So schaffen wir das - eine Zivilgesellschaft im Aufbruch: Bedingungen für die nachhaltige Projektarbeit mit Geflüchteten. Eine Bilanz 9783839438305

Refugees in Germany: 2015 was the summer of projects. The civil society has proved to be extraordinarily creative while

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So schaffen wir das - eine Zivilgesellschaft im Aufbruch: Bedingungen für die nachhaltige Projektarbeit mit Geflüchteten. Eine Bilanz
 9783839438305

Table of contents :
Inhalt
Vorwort
Die civil society als feine Kunst betrachtet
Vernetzung und Solidarität gegen die Ohnmacht
Ankommen statt Durchreise
Wohnerfahrungen von Geflüchteten in Berliner Notunterkünften im Vergleich
Bedingungen für erfolgreiche psychosoziale Beratung von Geflüchteten in Deutschland und Schweden: Ein Vergleich
Projekte zur Unterbringung von LSBT*I*- Geflüchteten in Berlin, Nürnberg und Sachsen
Willkommensklassen in Berlin
Kunst- und Kulturprojekte von und mit Geflüchteten
»If we don’t organise for ourselves, who else will?«
Selbstorganisation und Partizipation in Wohn- und Kulturprojekten mit Geflüchteten am Beispiel des Grandhotel Cosmopolis
Digitale Projekte in der Geflüchtetenarbeit – ein wichtiges Tool der Vernetzung
Freiwilligenkoordination in der Geflüchtetenhilfe
Bürgerschaftliches Engagement aus der Akteursperspektive
Autorinnen und Autoren

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Werner Schiffauer, Anne Eilert, Marlene Rudloff (Hg.) So schaffen wir das – eine Zivilgesellschaft im Aufbruch

Kultur und soziale Praxis

Werner Schiffauer, Anne Eilert, Marlene Rudloff (Hg.)

So schaffen wir das – eine Zivilgesellschaft im Aufbruch Bedingungen für die nachhaltige Projektarbeit mit Geflüchteten. Eine Bilanz

Ein Projekt des Rats für Migration

Gefördert durch

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2018 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Christian Keitel, Münster Satz: Michael Rauscher, Bielefeld Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-3830-1 PDF-ISBN 978-3-8394-3830-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

Inhalt Vorwort Anne Eilert, Marlene Rudloff, Werner Schiffauer | 7

Die civil society als feine Kunst betrachtet Werner Schiffauer | 9

Vernetzung und Solidarität gegen die Ohnmacht Krisenmomente in der haupt- und ehrenamtlichen Arbeit mit Geflüchteten und deren Ursachen Sophie Reimers | 33

Ankommen statt Durchreise Geflüchtete im ländlichen Raum Vinzenz Hokema | 61

Wohnerfahrungen von Geflüchteten in Berliner Notunterkünften im Vergleich Alina Juckel | 99

Bedingungen für erfolgreiche psychosoziale Beratung von Geflüchteten in Deutschland und Schweden: Ein Vergleich Rasmus Geßner | 127

Projekte zur Unterbringung von LSBT*I*-Geflüchteten in Berlin, Nürnberg und Sachsen Ingmar Schrader | 145

Willkommensklassen in Berlin Integration von geflüchteten Kindern und Jugendlichen in das deutsche Schulsystem Anne Eilert | 165

Kunst- und Kulturprojekte von und mit Geflüchteten Integrative Bedeutung und nachhaltige Gelingensbedingungen Alexander Peppler | 181

»If we don’t organise for ourselves, who else will?« Geflüchtetenselbstorganisationen und ihre Herausforderungen Marlene Rudloff | 199

Selbstorganisation und Partizipation in Wohn- und Kulturprojekten mit Geflüchteten am Beispiel des Grandhotel Cosmopolis Caroline Strotmann | 237

Digitale Projekte in der Geflüchtetenarbeit – ein wichtiges Tool der Vernetzung Drei Beispiele aus Dresden, Hamburg und Berlin Anja Gretschmann | 261

Freiwilligenkoordination in der Geflüchtetenhilfe Kommunale Kooperationsmodelle Stephan Lidzba | 273

Bürgerschaftliches Engagement aus der Akteursperspektive Potenziale und strukturelle Schwierigkeiten muslimischer Akteure in der Arbeit mit Geflüchteten Fidel Bartholdy | 289

Autorinnen und Autoren  | 315

Vorwort Anne Eilert, Marlene Rudloff, Werner Schiffauer

Während wir im ersten Band Initiativen und Projekte aus der Arbeit mit Geflüchteten besprochen, Bedingungen des Engagements und aktuelle Herausforderungen und Potenziale herausgearbeitet haben, geht es in diesem Band zunächst darum, mittels einer vergleichenden Perspektive der Frage der Nachhaltigkeit und der Übertragbarkeit der Projekte in den einzelnen Bereichen weiter nachzugehen und Möglichkeiten einer sinnvollen strukturellen Einbindung der Projekte auszuloten. Welche Bedingungen müssen gegeben sein, damit Initiativen zur Unterstützung von Geflüchteten erfolgreich sind und – sofern erwünscht – langfristig bestehen können? Darüber hinaus ging es darum, zwei Jahre nach dem sogenannten »langen Sommer der Migration« eine Bestandsaufnahme vorzunehmen, und zu fragen, welche Auswirkungen die Bürgerbewegung auf die Zivilgesellschaft hatte. Was haben wir als Gesellschaft insgesamt gelernt? Unsere Annahme ist, dass sich in der Auseinandersetzung mit den Geflüchteten neue Formen des Umgangs und Kulturtechniken herausgebildet haben, die letztlich der Demokratie insgesamt zu Gute kommen werden. Sie sind eine aktive Aneignung von Zivilgesellschaft und stellen eine Antwort auf Politikverdrossenheit und gesellschaftlichen Rückzug dar. In den Analysen zum ersten Band hatten sich bereits Themen abgezeichnet, die nun im Rahmen der weiteren Untersuchung vertieft wurden. Einige Initiativen und Projekte wurden erneut kontaktiert und Gesprächspartner_innen noch einmal befragt. Zum Teil traten neue Projekte und Gesprächspartner_innen hinzu. Aus Kapazitätsgründen konnten einige Bereiche, die die Kapitel des ersten Bandes bilden, nur bedingt weitergeführt werden. In anderen Bereichen wiederum taten sich gleich mehrere zu bearbeitende Themenfelder auf. Die ohnehin fluide Einteilung der einzelnen Bereiche aus Band I wurde daher in Band II zugunsten der Themenvielfalt fallen gelassen. Die Untersuchung zu dem Bereich »Arbeitsvermittlung« konnte nicht fortgeführt werden. All dies ist nicht zuletzt deshalb von großem Belang, weil das Thema Flucht uns weiter begleiten wird. Das rapide Wachstum der Zahlen von Ge-

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Anne Eiler t, Marlene Rudlof f, Werner Schif fauer

flüchteten, die in Griechenland und Italien gestrandet sind, und das voraussehbare Scheitern einer Politik, die meint, diesem Phänomen durch Abschottung und Abschreckung begegnen zu können, zwingen zum Umdenken und zum Entwickeln von proaktiven Antworten. Vor allem gilt es andere Kriterien für eine erfolgreiche Einwanderungspolitik zu etablieren. Wir müssen wegkommen von einer Denkweise, die Erfolg nur in der Verringerung der Zahl der Ankommenden und der Erhöhung der Zahl der Abgeschobenen definiert und zu einer Politik kommen, in der gelungene Integration als Maßstab der Politik etabliert wird. Dieses Buch möchte dazu beitragen, diesen Perspektivwechsel zu vollziehen. Das Projekt wurde wie der erste Band mit Studierenden und Graduierten der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt (Oder) durchgeführt. Einige Bei­trä­ ger_innen des ersten Bandes mussten das Projekt berufsbedingt oder aufgrund anderer (universitärer) Verpflichtungen, Auslandsaufenthalte o. ä. verlassen, zwei weitere sind hinzugekommen. Die Autor_innen dieses Bandes sind Fidel Bartholdy, Anne Eilert, Rasmus Geßner, Anja Gretschmann, Vinzenz Hokema, Alina Juckel, Stephan Lidzba, Alexander Peppler, Sophie Reimers, Marlene Rudloff, Ingmar Schrader, Caroline Strotmann und Werner Schiffauer. Die Leitung hatten Werner Schiffauer, Marlene Rudloff und Anne Eilert. Dieses Buch ist aus einer Initiative des Rats für Migration, eines Zusammenschlusses der Migrationsforscher_innen in Deutschland, hervorgegangen. Der Rat hat die Vorstudie finanziert. Die Hauptuntersuchung wurde durch die Unterstützung der Bundesbeauftragten für Migration, Flüchtlinge und Integration ermöglicht. Ihnen gilt unser Dank. Er gilt darüber hinaus all den Projekten und Initiativen, für ihre Gesprächsbereitschaft und die Offenheit zur kritischen Auseinandersetzung. Neben einem internen Lektoratsteam unterstützte uns Nikola Klein als externe Lektorin, bei der wir uns hiermit ebenfalls bedanken möchten.

Die civil society als feine Kunst betrachtet Werner Schiffauer

Die letzten zwei Jahre waren Sternstunden für die deutsche Zivilgesellschaft. In einer unerwartet produktiven Weise ist sie mit den Herausforderungen umgegangen, die sich mit der Ankunft einer großen Zahl Geflüchteter stellten, und hat darüber zu einem neuen Selbstverständnis gefunden. In einer Vielzahl von Projekten wurden vor allem auf lokaler Ebene neue Formen des Umgangs mit gesellschaftlicher Vielfalt entwickelt. Im ersten Band der Publikation So schaffen wir das – eine Zivilgesellschaft im Auf bruch haben wir durch eine Zusammenschau von 90 Projekten ausgelotet, was bei gegebenem politischen und gesellschaftlichen Willen alles möglich ist (Schiffauer, Eilert, Rudloff 2017). Unsere These war, dass sich eine neuartige soziale Bewegung formiert hat, die sich durch einen starken Bezug zur lokalen Gemeinde, neue Wege der Gemeinschaftsbildung, Lust am Experimentieren, neue Allianzen, eine starke Betonung persönlicher Beziehungen, Sensibilität gegenüber karitativen Fallstricken sowie neue Formen lokaler Identität, aber auch durch die Erneuerung des Traums der citoyenneté, der politischen Bürgerschaft, auszeichnet. Wir argumentierten, dass die Bewegung in ihrem Kern nicht karitativ, sondern politisch war – und der Gegenwind, den sie im Augenblick von der etablierten Politik, aber auch von den Medien erfährt, reflektiert die politische Beunruhigung, die von ihr ausgeht. In dieser Bewegung hat sich die Bürgergesellschaft neu erfahren. Es gab eine Verschiebung von einer Selbstwahrnehmung der Zivilgesellschaft als Ensemble gewachsener Strukturen – Vereinen, Gewerkschaften, Kirchen – in die man hineinwächst und in deren Rahmen man ehrenamtliche Aufgaben wahrnimmt, hin zu einer Selbstwahrnehmung als Projekt, das zu gestalten ist, das Kreativität erfordert und die Entwicklung neuer Institutionen verlangt. Dieser Geist des Auf bruchs erfasste auch die Institutionen, die bisher die Zivilgesellschaft geprägt haben, Sportvereine und Kirchengemeinden, die sich zum Teil neu erfanden. In diesem Band versuchen wir Bilanz zu ziehen. Dabei geht es uns zum einen um die Auswertung der Erfahrungen, die in den letzten zwei Jahren, und zum

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Teil darüber hinaus, gesammelt wurden. Welche Experimente haben sich bewährt, welche sind gescheitert? Was muss(te) gegeben sein, um Nachhaltigkeit herzustellen? Uns interessiert nicht die Bewertung von Projekten, sondern die Identifikation von Faktoren, die zum Scheitern oder zum Erfolg geführt haben. Zum Zweiten – und mehr noch – geht es uns darum zu fragen, was die Bewegung für die Kultur der Zivilgesellschaft in Deutschland bedeutet hat: Welche neuen Formen des Umgangs mit Diversität wurden entwickelt? Welche zivilgesellschaftlichen Lernerfahrungen wurden gemacht? Und welche Schwierigkeiten wurden im Experimentieren mit neuen Formen des Umgangs deutlich? Wie hat schließlich das Engagement die Sicht und das Selbstverständnis der zivilgesellschaftlichen Akteure verändert? Der Begriff der Zivilgesellschaft bezieht sich auf den Raum der selbstbestimmten Verbindungen und Vereinigungen von Bürger_innen. Nach Michael Walzer (1992: 89) ist sie »der Raum freier menschlicher Assoziationen und der Beziehungsnetzwerke, die gebildet werden, um die Angelegenheiten von Familie, Religion, gemeinsamer Interessen zu verfolgen«. Diese Netzwerke umfassen Gewerkschaften, Kirchen, politische Parteien, soziale Bewegungen, Kooperativen und alle Arten von »Gesellschaften für diesen und jenen Zweck« (ebd. 90). Dieser Raum der Zivilgesellschaft wird von Walzer vom Raum der politischen Institutionen, der Produktion, des Austauschs bzw. des Marktes und dem Raum der Nation abgegrenzt. Die Zivilgesellschaft wird getragen von Bürger_innen, die ohne Zwang miteinander in Beziehung treten, sich untereinander austauschen und darüber Gruppen aller Art bilden und neu bilden, nicht für einen bestimmten Zweck – Familie, Stamm, Nation, Religion, Kommune, Bruder- oder Schwesternschaft, Interessengruppe oder in ideologischer Absicht – sondern als Selbstzweck. Mit Habermas (1981) könnte man diesen Raum der kommunikativen Vergesellschaftung auch als Lebenswelt charakterisieren. Im Anschluss daran verstehen wir unter Kultur der Zivilgesellschaft die Gesamtheit der Kulturtechniken und Haltungen, mit denen Kommunikation hergestellt, erleichtert oder flüssiger gemacht wird.1 Wenn wir im Folgenden das Feld zivilgesellschaftlicher Experimente der letzten Jahre durchmustern, dann geht es also nicht nur darum herauszuarbeiten, was im Umgang mit den Herausforderungen der Aufnahme von Geflüchteten besonders erfolgreich war, sondern auch zu zeigen, wie in dem Prozess Kulturtechniken und Haltungen entwickelt wurden, die die Zivilgesellschaft, den Raum bürgerlichen Austauschs, bürgerlicher Selbstverständigung und Vergesellschaftung, insgesamt verändert haben. Der Blick gilt den Errungenschaften, die oft hart erarbeitet wurden – und die es lohnt zu bewahren.

1 | Wir beziehen uns dabei auf den Kulturbegriff von Ann Swidler (1986), die den Werkzeugcharakter von Kultur (tool kit) herausgestellt hat.

Die civil society als feine Kunst betrachtet

Unter dieser Perspektive erscheint die Ankunft einer großen Zahl von Geflüchteten als eine Herausforderung, an der die Kultur der deutschen Zivilgesellschaft gewachsen ist. Die Ereignisse von 2015 konfrontierten die Gesellschaft mit ihren Grenzen. Die existierenden gesellschaftlichen und staatlichen Mechanismen waren überfordert; es mussten neue Strukturen gefunden werden. Gleichzeitig bedeutet die Ankunft einer neuen von außen kommenden Gruppe, dass eingespielte gesellschaftliche Verhältnisse durcheinandergeschüttelt wurden. Es spielte sich deshalb ein Prozess ab, in dem nicht nur einzelne Gruppen mit Geflüchteten in Bezug traten, sondern in dem auch die Beziehungen der existierenden Gruppen untereinander neu ausgehandelt wurden. Dies galt insbesondere auch für das Verhältnis von Zivilgesellschaft und Staat. Auf dem Feld der Flüchtlingspolitik dominiert die Staatsräson. Die Logik staatlichen Handelns leitet sich aus der Wahrung der Souveränität des Staates ab: der Aufrechterhaltung seiner Handlungsfähigkeit, dem Schutz der Grenzen, der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit. Aus dieser Logik werden die »Sachzwänge« abgeleitet, denen Politik und Verwaltung folgen – und die oft als die einzigen rationalen gelten. Diese Logik überlagert die Logik der Zivilgesellschaft, für die die Regeln des gedeihlichen Zusammenlebens und eine auf Respekt basierende, möglichst herrschaftsfreie Kommunikation das Ideal vernünftigen Umgangs darstellen. Jürgen Habermas hat derartige Prozesse, bei denen die Systemlogik die Logik von Kommunikationsprozessen zurückdrängt, unter den Begriff der »Kolonialisierung der Lebenswelt« gefasst. Was wir 2015 beobachteten, war ein zeitweises Aufweichen und Zurückdrängen der Staatsräson durch zivilgesellschaftliche Vernunft. Man denke etwa nur daran, wie dem Begriff Asyl, also Schutzrecht, seine ursprüngliche gesellschaftliche Bedeutung wiedergegeben wurde  – in Kritik an der staatlichen politisch-rechtlichen Juridifizierung und Kodifizierung, mit denen Asyl verwaltet, aber nicht gelebt wurde. Diese Wiederaneignung gesellschaftlicher Aufgaben wurde von einem großen Teil der Zivilgesellschaft als durchaus befreiende Chance wahrgenommen, insbesondere von denjenigen, bei denen das Gefühl vorherrschte, dass die weltpolitische Situation eine Neuausrichtung der Bundesrepublik erforderte und dass eine Fortführung der Abschottungspolitik nicht nachhaltig ist. Ein anderer Teil der Zivilgesellschaft reagierte dagegen mit Ablehnung, wenn nicht Panik, und forderte eine Rückkehr zur vermeintlichen Sicherheit der nationalstaatlich gerahmten Gemeinschaft. Letzteren gelang die Eroberung der Politik und der öffentlichen Meinung. Im letzten Jahr beobachteten wir dann eine Wiederherstellung staatlicher Ordnungspolitik. Einleitend möchte ich verschiedene Kulturtechniken bzw. Künste ansprechen, die in diesem Buch zum Tragen kommen: Die Kunst, Win-win-Situationen herzustellen; die Kunst, zivilgesellschaftliche und administrative Logik

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auszubalancieren; die Kunst, das Ehrenamt zu pflegen; die Kunst, die Potenziale der Stadtgesellschaft zu nutzen; die Kunst, Begegnungen auf Augenhöhe herzustellen; die Kunst der Einbettung. Ich werde anschließend auf die Notwendigkeit einer neuen Förderpolitik eingehen und auf die Notwendigkeit ein stärkeres zivilgesellschaftliches Selbstbewusstsein auszubilden, um die Errungenschaften auch zu verteidigen.

Die Kunst, Win-win-Situationen herzustellen Eine Herausforderung, die sich jeder Zivilgesellschaft stellt, ist die Problematik der Alterisierung beziehungsweise die Herstellung verhärteter Gruppenidentitäten, die drohen die Zivilgesellschaft zu spalten. »Wir-Die«-Unterscheidungen gibt es zwar überall, sobald sie sich jedoch verfestigen, entsteht nahezu unweigerlich eine Kultur der Abgrenzung und des Aufrechnens. Gleichzeitig verstärkt jeder Akt des Aufrechnens und Vergleichens wiederum die Grenzen, weil jeder Fortschritt, der von »denen« gemacht wird, auf »unsere« Kosten zu erfolgen scheint. Die Anderen sind deshalb bedrohlich für das Eigene. Dieses Problem der Alterisierung stellt sich besonders bei Neuankömmlingen: Hier ergibt es sich fast von selbst, dass die Alteingesessenen, die Etablierten, den Neuankommenden als Gruppe gegenüberstehen. Die Gefahr, dass Letztere zu Außenseiter_innen werden und dass dieser Status sich verfestigt, ist damit vergleichsweise hoch.2 Insbesondere ist dies der Fall, wenn die Wir-Gruppe nationalstaatlich kodiert werden kann, wenn also »wir, die Deutschen« den Geflüchteten gegenüberstehen. Ein wichtiger Beitrag zum Durchbrechen dieser Logik ist die Herstellung von Win-win-Situationen:3 Profitieren beide Seiten von einer neuen Lage, werden »Wir-Die«-Unterscheidungen in ein umfassenderes »Wir« integriert und in ihrer Wirkung abgeschwächt. Die Rahmung einer Situation als Nullsummenspiel wird ersetzt durch eine Rahmung als Gewinngemeinschaft. Das was einer Seite zugute kommt, wird der anderen Seite nicht nur nicht weggenommen, sondern führt auch zu einer Verbesserung ihrer Situation. Im vorliegenden Band berichtet unter anderem der Artikel von Vinzenz Hokema davon, wie es auch unter erschwerten Bedingungen möglich ist, die Logik der Alterisierung zu durchbrechen oder zumindest abzuschwächen. Am Beispiel ländlicher Gemeinden in strukturschwachen Regionen zeigt er, wie es trotz verhältnismäßig schwieriger Ausgangslagen gelungen ist, Situationen zu 2 | Die klassische Beschreibung dieser Dynamik findet sich bei Elias und Scotson (1990). 3 | Eine andere Form, die Alterisierungslogik zu durchbrechen, ist die Vermittlung von Pat_innenschaften zwischen Personen mit ähnlichen Interessen. Hier überlagert dann das geteilte Interesse die anderen Trennlinien.

Die civil society als feine Kunst betrachtet

schaffen, in denen die Anwesenheit von Geflüchteten von einem überwiegenden Teil der Dorföffentlichkeit als Zugewinn erlebt wurde. In Sumte, einem kleinen randständigen Dorf in Niedersachsen, wurde darauf hingearbeitet, dass der ganze Ort von den ökonomischen Chancen, die die Errichtung einer relativ großen Notunterkunft bot, profitierte  – beispielsweise, indem darauf geachtet wurde, lokale Arbeitskräfte einzustellen. In Golzow, Brandenburg, ermöglichte die Aufnahme zweier geflüchteter Familien den Fortbestand der örtlichen Grundschule, die wegen zu weniger schulpflichtiger Kinder kurz vor der Schließung gestanden hatte, wodurch auch hier eine Win-win-Situation geschaffen wurde. Gegenwärtig wird überlegt, ob durch die Ansiedlung von geflüchteten Ärzt_innen dem Ärztemangel im ländlichen Raum entgegengewirkt werden könnte. Auch wenn bei diesen Beispielen der beidseitige Nutzen auf der Hand zu liegen scheint, war er in keinem der Fälle selbstverständlich: In Sumte und Golzow musste zunächst in Gemeindeversammlungen die Rahmung als Win-win-Situation gegen eine nationalstaatlich kodierte Sicht (wir Deutsche und die Muslime) durchgesetzt werden. Konflikte über kulturelle Selbstverständlichkeiten (Kopftuch, Handgeben) drohten immer wieder Trennlinien aufleben zu lassen, und mussten moderiert werden. Nicht zuletzt war dem Neiddiskurs, dem ebenfalls eine Kultur des Aufrechnens zugrunde liegt, etwas entgegenzusetzen. Dies geschah zum Teil durch die Herstellung von Transparenz, da die allermeisten Neiddiskurse auf Gerüchten basierten, die sich leicht widerlegen ließen. Hokema streicht an dieser Stelle heraus, dass nach Möglichkeit verhindert werden muss, Strukturen ausschließlich für Geflüchtete zu schaffen. Grundsätzlich sollte nach Wegen gesucht werden, die die in der Auseinandersetzung mit der Notlage Geflüchteter geschaffenen Strukturen – etwa Fahrdienste – auch allen anderen Bedürftigen im Gemeinwesen zugute kommen zu lassen. Für eine wechselseitige Akzeptanz ist es dabei wichtig, dass die Geflüchteten nicht auf den Status der Wohlfahrtsempfänger_innen reduziert werden. Auch ist es in dieser Hinsicht zentral, sie so schnell wie möglich in Arbeit zu bringen. Hier gibt es gerade vonseiten der Kommunen viele Möglichkeiten, insbesondere mit dem Instrument der Ein-Euro-Jobs, so Martin Patzelt, ehemaliger Oberbürgermeister von Frankfurt/Oder, in einem Interview mit dem Autor. Was hier möglich ist, zeigt unter anderem der Fall von Schwäbisch Gmünd, den wir im ersten Projektband beschrieben haben (Lidzba 2017). Das Schaffen von Win-win-Situationen löst alleine noch nicht die Unterscheidung von »Wir-Die« auf, schwächt sie aber ab und eröffnet damit Wege des Umgangs mit der Differenz, die nicht polarisieren, sondern die Suche nach Gemeinsamkeiten in den Vordergrund stellen. Sie bereitet damit den Weg für eine Kultur des »klugen Umgangs mit Differenz« (Schiffauer 2008). Es ist freilich zu konstatieren, dass es Grenzen für die Herstellung von Winwin-Situationen gibt. Eine liegt bei knappen Gütern vor. Dazu gehört etwa die

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Anzahl von Wohneinheiten für wenig Verdienende in Großstädten: Hier vermindert die Vergabe von Wohnungen an Geflüchtete tatsächlich die Chancen anderer Bedürftiger, an günstigen Wohnraum zu kommen. Nach unseren Beobachtungen sind davon besonders andere Gruppen mit Migrationshintergrund betroffen. Tatsächlich bestünde auch hier die Möglichkeit, Win-win-Situationen herzustellen, wenn Wohnraum in von Abwanderung betroffenen Gebieten vermittelt werden würde. Damit dies realisiert wird, müsste aber zweierlei geschehen: Die Einheimischen in strukturschwachen Regionen müssten den Vorteil erkennen, der gegeben ist, wenn die durch Abwanderung bedingte Abwärtsspirale gestoppt wird. Die damit erzeugte Offenheit für die Aufnahme von Geflüchteten wäre dann die Voraussetzung dafür, dass auch die Geflüchteten die Win-win-Situation erkennen könnten, die mit dem Leben in strukturschwachen Regionen zumindest für eine Anfangszeit gegeben ist. Das Verfügen über eine eigene Wohnung, aber auch eine größere Chance der Immersion in die deutsche Gesellschaft gehören dazu. Golzow zeigt, dass dies möglich ist. Dies setzt aber voraus, auf Zwangsmaßnahmen wie Wohnortzuweisungen zu verzichten. Der damit verbundene Druck blockiert häufig die Wahrnehmung von Win-win-Situationen, auch dann, wenn sie objektiv gegeben sind. Auf sie zu verweisen erscheint dann als hohles Schönreden von Maßnahmen, die gegen den Willen der Betroffenen (und zwar auf beiden Seiten) durchgesetzt werden. Zu berücksichtigen ist ebenfalls, dass Situationen, die für Familien eine Win-win-Situation darstellen, dies für Geflüchtete in anderen Lebensumständen – etwa alleinstehende junge Männer – keinesfalls sein müssen. Eine andere Grenze zeigt Hokema auf: Es kann sein, dass Geflüchtete durch die Aufnahme in ländliche Strukturen überfordert werden. Kleine Gemeinschaften zeichnen sich durch hohe personale Aufmerksamkeit aus. Das Verhalten von Neuankömmlingen wird genau registriert. Gerade traumatisierte Geflüchtete können durch solche Strukturen überfordert werden.

Die Kunst, zivilgesellschaftliche und administrative Logik auszubalancieren Die Frage der Wohnraumzuweisung zeigt den Sinn und die Notwendigkeit, Zeit und Ressourcen für die Aushandlungsprozesse bereitzustellen, um Lösungen zu finden, die den individuellen Bedürfnissen der Geflüchteten Rechnung tragen. Die Kunst, im Einzelfall in kommunikativen Aushandlungsprozessen die bestmögliche Lösung zu finden, ist Ausdruck der kommunikativen Vernunft, die die Zivilgesellschaft auszeichnet. Sie steht in Spannung zur Logik der Administration, für die das Grundprinzip gilt, gleiche Fälle gleich zu behandeln. Bürokratien müssen deshalb Kategorien bilden, um auf dieser Grundlage zu Entscheidungen zu finden. Beide Logiken stehen in Spannung zueinander, haben jedoch jeweils für sich ihre Gültigkeit und stehen deshalb

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in einem komplementären Verhältnis. Es ist nicht sinnvoll, eines gegen das andere auszuspielen. Eine Logik, die nur die Einzelfallgerechtigkeit betont, setzt sich leicht dem Vorwurf der Sonderbehandlung und damit der Ungerechtigkeit aus. Eine Logik, die Entscheidungen ausschließlich auf kategoriale Unterscheidungen setzt, stößt auf Widerstand, wenn sinnvolle und pragmatische Lösungen aus »prinzipiellen Gründen« nicht umgesetzt werden können. Nur über bürokratische Rationalität kann die Berechenbarkeit und Verlässlichkeit von Verwaltungshandeln hergestellt werden; nur durch zivilgesellschaftliche Vernunft kann dem Bürokratismus (mit der ihm eigenen Standardisierung und Kategorisierung) etwas entgegengesetzt werden. Erst die Verbindung aus beidem lässt die Gesellschaft anpassungs- und wandlungsfähig werden und wachsen. Die Spannung zwischen den beiden Logiken wird vor allem im Text von Caroline Strotmann deutlich. Sie zeigt in ihrem Beitrag, wie im Wohnprojekt Grandhotel Cosmopolis immer wieder sinnvolle und praktikable Lösungen seitens der Verwaltung verhindert wurden, die der administrativen Logik folgte. Ingmar Schrader führt in seinem Text am Beispiel von LSBT*I*-Projekten in Berlin, Nürnberg und Sachsen auf, was alles möglich ist, wenn besondere Situationen, in diesem Fall das besondere Schutzbedürfnis sexueller Minderheiten, auch politisch anerkannt werden. In diesem Fall wurde seitens der Verwaltung größerer Spielraum zugestanden, und es war den Initiativen vor allem in Bezug auf die Unterbringungssituation möglich, Lösungen zu finden, die in anderen Fällen kaum durchsetzbar gewesen wären. Derartige Readjustierungen von Staat und Zivilgesellschaft sind inzwischen wieder zur Ausnahme geworden. Man hat den Eindruck, dass in den meisten Bereichen die Offenheit, die staatliche Stellen im Sommer 2015 zeigten, wieder zurückgenommen wurde – zum einen aus der Sorge um einen anwachsenden Populismus, zum anderen aus Gründen der Staatsräson. So geht es immer wieder darum, etwaige Pull-Faktoren und Migrationsanreize zu vermeiden. Dabei ist gerade in Bezug auf Flucht und Vertreibung die Sondersituation die Regel. Man denke an die große Belastung durch Traumata, die besondere Situation von Familien und die zahlreichen Lagerungen der Fluchtursachen. Bei den Betroffenen und den Initiativen dominiert das Gefühl, dass hier eine Situation »verwaltet«, aber nicht einer Lösung zugeführt wird. Mögliche Antworten auf die konkreten Probleme werden vor Ort häufig im Dialog mit den Initiativen ausgehandelt. Was oftmals fehlt, ist der politische Wille, eine Umsetzung zuzulassen. Dabei geht es nicht darum, der Verwaltung zusätzliche Bürden durch zeitintensive Aushandlungen aufzulasten, sondern darum, Offenheit für Lösungen einzufordern, die im Dialog mit zivilgesellschaftlichen Akteuren gefunden werden. Diese Flexibilität zahlt sich aus, weil sie die Integration fördert und das Auftreten von Folgeproblemen unwahrscheinlicher macht.

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Gerade die LSBT*I*-Projekte zeigen auf, dass es möglich ist, zu einer anderen Balance der zivilgesellschaftlichen Rationalität und der staatlich administrativen Rationalität zu kommen, als es bislang die Regel ist.

Die Kunst, das Ehrenamt zu pflegen Als eine der großen zivilgesellschaftlichen Errungenschaften der Geflüchtetenbewegung wird die Erneuerung des Ehrenamts in Erinnerung bleiben. Diese Erneuerung ergab sich dadurch, dass die Kommunen auf einmal mit einer großen gesellschaftspolitischen Herausforderung konfrontiert waren, die die einzelnen Bürger_innen forderte. Ihre Besonderheit lag in der Verbindung von sozialen und politischen Notlagen, die die Flucht auszeichnet. Es war diese Besonderheit, die dazu führte, dass das Spektrum der ehrenamtlich Engagierten sich entscheidend erweiterte: Neben den Feuerwehrmann, den Fußballtrainer und den Engagierten in der kirchlichen Jugendarbeit traten auf einmal Studierende und politische Aktivist_innen.4 Dabei war das Gefühl weit verbreitet, dass eine große Aufgabe, die sich dem Gemeinwesen stellte, gemeinsam zu lösen war. Man kann die Bedeutung des Ehrenamts als eine Notlösung interpretieren, die angesichts der Überforderung oder des Versagens staatlicher Instanzen notwendig geworden war. Aufgaben, die eigentlich genuin vom Staat hätten bewältigt werden müssen, wurden nolens volens von den Bürger_innen übernommen. Gesamtgesellschaftliche Aufgaben wurden privatisiert und »ver­ehren­amtlicht«. Aus dieser Sicht handelte es sich bei dem Erneuern des Ehrenamts um eine Ausnahmesituation, die nach Möglichkeit so schnell wie möglich in professionelle Strukturen überführt werden sollte.5 Diese Sichtweise ist bestimmt gerechtfertigt. Dennoch ist es nur eine Seite der Medaille. Unserer Auffassung nach ist die Bürgerbewegung auch ein Akt der Wiederaneignung der Zivilgesellschaft durch ihre Bürger_innen, ein Akt der Rückübernahme von Aufgaben, die über Jahre hinweg an staatliche Instanzen delegiert worden waren. Diese wurden damit teilweise der staatlichen Kontrolle wieder entzogen. Wesentlich war die Herstellung von face-toface-Beziehungen. Pat_innenschaften, die Organisation von Begleitungen zu Ämtern, Fahrdienste oder auch Deutschunterricht boten Gelegenheiten zur 4 | Aus der Perspektive der Sportvereine siehe hierzu Braun et al. (2017: 144–164). 5 | Siehe Graf (2016), hier die Forderung der Alice Salomon Hochschule: »Für die Soziale Arbeit mit geflüchteten Menschen sind zahlreiche sozialarbeiterische und sozialpädagogische Kernkompetenzen für Beratung, Betreuung, Kooperation und Vermittlung erforderlich, weshalb ein Abschluss als Sozialarbeiter_in/Sozialpädagoge_in (BA, MA, Diplom) und die in den entsprechenden Studiengängen vermittelten Fähigkeiten und Wissensbestände Voraussetzung für die Beschäftigung sind.«

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Begegnung, durch die persönliche Beziehungen entstanden. Im Umgang mit den Neuangekommenen wurde realisiert, was nach Walzer den Kern der Zivilgesellschaft bildet, nämlich die Sozialität um der Sozialität willen herzustellen. Dabei wurden professionelle  – und damit rollenhafte und rechtlich normierte – Beziehungen zwischen einem angestellten Sozialarbeiter oder einer Sachbearbeiterin und seinen/ihren Klient_innen durch persönliche und damit auf Gegenseitigkeit beruhende Beziehungen ergänzt oder auch ersetzt; wenn man mit Buber (1979) will, trat an die Stelle einer Ich-Es-Beziehung (in der eine Problemlage verwaltet wird) eine Ich-Du-Beziehung (in der eine Problemlage gemeinsam bearbeitet wird). Dies bedeutet eine grundsätzlich andere Logik. Julia Eckert (2017) argumentiert, dass damit die unter dem Stichwort Humanitarismus artikulierte Kritik6 zum Teil ausgehebelt wird. Eine Ich-Du-Beziehung erlaubt nämlich die Überführung von Hilfe in Solidarität. Sophie Reimers (2017) verweist in ihrem Text darauf, dass Ohnmachtserfahrungen oder auch hilflose Wut, die Geflüchtete erleben, von den Helfer_innen geteilt und mitempfunden werden. Die hier empfundene Emotionalität geht weit über das hinaus, was üblicherweise als Mitleid beschrieben wird. Es ist im genauen Sinn ein Mit-Leiden.7 Diese Emotionen führen zu Lernprozessen, die im Wesentlichen politischen Charakter haben. Die dadurch motivierte Politisierung nimmt häufig die Kritik an der deutschen Politik an. Den Ehrenamtlichen erscheint beispielsweise die kategorische Unterscheidung von Geflüchteten aus »sicheren Herkunftsstaaten« mit geringer Bleibeaussicht und von solchen mit hoher Bleibeaussicht auf dem Hintergrund der persönlichen Kenntnis der Notlage zunehmend absurd. Die persönliche Begegnung erlaubt die Bildung einer eigenen Meinung und macht die Künstlichkeit dieser politisch motivierten Unterscheidungen deutlich. Die interpersonalen Beziehungen, die eingegangen werden, und die politischen Bewusstseinslagen, die dadurch gestiftet werden, streuen Sand in die ansonsten gut geölte Maschinerie der Abschiebung. Die Beunruhigung, die davon ausgeht, drückte die Bundeskanzlerin in einer Presseerklärung der Bundesregierung wie folgt aus: »Wir arbeiten daran, dass Rückführungen möglichst aus den Erstaufnahmeeinrichtungen erfolgen können; denn wir wissen: Wenn Menschen erst einmal durch ehrenamtliche Helfer_innen in Kommunen integriert werden, dann ist die Rückführung sehr

6 | Für die Entfaltung der Kritik am Humanitarismus siehe Fassin (2012). 7 | Siehe auch die Schilderung der Gefühle, die bei den Engagierten im Grandhotel Cosmopolis ausgelöst wurden, als sie mit der Abschiebung einer Familie konfrontiert wurden: »›Um Viertel nach sieben sitzt G. schluchzend auf der Treppe zur Eingangstür, überwältigt von ohnmächtiger Wut oder der Trauer über das Schicksal von B. und ihren Kindern.‹« (Strotmann 2017)

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viel schwerer und schwieriger.«8 Angesichts des Wertes des Ehrenamts für die Bürgergesellschaft erscheint es fast stiefmütterlich, wie mit ihm umgegangen wird. Reimers beschreibt in ihrem Text die Herausforderungen, denen Ehrenamtliche ausgesetzt sind. Dazu gehört die Erfordernis, eine Balance zwischen Nähe und Distanz zu finden, um sich nicht bis zum Burnout zu überfordern. Eine zweite Belastung, mit der Ehrenamtliche regelmäßig zu kämpfen haben, sind unrealistische Erwartungen an sich selbst und an die Ergebnisse der Arbeit. Sehr schwierig ist es drittens, mit der fehlenden gesellschaftlichen Anerkennung oder der Anfeindung der Unterstützungsarbeit durch einen Teil der Zivilgesellschaft zurechtzukommen. Eine vierte Belastung ist durch die Politik gegeben, die als sehr widersprüchlich und wenig nachhaltig empfunden wird, und der man vorwirft, die Basis der Arbeit zu untergraben.9 All dies macht die Errichtung von Strukturen notwendig, durch die Reflexion, Begleitung und Austausch in den Gruppen geleistet wird.

Die Kunst, die Potenziale der Stadtgesellschaft zu nutzen Die Kommunen sind der Ort, an dem sich eine neue Balance von Zivilgesellschaft und Staat realisieren kann, weil sich in ihnen Bürgernähe und Staatlichkeit verzahnen. Einerseits werden die Gemeinden und Städte mit den Konsequenzen der Migration vor Ort konfrontiert und sind gezwungen pragmatische Lösungen für entstehende Schwierigkeiten zu finden. Andererseits sind sie in die Aushandlungsprozesse der Bürger_innenschaft einbezogen. Es ist bemerkenswert, dass die Bürger_innenschaft diese staatlichen Akteure auf ihre Seite ziehen konnte, als es um den Umgang mit Abschiebung ging. Es kommt nicht selten zu Konflikten zwischen lokaler und nationaler Ebene. Bemerkenswert ist auch die Klage in einem Strategiepapier der Bundesregierung: »Es ist aber nicht nur die Landes- und Bundespolitik, deren Unterstützung bei der Rückführung vielfach vermisst wird. Allgemein bekannt ist auch die Einflussnahme durch die Lokalpolitik auf kommunaler Ebene. Da gibt es den Bürgermeister oder Landrat, der wegen des drohenden Imageschadens aber auch angesichts nahender Kommunalwahlen in den Medien nicht in Verbindung mit Abschiebungen gebracht werden möchte oder aus eigener politischer Anschauung dem Abschiebungsvollzug seiner Ausländerbehörde den Rückhalt versagt.« (AG Rück Trier 2011) 8 | https://www.bundesregierung.de/Content/DE/Artikel/2017/02/2017-02-09-tref​ fen-merkel-mit-ministerpraesidenten-der-laender.html, zit. in: Scherr (2017). 9 | Diese Vorwürfe werden vor allem in Bayern erhoben: Auf einer Vollversammlung der Flüchtlingsinitiativen am 23.04.2016 auf dem Münchner Marienplatz und einer Demonstration am 25.06.2016 wurde die Politik der Bayerischen Staatsregierung explizit als der Versuch gewertet, die Projektarbeit kaputt zu machen.

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Ein bemerkenswertes Beispiel waren die Aushandlungen anlässlich der Besetzung der Gerhart-Hauptmann-Schule in Kreuzberg durch Geflüchtete, bei denen es zu einer offenen Auseinandersetzung des Bezirksamts Friedrichshain-Kreuzberg und dem Senat von Berlin kam. Hier wurden erstmals auf der lokalen Ebene tastend und suchend Wege ausprobiert, um mit der politischen Herausforderung Flucht neu umzugehen (Rudloff 2014). Die Kommunen sind sozusagen das Interface zwischen Bürgerschaft und Staat. Auf der Länder- und der nationalen Ebene, wo die Bürgerbeteiligung wesentlich beschränkter stattfindet und sich die Systemzwänge ungehinderter durchsetzen, ist man weit weniger offen für die Ansinnen der Bürgergesellschaft. Interessante Modelle einer Verzahnung von Ehrenamt und Verwaltung wurden nicht zuletzt aus diesem Grund, vor allem auf der kommunalen Ebene entwickelt. Stephan Lidzba arbeitet in seinem Text zu diesem Band unterschiedliche Modelle dieser Verzahnung heraus. Er unterscheidet die Modelle Freiwilligenagentur und Stabsstelle. Beide Institutionen sind an der Schnittstelle der Verwaltung zur Zivilgesellschaft tätig: Während jedoch die Stabsstelle innerhalb der Verwaltung angesiedelt ist, ist die Freiwilligenagentur außerhalb der Verwaltung angesiedelt (auch wenn sie in der Regel von der Kommune finanziert wird). Freiwilligenagenturen wirken eher in die Zivilgesellschaft hinein, während die Stabstellen stärker die Koordination in der Verwaltung vorantreiben. Beide Modelle ermöglichen kurze Wege, die Vermeidung von Doppelangeboten und den sinnvollen Einsatz von Ressourcen. Nicht selten existiert auch eine Kombination beider Modelle. Wichtiger als das Modell ist jedoch der politische Wille, wie er vom Amt des Bürgermeisters verkörpert wird. Wenn dieser existiert, stellt sich bei den Initiativen das Gefühl ein, »an einem Strang zu ziehen«; existiert es nicht, entsteht das Gefühl, politisch ins Leere zu laufen. Während es im ersten Fall zu ermutigenden Synergiegewinnen kommt, wirkt Letzteres lähmend. Fehlt der politische Wille, nützt das beste Modell nichts. Runde Tische verkommen dann zur Pflichtübung. Sie werden dann in der Regel noch weitergeführt, »weil es gut ist, sich zu kennen« – aber es fehlt die Dynamik. Festzuhalten ist, dass überall wo Verwaltung und Zivilgesellschaft zusammenwirken, sich dies positiv auf das politische Klima in den Städten auswirkte. Die entscheidende Bedeutung einer Kooperation von Initiativen und Verwaltungen wird auch im Text von Anja Gretschmann herausgearbeitet. Vergleichbare Initiativen zur Errichtung digitaler Internetportale waren in Hamburg erfolgreich, wo öffentliche Verwaltung und Aktivist_innen den gemeinsamen Nutzen derartiger Portale erkannten und an einem Strang zogen. In Dresden, wo die Stadtgesellschaft politisch gespalten ist, war von städtischer Seite eine Bereitschaft zur Zusammenarbeit kaum erkennbar. Dies wirkte sich lähmend auf die Kommunikation aus. Der Informationsfluss, der im einen Fall stattfand und Dinge in Bewegung setzte, unterblieb im anderen.

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Kommunen sind aber auch deshalb interessant, weil sie einen Ansatzpunkt für kollektive Zugehörigkeiten jenseits des Nationalstaats darstellen. Die engagierte Stadtgesellschaft kann ein Ort sein, an dem politische Gemeinschaft, mit der man sich identifizieren und auf die man stolz sein kann, erlebbar wird. Auf dieser Ebene erscheinen Kommunitarismus und Kosmopolitanismus, die in der nationalistischen Rhetorik als Gegensätze konstruiert werden, nicht unvereinbar. Die Erfahrungen im Umgang mit Geflüchteten haben gezeigt, dass die lokale Gemeinschaft gerade aus dem gelungenen Umgang mit Diversität Stärke und Selbstbewusstsein ziehen kann. Im ersten Band hat Stefan Lidzba an den Beispielen Schwäbisch Gmünd und Nürnberg gezeigt, wie das gelungene Zusammenspiel von Stadtverwaltung und Zivilgesellschaft sich positiv auf die Atmosphäre einer Stadt auswirkte. Dies gilt auch für Dörfer. Martin Patzelt berichtete von Bürger_innen aus Briesen, dem Dorf in der Mark Brandenburg, das er als Abgeordneter im Bundestag vertritt, die äußerten, dass sie »so viel Gemeinschaft wie noch nie« empfunden hätten.

Die Kunst, Begegnungen auf gleicher Augenhöhe herbeizuführen Begegnungen auf gleicher Augenhöhe ergeben sich nicht von selbst – besonders dann nicht, wenn strukturelle Ungleichheiten existieren. Mehrere Texte dieses Buches widmen sich den Herausforderungen, die sich daran knüpfen – aber auch den Chancen, die damit verbunden sind, wenn den Neuankömmlingen der Raum gegeben wird, sich einzubringen. Alexander Peppler untersucht die Möglichkeiten von Kultur- und Kunstprojekten. Gerade Kunst birgt die Chance, einen Raum für neue Geschichten und Sichtweisen zu schaffen und ihnen damit gerecht zu werden. Kunst lebt vom Ver-rücken der Perspektiven. Dies erlaubt es zum Beispiel, in der Darstellung der eigenen Situation für andere zu sich selbst zu finden und in der öffentlichen Auseinandersetzung präsent zu werden. Dies kann eine eher politische Form annehmen, wie beim Theater des Club Al-Hakawati, eine eher meditative Form wie beim Interkulturellen Garten Braunschweig, eine eher kulturvermittelnde Funktion wie bei dem Museumsprojekt Multaka oder eine eher körperlich expressive Form wie bei dem Tanzprojekt der Break Grenzen Crew. Der Gewinn für die Zivilgesellschaft besteht in neuen Perspektiven; der Gewinn für die Kunstschaffenden in der Bearbeitung und Reflexion der eigenen Geschichte. Dabei erreichen Kunstprojekte in diesem Bereich eine komplexe Verschachtelung der Perspektiven. Die Kunstschaffenden präsentieren »ihre Geschichten« der Mehrheitsgesellschaft (und nehmen bei der Erarbeitung der Stücke die Perspektive der Mehrheitsgesellschaft, die sie ja erreichen wollen, bereits ein; die Zuschauer_innen sehen sich mit den Geschichten oder dem Kulturerbe »der anderen« und darüber hinaus mit sich selbst konfron-

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tiert. Gerade in und durch die Kulturprojekte werden neue Sichtbarkeiten hergestellt. Ein Lehrstück über die Kunst, Begegnungen auf gleicher Augenhöhe herbeizuführen, ist die Studie zum Grandhotel Cosmopolis (Augsburg) von Caroline Strotmann. Das Grandhotel ist ein ambitioniertes Projekt, das Wohnen und Kulturarbeit zusammenführt. Die Vision des Projekts bestand darin, einen neuen, selbst gestaltbaren, offenen und kosmopolitischen Raum zu schaffen. Es entstand ein einzigartiger Ort, der in die weitere Öffentlichkeit hinaus ausstrahlte. Auch hier spielten kulturelle Projekte eine entscheidende Rolle, um die Bewohner_innen und Besucher_innen miteinander zu verbinden. Caroline Strotmann arbeitet auch die Schwierigkeiten heraus, die es bei der Realisierung der Vision gab. Der Anspruch, der hier (wie bei allen selbstorganisierten und partizipativen Projekten) an sich selbst gestellt wurde, war es, keine Angebote von Etablierten für Geflüchtete zu machen, sondern eine gemeinsame Idee zusammen zu verwirklichen. Dies war nur teilweise möglich. Problematisch und belastend wirkten insbesondere die Entgeltregelungen: »Arbeit auf Augenhöhe braucht auch eine Gleichberechtigung auf der monetären Ebene«, zitiert Strotmann einen Mitwirkenden  – um dann darauf zu sprechen zu kommen, dass eine angemessene finanzielle Entschädigung von Geflüchteten aufgrund von Verwaltungsvorschriften nicht möglich sei. Kaum möglich ist es auch, die Verwaltungsarbeit egalitär zu teilen: Bürokratisches Arbeiten oder auch Antragsrhetorik erfordern so viel kulturelles Know-how, dass Geflüchtete kaum eingebunden werden können. Hierarchien werden folglich reproduziert. Der Fall zeigt auch, wie wichtig humane Unterbringungsformen sind, um eine Begegnung auf Augenhöhe zu erreichen. Tatsächlich wirkt die Situation in den meisten Unterkünften auf die Betroffenen lähmend: Die von Alina Juckel untersuchten Notunterkünfte beförderten unter den Geflüchteten Depressionen und das Gefühl von Fremdbestimmung. Nahezu alle Projekte zeugen von der Notwendigkeit, gegen die in den Unterkünften produzierte Lethargie anzugehen. Marlene Rudloff beschreibt ähnliche Dilemmata bei politischen Projekten, die mehrheitlich von Geflüchteten und Migrant_innen getragen werden: Einerseits ist die Kooperation mit anderen Mitgliedern der Mehrheitsgesellschaft erwünscht und unumgänglich, andererseits reproduzieren sich dort Machtstrukturen. Eine Auseinandersetzung auf Augenhöhe erweist sich oft als nicht möglich, da im Falle von Konflikten die Gegenseite einfach wegbleibt. Völlig differente Lebenslagen produzieren auch unterschiedliche Bedürfnisse und Selbstverständlichkeiten  – etwa im Umgang mit Geld: Dürfen Projektgelder für politische Projekte im Heimatland verwendet werden? Wie sind Ausgaben für Kleidung zu werten? Hier prallen häufig unterschiedliche Wertigkeiten

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aufeinander. Der Text beschreibt Sichtweisen von geflüchteten Aktivist_innen und Engagierten im Hinblick auf die eigene politische Arbeit. Wie wichtig es ist, hier Lösungen zu finden, veranschaulicht der Artikel von Anja Gretschmann. Die von ihr analysierten digitalen Projekte offenbaren die zwingende Notwendigkeit der Einbindung von Geflüchteten: Ohne sie werden Projekte an den Bedarfen vorbei geplant. Kommunikation auf Augenhöhe ist hier entscheidend; nicht nur mit den Geflüchteten selbst, sondern auch mit den Organisationen von Migrant_innen, die früher gekommen sind. Der Text von Fidel Bartholdy demonstriert den unschätzbaren Wert, der dem Beitrag von Moscheegemeinden in der Geflüchtetenarbeit zukommt – oder vielmehr zukommen könnte, vorausgesetzt man gibt ihm den entsprechenden Raum. Denn ehemalige Arbeitsmigrant_innen und Geflüchtete wissen aus eigener Erfahrung, wie es ist, sich als Neuangekommene in der deutschen Gesellschaft einfinden zu müssen. Sie können die Belastungen einschätzen, die mit den Aufenthalten in Massenunterkünften verbunden sind, die Bedeutung, die kulturellen Praxen  – auch dem Essen  – in solchen Ausnahmesituationen zukommt. Sie kennen die Hilflosigkeit und die Ängste, die aufkommen, wenn man sich in einer unvertrauten Lebenswelt zurechtfinden muss, und sie wissen, was es heißt, mit rassistischen Aggressionen konfrontiert zu werden. Die zentrale Bedeutung von Migrant_innenorganisationen wird häufig auch von den Kommunen gesehen. Was meistens nicht gesehen wird, ist der Gewinn, den man hätte, wenn die Migrant_innenorganisationen nicht nur als Juniorpartner einbezogen werden würden, sondern wenn man ihnen auch Steuerungsaufgaben übertragen würde.10

10 | Dies ist keine leichte Aufgabe. Auf der Seite der Mehrheitsgesellschaft bedeutet dies, mit Ängsten vor Kontrollverlust umzugehen. Auf der Seite der Migrant_innenorganisationen bedeutet es einen Bruch mit der Rolle, die sie bisher einnehmen. Migrant_in­ nen­o rganisationen konnten sich als Gesprächspartner der Mehrheitsgesellschaft etablieren, indem sie sich den Regeln und den Bedingungen der Mehrheitsgesellschaft anpassten, wenn nicht unterwarfen. Dies bedingt die Schwäche, die jetzt zum Tragen kommt. In dieser Hinsicht überlegt die Initiative samo.fa, die sich der Stärkung der Aktiven aus Migrant_innenorganisationen in der Flüchtlingsarbeit verschrieben hat, ein Fortbildungsprogramm aufzulegen. Es soll die Migrant_innenorganisationen in die Lage versetzen, sich weiterzuentwickeln, auch und gerade in der Fähigkeit, die Rahmenbedingungen ihres Handelns fortschreitend zu analysieren. Dies müsste nach Maßgabe der Situation auch ein Empowerment-Training sein, dass die Gesprächspartner in die Lage versetzt, die Kompetenz, die aus ihrer eigenen Migrations- und Fluchterfahrung folgt, auch offensiv einzubringen und darüber zu einer Kritik der herrschenden Praxis zu kommen.

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Die Kunst der Einbettung Eine der großen Herausforderungen, vor denen zivilgesellschaftliche Projekte stehen, ist es, die Verflechtung in das weitere gesellschaftliche Umfeld hinein zu managen. Sie müssen über ihre eigentliche Projektaufgabe hinaus mit anderen Institutionen kommunizieren und interagieren, wenn sie nicht scheitern wollen. Der Text von Rasmus Geßner zeigt dies anhand von Projekten, die sich der Bearbeitung von Traumata widmen. Hier muss auf das soziale Umfeld schon deshalb eingewirkt werden, um re-traumatisierenden Einflüssen nach Möglichkeit entgegenzutreten. Projekte in diesem Bereich müssen politische Institutionen für ihre Belange sensibilisieren – und zwar auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene. Vor allem auf der (inter-)nationalen Ebene sind Beziehungen zu einschlägigen Dachverbänden zu pflegen. Darüber hinaus gilt es, sich mit anderen, ähnlich aufgestellten Projekten zu vernetzen. All dies erfordert Öffentlichkeitsarbeit. Zur Kontaktpflege im erweiterten Umfeld gehört auch die Berücksichtigung der Tatsache, dass Ehrenamtliche immer auch in andere soziale Zusammenhänge eingebunden sind, denen sie Ressourcen einräumen müssen, wenn es nicht zur Überforderung kommen soll. Projekte müssen also einer Fülle von Aufgaben nachkommen, die über die Kernaufgaben hinausgehen. Dies bindet erhebliche Energien. In der Regel wird dieser Bereich bei der Antragstellung nicht berücksichtigt. Dieses Problem stellt sich nicht nur auf dem speziellen Feld der Traumaarbeit. Tatsächlich haben inzwischen viele Ehrenamtliche das Gefühl, dass ein Weitermachen sinnlos ist, wenn man nicht politisch wird. Wie bereits erwähnt wurde, ist diese Stimmung besonders bei den Initiativen in Bayern ausgeprägt, wo der politische Wind zunehmend eine sinnvolle und zielführende Geflüchtetenarbeit verunmöglicht. Es ist kein Zufall, dass gerade aus Bayern wichtige Initiativen hervorgehen, die politischen Druck ausüben. Zu nennen ist hier der Versuch, mit Unserveto einen Dachverband der ehrenamtlichen Flüchtlingshelfer_innen in Deutschland aufzubauen, oder der Versuch, über den Auf bau einer neuen Partei (mut) Druck vor allem auf die Partei DIE GRÜNEN auszuüben. Unserveto zeichnet sich durch den Versuch aus, konsensfähige Positionen zu erarbeiten, denen alle Fraktionen der Unterstützerkreise zustimmen können. Allerdings bedeutet auch hier das politische Engagement zeitliche Abstriche von der eigentlichen Projektarbeit machen zu müssen und führt deshalb zu einem Zielkonflikt. Eine wichtige Rolle bei der Pflege der Kontakte zur weiteren Umwelt können Kooperationen mit Universitäten spielen. Das von Rasmus Geßner beschriebene Behandlungszentrum für Kriegsopfer und Gefolterte in Malmö, das eng mit der Hochschule des Schwedischen Roten Kreuzes kooperiert, ist diesbezüglich sehr erfolgreich. Hier werden durch Forschungsprojekte und -reporte wissenschaftliche Expertise und Handlungsempfehlungen in die politische

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Öffentlichkeit getragen. Auch wenn nicht überall eine so enge Kooperation mit Universitäten möglich ist, so kann doch ein Interesse an Qualifikationsarbeiten aufseiten Studierender mit einem Interesse an inhaltlicher Unterstützung, Öffentlichkeitsarbeit und Breitenwirksamkeit (ganz abgesehen von Evaluation) auf der Seite von Projekten einhergehen. In diesem Zusammenhang siedelt sich auch das Projekt »So schaffen wir das« an, aus dem dieser Text entstanden ist. Wie wertvoll diese Verbindung aus Lehre und Praxis auch in anderen Bereichen ist, zeigt in diesem Band nicht zuletzt der Artikel von Anne Eilert zur Integration von Kindern aus Einwandererfamilien in das deutsche Schulsystem. Über das Projekt Sprachlernassistent_innen werden Berliner und Potsdamer Lehramtsstudierende in Willkommensklassen als Unterstützung der Lehrkraft eingesetzt. Von dem Projekt profitieren sowohl die Studierenden, die Praxiserfahrungen sammeln können, als auch die Willkommensklassen.

Die Notwendigkeit einer neuen Förderpolitik Das Ehrenamt wird, wenn überhaupt, über Projekte finanziert, die eigens beantragt werden müssen. Diese Form der Finanzierung hat Stärken, aber auch bemerkenswerte Schwächen. Als sinnvoll erweist sie sich dort, wo es zivilgesellschaftliche Freiräume zu schützen gilt. Signifikante Schwächen zeigt sie dagegen hinsichtlich der bereits angesprochenen notwendigen Vernetzung mit der weiteren Gesellschaft: In der Regel lassen sich über die Projektförderung nur Kernaufgaben finanzieren; die zahlreichen Zusatzaufgaben, deren Bewältigung für den Projekterfolg sinnvoll und manchmal unabdingbar sind, bleiben unter- bis unfinanziert. Dies liegt auch daran, dass die meisten Stiftungen ausschließlich »Projektförderung«, nicht aber »Strukturförderung« betreiben. Mittel für eine kontinuierliche Finanzierung fester Stellen (etwa Sekretariaten, Koordinierungstellen) sind nicht vorgesehen. Weitere Gesichtspunkte werden von Anne Eilert und Caroline Strotmann in ihren Texten erwähnt. Beide Autorinnen schildern herausragende Projekte – Anne Eilert das Projekt der Sprachlernassistent_innen und Caroline Strotmann das Grandhotel Cosmopolis – die gleichwohl Finanzierungsprobleme haben. Beiden Projekten stellt sich das Problem der Sicherung von Anschlussfinanzierungen. Auch gute Projekte laufen regelmäßig aus, weil die Förderdauer begrenzt ist, obwohl der Bedarf weiter besteht. Zum Teil wird dies von den Stiftungssatzungen festgelegt. Eine Übernahme der Weiterfinanzierung durch andere Stiftungen ist in der Regel nicht realistisch, weil bei ihnen aus Profilierungszwängen das Bedürfnis dominiert, neue und erfolgversprechende Projekte zu fördern. »Paradoxerweise führt dieser Innovationsdruck dazu, dass neue Projekte konzipiert oder alte neu verpackt werden, obwohl es bereits eine Vielzahl laufender Projekte und Aktivitäten gibt« (Strotmann in diesem Band). Auch sei es einfacher, Förderungen für Kurzprojekte zu bekommen, die »schöne Bilder produzieren und

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nicht so sehr in die Tiefe gehen«, so ein Gesprächspartner von Caroline Strotmann. Viel schwieriger dagegen gestalte es sich, Gelder für nachhaltige Projekte oder für den Aufbau einer Infrastruktur zu akquirieren. Die kurze Laufzeit der meisten Projekte bindet wiederum Arbeitskraft – einfach weil ständig neue Anträge geschrieben werden müssen. Die darauf verwandte Arbeitszeit verringert die zeitlichen Kapazitäten für die eigentliche Projektarbeit. Hinzu kommt, dass die Kunst, Projektanträge zu schreiben, erlernt sein will. Dies wird gerade bei Projekten, die sich der Selbstbestimmung und Egalität verschrieben haben, als sehr kontraproduktiv erlebt. Hier reproduzieren sich Ungleichheiten, die durch die relative Ausstattung mit kulturellem Kapital gegeben sind. Ein weiteres Problem besteht darin, dass nur zeitlich begrenzte Verträge ausgestellt werden können. Dadurch sehen sich die Mitarbeiter_innen gezwungen, ständig nach Alternativen zur langfristigen Sicherung ihres Lebensunterhalts Ausschau zu halten. Der Autor hat selbst in einem anderen Projekt die Erfahrung machen müssen, dass eine tragende Mitarbeiterin in einer entscheidenden Projektphase kündigte, weil sie eine Dauerstelle angeboten bekam. Eilert spricht hier die Dringlichkeit an, mit der Lösungen gefunden werden müssen, um erfolgreiche Modellprojekte in nachhaltige Förderstrukturen einzubetten. An dieser Stelle kann nur das Problem aufgezeigt werden. Gerade wegen der Bedeutung von Projekten, die außerhalb staatlicher Strukturen angesiedelt sind, ist es hier notwendig, neue Wege der Förderung zu beschreiten.

Fazit: Die Notwendigkeit, zivilgesellschaftliche Errungenschaften zu verteidigen Die Zivilgesellschaft hat in den letzten zwei Jahren große Fortschritte gemacht. Wenn man so will, wurde etwas von der lebensweltlichen Qualität wiederhergestellt, die den Wert einer Zivilgesellschaft auszeichnet. Die Lebenswelt, so Habermas (1981/II: 211), zeichnet sich dadurch aus, dass sich ihre Teilnehmer_ innen – indem sie sich über Probleme verständigen – zugleich ihre »Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen sowie ihre eigene Identität ausbilden, bestätigen und erneuern«. In der sehr plastischen Wiedergabe dieses Gedankens durch Winfried Lintzen (2016: 4) heißt es: »Indem eine Gruppe von Menschen gemeinsam Probleme bewältigt (Handlungsbedarf und -möglichkeiten erkundet, Pläne aufstellt, Lösungen entwickelt), werden die besonderen Fähigkeiten und Stärken eines jeden Teilnehmers offenbar und damit seine Bedeutung für die Gruppe. Daraus entwickelt sich gleichzeitig die soziale Integration und die Identität eines jeden einzelnen (als jemand, der etwas Bestimmtes für das Gruppenleben beiträgt und dessen Zugehörigkeit die Gruppe wichtig findet).«

Die Facetten dieses Prozesses werden in diesem Band herausgearbeitet.

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Allerdings sind die Fortschritte wieder unter Druck geraten. Neuerdings wurde das Zurückdrängen der Logik der Staatsräson, das in den Jahren um 2015 stattfand, wieder infrage gestellt. Nehmen wir das Beispiel Arbeitsmarkt. Die Bewusstseinslage, die seinerzeit herrschte, lässt sich etwa folgendermaßen wiedergeben: Es gibt erstens einen gesellschaftlichen Bedarf an Arbeitskräften in bestimmten Bereichen (etwa Pflege) und man hat Geflüchtete, die sich gerne in diesem Bereich qualifizieren würden; man hat zweitens ein Wissen darüber, dass es für die Integrationspolitik zentral ist, die Geflüchteten in Arbeit zu bringen; man weiß drittens aus der Erfahrung der vergangenen Jahre, dass trotz der Ablehnung von Asylanträgen eine Abschiebung in zahlreichen Fällen nicht infrage kommt, weil die aktuelle Sicherheitslage es nicht zulässt (Afghanistan), weil die Herkunftsländer Geflüchtete nicht wieder aufnehmen (Marokko), weil aufgrund von früheren Fluchtbewegungen faktische Staatenlosigkeit existiert (Afghan_innen, die im Iran aufgewachsen sind). Man weiß viertens, dass die mit dem Duldungsstatus verbundene Arbeitslosigkeit der Gesellschaft teuer zu stehen kommt, weil sie Persönlichkeitsdissoziation zur Folge hat und die Betroffenen in vielen Fällen auf Dauer nicht mehr für den Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen.11 Eine Konsequenz dieser Bewusstseinslage war z. B. der Integrationspakt, der am 13. Oktober 2015 zwischen der Bayerischen Staatsregierung und der Wirtschaft geschlossen wurde. Das Ziel war es, geduldeten Menschen eine Perspektive zu erschaffen, indem sie zunächst eine Ausbildung beginnen und dann anschließend in dem erlernten Beruf arbeiten. Anvisiert wurde eine Zahl von 60.000 Ausbildungs- und Arbeitsplätzen bis zum Jahr 2019. Damit wurde die 3+2 Regelung vorweggenommen, die mit dem Integrationsgesetz am 6. August 2016 auch bundesweit in Kraft trat. Seitens staatlicher Instanzen wurde somit ein Freiraum geschaffen, der es den zivilgesellschaftlichen Akteuren erlaubte, neue kreative Lösungen zu erproben und der gerade auch von der Industrie- und Handelskammer begrüßt wurde. Inzwischen erlebten wir, wenn man so will, eine »Reconquista« der Staatsräson: Sie bindet die Aufrechterhaltung der staatlichen Souveränität an die Kontrolle der Grenze. Wenn man, so die Argumentation, überhaupt den Zugang in das Land regulieren will, dann muss man zwischen denjenigen, die legal einreisen, und anderen unterscheiden. Bei Letzteren muss man auf Grundlage der Gesetze entscheiden, ob sie den Schutz des Asylrechts oder den der Genfer Flüchtlingskonvention in Anspruch nehmen können. Ist dies nicht der Fall, müssen sie ausgewiesen werden. Wenn dies nicht sofort erfolgen kann, können die Betroffenen im Land geduldet werden, bis die Ausreise möglich ist. In diesem Fall hat alles zu unterbleiben, was nach Integration aussieht. Wenn man, so die Argumentation weiter, dies aufweicht, dann entsteht ein 11 | Siehe etwa die klassische Beschreibung: »Die Arbeitslosen von Marienthal« von Jahoda et al. (1933/1977).

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Migrationsanreiz und der Druck auf die Grenzen nimmt zu. Die Staatsräson verlangt also Härte – auch wenn dies der Gesellschaft letztlich mehr Schaden zufügt, denn Nutzen bringt. Dies schlug auf die Wirtschaftspolitik durch. In Bayern wurde der Integrationspakt im September 2016 mit den Vollzugshinweisen für das Bundesintegrationsgesetz seitens der Bayerischen Staatsregierung praktisch aufgekündigt (Bierl, Mittler, Mühlfenzl 2017). Damit hat sich der politische Wind gewendet – und die Logik der Zivilgesellschaft bleibt weitgehend auf der Strecke. Die ZEIT dokumentierte in einem Artikel zum Thema mehrere Fälle, bei denen zunächst erteilte Arbeitserlaubnisse wieder zurückgenommen wurden. Zum Teil waren die Ausbildungs- oder Arbeitsplätze, die an Geflüchtete vergeben worden waren, zum Zeitpunkt des Verfassens des Artikels noch vakant und die Geflüchteten, die Lehrgeld bekommen hätten, lebten von Hartz IV. »Bei der Münchner Handelskammer stapeln sich die Zuschriften von enttäuschten Unternehmern, die Flüchtlinge einstellten – und nun ohne Arbeitskräfte dastehen« (ebd., vgl. Lobenstein 2017).12 Die Folgen sind absehbar: Die Zahl der geduldeten Asylbewerber_innen und derjenigen, die »abtauchen«, also in die Illegalität gehen, wird drastisch zunehmen. In Bezug auf die Geduldeten bedeutet dies, dass leistungsbereite und leistungsfähige Menschen zur Passivität gezwungen werden – mit all den desaströsen psychischen Konsequenzen, die dies hat. Was die zunehmende Zahl von Illegalen betrifft, so sind die Folgen für die Gesellschaft noch schwerwiegender. Dem informellen Sektor des Arbeitsmarktes werden neue Kräfte zugeführt und kriminelle Strukturen werden gestärkt. Auch fallen nicht registrierte Menschen gänzlich oder teilweise aus dem Gesundheitssystem heraus. Dies hat langfristige Konsequenzen nicht nur für die Betroffenen, sondern auch für die Gesellschaft. Schließlich fallen die Kinder nicht registrierter El12 | Die Kehrtwendung in Bayern ist diesbezüglich extrem. Dennoch ist das Muster auch in anderen Bundesländern nachzuweisen. Am 05.05.2017 beklagte das Projekt AsA (Ausbildung statt Abschiebung) bei einem Besuch von Katrin Göring-Eckardt unter anderem, dass die Ausbildungsduldung nicht erteilt wird, obwohl die Voraussetzungen dafür erfüllt sind, dass geflüchtete Jugendliche aus Afghanistan im Schnellverfahren abgelehnt werden, oder dass die Diskussion um sogenannte »hohe« oder »niedrige« Bleibeperspektive die Chancen von Jugendlichen aus bestimmten Ländern auf einen Schulbesuch oder eine Ausbildung in Deutschland vermindere (AsA e. V. 2017). In Baden-Württemberg endet ein Orientierungsschreiben der Handwerkskammer nach einer Darstellung der Komplexität mit dem Hinweis: »Handwerksbetrieben sollte daher empfohlen werden, vorrangig Geflüchtete mit positivem Asylbescheid oder hoher Bleibeperspektive in Ausbildung zu nehmen« (Baden-Württembergischer Handwerkstag 2017) – womit die ursprüngliche Intention außer Kraft gesetzt ist. Deutlich liberaler ist nach wie vor Hamburg. Die Dynamik des Prozesses spiegelt sich in der Uneinheitlichkeit der Umsetzung der Gesetze.

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tern leicht aus dem Bildungssystem heraus. Die einseitige Durchsetzung der Logik der Staatsräson kommt also nicht nur die Gesellschaft teuer zu stehen, sie führt auch zu einem Paradox: Der Versuch, staatlich geordnete Verhältnisse durchzusetzen, führt letzten Endes nur zu größerer Unordnung.13 Es ist für die Gesellschaft insgesamt notwendig, zu der Suche nach einem kreativen Austarieren von Zivilgesellschaft und Staatlichkeit zurückzukehren, die sich im Sommer 2015 abzeichnete. Eine entscheidende Strategie, um wieder zu einer angemessenen Balance zwischen den Rationalitäten zu gelangen, ist die kreative Rechtsauslegung (im Gegensatz zu einer restriktiven Gesetzesauslegung). Diese besteht darin, rechtlich einwandfreie Wege zu suchen, um das Wünschenswerte zu ermöglichen. Der Umgang mit dem Recht besteht dann nicht primär darin, rechtliche Grenzen auszuloten (also zu fragen: »Ist dies oder jenes rechtlich statthaft?«), sondern rechtliche Freiräume zu erkunden (also die Jurist_innen aufzufordern: »Zeigen Sie uns Wege, wie wir es hinkriegen können, dieses oder jenes Wünschenswerte zu realisieren, ohne dass wir uns außerhalb des Rechts stellen«). Unter dieser Perspektive wird das Recht nicht einfach als gegeben betrachtet, sondern es werden die Uneindeutigkeiten und Ambivalenzen der Rechtsprechung ausgenutzt. Mit anderen Worten: Es gehört zur Kunst der Zivilgesellschaft, eine Kultur des Rechts zu übernehmen, wie sie bei Wirtschaftsunternehmen gang und gäbe ist  – nämlich eine kreative und ermöglichende Rechtsauslegung anstelle einer restriktiven und einengenden Rechtsauslegung. Dazu gehört auch ein extensives Ausnützen von Kann-Vorschriften. Es gilt auszuloten, was rechtlich gerade noch möglich ist, und den Spielraum, der sich dadurch ergibt, voll auszunützen. Ein gutes Beispiel für eine derartige Politik ist die Sanctuary City-Bewegung.14 Hier wird der Spielraum genutzt, der sich für die Kommunen aus dem 13 | Auf supranationaler Ebene ist Analoges zu beobachten. Der Versuch, die Grenzen durchzusetzen, hat eine Reihe von problematischen Folgen, u. a. die Etablierung mafioser Strukturen bei der Schleuserkriminalität oder die Kooperation mit politisch problematischen Regimen. 14 | Der Begriff der »Sanctuary Cities« (Zufluchtsstädte) geht auf die City of SanctuaryBewegung in Kanada zurück (vgl. Nyers 2008 und 2011) und bezieht sich auf Städte und Gemeinden im nordamerikanischen und zunehmend auch im europäischen Kontext, die sich als Städte der Solidarität und Zuflucht begreifen und sich insbesondere im Hinblick auf »illegale« Einwanderung und Asyl im Rahmen ihrer Möglichkeiten den nationalen Abschottungspolitiken der jeweiligen Staatsregierungen entziehen. Dazu gehört es z. B., den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen unabhängig vom Aufenthalts- beziehungsweise staatsrechtlichen Status zu gewährleisten, oder auch die Weigerung, an Abschiebungen mitzuwirken. In den vergangenen Jahren ist eine deutliche Vernetzung der Zufluchtsstädte zu beobachten (vgl. Heuser 2017).

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Recht zur kommunalen Selbstbestimmung (Art. 28 Abs. 2 GG) und aus der Ausführung des Aufenthaltsgesetzes durch die Länder (Art.  84 GG) ergibt, welche diese ihrerseits den kommunalen Ausländerbehörden (§ 71 AufenthG) übertragen haben, soweit dies nicht mit anderen Prinzipien (z. B. dem Prinzip der Bundestreue (Art. 20 Abs. 1 GG) oder der Bindung der vollziehenden Gewalt an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG) konfligiert (Heuser 2017). Es ist unbestreitbar, dass sich eine derartige lokale Bewegung nur realisieren lässt, wenn der politische Wille vor Ort existiert und die maßgeblichen Akteure aufseiten der Zivilgesellschaft, der kommunalen Verwaltungen, Gesundheitsbehörden und der Polizei zusammenwirken. Die Kunst der kreativen Rechtsauslegung bedeutet, gerade der lebensweltlichen Vernunft das Gewicht einzuräumen, das sie hat. Kreative Rechtsauslegung bedeutet in lebensweltlichen Aushandlungsprozessen das Wünschenswerte herauszuarbeiten und dann nach rechtlich gangbaren Wegen zu suchen, es umzusetzen. Damit wird die Balance verschoben. Eine restriktive Rechtsauslegung bedeutet dagegen, vor den Systemzwängen zu kapitulieren. Die Bürgerbewegung, die 2015 in Antwort auf die Herausforderungen durch die Ankunft Geflüchteter entstanden ist, war eine Sternstunde für die Zivilgesellschaft der Bundesrepublik. Sie hat sich in einer unerwarteten Weise als umgreifendes Projekt neu verstanden. In diesem Rahmen wurden wichtige Künste und Techniken entwickelt und damit auch Kompetenzen aufgebaut, die wesentlich sind für einen fortwährenden gegenseitigen und gesamtgesellschaftlichen Integrations- und Inklusionsprozess. Sie sind weiter zu verfeinern und auszubauen, um damit die Gesellschaft in die Lage zu versetzen, auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts produktiv zu antworten. Heute gilt es, diese Errungenschaften zu verteidigen.

Q uellenverzeichnis Alice Salomon Hochschule Berlin (2016): Positionspapier: Soziale Arbeit mit Geflüchteten in Gemeinschaftsunterkünften – Professionelle Standards und sozialpolitische Basis. Berlin 2016. AG Rück Trier (2011): Vollzugsdefizite. Ein Bericht über die Probleme bei der praktischen Umsetzung von ausländerbehördlichen Ausreiseaufforderungen. URL: www.einwanderer.net/fileadmin/downloads/Berichte/2011-04_ Be​r icht_AG_Rueck-1.pdf AsA e. V. (2017): Ausbildung statt Abschiebung. URL: http://asa-bonn.org/cate​ gory/aktuellesjobs/ Baden-Württembergischer Handwerkstag (2017): Umsetzung der 3+2-Regelung. Merkblatt. URL: www.handwerk-bw.de/fileadmin/media/bwht-merk​ blaet​ter/bwht-merkblatt-3plus2-regelung.pdf

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Vernetzung und Solidarität gegen die Ohnmacht Krisenmomente in der haupt- und ehrenamtlichen Arbeit mit Geflüchteten und deren Ursachen Sophie Reimers Seit dem Sommer 2015 haben haupt- und ehrenamtlich Engagierte einiges gegeben, um Newcomer_innen bei ihrem Neustart in Deutschland zu unterstützen. Das Anwachsen dieser zivilgesellschaftlichen Bewegung wird im ersten Teil dieses Buches beschrieben. Jetzt, im Jahr 2017, hat sich einiges, aber nicht alles verändert. Es scheint an der Zeit zu sein, zurückzublicken und die aus der Unterstützungsarbeit gewonnenen Erkenntnisse Revue passieren zu lassen, um mögliche Problemfelder zu erkennen und deren Ursachen zu verstehen. Dazu habe ich sowohl mit haupt- als auch ehrenamtlich Engagierten gesprochen, die bereits im ersten Band vorgestellt wurden. Mithilfe ihrer Berichte und Erfahrungen wird in diesem Essay über Krisen und Problemfelder in der Arbeit mit geflüchteten Personen zwei Jahre nach dem »Wir schaffen das!«, über deren Ursachen und mögliche Lösungen nachgedacht. In der Annäherung an dieses Feld wurde schnell deutlich, dass die Unterstützer_innen sich immer wieder Widerständen und schwierigen Situationen unterschiedlicher Art gegenübergestellt sehen – auch persönliche Krisen und Burnout scheinen dabei keine Ausnahmefälle zu sein. Dieser Befund ist wenig überraschend, wenn man den Kontext des Engagements berücksichtigt und die vielfältigen Erfordernisse, für die immer noch nach Lösungen gesucht werden muss. Auch auf Seiten der Newcomer_innen, denen Unterstützung angeboten wird, gibt es Krisensituationen. Nicht allein die Fluchterfahrung aus Kriegs- und Krisengebieten sowie vorher Erlebtes sind Auslöser von Krisen, auch die Lebenssituation in der neuen Gesellschaft wirkt sich erheblich auf die Geflüchteten aus. Die Mehrheit der Newcomer_innen erfährt vor allem die erste Zeit des Ankommens als wenig selbstbestimmt. Ist diese erste Krise allem Anschein nach gemeistert, erleben sie das Alltagsleben als Teil einer marginalisierten Gruppe in Deutschland, deren Teilhabe an grundlegenden

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Ressourcen, Rechten und Chancen begrenzt ist. Wege zu finden, das eigene Leben wieder selbstwirksam in die Hand zu nehmen, ohne dabei auf kontinuierliche Unterstützung angewiesen zu sein, ist in dieser Situation ein zentrales Bedürfnis. Doch um die betroffenen Menschen in diesem Bedürfnis unterstützen zu können, bedarf es Rahmenbedingungen, die häufig nicht ausreichend gegeben sind. Akteur_innen, die Unterstützung für diese Menschen leisten wollen, haben nur zum Teil selbst Fluchterfahrung oder eigenes Erfahrungswissen darüber, wie es ist, als Angehörige_r einer marginalisierten Gruppe in Deutschland zu leben. Insbesondere jene ehrenamtlich unterstützenden Akteur_innen, die selbst nicht von Rassismus betroffen sind und zu einer eher privilegierten, bürgerlichen Mittelschicht gehören (vgl. Hamann/Karakayali et al. 2017), kommen während der Unterstützungsarbeit zum ersten Mal mit spezifischen Problemen von Newcomer_innen in Berührung. Etwas anders gelagert ist die Wahrnehmung von Herausforderungen und Widerständen bei den hauptamtlichen Akteur_innen. Die von mir interviewten Unterstützer_innen thematisieren, wie Krisen, Zweifel und Frustrationen ihre Sicht auf die gesellschaftliche Ordnung und staatliches Handeln beeinflussen. Hier ist es wichtig, diese Erfahrungen und das Wissen zu nutzen, um daraus gesellschaftliche Lernprozesse entstehen zu lassen – auch wenn noch unklar ist, wie dieser Einfluss nach dem Abklingen der »Willkommenskultur«, die wir im Sommer 2015 erlebt haben, langfristig aussehen kann. »[…] [W]ährend viel über die Ablehnung von und Skepsis über Geflüchtete gesprochen wird, hat das öffentliche Interesse an denjenigen, die mehrheitlich die Integrationsarbeit in Deutschland leisten, abgenommen. Die Ehrenamtlichen mögen weitgehend aus der Berichterstattung verdrängt worden sein, das heißt jedoch nicht, dass ihre Arbeit nicht auch gesellschaftspolitische Relevanz hätte.« (Hamann/Karakayali et al. 2017: 10)

In diesem Text werden sowohl die Erfahrungsberichte neu Engagierter als auch professioneller Akteur_innen Gehör finden. Ausgewählt wurden Projekte, die ihre Ehrenamtlichen aktiv begleiten und so einen guten Überblick über wiederkehrende Probleme bieten. Auch Einzelpersonen, die bereits während der Recherche zum ersten Band konkrete Krisen des Engagements thematisierten, wurden noch einmal zu den Schwierigkeiten und Umgangsweisen der letzten zwei Jahre befragt. Die interviewten Akteur_innen sind in ihrem jeweiligen Alltag, in ihrer Arbeit oder dem Ehrenamt, mit ganz konkreten Fragestellungen befasst, die sich aus ihren jeweiligen Projekten mit Newcomer_innen ergeben. Anhand dieser aktuellen Erfahrungsberichte werden erlebte Krisen deutlich, die eine langfristige Weiterverfolgung der Ziele (z. B. Teilhabe, Begegnung, solidarisches Miteinander) behindern oder untergraben. Die jeweili-

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gen Wege aus den Krisen decken nicht nur fehlende Rahmenbedingungen auf. Sie weisen vor allem auf pragmatische und nachhaltige Lösungsmöglichkeiten hin, um ein gemeinschaftliches Miteinander zu finden, zu stärken, und sich damit als offene, moderne Einwanderungsgesellschaft solidarisch den entstehenden Herausforderungen zu stellen. Noch kann keine finale Aussage darüber getroffen werden, ob es sich bei der sogenannten »Willkommenskultur« um ein eher kurzfristiges Phänomen gehandelt hat oder ob die Freiwilligenarbeit, die aktive Solidarität und gemeinschaftliche Organisation sich auch in alltäglichen Strukturen längerfristig etablieren und fortsetzen werden. Obwohl viele etablierte Projekte aus dem Bereich Flucht und Migration, Migrant_innenorganisationen und selbstorganisierte Initiativen sich schon vor 2015 ganz unabhängig von gesellschaftlichen Aufmerksamkeitszyklen engagierten, bleibt abzuwarten, ob sich neue Aktivitäten und frisch gegründete Projekte angesichts der Überforderung und Krisen geschlagen geben müssen oder es schaffen, sich als Bewegung weiter zu vernetzen und das Engagement zu stabilisieren. Gerade in der zeitlich nahen Analyse dieser Entwicklung liegt die Chance, zu erkennen was erforderlich ist, um die zivilgesellschaftlichen Akteure, die sich für das Gemeinwesen einsetzen, zu unterstützen. Der Fokus wird auf der Frage liegen, unter welchen Bedingungen Krisen eher nicht zum Rückzug führen, sondern Lernprozesse, neue Perspektiven und Handlungsoptionen initiieren.

K risenmomente in der A rbeit mit G eflüchte ten und ihre A uslöser Im folgenden Abschnitt beschreibe ich einige zentrale Herausforderungen in der Arbeit mit Geflüchteten, die Haupt- sowie Ehrenamtliche unterschiedlich stark belasten. Zusammengenommen können sie eine sehr demotivierende Wirkung haben und im ungünstigsten Fall zur Beendigung der jeweiligen Tätigkeit führen. Eine erste Herausforderung liegt darin, eine Balance zwischen Nähe und Distanz zu finden, um sich nicht bis hin zum Burnout zu überfordern. Eine zweite Schwierigkeit, mit der Ehrenamtliche und vor allem auch Berufsanfänger_innen zu kämpfen haben, sind unrealistische Erwartungen an sich selbst und an die Ergebnisse der eigenen Arbeit. Ein dritter Grund für eine Krise in der Arbeit mit Geflüchteten kann die fehlende gesellschaftliche Anerkennung oder sogar Ablehnung der Unterstützungsarbeit im privaten Umfeld sein. Im hauptamtlichen Bereich kommen kurzfristige Projektfinanzierungen und daraus entstehende unsichere Arbeitsbedingungen hinzu. Eine letzte, aber entscheidende Herausforderung in der Unterstützungsarbeit mit Geflüchteten schließlich ist die Einwanderungspolitik, die als sehr widersprüchlich und wenig nachhaltig erlebt wird. Auch wenn hier nur einige Ver-

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treter_innen der etablierten Projekte aus dem Bereich Flucht und Migration zu Wort kommen, begegnete mir diese Problematik immer wieder.

Gratwanderung: zwischen Nähe und Distanz Ein Merkmal der 2015 entstandenen zivilgesellschaftlichen Bewegung ist, dass sich hier größtenteils Menschen engagieren, die zuvor nicht ehrenamtlich in diesem Feld tätig waren. Vor dem Hintergrund spürbar werdender gesellschaftlicher Ablehnung gegenüber Einwanderung ist ein Motiv für das Engagement, die Sorge um die Gemeinschaft (vgl. U. Hamann/S. Karakayali et al. 2017: 7, 13). Für viele Ehrenamtliche wird der aktive Einsatz für Geflüchtete also zum Widerstand gegen ausgrenzende und rassistische Ressentiments. Im Sommer 2015 ist die Thematik der in Deutschland ankommenden Geflüchteten sehr präsent, und so sind es zunächst auch Ad-hoc-Entscheidungen, die das Engagement initiieren. Einen solchen, quasi spontanen Einstieg, ohne jegliche organisatorische Einbindung und mit praktischer Ausrichtung, beschreibt meine erste Gesprächspartnerin Annika Reich, Schriftstellerin und Mitinitiatorin von Wir Machen Das (WiMD)1. Die Schilderungen ihrer Erlebnisse der letzten eineinhalb bis zwei Jahre veranschaulichen die erlebte Gratwanderung zwischen krisenhafter Überforderung und aufrüttelndem Realitätsschock: »Also ich hab letzten Sommer gehört, dass hier am LAGeSo 2 die Menschen kein Wasser haben und nicht genug zu essen, und dann bin ich da mit meiner Tochter hin. Wir haben Essen eingekauft und Wasser und sind da hingefahren und haben das verteilt. Und da habe ich das erste Mal eine Situation gesehen, die ich noch nie in meinem Leben gesehen habe, also das hat mich in einem Ausmaß geschockt, dass es zehn Minuten von uns entfernt solche Zustände geben kann, das hätte ich wirklich nicht für möglich gehalten.« (Interview Wir Machen Das) 3

Das unmittelbare Konfrontiertsein, in direkter Nachbarschaft und damit in der eigenen Lebenswelt, mit der bedrängenden Lage der geflohenen Menschen am Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) in Berlin ist der Auslöser für das ehrenamtliche Engagement der Schriftstellerin. In der folgenden Phase bringt sie immer mehr Zeit für ihr Engagement auf. Am Ende des 1 | Wir Machen Das ist ein Verein, der mit unterschiedlichen Projekten hauptsächlich im Bereich Kunst, Kultur und Medien diejenigen stärken möchte, die sich für eine offene Gesellschaft engagieren, sowie das Empowerment und die Sichtbarmachung von Marginalisierten unterstützt (http://wirmachendas.jetzt/). 2 | Landesamt für Gesundheit und Soziales Berlin, heute Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF). 3 | Eine Auflistung der Interviews findet sich jeweils am Ende der Artikel.

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Jahres 2015 spürt sie allerdings deutlich, dass sie damit ihre Grenzen überschreitet. In ihrem Fall verlaufen zwei Ebenen des Engagements parallel und binden auf unterschiedliche Weise Ressourcen. Die im LAGeSo begonnene Unterstützung durch relativ spontane Aktionen mündet in der Begleitung verschiedener Familien, während sich gleichzeitig immer wieder neue Kontakte und kurzfristige Hilfsaktionen entwickeln. Eine Zeit lang übernimmt sie einen improvisierten Medikamententransport. Es werden Kleider, Wohnraum und Behördengänge organisiert und regelmäßig begleitet sie Menschen ins LAGeSo, steht mit unter den vielen Wartenden. Die eigene Abgrenzung, das Gleichgewicht zwischen privatem Rückzugsraum und der freiwilligen Arbeit, gerät dabei zunehmend ins Wanken. Viele andere in ihrem Bekannten- und Freundeskreis engagieren sich zeitgleich, und auch viele Frauen in dem von ihr mit gegründeten Netzwerk für pragmatischen Feminismus setzen sich für geflohene Menschen ein. Sie alle empfinden das Thema als dringlich, und so entsteht Wir Machen Das, um das eigene Netzwerk, die eigenen Ressourcen besser für die aktuelle Situation und für eine breite Unterstützung der Einwanderungsgesellschaft nutzen zu können. Auf der Ebene des WiMD-Projekts ist Reich von da an eine der Hauptverantwortlichen. Sie entscheidet sich dazu, ihre Arbeit als Schriftstellerin und Dozentin für ein Jahr ruhen zu lassen, um sich ganz dieser Aufgabe zu widmen. Innerhalb des WiMD-Netzwerks initiieren einzelne Akteur_innen verschiedene Pilotprojekte. Eines davon ist »Begegnungsort Buchhandlung«, die Idee stammt von Annika Reich. Ihr ist bewusst, dass die Vision von WiMD, das Potenzial des Projekts nur dann zur Entfaltung kommen kann, wenn es – zumindest von einzelnen Mitstreiterinnen – mit vollem Einsatz vorangebracht wird. Gleichzeitig existiert weder eine Organisationsstruktur noch eine klare, professionelle Rahmung. Diese Situation bereitet immer wieder Probleme: »Ich hab mir da viel zu viel aufgeladen und hab auch irrsinnig viel Chaos produziert, was dann auch zu Frustrationen auf allen Seiten geführt hat«, berichtet Reich (Interview Wir Machen Das). Während die Idee von WiMD wächst, müssen die Aktiven des Netzwerks mit dieser rasanten Entwicklung Schritt halten. Es müssen Entscheidungen getroffen werden und im Nachhinein muss jene Infrastruktur entstehen, die das vorauseilende Projekt schon deutlich früher gebraucht hätte. Ähnlich der Situation in einem Startup überfordern Tempo und Wachstum das Team zeitweise. Doch ganz im Gegensatz zu einem Start-up erfordert es die Arbeit mit Geflüchteten, einen individuellen Weg zu finden, um mit der Thematik Flucht umzugehen und das Erlebte zu verarbeiten. Reich gelingt das nicht. Sie hält wenig emotionale Distanz und kann die Bilder und Geschichten, die ihr begegnen, schwer aushalten.

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Sophie Reimers »Ich konnte mich überhaupt nicht mehr abgrenzen, und dazu kam, dass nicht nur am LAGeSo, sondern auch bei den Erzählsalons [Begegnungsort Buchhandlung, Anm. d. Autorin] mir ganz viele Menschen immer ihre Folterfotos gezeigt haben und ich mit den Bildern überhaupt nicht mehr zurechtgekommen bin. Also ich kann eigentlich nicht mal Tatort gucken. Und irgendwie kam das IMMER dazu, dass mir jemand diese Bilder gezeigt hat und dann bin ich eben kollabiert.« (Interview Wir Machen Das)

Während sie weiterhin den direkten Kontakt zu Newcomer_innen sucht und hier aktive Unterstützung leistet, übernimmt sie parallel viel Verantwortung für das stetig wachsende Projekt WiMD. Obwohl sie sich ihrer Überforderung mit der Zeit bewusst wird, lässt sie daraus lange keine Konsequenzen für ihr Handeln folgen – auch da ihr die eigene privilegierte Lage mit jedem Tag am LAGeSo deutlich wird. »Wenn ich mit dem Auto im LAGeSo oder im Heim oder in einer Behörde war und dann wieder zurückkam, konnte ich nicht in die Wohnung gehen, ich hab das nicht hingekriegt. Ich dachte dann, ich kann diese beiden Welten gar nicht mehr zusammenkriegen. Und dann bin ich immer eine halbe Stunde im Auto gesessen, ich brauchte einen Raum, der neutraler ist, bevor ich mich wieder in dieses ganze satte Ding hier reinsetzen konnte. Und ich konnte auch über gar nichts anderes mehr reden.« (Interview Wir Machen Das)

Auch weil Reich so intensiv mit den Erfahrungen und Geschichten von Krieg und Flucht konfrontiert ist, fällt ihr die Selbstfürsorge schwer, denn im Vergleich erscheinen ihre Probleme handhabbar. Dass diese Rechnung nicht aufgeht, ist ihr zwar bewusst, doch es gelingt ihr nicht, sich abzugrenzen, obwohl sich schon bald deutliche Erschöpfungssymptome zeigen. Erst als ihre Freundin und Mitgründerin des feministischen Netzwerks Katharina Grosse interveniert und stellvertretend für sie entscheidet, dass sie eine Pause braucht, kann sie sich während einer Phase des Rückzugs sammeln und ihr Engagement in für sie machbarer Weise fortführen. Als hilfreich erweist sich in dieser Situation die Unterstützung durch eine Traumatherapeutin, die selbst Fluchterfahrung hat und im Frühjahr 2016 viele Freiwillige behandelt, die in eine Krise geraten sind. Sie hilft Annika Reich, Mechanismen der Selbstfürsorge, aber auch entscheidende Strategien im Umgang mit traumatisierten Menschen zu erlernen. Der Rückblick mit Annika Reich auf den Sommer 2015 und die folgenden Monate zeigt stellvertretend Ursachen einer Krise von ehrenamtlich Engagierten: fehlende Distanz und Abgrenzung, chaotische Organisation und Überforderung. Schwierig erscheint die Abgrenzung besonders, da es sich um ein selbstorganisiertes Engagement handelt. Reich hat zwar in ihrem Umfeld Gelegenheit, sich auszutauschen, doch geregelte Supervision, Vor- oder Nachbereitung ihrer Aktivitäten fehlen zunächst. Zwar macht ihre Familie sie darauf

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aufmerksam, dass sie sich immer umfassender von den ehrenamtlichen Aufgaben vereinnahmen lässt. Doch erst die Intervention einer Außenstehenden und die Aufarbeitung mit einer Therapeutin ermöglichen es ihr, sich aus der Situation zu lösen und neue Handlungsstrategien zu entwickeln. Sie kann ihr Engagement dank des ressourcenreichen Netzwerks neu aufsetzen, aber nicht immer gelingt diese Neuausrichtung. So berichtet eine weitere Gesprächspartnerin, Barbara Paech  – Aktive bei Welcome United 03, einem Fußballprojekt mit Geflüchteten des Potsdamer Vereins Babelsberg 03 – ebenfalls von Krisen bei Ehrenamtlichen. Hier sind diese weniger vernetzt und es fehlen entsprechende Ansprechpartner_innen und ein für die Thematik aufgeschlossenes Umfeld. So kann eine Situation der Überforderung und Frustration mit dem Rückzug aus der ehrenamtlichen Arbeit mit Geflüchteten enden. Auch unter Hauptamtlichen, in diesem Fall Sozialarbeiter_innen, sind die Themen Abgrenzung und Selbstfürsorge virulent. Gerade unter Berufseinsteiger_innen kann es zu Überforderungssituationen kommen, so berichtet es beispielsweise Jens Meier. Er ist seit Langem für den Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) in Barsinghausen, Niedersachsen, tätig und hat im September 2015 die Leitung einer Notunterkunft in Sumte übernommen, eine herausfordernde Aufgabe, wie im ersten Band ausführlicher beschrieben wurde (Hokema 2017). Zu Hochzeiten bewohnten die in einem Dorf mit 102 Einwohner_innen gelegene Unterkunft 706 Menschen, eine Situation, der Teile der alteingesessenen Bevölkerung anfangs mit Sorgen und Ablehnung begegneten. Meier übernahm als Leiter der Unterkunft nicht nur die Verantwortung für die Unterbringung und Versorgung der Newcomer_innen. Er kommunizierte auch konstant mit den lokalen Verantwortlichen, um die anfänglichen Vorbehalte zu entkräften und frühzeitig pragmatische Lösungsstrategien für aufkommende Probleme zu finden. Die Konfrontation mit vielfältigen Problemen und den Erfahrungen der Geflüchteten bedeutete für Meier keine Überforderung. Wobei genau hier ein Unterschied zu Berufseinsteiger_innen zu liegen scheint. Meier berichtet, dass einige junge Sozialpädagog_innen, die direkt nach dem Studium mit der Arbeit begannen, der Situation weniger gewachsen waren. In der Arbeit in einer Hilfsorganisation spielt für ihn Persönlichkeit durchaus eine Rolle. Doch vor allem der professionelle Hintergrund und der Grad an Praxiserfahrung sind zentral, erst dadurch können Strategien zum Umgang mit Belastungssituationen verinnerlicht werden. Meine Interviewpartner_innen berichten von verschiedenen unterstützenden Maßnahmen, etwa Supervisionen, die sich seit Längerem in den Teams etabliert haben, um diese Strategien (weiter-)entwickeln zu können. Vor der Schwierigkeit, eine Balance zwischen Nähe und Distanz in der Betreuung geflüchteter Personen zu finden, stehen demzufolge nicht nur Ehrenamtliche, sondern auch hauptamtlich Engagierte. Insbesondere für Berufsanfänger_innen stellt dies eine Herausforderung dar, die jedoch auch im weiteren Berufsleben immer wieder verhandelt werden muss.

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Einen anderen Aspekt von Nähe und Distanz beinhaltet die Schwierigkeit, ein Gleichgewicht zwischen Arbeit und Privatem herzustellen. So war es für Jens Meier vom ASB weniger problematisch mit den teils traumatischen Erfahrungen der betreuten Newcomer_innen in Berührung zu kommen. Seine zeitweilig völlige Vereinnahmung durch die Arbeit hingegen beschreibt er als monatelange »Ganz-oder-gar-nicht«-Aufgabe, für die er und seine Mitarbeiter_ innen ihr Privatleben auf ein Minimum reduzierten. Diese Phase blieb nicht ganz folgenlos, weder für die Gesundheit der Mitarbeiter_innen des ASB noch für deren familiäre Situationen, erzählt Meier rückblickend. Allerdings würde diese Schwierigkeit weder ihn noch seine Kolleg_innen davon abhalten, die Aufgabe noch einmal zu übernehmen. Ähnlich erinnert sich auch Karin Loos vom Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen e. V. (NTFN) an Arbeitsphasen der letzten Jahre, in denen sie sehr bewusst Selbstfürsorge leisten und sich für den Erhalt des Privaten einsetzen musste. Doch obwohl diese ersten Herausforderungen, die Balance zwischen Nähe und Distanz sowie Arbeit und Privatem ständig neu verhandeln zu müssen, von meinen Gesprächspartner_innen als schwierig erlebt wurden, entfalteten die im Folgenden beschriebenen unrealistischen Erwartungen und Zielsetzungen ein noch höheres Krisenpotenzial.

