piraten nicht zwingend anzuwenden, aber übertragbar. Deutlich ausgearbeiteter ist die Frage des grundrechtlichen Gesetzesvorbehalts. Die Piraten sind, auch auf hoher See, der deutschen Hoheitsgewalt nicht schutzlos ausgeliefert. Es gilt der Grundrechtsschutz, der für das Handeln deutscher Staatsgewalt außerhalb des eigenen Territoriums anzunehmen ist. Die Grundsätze sind im Einzelnen umstritten, im Ergebnis ist der Maßstab aber aufgrund der fehlenden Ausschließlichkeit der deutschen Hoheitsgewalt außerhalb Deutschlands ein in der Sache abgesenkter Grundrechtsstandard anzunehmen,77 wobei der Maßstab nicht pauschal herabzusetzen ist, sondern sich an den Besonderheiten des jeweiligen Maßstabes orientiert.78 Es gilt der allgemeine Maßstab, dass mit zunehmender Vgl. nur Wolff, Verfassungsrecht (Fn. 1), 2000, S. 246 u. 413 ff. Vgl. BVerfGE 92, 26 ff.; s. dazu nur Beck, Auslandseinsätze (Fn. 33), 2008, S. 58 ff.; Peter Badura, Der räumliche Geltungsbereich der Grundrechte, in: Merten / Papier, Handbuch der Grundrechte, Bd. 2, 2006, § 47, Rn. 3 f.; Heinicke, KJ 2009, 178, 190 ff. 78 Michael Sachs, in: ders. (Hg.), GG, 5. Aufl. 2009, Rn. 19. 76 77

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Kontrolle und zunehmender Wirksamkeit der deutschen Staatsgewalt die verfassungsrechtliche Umhegung intensiver wird.79 Abstriche bei der formalgesetzlichen Grundlage vorzunehmen, liegt vor allem deshalb nahe, weil mit einer klassischen Eingriffsgrundlage auch konkludent der Anspruch des Staates verbunden sein könnte auf Ausübung einer Hoheitsgewalt in einem der innerstaatlichen Umfassendheit vergleichbaren Maße. Diesen Anspruch gilt es zu vermeiden. Es erscheint daher methodisch durchaus vertretbar, für eine Hoheitsgewaltausübung außerhalb des eigenen Territoriums auf die formelle Garantie, nach der für Eingriffe eine formelle Parlamentsgrundlage bestehen muss, zu verzichten. So ganz überzeugend wäre dies allerdings nicht, weil auch für die Hoheitsgewaltausübung im Ausland die Zuständigkeit des Parlaments für das grundsätzliche „Ob“ eines Grundrechtseingriffs bestehen bleibt und einen Sinn ergibt. Im Fall der Gewaltausübung gegenüber den Piraten ist es methodisch möglich, auf das Zustimmungsgesetz zum SRÜ abzustellen und anzunehmen, mit diesem habe der Bundestag zumindest der Ausübung deutscher Staatsgewalt außerhalb des Staatsgebiets in dem dort vorgesehenen Maße zugestimmt.80 In dem Zustimmungsgesetz zu einem völkerrechtlichen Vertrag liegt in aller Regel nicht zugleich eine ggf. erforderliche innerstaatliche Eingriffsgrundlage begründet. Im Fall der Piraterie wird aus dem Zustimmungsgesetz aber keine innerstaatliche Eingriffsgrundlage hergeleitet, sondern die parlamentarische Zustimmung für ein extraterritoriales Handeln gemäß allgemeinen Regeln des Völkerrechts. Gerade für ein Handeln im internationalen Gewässer erscheint es gut vertretbar, die Zustimmung zu dem maßgeblichen Völkerrechtsvertrag als ausreichende Zustimmung des Parlaments zu verstehen. Die Normen des SRÜ sind ausreichend speziell genug, Vgl. BVerfGE 92, 26 ff. In diese Richtung wohl Lagoni (Fn. 12), in: FS für Rauschning, 2001, 501, 533. 79 80