Unrealistische Zielsetzungen und enttäuschte Er wartungen Die 2015 aufscheinende »Willkommenskultur« und damit verbundene große Bereitschaft, sich ganz praktisch für Newcomer_innen zu engagieren, wird von meinen Gesprächspartner_innen zunächst als positives Signal eines zivilgesellschaftlichen Miteinanders begrüßt. Gleichzeitig werden gerade bei jenen Engagierten, die sich ganz neu in diesem Themenfeld bewegen, sehr unterschiedliche Motive und Erwartungen wahrgenommen, die es zu reflektieren und zum Teil anzupassen gilt. Karin Loos beschreibt diese Entwicklung folgendermaßen: »Das war schon ganz am Anfang so, dass ich den Eindruck hatte, viele dachten ›Ja, wir machen jetzt was, wir krempeln die Ärmel hoch, so wie bei der Oderflut. So, wir ziehen die Gummistiefel an und dann gehen wir auf den Deich. Und dann ist in zwei Wochen aber gut, dann ist das Hochwasser vorbei (lachend) der Deich ist wieder gut.‹ Also so ’ne Mentalität. Und das war ja toll, das war ja unheimlich bewegend, dass wir alle aufgebrochen sind. Aber es ist eben eine langfristige Geschichte, es ist ja nichts was […] nach zwei Monaten wieder erledigt ist.« (Interview NTFN)

Nicht allen Engagierten ist demzufolge bewusst, dass die zivilgesellschaftliche Unterstützung über kurzfristige Nothilfe hinausgehen müsste. In dieser Schilderung äußert sich die Wahrnehmung, dass bei vielen Helfenden (noch)

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kein Bewusstsein für die komplexen Problemfelder im Bereich von Flucht und Migration herrscht. Den kurzfristig aktiv gewordenen Bürger_innen bot und bietet sich die Chance, dieses Bewusstsein zu schärfen und Wissen und Erfahrungen in diesem Bereich zu erweitern. Um diesen Prozess für die Beteiligten produktiv gestalten zu können, braucht die praktische Erfahrung aber Begleitung – die leider nicht immer gegeben war, wie Karin Loos beschreibt: »Ich hatte den Eindruck, dass man stärker darüber sprechen müsste, was ist eigentlich die Motivation, mich zu engagieren, was ist meine Erwartungshaltung. Z. B. ›Ich tue was Gutes und ich krieg was Gutes zurück.‹ Das kann dann nicht unbedingt erfüllt werden, da hatte ich immer wieder den Eindruck, dass das nicht wirklich gut reflektiert wurde oder klar war, dass es zu Enttäuschungen führt. Wenn ich mich engagiere, weil ich Beziehungen aufbauen will, dann heißt das nicht unbedingt, dass das gelingt. Viele Flüchtlinge zeigen depressive Symptome, da kann man sich dann eben abrackern als Ehrenamtlicher und Angebote machen, wie man will. Dann kommen die Leute eben nicht, aber das hat mit ihrer Lebenssituation zu tun und ihrer Lebenserfahrung. Und das ist nicht ein Ablehnen der Angebote oder Nicht-dankbar-Sein. Es gibt immer wieder Verwerfungen, weil Erwartungen nicht so erfüllt wurden, weil eben nicht alle Geflüchteten so drauf gewartet haben oder gar nicht in der Lage waren, Aktivitäten mitzumachen.« (Interview NTFN)

Sowohl die rahmende Vorbereitung als auch ein Problembewusstsein wirken sich auf die Einschätzung der Lebenssituation der Geflüchteten aus. Fehlen diese, bringt das unerfüllbare Erwartungshaltungen mit sich. Unwissen über Depressionen und Traumatisierungen können beispielsweise dazu führen, dass ausbleibende oder gar negative Reaktionen auf Unterstützungsangebote als Ablehnung interpretiert werden. Dies kann bei den Unterstützer_innen Gefühle von Enttäuschung erzeugen und schlimmstenfalls einen Rückzug aus dem Engagement einleiten. Eine weitere Ebene ist die Konfrontation mit Stereotypen, aber auch tatsächlichen Konfliktlinien im Kontakt mit Geflüchteten. Gerade hier ginge es, so Loos, um die Reflexion eigener Annahmen und Erwartungen: »Es gibt auch den Teil von denen, die wirklich gedacht haben, wir machen da jetzt was Gutes, und jetzt so verunsichert werden durch diese Mediendebatte, Sozialbetrug hier, Sozialbetrug da, also die sich nicht vorher bewusst gemacht haben, dass Flüchtlinge Menschen sind wie du und ich mit allen Fehlern, Stärken, Schwächen, und dass aber Solidarität und Respekt und Menschenwürde, unser Grundgesetz zu verteidigen, eben ja unabhängig davon steht wie die anderen Menschen sind, und dass wir den Flüchtlingsschutz ja nicht wollen, weil das alles tolle Menschen sind, sondern weil jeder Mensch ein Recht auf Leben hat. Das ist ja eine ganz andere Motivation. Bei einigen ist das aber so gewesen, dass es so ’ne Mode war und dann eben keine mehr. Und da wird es einige geben, die das so kritisch hinterfragen, und andere werden sich zurückziehen.« (Interview NTFN)

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Klar wird durch die Beobachtungen aus der Praxis: Die Bereitschaft allein, »etwas Gutes zu tun«, sichert die Motivation in der Freiwilligenarbeit nicht langfristig. Über kurz oder lang ist eine klare Rahmung notwendig, die nicht nur das »Wie« adressiert, sondern die Helfer_innen auch auffordert zum »Warum« eindeutig Stellung zu beziehen. Andernfalls läuft das Engagement nicht nur Gefahr, in Krisen zu geraten, sondern auch in paternalistische Bahnen abzugleiten. Schlimmstenfalls würden dann bestehende Hierarchien reproduziert werden, sodass geflüchtete Menschen wenig Handlungsspielraum hätten, also keine Selbstwirksamkeit erfahren könnten. Renate Feichtinger, Integrationslotsin und langjährig Engagierte in dem Netzwerk des Vereins Frauen helfen Frauen Beckum e. V., kritisiert mit dem nachfolgend wiedergegebenen Dialog die Haltung vieler Ehrenamtlicher, die zu wenig Offenheit und Empathie für die Bedürfnisse der Newcomer_innen mitbringen und ihr Engagement nach eigenen Maßstäben definieren. »Es gibt ja viele Ehrenamtler_innen, die sagen: ›Ich betreue den jetzt. Also den nehme ich jetzt.‹ ›Den kannst du doch nicht nehmen wie aus dem Regal, du musst erst gucken, gibt’s da Sympathie, kommt ihr miteinander klar, kommt der mit dir klar.‹ ›Wieso erzählt der mir nichts?‹ Wenn ich in einem fremden Land leben würde und da steht jemand vor meiner Tür und sagt: ›Ich bin jetzt der Integrationslotse, ich betreue Sie jetzt‹, da muss doch noch was kommen, dem erzähl ich auch nicht meine ganze Lebensgeschichte beim ersten Mal.« (Interview Frauen helfen Frauen Beckum e. V.)

Dieses Beispiel zeigt, welche Konfliktfelder sich auftun können, wenn Ehrenamtliche sich nicht bewusst und kritisch reflektierend mit den Bedingungen des Arbeitsfelds, der eigenen Rolle und Motivation sowie den vielfältigen Voraussetzungen auseinandersetzen. Es unterstreicht die Notwendigkeit, gerade weißen 4 Engagierten, die sich bislang nicht näher mit Rassismus beschäftigt haben, Hilfe bei der Sensibilisierung für dieses Themenfeld anzubieten. Denn gerade in der Figur der weißen Helfer_innen verbergen sich mit Rassismus verbundene Konstellationen (vgl. Amjahid 2017: 76 ff.), die zutage treten, wenn, wie in dem obigen Beispiel, über den Kopf der geflüchteten Menschen hinweg über ihre Bedürfnisse entschieden wird. Themen wie Integration oder Stereotype zu 4 | Weiß ist hier als politische Kategorie zu verstehen, die sich auf die Gruppe derjenigen bezieht, die von Rassismus profitieren (vgl. Arndt, S./Eggers, M. M./Kilomba, G. et al. 2009).

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diskutieren, sieht auch Sonja Niggemeier von der Kölner Freiwilligen Agentur als wichtige Voraussetzung für die Arbeit mit Geflüchteten, da vorhandene Stereotype erst entdeckt werden müssen, bevor sie abgebaut werden können. Insgesamt betonen alle Interviewpartner_innen die Wichtigkeit eines offenen Austauschs über die Motivation und Ziele der Helfer_innen, aber auch möglicherweise vorhandene Stereotype und deren Abbau. Dieser Austausch bedarf allerdings einer äußeren Rahmung, die häufig noch nicht ausreichend implementiert ist.

Reaktionen und Wahrnehmung »Ich finde das immer noch unheimlich bewegend, was die Zivilgesellschaft leistet. Und ich glaube, dass die Zivilgesellschaft immer noch weiter ist als das, was jetzt politische Mehrheitsbeschlusslage ist. Aber natürlich sind nicht mehr alle dabei, natürlich haben auch Leute aufgehört, aufgegeben oder es haben sich ja auch Sachen anders entwickelt […]. Die Notunterkünfte sind, zumindest hier in Niedersachsen, fast alle geschlossen. Insofern hat sich da natürlich was verändert, aber trotzdem ist das immer noch beeindruckend.« (Interview NTFN)

Die breite Unterstützung bewegt Karin Loos (NTFN) auch noch zwei Jahre nach dem Sommer 2015. Phasenweise war das Stichwort »Willkommenskultur«5 in den Medien sehr präsent. Das Engagement und die Offenheit vieler Bürger_innen erhielten öffentlich viel Anerkennung. Diese Bewegung gab und gibt mit ihrer Schubkraft vielen Projekten, Ideen und vor allem den beteiligten Menschen neue Energie, ihre Ziele zu verfolgen und dabeizubleiben. Doch während die Willkommenskultur für Loos und viele andere eine Gesellschaft sichtbar werden lässt, in der sie gerne leben, mit deren Werten sie sich identifizieren und die sie vertreten, wird in der Berichterstattung parallel ein Negativdiskurs verfolgt, der Flucht und Asylpolitik mit Bedrohung und Ängsten in Bezug setzt. »Nach diesem ›Hype‹ und auch nach einer Medienberichterstattung, die zwar auch schon diese tolle Hilfsbereitschaft der Menschen in den Vordergrund gerückt hat, die aber bestimmt auch zum Teil kritisch zu betrachten ist – die unter anderem mit Begriffen wie ›Flüchtlingswelle‹, die Frage ›Schaffen wir das überhaupt?‹, das ganze Thema zum Teil sehr stark stigmatisiert hat, auch Vorurteile mitproduziert und reproduziert hat – hat man schon im Laufe des Jahres 2016 gemerkt, dass die Hilfsbereitschaft oder das Interesse, sich ehrenamtlich zu engagieren, geringer geworden ist.« (Interview Kölner Freiwilligen Agentur) 5 | Beispiele für die positive Berichterstattung sind hier zu finden: www.zeit.de/ge​ sellschaft/zeitgeschehen/2016-09/willkommenskultur-fluechtlinge-rueckblick-muen​ chen-ehrenamtliche, www.tagesspiegel.de/politik/soziologie-armin-nassehi-die-extre​ me-willkommenskultur-hatte-nicht-nur-die-fluechtlinge-im-blick/19437274.html

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Der Begriff des »Hypes« deutet auf die gesellschaftliche Aufmerksamkeitsspanne hin. Zwar werden das Engagement, der Enthusiasmus und die zivilgesellschaftliche Entwicklung von Sonja Niggemeier oder auch Karin Loos sehr positiv bewertet. Gleichzeitig aber gibt es Zweifel ob der Langlebigkeit und dem Fortbestehen dieser breiten Bereitschaft. In der Arbeit des Projektbereichs Willkommen für Flüchtlinge in der Kölner Freiwilligen Agentur ist dies kein hypothetisches Problem. 2016 und 2017 musste deutlich mehr Aufwand betrieben werden, um Ehrenamtliche zu finden, als im Vorjahr – eine Entwicklung, die Loos und Niggemeier teilweise auch in der medialen Berichterstattung über beispielsweise vermeintliche Probleme der Integration begründet sehen. Die Kritik an dem prägenden Mantra »only bad news are good news« wird Medienvertreter_innen allerdings aus vielen Bereichen entgegengebracht. Da die medialen Diskurse die öffentliche Wahrnehmung spezifischer Themen beeinflussen, können negative Berichte auf die grundsätzlich am Ehrenamt Interessierten abschreckend wirken. Desweiteren können sie dazu beitragen, dass das Engagement Freiwilliger in deren eigenem Umfeld nicht positiv wahrgenommen wird. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, wäre es Loos zufolge wichtig, das Engagement auch mit entsprechender Berichterstattung zu stärken: »Wenn das gelänge, […] ein Klima zu schaffen, in dem es klar ist, dass es gut ist, wenn man sich in der Flüchtlingsarbeit engagiert, das wäre wirklich wichtig. Dass der gesellschaftliche Diskurs so bleibt, dass alle sagen ›Das ist gut, wenn man sich für Geflüchtete engagiert.‹ Also dass es genauso gut ist, wie wenn man sagt ›Ich bin im Sportverein, ich bin in der Feuerwehr‹, also dass das gleichermaßen gutes Engagement ist. Das wäre wichtig.« (Interview NTFN)

Loos beschreibt hier die Schwierigkeit, dass ehrenamtlich Engagierte unter Umständen den Eindruck haben, sich in ihrem Umfeld für das Engagement rechtfertigen zu müssen. Je nachdem welche Meinungen und Positionen im eigenen Umfeld vertreten werden, finden sich Freiwillige, die mit Geflüchteten arbeiten, immer wieder in der Rolle der Vermittler_in. Die Freiwilligen werden somit mit einer zusätzlichen Aufgabe, dem Abbau von Vorurteilen im eigenen sozialen Umfeld, konfrontiert und dadurch zusätzlich belastet. Eine Situation, die auch die Integrationslotsin Renate Feichtinger (Frauen helfen Frauen Beckum e. V.) kennt: »Also ich hab weniger Schwierigkeiten mit den Flüchtlingen als mit den Leuten hier, deren Vorurteile abzubauen. Denen mal ganz klar zu sagen ›Stell dir mal vor, das wäre bei dir so! Was würdest du denn machen?‹ ›Ja, wieso arbeiten die nicht?‹

Vernet zung und Solidarität gegen die Ohnmacht ›Weil sie noch nicht arbeiten dürfen, das ist gesetzlich so geregelt.‹ Also das ist das, was mir eigentlich oft mehr Probleme macht.« (Interview Frauen helfen Frauen Beckum e. V.)

Die hier zitierte Aktive hat langjährige Erfahrung in der Arbeit mit Geflüchteten. Schon in den 1990er-Jahren engagierte sie sich, als viele Menschen aus den Kriegsgebieten im Kosovo nach Deutschland flohen. Andere Freiwillige mit weniger Erfahrungen und einer weniger klaren Position lassen sich möglicherweise eher von Stereotypen beeinflussen und negativen Diskursen verunsichern. Gerade angesichts dieser teils schwierigen Vermittlerrolle wäre eine breitere politische Anerkennung und Unterstützung des Engagements in diesem Bereich wichtig. Hier sieht auch Barbara Paech von Welcome United 03 den Bedarf, über eine Festtagssemantik hinaus mehr für die Ehrenamtlichen zu tun: »Ja, in der Neujahrsansprache [2016] des Bundespräsidenten wurde den Aktiven gedankt, die das abgefedert haben, die da waren, die die Neuzugezogenen begrüßt haben und versucht haben diese überforderte Struktur mit aufrechtzuerhalten, mit angepackt haben, Einrichtungen unterstützt haben. Gut, da gab es mal ein Dankeschön, aber das ist nicht die Anerkennung, die sie verdient haben. Das war eine riesige Leistung, die da gebracht wurde. Und ohne diese Leistung wäre das ›Wir schaffen das!‹ nicht möglich gewesen.« (Interview Welcome United 03)

Nicht eine beschönigende, sondern eine ausgewogene und realistische Berichterstattung, die ihre Themen nicht in Reaktion auf rechtspopulistische Diskurse generiert, kann in der öffentlichen Wahrnehmung und im Umfeld der Helfer_innen zu der verdienten Anerkennung des Engagements beitragen. Diese breitere Anerkennung ist ein entscheidender Faktor dafür, dass sich Menschen für ein Ehrenamt oder eine anderweitige Unterstützungsleistung entscheiden und populistischen Diskursen widerstehen können.

Fehlende Planungssicherheit in der projektbasierten Arbeit Auf die Frage hin, was es bräuchte, um besser und nachhaltiger arbeiten zu können und die Ressourcen des jeweiligen Teams zur vollen Entfaltung zu bringen, wird regelmäßig die Finanzierung thematisiert. »Ein Mangel sind die finanziellen Ressourcen und Zeitressourcen. Unser Bereich ist projektfinanziert und damit hyperflexibel, wir müssen über Anträge immer wieder Gelder sichern und das ist auch immer an befristete Arbeitsverträge geknüpft, also ein sehr unbeständiger Bereich. Es gibt insofern keine Sicherheit, dass wir über einen bestimmten

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Sophie Reimers Zeitraum hinweg unsere Arbeit machen können, das ist einfach sehr frustrierend. […] Es würde so vieles einfacher machen, wenn man wüsste, dass wir langfristig finanziert sind und weiterplanen könnten.« (Interview Kölner Freiwilligen Agentur)

Diese Situation ist sicherlich kein exklusives Problem im Bereich der Arbeit mit Geflüchteten, vielmehr sind davon viele Projekte im sozialen und kulturellen Sektor betroffen. Nichtsdestotrotz werden die daran geknüpften Arbeitsbedingungen von den Praktiker_innen wegen der Besonderheit der Geflüchtetenarbeit problematisiert und als fehlende Basis für eine nachhaltige Arbeit kritisiert. Aufgrund des zuvor beschriebenen Problems des medialen Umgangs mit dem Feld Flucht und Migration und der damit verbundenen öffentlichen Wahrnehmung ergibt sich eine kurzfristige Welle der Förderbereitschaft, die nach dem Abklingen des »Hypes« jedoch, parallel zur Berichterstattung, wieder verebbt. Diese Dynamik ist besonders kritisch, da das Thema eben kein zeitweiliges Phänomen ist, sondern die Praktiker_innen stabile Bedingungen brauchen, um ihre Arbeit langfristig anlegen zu können. »Was da jetzt an befristeten Stellen [entsteht] – wo man nicht weiß, ist es für ein Jahr […] – anstatt mal z. B. etwas für die nächsten zehn Jahre zu fördern. Jedes Jahr müssen wir uns dann wieder Gedanken machen, wie finanzieren wir nächstes Jahr. Planungssicherheit wäre eine ungeheure Entlastung, weil das natürlich ganz viel Zeit und Energie und Ressourcen nimmt. […] Und man kriegt gute Leute nicht, weil die Leute nicht wissen, wie es nach einem Jahr weitergeht.« (Interview NTFN)

Sowohl für den NTFN als auch für die Kölner Freiwilligen Agentur und Frauen helfen Frauen Beckum e. V. untergräbt die Finanzierungsfrage die Verstetigung und langfristige Planung der Arbeit. Dies lässt die Projekte krisenanfälliger werden. Immer wieder ist es notwendig, die eigene Arbeit zu legitimieren und zu zeigen, dass Bedarf nach den jeweiligen Interventionen weiterhin besteht. Diese Aufgabe muss neben der eigentlichen Arbeit geleistet werden und nimmt gerade aufgrund der kurzen Förderdauer zu viel Raum ein. Weiterhin wird kritisiert, dass die Unterstützung von Projekten an Legislaturperioden und die politischen Rahmenbedingungen im jeweiligen Bundesland geknüpft ist. »Man darf sich nicht so abhängig machen von innenpolitischen Entscheidungen, wo man dann nie weiß, was bringt der nächste Regierungswechsel. […] Besser wäre doch, wenn jetzt die generelle Erkenntnis da ist: Es sind soundso viele Flüchtlinge da, die sollen zum Teil [Anerkennungsquote 70 Prozent] langfristig hierbleiben, das ist auf jeden Fall eine Aufgabe für die nächsten sagen wir mal fünf Jahre, das braucht eine feste Ausstattung, andere Planbarkeit, andere Aufbaumöglichkeiten als in diesem Ad-hocGeschäft.« (Interview NTFN)

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Die Vermutung liegt nahe, dass die fehlende Bereitschaft, hier umfangreichere und längerfristige Förderzusagen zu geben, aus einem Mangel an Kenntnis der Problemlagen, Bedarfe und Notwendigkeit dieser Arbeit resultiert. Wieder spielt die öffentliche Wahrnehmung eine große Rolle: Wird die Arbeit mit Geflüchteten als wichtig wahrgenommen, fließen Fördergelder in diese Arbeit. Doch um erfolgreich arbeiten und damit öffentlich präsent sein zu können, müssen finanzielle Ressourcen, die eine langfristige Planung und langfristige Stellen ermöglichen, bereits vorhanden sein. Diesen Konflikt aufzulösen kann nicht Aufgabe einzelner Organisationen sein. Integration und Unterstützung von Geflüchteten gesellschaftlich als wichtige Aufgabe zu begreifen und nachhaltig zu fördern kann nur mit politischer Unterstützung gelingen. Doch auch hier scheint es noch Handlungsbedarf zu geben, wie im Folgenden gezeigt wird.

»Was ist hier der Plan?« – Ohnmacht angesichts des politischen Versagens In den geführten Interviews wird die Widersprüchlichkeit von Gesetzen und Regelungen der Einwanderungspolitik in der Arbeit mit Geflüchteten, ob ehren- oder hauptamtlich, als eines der, wenn nicht als das dringendste Handlungsfeld angesprochen. Sowohl die Arbeit als auch das freiwillige Engagement werden durch die politischen Vorgaben belastet, weil Handlungsspielräume zum Teil sehr begrenzt werden, wobei die Grenzen jedoch selten nachvollziehbar sind. Ohnmacht erleben auch die Geflüchteten. Nach traumatisierenden Erfahrungen und Flucht fehlen ihnen wieder Räume zur Selbstbestimmung bei scheinbar ganz grundlegenden Fragen wie Wohnen, Arbeit, Bildung und Familie. Alle befragten Initiativen identifizieren diese Situation als zentralen Auslöser für Krisen der Freiwilligenarbeit. Das folgende Zitat von Sonja Niggemeier steht stellvertretend für diese Kritik: »Was natürlich auch eine große Herausforderung ist, ist die Konfrontation mit unverständlichen Rechtsprechungen und politischen Bedingungen, die letztendlich Realität für die Familie, die sie begleiten, oder das Kind werden. Die nicht nachvollziehbar sind. Das löst häufig ein Gefühl von Ohnmacht aus, und es ist eine große Herausforderung, dann diese benachteiligte Situation von den Familien und Kindern hautnah mitzuerleben. Es ist definitiv eine Herausforderung, den Umgang damit zu finden. Das zeigt den Ehrenamtlichen auf, wo Notlagen in der Stadtgesellschaft sind. Damit sind sie vorher in häufig privilegierten Positionen gar nicht in Kontakt gekommen, und so erkennen sie plötzlich wo Ungleichheiten hier in der Gesellschaft stattfinden.« (Interview Kölner Freiwilligen Agentur)

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Die Grenzen und Schwierigkeiten, die in erster Linie die Newcomer_innen erleben, werden darüber hinaus auch für all jene, die ihnen Unterstützung anbieten, zur Belastung. Diese Bedingungen sind ein Resultat politischer Entscheidungen und der Gesetzeslage, die den rechtlichen Flüchtlings- bzw. Asylstatus regelt. In der Arbeit mit Geflüchteten ist es notwendig, immer auf dem neuesten Stand zu sein – in Anbetracht der unzähligen Neu- und Sonderregelungen keine leichte Aufgabe. Zu den ständigen Änderungen kommt darüber hinaus Frustration ob des Mangels an Flexibilität und der fehlenden nachhaltigen Anpassung der Strukturen hinzu. »Auf der einen Seite hat Frau Merkel gerufen ›Wir schaffen das!‹ und auf der anderen Seite haben aber bestimmte Behörden eine Arbeitshaltung an den Tag gelegt, wo ich mich wundern würde, wenn das dem täglichen Standard entsprechen sollte, um das mal so vorsichtig zu formulieren. Also dieser harte Einsatz, dieser unbeliebte Einsatz, die Situation zu meistern, war nicht auf breiter Basis zu erkennen. […] Ansonsten hätten wir nicht in einer Flüchtlingsunterkunft drei Monate warten müssen, bis wir Telefon hatten. Normalerweise hätten die sagen müssen ›Alles klar, wunderbar, ihr habt da ein paar Menschen, die kommen aus einer prekären Situation, ihr müsst zusehen, dass ihr die unter behelfsmäßigen Umständen unterbringt, natürlich kriegt ihr da in 24 Stunden Telefon.‹ Das wäre der Einsatz gewesen, aber das ist ja nicht passiert. Ganz im Gegenteil, ich hab ja teilweise zu hören bekommen ›Was interessieren mich Ihre Flüchtlinge?« (Interview Arbeiter-Samariter-Bund Barsinghausen)

Die hier von Jens Meier, dem Geschäftsführer des ASB und ehemaligen Leiter der Notunterkunft Sumte geschilderte Situation ist ein ganz praktisches Beispiel für vielfältige Verzögerungen und Hürden, die in der Arbeit mit Geflüchteten an der Tagesordnung sind. In diesem Fall geht es um den Telefonanschluss, den die zuständige Behörde nur schwerfällig ermöglicht. Aber auch in anderen Bereichen wird die behördliche Praxis als wenig beweglich und zielorientiert erlebt. Die Gesprächspartner_innen sehen hier dringenden Bedarf: Behörden müssen sich den ständig verändernden Bedingungen genauso anpassen wie es die direkte Unterstützungsarbeit mit Geflüchteten bereits tut. Allerdings gibt es immer wieder auch positive Beispiele einer konstruktiven Zusammenarbeit, die den existierenden Spielraum innerhalb der behördlichen Strukturen aufzeigen. Doch die 2015 geäußerte Losung »Wir schaffen das!« wirkt beinahe wie Hohn, wenn sie von administrativen Stellen insgesamt nicht aktiv mitgetragen und die Kluft zwischen Gesagtem und Arbeitsrealität nicht geschlossen wird. Vor allem das »Wir« der Parole scheint zunehmend infrage gestellt zu werden. Involvierte fühlen sich im Stich gelassen angesichts der Erkenntnis, dass das »Wir« nur einen Teil der Gesellschaft meint. Während die in der Geflüchtetenarbeit Involvierten kreativ, hartnäckig und unter Aufwendung vielfältiger Ressourcen aktiv waren, wurden in anderen Bereichen

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keine zusätzlichen Anstrengungen unternommen. Die Frage lautet: Geschafft ja, aber unter welchen Bedingungen und wie lange noch? Angesichts der geleisteten Arbeit verwundert es daher nicht, dass fehlende Anerkennung und ein Anlaufen gegen bürokratische Windmühlen zu Frustration bei den Unterstützer_innen führt. Aus den geführten Gesprächen geht eine Erwartungshaltung gegenüber der Politik hervor: Der politische Wille, dynamische Migrationsbewegungen gesellschaftlich zu verarbeiten, dürfe sich nicht alleine in verbalen Bekundungen zeigen. Nötig sind aus Sicht der Praktiker_innen eine klar ausgerichtete Asyl- und Einwanderungspolitik, deren konsequente Umsetzung und weitere Unterstützung. Ohne rechtliche Rahmung entsteht bei den Aktiven der Eindruck, mit der Verantwortung alleingelassen worden zu sein. Katrin Loos beschreibt diese Ohnmachtssituation: »Wir stoßen immer wieder an Grenzen dessen, was man eben erreichen kann, weil es jetzt so viele politische Rollback-Entscheidungen gegeben hat. Während man von der Willkommenskultur geredet hat, hat man ja parallel den Abbau politisch vorbereitet, also das ist schon wirklich zynisch, und da stoßen die Leute immer wieder an Grenzen beim Thema Abschiebung, Aufenthaltsbeendigung, Dublin-Verfahren. Ich glaube, dass viele Leute erst mal nicht wissen, dass wir nach wie vor Dublin-Verfahren gegenüber Syrern betreiben, die nach Ungarn oder Bulgarien zurück sollen, also egal ob hier Teile der Familie sind oder nicht. Und diese Konfrontation dann damit und der Hilflosigkeit, ich glaube das ist, was viele an die Grenzen bringt. Und da sind wir ganz schnell beim Thema. Trauma ist eben erlebte Hilflosigkeit und Kontrollverlust, ich kann nichts machen, und mit traumatisierten Flüchtlingen zu arbeiten bringt einen eben ganz schnell an eigene Hilflosigkeitsmomente in der Auseinandersetzung mit den Perspektiven. Und das ist für die Leute, für die ehrenamtlichen insbesondere, eine Belastung, aber auch für die Profis manchmal schwer auszuhalten.« (Interview NTFN)

Die sogenannten »Rollback-Entscheidungen«, also beispielsweise die Aus- und Wiedereinsetzung der Dublin-Regelung6 für einige Monate, stiftet nicht nur 6 | In einem Dublin-Verfahren wird geprüft, welcher Staat in Europa für die Durchführung des Asylverfahrens von Asylsuchenden zuständig ist. Denn die EU hat sich darauf verständigt, dass Asylsuchende nur in einem der EU-Länder ein Asylverfahren durchlaufen dürfen. Beteiligt sind aber nicht nur EU-Staaten, sondern auch die Schweiz, Island, Liechtenstein und Norwegen. In den jeweiligen Ländern gibt es Behörden, die für die Dublin-Verfahren zuständig sind. In Deutschland ist dies das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF). Welcher Staat zuständig ist, wird in der Dublin-III-Verordnung geregelt. Es gibt eine ganze Reihe von Kriterien. Am häufigsten wird jedoch das Kriterium angewandt, wonach der Staat zuständig ist, in dem der Flüchtling zuallererst EU-Territorium betreten hat. Das sind schon aus geografischer Sicht häufig die Länder

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Unsicherheit und Verwirrung unter Geflüchteten, auch deren Unterstützer_ innen sind hilflos und entmutigt. Um sich konsequent und gleichbleibend gut für Geflüchtete einsetzen zu können und bessere Lebensbedingungen zu unterstützen, braucht es entsprechendes politisches Handeln, ohne kurzfristige Umschwünge. Tatsächlich jedoch ist das Gegenteil der Fall: Es kommt zu Verschärfungen, wie beispielsweise zur Gewährung nur subsidiären Schutzes für bestimmte Gruppen von Menschen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan.7 »Die Perspektive ist für Geflüchtete äußerst unsicher. Gerade die syrischen Geflüchteten, die Familien zurückgelassen haben, die haben keinen richtigen Kopf für einen Deutschkurs. Ablehnungen und Ängste kommen auf angesichts der Veränderungen, viele erhalten ja nur subsidiären Schutz. Das muss man sich mal vorstellen, die sind ja eventuell schon seit zwei Jahren auf der Flucht, jetzt müssen sie noch drei Jahre warten, bis sie ihre Familien nachholen können – fünf Jahre auseinander! Was in den Menschen vorgeht […].« (Interview Frauen helfen Frauen Beckum e. V.)

Die gesetzliche Regelung ist aus Sicht der Praktiker_innen nicht nachvollziehbar, sie folgt auch keinem für sie verständlichen Plan. Loos formuliert die zentrale Herausforderung folgendermaßen: »Problematisch ist die fehlende Konstanz politischer Beschlüsse, dieses Hin und Her, das war für mich ganz schrecklich: Als dann für kurze Zeit für Syrer das Dublin-Verfahren abgeschafft wurde und ich dachte: ›Jetzt haben sie es wirklich geschafft. Jetzt sind die zu Beratenden und die Berater gleich hilflos, weil keiner weiß ›Was ist der Plan?‹, Und ich kann den Leuten nicht mal sagen, worauf sie sich verlassen können angesichts der unangekündigten Abschiebungen.‹ […] Jenseits dessen, dass man sich das Wissen immer neu aneignen muss, ist es dieses Nicht-Überschaubare. Und das ist für die Betroffenen auch schwierig. Also ist Algerien gerade ein ›sicheres Herkunftsland‹ oder nicht? Oder doch? Ist es schon beschlossen? Oder muss es noch durch den Bundesrat? Das wird seit einem halben Jahr so diskutiert, als sei es in Stein gemeißelt. […] Ich glaube das sind relativ utopische Wünsche, aber das würde helfen: Kontinuität, Verlässlichkeit und Transparenz. Und nicht bei jedem Vorfall wieder alles infrage stellen. Das sind unsinnige Reaktionen, die mit einer Analyse der Problematik nichts zu tun haben. Die richtige an den äußeren Süd- oder Ostgrenzen Europas, wie beispielsweise Italien oder Ungarn. Befindet sich ein Asylsuchender nicht in dem Staat, der demnach für ihn zuständig ist, droht ihm die Abschiebung dorthin. Da die Lebensbedingungen für die Betroffenen in diesen Ländern vielfach unerträglich sind, geht es in Dublin-Verfahren meist darum, eine Abschiebung innerhalb Europas zu verhindern. (PRO ASYL [2015]) 7 | Vgl. BAMF (2016): Asylgeschäftsstatistik Dezember 2016. www.bamf.de/Shared​ Docs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Statistik/Asyl/201612-statistik-anlage-asylgeschaeftsbericht.pdf?__blob=publicationFile

Vernet zung und Solidarität gegen die Ohnmacht Herangehensweise wäre zu fragen: ›Was wollen wir? Gut integrierte Menschen! Was braucht man für eine gute Integration? Arbeit, Wohnung, Familie, Bildung! Was können wir dafür tun?‹ Das sollte im Fokus der Politik sein, und nicht permanent eine neue Sau durchs Dorf treiben.« (Interview NTFN)

Um nachhaltig Wirksamkeit entfalten zu können, gehört zu einem nachvollziehbaren Plan und einer entsprechenden Politik aus Sicht der Praktiker_innen also auch die langfristige Perspektive. Nicht nur das Ankommen der Geflüchteten, die erste Unterbringung und Versorgung, sollte als Aufgabe begriffen, sondern weit darüber hinaus geplant werden. Die Themen Wohnung, Arbeit, Familie und Bildung bergen jeweils großes Entwicklungspotenzial, denn bislang sind in allen Bereichen vielfältige Grenzen zu überwinden. Jens Meier treibt nach wie vor die Frage um, wie es mit den ehemaligen Bewohner_innen und Newcomer_innen generell weitergeht. Er kritisiert: »Dass die Geflüchteten nach wie vor in Dauerunterkünften untergebracht sind und dann Integrationskurs machen, bisschen Deutschunterricht, aber ansonsten sehe ich ja jeden Tag, sehe sie am Bahnhof stundenlang da stehen, sich was erzählen. Junge Leute, die sich auf die Herausforderungen des Lebens vorbereiten müssten, wo die Zeit einfach verrinnt und verläuft und ich zitiere an der Stelle immer wieder Rupert Neudeck, der die Cap Anamur gegründet hat und der am 31. März 2016 gestorben ist, […] der hat einen ganz entscheidenden Satz gesagt: ›Die Refugees müssen unverzüglich verpflichtend in sinnvolle Beschäftigungsmaßnahmen gebracht werden.‹ Diesem Ansatz werden wir nicht gerecht, ich kann den aber nur unterschreiben.« (Interview ASB)

Meier setzt sich nach wie vor für die Geflüchteten ein, indem er beispielsweise versucht, ihnen eine Arbeitsstelle beim ASB zu vermitteln. Pflegekräfte werden dort dringend gesucht. Doch obwohl passende Stellen vorhanden seien und interessierte und geeignete Newcomer_innen zur Verfügung stünden, sei es bislang nur zu wenigen Vermittlungen gekommen, da es oft keine behördliche Freigabe gebe. Ohnmacht entsteht hier aufgrund des langen Wartens auf eine Arbeitserlaubnis, die ungeachtet der zahlreichen Versuche und des großen Bedarfs im Bereich der Pflege der allseits geforderten Integration im Weg steht. Während also die Arbeit mit Geflüchteten in der Praxis schon länger funktioniert und die Akteur_innen pragmatisch, flexibel und lösungsorientiert vorgehen, zeigen die Erlebnisse aus der Praxis ebenfalls, dass Behörden diesen Weg noch vor sich haben. Um ihn erfolgreich gehen zu können, ist die rechtliche Rahmung unverzichtbar. Planbarkeit und Nachhaltigkeit sind Voraussetzungen für die Arbeit mit Geflüchteten, die in der Asylpolitik mitgedacht werden müssen. Ohne diese Entwicklungen wird sich an dem Ohnmachtsgefühl der Engagierten nichts ändern.

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W ege aus der K rise Im ersten Teil sind nun verschiedene Krisenmomente und Ursachen für Frustrationen thematisiert worden, die zusammengenommen zum Abbruch des Engagements und Scheitern von Projekten führen können, und zum Teil bereits geführt haben. Diese negative Entwicklung ist jedoch nicht unausweichlich. Im Gegenteil: Krisen können in gesellschaftlich fruchtbare Lernprozesse münden, vorausgesetzt die Bedingungen sind dafür günstig. Um diesen Lernprozess zu gestalten, werden im folgenden Abschnitt drei bewährte Möglichkeiten aus der Praxis vorgestellt: Vernetzung, die Organisation von Lernprozessen und ein politisches Selbstverständnis. Alle drei lassen sich auf der individuellen, der organisatorischen und der gesellschaftlichen Ebene anwenden.

Reflexion, Begleitung und Gruppenaustausch als wichtige Komponenten für solidarisches Engagement Während gerade die Spontaneität des Engagements und die Aktivierung von bislang im Feld der Geflüchtetenarbeit unerfahrenen Menschen eine Qualität der Bewegung ausmachte, liegen hier, wie sich gezeigt hat, auch Herausforderungen. Weder haben alle Freiwilligen entsprechende Abgrenzungs- und Selbstfürsorgemechanismen erlernt, noch sind sie beispielsweise sensibilisiert für Machthierarchien und Rassismuskritik und nicht alle haben die Motivation, Grundlagen und Ziele ihrer Arbeit klar vor Augen. Wenn zwischen freiwillig Engagierten und Newcomer_innen ein Vertrauensverhältnis entstanden ist, wird nicht nur die Ohnmacht angesichts fehlenden Handlungsspielraums zum Problem, sondern auch der Umgang mit traumatisierenden Erlebnissen, die in einem freundschaftlichen Rahmen möglicherweise zur Sprache kommen. Freiwillige betreten damit aus ihrer Perspektive heraus Neuland. Als Basis für reflektiertes und damit auch nachhaltiges und krisenresistenteres Engagement weisen alle Gesprächspartner_innen aus der Praxis auf die Gruppeneinbettung hin. Die Erfahrung zeigt hier, dass Gruppenreflexionen und Austausch sehr hilfreich sein können und einige der Krisenursachen abfedern. Hauptamtliche Strukturen bzw. ein Erfahrungsaustausch in Gruppen können entsprechende Strategien und Informationen vermitteln und bieten die Möglichkeit, Verantwortung zu (ver-)teilen. Die Vernetzung mit anderen stärkt die Freiwilligen auf mehreren Ebenen und erscheint nahezu unverzichtbar, um diese Arbeit dauerhaft leisten zu können. Austausch wirkt sich beispielsweise auch dann positiv aus, wenn Aktive, die bezüglich der Grundlage und Ausrichtung des Engagements eine reflektierte Position entwickelt haben, diese auch anderen Beteiligten (wieder) ins Bewusstsein rufen. So geschieht es im bereits erwähnten Fall von Integrations-

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lotsin Renate Feichtinger, die mit anderen Ehrenamtlichen in den Dialog geht und hier Fragen anstößt. Diese Gruppenprozesse können weiterhin hilfreich sein, um erstens gemeinsam Kommunikationsstrategien gegenüber der Ablehnung aus dem Umfeld zu entwickeln und zweitens diese Ablehnungshaltung einordnen zu können. Drittens kann der Austausch dazu dienen, gemeinsam eine Position zu medialen Stereotypen und verunsichernden Diskursen zu finden. Wenn es nicht aus den Freiwilligenkreisen selbst organisierbar ist, können an dieser Stelle Projekte zur Unterstützung der Freiwilligen und andere Träger aus der sozialen Arbeit eine Hilfe sein und entscheidend zur Qualität der ehrenamtlichen Arbeit beitragen. Diese Aufgabe wird zum Beispiel von der Kölner Freiwilligen Agentur und dem NTFN sowie Frauen helfen Frauen Beckum e. V. übernommen. Die Vernetzung der Ehrenamtlichen wirkt auf unterschiedlichen Ebenen unterstützend. Zunächst können hier im Vorhinein die Vorstellungen des Engagements mit den bisherigen Erfahrungen aus der Arbeit mit Geflüchteten abgeglichen werden. Das findet so beispielsweise in den Workshops für Ehrenamtliche der Kölner Initiative Willkommen für Flüchtlinge statt. Vor Beginn eines ehrenamtlichen Engagements wird hier auch darüber gesprochen, welche Erwartungen die Teilnehmer_innen haben, wie sie ihre Rolle begreifen und was ihre Motivationen sind. Auf diese Weise können im Vorfeld individuelle, bis dahin vielleicht nicht klar formulierte Vorstellungen der Interaktion mit Newcomer_innen eruiert und auch problematisiert werden. Die Komplexität der Aufgaben zu vermitteln, zu zeigen, dass ein Engagement auch über die reine Nothilfe hinaus konstruktiv und wichtig ist, kann in der Begleitung des Ehrenamts stattfinden. Das Problembewusstsein hinsichtlich einer fehlenden Reflexion der Bedürfnisse und ein kritisches Hinterfragen eigener Privilegien und rassistischer Strukturen seitens der Akteur_innen können nicht überall gleichermaßen vorausgesetzt werden. Immerhin sind viele Engagierte mit diesen Fragen zuvor wenig in Berührung gekommen. Aber hier liegt auch die Chance, eine vielfältige Gruppe aus unterschiedlichen Milieus und Altersgruppen für gesellschaftlich relevante Themen zu sensibilisieren und Lernprozesse anzustoßen. Auch dazu können die Gruppen ein guter Ort sein, vorausgesetzt der Austausch verläuft wertschätzend und offen. Sonja Niggemeier berichtet von großem Interesse und positiver Resonanz zu den veranstalteten Workshops, die sich dem Thema Rassismuskritik widmen. Auch Annika Reich empfiehlt aus eigener Erfahrung die aktive Auseinandersetzung mit unbewussten Rassismen. Ein entsprechendes Training war für sie augenöffnend: Obwohl sie sich auf theoretischer Ebene mit dem Themenfeld bereits lange befasst hatte, wurde ihr das eigene Eingelassensein und Reproduzieren von Rassismus erst hier richtig deutlich. Möglicherweise besteht innerhalb von Ehrenamtskreisen eine Offenheit gegenüber den erwähnten Fragestellungen und ein Entwick-

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lungspotenzial, das mit passenden Angeboten aufgegriffen werden kann. Ein geeigneter zeitlicher und organisatorischer Rahmen, um eigene Privilegien zu überdenken, genauso wie Motive des Engagements und Vorstellungen darüber, wer welche Rolle einnehmen sollte, fehlte während der Nothilfeaktionen häufig. Hier liegt großes Entwicklungs- und Lernpotenzial für die Zivilgesellschaft. Ein umfassender Gruppenaustausch kann die Unterstützer_innen also einerseits vor mancher Enttäuschung bewahren. Vor allem aber kann dort auch immer wieder in Erinnerung gerufen werden, dass die Bedürfnisse der Geflüchteten im Zentrum stehen sollten, diese sich den Freiwilligen jedoch nicht immer auf Anhieb erschließen. Mit der Annäherung an die Lebenssituationen und Perspektiven der Newcomer_innen ist weiteres Krisenpotenzial verbunden, für das Gruppenreflexionen wiederum eine einordnende und verarbeitende Funktion eröffnen. Der Blick auf die Ehrenamtlichen schließt dabei keineswegs aus, dass unter Hauptamtlichen ebenfalls ein Bedarf besteht, sich in den Austausch zu begeben, die eigenen Annahmen und Positionen zu reflektieren und besonders angesichts krisenhafter Momente über Handlungsmöglichkeiten zu diskutieren. In der hauptamtlichen Arbeit sind diese Formate jedoch zumeist bereits stärker in den Arbeitsalltag integriert. Hier geht es vielmehr darum, diese weiterzuentwickeln, um deren Potenzial auszuschöpfen. Damit nähern wir uns bereits grundlegend organisatorischen Fragen, mit denen sich der folgende Abschnitt befasst. Grundsätzlich können die Lernprozesse weiter in die Gesellschaft hineinwirken. Die Akteur_innen erfahren beispielsweise, dass Empathie und daraus entstehende Hilfsangebote ein Ausgangspunkt für Begegnungen sind, Newcomer_innen ihr Leben aber langfristig selbstständig gestalten wollen. So kann Solidarisierung sich als der bessere Weg erweisen, um Teilhabe zu schaffen, indem gemeinsam etwas gegen strukturelle Ungleichheiten und die aktuelle Einwanderungspolitik getan wird. Diese Schritte des Um-, Neuund Andersdenkens können sich fortsetzen und haben in diesem Sinne zivilgesellschaftliches Potenzial, denn es etablieren sich neue Perspektiven und Wege, die im Weiteren (lokale) Politik und öffentliche Diskurse beeinflussen können.

Bedingungen einer nachhaltigen Projektarbeit Auf die Voraussetzungen für eine nachhaltige Projektarbeit gehen verschiedene Beiträge dieses Bandes mit spezifischen Schwerpunkten ein. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit sollen im Folgenden nun einige Aspekte aufgegriffen werden, die in den Interviews betont wurden. Eine erste Voraussetzung sind ausreichende Ressourcen. Um das Potenzial der Projekte tatsächlich auszuschöpfen und auf unterschiedliche Bedarfe einzugehen, ist eine längerfristige Projektdauer mit entsprechender Ressourcenausstattung

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wichtig. Anstelle von Einjahresfinanzierungen eröffnet eine längerfristige Projektdauer den Raum für Lernprozesse. Unterlaufen Fehler oder stellt sich der Bedarf anders dar als erwartet, lassen sich so Handlungsalternativen entwickeln. Größere Planungssicherheit durch längere Projektförderung ermöglicht außerdem, Ziele langfristig zu planen und umzusetzen. Gerade Projekte mit Modellcharakter, deren Arbeit sich über einen gewissen Zeitraum bewährt hat, bedürfen der Möglichkeit sich weiterzuentwickeln, indem sie langfristig mit entsprechendem Personal und Ressourcen ausgestattet werden. Aus Sicht der Praktiker_innen ist es unter den gegebenen hyperflexiblen Bedingungen schwierig, den Aufgaben gerecht zu werden. Prekäre Arbeitsbedingungen ohne beständige Perspektive wirken zudem abschreckend auf qualifizierte Fachkräfte. Eine zweite Voraussetzung ist die Öffnung und Anpassung der bürokratischen Strukturen. Die Praxis zeigt, dass Vernetzung und funktionierende Kooperationen zwischen Institutionen, Behörden und Projekten unerlässlich für erfolgreiche Arbeit und Umsetzung von Lernprozessen sind. Allerdings vollziehen sich grundlegende Änderungen, wenn überhaupt, nur sehr langsam: »Ja, Vernetzung passiert schon, es gibt in Niedersachsen verschiedenste Foren, die auch von den Ministerien aus gesteuert werden, wo wir gefragt werden, wo wir auch die Möglichkeit haben, uns einzubringen. Das passiert alles, ist ja auch richtig, dass es passiert, es ändert aber nichts daran, dass in der praktischen Umsetzung bei den Geflüchteten, die zur Zeit da sind, es sind ja auch viele junge Leute dabei, dass mir da viel zu wenig passiert.« (Interview ASB)

So wie der Leiter des ASB berichtet auch Karin Loos vom NTFN, dass ein Austausch mit Behörden stattfindet und zum Teil sehr pragmatisch und lösungsorientiert vorgegangen wird, während dies an anderen Stellen nicht der Fall ist. Vernetzung kann in Hinblick auf die Projektarbeit insofern Lernprozesse ermöglichen, steuern und fördern, als hier gemeinsam die Strukturen an die Bedingungen der modernen Einwanderungsgesellschaft angepasst werden. Voraussetzung für diese Vernetzung ist allerdings ein Problembewusstsein und Interesse an der Weiterentwicklung dieses Themas. Die Vernetzung mit anderen Initiativen und Projekten kann ein guter Ausgangspunkt sein, um gemeinsam Forderungen zu formulieren und an entsprechende Entscheidungsträger_innen weiterzutragen. Außerdem erhalten so kreative Ideen und funktionierende Lösungsansätze einen größeren Wirkungsradius. Auch hier sind Ansätze bereits erkennbar, aber gerade unter den neueren Initiativen besteht weiterhin großer Vernetzungsbedarf (vgl. Hamann/Karakayali et al. 2017: 20).

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Wege zu Solidarität und politischer Sichtbarkeit »Wenn wir hier glauben, in der ehrenamtlichen Flüchtlingsbegleitung alleine zu sein, dann muss man sich nur mal umgucken, es gibt ganz viele Ohnmächtige. Und wenn die mal anfangen in die Organisationen mit reinzugehen mit ihren ganz eigenen Erfahrungen, sich in politische Prozesse mit einklinken, kann das […] auch früher oder später, und wir wissen alle, dass man in der Politik einen langen Atem braucht, hoffentlich zu Veränderungen führen. Also ich würde es nur begrüßen.« (Interview Welcome United 03)

Paul Mecheril (2013: 43) beschreibt einen ähnlichen Punkt wie Barbara Paech im Kontext der kritischen Migrationsforschung als ein »Moment der Empörung«, das ausgelöst wird durch die Wahrnehmung von Benachteiligung und Ausschluss. Während er die Empörung als Grundlage für eine Praxis der Kritik im Rahmen wissenschaftlicher Erkenntnisprozesse ausmacht, kann sie auch ein Ausgangspunkt für Kritik und Widerstand in der Zivilgesellschaft sein und hier zur Politisierung der Akteur_innen beitragen. Aus diesem Blickwinkel betrachtet ist das Erleben von Ohnmacht und Krisen nicht unbedingt ein Phänomen, vor dem Aktive grundsätzlich bewahrt bleiben sollten. Vielmehr stellt sich die Frage, wie diese Krisen gerahmt und aufgefangen werden können, sodass sie nicht ins Leere laufen, sondern aus dem Moment der Empörung weitere Prozesse erwachsen, die zu einem Verschieben der erlebten Grenzziehungen führen. Eine Antwort darauf wurde mit der Praxis von Gruppenreflexionen und den verbesserten Rahmenbedingungen für die Projekte angeboten. Die damit verbundene Stärkung und Vernetzung ist wichtig, aber das oben angesprochene Krisenpotenzial reicht darüber hinaus, wenn es darum geht, »sich in politische Prozesse einzuklinken« (ebd.). Ein entsprechend transformativer Prozess deutet sich möglicherweise an, ist aber bislang noch wenig sicht- und hörbar. Die zivilgesellschaftlichen Akteur_innen handeln mit ihrem Engagement im weitesten Sinn politisch. Sie üben Kritik und entwickeln entlang ihrer Arbeit eigene politische Positionen weiter. Gleichwohl sie sich nicht als politische Bewegung vieler Beteiligter wahrnehmen, entfaltet sich in dieser Vernetzung eine demokratiefördernde Wirkung. »Ein aus unserer Sicht jedoch kaum ersetzbarer Effekt ihrer [der ehrenamtlichen, Anm. d. Verf.] Arbeit ist ihr Beitrag zur Deeskalation der flüchtlingspolitischen Debatte und ihre demokratiefördernde Grundlagenarbeit. Diese gesellschaftspolitische Dimension ihres Engagements können Initiativen stärker in den Vordergrund stellen und sich zu ihrem Beitrag öffentlich bekennen.« (Hamann/Karakayali et al. 2017: 20)

Diese Handlungsempfehlung für die Zivilgesellschaft aus der Studie des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung zielt in eine ähnliche Richtung: die eigene Position, die Ziele und Ideen sollen in die

Vernet zung und Solidarität gegen die Ohnmacht

Öffentlichkeit. Damit dieses öffentliche Bekenntnis Gehör findet, müssen die Akteur_innen das Potenzial einer solchen Öffentlich- und damit Sichtbarwerdung aber zunächst erkennen. Insofern bildet auch dafür die Vernetzung eine wichtige Grundlage. Auf diese Weise können aus Helfer_innen solidarische Mitstreiter_innen für eine andere Einwanderungspolitik werden, und auch länger in diesem Feld tätige Akteur_innen, die bereits Forderungen formuliert haben, könnten breitere Unterstützung erhalten.

K rise als C hance ? Rückblickend auf den Ausschnitt der vergangenen zwei Jahre und die Unterstützungsarbeit im Kontext von Flucht und Migration habe ich verschiedene Rückschläge, Frustrationen und Krisen beschrieben. Dabei wurde auch deutlich, dass krisenhafte Momente und Ohnmacht in der Arbeit mit Geflüchteten nahezu unvermeidbar sind und es nicht das Ziel sein sollte, diese komplett zu verhindern. Schließlich zeugen sie auch davon, dass die Distanz, die privilegiertere Menschen häufig gegenüber den prekären Lebensumständen der Marginalisierten wahren, hier verringert oder sogar überwunden wird. Dieser Schritt erscheint notwendig, um ungerechte Verhältnisse unmittelbar wahrzunehmen. Entscheidend ist es also weniger, der Krise vorzubeugen, als diese gemeinsam zu erleben und sich solidarisch zusammenzuschließen auf der Suche nach Räumen der Bewegung und Veränderung. Hier setzen die Angebote für Ehrenamtliche an. Es werden Workshops, Reflexionsrunden und Supervision organisiert, und so entstehen Formate, in denen das Wissen über die Hintergründe der alltäglichen Fragen und Herausforderungen vermittelt wird. Deutlich wird auch, dass die Konsequenzen der Krisen in der Arbeit mit Geflüchteten erst mit politischen Veränderungen nachhaltig abgefedert werden können. Die aus der Krise entstehenden Lernprozesse können auf individueller Ebene fruchtbar sein, für die eigene Ausrichtung und Positionierung. Wenn die Vernetzung gelingt, können sie auch gesellschaftliches Transformationspotenzial bergen. Die Zivilgesellschaft befindet sich damit in einer offenen Entwicklung. Krisen sind nur dann negativ zu bewerten, wenn sie das Ende des Engagements, das Verebben der Energie und den Rückzug aus dem Arbeitsfeld bedeuten. Offene Fragen, Zweifel, Kritik und Wut können aber unter entsprechenden Bedingungen auch Antrieb sein für neue Erkenntnisse und Anstoß geben für Veränderung. Wenn es den ehren- und hauptamtlich Engagierten gelingt, ihre Kritik laut hörbar zu äußern, können sie gesellschaftliche Transformationen unterstützen – so wäre die Krise ein Neubeginn.

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Sophie Reimers

Q uellenverzeichnis Amjahid, M. (2017): Unter Weißen. Was es heißt, privilegiert zu sein. Berlin, Hanser. Arndt, S., Eggers M., Kilomba, G. et al. (2009): Mythen, Masken und Subjekte. Kritische Weißseinsforschung in Deutschland. Münster, Unrast. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge [BAMF] (2016): Asylgeschäftsstatistik Dezember 2016. URL: www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Down​ loads/Infothek/Statistik/Asyl/201612-statistik-anlage-asyl-geschaeftsbe​ richt.pdf?__blob=publicationFile Der Tagesspiegel 13.03.2017: Die extreme Willkommenskultur hatte nicht nur die Flüchtlinge im Blick. URL: www.tagesspiegel.de/politik/soziologiearmin-nassehi-die-extreme-willkommenskultur-hatte-nicht-nur-diefluechtlinge-im-blick/19437274.html DIE ZEIT 05.09.2016: Illusionslos glücklich. URL: www.zeit.de/gesellschaft/ zeitgeschehen/2016-09/willkommenskultur-fluechtlinge-rueckblick-muen​ chen-ehrenamtliche Hamann, U., Karakayali, S. et al. (2016): Pionierinnen der Willkommensgesellschaft. Strukturen und Motive des Engagements für Geflüchtete. Berliner Institut für Migrationsforschung. URL: https://www.bim.hu-berlin.de/me​ dia/Studie_EFA2_BIM_11082016_V%C3%96.pdf Hokema, V. (2017): ASB-Notunterkunft Sumte. Schiffauer, W./Eilert, A./Rudloff, M.: So schaffen wir das. Eine Zivilgesellschaft im Auf bruch. 90 wegweisende Projekte mit Geflüchteten. Bielefeld, transcript, 38–40. Mecheril, P. (2013): Migrationsforschung als Kritik? Spielräume kritischer Migrationsforschung. Wiesbaden, Springer VS. PRO ASYL (Hg.) (2015): Wir treten ein! Für Flüchtlingsschutz. Gegen Dublin III. Frankfurt a. M., Förderverein PRO ASYL e. V.

I ntervie w verzeichnis Renate Feichtinger, Ehrenamtliche und Vorstandsmitglied Frauen helfen Frauen Beckum e. V., und Marina Völlmecke, Mitarbeiterin in der Frauenberatungsstelle Beckum, 15.02.2017. Karin Loos, Geschäftsführerin Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen e. V. (NTFN), Hannover, 13.02.2017. Jens Meier, Geschäftsführer Arbeiter-Samariter-Bund (ASB), Hannover-Land/ Schaumburg, 07.02.2017. Sonja Niggemeier, Projektleiterin »Willkommen für Flüchtlinge«, Kölner Freiwilligen Agentur e. V., 14.02.2017.

Vernet zung und Solidarität gegen die Ohnmacht

Barbara Paech, Ehrenamtliche Welcome United 03, Potsdam Babelsberg, 26.01.2017. Annika Reich, Geschäftsleitung und Ehrenamtliche Wir Machen Das (WiMD), Berlin, 16.01.2017.

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Ankommen statt Durchreise Geflüchtete im ländlichen Raum Vinzenz Hokema

Seit ab 2014 die Zahlen von Menschen, die in Deutschland Zuflucht suchen, in die Höhe geschnellt sind, leben viele von ihnen in Großstädten und Ballungsräumen. Um Obdachlosigkeit zu vermeiden, wurden Geflüchtete massenhaft und zwangsweise in Gemeinschafts- und Notunterkünften untergebracht. Eine Verweildauer in den Unterkünften von bis zu sechs Monaten ist in den meisten Bundesländern Pflicht, und die dezentrale Unterbringung in Wohnungen stellt noch immer eine Ausnahme dar. Die zentralen Unterbringungsformen lassen jedoch grundlegende Menschenrechte außer Acht und führen zu einem enormen Leidensdruck auf eine bereits übermäßig belastete Bevölkerungsgruppe (Daphi 2016: 35 ff.; Kreuzer 2017; Muy 2016). Und auch nachdem Geflüchtete aus den Unterkünften ausziehen dürfen, finden viele von ihnen in Ballungsräumen keine Wohnung und verbringen viele weitere Monate unter unzureichenden Bedingungen.1 Notunterkünfte (NUK) können dadurch erst mit starker Verzögerung wieder aufgelöst werden (Katz, Noring, Garrelts 2016: 18; Schleiermacher 2017). In der Vergangenheit kam es dadurch in den Städten zu einer Unterversorgung von Geflüchteten. Geflüchtete werden jedoch nicht nur Großstädten zugewiesen, sondern mittels des Königsteiner Schlüssels auch Kleinstädten und Dörfern (Katz, Noring, Garrelts 2016: 17 ff.). Während dies in strukturstarken ländlichen Gebieten eine gute Lösung darstellen kann, sind die Rahmenbedingungen der Integration in strukturschwachen Abwanderungsgebieten schlecht: Alteingesessene ziehen weg, Wohnungen stehen leer, Arbeitsstellen fehlen, die lokale Infrastruktur und der ÖPNV sind nur gering ausgebaut, Bildungseinrichtun1 | Hierfür gibt es unterschiedliche Gründe: Neben rechtlichen und bürokratischen Hürden spielen auch Vorbehalte und Diskriminierung durch Vermieter_innen eine Rolle (vgl. Foroutan et al. 2017). Erschwerend tritt hinzu, dass Geflüchtete mit anderen finanzschwachen Bevölkerungsgruppen um den knappen günstigen Wohnraum in den Städten konkurrieren (Aumüller, Daphi, Biesenkamp 2015: 59).

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gen sind nur schwer zu erreichen. Hinzu kommt, dass viele Migrierende Städte bevorzugen, da sie dort Anschluss an Herkunftsnetzwerke oder Familienmitglieder haben, dort mehr Menschen mit Migrationshintergrund leben und sie dadurch größere Anonymität sowie eine breitere Auswahl an spezifischen Angeboten wie Sprachkursen vorfinden (Katz, Noring, Garrelts 2016: 22). Im ländlichen Raum sind diese Anknüpfungspunkte und Angebote kaum vorhanden. Allerdings bietet der ländliche Raum auch Chancen, die Geflüchteten in Städten oft versperrt sind: Hier gehört dezentrale Unterbringung in eigenen Wohnungen schon zu Beginn des Aufenthalts zum Standard. Hinzu kommt eine größere soziale Einbettung in die Nachbarschaft, die in Städten kaum denkbar ist. Für diesen Beitrag wurden vier kleine ländliche Gemeinden untersucht, die seit 2014 einen überwiegend positiven Umgang mit Geflüchteten gefunden haben. Die untersuchten Gemeinden zeigen, wie die Vorzüge des ländlichen Raumes genutzt werden können, wie die Schwierigkeiten gestaltet und wie positive Voraussetzungen für den Zuzug von Geflüchteten geschaffen werden können. Die Untersuchung wurde mittels leitfadengestützter Experteninterviews durchgeführt und soll die folgende Fragestellung beleuchten: Was sind Erfahrungswerte aus ländlichen Gemeinden, in denen eine Win-win-Situation beim Zuzug von Geflüchteten geschaffen werden konnte? Hierfür werden wichtige Bedingungen für das Zustandekommen dieser positiven Verläufe gesammelt. Zunächst werden die vier untersuchten Gemeinden vorgestellt und verglichen.

D ie untersuchten G emeinden Alle vier Gemeinden sind klein, haben jedoch unterschiedlich viele Einwohner_innen und stellen unterschiedliche Siedlungstypen dar. Das Dorf Golzow hat knapp 850 Einwohner_innen und ist Sitz der Einheitsgemeinde; Rechberg mit 1300 Einwohner_innen ist Stadtteil einer Mittelstadt; Amt Neuhaus besteht als Einheitsgemeinde aus mehreren Dörfern mit insgesamt 4800 Personen; Kappeln ist mit seinen 8700 Einwohner_innen schon Kleinstadt. Die Gemeinden nahmen zwischen zwölf und 700 Geflüchtete auf. Im Folgenden werden die Gemeinden im Einzelnen vorgestellt.

Die Rettung der Schule: Golzow Golzow ist eine Gemeinde mit 850 Einwohner_innen im brandenburgischen Oderbruch, die auf eigenen Wunsch mehrere syrische Familien aufnahm. Das Dorf liegt zwischen Berlin und dem polnischen Kostrzyn. Die Gemeinde hat mit Abwanderung und dem Verlust von Arbeitsplätzen zu kämpfen und hat

Ankommen statt Durchreise

vor einigen Jahren mit dem Dorfladen die letzte Einkaufsmöglichkeit verloren. Der nächste Supermarkt liegt sieben Kilometer entfernt, das nächste Krankenhaus 30 Kilometer in Frankfurt (Oder). Eine Grundschule und eine Arztpraxis sind im Ort vorhanden, ebenso wie Restaurants und eine kleine Bäckerei. Zur Oberschule müssen die Schüler_innen zehn Kilometer nach Seelow pendeln, zur Arbeit fahren viele Golzower_innen nach Frankfurt (Oder) und ins 80 Kilometer entfernte Berlin. Busverbindungen sind selten, allerdings existiert eine stündliche Bahnverbindung nach Berlin. Mit Bus, Zug oder Auto dauern die Fahrten nach Berlin und Frankfurt (Oder) zwischen 30 und 90 Minuten. Viele der gemeindeeigenen Wohnungen stehen leer, die Kaufpreise für Häuser sind niedrig. Bürgermeister Frank Schütz hat sich zum Ziel gesetzt, der Vernachlässigung der ländlichen Gebiete durch die Politik, der Abwanderung und dem scheinbar unaufhaltsamen Strukturwandel etwas entgegenzusetzen: Er will die Möglichkeiten des ländlichen Raumes und der ländlichen Lebensweise stärken. Vor diesem Hintergrund hatte Schütz im Januar 2015 die Idee, Geflüchtete nach Golzow zu holen: Einerseits, um einen humanitären Beitrag zur Aufnahme von Geflüchteten zu leisten; andererseits, um neue Einwohner_innen und Mieter_innen für die leeren Wohnungen zu gewinnen. Diese Aufnahme sollte gut vorbereitet werden und mit den Alteingesessenen ausführlich diskutiert werden. Zwei Monate später jedoch teilte das Schulamt mit, dass die neue erste Klasse an der Golzower Grundschule nicht zustande kommen würde, da zwei Anmeldungen zu wenig eingegangen seien. Um die Schule zu erhalten, bot Schütz der Erstaufnahmeeinrichtung des Landes Brandenburg in Eisenhüttenstadt an, mehrere Familien mit einschulungsfähigen Kindern in Golzow aufzunehmen. In Zusammenarbeit mit dem ArbeiterSamariter-Bund (ASB) und nach Gesprächen mit der Ausländerbehörde, dem Sozialamt und dem Landrat wurden im Mai 2015 zwei Familien angewiesen, nach Golzow zu ziehen, später noch eine dritte. So kamen genug Anmeldungen für die erste Klasse zusammen: Die Schule war gerettet. Wegen der Dringlichkeit konnten die Alteingesessenen nur noch informiert werden. Zwar äußerten im Rahmen einer Bürgerversammlung einige Stimmen Bedenken und Ängste. Das Dorf und die Gemeindevertretung stellten sich jedoch hinter den Zuzug. Das überzeugende Argument sei gewesen, dass »die Schule, die dem Ort ja ein Gesicht gibt, eine Identität, nicht mehr fehlen darf«, so Schulleiterin Gabriela Thomas (Interview Schütz/Thomas). Allerdings blieb auch eine gewisse Ablehnungshaltung bestehen. Obwohl die überwiegende Mehrheit der Golzower_innen inzwischen überzeugt ist, lässt etwa ein Fünftel der Alteingesessenen die Geflüchteten diese Ablehnung spüren (Interview Taha et al.). Auch in der Schule kam es zu Hänseleien, die daraufhin intensiv pädagogisch aufgearbeitet wurden. Zu einer offenen Opposition oder gar Gewalt gegen Geflüchtete kam es indessen nicht.

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Die Geflüchteten finden in Golzow umfassende Unterstützung. Neben Schütz und Thomas sind auch Lehrer_innen, Nachbar_innen und zahlreiche Ehrenamtliche ansprechbar. Der Golzower Dorfverein organisierte für die Kinder und Eltern eine Sprachförderung, bei administrativen Angelegenheiten unterstützte der ASB, der über sechs Monate hinweg wöchentlich vor Ort war und Fahrdienste zu Ämterterminen anbot. Untergebracht wurden die Geflüchteten in regulären Wohnungen in Golzow. Zu den Nachbar_innen besteht ein weitgehend guter Kontakt. Alle drei geflüchteten Familien stammen aus Syrien. Als sie in Golzow ankamen, wurden sie von Schütz und Thomas mit Blumen, Geschenken und einem herzlichen Willkommen überrascht. Die Geflüchteten integrierten sich sehr proaktiv in das Dorfleben, sie legen Wert auf Offenheit, Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft und pflegen Kontakte zu Nachbar_innen. Mit dieser zupackenden Haltung und dem Wunsch, etwas zurückzugeben, haben sie viele Alteingesessene für sich gewinnen können. Einige der Geflüchteten möchten mindestens bis zum Ende der sechsjährigen Grundschulzeit in Golzow bleiben, da sie die sozialen Beziehungen schätzen. Alles weitere hängt vom Arbeitsmarkt ab, wobei manche sich auch das Pendeln in umliegende Städte vorstellen können (vgl. Interview Taha et al.). Nachdem die Aufnahme einzelner Familien geglückt war, sollte im Oktober 2015 zusätzlich eine Notunterkunft für 150 Menschen in der Sporthalle der Gemeinde eingerichtet werden. Dagegen regte sich jedoch im gesamten Dorf Widerstand, vor allem mit der Argumentation, dass so viele Menschen nicht ausreichend begleitet werden könnten und das Dorf mit dieser Aufgabe überfordert sei. Die Gemeindeversammlung bat darum, die Entscheidung zurückzunehmen, woraufhin der Landkreis das Vorhaben aufgab. In Golzow zeigt sich ein großer Gestaltungswille: Die starken Herausforderungen, denen Golzow sich hinsichtlich Wirtschaft, Arbeitsplätzen, Verkehr und Bildungsinfrastruktur ausgesetzt sieht, führen nicht zu einer Resignation, sondern zu dem Wunsch, die Gemeinde zu stärken. Die Gemeinde ergreift die Chance, neue Einwohner_innen zu gewinnen und hat in diesem Zusammenhang auch die hohen Flüchtlingszahlen 2015 für sich genutzt. Besonders durch die Initiative des Bürgermeisters und der Schulleiterin, gestützt durch die Gemeindeversammlung, wurde dadurch im strukturschwachen ländlichen Raum ein integrationsfreundliches Klima geschaffen.

Erfolgreiche Krisenbewältigung: Amt Neuhaus Sumte ist ein Dorf von 102 Einwohner_innen, in dem auf Weisung des Landes Niedersachsen eine Notunterkunft für bis zu 1000 Geflüchtete entstehen sollte. Das Dorf liegt in der Gemeinde Amt Neuhaus, die aus sieben Ortschaften östlich der Elbe in Niedersachsen besteht und 4800 Einwohner_innen hat.

Ankommen statt Durchreise

Während der deutschen Teilung gehörte die Gemeinde zu Mecklenburg-Vorpommern, nach der Wiedervereinigung schloss sie sich wieder Niedersachsen an. Sie bleibt jedoch durch die Elbe vom neuen Bundesland abgeschnitten, die nächste Brücke liegt in über 30 Kilometern Entfernung. Der öffentliche Nahverkehr der Gemeinde ist mit nur wenigen Verkehrsrouten täglich schwach entwickelt. Zwischen den Ortsteilen fehlt der ÖPNV völlig. Mit dem Auto dauert eine Fahrt nach Lüneburg, Uelzen oder Schwerin jeweils über eine Stunde. Die Gemeinde kämpft mit Abwanderung, Arbeitsplatzverlust, schrumpfendem Gewerbe, und ist zudem verschuldet. Auch Qualifizierungsmöglichkeiten und Bildungsangebote sind dünn gesät. Viele Einwohner_innen pendeln nach Lüneburg und sogar ins 100 Kilometer entfernte Hamburg zur Arbeit. In Sumte sorgte Mitte Oktober 2015 eine Nachricht für große Aufregung: In diesem winzigen Dorf sollten binnen zwei Wochen 1000 Geflüchtete unterkommen – ein Zehnfaches der Einwohnerzahl. Die Notunterkunft (NUK) war für die Dauer eines Jahres in einem leerstehenden Bürokomplex am Sumter Ortsrand vorgesehen. Der Arbeiter-Samariter-Bund Niedersachsen übernahm Aufbau und Leitung der Unterkunft. Die Aufnahmesituationen in Golzow und Amt Neuhaus stellen sich dadurch gegensätzlich dar: Während in Golzow alteingesessene Akteur_innen aktiv wurden, da die Aufnahme eine Notwendigkeit für das Dorf darstellte, erhielt Amt Neuhaus eine sehr kurzfristige Zuweisung durch das Land Niedersachsen. Die Notunterkunft war zunächst äußerst unpopulär und wurde vor allem als Belastung wahrgenommen, die es wieder loszuwerden galt. Entsprechend rau war die Stimmung auf der Bürgerversammlung in Amt Neuhaus. Ängste vor Gewalt, sexuellen Übergriffen und Kriminalität wurden vorgetragen. Letztendlich setzte das Landesinnenministerium die NUK durch, allein die maximale Kapazität der Unterkunft wurde auf 750 Menschen herabgesetzt. In Reaktion auf die ablehnende Haltung vieler Alteingesessener vernetzten sich alle Stellen der Gemeinde und des Kreises, die mit Geflüchteten befasst sind. In den ersten Monaten kamen das Team der Unterkunft, die Bürgermeisterin von Amt Neuhaus, der Ortsvorsteher von Sumte und Vertreter_innen der Polizei und des Landkreises zu täglichen Besprechungen zusammen. Hier wurden alle Aufgaben und Probleme besprochen und gemeinsam nach Lösungswegen gesucht. Außerdem verfolgte der ASB eine Strategie der Partizipation. Alteingesessene wurden zu einer Führung durch die Räumlichkeiten der NUK vor deren Eröffnung eingeladen, ebenso zu Veranstaltungen wie der Weihnachtsfeier in der Unterkunft. Von den über 70 Arbeitsstellen in der Küche, der Waschküche, dem Reinigungsteam, der Kleiderkammer, der Krankenstation, der Fahrbereitschaft, der Kinderbetreuung und der Schule der Unterkunft gingen 44 an lokale Alteingesessene. Damit wurden in Amt Neuhaus nicht nur dringend benötigte Arbeitsplätze geschaffen, sondern man gewann auch Multiplikator_innen, die nach Feierabend eine Innensicht der

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Unterkunft weitergeben konnten. So konnten Gerüchte und Falschinformationen wirkungsvoll bekämpft werden. Ebenso wichtig war, dass die Bewohner_innen der NUK und Ehrenamtliche eingebunden wurden. Einige Geflüchtete erhielten Ein-Euro-Jobs, in deren Rahmen sie gemeinsam mit den hauptamtlichen Mitarbeiter_innen die Versorgung der Unterkunft gewährleisteten. Neben der Möglichkeit eines geringen Zuverdienstes konnten sie so die Lebensumstände in der Unterkunft, wie zum Beispiel den Essensplan, aktiv mitgestalten und kamen gleichzeitig in engen Kontakt mit Einheimischen. Zusätzlich wurden ehrenamtliche Deutschkurse in der Unterkunft organisiert, und von Hauptamtlichen und Geflüchteten eine Kindertagesbetreuung und eine Camp-Schule für zwei Altersstufen angeboten. Hinzu kamen eine Schischa-Bar, Gebetsräume und eine Sozialberatung. Die Ausstattung der NUK lag damit weit über dem Durchschnitt. Nichtsdestotrotz begünstigten die Umstände Konflikte, wie der Mangel an Privatsphäre, das Zusammenleben einer großen Anzahl von Menschen auf engstem Raum und die lange Verweildauer von bis zu sechs Monaten (vgl. Kreuzer 2017; Muy 2016; Pieper 2011). Die Stimmung in der Unterkunft war dennoch grundlegend positiv. Zwischen vielen Angestellten und Geflüchteten entstand ein herzliches, persönliches Verhältnis, einige Mitarbeiter_innen nahmen sogar Geflüchtete bei sich zu Hause auf. Umgekehrt wurden viele Geflüchtete ehrenamtlich aktiv, etwa als Übersetzer_innen; einige von ihnen kamen selbst nach ihrem Auszug regelmäßig in die NUK, um weiter zu unterstützen. Dies war zu großen Teilen der hochprofessionellen Arbeit des ASB und dem Leiter der Unterkunft, Jens Meier, zuzuschreiben. Meier betonte, er lege Wert auf einen respektvollen, persönlichen Umgang mit den Geflüchteten und eine gute Mischung von Distanz und Nähe, und bekomme von den Bewohner_innen wiederum Respekt und Wohlwollen zurück (Interview Notunterkunft Sumte). Auch in der Gemeinde Amt Neuhaus veränderte sich die Stimmung gegenüber den Geflüchteten grundlegend. Aus Angst wurde Zustimmung, viele Leute profitierten direkt von der NUK, und Vorurteile konnten korrigiert werden. Dafür sind vor allem die Partizipations- und Kommunikationsstrukturen verantwortlich; doch es trugen dazu auch Einzelpersonen wie Dirk Hammer bei: Der örtliche Geschäftsmann veröffentlichte seine persönliche Sicht auf die Situation in einem damals vielgelesenen Blog und bot damit vielen Alteingesessenen positive Interpretationsmöglichkeiten an (vgl. Hammer 2016). Als die Unterkunft im August 2016 wie angekündigt geschlossen wurde, reagierten viele Alteingesessene darauf mit Bedauern. Unabhängig von der Notunterkunft in Sumte leben schon seit Jahrzehnten immer wieder Geflüchtete in Amt Neuhaus, im Durchschnitt etwa zehn Personen. Die Aufnahmequote von bis zu 110 Geflüchteten wurde 2016 erstmals ausgeschöpft. Diese Zahl war aber schon im Februar 2017 wieder auf

Ankommen statt Durchreise

70 zurückgegangen – viele Geflüchtete waren abgewandert. Die Verbliebenen erhalten auch außerhalb der Unterkunft ehrenamtliche Unterstützung, etwa bei Ämterangelegenheiten, Arztbesuchen oder Begleitungen nach Lüneburg. Hinzu kommt die Kleiderkammer, in der Geflüchtete und Nichtgeflüchtete ehrenamtlich arbeiten. Allerdings existieren viele Angebote für Geflüchtete wie Sprach- und Integrationskurse nur in Lüneburg. Zusätzlich fehlen vor Ort Arbeits- und Qualifizierungsmöglichkeiten. Vergleichsweise lange bleiben Familien mit Kindern, da die Gemeinde großen Wert auf gute Bildungsangebote für Kinder legt. Amt Neuhaus beweist, dass eine stark ablehnende Stimmung gegenüber Geflüchteten in Zustimmung und breite Unterstützung verwandelt werden kann, wenn rechtzeitig ein gelungenes Krisenmanagement eingerichtet wird. Der Schlüssel dazu liegt in einer engen Vernetzung von Institutionen und der Partizipation von Geflüchteten und Alteingesessenen. Gleichzeitig zeigt sich an der Gemeinde, wie wenig nachhaltig die Zuweisung von Geflüchteten in strukturschwache Gemeinden bisher war, und wie schnell die Zugewiesenen wieder abwandern.

Eine aktive Zivilgesellschaft: Kappeln Kappeln ist eine Kleinstadt von 8700 Einwohner_innen an der Ostseeküste in Schleswig-Holstein. Abwanderung ist auch hier zum Problem geworden, da Ausbildungsmöglichkeiten und Arbeitsplätze nur mehr eingeschränkt vorhanden sind. Der öffentliche Nahverkehr ist schwach ausgebildet: Der Bus in die umliegenden Mittelstädte braucht ein bis zwei Stunden, und auch mit dem Auto sind die Städte Schleswig, Eckernförde und Flensburg nur binnen 30 beziehungsweise 50 Minuten zu erreichen. Zugleich ist die Kleinstadt ein Zentrum für die Region, was etwa die ärztliche Versorgung, Schulen, Ämter oder die Kirchenstruktur betrifft. Ab Herbst 2014 begann eine vermehrte Zuweisung von Geflüchteten, bis Ende 2016 zogen 220 Geflüchtete zu. Das Ordnungsamt hatte schon im Januar 2014 alle Vereine, Verbände, Kirchengemeinden und politischen Parteien in Kappeln zu einem Runden Tisch eingeladen, um die Versorgung der Geflüchteten abzustimmen. Die Koordinierungsstelle für Flüchtlingsarbeit bei der Stadt wurde ausgebaut, aus der Frauenfachberatungsstelle Frauenzimmer Kappeln e. V. ging die Flüchtlingshilfe Kappeln hervor, und auch die Kirche wurde aktiv, etwa indem Begegnungen ermöglicht und Räume zur Verfügung gestellt wurden. Sportvereine, Feuerwehr und ein Orchester warben um die Beteiligung von Geflüchteten. Bei einer Bürgerversammlung konnten das Ordnungsamt und die Polizei Ängste zerstreuen und eine positive Stimmung zum Zuzug etablieren. Interkulturelle Erfahrungen werden in Kappeln schon seit 2003 in Form eines interkulturellen Festes thematisiert und gefeiert.

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Das Kappelner Ordnungsamt mietete Wohnungen an, die wiederum für Geflüchtete bereitgestellt wurden. Die Geflüchteten wohnten also von Anfang an in eigenen Wohnungen, versorgten sich im täglichen Leben selbst und hatten auch von Anfang an das Recht, die Gemeindewohnungen zu verlassen und eine eigene Wohnung zu mieten. Die Anmietung von Wohnraum erfolgte dezentral in der Stadt und im Umland, vorrangig in Kappeln-Ellenberg, einem Vorort mit mehrstöckigen Reihenhäusern, der bis zur Schließung des Kappelner Marinestützpunktes zehn Jahre zuvor von vielen Militärangehörigen und ihren Familien bewohnt wurde. Darüber hinaus wurde ein umfangreiches Begleitungsprogramm auf die Beine gestellt: Das Ordnungsamt schaffte es, Pat_innen an fast alle Geflüchteten zu vermitteln. Die etwa 90 Ehrenamtlichen unterstützten sie über Monate hinweg bei Ämterangelegenheiten, Besorgungen, Mobilität oder allgemeinen Fragen. Außerdem konnten Geflüchtete die Angebote der Kleiderkammer, der Tafel, einer integrativen Fahrradwerkstatt und von ehrenamtlichen Deutschkursen nutzen. Die Flüchtlingshilfe Kappeln bietet zudem Beratungen und Übersetzungen an und unterstützt bei komplexen bürokratischen Vorgängen oder bei juristischen Schritten  – etwa gegen einen nachteiligen Asylstatus oder Bescheide des Jobcenters. Die Flüchtlingshilfe und die Koordinierungsstelle entlasten Pat_innen und regen sie zum Austausch untereinander an und unterstützen Geflüchtete, die selbst keine_n Pat_in haben. Zusätzlich sind verschiedene soziale Dienste aktiv, Geflüchtete können an Berufsschulen Deutschkurse belegen und Schulabschlüsse machen. Einige Geflüchtete wurden als Dolmetscher_innen angestellt, andere sind ehrenamtlich in Kappeln aktiv. Einige Aktive kritisieren jedoch, dass die Arbeit nicht reibungslos verlaufe. So sind einige der Stellen chronisch unterfinanziert, wie etwa die Flüchtlingshilfe, die deshalb auf prekäre Arbeitsverhältnisse ausweicht und auf Ehrenamt angewiesen ist. Die Versorgung einiger Geflüchteter ist zudem nicht ausreichend. So bestritt etwa das Jugendamt wochenlang seine Zuständigkeit für unbegleitete minderjährige Geflüchtete und begann erst auf massiven Druck der Flüchtlingshilfe, die Jugendlichen sozialpädagogisch zu unterstützen. Das örtliche Jobcenter unterließ es, Dolmetscher_innen zu beschäftigen, und verweigert immer wieder Leistungen wie Bustickets, die Asylsuchenden nach dem Gesetz zustehen. Als Kleinstadt und Zentrum für die Region sticht Kappeln aus den untersuchten Gemeinden heraus. Während durch die eingeschränkte Bildungsund Arbeitsmarktsituation seit 2015 etwa 90 Geflüchtete wieder abgewandert sind, ist eine ähnlich große Zahl von Geflüchteten aus umliegenden Gemeinden nach Kappeln gezogen. Doch trotz der generellen Abwanderungstendenz weist der Ort nur einen geringen Wohnungsleerstand auf, derzeit wird sogar ein Neubaugebiet ausgewiesen. Durch den Mangel an Wohnraum fällt es nicht nur den Geflüchteten schwer, eine Wohnung zu finden. Für Kappeln stellt

Ankommen statt Durchreise

sich also nur teilweise eine Strukturschwäche dar: Während die Situation von Verkehr, Arbeit und Bildung Menschen zur Abwanderung oder zum Pendeln drängen, bestehen vor Ort durchaus Verdienstmöglichkeiten in Tourismus, Pflege und Bootsbau. An Kappeln wird vor allem deutlich, welch umfangreiche Aufgaben eine aktive Zivilgesellschaft stemmen kann, wenn staatliche Instanzen und Zivilgesellschaft an einem Strang ziehen. Die hohe Kooperationsbereitschaft zwischen den verschiedenen Akteur_innen und die jahrelang gepflegte, positive Einstellung zu Zuzug und Interkulturalität mögen der Grund sein, dass sich in Kappeln keine Gegnerschaft zu Geflüchteten herausgebildet hat und dass auch zögerliche Teile der Verwaltung dazu bewegt werden konnten, die Aufnahme von Geflüchteten positiv zu gestalten.

Unterstützung aus der Minderheit: Rechberg Rechberg ist ein Dorf von 1300 Einwohner_innen, in dem seit Mai 2016 eine geflüchtete Familie und mehrere einzelne Geflüchtete leben. Das Dorf ist ein Stadtteil der Mittelstadt Schwäbisch Gmünd in Baden-Württemberg, die mit ihren knapp 60.000 Einwohner_innen sieben Kilometer entfernt liegt und tagsüber mehrmals stündlich binnen 20 Minuten per Bus erreicht werden kann. Die örtliche Verwaltung ist klein, die meisten Dienstleistungen werden in Schwäbisch Gmünd angeboten. Eine vierjährige Grundschule und ein Kindergarten existieren im Ort, doch zu weiterführenden Schulen müssen die Kinder pendeln. Arbeitsstellen gibt es vor Ort kaum und auch eine Einkaufsmöglichkeit existiert nicht mehr. Rechberg hat sich zu einem Wohndorf entwickelt, das nach Schwäbisch Gmünd ausgerichtet ist und nur ein schwach ausgeprägtes Selbstverständnis hat. Obwohl eine ganze Reihe von aktiven Vereinen besteht und regelmäßig öffentliche Feste gefeiert werden, beschreiben einige Bewohner_innen das öffentliche Leben als gering ausgeprägt. Das Dorf gilt als Naherholungsgebiet; wegen seiner landschaftlichen Schönheit sind Bauplätze und Häuser schnell verkauft und der Wohnungsleerstand ist niedrig. Der Wanderungssaldo ist knapp positiv. 2014 verbreitete sich das Gerücht, dass angesichts der ansteigenden Zuweisungen von Geflüchteten nach Schwäbisch Gmünd auch nach Rechberg Geflüchtete ziehen sollen. Gemäß des »Gmünder Wegs« der Unterbringung und Integration sollen dabei Geflüchtete möglichst dezentral in eigenen Wohnungen wohnen statt in Gemeinschaftsunterkünften (Pabst 2015; Schwäbisch Gmünd 2017; Lidzba 2017). Die Triebfeder für die Arbeit mit Geflüchteten in Schwäbisch Gmünd ist Oberbürgermeister Richard Arnold. Er sieht die Versorgung von Geflüchteten als humanitäre Pflicht, denn »da kommen jetzt Leute ohne alles, die Hilfe brauchen« (Interview Zeller-Klein). Er forderte die Gmünder Stadtverwaltung und die Ortsvorsteher_innen auf, Wohnungen zu

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finden, ein positives Klima in den Ortsteilen zu schaffen und die Kindergärten, Schulen und Vereine auf die Aufnahme von Geflüchteten einzustimmen. Die Ortsvorsteherin Anne Zeller-Klein widmete sich der Aufgabe mit großem Engagement, erstellte ein Kataster mit leerstehenden Wohnungen und nahm Kontakt zu den Eigentümer_innen auf. Sie versicherte sich des Rückhalts im Ortschaftsrat und verzichtete angesichts der einhelligen Zustimmung auf eine Bürgerversammlung. Obwohl seitens der Rechberger_innen keine offene Kritik geäußert wurde, schienen einige Bewohner_innen den Zuzug und die Initiative der Ortsvorsteherin stillschweigend abzulehnen. Anne Zeller-Klein fand schließlich ein leerstehendes Einfamilienhaus am Dorfrand, für das das Integrationsamt Schwäbisch Gmünd eine zehnköpfige syrische Familie vorschlug. Die Stadt Gmünd mietete das Haus im Mai 2016, und die Ortsvorsteherin organisierte die Ankunft der Familie und stellte den Kontakt mit den Unterstützer_innen her. Aus Rechberg kamen reichlich Sachspenden. Die acht Kinder zwischen 20 und zwei Jahren wurden in den Rechberger Kindergarten, die vierjährige Grundschule in Rechberg oder Vorbereitungsklassen in Gmünd eingegliedert, eine von ihnen schaffte bereits den Sprung ins Gymnasium. Schule und Kindergarten in Rechberg leisteten wertvolle Unterstützungsarbeit. Unter vielen Nachbar_innen herrschte zunächst eine beobachtende, abwartende bis ängstliche Haltung, um die Zugezogenen einschätzen zu lernen. Die Ängste verflogen jedoch schnell, und die Familie wurde bald als freundlich, würdevoll und tüchtig wahrgenommen. In der Nachbarschaft bildete sich nach der Ankunft der Geflüchteten ein enges Netzwerk von ehrenamtlichen Unterstützer_innen. Dabei wurden besonders Anita Siegfried-Zeller und ihr Mann Albrecht aktiv, die in der direkten Nachbarschaft wohnen. Das Ehepaar ist schon seit Jahrzehnten in der Unterstützung von Geflüchteten aktiv. Beide verfügen über langjährige interkulturelle Erfahrung und nehmen eine wichtige Brückenfunktion ein. Einerseits sind sie selbst aktiv. Albrecht Zeller unterstützt die Familie bei administrativen Angelegenheiten, während Anita Siegfried-Zeller vor allem bei Begleitungen zu Ärztinnen und Ärzten, zum Einkaufen oder im Kontakt zu den verschiedenen Schulen der Kinder tätig wird. Gleichzeitig sind beide Ansprechpartner_in für andere Unterstützer_innen und stellen Kontakt zu weiteren Ansprechpartner_innen her, etwa in der Grundschule, und zu den Ehrenamtlichen, die wöchentlich zur Hausaufgabenhilfe oder zur Kinderbetreuung kommen. Die persönliche ehrenamtliche Unterstützung in Rechberg ist damit sehr umfassend: Etwa zehn Personen in Rechberg stehen in direktem stützenden Kontakt zur Familie. Die gesamte Unterstützung wird ohne institutionelle Begleitung oder finanzielle Mittel geleistet. Die bestehenden zivilgesellschaftlichen Institutionen in Rechberg spielten dagegen keine Rolle: Weder engagierte sich die Kirchengemeinde, noch erfolgte eine Eingliederung in die ortsansässigen Vereine. Der Fußballverein ist

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zwar für die Aufnahme von Geflüchteten offen, hat aber ein so hohes Spielniveau, dass der älteste Sohn der syrischen Familie schnell wieder aufgab. Die Geflüchtetenhilfe in Rechberg erinnert deshalb vor allem an Nachbarschaftshilfe. Der Kontakt zwischen Alteingesessenen und Geflüchteten basiert weitgehend auf dem Engagement von Einzelpersonen. Wirft man einen Blick auf den Umgang mit Einwanderung in der Vergangenheit, fällt Folgendes auf: Noch in den 1970er- und 1980er-Jahren erlebten viele Zugezogene ihre Eingliederung als schwierig. Die Familie Zeller zog Mitte der 1980er nach Rechberg, ist evangelisch und schickte ihre Kinder nicht in die örtliche Grundschule, was zu einer randständigen Position führte. Auch Manfred und Ulrike Köhnlein sind in den 1970ern zugezogen. Aus ihrer Perspektive dauerte es 25 Jahre, bis sie anerkannt wurden. Allerdings bleibt ihre Position in der Gemeinde bis heute eher randständig. Rechberg scheint tendenziell Zugezogene zunächst mit Argwohn zu betrachten. Die Gründe hierfür mögen auf die Nachkriegszeit zurückgehen, als in die bestehende Gemeinde von 800 Einwohner_innen zusätzlich 600 Kriegsflüchtlinge zogen, die in der Folgezeit stark ausgegrenzt wurden. Das Ehepaar Köhnlein war seit den 1980ern Pionier in der Geflüchtetenarbeit in Schwäbisch Gmünd und nahm über die Jahre um die 30 Geflüchtete bei sich auf. Das brachte ihnen offene Ausgrenzung einiger Rechberger_innen und Drohanrufe ein. Noch nach der Jahrtausendwende wurden sie in Graffitis beschimpft. Ob Unterstützer_innen von Geflüchteten noch heute an Status verlieren können, ist nicht klar: »Als es damals darum ging, dass [unsere Nachbarin] das Haus zur Verfügung stellt, haben wir gedacht, das ist ganz schön mutig in so einem Dorf. […] Meine Erwartungshaltung war, da muss man sich ganz schön behaupten. […] Meine Sorge war, dass man die Leute ablehnt, dass man die Leute, die damit zu tun haben, versucht zu meiden. Ich habe mich auch bei Fantasien erwischt, dass die das Haus hier anstecken. Dass sich eine Stimmung breitmacht, dass wir [als Familie] noch weiter in die Isolation kommen. […] Aber das sind viele Sachen, die in meinem Kopf stattgefunden haben, und ich kann nicht sagen, dass sie sich bewahrheitet haben.« (Interview Siegfried-Zeller)

Die Ausgrenzung gegenüber Zugezogenen ist in den vergangenen zwei Jahrzehnten merkbar schwächer geworden: »Ich glaube, [der Gegensatz zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen] hat sich etwas abgenutzt. [Ulrike Köhnlein] hat ihre Verbindungen, sie ist sicher nicht im ganzen Dorf von allen wertgeschätzt, aber sie kann hier leben« (Interview Siegfried-Zeller). Was die Köhnleins angestoßen haben, habe jetzt »eine Art Blütezeit erreicht«, Geflüchtetenarbeit sei zum »Common Sense« geworden  – die Gegner_innen »haben sich dem Zeitgeist ergeben« (Interview Ulrike Köhnlein). Auch Manfred Köhnlein bestätigt die passive Haltung der Gegner_innen in

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Rechberg: »Man geht an [den Geflüchteten] vorbei, man geht nicht mehr gegen sie vor. [Aber] eine Moschee zu bauen wäre etwas Anderes«. Von dem alten Konflikt ist eine Spaltung des Dorfes in mehrere Kommunikationsräume übriggeblieben: Unterstützer_innen und Gegner_innen sprechen nicht miteinander (Interview Ulrike Köhnlein). Die negative oder passive Haltung einer gewissen Zahl von etablierten Rechberger_innen hat jedoch kaum zu nachteiligen Situationen für die Geflüchteten geführt. Ganz im Gegenteil haben sich offenbar einige Zugezogene und die Geflüchteten untereinander integriert. Siegfried-Zellers Stellung in der Nachbarschaft hat sich durch ihre Rolle als Hauptansprechpartnerin der syrischen Familie verbessert. Sie hatte auf diese Weise erstmals engeren Kontakt mit Menschen, denen sie jahrzehntelang nur auf der Straße begegnet war. Rechberg zeigt exemplarisch, dass auch eine Minderheit von Unterstützer_innen eine integrationsfördernde Umgebung erzeugen kann. Die Zustimmung und Unterstützung der Mehrheitsgesellschaft ist hier nicht notwendig, um den Geflüchteten ein erstes Ankommen zu ermöglichen. Eine ausreichende Zahl von Unterstützer_innen fängt die Passivität der Zivilgesellschaft auf. Die angenommenen Gegner_innen in Rechberg werden in ihrer Opposition nicht aktiv.

B edingungen für einen nachhaltigen Z uzug Die vier Gemeinden zeigen, dass sich die Akzeptanz von Fluchtmigration sehr unterschiedlich entwickelt hat. Während in Golzow Migration offen als Chance betrachtet wird, um den Niedergang des Dorfes aufzuhalten, hinken die anderen Gemeinden hinter solch strategischem Vorgehen hinterher. Ein Eigeninteresse am Zuzug wurde teilweise erst im Nachhinein herausgearbeitet, und in Rechberg unterblieb dies scheinbar gänzlich. In der interkulturellen Öffnung ist hingegen Kappeln Vorreiter, während in den anderen Gemeinden mehr oder weniger starke Stimmungen gegen Geflüchtete entstanden und teilweise wieder eingedämmt wurden. Gleichzeitig akzeptierten und unterstützten immer Teile der Alteingesessenen den Zuzug. In allen Fällen reichte die Zahl und das Engagement der zustimmenden Alteingesessenen aus, um den Geflüchteten genügend Anschlussmöglichkeiten zu bieten. Die Gemeinden sind den Herausforderungen der Aufnahme und Integration also auf unterschiedlichste Weise gerecht geworden. Die personellen, institutionellen und historischen Voraussetzungen sind sehr unterschiedlich, weshalb auch die Reaktionen und Strategien unterschiedlich ausfielen. Alle Gemeinden eint, dass sie die Aufnahmesituation positiv gestalteten und den Zuzug zum Erfolg machen konnten. Welche Erfahrungswerte lassen sich aus diesen lokalen Erfahrungen ableiten?

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Besonderheiten des ländlichen Raums Zunächst muss man sich vergegenwärtigen, dass für den ländlichen Raum andere Herangehensweisen entwickelt werden müssen als für den städtischen Raum. Wie eingangs erwähnt, sind die Strukturen und Angebote der Geflüchtetenhilfe in (Groß-)Städten vielfältiger. In Gemeinden mit größerer Verwaltung sind auch eine stärkere Spezialisierung des Personals in Aufgabengebiete und eine größere und professionalisiertere Zivilgesellschaft zu erwarten. Dadurch kann sich die Arbeit institutionalisieren und konzeptionell komplexer werden. In kleinen Gemeinden dagegen müssen die wenigen Gemeindemitarbeiter_innen alle Aufgaben übernehmen. Dadurch erlangt die individuelle Ausgestaltung des Amtes einen größeren Einfluss, die vor Ort lebenden Personen gestalten die Situation mehr als die vor Ort existierenden Institutionen.2 Viele Aufgaben werden stärker in die Zivilgesellschaft, in das Ehrenamt und in die persönliche Auseinandersetzung verlagert, etwa die Arbeit von Gleichstellungsbeauftragten. Dörfliche und kleinstädtische Gemeinden sind tendenziell durch lang dauernde personale Beziehungen charakterisiert: »Kleine Örtchen sind ja immer sehr familiär, da erkennt man jeden immer schon von weitem« (Interview Bürgermeisterin Amt Neuhaus). Dadurch entsteht Übersichtlichkeit und eine Face-to-face-Dynamik, die sich aus persönlichen Netzwerken speist. Anders als in Städten gibt es ein Gefühl dafür, wer dazugehört und wer neu zugezogen ist. Bei Zuwanderung kann dies auch zu einer Ausschlussdynamik in Form von Etablierte-Außenseiter-Konflikten führen. Die Etablierten verschließen sich gegen die Zugezogenen und schließen auch jene Etablierten aus, die mit den Zugezogenen in Kontakt treten (Elias/Scotson 1994). Rechberg ist ein Beispiel für diese Dynamik, die bei der Geflüchtetenaufnahme nach dem Zweiten Weltkrieg stark war, sich über die Jahrzehnte abschwächte und gegenüber den Geflüchteten des Jahres 2015 auf niedrigerem Niveau wieder aufflammte. Um Etablierten-Außenseiter-Konflikte zu vermeiden, sollten Gemeinden daher stärker für offene Kommunikation und partizipative Ansätze eintreten. Ist dies der Fall, kann wie in Amt Neuhaus die enge persönliche Interaktion dazu genutzt werden, eine vertiefte Integration zwischen Alteingesessenen und Geflüchteten herzustellen. Ob in der Nachbarschaft, in Schulen, Vereinen oder anderen relevanten Lebensbereichen: Der persönliche Kontakt kann dem Risiko von Intergruppenkonflikten vorbeugen.

2 | Beispielsweise sind in Kappeln vergleichsweise viele Personen und Institutionen mit der Aufnahme der Geflüchteten befasst, während dieselben Aufgaben in Golzow von einem deutlich kleineren Kreis getragen werden.

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Bei dörflichen Gemeinwesen in strukturschwachen Regionen kommt neben dem bloßen Eindruck von Fremdheit auch die eigene Verunsicherung hinzu. Strukturschwäche kann das Gefühl des Neides und des Abgehängtseins verstärken: ›Die anderen bekommen alles – wir nichts.‹ Gleichzeitig wird aus der Geschichte des Mangels ein Nullsummenspiel konstruiert, bei dem ein Mehr für die eine Gruppe ein Weniger für eine andere bedeutet. In Golzow wurden diese Ängste geäußert: »Die kommen und nehmen uns etwas weg« (Interview Schütz/Thomas). Andererseits können Mangel, Strukturschwäche und der demografische Druck auch eine strategische Öffnung hin zu neuen Einwohner_innen bedingen (vgl. Schader-Stiftung 2014: 5). Die öffentliche Meinung kann im ländlichen Raum stärker beeinflusst werden. Es kommt also darauf an, die Situation zu gestalten.

Die Bedeutung von Win-win-Situationen Golzow macht vor, wie humanitäre Notwendigkeiten mit Eigeninteressen einer Gemeinde gekoppelt werden können: »Es geht hier nicht mehr nur darum, zu helfen, kein reines Helfersyndrom, sondern auch um eine Gegenseitigkeit. Da werden zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Ein Geben und ein Nehmen« (Gabriela Thomas, Schulleiterin in Golzow, Interview Schütz/Thomas). Um eine positive Einstellung der Alteingesessenen zu verstärken, sollten die positiven Aspekte des Zuzugs hervorgehoben werden. Das fällt mitunter leicht, da diese Aspekte für manche Gemeinden bei der Entscheidung, Geflüchtete aufzunehmen, eine wichtige Rolle spielt. Doch auch in den anderen Gemeinden ist es hilfreich, den Nutzen-Aspekt hervorzuheben, um auch eher »asylkritisch« eingestellte Alteingesessene zu erreichen. Es geht darum zu zeigen, dass über die Ansiedlung von Geflüchteten nachhaltige Win-win-Situationen hergestellt werden können, von denen sowohl Geflüchtete wie Alteingesessene profitieren. Win-win-Situationen sind das Gegenteil eines Nullsummenspiels, bei dem der Nutzen der Einen auf Kosten der Anderen erfolgt. Der Wir-IhrGegensatz wird damit geschwächt. In den hier diskutierten Gemeinden ist dies auf verschiedene Weise geglückt. Die Geflüchteten schätzen zunächst den Zugang zu privatem Wohnraum und damit die Möglichkeit einer menschenwürdigen Unterkunft. Viele empfinden darüber hinaus die Übersichtlichkeit als positiv: Wege in der Gemeinde sind kurz und schnell bekannt. Probleme wie die immer wieder auftretenden Orientierungsschwierigkeiten von Geflüchteten in Großstädten stellen sich nicht. Die Anzahl der Personen ist übersichtlich und persönliche Beziehungen können schnell aufgebaut werden. Oft reichte es, die neuen Nachbar_innen bei einigen Aktiven vorzustellen, um den Grundstein für eine Vernetzung zu legen. Oft treten die Vermieter_innen oder einzelne Nachbar_innen als Kontaktpersonen in Erscheinung. Dies bestätigt Halima Taha, eine Geflüchtete in

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Golzow, die sich vor Ort »eine neue Familie aufgebaut« hat und es sich nicht vorstellen kann, ihre Heimat ein zweites Mal zu verlieren, nachdem sie schon einmal alles zurückgelassen hat (Interview Taha et al.). Diese Faktoren können dazu führen, dass schneller ein Gefühl von Ruhe und Sicherheit aufkommen kann als in Städten. Die regelmäßigen Kontakte erleichtern ebenfalls das Sprachenlernen. Gleichzeitig bieten sich auch den Alteingesessenen Vorteile. Zunächst setzt der Zuzug der Abwanderung etwas entgegen. Unter anderem können dadurch der Wohnungsleerstand verringert und Mieteinnahmen für Privatpersonen oder die Gemeinde generiert werden. Die Bürgermeisterin in Amt Neuhaus, Grit Richter, bestätigt dies: »Ich freue mich über jeden Einwohner, der hier mehr ist. Demografischer Wandel, Einwohnerschwund, das haben wir hier alle zu beklagen« (Interview Bürgermeisterin Amt Neuhaus). Zweitens bieten sich ganz handfeste finanzielle Vorteile. Die Gemeinden erhalten pro Einwohner_in finanzielle Zuschüsse, sodass die Kosten der Infrastruktur auf mehr Einwohner_innen verteilt werden können. Für die Dauer des Asylverfahrens erhält die Gemeinde außerdem eine Pauschale vom Bundesland. Schulen und Kitas können vor dem Rückbau bewahrt werden. Außerdem können finanzielle Förderungen für Flüchtlingshilfe und die Finanzierung von Stellen beantragt werden, was in strukturschwachen und dünn besiedelten Gegenden umso stärker zum Tragen kommt. Drittens wirken sich die Geflüchteten positiv auf die Altersstruktur aus, »Zuzug ist wünschenswert, wir freuen uns über jede junge Familie, die die Grundschule stützt« (Interview Zeller-Klein). Auch das Gemeindeleben wird dadurch aufgewertet: »An Schwindsucht leidende« Vereine können sich auf diese Weise neue Aktive erschließen, so Manfred Köhnlein (Interview; s. a. Schiffauer, Eilert, Rudloff 2017: 200 ff.). All dies war vor allem in Golzow und Amt Neuhaus wichtig: In beiden Gemeinden tragen die Geflüchteten dazu bei, die Abwanderung aufzuwiegen, Mieteinnahmen zu generieren, die Infrastruktur zu schützen und Arbeitsplätze zu generieren oder zu erhalten. In beiden Gemeinden förderten diese Faktoren die Akzeptanz des Zuzugs und überzeugten Gegner_innen. In Rechberg und Kappeln trat ein anderer Aspekt in den Vordergrund. Zwar tragen Geflüchtete auch hier dazu bei, den demografischen Wandel abzufedern, doch besteht weder starker Wohnungsleerstand, noch ist die Infrastruktur bedroht oder wurde durch den Zuzug eine größere Zahl von Stellen geschaffen. Eine große Zahl von Einwohner_innen empfindet dennoch auch hier den Zuwachs an Diversität und Interkulturalität als Bereicherung. In Kappeln wird seit 15 Jahren jährlich das Stadtfest Interkulturelle Woche gefeiert. Auch in Golzow wird Interkulturalität geschätzt: »Durch diese Familien wird man hinterfragt, man bekommt einen neuen Blick. Also, ich empfinde [die Ge-

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flüchteten] als Geschenk«, so Bürgermeister Frank Schütz (Interview Schütz/ Thomas). Schließlich berichten Alteingesessene aus allen Gemeinden von einer vertieften sozialen Integration. Die Kontakte untereinander haben sich durch die Geflüchtetenarbeit verbessert und viele lernten sich bei der gemeinsamen Unterstützung von Geflüchteten erst richtig kennen. Aus Briesen, einer Gemeinde in Ostbrandenburg, heißt es: »Die Leute kamen auf mich zu und sagten, sie hätten seit Jahren die Dorfgemeinschaft nicht mehr so erlebt« (MdB Martin Patzelt bei einer Podiumsdiskussion an der Europa-Universität Viadrina am 18.05.2017). Den hier vorgestellten Gemeinden ist es gelungen, den Vorteil, den beide Seiten aus der Anwesenheit der Geflüchteten in der Kommune ziehen, deutlich zu machen: Ohne Geflüchtete keine Schule in Golzow, ohne die Golzower Einladung kein Wohnort für Geflüchtete. Ohne die persönliche Öffnung für geflüchtete Nachbar_innen in Rechberg kein neues Zuhause, ohne die Geflüchteten kein vertiefter nachbarschaftlicher Austausch.

Erste Öffnung der Alteingesessenen Win-win-Situationen herzustellen ist eine Kunst, und benötigt Zeit und gehörige Anstrengungen. Denn zunächst müssen die einzelnen Interessen und Meinungen zutage treten. Um eine enge Abstimmung innerhalb der Bevölkerung zu erreichen und die Bedenkenträger_innen, Gegner_innen oder gar rechte Strukturen zu erkennen und auszugleichen, muss ein Kommunikations- und Diskussionsprozess unter den Alteingesessenen begonnen und in eine positive Richtung gelenkt werden. Die Bedürfnisse von Gegner_innen sollten gehört werden, um nicht nur die Integration der Geflüchteten zu verbessern, sondern zur gesamtgesellschaftlichen Integration beitragen zu können. Dafür müssen sich genügend Akteur_innen klar positionieren, sich miteinander vernetzen und gegenseitig stützen, sodass eventuelle Gegner_innen nicht zu viel Raum einnehmen können. »Alleine schafft man das nicht«, so Grit Richter (Interview Bürgermeisterin Amt Neuhaus). Eine wichtige Grundvoraussetzung ist außerdem, dass die Verantwortlichen und das Netzwerk der Unterstützer_innen klar Position beziehen und alle Informationen, Pläne und Gegebenheiten klar offengelegt werden, so Richter: »Zusammensetzen, schauen, wie man die Sache löst. Da kann man schon sehen, welche Gruppierungen es gibt. Manchmal weiß man ja gar nicht, was aus dem Untergrund auftaucht. Aber da merkt man das. Man muss sich Mitstreiter suchen. Und immer Präsenz zeigen und Stellung beziehen« (ebd.). Klassische Mittel dafür sind Bürgerversammlungen, wiederholte persönliche Gespräche und die Partizipation möglichst vieler verschiedener Menschen in Diskussionen und Entscheidungsprozessen.

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Die sondierte Stimmung muss anschließend gesteuert werden. In Amt Neuhaus begannen mit der Bürgerversammlung die Bemühungen, die starke öffentliche Ablehnung der Notunterkunft einzuhegen. Und selbst in einer positiven Ausgangssituation wie in Kappeln war die Versammlung wichtig: »Damit wurden viele Ängste vor der Ungewissheit genommen. Die Versammlung kann eine neutrale Stimmung in eine positive verwandeln, und eine negative Stimmung in eine neutrale« (Olga Lang, Interview Ordnungsamt Kappeln). Dass Geflüchtete zuziehen würden, wurde einzig in Rechberg nicht offen und offiziell diskutiert, die Besprechung beschränkte sich auf den Ortschaftsrat. Die Ablehnung in der Gemeinde vergrößerte sich durch die fehlende öffentliche Diskussion möglicherweise und es trat nicht zutage, wie stark die Ablehnung oder Zustimmung tatsächlich ist: »In Rechberg gibt es keine offene Opposition. Gegenwind gibt es nur hinter der Fassade des Privaten, nicht in der Öffentlichkeit«, so Ulrike Köhnlein. Dadurch wurde eine Möglichkeit zur offenen Auseinandersetzung im Dorf verpasst.

Öffnung gegenüber Geflüchteten Eine positive Grundstimmung im Ort ist notwendig, um die Offenheit der Alteingesessenen gegenüber den Geflüchteten zu erhöhen. Wenn ihnen nicht einige Türen geöffnet werden, dürften Zuziehende kaum eine Chance haben, sich einen Platz in einem Dorf zu erarbeiten und »anzukommen«. Im Idealfall entsteht eine positive Mehrheitsmeinung zu Geflüchteten. Zentraler als eine Zustimmung aller Alteingesessenen zur Aufnahme von Geflüchteten ist aber anscheinend, dass ein ausreichend großes positives Umfeld für Geflüchtete entsteht. Auf diese Weise kann verhindert werden, dass die Gegner_innen die öffentliche Meinung dominieren, Unterstützer_innen einschüchtern oder gar zu Gewalt greifen. Zu derart negativen Entwicklungen kam es in keiner der untersuchten Gemeinden. Neben der engen Kommunikation zwischen Alteingesessenen ist es auch wichtig, Möglichkeiten für persönlichen Kontakt zwischen Alteingesessenen und Geflüchteten zu schaffen. Die Beispiele aus Rechberg zeigen, dass die persönlichen Kontakte die Basis des Zusammenlebens darstellen. Aus diesem Grund empfiehlt Ulrike Köhnlein aus Rechberg anderen Gemeinden: »Ladet sie in euer Haus ein, zum Kochen, die Geflüchteten laden einen ja auch sehr gerne zum Essen ein. Lasst die Kinder zusammen spielen. Baut Berührungsängste ab, fragt nach ihnen und ihren Familien und zeigt Interesse.« (Interview) Das kann über informelle Treffen zwischen Alteingesessenen und Geflüchteten im Rahmen eines Café International geschehen, ein regelmäßiges offenes Begegnungsformat bei Kaffee und Kuchen, das in Schwäbisch Gmünd schon zu Beginn der Geflüchtetenarbeit in den 1980er-Jahren geschaffen wurde.

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Darüber hinaus bringen gemeinsame Projekte wie Fahrradwerkstätten, internationale Gärten oder ehrenamtliches Engagement Menschen zusammen, ebenso die gemeinsame Arbeit in Ein-Euro-Jobs, Praktika und regulären Arbeitsstellen. Dazu wurden unbezahlte Praktika und Ein-Euro-Jobs für Geflüchtete beim Hausmeister der Stadtverwaltung eingerichtet, ebenso im Filmmuseum und der Schule Golzow und in der Versorgung der NUK Sumte, sowie ein Minijob beim ASB in Golzow. In Kappeln leiten ehrenamtliche Geflüchtete einen Teil der Sitzungen der Frauen- und Mädchengruppen des Frauenzimmer e. V. und verschiedene Institutionen beschäftigen Geflüchtete als Dolmetscher_innen. Die persönlichen Beziehungen können die Anonymität aufbrechen, Informationen übereinander vermitteln und Verständnis und Vertrauen füreinander schaffen. Um solch komplexe Abläufe schnell und effizient zu absolvieren, ist es hilfreich, professionelle, erfahrene und zupackende Akteur_innen aus einer Vielzahl von Sektoren einzubinden. Die jeweilige Gemeindeverwaltung ist in allen untersuchten Gemeinden eine pragmatische und erfahrene Akteurin. Genauso wichtig sind Schulen, Vereine, Unternehmen und aktive Einzelpersonen. Als die Flüchtlingshilfe Kappeln aus dem Team des Frauenzimmer e. V. heraus gegründet wurde, konnte die langjährige Erfahrung im Umgang mit Ratsuchenden, Behörden und komplexen Problemen, ebenso wie Erfahrung im Auf bau eines schlagkräftigen und ausdauernden ehrenamtlichen Teams direkt auf die Unterstützung von Geflüchteten übertragen werden. In Golzow und Amt Neuhaus trug die Erfahrung des ASB in der sozialen und humanitären Arbeit wesentlich zum Gelingen bei. Der evangelische Kindergarten in Kappeln unterstützt die Integration, indem eine Sprachtherapeutin mit Kindern und Eltern arbeitet und so die Kernkompetenzen der Kita erweitert. Wenn auf diese Weise schnelle Etappenziele und positive Entwicklungen erreicht werden, kann dies wiederum positiv auf die Gegner_innen ausstrahlen. So geschah es in Golzow: »Diese Kinder haben die Schule gerettet. Auch Eltern, die mal Hakenkreuze an die Bushaltestelle geschmiert haben, haben gemerkt, dass es geht. Ich glaube, dass bei dieser ganzen Sache, an dieser ganzen Sache, und mit diesem Jahr, nicht nur das Kollegium gewachsen ist, und die Kinder selber, sondern auch die Eltern.« (Gabriela Thomas, Interview Schütz/Thomas)

Unterstützung für Geflüchtete Neben der Arbeit an der öffentlichen Meinung sind konkrete Hilfestellungen für die Geflüchteten unerlässlich. Nach der Ankunft müssen sie eine intensive persönliche Begleitung erfahren – ein Prozess, der oft weit über ein Jahr dauert und erhebliches Frustrationspotenzial birgt. Die zahlreichen administrativen Hürden und Abläufe rund um Flucht, Grundsicherung, Anerkennung von

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Zertifikaten, Sprachkurse, Weiterbildungen, Arbeitsplatzsuche etc. sind ohne Unterstützung kaum zu leisten. So begleitete die Flüchtlingshilfe Kappeln eine ganze Reihe von Geflüchteten bei gerichtlichen Vorgängen, etwa bei Klagen gegen nachteilige Aufenthaltsstatus oder beim Erstreiten von notwendigen Leistungen. Die Koordinierungsstelle für Flüchtlingsarbeit in Kappeln berät potenzielle Arbeitgeber_innen von Geflüchteten. In Rechberg dagegen musste ein Ausgleich mit Schulen entstehen, da mehrere geflüchtete Mädchen sich weigerten, an Sportunterricht und Klassenfahrten teilzunehmen. Christiane Schwerdhöfer von der Flüchtlingshilfe Kappeln empfiehlt daher anderen Gemeinden: »Auf keinen Fall die Leute alleine lassen, das wäre fatal. Sie brauchen ganz viel Unterstützung. Es muss ja nicht jemand ständig Profis haben. Ehrenamtliche reichen schon und sind eine Hilfe bei Fragen, beim Ausfüllen, bei der Wohnungssuche etc.« (Interview Flüchtlingshilfe Kappeln) Die meisten Gemeinden verlassen sich dabei vor allem auf ehrenamtliche Begleitung. In Kappeln waren die meisten Pat_innen über viele Monate hinweg regelmäßig ansprechbar. Die Koordinierungsstelle spricht potenzielle Pat_innen an, wenn möglich aus der direkten Nachbarschaft. In Rechberg reichte ein von der Ortsvorsteherin einberufenes Treffen zwischen Geflüchteten und potenziellen Ehrenamtlichen aus, um Kontakte zu knüpfen und Aufgaben zu identifizieren; anschließend organisierten die Ehrenamtlichen ihre Arbeit untereinander selbst. Nicht nur bei administrativen Themen, auch beim Spracherwerb können Geflüchtete von Ehrenamtlichen unterstützt werden, ergänzend zu offiziellen Sprachkursen. So wurde in der Notunterkunft in Sumte ehrenamtlich Deutschunterricht angeboten, und auch nach der Schließung der NUK gab es weiterhin ehrenamtliche Kurse. In Golzow wurden sowohl die Eltern als auch die Kinder ehrenamtlich unterstützt, sodass die Kinder von Anfang an voll am Unterricht teilnehmen konnten und sehr schnell Deutsch lernten. Auch ehrenamtliche Hausaufgabenhilfe für Schüler_innen kann dabei helfen, den Einstieg in das Schulsystem zu erleichtern.

Unterstützung für Ehrenamtliche Die Ehrenamtlichen benötigen für ihre Arbeit ebenfalls Unterstützung, da die Begleitung oft sehr intensiv ist.3 Ein Ausbrennen der Ehrenamtlichen kann mit mehreren Maßnahmen vermieden werden: Zunächst mit Schulungen in 3 | Die ehrenamtliche Unterstützung von Geflüchteten verlangt viel Zeit und bringt Ehrenamtliche in unangenehme Auseinandersetzungen mit Behörden und Rechtslagen, die sie zumeist nicht gewöhnt sind, wie etwa als ungerecht empfundene Asylentscheidungen oder Bescheide des Jobcenters. Sie birgt daher ein erhöhtes Überlastungsrisiko (vgl. Reimers in diesem Band).

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asyl-, aufenthalts- und sozialrechtlichen Fragen sowie idealerweise zur interkulturellen Sensibilisierung und Reflexionen zu Alltagsrassismus. Anita Siegfried-Zeller etwa absolvierte in Schwäbisch Gmünd einen sehr ausführlichen Kurs von insgesamt 25 Stunden zu verschiedensten fluchtrelevanten Themen. Die meisten Kurse sind deutlich knapper gehalten, und erfüllen dennoch ihren Zweck. In Kappeln wurde für diese Arbeit zudem ein Leitfaden zur Geflüchtetenarbeit mit Ratschlägen, Abläufen und Kontaktinformationen bereitgestellt. Zweitens können Ehrenamtliche in der Reflexion ihrer Arbeit gestützt werden. Dies kann ihnen dabei helfen, adäquate Verhaltensweisen zu entwickeln oder Rückhalt zu finden, wenn ihr Engagement in ein schlechtes Licht gerückt wird (vgl. Gesemann, Roth 2016: 15; Karakayali, Kleist 2016: 5). Für den Austausch untereinander organisiert die Koordinierungsstelle in Kappeln monatlich ein Pat_innentreffen; auf Nachfrage wird auch Supervision angeboten. Darüber hinaus können auch wöchentliche, informelle Pat_innentreffen initiiert werden. Zusätzlich sind die Koordinierungsstelle und die Flüchtlingshilfe Kappeln für Fragen der Pat_innen ansprechbar, sei es zu komplexen bürokratischen Abläufen, sei es zur Motivierung, oder um Fragen der Beziehung zwischen Pat_innen und Geflüchteten zu klären. Wenn beispielsweise Geflüchtete selbstständiger werden und eigene Entscheidungen treffen, müssen Pat_innen oft lernen loszulassen und die Entscheidungen der Geflüchteten zu respektieren, so Olga Lang von der Koordinierungsstelle für Flüchtlingsarbeit (Interview Ordnungsamt Kappeln). Drittens ist es wichtig, dass Ehrenamtliche auch einzelne Aufgaben abgeben können und die Arbeit auf viele Schultern verteilt wird. Dafür sollten sie sich entweder untereinander vernetzen oder Hauptamtliche beziehungsweise erfahrene Ehrenamtliche zur Seite gestellt bekommen. Beratungsstellen können die Ehrenamtlichen in ihrem Vorgehen begleiten, ihnen schwierige administrative Vorgänge abnehmen und im Krankheitsfall Vertretung organisieren. In Rechberg etwa kontaktiert Siegfried-Zeller andere Ehrenamtliche, wenn sie selbst für eine Begleitung verhindert ist. Die Zahl der Menschen, die ihr Ehrenamt aufgrund von Überlastung ganz aufgeben, kann dadurch verringert werden. In Kappeln sind durch die Unterstützung auch drei Jahre nach Beginn des Pat_innenschaftsprogramms weiterhin 80 Prozent der Paten und Patinnen aktiv.

Management von Diversität und kultureller Heterogenität Die untersuchten Gemeinden vermitteln den Eindruck, in Bezug auf Migration recht unerfahren zu sein. Tatsächlich leben nur wenige Menschen mit Migrationshintergrund in den untersuchten Gemeinden. Der Anteil von People of Color an der Einwohnerschaft ist marginal und erhöhte sich durch die Geflüchteten merklich. Bei genauerem Hinsehen aber fällt auf, dass seit Jahrzehnten Menschen mit Migrationshintergrund vor Ort leben. Die meisten von

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ihnen stammen aus der Europäischen Union; hinzu kommen einige Spätaussiedler_innen und deutschstämmige Geflüchtete, die im Kontext des Zweiten Weltkrieges zuwanderten. Alteingesessene betrachten diese Gruppen in den Interviews fast durchgängig als Teil des Eigenen und markieren sie nicht als Menschen mit Migrationshintergrund. Doch auch türkische Immigrant_innen und ihre Nachkommen, denen üblicherweise eindeutig ein Migrationshintergrund zugeschrieben wird, leben in allen Gemeinden. Allerdings fallen sie vielen Gesprächspartner_innen erst auf Nachfrage hin ein. Zugezogene, die nicht unter eine weiße und europäische Zuschreibung fallen, etwa Geflüchtete aus den 1990er-Jahren oder Menschen mit türkischem Hintergrund, scheinen zu weit vom Selbstbild der Befragten entfernt zu sein, um auf Anhieb als (Bevölkerungs-)Teil des eigenen Dorfs wahrgenommen und beschrieben zu werden. Das deutet darauf hin, dass sich die kleinen Gemeinden selbst nicht als interkulturelle Gemeinden sehen, sondern sich als weiß-deutsch imaginieren. Migrant_innen werden so unterteilt in diejenigen, die bereits dazugehören und diejenigen, die symbolisch außerhalb des Selbstbildes stehen. Geflüchtete sind dabei klar als neu und fremd markiert, und zwar nicht nur durch die oft dunklere Hautfarbe und symbolisch wie politisch aufgeladene Kleidungsstücke wie das Kopftuch, sondern auch weil sie im Fokus der Öffentlichkeit stehen. Ihr Zuzug wird folglich zu einem wichtigen Thema. Stehen Geflüchtete dadurch unter einem höheren Assimilationsdruck?

Assimilationsdruck und Diskriminierung Viele Alteingesessene in den untersuchten Gemeinden zeigten starke Erwartungshaltungen gegenüber den Zugezogenen. Um in der Gemeinschaft akzeptiert zu werden, mussten diese sich zunächst als positive Einwohner_innen beweisen.4 Dabei sind die meisten Geflüchteten bisher positiv aufgefallen. In allen Gemeinden übernahmen sie ein Ehrenamt oder fanden Arbeit, gingen auf Alteingesessene zu und zeigten sich insgesamt hilfsbereit. Ihre Freundlichkeit hat einen wesentlichen Beitrag dazu geleistet, dass sich die Stimmung in den Gemeinden positiv entwickelte. Verena Zeller, Tochter von Anita Siegfried-Zeller: »Krass, dass die [Geflüchteten] so unter Beobachtung stehen. Jetzt ist der nett und winkt. Aber was, wenn der nicht winken würde, die mit sich selbst zu tun hätten. Oder sie an manchen Stellen am Anfang etwas anderes gemacht hätten. Dann hätte das auch ganz schnell ganz anders aussehen kön4 | Aussagen aus der Nachbarschaft wie etwa »Das sind ja ganz normale Menschen« oder »Der kleine [Nachbarsjunge] grüßt immer so schön« (Interview Siegfried-Zeller) legen nahe, dass sich die Nachbar_innen auf negative Eigenschaften der Geflüchteten eingestellt hatten und sich diese Erwartungshaltung erst durch das vorbildliche Verhalten der Geflüchteten revidierte.

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Vinzenz Hokema nen. Das waren jetzt hier positive Erfahrungen. So entstand das Bild, dass die auch ganz normal und nett sind. […] Je nachdem, wie die sich dann verhalten. Wenn man Schwierigkeiten hat oder sich auch mal in der Familie streitet, dann kann das schnell auch mal ganz anders aussehen.« Anita Siegfried-Zeller: »Das war auch meine Sorge. Insofern bin ich dankbar, dass die so achtsam sind, auch von sich aus, und unauffällig. Ich hatte so Vorstellungen, wenn da dann Chaos mit der Mülltrennung entsteht, das sieht man dann ja als Nachbar. Einerseits hatte ich Sorge, dass ich dann ständig da hinterher sein muss, damit das ja gut geht in diesem Dorf. […] Ich bin schon auch oft froh gewesen, dass wir so eine brave Familie hier haben. Dass die sozial nicht auffällig sind.« (Interview Siegfried-Zeller)

Es scheint ein Gefühl der Erleichterung darüber zu herrschen, dass die Zuzugssituation  – entgegen den Erwartungen  – nicht aus dem Ruder gelaufen ist. Hätte sich eine ablehnende Haltung unter den Alteingesessenen verbreitet, wäre die Öffnung der Gemeinde für die Aufnahme erschwert worden und womöglich sogar gescheitert. Die Annahme, dass Neuankömmlinge unter einem erhöhten Assimilationsdruck stehen, wird hier bekräftigt. Psychische oder soziale Probleme, Traumata, Spannungen zwischen Geflüchteten, ob in einer Wohngemeinschaft, in einer Ehe oder zwischen Eltern und Kindern, dürfen nicht zu deutlich zutage treten, um nicht negativ aufzufallen. Menschen mit geringerer Sozialkompetenz oder schwer traumatisierte Menschen, die sich nicht sofort positiv in die neue Gemeinde einbringen können und eventuell konfliktbeladener auftreten, können eine negative Stimmung in der Gemeinde begünstigen. Auf Geflüchteten lastet also die zusätzliche Bürde, sich täglich als guter Mensch und Nachbar_in beweisen zu müssen. In keiner der beschriebenen Gemeinden ist die Stimmung so dramatisch gekippt, wie von einigen Befragten befürchtet wurde. Auch wurde kaum von Konflikten zwischen Geflüchteten und Alteingesessenen berichtet. Stattdessen sind viele positive Beziehungen entstanden. Trotzdem gibt es auch ablehnende Kommentare und Provokationen von Alteingesessenen. Die Reaktion eines Geflüchteten in Kappeln darauf war: »Ja, ich weiß, der mag keine Ausländer, aber dann rede ich auch nicht mit ihm oder gehe ihm aus dem Weg« (Interview Flüchtlingshilfe Kappeln). Um eine Eskalation zu vermeiden, ignorierten die Geflüchteten die Verbalattacken. Bei einer Nachbarschaftsstreitigkeit zeigte sich ein ähnliches Muster: Das Kappelner Ordnungsamt quartierte eine geflüchtete Familie nach einem Konflikt mit dem alteingesessenen Nachbarn schnell um, um negativen Gerüchten über Geflüchtete vorzubeugen. Jule-Sophie Radix vom Ordnungsamt Kappeln erklärt: »Kappeln ist ja auch nicht groß, so etwas spricht sich dann schnell herum und […] wir wollen ja, dass auch zwischen den Nachbarn alles friedlich ist« (Interview Ordnungsamt Kappeln).

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Zwar haben Anfeindungen und Ausgrenzung in den untersuchten Gemeinden insgesamt abgenommen. Dennoch müssen sich auch Ehrenamtliche immer wieder für ihr Engagement rechtfertigen. Der bereits erwähnte Blogger Dirk Hammer aus Amt Neuhaus berichtet, dass er einige persönliche Kontakte eingebüßt habe und seine Firma weniger Aufträge erhalte, was ihn zeitweise dazu veranlasste, seine Meinung nicht mehr offen zu äußern (vgl. Hammer 2016). Da die Akzeptanz des Zuzugs in der örtlichen Bevölkerung stark durch die öffentliche Meinungsbildung und die Art und Weise beeinflusst wird, wie Geflüchtete in den Medien dargestellt werden, besteht die Gefahr, dass Gemeinden bei der Aufnahme von Geflüchteten höchst selektiv vorgehen.5 In den meisten Gemeinden stellt sich die Frage nicht, da die Geflüchteten zugewiesen werden. Gemeinden wie Golzow hingegen, die sich proaktiv um die Zuweisung von Geflüchteten bemühen und den Zuzug dadurch in großem Maße selbst steuern, können auch Bedingungen stellen. So besteht zwischen Golzow, dem ASB und der brandenburgischen Erstaufnahmeeinrichtung die Abmachung, vorrangig Familien mit kleinen Kindern sowie Ärztinnen und Ärzte zuzuweisen. Hier werden zwei Bedürfnisse der Gemeinde in den Vordergrund gestellt: die Schule und die Arztpraxis im Dorf zu erhalten. Alle anderen, etwa junge Männer, Alleinreisende oder Unqualifizierte, werden dadurch jedoch diskriminiert, da ihnen das positive Wohnumfeld und die gute Begleitung durch die Gemeinde nicht offenstehen. Hier liegt also eine doppelte Diskriminierung vor: Eine seltenere des Ausschlusses vom Zuzug und eine verbreitetere der Anfeindungen nach dem Zuzug. Geflüchtete geraten durch ihre gesellschaftlich marginale Position also leicht in eine Situation der Benachteiligung, insofern der soziale Frieden die Rechte des Einzelnen überwiegt, wenn es darum geht, die Situation positiv zu gestalten. Die Gegner_innen haben also gewissermaßen einen »Heimvorteil«, solange die öffentliche Meinung zum Zuzug noch in der Entwicklung begriffen ist.

Empowerment in kleinen Gemeinden Um die angesprochenen Probleme anzugehen, müssen Geflüchtete langfristig gestärkt werden. Ihr Empowerment muss so weit gehen, dass sie ihre Interessen einfordern können, und sie mit einer gleich starken Stimme sprechen können wie Alteingesessene. Sie sollten darin bestärkt werden, Beleidigungen 5 | Sowohl die positive Konnotation von Familien spielt dabei eine Rolle als auch die verbreitete Angst vor alleinreisenden jungen Männern. Beide lassen sich durch die Berichterstattung über die Kölner Silvesternacht 2015 und den islamistischen Anschlag am Breitscheidplatz in Berlin im Dezember 2016 repräsentieren. Alleinreisenden Männern haftet eine Aura von Unruhe und Problemen an. Das hat Auswirkungen auf die Gemeinden: Etwa vermieten Wohnungseigentümer_innen lieber an Familien (Interview Schwerdhöfer).

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und Provokationen nicht hinnehmen zu müssen, sondern sich dagegen zur Wehr setzen zu können. Erfahrungen dafür stammen vor allem aus städtischen Antidiskriminierungs- und Beratungsstellen. Während sie auch dort nicht ausreichend vorhanden sind, fehlen sie im ländlichen Raum fast gänzlich (Gesemann et al. 2012: 103). Allerdings sind sie in kleinen Gemeinden in dieser Form auch nicht notwendig: Die sozialen Beziehungen im Dorf sind so persönlich und kleinteilig und die Ressourcen so begrenzt, dass institutionalisierte Stellen hier nicht die richtige Antwort zum Ausgleich von Konflikten und Aushandlungen bieten. Das Empowerment der Geflüchteten hängt im ländlichen Raum davon ab, wie gut sie vor Ort vernetzt sind und welche lokalen Personen sie für ihre Anliegen mobilisieren können. Es gilt, von Außenseiter_inen zu vollen Mitgliedern des Dorflebens zu werden. Es ist also an den Unterstützer_innen und Ehrenamtlichen, die Position von Geflüchteten zu stärken, ihre Perspektive unter Alteingesessenen bekannt zu machen und für ihr Verhalten Verständnis zu wecken. Besonders Menschen mit großem sozialen Kapital können mit größerer Autorität sprechen als eine Beratungsstelle, gleichzeitig haben sie einen persönlichen Zugang zu den Gegner_innen, da sie die Einzelpersonen kennen. Das bestätigt Sylvia Meyer, langjährige Jugendleiterin des Fußballvereins 1. FC Eschach bei Schwäbisch Gmünd: »Wenn in diesem Dorf jemand einen Flüchtling aufnehmen kann, dann ich!«. Auch Bürgermeister_innen, Bundestagsabgeordnete, Landrät_innen, Lehrer_innen, Vereinsvorstände oder Einwohner_innen ohne Ämter können ihre Kontakte und ihr Ansehen nutzen, um Geflüchteten den Rücken zu stärken. Die Konflikte werden so nicht aus der Gemeinschaft herausgehoben, sondern innerhalb des sozialen Geflechts bearbeitet. Dadurch wird immer auch die Perspektive der Gruppe auf die Geflüchteten beeinflusst. Wichtig ist, dass diese lokalen Unterstützer_innen wissen, wo sie sich in schwierigen Fällen Beratung holen können. Das Empowerment der Geflüchteten ist jedoch erst dann abgeschlossen, wenn diese aus ihrer marginalen Stellung in der Gemeinde herauswachsen können und nicht mehr auf die Unterstützer_innen angewiesen sind.

Interkulturelle Öffnung in kleinen Gemeinden Bei der Gestaltung der interkulturellen Öffnung kleiner Gemeinden6 sollten die positiven Aspekte von Migration hervorgehoben werden. Dafür eignen sich zunächst interkulturelle Feste, bei denen die interkulturelle Vielfalt gewürdigt wird. Beispielsweise feiert Kappeln seit 2003 das Begegnungsfest als Teil der Interkulturellen Woche. Kulturvermittlung kann auch durch Bildungsangebote 6 | Interkulturelle Öffnung wird hier offen definiert: Sie beschränkt sich nicht auf die interkulturelle Öffnung von Verwaltungen oder Unternehmen (Lima-Curvello 2007), sondern meint die Öffnung einer ganzen Gemeinde.

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wie Ausstellungen und Veranstaltungen geleistet werden. Den Alteingesessenen können so neue Perspektiven, Verständnisweisen und Kenntnisse über die Herkunft und Hintergründe der Geflüchteten vermittelt werden. »Die Deutschen aufzuklären« sei das Ziel, so Christiane Schwerdhöfer von der Flüchtlingshilfe Kappeln. Dafür nutzt sie von PRO ASYL bereitgestellte Ausstellungsmaterialien zu Asylthemen, in denen die Herkunftsländer vieler Geflüchteter, ihre Fluchtgründe sowie der Verlauf und die rechtlichen Schwierigkeiten in Folge einer Flucht thematisiert werden. Die Ausstellung wird begleitet durch Lesungen und Diskussionsrunden. Nachdem der Fokus der interkulturellen Öffnung in Kappeln bisher auf den Alteingesessenen lag, müsse sich die Arbeit jetzt schwerpunktmäßig an die Geflüchteten richten, bilanziert Olga Lang von der Koordinierungsstelle in Kappeln. Notwendig sei die interkulturelle Öffnung und »[…] Aufklärung von Geflüchteten. Wir haben viel gearbeitet für die Öffnung der Einheimischen und der Verwaltung in Richtung interkulturelle Kompetenz, müssen aber feststellen, dass wir die gleichen Schulungen und die gleiche Arbeit für Geflüchtete leisten müssen. Gegenseitige Akzeptanz. Wir haben bisher wenig in Richtung Geflüchtete gearbeitet.« (Interview Ordnungsamt Kappeln)

Dabei geht es regelmäßig um das Verhältnis zwischen den Geschlechtern. Beispielsweise kam es mehrfach zu Irritationen, als geflüchtete Frauen einem Mann nicht die Hand schütteln wollten. Diese Situation wurde von Alteingesessenen als stark ablehnend und sehr unangenehm empfunden. Durch Gespräche konnte geklärt werden, welche Grenzen die beteiligten Frauen hier setzen wollten. Einige Frauen passten ihr Verhalten an, im Gegenzug konnte Akzeptanz bei einigen Alteingesessenen geschaffen werden. Auch das islamische Kopftuch sorgt immer wieder für Diskussionen und Ablehnung. In der Golzower Schule wurde das Thema deshalb im Unterricht besprochen. Dabei wurde die Diskussion so geführt, dass nicht über die Fremdheit des Kleidungsstücks und seines Hintergrunds gesprochen wurde, sondern generell über die Bedürfnisse von Freizügigkeit und Körperverhüllung nachgedacht wurde. Dadurch wurde die Andersartigkeit des Kopftuchs verringert und in eine Selbstreflexion eingebunden. Schwierigkeiten entstehen auch immer wieder in Schulen, wenn Mädchen sich weigern, am Sportunterricht oder an Schulausflügen teilzunehmen. Das wird mitunter mit konservativen Gesellschaftsvorstellungen begründet. Die Schulen dagegen pochen auf Schulpflicht und die Umsetzung allgemeingültiger Regeln. Das sorgt für Konflikte zwischen Schüler_innen, Lehrer_innen und Eltern. Die Reaktionen und Lösungsansätze sind in diesem Zusammenhang höchst unterschiedlich, sie reichen von Anpassung über fortgesetzten

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Widerstand bis hin zum Schulausschluss. Oft erfordern sie, wie in Rechberg, viel Vermittlungsarbeit von Ehrenamtlichen. Bei derartig grundlegenden Wertfragen kann nur selten eine Assimilation seitens der Geflüchteten vorausgesetzt werden. In Fragen der Alltagskultur hingegen kann eine Anpassungserwartung gestellt werden, wie etwa bei der Mülltrennung. Vorhersehbare Konflikte zwischen Nachbar_innen können von vornherein entschärft werden, indem Geflüchteten die Bedeutung und der Umgang mit bestimmten Konventionen ausreichend vermittelt werden. Anita Siegfried-Zeller beobachtete den Lernprozess zwischen den Geflüchteten in Rechberg und ihren Nachbar_innen beim Thema Mülltrennung und war erleichtert, dass diese es untereinander regelten und sie nicht eingreifen ›musste‹. Weitere potenzielle Konfliktfelder sind die spezifisch deutschen, strengen Gewohnheiten hinsichtlich Ruhestörung und Nachtruhe. Da in Deutschland eine besonders frühe Bettzeit für Kinder üblich ist, besteht wenig Verständnis für Nachbar_innen, bei denen nach 22 Uhr noch Spielgeräusche zu hören sind. Auch für dieses Thema müssen Geflüchtete sensibilisiert werden. Solche Anpassungsprozesse benötigen Zeit und können gestützt werden. Das Ordnungsamt Kappeln machte bei Problemen mit geflüchteten Mieter_innen die Erfahrung, dass oft ein Gespräch ausreicht, in dem die Probleme dargelegt werden. Dabei wurde der Aufwand nicht gescheut, auch mehrere Dolmetscher_innen hinzuzuziehen: In einem Haus mit kleinen Appartements, die von jungen Männern ohne gemeinsame Sprache bewohnt werden, hatten bei einem Gespräch in großer Runde alle Bewohner die Gelegenheit, die Gründe für ihr Handeln darzulegen. Dadurch konnten einige Probleme bearbeitet werden. Das Ordnungsamt verfügte in diesem Fall über große Autorität, da die Mietverträge über die Stadt Kappeln laufen; bei Schwierigkeiten hat das Ordnungsamt also die Möglichkeit, einen Umzug der Geflüchteten anzuordnen, weshalb notfalls eine Drohung ausreicht, um Gehör bei den Konfliktparteien zu finden. Das Ordnungsamt legt jedoch Wert darauf, keine einseitigen Schritte zu unternehmen und die Zustimmung der Geflüchteten für solche Entscheidungen zu erreichen. Viele dieser Integrationsformate entstanden aus dem Stegreif, ein offizielles Integrationskonzept existiert in keiner der Gemeinden. Auch Kappeln, wo die interkulturellen Anstrengungen am weitesten gediehen sind, hat kein eigenes Strategiepapier, die Stadt orientiert sich am schleswig-holsteinischen Integrationskonzept und Flüchtlingspakt. Daraus leiten die verschiedenen Akteur_innen Richtlinien für ihre Arbeit ab, ohne dass ein gemeinsamer Masterplan in der Stadt besteht. Das Ziel von Empowerment, Antidiskriminierungsarbeit und interkultureller Öffnung sollte die Normalisierung der Zugezogenen in der Gemeinde sein, ihre Anerkennung als Gleiche trotz Unterschieden. Damit soll eine Toleranzkultur überwunden werden, um eine Normalität der Vielfalt aufzubauen,

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auch im ländlichen Raum. Kappeln beweist, dass die jahrelange Pflege der kulturellen Vielfalt Früchte trägt. Und indem die untersuchten Gemeinden eine große Vielfalt von integrativen und partizipativen Angeboten geschaffen haben, bewegen sie sich aktiv in diese Richtung.

Rapide Veränderungen vermeiden oder gestalten Da die interkulturelle Öffnung ein so langwieriger und komplexer Prozess ist, können schnelle Veränderungen ein hohes Konfliktpotenzial entfalten. Es gibt einen Zusammenhang zwischen der Akzeptanz des Zuzugs und der Anzahl der Geflüchteten, die in einem knappen Zeitraum untergebracht werden sollen. Die Gemeinden sahen diese Problematik klar voraus und warnten davor, einen plötzlichen, starken Zuzug in ein Dorf zu erzwingen. Rechberg hatte mit starkem Zuzug schon nach dem Zweiten Weltkrieg schlechte Erfahrungen gemacht. Auch in Amt Neuhaus lehnte eine Mehrheit die Notunterkunft ab, doch das niedersächsische Innenministerium setzte sich durch. Es erforderte monatelanges Krisenmanagement sowie die kluge Einbindung der Alteingesessenen, um diese Belastung der Stimmung auszugleichen und umzukehren. Die Absage Golzows an eine Notunterkunft dagegen war erfolgreich. Das Dorf bot dem Brandenburgischen Innenministerium stattdessen erneut die Aufnahme einer kleinen Zahl von Geflüchteten an. Man hätte in den umliegenden Dörfern dezentral ebenso viele Menschen unterbringen können wie in der Turnhalle, so Schütz: »Wenn jede Kommune zehn Menschen aufnehmen würde, hätten wir das auch prima gepackt, […] wenn man einzelne Wohngemeinschaften […] in den leerstehenden Wohnungen einrichten würde, wäre das auch eine Variante gewesen, die entspannter umzusetzen wäre.« (Interview Schütz/Thomas)

Die niedrigen Geflüchtetenzahlen seien auch für die reibungslose Aufnahme in Golzow verantwortlich: »Das Verhältnis Dorf-Geflüchtete stimmt. Wenn sehr viele Geflüchtete auf einmal gekommen wären, wäre das als Dorf bei weitem nicht so gut gelaufen. […] In der Klasse Eins sind drei Kinder nicht in Deutschland geboren, aber das fällt nicht auf, die sind genauso wie die anderen, weil sie in einem Größenverhältnis aufgefangen sind.« (Interview Schütz/Thomas)

Nach derselben Logik stand die hohe Zahl von Geflüchteten in Kappeln in einem guten Verhältnis zur Größe der Stadt. Zusätzlich zahlten sich die dezentrale Unterbringung, das hohe Engagement der Zivilgesellschaft und die langjährige Erfahrung mit interkultureller Öffnung aus.

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Die drei Gemeinden zeigen auf unterschiedliche Weise, wie ein plötzlicher Zuzug gestaltet werden kann. Klar wird dabei, dass einer Gemeinde nicht pauschal ein asylfeindliches oder rassistisches Weltbild unterstellt werden kann, wenn sie die Einrichtung einer NUK ablehnt. Die Entscheidung mag stattdessen einer realistischen Einschätzung der Kapazitäten der Gemeinde entsprungen sein. Die Landesbehörden sollten deshalb davon Abstand nehmen, die Zuweisung gegen den Willen der lokalen Bevölkerung durchzusetzen, um nicht eine Reaktion wie in Amt Neuhaus zu provozieren und die Gefahr von Ausgrenzung, Diskriminierung und allseitiger Unzufriedenheit zu erhöhen.

Grundversorgung ausbauen und Neidgefühle verringern Ein entscheidender Faktor für die Akzeptanz des Zuzugs ist auch eine wahrgenommene Ausgewogenheit zwischen den Leistungen für Geflüchtete und der Versorgung der Alteingesessenen. Im strukturschwachen ländlichen Raum ist die Grundversorgung nicht ausreichend. Geflüchtete haben jedoch spezielle Bedürfnisse wie Zugang zu Ämterterminen, Sprachkursen und Traumatherapie, die meist nur in größeren Städten angeboten werden. Da Busse selten oder gar nicht fahren und Geflüchtete nach ihrer Ankunft selbst noch keinen Zugang zu Autos haben, wurden in Golzow und Amt Neuhaus Fahrdienste des ASB eingerichtet, in Notfällen sogar ehrenamtliche Fahrdienste im Privatauto. Das sorgte jedoch für Unmut unter der lokalen Bevölkerung, denn die schlechte Versorgung im ländlichen Raum, etwa im ÖPNV, belastet auch die Alteingesessenen. Es kam zu Neidgefühlen: »›Da hat man Kleinbusse eingesetzt, aber wenn wir Bedarf haben, geht das nicht!‹ Das wird zu Recht kritisch gesehen. ›Dann kann ich das ganze System [des Mangels] nicht akzeptieren. Wenn man für die neuen, geflüchteten Menschen mehr macht als für uns‹.« (Interview Bürgermeisterin Amt Neuhaus)

Frank Schütz musste in Golzow klarstellen: »Für Ämtertermine kommt der ASB-Bus; zum Einkaufen habe ich ihnen den Busfahrplan erklärt« (Interview Schütz/Thomas). In Rechberg glaubte ein Nachbar, dass der Staat der geflüchteten Familie ein Auto bezahle. Die Vermieterin widerlegte die Vermutung, »und dann stimmte die Welt auch wieder«, so Siegfried-Zeller. Eine adäquate unmittelbare Maßnahme bei Neidgefühlen ist auch hier, mit den Ungehaltenen zu sprechen und ihnen Austausch mit Geflüchteten zu ermöglichen. So wurden beispielsweise Führungen durch die Sumter Notunterkunft vor ihrer Eröffnung durchgeführt, um Gerüchten über die vermeintlich luxuriöse Ausstattung des Camps vorzubeugen. Olga Lang von der Koordinierungsstelle Kappeln schlägt vor:

Ankommen statt Durchreise »Eigene Strukturen anschauen und vernetzen: Welche bestehenden Ressourcen kann man nutzen? Man muss theoretisch nichts Eigenes aufbauen, sondern nur den Zugang zu den bestehenden Angeboten schaffen [und sie] anpassen.« (Interview Ordnungsamt Kappeln)

Dafür werden alle verfügbaren Dienste eingespannt. Wo die Versorgung mangelhaft ist, kann die Aufnahme von Geflüchteten zum Anlass genommen werden, Lücken in der Versorgung aller Einwohner_innen zu schließen. Das bedeutet nichts weniger als die Aufwertung des ländlichen Raumes. Dieser Forderung schließt sich auch der Deutsche Städte- und Gemeindebund an: Mit der Zuweisung in den strukturschwachen Raum müsse ein Ausbau der Infrastruktur einhergehen (DStGB 2017). Zu diesem Zweck gibt es langjährige Anstrengungen, etwa die Einrichtung von ehrenamtlichen Bürgerbussen in Amt Neuhaus und der Ausbau der Bahnanbindung in Golzow. Allerdings können die Gemeinden den Niedergang strukturschwacher Gebiete nicht im Alleingang umkehren. Vielmehr bedarf es umfangreicher Bundes- und Landesförderungen, besonders des ÖPNV, an dem sich die meisten Neidgefühle in den untersuchten Gemeinden entzündeten.

Anreize für Zuzug statt Wohnsitzauflage Neben fehlenden Bussen halten aber vor allem Gesetze die Geflüchteten davon ab, Lebenschancen zu verwirklichen. »›Grundsätzlich sind Mobilitätsbarrieren im Arbeitsmarkt schädlich‹. […] Flüchtlinge sollten genauso wie andere Migranten dorthin ziehen, wo sie für sich die besten Lebensperspektiven sehen. ›Das dürfte in der Regel dort sein, wo sie die besten Beschäftigungschancen haben. Das wissen sie in der Regel selbst besser als der Staat.‹« (Herbert Brücker, zit. n. Reimann 2016)

Herbert Brücker vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bezieht sich hier auf den Zwang, den der Staat mit der Wohnsitzauflage ausübt. Die Zuweisung eines Wohnorts an Geflüchtete ist möglich, indem nach dem Asylverfahrensgesetz Geflüchtete auf die Bundesländer verteilt werden, wo Landesbehörden ihnen eine Not- oder Gemeinschaftsunterkunft, eine Wohnung oder einen Wohnort zuweisen können. Anders als die Residenzpflicht, bei der die Personen den ihnen zugewiesenen Landkreis nicht verlassen dürfen, legt die Wohnsitzauflage allein den Lebensmittelpunkt fest. Sie gilt für die Dauer des Asylverfahrens und für die Zeit, in der Geflüchtete finanziell von Transferleistungen abhängig bleiben; wer eigenes Geld verdient, ist davon nicht mehr betroffen.

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Diese Praxis wird einerseits damit begründet, dass die Bundesländer gleichmäßig belastet werden sollen. Andererseits sei innerhalb der Bundesländer die Zuweisung von Wohnorten für Geflüchtete ebenso notwendig, da ansonsten »richtige Ghetto-Probleme« drohten, wie der damalige SPD-Chef Sigmar Gabriel warnte (zit. n. Reimann 2016). Dem widerspricht Olaf Kleist von der Universität Osnabrück: »Die Tatsache, dass Menschen aus dem gleichen Herkunftsland dicht zusammenleben, ist nicht automatisch ein Problem« (ebd.), da ihre Herkunftsnetzwerke einen wichtigen Teil zur Integration beitragen können. »An der Entstehung von ethnischen Kolonien würde allein eine Wohnsitzauflage sicher nichts ändern«, sagt Professor Hannes Schammann von der Universität Hildesheim. »Auch auf dem Dorf kann es sich für Migranten wie ein Ghetto anfühlen, wenn sie zusammen in mehreren Häuserblocks untergebracht werden.« (Ebd.) Wohnsitzauflagen sind allerdings nicht zwangsläufig unnachhaltig. Einerseits prognostiziert die NRW.Bank eine höhere Wohnungsknappheit in Städten, sollte die Zuweisung abgeschafft werden (NRW.Bank 2016). Andererseits geht aus einer Studie des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) hervor, dass eine ähnliche Zuweisungspolitik in den 1990er-Jahren auf Spätaussiedler_innen abzielte, und eine große Zahl von ihnen auch nach dem Erlöschen der Wohnsitzauflage an dem ihnen zugewiesenen Ort blieb (Haug, Sauer 2007: 32). Für den ländlichen Raum mit ausreichenden Voraussetzungen könnte demnach die Zuweisung von Geflüchteten dafür sorgen, dass einige von ihnen langfristig bleiben. In allzu strukturschwachen Gemeinden hingegen ist zu erwarten, dass alle Geflüchteten aufgrund der schlechten beruflichen Rahmenbedingungen wieder abwandern. Die wenigen zur Verfügung stehenden Berufe sind je nach Region vor allem im Handwerk, dem Hotelgewerbe und der Pflege zu finden. Doch auch diejenigen zugewiesenen Menschen, die sich für diese Berufe entscheiden, werden darin nicht ausreichend Arbeitsplätze finden. Diese Probleme sorgen dafür, dass »eine große Zahl der (zugewiesenen) Zuwanderer von öffentlichen Transferzahlungen abhängig« bleiben (Weiss 2009: 139). Das beeinträchtigt sowohl die Lebensqualität der Zugewanderten als auch die Akzeptanz der Zuwanderung (ebd.). Besonders in die Neuen Bundesländer wandern kaum Menschen zu; ökonomisch bestehen nur wenige Möglichkeiten (ebd.: 134 f.). »Zuwanderung findet [deshalb fast] nur im Rahmen der Zuweisung statt […]. Viele wandern ab, sobald sie können – und zwar v. a. die Höherqualifizierten, wie auch unter den Deutschen.« (Ebd.) Diese Einschätzung spiegelt die Erfahrungen in Amt Neuhaus und Golzow wider: Außer Golzow haben alle untersuchten Gemeinden langjährige Erfahrung mit der Zuweisung von Geflüchteten, jedoch sind nur in Kappeln Geflüchtete auch sesshaft geworden. In Amt Neuhaus etwa wanderten selbst Geflüchtete, die vor Ort gut verwurzelt waren, nach einigen

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Jahren auf der Suche nach Arbeit und Bildungschancen ab. Auch die aktuell zugewiesenen Geflüchteten folgen diesem Trend, wie die Abwanderung von seit 2014 zugewiesenen Geflüchteten aus Kappeln und Amt Neuhaus belegt. Abwanderung geschieht selbst dann, wenn Geflüchtete sich vor Ort wohlfühlen und am liebsten bleiben würden, die Nachteile jedoch überwiegen. Einige der Menschen, die andernorts Arbeit oder eine Bildungsmöglichkeit gefunden haben, pendeln dorthin. So fährt ein Geflüchteter aus Kappeln täglich über zwei Stunden zur Universität Flensburg. Die Bindung an Kappeln ist offenbar mitunter stärker als der Abwanderungsdruck. Doch diese Dauerbelastung macht einen späteren Wegzug wahrscheinlicher. Das bedeutet: Eventuell verpasst derzeit der ländliche Raum eine weitere Chance, langfristig neue Einwohner_innen zu halten.

F a zit Statt einer strengen Wohnsitzauflage wären langfristig ein Konzept zur Entwicklung des ländlichen Raums und lokale Integrationskonzepte notwendig, die mit Anreizen arbeiten und die Bildungs- und Arbeitsmöglichkeiten im ländlichen Raum verbessern helfen. So könnten Alteingesessene und Geflüchtete langfristig gehalten werden. Erste konkrete Vorschläge aus den untersuchten Gemeinden wären eine Ausweitung der Qualifizierungsangebote und der dualen Zusatzausbildungen, die für Jugendliche bestehen, auf Erwachsene. Der Deutsche Städte- und Gemeindebund, die Bundesagentur für Arbeit und die deutsche Parteienlandschaft diskutieren schon länger verschiedene Formen von Wohnsitzauflagen oder Anreizsystemen, die Geflüchtete in den ländlichen Raum bringen sollen (vgl. Reimann 2016). Damit Menschen flexibel auf ihre persönlichen Bildungs- und Jobchancen reagieren können, sollte die Politik der Zuweisung beendet werden oder durch ein weicheres System ersetzt werden, das Menschen Wahlmöglichkeiten eröffnet und sie an Orte bringt, die ihren Interessen, Lebensweisen und Fähigkeiten am ehesten entsprechen. So könnten die Vorteile der Zuweisung mit dem Recht auf Freizügigkeit kombiniert werden. Ein erster Schritt wäre, dass die zuweisenden Landesbehörden »[d]ie Verteilungspolitik von Geflüchteten […] ändern, um die Integration vor Ort zu erleichtern. Bei der Verteilung soll die Herkunft aus ländlichem oder städtischem Raum berücksichtigt werden, sodass die Berufe und sozialen Hintergründe nicht mit den Lebensumständen im ländlichen oder städtischen Raum zusammenprallen. Das ist sehr unglücklich für die Flüchtlinge und für uns auch. Insgesamt für die Integration schädlich. Es macht vieles einfacher, wenn das von vornherein bei der Verteilung berücksichtigt wird.« (Interview Ordnungsamt Kappeln)

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Insgesamt sollten Anreize für Geflüchtete geschaffen werden, in kleine Gemeinden zu ziehen. Gleichzeitig müssen Anreize für kleine Gemeinden geschaffen werden, Geflüchtete aufzunehmen, um Win-win-Situationen zu begünstigen. Denkbar wäre zum Beispiel eine Prämie zum Ausbau des ÖPNVs oder die Finanzierung von zusätzlichen Stellen in Vereinen, Verwaltungen oder Schulen. Wie in Golzow könnten damit Gemeinden dazu bewegt werden, auch komplexe Zuzugsprozesse anzustoßen – mit dem Effekt, dass eine positive Aufnahme für Geflüchtete ermöglicht wird. Die Geflüchteten müssen vor Ort bleiben wollen und die Gemeinden müssen sich den Zuzug wünschen – andernfalls drohen erhebliche soziale Verwerfungen, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt, und eine Vergeudung von Lebenschancen. Zuweisung kann keine Antwort sein auf Strukturdefizite. Bei allen genannten Maßnahmen können die Gemeinden jedoch nur auf Gemeindeebene aktiv sein – alle Probleme, die auf Landes- oder Bundesebene entstehen, müssen auch dort gelöst werden. Die langfristigen Gelingensbedingungen liegen damit zu einem großen Teil außerhalb des Einflussbereichs der Gemeinden. Die Integration kann nur dann vor Ort umfassend umgesetzt werden, wenn sie von der Kreis-, Landes- und Bundesebene unterstützt wird. Hier geht es einerseits um konkrete finanzielle Hilfen, etwa für zusätzliche Stellen in der Verwaltung oder in zivilgesellschaftlichen Organisationen. Gleichzeitig bedürfen die Gemeinden aber auch einer inhaltlichen Unterstützung. Konkret müssen Themen wie Integration, interkulturelle Öffnung und Antidiskriminierungsarbeit für kleine Gemeinden entwickelt sowie ihre Umsetzung begleitet werden. Grit Richter: »Die Gemeinden – ich spreche mal für alle Gemeinden, weil das betrifft alle an der Basis – werden damit alleingelassen. Man sagt im Moment immer: ›Das sind eure Bürger, und da müsst ihr genau soviel oder sowenig tun wie für die anderen auch‹ – nein, der Aufwand, den man für die Nichtwissenden betreibt, ist natürlich immer erheblich größer.« (Interview Bürgermeisterin Amt Neuhaus)

Je nach Möglichkeiten der Gemeinden wird eine Versorgung geleistet, die ausreichend ist: In Kappeln wird mehr aufgewendet, als pauschal pro Geflüchtete_m gezahlt wird; in Amt Neuhaus kann nur soviel geleistet werden, wie die externe finanzielle Unterstützung erlaubt. Indem sie haushalten müssen, können arme Gemeinden auch offensichtliche Bedarfe nicht decken und sind auf eingeschränkte Versorgung oder das Ehrenamt angewiesen, das die Unterfinanzierung auffangen muss. Neben den finanziellen Problemen sollten die rechtlichen Hürden auf Landes- und Bundesebene minimiert werden, die eine Integration von Geflüchteten behindern. »Unter allen Zuwanderern haben nicht anerkannte Flüchtlinge den schlechtesten sozialen Status«, etwa aufgrund einer Residenzpflicht oder

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Wohnsitzauflage, verwehrter Arbeitserlaubnis oder nachrangigem Arbeitsmarktzugang (Aumüller 2009: 114), dem verwehrten Zugang zu Deutschkursen oder der geringen Bereitschaft von Arbeitgeber_innen, Menschen mit prekärem Aufenthaltsstatus einzustellen (Schader-Stiftung 2014: 33 ff.). Besonders den lokalen Verantwortlichen liegt dabei die positive Gestaltung des Zuzugs am Herzen: »Man muss die Integrationsarbeit leisten, damit es hier auch friedlich und sozial gerecht abläuft«, so Olga Lang (Interview Ordnungsamt Kappeln). Allerdings existieren offenbar widerstreitende Interessen in der vertikalen Gewaltenteilung: Das lokale Interesse an Zuzug und gelungener Integration wird kontrastiert von einem Bundes- und Landesinteresse an Abschreckung von Migration (Scherr 2017). Der Vorwurf wiegt schwer, dass Bundes- und Landesbehörden absichtlich eine schlechte Versorgung herbeiführen: »Als 1981 […] die Lagerunterbringung flächendeckend eingeführt wurde, war die politische Zielsetzung klar und wurde in aller Deutlichkeit formuliert: Neue Migrationsbewegungen in die Bundesrepublik sollten durch Lager ebenso verhindert, wie die Vertreibung der bereits hier Angekommenen durch die Verschlechterung der Lebensbedingungen forciert werden. […] Die politische Absicht der Lagerunterbringung zielt auf die Festsetzung, Kontrolle und Verwaltung von Flüchtlingen und deren institutionelles Fernhalten und Ausschluss aus der Gesellschaft.« (Pieper 2011: 125)

Das nationale Interesse der kontrollierten Sammelunterbringung und schnellen Rückführung steht einem kommunalen Interesse der Integration in die Gemeinde somit diametral entgegen. Angela Merkel fasst die Bundespolitik so zusammen: »Wir arbeiten daran, dass Rückführungen möglichst aus den Erstaufnahmeeinrichtungen erfolgen können; denn wir wissen: Wenn Menschen erst einmal durch ehrenamtliche Helfer in Kommunen integriert werden, dann ist die Rückführung sehr viel schwerer.« (Bundesregierung 2017)

Mit solchen Maßnahmen konterkarieren die Bundes- und Landesbehörden die Integrationsbemühungen von lokalen Behörden. Richard Arnold, Oberbürgermeister von Schwäbisch Gmünd: »Es kommen Ehrenamtliche, Unternehmer und Handwerker aufs Rathaus und sagen: ›Das kann’s ja wohl nicht sein, dass wir Menschen integriert haben und jetzt werden die [durch Abschiebungen] rausgerissen. Wir haben doch einen Haufen investiert. Das ist nicht nur menschlich schlimm, sondern auch ökonomisch Nonsens‹.« (Zit. n. Stieber 2017)

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Um die Aufnahme von Geflüchteten zum Erfolg zu machen, müssen die ausländerrechtlichen Regelungen liberalisiert werden. Erst dann haben Geflüchtete echte Chancen auf Teilhabe, und erst dann werden die Integrationsbemühungen der lokalen Behörden, Unternehmen und Ehrenamtlichen nachhaltig.7 Auch in strukturschwachen Gegenden lassen sich Win-win-Situationen herstellen, weil hier klar ist, dass alle Möglichkeiten genutzt werden müssen, um die Abwanderung aufzuhalten. Durch politische Maßnahmen kann dieser Prozess aktiv gestaltet werden. So lassen sich Rahmenbedingungen schaffen, die einen Gewinn für die Gemeinde ermöglichen. Dadurch wiederum können die Akzeptanz weiter erhöht und Neidgefühle verringert werden. Außerdem können die Gemeinden nicht aus eigener Kraft den Abwanderungstrend stoppen: Dafür sollte sich die Politik zur Entwicklung des ländlichen Raums auch auf Bundesebene grundlegend und unabhängig von der Flüchtlingsaufnahme ändern. Nur eine der untersuchten Gemeinden erkannte Geflüchtete als Instrument zur Gemeindeentwicklung. Schon zu Beginn wurde eine Win-win-Situation angestrebt und Geflüchtete eingeladen, sich vor Ort anzusiedeln. Die anderen Gemeinden hingegen wurden mit der Zuweisung von Geflüchteten konfrontiert und mussten dazu eine Position finden. Hier kamen Geflüchtete als ungebetene Herausforderung in die Gemeinden. Win-win-Situationen wurden dort erst im Nachhinein entwickelt. Diese unterschiedlichen Ausgangssituationen führten jedoch in allen vier Fällen zu einer ausreichenden bis hohen Akzeptanz der Geflüchteten durch die Alteingesessenen. Die Winwin-Situationen entpuppten sich als wichtige Werkzeuge in der Überzeugung von Gegner_innen des Zuzugs. Als Ergebnis der Studie kann festgehalten werden, dass Geflüchtete gut in den ländlichen Raum passen, wenn ausreichend Erfolgsfaktoren erfüllt sind. Vor allem müssen Gemeinden genügend Unterstützer_innen von Geflüchteten aufweisen, um die Gegner_innen umzustimmen oder zumindest von wirksamer Opposition abzubringen. Der positive Umgang mit Migration muss also hergestellt werden und auch ablehnende Mehrheitsmeinungen können in Akzeptanz verwandelt werden. Dafür ist das enorme Mobilisierungspotenzial von Politik, Zivilgesellschaft und Ehrenamt zentral. Die Vielfalt der gesellschaftlichen Antworten stimmt dabei hoffnungsvoll und es zeigt sich, dass der ländliche Raum auch in den Neuen Bundesländern keineswegs eine

7 | Das bedeutet nicht, dass die lokalen Behörden sich per se gegen Abschiebungen stellen. Der Städte- und Gemeindebund etwa fordert, Menschen mit geringer Bleibeperspektive in grenznahen Lagern zusammenzuziehen und sie nicht bis in die Gemeinden vorzulassen, um nicht Menschen integrieren zu müssen, die von Abschiebung bedroht sind (DStGB 2017).

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No-go-Area für Geflüchtete darstellt und sich der Öffnung für Geflüchtete und Migration nicht grundsätzlich sperrt. Allerdings ist auch klar, dass sich nicht an allen Orten und nicht mit allen Geflüchteten oder Alteingesessenen eine Win-win-Situation erzeugen lässt. Während sich in einigen Gemeinden ausreichend Unterstützer_innen finden, um die Gegner_innen zu überzeugen, stehen sie in anderen Gemeinden nicht zur Verfügung; und während viele Geflüchtete sich strategisch vorbildlich verhalten, um die zweifelnden Nachbar_innen für sich einzunehmen, gibt es auch Geflüchtete, die dazu nicht Willens oder in der Lage sind. Die Strategie der Win-win-Situation kann deshalb nicht die Gesamtlösung sein, sondern nur ein Beginn für einige Gemeinden und einige Geflüchtete. Die Unterscheidung zwischen Geflüchteten und Nichtgeflüchteten ist für die grundlegenden Probleme des ländlichen Raumes nicht relevant. Vorrang muss die adäquate Unterstützung aller hier lebenden Menschen haben, mit deren Vielfalt und den diversen Biografien und Lebensentwürfen. Dies birgt auch das Potenzial, Neiddebatten und Angstgefühle zwischen Alteingesessenen und Zuziehenden nachhaltig zu bearbeiten, da dann die politischen Maßnahmen weniger Ausschlusseffekte produzieren. Es sollte offensichtlich werden, dass genug für alle da ist.

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I ntervie w verzeichnis A. Amir, Bewohner der Notunterkunft Sumte, am 09.05.2016. Sumte, Amt Neuhaus. Bereitschaftsfahrer A., Mitarbeiter in der Notunterkunft Sumte, am 09.05.2016. Sumte, Amt Neuhaus. Bereitschaftsfahrer B., Mitarbeiter in der Notunterkunft Sumte, am 09.05.2016. Sumte, Amt Neuhaus. A. Iyad, Mitarbeiter in der Notunterkunft Sumte, am 09.05.2016. Sumte, Amt Neuhaus. Junger Bewohner der Notunterkunft Sumte, am 09.05.2016. Sumte, Amt Neuhaus. A. Kim, Mitarbeiterin in der Notunterkunft Sumte, am 09.05.2016. Sumte, Amt Neuhaus. Manfred Köhnlein, Ehrenamtlicher, am 11.04.2017. Berlin/Rechberg (telefonisch). Ulrike Köhnlein, Ehrenamtliche, am 20.04.2017. Berlin/Rechberg (telefonisch). Jens Meier, Leiter der Notunterkunft Sumte und Geschäftsführer Arbeiter-Samariter-Bund (ASB) Hannover-Land/Schaumburg, am 09.05.2016. Sumte, Amt Neuhaus. Sylvia Meyer, Fußballtrainerin in Eschach, am 22.12.2016. Schwäbisch Gmünd. Jule-Sophie Radix, Ordnungsamt Kappeln und Olga Lang, Ordnungsamt Kappeln und Koordinierungsstelle für Flüchtlingshilfe, am 25.04.2017. Berlin/ Kappeln (telefonisch). Grit Richter, Bürgermeisterin in Amt Neuhaus, am 14.02.2017. Berlin/Amt Neuhaus (telefonisch). Frank Schütz, Bürgermeister von Amt Golzow und Thomas, Gabriela, Schulleiterin der Grundschule »Kinder von Golzow«, am 20.05.2016. Golzow. Christiane Schwerdhöfer, Flüchtlingshilfe Kappeln am 21.08.2016 und am 19.02.2017. Berlin/Kappeln (telefonisch). Anita Siegfried-Zeller, Ehrenamtliche, am 27.12.2016. Rechberg. Halima Taha, S. Fadi, H. Ahmad und H. Rasha, Geflüchtete in Golzow, am 10.12.2016. Golzow. In arabischer Sprache, Übersetzung durch den Autor. Anne Zeller-Klein, Ortsvorsteherin in Rechberg, am 02.05.2017. Berlin/Rechberg (telefonisch).

Wohnerfahrungen von Geflüchteten in Berliner Notunterkünften im Vergleich Alina Juckel

Angesichts stark erhöhter Zuwanderungszahlen standen die deutschen Bundesländer seit Beginn 2010 zunehmend unter Druck, ausreichend Unterbringungsmöglichkeiten für geflüchtete Menschen zur Verfügung zu stellen. In Deutschland angekommene Asylbewerber_innen werden nach dem Königsteiner Schlüssel – einer Quote, welche sich nach der Bevölkerungsgröße und den Steuereinnahmen der Bundesländer richtet  – auf diese verteilt. Gemäß dem deutschen Asylgesetz sind die Bundesländer dazu verpflichtet, Landeserstaufnahmeeinrichtungen und Ankunftszentren einzurichten (vgl. § 44 I AsylG), in denen Asylbewerber_innen mindestens sechs Wochen und höchstens sechs Monate nach ihrer Ankunft in Deutschland wohnen müssen (vgl. § 47 I AsylG). Spätestens 2015 führte diese Aufgabe aufgrund des exponentiellen Anstiegs der Zuwanderungszahlen insbesondere in Berlin zu einer Überforderung der zuständigen Behörden. Diese äußerte sich unter anderem in einem eklatanten Mangel an Unterkunftseinrichtungen und -plätzen sowie äußerst chaotischen Verhältnissen bei der Registrierung und Unterkunftszuweisung von Einreisenden durch das Landesamt für Gesundheit und Soziales (nachfolgend LAGeSo). Da die Geflüchtetenzahlen die Kapazität der Landeserstaufnahmeeinrichtung in Berlin rasch überstiegen, mussten unter erheblichem Zeitdruck zahlreiche Notunterkünfte provisorisch eingerichtet und umgehend in Betrieb genommen werden.1 Diese Unterkünfte zeichnen sich in erster Linie durch ihren provisorischen Charakter aus: Es handelt sich um notdürftig umfunktionierte Turnhallen, Gemeindeeinrichtungen und Messegebäude sowie kurzfristig errichtete Zelte und Container, in vielen Fällen wird mangelhafte Bausubstanz an dezentralen Standorten genutzt (vgl. Classen 2013: 37, SenStadtUm 2015: 3). 1 | Obgleich die Anzahl der in Berlin registrierten Geflüchteten im Jahr 2016 deutlich gesunken ist, sind Notunterkünfte nach wie vor die meistverbreitete Unterkunftsform: 95 Notunterkünfte stellen knapp zwei Drittel der insgesamt ca. 44.000 Unterbringungsplätze in Berlin zur Verfügung (Stand 15. Januar 2016, vgl. Senatskanzlei 2016: 2).

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In 2015 änderte der Bund dazu das Baugesetzbuch, um den schnelleren Bau von Unterkünften in Gewerbegebieten sowie von mobilen Unterkünften bis einschließlich 2019 zu ermöglichen (vgl. Bundesregierung 2017). Betrieben werden die insgesamt 95 Berliner Notunterkünfte (Stand Januar 2016) nicht vom Land oder dessen Bezirken, sondern von staatlich beauftragten gemeinnützigen und privaten Trägern, die für die Verwaltung finanzielle Mittel erhalten. Die Betreiber müssen Kosten dementsprechend genau kalkulieren und vertreten dabei auch eigene ökonomische Interessen (vgl. Thimmel 1994: 124, Aumüller, Daphi, Biesenkamp 2015: 38). Aus diesen Bedingungen ergeben sich einige strukturelle Probleme, vor allem die räumliche Segregation von Geflüchteten, die geringfügige und provisorische Ausstattung von Unterkünften und die Divergenz zwischen der Wirtschaftlichkeit und den Versorgungsansprüchen der Institution. Zudem wohnen in den Notunterkünften mehrere Hundert Asylsuchende aus verschiedenen Herkunftsregionen und mit unterschiedlichen Bleibeaussichten auf engem Raum zusammen, was zu einem hohen Konfliktpotenzial unter den Bewohner_innen führen kann (vgl. Nuscheler 1995: 175, Aumüller, Daphi, Biesenkamp 2015: 35). Diese strukturellen Voraussetzungen bilden allerdings nur einen Teilaspekt der Unterkunftssituation ab. Um die Lebensrealitäten von Geflüchteten in den Unterkünften bewerten zu können, muss vor allen Dingen betrachtet werden, wie Geflüchtete ihre Wohnsituation selbst wahrnehmen und auf welche Weise sich die institutionellen Strukturen auf ihr tägliches Leben auswirken. Da Notunterkünfte im Unterschied zu Gemeinschaftsunterkünften formal für kürzere Wohnaufenthalte vorgesehen sind, obliegt die Verrichtung vieler alltäglicher Aufgaben sowie die Befriedigung sämtlicher Grundbedürfnisse, so etwa die Verpflegung, die Reinigung der Räumlichkeiten und die Ausstattung mit Kleidung und Hygieneartikeln, dem Personal der Einrichtungen. Die Situation der Bewohner_innen von Notunterkünften gestaltet sich somit besonders prekär, einem selbstbestimmten Leben sind klare Grenzen und erhebliche Hindernisse gesetzt. Dieses Kapitel untersucht die Wohnsituation von Geflüchteten in Berliner Notunterkünften mit speziellem Fokus auf die Perspektive der Bewohner_innen. Im Zentrum steht die Frage, wie Geflüchtete ihr tägliches Leben in den Notunterkünften gestalten und welche Chancen und Herausforderungen sich ihnen bieten. Anhand einer qualitativen Interviewstudie werden die unterschiedlichen Einschätzungen, Reaktionen und Handlungsweisen von Geflüchteten aus vier verschiedenen Notunterkünften verglichen.2 Dadurch soll herausgearbeitet werden, welche Maßnahmen und Praktiken sich in den 2 | Die Studie nimmt speziell das tägliche Leben von Geflüchteten in Notunterkünften in den Blick. Lose am soziologischen Konzept der Alltäglichen Lebensführung orientiert, untersucht sie ihr Alltagshandeln entlang der Kategorien räumliche Organisation, zeitli-

Wohner fahrungen von Geflüchteten in Berliner Notunterkünf ten im Vergleich

Unterkünften positiv auf die Wohnerfahrungen ihrer Bewohner_innen auswirken. In drei der vier untersuchten Notunterkünfte wurden themenzentrierte Interviews mit je zwei Bewohner_innen zwischen Februar und März 2017 geführt. Ergänzend wurden offene Expert_inneninterviews mit jeweils einer bzw. einem hauptamtlichen Mitarbeiter_in des Unterkunftsbetreibers geführt, um ihre Übersicht über die Wohnsituation einzubeziehen. Die Malteser-Notunterkunft im International Congress Centrum (ICC), die hier ebenfalls in den Blick genommen wird, war bereits Gegenstand einer vorausgegangenen Studie, bestehend aus einer teilnehmenden Beobachtung und sieben themenzentrierten Leitfadeninterviews mit insgesamt elf Bewohner_innen, die im Frühjahr 2016 stattfanden.3 Im Folgenden werden nach einer kurzen Beschreibung der Auswahlkriterien der Notunterkünfte ihre Übereinstimmungen und Unterschiede hinsichtlich der räumlichen Situation, der Beratungs- und Betreuungsangebote, der Freizeitgestaltung und des Tagesablauf, der Verpflegung sowie des sozialen Beziehungsgeflechts analysiert. Vor diesem Hintergrund soll diskutiert werden, ob beispielsweise gruppenspezifische Betreuungsangebote und Freizeitprogramme sowie die Möglichkeit, eine geringfügige Beschäftigung aufzunehmen oder sich selbst zu verpflegen, zu einer Verbesserung der individuellen Wohnsituation beitragen. Auf Basis dieser Analysen werden Handlungsempfehlungen für Behörden und Betreiber herausgearbeitet, die auf kurz-, mittelund langfristige Verbesserungen der Unterkunftssituation abzielen und dabei den Bewohner_innen eine selbstbestimmtere Lebensweise ermöglichen. Ein besonderes Augenmerk liegt auch auf der Wohndauer in den Notunterkünften. Dabei stellt sich die Frage, ob die zunächst aus der Ausnahmesituation entstandenen Aufgaben der Verpflegung, Betreuung und Unterbringung von Geflüchteten dort noch sinnvoll erfüllt werden können und welche Alternativen und Gestaltungsmöglichkeiten es gibt.

A uswahl der N otunterkünf te Die vorliegende Studie wurde in der Malteser-Unterkunft im ICC, der Johanniter-Unterkunft in Kreuzberg, der von der Care&Shelter gGmbH betriebenen Notunterkunft in Alt-Mariendorf und der Notunterkunft Flughafen Tempelhof durchgeführt. Drei der vier Unterkünfte wurden im Herbst 2015 im Zuge des erheblichen Unterkunftsmangels im Land Berlin eröffnet, die Johanniterche Struktur und soziale Beziehungen des Alltags (vgl. zum Konzept Alltägliche Lebensführung: Täubig 2008: 67–74). 3 | Juckel, Alina (2016): Totale Institution und Disziplinaranlage. Erfahrungen und Strukturen in einer Berliner Notunterkunft. Unveröffentlichte Masterarbeit.

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Unterkunft in Kreuzberg wurde im August 2016 bezogen. Um ein möglichst vielschichtiges Bild der Notunterkünfte zu generieren, wurden Notunterkünfte ausgewählt, die sich in ihrer Größe, der genutzten Gebäudesubstanz und der Art ihrer Verwaltung unterscheiden. Während die Malteser-Unterkunft im ICC und die Notunterkunft Flughafen Tempelhof mit je ca. 600 Bewohner_innen für eine hohe Anzahl an Menschen ausgerichtet sind und sich in großen, stark zweckentfremdeten Gebäudekomplexen befinden, sind die Johanniter-Unterkunft in einer Grundschule und die Notunterkunft in Alt-Mariendorf in einem Bürogebäude eingerichtet und beherbergen wesentlich weniger Geflüchtete. Die Unterschiede bezüglich Größe und Auf bau der Gebäude äußern sich insbesondere darin, dass im ICC und im Flughafengebäude in der Regel keine abgetrennten Räume vorhanden sind, sondern mindestens der Großteil der Bewohner_innen in sogenannten »Waben«  – aneinandergereihte, quadratische Räume aus dünnen Trennwänden ohne Türen und ohne Decken  – untergebracht sind. Diese wurden in großen und hohen Hallen errichtet und können teilweise von höheren Etagen eingesehen werden. Ihre Türöffnungen sind lediglich durch Vorhänge verschlossen. Einige wenige abschließbare Räume, die sich in einer anderen Etage als die Waben befinden, sind im ICC Familien mit jüngeren Kindern vorbehalten. Im Flughafengebäude stehen solche Räume nach Angaben der Befragten nicht zur Verfügung. Im Gegensatz dazu wohnen Geflüchtete in der Johanniter-Unterkunft und in der Notunterkunft in Alt-Mariendorf in abgetrennten Räumen mit Fenstern und abschließbaren Türen, für die in Kreuzberg allerdings keine Schlüssel an Bewohner_innen ausgegeben werden. Die Johanniter-Unterkunft in Kreuzberg wurde für besonders schutzbedürftige Geflüchtete, vor allem Frauen mit Kindern, Schwangere und Familien, eingerichtet und ist mit ca. 85 Bewohner_innen die weitaus kleinste Einrichtung der Studie. In der Notunterkunft in Alt-Mariendorf wohnten zum Zeitpunkt der Befragung 177 Personen, wobei, wie auch in den beiden Großunterkünften, Familien mit Kindern und Alleinreisende4 zusammenlebten. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal liegt darin, dass kirchliche Träger die Malteser-Unterkunft im ICC und die Johanniter-Unterkunft in Kreuzberg verwalten, während die Notunterkunft in Alt-Mariendorf von einer gemeinnützigen Gesellschaft und die Notunterkunft Flughafen Tempelhof von einem privaten Betreiber geleitet werden. Dadurch, dass je ein privater und ein karitativer Betreiber eine große Notunterkunft mit schwierigen räumlichen Bedingungen verwalten, lässt sich vergleichen, ob und inwiefern diese jeweils unterschiedlich mit den speziellen Herausforderungen in den Großunterkünften umgehen. Außerdem profitieren die Unterkünfte in Tempelhof und Kreuzberg von einer sehr zentralen Lage und guter innerstädtischer Anbindung, während 4 | Alleinreisende meint hier Geflüchtete, die ohne enge Verwandte in Deutschland leben, ungeachtet ihres Familienstandes und Alters.

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die Malteser-Unterkunft im ICC etwas weiter vom Zentrum gelegen, aber gut an dieses angebunden ist, und sich die Notunterkunft in Alt-Mariendorf mit vergleichsweise schlechter Anbindung außerhalb des Stadtzentrums befindet.

A nalyse der S tudienergebnisse Nachfolgend werden die Interviews mit Bewohner_innen und hauptamtlichen Mitarbeiter_innen der genannten Notunterkünfte entlang der Kategorien räumliche Situation, Beratungs- und Betreuungsangebote, Freizeitangebote und Tagesablauf, Verpflegungssituation sowie soziale Beziehungen ausgewertet. In Bezug auf diese fünf Kategorien zeigten bereits die im Zuge der ersten Studie in der Malteser-Unterkunft befragten Bewohner_innen den höchsten Gesprächsbedarf. Gleichzeitig üben Betreiber und Behörden vergleichsweise viel Einfluss auf diese Bereiche aus, sodass Handlungsbedarf aufgedeckt und konkrete Handlungsempfehlungen ausgesprochen werden können.

Räumliche Situation In allen Notunterkünften leben Geflüchtete in Mehrbettzimmern zusammen, wobei die Größe der Zimmer sowie die Anzahl der Bewohner_innen stark variieren. In der Notunterkunft Alt-Mariendorf reichen diese von drei Bewohner_ innen in 18 m² großen Büroräumen über sieben Bewohner_innen in 46 m² großen Büroräumen. In der Johanniter-Unterkunft teilen sich je nach Größe der Familien meist zwei Familien, also acht bis zehn Personen, ca. 50 m² große Klassenzimmer. Mindestens in einigen der Zimmer fungieren Schließfächer als partielle Trennwände zwischen den Wohnräumen der Familien, in denen sie persönliche und funktionale Gegenstände, wie zum Beispiel Kinderwagen und Wäscheständer, deponieren. In der Malteser-Unterkunft im ICC wohnen im Frühjahr 2016 noch bis zu 14 Personen in einer der insgesamt 35 Zimmerwaben und ein bis zwei Familien in den 15 bis 30 m² großen Familienräumen. Die quadratischen Zimmerwaben, bestehend aus unverputzten Rigipswänden, sind in der Regel je 25 m² groß und mit mindestens vier Hochbetten ausgestattet. Weiteres Mobiliar sowie Türen und Decken sind nach Aussage der Malteser aus Brandschutzgründen nicht gestattet. Als Sichtschutz für die offenen Eingänge und Dächer der Waben nutzen viele Bewohner_innen Stoffvorhänge und -laken. Auch die Bewohner_innen der Waben in aktuell noch drei von 13 Hangars im Flughafen Tempelhof verschließen ihre Zimmer auf diese Weise. Die Zahl der Zimmerbewohner_innen pro Zimmerwabe konnte dort bis März 2017 von zwölf auf vier bis fünf reduziert werden, da über die Hälfte der Bewohner_innen seit 2016 ausgezogen sind und die Unterkunft bis Mitte des Jahres 2017 geschlossen werden soll. Im Gegensatz zu den drei anderen

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Notunterkünften erhalten Ehrenamtliche und Außenstehende in der Flughafen-Unterkunft keinen Zutritt zum Wohnbereich. Fotos5 belegen aber, dass die Wabenkonstruktion der im ICC-Gebäude ähnelt, in Tempelhof jedoch keine abgetrennten regulären Räume für Familien oder andere besonders schutzbedürftige Gruppen vorhanden sind. Das Zusammenwohnen mit zum Teil fremden Personen auf engstem Raum und die damit einhergehende Einschränkung der Privatsphäre empfinden alle interviewten Bewohner_innen aus sämtlichen Notunterkünften als äußerst unangenehm und nennen es zumeist als eines der Hauptprobleme der Unterkunftssituation. Vor allem die unterschiedlichen Gewohnheiten und Schlafenszeiten sehen die Befragten als problematisch an. In den beiden Großunterkünften im ICC und in Tempelhof stört sie zudem die permanente Lautstärke; hier bieten die Waben auch nachts keinerlei Schutz vor Lärm. Aber auch die beiden befragten Bewohnerinnen aus der Johanniter-Unterkunft und der Notunterkunft in Alt-Mariendorf belastet die mangelnde Privatsphäre stark. Tatsächlich heben vor allem die Bewohnerinnen der Johanniter-Unterkunft die Schwierigkeiten hervor, welche durch das Zusammenwohnen mehrerer Familien in einem Zimmer entstehen. Sie bewerten es als ungerecht, dass einige Familien sich einen Raum teilen müssen, und betonen, dass dadurch den besonderen Bedürfnissen von Familien, die z. B. Ruhe für Kleinkinder und Schwangere benötigen, nicht Rechnung getragen werde. Aufgrund des Platzmangels zeichnen sich insgesamt kaum Lösungsansätze für das Problem der Zimmeraufteilung in den vier Notunterkünften ab. Allerdings deutet sich in den Aussagen der Geflüchteten an, dass eine sinnvoll durchdachte Zimmerzuteilung das Zusammenleben in den Räumen verbessern kann. So bewertet ein Bewohner des Tempelhofer Flughafengebäudes es als sehr positiv, dass er im Zuge der stark gesunkenen Bewohner_innenzahlen mit seinen Freunden in ein Zimmer ziehen konnte. Demgegenüber drücken ein Bewohner und eine Bewohnerin des ICCs ihr deutliches Unverständnis darüber aus, dass sie von ihren Verwandten, mit denen sie zuvor in einer Zimmerwabe wohnten, zugunsten einer Geschlechtertrennung in diesem Zimmer getrennt wurden.6 Eine Bewohnerin der Johanniter-Unterkunft berichtet, dass in einigen Räumen Familien mit unterschiedlicher sprachlicher Herkunft zusammenwohnen, wodurch keinerlei Kommunikation möglich sei und zahl5 | Fotos, die innerhalb des Wohnbereichs in den Hangars aufgenommen wurden, finden sich vor allem in Zeitungsartikeln, vgl. beispielsweise BZ online vom 20.02.2017, www.bz-berlin.de/berlin/steglitz-zehlendorf/fluechtlinge-koennen-bald-aus-den-flug​ hafen-hangars-raus 6 | Die Verwaltung verlegte die Männer aus dem betroffenen Raum, weil ein Vater mit seiner 14-jährigen Tochter neu in die Unterkunft zog und minderjährige Mädchen in der Notunterkunft (NUK) nicht mit fremden Männern zusammenwohnen dürfen.

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reiche Konflikte entstehen. Eine wunschgerechte Zimmerzuteilung erscheint wegen der unterschiedlichen Bedürfnisse und Vorschriften, wie die Zusammenführung von Familien und Verwandten oder der Schutz von Minderjährigen und anderen schutzbedürftigen Personengruppen, äußerst schwierig. Dennoch sind die sinnvolle Abwägung zwischen diesen verschiedenen Faktoren und ein offener Dialog zwischen Bewohner_innen und Betreibern für ein möglichst konfliktfreies Zusammenleben unbedingt notwendig. Zudem fällt auf, dass nach Angaben von Mitarbeiter_innen keine der vier Unterkünfte zum Befragungszeitpunkt maximal ausgelastet ist, die Anzahl der Zimmerbewohner_innen jedoch lediglich in Tempelhof merklich reduziert werden konnte. Vor allem für die beiden Großunterkünfte stellt sich die Frage, wie die Räumlichkeiten effektiv und bewohner_innenfreundlich genutzt werden können. Im ICC werden lediglich zwei von fünf (oberirdischen) Etagen für die Unterbringung von Geflüchteten verwandt, weite Teile des Gebäudes sind abgesperrt und bleiben ungenutzt. In informellen Gesprächen mit dem Personal deutet sich an, dass die unzureichende Nutzung des Gebäudekomplexes maßgeblich mit bauordnungsrechtlichen Vorschriften für Sammelunterkünfte – vor allem mit Brandschutzbestimmungen – zusammenhängt. In Anbetracht der Tatsache, dass auch die Großunterkünfte jahrelang in Betrieb sind, müssen politische und rechtliche Grundlagen geschaffen werden, die eine optimale Ausnutzung der zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten und die flexible Anpassung an sich wandelnde Bedingungen – etwa der Rückgang der Bewohner_innenzahlen – erlauben. Neben den Schlafräumen wirkt sich auch der Zugang zu Gemeinschaftsräumen, Sanitäranlagen, Büros und anderen Gebäudeteilen signifikant auf die Wohnbedingungen aus. Gemeinschaftsräume können einen Ausgleich zur beengten Zimmersituation und Raum für gemeinsame Aktivitäten und Kommunikation bieten. Alle untersuchten Unterkünfte verfügen über Räumlichkeiten, die mindestens zeitweise für gemeinschaftliche Zwecke genutzt werden, wobei die größeren Unterkünfte mehrere solcher Räume dauerhaft zur Verfügung stellen können. Allerdings hängt das Potenzial von Gemeinschaftsräumen auch von ihrer Zugänglichkeit und ihrer äußeren Beschaffenheit ab. Diese sind maßgebend dafür, ob die Bewohner_innen die Räume gerne und regelmäßig nutzen. Obgleich sich im ICC-Gebäude eine Gemeinschaftshalle, Bereiche für Frauen, Kinder und eine Sporthalle befinden, zeigen sich die Interviewten aus dem ICC insgesamt sehr unzufrieden mit den Räumlichkeiten, weil weder frische Luft noch natürliches Licht in die Unterkunft eindringen und die Fenster nicht geöffnet werden können. Die großen, hallenartigen Gemeinschaftsräume können dadurch nicht als positiv wahrgenommener Rückzugs- oder Aktionsraum fungieren, sondern werden von einigen Befragten vielmehr als begrenzende Warteräume erlebt: »Es fühlt sich an wie ein Gefängnis. Wir sitzen nur so rum. Wir haben als arabische Leute aber ge-

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lernt, immer etwas zu machen mit unserer Zeit.« (Interview Malteser-Unterkunft im ICC) In der Notunterkunft in Alt-Mariendorf sind hingegen weniger und kleinere Räume vorhanden, sodass dort der Speisesaal gleichzeitig als Gemeinschaftsraum dient. Der Essensbereich, die Büros und einer der beiden Gemeinschaftsräume der Johanniter-Unterkunft liegen in einem Bungalow außerhalb des Wohngebäudes. Letzterer ist durchgängig geöffnet, ebenso wie ein Rückzugsraum insbesondere für Jugendliche, während der Betreuungsraum für Kinder nur zu teils variablen Betreuungszeiten zugänglich ist. Um Aktivitäten, Austausch und Abwechslung in den Gemeinschaftsräumen zu fördern, ist ein entsprechendes Angebot, eine angenehme Atmosphäre und die äußere Abtrennung von den Schlafsälen nötig. Das Begegnungscafé im Flughafen Tempelhof ist ein Positivbeispiel: Hier wurde auf Initiative von gemeinnützigen Organisationen hin ein Ort geschaffen, an dem sich Geflüchtete, Ehrenamtliche und Besucher_innen aus der lokalen Bevölkerung zurückziehen und ungezwungen miteinander in Kontakt treten können. Zu diesem Zweck ist das Café mit Sitzmöglichkeiten, einer Theke, einer Infowand und einer Bühne gut ausgestattet und ansprechend gestaltet. Im Café finden Veranstaltungen statt, zu denen ausdrücklich auch Anwohner_innen eingeladen werden. Für mehrere Geflüchtete, die den Service betreuen, bietet es darüber hinaus eine Arbeitsmöglichkeit. Die Einbindung des Cafés in die ehrenamtliche Geflüchtetenarbeit im Viertel fördert seine Funktion als Begegnungsort, welcher sich zwar im Flughafengebäude befindet und somit leicht für Geflüchtete zugänglich ist, aber gleichzeitig vom Wohnbereich klar abgetrennt und nach außen hin offen ist. Das Frauencafé in der Johanniter-Unterkunft in Kreuzberg eröffnet eine vergleichbare Plattform des Austauschs. Jedoch handelt es sich hierbei um einen extern angebotenen wöchentlichen Programmpunkt, der speziell die weiblichen Bewohner der Unterkunft im Nachbarschaftshaus Kreuzberg zusammenführen soll. Eine der beiden Gesprächspartnerinnen aus der Kreuzberger Unterkunft nimmt dieses spezielle Angebot für Frauen häufig und gerne wahr, um Verbindungen zu anderen Frauen aufzubauen, während die andere wenig Interesse daran bekundet. Die Einrichtung von möglichst ansprechenden Gemeinschaftsräumen und externen Angeboten ist also kein Garant dafür, dass diese umfangreich genutzt werden, wie diese Beispiele zeigen. Für einzelne Bewohnergruppen kann es aber zu einer verbesserten Wohnsituation beitragen. Eine zusätzliche Belastung stellt unter Umständen die gemeinschaftliche Benutzung der Sanitäreinrichtungen dar. Interviewpartner_innen aus allen vier Notunterkünften zeigen sich mit den sanitären Anlagen unzufrieden: in allen Unterkünften seien insgesamt zu wenige Sanitäranlagen vorhanden, im ICC und in Tempelhof werden diese zudem von einigen Bewohner_innen dreckig hinterlassen. In der Johanniter-Unterkunft sei die Warmwasserversorgung unzureichend, sodass jeweils nur ein_e Bewohner_in duschen kann. Im

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ICC und in der Unterkunft in Alt-Mariendorf liegen die Duschen weit vom Wohnbereich entfernt; sie befinden sich im Untergeschoss (ICC) oder im Außenbereich (Alt-Mariendorf) des Gebäudes. Laut einer Bewohnerin der care&shelter-Unterkunft in Alt-Mariendorf verstärke sich dadurch das allgemeine Problem der unpraktischen Wege: Die Verrichtung von Routinetätigkeiten wie dem Duschen verbindet sich für sie mit den Unannehmlichkeiten langer Laufwege und dem ständigen Hin- und Hertragen der dazu benötigten Gegenstände. Die Probleme in Bezug auf die sanitären Anlagen illustrieren besonders deutlich die Defizite der umfunktionierten Gebäude und die Ausnahmebedingungen in den Notunterkünften, in denen alltägliche Tätigkeiten erheblichen Einschränkungen unterliegen. Die partielle Absperrung der Gebäude erschwert den Zugang zu den sanitären Anlagen und zu anderen Gebäudeteilen zusätzlich. Eine Interviewpartnerin aus der Johanniter-Unterkunft problematisiert in diesem Zusammenhang, dass die Bewohner_innen Geld und Wertsachen nicht sichern können und sie aus diesem Grund nur ungern ihre Zimmer, die sie selbst nicht abschließen können, verlassen. Die Geflüchteten können sich ihren eigenen Wohnraum unter diesen Bedingungen kaum aneignen, da sie keine funktionalen oder persönlichen Gegenstände an den entsprechenden Stellen bedenkenlos hinterlegen können, sondern permanent Fremdzugriffe fürchten müssen. Eine mögliche Lösung könnten sichere Schließfächer in den Zimmern, nahe der sanitären Anlagen und gegebenenfalls an weiteren Orten bieten. Weiterhin sollten den Bewohner_innen Zimmerschlüssel für abschließbare Räume ausgehändigt werden, um ein Minimum an Privatheit und Sicherheit zu gewährleisten. Der Leistungskatalog des Landesamts für Flüchtlingsangelegenheiten (nachfolgend LAF)7 beinhaltet aktuell keine Regelung für die Vergabe von Schlüsseln an Bewohner_innen, sodass Geflüchtete in der Notunterkunft Alt-Mariendorf problemlos Schlüssel erhalten, während die Unterkunftsverwaltung in Kreuzberg dies nicht gewährt. Die räumlichen Bedingungen in den Notunterkünften können also durch mehrere einfache Maßnahmen, wie einer gut durchdachten Zimmeraufteilung, der optimalen Ausnutzung der Gebäude und der Vergabe von Zimmerschlüsseln – sofern abschließbare Zimmer vorhanden sind – verbessert werden. Nichtsdestotrotz reichen diese Schritte nicht aus, um signifikante Probleme, wie die unzureichende Luft- und Lichtzufuhr, die mangelnde Privatheit und den schlechten Zustand der Sanitäranlagen, auszugleichen. Hierzu bedarf es gezielter Umbaumaßnahmen: Die Zwei-Familien-Zimmer in der Johanniter-Unterkunft könnten etwa durch Rigipswände unterteilt, die Zimmerwaben in den bei7 | Das Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten wurde im August 2016 als Landesbehörde in Berlin gegründet und nimmt seitdem den vormals im LAGeSo angesiedelten Aufgabenbereich der behördlichen Geflüchtetenarbeit wahr.

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den Großunterkünften durch massivere und überdachte Konstruktionen ersetzt und der Boiler in der Johanniter-Unterkunft ausgetauscht werden. Vor dem Hintergrund der langen Inbetriebnahme von Notunterkünften, die nunmehr über die akute Notsituation weit hinausreicht, sind diese Investitionen zugunsten einer kurz- und mittelfristigen Verbesserung der Wohnsituation von Geflüchteten durchaus angemessen. Darüber hinaus können geeignete Notunterkünfte so schrittweise zu Gemeinschaftsunterkünften umfunktioniert werden, sodass mittelfristig dringend benötigter Wohnraum für Geflüchtete entsteht.

Beratungs- und Betreuungsangebote Die Beratungs- und Betreuungsangebote für Geflüchtete unterscheiden sich in den Notunterkünften je nach ihrer Größe, den jeweiligen Bewohner_innengruppen und der Menge an haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter_innen vor Ort. Die Bewohner_innen stellen vor allem den Deutschunterricht und die Möglichkeit der Berufsberatung und Unterstützung bei der Wohnungssuche als wichtige und notwendige Angebote dar. Deutschkurse bieten teils ehrenamtliche und teils professionelle Lehrer_innen direkt vor Ort an. Viele Bewohner_innen besuchen aber auch Sprachkurse, die außerhalb der Unterkunft stattfinden. In der Johanniter-Unterkunft wird seit September 2016 der vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) geförderte Erstorientierungskurs der Johanniter angeboten, der speziell auf die Sprachbedürfnisse neueinreisender Geflüchteter ausgerichtet ist. Die weniger durchstrukturierten Sprachkursangebote in den drei anderen Notunterkünften leiden zum Teil darunter, dass die Sprachniveaus und Lerntempi der zahlreichen Kursteilnehmer_innen stark variieren. Folglich berichten sowohl die Bewohner_innen als auch die Angestellten von größeren Lernerfolgen durch externe Kurse, wobei laut einer Befragten aus Alt-Mariendorf vor allem das konzentriertere Lernumfeld Wirkung zeige. Die Schilderungen mehrer männlicher Bewohner des ICC verdeutlichen, dass der Besuch eines externen Sprachkurses die Orientierung und Kontakte von Geflüchteten außerhalb der Unterkunft fördern kann. Die beiden Interviewten, die außerhalb des ICC Deutsch lernen, stellen den Kurs als wichtigen Fixpunkt in ihrem Tagesablauf dar, der sie dazu motiviert, die Unterkunft für einige Stunden zu verlassen und regelmäßig in einem anderen Umfeld produktiv zu sein. Sie fühlen sich deutlich wohler und freier in der Stadt als diejenigen Bewohner_innen, die den Sprachunterricht innerhalb der Unterkunft wahrnehmen, was auch damit zusammenhängt, dass sie im Gegensatz zu Letzteren die Kosten des Nahverkehrstickets erstattet bekommen, wodurch sie wesentlich mobiler sind.8 8 | Die Erstattung der Ticketkosten ist vor allem für Asylbewerber_innen entscheidend, da sie sich ansonsten das vergünstigte Ticket für 36 Euro von 135 Euro Taschengeld

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In der Unterkunft im Tempelhofer Flughafen besteht das Zusatzangebot German Now, welches Gesprächsrunden zwischen Deutsch-Muttersprachler_ innen und Bewohner_innen initiiert. Ein Interviewpartner mit fortgeschrittenen Sprachkenntnissen schätzt dieses Angebot besonders, weil er dadurch die nötige Sprachpraxis erhält. Durch die Einbeziehung freiwilliger Helfer_innen kann es den Austausch zwischen Bewohner_innen und der lokalen Bevölkerung stimulieren, ohne Ehrenamtliche mit unzureichenden Vorkenntnissen vor die komplexe Aufgabe der Sprachvermittlung an eine große heterogene Gruppe zu stellen. Eine Kombination aus professionellen Sprachkursen, die außerhalb der Unterkunft stattfinden, und Sprachpraxisangeboten auf freiwilliger Basis innerhalb der Unterkunft kann also sowohl einen raschen Spracherwerb als auch die Anbindung an das städtische und soziale Umfeld begünstigen. Berufsberatung sowie Unterstützung bei der Wohnungssuche bieten in den Notunterkünften in der Regel einzelne Ehrenamtliche oder Initiativen an. Eine Mitarbeiterin aus Alt-Mariendorf erklärt, dass die hauptamtlichen Mitarbeiter_innen gerade in den kleineren Unterkünften ein strukturiertes Angebot in diesem Bereich, der offiziell nicht zu ihren Aufgaben zählt, aus Kapazitätsgründen nicht leisten können. Größere Unterkünfte haben hingegen bessere Chancen, externes Fachpersonal für die Betreuung vor Ort einzuspannen, wie die von der Agentur für Arbeit geleitete Berufsberatungsstelle in der Flughafen-Unterkunft Tempelhof zeigt. An den Aussagen einiger Bewohner_innen wird deutlich, dass sie sich konkrete und individuelle Unterstützung wünschen und bestehende Angebote nicht so sehr als tatsächliche Hilfe, sondern als allgemeine Beratung mit minimalen Erfolgsaussichten betrachten: »Im Endeffekt bringt das alles nichts« (Interview Notunterkunft Flughafen Tempelhof). Gerade bei der äußerst schwierigen Wohnungssuche fühlen sich viele Geflüchtete allein gelassen und erklären immer wieder, dass diese nur durch Engagieren eines Wohnungsmaklers zu bewerkstelligen sei, wofür sie auch Beispiele aus ihren Bekanntenkreisen anführen. Dieser koste jedoch mehrere Tausend Euro, die sie selbst nicht bezahlen könnten. Eine Mitarbeiterin der Johanniter weist darauf hin, dass in mehreren Fällen vermeintliche Makler Geflüchtete getäuscht hätten, indem sie deren Informationsdefizit ausnutzten und unüblich hohe Gebühren verlangten, zum Teil sogar ohne eine vermittelbare Wohnung zur Hand zu haben. Angesichts dieser verfahrenen Lage blicken einige Bewohner_innen der Wohnungssuche mit Sorge entgegen finanzieren müssen. Da die meisten Befragten aus den drei anderen Unterkünften wegen des späteren Befragungszeitraums bereits einen Aufenthaltstitel besitzen, stehen ihnen mehr finanzielle Mittel zur Verfügung. Zudem erhielten alle nach dem 28.10.2015 in Berlin registrierten Asylbewerber_innen das drei Monate gültige »Welcome to BerlinTicket«.