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um einem herabgesetzten Bestimmtheitsgrundsatz zu genügen. Daneben besteht noch eine zweite Begründungsmöglichkeit: Über Art. 25 GG erhalten die allgemeinen Regeln den Anwendungsbefehl für das innerstaatliche Recht und könnten so zugleich die Vorgaben des Vorbehalts des Gesetzes erfüllen.81 Zwingend ist dieses Verständnis des grundrechtlichen Gesetzesvorbehalts nicht.82 Selbst wenn man es annehmen würde, muss es nicht unbedingt auf den rechtsstaatlichen Vorbehalt des Gesetzes übertragbar sein. Die Ansicht, das SRÜ bilde eine ausreichende gesetzliche innerstaatliche Grundlage bzw. eine speziellere sei nicht erforderlich, ist in erheblichem Maße von einem Werturteil abhängig. Man kann mit guten Gründen auch die entgegengesetzte Ansicht vertreten und annehmen, dass die Streitkräfte für Einsätze jenseits staatlicher Territorialität auch dann, wenn sie innerstaatlich kompetenziell zulässig sind, einen Eingriffstitel den Piraten gegenüber benötigten.83 Auch für die Grundrechtseingriffe den Piraten gegenüber ist, sofern sie von den Streitkräften vorgenommen werden, die Zuständigkeit der Legislative über das grundsätzliche „Ob“ gegeben; diese Zuständigkeit dürfe nicht durch die Exekutive und auch nicht durch die Streitkräfte unterlaufen werden. Für diesen Fall müsste eine entsprechende einfachrechtliche Grundlage noch geschaffen werden.84 Der sicherste Weg wäre ohne Frage, den Streitkräften eine einfachrechtliche Grundlage, etwa im UZwG oder im UZwGBW, zu erarbeiten.85

81 82 83 84

So Frowein (Fn. 42). Anders Frowein (Fn. 42): „die Rechtslage ist absolut klar“. Beck, Auslandseinsätze (Fn. 33), 2008, S. 322 ff. In diese Richtung Allmendinger / Kess (Fn. 19), NZWehrr 2008, 60,

69. 85

s. dazu Beck, Auslandseinsätze (Fn. 33), 2008, S. 323.

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IV. Folgen für die Reformdiskussion 1. Erfordernis einer hinreichend gefestigten Interpretation

Legt man die hier vertretene Auffassung zu Art. 87a Abs. 2 GG zugrunde oder folgt man der jüngeren Ansicht über Art. 25 GG, können verfassungsdogmatisch die Pirateriefälle nicht für die Notwendigkeit einer Verfassungsänderung angeführt werden. Sie wären auch nicht mehr als Beispiele für eine Fernwirkung früher bestehender Souveränitätsbeschränkungen heranziehbar. Das Problem der Verfassungsdogmatik ist allerdings, dass sie – solange sie sich nicht in verfassungsgerichtlichen Entscheidungen durchgesetzt hat – von einer Reihe von Wertungen abhängig ist und daher in der Regel nicht als zwingend zu bezeichnen ist.86 Man kann deshalb mit gut vertretbarer Argumentation gegenwärtig die Rechtsansicht vertreten, die Bekämpfung der Piraterie sei der Marine außerhalb eines Systems kollektiver Sicherheit untersagt.87 Die Unsicherheit der Verfassungsinterpretation bildet ein generelles Problem, das sich in der hier relevanten Frage allerdings in besonderer Weise auswirkt. Einsätze der Streitkräfte, auch wenn sie materiell gesehen polizeirechtlichen Charakter besitzen, sind für die betroffenen Soldaten und für das Erscheinungsbild des Staates zu bedeutsam, um sie auf eine nicht gefestigte Verfassungsinterpretation zu stützen. Staatliche Maßnahmen, die für die Amtswalter oder die Gewaltanwender mit einem erheblichen Risiko für Leib oder Leben verbunden sind, bedürfen einer sicheren Rechtsgrundlage, schon aus Achtung derer, die die Maßnahmen umsetzen. Ist die Rechtsgrundlage nicht eindeutig genug, bedarf es unter Berücksichtigung der Interessen der beteiligten Soldaten entweder einer Rechtsänderung – im konkreten Fall einer Verfassungsänderung – oder eines Unterlassens. Die 86 87

Deutlich etwa Gramm (Fn. 9), NZWehrr 2007, 221, 222. So etwa Beckert / Breuer, Öffentliches Seerecht, 1991, Rn. 829.