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und nehmen den Umzug in eine eigene Wohnung zunehmend als kaum zu bewältigende Hürde wahr: »Das Problem ist die Angst, danach irgendwann mal eine Wohnung zu finden, wenn man eine Aufenthaltserlaubnis kriegt, weil das etwas sehr Schwieriges ist, nach dem, was man von anderen Leuten so hört. […] Man muss hier irgendwie eine Existenz haben, denn ich werde doch nicht mein ganzes Leben hier im Camp leben, oder?« (Interview Malteser-Unterkunft im ICC)

Bereits in dieser Aussage aus dem Jahr 2016 klingt Unbehagen über die lange Wohndauer in der Notunterkunft an; ein Jahr später schlägt dieses Unbehagen bei einigen Befragten aus anderen Unterkünften in Frustration bis hin zu Resignation um. Nach Angaben von Mitarbeiter_innen leben viele Bewohner_innen in der Notunterkunft seit deren Eröffnung, also zum Teil seit knapp eineinhalb Jahren. Die langen Verweilzeiten bestätigen sich auch im Gespräch mit den Geflüchteten: Im ersten Befragungszeitraum (ICC) wohnen alle Befragten ca. sechs Monate und im zweiten Befragungszeitraum mindestens ein Jahr in der jeweiligen Einrichtung, mit Ausnahme der Bewohner_innen der Johanniter-Unterkunft, die zu diesem Zeitpunkt erst acht Monate besteht. Ein baldiger Umzug in eine Wohnung oder eine Gemeinschaftsunterkunft steht bei keinem Interviewpartner/keiner Interviewpartnerin in Aussicht und nur ein Befragter aus Tempelhof hat zum Interviewzeitpunkt einen Platz in einer Gemeinschaftsunterkunft erhalten. Trotz der Begrenzung der gesetzlichen Wohnpflicht auf sechs Monate wird die Unterbringung in Notunterkünften faktisch zu einem Dauerzustand, in dem Geflüchtete bis zu mehreren Jahren unter desolaten Bedingungen in zweckentfremdeten Provisorien leben. Die Notsituation, die eine Sicherung der Grundbedürfnisse in diesen Einrichtungen erforderte, wird von politischer Seite nicht durch eine effiziente Wohnungs- und Unterbringungspolitik aufgelöst, sondern auf Kosten der Geflüchteten hinausgezögert. Gerade die geringen Aussichten auf den Umzug in eine Wohnung oder eine Gemeinschaftsunterkunft, sprich in ein Wohnumfeld, das eine selbstbestimmte Lebensweise überhaupt erst ermöglicht, führen bei vielen Bewohner_innen sukzessive zu Perspektivlosigkeit und Resignation, so zwei Mitarbeiter_innen aus der Johanniter-Unterkunft und der Notunterkunft Alt-Mariendorf. Mehrere Befragte verknüpfen den Wunsch nach einer eigenen Wohnung in ihren Erzählungen mit Bedürfnissen nach Eigenständigkeit und Stabilität, da sich aufgrund des Ausnahmezustandes in den Notunterkünften kein Gefühl des Angekommenseins nach der Fluchterfahrung einstellt. Hier müssen sowohl die kurz- und mittelfristige Verbesserung der Lebensbedingungen in den Notunterkünften als auch langfristige Lösungen realisiert werden. Dies kann vor allem in Form einer unterstützenden Wohnungspolitik, die in Wohnungs-

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bau und Wohnungsvermittlungsstellen für Geflüchtete investiert, geschehen. Zu Letzterem könnte eine zentrale, auf Wohnungsangelegenheiten spezialisierte Beratungsstelle maßgeblich beitragen, die neben Beratungsangeboten auch eine effektive Vermittlung zwischen Geflüchteten und Wohnungsanbietern gewährleistet. Die Beratungs- und Vermittlungsstelle Wohnungen für Flüchtlinge des Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerkes, die von 2014 bis 2016 als offizielle Beratungsstelle mit dem LAGeSo bzw. dem LAF kooperierte, leistet eine solche Vermittlungsarbeit bereits. In dem Dreijahreszeitraum vermittelte sie 9.800 Geflüchteten erfolgreich eine Wohnung (vgl. EJF 2017: 6). Allerdings sind sich die Bewohner_innen der betrachteten Notunterkünfte dieses speziellen Ansprechpartners nicht bewusst und können angesichts der lückenhaften behördlichen Informationspolitik schwer die Erfolgsaussichten der unterschiedlichen nicht-behördlichen Unterstützungsangebote abschätzen. Hier bedarf es sowohl einer Zentralisierung der Wohnungsvermittlungsangebote als auch einer engen Zusammenarbeit zwischen den zuständigen Ämtern, allen voran dem LAF, sodass Geflüchtete entweder direkt vor Ort oder während amtlich zugewiesener Termine Wohnungsberatungs- und -vermittlungsangebote in Anspruch nehmen können. Weitere wichtige Akteure bei der Wohnungssuche und in Bezug auf allgemeine Unterstützung sind individuelle Bezugs- bzw. Vertrauenspersonen und persönliche Netzwerke. Diese ergeben sich in mehreren Fällen aus dem Kontakt zwischen Ehrenamtlichen und Bewohner_innen u. a. während der gemeinsamen Arbeit in der Notunterkunft. Beispielsweise verspricht sich eine Bewohnerin der Unterkunft in Alt-Mariendorf Erfolg von der Hilfe eines ehrenamtlichen Deutschlehrers, mit dem sie in der Kleiderkammer zusammenarbeitete, da dieser schon einer Familie eine Wohnung vermitteln konnte. Darüber hinaus baut sie hinsichtlich der Wohnungsfindung auch auf die Hilfe einer kurdischen Kirche in der Umgebung, in der sie regelmäßig Geistliche sowie Frauen aus anderen Unterkünften treffe und mit ihnen Sorgen und Probleme bespreche. Aufmerksam auf die Kirche wurde sie, als eine Ehrenamtliche mit ihr und anderen Bewohnerinnen die Nachbarschaft erkundete und ihnen Orte zeigte, die sie anschließend selbst frequentieren könnten. Notunterkünfte können auch selbst individuelle Ansprechpartner_innen einsetzen oder intensiveren Kontakt zwischen Freiwilligen und Geflüchteten erwirken. Auch hier erweisen sich die Ressourcen größerer Unterkünfte als entscheidend, dank derer in der Unterkunft im Flughafen Tempelhof mehrsprachige Familienlotsen zum Einsatz kommen. Ihre Aufgabe ist es, sich speziell den Bedürfnissen von Familien anzunehmen und ihnen das tägliche Leben in Deutschland zu erleichtern, um so die Orientierung in Deutschland und die Anbindung an die Nachbarschaft zu fördern. Dazu gehöre es einem Mitarbeiter zufolge auch, Angebote außerhalb der Unterkunft, wie zum Beispiel das Kindermuseum MACHmit!, gemeinsam aufzusuchen und Alltagswissen zu vermitteln, über

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dessen Komplexität sich viele Deutsche nicht bewusst seien. Diese Form der Betreuungsarbeit erlaubt es Bewohner_innen zum einen, Vertrauen zu Bezugspersonen aufzubauen, und zum anderen, sich in der neuen Umgebung zurechtzufinden, sodass sie nach einer Einführungsphase die Stadt eigeninitiativ erkunden und vertraute Orte und Einrichtungen aufsuchen können. Trotzdem das seit Mitte 2016 operierende LAF den Personenschlüssel in Sammelunterkünften verbessert hat, können hauptamtliche Mitarbeiter_innen eine solche Individualbetreuung jedoch kaum bewerkstelligen, weswegen ein gezielter Einsatz von ehrenamtlichen Kräften und die Kooperation mit Initiativen und Organisationen in diesem Bereich anzuraten ist. Um die Potenziale des Engagements bestmöglich auszuschöpfen, könnte eine übergeordnete Koordination der Ehrenamtsarbeit durch das LAF oder einen Dachverband der Betreiber eingerichtet und je nach Möglichkeit in spezifischen Bereichen, wie der Berufsberatung, der Wohnungssuche und der Nachbarschaftserkundung, Schulungen angeboten werden. Zusätzlich sollte der individuelle und informelle Kontakt zwischen Geflüchteten und ehrenamtlich Engagierten gefördert werden durch Angebote wie dem Begegnungscafé und den Gesprächsrunden von German Now im Flughafen Tempelhof, dem Frauencafé für Bewohnerinnen der Johanniter-Unterkunft und den Möglichkeiten der Zusammenarbeit in allen vier Unterkünften, die im Folgenden näher erläutert werden.

Freizeitangebote und Tagesgestaltung Neben Unterstützung bei Beratungsangeboten leisten freiwillige Kräfte und Initiativen der Geflüchtetenarbeit einen wichtigen Beitrag zum Freizeitangebot in den vier Notunterkünften. Enge Verbindungen zu gemeinnützigen Initiativen und Projekten sowie großes Engagement von Ehrenamtlichen weisen insbesondere die drei zentraler gelegenen Notunterkünfte auf. Die periphere Lage sowie der Raummangel wirken sich in Alt-Mariendorf negativ auf das ehrenamtliche Engagement aus, was die ohnehin geringere Anbindung an die soziale Infrastruktur Berlins zusätzlich erschwert. Laut einer Mitarbeiterin sei die Unterkunft im Vergleich zu einer mittlerweile geschlossenen Turnhalle in Kreuzberg viel schlechter in die Nachbarschaft integriert, denn Letztere habe enorm vom urbanen Umfeld und von ehrenamtlichen Projekten profitiert. Vor allem für junge Männer sei eine zentrale Unterbringung in einer dynamischen Nachbarschaft wichtig, während ältere Geflüchtete und Familien geeigneten Räumlichkeiten und Privatheit mehr Bedeutung beimäßen. Diese Wohnpräferenzen berücksichtigt das LAF bei der Zuteilung der Unterkünfte augenscheinlich nicht, obgleich eine bedürfnisgerechte Verteilung aufgrund der sinkenden Auslastung der Notunterkünfte durchaus möglich erscheint. Die Kooperationen zwischen Hauptamtlichen, Ehrenamtlichen und Initiativen favorisieren eine abwechslungsreiche Freizeitgestaltung vor allem

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für Kinder und jugendliche Bewohner_innen: Zu den Angeboten im ICC, in Tempelhof und in der Johanniter-Unterkunft zählen zahlreiche Sportkurse für unterschiedliche Altersgruppen, aber auch Musikunterricht, Chöre, Tanzstunden und organisierte Ausflüge. Insbesondere in der Johanniter-Unterkunft begrüßen die beiden befragten Mütter das breite Freizeitangebot für Kinder, da es vielseitige Beschäftigung und einen vergleichsweise strukturierten Tagesablauf bietet. Unterkünfte mit einem relativ hohen Frauen- und Familienanteil, wie die Malteser-Unterkunft im ICC und die Johanniter-Unterkunft in Kreuzberg, bieten außerdem spezifische Programmpunkte für Frauen, beispielsweise Näh- und Handarbeiten oder Frauenschwimmen, und im Falle der Johanniter-Unterkunft auch Angebote für Eltern wie eine Eltern-Kind-Gruppe. Einer Ehrenamtskoordinatorin zufolge entlaste das Engagement zwar die Hauptamtlichen, setze aber häufig voraus, dass diese zwischen Bewohner_innen und Ehrenamtlichen vermitteln und die Bewohner_innen zunächst zum Mitwirken animieren. Auch Angestellte anderer Unterkünfte beobachten, dass immer wieder Mitwirkende unter den Bewohner_innen gesucht und motiviert werden müssen und einige Angebote wenig Resonanz finden. Das hinge in erster Linie damit zusammen, dass die Intentionen der Freiwilligen zwar gut, ihre Ideen aber nicht immer auf die Bedürfnisse der Bewohner_innen abgestimmt seien, weshalb manche Aktivitäten, wie zum Beispiel ein Atemübungstraining, kaum vermittelt werden können. Eine Bewohnerin der Johanniter-Unterkunft wünscht sich folglich, dass die Geflüchteten in die Freizeitplanung miteinbezogen werden und sie ihre Interessen und Wünsche vorab ausdrücken können. In diesem Kontext bietet es sich an, Geflüchtete in die Programmplanung mit einzubeziehen und Schulungen ehrenamtlicher Mitarbeiter_innen einzurichten, um diese für die Bedürfnisse und Interessen von Geflüchteten zu sensibilisieren. Weiterhin fällt auf, dass sich nur sehr wenige Angebote explizit an Männer richten. Zwar folgt daraus, dass viele junge Männer selbst über die Ausgestaltung ihrer Freizeit und Tagesstruktur entscheiden können. Bei manchen führt dies aber auch zu dem Gefühl, stärker auf sich selbst gestellt zu sein. In diesem Zusammenhang lohnt eine nähere Betrachtung der Situation Alleinreisender in der Notunterkunft im ICC. In einem Gruppeninterview bringen junge alleinreisende Bewohner ein Gefühl von Vernachlässigung zum Ausdruck: »[D]adurch, dass die Fokussierung immer so auf den Familien liegt, werden die jungen Leute kaum wahrgenommen. […] Man gibt ihnen das Gefühl, ihr macht nur Probleme. Aber wir wollen auch arbeiten, wir wollen was machen!« (Interview Malteser-Unterkunft im ICC). Die fehlende Einbindung in Aktivitäten und die Konfrontation mit negativen Stereotypen führen dazu, dass sie sich sowohl in der Unterkunft als auch in der Stadt unwohl fühlen, weswegen es ihnen schwerfällt, aus der Unterkunft herauszutreten, Kontakte

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aufzubauen und sinnstiftenden Tätigkeiten nachzugehen, wie sich im weiteren Gesprächsverlauf zeigt. Auch in anderen Notunterkünften und bei verschiedenen Bewohnergruppen trägt ein verlängerter Aufenthalt in der Notunterkunft zu einer weitgehend passiven Handlungsweise und weniger Austausch mit Außenstehenden bei (vgl. auch Geiger 2016: 121 ff.). Letztlich sei diese Passivität dem Konzept der Notunterkünfte selbst geschuldet, so ein ehemaliger Unterkunftsleiter: Die kahlen Räume und die Vollversorgung kreierten eine bedrückende und lähmende Atmosphäre, in der Geflüchteten tägliche Entscheidungen und Erledigungen abgenommen würden. Dementsprechend häufig berichten die Bewohner_innen über starke Langeweile und schildern die in der Notunterkunft verbrachte Zeit als unproduktive und vergeudete Zeit. Unter diesen Voraussetzungen bedarf es eines hohen Grades an Tatkraft und Motivation, um aus den Strukturen der Unterkunft auszubrechen und selbst aktiv zu werden. Dennoch gelingt es gerade jungen Geflüchteten, die sich auf aktuelle Aufgaben (Behördengänge usw.) und konkrete Zukunftspläne konzentrieren, aktive, zielgerichtete Handlungsstrategien zu entwickeln. So fokussiert sich etwa ein Befragter aus Tempelhof auf seine Studienvorbereitungen, zwei Bewohner des ICCs ziehen Selbstvertrauen aus ihrer Mitarbeit in der Unterkunftsverwaltung im Rahmen einer geringfügigen Beschäftigung und eine Bewohnerin Alt-Mariendorfs rückt das Familienleben und die gegenseitige Solidarität ins Zentrum ihres Alltags in Deutschland. Die besuchten Notunterkünfte unterbinden folglich nicht per se die Selbstbestimmung aller Bewohner_innen, sondern stellen sie vor widrige Bedingungen, mit denen die einzelnen Bewohnergruppen unterschiedlich umgehen. Damit Geflüchtete ihre aktuelle Situation selbst gestalten können, müssen sich ihnen Perspektiven eröffnen, durch die sie mehr Verantwortung übernehmen und mit der Rolle des passiven Rezipienten brechen können. Doch eben diese Rolle priorisiert das deutsche Asylsystem, indem es vorrangig auf Sachleistungen9 setzt, räumliche Mobilität durch die Residenzpflicht und die Wohnsitzsauflage10 unterbindet und die Beschäftigungschancen von Geflüchteten schmälert, anstatt konkrete Maßnahmen zu entwickeln, die ihre Selbst9 | Mit den zum 15. Oktober 2015 in Kraft getretenen Änderungen des Asylbewerberleistungsgesetz wurden Barzahlungen an Geflüchtete weitgehend reduziert und durch Sachleistungen ersetzt, um »mögliche Fehlanreize zu beseitigen, die zu ungerechtfertigten Asylanträgen führen können« (Bundestag 2015: 1). 10 | Die Residenzpflicht bezeichnet die räumliche Beschränkung der Aufenthaltsgestattung von Asylsuchenden und Geduldeten auf den Bezirk der jeweilig zuständigen Ausländerbehörde (vgl. § 55 AsylG), während die Wohnsitzauflage festlegt, dass Geflüchtete unter Umständen ihren Wohnsitz an einem vorgeschriebenen Ort einnehmen müssen. Mit den Änderungen des Integrationsgesetzes in 2016 wurde diese Regelung

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bestimmung und -verantwortung steigern. Das dreimonatige Arbeitsverbot für Geflüchtete unmittelbar nach ihrer Einreise und die anschließende – teilweise ausgesetzte  – Vorrangprüfung11 bauen Barrieren auf, die eine rasche Arbeitsmarktintegration torpedieren. Dieser kommt aber eine tragende Bedeutung zu, da mit der Erwerbstätigkeit sowohl eine Strukturierung des Alltags als auch finanzielle Unabhängigkeit einhergehen. Anhand der Interviews wird deutlich, dass insbesondere für männliche Befragte mit dem Erwerbsleben ein wichtiger Identifikationsrahmen entfällt, der ihre vorherige gesellschaftliche Stellung maßgeblich definierte: »Ich war ein sehr wichtiger Angestellter in meinem Heimatland und habe so viel studiert. […] Ich fühle mich nicht zuhause, weil ich viel tun muss und ich kann hier nicht arbeiten, ich kann hier nicht studieren, ich muss eine fremde Sprache von Anfang an lernen […] und deswegen fühle ich mich hier fremd.« (Interview Malteser-Unterkunft im ICC). Einer verlängerten Phase der Arbeitslosigkeit und erlebter Stagnation kann die Aufnahme einer geringfügigen Beschäftigung entgegenwirken. Die jüngste Reform des Asylbewerberleistungsgesetzes begünstigt die Bereitstellung von sogenannten Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigungen als Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen, die mit 80 Eurocent pro Stunde entlohnt und vornehmlich in den Wohneinrichtungen selbst angeboten werden (vgl. § 5 AsybLG). In diesem Rahmen engagieren alle untersuchten Notunterkünfte Bewohner_innen für eine Fülle von Aufgabengebieten, so zum Beispiel für Dolmetschertätigkeiten, die Kleiderausgabe und Reparaturarbeiten. Sowohl die Verwaltung als auch die befragten Bewohner_innen bewerten die Möglichkeit der Mitarbeit in den Unterkünften sehr positiv. Obgleich die Entlohnung äußerst gering ist, verspricht eine solche Tätigkeit eine stückweite finanzielle Unabhängigkeit für die Geflüchteten und vor allem eine regelmäßige produktive Betätigung. Ferner nutzen einige Bewohner_innen die Zusammenarbeit mit der Unterkunftsverwaltung, um den Kontakt zu haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter_innen zu intensivieren. So konnte beispielsweise die Bewohnerin Alt-Mariendorfs während ihrer gemeinsamen Arbeit in der Notunterkunft Vertrauen zu dem ehrenamtlichen Deutschlehrer fassen, der sie aktuell bei der Wohnungssuche unterstützt. Zwei Bewohner des ICC erläutern, dass sie sich durch die Zusammenarbeit mit den Maltesern stärker erstmalig auch auf anerkannte Flüchtlinge, Asylberechtigte und subsidiär Schutzberechtigte, die Sozialhilfeleistungen empfangen, ausgeweitet (vgl. § 12a AufenthG). 11 | Die sogenannte Vorrangprüfung stipuliert, dass Ausländer eine Beschäftigung nur mit Zustimmung der Bundesagentur für Arbeit aufnehmen dürfen, die erteilt wird, sofern keine geeigneten deutschen bzw. rechtlich gleichgestellten Bewerber_innen zur Verfügung stehen (vgl. § 39 AufenthG). Eine Verordnung des Bundesministeriums für Arbeit setzte ab Mitte 2016 die Vorrangprüfung in 133 von insgesamt 156 Agenturbezirken der Bundesagentur für Arbeit für drei Jahre aus.

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eingebunden fühlen, während ein Mitarbeiter des Begegnungscafés in Tempelhof auch nach seinem Umzug in eine Gemeinschaftsunterkunft in diesem weiterarbeitet, weil sich dort sein soziales Umfeld befinde.12 Unabhängig von den ungünstigen Arbeitskonditionen wirkt sich eine Beschäftigung also sehr positiv auf die Kompetenzentwicklung, die soziale Anbindung und das allgemeine Wohlbefinden von Bewohner_innen in Notunterkünften aus, weshalb rechtliche und politische Rahmenbedingungen langfristig Beschäftigungsmöglichkeiten begünstigen müssen. In diesem Kontext müssen Behörden und Betreiber in möglichst enger Koordination mit Unternehmen und anderen Dienstleistern Arbeitsgelegenheiten für Geflüchtete auch außerhalb der Notunterkünfte schaffen. Darüber hinaus könnten Fortbildungen, Workshops und Berufsberatung durch (ehrenamtliches) Fachpersonal innerhalb der Unterkünfte sowohl eine erfolgreiche Arbeitsmarktintegration fördern als auch der teils zu beobachtenden Perspektivlosigkeit entgegenwirken.

Verpflegungssituation In Bezug auf die allgemeinen Problematiken in der Notunterkunft kritisieren die Befragten aus allen Einrichtungen mit Abstand am häufigsten und am heftigsten die Verpflegung. Da in den Notunterkünften keine individuellen Kochmöglichkeiten für Bewohner_innen vorgesehen sind, wird das Essen entweder von außen angeliefert (ICC, Kreuzberg, Alt-Mariendorf, Tempelhof zu Beginn) oder in der Unterkunft selbst von Fachpersonal, gegebenenfalls unterstützt durch Bewohner_innen, gekocht (Tempelhof aktuell). In den meisten Fällen beschreiben die Befragten das Essen als schlecht im Geschmack, eintönig, ungewohnt und zum Teil als schwer verträglich und nicht an die Essgewohnheiten der Herkunftsregionen angepasst. Zwei Bewohner_innen des ICC berichten, dass aufgrund der schlechten Essensqualität sogar ein Hungerstreik organisiert und Unterschriften gesammelt wurden, um die Verwaltung dazu zu bewegen, den Verpflegungsdienst zu wechseln. Diese nimmt die Beschwerden der Bewohner_innen ernst, ist hinsichtlich der Verpflegungssituation jedoch von den Entscheidungen der Hauptzentrale der Malteser e. V. sowie von behördlichen Vorgaben abhängig, sodass sie erst nach zeitintensiven Absprachen den Verpflegungsdienst wechseln kann. Neben der weitgehend mangelhaften Qualität des Essens sehen die Interviewten aus dem ICC es als problematisch an, dass sie keine Möglichkeit haben, sich selbst zu verpflegen: »Eine der Sachen, die wir hier machen wollten (ist), 12 | Da die beiden Interviewpartnerinnen aus der Johanniter-Unterkunft keiner Arbeit in der Notunterkunft nachgehen, kann über deren Effekte in dieser Unterkunft keine Aussage getroffen werden, obgleich auch dort Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung bestehen.

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dass wir vielleicht hier kochen oder dass sie uns die Küche geben, weil es gibt viele Hausfrauen hier und Leute, die echt gut kochen können […] und auch für große Familien und so […] aber es wurde ihnen nicht erlaubt.« (Interview Malteser-Unterkunft im ICC). Aufgrund des Catering-Services können sie weder ihre Potenziale ausnutzen noch selbst darüber entscheiden, welche Nahrung sie täglich zu sich nehmen. Die Fremdverpflegung bedeutet für die Geflüchteten somit nicht bloß eine nebensächliche Unannehmlichkeit, sondern einen konstanten Eingriff in eine wichtige persönliche Entscheidung, welcher einer selbstbestimmten Lebensweise entgegensteht. Entsprechend positiv berichtet eine Gesprächspartnerin aus der Johanniter-Unterkunft über eine Veranstaltung, bei der den Bewohner_innen einmalig eine Küche zur Verfügung gestellt und die Gelegenheit gegeben wurde, für die gesamte Unterkunft zu kochen. Auch die beiden Bewohner des Flughafengebäudes beurteilen die Tatsache, dass das Personal und mehrere Bewohner_innen nun direkt vor Ort die Mahlzeiten für die gesamte Bewohnerschaft zubereiten, als eine deutliche Verbesserung gegenüber dem angelieferten Essen, obgleich die mithelfenden »ganzen jungen Männer das (Kochen) dann hier noch lernen mussten« (Interview Notunterkunft Flughafen Tempelhof). Auch die Befragten aus der Notunterkunft in Alt-Mariendorf sprechen sich nachdrücklich für Selbstverpflegung aus: Da diese Notunterkunft seit einiger Zeit zu einer Gemeinschaftsunterkunft umfunktioniert werden soll, wurden bereits auf jeder Etage Küchen eingerichtet, aber wegen ausstehenden behördlichen Genehmigungen noch nicht in Betrieb genommen. Beide Befragte befürworten einen raschen Übergang zu einer Gemeinschaftsunterkunft, der für sie vor allem Unabhängigkeit, unter anderem in Bezug auf die Verpflegung, bedeutet: »Das Einzige, was er sich wünscht ist, dass das eine Gemeinschaftsunterkunft wird. Dass sie selbstständiger leben können, dass sie nicht immer abhängig von den Essen-Lieferungen und den ganzen Sachen sind.« (Interview Notunterkunft in Alt-Mariendorf) Die Fremdverpflegung forciert demnach eine langwährende Abhängigkeit der Bewohner_innen und nimmt ihnen mit dem Einkauf und der Zubereitung von Nahrungsmitteln eine wichtige Konstante des alltäglichen Lebens. In einer der Notunterkünfte schafften Bewohner_innen eigeninitiativ Elektroherdplatten an, um ungeachtet behördlicher Regelungen für sich und ihre Familie kochen zu können.13 Obgleich ihre Kochmöglichkeiten immer noch limitiert sind, eröffnen sie eine willkommene Alternative zu der angelieferten Verpflegung. Die Verwendung von Elektroherdplatten erlaubt den Geflüchteten selbst zu entscheiden, ob sie für sich kochen und was sie essen möchten, sodass sie als Übergangsmöglichkeit auch in anderen Unterkünften infrage kommen könnte. In dem Fall müsste allerdings eine ausreichende Strom13 | Da die amtlichen Brandschutzbestimmungen die Verwendung von Elektroherdplatten nicht gestatten, wurde die betreffende Notunterkunft hier anonymisiert.

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versorgung gesichert und geklärt werden, wie die Behörden diese Form der partiellen Selbstverpflegung berechnen würden. Derzeit wird den Bewohner_ innen von Notunterkünften kein Essensgeld ausgezahlt, weswegen sie zusätzliche Nahrungsmittel von dem ihnen zur Verfügung stehenden Taschengeld (Asylbewerber_innen) oder entsprechend reduzierten Sozialhilfeleistungen (Geflüchtete mit Aufenthaltstitel) selbst finanzieren müssen. Ein Familienvater aus dem ICC erläutert, dass sie den Hauptteil des Taschengeldes der sechsköpfigen Familie für Nahrungsmittel ausgeben müssen, da seine Kinder sich weigern, die Speisen in der Notunterkunft zu essen. In diesem Zusammenhang bekräftigt ein ehemaliger Leiter einer anderen Unterkunft Sorgen um einzelne Fälle von Unterernährung bei Kindern. Über eineinhalb Jahre nach der Inbetriebnahme zahlreicher Notunterkünfte in Berlin setzen die Behörden noch immer ausschließlich auf externe Verpflegungsdienste. Warum diese gegenüber nachhaltigeren Lösungen bevorzugt werden, ist auch insofern unklar, als die Beauftragung von CateringFirmen, die laut dem Berliner Abgeordnetenhaus im Jahr 2015 zwischen 9,60 Euro und 12 Euro pro Bewohner_in und Tag veranschlagten (vgl. Abgeordnetenhaus 2015), mit hohen Kosten verbunden ist. Hier besteht also durchaus die Chance, ohne erhebliche Mehrkosten die Selbstbestimmung und -verantwortung von Geflüchteten zu priorisieren. Sozial- und Verwaltungsmitarbeiter_innen aus dem ICC, der Johanniter-Unterkunft und der Notunterkunft Alt-Mariendorf sehen in der anhaltenden Fremdverpflegung eine massive Einschränkung für die Bewohner_innen sowie einen ineffizienten Organisationsaufwand und stehen der behördlichen Unbeweglichkeit in dieser Frage mit Unverständnis gegenüber. Angesichts geltender baurechtlicher Bestimmungen dürfen die Betreiber in einer Großzahl der zur Verfügung stehenden Räumlichkeiten jedoch keine Kochmöglichkeiten einrichten, sodass die Verbesserung der Verpflegungssituation einen politisch geförderten Um- und Neubau der Notunterkünfte voraussetzt. Auf kurze Sicht könnte die Bereitstellung von Elektroherdplatten in einem geeigneten Raum die Situation verbessern. Mittelfristig müssen für Bewohner_innen einer Unterkunft grundsätzlich ausreichend Geräte und Räumlichkeiten zur eigenen Verpflegung bereitgestellt werden. Dies entbindet den Gesetzgeber nicht von der Pflicht, ausreichenden individuellen Wohnraum außerhalb der Unterkunftsstrukturen zu schaffen.

Soziale Beziehungen innerhalb der Notunterkunft Aufgrund des Zusammenlebens und -arbeitens auf engstem Raum entsteht in den Notunterkünften ein komplexes Beziehungsgeflecht zwischen den Bewohner_innen und dem Personal sowie unter den Bewohner_innen. Das hauptamtliche Personal gliedert sich in Angestellte des Betreibers und Mitarbeiter_innen des Wachschutzes auf, mit jeweils differierenden Aufgaben- und

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Kompetenzbereichen und sehr unterschiedlichen Beziehungen zu den Bewohner_innen. Sämtliche Befragte unterhalten aus eigener Sicht gute Beziehungen zur Verwaltung, die sie prinzipiell als hilfsbereit und freundlich einschätzen. Allerdings weisen Interviewpartner_innen aus allen Unterkünften darauf hin, dass Sozial- und Verwaltungsmitarbeiter_innen häufig eine lediglich beratende Funktion einnehmen und dadurch Probleme nicht immer und nicht schnell genug lösen. Wie bereits in Bezug auf die Betreuung erwähnt, können die Mitarbeiter_innen in vielen Bereichen keine individuelle Hilfestellung bieten, was auf Seiten der Geflüchteten zu enttäuschten Erwartungen und offenen Fragen führen kann. Zudem nehmen sie häufig eine Mittlerrolle zwischen den Bewohner_innen und der Geschäftsführung des jeweiligen Betreibers oder den Behörden ein, können aber wegen lückenhafter Informationspolitik und unklarer Zukunftsplanung den Bewohner_innen in vielen Fällen keine genauen Auskünfte geben. Dies zeigt sich unter anderem beim Umbau der Notunterkunft in Alt-Mariendorf in eine Gemeinschaftsunterkunft, deren offizielle »Eröffnung« wegen offener Anträge beim LAF vom 1. Januar 2017 erst auf den 1. März und schließlich auf unbestimmte Zeit verlegt wurde. Eine Mitarbeiterin präzisiert, dass sie nun selbst nicht wisse, wann die Eröffnung stattfinde und folglich auch keine Informationen dazu weiterleiten könne. In diesem Zusammenhang stellt auch die Vertragspolitik des Landes Berlin die Betreiber vor gravierende Probleme: In der Regel werden Verlängerungsverträge über drei bis maximal sechs Monate ausgestellt und angekündigte Schließungen vergleichsweise kurzfristig ausgesetzt, sodass sie nie langfristig planen können. Die Bewohner_innen leben dadurch in ständiger Ungewissheit mit Blick auf einen etwaigen Umzug, dessen Zeitpunkt und Destination ungeklärt sei, so ein ehemaliger Unterkunftsleiter. Vor diesem Hintergrund können die Sozial- und Verwaltungsmitarbeiter_innen ihre Funktion als direkte Ansprechpartner für die Geflüchteten kaum erfüllen und nur unzureichend auf ihre Bedürfnisse eingehen. Nach einer Studie von Sebastian Muy (2016) spitzt sich dieses Problem in privat betriebenen Unterkünften durch Konflikte zwischen den Kosten und Anforderungen einer effektiven Sozialarbeit und den wirtschaftlichen Interessen der Geschäftsleitung zu, allerdings bestätigt sich diese These in Bezug auf die hier betrachteten Notunterkünfte nicht. Vielmehr demonstriert gerade das vielschichtige Betreuungs- und Beratungsangebot in der privat betriebenen Notunterkunft Tempelhof den Willen, den sehr schwierigen Wohnbedingungen eine umfassende Unterstützung entgegenzusetzen. Voraussetzung hierfür sind neben der Offenheit des Betreibers auch bereits vorhandene Projekte und Initiativen, auf die zurückgegriffen werden kann. Den insgesamt dennoch positiv konnotierten Beziehungen zum Verwaltungspersonal steht in den beiden Großunterkünften ein äußert konfliktbeladenes Verhältnis zu Mitarbeiter_innen des Wachschutzes gegenüber. Während die Bewohner_innen der beiden kleineren Unterkünfte den Kontakt zu

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den wenigen Sicherheitsangestellten nicht erwähnen, schildern Befragte aus dem ICC und Tempelhof ein von gegenseitigem Misstrauen und häufigen Konflikten geprägtes Verhältnis: »Es gibt […] das Problem mit den Security, dass sie das Gefühl haben, sie haben das absolute Recht, also sie können machen, was sie wollen.« (Interview Malteser-Unterkunft im ICC) »Das zweite Problem ist mit den Securitys; manchmal sind ganz normale Gegenstände verboten, manchmal nicht. Wir haben viele Probleme mit den Securitys, jeden Tag.« (Interview Notunterkunft Flughafen Tempelhof) Ferner berichten Bewohner_innen von willkürlichen und unerlaubten Kontrollen der Schlafräume, respektloser und teils aggressiver Kommunikation und der Benachteiligung und Diskriminierung einzelner Bewohner_innen. Das hohe Konfliktpotenzial speist sich unter anderem aus einem Mangel an professioneller Distanz und Neutralität seitens der Sicherheitsleute, von denen viele selbst Wurzeln in den Herkunftsregionen der Geflüchteten haben und ihre jeweilige Muttersprache sprechen. Sowohl Bewohner_innen des ICC als auch ein Mitarbeiter der Flughafen-Unterkunft werfen ihnen vor, abhängig von ihrer eigenen Herkunft bestimmte Bewohnergruppen zu bevorzugen beziehungsweise andere zu benachteiligen. Aus diesen Unstimmigkeiten resultierten den Befragten zufolge schon mehrere gewaltsame Auseinandersetzungen, die teilweise eine polizeiliche Intervention erforderten. Die Bewohner_innen befinden sich dem Wachdienst gegenüber in einer äußerst ungünstigen Position, denn dieser setzt die Verwaltung über etwaige Verstöße gegen die Hausordnung in Kenntnis und kann so einen Verweis einzelner Mitbewohner_innen aus der Unterkunft forcieren. Die Verwaltung ist wiederum auf die Zusammenarbeit mit den Wachleuten in Sicherheitsfragen und wiederholt auch auf sprachliche Vermittlung angewiesen, weswegen sie nach Aussagen von Befragten bei Konflikten mit diesen nur bedingt schlichten könne. Um diese Spannungen in großen Notunterkünften aufzulösen, müssen die Angestellten des Wachschutzes speziell für die Arbeit mit Geflüchteten sensibilisiert werden, da diese soziale und kulturelle Kompetenzen erfordert, die über jene des Veranstaltungs- und Objektschutzes hinausgehen. Neben Konflikten zwischen dem Personal und den Geflüchteten bedingen die unterschiedlichen Lebensstile und Bedürfnisse der Bewohner_innen auch Spannungen untereinander. Zwischen den verschiedenen Herkunftsgruppen kam es in allen Notunterkünften außer der Johanniter-Unterkunft bereits zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Darüber hinaus treten auch Unstimmigkeiten zwischen jungen alleinreisenden Männern und Familien auf. Diese manifestieren sich insbesondere in der Malteser-Notunterkunft im ICC: Während sich junge Männer angesichts der Priorisierung der Bedürfnisse von Familien vernachlässigt fühlen, störe laut einem befragten Familienvater das unangepasste Verhalten einiger Alleinreisender, die zum Beispiel Alkohol konsumieren, das Familienleben massiv. Um den vielschichtigen Bedürfnissen

Wohner fahrungen von Geflüchteten in Berliner Notunterkünf ten im Vergleich

von Familien und Frauen mit Kindern Rechnung zu tragen, wurde mit der Johanniter-Unterkunft in Kreuzberg eine separate Unterbringungsmöglichkeit für diese geschaffen. Allerdings schreibt nur eine der beiden interviewten Bewohnerinnen der gruppenspezifischen Betreuung einen wirklichen Mehrwert zu; für die andere Gesprächspartnerin überschatten die allgemeinen Probleme in der Notunterkunft – insbesondere fehlende Privatsphäre und Platzmangel – jedwede Vorteile. Außerdem übertragen sich dort ihr zufolge immer wieder Auseinandersetzungen zwischen den Kindern auf die Eltern, was wiederum ein Bewohner des ICC in Bezug auf diese Unterkunft bestätigt. Trotz zahlreicher Konflikte identifizieren einige Interviewpartner_innen auch positive Aspekte des Zusammenlebens: Eine Bewohnerin der Notunterkunft in AltMariendorf profitiert von der Solidarität unter den Geflüchteten, insbesondere unter den Syrer_innen, sowie von der Option, sich bei Problemen und Kummer an Verwandte, die ebenfalls in der Unterkunft wohnen, zu wenden. Mehrere Befragte des Messegebäudes sprechen zudem explizit das »Gemeinschaftsgefühl« in der Unterkunft an, das für sie einen sozialen Bezugspunkt nach ihrer Ankunft in Deutschland zu bilden scheint.

F a zit Die Untersuchung hat gezeigt, dass sich Geflüchtete in Berliner Notunterkünften mit äußerst schwierigen Bedingungen konfrontiert sehen, die ihnen eine selbstbestimmte Lebensführung in Deutschland erheblich erschweren. Ein Großteil dieser Probleme ist direkt oder indirekt auf das Konzept der Notunterkünfte, als vorübergehende Wohneinrichtungen zur Sicherung der Grundversorgung in Ausnahmesituationen, zurückzuführen. So bedingt die Aufwendung von mangelhafter Bausubstanz und zweckentfremdeten Gebäuden die desolaten räumlichen Konditionen, welche sich allen voran in fehlender Privatsphäre, Platzmangel und unzulänglichen und teils dysfunktionalen Gemeinschaftsräumen und Sanitäranlagen ausdrücken. Ferner drängt das umfassende Versorgungsprinzip in den Notunterkünften, durch das den Geflüchteten sämtliche tägliche Erledigungen und Entscheidungen entzogen werden, sie in die Position passiver Rezipienten und limitiert ihre Handlungsfähigkeit in entscheidendem Maße. Befragte aus allen vier Notunterkünften nehmen diese Einschränkungen sehr deutlich wahr und drücken entweder Frust und Verärgerung, Unwohlsein oder Resignation in Bezug auf ihr Wohnumfeld aus. Angesichts dessen gestalten sich die langen Verweilzeiten in den Notunterkünften besonders problematisch: Viele Geflüchtete wohnen über ein Jahr in den Einrichtungen, also weitaus länger als die gesetzlich vorgeschriebene Maximalwohndauer von sechs Monaten. Die Ausnahmesituation wird auf diese Weise zu einem prekären Dauerzustand.

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Aus den Gesprächen und der vorhergehenden Analyse ergeben sich folgende Handlungsempfehlungen um die derzeitige Wohnsituation zu verbessern: Die räumlichen Bedingungen in Notunterkünften müssen durch gezielte Umbaumaßnahmen an die Erfordernisse von längeren Wohnaufenthalten angepasst werden. Weil kurz- und mittelfristig nicht ausreichend privater Wohnraum und Plätze in Gemeinschaftsunterkünften zur Verfügung gestellt werden können, muss in Notunterkünfte mit vergleichsweise guten räumlichen Voraussetzungen aktiv investiert werden. Priorität hat dabei die Einrichtung von Kochmöglichkeiten, die Verbesserung der Sanitäranlagen und die Gewährung von Privatsphäre in den Schlafräumen, unter anderem durch Hochziehen von massiven Trennwänden in Großräumen wie den Klassenzimmern der Johanniter-Unterkunft oder den Büroräumen der Notunterkunft in Alt-Mariendorf. Indem geeignete Notunterkünfte auf diese Weise zu Gemeinschaftsunterkünften umgebaut werden, dienen die Maßnahmen nicht nur der kurzfristigen Verbesserung der Wohnbedingungen sondern auch der mittelfristigen Einrichtung von dringend benötigtem Wohnraum für Geflüchtete. Die Geflüchtetenarbeit sowie politische Maßnahmen müssen gezielt die Selbstbestimmung und -verantwortung von Geflüchteten priorisieren. Das tägliche Leben in den Notunterkünften kann sich nur (partiell) normalisieren, wenn Bewohner_innen eigeninitiativ und selbstbestimmt handeln können, vor allem dergestalt, dass sie sich selbst verpflegen und am Berufsleben teilhaben können. Auch hier sind die Einrichtung von Gemeinschaftsküchen, aber auch die Bereitstellung von Beschäftigung und der Einbezug von Bewohner_innen in Entscheidungsprozesse innerhalb der Unterkünfte  – etwa bezüglich der Zimmerverteilung und des Freizeitangebots  – entscheidend. Die Interviews belegen, dass sich ein höheres Maß an Selbstbestimmung und Entscheidungsfreiheit sehr positiv auswirkt, z. B. in Bezug auf die Zimmervergabe nach den Wünschen der Geflüchteten in Tempelhof. Insbesondere die Ausübung von Arbeitsgelegenheiten mit Mehraufwandsentschädigung im ICC, in Tempelhof und in der Johanniter-Unterkunft verbessert das Wohlbefinden von Befragten, beugt Perspektivlosigkeit vor und erhöht darüber hinaus langfristig ihre Chancen auf dem Arbeitsmarkt. Die Beratungs-, Betreuungs- und Freizeitangebote in den Notunterkünften müssen die Orientierung innerhalb der neuen Umgebung und Einbindung in die Nachbarschaft fördern. Beratungs- und Betreuungsangebote haben insbesondere dann nachhaltige positive Effekte auf die Bewohner_innen, wenn diese dadurch die städtische Umgebung kennenlernen, Netzwerke aufbauen und Perspektiven entwickeln können. Positivbeispiele hierfür sind das Sprachpraxisangebot, das Begegnungscafé und der Einsatz von Familienlotsen in der Notunterkunft Tem-

Wohner fahrungen von Geflüchteten in Berliner Notunterkünf ten im Vergleich

pelhof, das Frauencafé in der Johanniter-Unterkunft und die informelle Einzelbetreuung sowie Austauschrunden in der Kirche in Alt-Mariendorf. All diese Angebote fördern die Einbindung von Geflüchteten in ihre städtische Umgebung und zwanglose und intensivere Kontakte zu Anwohner_innen und Freiwilligen. Um die Potenziale des Engagements bestmöglich zu nutzen, müssen freiwillige Helfer_innen für die Bedürfnisse von Geflüchteten sensibilisiert, die Ehrenamtsarbeit übergeordnet koordiniert und in den wichtigsten Bereichen, wie der Berufsberatung, der Wohnungssuche und der Nachbarschaftserkundung, von amtlicher Seite – beispielsweise durch Schulungen – unterstützt werden. Die Zusammenarbeit zwischen Betreibern und zuständigen Behörden muss verbessert, der Gestaltungsspielraum der Betreiber vergrößert und die Entscheidungswege müssen verkürzt werden. Die Gespräche mit Mitarbeiter_innen aus den vier Notunterkünften decken auf, dass diese durchaus bemüht sind, auf die Bedürfnisse von Bewohner_innen einzugehen, ihnen aber oft die logistischen und finanziellen Mittel dazu fehlen. Damit Sozial- und Verwaltungsmitarbeiter_innen ihre Aufgaben als Ansprechpartner_innen und Betreuer_innen für Geflüchtete erfüllen können, bedarf es einer lückenlosen Informationspolitik und Unterstützung für innovative Ansätze seitens der Behörden. Gleichzeitig müssen regelmäßige Absprachen und Kontrollen sicherstellen, dass Betreiber aufgrund ökonomischer oder anderer Interessen ihre Entscheidungsposition nicht zulasten der Bewohner_innen missbrauchen können. Langfristig muss ausreichend privater Wohnraum geschaffen und die erfolgreiche Vermittlung von Wohnungen an Geflüchtete sichergestellt werden. Einige der hier aufgeführten Probleme in Notunterkünften lassen sich nicht durch Umbaumaßnahmen und eine erfolgreiche Geflüchtetenarbeit beheben und bestehen zum Teil auch in Gemeinschaftsunterkünften – allen voran die Belastung, mit einer sehr großen Anzahl fremder Menschen auf engem Raum zusammenzuleben. Darum müssen zum einen Massennotunterkünfte in stark zweckentfremdeten Gebäuden, wie dem Flughafengebäude und dem ICC, möglichst schnell und transparent geschlossen werden und zum anderen auf lange Sicht eine nachhaltige Strategie des sozialen Wohnungsbaus, die den Implikationen von Segregation und Diskriminierung entgegenwirkt, entwickelt werden. Eine wichtige Anforderung dieser Strategie liegt auch in der kompetenten und schnellen Vermittlung von Wohnungen an Geflüchtete über eine zentrale Vermittlungs- und Beratungsstelle.

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I ntervie w verzeichnis Johanniter-Unterkunft in Kreuzberg: Mitarbeiter_in, 23.02.2017. Johanniter-Unterkunft in Kreuzberg: Bewohnerin aus Syrien, 01.03.2017. Johanniter-Unterkunft in Kreuzberg: Bewohnerin aus Jordanien (palästinensische Geflüchtete), 01.03.2017. Malteser-Unterkunft im ICC: Bewohner aus Afghanistan, 26.03.2016. Malteser-Unterkunft im ICC: Bewohner aus Syrien, 09.04.2016. Malteser-Unterkunft im ICC: Bewohnerin aus Syrien, 11.04.2016. Malteser-Unterkunft im ICC: Fünf Bewohner aus Syrien, dem Irak und den besetzten Gebieten Palästinas, 14.04.2016. Malteser-Unterkunft im ICC: Bewohner aus Syrien, 18.04.2016. Malteser-Unterkunft im ICC: Bewohner aus dem Irak, 24.04.2016. Malteser-Unterkunft im ICC: Bewohner aus Syrien, 28.04.2016. Notunterkunft in Alt-Mariendorf: Bewohner aus Afghanistan, 22.02.2017. Notunterkunft in Alt-Mariendorf: Bewohner aus Syrien, 22.02.2017. Notunterkunft in Alt-Mariendorf: Mitarbeiter_in, 06.03.2017. Notunterkunft Flughafen Tempelhof: Bewohner aus Syrien, 01.03.2017. Notunterkunft Flughafen Tempelhof: ehemaliger Bewohner aus Syrien, 01.03.2017. Notunterkunft Flughafen Tempelhof: Mitarbeiter_in, 01.03.2017.

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Bedingungen für erfolgreiche psychosoziale Beratung von Geflüchteten in Deutschland und Schweden: Ein Vergleich Rasmus Geßner

Projekte, die erfolgreich und nachhaltig arbeiten wollen, müssen zunächst eine Reihe organisatorischer Hindernisse bewältigen – und zwar neben ihrer eigentlichen Kernaufgabe. Diese Schwierigkeiten werden im Folgenden am Beispiel der psychosozialen Beratung näher beschrieben. Anhand einer vergleichenden Betrachtung von sechs Projekten und Organisationen untersuche ich die Herausforderungen politische Lobbyarbeit, Finanzierungsarbeit, strukturelle Anbindung, Öffentlichkeitsarbeit, Vernetzung sowie Einbindung und Betreuung von Mitarbeiter_innen. Dabei sollen einerseits sinnvolle und innovative Lösungen, und andererseits potenzielle Konflikte zwischen dem eigentlichen Projektziel der psychosozialen Versorgung und den zusätzlichen Herausforderungen identifiziert werden. Im Jahr 2015 nahmen die beiden Länder Deutschland und Schweden mit Abstand die meisten Geflüchteten auf. Schnell wurde deutlich, dass die staatlichen Versorgungsmöglichkeiten allein nicht ausreichten, um die elementaren medizinischen Grundbedürfnisse der neu angekommenen Menschen adäquat zu decken. Dies betraf in besonderem Maße die psychosoziale Versorgung. Mit hohem bürgerschaftlichem Engagement wurden daraufhin in ländlichen Gebieten wie auch in Großstädten eine Vielzahl an Unterstützungsstrukturen und Anlaufstellen aufgebaut, die die staatlichen Strukturen ergänzten, ausbauten oder Lücken schlossen (vgl. Schiffauer, Eilert, Rudloff 2017). In beiden Ländern werden Geflüchtete einer medizinischen Erstuntersuchung unterzogen. In Deutschland findet diese Untersuchung auf Infektionskrankheiten durch Gesundheitsämter kurz nach der Ankunft statt (Rissland & Teichert 2016: 272 f.); psychische Leiden werden dabei nicht abgefragt. Eine psychotherapeutische Behandlung ist zudem explizit von der Gesundheitsversorgung von Neuangekommenen ausgenommen (Friele 2015: 70; Hörich 2015: 11; Kluge 2016: 386). In Schweden ist die Erstuntersuchung umfangreicher und

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erfasst auch psychische Leiden. Allerdings erfolgt sie nicht unmittelbar nach der Ankunft, sondern erst auf eine schriftliche Einladung hin. Dies führte dazu, dass im Jahr 2015 nur 39 Prozent der Neuangekommenen ärztlich untersucht werden konnten (Olsson  & Eriksson 2016: 4). Die unterschiedlichen Formen psychischer Belastung, die die Fluchterfahrung mit sich bringt, werden demnach in beiden Ländern nur unzureichend berücksichtigt. Dabei handelt es sich vor allem um Depressionen, Traumata, posttraumatische Belastungsstörungen (PTBS) mit unterschiedlichen Symptomen und die Bewältigung von Foltererfahrungen. Deutsche und schwedische Quellen sind sich uneinig über die Häufigkeit (Prävalenz) dieser psychischen Leiden unter den Geflüchteten. Die Zahlen schwanken von einer Häufigkeit von acht Prozent (Robert-Koch-Institut 2015) bis 30 Prozent (Gonzalez 2015). Einzelne Quellen berichten, bis zu 50 Prozent der Geflüchteten litten an posttraumatischen Störungen (Zito & Martin 2016: 48). Einen besonderen Fall stellt die Retraumatisierung dar. Das Konzept der Retraumatisierung geht auf den niederländischen Psychiater Hans Keilson (1979) zurück. Auf Grundlage von Studien über jüdische Waisenkinder nach dem Zweiten Weltkrieg unterscheidet Keilson verschiedene Phasen des Traumatisierungsprozesses: Eine Startphase, in der häufig Verfolgung eine große Rolle spielt, das eigentlich traumatisierende Ereignis (Verhaftung, Deportation, Flucht) und die Phase des Wiedereintritts in gesellschaftliche Zusammenhänge mit all den damit verbundenen Problemen (alle: Keilson 1979: 56). In dieser Phase erlaubt ein vergleichsweise sicheres soziales Umfeld, dass bestehende Traumata nun erst hervortreten und konfrontiert werden (ebd: 60, 327). Hinzu treten Stressoren in dieser Phase des Wiedereintritts: Auf heutige Bezüge übertragen, kann das Interview bei der zuständigen Migrationsbehörde oder bestimmte Fragen während einer Psychotherapie-Sitzung verdrängte Erinnerungen wachrufen. Plötzliche Geräusche, wie etwa bei einem Silvesterfeuerwerk, können Assoziationen zu Erfahrungen im Heimatland erzeugen. Weitere Stressfaktoren sind die langen Wartezeiten bis zur Entscheidung über eine Aufenthaltsgenehmigung oder einen Asylantrag (Lindqvist 2016: 7). Hier sind deswegen besonders stabilisierende und unterstützende Angebote notwendig, die bei der Schaffung eines Alltags helfen können. Angesichts der unbefriedigenden Lage in Bezug auf psychosoziale Versorgung sind in den Jahren 2015 und 2016 etliche Projekte neu entstanden; andere schon länger existierende Projekte haben ihre Arbeitsschwerpunkte verlagert oder Kapazitäten vergrößert, um die Bedarfe zu decken. In diesem Text unterziehe ich drei Projekte in Deutschland und drei in Schweden einer vergleichenden Analyse. Dabei frage ich vor allem nach den Voraussetzungen, die notwendig sind, um als zivilgesellschaftliches Projekt oder Initiative im psychosozialen Bereich erfolgreich und nachhaltig arbeiten zu können. Mein Interesse gilt dabei insbesondere der Einbettung der Institutionen in ihre organisatorische Umgebung.

Bedingungen für er folgreiche psychosoziale Beratung von Geflüchteten

D ie P rojek te und O rganisationen Das Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge Niedersachsen e. V. (NTFN) ist eng an die niedersächsische Ärztekammer angebunden und kann deren Kommunikationskanäle nutzen. Es existiert seit 2007 und hat seitdem ein Netzwerk von mehr als 100 Therapeut_innen im gesamten Flächenland Niedersachen aufgebaut, die bereit sind, Geflüchtete kostenlos in ihren Praxen zu behandeln. Neben der Vermittlung von psychosozialen Beratungen werden auch Weiterbildungen und Supervisionen für ehrenamtlich oder hauptberuflich Tätige angeboten. Das Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge e. V. war außerdem zusammen mit anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren an der Entwicklung des Friedländer Konzepts zur Abfrage des Gesundheitsstatus und zur Gesundheitsförderung beteiligt. Der Trägerverein Mosaik Leipzig e. V. gründete im Jahr 2015 die erste psychosoziale Beratungsstelle für Geflüchtete in Sachsen, die im März/April 2016 als Psychosoziales Zentrum für Geflüchtete Leipzig institutionalisiert wurde. Mosaik Leipzig e. V. konnte innerhalb kürzester Zeit eine Vielzahl an Angeboten zur Verfügung stellen. In der Bewältigung der Herausforderungen wurden Strukturen aufgebaut, die allen zugutekommen. Eine Mischfinanzierung aus staatlichen Mitteln und Spendengeldern stellt den Betrieb sicher. Frauen helfen Frauen e. V. in Beckum (Nordrhein-Westfalen) wurde im Jahr 1987 als Frauennotruf gegründet und beschäftigt sich mittlerweile mit unterschiedlichsten Facetten der Arbeit mit Frauen. Neben Gewaltpräventionsangeboten und Kursen zum Umgang mit sexualisierter Gewalt stehen die soziale Arbeit und therapeutische Betreuung von Frauen im Vordergrund. Seit 2015 beschäftigt sich die Frauenberatungsstelle auch mit geflüchteten Frauen, wodurch sich der Fokus der Vereinsarbeit deutlich erweitert hat. Das Besondere an dem Beckumer Verein ist, dass hier ausschließlich Frauen mit Frauen arbeiten. So wird ein besonderer Schutzraum geschaffen, der gut aufgenommen wird. Die finanziellen Mittel kommen durch eine für deutsche Projekte typische Mischfinanzierung zustande und werden mit einer vereinseigenen, besonderen Art der Geldakquise gekoppelt. Die schwedischen Projekte sind allesamt eng mit dem landsting verkoppelt, einer mit Kommunen oder Landkreisen grob vergleichbaren Verwaltungseinheit. Das landsting ist unter anderem für die Gesundheitsversorgung zuständig und kann dabei direkt mit Projekten und privaten Anbietern zusammenarbeiten. Im Notfall muss der/die Patient_in zuerst die Notaufnahme eines Krankenhauses oder eines anderen Anbieters notärztlicher Versorgung aufsuchen (die sogenannte Primärversorgung), bevor die Überweisung an eine spezialisierte Einrichtung (in der Sekundär- oder Tertiärversorgung) erfolgen kann. In der Regel existieren hierfür Wartelisten. Eine Folge dieser Struktur ist, dass die hier vorgestellten schwedischen Projekte sehr spezifische Therapieange-

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bote leisten. Zudem werden nicht alle Patient_innen an solche spezialisierten Einrichtungen überwiesen, sondern teilweise auch schon in der Regelversorgung behandelt, was einen Überblick über Behandlungszahlen erschwert. Anders als etwa bei den Psychosozialen Zentren in Deutschland, konzentrieren sich die Behandlungszentren auf psychotherapeutische oder psychiatrische Therapieangebote im engeren Sinn, während die Soziale Arbeit häufig ausgelagert und an Sozialarbeiter_innen vor Ort delegiert wird. Das Krisen- und Traumazentrum (Kris- och traumacentrum) in Stockholm widmet sich vorrangig Personen mit PTBS. Es führt langfristige, geplante Therapien durch und ist zudem schon seit mehreren Jahren auch im Bereich der Fort- und Weiterbildung tätig. Mittel kommen vom Stockholmer landsting und über Krankenversicherungen. Das Behandlungszentrum für Kriegsopfer und Gefolterte (Röda Korsets Behandlingscenter för krigsskadade och torterade) in Malmö ist auf Foltererfahrungen spezialisiert. Behandelt werden hier ausschließlich Personen, die Traumatisierungen aufgrund von Foltererfahrungen in Kriegen oder Konflikten in ihrem Heimatland oder auf der Flucht erleiden mussten. Patient_innen, die nicht in diese Kategorie fallen, werden an Erstaufnahmeinrichtungen und Institutionen des übrigen Gesundheitssystems verwiesen. Die Finanzierung erfolgt zu großen Teilen über das landsting und andere staatliche Mittel. Das Zentrum für traumatische Belastungen (Centrum för traumatisk stress) liegt in Karlstad, Mittelschweden, und existiert seit mehr als 30 Jahren. Es finanziert sich ebenfalls zu großen Teilen aus kommunalen Mitteln. Die Karlstad umgebende Kommune, Värmland, hat vergleichsweise viele Geflüchtete aufgenommen, die allerdings in dieser Flächenkommune auf Hindernisse in der Infrastruktur stoßen. Weder in Deutschland noch in Schweden reicht das Angebot aus. Die Wartezeit für die Aufnahme neuer Patient_innen beträgt im Malmöer Zentrum derzeit mitunter ein Jahr. In Stockholm gibt es aufgrund einer Ausschreibungsvereinbarung eine Grenze von maximal 50 asylsuchenden, neuen Patient_innen, die pro Jahr aufgenommen werden dürfen und dann jeweils Anspruch auf sechs Behandlungsstunden haben. Das Traumazentrum in Karlstad arbeitet zwar nicht mit festen Grenzwerten oder langen Wartelisten, behandelt aber aufgrund der personellen Kapazitäten jährlich ebenfalls nur eine begrenzte Anzahl an Personen. Was Deutschland betrifft, geht der Dachverband Bundesweite Arbeitsgemeinschaft der psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer (BAfF) davon aus, dass in Deutschland im Jahr 2015 nur fünf Prozent der psychisch erkrankten Geflüchteten behandelt werden konnten, mit der Folge, dass »etwa 5.600 Geflüchtete weder direkt in die Behandlungsangebote der Zentren aufgenommen, noch auf Wartelisten gesetzt werden konnten« (Baron  & Flory 2016: 121).

Bedingungen für er folgreiche psychosoziale Beratung von Geflüchteten

S truk turbedingungen erfolgreicher P rojek tarbeit Welche Herausforderungen müssen Organisationen also für eine erfolgreiche und nachhaltige Projektarbeit bewältigen? Im Vergleich der Organisationen wurde schnell deutlich, wie sehr die Erfolgsaussichten und Nachhaltigkeit der Projekte von der gelungenen Bewältigung von Schwierigkeiten abhängen, die sich aus dem Projektumfeld ergeben. Häufig werden diese Herausforderungen zu wenig reflektiert und finden auch in der Antragstellung nicht ausreichend Berücksichtigung. In den folgenden Abschnitten sollen sie daher besonders in den Fokus genommen werden.

Politische (Lobby-)Arbeit Projekte benötigen für ihren Erfolg den Rückhalt politischer Instanzen. Dies gilt sowohl auf lokaler als auch auf Länder- und auf der nationalstaatlichen Ebene. Veränderungen in der politischen Landschaft können Projekte ermöglichen oder auch verhindern. Veränderungen des politischen Umfelds können entscheidende Auswirkungen auf die Projektarbeit haben, den Erfolg begünstigen oder auch ein Scheitern bewirken: So machte erst ein Regierungswechsel das Entstehen des Psychosozialen Zentrums für Geflüchtete in Leipzig und das Ausweiten des Netzwerks für traumatisierte Flüchtlinge in Hannover möglich. In Sachsen war es die neue Landesregierung, die das Ministerium für Gleichstellung und Integration schuf, durch welches auch das Psychosoziale Zentrum Leipzig gefördert wird. Der politische Wechsel von einer CDU-Regierung zu einer rot-grünen Koalition in Niedersachsen ermöglichte es dem NTFN ein Psychosoziales Zentrum einzurichten, das sogar Bestandteil des Koalitionsvertrags wurde (Interview Karin Loos). Die derzeitige Sozialministerin ist amtierende Schirmherrin des Netzwerks. Hier wird der unmittelbare Zusammenhang zwischen politischem Willen und den Entwicklungs- und Wirkungsmöglichkeiten von Organisationen deutlich. Umgekehrt schlagen die schwedischen Gesetzesänderungen des Sommers 2016 direkt auf die Arbeit der Organisationen durch: Ähnlich wie in Deutschland führten sie eine Begrenzung der Aufenthaltsdauer auf maximal drei Jahre ein und beschränkten sowohl den Familiennachzug als auch die Möglichkeiten, Angebote des Gesundheitssystems wahrzunehmen. Die Patient_innen müssen heute mit gestiegener Unsicherheit und Perspektivlosigkeit umgehen. All dies sind re-traumatisierende Umstände, die die psychische Situation von Geflüchteten verschlechtern und insgesamt den Therapiebedarf erhöhen. Aufgrund der oftmals unklaren Bleibeperspektive können Therapien kaum noch langfristig geplant werden, was eine umfassende Behandlung erschwert. Der

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Zugang zu spezialisierten Therapiezentren wird schwieriger, mit der Folge, dass viele traumatisierte Neuangekommene in der Regelversorgung verharren und dort nicht die notwendige Behandlung erfahren. Die politischen Rahmenbedingungen haben außerdem entscheidenden Einfluss auf die Motivation der Mitarbeiter_innen: Werden diese in ihrer Arbeit politisch unterstützt oder arbeitet die Politik eher gegen sie? Die schwedischen Organisationen bekamen die Auswirkungen der Gesetzesänderungen in der therapeutischen Praxis zu spüren. Einige Personen haben ihre Tätigkeit daraufhin beendet, und es besteht die Vermutung, dass aufgrund der schlechteren Ausgangslage auf absehbare Zeit weniger Interessierte in diesen Bereich der Geflüchtetenarbeit eintreten werden (Interview Hans Peter Söndergaard). Um einen direkten Einfluss auf die Art und Weise zu haben, wie Dinge gehandhabt werden, ist es daher wichtig, auf lokaler, regionaler und nationaler Ebene politisch aktiv zu werden. Auf lokaler Ebene war Frauen helfen Frauen in Beckum erfolgreich, auf Länder-Ebene Mosaik Leipzig e. V. und das Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge. Um politischen Druck auf nationaler Ebene ausüben zu können, ist die Anwesenheit in nationalen und internationalen Dachorganisationen ausschlaggebend. Sie erlaubt es, sich mit anderen Organisationen zu vernetzen und sich ein internationales Profil zu schaffen. Das größte Hindernis stellen in diesem Zusammenhang jedoch die Regelungen und gesetzlichen Grundlagen dar, die von politischen Entscheidungsträger_innen kommen. Dass diese beeinflussbar sind, wird anhand der unterschiedlichen Verhaltensweisen der betrachteten Projekte deutlich: In Leipzig ermöglichten persönliche Arbeitskontakte Empfehlungsschreiben und Beratungen, die bei der Antragstellung für die geplanten Angebote von Mosaik unterstützten (Interview Janko Kunze und Nadine Renkel). Das Beckumer Projekt, in einer eher ländlichen Gegend von Nordrhein-Westfalen gelegen, nutzt seine – wortwörtliche – Lage in der Mitte der Stadt, um sichtbar zu sein, Einfluss zu nehmen und neue Angebote für die weibliche Bevölkerung der Stadt im Allgemeinen und weibliche Neuangekommene im Speziellen zu entwickeln. In Karlstad werden ähnlich dem Beckumer Ansatz die kurzen Kommunikationswege genutzt, um unkomplizierte Lösungen für Probleme und Hindernisse speziell im Kontakt mit der Migrationsbehörde zu finden. Diese Pfade werden durch die im Sommer 2016 eingeführten Gesetzesänderungen jedoch teilweise blockiert. Die Organisation muss gezwungenermaßen neue kreative interne Lösungsansätze entwickeln (Interview Mona Lindqvist). In Malmö werden durch Forschungsprojekte und -reporte der Hochschule des Schwedischen Roten Kreuzes wissenschaftliche Expertise und Handlungsempfehlungen in die politische Öffentlichkeit getragen (siehe etwa Tinghög et al. 2016). Diese Expertise bindet sich zurück in die praktische Arbeit der Therapeut_innen wie auch in die sozialwissenschaftliche Forschung und greift

Bedingungen für er folgreiche psychosoziale Beratung von Geflüchteten

damit auf eine fundierte Wissensbasis zu. Mittlerweile werden Angehörige des Malmöer Behandlungszentrums auch für Regierungsbefragungen interviewt, was die Reichweite und den Erfolg dieser Arbeit verdeutlicht (Interview Sara Fridlund).

Finanzierung Eine Ausfinanzierung durch die öffentliche Hand erlaubt Planungssicherheit und effiziente Arbeit. Gleichzeitig geht damit die politische Kontrolle der Projekte einher. Eine Projektfinanzierung erlaubt dagegen ein höheres Maß an Unabhängigkeit, bedeutet aber auch, dass erhebliche zeitliche Ressourcen in die Antragstellung fließen. Eine Mischfinanzierung erscheint optimal. Auch kann Fundraising mit effektiver Öffentlichkeitsarbeit verbunden werden. Im Hinblick auf die finanzielle Situation der Projekte lässt sich festhalten, dass es in beiden Ländern häufig zu einer Mischfinanzierung aus öffentlichen Geldern und Vereinsgeldern sowie eigenen Mitteln kommt. Allerdings sind die Anteile sehr unterschiedlich verteilt. In Schweden erfolgt die Grundfinanzierung vor allem durch kommunale Gelder, etwa vom landsting. Die drei hier vorgestellten Organisationen verfügen damit über eine gewisse Planungssicherheit. So finanziert sich das Behandlungszentrum für Kriegsopfer und Gefolterte zu mehr als zwei Dritteln aus Geldern des zuständigen landsting. Zusätzlich eingeworbene Projektmittel können dann weitere Aktivitäten ermöglichen. Dies erlaubt es den Projekten, mehr Zeit für ihre Patient_innen aufzubringen und, nicht zuletzt, länger im Voraus zu planen. In Deutschland blickt man dagegen auf ein Finanzierungsproblem. Da die hiesigen Organisationen einen großen Teil ihrer Arbeitsgelder über Drittmittel finanzieren und dafür Anträge stellen müssen, fehlt die dafür aufgewandte Zeit in der Beratung und Behandlung von Klient_innen. Viele Projektgelder werden nur für die Dauer eines Jahres vergeben. Etwas besser ist die Situation bei europäischen Geldern: Das NTFN wird teilweise über den European Asylum, Migration and Integration Fund (AMIF) (European Commission 2017) subventioniert, der auch mehrjährige Projekte finanziert. Erst die dadurch gewonnene Planungssicherheit schafft eine langfristige Perspektive, die für die Therapie- und Beratungserfolge notwendig ist. Vor allem Frauen helfen Frauen hat ergänzend zu öffentlichen Projektgeldern kreative Lösungen für das Fundraising gefunden: Gegen Bezahlung können Pat_innenschaften für Raumquadratmeter übernommen werden, die einerseits dem Verein Gelder einbringen, und andererseits das Projekt auf viele Schultern verteilen (Interview Birgitta Rennefeld und Marina Völlmecke). Der Bekanntheitsgrad wird implizit erhöht, was wiederum positive Auswirkungen auf weitere Fundraising-Aktivitäten haben kann; gleichzeitig wird die

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Beckumer Organisation weiter in die lokale Gemeinschaft hinein verwurzelt (vgl. Frauen helfen Frauen Beckum e. V. 2016: 2). In Deutschland ist es infolge der unzureichenden Grundfinanzierung schwierig, qualifizierte Mitarbeiter_innen zu halten: Es kommt immer wieder vor, dass für eine Tätigkeit in einem Projekt befristete Ein-Jahres-Verträge der dauerhaften Anstellung vorgezogen werden, potenzielle Arbeitnehmer_innen sich aber durchaus eine langfristige Bleibeperspektive wünschen. Trotzdem zeigt der Vergleich, dass eine ausschließlich öffentliche Finanzierung nicht wünschenswert ist. Obwohl die deutschen wie auch die schwedischen Organisationen keine Angebote der Regelversorgung ersetzen (können), sind die Traumabehandlungszentren in Schweden an das staatliche Gesundheitssystem angebunden und in ihrem Auftrag klar auf die im engeren Sinn medizinische Versorgung begrenzt. Dies spiegelt sich unter anderem in der starken Limitierung der Patient_innenaufnahme wider. Die Finanzierung durch Drittmittelgeber erlaubt dagegen eine breitere Aufstellung der Projekte in Deutschland. Diese ist sinnvoll, insofern sie die Integration von sozialarbeiterischen Tätigkeiten in die Behandlung erleichtert, welche wiederum für die Bewältigung posttraumatischer Stressoren unentbehrlich sind. Auch die Flexibilität der Mittelbewirtschaftung ist bei Drittmittelgeldern in der Regel größer als bei staatlichen Geldern. Die Notwendigkeit, Drittmittel einzuwerben, kann weiterhin die Vernetzung in die Zivilgesellschaft hinein stärken, was in Hinblick auf die im letzten Abschnitt diskutierte Notwendigkeit, auch politisch aktiv zu werden, sehr wichtig sein kann. Dass staatliche Finanzierung auch verwundbar macht, zeigt beispielhaft die Drohung der bayerischen Landesregierung im März 2017, Projekte nicht mehr zu finanzieren, die afghanische Geflüchtete asylrechtlich beraten, anstatt an deren Abschiebung mitzuwirken (siehe dazu Bayerisches Staatsministerium für Arbeit und Soziales, Familie und Integration 2017).

Strukturelle Anbindung Die Mitgliedschaft in Dachverbänden erhöht über den Zugang zu Infrastruktur und Netzwerken die Effektivität der Arbeit. Die Mitgliedschaft in deutschen Dachverbänden wie dem Paritätischen Wohlfahrtsverband oder der BAfF eröffnet Mitgliedern den Nutzen von weiteren Ressourcen wie Kommunikationskanälen, Rundschreiben, Konferenzen, Kontakten zu Schlüsselfiguren im Umfeld und dergleichen mehr. Dies zeigt sich am Beispiel des NTFN in Niedersachsen, das aus der Ärztekammer Niedersachsen heraus gegründet wurde und bis heute deren Räumlichkeiten und Rundschreiben mitnutzen kann (Interview Karin Loos). Durch

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die Anbindung an die Ärztekammer konnte das NTFN, das mittlerweile über 100 Therapeut_innen versammelt, eingerichtet und bekannt gemacht werden. Über die Medienkanäle der Ärztekammer können Ärzte und Ärztinnen außerdem rasch und umfassend über Fort- und Weiterbildungen informiert werden, die das Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge anbietet. Als Teil des internationalen Roten Kreuzes betreibt das Malmöer Zentrum einen regen Austausch mit den unterschiedlichen Landesverbänden und bekommt Einblick in deren Arbeit mit Geflüchteten. So werden unterschiedliche Erfahrungen zusammengeführt, etwa aus der Seenotrettung des italienischen Verbandes oder der Traumaarbeit in Schweden (Interview Sara Fridlund). Das Zentrum in Stockholm fungiert selbst als Multiplikator: Mit Fort- und Weiterbildungen sowie einem jährlich stattfindenden Seminar im September werden im Feld tätige Kolleg_innen umfassend geschult, die wiederum das erworbene Wissen in ihre jeweiligen Zusammenhänge weitertragen (Interview Hans Peter Söndergaard).

Öffentlichkeitsarbeit Eine aktive Öffentlichkeitsarbeit ist wichtig, um ein günstiges Klima für die Projekte und Organisationen zu schaffen und für Akzeptanz zu werben. Eine besondere Rolle nimmt dabei die Zusammenarbeit mit wissenschaftlichen Akteuren ein. Als ein wesentliches Arbeitsfeld wurde in den Gesprächen immer wieder die Öffentlichkeits- und Sensibilisierungsarbeit genannt. Mosaik Leipzig e. V. konnte nur durch intensive Öffentlichkeitsarbeit die Einrichtung seines Psychosozialen Zentrums erreichen (Interview Janko Kunze und Nadine Renkel). In Form von Interviews, Reportagen und Artikeln über ihre Arbeit bringen die Mitarbeiter_innen das Thema in die Öffentlichkeit und versuchen, für die Belange der Neuangekommenen zu sensibilisieren (Interview Janko Kunze und Nadine Renkel). Hier zeigt sich die Notwendigkeit, intensive und andauernde Kontakte zu Medienmacher_innen zu pflegen. Gleichzeitig werden der Öffentlichkeitsarbeit durch den notwendigen Schutz der Patient_innen Grenzen gesetzt. Dies betrifft insbesondere die Arbeit mit Traumapatient_innen. Aus diesem Grund lehnte das Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge in Niedersachsen eine Kooperation mit dem NDR ab, als dieser eine Reportage über ein Zentrum vor Ort drehen wollte (Interview mit Karin Loos). Vor einem ähnlichen Dilemma stand das Zentrum für traumatische Belastungen in Karlstad. Um die Gesellschaft für die Belange der Geflüchteten zu sensibilisieren, kam der Vorschlag auf, von den Geflüchteten über ihren Alltag erstellte Videos zu veröffentlichen. Damit sollte eine Verbindung zum Alltag der Alteingesessenen hergestellt und die Lebenswelten zueinander in Bezug gesetzt werden (Interview Mona Lindqvist). Organisationsin-

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tern wurden allerdings ethisch-moralische Bedenken geäußert, inwieweit die Geflüchteten bei dieser Art der Öffentlichkeitsarbeit benutzt und vorgeführt werden könnten. Das Projekt ruht einstweilen. Eine interessante Form der Öffentlichkeitsarbeit lässt sich durch Kooperationen mit der Wissenschaft herstellen. Das schwedische Rote Kreuz betreibt in Stockholm eine eigene Hochschule, die seit 1867 existiert (Röda Korsets Högskola 2015). Die Forschungstätigkeit an dieser Hochschule nutzt das Behandlungszentrum für Kriegsopfer und Gefolterte unter anderem dazu, Einfluss auf nationale Entscheidungsträger auszuüben. Mithilfe von Reports und Forschungsberichten, etwa zum Thema der psychischen Erkrankungen bei Geflüchteten (Tinghög et al. 2016), wird dringend benötigtes Praxis- und Fachwissen in die entscheidenden Kreise eingebracht. Mittels einer Sammlung von Handlungsempfehlungen konnten so viele der Argumentationen des Roten Kreuzes an die schwedische Regierung weitergereicht werden (Interview Sara Fridlund). Zudem verleihen wissenschaftliche Autoritäten auch der Öffentlichkeitsarbeit mehr Gewicht: Die Hochschule des schwedischen Roten Kreuzes gilt auf nationaler Ebene als verlässliche und respektierte Quelle von Informationen und Fachwissen. Auch dort, wo keine institutionale Zusammenarbeit mit der Wissenschaft stattfindet, sind Kooperationen möglich, wie das Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge zeigt. Gemeinsam mit der Psychiatrie-Ambulanz der Universität Göttingen, dem Asklepios-Krankenhaus in Göttingen und anderen Akteuren wurde das sogenannte Friedländer Modell entwickelt (Interview Karin Loos), das auf die Verbesserung der bürokratischen Abläufe im Rahmen der Gesundheitserstuntersuchung abzielt. Beide Beispiele zeigen deutlich den Nutzen der Zusammenarbeit mit der Wissenschaft. Durch Evaluation und Reflexion der eigenen Methoden und Handlungsweisen können Chancen und Herausforderungen herausgearbeitet und bewertet werden. Ebenso können durch den Dialog Vernetzungen zu bislang unbekannten Akteuren entstehen und neue Erkenntnisse in die eigene Arbeit eingebaut werden. Darüber hinaus dienen die beteiligten Wissenschaftler_innen als Multiplikator_innen: Die Projektarbeit wird über sie einer breiteren Öffentlichkeit bekannt gemacht. Wie das Malmöer Beispiel zeigt, können sich die Projekte und Organisationen dadurch politisch legitimieren und ihre Argumente mit wissenschaftlichen Erkenntnissen weiter untermauern. Bestandteil dieser wissenschaftlichen Arbeit ist häufig die Dokumentation der Projektarbeit, wodurch die Organisationen von eigener Textarbeit entlastet und weitere Ressourcen für die Kernaufgaben geschaffen werden können. Wie kann nun die Wissenschaft in Projektarbeit eingebunden werden? Zunächst einmal bietet sich hier die Möglichkeit für wissenschaftliche Qualifikations- und Forschungsarbeiten wie Masterarbeiten oder Dissertationen. Ein

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weiterer Schritt wäre die Kooperation mit wissenschaftlichen Forschungsprojekten, für die der vorliegende Band ein Beispiel ist. Neben der direkten Kooperation von Wissenschaft und Projekten bieten auch Fachtagungen eine Chance für wirksames Netzwerken und Informationsaustausch. Da solche Treffen auf unterschiedlichen Ebenen ausgerichtet werden können, sind die Organisationen äußerst flexibel in Bezug auf die Wahl des Ortes, die Anzahl der Teilnehmer_innen, die Wahl der angesprochenen Berufsgruppen sowie die genutzten Arbeitsformen – wie etwa Vorträge, Diskussionen oder Workshops. Auch kleinen Organisationen mit wenig Budget eröffnen solche Events damit eine Vielzahl an Möglichkeiten. Exemplarisch hierfür ist eine Regionalkonferenz, die entscheidend am Aufbau des Psychosozialen Zentrums in Leipzig mitwirkte: Im September 2015, kurz nach der Eröffnung der Beratungsstelle, organisierte der Verein Mosaik einen Fachtag und eine Regionalkonferenz mit über 150 Teilnehmer_innen unter dem Titel Die psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung von Flüchtlingen in Sachsen – Möglichkeiten der Etablierung adäquater Behandlungsangebote. Es versammelten sich lokale, regionale und nationale Akteure, um die Zukunft der eigenen Arbeit zu diskutieren. Neben Regierungsvertreter_innen waren sowohl hauptamtlich als auch ehrenamtlich Tätige aus dem Bereich Asyl und Migration anwesend, was einen willkommenen und reichen Austausch an Erfahrungen ermöglichte (Mosaik Leipzig e. V. 2015). Mosaik Leipzig e. V. konnte auf diese Weise regional durchaus erheblichen Einfluss auf die Öffentlichkeit ausüben. Weitere erfolgversprechende Instrumente der Öffentlichkeitsarbeit sind Broschüren und Handreichungen zu kritischen Fragen im therapeutischen Alltag, etwa zur Finanzierung und Einbindung von Dolmetscher_innen in die Behandlungssituation, oder auch zu Literaturhinweisen. Das Zentrum in Stockholm macht darüber hinaus auf seiner Website grundlegende Informationen zugänglich, die sowohl Patient_innen als auch mit Betroffenen arbeitende Personen nutzen können, um sich auf konkrete Krisensituationen adäquat vorzubereiten (Kris- och traumacentrum 2017).

Vernetzung Durch die Vernetzung von Akteuren kann in der Praxis erarbeitetes Wissen ausgetauscht werden. Insbesondere in einem so stratifizierten Feld wie der Gesundheitsversorgung ist dies grundlegend. Bei der Vernetzung von Akteuren steht nicht ausschließlich die Weitergabe von Wissen im Vordergrund; es muss gleichzeitig darum gehen, dieses einzuwerben, also Austauschprozesse zu initiieren. Gerade bei innovativen Projekten mit neuen Herangehensweisen besteht ein erhebliches Interesse an den

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Erkenntnissen, die in den Projekten gewonnen werden. Im Bereich der Geflüchtetenarbeit ist vor allem Wissen zu den Herausforderungen von Interkulturalität und zu therapeutischen Erfahrungen gefragt. Eine besondere Rolle für Vernetzungen spielt die Organisation von Fortbildungen. Daneben ist die Teilnahme an Runden Tischen und Arbeitskreisen wichtig. Mosaik Leipzig e. V. sah sich mit Nachfragen zu interkulturellen Trainings und Wissen um Traumata konfrontiert. Aus diesen Bedarfen konstruierte Mosaik eine Netzwerkstelle, die seit Ende 2016 im Rahmen des Psychosozialen Zentrums Leipzig (PSZ) proaktiv Trainings und Weiterbildungsangebote in den Bereichen von Flucht und Trauma sowie Vielfalt und Diversity anbietet; auf Trägerebene gibt es weitere Angebote wie Zugang zum Arbeitsmarkt oder gesetzliche Grundlagen zum Asyl- und Wohnsitzrecht (Mosaik  Leipzig  e. V. 2017). Das breite Angebot deutet einerseits auf den enormen Bedarf hin, der besteht, und zeigt andererseits, dass die junge Organisation innerhalb kurzer Zeit in der Lage war, breites Wissen zu versammeln und weiterzugeben. Das Hannoveraner Netzwerk für traumatisierte Flüchtlinge legt den Fokus auf praktische Belange der Behandlung und Beratung. Hier geht es insbesondere um die Einbindung von Sprach- und Kulturmittler_innen in die Therapie: 2012 gab das Netzwerk eine Broschüre zum Thema Psychotherapie zu Dritt (Loos 2012) heraus. Fortbildungen spielten auch bei Frauen helfen Frauen eine wichtige Rolle: Nach der Bewilligung der Mittel im Jahr 2015 erkundigte sich der Verein bei hauptamtlich Tätigen und Ehrenamtlichen nach deren Bedarfen, und entwickelte auf Grundlage des Rücklaufs ein spezielles Training. Dieses sieht eine gemeinsame Fortbildung aller beteiligten Gruppen vor, wodurch wiederum Möglichkeiten zum Netzwerken und zur Kontaktaufnahme geschaffen werden. Daneben orientiert sich das Training explizit an den Bedürfnissen der Zielgruppe und steht so in engem Bezug zur Praxis. Das Konzept ist derart erfolgreich, dass die Mitarbeiterinnen des Beckumer Vereins es im Rahmen eines Train-the-trainer-Angebots an Multiplikator_innen weitergeben, die es wiederum in ihre organisationalen Zusammenhänge tragen können (Interview Birgitta Rennefeld und Marina Völlmecke). Auch diese Aktivitäten binden selbstverständlich Arbeitskraft und -zeit. Insbesondere dort, wo Personal aus der Behandlungsarbeit für diese Weiterbildungen eingesetzt wird, hat dies Auswirkungen. Es muss daher sorgfältig erwogen werden, wieviele Kapazitäten für die Fort- und Weiterbildungsarbeit zur Verfügung stehen. Netzwerken beinhaltet auch das Training und Weiterbilden von anderen Berufstätigen im Gesundheitssystem. Dies betrifft etwa Krankenpfleger_innen im Krankenhaus, Mitarbeiter_innen in administrativen Institutionen oder Ehrenamtliche. Hier besteht ein ständiger Bedarf an Wissensaustausch über die unterschiedlichen Symptome und Erkrankungen, die eine neuangekom-

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mene Person mit sich bringen kann. Auch die kulturell unterschiedlichen Beund Verhandlungen von psychischer Gesundheit müssen vielen hauptamtlich Tätigen nahegebracht werden (Interviews mit Mona Lindqvist, Karin Loos sowie Janko Kunze und Nadine Renkel). Nichtsdestoweniger stehen die Behandlung und Beratung von Personen gegenüber dem Netzwerken und Aufrechterhalten von Kontakten im Vordergrund. Es muss daher stets abgewogen werden, wie viel Zeit dafür aufgewendet werden kann, in Netzwerke einzutreten und diese zu pflegen, und wie viel Zeit für die Behandlung der Klient_innen und Patient_innen notwendig und angebracht ist. Darüber hinaus stellt sich die Frage, wer Trainings und Weiterbildungen durchführt: Sind es Angestellte der Organisation, werden die für die Wissensweitergabe aufgewendeten Ressourcen zwangsläufig aus dem Bereich der Therapie und Beratung abgezogen. Dieses Problem kann durch Kooperationen mit der Wissenschaft unter Umständen abgemildert werden, wie das Beispiel der Malmöer Hochschule des Roten Kreuzes zeigt. Damit verbundene Nutzen und Kosten muss jede Organisation allerdings individuell abwägen.

Fortbildung und Betreuung der Mitarbeiter_innen Das in der Arbeit mit traumatisierten Geflüchteten entstehende hohe Stresslevel muss aufgefangen werden. Die sogenannte Entlastungssupervision stellt hier offenbar eine erfolgreiche Reaktion aus der Praxis dar. Auch die Gewichtung von Therapiearbeit und anderen Tätigkeiten ist dabei von Bedeutung. Alle hier vorgestellten Organisationen bieten eine oder mehrere Formen der Supervision an, die wöchentlich oder zweiwöchentlich stattfinden. Häufig gibt es dazu noch Team-Meetings, in denen das gesamte Team besonders herausfordernde oder schwierige Beratungs- und Behandlungsfälle bespricht. Gerade in einem multiprofessionellen Team können Einsichten und Ideen von Kolleg_innen die eigene Arbeit verbessern oder unterstützen. Um die persönliche Belastung der Mitarbeiter_innen abzufangen, hat das Krisen- und Traumazentrum in Stockholm eine eigene Supervisionsform implementiert, die sogenannte Entlastungssupervision (Interview Hans Peter Söndergaard). Hier können Mitarbeiter_innen frei über individuelle Probleme und Belastungen aus ihrem beruflichen und privaten Alltag sprechen. Das Karlstader Projekt überlegt gegenwärtig, diese Supervisionsform auch in die eigene Praxis zu integrieren (Interview Mona Lindqvist). Auch »Tür-und-Angel-Gespräche« direkt nach schwierigen Situationen können dabei helfen, Belastungen abzufedern. Am Stockholmer Zentrum befindet sich über jedem Büro eine Signallampe: Leuchtet diese, befindet sich die Person gerade in einem Gespräch und darf nicht gestört werden; leuchtet sie

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nicht, ist nach dem Anklopfen der Eintritt gestattet. Gerade in Fällen, die nicht nach dem Schema der Supervision geplant werden können, ist diese Möglichkeit hilfreich (Interview Hans Peter Söndergaard). Gerade Traumaarbeit führt schnell zu Burnout, weswegen die Entlastung der Therapeut_innen höchste Priorität haben sollte. Die Vollzeitkräfte des Malmöer Zentrums werden dazu ermuntert, nicht die gesamte Arbeitszeit für die Therapie aufzuwenden. Ein Teil der Arbeitszeit soll stattdessen für Ausbildung, Forschung oder andere Dinge aufgewendet werden, damit die Arbeit abwechslungsreich und vielfältig bleibt (Interview Sara Fridlund). Eine Personengruppe, die häufig in ihrer Wichtigkeit für die Beratung und Behandlung unterschätzt wird, ist die der Sprach- und Kulturmittler_innen. Für die Beratung und Behandlung ist Sprache das zentrale Werkzeug, und nicht immer reicht Englisch als lingua franca aus, um sich adäquat zu unterhalten. Teilweise gibt es Menschen mit Fremdsprachenkenntnissen, die bei der Organisation fest angestellt sind; meistens sind die Organisationen jedoch auf externe Sprach- und Kulturmittler_innen angewiesen. Aufgrund der notwendigen Vertrauensbeziehung nicht nur zwischen Therapeut_in und Patient_in, sondern auch zwischen Sprachmittler_in und Therapeut_in (und zwischen Patient_in und Sprachmittler_in) greifen die Projekte gern auf Dolmetscher_innen zurück, mit denen sie bereits zusammengearbeitet haben. Mitunter müssen auch Körpersprache und kulturelle Eigenheiten in den neuen kulturellen Kontext übertragen werden, was Absprachen und Vertrauen vor allem zwischen Therapeut_in und Dolmetscher_in notwendig macht. Zeit dafür findet sich meistens nur kurz vor der bestellten Sitzung, wodurch sich die Behandlungssituation verkürzen kann. Die schwedischen Projekte greifen aufgrund der dargestellten Lage mittlerweile häufig auf Agenturen zurück, die die Dienste von selbstständigen Sprach- und Kulturmittler_innen anbieten (Interviews mit Mona Lindqvist und Hans Peter Söndergaard). Das Schaffen einer Vertrauensbasis ist hierbei nicht gewährleistet. In Deutschland kommt erschwerend hinzu, dass Dolmetscher_innen derzeit nicht über die Krankenkassen bezahlt werden. Vielmehr ist dafür bislang das lokale Sozialamt zuständig, mit dem im Zweifelsfall über die Kostenübernahme verhandelt werden muss (Interview Karin Loos).

C hancen und B edingungen erfolgreicher   psychosozialer  P rojek tarbeit Projekte sind in eine organisatorische Umwelt eingebunden, mit der sie ständig interagieren müssen, wenn sie erfolgreich operieren wollen. In diesem Text habe ich mehrere Herausforderungen identifiziert: Die Notwendigkeit der finanziellen Stabilität und Flexibilität, die strukturelle Anbindung an Wohlfahrts-

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verbände und soziale Einrichtungen, die Notwendigkeit, Öffentlichkeitsarbeit und Vernetzungsarbeit zu leisten, Informationen und Wissen auszutauschen, und schließlich, die Mitarbeiter_innen speziell zu betreuen. Diese Aufgaben treten zu dem eigentlichen Kernbereich der medizinischen und psychosozialen Versorgung hinzu. Während dies für alle Projekte gilt, ist es im Fall von Traumapatient_innen regelrecht entscheidend, weil hier eine Einflussnahme auf die organisatorische Umwelt, vor allem in Bezug auf das soziale und politische Klima, besonders wichtig ist. Nur so kann re-traumatisierenden Einflüssen wenigstens zum Teil begegnet werden; Einflüssen, die den Erfolg der medizinischen Arbeit im engeren Sinn unterlaufen können. In diesem Bereich ist der Austausch von Expertise daher von zentraler Bedeutung. Ehrenamtliches wie hauptberufliches Engagement ist zudem außergewöhnlichen Belastungen ausgesetzt. Positiv wirkt sich aus, dass die Lösung einiger dieser Aufgaben Synergien ermöglicht: So können über geschickte Finanzierungsstrategien auch das Projekt bekannt gemacht und Unterstützer_innen eingeworben werden. Die Kooperation mit der Wissenschaft erlaubt es, Öffentlichkeitsarbeit, politische Mobilisierung, Reflexion der Projektarbeit und Informationsaustausch mit ähnlich arbeitenden Projekten zu kombinieren. Derartige Symbiosen finden sich an unterschiedlichen Stellen und erweisen sich gerade in der zeitaufwändigen Arbeit mit den Klient_innen als sinnvoll. Der andauernde Ressourcenkonflikt zwischen Kernaufgabe und zusätzlichen Herausforderungen lässt sich hierdurch zwar nicht gänzlich auflösen, aber doch zumindest abmildern. In der Analyse zeigen die Projekte kreative und höchst unterschiedliche Herangehensweisen bei der Lösung der identifizierten Herausforderungen. Sichtbar wird gleichzeitig, dass die Interaktion mit der organisatorischen Umwelt bei der Antragsstellung berücksichtigt werden und aufseiten der Geldgeber diesen Herausforderungen Rechnung getragen werden muss. Gerade in einem Feld, das so fundamentale Bereiche des menschlichen Daseins berührt, sind Vernetzung, Austausch von Wissen und Sichtbarmachung der eigenen Arbeit von größter Wichtigkeit. Denn die Praxis gibt neue Antworten auf teilweise schon lange bestehende Fragen. Sie stößt damit einen Prozess an, der Chancen ermöglicht und von allen beteiligten Parteien auch als solcher begriffen werden sollte.

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Projekte zur Unterbringung von LSBT*I*Geflüchteten in Berlin, Nürnberg und Sachsen Ingmar Schrader

Geflüchtete LSBT*I*1 sind aufgrund ihrer sexuellen Orientierung oder ihrer Geschlechtsidentität regelmäßig Diskriminierung bis hin zu körperlicher Gewalt ausgesetzt. Oftmals haben sie bereits vor ihrer Ankunft in Deutschland traumatisierende Erfahrungen gemacht und sind aus diesem Grund in besonderem Maße auf einen sicheren Schlafplatz und Rückzugsorte angewiesen. Allgemeine Sammelunterkünfte, die noch immer das gängige Modell der Unterbringung darstellen, bieten diesbezüglich keinen ausreichenden Schutz. Regelmäßige Meldungen von Übergriffen auf LSBT*I*-Geflüchtete sind in Berlin durch Statistiken über entsprechende Hilfegesuche bei den zivilgesellschaftlichen LSBT*I*-Initiativen Maneo, LesMigras und MILES belegt (vgl. 1 | Die Abkürzung LSBT*I* steht für Personen, die entweder eine nicht heterosexuelle Orientierung haben, also lesbisch, schwul oder bisexuell sind, oder solche die eine sex­ uelle Identität besitzen, die nicht mit dem biologischen Geschlecht bei Geburt übereinstimmt bzw. sich nicht in das angenommene Männlich-weiblich-Schema einordnen lässt, also trans* und inter* sind. Um möglichst alle Personen mit nicht heterosexueller Orientierung oder einer nicht dem binären Geschlechtermodell entsprechenden sexuellen Identität anzusprechen, gibt es eine große Vielfalt an Abkürzungsvarianten. Mit der Benutzung von LSBT*I* schließe ich mich Arn Sauer an, der in seinem Beitrag in der Begleitforschung zur Interministeriellen Arbeitsgruppe Inter- und Transsexualität erklärt: »›Trans*‹ und ›inter*‹ sind im deutschsprachigen Raum inzwischen verbreitete, weit gefasste Oberbegriffe für eine Vielfalt von transsexuellen, transidenten, transgeschlechtlichen, transgender etc. bzw. intersexuellen, intergeschlechtlichen, intersex etc. Identitäten. Dabei dient der Stern (*) als Platzhalter für diverse Komposita. Aufgrund dieser Verbreitung und Inklusivität verwende ich ›trans*‹ und ›inter*‹, um ein breites Spektrum von Identitäten, Lebensweisen und Konzepten zu bezeichnen, auch solche, die sich geschlechtlich nicht verorten (lassen) möchten.« Die * lassen zum Beispiel zu, dass trans* sowohl Transgender als auch Transsexuelle einschließt (vgl. Sauer 2015: 3).

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Gottstein 2017: 2). Eine sichere Unterbringung für diese Personengruppe erweist sich daher als dringliche grundlegende Aufgabe. Seit Sommer 2015 wurden in Deutschland von LSBT*I*-Einrichtungen unterschiedliche Lösungen für das Problem gefunden. Sachsen ist dabei bisher der einzige Flächenstaat, in dem eine landesweite Lösung für die sichere Unterbringung von LSBT*I*-Geflüchteten umgesetzt wird: Die vom CSD Dresden e. V.2 geleitete und vom Bundesland Sachsen finanzierte Landeskoordinierungsstelle Sachsen für queere Geflüchtete vermittelt die LSBT*I*-Geflüchteten seit Dezember 2016 in Sozialwohnungen in den Städten Dresden, Leipzig und Chemnitz. Auch in anderen Bundesländern wird dem Problem begegnet, allerdings zumeist mit wesentlich geringerer Unterstützung, vor allem auf der Landesebene. In Thüringen beispielsweise betreibt der Verein Queerweg seit Sommer 2016 eine Website, auf der in verschiedenen Sprachen Unterstützung angeboten wird und über die bereits mehrere Geflüchtete Hilfe bei der Wohnungssuche erhalten haben. Darüber hinaus gibt es in verschiedenen deutschen Großstädten Initiativen, die sich für die Unterbringung geflüchteter LSBT*I* einsetzen. Im Februar 2016 haben die beiden Vereine Schwulenberatung Berlin und Fliederlich in Nürnberg jeweils eine eigene LSBT*I*-Unterkunft in Betrieb genommen und eigens zu diesem Zweck angemietete Gebäude umbauen lassen. Auch in Hannover und Köln wurden im Verlauf des Jahres 2016 Unterkünfte für LSBT*I* eröffnet, hier jeweils durch die Städte selbst. In München ist gegenwärtig (Stand Juni 2017) ebenfalls eine städtische Unterkunft in Planung. In diesem Artikel werden die drei ersten und – bezogen auf die Bewohner_in­ nenzahl – größten Unterbringungsprojekte für LSBT*I* vorgestellt. Ziel ist es, die unterschiedlichen Lösungswege inklusive des jeweils angeschlossenen Betreuungs- und Beratungsangebots vorzustellen. Beleuchtet werden soll auch, ob es besondere Kooperationen gibt, welche Herausforderungen bestehen und was für die Zukunft geplant ist. Zum Schluss werden, wo möglich, Vergleiche gezogen und gemeinsame Herausforderungen benannt. Als Beispiele werden die Unterkünfte der Schwulenberatung Berlin, Fliederlich in Nürnberg und die Landeskoordinierungsstelle Sachsen für queere Geflüchtete vom CSD Dresden e. V. betrachtet. Die beiden LSBT*I*-Unterkünfte in Berlin und Nürnberg waren die beiden ersten Deutschlands. Zuvor existierte europaweit lediglich eine Unterkunft in Amsterdam, die im Herbst 2015 eröffnet wurde (vgl. Nederlands Juristen Comité voor de Mensenrechten 2015). Sowohl in 2 | Um eine Verwechslung mit der Veranstaltung Christopher Street Day Dresden (CSD Dresden) zu vermeiden, dessen Organisator der Verein ist, bezeichnet sich dieser konsequent als CSD Dresden e. V. Die Vereine Fliederlich und Schwulenberatung Berlin verzichten hingegen bei der Selbstbezeichung auf den Zusatz e. V. Diese Handhabe wurde so übernommen.

Projekte zur Unterbringung von LSBT*I*-Geflüchteten

Nürnberg als auch in Berlin wurden die Unterkünfte eigenständig von lokalen Vereinen eingerichtet. Beide Vereine waren in der zweiten Jahreshälfte 2015 mit einer stark ansteigenden Anzahl an Anfragen Geflüchteter konfrontiert, die in den herkömmlichen Unterkünften von anderen Asylbewerber_innen verbal oder physisch angegriffen worden waren. Die Unterkünfte der beiden Städte unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Größe: Während es in Nürnberg Platz für 33 Geflüchtete an drei verschiedenen Standorten gibt, verfügt Berlin über ca. 120 Plätze an einem einzigen Standort. Deutlich anders ist die Unterbringung in Sachsen organisiert. Hier werden LSBT*I*-Geflüchtete aus ganz Sachsen in städtische Sozialwohnungen vermittelt. Diese Vermittlung organisiert der Verein CSD Dresden e. V. in seiner Rolle als Landeskoordinierungsstelle Sachsen für queere Geflüchtete. Bei den Wohnungen handelt es sich um freie Sozialwohnungen in Dresden, Leipzig und Chemnitz. Lokale LSBT*I*-Vereine und deren ehrenamtliche Helfer_innen bieten dort Unterstützung und Begleitung an und stellen wichtige Ansprechpartner_innen dar. Befragt wurden jeweils die Gründer oder Leiter der LSBT*I*-Unterbringungsprojekte: Stephan Jäkel von der Schwulenberatung Berlin, Michael Glas vom Verein Fliederlich in Nürnberg und, vom CSD Dresden e. V., Ronald Zenker. Zudem wurden Gespräche mit Akteur_innen anderer Organisationen, wie der LSBTI Refugee Conference in Brandenburg an der Havel und Queerweg e. V. in Thüringen geführt. Die Betrachtung der verschiedenen Unterbringungsformen in den drei Projekten brachte drei wichtige Erkenntnisse hervor, die sich an dieser Stelle bereits vorwegnehmen lassen: Erstens ist eine zentrale Lage und eine gute Anbindung an Beratungseinrichtungen bei allen drei Unterkünften gegeben und von großer Bedeutung, um ein Wohnen in einem möglichst offenen Umfeld zu ermöglichen. Ein Anschluss an LSBT*I*- und Migrant_innenberatungen ist so ebenfalls gegeben. Auch der Kontakt mit ehrenamtlichen Helfer_innen aus der LSBT*I*-Community wird dadurch erleichtert. Zweitens sind trotz zahlreicher ehrenamtlicher Helfer_innen auch bezahlte Stellen notwendig, um die Hilfe professionell zu koordinieren und um Fachwissen bereitzustellen. Die Bewältigung dieser Herausforderungen setzt drittens eine gute Zusammenarbeit mit Politik und Verwaltung voraus. Letztere sollten die herkömmlichen Unterkünfte wiederum stärker in die Pflicht nehmen, alle Geflüchteten über die Angebote für LSBT*I* und andere schutzbedürftige Geflüchtete zu informieren. Bevor im Folgenden die drei Projekte vorgestellt werden, wird der Blick zur Einführung zunächst auf Fluchtursachen, rechtliche Aspekte und Maßnahmen im Hinblick auf LSBT*I*-Geflüchtete gerichtet.

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F luchtgründe und H er ausforderungen für LSBT*I* Das folgende Kapitel stellt einerseits spezifische Fluchtgründe von LSBT*I*Personen vor, die mit eigenen Herausforderungen verbunden sind. Anschließend werden damit verbundene rechtliche Aspekte in den Blick genommen, bevor auf Herausforderungen und deren Lösungen durch die Projekte eingegangen werden kann.

Fluchtgründe Die Verfolgung aufgrund sexueller Orientierung oder sexueller Identität ist ein tiefgreifendes Problem und treibt zahlreiche Menschen weltweit in die Flucht. In etwa einem Drittel aller Staaten der Welt sind homosexuelle Handlungen heute immer noch straf bar.3 Selbst in Ländern, in denen keine gesetzliche Diskriminierung besteht, wird eine nicht heterosexuelle Orientierung ebenso wie eine von der Norm abweichende sexuelle Identität oftmals gesellschaftlich geächtet, sodass Menschen auch dort um ihre Sicherheit fürchten müssen (vgl. Gmuender 2017). Ein Leben ohne ständiges Versteckspiel und ohne die Angst, entdeckt zu werden, ist an vielen Orten für LSBT*I* nicht möglich. Das Ausmaß der gezielten Verfolgung von LSBT*I* wurde kürzlich deutlich, als im April 2017 bekannt wurde, dass homosexuelle Männer in Tschetschenien systematisch verschleppt, misshandelt und gefoltert wurden (vgl. Boy 2017). Während die gesellschaftliche Akzeptanz und Offenheit gegenüber sexuellen Minderheiten in Deutschland vergleichsweise verbreitet ist und in den letzten Jahren kontinuierlich zunahm, ist die gesetzliche Gleichstellung auch hierzulande nicht in allen Bereichen vollzogen – so sind nicht heterosexuelle Paare noch immer vom Adoptionsrecht ausgeschlossen (vgl. Rade 2016).

Asylverfahren Dieser Artikel kann nur einen knappen Einblick in die spezifischen asylrechtlichen Fragen im LSBT*I*-Kontext geben. Gleichwohl sollen zwei grundsätzliche Herausforderungen von LSBT*I*-Asylanwärter_innen festgehalten werden: Zum einen ist die Verfolgung aufgrund von sexueller Orientierung oder sexueller Identität gemeinhin schwerer nachzuweisen als andere, weniger tabuisierte Verfolgungsgründe, wie etwa Religions- oder Parteizugehörigkeit. Zum anderen ist es aufgrund der schwierigen Nachweisbarkeit für die Anhörung im Asylprozess umso entscheidender, dass eine möglichst offene und detaillierte 3 |  Im Jahr 2015 war der gleichgeschlechtliche Geschlechtsverkehr weltweit in 75 Staaten verboten (vgl. Carroll & Itaborahy 2015: 28).

Projekte zur Unterbringung von LSBT*I*-Geflüchteten

Schilderung der Verfolgung erfolgt. Dies stellt die Betroffenen vor eine große Herausforderung: Ein Asylgrund, der sich auf Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe beruft, ist im Falle asylsuchender LSBT*I* oft mit Scham und Tabuisierung verbunden. Aus diesen beiden Gründen erscheint es unbedingt erforderlich, dass die geflüchteten LSBT*I* so früh wie möglich Zugang zu einer spezifisch für LSBT*I* sensibilisierten Asylverfahrensberatung haben. Je früher eine LSBT*I*-Zugehörigkeit als Fluchtgrund geklärt würde, desto eher könnte verhindert werden, dass die Geflüchteten ohne eine entsprechende Beratung in ihre Anhörung gehen. Es könnte außerdem sichergestellt werden, dass sie die Option erhielten, in einer LSBT*I*-Unterkunft untergebracht zu werden.

Maßnahmen Unter diesen Bedingungen scheinen folgende Maßnahmen als Grundpfeiler einer LSBT*I*-spezifischen Geflüchtetenhilfe sinnvoll: An erster Stelle steht eine sichere Unterbringung. Ein sicherer Schlafplatz, an dem keine verbalen oder körperlichen Übergriffe aufgrund der sexuellen Orientierung oder der sexuellen Identität mehr befürchtet werden müssen, stellt einen Rückzugs- und Schutzraum dar, der dringend benötigt wird. Eine Unterbringung an einem Ort, der einen Anschluss an die LSBT*I*-Community ermöglicht, bietet die Möglichkeit zum Austausch mit Gleichgesinnten und zur Nutzung psychosozialer Beratungsangebote. Beides trägt zum Empowerment der Zielgruppe bei. Nicht zuletzt ist der Zugang zu einer LSBT*I*-spezifischen Asylverfahrensberatung wichtig. Da das Anhörungsgespräch den LSBT*I*-Geflüchteten ein hohes Maß an Offenheit in Bezug auf ein tabuisiertes Thema abverlangt, ist es besonders wichtig, dass sie diesbezüglich kompetent und vertraulich beraten werden können. Eine zusätzliche Herausforderung, die sich bei allen genannten Maßnahmen stellt, ist, dass die Geflüchteten aufgrund der Tabuisierung oftmals nicht selbst nach Unterstützung suchen, da sie sich nicht sicher sein können, ob sie den Mitarbeiter_innen vertrauen können. Erforderlich ist hierfür also eine breite Kommunikation des Angebots.

Rechtliche Grundlage: Besondere Schutzbedürftigkeit In den letzten Jahren wurden auf EU-Ebene bedeutende Fortschritte für die Rechte von LSBT*I* erreicht, die sich auch auf das Asylrecht auswirken. Laut der EU-Aufnahmerichtlinie von 2013, die seit 2015 auch verpflichtend in Deutschland gilt, müssen für besonders schutzbedürftige Geflüchtete Konzep-

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te entwickelt werden, die deren Schutz und Sicherheit während des Asylverfahrens garantieren. Zwar werden LSBT*I*-Geflüchtete in dieser Richtlinie4 nicht explizit genannt, allerdings ist die Aufzählung der genannten Gruppen auch nicht abschließend, da sie durch ein »[…] von schutzbedürftigen Personen wie« eingeleitet wird (vgl. Flüchtlingsrat Brandenburg 2016). Dies hat indirekt zur Folge, dass die örtlichen Behörden5 die Zugehörigkeit von LSBT*I* zur Gruppe der besonders Schutzbedürftigen jeweils unterschiedlich beurteilen. So erkennen die Regierungen von Berlin, dem Saarland, Rheinland-Pfalz, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Bremen und Sachsen die besondere Schutzbedürftigkeit von LSBT*I* grundsätzlich an und fördern deren Schutz mit entsprechenden Maßnahmen. Die meisten Länder dieser Gruppe integrieren LSBT*I* in ihre Gewaltschutzkonzepte für Unterkünfte. Einige schaffen dazu eingangs erwähnte eigene Unterkünfte, oder öffnen, wie in Hamburg, zumindest vorhandene Schutzwohnungen für Frauen auch für LSBT*I*. In den anderen Bundesländern ist die Lage weiterhin prekär. Dort sind es in erster Linie Vereine und Privatpersonen, die Einzelfallhilfe leisten. Gerade in diesen Bundesländern werden die Stimmen immer lauter, die eine strukturelle Herangehensweise an das Problem fordern, so z. B. in Stellungnahmen des Lesben- und Schwulenverbands in Deutschland (LSVD) in Thüringen und Baden-Württemberg (vgl. LSVD Thüringen 2017 und LSVD Baden-Württemberg 2017). Fortschritte zeigen sich momentan auch auf Bundesebene. So hat das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend für die bereits bestehenden »Mindeststandards zum Schutz von Kindern, Jugendlichen und Frauen in Flüchtlingsunterkünften« einen Annex in Auftrag gegeben, welcher sich speziell mit den Bedürfnissen der Gruppe LSBT*I*-Asylsuchender auseinandersetzt. Dieser soll den zuständigen Behörden als »Orientierungshilfe für die Schaffung entsprechender Strukturen in Unterkünften und Einrichtungen« dienen (vgl. BMFSFJ 2017: 13). 4 | In der Liste der besonders schutzbedürftigen Geflüchteten werden explizit genannt: »Minderjährige, unbegleitete Minderjährige, Menschen mit Behinderung, Personen mit schweren körperlichen Erkrankungen, ältere Menschen (d. h. Personen über 65 Jahre), Schwangere, Alleinerziehende mit minderjährigen Kindern, Opfer des Menschenhandels, Personen mit psychischen Störungen, Menschen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, wie z. B. Opfer der Verstümmelung weiblicher Genitalien« (Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union 2013: Art. 21). 5 | Zunächst sind die Bundesländer für die Unterbringung in sogenannte Erstaufnahmeeinrichtungen (EAE) zuständig. Wenn die Geflüchteten nach einigen Monaten in Gemeinschaftsunterkünfte umziehen, geht die Verantwortung an die jeweilige Kommune über.

Projekte zur Unterbringung von LSBT*I*-Geflüchteten

E inblicke in die P r a xis Nachdem die Ausgangslage umrissen wurde, folgt nun die Vorstellung und Analyse der Praxisbeispiele. Im Fokus stehen dabei die Besonderheiten der verschiedenen Lösungsansätze, die spezifischen Herausforderungen im jeweiligen Kontext sowie Kooperationen und Planungen für die Zukunft.

Queere Unterkunft Treptow der Schwulenberatung Berlin In Berlin gibt es seit Februar 2016 eine Gemeinschaftsunterkunft, die für insgesamt 122 geflüchtete LSBT*I* Platz bietet. In den Zimmern sind mindestens zwei Personen untergebracht. Ein Teil der Unterkunft steht in dringenden Fällen auch als Notunterkunft zur Verfügung, hier gibt es auch Vierbettzimmer. Das Besondere: Die Unterkunft wurde als konsequenter Schutzraum konzipiert, das heißt, es arbeiten und engagieren sich dort größtenteils Menschen, die sich selbst zur Gruppe der LSBT*I* zählen. Spezifische LSBT*I*-Kenntnisse und interkulturelle Kompetenz werden bei allen Mitarbeiter_innen vorausgesetzt. Die relativ zentrale Lage in Berlin ermöglicht eine gute Anbindung an die städtische Infrastruktur und an LSBT*I*-spezifische Einrichtungen. Die Unterkunft wurde von der Schwulenberatung Berlin initiiert und wird von ihr im Auftrag des Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten (LAF) betrieben, welches die Unterkunfts- und Verpflegungskosten mit Tagessätzen finanziert. Einen richtigen Betreibervertrag zwischen LAF und Schwulenberatung Berlin gibt es aber auch nach anderthalb Jahren noch nicht. Seit Herbst 2016 sind die 122 Plätze in der Unterkunft durchgehend fast vollständig bis vollständig belegt. Das Betreuungsangebot vor Ort erfolgt durch das Team Queere Unterkunft, mit Heimleitung, ausgebildeten Sozialarbeiter_innen und Sozialbetreuer_innen, Hauswirtschaftskraft, Ehrenamtskoordination und Bundesfreiwilligen. Sozialbetreuer_innen sind hier LSBT*I* mit eigener Flucht- und/oder Migrationserfahrung. Eine sozialpädagogische Qualifizierung ist nicht zwingend erforderlich.

Infrastruktur und politische Anerkennung Der Standort ist im Berliner Bezirk Treptow-Köpenick relativ gut angebunden. Es gibt hier eine LSBT*I*- und migrant_innenfreundliche Infrastruktur, vor allem in den nahegelegenen Nachbarbezirken Kreuzberg und Neukölln. Das nahegelegene Schwuz, ein Club, der regelmäßig Veranstaltungen für LSBT*I*Geflüchtete anbietet, stellt beispielsweise Freikarten für die Bewohner_innen der Unterkunft zur Verfügung (vgl. Knuth 2017). Zudem gibt es in der ganzen Stadt ein großes Angebot an unterschiedlichen Beratungseinrichtungen für

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die Zielgruppe. Teilweise handelt es sich dabei um Migrant_innenselbstorganisationen, wie z. B. der Beratungsstelle GLADT e. V. Hinzu kommt das vielfältige Angebot der Schwulenberatung Berlin, das psychologische und rechtliche Beratung speziell für die Zielgruppe LSBT*I*-Geflüchteter anbietet und den Vorteil hat, dass vom Senat bezahlte Fachkräfte die Klient_innen kostenlos beraten können. Über die Fachstelle für LSBT*I*-Geflüchtete der Schwulenberatung werden die Ratsuchenden bei Bedarf direkt in das Berliner Versorgungssystem weitervermittelt und bekommen so zum Beispiel Unterstützung beim Zugang zu Ärzt_innen. Die im Herbst 2016 im Auftrag des Senats eröffnete Fachstelle hat das Ziel, für alle unterschiedlichen Schwierigkeiten von LSBT*I*-Geflüchteten eine adäquate Lösung im Berliner Versorgungssystem zu ermitteln. Falls das Berliner Versorgungssystem keine adäquate Lösung bietet, macht die Fachstelle staatliche und nicht staatliche Akteure über Stellungnahmen, Empfehlungen und Rechtsgutachten auf diese Mängel aufmerksam und trägt damit zu einer besseren Versorgung bei.

Bleibende Herausforderungen in der Unterkunft Das Konzept einer spezialisierten Unterkunft für in ihren Herkunftsländern und auch in Deutschland verfolgte LSBT*I* wurde zu Beginn von Außenstehenden mitunter idealisiert. Stephan Jäkel, Abteilungsleiter Schwulenberatung Berlin, erklärt sich diese Idealisierung damit, dass fast alle LSBT*I*, egal welcher Herkunft, unterschiedliche Ausgrenzungs- und Diskriminierungserfahrungen gemacht haben. Das idealisierte Bild einer Unterkunft, in dem LSBT*I* die Norm bilden und die Bewohner_innen ihre eigene sexuelle Orientierung oder Identität nicht hinterfragen oder verstecken müssen, steht symbolhaft für einen Ort, den sich nicht wenige LSBT*I* für sich selbst schon einmal gewünscht haben. Jäkel gibt allerdings zu bedenken, dass dieses Bild nicht der Realität entspricht: »Sicherlich ist die Unterkunft eine gesellschaftliche Notwendigkeit und als Sprungbrett für ein Ankommen in Berlin gut und sinnvoll. Allerdings ist die Verweildauer für viele zu lang.« (Interview am 03.03.2017). Eine längerfristige Unterbringung im Mehrbettzimmer sei zwangsläufig mit sozialem Stress und einer starken Einschränkung der Privatsphäre verbunden. Beim Einzug sei die Erleichterung bei vielen Geflüchteten groß, wenn sie erfahren, dass dies eine Unterkunft ausschließlich für LSBT*I* ist. Nach einigen Wochen käme es verständlicherweise zu einer Relativierung. Zu den Herausforderungen des Asylverfahrens mit keiner oder nur eingeschränkter Arbeitserlaubnis, kommen alltägliche Herausforderungen: »Wie überall, wo unterschiedliche Menschen auf relativ kompaktem Raum zusammenleben, ohne dass sie sich dies wirklich aussuchen konnten, gibt es auch unter den Bewohner_innen manchmal Konflikte. Das gehört dazu und auch damit gehen wir um«, so Jäkel (Interview am 03.03.2017). Anderen Herausforderungen die gerade junge LSBT*I* betreffen können, kann die Schwulenbera-

Projekte zur Unterbringung von LSBT*I*-Geflüchteten

tung Berlin dank ihrer langjährigen Erfahrung z. B. in der Präventionsarbeit zu STI (engl. sexuell übertragbare Infektionen) oder Suchtkrankheiten ohnehin bereits kompetent begegnen: »Wir arbeiten daran, Stück für Stück das gesamte Angebot auch für Geflüchtete nutzbar zu machen, was vor allem durch die Übersetzung von Materialien und ein flexibles Angebot von Sprachmittler_innen möglich wird.« (Interview Schwulenberatung Berlin)

Interkulturelle Öffnung der Organisation und Pläne für die Zukunft Von Anfang an war der Schwulenberatung Berlin klar, dass die Inklusion von LSBT*I*-Geflüchteten nur gelingen kann, wenn sich die Organisation selbst verändert. Deshalb bemüht sich die Schwulenberatung Berlin, Angebote nicht nur für LSBT*I*-Geflüchtete, sondern auch mit ihnen zu entwickeln. Dafür werden LSBT*I* mit Fluchterfahrung eingestellt. Laut Jäkel hatte die Schwulenberatung Berlin bereits vor der Arbeit mit Geflüchteten einen Anteil von Mitarbeitenden mit Migrationserfahrung von circa 20 Prozent. Durch die Geflüchtetenprojekte habe sich dieser auf 30 Prozent erhöht. Diese Erhöhung umfasse vor allem auch LSBT*I*-Kolleg_innen mit Fluchterfahrung, die aus gleichen Ländern wie die Bewohner_innen stammen. »Durch diese bewusste kulturelle Öffnung wollen wir einer vielerorts existierenden Trennung von Helfer_innen ohne Migrationserfahrung auf der einen und Hilfesuchenden mit Migrationshintergrund auf der anderen Seite entgegenwirken.« (Interview Schwulenberatung Berlin) Wie bereits erwähnt wurde, sind in vielen Bereichen LSBT*I* mit einer eigenen Fluchterfahrung als Sozialbetreuer_innen tätig, welche meist noch nicht über eine sozialpädagogische Qualifikation verfügen. Diese sollen sie zukünftig in einem dualen Studium erlangen können, das in Teilzeit neben der Arbeit absolviert werden kann. Darüber hinaus ist eine Qualifizierung für LSBT*I*-sensible Sprachmittler_innen geplant. Hier sollen die Sprachmittler_innen eine professionelle Haltung lernen, auch um sich beispielsweise erfolgreich von emotional belastenden Inhalten abzugrenzen. Diese Sprachmittler_innen könnten dann auch von anderen Akteuren wie Krankenhäusern gebucht werden. Der Bedarf daran würde auch in Zukunft groß sein und das Projekt könne sich dann auch wirtschaftlich rechnen, so Jäkel. Diese beiden Ausbildungspläne stellen sowohl für die Mitarbeiter_innen mit eigener Fluchterfahrung, als auch für die gesamte geflüchtetenbezogene Arbeit der Schwulenberatung Berlin einen Nachhaltigkeitsfaktor dar. Für erstere werden neue berufliche Perspektiven geschaffen, während für die Schwulenberatung Berlin neue Fachkräfte qualifiziert werden, die aufgrund der eigenen Erfahrungen einen besonderen Zugang zur Arbeit mit Geflüchteten haben können. Die bisherigen Erkenntnisse aus der Praxis in der Unterbringung sind bereits in ein Konzept für ein neues Hausprojekt der Schwulenberatung Berlin

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geflossen. Das Gebäude dafür befindet sich inzwischen bereits im Bau. Dort sollen mehrere betreute Wohngemeinschaften für LSBT*I* mit und ohne Fluchterfahrung entstehen. Auf diesem Wege soll anerkannten LSBT*I*-Geflüchteten, die große Schwierigkeiten haben, auf dem Berliner Wohnungsmarkt eine Wohnung zu finden, zumindest ein eigenes Zimmer mit einer besseren Privatsphäre ermöglicht werden. Neben Stressreduktion bedeuten die eigenen vier Wände eine wenigstens partielle Rückkehr zur selbstbestimmten Lebensführung. Und das Zusammenleben mit nicht geflüchteten Klient_innen ermöglicht auch weitere Inklusionsschritte.

Queere Unterkunft von Fliederlich in Nürnberg In Nürnberg gibt es insgesamt drei kleinere LSBT*I*-Unterkünfte mit acht, zehn und 15 Plätzen. Die erste eröffnete im Februar 2016, also etwa zeitgleich mit der Unterkunft in Berlin. Initiiert wurde sie von Fliederlich, einem Verein, der seit fast 40 Jahren unter anderem in ehrenamtlich betreuten Gruppen mit LSBT*I* arbeitet (vgl. Fliederlich 2008). Die anderen beiden Unterkünfte folgten im Verlauf des Jahres 2016. Sie werden von anderen Betreibern verwaltet, aber jeweils vom Verein Fliederlich und seinem Team ehrenamtlicher LSBT*I* betreut. Michael Glas, Vorstand von Fliederlich in Nürnberg, bekam in der zweiten Jahreshälfte 2015 vermehrt Anfragen von geflüchteten LSBT*I*, die sich in den Sammelunterkünften mit Diskriminierung und Gewalt durch andere Geflüchtete konfrontiert sahen. Während die Schwulenberatung Berlin zuvor bereits einzelnen Geflüchteten geholfen hatte, privaten Wohnraum zu finden, hatte das Team von Fliederlich zu diesem Zeitpunkt noch keine Erfahrung mit der anderweitigen Unterbringung von LSBT*I*-Geflüchteten. Bei der Suche nach einer passenden Immobilie zur Unterbringung der LSBT*I* kam Michael Glas der Zufall zu Hilfe. Bekannte von ihm zogen weg und er konnte die Vermieter_innen des Hauses für die Sache gewinnen. Der Umbau erfolgte ausschließlich auf Vereinskosten. Durch einen Beherbergungsvertrag mit der Stadt Nürnberg werden dem Verein seitdem die zukünftigen Bewohner_innen zugewiesen. Die Geflüchteten melden sich aber auch selbst. Meist kommen sie aus der Region, manchmal aber auch aus dem restlichen Bayern. Dann muss ein Umverteilungsantrag von einem Regierungsbezirk in den anderen gestellt werden. Dies ist in fünf Fällen bereits geglückt. Bisher gibt es in Bayern, wie in vielen Teilen des Bundesgebietes, keine andere Stadt mit einer eigenen LSBT*I*-Unterbringung. Selbst München ist erst Anfang des Jahres 2017 nachgezogen und hat ein städtisches Unterbringungsprojekt angekündigt, welches aber bislang nicht realisiert wurde. Die circa 30 Geflüchteten in den drei Unterkünften kommen aus vielen verschiedenen Ländern. Jeweils mehrere kommen aus dem Iran, Russland und

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der Ukraine. Syrer_innen sind bislang nicht vertreten. Glas vermutet, dass die Abwesenheit von Syrer_innen in der Unterkunft damit zusammenhängt, dass diese ein Outing vermeiden wollen (vgl. Interview Fliederlich e. V.). Im Gegensatz zu anderen Geflüchteten haben sie die Möglichkeit, auch ohne eine persönliche Verfolgung aufgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe (LSBT*I*) den sogenannten subsidiären Schutz zu erhalten, da sie aus einem Kriegsgebiet kommen (vgl. Lueder 2017).

Zwischen persönlicher Betreuung und Selbstständigkeit Die beiden kleineren Unterkünfte, wovon eine auch vom Verein selbst betrieben wird, befinden sich beide im Stadtteil Ostenhofe. Die Innenstadt und damit Einkaufsmöglichkeiten, Ausgehmöglichkeiten und die Asylsozialberatungsstelle sind fußläufig innerhalb weniger Minuten zu erreichen. Dies gilt ebenso für U-Bahn- und Bus-Stationen. Das LSBT*I*-Betreuungsangebot durch Fliederlich dreht sich beispielsweise um gesundheitliche Aspekte, wie die Beratung zu STI, allgemeine Informationen zur lokalen LSBT*I*-Szene, aber auch allgemein zum Alltag von LSBT*I* in Deutschland. Oftmals begleiten ehrenamtliche Helfer_innen die Geflüchteten zur Anhörung, bei Bedarf auch zu Arztgängen oder zu Rechtsanwält_innen. Zusätzlich werden gemeinsame Freizeitaktivitäten angeboten, da die Geflüchteten manchmal nicht die Kraft und den Mut auf bringen, eigenständig aktiv zu werden. In der Unterkunft gibt es keine 24-Stunden-Betreuung und auch die Verpflegung geschieht eigenverantwortlich: Es wird selbst eingekauft und gekocht. Dies sei gut und wichtig, um den Geflüchteten ein Stück Alltag und Selbstständigkeit zu ermöglichen, so Betreiber Michael Glas. Einmal wöchentlich bietet der Verein ein Queer Refugee Café in seinen Räumen an, bei dem LSBT*I*-Geflüchtete sich in ungezwungenem Rahmen austauschen können. Vor Ort bietet Glas bei Bedarf auch vertrauliche Gespräche über Asylverfahren an. »Für die ist es immer sehr wichtig, versichert zu bekommen, dass es nicht mit Nachteilen verbunden ist, wenn sie ihre sexuelle Orientierung oder sexuelle Identität im Asylverfahren preisgeben« (Interview Fliederlich e. V.).

Anhaltende Unsicherheit trotz etablierter Strukturen Im Gegensatz zur Schwulenberatung Berlin, die eine Vielzahl von festen Angestellten hat, sind bei Fliederlich nur Mittel für 50 Arbeitsstunden vorhanden. Diese Stunden werden momentan auf zwei Personen verteilt. Die restliche Arbeit, darunter auch die Betreuung der etwa 30 Geflüchteten, läuft ehrenamtlich. Durch diese größtenteils ehrenamtliche Aufstellung ist das gesamte Vereinsangebot stark vom Engagement einzelner Personen abhängig. Letztes

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Jahr musste die Trans*-Beratung eingestellt werden, weil die leitende Person aufhörte und sich bisher kein Ersatz fand. Umso bemerkenswerter ist es, was der Verein, der 2018 seinen vierzigsten Geburtstag feiert, in puncto Geflüchteten-Unterbringung geleistet hat und nach wie vor leistet. Auf die Frage nach weiteren Finanzierungsmöglichkeiten gibt Glas zu bedenken, dass es zwar Gelder gebe, um die man sich bewerben könne, teilweise prüfe man das auch gerade, oftmals ginge es aber um einmalige Unterstützungszahlungen. Der damit verbundene Aufwand inklusive der steuerlichen Abrechnung ist relativ hoch (vgl. Interview Fliederlich e. V.). Für den Verein ist nach dem ersten Jahr deutlich geworden, dass mit den vorhandenen Ehrenamtsstrukturen Beeindruckendes geleistet wurde. Um nachhaltig mit der vorhandenen Arbeitskraft zu wirtschaften, wären allerdings weitere bezahlte Stellen wünschenswert. Andere Vorhaben, wie beispielsweise ein Wohnprojekt für Senioren, müssen momentan zurückstecken, weil die Kapazitäten durch die Geflüchtetenarbeit ausgelastet sind.

Landeskoordinierungsstelle Sachsen für queere Geflüchtete Sachsen bietet als einziges Flächenland eine landesweite Lösung zur sicheren Unterbringung von LSBT*I* an. Geflüchtete können von der Landeskoordinierungsstelle Sachsen für queere Geflüchtete jederzeit relativ unbürokratisch aus einer Erstunterkunft oder einer Gemeinschaftsunterkunft in ganz Sachsen in eine Wohngemeinschaft in Dresden, Leipzig oder Chemnitz transferiert werden. Die Wohnungen werden vom jeweiligen Sozialamt bereitgestellt. Im Durchschnitt verfügen sie über zwei Zimmer, die in der Regel jeweils doppelt belegt werden. Die Wohnungen haben damit üblicherweise zwei bis vier Bewohner_in­ nen. In Dresden gibt es für Sonderfälle auch Einzelstudios, die in nahegelegenen Studierendenwohnheimen angemietet werden. Gründe für eine dortige Unterbringung sind körperliche oder psychische Leiden, die das Zusammenleben in Mehrbettzimmern unzumutbar machen. Um in diesen Fällen ein Einzelwohnen zu ermöglichen, gewährt der Vermieter des Wohnheims einen kleinen Mietpreisnachlass. Durch das Nutzen seines sozialen Netzwerks konnte der Vorstand vom CSD Dresden e. V. Ronald Zenker in der Anfangsphase schnell ein Angebot etablieren. Die große mediale Aufmerksamkeit, welche dem Thema Geflüchtete im zweiten Halbjahr 2015 zuteil wurde, sorgte dafür, dass sich schnell Unterstützer_innen fanden: Das Hotel eines Freundes von Zenker stellte kostenlos Zimmer bereit, die Kirche nahm Geflüchtete im Pfarrhaus auf und auch Petra Köpping, die Ministerin für Gleichstellung und Integration, nahm für mehrere Monate geflüchtete LSBT*I* bei sich auf. Nach einer Phase der Im-

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provisation bekam der CSD Dresden e. V. im Dezember 2015 schließlich einen Förderbescheid für das Projekt und die erste Landeskoordinierungsstelle Sachsen für queere Geflüchtete war geschaffen. Insgesamt wurden inzwischen mehr als 200 Geflüchtete von der Landeskoordinierungsstelle vermittelt und untergebracht. Dabei handelt es sich vor allem um schwule Männer sowie einige Transmänner. Zenker zufolge gibt es in Sachsen nach Schätzungen insgesamt 900 bis 1200 LSBT*I*-Geflüchtete: »Einen Großteil der LSBT*I*-Geflüchteten haben wir also noch gar nicht erreicht. Einige Geflüchtete wollen sich aber auch unter gar keinen Umständen outen und lieber unauffällig in der Gemeinschaftsunterkunft bleiben.« (Interview CSD Dresden e. V.) Die meisten der Geflüchteten, die bislang von der Koordinierungsstelle vermittelt wurden, kommen aus dem Iran, dem Irak und aus Syrien. Die Anzahl von Personen aus Venezuela nimmt momentan zu. Für die Übersetzung mit arabischsprachigen Geflüchteten hat der Verein einen Sprachmittler, der ursprünglich aus Tunesien kommt und der selbst mehrere Jahre am Goethe-Institut Deutsch lernte. Für nicht arabischsprachige Herkunftsländer habe man sich bisher gut mit Englisch verständigen können. Wie in Nürnberg werden die Bewohner_innen einer Wohnung jeweils von ehrenamtlichen Pat_innen betreut, die sie zum Beispiel bei Besuchen bei Ärzt_innen oder Behörden begleiten, beim Ausfüllen von Anträgen unterstützen oder auch Freizeit mit ihnen gestalten. In Dresden gibt es momentan 14 Ehrenamtliche, die diese Aufgaben regelmäßig wahrnehmen. Während die Landeskoordinierungsstelle Sachsen für queere Geflüchtete für alle drei Städte die Wohnplatzvermittlung und Unterbringung organisiert, übernimmt sie in Dresden zudem noch die Aufgabe der Betreuung durch die 14 Ehrenamtlichen sowie durch Ronald Zenker und seinen Mitarbeiter selbst. Die Asylrechtsberatung übernimmt in Dresden die Initiative Gerede e. V. In Leipzig und Chemnitz übernehmen die Vereine RosaLinde e. V. (Leipzig) und der LSVD Chemnitz jeweils die Betreuung mit Ehrenamtlichen sowie die Beratung zum Asylverfahren.

Nutzung vorhandener Strukturen und Einbindung anderer Geflüchteter im geschützten Rahmen Das Kriterium für die Standortauswahl der Wohnungen war einerseits die Nähe zu den betreuenden Vereinen, andererseits aber auch eine Unterbringung in migrant_innenfreundlicher Umgebung. In Dresden wurde hierfür ein Studentenviertel gewählt. Das Sozialamt hat entsprechend gezielt Wohnungen in dieser Gegend für die Geflüchteten bereitgestellt. Durch die landesweite Koordination und die Verteilung auf drei Städte, in denen jeweils ein lokaler Verein für die Betreuung zuständig ist, wurde ein effizientes Versorgungssystem geschaffen. Vorhandene Strukturen konnten in-

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tegriert und gestärkt werden: Eine Besonderheit des Vereins ist die Bemühung, die geflüchteten LSBT*I* auch mit anderen Geflüchtetengruppen zusammenzubringen. Hierzu wurden zum Beispiel die Sprachkurse, die der CSD Dresden e. V. anbietet, ganz bewusst für Geflüchtete aus anderen Unterbringungen geöffnet, sodass es zu Begegnungen in einem geschützten Rahmen kommen kann. Ein weiterer Plan, für den es bislang allerdings von der Stadt keine Genehmigung gab, ist der Neubau kleinerer WG-ähnlicher Einheiten. Dort könnten verschiedene Gruppen besonders schutzbedürftiger Geflüchteter zusammenwohnen. Aus Zenkers Sicht würde durch diese zentrale Unterbringung einerseits die Begegnung zwischen den Gruppen gefördert. Andererseits würde die Betreuungsarbeit für ihn und sein Team erleichtert, da sich der potenzielle Bauplatz direkt neben der Landeskoordinierungsstelle befindet.

Zusammenarbeit mit Behörden und Zukunftspläne Eine Besonderheit in Sachsen ist die sehr gut funktionierende Zusammenarbeit, vor allem mit den Landesbehörden. Dies zeigt sich in der Förderung der Landeskoordinierungsstelle Sachsen für queere Geflüchtete. Hier finanziert das Land neben den Räumlichkeiten die Vollzeitstelle von Ronald Zenker und seit 2017 eine weitere Dreiviertelstelle. Mit der Schaffung einer Sonderregelung, die es der Koordinationsstelle erlaubt, unbürokratisch LSBT*I*-Geflüchtete aus allen Unterbringungen des Landes zu holen und in Wohnungen zu bringen, hat sich das sächsische Innenministerium besonders kooperationsbereit gezeigt. Hinzu kommt die Kooperation mit den lokalen Sozialämtern, die die Wohnungen zur Verfügung stellen. Hierbei hilft pragmatisches Anpacken: »Einfach machen, ohne vorher viel nachzufragen. Dabei spielt aber sicherlich auch unsere gute Vernetzung mit der Ministerin eine Rolle. Gleichzeitig ist man in der Politik natürlich auch stolz, so ein Vorzeigeprojekt zu haben.« (Interview CSD Dresden e. V.) Um die Arbeit der Koordinierungsstelle weiter zu professionalisieren und das Angebot an Sozialarbeit ausweiten zu können, arbeitet der Verein derzeit daran, eine Stelle für eine_n Asylsozialbetreuer_in einzurichten.

V ergleichende S chlussbe tr achtung Im folgenden Kapitel werden Projekte anhand der Aspekte Eigen- bzw. Fremdbetrieb, zentraler oder dezentraler Unterbringungsform und der Art der Betreuung gegenübergestellt. Daraufhin soll jeweils kurz vergleichend auf organisatorische Faktoren wie Vernetzung, Nachhaltigkeit und Finanzierung eingegangen werden. Abschließend wird die Herausforderung der Angebotskommunikation noch einmal in den Mittelpunkt gestellt und die Übertragbarkeit der drei Modelle auf andere Kontexte eruiert.

Projekte zur Unterbringung von LSBT*I*-Geflüchteten

Formen der Unterbringung und der Betreuung Der auffälligste Unterschied zwischen den beschriebenen Unterbringungslösungen besteht darin, dass einige eigens Wohnraum schaffen und zur Verfügung stellen, so zum Beispiel die Unterkunft in Berlin und die erste Nürnberger Unterkunft. Andere vermitteln vorhandenen Wohnraum, wie das sächsische Unterbringungsprojekt, oder betreuen bereits vorhandene Unterkünfte, wie die beiden jüngeren der drei Nürnberger Einrichtungen. Die selbst betriebenen Unterkünfte sind hinsichtlich ihrer Attraktivität unabhängiger von anderen Betreibern sowie von politischen Entscheidungen und genießen damit größere konzeptuelle und räumliche Gestaltungsfreiheit durch den Verein. Zugleich bringen sie aber auch einen verwalterischen Mehraufwand mit sich, der für einen kleineren Verein wie Fliederlich nicht unerheblich ist. Hinsichtlich der Lebensbedingungen für die Bewohner_innen werden die Vorzüge einer dezentralen Unterbringung immer wieder betont. Die Menschen leben selbstständiger, kommen leichter in Kontakt mit der restlichen Bevölkerung und können oft zentraler wohnen, da die Wohneinheiten kleiner sind. Dadurch sind sie infrastrukturell besser angebunden. Insgesamt ähneln die Lebensbedingungen in einer dezentralen Unterbringung deutlich mehr denen der Mehrheitsgesellschaft und stellen gegenüber der Sammelunterbringung das integrativere Modell dar. Diesbezüglich bieten vor allem die Unterkünfte in Sachsen und in Nürnberg Vorteile. In Nürnberg handelt es sich zwar um Gemeinschaftsunterkünfte, aber die geringe Anzahl an Bewohner_innen, die Wohnform mit gemeinsam genutzter Küche zur Selbstverpflegung und die Ansiedlung im städtischen Wohngebiet haben eine deutlich dezentrale Komponente. Auch die Intensität und die Art der Betreuung unterscheiden sich. In der Berliner Unterkunft weist diese eine deutlich höhere Professionalisierung auf als in den beiden anderen Unterkünften: Der Verein bietet Betreuung durch Sozialarbeiter_innen sowie psychologische und rechtliche Beratungen durch Hauptamtliche an, die alle jeweils gezielt für LSBT*I*-spezifische Themen geschult sind. In Sachsen wird die Betreuung hauptsächlich durch die ehrenamtlichen Wohnungspat_innen organisiert, auch in Nürnberg spielen die ehrenamtlichen Pat_innen bei der alltäglichen Betreuung eine essenzielle Rolle. In Berlin werden ebenfalls Aufgaben durch Ehrenamtliche übernommen, allerdings haben diese bei der alltäglichen Betreuung eine weniger zentrale Funktion.

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Allgemeine Faktoren der Organisation Die politische Vernetzung ist in Berlin und Sachsen am stärksten. In Berlin ist der gesamte Verein gut etabliert und viele Stellen werden über den Senat finanziert. Auch in Sachsen kooperiert der Verein sehr erfolgreich mit den Behörden auf Landesebene. Gleichzeitig scheinen diese Verbindungen stark an den jetzigen Vorstand des Vereins gebunden zu sein, was im Falle zukünftiger personeller Veränderungen eine Herausforderung darstellen könnte. Am Beispiel Nürnberg, wo derzeit Projekte für andere Zielgruppen ruhen, wird deutlich, dass soziale Vereine, die sich in der Geflüchtetenarbeit engagieren, für die zusätzliche Arbeit auch zusätzliche Gelder und Personal benötigen. Andernfalls besteht die Gefahr, dass eine hilfsbedürftige Gruppe zum Wohle einer anderen vernachlässigt wird. Alle drei Vereine wirken auf unterschiedliche Weise nachhaltig. So ist es Fliederlich gelungen, sein Betreuungskonzept an weitere Unterkünfte zu vermitteln, sodass für die Unterbringung bereits gesorgt ist und die LSBT*I*Bewohner_innen weiterhin kompetent betreut werden. Ein ähnliches Beispiel bietet der CSD Dresden e. V. mit der Landeskoordinierungsstelle Sachsen für queere Geflüchtete, indem er vorhandene regionale Strukturen einbindet und effizient nutzt. Die Schwulenberatung Berlin ist besonders auf der inhaltlichen Ebene nachhaltig: Sie involviert die Geflüchteten. Damit wird eine interkulturelle Öffnung ermöglicht und ein ungewünschtes Hierarchiegefälle vermindert.

Bleibende Herausforderung: Angebotskommunikation Eine projektübergreifende Herausforderung bleibt es, die Zielgruppe zu erreichen, um ihnen die Hilfsangebote zugänglich zu machen. In Berlin ist man sich dieses Problems bewusst und versucht es dadurch zu lösen, dass man in den allgemeinen Unterlagen, die alle Geflüchteten bei ihrer Aufnahme in einer Unterkunft bekommen, Kontaktdaten von LSBT*I*-Beratungseinrichtungen unterbringt. In Sachsen betont Herr Zenker, dass er das Verteilen von Flyern für zu riskant hält, da es zu einem unfreiwilligen Outing führen könne. Er setzt auf Mundpropaganda unter den Geflüchteten, zum Beispiel über Gruppen in sozialen Netzwerken im Internet. Allerdings ist ihm auch klar, dass damit längst nicht alle betroffenen Personen erreicht werden. In Nürnberg gibt es in dieser Hinsicht ein ganz anderes Problem: Es sind nämlich schlichtweg keine Kapazitäten für eine größere Zahl neuer LSBT*I*Geflüchteten vorhanden. Es wird also bewusst auf ein Bewerben des Angebots verzichtet. In vielen Gesprächen, unter anderem im Interview mit einer Geflüchteten (Julja, Interview Refugee-LGBTIQ*-Conference) wurde deutlich, dass das

Projekte zur Unterbringung von LSBT*I*-Geflüchteten

bloße Vorhandensein eines Beratungsangebotes zum Thema LSBT*I* nicht ausreichend ist. Es könne nicht vorausgesetzt werden, dass die Geflüchteten sich »von alleine« die Hilfe holen, die sie brauchen. Es sei im Gegenteil wahrscheinlich, dass diese ihre LSBT*I*-Zugehörigkeit zur Sicherheit weiterhin zu verstecken versuchen. Umso wichtiger ist es, dass die Geflüchteten aktiv auf die Unterstützungsangebote hingewiesen werden. Da aber ebenso wenig davon ausgegangen werden kann, dass die ehren- und hauptamtlichen Mitarbeiter_innen ohne Sensibilisierungsschulungen wissen, wie sie am besten mit dem Thema umgehen, gibt es auch in diesem Bereich dringenden Handlungsbedarf. Es empfiehlt sich angesichts dieser Hürden, sämtliche Unterkünfte, ähnlich wie im Bundesland Berlin, zu verpflichten, Kontaktdaten zu LSBT*I*Initiativen in den allgemeinen Informationsmaterialien unterzubringen, die jede_r Geflüchtete bekommt. Zusätzlich wäre es sinnvoll, in jeder Unterkunft mindestens eine Person vor Ort zum Thema zu schulen, die sich dann bei allen Geflüchteten als offene_r Ansprechpartner_in für dieses Thema vorstellt. Um ein ungewolltes Outing zu vermeiden, sollte diese Person auch für andere Themen Ansprechpartner_in sein.

Übertragbarkeit und Fazit Die allgemeine Angebotskommunikation, wie sie im Berliner Modell praktiziert wird, kann mit der entsprechenden politischen Unterstützung vergleichsweise leicht auch anderen Ortes implementiert und ausgebaut werden. In anderen Bereichen scheint die Übertragbarkeit des Berliner Modells allerdings begrenzt. Die langjährige Erfahrung, die gute Vernetzung in der Stadt und nicht zuletzt natürlich die finanziellen Mittel, die der Schwulenberatung Berlin zur Verfügung stehen, sind anderswo nicht in entsprechendem Ausmaß vorhanden. Abteilungsleiter Jäkel glaubt aber, dass es bei den Wirkungszielen viele Gemeinsamkeiten mit anderen Organisationen geben kann. Diese lauten für die Schwulenberatung Berlin: Gleiche Rechte für LSBT*I* (unabhängig ob mit oder ohne Fluchterfahrung) sowie gleiche Chancen auf Teilhabe, Gesundheit, Arbeit, Wohnen und Einkommen. Aus diesen Zielen lassen sich regional entsprechend angepasste Maßnahmen ableiten. In jedem Fall bildet das Angebot der Schwulenberatung Berlin ein inspirierendes Beispiel dafür, was über die langjährige Arbeit für LSBT*I* erreicht werden kann. Das sächsische Modell scheint zunächst relativ einfach auf andere Flächenländer übertragbar, wo es durch einen Umzug der LSBT*I*-Geflüchteten in die Städte deren Leben erleichtern könnte. Hierbei kommen allerdings praktische Probleme zum Tragen, wie zum Beispiel der allgemein vorherrschende Mangel an günstigem Wohnraum sowie an freien Sozialwohnungen, der in sächsischen Großstädten weniger stark ausgeprägt ist, als in den meisten Städten

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Westdeutschlands. Ebenso entscheidend aber ist auch die Kooperationsbereitschaft der Kommunen sowie der Landesregierung. Nur die Zusammenarbeit mit beiden Ebenen ermöglicht in Sachsen die Trias aus Sonderregelungen für den unkomplizierten Umzug, die Bereitstellung von Mitteln für eine Koordinierungsstelle sowie das Verfügbarmachen von Sozialwohnungen. Bisher ist es das Fehlen dieser unkomplizierten Kooperationsbereitschaft, und eben nicht etwa der Wohnungsmarkt, an dem ähnliche Lösungen beispielsweise in Baden-Württemberg scheitern. Die Übertragung des Nürnberger Modells scheint am ehesten praktikabel. Der Betrieb einer kleineren städtischen Unterkunft ist für LSBT*I*-Vereine in vielen deutschen Großstädten denkbar. Davon ausgehend kann dann, wie in Nürnberg, die aus der Erfahrung gewonnene Expertise auch an Unterkünfte anderer Betreiber weitergegeben werden, die je nach Nachfrage potenzielle LSBT*I*-Unterkünfte darstellen. Im Falle Nürnbergs ergab sich diese Entwicklung aufgrund der Nachfrage von selbst. Trotz der vergleichsweise einfachen Umsetzbarkeit des Nürnberger Modells bleibt zu bedenken, dass es nur den in der Kommune zugeteilten Geflüchteten eine Lösung bieten kann und die Aufnahmekapazitäten aufgrund der Größe beschränkt sind. Darüber hinaus ist die Unterkunft – vor allem bei einem Betrieb durch den Verein – mit einem hohen Arbeitsauf kommen verbunden. Abschließend bleibt festzuhalten, dass alle drei Organisationen bemerkenswerte Projekte hervorgebracht haben und jeweils mit den regional sehr unterschiedlich zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Finanzierung, Unterstützungsbereitschaft sowie vorhandenen LSBT*I*-Strukturen dringend förderungswürdige Arbeit mit großem Ausbaupotenzial leisten. Es bleibt zu hoffen, dass andere Regionen und Bundesländer nachfolgen, entsprechende Maßnahmen zum Schutz von LSBT*I*-Geflüchteten schaffen und sowohl den Schutz vor Diskriminierung und Gewalt als auch die dazugehörigen Angebote offen kommunizieren, sowohl unter Mitarbeitenden als auch gegenüber allen Geflüchteten. Weiterhin ist und bleibt ein verstärktes Eingehen auf die Wünsche der Zielgruppe und eine Evaluation der Angebote durch eben diese für die weitere Arbeit der Projekte sinnvoll.

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Projekte zur Unterbringung von LSBT*I*-Geflüchteten

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I ntervie w verzeichnis Michael Glas, Vorstand Fliederlich e. V., Nürnberg, 22.03.2017 und 20.04.2017 (Telefoninterview). Matthias Gothe, QueerWeg e. V., 28.03.2017 (Telefoninterview). Stephan Jäkel, Abteilungsleiter Schwulenberatung Berlin e. V., Berlin, 03.03.2017. Julja (Name geändert), Geflüchtete aus Russland, Refugee-LGBTIQ*-Conference, Brandenburg an der Havel, 02.05.2017 (Telefoninterview). Ellen Könneker, Flüchtlingsrat Thüringen, 01.03.2017 (Telefoninterview). Jenny Renner, Vorstand LSVD Thüringen, 01.03.2017 (Telefoninterview). Caroline Wiegand, Gerede e. V., Dresden, 18.05.2017 (Telefoninterview). Ronald Zenker, Vorstand CSD Dresden e. V., Dresden, 20.05.2017 (Telefoninterview). Gruppendiskussionen, Konferenz zur besonderen Schutzbedürftigkeit von LSBTTIQ-Geflüchteten, Stuttgart, 02.06.2017. Gruppendiskussionen, Refugee-LGBTIQ*-Conference, Brandenburg an der Havel, 10.06.2017.

Willkommensklassen in Berlin Integration von geflüchteten Kindern und Jugendlichen in das deutsche Schulsystem Anne Eilert

D as K onzep t der W illkommenskl assen Mit der Aufnahme von Geflüchteten im Land Berlin ist gleichzeitig die Anzahl an schulpflichtigen Kindern und Jugendlichen zwischen 2015 und 2017 erheblich gestiegen. Im Umgang mit dieser Herausforderung wurden verschiedene Möglichkeiten erprobt, um neu zugewanderte Schüler_innen einzubinden. Dabei herrscht Uneinigkeit über die Frage, welches Modell das geeigneteste ist, um Schüler_innen mit nicht deutscher Erstsprache so schnell wie möglich Deutschkenntnisse zu vermitteln (Karakaşoğlu et al. 2011: 155). Im Prinzip lassen sich zwei Grundmodelle unterscheiden, die allerdings weiter modifiziert werden. Beim submersiven Modell nehmen neu zugewanderte Kinder und Jugendliche ab dem ersten Schultag am Unterricht in Regelklassen teil. In einigen Fällen erhalten die »neuen« Schüler_innen zusätzlich Deutschförderunterricht (integratives Modell). Letzteres wird in Berlin beispielsweise an der Wedding-Grundschule sowie der Gustav-Langenscheidt-Integrierten Sekundarschule umgesetzt. Auf der anderen Seite findet sich das Modell der sogenannten Willkommensklassen, in dem die neu zugewanderten Kinder und Jugendlichen getrennt beschult werden. Die Separierung geht unterschiedlich weit: Bei dem parallelen Modell werden die neu zugewanderten Kinder für einen bestimmten Zeitraum, teilweise auch bis zum Schulschluss, getrennt beschult. Bei dem teilintegrativen Modell werden sie zwar in einer eigenen Klasse unterrichtet; in einigen Fächern nehmen sie jedoch am Regelunterricht teil (vgl. Massumi et al. 2015). Unabhängig vom Modell werden in Berlin geflüchtete Kinder, die sich im Alter der ersten und zweiten Klassenstufe (Schulanfangsphase) befinden, in Regelklassen eingeschult. Wie ihre Mitschüler_innen müssen sie das Lesen und Schreiben erst noch erlernen und eignen sich dabei gleichzeitig die deutsche Sprache an. Die Trennung, die in teilintegrativen oder parallelen Modellen vorgesehen ist, erfolgt erst ab der dritten Klasse. Da der Berliner Se-

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nat es weitestgehend den Schulen überließ, die Beschulung der geflüchteten Kinder auszugestalten, entstand in der Hauptstadt ein Experimentierfeld, in dem unterschiedliche Modelle zur Anwendung kamen. Gerade in Bezug auf die Willkommensklassen wurden von Anfang an Befürchtungen laut, dass es zu einer Wiederauflage der zu Recht in Verruf geratenen »Ausländerklassen« der siebziger und achtziger Jahre kommen könnte, die sich allzu oft als schulische Sackgassen herausstellten. Das Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) untersuchte in einer Ende 2016 durchgeführten Studie die momentane Lage der rund 1.000 Willkommensklassen in Berlin. Hervorgehoben werden darin besonders die organisatorischen und institutionellen Problemlagen. Neben der hohen Fluktuation von Schüler_innen in den Willkommensklassen weist die Studie auf das Fehlen eines einheitlichen Curriculums hin, wodurch den Lehrkräften sowohl die Auswahl der Arbeitsmaterialien als auch unabhängige Entscheidungen hinsichtlich eines Übergangs in die Regelklasse stark erschwert werden. Laut der Studie sind die Willkommensklassen an Berliner Schulen darüber hinaus sehr häufig separiert vom restlichen Schulalltag. Sei es aufgrund einer räumlichen Trennung, da die Klasse in einem anderen Gebäude unterrichtet wird, oder aufgrund einer zeitlichen Trennung durch andere Pausenzeiten – die Schüler_innen der Willkommensklasse kommen nur selten in Kontakt mit dem Rest der Schülerschaft. Meinen Beobachtungen nach verschärft sich dies zusätzlich, wenn die Lehrkraft der Willkommensklasse nicht zum festen Kollegium der jeweiligen Schule gehört. Gerade in Berlin wurden sehr viele neue Lehrkräfte ausschließlich für den Unterricht in den Willkommensklassen eingestellt. Viel hängt dann von der schulischen Kultur ab: Besteht eine gute Beziehung zu den anderen Lehrkräften an der Schule, ist ein Austausch und die Einbeziehung der »neuen« Schüler_innen möglich; ist dies nicht der Fall, wird die bestehende Separierung verstärkt. Während diese Beobachtungen auf Nachteile der Willkommensklassen im Vergleich zum submersiven Modell hinweisen, wurde von anderer Seite betont, dass die Willkommensklassen auch Schon- und Förderräume darstellen. Gerade traumatisierte Kinder benötigten diesen Raum, in dem aufgrund geringerer Klassenstärke und großer curricularer Freiräume die Probleme besser aufgefangen werden könnten (Schröder 2017). Sie wären bei einer submersiven Methode überfordert. Welches Modell auch gewählt wird – es bleiben besondere Herausforderungen.

Bewältigung der Vielfalt Auch wenn die neu zugewanderten Kinder und Jugendlichen getrennt beschult werden, sind Willkommensklassen äußerst heterogen zusammengesetzt. Zwar werden Willkommensklassen in Grund- und Oberschulen unterschieden; da-

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rüber hinaus jedoch findet keine Trennung nach Altersklassen statt. Neben ihrem unterschiedlichen Alter weisen die Kinder vielfältige Sprachkenntnisse auf. Ein Großteil der Kinder und Jugendlichen muss beispielsweise zunächst alphabetisiert werden beziehungsweise eine »Zweitalphabetisierung in lateinischer Schrift« (Robert Bosch Expertenkommission zur Neuausrichtung der Flüchtlingspolitik 2015: 10) durchlaufen. Auch das Lerntempo kann sich stark voneinander unterscheiden. Die vorherige Schulbildung spielt in diesem Zusammenhang meist eine entscheidende Rolle. Ob und wie lange eine Schule im Heimatland besucht wurde, variiert dabei von Fall zu Fall. Zudem wurden die Schulbiografien vieler Schüler_innen unterbrochen, häufig durch Flucht aus dem Heimatland.

Umgang mit Traumata und einem nicht lernförderlichen Umfeld Auch wenn sich Willkommensklassen besser als Regelklassen dazu eignen, mit Traumatisierungen durch Kriegserlebnisse und Fluchterfahrungen umzugehen, ist das Modell selbst kein Garant für ein gutes Lernklima. Aus Gesprächen mit Lehrkräften in Willkommensklassen wird deutlich, dass diese auf die Konzentrationsschwierigkeiten und Verhaltensauffälligkeiten der Schüler_innen nicht vorbereitet sind, wodurch ein hoher Bedarf an entsprechenden Weiterbildungen und Austausch mit anderen Lehrkräften in diesem Bereich entsteht. Zu berücksichtigen ist auch, dass viele der »neuen« Schüler_innen aus einem nicht lernförderlichen Lebensumfeld kommen. Das Leben in einer Notoder Gemeinschaftsunterkunft, in der sich eine Familie meist ein Zimmer teilt, bietet keine Rückzugsmöglichkeiten und stellt dementsprechend keinen geeigneten Lernort dar. Der Alltag in den Unterkünften ist geprägt von Lärm, Enge und Unruhe. Es besteht meist keine Möglichkeit, die Hausaufgaben in Ruhe zu erledigen, und auch eine Unterstützung durch die Eltern entfällt in den meisten Fällen, da diese oft weniger Sprachkenntnisse besitzen als ihre Kinder.

Übergang von der Willkommens- zur Regelklasse Der Übergang von der Willkommensklasse in den Regelbetrieb gestaltet sich nicht selten problematisch. In Berlin und Brandenburg ist der Zeitpunkt des Übergangs nicht einheitlich geregelt. Meist hängt er ab von der Einschätzung der zuständigen Lehrkraft sowie teilweise von Sprachtests, die von Lehrkräften durchgeführt werden. Die Studie des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (2016) weist jedoch darauf hin, dass auch andere Faktoren, wie das Sozialverhalten der Schüler_innen, einen Einfluss auf die Entscheidung haben, wann ein Kind von der Willkommensklasse in die Regelklasse wechseln kann. Auch hier gibt es keine einheitlichen Stan-

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dards; indes ist vorgesehen, dass die Kinder und Jugendlichen nicht länger als ein Jahr die Willkommensklasse besuchen sollen. In vielen Fällen wird diese Vorgabe allerdings nicht umgesetzt, und der Besuch der Willkommensklassen dauert wesentlich länger an. Aber auch der Übergang selbst wird oft zur Herausforderung: Denn die Kinder und Jugendlichen verlassen damit auch eine Art Schonraum und sind schlagartig der härteren Gangart des Regelunterrichts ausgesetzt (Schröder 2017). Im teilintegrativen Modell, in dem der Übergang in die Regelklasse entfällt, wirft vor allem der Fachunterricht Probleme auf. Bei der Untersuchung einer einschlägigen Schule stieß Susann Hensel (2017: 82, 83) auf erhebliche Schwierigkeiten hinsichtlich der Integration in den Fachunterricht. Die Schüler_innen hatten dort das Gefühl, im Unterricht nicht mitzukommen. Auch konnten sie ihre Deutschkenntnisse nicht verbessern. Hensel weist darauf hin, dass dies nicht so sein müsse. Wird eine besondere Betreuung beispielsweise durch Doppelsteckung (Teilung der Klassen nach Leistungsstufen) ermöglicht, können die Kinder gerade auch im Fachunterricht ihre Deutschkenntnisse erweitern, da sie dort an vorherige Kenntnisse anknüpfen können.

Die Notwendigkeit, Anschluss zu finden Der Wechsel von der Willkommensklasse in eine Regelklasse birgt meist nicht nur sprachliche, sondern auch fachliche Herausforderungen. Da die Willkommensklasse primär Sprachkenntnisse vermitteln soll, kommt für die Schüler_innen erst mit dem Besuch der Regelklasse auch der ihrer Jahrgangsstufe entsprechende Unterrichtsstoff hinzu, der bewältigt werden will. Die »neuen« Schüler_innen müssen im Unterschied zu ihren Mitschüler_innen aus den Regelklassen keine zweite Fremdsprache erlernen, da ihre Muttersprache als Zweitsprache anerkannt wird. Zwar bleibt ihnen dadurch etwas Unterrichtsstoff erspart. Es zeichnet sich jedoch frühzeitig ab, dass das Aufholen in den übrigen Fächern die Schüler_innen vor große Schwierigkeiten stellt. In der Oberstufe sind die mit den Jahrgangsstufen zusammenhängenden Abschlussprüfungen zu bestehen, wie in Berlin beispielsweise der Mittlere Schulabschluss (MSA). Es lässt sich zusammenzufassend feststellen, dass mit dem Besuch der Willkommensklasse schnellstmöglich Sprachkenntnisse vermittelt werden sollen, jedoch der Übergang in die Regelklasse und damit einhergehend die Aneignung von Fachkenntnissen nicht zu unterschätzen sind.

Verschärfung durch rechtlich erzwungenen Umzug Da der Schulbesuch in Berlin meist in Abhängigkeit zum Wohnort steht, stellt sich beim Übergang von der Willkommens- zur Regelklasse die Frage, inwiefern die Schüler_innen an der Schule bleiben können oder ein Schulwechsel

Willkommensklassen in Berlin

vorgenommen werden muss. Dieser bedeutet einen erneuten Situations- und Umfeldwechsel und damit einen Bruch in der Schulbiografie. Gerade wenn der Anspruch besteht, die Schüler_innen schnell und unkompliziert in das deutsche Schulsystem einzugliedern, sind derartige Brüche hinderlich. Ein Rechtsanspruch besteht nicht. Sind Plätze in den Regelklassen frei, kann der Übergang innerhalb der Schule stattfinden, andernfalls muss ein Schulwechsel vollzogen werden. Auch mit dem Wohnortswechsel aufgrund der Umverteilung von einer Not- in eine Gemeinschaftsunterkunft oder in eine eigene Wohnung kann ein Schulwechsel anstehen. All dies ist für die Betroffenen sehr belastend. Die Kinder verlassen einen vertrauten Schonraum, der eine räumliche und zeitliche Orientierung vorgegeben hat. Wie mit diesem Prozess seitens der Schulen in den nächsten Jahren umgegangen wird, bleibt abzuwarten. Festzuhalten ist, dass eine zusätzliche Unterstützung der Lehrkräfte bei der Integration von Kindern und Jugendlichen in das Schulsystem dringend notwendig ist. Dahingehende Projekte erweisen sich daher als unterstützenswert.

Begleitung der Lehrkräfte in Willkommensklassen Voraussetzung für die Arbeit als Lehrkraft in einer Willkommensklasse ist ein Hochschulstudium mit dem Abschluss Master of Education bzw. mit einem gleichwertigen Abschluss. Ein Nachweis über ausreichende Deutschkenntnisse ist ebenfalls zu erbringen (vgl. Remlinger 2015). Zukünftig werden in Willkommensklassen bevorzugt Lehrer_innen eingestellt werden, die eine Ausbildung als Lehrkraft für Deutsch als Zweitsprache (DaZ) vorweisen können. Mit der Aufnahme zugewanderter Kinder und Jugendlicher im schulpflichtigen Alter entstand in Berlin und Brandenburg ein enormer Bedarf an Willkommensklassenlehrkräften. Mitte 2016 unterrichteten 1.400 Lehrkräfte in Berliner Willkommensklassen (Klesmann 2016). Erwähnenswert sind an dieser Stelle die prekären Arbeitsverhältnisse entsprechender Lehrkräfte: neben einer weitaus geringeren Entlohnung im Vergleich zu den Lehrer_innen in Regelklassen erhalten diese kurzzeitig befristete Arbeitsverträge. Als Begründung wird hierbei die fehlende offizielle Lehrerbefähigung der Willkommensklassenlehrkäfte angegeben (ebd.). Für die Vermittlung und den Austausch unter den Willkommensklassenlehrkäften sowie deren Fortbildungen werden in Berlin sogenannte Schulberater_innen eingesetzt (Bentele 2015). Diese organisieren Zusammenkünfte, bei denen sich die Lehrkräfte über die Herausforderungen einer Willkommensklasse sowie über Erfolgsrezepte und Best-Practice-Beispiele austauschen können. Im Unterschied zur Studie des BIM (2016) deuten die Untersuchungen von Susanne Hensel darauf hin, dass nicht primär die gewählte Beschulungsform

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für die Bewältigung der Hausforderungen entscheidend ist, sondern ihre konkrete Ausgestaltung. Wichtiger als das Modell scheint dabei die Ausstattung der Schulen mit Lehrpersonal zu sein. Ist das Prinzip der Doppelsteckung möglich, lassen sich Herausforderungen beispielsweise im Fachunterricht konstruktiv angehen (vgl. Hensel 2017: 88, 97). An diesem Punkt setzt das Projekt Sprachlernassistent_innen an.

S pr achlernassistent _ innen in den W illkommenskl assen Im Rahmen des Projekts Sprachlernassistent_innen werden Berliner und Potsdamer Lehramtsstudierende in Willkommensklassen zur Unterstützung der Lehrkraft eingesetzt. Das Projekt wird aus Mitteln des Masterplan Integration finanziert und findet an fünf Grund- und Oberschulen im Berliner Bezirk Mitte seit Sommer 2016 bis Ende 2017 statt. Initiiert wurde das Projekt vom SprachFörderZentrum Berlin Mitte, ausgeführt wird es von dem Berliner Sozialunternehmen SWiM Bildung. Die Lehramtsstudierenden, die in dem Programm Studenten machen Schule bei SWiM Bildung tätig sind, werden in einem mehrstündigen Assessment-Center vom Bildungsträger ausgewählt und anschließend mit Schulungen auf ihre Tätigkeit als Lernassistent_innen vorbereitet. Sie werden für ihr vorgegebenes Stundenkontingent entlohnt und haben die Möglichkeit, sich im Verlauf ihres Einsatzes im Fach Deutsch als Zweitsprache sowie zum Thema Umgang mit traumatisierten Kindern und Jugendlichen fortzubilden. Im Folgenden soll gezeigt werden, wie im Rahmen des Projektes mithilfe von Sprachlernassistent_innen auf die Anforderungen einer Willkommensklasse reagiert werden kann und auf diese Weise ein Mehrwert für alle Beteiligten entsteht.

Potenzial Das Potenzial des Projekts zeigt sich unter anderem darin, dass die Lehramtsstudierenden im Unterricht Praxiserfahrung sammeln können. Immer wieder weisen Lehramtsstudierende auf die fehlenden Gelegenheiten für Praxiserfahrung während ihres Studiums hin. Durch ihren Einsatz als Lernassistenz in Willkommensklassen erhalten die Studierenden schon früh die Möglichkeit, das praktische Unterrichten zu erproben, für das sie sich im Universitätsstudium die nötigen theoretischen Grundlagen erarbeiten. Zudem können die Studierenden immer kleine Impulse ihrer Studienfachrichtungen mit in den Unterricht einfließen lassen. In Kombination mit dem DaZ-Schwerpunkt, den die Willkommensklassenlehrkräfte als Voraussetzung für ihre Anstellung erbringen müssen, lässt sich der Unterricht so vielseitiger gestalten.

Willkommensklassen in Berlin

Ein zweiter Aspekt, der maßgeblich zu einer Win-win-Situation aller Beteiligten beiträgt, ist die personelle Unterstützung der Lehrkraft in den Willkommensklassen. Den enormen Herausforderungen, die eine Willkommensklasse mit sich bringt (siehe »Bewältigung der Vielfalt«) kann mit einer personellen Unterstützung begegnet werden. Das Unterrichtsgeschehen lässt sich deutlich binnendifferenzierter, d. h. an den verschiedenen Bedarfen ausgerichtet gestalten. Die Arbeit in Kleingruppen, eingeteilt beispielsweise nach Sprachniveau, sowie die individuelle Betreuung einzelner Schüler_innen kann so überhaupt erst erprobt werden. Mit dem erweiterten Personalschlüssel lassen sich die Stärken und Schwächen sowie die Lernprozesse der Schüler_innen schneller erkennen und entsprechend gestalten. Darüber hinaus kann auch das Lernen an außerschulischen Lernorten, beispielsweise durch Theater- oder Museumsbesuche, mit diesem Personalschlüssel sehr viel einfacher und für alle Seiten gewinnbringender realisiert werden. Als großer Erfolg wird vonseiten der Lehrkräfte auch ein stärker strukturierter Unterricht genannt, der ohne die Unterstützung durch Lernassistent_innen so nicht möglich wäre. Rituale, wie beispielsweise ein Morgenkreis zu Beginn des Tages, können dem Unterricht sehr viel mehr Form und Struktur verleihen. »Am Anfang meiner Arbeit als Lernassistent musste ich die Klasse und die Schüler erst mal kennenlernen. Manchmal herrschte richtiges Chaos. Jetzt haben mich die Schüler soweit akzeptiert, und wir können häufig in Kleingruppen arbeiten und die Situation etwas entspannen.« (Interview Willkommensklasse Berlin-Mitte)

Da einige der Lehramtsstudierenden des Projekts selbst Deutsch als eine Zweitsprache erlernt haben, können sie ihre eigenen Erfahrungen mit in die Arbeit einbringen und gleichzeitig als Role Models für die Schüler_innen wirken. So berichtet eine Lernassistentin, dass sie als italienische Muttersprachlerin sich oft viel besser in die Lernsituation der Schüler_innen hineinversetzen kann, als es die Lehrkraft mit ihren formellen Kenntnissen aus dem Lehramtsstudium vermag (Interview Willkommensklasse Berlin-Mitte). Die Studie des BIM weist ebenfalls auf die entscheidenden Komponenten von Sprachvorbildern beim Erwerb einer Sprache hin. Im günstigen Fall können die Lehramtsstudierenden diese Rolle einnehmen. Neben diesen grundlegenden Aspekten ist es aber auch die wertvolle Erfahrung des Unterrichtens von DaZ, die einen Gewinn für die Lehramtsstudierenden darstellt. Zwar gibt es innerhalb des Lehramtsstudiums Module im Fachbereich DaZ; die Berliner Universitäten und die Universität Potsdam bieten diese jedoch in sehr unterschiedlichem Umfang an. Ein Einblick in die Praxis, wie ihn die Lernassistenz in den Willkommensklassen ermöglicht, kann sonst nur schwer gewährleistet werden. Diese Praxiserfahrung kann auch für den beruflichen Werdegang der zukünftigen Lehrkraft große Bedeutung haben. So wird mit der Integration

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vieler geflüchteter Kinder und Jugendlicher in das deutsche Schulsystem die Kompetenz von DaZ in den nächsten Jahren eine wichtige Qualifikation für den Lehrerberuf darstellen. Darüber hinaus zeigen die Lehramtsstudierenden großes Interesse an der Arbeit in den Willkommensklassen. Die Lehrassistenz stellt für die Studierenden ein durchaus lukratives Arbeitsangebot dar, da sie einen guten Verdienst neben dem Studium bietet. Attraktiv ist die Tätigkeit auch aufgrund der Aktualität des Themas Integration geflüchteter Kinder und Jugendlicher, die sich unter anderem in der medialen Berichterstattung widerspiegelt. Viele der Lehramtsstudierenden sehen in ihrer Arbeit als Lernassistent_in die Möglichkeit, einen aktiven gesellschaftlichen Beitrag zu leisten. Es stellt keine Ausnahme dar, dass die Tätigkeit auch über den bezahlten Zeitraum hinaus ausgeübt wird. Auch die Möglichkeit, sich selbst und eigene Ideen in das Unterrichtsgeschehen mit einbringen zu können, stellt für viele eine wichtige Motivation dar. »Ich finde es unheimlich spannend, die Kinder in der Klasse zu begleiten und zu sehen, wie sie Fortschritte machen. Bei dem einen gehts schneller, bei dem anderen nicht so schnell, aber sie haben alle große Lust zu lernen und neue Dinge zu entdecken.« (Interview Willkommensklasse Berlin-Mitte)

Doch nicht nur für die Lehramtsstudierenden und die Lehrkraft erwächst aus der Zusammenarbeit im Projekt ein großer Vorteil, auch die Schüler_innen profitieren eindeutig vom Einsatz einer Lernassistenz. Ihrem individuellen Sprachstand und der Sprachentwicklung kann so viel mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Auch bereichern die im Studium erworbenen Kenntnisse und Methoden die Unterrichtsgestaltung in der Willkommensklasse. Neben der zusätzlichen fachlichen Betreuung stellt sich in einigen Fällen auch der geringere Altersunterschied zu den Studierenden als vorteilhaft heraus. Für viele geflüchtete Schüler_innen bildet die Lehrkraft in der Willkommensklasse eine wichtige Konstante in ihrem Alltag. Da ihr alltägliches Leben zum Zeitpunkt des Asylverfahrens durch viele Unsicherheiten geprägt ist, wird der feste Rahmen des täglichen Schulbesuchs oft als stützendes Element wahrgenommen. In dieser Situation kann im Schulalltag mit einer zusätzlichen Lehrkraft dem oder der einzelnen Schüler_in auch mehr Aufmerksamkeit geschenkt werden. Bei all den positiven Resultaten, die mit dem Einsatz der Sprachlernassistent_innen erzielt werden können, muss jedoch auch betont werden, dass sich nicht alle Schwierigkeiten, die eine Willkommensklasse mit sich bringt, damit in Gänze bewältigen lassen. Gerade der Umgang mit traumatisierten Schüler_innen bleibt eine große Aufgabe. Sowohl die Lehrkräfte als auch die Lernassistent_innen können diese Problematik nur in sehr begrenzter Art und Weise auffangen. Die in vielen Fällen benötigte Arbeit von Sozialarbei-

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ter_innen und Psycholog_innen können sie nicht ersetzen. Es ist wichtig, das Lehrpersonal vorab über diese Schwierigkeiten zu informieren und sie dafür zu sensibiliseren, dass sie den Bedarf einer intensiveren Auseinandersetzung mit dem Erlebtem erkennen und entsprechend weitervermitteln können. Weiterhin können auch die organisatorischen Herausforderungen, etwa die hohe Fluktuation von Schüler_innen in der Willkommensklasse, nicht mit dem Einsatz von Lernassistent_innen gelöst werden.

Realisierung Bezüglich der Realisierung des Projekts Sprachlernassistent_innen lassen sich folgende Punkte festhalten: Das Projektvolumen beläuft sich derzeit auf insgesamt 126.000 Euro aus dem Integrationsfonds des Bezirks Mitte. Dieser ist ein Teil des 2016 beschlossenen Masterplan Integration und Sicherheit, der berlinweit insgesamt acht Handlungsfelder für die Integration von Geflüchteten beschreibt (Bezirksamt Mitte 2017). Da die aktuelle Finanzierung auf circa 1,5 Jahre beschränkt ist, lässt sich über die Weiterführung des Projekts zu diesem Zeitpunkt noch keine Aussage treffen. Mit dem Beschluss des Masterplan Integration im Sommer 2016 gab es die Möglichkeit, sich als Träger für Projekte im Bereich der Integration von Geflüchteten im Bezirk Berlin-Mitte zu bewerben. Aus früherer Zusammenarbeit mit der Berliner Schullandschaft und dem SprachFörderZentrum Berlin-Mitte (Kooperationspartner) waren dem Bildungsträger die Herausforderungen einer Willkommensklasse bekannt. Durch Gespräche mit Lehrkräften und Schulleiter_innen wurden die enge Personallage und die Herausforderung, einer so heterogenen Gruppe gerecht zu werden, immer wieder betont. So gab es seitens des Bildungsträgers bereits vor Antragstellung die Idee, Lernassistent_innen in Willkommensklassen einzusetzen. Eine diesbezügliche Finanzierung war jedoch nicht gesichert. Mit der Ausschreibung für Projekte in der Geflüchtetenarbeit über den Masterplan Integration bot sich die Gelegenheit, das Projekt auf diese Weise zu realisieren und als Pilotprojekt in Berlin-Mitte zu testen. Nur aufgrund der bereits bestehenden Konzeption des Projekts konnte die Umsetzung so zügig erfolgen. Hilfreich war dabei die Möglichkeit, auf den bestehenden Pool an Honorarkräften (Lehramtsstudierende) sowie auf bereits existierende Schulkontakte im Bezirk zurückzugreifen. Ohne diese Voraussetzungen wäre der durchaus »spontane« Start des Projekts nicht in derart kurzer Zeit realisierbar gewesen. Berlinweit gibt es bisher keine vergleichbaren Projekte, in denen Lehramtsstudierende als Honorarkräfte in Willkommensklassen unterrichten. Ähnliche Projekte, die Willkommensklassen personell unterstützen, sind meist im Bereich des Ehrenamts angesiedelt. Um den Bedarf an Lehramtsstudierenden abzudecken und gleichzeitig deren Vereinbarung von Studium und Beruf gerecht

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zu werden, bedarf es eines hohen organisatorischen Aufwands seitens des Bildungsträgers, über den das Projekt läuft. Die personelle Einteilung sowie die Organisation von Fortbildungen und Supervisionen müssen eng betreut werden. Mitarbeiter_innen des Trägers betreuen die Anstellung der Lernassistent_innen und sind gleichzeitig Ansprechpartner_innen für die im Projekt beteiligten Schulpartner, die Lehramtsstudierenden sowie für den Bezirk und dessen Vertreter_innen. SWiM Bildung stellt damit eine entscheidende Schnittstelle im Projekt dar. Diese Position ist insofern herausfordernd, als es sich zum Teil schwierig gestaltet, allen gerecht zu werden. So mussten Anfragen seitens einiger Willkommenslehrkräfte, die Lehramtsstudierenden in größerem Umfang einzusetzen, abgelehnt werden, da die begrenzten Projektgelder und zeitlichen Kapazitäten der Studierenden dies nicht zuließen (Interview SWiM Bildung). Während des Projektverlaufs zeigte sich immer wieder, dass der Austausch zwischen allen Beteiligten eine entscheidende Komponente ist, um eine bestmögliche Betreuung der Schüler_innen in den Willkommensklassen zu erzielen. Auch der Einbezug von Schulsozialarbeiter_innen sowie weiteren Betreuungspersonen stellt einen wichtigen Faktor dar, der im Rahmen einer engen Betreuung des Projekts gewährleistet werden kann. Um auch während der Projektlaufzeit die Arbeit der Sprachlernassistent_innen zu begleiten und zu fördern, finden regelmäßige Hospitationsbesuche in den Willkommensklassen statt. Hier können Anregungen zur Projektgestaltung und der Austausch mit den Willkommensklassenlehrkräften immer wieder zu neuen Erkenntnissen führen. So stellte sich schon nach wenigen Monaten heraus, dass ein stärkerer Austausch zwischen den Studierenden sowie projektbezogene Fortbildungen dringend benötigt werden. Insbesondere im Umgang mit traumatisierten Schüler_innen besteht ein hoher Informationsbedarf bei den Lehramtsstudierenden. »Einige unserer Lehramtsstudierenden waren anfangs mit den Herausforderungen der Arbeit in der Willkommensklasse etwas überfordert und suchten regelrecht den Austausch. Immer wieder werden auch Missstände rund um den Umgang mit Geflüchteten an uns herangetragen. Die Lehramtsstudierenden werden im Verlauf ihrer Arbeit auch häufig zu Vertrauten der Schüler_innen.« (Interview SWiM Bildung)

Das Projekt lässt sich in seiner Form sehr gut in den bestehenden Schulalltag integrieren, ohne dass seitens der Schulen eine Mehrarbeit erforderlich ist. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass die beteiligten Schulen das Projekt als unterstützenswert erachten und mit dem Einsatz schulexterner Personen einverstanden sind. Die Schulen wurden zu Beginn des Projekts zusammen mit dem SprachFörderZentrum Berlin-Mitte, das gleichzeitig die Verteilung geflüchteter Kinder und Jugendlicher in die Schulen im Bezirk vornimmt, informiert

Willkommensklassen in Berlin

und ausgewählt. Die Berichterstattungen der Schulen im Vorfeld des Projekts über die Umsetzung der Willkommensklassen und die Zusammenarbeit mit dem SprachFörderZentrum Berlin-Mitte erleichterte die kurzfristige Umsetzung des Projekts im Sommer 2016. Viele der Lehramtsstudierenden arbeiteten bereits in anderen Projekten des Bildungsträgers und wurden, wie bereits beschrieben, nach einem weiteren Auswahlverfahren durch eine Schulung auf ihre Tätigkeit in der Willkommensklasse vorbereitet. Zusätzlich stellte der Träger für jede Klasse DaZ-Materialien zusammen, die den Schulen auch nach Beendigung des Projekts kostenlos zur Verfügung stehen. Diese ergänzen das oftmals lückenhafte Arbeitsmaterial, denn für die Willkommensklassen ist häufig ein nur geringes Budget vorgesehen. Um den interkulturellen Herausforderungen einer Willkommensklasse zu begegnen, wurden für die Lehramtsstudierenden bereits im ersten Projekthalbjahr Schulungen zu den Themenbereichen Deutsch als Zweitsprache sowie Umgang mit traumatisierten geflüchteten Kindern und Jugendlichen angeboten. Immer wieder stellte sich im Projektverlauf die Gestaltung von Austauschrunden für die Lehramtsstudierenden als wertvolle Komponente dar, um voneinander zu lernen und Erfahrungen zu teilen. Auch der Bildungsträger konnte seine Arbeit dadurch effizienter gestalten und Best-Practice-Beispiele in die verschiedenen Kooperationsschulen einbringen. Die Rückmeldung an den Bezirk und die zuständigen Mitarbeiter_innen ist hierbei erwähnenswert, denn so können Anreize für weiterführende Projekte geschaffen werden.

Bedingungen der Projektförderung Für die erfolgreiche Projektförderung der Sprachlernassistent_innen war entscheidend, dass viele Voraussetzungen zu Beginn des Projekts bereits erfüllt waren. Die vorab bestehende Projektidee des Bildungsträgers sowie das vorhandene Personal ermöglichten eine zügige Realisierung des Projekts. Der begrenzte Zeitraum für Ausschreibung und Umsetzung der Projektidee hätte eine umfangreichere Entwicklungs- und Konzeptionsphase – etwa durch vorangehende ausführliche Analyse der Schulsituation – nicht zugelassen. Nur dadurch, dass die Projektidee bereits vor der Ausschreibung bestand, war die Zusage der Projektgelder möglich. Andernfalls wäre die Umsetzung in der Kürze der Zeit nicht möglich gewesen. Darüber hinaus spielte der individuelle Einsatz der Projektmitarbeiter_innen eine gewichtige Rolle. Ohne das Engagement von Eva Zimmermann, Projektmitarbeiterin bei SWiM Bildung wäre die Projektanfangsphase nicht so erfolgreich verlaufen. Wie bei jedem Projekt wird sich mit Auslaufen des Förderzeitraums die Frage nach einer Anschlussfinanzierung stellen. Mit dem Ende der Finanzierung kann ein Fortbestehen der Lernassistent_innen in den Willkommensklassen in der bisherigen Form nicht gewährleistet werden. Bislang ist keine

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Anschlussfinanzierung in Sicht. Hier stellt sich die Frage der Nachhaltigkeit: Denn auch bei Projektende sollte eine Einbettung erfolgreicher Projektstrukturen in andere langfristigere Finanzierungsformen ermöglicht werden. Mit dem Wegfall der Projektgelder könnten weder die Personalstelle beim Bildungsträger noch die Lehramtsstudierenden weiter beschäftigt werden. Die Unterstützung der Willkommensklassen in Berlin-Mitte würde damit abrupt enden. Neben den im Verlauf des Projektes immer weiter professionalisierten Projektstrukturen sind es auch die persönlichen Bindungen zwischen den Lernassistent_innen und Schüler_innen, die mit dem Projekt enden würden. Gerade der Verlust konstanter Bezugspersonen kann die Atmosphäre in der Klasse und das Lernverhalten der Schüler_innen negativ beeinflussen. Es ist absehbar, dass der Förderbedarf von geflüchteten Schüler_innen und die Notwendigkeit der Entlastung der Lehrkräfte auch in den nächsten Jahren weiter bestehen wird. Dies zeichnet sich bereits beim Übertritt von der Willkommens- in die Regelklassen ab, wenn nicht mehr allein der Spracherwerb im Zentrum steht, sondern die zusätzliche Aneignung von Fachwissen darüber entscheidet, welche Schullauf bahn die Schüler_innen einschlagen werden. Daher lässt sich an dieser Stelle eine Fortführung und Ausweitung dieses Projekts oder ähnlicher Projekte befürworten. Sollten die bestehenden Willkommensklassen in ihrer Anzahl in den nächsten Monaten und Jahren abnehmen, stellt sich zudem die Frage, inwiefern eine Förderung der geflüchteten Schüler_innen weiterhin gewährleistet werden kann. Auch seitens der Lehrkräfte bedarf es hier einer Unterstützung.

F a zit Die Integration geflüchteter Kinder und Jugendlicher in das deutsche Schulsystem stellt eine erhebliche Herausforderung dar. Derzeit werden verschiedene Beschulungsmodelle ausprobiert. Unabhängig vom Modell wird jedoch deutlich, dass der entscheidende Faktor für das Gelingen oder Misslingen der schulischen Integration beim Personalschlüssel liegt. Hier zeigt das Modellprojekt Sprachlernassistent_innen eine erfolgreiche Strategie auf. Durch die Anwerbung von Lehramtsstudierenden wird eine Situation erzeugt, von der alle profitieren. Gleichzeitig macht das Projekt die Stärken und Schwächen der sogenannten Projektförderung deutlich. Einerseits wird ein Experimentierfeld eröffnet; andererseits besteht die Gefahr, dass erfolgreiche Projekte nicht weitergeführt werden, wenn die Förderung ausläuft. Sondermittel, wie sie der Masterplan Integration bereitstellt, sind in der Regel zeitlich befristet. Ähnliches gilt auch für die Förderung durch Stiftungen, bei denen die Förderdauer oftmals begrenzt ist. Eine Anschlussfinanzierung durch andere Stiftungen ist häufig nicht mög-

Willkommensklassen in Berlin

lich. Den Stiftungen liegt daran, sich über die von ihnen geförderten Vorhaben zu profilieren – sie sind deshalb in der Regel unwillig, Vorhaben, die bereits mit anderen Stiftungen assoziiert sind, weiter zu fördern. Wie im vorliegenden Fall verlangt diese Förderstruktur ein erhebliches Engagement seitens der Antragsteller_innen. Diese außeralltägliche Anstrengung ist langfristig nicht tragbar. Im Sinne einer Herstellung von Nachhaltigkeit wären hier neue Finanzierungsmodelle zu suchen.

1. Anknüpfungspunkte mit dem Regelunterricht schaffen Willkommensklassen können in ihrer Umsetzung separierend wirken und damit zu einer Desintegration der neu zugewanderten Schüler_innen beitragen. Um dem entgegenzuwirken, bietet die zügige Verknüpfung mit dem Regelunterricht eine Möglichkeit, die »neuen« Schüler_innen besser in den Schulalltag zu integrieren und einen Kontakt zwischen ihnen und der Schülerschaft herzustellen.

2. Personelle Unterstützung Bei der Integration geflüchteter Kinder und Jugendlicher ist die personelle Unterstützung von Lehrkräften in den Willkommensklassen eine notwendige Investition, um auf die Herausforderungen einer Willkommensklasse entsprechend eingehen zu können. Mit einer zusätzlichen Fachkraft können die Lernbedingungen verbessert und Erfolgserlebnisse schneller erreicht werden.

3. Verbleib an der Schule Der Übergang von der Willkommens- in die Regelklasse stellt für viele der neuen Schüler_innen einen Bruch dar. Ein Verbleib an der Schule und dem damit verbundenen Lernumfeld sollte gewährleistet sein, solange der Lernstand der Schüler_innen der Schulform entspricht.

4. Integration der Lehrkräfte Auch die Lehrkräfte einer Willkommensklasse sollten, sofern sie nicht zuvor Teil des Kollegiums waren, in dieses integriert werden, um gemeinsam den Übergang von der Willkommens- in die Regelklasse zu gestalten.

5. Fortbildungen Viele Lehrkräfte sind mit der Aufnahme von zugewanderten Schüler_innen in die Regelklasse überfordert. Mit Fortbildungen und entsprechenden Schulungen zum Thema Deutsch als Zweitsprache kann einer Überforderung und Resignation entgegengewirkt werden. Dabei wird sich schnell herausstellen, dass der Spracherwerb nicht nur im Deutschunterricht stattfindet, sondern eine fächerübergreifende Komponente darstellt.

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6. Weiterführende Unterstützungsangebote Eine weiterführende Unterstützung von neu zugewanderten Kindern und Jugendlichen nach dem Übergang in die Regelklasse ist dringend notwendig. Um nicht den Anschluss zum Fachunterricht aufgrund mangelnder Sprachkenntnisse zu verlieren, wird zusätzlicher Förderunterricht und Fachpersonal in den Klassen benötigt.

Q uellenverzeichnis Abgeordnetenhaus Berlin (2015): »Willkommensklassen  – inhaltliche Ausgestaltung.« Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Hildegard Bentele (CDU) vom 2. November 2015 (Eingang beim Abgeordnetenhaus am 3. November 2015) und Antwort (Drucksache 17/17299), Berlin. Zuletzt aufgerufen am 22.11.2017. http://pardok.parlament-berlin.de/starweb/adis/citat/VT/17/Schr​ Anfr/S17-17299.pdf Abgeordnetenhaus Berlin (2015): Schriftliche Anfrage der Abgeordneten Stefanie Remlinger (GRÜNE). Lehrkräfte in Willkommensklassen: aktueller Stand vom 13. Oktober 2015 (Eingang im Abgeordnetenhaus am 14. Oktober 2015) und Antwort (Drucksache 17/17177). Zuletzt aufgerufen am 22.11.2017. http://stefanie-remlinger.de/wp-content/uploads/2015/11/ka_lehrkraeftein-willkommensklassen_aktueller-stand-ii.pdf. Bezirksamt Mitte (2017): Integrationsfonds 2016/2017. Zuletzt aufgerufen am 22.11.2017 https://www.berlin.de/ba-mitte/politik-und-verwaltung/beauftrag​ te/integration/integrationsfonds/artikel.527025.ph Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) (2016): Willkommensklassen. Mit separierter Beschulung zur Inklusion? Präsentation der Forschungsergebnisse aus dem Projekt »Die Beschulung neu zugewanderter und geflüchteter Kinder in Berlin  – Praxis und Herausforderungen«. Videodatei 2 von 4. Zuletzt aufgerufen am 22.11.2017. https://www.bim-fluchtcluster.hu-berlin.de/de/einblicke/einblicke Brüggemann, C./Nikolai, R. (2016): Das Comeback einer Organisationsform: Vorbereitungsklassen für neu zugewanderte Kinder und Jugendliche. Berlin: Friedrich Ebert Stiftung. Zuletzt aufgerufen am 22.11.2017. http://libra​ ry.fes.de/pdf-files/studienfoerderung/12406.pdf Hensel, S. (2017): Übergang in die Regelklasse von neuzugewanderten Schülern nichtdeutscher Herkunftssprache. Ein Vergleich zweier Berliner Sekundarschulen aus der Perspektive von Lehrkräften. Masterarbeit an der EuropaUniversität Viadrina Frankfurt (Oder), Fakultät für Kulturwissenschaften. Institut für Menschenrechte (2017): Welchen Zugang haben geflüchtete Kinder zu Bildung? Ergebnisse einer Befragung der Bundesländer zum Zugang zu

Willkommensklassen in Berlin

Kita und Schule. Zuletzt aufgerufen am 22.11.2017. http://landkarte-kinder​ rechte.de/ Karakaşoğlu, Y./Groh, M./Wojciechowicz, A. (2011): Interkulturelle Schulentwicklung unter der Lupe. (Inter-)Nationale Impulse und Herausforderungen für Steuerungsstrategien am Beispiel Bremen. Münster: Waxmann. Klesmann, M. (2016): »Neues Schuljahr. Lehrer in Willkommensklassen bekommen weniger Geld«, in: Berliner Zeitung vom 27.06.2016. Zuletzt aufgerufen am 22.11.2017. www.berliner-zeitung.de/berlin/neues-schuljahr-lehrer-in-​ willkommensklassen-bekommen-weniger-geld-24304748 Massumi, M./von Dewitz, N./Grießbach, J. et al. (2015): Neu zugewanderte Kinder und Jugendliche im deutschen Schulsystem. Köln: Mercator-Institut für Sprachförderung und Deutsch als Zweitsprache und Zentrum für LehrerInnenbildung der Universität zu Köln. Zuletzt aufgerufen am 22.11.2017. www.mercator-institut-sprachfoerderung.de/fileadmin/Redakti​on/PDF/ Publikationen/MI_ZfL_Studie_Zugewanderte_im_deutschen_Schulsys​ tem_final_screen.pdf Robert Bosch Expertenkommission zur Neuausrichtung der Flüchtlingspolitik (2015): Themendossier Zugang zu Bildungseinrichtungen für Flüchtlinge. Kindertagesstätten, Schulen und Hochschulen. Zuletzt aufgerufen am 22.11.2017. www.bosch-stiftung.de/content/language1/downloads/RBS_Kom​ missionsbericht_Fluechtlingspolitik_AusbildungArbeit.pdf Schröder, C. (2017): Von der Willkommensklasse in die Regelklasse. Chancen und Herausforderungen der schulischen Eingliederung von Flüchtlingskindern. Masterarbeit an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder), Fakultät für Kulturwissenschaften. Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Wissenschaft Berlin/Landesinstitut für Schule und Medien Berlin-Brandenburg (2017): Durchgängige Sprachbildung. Deutsch als Zweitsprache. Fachbrief Nr. 22. Zuletzt aufgerufen am 22.11.2017. http://bildungsserver.berlin-brandenburg.de/fileadmin/bbb/ unterricht/fachbriefe_berlin/sprachfoerderung/Fachbrief_Sprachfoerde​ rung_0DaZ_22_Uebergang_Teil_1.pdf Zaunbauer, A. C. M./Möller, J. (2007): Schulleistungen monolingual und immersiv unterrichteter Kinder am Ende des ersten Schuljahres. Zeitschrift für Entwicklungspsychologie und Pädagogische Psychologie, 39(3), S. 141–153.

I ntervie w verzeichnis Lernassistentin Willkommensklasse in Berlin-Mitte, Berlin, 12.04.2017. Lernassistent Willkommensklasse in Berlin-Mitte, Berlin, 12.04.2017. Eva Zimmermann, Projektmitarbeiterin Bildungsträger SWiM Bildung UG (haftungsbeschränkt), Berlin, 04.04.2017.

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Kunst- und Kulturprojekte von und mit Geflüchteten Integrative Bedeutung und nachhaltige Gelingensbedingungen Alexander Peppler »Da ist so ein Schatz an Kunst, Kultur und Leben in jedem Flüchtlingsheim. Die Leute warten da und haben nichts zu tun. Sie haben Hunger nach Entwicklung, wollen lernen und sich ausdrücken. Gib ihnen etwas, woran sie glauben können!« A lexander Wassilenko, Trainer , I nterview B reak G renzen C rew

Isolation und Passivität zählen für Geflüchtete, die in Sammelunterkünften leben, zu den größten Belastungen – das Leben dort wird von vielen Bewohner_ innen als »tote Zeit« bezeichnet. Vieles, was sie bisher an individuellen oder sozialen Gewohnheiten, Interessen und Fähigkeiten ausmachte, können sie in den Unterkünften nicht mehr ausleben. Die von Warten und administrativen Terminen bestimmte Zeit führt zu Entwurzelung und Entpersonalisierung bis hin zur Depression. Ein Geflüchteter im Erstaufnahmelager Berlin-Spandau schildert dieses Lebensgefühl folgendermaßen: »Ich weiß nicht mehr so richtig, was mich ausmacht und was ich kann« (Interview Club Al-Hakawati). Die Betroffenen sind in dieser Zeit auf Austauschmöglichkeiten mit Gleichgesinnten und mit der Zivilgesellschaft angewiesen, damit sie in ihrem neuen Aufenthaltsland Stabilität zurückgewinnen – eine Grundvoraussetzung, um sich später einmal sinnvoll in die Gesellschaft einbringen zu können. Die Koordinatorin des Interkulturellen Gartens Braunschweig, Martina Krüger, bemerkt dazu: »Sie müssen erst mal ankommen und sich fangen, erst dann engagieren sie sich weiter in ihrem Umfeld. Diesen Prozess sehen wir bei fast allen« (Interview Interkultureller Garten). Hier setzen partizipativ angelegte Projekte im Kunst- und Kulturbereich an: In einem organisierten Rahmen drücken Geflüchtete ihre Erfahrungen auf künstlerische Weise aus und erarbeiten eine Deutung ihrer Situation. Im Kollektiv der vertrauten Gruppe erfahren sie dabei Gemeinschaft, Rückhalt und Er-

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mutigung, was ihnen erleichtert, sich kreativ mit der eigenen Lebensgeschichte auseinanderzusetzen und ihre Talente und Interessen auszuleben. Gleichzeitig wirken die Projekte in die Gesellschaft zurück: Durch Präsenz, Netzwerkarbeit und über die Ergebnisse der Arbeit wird ein gesamtgesellschaftlicher Dialog von, mit und über Geflüchtete angeregt. Inmitten der Umbruchsituation eröffnen die Projekte Räume, in denen man wieder zu sich selbst und zu anderen finden kann. Der folgende Beitrag bezieht sich auf die Erfahrungen, die in vier ausgewählten Projekten gesammelt wurden. Gegenstand des Berichts sind dabei ein interkultureller Garten, ein selbstorganisiertes Theaterensemble, ein Museumsprojekt und eine Breakdance-Initiative. Im ersten Teil wird die Bedeutung der Projekte für die Geflüchteten herausgearbeitet; anschließend soll ihre Wirkkraft auf die Gesellschaft dargestellt werden. Der abschließende Teil behandelt die Zukunftsperspektive von Kunst- und Kulturprojekten sowie die für ihren langfristigen Erhalt notwendigen Bedingungen.