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Achtung der Grundrechte der Betroffenen und der Amtsinhaber verlangt es, wenn vielleicht dogmatisch nicht zwingend, so doch verfassungspolitisch, Streitkräfte nur auf einer hinreichend gesicherten verfassungsrechtlichen Interpretation nach einem entsprechenden Beschluss des Bundestages im Rahmen des ungeschriebenen Parlamentsvorbehalts auch außerhalb des Wirkkreises vom System der kollektiven Sicherheit in den Kampf gegen die Piraterie auf hoher See zu senden. 2. Fehlende Verfestigung

Legt man diesen verfassungspolitischen Maßstab für die Frage des Erfordernisses einer Verfassungsänderung zugrunde, wandelt sich die relevante Frage: Entscheidend ist dann nicht mehr, ob eine Verfassungsinterpretation möglich ist, die einen Einsatz außerhalb eines Systems kollektiver Sicherheit gestattet, sondern auch, ob diese gefestigt genug ist, um auf deren Grundlage den konkreten Einsatzbefehl zu geben. Dies wird man gegenwärtig verneinen müssen. Die Reduktion des Art. 87a GG auf Inlandseinsätze ist eine zwar zutreffende, aber inhaltlich sehr umstrittene Ansicht. Die Heranziehung von Art. 25 GG ist zwar möglich, aber mit noch größeren Zweifeln verbunden. Dies allein reicht wohl noch nicht aus, um eine Verfassungsänderung verfassungspolitisch zu fordern für den Fall, dass Einsätze außerhalb eines Systems kollektiver Sicherheit gewünscht sein sollten. So wäre auch bei dieser Ausgangslage den Soldaten ein Einsatz im Ergebnis dann zumutbar, sofern die Bundesregierung und der Deutsche Bundestag eindeutig eine den Einsatz legitimierende Verfassungsauslegung übernehmen würden. Der auf einer anderen Verfassungsinterpretation beruhende Vorwurf insbesondere der Opposition, die Streitkräfte würden verfassungswidrig handeln, würde nicht die Soldaten selbst, sondern die Bundesregierung und den Bundestag treffen.

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Bei dem Auslandseinsatz ist zu berücksichtigen, dass es ein obiter dictum des BVerfG in dem Lissabon-Urteil des BVerfG von Ende Juni 2009 gibt, das auf eine Unzulässigkeit hindeutet. Dort findet sich im Kontext der Aufzählung der Bereiche, die – vereinfacht gesprochen – integrationsresistent sind, unter anderem der Satz: „Der Auslandseinsatz der Streitkräfte ist außer im Verteidigungsfall nur in Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit erlaubt (Art. 24 Abs. 2 GG), wobei der konkrete Einsatz von der Zustimmung des Deutschen Bundestages konstitutiv abhängt (vgl. BVerfGE 90, 286 ; 100, 266 ; 104, 151 ; 108, 34 ; 121, 135 ; stRspr).“ Nimmt man diesen Satz wörtlich, schließt er eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung der Marine zur Pirateriebekämpfung außerhalb eines Systems kollektiver Sicherheit eindeutig aus, unabhängig davon, ob man diese in Art. 25 GG oder in einer restriktiven Auslegung des Art. 87a Abs. 2 GG findet.88 Der Satz steht mit diesem Aussagegehalt in einem Kontext, der nahelegt, dass die Aussage nicht unbedacht geäußert wurde. Man wird dem Gericht kaum unterstellen können, es habe nicht gemerkt, dass es damit der Sache nach den Interpretationen, die verfassungsrechtlich Auslandseinsätze außerhalb von Art. 24 Abs. 2 GG und außerhalb des Verteidigungsziels rechtfertigen wollen, eine klare Absage erteilt. Bei Lichte betrachtet wird man daher sagen müssen, das BVerfG signalisiere mit diesem Satz, die hier für richtig empfundene Auslegung nicht teilen zu wollen. Dass die rechtliche Reichweite dieses Satzes beschränkt ist, da er als obiter dictum zu qualifizieren ist und somit nicht an der Bindungswirkung des § 31 BVerfGG teilhat, ändert daran wenig. Vor diesem Hintergrund wird man – will man den betroffenen Soldaten gegenüber fair sein – einräumen müssen, dass dann, wenn man Auslandseinsätze außerhalb eines Systems kollektiver Sicherheit und auch unabhängig von Verteidigungskonstellationen möchte, die Verfassung ändern muss. 88

Gramm (Fn. 25), unter III.