D ie P rojek te : Teilnehmer _ innen und A nsat z Die Break Grenzen Crew aus Magdeburg ist eine Breakdance-Nachwuchsgruppe mit zehn Kindern und Jugendlichen im Alter von neun bis 19 Jahren mit und ohne Fluchthintergrund. Seit Oktober 2014 tanzen und trainieren sie unter der Leitung von Alexander Wassilenko und Valerie Schmitt, treten auf, geben Workshops und nehmen an Wettbewerben teil. In dem Projekt erleben die Jugendlichen einen geschützten Raum, in dem sie voneinander lernen und gemeinsam Entwicklungspotenziale erkennen können. Der große Altersunterschied innerhalb der Gruppe stellte anfangs eine Hürde für den sozialen Austausch dar. Trainer Wassilenko zeigte den älteren Teilnehmer_innen, dass auch sie von den Jüngeren lernen können: »Das, was wir uns jahrelang erarbeiten, das haben die drei Jüngeren aus Serbien sofort verstanden. Die sind teilweise authentischer als wir. Es geht beim Breaken besonders um Hingabe, Zielstrebigkeit und Disziplin. Vor allem diese Hingabe haben die besser drauf als wir, das lernen wir von ihnen.« (Jonas Hoffmann, Interview Break Grenzen Crew)

Die Sprachbarrieren zwischen den Teilnehmenden erfordern von allen Beteiligten viel Spontanität und nonverbale Kommunikation. Tanz als Ausdrucksund Kunstform bietet diesbezüglich vielfältige Möglichkeiten. Zum Zeitpunkt des Interviews waren unter den Teilnehmenden vier aus Serbien, zwei aus Syrien und vier Deutsche. »Ich habe gelernt, wie man sich in einer gemischten Gruppe integriert. Durch die, die hierherkommen, ist das Spektrum derer größer geworden, von denen man sich was abgucken kann. Es geht hier halt

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nicht darum, wo man herkommt. Hier sind alle gleich«, so Maro Schüller, 17 Jahre (Interview Break Grenzen Crew). Im Projekt wird versucht, kulturelle Diversität als Lernchance für Toleranz, Anerkennung und Lernbereitschaft zu nutzen. Auch die Theatergruppe Club Al-Hakawati ist für geflüchtete und nichtgeflüchtete Menschen offen. In dem selbstorganisierten Theaterprojekt geht es darum, die Erfahrungen und Biografien der Beteiligten künstlerisch zu verarbeiten und diese Geschichten mit dem Publikum zu teilen, um in die Gesellschaft hineinzuwirken. Das Projekt wird in der Kooperation mit dem JugendTheaterBüro in Berlin-Moabit umgesetzt. Geflüchtete und Berliner_innen bauen ein gemeinsames Netzwerk auf, das auch in weiteren Lebensbereichen wie Arbeit, Wohnen und Freizeit tragfähig ist. Eine Schwierigkeit des Projektes besteht in der geringen Teilnahme von Frauen. Dies wird wahrgenommen und problematisiert: ›Wie kommt es dazu? Warum verlassen Frauen die Gruppe oder kommen gar nicht erst hinein? Fühlen sie sich nicht wohl? Bestehen Vorbehalte innerhalb der Gruppe?‹ Diese Auseinandersetzung der Gruppe mit sich selbst mache sie stark, berichtet Ahmed Shah, der Künstlerischer Leiter, denn: »Sie müssen für sich einstehen. Das kann ich nicht, ich erziehe sie nicht. Ich kann ihnen nur die Augen öffnen« (Interview Club Al-Hakawati). Um das Ungleichgewicht der Geschlechter zu korrigieren, wurden Vorbilder gesetzt: Die wenigen Frauen der Gruppe sollten als zentrale Figuren sichtbar werden, um weitere Frauen zu ermutigen, sich der Gruppe anzuschließen. Ein weiteres Problem ist die hohe Fluktuation der Mitglieder, unter der auch andere Theaterprojekte leiden. Sie hat ihren Grund in der instabilen Lebenssituation der Teilnehmenden, die sich in akuten Krisenmomenten, etwa bei drohenden Abschiebungen, zuspitzt. Viele Projekte haben durch Abschiebung oder die Zuweisung in andere Landesteile Gruppenmitglieder verloren. Mit dieser Gefahr der permanenten Fluktuation müssen Geflüchtetenprojekte regelmäßig umgehen, was die Gruppenprozesse belastet. Ein Projekt wie der Interkulturelle Garten Braunschweig zeigt, wie Geflüchtete, Freund_innen und Angehörige im Alltag einen Ruhepol und Orientierungspunkt finden können. Über gemeinsames Gärtnern und weitere Angebote wie Workshops, Ausflüge und Beratung erfahren die Beteiligten Zusammengehörigkeitsgefühl und Hilfe zur Selbsthilfe. Täglich kommen ungefähr 15 bis 25 Menschen zu unterschiedlichen Zeiten in den Garten. Sie finden dort Halt und Ansprache. »Bei manchen schweren Fällen versuche ich zusätzlich zur Tagesstruktur kleine, regelmäßige Aufgaben zu vergeben, die sie dann verantwortungsvoll erledigen, wie zum Beispiel Beete gießen.« (Martina Krüger, Interview Interkultureller Garten) Der Umfang des Engagements hängt allein von der Motivation der Teilnehmenden ab, die sich nach eigenem Ermessen einbringen. Die Geflüchteten erfahren entweder direkt vor Ort oder durch den

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E-Mail-Verteiler von den verschiedenen Angeboten. Unter den vielen Nationalitäten innerhalb der Gruppe sind einige regelmäßige Teilnehmende und Teamer_innen aus Haiti, Kenia und weiteren afrikanischen Ländern. Bei dem Projekt Multaka  – Treffpunkt Museum bieten syrische und irakische Geflüchtete als Museumsführer_innen Führungen für arabischsprachige Geflüchtete in ihrer Muttersprache an. »Multaka« (arabisch: Treffpunkt) steht dabei auch für den Austausch verschiedener kultureller und historischer Erfahrungen. Die 24 irakischen und syrischen Museumsführer_innen bieten ihre Führungen in vier Berliner Museen an: im Museum für Islamische Kunst, im Vorderasiatischen Museum, in der Skulpturensammlung im Museum für Byzantinische Kunst und im Deutschen Historischen Museum. Die Führungen konzipieren sie selbst, wodurch ihre persönlichen Interessen und Erfahrungshorizonte einfließen. Zielgruppe der Führungen sind explizit arabischsprachige Geflüchtete; ihnen sollen im Dialog sowohl die deutsche und die eigene Kultur als auch die Verbindungen zwischen den Kulturen nähergebracht werden. Dabei spielen die persönlichen Geschichten der Gruppenteilnehmer_innen und Guides im Kontext der gegenwärtigen Politik eine zentrale Rolle: ›Was haben die Bilder des zerstörten Dresden von 1945 mit ihnen zu tun? Macht der deutsche Wiederauf bau Syrer_innen Hoffnung für ihre Zukunft?‹ Die Ausstellung islamischer Kunst vermittelt den Geflüchteten dabei auch die Wertschätzung, die ihrer eigenen Kultur vonseiten der deutschen Gesellschaft entgegengebracht wird, so Ko-Projektleiterin Salma Jreige. Beworben wird das Projekt hauptsächlich in den Unterkünften und über Social Media. Die Führungen in der Muttersprache ermöglichen einen niedrigschwelligen Zugang zum Museum. Die Museumsführer_innen holen die Besucher_innen dort ab, wo sie gegenwärtig stehen. Salma Jreige betont: »Bei Deutschen wären die Besucher wohl viel zurückhaltender, bei mir reden sie viel lockerer. Wir betonen immer, dass es ein Gespräch ist, kein Monolog« (Interview Multaka). Zusätzliche Workshops dienen der Begegnung zwischen dem deutschsprachigen Publikum und Geflüchteten. Der Zugang erfolgt dabei vor allem über die Frage: ›Was hat das mit mir zu tun? Wie lebe ich, und wie leben andere in meiner Umwelt?‹ Die behandelten Themen, etwa muslimische Frauen, Fotografie, Mosaikgestaltung oder Glasmalerei, sollen kulturelle Anknüpfungspunkte schaffen.

Partizipation und E mpowerment Seit Sommer 2015 sind im Kunst- und Kulturbereich zahlreiche Projekte mit Geflüchteten entstanden, die mit medialer Aufmerksamkeit und Fördergeldern honoriert werden. Gleichzeitig wurde Kulturschaffenden wiederholt vorgeworfen Geflüchtete zu instrumentalisieren. Die Geflüchteten würden nicht genügend einbezogen und könnten somit ihre eigene Arbeit, Erfahrungen

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und Stimmen nicht in den gesamtgesellschaftlichen Diskurs einbringen, so die Kritik. Die hier vorgestellten vier Projekte vermeiden diesen Missstand bewusst. Sie stellen die Begegnung auf Augenhöhe ins Zentrum ihrer Arbeit, unabhängig von Nationalität, Aufenthaltsstatus, Alter oder Position der Teilnehmenden. Beim Theaterprojekt Club Al-Hakawati werden Geflüchtete so gut wie möglich in den Entstehungsprozess der Stücke involviert. Sie sollen sich einbringen und als Autor_innen sichtbar werden. Damit wird ein Potenzial erschlossen: Indem sie eigene Ideen einbringen, Verantwortung übernehmen und gleichberechtigt mitarbeiten, profitieren die Geflüchteten wie auch die Projekte. Im Interkulturellen Garten sind Geflüchtete unter anderem als Teil des konstanten Teams zu festen Öffnungszeiten vor Ort oder verfolgen eigene Projekte wie eine Musikband oder das Verfassen eines Kochbuchs mit Rezepten aus ihren Herkunftsländern. Im Club Al-Hakawati werden Stücke auf Grundlage persönlicher Biografien erarbeitet; außerdem werden Rollen und organisatorische Aufgaben wie Koordination, Kostüme, Öffentlichkeitsarbeit oder Dramaturgie je nach Kompetenzen verteilt. Die Museumsführer_innen von Multaka wählen die Ausstellungsobjekte, die sie in ihren Führungen vorstellen, selbst aus. Dabei geht es auch darum, persönliche Bezüge herzustellen. In der Break Grenzen Crew wird die individuelle Art aller Teilnehmenden ausdrücklich gefördert, indem alle voneinander lernen, unabhängig von Alter oder Expertise. »Wenn wir eine Choreografie gemeinsam erarbeiten, nehmen wir die beste Idee, egal von wem!« berichtet der Trainer der Gruppe, Alexander Wassilenko (Interview Break Grenzen Crew). Die vier Projekte verbindet unter anderem das Ziel, die Geflüchteten so zu stärken, dass sie sich aktiv in die Gesellschaft einbringen können. Sie schlagen diesbezüglich unterschiedliche Wege ein. Bei Multaka geschieht dies, indem die Guides aus der passiven Flüchtlingsrolle heraustreten und diese gegen eine eigenverantwortlich ausgefüllte Rolle eintauschen. Kulturstaatsministerin Monika Grütters verlieh dem Projekt im Jahr 2016 den Sonderpreis für Projekte zur kulturellen Teilhabe geflüchteter Menschen und erklärte: »Dieses Engagement zeigt beeindruckend, was Kunst und Kultur zu leisten imstande sind. Kunst kann gemeinsame Sprache sein, wo unterschiedliche Begriffe Schweigen oder Missverstehen provozieren. Kunst kann gemeinsame Erfahrungen schaffen und hat die Kraft, Grenzen zu überwinden.« (Bundesregierung 2016)

Der Interkulturelle Garten stellt Angebote ins Zentrum, die als Hilfe zur Selbsthilfe dienen sollen: Körperliche Betätigung, geistige Weiterbildung und sozialer Umgang bilden die drei Säulen des angewandten biopsychosozialen Modells, welches den Zustand des Individuums auf ein ganzheitliches Zusammenspiel von Körper, Geist und Umwelt zurückführt (vgl. Engel 1976). Hier setzt auch

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der Heilungsprozess an: In einer Vielzahl von Aktivitäten im Jahreslauf des Gartens, beginnend beim Gärtnern, über gemeinsames Kochen, Veranstaltungen wie Garten- und Kräuterkunde, Gesundheits- oder gesellschaftspolitische Seminare, Selbstbehauptungstraining, Sprach- und Handarbeitskurse, Musik, Sport, Nachbarschaftsfeste, Begegnungen mit gesellschaftlichen Gruppen und Organisationen bis hin zur Teilnahme an stadtübergreifenden Aktionstagen. Der Club Al-Hakawati verfolgt durch seine selbstorganisierte Theaterarbeit klare politische Ziele, die über die künstlerische Aufführungspraxis hinausgehen. »Solange wir unfair behandelt werden, unter schwierigen Bedingungen leben müssen, solange muss unsere Kunst politisch sein. Es geht gar nicht anders«, betont Samee Ullah (Interview Club Al-Hakawati). In ihrem Manifest und durch die künstlerische Arbeit auf der Bühne fordern die Mitglieder gleiche Rechte und Chancen für Geflüchtete, faire Behandlung in Heimen und Behörden sowie das Ende von rassistischer, diskriminierender und sexistischer Behandlung. Sie möchten anhand ihrer eigenen Gruppe, ihrer Stücke und Öffentlichkeitsarbeit andere Geflüchtete motivieren, für ihre Rechte einzustehen und aktiv gegen Ungerechtigkeit zu handeln. Mit Blick auf die deutsche Mehrheitsgesellschaft wollen sie im Publikum Solidarität statt Mitleid erzeugen und erreichen, dass sich die Zuschauer_innen mit der Lebenssituation von Geflüchteten auseinandersetzen.

B edeutung auf individueller E bene : G emeinschaf t, S elbstentfaltung und E mpowerment Alle Projekte bieten geschützte Freiräume, in denen die Einzelnen sich entfalten können. Auch hier werden unterschiedliche Wege eingeschlagen. Beim Club Al-Hakawati steht die Arbeit an sozialen Prozessen gleichrangig neben der künstlerischen Arbeit. Durch die Aufnahme in eine Gruppe von Menschen mit ähnlichen Lebenssituationen und Interessen erfahren die Mitwirkenden persönliche Bestätigung und ein starkes Gemeinschaftsgefühl. »Im Heim sind wir alle alleine, aber hier sind wir zusammen stark. Die Gemeinschaft ist wie ein neues Zuhause« beschreibt ein Teilnehmer diese Erfahrung (Interview Club Al-Hakawati). Dem Künstlerischen Leiter Ahmed Shah zufolge liegen das Herzstück und die Hauptmotivation der Projektarbeit im persönlichen Entwicklungsprozess der Gruppenmitglieder: »›Der Weg ist das Ziel.‹ Das Ziel motiviert und gibt die Richtung vor, aber am meisten passiert in der gemeinsamen Zeit davor. Im Projekt wollen wir voneinander lernen, mich eingeschlossen. Es ist ein pädagogisches Kollektiv von unten nach oben, nicht andersherum.« (Interview Club Al-Hakawati)

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Ahmad Shah beschreibt die Gruppe von circa 15 festen Teilnehmer_innen, größtenteils zwischen 20 und 30 Jahre alt, als einen »Schmelztiegel verschiedener Kulturen«, in dem die Mitglieder sich durch den Austausch von Erfahrung und Kompetenz wechselseitig beeinflussen. Gemeinsam wird in der Gruppe etwa die Erfahrung eines Behördengangs im Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo) in Berlin künstlerisch aufgearbeitet, wobei die passive Rolle des machtlosen Opfers zugespitzt wird und zukünftige Handlungsoptionen überlegt werden. Die gemeinsame Erarbeitung eines Theaterstücks aus den persönlichen Erfahrungen jedes Einzelnen erzeugt eine starke Verbindung. Die Arbeit führt zwar zu teils schwierigen und emotionalen Diskussionen, regt aber auch zur Reflexion an. Am Interkulturellen Garten wird wiederum deutlich, wie alltägliche Gruppenerfahrungen identitätsstiftend wirken können. Das Essensritual ist hier ein Beispiel: Eine_r der anwesenden Teilnehmenden übernimmt abwechselnd die Aufgabe, für alle Anwesenden zu kochen. Durch die Zubereitung und Wertschätzung der Zutaten aus dem eigenen Garten und das ritualisierte gemeinsame Essen entsteht eine familiäre Dynamik. Die Sprachdifferenzen sind auch in diesem Projekt eine Herausforderung, aber kein Hindernis für einen Austausch. Die private Atmosphäre in der Gruppe, ganz unabhängig vom verfolgten Ziel, wird von vielen als »Zuhause« oder »Familie« wahrgenommen, als. »[e]in vertrauter Ort, wo man sein kann, wie man ist, und man sich gegenseitig kennt«, wie es ein Teilnehmer im Interview beschreibt (Interview Interkultureller Garten).

Selbstentfaltung durch Kreativität Die Break Grenzen Crew zeigt, wie die Potenziale der Hip-Hop-Subkultur zur Verwirklichung sozialpädagogischer Ziele eingesetzt werden können. Der Weg über Kultur und Kunst öffne den Zugang zu Kindern und Jugendlichen, berichtet Trainer Wassilenko: »Politische Bildung geht nur noch über Kultur. Man muss den Leuten das greifbar machen, in ihrer Sprache kommunizieren. Jeder definiert sich über etwas anderes. Man muss sich fragen, wie man an die Leute rankommt, Übersetzungsarbeit leisten. Wir lernen über das, was wir schon kennen und was mit uns zu tun hat.« (Interview Break Grenzen Crew)

Spielerisch lernen die Kinder und Jugendlichen viel über sich und ihre Umwelt. Sie erleben die Bedeutung von Verbundenheit und gegenseitiger Unterstützung, gemeinschaftsstiftenden Ritualen und der Reflexion des eigenen Handelns. Die Identifikation mit der Gruppe und die gegenseitige Bestätigung wird durch einen Crew-Namen, einen eigenen Rapsong, Videos sowie eine

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Website gefördert. Im Internet tritt die Gruppe selbstbewusst mit einheitlichen T-Shirts auf. Die Gemeinschaft ermöglicht Selbstentfaltung durch das Einbringen persönlicher Talente, Kompetenzen und Interessen. In der sonst oft als sinnlos und leer empfundenen Zeit können sich die Teilnehmenden auf diese Weise ihres Selbstwerts vergewissern. Ein weiteres Beispiel bietet das Kochbuch des Interkulturellen Gartens. Mitglieder verschiedener afrikanischer und haitianischer Herkunft setzten unter der Leitung einer Kenianerin darin ihre eigene Idee um, traditionelle Rezepte aus ihren Herkunftsorten Interessierten zugänglich zu machen. Die Realisierung eines eigenen Konzeptes zeigt dabei in verschiedenen Facetten großen Mehrwert: Erstens präsentieren die Mitglieder bewusst ihre eigene Herkunft und damit einen Teil von sich selbst. Zweitens steigt ihr Selbstbewusstsein durch die (Wieder-)Entdeckung eigener Fähigkeiten und die Bewältigung einer Herausforderung. Drittens erfahren sie weitere Bestätigung in der Anerkennung durch ihr Umfeld. Die Motivation, eigene Ideen zu realisieren, kann dadurch gestärkt werden. In jedem Projekt nimmt die Selbstentfaltung eine spezifische Form an – etwa Theaterkostüme zu kreieren, individuelle Museumsführungen zu gestalten oder eigene Tanzchoreografien zu erarbeiten. Ein eindrückliches Bild für die Energie, die hier frei wird, bieten die Battles-Tanzwettbewerbe der Break Grenzen Crew: Bei lauter Musik stehen sich die Mitglieder aller Teams in einem Kreis gegenüber. Abwechselnd tanzen die einzelnen B-Boys und B-Girls in der Mitte des Kreises. Dabei entsteht schnell die Dynamik, sich gegenseitig an Geschwindigkeit, Kreativität und Komplexität überbieten zu wollen. Die Tänzer_innen nehmen dabei durch Nachahmungen, Wiederholungen oder Übertreibungen aufeinander Bezug. Unter bestätigenden Zurufen zeigen sie ihre im Training erlernten Fähigkeiten. »Obwohl oder gerade weil sie sonst vor vielen Problemen im Alltag stehen, haben sie eine unheimliche Kraft und Selbstbestätigung beim Tanzen in sich. Das fasziniert uns«, berichtet Wassilenko (Interview Break Grenzen Crew). Es ist vor allem die selbstbewusste Ausstrahlung der Freude, das Loslassen im Moment, die nonverbale und ausdrucksstarke Kommunikation durch Tanz als körperliche Erfahrung, die die Zuschauenden mitreisst.

Empowerment durch Verantwortung Die Übernahme von Verantwortung und Aufgaben hat eine partizipative Wirkung und kann auf der persönlichen Ebene stärken. Geflüchtete übernehmen beispielsweise als Leiter_innen einer Teilprojektgruppe oder als Ansprechpartner_innen für die Presse Verantwortung, was zu ihrem Selbstbewusstsein beiträgt. Das positive Feedback und die erlernten Kompetenzen können wichtige Schritte sein, um sich aktiv in die Gesellschaft einzubringen.

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Dies gilt besonders für die Museumsführer_innen des Multaka-Projekts. Die autoritative Rolle verkehrt die Verhältnisse, denen sie in ihrem Alltagsleben, in den Heimen und Behörden ausgesetzt sind. In einem ersten Schritt der Ausbildung entscheiden sie sich für ein bestimmtes Museum. Dort erhalten sie dann Zugang zum jeweiligen Online-Katalog der Ausstellungsobjekte, um mehr über die Sammlung zu erfahren und die Objekte auswählen zu können, die sie präsentieren wollen. In der Ausbildung lernen sie außerdem Methoden der interaktiven Führung: ›Wie eröffne ich das Gespräch mit den Teilnehmenden? Über welche Themen kann man reden und welche vermeidet man besser? Wie behalte ich die Aufmerksamkeit der Museumsbesucher_innen durch Spiele und Humor?‹ Die Geflüchteten legen bei ihren Führungen einen eigenen Fokus, eine Kombination aus ihren Erfahrungen, Interessen und ihrem Fachwissen. Unter ihnen befinden sich Architekt_innen, Kulturmanager_innen und Musiker_innen. Manche arbeiten oder studieren seit Längerem in Deutschland. Das Projekt soll damit auch auf die an den Führungen Teilnehmenden ausstrahlen und demonstriert, dass es für Geflüchtete Möglichkeiten gibt, sich in die Gesellschaft einzubringen. Der Werdegang von Jimmi Nestor, Geflüchteter aus Haiti und seit 2013 fester Bestandteil des auf Honorarbasis bezahlten Kernteams des Interkulturellen Gartens Braunschweig, zeigt, wie stärkend und erfüllend es für eine Person sein kann, wenn sie mit Verantwortung betraut wird. Bald nach seiner Ankunft in Braunschweig wurde er auf das Vorläuferprojekt aufmerksam, mit dessen Team er sich gut verstand. Mittlerweile ist er ein konstanter Ansprechpartner, ausgebildeter Fachberater und Übersetzer für viele Geflüchtete und Bewohner_innen Braunschweigs. Da er ihre Erfahrungen vor Jahren geteilt hat, kann er auf ihre persönlichen Bedürfnisse verständnisvoll eingehen. Über die verantwortungsvolle Rolle innerhalb des Projekts wurde er zu einer geachteten Person mit vielen Freund_innen und Bekannten vor Ort. Im Gegenzug profitiert das Projekt von der langfristigen Einbeziehung Geflüchteter, durch die nicht zuletzt auch die hauptamtliche Koordinatorin Martina Krüger entlastet wird. Ein Empowerment der Mitglieder ist nur dann möglich, wenn die Mitbestimmung innerhalb der Gruppe gegeben ist. Gleichzeitig aber erfordert die flache Hierarchie auch klare Verantwortungsstrukturen, um die administrativen und finanziellen Anforderungen zu bewältigen. Hier steht jede Leitung eines partizipatorischen Projekts mit, von und für Geflüchtete vor der Herausforderung, einerseits die Teilnehmenden durch Verantwortungsteilung zu motivieren und andererseits den Überblick über das Gesamtprojekt zu behalten. Die Theatergruppe löst dieses Problem, indem sie sich einmal in der Woche in der Kerngruppe trifft, um gemeinsam über organisatorische Belange wie Presse- und Künstleranfragen oder Auftrittsmöglichkeiten zu entscheiden. Jeden Mittwoch findet die öffentliche Probe statt, bei der nochmals alle Mit-

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glieder über die Ergebnisse des Kernteamtreffens informiert werden und wichtige Punkte aufgegriffen werden. Hier bietet sich den Mitgliedern ausreichend Raum und Zeit, ihre Meinung zu äußern. Dies hat durchaus Modellcharakter. Ahmed Shah zufolge möchte der Club Al-Hakawati zeigen, dass Selbstorganisation und Aufgabenteilung trotz Fluktuation möglich sind: »Wir kämpfen gegen die Vorstellung an, dass Selbstorganisation von Geflüchteten nicht geht, zu instabil ist, und zu viele kommen und gehen« (Interview Club Al-Hakawati). Auf diese Weise werden die Projekte zu Vorreitern, öffentlichen Sprachrohren und Ansprechpartnern; kurzum sie nehmen Einfluss auf die öffentliche Meinung.

D ie gesellschaf tliche W irkung Bei allen hier vorgestellten Projekten verschwimmen die Grenzen zwischen »Kunst- bzw. Kulturprojekten und Sozialarbeit« (Wassilenko, Interview Break Grenzen Crew). Sie sehen das Gleichgewicht zwischen den sonst oftmals in Gegensatz zueinander stehenden Bereichen als erforderlich für eine erfolgreiche Arbeit an. Dabei wird die Balance allerdings unterschiedlich gezogen. Für den Club Al-Hakawati und die Break Grenzen Crew sind das Produkt und das gemeinsame Wachsen an seiner Erarbeitung entscheidend, bei Multaka tritt die Vermittlung etablierter Kulturprodukte ins Zentrum, während beim Interkulturellen Garten Braunschweig kulturelle Produkte zwar auch eine Rolle spielen, jedoch die ganzheitliche und gemeinsame Arbeit im eigentlichen Fokus steht.

Selbstrepräsentation der Geflüchteten Ahmed Shah vom Club Al-Hakawati betont die Bedeutung des Auftretens vor Publikum für eine zielgerichtete Arbeit. Die Geflüchteten sollten am Ende auch den wohlverdienten Applaus ernten und daraus zusätzlich Kraft schöpfen. Bei der Feier nach der gelungenen Aufführung ihres Theaterstücks Letters Home blickte die Gruppe auf ihre Entwicklung und die gemeinsamen Erfahrungen zurück: »Ich hätte vorher nie gedacht, dass ich eines Tages auf die Bühne kommen würde und auf Deutsch spielen würde. Es gibt viele Dinge, die ich nie vorher gedacht hätte, die ich machen würde, die ich hier tue.« (Mitglied, Interview Club Al-Hakawati)

Die Break Grenzen Crew schaffte es, eine energetische Hip-Hop-Kultur zu entwickeln. Die Gruppe ist schnell Teil der Szene geworden und identifiziert sich stark mit ihr. Sie bereist verschiedene Städte, um bei Battles aufzutreten,

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darunter Berlin, Leipzig und Bremen. Vor allem die drei jungen serbischen Brüder machten sich einen Namen und bauten schnell Kontakt zu anderen Gruppen auf. In Magdeburg selbst ist die Szene durch die Gruppe angewachsen. Am Once an Xmas-Turnier im Dezember 2015 in Magdeburg beispielsweise nahmen Kinder und Jugendliche aus Bremen, München und Potsdam teil. Die Gruppe ist auch in einem Hip-Hop-Musikvideo der Magdeburger Nachwuchsmusiker Er & Er zu sehen, die sie mit ihren Tanzeinlagen unterstützt. Auf internationaler Ebene unterhält sie Kontakt zu dem weltweit erfolgreichen Tänzer Mounir aus Frankreich, dessen Workshop die Gruppe 2016 in Hannover besuchte und der die Gruppe bereits aus dem Jahr zuvor wiedererkannte. Bei Multaka steht nicht die Produktion von Kultur im Zentrum, sondern ihre kreative Aneignung. Michael Eissenhauer, Generaldirektor der Staatlichen Museen zu Berlin, sagt: »Das Multaka-Projekt ist eine besondere Gelegenheit, die Objektvielfalt auf der Museumsinsel in assoziierten Gesprächen zu erfahren. Im Vordergrund steht dabei nicht die klassische Museumsführung, sondern ein Austausch von Menschen mit ähnlichem Erfahrungshintergrund.« (Zit. n. Stiftung Preußischer Kulturbesitz 2015)

So zeigt Tarek Ahmad, ehemaliger Professor für Klassische Archäologie, in seiner Führung an einer Statue des Adonis, wie die Figur aus der griechischen Mythologie in der Gedankenwelt der Syrer_innen ihren Platz fand. ›Wie kam es dazu? Wo besteht der gemeinsame Ursprung? Gibt es ähnliche Beispiele in der Gegenwart?‹ Für Tarek Ahmad ist es entscheidend zu zeigen, dass Kultur als Brücke vermeintlich unterschiedliche Welten verbindet. Erwähnenswert ist, dass Multaka auch anderen Bildungsprojekten des Museums für Islamische Kunst zu einer breiteren Öffentlichkeit und Förderbereitschaft verholfen hat. Seit Jahren betreibt das Museum auf verschiedenen Wegen Aufklärungsarbeit über den Islam, etwa durch Mitarbeit an Schulbüchern, durch Austausch mit Moscheegemeinden oder Kontakt zu Unterkünften. Daneben zeugen die steigenden Besucherzahlen im Museum vom wachsenden Interesse an dieser Thematik. Die Museumsführer_innen von Multaka sind dabei die »Kronjuwelen« (Stefan Weber, Projektleitung, Interview Multaka), die einer längst bestehenden Bewegung zusätzliche Aufmerksamkeit einbrachten. Beim Interkulturellen Garten tritt das kulturelle Produkt stärker in den Hintergrund, ohne dass es dabei bedeutungslos würde. Neben dem Kochbuch entstand hier auch die Musikband Pepinos International – ein kleines, aber konkretes Beispiel eines multikulturellen Miteinanders. Die Mitglieder kommen aus Haiti, der Ukraine, Kasachstan, dem Iran und Deutschland, werden seit 2009 von zwei deutschsprachigen Musikern betreut und fanden sich 2016 zu einem neuen Projekt zusammen. Die Musikstücke erzählen vom Leben der

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einfachen Leute. Sie beschäftigen sich mit der Sorge um das tägliche Brot, drücken aber auch Lebensfreude, Erinnerungen an die Heimat und Gedanken an Freiheit und Glück aus. Die Musiker_innen spielen zu verschiedenen Anlässen innerhalb und außerhalb Braunschweigs, unter anderem zum jährlichen Sommerfest im Interkulturellen Garten. In der Musikgruppe und als Mitglieder des Gartens sind sie dabei als Bürger_innen im öffentlichen Stadtraum präsent und nehmen in ihren aktiven Rollen am sozialen Stadtleben teil. Durch den Garten oder Konzerte der Band treten die Geflüchteten so in direkten Kontakt mit alteingesessenen Bürger_innen.

Gesellschaftliche Einbindung Der entscheidende gesellschaftliche Beitrag der Kunstprojekte besteht in den Verschiebungen und Irritationen, die sie auslösen. Diese werden insbesondere durch die gleichberechtigte Mitwirkung ermöglicht. Der Club Al-Hakawati sucht regelmäßig die Diskussion mit dem Publikum, um ein Feedback auf die Verarbeitung ihrer Erfahrungen in den Stücken zu erhalten. Einprägsam war etwa die Diskussion einer Szene ihres Stücks Letters Home (2015/2016), in der ein geflüchtetes Kind seine Hand nach Freundschaft ausstreckt und lediglich gespendete Kleidung zurückbekommt. Die Zuschauer_innen fühlten sich ertappt und kritisiert. Es wurde diskutiert, wie man zur Veränderung der gegenwärtigen Strukturen beitragen kann. Andere Stimmen aus dem Publikum kritisierten, dass die Geflüchteten zu wenig Selbstkritik übten, etwa bei Themen wie Rassismus untereinander in Heimen oder fehlender Motivation, Deutsch zu lernen. Das Feedback – ob in Form von Kritik, motivierender Rückmeldung oder konstruktiven Vorschlägen  – ist ein wichtiges Zeichen dafür, ein ernst genommener Teil der Gesellschaft zu sein. Wichtig sind auch Aufführungen vor den Betroffenen. Als der Club Al-Hakawati sein Theaterstück in dem Erstaufnahmelager Spandau vorspielte, wo das Projekt entstanden war, waren die Reaktionen auf das Stück enorm. Die Konfrontation mit der künstlerischen Repräsentation ihrer Lage hatte deutlich kathartische Züge. Die Bewohner_innen erkannten sich in den nachgespielten Alltagsproblemen wieder. Sie lachten über die dargestellte Hilflosigkeit gegenüber deutschsprachigen Dokumenten, und zeigten sich ergriffen, als der Familiennachzug thematisiert wurde. Ahmed Shah zufolge geht es nicht nur um Unterhaltung, sondern auch um die kritische Reflexion über den Status quo der Geflüchteten: »Wir sind gegen Massenheime – für Wohnungen. Wir wollen keine Heime unterhalten, um es denen erträglicher zu machen. Wir wollen die Isolation brechen, vor allem die der Frauen« (Interview Club Al-Hakawati). Die Guides von Multaka können durch ihre Arbeit das medial vorherrschende Bild des Islams positiv besetzen. »Wir können auch mit Kopftuch Feministinnen oder gegen religiöse Autoritäten sein, das verwundert dann zunächst

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das deutsche Publikum. Das ist Fortschritt im gesellschaftlichen Wandel und bei der Überwindung von Vorurteilen«, erklärt Projektleiterin Salma Jreige. Ihr Ko-Projektleiter Stefan Weber ergänzt: »Integration ist immer ein Prozess. Es fängt an, indem man den Menschen Respekt entgegenbringt« (Interview Multaka). Multaka steht beispielhaft für diese Respektsbezeugung, indem sich Kulturinstitutionen Geflüchteten als Handlungsräume öffnen, den Gästen wie den Guides. In den Medien stieß diese Einbindung auf positive Resonanz. Doch auch hier kommt es gelegentlich zu unerwarteten und irritierenden Diskussionen. Der Fakt, dass deutsche Museen Kulturgüter aus aller Welt besitzen, löst mitunter emotionale Diskussionen über Ausbeutung, Dankbarkeit und Zusammenarbeit der Kulturen aus. Einige Objekte haben in der Tat einen komplizierten Hintergrund: »Manchmal sind Teilnehmer sauer, weil sie denken, die Deutschen hätten ihnen ihre Kultur genommen. Aber spätestens seit der Zerstörung kulturellen Erbes durch den IS wird auch klar, dass sie sie geschützt haben. Auch über diese Themen muss gesprochen werden.« (Salma Jreige, Interview Multaka)

Erfolgreiche Kunst- und Kulturprojekte haben das Potenzial, Geflüchteten Mitspracherecht zu erteilen und ihnen einen Platz in der Gesellschaft zu geben. Denn »es wird viel über Geflüchtete geredet, aber nicht mit ihnen«, meint Samee Ullah, Mitglied des Club Al-Hakawati (Interview Club Al-Hakawati). Schon die Existenz der Projekte ist also ein Schritt in die Gesellschaft.

Vernetzung Wichtig für die Projektarbeit und die erfolgreiche Umsetzung von Mitsprache innerhalb der Gesellschaft ist eine gut funktionierende Öffentlichkeitsarbeit und enge Kooperationen. Die Projekte können durch Medien und persönliche Präsenz bei Veranstaltungen ihre Botschaft mitteilen, zum sozialpolitischen Dialog beitragen und ein Netzwerk von Verbündeten schaffen. Wie können die Projekte durch Öffentlichkeitsarbeit nachhaltig in die Gesellschaft hineinwirken? Zur Netzwerkarbeit gehört etwa die Kooperation mit Universitäten, Schulen und Forschungsgruppen. Das Wissen aus ihren Praxiserfahrungen geben sie auf diesem Wege weiter, um ähnliche Projekte zu unterstützen, sich zu vernetzen oder ihr Wissen zu teilen. Im Gegenzug erhalten die Projekte mediale Aufmerksamkeit. Ein Beispiel ist hier die Zusammenarbeit des Club Al-Hakawatis mit Studierenden des Lateinamerika-Instituts der Freien Universität Berlin. Studierende haben den künstlerischen Prozess mit Fotos und Interviews begleitet und auf der Website der Universität einer breiteren Öffentlichkeit

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zugänglich gemacht. Auch Schulen sind wichtige Anlaufstationen, um interkulturelles Lernen schon früh im Leben als eine Selbstverständlichkeit zu sehen. Sämtliche Projekte betonen immer wieder die Signifikanz eines weitreichenden Netzwerks, um konkrete Herausforderungen zu meistern. Beispielsweise ist die Break Grenzen Crew wegen ihrer minderjährigen Mitglieder auf Fahrgemeinschaften der Eltern oder Freund_innen zum Training oder Auftritt angewiesen. Der Interkulturelle Garten Braunschweig kann wiederum Geflüchteten Workshops und Treffen mit städtischen Einrichtungen wie der Feuerwehr, der Polizei oder Ärzt_innen anbieten oder verringert die finanziellen Ausgaben durch Zusammenarbeit mit der Braunschweiger Tafel. Der Club Al-Hakawati bekommt alte Kostüme von anderen Theatern aus Berlin. Durch ihre Netzwerkpartner_innen kann Multaka verschiedene Workshops zu Glasbläserei, Mosaikkunst oder Fotografie anbieten, die ausdrücklich auch dem deutschsprachigen Publikum offenstehen. Die Relevanz der Netzwerke zeigt sich auch bei drohenden Abschiebungen der Projektmitglieder. So konnten Abschiebungen durch die Solidarität der Gruppe, erfolgreiche Netzwerkarbeit und massive Unterstützung mittels Petitionen zumindest vorläufig verhindert werden. Einzelne können so durch die Projekte geschützt werden. Indem international anerkannte Mitglieder der Breakdance-Szene auf sozialen Netzwerken zur Unterzeichnung einer Petition aufriefen, konnte der Aufenthaltsstatus dreier serbischer Brüder, Mitglieder der Break Grenzen Crew, und ihrer Familien verlängert werden. Die Gruppe kann auf diese Weise die Chancen auf einen verlängerten Aufenthalt erhöhen; der Widerstand gegen Abschiebungen ist jedoch oft nicht erfolgreich. Die Projektarbeit der Break Grenzen Crew zeigt auch, wie wichtig die gute Verständigung mit den Eltern der teilnehmenden Kinder und Jugendlichen ist. Ihnen müssen die positiven Seiten der Arbeit teilweise erst nähergebracht werden. Aufgrund der großen Belastungen für die Familien ziehen es viele von ihnen vor, ihre Kinder um sich zu haben, statt sie einer Freizeitbeschäftigung nachgehen zu lassen.

G elingensbedingungen : E in B lick in die Z ukunf t Um langfristige Projektarbeit im Kunst- und Kulturbereich mit Geflüchteten zu gewährleisten, sind die Aspekte Förderung, Übertragbarkeit und Nachhaltigkeit von besonderer Bedeutung. Die folgenden Empfehlungen richten sich nicht nur an die Projekte selbst, sondern auch an Entscheidungsträger_innen in der Politik und im Kulturbereich.

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Förderung Zunächst bedarf es der konstanten Kooperation mit politischen und/oder kulturellen Trägern, die die Projekte finanziell unterstützen. Die Personal- und Unterhaltskosten des Interkulturellen Gartens etwa sind fest im Haushaltsplan der Stadt Braunschweig eingerechnet und garantieren so dessen Fortbestand. Der Landesverband Sachsen-Anhalt der Deutschen Jugend in Europa (DJO) übernahm für circa zwei Jahre als kultureller Träger einen Großteil der Kosten der Break Grenzen Crew. Die regelmäßige Förderung ist besonders für die Personalkosten der Projekte wichtig. Während die Kosten für Projekte oder Materialien von staatlichen Förderern häufig übernommen werden, wird die umfangreiche Arbeit der Koordinator_innen oft nicht bezahlt. Ab einem gewissen Punkt entscheidet die Bezahlung der Mitarbeiter_innen so auch über die Perspektive des Projekts. »Wir finanzieren uns auf eine minderwertige Art und Weise, um für dieses Projekt zu arbeiten, an das wir glauben. Wir sind alle gut ausgebildete Leute und wir machen unsere 450-Euro-Jobs, um das Projekt voranzubringen«, berichtet Sophie Maier, Initiatorin des Projekts zusammenessen.de (Interview zusammenessen.de). Wenn Geflüchtete angestellt werden sollen, fehlt ihnen zusätzlich oft die Arbeitserlaubnis, wodurch ihre Partizipation behindert wird. Wer sie dennoch für ihren Arbeitsaufwand entschädigen möchte, gerät schnell in eine rechtliche Grauzone. Daneben ist auch die langfristige Förderung von Infrastruktur zentral. Ein geschützter Raum und fester Ort, um sich zu begegnen und um als Gruppe zusammenzuwachsen, fördert die Arbeit der Gruppe und erleichtert die längerfristige Selbstorganisation, Koordination und Vernetzung. Jedoch stehen in vielen Projekten keine oder zu geringe Fördermittel für Räumlichkeiten zur Verfügung. Dies liegt an einem Mangel an Vertrauen und der Angst vor Kontrollverlust seitens der Entscheidungsträger_innen. Hier ist also vertrauensbildende Arbeit mit den Geldgeber_innen notwendig. Immerhin: Wenn ein Projekt sich keine eigenen Räumlichkeiten leisten kann, lassen sich Ressourcen häufig auch teilen: Der Interkulturelle Garten etwa erhielt im Braunschweiger Kleingärtnerverein Heideland e. V. zwei Parzellen; während der Club Al-Hakawati die Räumlichkeiten des JugendtheaterBüros in Berlin-Moabit mitnutzt. Zusätzlich sollten kulturpädagogische Ansätze für Minderjährige stärker gefördert werden, etwa in der Hip-Hop-Subkultur. Generell geht es darum, eine engere Zusammenarbeit zu ermöglichen zwischen den Fachkräften an der Basis und den Geldgeber_innen.

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Zusammenarbeit Um Teilnehmer_innen zu erreichen, bedarf es Multiplikator_innen wie Sozialarbeiter_innen, Lehrer_innen oder Übersetzer_innen. In den Unterkünften oder Sprachschulen stehen diese Aktiven oft in vertrautem Kontakt mit Geflüchteten und können ihnen die Projekte näherbringen. Aushänge wirken dagegen oft nicht verbindlich. Daher ist es wichtig, dass Projekte die jeweiligen Vermittler_innen über ein Angebot informieren, um regelmäßig neue Teilnehmende zu gewinnen. Auch Geflüchtete, die die Programme bereits kennen, können diese Vermittlerrolle einnehmen. In der Projektarbeit selbst muss eine angenehme und offene Gruppenatmosphäre erzeugt werden. Dabei sollten die Koordinator_innen sowohl einen zielgerichteten Erarbeitungsprozess anbieten und die Teilnehmenden motivieren, als auch auf deren Wünsche und Ideen eingehen, da Mitbestimmung sich immer wieder als ein Hauptfaktor für die konstante Teilnahme erwiesen hat. Hierzu bedarf es einer hohen Einsatzbereitschaft aller Miglieder, insbesondere zu Beginn eines Projekts, wenn zunächst gute soziale Beziehungen innerhalb der Gruppe aufgebaut werden. Neben der kreativen Arbeit motivieren vor allem die zwischenmenschlichen Kontakte die neuen Mitglieder zu bleiben. Bei Nichterscheinen könnten sie zum Beispiel angerufen werden, um ihnen zu signalisieren, dass sie in der Gruppe wichtig sind und nicht vergessen werden. Darüber hinaus kann es förderlich sein, lokale Anknüpfungspunkte zu schaffen, anhand derer Projektideen umgesetzt werden. Ein Projekt wie Multaka braucht nicht zwingend ein Museum, sondern Impulse, die zum Gespräch über Kultur, Flucht oder Identität einladen. Je nach Stadt können das Bauten, Kunstwerke oder jegliche Überschneidungspunkte zwischen Herkunfts- und lokaler Kultur sein.

Nachhaltigkeit Die zentrale Bedeutung einer motivierenden Leitungsstelle birgt zugleich das Risiko der Projektauflösung, sollte die Leitung wegfallen. Angesichts der prekären Arbeitsbedingungen und ungesicherten Aufenthaltsstatus ist das besonders relevant. Daher muss zu gegebener Zeit ein Generationenwechsel vorbereitet werden. Denkbar ist, dass erfahrene, ältere Mitglieder in einen Erfahrungs- und Wissensaustausch mit weniger erfahrenen Mitgliedern treten, um die Projektidee aufrechtzuerhalten. Daneben ist es wichtig, Geflüchtete in das Kernteam der Gruppe zu integrieren. Das steigert nicht nur ihre Motivation und Mitbestimmung, sondern kann weitere Geflüchtete zum Mitmachen inspirieren. Zum Beispiel kann die Teilnahme von Frauen durch Pionierinnen in Führungspositionen gestärkt werden. Und schon vor dem Generationenwechsel müssen Geflüchtete kontinuierlich aus- und weitergebildet werden,

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damit sie langfristig in das Projekt eingebunden werden können. Durch fachliche Qualifizierung erhöhen die Teilnehmenden so auch die Qualität der Projektarbeit, etwa als ausgebildete Museumsführer_innen im Deutschen Museumsbund oder als anerkannte Übersetzer_innen und Fachberater_innen im Interkulturellen Garten. Für eine gleichberechtigte Zusammenarbeit müssen Mitglieder der deutschen Mehrheitsgesellschaft Geduld, Vertrauen, Offenheit und die Bereitschaft zur Reflexion der eigenen Position auf bringen, um die Ideen Geflüchteter nach Möglichkeit zu unterstützen. Nur durch die Macht- und Ressourcenabgabe deutscher Beteiligter und die Mitbestimmung Geflüchteter können Projekte entstehen, die einen Integrationsprozess in der Gesellschaft fördern. Außerdem sollten sich Arbeitgeber_innen im Kunst- und Kulturbereich stärker für Geflüchtete öffnen, damit die (ehrenamtlich) gesammelten Kenntnisse für einen Berufseinstieg genutzt werden können. Existierende Maßnahmen wie interkulturelle Trainings, Einstellungsquoten und niedrigere Sprachbarrieren müssen dafür weiter ausgebaut werden. Ziel sollte es sein, die Geflüchteten als aktive Kunstschaffende anzuerkennen, anstatt sie auf eine passive Rolle zu begrenzen. Geflüchtete werden die Gruppe auch dann verlassen, wenn sie aus der Unterkunft ausziehen und durch ihre Integration in Arbeit, Bildung und Familie keine Zeit mehr für das Projekt auf bringen können. Diese Fluktuation zeigt, dass das Ziel der Projektarbeit erreicht wurde, die Menschen beim Wiederauf bau ihres Lebens zu stützen. Entsprechend ist die Akquise neuer Mitglieder, die diese Unterstützung noch benötigen, ein Hauptanliegen der nachhaltigen Projektarbeit. Um die schwierigen Lebensbedingungen von Geflüchteten in den Unterkünften zu erleichtern und den Auf bau einer Zukunftsperspektive zu unterstützen, können Kunst- und Kulturprojekte einen zentralen Beitrag leisten. Die wichtigste Ressource dabei ist die Zusammenarbeit auf Augenhöhe.

Q uellenverzeichnis Bundesregierung (2016): Presse- und Informationsamt der Bundesregierung. Pressemitteilung 164 vom 21.05.2016. Engel, G. L. (1976): Psychisches Verhalten in Gesundheit und Krankheit. Bern, Stuttgart, Wien: Huber. Stiftung Preußischer Kulturbesitz (2015): »Geflüchtete als Guides auf der Berliner Museumsinsel. Staatliche Museen zu Berlin der Stiftung Preußischer Kulturbesitz und Deutsches Historisches Museum starten Pilotprojekt ›Multaka: Treffpunkt Museum‹«. Pressemitteilung vom 10.12.2015. Abgelesen am 10.06.2017. http://www.smb.museum/museen-und-einrich​

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tungen/museum-fuer-islamische-kunst/sammeln-forschen/forschung-ko​ operation/multaka-treffpunkt-museum-gef luechtete-als-guides-in-berli​ ner-museen.html

I ntervie w verzeichnis Martina Krüger, Hauptkoordinatorin, und Jimmi Nestor, Interkultureller Garten Braunschweig e. V., Braunschweig, 24.07.2016. Sophie Maier, Initiatorin zusammenessen.de, Freiburg, 12.05.2016. Ahmed Shah, Künstlerischer Leiter, Samee Ullah und weitere Teilnehmer, Club Al-Hakawati, Berlin, 03.02.2017. Alexander Wassilenko, Trainer, Jonas Hoffmann, Maro Schüller und Walid Alhussen, Break Grenzen Crew, Magdeburg, 24.01.2017. Stefan Weber, Projektleiter, und Salma Jreige, Projektleiterin Multaka – Treffpunkt Museum, Berlin, 29.01.2017.

»If we don’t organise for ourselves, who else will?« 1 Geflüchtetenselbstorganisationen und ihre Herausforderungen Marlene Rudloff

Die Sichtbarkeit der politischen Mobilisierung von Geflüchteten hat in den vergangenen Jahren europaweit zugenommen und spätestens mit den anhaltenden Protesten in den Jahren 2012 und 2013 die Wahrnehmungsschwelle der deutschen Öffentlichkeit gebrochen (vgl. Jakob 2016: 16). Die Medien berichteten ausführlich über die Proteste und die dort artikulierten Forderungen nach Bewegungsfreiheit, Bleibe- und Arbeitsrecht, Abschiebestopp und dezentraler Unterbringung in Wohnungen statt in Sammelunterkünften. Während die Proteste auf der politischen Ebene nach einer kurzen Phase der Auflockerung letztlich drastische Verschärfungen2 in der Asylgesetzgebung nach sich zogen, ist es den Refugee-Aktivist_innen auf der gesellschaftlichen Ebene durch unzählige Aktionen, Demonstrationen und Besetzungen dennoch gelungen, den Kurs der deutschen Flüchtlingspolitik neu zu verhandeln und eine gesamtgesellschaftliche Debatte um Flucht und Asyl sowie den Umgang mit Geflüchteten anzuregen. Die politische Arbeit von Geflüchteten hat unsichtbare Themen und Probleme ans Tageslicht befördert, ungehörten Stimmen ein Sprachrohr verliehen und Menschen sichtbar gemacht. Das Thema »Flüchtlinge« wurde zum Mainstream und in der Mehrheitsgesellschaft bildete sich eine bislang nicht gekannte Solidarität gegenüber Geflüchteten heraus (vgl. Jakob 2016: 17), 1 | Varatharajah (2016). 2 | Ungeachtet der Feststellung des Bundesverfassungsgerichts im Jahr 2012 darüber, dass das Grundrecht auf Menschenwürde migrationspolitisch nicht zu relativieren sei und die Gewährleistung eines Existenzminimums auch für Geflüchtete gilt, wurden kontinuierlich Rechte entzogen und die Residenzpflicht (amtliche Bezeichnung: Räumliche Beschränkung, § 61 Aufenthaltsgesetz) sowie das Gutscheinsystem z. T. wieder eingeführt. Dies wird in den verschiedenen Bundesländern unterschiedlich gehandhabt (vgl. Ataç et al. 2015: 2).

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die in der sogenannten Flüchtlingskrise 2015/2016 erfahrbar wurde. Ungeachtet des medialen und gesellschaftlichen Desinteresses kämpfen Geflüchtete in Deutschland jedoch bereits seit über 20 Jahren für ihre Rechte.3 Bereits in der 1990er Jahren gab es Demonstrationen, Hungerstreiks und Blockaden. Im Wahljahr 1998 zogen Aktivist_innen durch 44 deutsche Städte (vgl. Jakob 2016: 15). Und auch vor der Gründung der ersten großen Geflüchtetenorganisation The Voice Refugee Forum (The Voice) in Jena 1994 formierten sich migrantische Organisationen aus der Gastarbeiter-Community, Exilorganisationen und Initiativen, bspw. für die Rechte von (geflüchteten) Migrant_innen (vgl. Steinhilper 2016).4 Allerdings, so merkt Jakob (2016: 24) an, gab es nur wenig Organisation und Vernetzung in den Unterkünften für Geflüchtete. Im Land Brandenburg entstand 1999 die Flüchtlingsinitiative Brandenburg (FIBB). Im Jahr 2002 gründete sich die Initiative Women in Exile, aus der 2011 Women in Exile & Friends wurde. 1998 schlossen sich The Voice Refugee Forum und andere selbstorganisierte Gruppen zur Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und Migrant_innen zusammen und in den vergangenen Jahren kam es zu einer zunehmenden Ausdifferenzierung von Initiativen und Projekten. Neu an dem Protestzyklus seit 2012 ist, dass sich die Aktiven mehrfach erfolgreich lautstark und selbstbewusst Gehör verschaffen und mit einer insistierenden Kompromisslosigkeit und einer klaren Bereitschaft zur Konfrontation auf gesellschaftliche Veränderungen hinwirken konnten. So gelang es, die isolierte Lebenssituation von Geflüchteten in Deutschland öffentlich zu skandalisieren und damit die Widersprüche des europäischen Grenzregimes aufzuzeigen (vgl. Ataç et al. 2015: 1). Entrechtete Migrant_innen und Refugees machen durch ihr politisches Handeln, etwa einem kollektiven Gesetzesbruch gegen die Residenzpflicht in Form eines Protestmarschs, auf die Disparitäten der westlichen Demokratien aufmerksam: »In den europäischen Regierungssystemen der repräsentativen Demokratie wirkt eine widersprüchliche Ungleichheit, die durch die Präsenz von Nichtstaatsbürger_innen deutlich wird. Als Migrant_innen 3 | Zur ausführlichen Darstellung der Geschichte der Refugee-Bewegung und der sogenannten Flüchtlingsproteste: Bojadžijev 2012, Heck 2008, Jakob 2016 u. a. sowie die Selbstdarstellungen von Initiativen, z. B. www.thevoiceforum.org, http://thecara​ van.org, www.refugeetentaction.net, www.oplatz.net. Ende 2014 gab das Bündnis We will rise. Berlin Refugee Strike die erste Ausgabe der Zeitschrift Movement 1. A heroes magazine. heraus. Vgl. http://cargocollective.com/Movementmagazine/ 4 | Waren es in den 1950er und 1960er Jahren in erster Linie die deutschen Wohlfahrtsverbände, NGOs, Antifa-Gruppen und seit den 1980er Jahren die Flüchtlingsräte, die sich für eine Verbesserung der Lebenssituation von Migrant_innen und »Flüchtlingen« engagierten, so formierten sich zunehmend eigene migrantische Initiativen und organisierten sich selbst, z. B. die Kölner Frauenorganisation agisra (1993) oder der Verein iranischer Flüchtlinge in Berlin e. V. (1986).

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werden viele Menschen offiziell nicht zum demos, wohl aber zu der beherrschten Bevölkerung gezählt« (Schwiertz 2016: 232). Insbesondere auf der lokalen Ebene entstanden mit den in den Stadtzentren artikulierten Protesten politische Möglichkeitsfenster und konkrete Ideen, wie Migrationspolitik vor Ort anders gestaltet werden kann. Neben radikaleren Protestformen5 und offensiven Strategien manifestierte sich die neue Qualität 6 der Proteste in einem weiteren Punkt: »Die gesamte Flüchtlingsszene gewann durch die tent actions, wie die Protestierenden ihre Aktionen nannten, den Marsch nach Berlin und die folgende 17 Monate währende Besetzung des Oranienplatzes im Berliner Stadtteil Kreuzberg einen gemeinsamen Bezugspunkt.« (Jakob 2016: 17) Zugleich entstanden neue Allianzen mit politischen Akteur_innen und anderen Gruppen. Bei der Beschäftigung mit der Entwicklung von Geflüchtetenprotesten und migrantischer Selbstorganisation ist der Blick zunächst darauf zu richten, in welcher politischen Gemengelage diese stattfinden und welche gesellschaftliche Ausgangslage sie vorfinden. Nicht allein der soziopolitische Kontext und der nationalstaatliche bzw. europäische Umgang mit Asyl und Flucht sind hier ausschlaggebend. Auch die individuelle Lebenssituation und der rechtliche Status der Betroffenen spielen eine erhebliche Rolle. Hier zeigen sich erste Dilemmata: Auf der gesellschaftlichen Makroebene liegt die wohl größte Herausforderung im Fortbestand von Rassismus, (neo-)kolonialen Strukturen und den damit einhergehenden Diskriminierungen.7 Auf der europapolitischen Ebene spiegelt sich dies nicht zuletzt in der restriktiven Gestaltung der Migrationspolitik im Allgemeinen und in den Asylrechtsverschärfungen der vergangenen Jahre im Besonderen wider. Diese schränken Asylsuchende in ihrer Handlungsfähigkeit aufgrund zahlreicher Sanktionsmöglichkeiten stark ein.8 5 | Dauermahnwachen, Hungerstreiks und Besetzungen öffentlichen Grunds (vgl. Jakob 2016: 16). 6 | Seit den Ereignissen im Jahr 2012 wird der Refugee-Bewegung eine neue Sichtbarkeit und Qualität oder auch eine »neue Ära des Protests« zugesprochen (Schwiertz 2016: 234). 7 | Aus der Sicht des Aktivisten Osaren Igbinoba scheint eine tatsächlich autonome Selbstorganisation derzeit aus diesem Grund gar unmöglich zu sein (vgl. Interview The Voice). 8 | Grundsätzlich ist zu beobachten, dass der restriktive Kurs, der die europäische Migrations- und Asylpolitik seit Längerem bestimmt, 2017 weiter Bestand hat. Dies äußert sich in vermehrten nationalen und internationalen Grenzkontrollen, der Verlagerung der Europäischen Außengrenzen in Drittstaaten durch Abkommen wie z. B. mit der Türkei, Marokko und Mali, und der zunehmenden Fokussierung auf Rückführung von sogenannten » Nichtbleibeberechtigten« in ihre Heimatländer. Letztere artikulierte sich zuletzt u. a. im Entwurf zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht, den die Bundesregierung im März 2017 vorgelegt hat (vgl. http://dip21.bundestag.de/dip21/

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Illegalisierung und Kontrolle beherrschen die Diskurse und führen zu einer Regierungslogik der Entrechtung und »Versicherheitlichung« (vgl. Schwiertz 2016, Bigo 2010 und Ataç et al. 2015). Das zivilgesellschaftlich-politische Engagement von Geflüchteten ereignet sich zudem in einem gesellschaftspolitischen Klima der Polarisierung, in dem Rechtspopulismus, Nationalismus und Xenophobie einerseits deutlich erstarken, Geflüchtete im Rahmen der sogenannten »Willkommenskultur« andererseits zu Opfern bzw. Helden stilisiert werden (vgl. Friese 2017). Des Weiteren erschweren die fortschreitende rechtliche Stratifizierung des Flüchtlingsschutzes, die Implementierung von sogenannten »sicheren Herkunftsstaaten« sowie die Einteilung in vermeintlich »gute« und »schlechte« Bleibeperspektive9 eine politische Mobilisierung insofern, als dass diese (neue) Machtgefälle und Konkurrenzen zwischen verschiedenen Personengruppen, etwa nach Nationalitäten oder Aufenthaltsstatus, hervorbringen. Der Zusammenschluss zu einer politischen Interessenvertretung wird dadurch erheblich erschwert (vgl. Interview Voix des migrants, Interview AEI). Auf der individuellen Ebene sorgen die prekäre aufenthaltsrechtliche Situation und die damit verbundenen Notlagen hinsichtlich der eigenen Lebenssituation für Verunsicherung. Ein Aktivwerden wird dadurch weniger begünstigt. Als weitere eher hinderliche Faktoren für eine Politisierung treten traumatisierende Ereignisse10 vor und während der Flucht sowie die gesellschaftliche und institutionelle Isolierung hinzu, die sich etwa in der Unterbringung in Sammelunterkünften und einer mangelhaften Ausstattung mit Ressourcen niederschlägt und mit einer Beschränkung der Selbstbestimmung, Autonomie und btd/18/115/1811546.pdf). Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und PRO ASYL übten daran scharfe Kritik. Amnesty International wandte sich dabei insbesondere gegen die Verschränkung von Strafrecht und Abschiebungshaftrecht und die Gefahr einer systematischen Einführung der Abschiebehaft als menschenwidriger Präventivhaft (https://www.proasyl.de/pressemitteilung/pro-asyl-zum-entwurf-einesgesetzes-zur-besseren-durchsetzung-der-ausreisepflicht/ und https://www.amnesty. de/downloads/stellungnahme-zum-geset zentwur f-zur-besseren-durchset zung-derausreisepflicht-2017). Die im Februar 2017 abgegebene Malta-Deklaration sieht eine Vertiefung der Zusammenarbeit mit Libyen und insbesondere die Stärkung der lokalen »Aufnahmekapazitäten« vor und reiht sich somit ebenfalls in die gegenwärtige Dynamik der restriktiven europäischen Asylpolitik ein (vgl. www.consilium.europa.eu/de/press/ press-releases/2017/02/03-malta-declaration/). 9 | »Menschen, die aus Herkunftsländern mit einer Schutzquote von über 50 Prozent kommen, haben eine gute Bleibeperspektive. 2017 trifft dies auf die Herkunftsländer Eritrea, Irak, Iran, Syrien und Somalia zu.« (BAMF 2017) 10 | Erfahrungen wie Rassismus, Diskriminierung, Repression, Verlust, Kriminalisierung, Polizeigewahrsam, Haft, Abschiebung, körperliche Gewalt bis hin zu Folter.

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Handlungsfreiheit einhergeht.11 Für Initiativen, die im Spannungsfeld zwischen den beiden erwähnten Ebenen agieren, ergeben sich aus dieser Schieflage mehrfache und kontinuierliche Abhängigkeiten: Sie sind auf Kooperationen und Allianzen mit anderen Akteur_innen angewiesen. Die daraus erwachsenden Bündnisse und Partnerschaften können sich als sehr fruchtbar erweisen, sind jedoch nicht frei von Machtbeziehungen. Immer wieder »tauchen Fragen von Rassismus und Privilegien hinsichtlich Sprache, Staatsangehörigkeit, Aufenthaltsstatus, Zugang zu lokalem Wissen, wie etwa der Vereinskultur, auf […]. Nicht selten werden trotz bester Absichten Machtverhältnisse reproduziert, Geflüchtete funktionalisiert oder instrumentalisiert.« (Schiffauer, Eilert, Rudloff 2017: 251) Die Zusammenarbeit mit staatlichen Akteuren ist häufig belastet oder wird von der einen oder anderen Seite vollständig abgelehnt. Wird ein Weg gewählt, der völlig dezentralisierte, autonome Strukturen und Unabhängigkeit voraussetzt, steigt wiederum das Risiko der Überlastung (vgl. ebd. 252). Als eine erste Schlussfolgerung lässt sich daraus Folgendes ableiten: Refugee-Aktivist_innen begegnen in ihrer selbstorganisierten Arbeit einem breiten Spektrum an Schwierigkeiten. Diese unterscheiden sich deutlich von den Problemlagen der Initiativen und Projekte anderer Bereiche. Daher wird es im Folgenden um geflüchtete Aktivist_innen und ihre eigene politische Praxis und Arbeit gehen: Unter welchen Bedingungen findet Selbstorganisation von Geflüchteten heute statt? Welchen besonderen Herausforderungen begegnen die Projekte und Initiativen in ihrer politischen Arbeit? Wo zeichnen sich Erfolge und Misserfolge der Selbstorganisation ab? Wie gehen die Initiativen mit den Problemen um, welche Strategien entwickeln sie, um diese zu lösen? Der Fokus liegt dabei auf der Perspektive der Akteur_innen. Anstelle eines systematischen Vergleichs verschiedener Initiativen stellt der Text einen Versuch dar, übergreifende gemeinsame Entwicklungstendenzen und Probleme, mit denen selbstorganisierte Geflüchteteninitiativen und -projekte konfrontiert sind, exemplarisch zu beschreiben und ohne Anspruch auf Vollständigkeit zentrale Problemfelder aufzuzeigen.12 Dabei werden Dilemmata herausgearbeitet, die 11 | Der Ressourcenmangel beschränkt sich nicht auf materielle Ressourcen, sondern schließt auch Informationsmangel, fehlende Sprachkenntnisse, fehlende Kenntnis lokaler Rahmenbedingungen und Rechtsordnungen u. a. ein. Auf eine ausführliche Darstellung der Lebenssituation sogenannter Refugee activists wird an dieser Stelle verzichtet, da dies nicht Teil der Untersuchung war und zu einer verknappenden Darstellung der Heterogenität der Akteur_innen führen würde. Festgehalten sei an dieser Stelle jedoch, dass in Abhängigkeit vom Aufenthaltstitel der Zugang zu gesellschaftlicher Teilhabe eingeschränkt ist bzw. verwehrt bleiben kann, etwa durch ein Arbeitsverbot oder einen Duldungsstatus in Deutschland (vgl. Interview Refugees4Refugees). 12 | Der vorliegende Text vermag nur ein unzureichendes Bild der Arbeit von Geflüchtetenselbstorganisationen, ihrer Herausforderungen und ihrer Möglichkeiten zu skizzie-

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durch das Ineinandergreifen der unterschiedlichen Problemfelder entstehen. Der Artikel basiert auf im Feld durchgeführten Beobachtungen sowie leitfadengestützten Interviews, die im Zeitraum von Mai 2016 bis Mai 2017 mit Aktivist_innen und Akteur_innen der Selbstorganisation stattfanden.13 Gespräche wurden mit Einzelpersonen und Aktiv(ist_inn)en verschiedener Initiativen, Projekte und Organisationen geführt: Asif Gillani von Stop Deportation Group Berlin/Brandenburg, Behshid Najafi von Agisra, Eben Chu von Refugees Emancipation, Edna Martínez von Women in Exile & Friends, Riadh Ben Ammar von Afrique-Europe-Interact (AEI), Lea Höppner von International Women’s Space (iwspace), Rex Osa von Refugees4Refugees, Osaren Igbinoba von The Voice Refugee Forum (The Voice) und Tresor von Voix des migrants.14 Selbstdarstellungen, politische Statements und Presseerklärungen der Initiativen bzw. von Akteur_innen aus der Refugee-Bewegung wurden ergänzend herangezogen. Gleichwohl die Projekte unterschiedlichste Schwerpunkte setzen, eint sie, dass sie die Kernaufgaben der politischen Arbeit stets mit konkreter Unterstützungsarbeit verknüpfen. Da sich die Gesprächspartner_innen immer wieder auf zwei Aspekte bezogen, konzentriert sich das Hauptaugenmerk dieser Arbeit auf die folgenden Problemfelder: Erstens die Herausforderungen im Kontext von Empowermentarbeit und der politischen Mobilisierung von Geflüchtetn sowie zweitens Arbeitsformen der Selbstorganisation und die Zusammenarbeit mit Unterstützungsstrukturen. Nach einer ausführlichen Beschreibung der Problemlagen sollen abschließend Rückschlüsse gezogen und Bedingungen für eine erfolgreiche Arbeit von Gefüchtetenselbstorganisationen formuliert werden. Wissenschaftliche Arbeiten zum selbstorganisierten Refugee-Aktivismus in Deutschland konzentrieren sich insbesondere auf den Prozess der politischen Subjektivierung, auf die zunehmende europäische und transnationale Vernetzung sowie die zu beobachtende stärkere Verschränkung ren. Die zahlreichen Stärken und Potenziale der Projekte und Initiativen sollen keinesfalls in Abrede gestellt werden, stehen jedoch weniger im Fokus dieses Artikels. 13 | Trotz des zunehmenden Bewusstseins im Rahmen von engaged anthropology (vgl. Low, Merry 2010) ist die Rolle der Forscherin in diesem Prozess nicht unproblematisch. So wird den Beforschten im Rahmen einer Feldforschung oftmals viel abverlangt, in der Regel wird jedoch in keinster Weise etwas zurückgegeben oder die jeweiligen Personen in ihren »struggles« unterstützt (vgl. Rehklau 2011: 120). 14 | Refugee-Frauen sind von besonderen Ausschlüssen betroffen und müssen ihre Position innerhalb der Refugee-Szene behaupten. So gibt es eigens für die Interessen von Frauen gegründete Initiativen. Diese Gruppen sind wiederum so stark eingespannt, dass es trotz wiederholter Anfragen bis auf zwei Ausnahmen nicht möglich war, Gesprächspartner_innen für weiterführende Interviews zu gewinnen. Die spezifischen Herausforderungen selbstorganisierter Frauenorganisationen konnten daher nur bedingt in die Untersuchung einfließen.

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mit anderen (urbanen) Protestbewegungen.15 Zahlreiche Studien mach(t)en deutlich, dass neue Subjektivitäten erzeugt wurden, sich neue politische Kämpfe und neue Akteure formierten (vgl. Ataç et al. 2015: 3). Schriften und eigene Arbeiten aus der Bewegung finden bisher wenig Berücksichtigung (vgl. Friese 2017). Der vorliegende Artikel verfolgt daher auch das Ziel, bislang wenig beforschten Perspektiven eine Stimme zu geben und das produzierte Praxiswissen in die breitere Öffentlichkeit zu tragen.

S elbstorganisation als S elbst verständnis Selbstorganisation kann zunächst in Abgrenzung zu Fremdorganisation definiert werden als das selbstbestimmte Handeln und Organisieren von Einzelnen oder Gruppen. Die sogenannte »Willkommenskultur« kann der migrantischen Selbstorganisation insofern als fremdorganisierte gegenübergestellt werden, als sie oftmals paternalistische Züge aufweist und Machtgefälle zwischen den vermeintlichen »Helfer_innen« und »zu Helfenden« (re-)produziert. Hingegen findet die Selbstorganisation der Geflüchteten unter der Devise For refugees by refugees statt. Die den Titel dieses Artikels konstituierende Frage von Sinthujan Varatharajah (2016) bildet die schwierigen Umstände ab, in der Selbstorganisation von Geflüchteten stattfindet. Und sie stellt klar, dass eine Mobilisierung aus der Community heraus erfolgen muss. In einem Aufruf an die Flüchtlingscommunity von der Initiative The Voice vom 19. Februar 2016 heißt es bezüglich der Selbstorganisation: »An alle Flüchtlingsaktivist_innen, Asylsuchenden und Migrant_innen. Wir rufen alle Geflüchteten/Asylsuchenden und Migrant_innen auf, auf der Basis von Vertrauen Communitys aufzubauen, um unsere Solidarität gegen unsere anhaltende unmenschliche Behandlung in Deutschland und Europa zu stärken. Selbstorganisation geht darüber hinaus, anderen unsere Geschichten und Probleme zu erzählen. Ihr Ziel sollte in der Ermächtigung bestehen – durch eine unabhängige politische Plattform und durch die Selbstbestimmung in der Flüchtlings-Community, gemeinsam mit Flüchtlingsaktivist_innen und für die Geflüchteten. Unsere Hauptziele bestehen darin, uns auf Grundlage gegenseitiger Solidarität und ohne jegliche Form von Diskriminierung, Rassismus und Sexismus in der Flüchtlingscommunity zu vereinen und den soziokulturellen und politischen Austausch voranzubringen – durch regelmäßige Treffen, Diskussionen und Veranstaltungen über die Situa15 | Zu den Formen des Protests seit den 1960er Jahren vgl. Bojadžijev 2012, Karakayali 2008, Heck 2008.

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Marlene Rudlof f tion in unseren Heimatländern und die Lage, in der wir hier in Deutschland leben. Durch das Organisieren von miteinander zusammenhängenden Veranstaltungen und Aktivitäten in euren Regionen und darüber hinaus, BRECHEN wir die staatlich organisierte ISOLATION der Geflüchteten in Deutschland.« (The VOICE Refugee Forum – Aufruf an die Flüchtlingscommunitys für ein Solidaritätsnetzwerk in Deutschland und Europa)

Selbstorganisiert sein heißt somit nicht allein, die eigene Stimme zu erheben und Informationsarbeit zu leisten, um die eigenen Geschichten und Probleme in die Öffentlichkeit zu tragen. Vielmehr führt die Arbeit über eine bloße Öffentlichkeits- und Aufklärungsarbeit hinaus: Als Ziele werden hier »Ermächtigung« (Empowerment) und die politische Vernetzung der Community genannt. Zentrales Element ist dabei, dass dies aus der Bewegung selbst heraus entsteht und unabhängig sowie selbstbestimmt gestaltet wird. Mit der Ablehnung von Sexismus, Diskriminierung und Rassismus vollzieht sich eine klare Positionierung. Hier werden Querverbindungen zu antirassistischen und linken Bewegungen deutlich. Zugleich treten Selbstansprüche an die Community hervor. Durch Solidarisierung, einen »soziokulturellen und politischen Austausch« und gemeinsame Aktionen soll schließlich eine aktive Veränderung von gesellschaftlichen Missständen, etwa Isolation und Marginalisierung, bewirkt werden. Die Akteur_innen verstehen sich als handelnde politische Subjekte und möchten als solche agieren und wahrgenommen werden. Die Frauenorganisation Women in Exile  & Friends beschreibt sich als Initiative, deren politischer Fokus »auf der Abschaffung aller diskriminierenden Gesetze gegen Asylsuchende und MigrantInnen und den Verschränkungen von Rassismus und Sexismus [liegt]. [Sie] versteh[t] [sich] als feministische Organisation und [ist] eine der wenigen Schnittstellen zwischen Frauenbewegung und Flüchtlingsbewegung« (Women in Exile & Friends 2017). Die Macher_innen der Karawane, ebenfalls ein bereits seit 1998 bestehendes Netzwerk, formulieren ähnliche Ziele in ihrer Selbstbeschreibung: »Die Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen ist ein Netzwerk, das sich aus Einzelpersonen, Gruppen und Organisationen von Flüchtlingen, MigrantInnen und Deutschen zusammensetzt. Die Grundlage bilden Antiimperialismus und Antirassismus. Wir sind engagiert im Kampf für soziale und politische Rechte, Gleichheit und Respekt für die fundamentalen Menschenrechte eines/r jeden/r.« (Karawane 2017)

In dieser Beschreibung wird der Bezugsrahmen für die politischen Forderungen deutlich: Die Menschenrechte bilden den Ausgangspunkt im politischen Kampf um Anerkennung und für Rechte von geflüchteten Menschen.16 Viele 16 | Ein Problem, welches zugleich erhebliche Potenziale entfalten kann, entsteht dadurch, dass die an die Menschenrechte geknüpften politischen Forderungen, die (glo-

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der selbstorganisierten Initiativen sind in der Begleitungs-, Beratungs- und Vermittlungsarbeit tätig. Aus der Selbstbeschreibung von Refugees4Refugees aus Stuttgart geht Folgendes hervor: »Wir sind ein Netzwerk von erfahrenen Flüchtlingen, die sich auf verschiedene Art und Weise für Asylbewerber-Innen einsetzen. Wir bieten auf Anfrage Begleitpersonen für Behördenbesuche an, beraten Flüchtlinge bei ihrem Asylantrag oder Widersprüchen gegen Amtsbescheide und verweisen die Asylbewerber-Innen an Gruppen, die ihnen in ihren individuellen Situationen helfen. Damit Flüchtlinge asylrelevante Bewerbungsunterlagen verstehen können, bieten wir zugeschnittene Übersetzungen an, auch unterrichten wir die Antragsteller-Innen über ihre Rechte und Pflichten im Asylverfahren und auch über das Ausländer- und Sozialrecht.« (Refugees4Refugees 2017)

Oftmals handelt es sich um aufsuchende Arbeit. Aktive gehen in die abgelegenen Unterkünfte, um dort mit Newcomer_innen ins Gespräch zu kommen und entsprechende Angebote zu unterbreiten. Es geht auch darum, Brücken zu bauen in die deutsche Zivilgesellschaft und die Isolation aufzubrechen. So zielt die selbstorganisierte Arbeit häufig darauf ab, »die gesellschaftliche Distanz zwischen Flüchtlingen, Migrant-Innen und deutschen Staatsbürgern [zu] verringern, sowie die Isolation von Flüchtlingen [zu] durchbrechen, Verständnis und Toleranz auf beiden Seiten soll gefördert werden« (Refugees4Refugees 2017). Immer wieder stellen die Akteur_innen fest, wie wenig Wissen über die Lebenssituation von Geflüchteten aufseiten der Mehrheitsgesellschaft vorhanden ist. Ziel ist, diesbezüglich »einen Lernprozess anzustoßen« (Interview Refugees4Refugees). Einige der Projekte machen es sich daher zur Aufgabe, Räume des Austauschs und des Lernens zu schaffen, etwa durch verschiedene Workshop-Formate und Freizeitangebote, in denen sich Alteingesessene und Geflüchtete begegnen können. Ein anderes Anliegen besteht darin, Ehrenamtliche für die Möglichkeiten sinnvoller Unterstützung zu sensibilisieren. Dabei lautet die zugrundeliegende Fragestellung, wie sinnvolle praktische Solidarität aussehen kann und wie paternalistische Herangehensweisen überwunden werden können. Auf diese Weise soll ein Bewusstsein gefördert werden, welches nicht die Geflüchteten als Problem betrachtet, sondern Migration, Flucht und Asyl als gesamtgesellschaftliche Aufgabe begreift. Übertragen auf die/den einzelne_n Bürger_in soll dies bewirken, dass jene_r die eigene Position kritisch hinterfragt und bale) migrationspolitische Fragen bemühen, keinen direkten Adressaten auf der lokalen Ebene haben. Es besteht das Risiko, dass sie unsichtbar bleiben und ins Leere laufen. Das entstehende Spannungsfeld zwischen universalen Menschenrechtsansprüchen auf der einen und den nationalen und lokalen Rechtsordnungen (u. a. die Bürgerrechte) auf der anderen Seite, fordert die Akteur_innen heraus (vgl. Heimeshoff et al. 2014).

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den eigenen Anteil an der globalen Ungleichheit und den damit verbundenen Migrationsprozessen verstehen lernt (vgl. Interview Refugees4Refugees, Interview The Voice). Auf der Projektebene bedeutet selbstorganisierte Arbeit für die RefugeeAktivist_innen, möglichst selbstbestimmt, hierarchiefrei, diversitätsbewusst und gleichberechtigt zu (inter-)agieren. Durch die Etablierung diskriminierungsfreier Räume soll exkludierenden Praktiken und Mechanismen eine emanzipatorische Praxis entgegengesetzt werden (vgl. Schwiertz 2016). Dieses Selbstverständnis stellt hohe Ansprüche an die Projekte und deren Arbeit. In Anbetracht der Komplexität selbstverwalteter, häufig basisdemokratischer und informeller Arbeitsformen stellt sich folglich die Frage, wie effizient eine solche Struktur sein kann und will. Kritikpunkte, die innerhalb und gegenüber linken Bewegungen immer wieder auftauchen und in allen selbstorganisierten Kontexten eine Rolle spielen, etwa mangelnde Transparenz, subkulturelle Selbstbezogenheit, informelle Machtstrukturen und Hierarchien, drängen sich auch hier auf und werden von den Projekten unterschiedlich thematisiert.

M otivation , M obilisierung und E mpowerment Eine besonders große Herausforderung liegt aus Sicht der Aktiven in der Mobilisierung und Selbstermächtigung von Geflüchteten. Wie kann die/der Einzelne darin bestärkt werden, aus der staatlich verordneten Passivität herauszutreten, die eigene Lage als veränderbar zu begreifen und entsprechend Kräfte zu mobilisieren? Wie muss Empowermentarbeit für Geflüchtete ausgestaltet werden, um sinnvoll und nachhaltig zu wirken? Mobilisierung und Empowerment meint dabei aus Sicht der Akteur_innen nicht, dass ein_e jede_r Aktivist_in wird und sich in die politische Arbeit einbringt. Es geht den Projekten vielmehr darum, ein Bewusstsein für die eigene und die kollektive Handlungsmacht zu entwickeln, Selbst- und Verantwortungsbewusstsein zu fördern und Geflüchtete auf der individuellen Ebene darin zu bestärken, ihre Rechte einzufordern. Ziel ist, sie in ihrem Wunsch nach einer selbstbestimmten Lebensführung zu unterstützen, um so letztlich ihre Lebenssituation zu verbessern: »[T]o get into this level of understanding, to see their responsability in the struggle – that is empowerment« (Interview Refugees4Refugees). Dieses Verständnis von Empowermentarbeit beschränkt sich nicht auf Geflüchtete. Auch die Zivilgesellschaft muss in diese Arbeit stärker einbezogen werden. Ein Leitgedanke ist dabei, dass auch bei Unterstützer_innen und Bürger_innen ein Umdenken erfolgt und diese der eigenen Handlungs- und Gestaltungsmacht innerhalb der Gesellschaft gewahr werden. Eine Besonderheit ist die Verschränkung von (aufsuchender) Sozialarbeit und der politischen Mobilisierungs- und Empowermentarbeit (vgl. Interview Stop Deportation Group,

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Interview iwspace, Interview Refugees4Refugees). Wie weiter oben deutlich wurde, ist Solidarität unentbehrlicher Bestandteil der politischen Arbeit und die Unterstützung von Geflüchteten Teil des Selbstverständnisses der Projekte. Dies bringt zusätzliche Anforderungen mit sich. Wie schwierig der zu leistende Spagat in der Praxis sein kann und welche weiteren Schwierigkeiten im Kontext von Empowermentarbeit auftauchen, zeigen die folgenden Abschnitte.

Ohnmacht, Misstrauen und Ängste Misstrauen, Angst und das Gefühl von Ohnmacht führen mitunter dazu, dass Treffen und Angebote für Geflüchtete nicht wahrgenommen werden. Davor sind auch Angebote selbstorganisierter Refugee-Gruppen nicht gefeit. Nach Einschätzung des Aktivisten Rex Osa, Gründer der Stuttgarter Initiative Refugees4Refugees, bestehen seitens vieler Geflüchteter Ängste vor politischem Engagement aufgrund negativer Erfahrungen im Herkunftsland oder aus Sorge um das eigene Asylverfahren in Deutschland (vgl. Interview Refugees4Refugees). Viele Asylbewerber_innen befürchten, die Teilnahme an politischen Aktionen und Protesten könne sich negativ auf den eigenen Asylantrag auswirken und gar zu einer Abschiebung führen. Einige der Gesprächspartner_innen berichteten, dass ihnen von Asylsuchenden großes Misstrauen entgegengebracht werde und die Sorge bestünde, sie wollten diesen schaden. In den Unterkünften herrsche zudem die Befürchtung, durch ein Engagement Ärger mit der Heimleitung zu provozieren, womit weitere negative Folgen verbunden sein könnten (vgl. Interview Stop Deportation Group, Interview Refugees4Refugees). Hier zeigt sich erneut ein Dilemma: Bereits vorhandene Ängste können sich durch das von Kontrolle dominierte Leben im halboffenen Lagersystem einer Sammelunterkunft verschärfen.17 Für neu ankommende und unter Umständen traumatisierte Nichtmuttersprachler_innen ist des Weiteren nicht immer ersichtlich, mit welcher Motivation Außenstehende in die Unterkünfte kommen. Der Vertrauensauf bau wird dadurch deutlich erschwert: »It is difficult for them to trust actors from the civil society, because they might think that you are working for the Bundesamt« (Interview Refugees4Refugees). Diese Aussage bringt zum Ausdruck, wie zentral die Rolle von selbstorganisierten Refugee-Initiativen ist, die interkulturelle Erfahrungen mitbringen und oftmals über vielfältige Sprachkompetenzen verfügen. Sie sind es, die die nötige Transparenz herstellen und Misstrauen abbauen können, indem sie in direkten Kontakt mit 17 | Pieper (2008: 355) zufolge sind Sammelunterkünfte als Teile eines »dezentralen halboffenen Lagersystems« zu betrachten, in welchem die Asylsuchenden festgehalten, kontrolliert und verwaltet werden. Verbunden mit dem Ausschluss vom Arbeitsmarkt und dem Sachleistungsprinzip besteht für die Betroffenen wenig Spielraum für eine selbstbestimmte Lebensführung.

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den Neuankommenden treten. Die Frage, ob Newcomer_innen sich politisieren, hängt ferner davon ab, wie vertraut sie mit dem deutschen Rechtssystem sind. Eine entsprechende Unkenntnis und mangelnder Informationszugang können hier dazu beitragen, dass Menschen sich eher zurückziehen, anstatt (politisch) aktiv zu werden. Und ein weiterer Faktor ist entscheidend: der Grad an Politisierung vor der Ankunft in Deutschland. Zahlreiche Aktivist_innen waren im Heimatland bereits politisch aktiv, oftmals als Regimegegner_innen. An den Protesten im Jahr 2012 beteiligten sich anfangs mehrheitlich Oppositionelle, Anarchist_innen und Kommunist_innen aus dem Iran und aus Syrien. Zu bedenken gilt jedoch, dass längst nicht alle Geflüchteten, die nach Deutschland kommen, über politische Erfahrungen oder ein politisches Interesse verfügen.18

Mangel von Partizipation, Vernetzung und Geduld Ein zweiter Grund, der zum Misslingen von Empowermentarbeit führen kann, ist die fehlende Nähe zu den Betroffenen. Dies schließt auch die räumlich-geografische Nähe ein. Zwar gibt es heute ein sehr vielfältiges Angebot an Unterstützungsprojekten und Ideen für Newcomer_innen; längst ist Solidarität mit Geflüchteten kein gesellschaftliches Randphänomen mehr (vgl. Jakob 2016). Viele der Angebote beschränken sich jedoch noch immer auf den städtischen Raum. Zahlreiche Projekte stehen vor dem Problem, ein mehr oder weniger sinnvolles Konzept entwickelt zu haben, welches jedoch keine Abnehmer_innen findet. Dies ist häufig darauf zurückzuführen, dass es den Projekten an direktem Kontakt zu den Communities, an persönlichem Austausch und der konkreten Zusammenarbeit mangelt. Viele selbstorganisierte Geflüchteteninitiativen verfügen über diesen so essenziellen persönlichen Zugang, werden ihrerseits wiederum jedoch nicht wahr- bzw. ernst genommen. Der Gründer des Vereins Refugees Emancipation, Eben Chu, der 2009 damit begann, selbstverwaltete Internetcafés in den isolierten Gemeinschaftsunterkünften aufzubauen, richtet seine Kritik daher auch an die zahlreichen Unterstützungsgruppen: »Because, it is simple, you can invite some refugees to the center, ask them ›What is your problem‹. And then build a concept. But it can never be effective if you do not really, I say ›fundamental grassroot research‹, which does not mean sitting in a center and inviting people. There is already a refugee organisation dealing with these issues! 18 | Zu diesem Schluss kommen auch die Autor_innen Ataç, Krohn, Schillinger, Schwiertz und Stierl (2015), die beschreiben, dass einige der Aktivist_innen »ohne explizit politische Biografie« erst in Deutschland aufgrund ihrer ausweglosen Situation aktiv werden.

»If we don’t organise for ourselves, who else will?« So what you should do, is to find the means, to go to the Internetcafés and talk with the refugees, in their space, in their environment, get their reality, let them develop the app themselves. You could just give them the frame, and it might be very technical, but let them develop it from their perspective […]. But it is still very difficult to pass through this.« (Interview Refugees Emancipation)

Empowermentarbeit wird demnach ver- bzw. behindert, wenn sie nicht bei den Betroffenen selbst ansetzt. Für diesen Prozess der Wahrnehmung und Förderung von bereits bestehenden selbstorganisierten Initiativen ist seitens der Zivilgesellschaft, der Unterstützerkreise und der politischen Entscheidungsträger ein Perspektivwechsel erforderlich: »I’ve been to many meetings. No matter what you see, people still, they lack the patience, this bridge, and the capacity to built this bridge. They are many good ideas, but this bridge, to see, how can I hand it over – that was part of our own problem. That was our own problem. Some organizations wanted to help us, but then they are like: ›Can they manage the finance?‹. Money is too important for them.« (Interview Refugees Emancipation)

Vertrauen und die Bereitschaft, Verantwortung abzugeben und zu übertragen, spielen insofern eine maßgebliche Rolle. Nach Einschätzung von Eben Chu fehlt es an Personen, die diese Bereitschaft und die entsprechenden Vermittlungskompetenzen mitbringen. Dies äußere sich besonders dann, wenn es um Fragen der Finanzierung geht. Wie schwierig sich der Umgang mit dem Thema Geld gestaltet, soll später im Text weiter aufgezeigt werden. Die Ausführungen machen deutlich, dass Angebote verstärkt aus dem Zentrum in die Peripherie verlagert werden sollten, d. h. aus dem Stadtinneren in die Unterkünfte. Eben Chu fasst zusammen: »The best form of challenging civil society, challenging the system, is to go to that places where they put fear, intimidation, isolation and discrimination. We fight them from that spot. Because that is where you give them the power back. It is not by pulling them to the center and telling them all the good news, all that ›We can support you‹. You have to go to that places and show that solidarity and build instruments to empower them.« (Interview Refugees Emancipation)

Eine zusätzliche Herausforderung stellt die begrenzte Erreichbarkeit besonders marginalisierter Gruppen dar: Diejenigen, die ohnehin bereits aktiv sind, erreicht man ohne weiteres, diejenigen, die ihre rechtliche Situation und ihre Möglichkeiten kennen oder die ihr Recht auf Selbstbestimmung einfordern wollen, ebenso. Für einige ist es der Kontakt zu linken und antirassistischen (Unterstützer-)Gruppen, der den entscheidenden Anstoß für das eigene Ak-

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tivwerden gibt. Wie kann es jedoch gelingen, weniger leicht zu erreichende Gruppen, etwa Frauen mit Kindern anzusprechen, diese zu empowern und deren Interessen ebenfalls einzubinden und zu vertreten? Frauen sind häufig besonders isoliert. Zunächst einmal bilden sie in den meisten Unterkünften die Minderheit. Auch wird ihnen in einigen Fällen von Familienmitgliedern verboten, an Treffen teilzunehmen. Rex Osa berichtete von einer Frau, die er bereits einige Jahre zuvor kennengelernt und auf die monatlichen Treffen hingewiesen hatte, die sich jedoch erst meldete, als sie konkret von einer Abschiebung betroffen war und praktisch nichts mehr für sie unternommen werden konnte (Interview Refugees4Refugees). Fälle wie diese sind nicht selten. Initiativen wie Women in Exile  & Friends und International women’s space schaffen diesem Problem Abhilfe, indem sie gezielt Frauen aufsuchen und unterstützen, ihre Marginalisierung und Problemlagen öffentlich machen und ihre Interessen politisch vertreten. Nach der deutschlandweiten Sommer-Floßtour 2014 besuchten die Frauen von Women in Exile & Friends im Sommer 2016 im Rahmen einer Bustour Unterkünfte und Organisationen in verschiedenen Städten, trafen Frauen, boten Workshops zu verschiedensten Themen an und führten politische Aktionen durch. Die feministische Initiative International Women’s Space (iwspace), die im ersten Band dieses Buches vorgestellt wurde, dokumentiert die Lebenssituation geflüchteter Frauen in Deutschland und Europa und tritt öffentlichkeitswirksam auf.19

Aktiv werden und aktiv bleiben – Über die hohe Fluktuation im Engagement Eine Besonderheit des Refugee-Aktivismus ist die Unstetigkeit des Engagements. Zwar ist eine hohe Fluktuation unter Engagierten in sozialen Bewegungen nicht außergewöhnlich. Dennoch ist das Engagement von Geflüchteten durch die gravierenden Lebensumstände als ein Sonderfall zu betrachten. Allein die Tatsache, dass etwa geduldete Aktive jederzeit von Abschiebung bedroht sind und es immer wieder zu einem Wegfall bestimmter Personen bis hin zum völligen Zusammenbruch des Engagements durch Abschiebungen, Wegzug oder andere einschneidende Entwicklungen kommen kann, zeigt, dass ein langfristiges Aktivsein eher unwahrscheinlich ist (vgl. Interview iwspace). Hinzu treten weitere Faktoren, die ein dauerhaftes Engagement hemmen:

19 | 2016 brachte die Initiative ein eigenes Buch heraus: In unseren eigenen Worten. Geflüchtete Frauen in Deutschland erzählen von ihren Erfahrungen. Erschienen im Selbstverlag.

»If we don’t organise for ourselves, who else will?« »A refugee, who is active today, the moment he gets residency right, he is trapped into the second phase of stress of the integration: he wants to be integrated, wants to get a job, take care of himself, cover up some spaces that he has lost before, take care of his familiy, he wants to start a new life, wants to be good, to be able to get a permanent residency.« (Interview Refugees4Refugees)

Mit dem Erhalt einer Aufenthaltsgenehmigung steigt somit nicht nur der gesellschaftliche Integrations- und Assimilationsdruck, sondern auch das Bedürfnis nach einem Neubeginn. Hierin zeigt sich, dass die Bedingungen für ein zivilgesellschaftlich-politisches Engagement nicht nur während des Asylverfahrens erschwert sind, sondern ein Aktivbleiben mit einem Aufenthalt weniger wahrscheinlich wird. Hinzu kommt, dass das Bestreben, irgendwann einmal einen dauerhaften Aufenthalt zu bekommen, für viele gegen ein weiteres politisches Engagement spricht (vgl. Interview Refugees4Refugees). Umso wichtiger scheint es, Modelle des Engagements zu entwickeln und Möglichkeiten zu schaffen, die den geflüchteten Aktiven eine (berufliche) Perspektive geben und finanzielle Sicherheit gewährleisten. Der Aktivist Asif Gillani, unter anderem aktiv in der Initiative Stop Deportation Group, verfolgt deshalb das Ziel, mithilfe einer Vereinsgründung die Schaffung von Stellen zu erleichtern und eine monetäre Anerkennung, etwa durch Aufwandsentschädigungen, zu verwirklichen: »Refugees want to be active, but they need documents. Passports. And who has a passport, doesn’t want to be active anymore. They are more interested to work with money. That is why I try to build up a Verein and to create some jobs. […] This is always a problem of refugees, to run behind the money. So my plan is to pay a small amount of money, in order to run kind of a normal life. We could give them 100 € per month for their voluntary work. BVG-Tickets [ÖPNV, Anm. d. Verf.] also are a big issue.« (Interview Stop Deportation Group)

Die aufgeführten und zum Teil einander bedingenden Beschwernisse und Herausforderungen hemmen das Empowerment auf der individuellen Ebene und wirken sich schließlich auch auf die gesamtgesellschaftliche Mobilisierung von Newcomer_innen aus. Auf der Projektebene, das heißt hinsichtlich der täglichen Arbeit selbstorganisierter Gruppen, bringt die mangelnde bzw. instabile Mobilisierung ebenfalls negative Folgen mit sich: Die fehlende Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, führt dazu, dass einige wenige Aktive viel leisten – und trägt damit zu einer Überlastung einzelner bei. Rex Osa erzählt davon, wie schwierig es sein kann, die Verknüpfung von politischer Arbeit und Sozialarbeit dauerhaft aufrechtzuerhalten:

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Marlene Rudlof f »It is very difficult to bridge political work and social work, it is burning. […] For nine years, it has been a hell of stress and especially in the last five years. I changed my Handy, because I lost my whatsapp. When I opened my Handy, there were too many files. People just whatsapp their case file from page 1 to page 50 and at the moment that I know it is a deportation threat, I am committed to it. So it’s really difficult! And sometimes it is so hard, when I escort those people to put pressure on the authorities, and then, at the end of the day, they have the feeling, that I will make trouble for them. They start to get scared.« (Interview Refugees4Refugees)

Um das zunächst bestehende Misstrauen der Newcomer_innen aufzulösen, ist seitens der Aktiven ein hohes Maß an Einfühlungsvermögen erforderlich. Während eines Abschiebungsprozesses, in problematischen Asylverfahren und Lebenssituationen müssen Menschen zum Teil sehr intensiv begleitet und unterstützt werden. Ein daraus resultierender Nebeneffekt ist, dass die politische Arbeit, etwa das Verfassen von Pressemitteilungen, Rechtseinsprüchen, Kampagnentexten etc., angesichts des hohen praktischen Unterstützungsbedarfs in den Hintergrund gerät und häufig liegen bleibt. »Before, I wrote a lot of texts, but I cannot again, because the brain is too full«, so Rex Osa. Auch Lea Höppner von iwspace beschreibt, wie schwierig es ist, die politische Arbeit nicht aus den Augen zu verlieren, wenn gleichzeitig ein hoher praktischer Unterstützungsbedarf besteht (vgl. Interview iwspace). Engagierte stehen folglich unter einem enormen Druck, sowohl zeitlich, als auch emotional und psychisch. Da Abschiebungen häufig nachts vollzogen werden, erhalten sie zum Teil auch nachts Anrufe, müssen unter Umständen schnell handeln und Hilfe organisieren, Kontakte herstellen und Positionspapiere verfassen, beispielsweise um Abschiebungen zu verhindern. Um ein Ausbrennen Einzelner zu vermeiden, ist es daher notwendig, mehr Menschen zu erreichen und zu empowern und die in den Initiativen Mitwirkenden zu ermutigen, Verantwortung zu übernehmen. Tresor beschreibt, wie bedenklich die Abhängigkeit von einer Führungsperson ist und wie fatal die Auswirkungen, wenn diese plötzlich wegfällt. Er fordert eine altersunabhängige Öffnung der Initiativen für neue Aktive: »Sobald diese Person geht, funktioniert die ganze Gruppe nicht mehr. Und das ist ein riesiges Problem. […] Und ich selbst habe die Erfahrung gemacht, mit deutschen und europäischen Aktivisten, die 15, 20 Jahre im Aktivismus sind, dass sie die jungen Leute, die neu ankommen und ihre Erfahrungen mitbringen, nicht akzeptieren. Aber auch die Neuen wollen sich ausdrücken, sich in den politischen Kämpfen engagieren und teilhaben. Und dann machen die diese frustrierende Erfahrung, überhaupt nicht ernst genommen zu werden. Ich fände es besser, wenn jeder sich selbst als Leader begreifen kann, aber immer aufbauend auf der Erfahrung der anderen. Aber um dahin zu kommen,

»If we don’t organise for ourselves, who else will?« braucht es viel Zeit. Trotzdem: wir sollten daran festhalten.« (Interview Voix des migrants, Übers. d. Verf.)

Eine Strategie, um Öffnung und Wissentransfer zu erreichen, ist es, Menschen durch Veranstaltungen zusammenzubringen und so Neuankömmlinge und Aktivist_innen zu vernetzen. Denn der Beginn des Aktivwerdens vollzieht sich meist mit der Teilnahme an Veranstaltungen. Da gesetzliche Verbote, wie die teilweise wieder etablierte Residenzpflicht, und eingeschränkte finanzielle Mittel praktische und logistische Hürden mit sich bringen, stellt sich für die Initiativen die Frage, wie Menschen besser darin unterstützt werden können, an bestimmten Events teilzunehmen. Viele lösen dieses Problem, indem gezielt Veranstaltungen in oder in der Nähe von Unterkünften durchgeführt werden. Die Geflüchteten erfahren außerdem größtmögliche Unterstützung zur Ermöglichung einer Teilnahme an weiter entfernten Orten. Aufgrund der genannten Hürden ist dieser Weg jedoch häufig versperrt. Aus der Sicht einiger Gesprächspartner_innen ist darüber hinaus ein stärkeres Bewusstsein für die strukturell erzeugte und rechtlich institutionalisierte Ungerechtigkeit gegenüber Geflüchteten als Grundlage des politischen Handelns notwendig (vgl. Interview The Voice und Interview Refugees4Refugees). Unter Umständen rechtfertigt dies das politische Mittel des zivilen Ungehorsams: »We do not respect any law that doesn’t respect us as humans«, so Rex Osa. Das Engagement umfasst daher auch die Unterstützung bei einer strafrechtlichen Verfolgung. Doch auch hier bestehen Misstrauen und Angst, sodass Newcomer_innen sich häufig gegen den zivilen Ungehorsam entscheiden. Um Interessierte dabei zu unterstützen, eine Erlaubnis zu bekommen, werden Einladungen geschrieben und Fahrkarten bereitgestellt (vgl. Interview Refugees4Refugees). Eine weitere Herausforderung hinsichtlich des Auf baus einer Community bringt die Heterogenität der Akteur_innen mit sich: »So, we started to mobilize refugees in the Heims. Then I realized, that, when you have 22 nationalities in the Heims, they all have different cultures and they fight against each other. Not understanding that they are all faced with the same problem. […] And then even the Germans are afraid to go there.« (Interview Refugees4Refugees)

Gelöst wird dieses Problem unter anderem, indem die einzelnen Gruppen in den Heimen eine Person bestimmen, die ihre Interessen und Sprachen in Treffen und Diskussionsrunden repräsentiert. Um die Community trotz bürokratischer Hürden voranzubringen und das Netzwerk auf andere Städte und Regionen in Baden-Württemberg auszuweiten, ermutigte Refugees4Refugees Geflüchtete, eigene Initiativen in den Unterkünften und Städten zu gründen. Der Appell von Rex Osa lautete: »Create your own initiative!« (Interview Refugees4Refugees). So entstanden verschiedene Initiativen wie die Refugees

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Initiative Schwäbisch Gmünd, Refugee Initiative Landau und Refugee Initiative Waiblingen mit eigenen Facebookseiten. Die Beschreibung zeigt, dass eine erfolgreiche Empowermentarbeit nicht einseitig erfolgen kann, sondern das aktivierende Potenzial aller Beteiligten benötigt: »Empowerment is not just like sitting down and waiting for it to come to you. You have to move to look for it« (Interview Refugees4Refugees). So geht es auch darum, durch den Besuch von Veranstaltungen das Wissen über die eigenen Rechte zu erweitern und zu teilen, und im Kontakt mit anderen Aktivist_innen von diesen zu lernen, sich selbst zu (re-)positionieren und schließlich zu ermächtigen. Rex Osa begreift Empowermentarbeit als Prozess und berichtet über seine Anfänge als Aktivist: »I remember the first time I appeared in a public event to represent the network of The Voice, I was only 1,5 years in The Voice […]. It was an AG Migration, […] there were students from universities […]. So they invited me to speak and I had to be in various discussions with people that have been for 30 years in different migration campaigns like Kein Mensch ist illegal. Me, I was new. And I knew nothing about migration. Really, I was swallowed with my local politics in Nigeria. […] And I had to sit down in a one-weekprogramme where they talked about autonomy of migration. So what could I say? […] Sometimes I had to telephone these old activists […]. So, I made mistakes, but that is how I learned.« (Interview Refugees4Refugees)

Angesichts der hohen Marginalisierung und Isolierung von Geflüchteten scheint es aus der Sicht des Aktivisten unverzichtbar, die politischen Kämpfe der Geflüchteten sichtbar zu machen, um so auch anderen Mut zu machen und die Vernetzung voranzutreiben: »My responsibility  […] was to make the struggles of the different refugee strikes public.« Empowerment basiert demnach auf Austausch und Vernetzung und setzt – as a »matter of community« – ein breites Netzwerk voraus.

A rbeitsformen der S elbstorganisation und  Z usammenarbeit mit U nterstüt zer _ innen Die Arbeit von Geflüchtetenselbstorganisationen ist stark transnational geprägt. Neben den individuellen (biografischen) transnationalen Bezügen der Akteur_innen zeichnet sich dies auch auf politischer Ebene ab, durch eine grenzüberschreitende Ausrichtung.20 Die Initiativen und Projekte setzen sich

20 | Zum transnationalen Charakter der Bewegung: https://asylstrikeberlin.wordpress. com und http://refugeecongress.wordpress.com

»If we don’t organise for ourselves, who else will?«

in ihrem politischen Denken und Handeln über nationale Grenzen hinweg.21 Mittlerweile existieren zahlreiche Netzwerke inner- und außerhalb Europas, die dezentral und grenzüberschreitend agieren.22 Immer mehr Aktivist_innen verknüpfen ihre lokale politische Arbeit in Deutschland mit politischer Arbeit bzw. Bildungsarbeit, sogenannter transnational political education (vgl. Interview Refugees4Refugees), in den Heimatländern. Für einige der Initiativen ist auch der Versuch, Infrastrukturen und Kooperationen in den Herkunftsländern aufzubauen und einen kontinuierlichen Informationsaustausch zu gewährleisten, integraler Bestandteil der eigenen Arbeit. Afrique-Europe-Interact (AEI) beispielsweise gliedert sich in verschiedene Sektionen mit eigenen Länderschwerpunkten. So gibt es innerhalb der Organisation eine Gruppe von Malier_innen, die mit der Association des Maliens expulsés (AME) in Mali zusammenarbeitet. Anlässlich des Weltsozialforums im Jahr 2011 organisierte die Gruppe die Bamako-Dakar-Karawane für Bewegungsfreiheit und selbstbestimmte Entwicklung. Aus der Sicht der Aktiven ist es wichtig, Präsenz zu zeigen in den weiß-europäisch dominierten Netzwerken der Entwicklungszusammenarbeit vor Ort und Kritik an neokolonialen Verhältnissen zu üben. Dabei wird immer auch beabsichtigt, die Menschen vor Ort zu unterstützen. In Tunesien arbeitet der Verein mit Familien von vermissten Migrant_innen zusammen. Seit 2014 gibt es eine No Border-Gruppe in Tunesien. In Marokko wurden Frauenschutzhäuser aufgebaut. Die Initiative Voix des migrants verfolgt ähnliche Ziele, wie die Beschreibung von Tresor verdeutlicht: »In den afrikanischen Ländern sind wir vor allem in der Vernetzung aktiv und wollen einen Austausch anregen. Wir informieren die Menschen vor Ort, zum Beispiel über Rückübernahmeabkommen. Wir sind in vielen Ländern aktiv, wollen dort Vereine miteinander vernetzen und auch diejenigen unterstützen, die im Land bleiben wollen. Da geht es dann darum, Kontakte zu knüpfen, lokale Projekte zu unterstützen.« (Interview Voix des migrants, Übers. d. Verf.)

In Deutschland wiederum versuchen die Projekte über globale Zusammenhänge, etwa zwischen Landgrabbing und Flucht, aufzuklären, organisieren 21 | Indem sich Geflüchtetenselbstorganisationen in ihrem kollektiven politischen Handeln, etwa bei Protestmärschen der auferlegten Residenzpflicht widersetzen und sich für die Bewegungsfreiheit einsetzen, werden nationalstaatliche Kategorien faktisch infrage gestellt und postnationale Räume geschaffen (vgl. Ataç et al. 2015: 7). In Anlehnung an Arjun Appadurai (2001; 2011) können die Aktivist_inen als kosmopolitische Subjekte bezeichnet werden aufgrund ihrer widerständigen Mobilitäts- und Migrationspraxis und ihrer irregulären Grenzüberschreitungen. 22 | Zum Beispiel Welcome 2 Europe, CISPM, Afrique-Europe-Interact (AEI) oder Watch the med Alarmphone.

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zum Teil bundesweit Demonstrationen gegen Abschiebungen und führen politische Aktionen vor den verschiedenen Botschaften und Behörden durch. Was bedeutet die transnationale Arbeit für die Akteur_innen und inwiefern stellt sie eine Herausforderung dar? Und welche Schwierigkeiten bringen selbstverwaltete Arbeitsstrukturen im Bereich der Geflüchtetenselbstorganisationen mit sich?

Rollenbilder, Macht- und Identitätsfragen Abgesehen von den vielfältigen Chancen, die eine transnationale Vernetzung bietet, stellt diese Arbeitsform die Initiativen vor besondere Herausforderungen. »Das Aktivsein dort und hier« (Interview AEI) ist für viele Aktivist_innen mit ambivalenten Gefühlen verbunden, und ein gutes Gleichgewicht aus transnationaler und lokaler Arbeit ist nicht selbstverständlich. Eine der größten Schwierigkeiten liegt im Umgang mit dabei auftretenden eigenen und externen Erwartungen, einhergehend mit Fragen von Macht und Identität. Eine essenzielle Frage, die sich für die Aktiven der Initiative Afrique-Europe-Interact immer wieder stellt, ist die nach der Rolle der Europäer_innen und der Afrikaner_innen und nach der eigenen Positionierung in diesem Gefüge. Riadh Ben Ammar, der bei Afrique-Europe-Interact insbesondere für die Zusammenarbeit mit Tunesien verantwortlich ist, beschreibt dies folgendermaßen: »Transnationale Arbeit ist nicht einfach. Thema ist bei uns vor allem die Rolle der Europäer und die Rolle der Afrikaner. Unsere Rolle hier und dort. Die Rolle der Menschen dort und hier. Warum haben wir unsere Rolle dort, warum haben die keine Rolle hier?! […] Ich als Migrant bin in einer heiklen Position: In Tunesien bin ich kein Deutscher, aber auch nicht wirklich Tunesier. Und in Deutschland bin ich weder ›richtig‹ Deutsch, noch ›richtig‹ Tunesier. Es ist schwierig.« (Interview AEI)

Auch die Verteilung der finanziellen Ressourcen ist Ben Ammar zufolge ein schwieriges Thema in der transnationalen Zusammenarbeit, welches Zielkonflikte und Machtgefälle erzeugt: »Und auch das Thema Geld […]. Wie wir Aktivisten hier das Thema Geld sehen und wie die Leute dort es sehen. Aktive Leute dort, die brauchen Unterstützung von uns. Aber die linke Szene hier sagt: ›Nein, das Geld geht nur in die Öffentlichkeitsarbeit.‹ Aber die Leute dort sehen es auch als Möglichkeit zu überleben. Und Menschen, die aktiv sind, sind meistens Menschen, die nicht arbeiten. Sie wollen auch nicht arbeiten, sie wollen kämpfen.« (Interview AEI)

Aus der Perspektive des Aktivisten scheint es daher dringend notwendig, darüber zu diskutieren:

»If we don’t organise for ourselves, who else will?« »Und deswegen versuchen wir immer wieder über das Thema Geld zu reden. Und das ist ein langer Prozess. Und wir verändern uns. Und viele Freunde von mir, wir diskutieren darüber […]. Wie können wir ein Gleichgewicht finden zwischen: ›Nee, das Geld geht nur in den Aktivismus‹ und einer sozialen Unterstützung. Denn wir merken: Ohne dass wir die Leute in ihren sozialen Problemen unterstützen, geht das nicht, funktioniert das nicht. Die meisten Menschen, die hier leben, die haben Geld, die haben Familie, die studieren.« (Interview AEI)

Globale Ungleichheit, Privilegien und Paternalismus spiegeln sich auch in der Zusammenarbeit der Projekte im transnationalen Kontext wider. Damit verbunden ist auch die Frage nach der Gestaltung von Entscheidungsprozessen: »Warum entscheiden wir hier und nicht die dort? Diese Frage ist wichtig. Ich sage nicht, dass es nicht geht. Aber wir brauchen Zeit und Geduld« (Interview AEI). Das Beispiel verdeutlicht, dass die Arbeit der selbstorganisierten Gruppen im Bereich der Unterstützung von Geflüchteten und der politischen Arbeit immer wieder langwierige Aushandlungsprozesse erfordert und eine Bereitschaft zur Veränderung voraussetzt. Die Reflektion und Evaluation der eigenen Arbeit bleibt dabei eine beständige Aufgabe.

Arbeitsstrukturen und Kommunikation Eine andere Schwierigkeit ergibt sich durch die notwendige Einarbeitung in die (bestehenden) politischen (Arbeits-)Strukturen. »Viele Migrantinnen oder Refugees, die neu ankommen, die wissen gar nicht, wo bin ich, was heißt Aktivismus, was heißt ›links‹, warum sind die so? Warum tragen sie diese Klamotten?« (Interview AEI). Wenn zuvor wenig oder keine Erfahrungen mit selbstverwalteten Strukturen oder linken und antirassistischen Bewegungen gemacht wurden, herrscht diesbezüglich oftmals Unwissenheit. Bereits die in selbstorganisierten Arbeitsgruppen weitverbreitete Kommunikations- und Arbeitsstruktur »Plenum« ist nicht allen vertraut: »Viele Leute haben noch nie in ihrem Leben in einem Plenum gesessen. Und dann kommen sie in Kontakt mit Menschen, die seit Jahren Politik machen, und die machen ihre Plena. Und dann musst du Plenum machen, und musst ruhig sein. Und da musst du […] Da sitzen dann manche Leute drin, die sagen: ›Komm, hört auf zu reden, lasst mal machen.‹« (Interview AEI)

Die unterschiedlichen Kommunikationskulturen und damit verbundenen Erwartungen der Akteur_innen können innerhalb einer Gruppe zu Spannungen und Konflikten führen. Ebenso herrschen unterschiedliche Vorstellungen bezüglich der Zeitplanung und Organisation politischer Aktionen und Events:

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Marlene Rudlof f »Die Deutschen wollen drei, vier Monate vorher anfangen, um eine Aktion zu planen. […] Auch in der transnationalen Arbeit. Wenn wir eine Aktion machen wollen in Tunesien im September, dann fangen wir im März an! Und die Leute in Tunesien lachen und sagen, ›Hey, eine Woche vorher, zwei Wochen, okay‹. Hier geht alles zack-zack, weniger spontan. Und da gibt es Leute, die sehen das anders. Und die sagen nicht, dass es falsch ist. Aber sie sehen es anders.« (Interview AEI)

Das Beispiel veranschaulicht, dass es für die Initiativen nicht einfach ist, neue Menschen in die Arbeit zu integrieren. Um eine Überforderung seitens der Neuzugänge zu vermeiden, sollte ihnen daher Geduld und Offenheit entgegengebracht werden, so Riadh Ben Ammar weiter: »Wir haben immer Schwierigkeiten, neue Leute zu gewinnen. Die sehen einen großen Berg. Die brauchen Zeit, um ranzukommen. Afrika ist so groß. Die Leute finden unser Netzwerk cool. Und sie kommen ins Plenum, sind überfordert. Das [Plenum, Anm. der Verf.] findet alle zwei oder alle drei Monate statt und ist richtig voll, also vier Länder, oder drei Länder, auf Französisch und Deutsch. Und wir kriegen es nicht hin, alles an einem Wochenende zu besprechen. Und die neuen Leute, die kommen, die kriegen von hier ein bisschen, von dort. Es braucht Zeit. Und du musst auch Lust auf die Veränderung dieser europäisch-afrikanischen Beziehung haben. Nur so findest du deinen Platz. […] Und wir müssen immer weiter überlegen: wie können wir offen bleiben.« (Interview AEI)

Die verschiedenen Sprachen stellen indessen weniger eine Hürde dar: Um das Sprachproblem zu lösen, werden im Rahmen von Arbeitsgruppen Repräsentant_innen nach Nationalitäten bzw. Sprachen bestimmt. In Plena arbeiten die Gruppen mit Simultanübersetzung. Ein weiteres mit der Sprachvielfalt verbundenes prägendes Merkmal selbstorganisierter Geflüchteter und Migrant_innen ist die bereits angesprochene starke Heterogenität der Gruppen und die biografische Vielschichtigkeit der Einzelpersonen. Neben ethnischen, nationalen, religiösen und genderspezifischen Zugehörigkeiten spielen hier auch aufenthaltsrechtliche Aspekte eine Rolle, aus denen sich unterschiedliche Perspektiven, Interessen, Zielvorstellungen u. a. ableiten. In der Vergangenheit bestand etwa das Problem, dass geflüchtete Frauen in der männerdominierten Community als politische Subjekte nur bedingt Gehör fanden und ihre frauenspezifischen Bedürfnisse, Probleme und Interessen nur eingeschränkt wahrgenommen wurden. So berichtete die Aktivistin Bethi Ngari in einem Interview mit der Kulturwissenschaftlerin Nina Kullrich: »The first difficulties we had were in 2002 when we broke from the mixed-gender refugee group we were working in. In the mixed group, women’s issues were not considered being issues at all. Sexual harassment and lack of privacy, for example, were of no interest to them. So we started to fight from our own perspective. They were not happy that we

»If we don’t organise for ourselves, who else will?« wanted to form a women’s group, so they accused us of being feminist and lesbian. This of course did not stop us from achieving our goals. We consider our group as a safe space for all women to discuss strategies and to bring issues, which oppress women, LGBT and other disadvantaged groups, into the open and fight for change.« (Bethi Ngari, in: Kullrich 2017: 219)

Der Versuch, feministische Ansätze in die politische Arbeit zu integrieren und mit Perspektiven des refugee struggles zu verbinden, wurde seitens männlicher Aktivisten torpediert. Einige geflüchtete Frauen reagierten darauf, indem sie sich zu Beginn der 2000er Jahre zu Initiativen wie Women in Exile zusammenschlossen. Auch heute bleibt die Ungleichbehandlung von Männern und Frauen innerhalb der Refugee-Bewegung ein Thema. Ngari nennt beispielhaft die Konferenz The Struggle of Refugees  – How to Go on, die Anfang 2016 in Hamburg stattfand: »The Hamburg conference was a clear example of male dominated refugee groups. They took the stage and talked about women’s issues while individual women and women’s groups were present at this conference. I hope we have all learned something from this conference and have reflected on why there are so few women in the refugee movement. Initially, we took part in the conference because we wanted to network, to exchange experiences, to attend different workshops and give a workshop on health issues of refugee women.« (Bethi Ngari, in: Kullrich 2017: 220)

Auch kulturelle Differenz spielt eine Rolle und äußert sich immer wieder in Meinungsverschiedenheiten bezüglich der politischen Forderungen: »We sometimes have different points of view. […] In 2015, one year ago, we wanted to organize one protest, that never took place actually. We invited some guys from […]. They wanted to make protest for families, to come quickly to Germany. We organized everything for them in Berlin, […] to make banners, everything. And when we invited them here […] the discussion came out about the political demands. Because we never talked about it before. And they said, ›Ok, we have demands. Our demand is that our families can come to Europe‹. We said ›Ok, no problem‹. And then some other refugees said ›We also have demands. We want to get documents. And then, they [die Eingeladenen, Anm. d. Verf.] said ›No. You don’t have to get documents. We will not allow you‹.[…] And then it went totally stupid. […] They accept demands from Syrian and Pakistani refugees, but not from African refugees. […] So finally we did not organize that protest.« (Interview Stop Deportation Group)

Um diesem Problem beizukommen, versuchen die Initiativen, sich auf das Gemeinsame zu beziehen und die strukturelle Diskriminierung, der sie als Geflüchtete ausgesetzt sind, sichtbar zu machen:

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Marlene Rudlof f »The main thing was, we started to tell them: ›We all have different cultural backgrounds, but we all have the same problem: Wether you are from from Syria, from Iraq, Nigeria, Sudan […] – it makes no difference! The same problem brought us here, only at different levels. And the same problems we are facing here. Even if you are from Syria and will get papers tomorrow, in the first place you are living in this isolation, with packed food, with more than five people in one room. And we are all here in danger of deportation. Until they give you the right to stay, you’ll sleep with that fear of deportation. If it is only for this deportation, why can’t we just unite?« (Interview Refugees4Refugees)

Die Beispiele veranschaulichen, dass selbstverwaltete Arbeit aller Ansprüche zum Trotz nicht frei von Intransparenz, Hierarchien und Ausschlüssen ist: »So it is everywhere. Not only in the antiracist movement it has to do with our, with the refugee movement as well. This hierarchy problem is everywhere. It is a problem we have to fight. But at the same time, without coming together, we cannot really identify it« (Interview Refugees4Refugees)

In den Gesprächen wurde mehrfach betont, wie wichtig diesbezüglich eine offene Auseinandersetzung, gegenseitiger Respekt und die Bereitschaft, tabuisierte Themen aufzuarbeiten, seien: »We need time to talk […]. The only thing we need is respect! When there is respect, we are free to speak. When I am able to speak, when I know, when I am sure, that you won’t shout at me, won’t blow me … then I can tell you and you gonna tell about what you think about what I feel, so not forcing me to believe.« (Interview Refugees4Refugees)

Entscheidend für die Vermittlung dieser Perspektiven sei neben der Enttabuisierung von Konfliktthemen innerhalb und zwischen den Initiativen die politische (Bildungs-)Arbeit direkt in die Unterkünfte zu bringen und die Geflüchteten dort miteinander zu solidarisieren (vgl. Interview AEI). Aus den Gesprächen ging jedoch auch hervor, dass trotz der erheblichen Unterschiede zwischen den politischen Initiativen dennoch eine recht hohe Bereitschaft vorhanden ist, Bündnisse zu schließen, um politische Wirksamkeit zu entfalten: »Almost every group from Berlin, we know each other, we work together with whatsapp, with […]. We are behind each other always. This is very helpful. It doesn’t matter if our minds are different, our agendas are different, problems are different. When we come together […]. We never have a problem, when we are together in demonstrations or meetings.« (Interview Stop Deportation Group)

»If we don’t organise for ourselves, who else will?«

Zu schwerwiegenderen Problemen kommt es häufig erst in der Zusammenarbeit mit den sogenannten Supporters (Unterstützer_innen). Dieser Problematik widmet sich der folgende Abschnitt.

Kooperation mit Unterstützer_innen Neue Allianzen und die Zusammenarbeit mit Unterstützer_innen scheinen zwar notwendig und wünschenswert. Sie zu realisieren bedarf intensiver Aushandlungsprozesse, in denen sich starkes Konfliktpotenzial entfaltet.23 Die Gründe dafür sind zahlreich und umfassen wechselseitiges Misstrauen gegenüber Vereinnahmungsversuchen, unterschiedliche Perspektiven und Interessen, Positionen, Selbstverständlichkeiten und Prioritäten. So ist die Zusammenarbeit mit der Zivilgesellschaft und Unterstützungsstrukturen noch immer stark geprägt von paternalistischen Herangehensweisen: »But the reality is that there is a very strong paternal mentality. ›We have to tell them, what is their problem and what is the solution to their problem.‹ And then, they are like children, they cannot really talk, they don’t know German and this and that […]. What I am saying is that there are positive things, you see us here, I mean, we are Refugees Emancipation, because we have a big support from civil society. But when we started 14, 15 years ago, we developed a concept which opened a new dimension of relationship between the civil society and refugees without physicality. Because the law in Germany prevented the people physically, especially the refugees, Residenzpflicht, you are not allowed to go to school etc. But we could have used the Internet as a means to open new horizons. But I was shocked, when I realized, that when we started bringing the idea and implementing it, we even had challenges from organizations that support refugees, because they were scared, they were like: ›These guys are becoming mainstream‹ … because refugee organisations should just be Mobilisierungs-Agents. ›Kannst du mir ein paar Leute mobilisieren?‹ […], So when you start forming a structure and you start showing that you can bring out the issues, and you can talk directly to the politicians, not everybody, but most organisations, that do support refugees, feel threatened.« (Interview Refugees Emancipation)

Auch Tresor von Voix des migrants übt Kritik an der Haltung einiger unterstützender Aktivist_innen:

23 | In ihrem Artikel »Challenging ›Refugees‹ and ›Supporters‹ Intersectional Power Structures in the Refugee Movement in Berlin« (erschienen 2015 in movements. Journal für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung) analysiert die Kulturanthropologin und Aktivistin Nadiye Ünsal die gruppendynamischen Prozesse und Machtbeziehungen anhand der Berliner Refugee-Bewegung um den Oranienplatz.

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Marlene Rudlof f »Selbst unter den Aktivisten […] also, ich werde jetzt nicht […]. Es gibt Aktivisten, die denken, dass sie intelligenter sind als wir. Für einen Geflüchteten, der einen intellektuellen Background mitbringt, der wird nicht akzeptieren, wenn ihm jemand, der noch nicht einmal sein Bildungsniveau hat oder vielleicht noch nicht einmal studiert hat, wenn der ihm Quatsch erzählt. Schuld daran ist dieses deutsche System, das die Menschen die hierher kommen, stigmatisiert als Ungebildete, inkompetente Nichtsnutze.« (Interview Voix des migrants, Übers. d. Verf.)

Ein Teil der Arbeit selbstorganisierter Gruppen besteht darin, die vorherrschenden paternalistischen Tendenzen sichtbar zu machen und Aktivist_innen, Unterstützer_innen sowie die Zivilgesellschaft diesbezüglich zu sensibilisieren. Riadh Ben Ammar von AEI brachte an, wie wichtig es sei, die jeweiligen Initiativen und Projekte genauer zu betrachten, Gespräche mit den neugegründeten »Willkommensinitiativen« zu führen und deren Herangehensweisen und Ansätze kritisch zu hinterfragen. Als politischer Aktivist wurde er oftmals mit den vorherrschenden Stereotypen des »Flüchtlings« konfrontiert: »Schrecklich manchmal, wie hier in Deutschland der ›Refugee‹ gesehen wird. Viele Leute, die geben irgendetwas von Zuhause: ›Ah, der Arme‹  […]. Aber, weißt du, vieles davon ist Müll. […] Und da kommen auch viele Äußerungen, die nicht in Ordnung sind.« Auch macht Ben Ammar darauf aufmerksam, dass viele der hiesigen Hilfsstrukturen sehr kurzsichtig und einseitig angelegt sind. Während Menschen aus Syrien viel Unterstützung erfahren, gäbe es beispielsweise kaum Initiativen in Deutschland, die nordafrikanische Geflüchtete unterstützen (vgl. Interview AEI). Möglicherweise aus Sorge vor Konflikten mangelt es in der Zusammenarbeit häufig an Transparenz und Offenheit im Umgang mit spezifischen Themen. Wie bereits angedeutet wurde, ist es insbesondere der Umgang mit dem Thema Geld, der die Zusammenarbeit belastet. Ben Ammar verwies darauf, dass die Arbeit in gemischten Gruppen, das heißt in Gruppen, in denen auch Unterstützer_innen mitwirken, in den vergangenen Jahren besonders schwierig geworden ist, »weil wir es nicht geschafft haben, über das Thema Geld zu sprechen« (Interview AEI). Während Unterstützer_innen aus politischen Gründen selbst entscheiden könnten, (k)einer Arbeit nachzugehen, sind Geflüchtete, die aufgrund mangelnder finanzieller und sozialer Absicherung stärker auf eine Existenzgrundlage angewiesen sind, oftmals von einem Arbeitsverbot betroffen. Daraus ergibt sich ein unterschiedlicher Bezug zu Geld. Die verschiedenen Ausgangslagen und Perspektiven bringen Ungleichheiten mit sich, die sich auf die Zusammenarbeit auswirken: »Was ist das Problem in unserer Bewegung? Das große Problem ist das Thema Geld. Und wenn wir den O-Platz oder andere Projekte anschauen – da sind Menschen, die studieren, die Projekte machen, die Geld haben. Und dann der andere, der eine Duldung

»If we don’t organise for ourselves, who else will?« in der Hand hat und der einfach in einer ganz anderen Situation ist. Ja, es ist und bleibt immer wieder ein Thema. Die linke radikale Szene, die Antira, ist klar links geprägt. Aber die Menschen, die hierher kommen […]. Ich kann nicht sagen, dass alle ›links‹ unterwegs sind. Viele Menschen, viele Migranten haben andere Vorstellungen. Wenn du zusammenarbeitest, musst du zusammen über Geld entscheiden. Aber für den jungen Studenten, der 27.000 € bekommt für Aktivitäten, für den ist es etwas anderes als für einen jungen Geduldeten, der keine Arbeit hat und keine Perspektive. Und du gibst ihm dieses Geld. Das ist etwas anderes. Ich sage nicht, dass die Migranten schlecht sind. Aber die Situation ist heikel und da gibt es Schwierigkeiten. Und meine Kritik an der linken Szene […] die will nicht darüber reden, keine Lösung finden […]. Die will nicht einsehen, dass Aktivisten Unterstützung brauchen. Die müssen Unterstützung kriegen. Welche Art Unterstützung das sein kann, darüber müssen wir sprechen. […] Nicht weil wir recht haben oder ihr recht habt. Nein, wir müssen ein Gleichgewicht finden. […] Auch ich konnte früher nicht über Geld reden.« (Interview AEI)

Es geht auch darum, die eigenen Bedürfnisse und die der anderen transparent zu machen und zu artikulieren. Bleibt dies aus, kommt es zu einer Vereinzelung statt zu einer fruchtbaren Kooperation: »Warum reden wir über Geld immer nur von außen? Immer wieder, als würde es uns nicht betreffen. ›Oh, das Problem vom Oranienplatz ist das Geld. Der andere hat geklaut.‹ Ja! – Aber haben wir mit ihm geredet und gefragt, was er braucht, um aktiv zu bleiben? […] Jeder versucht für sich, in seiner Ecke aktiv zu bleiben. Wie wir in Berlin beobachten können, ist die Atmosphäre zwischen den Gruppen nicht so gut. Und ich glaube so wird es bleiben, wenn wir es nicht schaffen, ernsthaft über solche Themen zu reden.« (Interview AEI)

Erneut offenbart sich an dieser Stelle die Dringlichkeit, schwierige und unbeliebte Themen anzugehen und gemeinsam Lösungswege zu entwickeln, um so zu verhindern, dass dieselben Themen immer wieder zu Konflikten führen und Frustrationen erzeugen. Ein weiteres problembehaftetes Thema ist Sexismus. »Das ist auch ein wichtiges und schwieriges Thema […]. Der Kampf für Frauenrechte verbindet sich mit Themen der Queer-Bewegung und der Refugee-Bewegung. Das ist ein Dach […]. Wir arbeiten zum Thema ›Refugee‹. Aber dahinter gibt es ein anderes Thema: Frauen und Sexismus und so. Und dann gibt es diesen Schock zwischen verschiedenen Welten. Der eine denkt, es geht um Migration und Bewegungsfreiheit und so, und der andere denkt ›Durch Frauen kann ich hier bleiben‹. Und die eine sagt ›Ich bin eine Frau, ich will aktiv sein, ich will denen helfen, aber ich […]‹, und die andere sagt ›Hey, wir müssen über Sexismus reden‹. Und der andere sagt: ›Hä, Sexismus?!‹. Deswegen ist es für die Refugees sehr wichtig, dass man am Anfang sagt: ›Wir sind alle unter einem

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Marlene Rudlof f Dach […], und es gibt nicht nur das Migranten- und Refugeethema‹. Aber, wenn wir in diesem Refugee- und Migrantenbereich arbeiten, wie können wir über Sexismus reden? Der Migrant sagt: ›Was hab’ ich damit zu tun?‹« (Interview AEI)

Ein potenzielles Problem der Zusammenarbeit ergibt sich außerdem aus der Motivation der Unterstützer_innen. So kann das Motiv etwa der Wunsch nach stärkerer sozialer Einbindung und Anerkennung sein. Riadh Ben Ammar gibt zu bedenken, dass die Unterstützer_innen nicht ausschließlich aktiv werden, da sie anderen helfen möchten. »Sie versuchen auch sich selbst zu helfen, ein bisschen da raus, ein bisschen was tun« (Interview AEI). Der Aktivist deutet hier an, dass Unterstützer_innen eigene Probleme mitbringen, die sich auf die Zusammenarbeit auswirken können. Hinzu kommt, dass bei vielen Geflüchteten das Bedürfnis vorherrscht, unabhängig zu sein und dementsprechend unabhängig zu agieren – ein Umstand, der eine Kooperation nicht immer begünstigt. Ein Motiv ist dabei nicht zuletzt die Befürchtung von Bevormundung und Kontrolle: »Und ich höre manchmal von Leuten: ›Hey, lass uns was zusammen machen. Wenn wir mit den Weißen was machen, dann kontrollieren die uns, das wollen wir nicht.‹ Und das ist ein bisschen die Frage, ja, WIE können wir? Wenn du einen Antrag stellst, musst du auch Quittungen für alles haben. Und damit kommen viele nicht klar, von beiden Seiten, von der Unterstützerseite und auch von den Aktivist_innen.« (Interview AEI)

Die Rolle derjenigen, die unterstützen möchten, wird als durchaus problematisch und widersprüchlich wahrgenommen. Sie erleben viel Druck, sind diejenigen, die das Geld organisieren müssen, Anträge schreiben müssen. Sie sind unentbehrlicher Bestandteil und Störfaktor zugleich: »Gleichzeitig bist du derjenige, dessen Rolle in der Bewegung nicht ganz klar ist. Die Bewegung sagt, es ist eine Refugee-Bewegung. Aber du bist kein Refugee. Aber du willst mitentscheiden. Und du willst es nicht. Und das ist, das merk’ ich immer wieder, das Problem von Antira: Sind wir alle im Boot oder sind wir nicht alle im Boot? Die Zusammenarbeit ist schwierig, wenn nicht alle im Boot sind. Wenn du nicht spürst, dass du betroffen bist, von dem System, dann ist schwierig, ja? Man muss als aktiver Mensch auch spüren, dass man selbst betroffen ist. Und das ist heikel.« (Interview AEI)

Diese Perspektive verdeutlicht, wie bedeutsam die eigene Betroffenheit als Ausgangspunkt für ein Aktivsein eingeschätzt wird. Gleichzeitig zeigt sie, dass Unterstützung von außen erwünscht und unverzichtbar ist, beispielsweise bei der Erledigung formeller Angelegenheiten. Daraus kann unter bestimmten Umständen ein (wechselseitiges) komplexes Abhängigkeitsverhältnis erwachsen, welches nicht leicht aufzulösen ist. Asif Gillani zeigt, wie schmal der

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Grat zwischen Unterstützungsbedarf und Abhängigkeit ist und wie groß die Sorge, dass sich Engagierte aus dem Engagement wieder zurückziehen, wenn etwas nicht ihren Vorstellungen entspricht: »We always say: refugees organize themselves. But […]. In our group I am running this group for three years now. Many times, I cannot make the decision what is good for refugees. […] We need support from Germans. And Germans are thinking in a totally different world. And we cannot hurt them. Because when we hurt them, they leave the group. That is the very big problem refugees have. It is very difficult to find people to join the group. If you are just a little bit not fitting to their point of view, the people will leave the group. And then you lost support.« (Interview Stop Deportation Group)

Riadh Ben Ammar hat ähnliche Erfahrungen gemacht. Seiner Meinung nach hat sich die Atmosphäre zwischen den einzelnen Refugee-Initiativen in den letzten Jahren verschlechtert und das Verhältnis zu Unterstützer_innen sei angespannt. »Viele Weiße sagen ›Hey, organisiert euch! Wir unterstützen euch.‹ Aber dann nach einem Jahr sagen sie ›Hey, das gefällt uns nicht. Wir beenden die Zusammenarbeit.‹« (Interview AEI) Und auch Eben Chu berichtete davon, dass es in der Vergangenheit dazu kam, dass sich Unterstützerkreise angesichts der Selbstbestimmtheit und Unabhängigkeit der von ihm ins Leben gerufenen Initiative Refugees Emancipation überrumpelt fühlten. Es stellt sich somit die Frage, inwiefern es sich tatsächlich um eine Unterstützung handelt, wenn kein aufrichtiges Interesse an der Ermächtigung der Geflüchteteninitiativen besteht. Tresor schildert, dass er mittlerweile den Eindruck habe, weniger Unterstützung zu erhalten: »Ich habe sogar das Gefühl, dass wir momentan gar nicht mehr unterstützt werden, weil wir unabhängig sind. Umso mehr du mit Leuten zusammenarbeitest, die dazu neigen, dein Projekt zu dominieren, umso mehr Unterstützung erhältst du. Je unabhängiger du sein möchtest, desto weniger wirst du unterstützt. Das ist paradox« (Interview Voix des migrants). Wie sehr diese Herangehensweise einem nachhaltigen Empowerment im Weg stehen kann, veranschaulicht folgende Synthese des Aktivisten Eben Chu: »They are a little bit: ›ok, and now they are becoming independent‹. But if we want to be a very strong society, and really be conscious of the fact of making people to grow, or empowerment means it is empowering yourself to empower a person, then we have to accept that fact that people have to become empowered.« (Interview Refugees Emancipation)

Eine mögliche Folge dieser entstehenden Abhängigkeitsverhältnisse ist die sogenannte Stellvertreterpolitik. Der Gründer von Voix des migrants gibt zu bedenken, dass es seit 2015 im Zuge der Willkommensbewegung diesbezüglich zu einer problematischen Entwicklung kam:

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Marlene Rudlof f »Hier in Europa haben sich die Gesetze seit 2015 verschärft. […] Und solange die Politiker immer wieder Menschen stellvertretend FÜR andere Menschen demonstrieren sehen, wird sich nichts ändern. […] Die Politiker haben das Gefühl, dass die Geflüchteten selbst nicht kämpfen. Und wo liegen die Barrieren? Es sind sie diese Pseudo-Initiativen, die Business-Mechanismen mit dem Logo ›Refugees Welcome‹ kreiert haben, um Subventionen zu erhalten. […] Solange die Leute glauben, dass sie es sind, die etwas FÜR die Geflüchteten organisieren müssten, wird sich nichts ändern!« (Interview Voix des migrants, Übers. d. Verf.)

In der Wahrnehmung des Aktivisten sind es die zahlreichen neugegründeten Initiativen, die von der Situation seit 2015 profitieren. Tresor kritisiert den regelrechten Hype um das Thema »Flüchtlinge« und die damit einhergehenden Auswirkungen auf Förderzyklen und Projektstrukturen. Asif Gillani übt Kritik an dem Tunnelblick, den viele Initiativen haben und der durch die einseitige Medienberichterstattung generiert bzw. verstärkt wird: »If we saw 2013 and 2014, everyone was talking about African refugees. In 2015, everyone is talking about Syrian refugees. 2013 and 2014 Afghani refugees get deported. Syrian refugees get deported. No one cared. In 2015, Africans get deported. And Afghani people get deported. Everyone cared about Syrians. In 2016, once again no one cares about Africans. […] That is German’s people problem. […] They just focus on one nation. […] And then, full media, everyone has interest there. Right now, no one is interested in Africans.« (Interview Stop Deportation Group)

Auch wenn es insbesondere den Aktivistinnen viel Geduld abverlangt und sie lange Zeit nicht nur von den männlichen Kollegen ausgeschlossen, sondern auch von staatlichen Behörden, den Medien und der Zivilgesellschaft nicht wahrgenommen wurden, ist es insbesondere den Fraueninitiativen gelungen, ein sehr breites Unterstützungsnetzwerk aufzubauen. 2011 sind Women in Exile dazu übergegangen, ihre Unterstützer_innen als Friends zu bezeichnen. Im Interview begründet Bethi Ngari diese Entscheidung: »Friends are not only supporting our work, but we also respect each other’s contribution to the movement. From the beginning, we agreed that we are the experts of our situation and we are the only ones who could bring our issues to the public, but that we can work together and use each other’s experiences to enrich our fight. The fact is that we have a common fight, and respecting each other’s position and working together is more dynamic.« (Bethi Ngari, in: Kullrich 2017: 220)

Dieser Ansatz macht beispielhaft deutlich, wie eine neue auf gegenseitiger Solidarität gründende Beziehung aussehen kann.

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»W e need this patience , W e need to keep e xchanging « 24 Ausblickend bleibt zu fragen, welche Schritte getan werden müssen, um die politische Arbeit von Geflüchtetenselbstorganisationen und die Empowermentarbeit auf der individuellen Ebene stärker zu fördern: Welche Schlüsse lassen sich aus den Gesprächen mit den Akteur_innen ziehen? Mit ihren Herausforderungen und Problemstellungen stehen selbstorganisierte Organisationen und Projekte, die mehrheitlich von Geflüchteten getragen werden, außerhalb der Erfahrungswelten von bestehenden, häufig »deutschen« Organisationen. Wenn es um Problemlösung geht, zeigen die Projekte und Organisationen viel Kreativität und Zielstrebigkeit, auch, oder vielleicht gerade weil sie sich außerhalb bestehender Strukturen entwickeln und konstruieren. Bei der Überwindung des institutionalisierten Rassismus auf der einen, und des Alltagsrassismus auf der anderen Seite spielen Bildungs- und Sensibilisierungsarbeit eine entscheidende Rolle: Globales Lernen, Menschenrechtsbildung und Vermittlungsarbeit in den Medien-, Kultur- und Bildungseinrichtungen sowie am Arbeitsplatz können dazu beitragen, globale Zusammenhänge zu vermitteln und Fluchtursachen besser verstehen zu lernen. Langfristig kann dies dazu dienen, das gegenseitige Verständnis zu üben und zu fördern. Diese Bildungs- und Verständigungsarbeit fängt den Gesprächspartner_innen zufolge auf der individuellen Ebene, im eigenen Umfeld an (vgl. Interview Voix des migrants). Entscheidend ist anzuerkennen, dass Geflüchtetenselbstorganisationen im Kontext der mit der Einwanderungsgesellschaft verbundenen gesellschaftlichen Transformationsprozesse wichtige Akteure der Bildungsarbeit sind und sein können. Denn indem sie die Lebenssituation geflüchteter Menschen in Deutschland sichtbar machen und deren Perspektiven und Bedürfnisse vertreten, tragen sie zu einer gesellschaftlichen Vielstimmigkeit und zu einer veränderten Wahrnehmung von Flucht, Zuwanderung und Geflüchteten bei. »Heute müssen wir unser Bewusstsein wecken. Wir müssen über das Zusammenleben sprechen. Ich hätte gewonnen, wenn ich einen Deutschen sehe, der mit jemandem redet, ein Lächeln mit einem Unbekannten teilt, ich will nicht sagen mit einem Geflüchteten, aber einem Unbekannten. Um dorthin zu gelangen, müssen wir viele Aufklärungskampagnen durchführen – auf deutscher Seite, um ihnen verständlich zu machen, dass die Geflüchteten, die hier sind, wertvoll sind. Dass es Menschen sind, die viel zu geben haben. Aber sie sind hier so stigmatisiert, werden für Kriminelle gehalten.« (Interview Voix des migrants, Übers. d. Verf.)

24 | Rex Osa (2017), Interview Refugees4Refugees.

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Um schließlich auch Veränderungen auf der gesetzlichen Ebene zu bewirken, sind neue Strategien der Mobilisierung und ein neues Selbstbewusstsein der politischen Bewegung gefragt. Aufseiten der politischen Initiativen scheint es wichtig, sich jeglichen Vereinnahmungsversuchen zu entziehen und auf Grundlage des Wissens über die eigenen Rechte möglichst unabhängig und mit Vertrauen in die Gestaltungskraft der Bewegung zu agieren. Gleichzeitig sollte die partnerschaftliche Vernetzung mit Staat und Zivilgesellschaft weiter vorangetrieben werden. Als gutes Beispiel können dabei die Frauenorganisationen dienen. Voraussetzung hierfür ist eine intensive und ehrliche Auseinandersetzung mit der eigenen Arbeit, der eigenen Rolle und dem eigenen Engagement. In den Gesprächen wurde mehrfach die Notwendigkeit eines Reflektionsprozesses betont. Um voranzukommen, ist eine Evaluierung der politischen Kämpfe der vergangenen Jahre notwendig und längst überfällig. So fasst Rex Osa zusammen: »I have been to more than ten different discussions to analyse refugee protests organized by Germans. But with us as refugees, we have not been able to organize. I created different whatsapp groups. […] Some do not even answer. I talk to them, they say ›We are very busy.‹ If you cannot value the importance of reflection, then what is your campaign?! Then it means that you are just doing campaign for yourself! It is painful. […] That is why my wish is, so whoever sees the need for this dynamics of the resistance to get back on the right directions is to support the refugees to meet to reflect. […] What are the failures of the past, what are the succeses? […] We have not been able to share our own displeasure about ourselves. That is our biggest problem. Everybody is doing everything, active here and there, flying everywhere. But today nobody’s coming.« (Interview Refugees4Refugees)

Unverzichtbar sei dabei, die Verbindung zu den Anfängen und den alten Kämpfen nicht zu verlieren, so der Aktivist weiter: »The unity of the different autonomous groups is very important. […] Which is failing now. So sometimes when I think about it I feel very sad. When I look back in the past eleven years I realize, just only this last three years you are asking me questions about this refugee movement and selforganization. No refugee has made the move. And this is what I’ve been trying in the last one and a half years, but I cannot. I talk to refugees on phone 30 minutes, one hour. […] New refugees, their bed was already created, a lot of compromise especially those from Lampedusa.« (Interview Refugees4Refugees)

Die Tendenz gehe heute dahin, dass sich einzelne Projekte und Initiativen weiter fragmentieren und verschiedene Gruppen an ähnlichen Themen und Kampagnen arbeiten, statt sich miteinander zu vernetzen (vgl. Interview AEI). Eine Rückbesinnung und Neuorientierung hin zum Gemeinsamen könnte

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den einzelnen Initiativen sowie der gesamten Bewegung mehr Ausdruck und politische Durchschlagskraft verleihen. Daran knüpft sich auch die Forderung nach einer kritischen Auseinandersetzung mit den Fördermechanismen und den inflationär verwendeten Begrifflichkeiten Empowerment und Selbstorganisation. Rex Osa appelliert: »A lot of refugees themselves need to really understand what it means to be selforganized. […] We have to go back, drop all, reflect about so-called selforganized groups today and about what does it mean. There is a lot of compromise« (Interview Refugees4Refugees). Riadh Ben Ammar plädiert für mehr Offenheit und merkt an, dass es durchaus problematisch sei, wenn Selbstorganisation bedeute, dass die einzelnen Initiativen völlig voneinander abgekoppelt agieren und nicht mehr zusammenarbeiten, sondern sich jede_r ausschließlich auf das eigene Projekt konzentriere (vgl. Interview AEI). Darüber hinaus fordern die Gesprächspartner_innen mehr gemeinsame Aktionen und Medienwirksamkeit der Initiativen, um die politischen Perspektiven Geflüchteter stärker in die Diskussion einzubringen. Wenn es Aktionen, Projekte und Angebote gibt, sollten mehr Menschen davon erfahren – sowohl die Betroffenen, als auch die Zivilgesellschaft. Dazu gehört es einerseits, Netzwerke zu bilden und Strukturen weiter zu professionalisieren. Andererseits sind finanzielle Unterstützung und berufliche Perspektive auch hier zentrale Bausteine, um das Engagement dauerhaft erhalten zu können. In den vorangegangenen Abschnitten wurde außerdem dargelegt, wie essenziell eine sinnvolle Form der Solidarität ist. Ziel der Unterstützenden sollte sein, die Bedingungen für das (politische) Handeln der Geflüchteten als eigenständige Akteur_innen in der Gesellschaft zu verbessern. Die Arbeit von Refugees Emancipation stellt ein Beispiel dar, wie Räume dafür geschaffen werden können: »Eisenhüttenstadt first reception center. Because there was a lot of complain. So when we came, we got the contact through Diakonie. They said it’s impossible, the people will steal and destroy the computer. We said: ›They will break it, when they think that it is you, who put it. But when they know, it is their computer and their project, their keys […]‹ He thought it is impossible. These are things to proof that if you give people the capacity and the confidence and you allow them to develop concept from themselves, they will grow.« (Interview Refugees Emancipation)

Staatliche Einrichtungen, kirchliche Träger, Wohlfahrtsverbände und zivilgesellschaftliche Akteure sind gefordert, Kooperationen anzuregen bzw. zu vertiefen und weitere Gestaltungs- und Teilhabemöglichkeiten für Geflüchtetenselbstorganisationen zu schaffen. Zusammengenommen lässt sich festhalten, dass die politische Selbstorganisation von Geflüchteten zum einen überaus schwierig ist und bleibt. Aufgrund

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der persönlichen und individuellen Situation der Refugee-Aktivist_innen ist kaum mit festen Personen zu planen, was längerfristige Aktionen oder Vorhaben erschwert. Diese wären aber gerade in der politischen Organisation und in der Bildungsarbeit notwendig, um fundamental wirken zu können; nicht zuletzt auch, damit bislang stimmlose Personen in der Gesellschaft ihre Stimme hörbar machen können. Die politische Organisationsarbeit scheint gerade heute unentbehrlich, da sich in ihr das Potenzial des gesellschaftlichen Wandels und des Übergangs zu einem anderen, einem würdevolleren Umgang mit Flucht und Migration am stärksten artikuliert. Denn indem die Akteur_innen die gleichberechtigte Teilhabe an der Gesellschaft fordern, und da wo es möglich ist, durchsetzen, geben sie entscheidende Impulse für ein neues gesellschaftliches Miteinander (vgl. Schwiertz 2016: 244). Die politischen Kämpfe von Geflüchteten provozieren einen Perspektivwechsel und tragen somit zu einer Überwindung der eingangs in diesem Band erwähnten künstlichen Trennung zwischen einem vermeintlichen »Wir« und einem vermeintlichen »Die« bei. Dies zeigen deutlich die vielfältigen Arten der Kooperation, die anhand des Textes ausgearbeitet wurden. Die Kraft, die ihnen innewohnt, wird von vielen Menschen und guten Ideen getragen, die das Potenzial ihrer Situation in eine Verbesserung ihrer Situation transformieren können. Auf der Seite der Mehrheitsgesellschaft ist mehr Offenheit gefragt, um diesen Perspektiven Raum zu geben und mit ihnen zu lernen.

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»If we don’t organise for ourselves, who else will?«

I ntervie w verzeichnis Riadh Ben Ammar, Afrique-Europe-Interact e.V., Berlin, 27.02.2017 und 14.03.2017. Eben Chu, Refugees Emancipation e.V., Potsdam, 05.07.2016. David, Refugees Emancipation e.V., Berlin, 19.07.2016. Asif Gillani, Stop Deportation Group, Berlin, 14.07.2016. Lea Höppner, International women’s space, Berlin, 03.08.2016 und 25.08.2016. Osaren Igbinoba, The Voice Refugee Forum Germany, Jena, 16.07.2017. Layla, Daily resistance, 17.03.2017 (E-Mailinterview). Edna Martinez, Women in Exile  & Friends e.V., Halle und Marke, 25.07.– 27.07.2016. Behshid Najafi, agisra e.V., Köln, 08.02.2017. Rex Osa, Refugees4Refugees, Stuttgart, 19.04.2017. Lilian Pithan, Abwab, 23.02.2017 (Telefoninterview). Nils Steinkraus, Die Gärtnerei, Berlin, 18.05.2016. Tresor, Voix des migrants, Berlin, 09.03.2017.

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Selbstorganisation und Partizipation in Wohn- und Kulturprojekten mit Geflüchteten am Beispiel des Grandhotel Cosmopolis Caroline Strotmann

Im Jahr 2015 gewannen die Themen Flucht und Migration mit großer Geschwindigkeit an medialer Präsenz. Gleichzeitig entwickelte sich die (zivilgesellschaftliche) Projektlandschaft mit ebensolcher Rasanz, um die Bedarfe in unterschiedlichen Feldern zu decken. Ein Großteil der Projekte arbeitete angesichts der Dringlichkeit der Lage zunächst ohne finanzielle Mittel, einige erhielten Förderungen von staatlichen Institutionen oder privaten Stiftungen. Vielen Projekten gelang es, wirkungsvolle Konzepte und Arbeitsformen zu entwickeln, die Integration durch Partizipation praktizieren (vgl. Schiffauer, Eilert, Rudloff 2017). Zahlreiche in diesem Rahmen entstandene Projekte erproben den Anspruch, nicht für, sondern mit Geflüchteten zu arbeiten und sie nicht als Hilfsbedürftige, sondern als Akteur_innen einzubeziehen. Partizipation und Zusammenarbeit auf Augenhöhe sind ihre zentralen Anliegen – jedoch werden diese in der alltäglichen Arbeit immer wieder durch die faktischen, rechtlichen und sozio-ökonomischen Ungleichheiten sowie durch unterschiedliche Sprachkenntnisse und Wissensstände in ihren Strukturen herausgefordert. Mit diesem Essay gebe ich am Beispiel des Grandhotel Cosmopolis zuerst einen kurzen Abriss einiger Herausforderungen und Konfliktfelder in Projekten, die gemeinsames Wohnen und Kulturarbeit verbinden. Innerhalb des Grandhotel Cosmopolis finden sich dabei sowohl selbstorganisierte Projekte von Geflüchteten als auch Allianzen von Geflüchteten und Alteingesessenen. Hier artikulieren sich unter anderem gesellschaftspolitisch-strukturell bedingte Arbeitsschwierigkeiten (Abschnitt 1). Zweitens frage ich nach den Förder- und Finanzierungsbedingungen und nach Schwierigkeiten mit den bürokratisch gesetzten Grenzziehungen, die im Zweifelsfall zur Beendigung von Projekten führen können (Abschnitt 2). Dabei wird deutlich, dass die Förder- und Finanz-

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frage eine große Herausforderung darstellt, die bestehende Probleme weiter verschärfen kann. Ausgangspunkt der Überlegungen sind meine eigene Arbeit im Campus Cosmopolis1 in Berlin und der Austausch mit unterschiedlichen selbstorganisierten Projekten, insbesondere mit dem Grandhotel Cosmopolis in Augsburg, das ich hier vorstellen werde und an dessen Entwicklung unterschiedliche Herausforderungen, aber auch Potenziale deutlich werden. Ich möchte das Augenmerk auf dieses Projekt lenken, weil das Grandhotel Cosmopolis nicht erst im sogenannten Sommer der Migration 2015 entstand, sondern bereits im Jahr 2011. So kann hier bereits auf einen mehrjährigen Erfahrungsschatz zurückgegriffen werden, aus dem heraus Schwierigkeiten struktureller Natur erkennbar werden, die auch für andere partizipative Projekte gelten können. Dieses Essay spiegelt in erster Linie subjektive Perspektiven der Wirkenden des Grandhotel Cosmopolis wider. Viele der erwähnten Probleme und Herausforderungen sind jedoch auf andere Projekte übertragbar.

D as G randhotel C osmopolis in A ugsburg  – E ntstehungsgeschichte und K onzep t Die Geschichte des Grandhotel Cosmopolis begann im Jahr 2011, als eine Gruppe von freischaffenden Augsburger Künstler_innen von den städtischen Plänen erfuhr, aus einem ehemaligen Altenheim in der Altstadt eine Unterkunft für Asylsuchende zu machen. Das Gebäude stand zu diesem Zeitpunkt bereits seit vier Jahren leer. Innerhalb kürzester Zeit wurde die Idee des Grandhotel Cosmopolis geboren: Ein Ort, an dem Reisende aufeinandertreffen, an dem Kultur-, Hotel- und Gastronomiebetrieb sowie eine Notunterkunft für Geflüchtete vereint werden und an dem ein Freiraum für kosmopolitisches Zusammenleben und selbstorganisiertes Kulturschaffen entsteht. Eigentümer des Gebäudes ist die Diakonie, die sich der Idee gegenüber sehr aufgeschlossen zeigte und die Kosten des Umbaus vorfinanzierte. Insbesondere die Unterstützung durch den Pfarrer und den Vorstand des Diakonischen Werkes Augsburg e. V. spielte hier eine große Rolle. Für die Diakonie selbst war die Modernisierung des Gebäudes wirtschaftlich wenig lukrativ, und auch der (noch) weit verbreitete Leerstand in der Stadt Augsburg beförderte die Ver1 | Der Campus Cosmopolis ist eine Initiative, die mitten in Berlin einen Raum für gemeinsames Wohnen und Lernen erschaffen möchte, der von Geflüchteten und Nichtgeflüchteten gemeinsam gestaltet wird. Parallel zu der Suche nach einem geeigneten Gebäude realisiert der Verein aktuell bereits unterschiedliche Veranstaltungen und Aktivitäten. Inspiriert wurde die Gruppe vom Grandhotel Cosmopolis in Augsburg, mit dem es im regelmäßigen Austausch steht.

Selbstorganisation und Par tizipation in Wohn- und Kulturprojekten

wirklichung der Idee zur Umnutzung des ehemaligen Altenheims. Als Ausgleich für die Renovierung in Eigenarbeit zahlte die Gruppe während der zweijährigen Herrichtungsdauer keine Miete. Für die folgenden zehn Jahre wurde ein moderater Mietzins vereinbart, der deutlich unter dem Mietspiegel der gentrifizierten Innenstadt liegt und für das Grandhotel noch tragbar bleibt. Was nach dem Auslaufen des aktuellen Mietvertrages im Jahr 2021 passieren wird, ist bislang ungeklärt. Die Regierung des Bezirks Schwaben in Bayern trug nur einen kleinen Teil der Umbaukosten und erhielt so auf kosteneffiziente Weise eine weitere Sammelunterkunft. Sie mietet die Flächen der Gemeinschaftsunterkunft von der Diakonie und leitet das Heim. Das Grandhotel ist Mieter der übrigen Gebäudeflächen. Im Frühjahr 2012 bezog eine Künstlergruppe das Gebäude und begann, es mit Unterstützung von Freund_innen und Familien in den folgenden 18 Monaten in unbezahlter Eigenarbeit zu renovieren und räumlich zu gestalten. Eine Vielzahl von Menschen arbeitete mit viel Enthusiasmus und einem hohen persönlichen Einsatz, angetrieben von der Vision, einen neuen, selbst gestaltbaren, offenen und kosmopolitischen Raum zu erschaffen. Die Einsatzzeit bis Juli 2013 wird auf über 100.000 unbezahlte Helferstunden geschätzt. Neben Informationsabenden für die Nachbarschaft, den Renovierungen und der Ausarbeitung des Konzeptes fanden schon während dieser Zeit viele Veranstaltungen wie Workshops, Ausstellungen und Konzerte statt. Die Räume wurden innerhalb eines kreativen Transformationsprozesses gestaltet; Ideen entstanden dabei spontan. Wichtig war allen Beteiligten die Bereitschaft zur Zusammenarbeit in einem Kollektiv und zur eigenständigen Übernahme von Verantwortlichkeiten. Als Grundlage für die Arbeit an einer gemeinsamen Vision diente die Idee der sozialen Plastik und damit ein an Joseph Beuys angelehntes erweitertes Kunstverständnis.2 Es folgen Monate und Jahre großer medialer Aufmerksamkeit, mit Stiftungsbesuchen, Auszeichnungen und zahlreichen Einladungen, die es ermöglichen, das Selbstverständnis, die Erfahrungen und Arbeitsformen des Grandhotel mit anderen zu teilen. Das (Wohn-)Raumkonzept, in dem Geflüchtete und Alteingesessene zusammenkommen, trifft also schon lange vor dem Sommer 2015 einen Nerv und erfährt eine äußerst positive Rezeption in den Medien, der Augsburger Nachbarschaft und einer bundesweiten Öffentlichkeit. Noch vor der Eröffnung des Hotelbetriebes im Oktober 2013 ziehen im Juli des gleichen Jahres die ersten Geflüchteten, zugewiesen durch die Regierung von Schwaben, in das Gebäude ein. Sie wohnen in einem Gebäudeflügel, der 2 | Joseph Beuys (1991) prägte den Begriff der sozialen Plastik als Teil eines erweiterten Kunstverständnisses, welches das Kunstwerk als über das materiell erfahrbare Artefakt hinaus begreift. Danach ist auch das menschliche Handeln Teil der ästhetischkünstlerischen Praxis.

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von den Hoteliers 3 mitunter als Hotel mit Asyl 4 bezeichnet wird. Formal handelt es sich bei diesem Gebäudeteil um eine Gemeinschaftsunterkunft, die der Regierung von Schwaben untersteht. In den Räumen dieser Gemeinschaftsunterkunft gibt es kaum Gestaltungsspielraum. Dies führte zu Auseinandersetzungen, etwa über die Möblierung und Ausstattung der Unterkunft: »Ganz am Anfang stand die Idee, man könnte die Räume frei gestalten und die Diakonie könnte Teil eines Modellprojektes werden. Aber der Reality-Check kam dann schon bei den ersten Verhandlungen und es war klar, dass wir nicht viel machen können. Die Selbstbestimmtheit hört an der Tür zur Gemeinschaftsunterkunft auf. Hier verläuft die Grenze. Es gab ein paar Vereinbarungen bezüglich der räumlichen Gestaltung, aber die Regierung ist nicht dazu verpflichtet, sich an diese zu halten und handelt jetzt trotzdem nach ihrem Gusto. Wenn wir in die Gemeinschaftsunterkunft gehen und dort andere Möbel reinstellen, begehen wir quasi Hausfriedensbruch.« (Stimme aus dem Grandhotel. Interview I Grandhotel Cosmopolis)

Viel Arbeit und Aufmerksamkeit wurde während der Einrichtung des Hauses auf die Zimmer der Gemeinschaftsunterkunft verwendet. Anstelle einer wie in den staatlichen Unterkünften üblichen uniformen Ausstattung mit Metall-Spinden und Stockbetten, sollten die Bewohner_innen selbst darüber entscheiden können, wie sie ihren Wohnraum möblieren. Die Heimleitung lehnte diese individuelle Gestaltung mit der Begründung ab, man könnte in der Ausstattung keine Unterschiede zwischen einzelnen Unterkünften zulassen. Sie wäre dabei wiederum selbst an rechtliche Vorgaben gebunden und besäße keine volle Entscheidungs- und Handlungsfreiheit. Aus der Perspektive der Hoteliers stand dies im Widerspruch zum anfangs Abgesprochenen: »Im Grandhotel wurde uns direkt von Anfang an gesagt, dass wir unsere Räume hier gestalten können, dass wir z. B. die Wände in einer beliebigen Farbe streichen können. 3 | Viele, nicht alle, Wirkenden im Grandhotel nutzen diese Selbstbezeichnung. Dies ist nicht nur der Tatsache geschuldet, dass ein Hotel Teil des Konzeptes ist, sondern auch ein (vorläufiges) Ergebnis der Auseinandersetzung mit problematischen Begriffen wie Ehrenamt, Hauptamt, Geflüchtete, Nichtgeflüchtete, Freiwillige etc. In der Bezeichnung »Hoteliers« drückt sich die Wertschätzung aller Wirkenden aus. Ob bezahlt oder unbezahlt, ob mit viel oder wenig Zeit, ob mit oder ohne Fluchterfahrung etc. spielt dabei keine Rolle. 4 | Aufgrund der beschränkten Wirkungsmöglichkeit in diesem Gebäudeteil und der Unzufriedenheit mit den Wohnumständen sprechen viele Hoteliers jedoch von einer Unterkunft. Die Nutzung der Bezeichnung »Hotel mit Asyl« nahm mit den fortlaufenden Erfahrungen der minimalen Gestaltungsmöglichkeiten in den Räumen der Notunterkunft ab.

Selbstorganisation und Par tizipation in Wohn- und Kulturprojekten Dafür waren von Anfang an Möglichkeiten vorgesehen, falls die Leute selber gestalten wollen. Es war ja mit der Regierung abgesprochen, dass nicht die gleichen hässlichen Metallspinde und Doppelstock-Betten da rein müssen wie in den anderen Heimen. Bei anderen Bewohnern gab’s da große Probleme, bei H. beispielsweise gab es ursprünglich so einen Metallspind. Aber da das Zimmer ziemlich feucht war, sind auch die Kleider seines Babys in dem Spind feucht geworden, und das Baby ist krank geworden. Und dann hat er den Schrank rausgestellt und vom Sperrmüll irgendeinen Holzschrank genommen, und dann hat das der Hausmeister gesehen und hat den Spind wieder reingestellt und kontrolliert seither einmal die Woche, ob dieser Spind noch da ist. So etwas ist vorgefallen, obwohl das eigentlich anders geplant war.« (Stimme aus dem Grandhotel. In: Kuhlendahl 2015)

Auch wenn das Heim im Vergleich zu anderen Unterkünften sehr gut abschneidet, ist es, gemessen an dem, was nötig und möglich wäre, um den oft traumatisierten Menschen nach der Flucht Ruhe und Privatsphäre zu ermöglichen, vollkommen unbefriedigend. Mit Mühe konnten Zwei- statt Sechsbettzimmer ausgehandelt werden  – ein Zugeständnis, welches dem tatsächlich benötigten Maß an Privatsphäre noch immer nicht gerecht wird. Der hohen Bereitschaft, sich auch in diesem Gebäudeteil mit der persönlichen Zeit und Kraft für die Schaffung eines menschenwürdigen und selbstgestalteten Wohnraums einzusetzen, wurde seitens der Heimleitung mit Ablehnung begegnet. Als Gründe wurden sowohl bürokratische Aspekte (rechtlich vorgegebene Standardisierung der Zimmer) als auch wirtschaftliche Argumente (Einzelzimmer sind finanziell nicht lukrativ) angebracht. Zwischen der angestrebten Form des selbstbestimmten Zusammenlebens im Grandhotel und den bürokratischen Rahmenbedingungen herrschte somit von Beginn an ein großer Widerspruch. »Die Heimleitung ist formal für die Unterkunft und die Geflüchteten zuständig und verwaltet sie. Wir fühlen uns auf einer menschlichen Ebene für die Bewohner_innen zuständig. Die wichtigsten Prämissen sind für uns dabei immer die Menschenrechte.« (Stimme aus dem Grandhotel. Interview I Grandhotel Cosmopolis)

Aus der Perspektive der interviewten Person übernimmt die Heimleitung demzufolge ausschließlich administrative Aufgaben, während jene Tätigkeitsbereiche, die auf der »menschlichen Ebene« angesiedelt sind, d. h. entscheidende inhaltlich-gestaltende Arbeiten sowie die Unterstützung der Geflüchteten, z. B. bei rechtlichen Problemen, auf die Eigeninitiative der Hoteliers zurückgehen. Die hier zum Ausdruck kommenden unterschiedlichen Rollen und Haltungen der Akteur_innen führten auch auf anderen Ebenen zu Konflikten, wie im Folgenden weiter ausgeführt werden wird.

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Das gemeinsame Wirken in der sozialen Plastik – über Potenziale und Herausforderungen »Das Grandhotel ist kein Projekt.« S timme aus dem G randhotel . G edächtnis protokoll  III G randhotel C osmopolis

Ein großer Unterschied zu Projekten, in denen Begegnungen in erster Linie auf einer Arbeitsebene stattfinden, liegt beim Grandhotel Cosmopolis in der Schaffung eines gemeinsamen Lebens-, Wohn- und Arbeitsraumes: Es findet eine stärkere Vermischung von Privatem und Arbeit statt. Die Arbeit wird privat und das Private wird zur Arbeit. Im Grandhotel wird eine Form des alltäglichen Zusammenlebens erforscht und ausprobiert, in welcher Freizeit und Arbeit vollständig verschwimmen. Das Wort Projekt wird von den meisten Wirkenden im Grandhotel daher als unpassend abgelehnt. Über bürgerschaftliches Engagement, so die Hoteliers, gehe das Wirken und Leben im Grandhotel weit hinaus. Sie betrachten das Grandhotel als gesellschaftliches Gesamtkunstwerk und bevorzugen mehrheitlich den Ausdruck soziale Plastik (siehe oben), der die Konzeptgrundlage bildet. Das Grandhotel, ebenso wie andere Initiativen, die kollektiven Wohnraum schaffen möchten, ist darauf ausgerichtet, Gemeinschaft herzustellen sowie gemeinsame Räume zu gestalten und zu beleben. Durch geteilte Momente entsteht bei den Bewohner_innen ein Gefühl von »Zuhause«: »Die Momente, in denen ich mich hier zuhause fühle […]. Zuerst die Sprache [das Reden, Anm. d. Verf.]. Hier im Grandhotel beispielsweise, wenn ich mit vielen Leuten zusammensitze. Wir sprechen über […] egal was, wir unterhalten uns einfach. Und manchmal, wenn ich Musik mache. Und wenn wir zusammen essen. Das sind die Momente. Denn bei uns [in Afghanistan, Anm. d. Verf.] ist es auch so, wir sitzen einfach alle zusammen, da ist es auch so.« (Stimme aus dem Grandhotel. In: Kuhlendahl 2015)

Vor dem Hintergrund einer medialen Debatte, in der negative Begrifflichkeiten wie »Flüchtlingskrise« oder »Flüchtlingswelle« hegemonial wirken und ein Bild von Geflüchteten als Fremde und potenzielle Bedrohung gezeichnet wird, erscheint schon das Ziel der Gemeinschaftsbildung als Besonderheit, das Aufmerksamkeit auf sich zieht. Von Beginn an erfuhr das Grandhotel Cosmopolis großes mediales Interesse, sodass es schnell deutschlandweite Bekanntheit erlangte. Eine Wirkung und Strahlkraft auf den öffentlichen Raum war und ist Teil des Konzeptes und durchaus erwünscht. Zugleich kann eine solche Öffentlichkeitswirkung eine Herausforderung für den privaten Raum des Grandhotel bedeuten, weil sie eine öffentliche Selbstdarstellung erfordert. Neben den stattfindenden Arbeiten in unterschiedlichen Formaten wird damit

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auch das Private, zumindest ein Stück weit, institutionalisiert und öffentlich ausgestellt. Die Wirkenden wünschen sich unterdessen oft Alltag, Privatsphäre und Normalität.5 Es entwickelt sich eine paradoxe Situation, die auf der konzeptionellen Ebene angelegt zu sein scheint und ein Problem birgt: Der Alltag und die (erwünschte) Normalität des gemeinsamen Lebens werden täglich durch Außenzuschreibungen und Selbstdarstellungen als etwas Besonderes irritiert: »Manchmal kommt es einem hier schon vor wie im Zoo. Hotelgäste kommen, um zu sehen, wie Geflüchtete hier leben. […] Und es gibt natürlich die ganze Zeit Interviewanfragen. Wenn man die nicht beantwortet und einen Termin vereinbart, kommen sie einfach so vorbei und interviewen guerillamäßig. Es ist also besser, man antwortet auf die Anfragen. […] Wir sind hier ein Modellprojekt, das wir gar nicht als Modellprojekt haben wollen, sondern uns als gesellschaftlichen Normalzustand wünschen.« (Stimme aus dem Grandhotel. Interview II Grandhotel Cosmopolis)

Im Prozess des intensiven und andauernden gemeinsamen Wirkens entstehen schnell persönliche Beziehungen, auch wenn die greif baren Ergebnisse der gemeinsamen Arbeit (zum Beispiel Workshops, Ausstellungen, Theaterstücke, Werkstätten, Sprachkurse oder Kochformate) im Fokus stehen. Die gemeinsame Konzeption und Umsetzung der Idee erfordert den offenen Austausch über die verschiedenen Perspektiven, in dem unterschiedliche Ressourcen und Lebensrealitäten thematisiert und mitgedacht werden müssen. Ein hohes Maß an Kommunikation ist somit für das gemeinsame Leben, Wohnen und Arbeiten unabdingbar und stellt eine weitere Herausforderung dar: »Es ist sehr wichtig, sich ganz bewusst viel Zeit zum Reden und vor allem zum Zuhören zu nehmen. Und nicht die ganze Zeit auf irgendwelche Ergebnisse hinzuarbeiten, sondern sich einfach mal hinzusetzen und eine Geschichte – oder vielleicht sogar eine ganze Lebensgeschichte – anzuhören. Erinnerungen an die Kindheit, bei vielen hier über die Flucht und was dann mit ihnen passiert ist. Das sind Momente, wo eine Verbindung entsteht und wo wir uns verstehen lernen.« (Stimme aus dem Grandhotel. Gedächtnisprotokoll I Grandhotel Cosmopolis)

»Gemeinsame Arbeitsprozesse und Kommunikation immer wieder zu reflektieren und dementsprechend zu verändern, ist sehr wichtig. Das nimmt hier den größten Teil der Zeit in Anspruch. Von außen wirkt das auf viele bestimmt 5 | Diesen Wunsch haben auch Bewohner_innen des Refugios in Berlin-Kreuzberg geäußert. Das Refugio wurde im Juli 2015 eröffnet und erfuhr insbesondere in den ersten Monaten hohe mediale Aufmerksamkeit. Siehe hierzu auch Katharina Loos in Schiffauer, Eilert, Rudloff 2017: 41–43.

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total unproduktiv, weil dabei wenig an direkt sichtbaren Ergebnissen rumkommt.« (Stimme aus dem Grandhotel. Interview II Grandhotel Cosmopolis) Nicht nur Zeit spielt für den permanenten Austausch eine bedeutende Rolle. Auch die Bereitschaft zur kontinuierlichen Reflexion und kritischen Auseinandersetzung stellt eine wichtige Ausgangsbedingung dar. Diese (zeit-) intensive Arbeit in und mit der Gemeinschaft bringt weitere Belastungen mit sich: Durch das Verschwimmen von Freizeit und Arbeit passiert es schnell, dass über Grenzen der Belastbarkeit hinaus gearbeitet wird und keine Zeit für Ruhephasen bleibt. Dabei bleibt zugleich oft die dringend benötigte Zeit für Reflexion und Kommunikation auf der Strecke: »Das Anstrengendste ist das ständige Umschalten zwischen unterschiedlichen Aufgaben und Ebenen. Das alles parallel in Gang zu halten, bringt Belastungen mit sich. Wir haben hier diverse temporäre Projekte, gleichzeitig müssen die wirtschaftlichen Betriebe und der Kunstbetrieb stetig weiterlaufen, dazu kommt dann die ganze interne Beziehungsarbeit mit allen Beteiligten. Hier entstehen sehr enge menschliche Beziehungen, die auch viele Informationen über menschliche Schicksale und den Umgang mit traumatisierten Menschen enthalten. Wir haben eine sehr instabile menschliche Situation. Es findet ein ständiges Hin- und Herspringen zwischen künstlerischer Arbeit, einer extrem persönlichen und emotionalen Arbeit und einer sehr sachlichen betrieblichen Arbeit statt. Es reicht nie, nur in eine Richtung zu denken, sondern man muss immer die ganze Komplexität mitdenken. Und je tiefer Leute in diese Komplexität eintauchen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie im Burnout landen.« (Stimme aus dem Grandhotel. Interview I Grandhotel Cosmopolis)

Verschärft wird dies durch Kurzzeitprojekte, die Auswirkungen auf die Teamarbeit haben, da übliche Abläufe unterbrochen beziehungsweise mit den temporären Projekten abgestimmt werden müssen. Die Organisation und die Dokumentation der Projekte benötigen dann oft wesentliche Anteile der zur Verfügung stehenden Zeit und brechen bestehende Gruppenprozesse auf. Die Beobachtungen aus dem Feld lassen den Schluss zu, dass mit dem schnellen Wachsen der Aufgaben und Verantwortungen einer selbstorganisierten Gruppe Überforderung und Zeitmangel verbunden sind und Räume für Reflexion und Aushandlung fehlen. Doch trotz der zahlreichen Herausforderungen und des rasanten Wachstums erweist sich das Grandhotel als erstaunlich stabil und widerstandsfähig. Weder interne Konflikte, noch der enorme Druck von außen, vor allem durch abgelehnte Asylanträge der Bewohner_innen beziehungsweise Abschiebungen, führten zur Beendigung des Projekts. Die durch Konflikte und Außendruck erzeugten regelmäßigen kleineren und größeren Krisen werden immer wieder über das persönliche Engagement einiger weniger Hoteliers aufgefangen. Das führt zeitweise zu unzumutbaren Belastungen Einzelner  – auch aufgrund des Zahlenverhältnisses von zwei

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engagierten Laien, die regelmäßig juristische Unterstützungsarbeit für circa 60 Bewohner_innen leisten. Die diversen Probleme und Herausforderungen konnten das Grandhotel Cosmopolis jedoch bis heute nicht dysfunktional machen. Die Hoteliers begegnen ihnen täglich mit der Suche nach Lösungen und dem Versuch einen Ort des Rückhalts zu schaffen. »Ich war in einem Asylheim und wir waren zusammen fünf Leute in einem Zimmer. […] Meine Situation war sehr schlecht, ich sollte nach Afghanistan abgeschoben werden. Ich hatte nur 20 Tage Zeit [zu reagieren, Anm. d. Verf.]. […] Und dann bin ich zum Grandhotel gefahren, habe hier G. und S. getroffen, und G. hat gesagt: ›Hey, Mann, das ist dein Platz. Das ist dein Haus, wir haben hier ein Klavier, du kannst jeden Tag kommen und Klavierspielen. Wir haben Pläne für die Zukunft, wir können eine Musik-Band hier machen …‹ Und dann habe ich einfach angefangen mit dem Grandhotel zu arbeiten. Ich habe ein bisschen im Grandhotel Musik gemacht, in der Bar gearbeitet, in der Küche ein bisschen afghanisches Essen gekocht für die Leute, das war wirklich eine gute Atmosphäre […]. Das Grandhotel ist meine Familie und mein Haus. Das ist eine ganz andere Situation hier im Grandhotel [als in anderen Heimen, Anm. d. Verf.]. Ich hatte das Gefühl: Ich bin zuhause, ich bin in meinem Land und es gibt hier ein paar Leute, die mich und meine Probleme und Bedürfnisse verstehen. […] Zuhause bedeutet für mich, man muss relaxed sein, man muss secure sein, man muss, wenn man Hilfe braucht, schnell Leute finden können, die sagen: ›Klar, F., wir können Dir helfen. Du bist nicht allein‹. Ich hatte so viele Probleme. Aber als ich das Grandhotel gefunden habe, habe ich einfach gesehen, dass hier so viele Leute etwas für mich tun wollen, das war ganz unglaublich. Und deswegen habe ich mich so gefühlt, dass ich zuhause bin, mit meiner Familie […]. Ich brauche kein großes Haus oder Luxus oder so. Ich brauche nur die gute Freundschaft, die richtige Freundschaft. Ich brauche eine Atmosphäre wo ich nicht allein bin, ich brauche etwas Hilfe, und das habe ich hier gefunden. Als ich hier ins Grandhotel gekommen bin, die Leute hier, die haben das, und haben so viel davon! Und das war für mich ganz unbelieveable, unglaublich. […] Ich hatte so viele Termine, mit Sozialamt, mit Ausländerbehörde, und immer waren die Leute vom Grandhotel dabei. Sie haben gesagt: ›F., sag Bescheid, wenn Du einen Termin hast, geh nicht alleine, denn dann ist deine Situation ganz anders!‹ Es ist ein Fakt, dass die Grandhotel-Leute in meinem Fall aus einem ›impossible case‹ einen ›possible case‹ gemacht haben. In Bayern ist es generell wirklich unmöglich, etwas gegen eine beschlossene Abschiebung zu unternehmen. Ich war der Erste, wo sie das hinbekommen haben. Ich bin hergekommen und habe einfach ein neues Leben angefangen. Und manchmal fühl’ ich mich zuhause, und denke: ›Oh my god, was habe ich für Glück gehabt!‹ Das wär’ allein nie gegangen. Nach vier oder sechs Monaten, die ich im Grandhotel gewohnt habe, saß ich manchmal in meinem Raum und habe gedacht: ich träume. Wirklich. So einfach habe ich auf einmal alles bekommen. Friends, Freunde, Freundinnen und so viele Kontakte gemacht, mit Augsburgern ganz allgemein, mit A-TV-Augsburg, mit dem bayerischen TV, mit Sat1 und ich habe Inter-

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Caroline Strotmann views gegeben. Und das sind alles Kontakte über das Grandhotel. Ein Flüchtling kann das alles nicht allein schaffen.« (Stimme aus dem Grandhotel. In: Kuhlendahl 2015)

Trotz der hohen Belastungen durch übergeordnete Schaffensbedingungen mangelt es nicht an Ideen und Tatendrang. Immer wieder zeigt sich in neuen kleinen Projekten, wie wichtig die selbstbestimmte Gestaltung ist und wie sehr das Projekt von dieser lebt: »Wichtig ist für mich die Musik! Ich möchte für die Leute hier Musik spielen. Nächste Woche ist unser erster Termin für ein neues Projekt: Wir machen Musik-Therapie im Grandhotel. Wir fangen zuerst mit den Kindern an zu arbeiten. Ein junger Mann aus Mexiko, der hier Musiktherapie studiert, hilft mir dabei. Wir fangen etwas mit Trommeln und E-Gitarre für die Kinder an, und vielleicht Akkordeon. Ja, und so was möchte ich machen – ich möchte immer etwas machen im Grandhotel. Im Grandhotel habe ich schon in einer großen Band mit ungefähr acht Leuten zusammen gespielt. Unser Name war ›Blinde Passagiere‹. Wir haben europäische Melodien mit afghanischen Instrumenten gespielt und mit afrikanischen Trommeln, alles gemischt. Das war ein Projekt zwischen Grandhotel und Fachhochschule.« (Stimme aus dem Grandhotel. In: Kuhlendahl 2015)

Heute, fünf Jahre nach der Entstehung des Grandhotel Cosmopolis, lässt sich festhalten, dass sich trotz der benannten Herausforderungen und Belastungen über die Jahre des gemeinsamen Wirkens eine starke Gemeinschaft gebildet hat. Perspektiven und Lebensgeschichten wurden nicht nur ausgetauscht, sondern haben begonnen, sich zu vermischen. Menschen setzen sich hier in Bezug zu epochalen Schlüsselproblemen, die sich in ihren eigenen Biografien spiegeln, wie beispielsweise der sozialen Ungleichheit in einer globalisierten und mediatisierten Welt. Lebensgeschichten werden geteilt und zum Thema der eigenen Biografie gemacht. Viele Wirkende sprechen von diesem Prozess als Zusammenwachsen einer Familie oder eines Freundeskreises. Die Offenheit und Anerkennung im täglichen Zusammenleben bieten die Erfahrung von Vertrauen, Stabilität und Sicherheit. Und doch bleibt Sicherheit zugleich immer relativ, eine Utopie, da stetig die potenzielle Gefahr droht, dass sich die Tür öffnet und ein Familienmitglied, ein_e Freund_in, ein_e Mitarbeiter_in deportiert wird. Die erste Abschiebung fand bereits im Jahr 2013 statt, drei Tage nach Einzug der ersten Geflüchteten; die bislang letzte Abschiebung ereignete sich im Januar 2017 (Stand: April 2017). Das angesichts der Abschiebungspraxis der Behörden bei den Hoteliers entstehende Gefühl von Ohnmacht lässt sich nur schwer aushalten: »Das Schlimmste ist, wenn man eine Abschiebung nicht verhindern kann und dann bei der erzwungenen Ausreise unterstützt, weil es das Einzige und Letzte ist, was man noch tun kann. Wenn es pragmatisch die beste Lösung ist, dass du im Sinne des Systems

Selbstorganisation und Par tizipation in Wohn- und Kulturprojekten agierst und die Leute, mit denen du sehr verbunden bist, noch selbst zum Bahnhof fahren musst, weil du es einfach nicht verhindern kannst, das tut wirklich weh und fühlt sich ganz, ganz übel an.« (Stimme aus dem Grandhotel. Interview II Grandhotel Cosmopolis)

Trotz zahlreicher Bemühungen verschiedenster Akteur_innen und z. T. externer Unterstützung lassen sich die Abschiebungen meist nicht verhindern: »Um kurz nach sieben noch verschlafen in die Lobby wankend werde ich schlagartig geweckt durch die Erkenntnis, dass dies kein gewöhnlicher Tag im Grandhotel ist: Die Haustür steht sperrangelweit offen und vor der Treppe parken mehrere Polizei-Fahrzeuge. […] S. eilt mit finsterer Miene an mir vorüber ins Haus und kommt kurze Zeit später mit einer offenbar eilig gefüllten Reisetasche zurück. […] Augenblicke später erscheint ein völlig aufgelöster Hotelier und erklärt mir, was vor Tagesanbruch geschehen ist: Die Bewohnerin des Grandhotels und alleinerziehende Mutter von vier Kindern zwischen drei und 14 Jahren, B., ist in den frühen Morgenstunden von der Polizei aus dem stillen Kirchenasyl geholt und nach Polen abgeschoben worden. Die Interventionen mehrerer anwesender Unterstützer_innen aus dem Grandhotel konnten die Abschiebung nicht verhindern, auch der hinzu geeilte geistliche Leiter des Diakonischen Werks Augsburg konnte nichts ausrichten. Um Viertel nach sieben sitzt G. schluchzend auf der Treppe zur Eingangstür, überwältigt von ohnmächtiger Wut oder der Trauer über das Schicksal von B. und ihren Kindern. S. versucht, selbst einigermaßen hilflos, ihn zu trösten. […] Nach und nach treffen immer mehr Hoteliers ein, die zum Teil ihr gewohntes Programm beginnen, sich zum Teil aber auch zu S., G. und S. in das ›Denkerraum‹ genannte Zimmer im ersten Stock begeben, um über mögliche Schritte zur Unterstützung B.s und ihrer Kinder zu beratschlagen. Noch vor dem Mittagessen ist beschlossen, dass man die Abschiebung so leicht nicht akzeptieren werde, auch wenn es noch kaum konkrete Vorschläge gibt, was man tun könnte. […] Nach der Barschicht sitze ich im Büro einem offenkundig ebenso überforderten wie übernächtigten S. gegenüber, der zwischen dem Verfassen einer Pressemitteilung, der Diskussion mit anderen Hoteliers und seinem permanent klingelnden Telefon rotiert. Die Rechtsanwältin der Familie, diverse Journalist_innen und verschiedene Lokalpolitiker_innen wollen Auskünfte oder sollen erreicht werden. Ich muss schnell einsehen, dass es in diesem Durcheinander kaum Möglichkeiten der Unterstützung gibt für jemanden, der weder mit den Vorgängen noch mit den vielen involvierten Parteien und Personen vertraut ist, und versuche mäßig erfolgreich, mich auf die Überarbeitung einer Bundestags-Petition für B. und ihre Kinder zu konzentrieren.« (Stimme aus dem Grandhotel. In: Kuhlendahl 2015)

Die Wirkenden im Grandhotel erleben täglich, dass die Mitglieder ihrer Gemeinschaft in der sie umgebenden nationalstaatlich geordneten Welt privilegiert beziehungsweise de-privilegiert und faktisch ungleich viel wert sind. Dies hat drastische Auswirkungen auf ihre täglichen Lebensrealitäten und Rechtsansprüche. Wenn als Konsequenz dieser Ordnung (Familien-)Mitglie-

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der abgeschoben werden (sollen), passiert, was in jeder Familie oder Freundschaft passieren würde: Familie und Freund_innen versuchen mit allen Mitteln, diese Deportationen zu verhindern. Selten gelingt es. Diese Erfahrung ist schmerzhaft und lässt die Mitwirkenden ohnmächtig zurück, denn mit der Illegitimierung und Kriminalisierung der Geflüchteten wird auch die eigene langjährige (Ermächtigungs-)Arbeit infrage gestellt. Als Antwort darauf wird die nationalstaatliche Ordnung und Logik mit ihrem Machtgefälle und ihren konkreten (erlebten) Konsequenzen radikal in Zweifel gezogen und provoziert. Diese kritische Haltung und aus ihr resultierende Handlungen wie etwa die aktive Arbeit gegen Abschiebungen, können die Zusammenarbeit mit staatlichen sowie kommunalen Institutionen unter Umständen belasten, sodass eine Unterstützung von dieser Seite, sei es ideeller oder finanzieller Art, erschwert werden kann: »Die migrationspolitischen Erdbeben haben das Grandhotel ordentlich durchgerüttelt. Wir sind nicht sicher, ob wir unter diesen Bedingungen überhaupt weitermachen können« (Stimme aus dem Grandhotel. Gedächtnisprotokoll I Grandhotel Cosmopolis). Es stellt sich die Frage, wie eine kosmopolitische, glokale Gemeinschaft gelebt werden kann, wenn die rechtlichen und sozio-ökonomischen Strukturen, die das Projekt auf der Makroebene umschließen, keiner glokalen, sondern einer nationalstaatlichen Logik folgen. Unter diesen Bedingungen entscheidet der jeweilige Staat und/oder Status darüber, wer Teil der Gesellschaft sein darf. Auf daraus resultierende Ereignisse und Lebensrealitäten müssen täglich neue Antworten gefunden werden.

Selbstorganisation und Partizipation: zwischen Organisation und Organismus In selbstorganisierten und partizipativen Projekten wird bewusst der Versuch unternommen, kein Angebot von jemandem für jemanden zu schaffen,6 sondern unter der Mitwirkung aller Beteiligten eine Idee gemeinsam zu entwickeln und zu verwirklichen. Die Form wird in einem gemeinsamen Arbeitsprozess gesucht und ist stark von den individuellen Akteur_innen der Gruppe sowie den spezifischen Kontexten abhängig, in denen sie entsteht. Dieser Weg bietet großes Potenzial, stellt die Wirkenden aber auch vor ebenso große Aufgaben. Bedeutsame Themenfelder der Selbstorganisation und Partizipation sind Findungsprozesse gemeinsamer Arbeitsformen, Fragen nach dem strukturellen Auf bau und die Entwicklung von demokratischen und effektiven Entscheidungsprozessen. Die Aushandlungen der gemeinsamen Arbeit finden immer vor dem Hintergrund der übergeordneten gesamtgesellschaftlichen, politischen 6 | Beispielsweise bieten Etablierte Deutschkurse, Wohnungsvermittlungen, Begleitung bei Behördengängen, Sportkurse, Stadtführungen usw. für Geflüchtete an.

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und ökonomischen Machtverhältnisse statt, in denen sie intervenieren und die sie transformieren möchten. Die gesamtgesellschaftlichen Makrostrukturen bilden den Rahmen, auf den die Projekte mit dem Versuch der Ausdehnung und Entgrenzung antworten können, auf dessen Realitäten sie aber zugleich alltäglich zurückgeworfen sind, auf die sie reagieren müssen und von denen sie sich nie (vollständig) entkoppeln können. Gesamtgesellschaftliche Missstände aufheben und aushebeln zu wollen ist ein utopischer Anspruch, der schnell in die Überforderung führt. Zugleich wird dieser Anspruch und Wunsch gerade durch die Beobachtungen und Erfahrungen von Missständen, faktischen Ungleichheiten und systematischen Diskriminierungen stetig gestärkt: »Man ist nicht illegitim, weil man kein Kernteam von Geflüchteten und Nichtgeflüchteten hat. Man kann es nicht pauschal mit Stellvertretung wegwischen. Es passiert, dass Leute sagen, man sei ein kolonialistisches Projekt, weil keine Geflüchteten in der Leitung sind. Aber es gibt ganz viele strukturelle Probleme, die gesamtgesellschaftlich bedingt sind, die es für Geflüchtete äußerst schwer machen, sich an dieser Stelle einzubringen. Diese Probleme können wir nicht aushebeln oder vollständig lösen, so sehr wir uns das wünschen würden und es versuchen. Man kann alles ausdehnen, andere Perspektiven und Denkweisen zeigen, aber man gerät irgendwann an die Grenzen dessen, was einen umgibt. Also an die Grenzen einer deutschen oder einer Augsburger Gesellschaft. Und so sieht es dann mit der Partizipation von Geflüchteten aus. Hier können wir immer nur so arbeiten, wie es die äußeren Umstände zulassen. Wenn bestimmte Gegebenheiten so oder so sind, dann kommt man nicht darüber hinaus. Das ist Utopie. Man ist immer auch vom Außen abhängig.« (Stimme aus dem Grandhotel. Interview I Grandhotel Cosmopolis)

Projekte, die von Etablierten initiiert werden und sich als partizipativ beschreiben, erheben den Anspruch, Geflüchteten Teilhabe und das Agieren als Subjekt zu ermöglichen. In der Regel erschaffen Etablierte eine Plattform, auf der Geflüchtete einen Handlungsraum finden. Unabhängig von Selbstverständnis und Arbeitsformen bestehen zunächst unvermeidliche Machtverhältnisse zwischen Etablierten und Geflüchteten fort, die durch die faktischen Ungleichheiten in der gesellschaftlichen Anerkennung, durch die sozio-ökonomischen Ressourcen sowie durch (Un-)Kenntnis etwa der bürokratischen Strukturen bedingt sind. Eine ganz wesentliche Rolle spielt dabei auch die individuelle finanzielle Situation und die Finanzierung des Projekts im Allgemeinen: »Arbeit auf Augenhöhe braucht auch eine Gleichberechtigung auf der monetären Ebene« (Stimme aus dem Grandhotel. Interview I Grandhotel Cosmopolis). In Projektarbeiten ist es aus rechtlichen und Verwaltungsgründen oft schwierig, Geflüchtete überhaupt, geschweige denn angemessen, zu bezahlen. Sei es, weil sich die Personen noch im Asylverfahren befinden oder weil ihre Ausbildungen in Deutschland nicht anerkannt werden. Eine Gleich-

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berechtigung auf der monetären Ebene ist aber elementar, um ein Arbeiten auf Augenhöhe und die Einbindung in führende Funktionen zu ermöglichen. Die Einbindung und Partizipation von Geflüchteten fordert zudem sehr viel Zeit, insbesondere wenn Geflüchtete in der Führung oder Organisation eingebunden werden (möchten), da der bürokratische Apparat komplex ist. Zeitmangel und Überarbeitung, die in der Selbstorganisation Alltag sind, erschweren diese Einarbeitung zusätzlich. In vielen selbstorganisierten, partizipativen Projekten stellt sich daher die Frage, wie alle Beteiligten gleichberechtigt und ohne Überforderung aktiv in die Arbeit eingebunden werden können. Dies gilt sowohl auf der konzeptionellen und organisatorisch-administrativen Ebene als auch auf der Ebene der praktischen Arbeit. Darüber hinaus bleibt zu entscheiden, wann und wie die Einbindung aller notwendig ist und gleichberechtigte Teilhabe herstellt, oder ob Arbeit auf Augenhöhe gerade über den Weg der Übernahme von Verantwortung und bürokratisch-administrativer Arbeit ermöglicht wird – wie beispielsweise durch Vereinsgründung, Antragstellung und -abrechnung sowie das Schaffen von Räumen und Struktur durch nicht geflüchtete Akteur_innen. Es herrscht ein ambivalentes Verhältnis zwischen dem Anliegen einerseits, Wissen über die bürokratischen Strukturen zu vermitteln und Geflüchtete so selbst in diesen Strukturen handlungsfähig zu machen, statt sie zu »verwalten«, und andererseits dem Ziel, sie von dieser Arbeitsbelastung zu befreien und zügig eine Plattform zu schaffen, auf der eine praktische Arbeit stattfinden und gehandelt werden kann. Ein weiteres Charakteristikum der Selbstorganisation ist der Reibungsverlust, der durch die Dynamik zwischen der erforderlichen Organisation (Effektivität, bürokratische Arbeit, Verteilung von Aufgaben und Verantwortungen) auf der einen und dem Organismus (zwischenmenschliche Kommunikation, prozesshaftes und kreatives Entwickeln, Aushandlungsprozesse und demokratische Entscheidungsfindungen) auf der anderen Seite entsteht. Dieses Spannungsverhältnis zwischen Organisation und Organismus auszuhandeln und auszuhalten, kostet permanent Kraft und birgt zugleich das große Potenzial, sich wirklich kennenzulernen, miteinander zu lernen und Formen des gemeinsamen Lebens zu finden. Das gemeinsame, selbstbestimmte Arbeiten ermöglicht die Erfahrung von direkter und verbindlicher Selbstwirksamkeit und eine starke Identifikation mit dem kollektiv Erschaffenen. Es wird erfahrbar, dass Unwahrscheinliches möglich wird, dass das eigene Denken und Handeln eine Außenwirkung entfalten kann und wertgeschätzt wird, sei es projektintern oder auch in der Öffentlichkeit. Diese Erfahrung selbst kann als eine Form des Empowerment für alle Beteiligten verstanden werden. Im Grandhotel Cosmopolis kann ein solches Empowerment zum Beispiel die Erfahrung sein, dass täglich gemeinsam ein kosmopolitischer Lebensraum

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gelebt und gestaltet wird, in dem sich die Bewohner_innen in ihrer Diversität und trotz ihrer faktischen Ungleichheiten wohlfühlen, einbringen können und sich alltäglich begegnen. Menschen machen hier die Erfahrung, Verantwortung für sich selbst und füreinander zu übernehmen, ihren Wohn- und Lebensraum gemeinsam zu formen und mit ihren kulturellen, künstlerischen und politischen Veranstaltungen im und auch außerhalb des Grandhotel, in die Stadt Augsburg hinein und darüber hinaus, zu wirken. So wird die direkte und verbindliche Wirkung des eigenen Denkens und Handelns unmittelbar erlebt. Mit klassischen Formen der Bürger_innenbeteiligung, die in der Regel sehr vage bleiben, kann eine so direkte Erfahrung der eigenen Gestaltungsmöglichkeiten kaum verglichen werden. Viele Projekte, so auch das Grandhotel Cosmopolis, leben von der Kraft vieler Engagierter, die die Bereitschaft mitbringen, in ihrer Arbeit über die Zeit der eigenen Anwesenheit hinauszudenken. Die Freiheit, sich langfristig für oder gegen ein Leben im Grandhotel zu entscheiden und ebenso langfristig die eigene Zukunft zu planen, besitzen dabei einzig die Menschen, die einen dauerhaften Aufenthaltstitel haben. Entscheidend für die langfristige Perspektive bleibt bei allem persönlichen Engagement also der bürokratische Faktor: »Solange jemand keinen dauerhaften Aufenthaltstitel hat, brauchen wir von Integration gar nicht zu reden« (Stimme aus dem Grandhotel. Interview  I Grandhotel Cosmopolis). Nichtgeflüchtete stehen somit besonders in der Verantwortung, den Raum der Begegnung und des Gestaltens zu tragen und zu erhalten, sodass das Wirken der Geflüchteten im Rahmen ihrer aktuellen Kapazitäten möglich ist. Engagement stellt für viele Geflüchtete, die sich zwischen Behördengängen, Sprachkursen, Arbeitssuche, der Verarbeitung von Schicksalen und Traumata und dem Erfahren und Verstehen einer neuen Kultur befinden, eine besondere Herausforderung und manchmal gar eine Unmöglichkeit dar. Zwar kann trotz oder gerade aufgrund der widrigen Lebensumstände und unsicheren Zukunftsperspektiven eine besonders hohe Motivation bestehen, das eigene Leben zu gestalten und sich aktiv einzubringen – die Entscheidung für ein (intensives) Engagement im Grandhotel bleibt aber, wie bei Etablierten auch, eine sehr persönliche. Die Geflüchteten suchen sich das Grandhotel als Wohnraum nicht aktiv aus, sondern werden von der Bezirksregierung von Schwaben zugewiesen. Daher wäre es problematisch, ein Engagement zu forcieren. Zugleich kann es hilfreich sein, auf Geflüchtete, die nach dem Ankommen nicht selten in eine Depression fallen und sich isolieren, aktiv zuzugehen und Möglichkeiten der Partizipation anzubieten. Die Verantwortung besteht vor allem darin, einen sicheren Rahmen zu schaffen, in dem partizipiert werden kann, aber nicht muss. Im Grandhotel wird dabei stetig über die Frage diskutiert, wie (weit) aktiv auf neu Angekommene zugegangen werden sollte – oder eben nicht:

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Caroline Strotmann »It is really a personal decision to participate or not. People living here did not choose this place. Many newcomers from outside, who live in camps, they are jealous and say: ›I wish I could live here and not in my Heim.‹ Because it is different and they ask how they can move in here. But it also does not mean that they want to participate in decision-making and activities. They want to live here because it is a very nice and really welcoming place. A place where you have contact with people. Look at L. She is helping in the kitchen and she says that she can have a lot of contact with people now and it feels really good for her. But some people are in depression. We might think it is good for people in depression to become active, but when you are in depression and you are in that hole it is not easy to think ›Oh I have to do this because it is good for my depression …‹ They think ›What is this going to give me? I do not have status, I do not have future, I have no money and I can not work.‹ And you know, having all those things, it makes it much easier to participate and become active. But transformation happens when people chose to be here. Also a change of architecture could make a difference and I think you could have more will of participation then because you also feel in the same level [bezieht sich auf den Wunsch auch in den Räumlichkeiten der jetzigen Unterkunft selbstbestimmt arbeiten und wohnen zu können, Anm. d. Verf.]. Some people are living this kind of life for years, sharing their room with people they do not know, having no privacy and no vision. These people have nothing to do, none of these kinds of luxuries. With not newcomers the same construction might be different, I think. But well, in the end it is also a very personal decision. You have so many neighbours living around Grandhotel and they also could participate – but they do not.« (Stimme aus dem Grandhotel. Interview IV Grandhotel Cosmopolis)

Trotz zahlreicher Herausforderungen ist das Grandhotel ein Ort, an dem sich Menschen offen und positiv begegnen. Es wird ein Arbeits-, Lebens- und Wohnraum geschaffen, der Freiheit zur Entfaltung und zum Ausprobieren bietet. Es gibt vielfältige Anschlussmöglichkeiten im Bereich Kunst, Kultur, Stadtentwicklung und Wissenschaft, aber auch durch ganz praktische Tätigkeiten in der Küche, an der Bar oder im Hotel. Menschen kommen in Kontakt, knüpfen soziale Beziehungen, erfahren Gemeinschaft und Solidarität. Es geht immer wieder darum, sich als Mensch zu begegnen: Was ist mit mir? Was ist mit dir? Was können wir zusammen bewegen? In welcher Welt wollen wir leben?

F örderstruk turen und F inanzierungsprobleme Viele Engagierte bringen einen Großteil ihrer (Frei-)Zeit für das Grandhotel auf und haben es zu ihrem Lebensmittelpunkt gemacht. Diese Entscheidung braucht viel Vertrauen in den Ort und die Menschen, die ihn erschaffen. Entmutigungen durch die (Migrations-)Politik und die ständige Gefahr, dass dieser Lebensmittelpunkt zerbricht, weil (je)man(d) abgeschoben wird oder

Selbstorganisation und Par tizipation in Wohn- und Kulturprojekten

das Projekt endet, weil Fördermittel ausbleiben, müssen von allen dauerhaft ausgehalten werden. Zukunftsplanung ist in diesem Fall weder für Etablierte noch für Geflüchtete möglich. Zudem lassen wenige Förderprogramme die Schaffung von (sozialversicherungspflichtigen) Stellen zu. In Förderanträgen veranschlagte Arbeitszeiten werden durch das hohe Arbeitspensum in selbstorganisierten Projekten regelmäßig gesprengt. Der wirtschaftliche Druck und ein stetig drohendes Projektende wirken sich besonders stark auf Geflüchtete aus, die existenzielle Nöte erfahren (haben) und strukturell bedingt deutlich unsicheren Lebenssituationen ausgesetzt sind. Durch die dauerhafte Planungsunsicherheit wird die Umsetzung des Ziels, Geflüchteten den Weg zur Teilhabe auch in Form von führenden Positionen zu ebnen und langfristige Perspektiven zu schaffen, erschwert. Im Grandhotel Cosmopolis werden zwar sowohl vom Hotel und Hostel als auch innerhalb des Cafés beziehungsweise. Barbetriebs regelmäßige Einnahmen generiert; diese reichen jedoch nicht aus, um die Kosten zu decken. Eine längerfristige Förderung der Robert-Bosch-Stiftung ermöglichte immerhin die Auszahlung bescheidener zusätzlicher Honorare für einige der permanent engagierten Hoteliers von August 2014 bis Januar 2017. Das Auslaufen dieser Förderung stellt das Grandhotel vor eine Hürde, deren Überwindung noch ungewiss ist. Entgegen der Realität, die von ständiger Unsicherheit und Prekariat geprägt ist, kommt es häufig vor, dass Außenstehende aufgrund des Bekanntheitsgrades und des Vorhandenseins der wirtschaftlichen Betriebe (Hotel, Gastronomie) schlussfolgern, dass das Grandhotel wirtschaftlichen Profit anstrebe und Geflüchtete dabei als Instrument benütze: »Es kommt immer wieder vor, dass Leute denken, wir würden hier eine Menge Geld mit Geflüchteten machen.« (Stimme aus dem Grandhotel. Interview I Grandhotel Cosmopolis) »Ehrenamt – wenn man das überhaupt so nennen möchte – ist kein luxuriöses Hobby. Ohne sie würde die Gesellschaft kollabieren. Man könnte es ja auch so betrachten: Es werden gesamtgesellschaftliche Aufgaben privatisiert und verehrenamtlicht. Ein System produziert immer mehr Ungleichheit. Müll. Leute müssen diesen Müll dann wegräumen, weil sie sonst darin ertrinken. Und diese Leute stellen sich dann auch noch in einer Reihe an, um für diese Arbeit Lohn zu beantragen. Dabei konkurrieren sie untereinander um Gelder aus Fördertöpfen, um das tun zu können und zu überlegen, wie sie jetzt auch noch die 500 Euro fürs Müllwegräumen unter 50 Leuten aufteilen. Dann dokumentiert man noch in zusätzlicher Arbeitszeit für die Geldgeber_innen, wie toll man diese Arbeit gemacht hat. So betrachtet ist das eine sehr paradoxe Situation.« (Stimme aus dem Grandhotel. Interview I Grandhotel Cosmopolis)

Ebenso wie andere Projekte ist das Grandhotel Cosmopolis langfristig abhängig von finanziellen Förderungen, da ein gemeinnütziger Zweck verfolgt wird. Der

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Fokus liegt also nicht auf Wirtschaftlichkeit, sondern primär auf der Erfüllung der gemeinnützigen Satzungszwecke. So groß die Anstrengungen auch sind, die gemeinnützigen Tätigkeiten durch eigene Einnahmequellen, also ein Café, Eintrittsgelder, Teilnahmegebühren, Verkauf von Produkten oder Expertise, zu realisieren – das Ziel, sich selbst finanziell zu tragen, ist bislang nicht erreicht worden. Die Produkte aus den verschiedenen sozial integrierenden, kulturellen und politischen Tätigkeiten sind nicht marktfähig. Wenn es beispielsweise ein Café, ein Hotel oder ein Theater gibt, dann sind die hier erzeugten Einnahmen bestenfalls ausreichend, um die Kosten für diesen Bereich abzudecken oder einen Minimalgewinn zu erzielen. Eine Finanzierung der eigentlichen gemeinnützigen Arbeit aus diesen Mitteln ist nicht möglich. Die Aufrechterhaltung eines solchen Projekts funktioniert demzufolge nur dann, wenn einzelne Menschen, andere Institutionen oder die Gesamtgesellschaft diese Aufgabe übernehmen. Die Autonomie und Verstetigung von Projekten wie dem Grandhotel Cosmopolis könnten beispielweise über dauerhafte Ausgabesubventionen (z. B. Mietnachlass oder Mietfreiheit) und das Bereitstellen von Ressourcen durch städtische Institutionen oder größere Träger gewährleistet werden. Das vorherrschende Prinzip der temporären und kurzfristigen Finanzierung erzeugt einen Druck, regelmäßig »neue« (Teil-)Projekte zu konzipieren. Auch gut laufende Projekte müssen regelmäßig enden, weil keine Anschlussförderung bewilligt wird. Häufig geschieht dies mit der Begründung, auch neuen Projekten eine Chance geben zu wollen. Manche Stiftungen haben in ihrer Satzung eine maximale Förderdauer implementiert und sich so selbst die Auflage geschaffen, auch erfolgreiche Projekte im Zweifelsfall sich selbst zu überlassen. Förderungen sind im besten, aber sehr seltenen Fall mehrjährig. Ob Förderungen, die verlängerbar sind, tatsächlich verlängert werden, ist stets ungewiss. Es besteht also zu jedem Zeitpunkt die Gefahr, dass Projekten durch äußere Umstände ein Ende gesetzt wird, so gut sie auch inhaltlich und partizipativ arbeiten, und obwohl oder gerade weil sie langfristig angelegt sind: »Es ist einfacher, Förderungen für Kurzprojekte zu bekommen, die schöne Bilder produzieren und nicht so sehr in die Tiefe gehen. Zum Beispiel Kochbücher oder Theaterstücke mit Geflüchteten. Die kann man schnell durchführen und es kommt ein gut fassbares Produkt dabei raus. Ich will gar nicht sagen, dass das schlechte Projekte sind. Ich will nur sagen, dass es viel schwieriger ist, Gelder für nachhaltige Projekte oder den Aufbau einer Infrastruktur zu akquirieren. Von der Ankunft in Deutschland bis zu einem Punkt, wo man eingelebt ist, vergehen bestimmt drei bis fünf Jahre. Es ist etwas ganz anderes, über einen langen Zeitraum in einer Gemeinschaft zu leben, individuell mit Menschen zu arbeiten und sie dabei zu unterstützen, in einer Gesellschaft anzukommen. […]. Man findet zum Beispiel kaum Förderungen für Traumaprojekte. Viele der geflüchteten Frauen haben große Probleme, eine Traumatherapie zu bekommen, egal wie oft sie verge-

Selbstorganisation und Par tizipation in Wohn- und Kulturprojekten waltigt wurden. Weil so eine Traumatherapie sehr lange dauert, kostenintensiv ist und sich kaum hip vermarkten lässt. Über die staatliche Gesundheitsversorgung ist es auch kaum möglich, da Geflüchtete auf solche Leistungen in der Regel keinen Anspruch haben.« (Stimme aus dem Grandhotel. Interview I Grandhotel Cosmopolis)

Zudem wird im Rahmen der Antragsbewilligung in der Regel erwartet, dass ein Projekt noch nicht angefangen haben darf und in sich geschlossen ist. Dies ist vor allem der Stiftungslogik beziehungsweise dem Legitimierungszwang der Stiftungen geschuldet: Ziel ist zwar einerseits, sinnvolle Projekte zu fördern, aber andererseits auch das Selbstmarketing, sich also mit dem Erfolg von Projekten zu »schmücken«. Es besteht daher der Wunsch nach geschlossenen, dokumentierten und ausgewerteten Projekten.7 In den meisten Ausschreibungen findet sich der Hinweis, dass die fördernde Stiftung auf der Projekt-Website, den Flyern usw. genannt werden muss. Die Stiftung muss regelmäßig neue und erfolgversprechende Projekte fördern, um ihr Selbstmarketing betreiben zu können. Paradoxerweise führt dieser Innovationsdruck dazu, dass neue Projekte konzipiert oder alte neu verpackt werden, obwohl es bereits eine Vielzahl erprobter laufender Projekte und Aktivitäten gibt. Dies kann dazu führen, dass Initiativen nicht aus Kreativität und der Ermittlung eines Bedarfes heraus, sondern teils auch in Reaktion auf diese Förderstrukturen versuchen, das Rad neu zu erfinden (oder es so aussehen zu lassen): »Die Workshops von R. sind ein guter Weg für neue Geflüchtete, non-verbal zu kommunizieren und in einer vertrauten Atmosphäre zu erfahren, dass sie hier Teil einer Gemeinschaft sind und nicht mehr auf sich allein gestellt. Das funktioniert genauso super und fruchtet total – aber er hat sich ungefähr alle sechs Monate einen neuen Titel für diese Arbeit ausgedacht und in den Anträgen Dinge verändert, damit es wie ein neues Projekt ist.« (Stimme aus dem Grandhotel. Interview I Grandhotel Cosmopolis)

Neben dem beschriebenen Innovationsdruck ist auch die Zahl der um die vorhandenen Fördertöpfe konkurrierenden Träger im Bereich Flucht und Migration gewachsen. Die steigende Zahl von Projekten und Initiativen wurde im Rahmen der Erweiterung alter und Implementierung neuer Förderprogramme nicht angemessen berücksichtigt. Vermutlich wird sich die Zahl der Projekte allein durch den experimentellen beziehungsweise temporären Charakter vieler neuer Initiativen wieder verringern. Jedoch sollte das Enden oder Fortbestehen der Arbeit von ihrem inhaltlichen Potenzial und nicht von der Verfügbarkeit von Fördermitteln bestimmt werden. 7 | Selbstverständlich ist dies nicht die einzige Motivation. Es geht auch darum, Erkenntnisse über Vor- und Nachteile bestimmter Arbeitsformen zu gewinnen und durch die gebotene Reflexion eine Nachhaltigkeit in der Arbeit zu erzeugen.