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Für den Fall, dass ein Einsatz der Streitkräfte außerhalb eines Systems kollektiver Sicherheit gegen die Piraterie nicht für unzulässig gehalten wird, findet sich auch kein Fall für das Einschreiten im Falle der Nothilfe. Dieser Aspekt der gegenwärtigen Praxis wäre daher verfassungswidrig. Die Nothilfe ist keine Einsatzkategorie, die für sich genommen von der Einhaltung des Art. 87a Abs. 2 GG befreit. Die Nothilfe kann die betroffenen, konkret handelnden Personen vor einer strafrechtlichen Verurteilung bewahren, nicht aber ein kompetenzwidriges Einschreiten der Streitkräftekompetenz gerecht werden lassen. Wer daher die Streitkräfte im Falle der Nothilfe gegen die Piraterie einsetzen will, kann dies verfassungsrechtlich nur tun, wenn er gleichzeitig den Anwendungsbereich von Art. 87a Abs. 2 GG auf Inlandseinsätze beschränkt. 3. Erfordernis einer Verfassungsänderung

Eine andere Frage ist allerdings, ob es erforderlich ist, den Streitkräften Auslandseinsätze außerhalb eines Systems kollektiver Sicherheit und außerhalb der Verteidigungskonstellationen einzuräumen. Ein Handeln im Rahmen der internationalen Gemeinschaft steht Deutschland im Rahmen seiner staatlichen Selbstdarstellung gut zu Gesicht. Es bestehen tragfähige verfassungspolitische Gründe für die Annahme, außerhalb eines gemeinsamen Handelns und außerhalb der Verteidigung solle Deutschland keine Auslandseinsätze vornehmen. Überzeugen können sie allerdings letztlich nicht. Der Einsatz der Streitkräfte zur Befreiung deutscher Geiseln im Ausland im Einvernehmen des betreffenden Landes und der Schutz der Schifffahrt vor Piraten bilden Fallgestaltungen, bei denen verfassungspolitisch wenig gegen den Einsatz der Streitkräfte einzuwenden ist. Zuständig für diese Frage ist allerdings der verfassungsändernde Gesetzgeber und nicht die Staatsrechtswissenschaft.

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V. Schluss In der Wehrverfassung ist das Grundgesetz von zwei widerstreitenden Grundentscheidungen geprägt, zum einen von der, eine aktive Rolle in der internationalen Gemeinschaft wahrnehmen zu können (Völkerrechtsfreundlichkeit des GG), und zum anderen von der, dass der Einsatz der Streitkräfte einer ausdrücklichen verfassungsrechtlichen Legitimation bedarf (Art. 87a GG). Dieses Spannungsverhältnis ist beim Erlass des GG angelegt und durch die Wehrrechtsnovellen aktualisiert worden. Im Ergebnis führt dies zu einer Rechtsunsicherheit im Bereich des Auslandseinsatzes außerhalb eines Systems kollektiver Sicherheit. Auch wenn eine Exegese von Art. 87a Abs. 2 GG möglich erscheint, die den strengen Verfassungsvorbehalt auf Inlandseinsätze beschränkt, wird man praktisch gesehen Auslandseinsätze außerhalb eines Systems kollektiver Sicherheit den Soldanten nur nach einer entsprechenden Verfassungsänderung zumuten können. Ob ein Bedürfnis für Auslandseinsätze außerhalb eines Systems kollektiver Sicherheit besteht, ist eine primär verfassungspolitische Entscheidung, die dem verfassungsändernden Gesetzgeber obliegt.