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Die Antragstellung erfordert neben umfassenden Sprachkenntnissen ein hohes Maß an fachlicher Expertise und viel Arbeitszeit. Die Investition erfolgt dabei stets in der Ungewissheit darüber, ob es eine Förderung geben wird. Auch die Abrechnungen und Berichte erfordern einen hohen Zeitaufwand, der nur in manchen Fällen als Kostenpunkt gefördert werden kann. Vielen Projekten fehlt die erforderliche Expertise, sodass der Zeitaufwand deutlich steigt oder aber das Vorhaben aus Frustration gänzlich aufgegeben wird. Ein möglicher Weg ist dann ein rein unbezahltes Engagement, welches, je nach Projektumfang, aber oft aus Kapazitätsgründen ein schnelles Ende findet. Von dieser Problemlage sind Migrant_innen und Migrant_innenorganisationen besonders stark betroffen. Allianzprojekte, die Geflüchtete in die Verwaltung und Mittelakquise einbeziehen möchten, stehen gleichwohl vor demselben Problem: Geflüchtete können in diese Arbeit nur schwer eingebunden werden. Hierarchien werden folglich reproduziert. Die Einarbeitung in bürokratische Strukturen und Förderstrukturen im Allgemeinen sowie die Antragstellung im Speziellen ist schon für Etablierte eine Herausforderung. Für Geflüchtete ist sie ohne Unterstützung kaum möglich. In den Projekten stehen daher oft die Nichtgeflüchteten in der Verantwortung, Projektanträge stellvertretend für Geflüchtete zu schreiben oder sie dabei in einem Umfang zu unterstützen, der viel Zeit und Energie verlangt: »Es war ein ziemlicher Aufwand, den Antrag für F.s Stadtspaziergänge zu schreiben. Am Ende haben ihm dabei vier Spezialist_innen geholfen und den Antrag gemeinsam mit ihm geschrieben, weil F. den Antrag nicht verstehen konnte. Und er ist schon eine ganze Weile hier, spricht sehr gut Deutsch und es sollte ein Projekt von Geflüchteten für Geflüchtete realisiert werden. Und der F. konnte den Antrag nicht mal verstehen. Es brauchte sehr viel Hilfe von Bürokratie-Übersetzer_innen. Wie hoch kann man denn die Barriere noch setzen?« (Stimme aus dem Grandhotel. Interview I Grandhotel Cosmopolis)

Zudem ist die Motivation, sich mit Förderstrukturen und Antragslogiken auseinanderzusetzen, bei Menschen ohne dauerhaften Aufenthaltsstatus und Zukunftsperspektive äußerst gering. Diese Investition von Zeit und Kraft erfordert die Möglichkeit oder zumindest die größere Aussicht auf eine Zukunft in Deutschland. Sofern diese Möglichkeit gegeben ist, besteht zudem aufgrund der (erlebten) extremen Mangelerfahrungen, Unsicherheiten und eventuellen Traumatisierungen oft ein besonders ausgeprägtes Sicherheitsbedürfnis. Die ohnehin meist unbekannten und zudem sehr fragilen Projektrealitäten von Vereinen und NGOs bieten wenig Aussicht auf diese Sicherheit. Hilfreich könnten hier mehr spezifische Förderprogramme, umfassende Antragswerkstätten und eine intensive Unterstützung und Beratung während des Prozesses der Antragstellung sein, um eine migrationsgesellschaftliche Öffnung der Förderstrukturen zu stärken.

Selbstorganisation und Par tizipation in Wohn- und Kulturprojekten

Sofern Geflüchtete in der Lage sind, aufgrund ihres Status und des erworbenen Wissens (Sprache, bürokratische Strukturen usw.) führende und bezahlte Arbeit zu übernehmen, stellt sich die Frage, inwiefern erwartet werden kann oder sollte, dass sie sich von einem Projekt abhängig machen, dessen Fortbestehen stetig bedroht ist. Sich (dauerhaft) in Abhängigkeit von dessen Existenz zu begeben, oder hier einen Großteil der eigenen Ressourcen (Zeit und Kraft) zu investieren, erfordert besonderen Mut und Überzeugung, insbesondere in Anbetracht der strukturellen Benachteiligungen auf dem Arbeitsmarkt: »Extreme Mangelerfahrungen erhöhen das Bedürfnis nach Sicherheit […]. Außerdem haben die meisten Etablierten auf dem Arbeitsmarkt viel bessere Aussichten als Geflüchtete« (Stimme aus dem Grandhotel. Interview I Grandhotel Cosmopolis). Ein weiteres Problem in der Zusammenarbeit mit Stiftungen ist die Anforderung, sich als besonders effektiv und perfekt darstellen zu müssen. Da große Konkurrenz um Fördertöpfe unter den Initiativen besteht und es Stiftungen unter anderem auch ein Anliegen ist, sich mit dem Erfolg der von ihnen geförderten Projekten selbst auszeichnen zu können, ist das öffentliche Bild von hoher Bedeutung. In der Außendarstellung wie in den Projektdokumentationen wird es daher immer eine Tendenz geben, die Erfolge zu betonen und eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass Probleme verschleiert oder mindestens in abgeschwächter Form geschildert werden. Ein für beide Seiten lehrreiches und transparentes Problem-Sharing wird selten betrieben.

M öglichkeiten sozialer R äume und kosmopolitischer R e alität Es wurde aufgezeigt, dass das Grandhotel Cosmopolis, so wie viele andere selbstorganisierte partizipative Projekte, sowohl aus gesellschaftlichen als auch aus strukturell-finanziellen Gründen vor einer Reihe von Herausforderungen und teils unlösbaren Widersprüchen steht, die ausgehandelt und dauerhaft ausgehalten werden müssen. Diese Probleme und Widersprüche verstärken sich in Projekten mit Geflüchteten beziehungsweise Migrant_innen noch, da eine globale Dimension hinzukommt: »Bevor ich mir Gedanken darüber mache, ob ich soziale Räume will, möchte ich wissen, ob ich in einem Land lebe, das sich der Globalisierung und der Realität der Migration stellt. Sonst heißt das Problem Schönmalerei. Wenn die Flüchtlingspolitik so restriktiv ist und das größte Ziel darin besteht, Geflüchtete beziehungsweise Migrant_innen möglichst schnell wieder loszuwerden, möchte ich vor allem nach dem Ausblick auf eine kosmopolitische Realität fragen. Wir leben in einer globalisierten Welt mit Migration. Waren können alle Grenzen passieren. Menschen nicht. Dabei beruhen unsere Privilegien und

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Caroline Strotmann unser Wohlstand hier auch auf einem globalen Wirtschaftssystem, in dem Menschen ausgebeutet werden und ihre Heimat verlieren. Und dann legen wir ein paar kleine Förderprogramme für Flüchtlingsprojekte auf, für die Menschen, die es trotz Grenzregime hergeschafft haben. Das finde ich sehr widersprüchlich.« (Stimme aus dem Grandhotel. Interview Grandhotel Cosmopolis)

Mit den Schwierigkeiten und Herausforderungen, die aus den ökonomischen, gesellschafts- und migrationspolitischen Strukturen entstehen, wird in der sozialen Skulptur Grandhotel Cosmopolis tagtäglich umgegangen und im Rahmen bestehender Möglichkeiten gearbeitet, weil eine große Gruppe von Menschen an deren Überwindbarkeit glaubt und im alltäglichen Zusammenkommen und -wirken selbst die Beweise ihrer potenziellen Möglichkeiten schafft. Ob dem gesellschaftlichen Gesamtkunstwerk aus finanziellen Gründen ein Ende gesetzt werden muss, ist ungewiss. Auch wenn Werke dieser Art bisher eine Ausnahme bilden, scheinen sie grundsätzlich möglich. Angesichts der zahlreichen Widrigkeiten ist es besonders erstaunlich, aber umso wünschenswerter, dass sich Menschen gemeinsam für diesen Weg entscheiden. Dass sie dabei dauerhaft von öffentlichen oder privaten Institutionen unterstützt werden, ist für ihre nachhaltige Entwicklung notwendig, aus den erwähnten Gründen jedoch zum jetzigen Zeitpunkt nicht wahrscheinlich. Nach wie vor ist Wirtschaftlichkeit hier offenbar der primäre Maßstab. Projekte, die sich gesellschaftlich-sozialer, künstlerischer und kultureller Arbeit widmen, zielen aber gerade nicht auf monetären Profit, und können kaum realisiert oder erhalten werden, wenn sie einer Logik der Wirtschaftlichkeit unterworfen werden. »Wie rechtfertigt ihr denn eigentlich, dass im Zentrum von Berlin, wo die Mieten total hoch sind, ein Projekt entstehen soll, dass keinen wirtschaftlichen Mehrwert generiert?« (Master-Studierender aus Wales in einer Fragerunde über den Campus Cosmopolis. Gedächtnisprotokoll III Campus Cosmopolis) »Angesichts der stetig spekulativ steigenden Grundstückspreise werden wir Schwierigkeiten haben, im Stadtgebiet ein Grundstück zu finden und auf faire Mieten zu kommen, die sich die Bewohner_innen leisten können. Die Stadt könnte – in der Theorie – ein städtisches Grundstück zu einem für uns realistischen Preis verkaufen oder verpachten. In der Praxis ist dies höchst unwahrscheinlich. Auch hier wird in der Regel zum höchstmöglichen Preis veräußert. Hier müssen Politik und Öffentlichkeit sehen, was es für Stadtentwicklung und Integration bedeutet, wenn wirtschaftlicher Profit als (wichtigster) Maßstab angelegt wird.« (Stimme aus dem Campus Cosmopolis. Gedächtnisprotokoll II Campus Cosmopolis)

Es stellt sich die Frage, wie zukünftig soziale (kosmopolitische) Freiräume, die keiner wirtschaftlichen Logik oder dem Prinzip eines klar messbaren Inputs und

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Outputs folgen, möglich sein werden. Welche Bedeutung wird diesen Räumen gesellschaftlich beigemessen? Das hohe Engagement in und die äußerst positive Rezeption von Orten wie dem Grandhotel Cosmopolis und der Protest gegen die Räumungen beziehungsweise Bedrohung zahlreicher sozialer Projekte, wie in Berlin8, verdeutlichen den Wunsch und Bedarf nach sozialen und selbstbestimmten Räumen. Allerdings entmutigen nicht nur die Herausforderungen der Förderstrukturen, sondern auch die begrenzten Möglichkeiten der Selbstfinanzierung. Auch mit Blick auf die Entwicklung der Immobilienmärkte, auf denen (Wohn-) Raum als Ware und Spekulationsobjekt gilt, wird der Bedarf nach sozialen, kosmopolitischen und selbstbestimmten Räumen ersichtlich. Diese Räume können nur durch konsequente Unterstützung und Förderungen ideeller, materieller und finanzieller Art von Bund und Kommunen realisiert und dauerhaft erhalten werden. Zudem braucht es Unterstützung und Bereitschaft aus einer breiten Zivilgesellschaft, um derartige Räume zu tragen. Wie die in diesem Buch vorgestellten Projekte zeigen, besteht vonseiten der Zivilgesellschaft hohe Bereitschaft zum Engagement. Auch wenn von staatlicher Seite aktuell kein intensives Engagement in diese Richtung erkennbar ist, gibt es doch Ausnahmen und eine Reihe von (Lokal-)Politiker_innen, die einen Anstoß in diese Richtung versuchen. Dieser Einsatz sollte verstärkt werden, da die zivilgesellschaftlichen Potenziale sonst nicht zur Entfaltung kommen können und ausgebremst werden.

Q uellenverzeichnis Beuys, J. (1991): »Jeder Mensch ein Künstler«. Auf dem Weg zur Freiheitsgestalt des sozialen Organismus. 23. März 1978. Internationales Kulturzentrum, Achberg. Wangen: FIU-Verlag. Kuhlendahl, N. (2015): Asyl für Obdachlose. Strategien der Aneignung für ein Recht auf Stadt. Grandhotel Cosmopolis Augsburg und Campus Cosmopolis Berlin. Unveröffentlichte Diplomarbeit, Berlin. Schiffauer, W./Eilert, A./Rudloff, M. (Hg.) (2017): So schaffen wir das – eine Zivilgesellschaft im Auf bruch. 90 wegweisende Projekte mit Geflüchteten. Bielefeld: transcript. 8 | So beispielweise die Lausitzerstraße 10 in Kreuzberg, zu deren Mieter_innen zahlreiche soziokulturelle Projekte gehören, die gemeinnützig arbeiten. Der drohende Verkauf des Gebäudes gefährdet die Existenz dieser Projekte. Den veranschlagten Verkaufspreis von 19,4 Millionen Euro kann die Hausgemeinschaft selbst nicht aufbringen. Vor zehn Jahren hatte die Firma Taekker das Gebäude vom Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg für 3 Millionen Euro erworben. Der nun durch den Weiterverkauf angestrebte Gewinn liegt bei circa 600 Prozent. Weitere Informationen zu finden unter https://www. metrozones.info/lause-bleibt/

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I ntervie w verzeichnis Interview I, Grandhotel Cosmopolis, Augsburg, 16.02.2017. Interview II, Grandhotel Cosmopolis, Augsburg, 16.02.2017. Interview III, Grandhotel Cosmopolis, Augsburg, 16.02.2017. Interview IV, Grandhotel Cosmopolis, Augsburg, 16.02.2017.

G edächtnisprotokolle Gedächtnisprotokoll I, Grandhotel Cosmopolis, Augsburg, 05.08.2015. Gedächtnisprotokoll II, Campus Cosmopolis, Berlin, 20.01.2016. Gedächtnisprotokoll III, Campus Cosmopolis, Berlin, 21.03.2017.

Digitale Projekte in der Geflüchtetenarbeit – ein wichtiges Tool der Vernetzung Drei Beispiele aus Dresden, Hamburg und Berlin Anja Gretschmann

Das Grundanliegen der drei hier vorgestellten digitalen Initiativen We.Inform. aus Hamburg, Afeefa aus Dresden und InfoCompass aus Berlin bestand zunächst darin, die vielen im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise spontan entstandenen Unterstützungsinitiativen und Projekte miteinander zu vernetzen und die Arbeit dadurch zu effektivieren. Ein weiteres Ziel war die Stärkung gesellschaftlicher Teilhabe von Geflüchteten insbesondere durch einen verbesserten Zugang zu Informationen. Das Wissen über lokal vorhandene Angebote von Initiativen und über die verschiedenen Anlaufstellen in Behörden sollte zusammengeführt und sowohl den Geflüchteten als auch den Freiwilligen und den Verwaltungsmitarbeiter_innen vor Ort zugänglich gemacht werden. Dabei ging man davon aus, dass ein barrierefreier Kommunikationsfluss zwischen den Initiativen, Behörden und Geflüchteten eine ganz entscheidende Rolle im Ankommens- und Aufnahmeprozess spielt und sich positiv auf die gesellschaftliche Integration auswirkt. Der Zugang zu Informationen sollte die Geflüchteten in die Lage versetzen, sich eigenständig und unabhängig in der städtischen Umgebung zurechtzufinden. Kurzum: Die Initiativen hofften durch digitale Anwendungen zum Empowerment von Geflüchteten beizutragen. Ein näherer Blick auf drei Projekte mit ähnlicher Zielsetzung zeigt, dass dies in sehr unterschiedlichem Ausmaß geglückt ist. Im Folgenden werde ich die Projekte Afeefa, We.Inform. und InfoCompass vorstellen und anschließend die Gelingensbedingungen der Projekte herausarbeiten. Da sich die Herausforderungen und Herangehensweisen insbesondere bei dem Hamburger und dem Dresdener Projekt unterscheiden, stehen diese beiden Projekte im Fokus der Betrachtung. Erfahrungen des Projekts InfoCompass aus Berlin werden ergänzend dazu herangezogen. Ich werde zeigen, dass die Wirkung der Projekte davon abhängt, wie sehr es ihnen gelungen ist, erstens eine Kooperation mit

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den staatlichen Stellen herzustellen, zweitens die Geflüchteten einzubeziehen, drittens die Verzahnung von digitaler und physischer Interaktion zu realisieren, und viertens Nutzerfreundlichkeit sicherzustellen.

D ie P rojek te Afeefa Die Initiative Afeefa (»Alle für einen; einer für alle«) aus Dresden ist aus dem Netzwerk Dresden für Alle hervorgegangen. Letzteres wurde am 21.11.2014 gegründet und besteht inzwischen (2017) aus mehr als 100 Dresdener Initiativen, Organisationen, Vereinen und Institutionen unterschiedlicher Richtungen. Das Spektrum reicht von kleinen Vereinen und Initiativen wie der Begegnungsstätte Gorbitz International, Stolpervereine e. V. und dem Montagscafé bis zu großen städtischen Kultureinrichtungen wie den Dresdener Musikfestspielen und der Staatsoper Dresden. Das Ziel des Netzwerks ist es, sich für eine demokratische Stadtgesellschaft und gegen Diskriminierung einzusetzen.1 Afeefa ist als ehrenamtliche Initiative gestartet und hat eine Online-Plattform und ein digitales Vernetzungstool entwickelt, das ein breites Informationsangebot bereitstellt. Zentrales Element ist eine interaktive Karte. Um das Projekt bekannt zu machen, kooperiert die Initiative seit Ende 2016 verstärkt mit dem Projekt Montagscafé, welches im Kleinen Haus des Staatstheaters Dresden stattfindet. Dort können sich Geflüchtete an einem Infostand über die Plattform und die entsprechenden Angebote informieren. Inzwischen ist die Initiative auch in Leipzig aktiv und erhält Unterstützung von der Stiftung Bürger für Leipzig.

We.Inform. Die Initiative We.Inform. wurde von Studierenden der Bucerius Law School, einer privaten Hochschule für Rechtswissenschaft, im September 2015 in Hamburg gegründet. Wie bei Afeefa werden auf der Plattform Informationen für Geflüchtete und freiwillig Engagierte zusammengestellt. Bei der Gestaltung wurde von vorneherein eine größtmögliche Übersichtlichkeit angestrebt und bewusst vermieden, die Plattform mit Informationen zu überladen. Um die Zielgruppe effektiv zu erreichen, wurde komplementär zur Website ein Netzwerk von ca. 150 Informationsguides aufgebaut. Diese gehen in die Unterkünfte, verteilen dort mehrsprachiges Infomaterial und sprechen die Bewohner_innen persönlich an. Das Projekt We.Inform. hat dank der sehr engen 1 | http://dresdenfueralle.de/das-net zwerk-dresden-fuer-alle/organisationen-imnetzwerk/

Digitale Projekte in der Geflüchtetenarbeit – ein wichtiges Tool der Vernet zung

strukturellen Anbindung an die Bucerius Law School Zugriff auf materielle Ressourcen, Räume und engagierte Menschen aus dem Umfeld der Hochschule. Eine weitere wichtige Kooperation besteht mit der Hamburger Behörde für Arbeit, Soziales, Familie, Integration und dem Dialogforum Kommunikation des Forums Flüchtlingshilfe, die We.Inform. bei Druck und Übersetzungsarbeiten sowie bei der Qualitätssicherung der Inhalte unterstützen. Das Projekt geht davon aus, dass nur durch die enge Zusammenarbeit von Behörden, Politik, Zivilgesellschaft und Geflüchteten Lösungen für die Situation von Geflüchteten gefunden werden können.

InfoCompass InfoCompass entstand im Juli 2015 als gemeinsame Initiative des Integrationsbeauftragten des Bezirksamtes Reinickendorf, der Dienstleister Albatros GmbH und Pegasus GmbH sowie der Designgruppe place/making, welche für Konzept, Design und Umsetzung verantwortlich ist. Neben einer visuellen Karte mit den verschiedenen Initiativen vor Ort wird auf der Internetplattform InfoCompass die Vielfalt an vorhandenen Angeboten für Geflüchtete, von Repaircafé über Nachbarschaftshäuser bis hin zu Deutschkursen, übersichtlich dargestellt. Der Zugang sollte durch die Verknüpfung realer und virtueller Räume erleichtert werden. Eine Schlüsselrolle spielen dabei die sogenannten InfoPoints, die von Bundesfreiwilligen betreut werden. Dort stehen den Besucher_innen fest installierte Tablets, Drucker und ein Konferenztisch zur Verfügung. Informationen können hier auch ohne eigenes Endgerät abgerufen werden. Neben der Möglichkeit einer individuellen Beratung lassen sich vor Ort auch Gruppenveranstaltungen durchführen.

G elingensbedingung 1 : D ie K ooper ation mit staatlichen S tellen Eine zentrale Gelingensbedingung ist eine funktionierende Kooperation zwischen den Plattformbetreiber_innen und den staatlichen Stellen. Nur wenn beide Seiten das Gefühl haben, von dieser Kooperation zu profitieren, wird der für die Einrichtung einer Plattform notwendige Informationsfluss stattfinden. Nur dann sind auch die für die Finanzierung der Projektarbeit günstigen Voraussetzungen gegeben. Dies war in Hamburg, nicht aber in Dresden gegeben. We.Inform. profitierte von Anfang an von der engen Verbindung mit der Hochschule. Der gute Ruf der Universität wie auch die Unterstützung der Präsidentin Katharina Boele-Woelki bildeten ein soziales Kapital, das den Aufbau weiterer Kooperationen wie etwa mit der Hamburger Behörde für Arbeit, Soziales, Familie und Integration sowie dem Dialogforum Kommunikation des

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Forums Flüchtlingshilfe erlaubte. Die Kommunikation zwischen verschiedenen Akteur_innen wirkte sich positiv aus, beispielsweise wenn es um die Zusammenarbeit mit Unterkünften ging. Die Initiative wurde als gleichgestellte Partnerin gesehen. Die Zusammenarbeit mit städtischen Behörden, Medien und Unterkunftspersonal erlaubte dem Projekt schon während der Gründung, alle beteiligten Akteur_innen zur gegenseitigen Unterstützung zu animieren. Dies wurde als Voraussetzung dafür gesehen, die Geflüchteten wirklich zu erreichen und ihre Situation zu verbessern. Die Initiatorin des Projekts Judith Büschleb beschreibt, wie aus der Zusammenarbeit auch ein wechselseitiges Vertrauen der verschiedenen Akteur_innen erwuchs. Ein gegenseitiger Austausch von Wissen und Erfahrungen zwischen Beamt_innen und Mitarbeiter_innen der Initiative konnte institutionalisiert werden. Jedes durch die Redaktion von We.Inform. bearbeitete Thema erhielt einen Themenpaten bzw. eine Themenpatin aus den Behörden und wurde auf Richtigkeit und Vollständigkeit geprüft. Der rege Austausch brachte die beteiligten Akteur_innen auf einen gemeinsamen Wissensstand – ein Aspekt, der für die Etablierung einer nachhaltigen Kooperationskultur unverzichtbar ist. Dies erlaubte es auch, mit der Sollbruchstelle in der Zusammenarbeit von städtischen Behörden und freiwillig organisierten Initiativen umzugehen, nämlich den unterschiedlichen Arbeitsgeschwindigkeiten. Wenn es um schnelle und flexible Informationsvermittlung geht, bemängeln freiwillig Engagierte oft die mit internen Organisationsprozessen zusammenhängende Langsamkeit in der Vorgehensweise von Behörden. Die Situation in Dresden stellte sich gewissermaßen umgekehrt dar. Hier war das Netzwerk Dresden für Alle, aus dem Afeefa hervorging, als Reaktion auf eine fremdenfeindliche Stimmung in der Stadt entstanden. Die Spaltung der städtischen Bevölkerung zeigte sich dabei auch in der Schwierigkeit, außerhalb des Netzwerks Kooperationspartner_innen zu finden. Zwar herrschte aufseiten der Plattformbetreiber_innen ein Wunsch nach Unabhängigkeit und Handlungsfreiheit. Dennoch gab es von Beginn an das Bedürfnis nach Kooperation mit institutionellen Trägern. Der Wille, Afeefa zu einem Gemeingut zu machen und das Wissen über die lokalen Angebote und Strukturen zu dezentralisieren war ein Kernanliegen von Afeefa. Der Zugang zu Informationen der Institutionen, Unterkunftsbetreiber_innen und Akteur_innen der Stadtverwaltung war jedoch müßig. So schildert Joschka Heinrich, Mitbegründer von Afeefa, dass auf viele Versuche der Initiative, eine gemeinsame Kooperation mit staatlichen und privaten Institutionen zu etablieren, nicht eingegangen wurde. Felix Schönfeld, der ebenfalls von Anfang an mit dabei war, bedauert das bis heute anhaltende Desinteresse: »Seitens der Stadt wurde hinsichtlich der Geflüchtetenarbeit keine klare Position bezogen. Das wurde bereits bei PEGIDA deutlich. Es scheint eine Haltung vorzuherrschen, die ein ›Aussitzen‹ vorzieht, statt die vorhandenen positiven Kräfte aus der Zivilgesellschaft zu bündeln

Digitale Projekte in der Geflüchtetenarbeit – ein wichtiges Tool der Vernet zung

und zu unterstützen.« (Interview Felix Schönfeld) So verfügt die Stadt zwar über einen Ehrenamtskoordinator, der sich auch um die lokale Vernetzung bemüht. Ein nachhaltiges Interesse an Zusammenarbeit und Ressoucenbündelung ließe sich jedoch nicht feststellen. Diese mangelnde Kooperationsbereitschaft führte zu erheblichen Reibungsverlusten. Besonders zu erwähnen ist, dass die Pflege der Internetseite – ohnehin eine Achillesferse von Internetplattformen – dadurch sehr erschwert wurde: »Afeefa wird mit einem ehrenamtlichen Team betrieben und aufrechterhalten. Dies bedeutet neben viel Arbeit auch ein gut durchdachtes Zeitmanagement. Da die zeitlichen Ressourcen begrenzt sind und das Projekt sich nicht hauptberuflich finanziert, besteht die Gefahr, bestimmte Datensätze nicht ausreichend zu pflegen und auf ihre Aktualität zu überprüfen. Demnach kann es passieren, dass ein Geflüchteter ein Hilfsangebot aus der Karte wahrnehmen will, dieses aber nicht mehr existiert, da die stetige Aktualisierung mangels Zeit nicht vorgenommen werden konnte.« (Kirschenbaum 2016: 8)

Gerade in Bezug auf amtliche Informationen, die für Geflüchtete von existenzieller Bedeutung sind, ist eine ständige Aktualisierung entscheidend  – andernfalls kann es fatale Auswirkungen haben. Kontinuierlicher Austausch und eine enge Vernetzung sind daher zugunsten der Qualitätssicherung unabdingbar.

G elingensbedingung 2 : E inbindung G eflüchte ter in die F reiwilligenarbeit Der Initiative We.Inform. gelang es, ein Konzept zu entwickeln, das Geflüchtete zielgerichtet in die eigenen Arbeitsstrukturen einbindet. Bevor das Projekt die Website online stellte, versuchten die Initiator_innen herauszufinden, was eine solche Website für Geflüchtete beinhalten sollte, um die Zugänglichkeit für die verschiedenen Nutzer_innen zu gewährleisten. Dazu wurden die nötigen Expert_innen dort kontaktiert, wo sie zu vermuten waren: Unter den Geflüchteten selbst. Judith Büschleb, Mitbegründerin des Projektes, hat die Erfahrung gemacht, dass dieser Schritt unerlässlich ist. Ein früherer Zugang war gescheitert, weil die Initiator_innen bei der Konzeption ihres Projekts von ihren eigenen Perspektiven ausgegangen waren, ohne diese mit den potenziellen Nutzer_innen abzugleichen. Beim erneuten Versuch bat Büschleb Geflüchtete selbst um Hilfe – und stieß damit auf Resonanz. »Dann habe ich gedacht, was könnte uns verbinden, und habe dann die Leute gefragt, ob sie mir Arabisch beibringen könnten. Dann ist es nicht dieses ›Ich komme her und helfe dir‹, sondern so können sie mir etwas beibringen.« (Interview We.Inform.) Entscheidend war der Kontakt mit dem 34-jährigen Khalid Dugh­

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moush, einem Bauingenieur aus Syrien. Er kannte die Schwierigkeiten, vor denen selbst Geflüchtete mit guten Deutschkenntnissen in der Anfangszeit stehen, aus eigener Erfahrung. »Für uns Flüchtlinge war es schwer, die Hamburger Bürger kennenzulernen. Es gibt zwar viele Projekte, aber oft wissen die Flüchtlinge nichts davon. Es findet kaum Austausch mit den Bürgern statt.« So erfuhr er erst nach neun Monaten von einer Sozialberatungsstelle. Zusammen mit ihm versuchte Judith Büschleb herauszufinden, wie Geflüchtete schon zu ihrer Ankunftszeit in Deutschland von wichtigen Anlaufstellen wie sozialen Projekten und Initiativen erfahren können, um sich in den neuen Strukturen besser zu orientieren. Die Institution der Infoguides ermöglichte eine dauerhafte Partizipation der Geflüchteten. Dabei wurden zunehmend auch Geflüchtete als Infoguides tätig. Über sie konnten die Plattform und die Freiwilligenarbeit schnell auch in den Unterkünften bekannt gemacht, und damit eine bessere Zugänglichkeit zu gesellschaftlichen Strukturen hergestellt werden. Durch die Infoguides konnte Wissen über die Bedürfnisse der Geflüchteten in die Projekte zurückfließen und bei der weiteren Projektentwicklung berücksichtigt werden. Die Möglichkeit, auf diese Weise Feedback über die eigene Arbeit und die sich mit der Zeit verändernden Lebenssituationen und Bedürfnisse Geflüchteter zu erhalten, hat für die Plattformbetreiber_innen einen großen Mehrwert. Auch bei Afeefa bestand von Anfang an das Ziel, nutzerorientiert zu arbeiten und Geflüchtete aktiv in den Prozess einzubinden. Sie bezog sich insbesondere auf die Partizipation in der Übersetzung der Inhalte sowie der technisch-informatischen Arbeit. So war ein geflüchteter Informatiker angesprochen und an der Zusammenarbeit beteiligt worden. Nach der Konzeption des Projekts versuchten die Initiatoren über die Kontakte durch das Netzwerk Dresden für Alle hinaus, auch auf der eigenen Plattform, der Facebook-Gruppe und über persönliche Ansprache auf die Partizipationsmöglichkeit für Geflüchtete aufmerksam zu machen. Dies gestaltete sich jedoch schwieriger als angenommen und brachte verschiedene Herausforderungen mit sich. »Zunächst ging es darum, das Verhalten der Nutzer_innen kennenzulernen und Medienkompetenzen zu er- und vermitteln. Diejenigen Geflüchteten, die über die entsprechenden Kenntnisse verfügen, bleiben oft nicht lange in der Stadt und ziehen, sobald sie die Möglichkeit haben, in andere Städte«, schildert Felix Schönfeld im Gespräch. Während sich die Kooperation in Hamburg in den Infoguides institutionalisierte, blieb sie in Dresden aufgrund der fehlenden Unterstützung eher informell. Obwohl es der Initiative innerhalb eines kurzen Zeitraums gelang, durch Gespräche und Analysen im Montagscafé viel über die Neuen Dresdner_innen und ihre Bedürfnisse zu erfahren, war das Echo gering. »Es zeigte sich, dass es nicht reicht zu sagen: ›Ja, Geflüchtete können schon bei uns mitmachen, von Anfang an waren wir da offen‹. Um Partizipation tatsächlich zu gestalten und

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Geflüchtete sofort aktiv einzubinden, müssen von Beginn an regelmäßig Informationsveranstaltungen und andere Angebote durchgeführt werden und der persönliche Kontakt durch direkte Ansprache hergestellt werden.« (Gretsch­ mann, Feldtagebuch) Bei InfoCompass wurde versucht, die Geflüchteten an den InfoPoints persönlich zu erreichen. Dort hatten die Geflüchteten ebenfalls die Möglichkeit, sich freiwillig an der Beratungsarbeit zu beteiligen. Die Einbindung Geflüchteter stelle einen wichtigen Aspekt dar, um in der neuen Umgebung so schnell wie möglich Fuß zu fassen, schildert Fernanda de Haro Ribeiro, die als Leiterin des Netzwerks Willkommen in Reinickendorf drei Mal wöchentlich den InfoPoint in der Berliner Gemeinschaftsunterkunft der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik betreut. Eine große Herausforderung sei es, gegen die depressive Atmosphäre in den Unterkünften anzugehen. Viele Geflüchtete litten unter der mit dem Rechtsstatus verbundenen Perspektivlosigkeit, insbesondere dem Arbeitsverbot, und verlören dadurch mit der Zeit die Motivation, weiterzumachen und ihr Leben aufzubauen. Um die Zugänglichkeit für Geflüchtete zu verbessern und Partiziaptionsmöglichkeiten einzurichten, wurde im Jahr 2017 im Rahmen des Bundesfreiwilligendienstes (BFD) eine Tandemstruktur in den InfoPoints aufgebaut: Geflüchtete und nichtgeflüchtete Freiwillige arbeiten hier zusammen und betreuen in Zweierteams den InfoPoint. Die Finanzierung erfolgt über das Programm des BFD. De Haro Ribeiro macht auf die Wichtigkeit einer regelmäßigen Ermutigung Geflüchteter zum freiwilligen Engagement aufmerksam. Gegen die Motivationslosigkeit, die mit der Zeit immer mehr um sich greift, helfe nur: »Dinge zu tun, wie die Sprache zu lernen, oder sich einfach nur zu beschäftigen. Je früher sie etwas finden, desto besser. Ich gehe immer wieder auch zu ihren Zimmern und frage sie, ob sie Lust haben zu kommen. Denn es ist wichtig, dass sie nicht den Glauben verlieren.« (Interview InfoCompass) Wie wichtig es ist, aktiv zu werden, sich zu beteiligen, zeigt auch der Fall von A., einem 17-jährigen Syrer. Um im Projekt mitzuarbeiten, nimmt er täglich eine Stunde Anreise aus dem Dorf in Kauf, in dem er untergebracht wurde. Die Arbeit helfe ihm dabei, Deutsch zu lernen und Kontakte mit Berliner_innen zu knüpfen, schildert der junge Geflüchtete im Interview.

G elingensbedingung 3 : D ie M öglichkeit persönlicher A nspr ache , um B arrieren zu überwinden Die Bereitstellung einer Internetplattform macht den persönlichen Kontakt mit den Geflüchteten nicht überflüssig. Ganz im Gegenteil erscheint gerade ein persönlicher Zugang die Voraussetzung dafür zu sein, dass die Internetplattform tatsächlich genutzt wird.

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We.Inform. entsendet mehrmals in der Woche eine Gruppe Infoguides in die Unterkünfte, um die Geflüchteten an Infoständen mit Informationsmaterial zu versorgen und in Austausch mit ihnen zu treten. Die Aktion wird vorher angekündigt, sodass die Bewohner_innen mögliche Fragen vorbereiten können. Die speziell geschulten Informationsguides sollen als persönliche Ansprechpartner_innen für die Geflüchteten dienen. Dabei wird nicht nur Hilfestellung geleistet, sondern auch Feedback entgegengenommen. Judith Büschleb sieht darin einen großen Nutzen für die digitale Plattform selbst. »Ich glaube die effektivere Sache ist, in den Unterkünften zu sein. Das bindet mehr Ressourcen und ist dadurch auch komplexer. Man kriegt plötzlich auch Feedback, und dann sagen die Flüchtlinge, ›Ja, aber ich war da und das ist ganz anders gewesen, als ihr es gesagt habt‹.« (Interview We.Inform.) In diesen Fällen werden die Informationen geprüft, korrigiert und neu gepostet. Der regelmäßige Kontakt der 100 Infoguides mit Geflüchteten erlaubt so eine effektive Pflege des Portals und steigert erheblich die Zuverlässigkeit der bereitgestellten Informationen. Bei InfoCompass dienen die InfoPoints dem Austausch. »Die Kombination von InfoCompass und InfoPoint – das ist das Geheimnis für den Erfolg.« (Interview InfoCompass) Eine ständige Präsenz von Freiwilligen in den Unterkünften ist dabei notwendig, um das Vertrauen Geflüchteter zu gewinnen. Fernanda de Haro Ribeiro, die schon seit der Anfangszeit im September 2015 einen der InfoPoints betreute, betont dabei, wie viel Zeit es brauche, eine Beziehung aufzubauen: »Ich bin von Anfang an dabei, und manche wollen nur zu mir kommen. […] Ich bin jede Woche da, und die sind dann manchmal nur vor die Tür gekommen und haben gelächelt und sind wieder gegangen. Zwei Wochen später haben sie ›Hallo‹ gesagt und gefragt ›Was machen Sie da‹. Und erst nach und nach kam es dann dazu, dass sie auch mal eine Frage gestellt haben oder einen Brief mitgebracht haben. Und irgendwann bringen sie den ganzen Ordner, weil sie sich sagen, ›Okay, ich vertraue dir, vielleicht kannst du mir helfen‹.« (Interview InfoCompass)

Dies bedeutet auch, dass die hohe Fluktuation von Engagierten ein erhebliches Problem darstellt. Ein anderes Problem besteht darin, dass manche Unterkünfte keinen InfoPoint auf dem Gelände dulden. InfoCompass richtete in diesen Fällen den Kontaktpunkt außerhalb ein; es zeigte sich jedoch, dass dies keine wirkliche Alternative darstellt. Zum einen fehlt die Möglichkeit beim spontanen Vorbeigehen erste Kontakte aufzubauen; zum anderen sind die Zugangsbarrieren vor allem für geflüchtete Frauen wesentlich höher, wenn sich der InfoPoint außerhalb der Unterkunft befindet. Afeefa versuchte, das große Netzwerk als Multiplikator zu nutzen und verfügte somit über indirekte Kontakte zu den Geflüchteten. Dies hatte auch politi-

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sche Gründe: Indem man die Geflüchteten in die Lage versetzte, sich eigenständig zu informieren, wollte man einen möglichen Helfer_innen-Paternalismus vermeiden. Felix Schönfeld merkt dazu außerdem an: »Es war einfach absehbar, dass man in Dresden sonst auf der Strecke bleibt. Leider ist uns das nicht gelungen. Afeefa ist bei Dresdner Refugees noch immer kein Selbstläufer.« (Interview Felix Schönfeld) Es zeigte sich, dass viele Geflüchtete die Nutzung der Online-Plattform als Mittel zur Kontaktaufnahme mit noch unbekannten Strukturen befremdete. Die über Afeefa erschlossenen Angebote und Möglichkeiten blieben so weitgehend ungenutzt. Um eine direkte persönliche Kommunikation aufzubauen, wurde Ende 2016 eine intensive Zusammenarbeit mit dem Montagscafé aufgenommen, das sich seit September 2015 als Ort der Begegnung in Dresden etabliert hatte. Angesichts der feindseligen Stimmung, die sich unter anderem in der steigenden Popularität der PEGIDA-Bewegung äußert, kommen viele Geflüchtete zum Montagscafé, »da es einer von wenigen Orten ist, an dem sie sich sicher fühlen können«, so der Mitarbeiter Vazeh Mustafa. Die Popularität des Cafés bei den Geflüchteten wird nun genutzt, um die Bekanntheit der digitalen Plattform zu steigern. So bekommen sie die Möglichkeit, an einem Infotisch mit den Mitarbeiter_innen der Website direkt in Kontakt zu treten. Dies erlaubt es den Mitarbeiter_innen von Afeefa, die Geflüchteten nach ihren Bedürfnissen und Nutzungsgewohnheiten des Internets zu befragen und die Ergebnisse entsprechend in die weitere Projektentwicklung mit einfließen zu lassen. Auch hier erlauben die Begegnungen ein Feedback, insofern die Betreiber_innen auf Probleme und Lücken der Plattform aufmerksam gemacht werden.

G elingensbedingung 4 : D ie H erstellung von N ut zerfreundlichkeit Bei der Gestaltung von Internetangeboten für Geflüchtete gilt es, zwei Tatsachen zu beachten: Erstens stellt das Smartphone das meistgenutzte Kommunikationsmittel unter den Geflüchteten dar, und zweitens stehen in den meisten Unterkünften schnelle Internetverbindungen nicht zur Verfügung. Darüber hinaus muss bei der Auf bereitung der Seite darauf geachtet werden, dass diese auch für Nichtmuttersprachler_innen gut lesbar ist. We.Inform. versuchte dem Rechnung zu tragen, indem vor allem Wert auf Einfachheit durch die Reduktion von Inhalten gelegt wurde. So sollten aus den zentralen Themenbereichen repräsentative Beispiele ausgewählt werden, um diese übersichtlich auf der Website darzustellen. Das Prinzip Einfachheit statt Vollständigkeit ist Mitarbeiterin Judith Büschleb zufolge eine wichtige Komponente, um Geflüchtete nicht mit Inhalten zu überfrachten.

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Dagegen war die Internetplattform von Afeefa zu anspruchsvoll. Um die Sprachbarrieren zu überwinden und den Nutzer_innen unabhängig von ihrem kulturellen Hintergrund schnellen Zugriff zu Inhalten zu gewähren, arbeitete die Initiative nutzerorientiert vorrangig mit grafischen Symbolen. Farbliche Markierungen sollten für eine einfache Handhabung sorgen. Von Anfang an bestand dabei die Herausforderung, zwei Zielgruppen gleichzeitig anzusprechen, die Geflüchteten und die Engagierten. »Denn die freiwillig Engagierten, die mit der Darstellung gut zurecht kommen, spielen als Nutzer von Afeefa ebenfalls eine wichtige Rolle. Wir sind immer in dem Zwiespalt, etwas ›Einfaches‹, aber technisch aufwänderigeres für Refugees zu machen, das wir eigentlich nicht stemmen können, oder etwas schnelles Komplexes, das Engagierte gut verstehen«, beschreibt Felix Schönfeld. Es zeigte sich, dass das Konzept für die Zielgruppe »Geflüchtete« nicht optimal gestaltet war und ein unmittelbarer Zugang so nicht erreicht wurde. Das Verstehen von spezifischen Darstellungsformaten wie diesen konnte nicht vorausgesetzt werden. »Wenn man Leuten ein Flugzeug zur Verfügung stellt, sollte man ihnen auch einen Piloten geben« (Interview Afeefa). Obwohl das Konzept von Afeefa nicht nur ein Projekt von Informatiker_innen ist, sondern auf bauend auf den Ideen und Erfahrungen von Aktiven in der Geflüchtetenarbeit und vor allem aus dem Wunsch nach Vernetzung und Bündelung von Ressourcen entstand, wurden die kulturellen Transferschwierigkeiten zum Teil unterschätzt. Hinzu tritt eine zweite Schwierigkeit: Trotz der Vorzüge einer ästhethisch ansprechenden Auf bereitung der Inhalte bringt die Performance eine zu lange Ladezeit der Website mit sich: »Wir arbeiten im Frontend noch immer mit dem prototypischen System der ersten Tage, das wir längst ausgetauscht haben wollten. Leider haben wir dafür keine Kapazitäten. Die Entscheidung fiel darauf, langfristig in die Qualität eines guten Backends zu investieren«, so Felix Schönfeld (Interview Felix Schönfeld). Moustafa Abdulrazzaq, ein geflüchteter Nutzer und Unterstützer von Afeefa, bemerkt dazu: »Es ist zu kompliziert. Die gute und reiche Grafik macht den Zugang durch Smartphones schwierig.« Die Komplexität der Website mit ihrer technisch anspruchsvollen Darstellung erforderte eine schnelle Internetverbindung, die insbesondere in der Ankommensphase in den Unterkünften nicht zur Verfügung stand. Darüber hinaus existierte in der Anfangszeit noch keine mobile Version, wodurch die Plattform auf Endgeräten wie Smartphones nicht gut verwendbar war. Zudem vereinfache die bloße Vielfalt an Apps und Websites den Geflüchteten nicht unbedingt den Zugang zu zivilgesellschaftlichen Strukturen, so Abdulrazzaq: »Es gibt eine Menge nützlicher Portale und eine Menge Initiativen, die die Bürokratien abdecken, aber niemand liefert den Flüchtlingen die Informationen durch die richtigen Portale und die richtigen Kanäle.« Eher führe ein

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Überangebot zur Überforderung: »Es ist für die Geflüchteten nicht zu unterscheiden, welches Portal vertrauenswürdig ist und welches nicht. Dies führt letztlich dazu, dass keines der vielen Angebote richtig genutzt wird« (Interview Afeefa). Die Tatsache, dass diese digitalen Angebote parallel zu den bereits von Ämtern und Behörden zur Verfügung gestellten Auskünften existieren, vergrößert den Zustand der Unübersichtlichkeit. Was bleibt, ist eine kaum zu bewältigende Informationsflut, die abschreckend wirkt, obwohl genau das Gegenteil gewollt ist (Kirschenbaum 2016: 14).

F a zit Die geschilderten Erfahrungen in den Projekten zeigen: Wir brauchen starke und unabhängige Internetplattformen, die von Ehrenamtlichen getragen werden und die sowohl die Angebote der Behörden als auch die Angebote der Initiativen den Geflüchteten vermitteln. Diese Plattformen ermöglichen den Geflüchteten Zugang zu entscheidenden Informationen und fördern eine Vernetzung mit anderen Geflüchteten, mit Unterstützungsstrukturen, Freiwilligen, Bürger_innen etc. Den Initiativen bieten sie die Möglichkeit, sich untereinander zu koordinieren und Überangebote zu vermeiden. Zugleich sollten Optionen zur persönlichen Kontaktaufnahme, wie etwa durch Informationsguides oder Informationsstellen in den Unterkünften, stärker etabliert und gefördert werden. Bei den vorgestellten Projekten zeigten sich die größten Erfolge bei We.Inform. in Hamburg; am schwierigsten war die Situation in Dresden. Am Fall Hamburg wird deutlich, welche Synergien sich ergeben können, wenn staatliche und zivilgesellschaftliche Stellen an einem Strang ziehen. Dies gilt für die Bereitstellung von Ressourcen ebenso wie für den Informationsaustausch. Erfolgsfaktoren in Hamburg waren zudem die institutionalisierte Partizipation der Geflüchteten über die Infoguides sowie ein Auf bau der Website, der von vornherein auf die Bedürfnisse der Geflüchteten abgestimmt wurde. Die Situation in Dresden stellt sich in Teilen als Gegenbeispiel dar. Die politische Konstellation in einer, in Bezug auf die Geflüchtetenthematik, gespaltenen Stadt belastete die Zusammenarbeit mit den Behörden. Durch die mangelnde Ausstattung an Ressourcen war Afeefa auf sich selbst zurückgeworfen, was sich wiederum auf die Umsetzung auswirkte. Man gewinnt den Eindruck, dass bei Afeefa mit viel Energie und gutem Willen eine sehr anspruchsvolle Plattform entstanden ist, die das Ziel, Geflüchtete in Dresden in ihrer Autonomie zu unterstützen, nicht erreichen konnte. Hingegen ist es der Initiative über die Zeit gelungen, eine Plattform zu entwickeln, die soziales Engagement vor Ort sichtbar macht, Menschen vernetzt und ehren- und hauptamtliche Akteure gut erreicht. Inzwischen verzeichnet die Website etwa 2000 Besuche im Monat.

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Einige Fehler hätten durch die kontinuierliche Mitwirkung von Geflüchteten vermutlich vermieden werden können. Letztendlich dürfte aber die mangelnde Kooperation vonseiten der staatlichen Stellen entscheidend gewesen sein. Denn bei einer alleinigen Verantwortung ohne entsprechende Unterstützung von außen sind ehrenamtliche Strukturen auch im digitalen Bereich auf Dauer überfordert.

Q uellenverzeichnis Kirschenbaum, Claudia (2016): Initiativen in der Flüchtlingsarbeit im Zeitalter der Digitalisierung. Hausarbeit am Lehrstuhl Vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie. Europa-Universität Viadrina. Frankfurt (Oder). [Nicht publizierte wissenschaftliche Arbeit]. http://dresdenfueralle.de/das-netzwerk-dresden-fuer-alle/organisationen-imnetzwerk/

I ntervie w verzeichnis Moustafa Abdulrazzaq, Afeefa, Dresden, 30.11.2016. Ahmed Abudhei, Info Point (InfoCompass), Berlin, 26.01.2017. Judith Büschleb, We.Inform., Hamburg, 09.08.2016. Stefan Göllner, InfoCompass, Berlin, 17.05.2017. Fernanda de Haro Ribeiro, Koordinatorin des Netzwerks Reinickendorf/InfoPoint (InfoCompass), Berlin, 26.01.2017. Joschka Heinrich, Afeefa, Dresden, 13.07.2016. Vazeh Mustafa, Montagscafé, Dresden, 13.02.2017. Felix Schönfeld, Afeefa, Dresden, 15.08.2017.

Freiwilligenkoordination in der Geflüchtetenhilfe Kommunale Kooperationsmodelle Stephan Lidzba

Freiwillige Helfer_innen sind aus der Geflüchtetenhilfe nicht wegzudenken: Sie unterstützen Geflüchtete, wenn sie in Deutschland ankommen, sammeln Spenden, geben Nachhilfe für Schulkinder, helfen in den Sammelunterkünften, begleiten Geflüchtete bei Behördengängen oder engagieren sich in Pat_innenschaften. Insbesondere im Spätsommer und Herbst des Jahres 2015 engagierten sich viele Menschen spontan ehrenamtlich. Um diese Hilfsbereitschaft dort einsetzen zu können, wo sie gebraucht wird, und unmittelbares in mittel- oder langfristiges Ehrenamt zu überführen, ist die Koordination der Freiwilligen von zentraler Bedeutung. Die kommunale Ebene spielt dabei eine entscheidende Rolle, da hier 80 Prozent des bürgerschaftlichen Engagements angesiedelt sind (vgl. Bogumil/Holtkamp 2010: 382). Die Kommunen erweisen sich damit zugleich als »politische Kommune und zivilgesellschaftliche Bürgergemeinde« (Wollmann 2004: 20). So beschreibt Artikel 28 des Grundgesetzes die Förderung freiwilligen Engagements als Aufgabe der kommunalen Selbstverwaltung. Da die Kommunen selbst darüber entscheiden, ob und wie sie diese Aufgabe wahrnehmen, gibt es jedoch erhebliche lokale Unterschiede in der Organisation und Unterstützung der Freiwilligenkoordination. Dieser Beitrag1 geht der Frage nach, wie das freiwillige Engagement in der Geflüchtetenhilfe organisiert wird und welche Faktoren zu einem Gelingen der Freiwilligenkoordination beitragen. Dazu werden Beispiele aus vier Kommunen, die als erfolgreiche Modelle der Freiwilligenkoordination in der Geflüchtetenhilfe gelten können (Schwäbisch Gmünd, Norderstedt, Halle an der Saale und Nürnberg) mit zwei Beispielen verglichen, bei denen die Kooperation zwischen Freiwilligenkoordination und Kommune weniger erfolgreich verläuft (Köln und Berlin Friedrichshain-Kreuzberg). In den vier erstgenannten Fällen ist es den Kommunen gelungen, die lokale Unterstützungskultur 1 | Der vorliegende Beitrag beruht auf der Masterarbeit des Verfassers.

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auszubauen und gleichzeitig eine wichtige Netzwerkfunktion auszuüben. Für den Erfolg war die Unterstützung zentraler politischer und administrativer Akteure – also der lokalen Politik oder der Kommunalverwaltung – entscheidend. Die Untersuchung beruht auf insgesamt 20 im Sommer und Winter 2016/2017 geführten Interviews mit Freiwilligenkoordinator_innen, Vertreter_innen der Kommunalverwaltungen sowie weiteren Akteur_innen im Feld der Freiwilligenkoordination. Im ersten Teil des Beitrags wird in die Freiwilligenkoordination in Deutschland eingeführt. Darauf folgt eine vergleichende Untersuchung dieses Felds im Hinblick auf die Dimensionen Organisationsstruktur, Aufgaben und Tätigkeitsbereiche sowie politisch-administrative Unterstützung. In einer kurzen Schlussbetrachtung wird beschrieben, auf welche Weise der politische Wille zum Gelingen oder Scheitern der Freiwilligenkoordination beiträgt.

F reiwilligenkoordination : W as ist das ? Stellen für Freiwilligenkoordination verstehen sich als Infrastruktureinrichtungen mit dem Ziel der Förderung von bürgerschaftlichem Engagement. Ihnen kommt eine zentrale Vermittlerrolle im Handlungsdreieck von Bürgerschaft, Wirtschaft und den Kommunen zu. Sie bringen die verschiedenen Akteure miteinander in Beziehung und stoßen aktiv die (Weiter-)Entwicklung von Netzwerken in der Bürger_innengesellschaft an. Zwei Organisationsformen der Freiwilligenkoordination lassen sich unterscheiden: Zum einen die Freiwilligenagenturen, die typischerweise als eigenständige Vereine organisiert sind, und zum anderen die kommunalen Stabsstellen, die Teil der kommunalen Verwaltung sind. Freiwilligenagenturen werden je nach Träger und Entstehung beispielsweise auch als Freiwilligenzentren oder Ehrenamtsbörsen bezeichnet. Sie sind intermediäre und unabhängige Organisationen an der Schnittstelle zwischen NGO, den am Engagement interessierten Bürger_innen, den lokalen Verwaltungen und der Politik (vgl. Backhaus-Maul/Speck 2011: 304). Die hauptsächlich in Süddeutschland verbreiteten kommunalen Stabsstellen sind dagegen Teil der Verwaltung. Hier nehmen sie allerdings eine besondere Rolle ein. Ursprünglich entstanden sie im Rahmen der Engagementförderung im Baden-Württemberg der 1990er Jahre (vgl. Wolf/Zimmer 2012: 90): »Obwohl Teil der Verwaltung, wirken sie an der Schnittstelle zwischen Bürgerschaft, Verwaltung und Politik und damit weit über die eigene Organisation hinaus. Die in den Anlaufstellen tätigen Fachkräfte werden deshalb auch als ›Grenzgänger‹ bezeichnet, als Personen, die in der Lage sind, die Grenzen zwischen Politik, Verwaltung und Bürger-

Freiwilligenkoordination in der Geflüchtetenhilfe schaft zu überschreiten, die unterschiedlichen ›Sprachen‹ zu verstehen und zwischen diesen Bereichen zu vermitteln.« (Gläser 2013: II)

Laut dem Generali Engagementatlas 2015 unterscheiden sich diese beiden Organisationsformen kaum in ihren Aufgaben- und Wirkungsbereichen (vgl. Engagementatlas 2015: 19). Beide Organisationsformen stellen eine bereichsübergreifende Infrastruktur mit einem umfassenden Leistungsspektrum zur Verfügung, um ein freiwilliges Engagement aller Bevölkerungsgruppen zu fördern, unabhängig von Partei oder Herkunft (vgl. Krell 2012: 80; BackhausMaul/Speck 2011: 303 f.; Wolf/Zimmer 2012: 45 ff.). Der Schwerpunkt ihrer Arbeit liegt im sozialen Bereich. Hier scheinen die Stellen für Freiwilligenkoordination besser als die Stabsstellen in der Lage zu sein, in den Sozialraum hineinzuwirken und Selbsthilfe anzustoßen (vgl. Krell 2012: 80 f.). Typische Aktivitäten beider Organisationsformen sind etwa die Vermittlung von Hausaufgabenhilfen, Lesepat_innenschaften für Kinder oder Projekte in der Seniorenarbeit. Ein weiteres Feld, das zunehmend an Bedeutung gewinnt, ist die Unterstützung zivilgesellschaftlichen Engagements im Sinne von Bürger_innenbeteiligung im Stadtteil und Vernetzung einzelner Bürgerinitiativen. Hier sind Freiwilligenagenturen und Stabsstellen ähnlich aufgestellt. Allerdings scheinen die Stabsstellen besser gewappnet zu sein, wenn es um die Vermittlung bei Konflikten zwischen Ehrenamtlichen und Behörden oder Schulen geht. Hier können dann spezifische Kompetenzen des Amtes genutzt werden. Auch was die Finanzierung und Ausstattung mit hauptamtlichen Mitarbeiter_innen betrifft, sind die kommunalen Stabsstellen besser gestellt. Sie beschäftigen ausschließlich hauptamtliche Freiwilligenkoordinator_innen, während 14 Prozent der Freiwilligenagenturen ausschließlich über ehrenamtliche Mitarbeiter_innen organisiert sind; in jeder Agentur sind mehr Freiwillige als Festangestellte tätig (vgl. Engagementatlas 2015: 33 f.). Die Finanzierung der Einrichtungen kann generell als prekär beschrieben werden, wobei kommunale Stabsstellen in geringerem Maße von Drittmitteln abhängig sind. Für beide Organisationstypen gilt, dass eine langfristige Finanzierung selten gesichert ist und dadurch die kontinuierliche Arbeit erschwert wird (vgl. ebd.: 28 ff.).

R olle der K ommunen : F reiwilligenkoordination und G eflüchte tenhilfe Die Förderung ehrenamtlichen Engagements und mithin die Freiwilligenkoordination ist eine Aufgabe, die Kommunen im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung wahrnehmen können. Die Kommunen verfügen so über erheblichen Freiraum in der Frage, ob sie Stellen der Freiwilligenkoordination einrichten,

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wie sie diese ausgestalten und in welchem Umfang sie ihnen Unterstützung leisten. Gerade im Bereich der Geflüchtetenhilfe existiert seitens vieler Kommunen ein außerordentliches Interesse an der ehrenamtlichen Arbeit. In der Asylund Integrationspolitik sind die Kommunen einerseits im Rahmen der ihnen gesetzlich übertragenen Pflichtaufgaben für die Unterbringung Geflüchteter zuständig und sehen sich andererseits der »Mammutaufgabe der Integration der anerkannten Flüchtlinge« (Bogumil/Hafner/Kuhlmann 2016: 128) gegenüber, die sie dann im Rahmen der kommunalen Selbstverwaltung weitgehend eigenständig übernehmen: »Flüchtlingspolitische Konzepte auf Ebene der Kommune entstehen deshalb meist aus der Pflichtaufgabe der Unterbringung und verbinden diese mit freiwilligen Leistungen. […] Wer von kommunaler Flüchtlingspolitik spricht, meint daher im Ergebnis letztlich kommunale Integrationspolitik.« (Schammann 2015: 28)

Zwischen Pflichtaufgaben und kommunalem Ermessen im Rahmen der Selbstverwaltung erwächst der »Flickenteppich Flüchtlingspolitik« (ebd.: 29), also die erhebliche Varianz kommunaler Aktivitäten und Angebote, die sich in »eklatant unterschiedliche[n] Lebensrealitäten für Flüchtlinge« (ebd.) in Deutschland niederschlägt. Vielerorts öffnen Kommunen ihre bestehenden Angebote mehr oder weniger stillschweigend auch für Asylsuchende. Viele Kommunen haben gerade im Laufe der Jahre 2015 und 2016 darüber hinaus eine große Zahl neuer Initiativen gestartet, beginnend bei Deutschkursen, über Maßnahmen zur schulischen Förderung oder frühkindlichen Bildung, bis hin zur Unterstützung bei der aktiven Integration in Vereine. Vielerorts wurden Migrationsberatungsstellen oder Begegnungsprojekte eingerichtet (vgl. Gesemann 2016: 300; Schammann 2015: 28). Eine große Anzahl dieser Projekte und Aktivitäten werden maßgeblich durch Freiwillige getragen. Darüber hinaus stellt das Asylverfahren auch hohe Anforderungen an die Geflüchteten, die sie ohne Unterstützung oft kaum bewältigen können. Viele sind nicht nur auf sprachliche Unterstützung durch Dolmetscher_innen angewiesen, sondern auch auf Lots_innen, die sie auf dem Weg durch die Komplexität des Verfahrens begleiten – all dies sind Aufgaben, die von den Behörden nicht erbracht werden können.

Organisationsstruktur Die Freiwilligenkoordination lässt sich in ihrer Organisation in die zwei erwähnten Formate gliedern; erstens die kommunale Stabsstelle und zweitens die Freiwilligenagenturen, wobei es innerhalb dieser Formate weitere Differenzen gibt. So ist es auch in den Stabsstellen von Schwäbisch Gmünd und

Freiwilligenkoordination in der Geflüchtetenhilfe

Nürnberg  – die Unterschiede liegen hier im Detail. In Schwäbisch Gmünd wird die Aufgabe der Freiwilligenkoordination von drei kooperierenden Stabsstellen wahrgenommen: Federführend ist hierbei die in der neu gegründeten »Stabsstelle Flüchtlinge PFIFF« angesiedelte Flüchtlingsbeauftragte der Stadt. Sie arbeitet eng zusammen mit den Stabsstellen für Integration und der Stabsstelle Bürgerschaftliches Engagement und koordiniert die Zusammenarbeit mit den örtlichen Initiativen und Trägern der Geflüchtetenhilfe. Nürnberg kombiniert die Modelle Stabsstelle und Freiwilligenagentur: Hier kooperiert die städtische Stabsstelle Bürgerschaftliches Engagement und Corporate Citizenship mit der sich in freier Trägerschaft befindlichen und von der Stadt Nürnberg finanzierten Freiwilligenagentur Zentrum aktiver Bürger (ZAB). Beide bilden den organisatorischen Kern in der Freiwilligenkoordination. Die Stabsstelle versteht sich als Vernetzungsinstanz. Sie führt Informationen, Fort-, Weiterbildungs- und Supervisionsangebote verschiedener Träger und Initiativen zusammen und publiziert diese in einem 14-tägig erscheinenden Newsletter. Die Freiwilligenagentur unterstützt die einzelnen Projekte und Initiativen auf der Arbeitsebene. In den anderen hier untersuchten Kommunen ist die Freiwilligenkoordination in der Geflüchtetenhilfe in Freiwilligenagenturen organisiert, die als eingetragene Vereine verfasst sind. Doch auch hier gilt: Im Detail werden eine Reihe von Unterschieden erkennbar, vor allem, was die Kooperation mit weiteren Partnern und die Trägerschaft betrifft. So finanzierte die Evangelische Kirche im Halle-Saalkreis, zunächst für drei Jahre, eine hauptamtlich besetzte Koordinierungsstelle Engagiert für Flüchtlinge, die in der Freiwilligenagentur der Stadt Halle an der Saale angesiedelt ist. Sie ist die zentrale Anlaufstelle für Freiwillige in der Geflüchtetenhilfe und hat eine wichtige Steuerungsfunktion für die Kooperation der örtlichen Kirchgemeinden und die angegliederten Willkommenscafés. Diese besondere Kooperation von Stadt und Kirche ist auf Initiative der Evangelischen Kirchenkreise in Halle (Saale) entstanden. Anfang 2015 kam im lokalen Kirchenkreis die Frage auf, wie Gemeindemitglieder sich effektiv in der Geflüchtetenhilfe engagieren können. In enger Kooperation mit der Integrationsbeauftragten der Stadt Halle (Saale) und der örtlichen Freiwilligenagentur wurde daraufhin die Koordinationsstelle konzipiert. Ein zweites Beispiel für die kommunale Organisation über eine Freiwilligenagentur ist Norderstedt. Hier wurde die Freiwilligenagentur WillkommenTeam bereits 2014 auf Initiative der Kommune gegründet und ist ein eingetragener Verein. Er soll freiwilliges Engagement für und durch Geflüchtete in Norderstedt anregen und befördern und so die Situation der Geflüchteten vor Ort nachhaltig verbessern. Während in den anderen Fällen überwiegend auf lokal bewährte Organisationsstrukturen der Freiwilligenkoordination zurückgegriffen und bestehende Kapazitäten und Organisationseinheiten ausgebaut

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wurden, ist Willkommen-Team e. V. eine neu geschaffene Organisation, die speziell für die Freiwilligenkoordination zuständig ist. Ein drittes Beispiel ist Köln: Hier besteht bereits eine langjährige Kooperation zwischen der Freiwilligenagentur und dem Kölner Flüchtlingsrat. Anfang 2015 kam das von der Freiwilligenagentur gegründete Forum für Willkommenskultur hinzu. Diese Allianz bildet den organisatorischen Kern der Freiwilligenkoordination in der Geflüchtetenhilfe. Die Freiwilligenagentur finanziert sich im Wesentlichen über Zuschüsse öffentlicher Geldgeber, Spenden und Gebühreneinnahmen. Mit 29 Prozent des Gesamtetats im Jahr 2015 ist die Stadt Köln der größte Geldgeber der Freiwilligenagentur (vgl. Burgmer et al. 2015: 92). Sowohl der Flüchtlingsrat als auch die Freiwilligenagentur betonen den positiven Effekt dieser Kooperation, bei der die unterschiedlichen Kompetenzen der Organisationen ergänzend zusammengeführt werden. Der Flüchtlingsrat steht für Geflüchtetenhilfe als Weg zu einer kosmopolitischen Gerechtigkeit. Die Freiwilligenagentur steht dafür, die Bürger_innengesellschaft über die Beteiligung zu stärken. »Wir finden uns da zusammen und entwickeln gemeinsame Projekte auf diesem Weg.« (Interview Flüchtlingsrat Köln) Ein viertes Beispiel für das Modell der Freiwilligenagentur stellt die sich ebenfalls in freier Trägerschaft befindliche Freiwilligenagentur im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg dar. Sie koordiniert die Freiwilligenarbeit in einem sehr jungen, diversen und durch zunehmende Gentrifizierung geprägten Großstadtbezirk mit sehr hohem Selbstorganisationsgrad der Freiwilligen. Im Vergleich verfügen die Stabsstellen insgesamt über eine bessere Ressourcenausstattung als die Freiwilligenagenturen (vgl. auch Engagementatlas 2015: 33 f.). Die untersuchten Stabsstellen in Schwäbisch Gmünd und Nürnberg sind Teil der Stadtverwaltung und bedürfen für ihre Grundausstattung keiner weiteren Drittmittel, um deren arbeitsintensive Einwerbung sie sich selbst kümmern müssten, so wie es in den hier untersuchten Freiwilligenagenturen der Fall ist. Besonders die Agentur in Friedrichshain-Kreuzberg leidet unter Ressourcenmangel.

Aufgaben und Tätigkeitsbereiche Kernaufgabe aller hier untersuchten Stellen der Freiwilligenkoordination ist die Vernetzungsarbeit. Die untersuchten Organisationen sehen es als ihre zentrale Aufgabe an, Freiwillige und Geflüchtete miteinander in Kontakt und über unterschiedliche Programme in die ehrenamtliche Tätigkeit zu bringen. Dabei spielt in allen Fällen die Organisation von Pat_innenschaften eine zentrale Rolle. Freiwillige übernehmen eine Pat_innenschaft für eine_n Geflüchtete_n oder eine geflüchtete Familie und helfen ihnen bei der Integration, begleiten

Freiwilligenkoordination in der Geflüchtetenhilfe

sie also z. B. bei Behörden- oder Arztgängen. Hierbei nehmen alteingesessene Bürger_innen mit Migrationshintergrund oftmals eine besondere Rolle als Dolmetscher_innen und Kulturvermittler_innen wahr. Zum typischen Programmangebot zählen ebenfalls die Vermittlung von Engagierten für Deutschkurse, die Organisation von Weiterbildungs- und Supervisionsangeboten für die freiwillig Engagierten und die Vernetzung der Freiwilligen untereinander. Dabei ist das Internet ein wichtiges Kommunikationsmedium. In allen hier untersuchten Fällen kommunizieren die Stabsstellen beziehungsweise Freiwilligenagenturen mit den Freiwilligen sowie auch den lokalen Initiativen in elektronischer Form, etwa über regelmäßige E‑Mail-Newsletter. Ferner wurden in Halle (Saale), Nürnberg und Köln spezielle Online-Ehrenamtsbörsen zur Vermittlung von am Engagement Interessierten eingerichtet. Ein weiteres wichtiges Tätigkeitsfeld beider Organisationsformen besteht darin, neu gegründete Initiativen in ihrer organisatorischen Auf bauarbeit zu beraten und zu begleiten. Auf diese Weise leisten sie auch einen Beitrag zur Vernetzung und Koordination der lokalen Initiativen untereinander. In jüngerer Zeit ist ebenso ein Trend zur Entwicklung von Programmen zu beobachten, die darauf abzielen, den Geflüchteten selbst einen Zugang zu ehrenamtlicher Betätigung zu eröffnen. In dieser Hinsicht darf der in Schwäbisch Gmünd entwickelte Gmünder Weg eine Vorreiterrolle beanspruchen. Dabei werden neue Pfade im Ankommensprozess und der Integration von geflüchteten Menschen beschritten, wobei die Vermittlung in das Ehrenamt eine zentrale Rolle spielt: Durch das freiwillige Engagement von Geflüchteten in den Feuerwehren oder bei der Organisation von Stadtfesten werden soziale Kontakte geknüpft und die Geflüchteten werden sichtbarer. Die Idee, Geflüchtete ebenfalls in Ehrenämter zu bringen, entstammt der politischen Überzeugung des Oberbürgermeisters, der Arbeit, Beschäftigung und Bildung für Geflüchtete als zentrale Bausteine des Integrationsprozesses ansieht: »Wir versuchen, möglichst viele Flüchtlinge sehr schnell ins Ehrenamt zu bringen, damit sie sich gleich integrieren können. So gelingt die Integration bei uns. Die Vereine sind auch sehr offen dafür. Wie zum Beispiel bei uns in der Freiwilligen Feuerwehr, wo sie eine Ausbildung machen, und auch in vielen Sportvereinen, den Musikvereinen und bei der Organisation der Stadtfeste.« (Interview Stabsstelle Bürgerschaftliches Engagement Schwäbisch Gmünd)

Auch in den anderen Kommunen wird ehrenamtliches Engagement von Geflüchteten gefördert. Hier treten allerdings auch sprachliche Hindernisse auf. Beispielhaft beschreibt der Freiwilligenkoordinator in Halle (Saale) die Situation: »Wir haben viele Geflüchtete, die sich engagieren möchten, aber teilweise scheitert es an noch zu geringen Deutschkenntnissen der Geflüchteten« (Interview Freiwilligenkoordinator in Halle [Saale]).

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Politisch-administrative Unterstützung Die vergleichende Analyse zeigt, dass es weniger die Entscheidung für eine konkrete Organisationsform ist, als die kommunale Unterstützung und Förderung der Freiwilligenkoordination, an der das Gelingen oder Scheitern der Geflüchtetenarbeit hängt. Letztendlich ist es sekundär, ob die Koordination der Freiwilligen über eine Stabsstelle oder eine Freiwilligenagentur erfolgt, solange der politische Rückhalt gegeben ist. In dieser Hinsicht lassen sich die größten Unterschiede zwischen den hier betrachteten Kommunen ausmachen. Auf der einen Seite befinden sich die Freiwilligenkoordinationen in Schwäbisch Gmünd, Nürnberg, Halle (Saale) und Norderstedt, die intensiv durch politische Akteure und/oder die Stadtverwaltung unterstützt werden, auf der anderen Seite stehen Köln und Berlin Friedrichshain-Kreuzberg, wo die Unterstützung deutlich geringer ausfällt. Letztlich, so zeigen es die folgenden Beobachtungen, scheint das Ausmaß der politischen Unterstützung wichtiger zu sein als die konkrete Organisationsform. Sowohl in Schwäbisch Gmünd als auch in Nürnberg gelten die jeweiligen Oberbürgermeister als zentrale Unterstützer. Dass die Unterstützung des bürgerschaftlichen Engagements hier über rein symbolpolitische Botschaften weit hinausgeht, wird insbesondere auch daran deutlich, dass diese Aufgabe in beiden Städten durch die Stadtverwaltung wahrgenommen wird  – einmal über die Etablierung der Stabsstellen und in Nürnberg zudem mittels der städtisch finanzierten Freiwilligenagentur. Diese Integration der Aufgabe in die lokale Verwaltung unterstreicht die politische Bedeutung, die ihr von den zentralen und über die Organisation der Stadtverwaltung entscheidenden politischen Akteuren beigemessen wird. Der darin zum Ausdruck kommende politische Wille zeigt sich auch darin, dass in diesen beiden Fällen die Freiwilligenkoordination konzeptionell unterfüttert wird: In Schwäbisch Gmünd mit dem Konzept des Gmünder Wegs, in Nürnberg anhand der Publikationsreihe2 der Stabsstelle Nürnberger Arbeitspapiere zu sozialer Teilhabe, bürgerschaftlichem Engagement und ›Good Governance‹. Auch in Halle (Saale) sowie in Norderstedt lässt sich ein erhebliches Maß an politisch-administrativer Unterstützung beobachten, das allerdings etwas anders gelagert ist als in den beiden Städten in Süddeutschland. Sowohl in Halle (Saale) als auch in Norderstedt wird die Freiwilligenkoordination in der Geflüchtetenhilfe finanziell durch die jeweiligen Städte über die Einrichtung einer Stelle gefördert: Während das Willkommen-Team in Norderstedt eine von der Stadt finanzierte Mitarbeiterin beschäftigt, hat die Stadt Halle (Saale) eine interne Mitarbeiterin der Stadtverwaltung abgestellt, die sich um die Kooperation mit der Freiwilligenagentur kümmert. Hier wird die politische Förde2 | Siehe https://www.nuernberg.de/internet/sozialreferat/arbeitspapiere.html

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rung vor allem dadurch erbracht, dass die jeweiligen Stadträte Haushaltsmittel bereitstellen. Darüber hinaus wird die Freiwilligenkoordination auch intensiv von den jeweiligen städtischen Integrationsbeauftragten unterstützt. Sie nehmen Steuerungsfunktionen wahr, etwa hinsichtlich der Kooperation mit den am Ankommens- und Integrationsprozess beteiligten Behörden und Trägern, oder in Bezug auf die Abgrenzung von haupt- und ehrenamtlichen Aufgaben. Auf diese Weise binden sie die Freiwilligenkoordination an die lokale Integrationspolitik und ihre Aktivitäten. Die Koordinationstätigkeit fand in beiden Kommunen Niederschlag in Leitfäden zur besseren Orientierung der Geflüchteten und der sie begleitenden Freiwilligen. In Norderstedt ist nicht zuletzt die seitens der Stadtverwaltung erbrachte logistische Unterstützung des Willkommen-Teams wichtig, welches die stadteigene Infrastruktur, wie beispielsweise Räume oder technisches Equipment, mitbenutzen kann. Das hohe Maß an politisch-administrativer Unterstützung der Freiwilligenarbeit in Schwäbisch Gmünd, Nürnberg, Halle (Saale) und Norderstedt führt dazu, dass die Kooperation zwischen städtischen Akteuren und der jeweiligen Stelle für Freiwilligenkoordination als intensiv und gut funktionierend erlebt werden. Die gute Zusammenarbeit wirkt sich auch positiv auf die lokale Position der Freiwilligenkoordination insgesamt aus: So wird in all diesen Fällen auch über ein hohes Maß an Unterstützung von weiteren lokalen Akteuren, wie zum Beispiel eine hohe Spendenbereitschaft der ortsansässigen Unternehmen, und ein insgesamt breites bürgerschaftliches Engagement in der Geflüchtetenhilfe berichtet. Dabei spielt die Einrichtung von Runden Tischen, bei denen alle Beteiligten sich abstimmen und Lösungen für Konflikte gesucht werden, eine wichtige Rolle. Sie garantieren, dass Kommunen und Initiativen im Rahmen des gesetzlich Möglichen an einem Strang ziehen und sich nicht gegenseitig blockieren. Anders stellt sich die Situation in Köln und Friedrichshain-Kreuzberg dar. In beiden Fällen ist der Grad politischer und administrativer Unterstützung deutlich geringer. Es kommt zu Problemen in der Interaktion zwischen Freiwilligenkoordination und lokaler Politik/Verwaltung und es fehlt insbesondere in Berlin Friedrichshain-Kreuzberg eine politisch getragene konzeptionelle Unterfütterung der Freiwilligenkoordination. Es existiert zwar partielle Unterstützung, jedoch mangelt es an einer umfassenden Einbettung. Die Stadt Köln leistet der Freiwilligenkoordination projektgebundene Unterstützung und der Kontakt zwischen Freiwilligenkoordination und Stadt findet zuvorderst auf Projektebene statt. Hier wird die Kooperation mit den an den Schulpat_innenschaftsprojekten beteiligten Behörden als besonders positiv und eng beschrieben, es fehlt aber ein behördliches Gesamtkonzept im Hinblick auf die Freiwilligenkoordination in der Geflüchtetenhilfe. Als zentrale Schwierigkeiten erscheinen zum einen das Ausbleiben eines klaren und vielfältig unterstützenden Bekenntnisses der Stadt zur Freiwilligenarbeit

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in der Geflüchtetenhilfe und zum anderen die Kommunikation und Koordination innerhalb einzelner und zwischen den jeweils zuständigen Behörden. Im Berliner Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg zeichnet sich ein ähnliches Bild. Die Freiwilligenkoordination wird ebenfalls lediglich partiell durch die lokale Politik und Verwaltung unterstützt: Während die Bürgermeisterin grundsätzlich die Aufgabe der Freiwilligenkoordination schätzt und für unterstützenswert befindet, versagt der zuständige Bezirksstadtrat die finanzielle Unterstützung. Als Grund wird die lokale Aufgabenverteilung zwischen Bezirk und Senat und die damit verbundenen Regelungen für die Haushaltsgestaltung angeführt. Hier zeigt sich ein Koordinationsbedarf in der lokalen Politik und Verwaltung, denn bislang konnte keine gemeinsame Position gegenüber der Freiwilligenkoordination in der Geflüchtetenhilfe gefunden werden. Dieser ungelöste innerpolitische beziehungsweise administrative Konflikt spiegelt sich in der schwierigen Beziehung zwischen Freiwilligenagentur und der lokalen Verwaltung wider. Auch auf der alltäglichen Arbeitsebene ist eine Kooperation der Freiwilligenagentur mit den Behörden schwierig, dies begründet sich nicht zuletzt in der Berliner Verwaltungsstruktur, in der Verteilung der Zuständigkeiten zwischen Senats- und Bezirksebene sowie in der mangelnden Koordination zwischen und innerhalb der Behörden. Die Freiwilligen in Köln und Friedrichshain-Kreuzberg haben den Wunsch nach einem Leitfaden für Geflüchtete und die sie unterstützenden Freiwilligen geäußert, wie es ihn in Halle (Saale) und Norderstedt bereits gibt. Dieser Wunsch konnte allerdings bisher in beiden Städten wegen der mangelnden behördlichen Kooperation nicht umgesetzt werden. Insgesamt zeigt die vergleichende Analyse, welch entscheidende Bedeutung der im Oberbürgermeisteramt verkörperte politische Wille für eine erfolgreiche Geflüchtetenarbeit hat. Der politische und administrative Rückhalt ist eine zentrale Bedingung für gute und erfolgreiche Freiwilligenarbeit – weniger die gewählte Organisationsform. Dort, wo diese Unterstützung von der lokalen Politik und Verwaltung geleistet wird, das heißt also von Bürgermeister_innen oder leitenden Mitarbeiter_innen in der Stadtverwaltung, klappt die Geflüchtetenarbeit. »Es braucht einfach jemanden innerhalb der Verwaltung, der sagt, wo es langgeht und die Sache zur Chefsache erklärt. Und so geht es dann auch weiter« (Interview Flüchtlingsbeauftragte Schwäbisch Gmünd). Nur der politische Wille garantiert, dass die Beteiligten nicht gegeneinander, sondern miteinander arbeiten. Wo diese Unterstützung nicht oder nur eingeschränkt gegeben ist wie in Köln und Friedrichshain-Kreuzberg, kommt es zu erheblichen Reibungsverlusten und Frustrationen. Runde Tische zum Beispiel finden sowohl in Köln als auch in Friedrichshain-Kreuzberg nur vereinzelt statt. In beiden Kommunen wird von zum Teil erheblichen Koordinierungsdefiziten innerhalb einzelner und zwischen den jeweils zuständigen Behörden berichtet, welche den

Freiwilligenkoordination in der Geflüchtetenhilfe

Ankommens- und Integrationsprozess deutlich verkomplizieren. In beiden Kommunen ist der Kraftaufwand, der von den Freiwilligen zur Erreichung eines Ziels eingesetzt werden muss, wesentlich höher als in den Kommunen, in denen ein politischer Wille existiert. Ähnliche Beobachtungen macht auch Simon Freise in seiner Ethnografie zum Migrationsnetzwerk THINK in Frankfurt (Oder): »Wo das Verhältnis von städtischer Koordination und zivilgesellschaftlicher Partizipation ungeklärt bleibt, macht sich bei lokalen Akteur_innen Frust breit. In Frankfurt (Oder) ›überlebt‹ ein Runder Tisch wechselnde Integrationsbeauftragte, die ihr ›Grenzgängertum‹ immer wieder neu definieren und konzeptionelle Arbeit nicht zu Ende führen. Durch das als intransparent und unzuverlässig wahrgenommene Verwaltungshandeln kommt es dort in der Folge mitunter zu Leerlauf, Langeweile und Unsicherheiten bei der Positionierung gegenüber der Verwaltung.« (Simon Freise email-Kommunikation vom 06.05.2017 2017)

F a zit Im Vergleich verschiedener Modelle der Freiwilligenkoordination zeigt sich, dass politische und administrative Unterstützung finanzieller, konzeptioneller oder logistischer Art entscheidend für die Zusammenarbeit zwischen Freiwilligenkoordination und lokaler Verwaltung ist. Eine gute Zusammenarbeit wiederum wirkt sich positiv auf das lokale gesellschaftliche Klima aus und entfaltet Motivationseffekte für andere lokale gesellschaftliche Akteur_innen und Bürger_innen, sich ebenfalls in der Geflüchtetenhilfe zu engagieren. Zugespitzt formuliert, unterstreicht diese Untersuchung, dass »Wir schaffen das« sich für die Freiwilligenkoordination wie folgt spezifizieren lässt: »Wenn alle unter maßgeblicher Beteiligung der Kommune an einem Strang ziehen, schaffen wir das!« Durch gemeinsame Anstrengungen und Wertschätzung aller lokalen Akteure kann ein sozialer und gesellschaftlicher Mehrwert erreicht werden, den die Akteure im Alleingang nicht (ohne Weiteres) kreieren können. Weiterhin bleibt festzuhalten, dass die Lebensbedingungen von geflüchteten Menschen in erheblichem Maße vom jeweiligen lokalen Klima geprägt werden, das sich wiederum aus einer reibungslosen und intensiven Zusammenarbeit der erwähnten Akteur_innen und Institutionen ergibt. Dieses Klima kommt nicht nur der Situation von Geflüchteten zugute. Von der Kooperation lokaler Initiativen, kommunaler Einrichtungen, lokal ansässiger Unternehmen und von Wohlfahrtsverbänden profitieren letztendlich alle Bürger_innen. Allerdings soll hier kein verklärendes Bild ehrenamtlichen Engagements gezeichnet werden. Im Zuge der wachsenden Zahl Freiwilliger und der Übernahme vielfältiger Aufgaben durch ehrenamtliche Helfer_innen  – etwa der

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schulischen Unterstützung geflüchteter Kinder, dem Einsatz als ehrenamtliche Deutschlehrer_innen in Deutschkursen und der Arbeit in Notunterkünften – ist immer wieder kritisch diskutiert worden, inwiefern die Freiwilligen in Bereichen tätig sind, die den Kernbestand staatlicher Aufgaben bilden, und der Staat sich letztlich aus der Verantwortung zieht (vgl. Schillmöller 2016; Pinl 2015). Diese Kritik spricht einen zentralen Aspekt an: Die sinnvolle Abgrenzung haupt- und ehrenamtlicher Aufgaben ist entscheidend für die Kooperation von Staat und Zivilgesellschaft. Es steht außer Frage, dass die staatlichen Akteure verantwortlich für die Sicherung eines rechtsstaatlichen Asylverfahrens sowie für integrationspolitische Maßnahmen sind, welche die Integration und Teilhabe Geflüchteter absichern und fördern. Ehrenamtliche Helfer_innen sind dagegen zentral für den Auf bau interpersonaler Beziehungen, die Integration und Teilhabe erst möglich machen (vgl. Han-Broich 2012; 2015). Aufgabe freiwilliger Helfer_innen kann und darf nicht sein, die Geflüchteten mit Nahrung und dem Nötigsten zu versorgen (so wie im Jahr 2015 durchaus vorgekommen). Die gerade in jüngerer Zeit vielerorts aufgelegten Pat_innenschaftsprogramme können interpersonale Beziehungen strukturieren und fördern und sich somit positiv auf das lokale Integrationsklima auswirken. Die zentrale Erkenntnis lässt sich demnach wie folgt auf den Punkt bringen: Je intensiver die Kooperation zwischen lokaler Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft verläuft  – institutionalisiert über die Stellen der Freiwilligenkoordination – desto reibungsloser und effektiver kann Integration gelingen. Vor allem liegt es an dieser Kooperation, dass ein gesellschaftliches Klima entsteht, das letztlich allen Stadtbürger_innen zugute kommt. Um einen solchen gesellschaftlichen Resonanzboden zu stärken, kann der Staat Bedingungen schaffen, in denen, erstens, freiwilliges Engagement gefördert und in seiner gesellschaftlichen Leistung anerkannt wird und die, zweitens, die Entwicklung und Festigung persönlicher Beziehungen zwischen Geflüchteten und alteingesessenen Bürger_innen unterstützen, wodurch, drittens, insgesamt die lokale Akzeptanz und Integrationsbereitschaft gestärkt werden. Dazu kann erfolgreiche Freiwilligenkoordination einen großen Teil beitragen. Vier Empfehlungen für die Etablierung erfolgreicher Freiwilligenkoordination in der Geflüchtetenhilfe lassen sich aus diesem Artikel ableiten: 1. Es bedarf eines integrierten lokalen Konzeptes für die Freiwilligenkoordination in der Geflüchtetenhilfe: Wichtig ist es dabei, die Rolle der Freiwilligenkoordination im Netzwerk oder an der Schnittstelle der lokalen Verwaltung und der lokalen Geflüchtetenhilfe genau zu beschreiben und zu definieren. Insbesondere gilt es hierbei, haupt- und ehrenamtliche Aufgaben klar voneinander abzugrenzen.

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2. Eine spezialisierte Stelle für die Freiwilligenkoordination in der Geflüchtetenhilfe ist zentral: Weniger wichtig ist dabei, ob diese in Form einer Freiwilligenagentur oder einer kommunalen Stabsstelle geschaffen wird – viel relevanter ist es, diese Stelle langfristig mit hinreichend Ressourcen und Zugang zur kommunalen Infrastruktur auszustatten. 3. Alle im Ankommens- und Integrationsprozess beteiligten Akteure sollten in stetigem Austausch miteinander stehen: Zentral ist dabei, dass alle relevanten Akteure vor Ort, also vonseiten der Verwaltung und der Zivilgesellschaft, beteiligt werden. Der kommunalen Politik und Verwaltung kommt dabei die Rolle eines Förderers zu, der auf Augenhöhe mit allen Parteien interagiert. Die Freiwilligenkoordination sollte als Vermittlerin zwischen Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft agieren. 4. Kontinuierliche Unterstützung durch die lokale politische und/oder Verwaltungsspitze ist sicherzustellen: Freiwilligenkoordination kann nur dann eine zentrale lokale Netzwerkrolle einnehmen, wenn sie von den Spitzen in kommunaler Politik und Verwaltung anerkannt und unterstützt wird. Den Verwaltungsstrukturen kommt dabei auch die Aufgabe zu, fortwährend die wichtige Rolle der Freiwilligenkoordination für die Unterstützung lokaler Integration zu betonen. Es ist genau diese Förderung engagementfreundlicher Strukturen, die einen wichtigen Baustein im Kampf für eine diverse und demokratische Gesellschaft, gegen Xenophobie, Ausgrenzung und insgesamt rechtsextreme Tendenzen bilden kann.

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Freiwilligenkoordination in der Geflüchtetenhilfe

I ntervie w verzeichnis Sören am Ende, Koordinierungsstelle Freiwilligenagentur, Halle (Saale), 10.05.​ 2016 und 15.02.2017. Andrea Brandt, Freiwilligenkoordinatorin Freiwilligen Agentur Kreuzberg Friedrichshain, Berlin, 06.06.2016 und 31.01.2017. Daniele Dinser, Flüchtlingsbeauftragte Schwäbisch Gmünd, 11.07.2016. Hermann Gaugele, Integrationsbeauftragter Schwäbisch Gmünd, 12.05.2016. Uli Glaser, Leiter Stabsstelle Bürgerschaftliches Engagement und Corporate Citizenship, Nürnberg, 05.05.2016. Hans-Jürgen Kant, Superintendent Kirchenkreis Halle, Halle (Saale), 17.05.​ 2016. Natalie Lebrecht, Mitarbeiterin Stabsstelle Bürgerschaftliches Engagement und Corporate Citizenship, Nürnberg, 09.05.2016. Susanne Martin, Willkommen-Team e. V., Norderstedt, 21.03.16 und 02.02.2017. Inge Pfeifer, Stabsstelle Bürgerschaftliches Engagement, Schwäbisch Gmünd, 12.04.2016 und 08.02.2017. Annette Reinders, Zweite Stadträtin, Norderstedt, 06.04.2016. Svenja Rickert, Freiwilligenkoordinatorin Kölner Freiwilligen Agentur, Köln, 12.05.2016 und 30.01.2017. Petra Schneutzer, Integrationsbeauftragte Halle (Saale), 12.05.2016. Corinna Schüler, Freiwilligenkoordinatorin Kölner Freiwilligen Agentur, Köln, 02.05.2016. Beate Wittig, Freiwilligenkoordinatorin Geflüchtetenhilfe ZAB, Nürnberg, 20.05.​ 2016 und 26.01.2017. Thomas Zitzmann, Teamleiter Freiwilligenarbeit Flüchtlingsrat Köln, 26.04.​ 2016.

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Bürgerschaftliches Engagement aus der Akteursperspektive Potenziale und strukturelle Schwierigkeiten muslimischer Akteure in der Arbeit mit Geflüchteten Fidel Bartholdy Seit Jahrzehnten sind Moscheevereine in Deutschland Anlaufstellen für Menschen aus islamisch geprägten Staaten und für Muslim_innen, die in Deutschland leben. Die Gemeinden sind oftmals Orte der Begegnung und Vermittlung zwischen islamischen Lebensweisen und den Realitäten der deutschen Gesellschaft. Dabei bewahren sie enge kulturelle, sprachliche und religiöse Bezüge zu den Heimatländern der Gemeindeangehörigen. Als die Zahl der nach Deutschland kommenden Schutzsuchenden im Jahr 2015 rasch zunahm, entwickelten sich in vielen Moscheevereinen Hilfsstrukturen, die weit über dieses traditionelle Verständnis der Moschee als Ort des Ankommens und der Vernetzung für Gläubige hinausgehen. Gemeinden brachten Geflüchtete verschiedenster Herkunft und Religion unter. Sie übersetzten, begleiteten, leisteten Seelsorge und wurden dadurch in vielen Städten zu wichtigen Akteuren der Erstversorgung. Sie boten dort Lösungen, wo Staat und Zivilgesellschaft überfordert waren. Viele Gemeinden erhalten auch Mitte 2017 noch täglich Anfragen von Muslim_innen, hauptsächlich Geflüchteten, die sich hilfesuchend an die Moscheen wenden. Auch die islamischen Dachverbände und verschiedene muslimische Nichtregierungsorganisationen (NRO) reagierten auf die Situation Geflüchteter und initiierten unter anderem Beratungsprojekte, Mentoringprojekte sowie Qualifizierungsprogramme für ehrenamtlich Engagierte. Muslim_innen und muslimische Organisationen wurden genauso wie Mitglieder anderer Bevölkerungsgruppen Teil einer neuen Bürgerbewegung, wie sie Werner Schiffauer (2017) beschreibt. Der folgende Beitrag fokussiert das Engagement von Vereinigungen, die sich selbst als muslimisch identifizieren und hier als muslimische Akteure in der Arbeit mit Geflüchteten bezeichnet werden. So wie die Akteure selbst umfassen

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die Formen des Engagements ein großes Spektrum und variieren je nach Umgebung und organisatorischer Struktur. Eine umfassende Repräsentation aller Akteure kann und soll nicht der Anspruch dieses Artikels sein. Die Analyse beschränkt sich vielmehr auf die Betrachtung von Moscheevereinen und NRO, die auf lokaler beziehungsweise regionaler Ebene agieren. Ziel ist es, anhand von sechs Initiativen und Projekten die Reichweite und Wirkung des Engagements zu beleuchten und jene Strukturmerkmale herauszuarbeiten, welche die Arbeit dieser Akteure in der Unterstützung von Geflüchteten ausmachen.1 Grundlage dieser qualitativen Studie sind Interviews mit Aktiven, informelle Gespräche, teilnehmende Beobachtungen und Expert_inneninterviews. Es ergibt sich daraus eine Akteursperspektive, die mit bestimmten analytischen Chancen und Grenzen einhergeht. Die Sichtweise von Staat und Kommunen wird lediglich in der Reflexion der Gesprächspartner_innen deutlich; eine objektive Darstellung der entsprechenden Politiken und Handlungsstrategien gegenüber muslimischen Akteuren liegt somit außer Reichweite. Umso facettenreicher sind dagegen die Perspektiven der Befragten: So rücken aus der praktischen Arbeit heraus Ziele, Herangehensweisen und Schwierigkeiten in der Umsetzung der Projekte in den Fokus. Auf der nachbarschaftlichen Ebene werden drei Initiativen vorgestellt, die sich aus drei unterschiedlichen Berliner Moscheevereinen entwickelt haben. Auf der regionalen Ebene werden drei Projekte betrachtet, die von NRO in den Großstädten Berlin, Frankfurt a. M. und Köln initiiert wurden. Die kategoriale Unterscheidung der NRO von den strukturell teilweise verwobenen Verbänden und Moscheevereinen rechtfertigt sich dadurch, dass in ihrer Arbeit nicht Konfession, religiöse Praxis oder Interessenvertretung von Muslim_innen im Mittelpunkt stehen, sondern themenspezifische Sozialarbeit.

D ie A ussenseiterposition muslimischer A k teure in der sozialen A rbeit Muslim_innen und muslimische Organisationen sind seit Langem in der sozialen Arbeit aktiv. Im Gegensatz zu vielen Akteuren aus der Mehrheitsgesellschaft, die sich erst im Laufe der vergangenen zwei Jahre über die Diskurse um Flucht und Migration politisierten, tragen sie jedoch ein schwieriges politisches Erbe. Rassistische und kulturalistische Diskurse, die seit 2014 verstärkt 1 | Die Auswahl der Fallstudien folgte dem Versuch, das große Spektrum von Projektideen und Akteuren darzustellen, begrenzt sich jedoch auf diejenigen Akteure, die sich auf Gespräche und eine akademische Darstellung eingelassen haben. Es sind besonders die politischen Umstände, die bei einigen Akteuren Vorsicht provozieren, wenn es um ihre öffentliche Darstellung geht.

Bürgerschaf tliches Engagement aus der Akteursperspektive

gegen Geflüchtete bemüht werden, richten sich in ähnlicher Form seit Jahrzehnten und verstärkt seit dem 11. September 2001 in unterschiedlichen Debatten wie beispielsweise den sogenannten Kopftuch- oder Beschneidungsdebatten explizit gegen Muslim_innen und jene, die als solche markiert werden. Islamophobe Tendenzen haben in den letzten Jahren deutschlandweit deutlich zugenommen.2 Vorbehalte gegen die gesellschaftliche Teilhabe von Muslim_ innen sind ein integraler Teil der Geschichte des Islams in Deutschland: »Das in den 1970er Jahren zementierte Bild des ›muslimischen Gastes‹ hat offenbar auch dazu geführt, dass die islamischen Organisationen und ihre lokalen Gemeinden lange Zeit nicht als zivilgesellschaftliche Akteure von Kommunen, Land und Bund wahrgenommen wurden. Nicht nur ihre zahlreichen Dienstleistungen, die überwiegend ehrenamtlich angeboten wurden, sondern ihr ausbaufähiges Potenzial für bürgerschaftliches Engagement wurden verkannt.« (Ceylan/Kiefer 2017: 371)

Eine Teilhabe muslimischer Akteure in der Zivilgesellschaft ist dennoch möglich. Einige Akteure haben durchaus erfolgreich Teilhabe eingefordert, werden in ihrer Arbeit gefördert und sind als Partner von Staat und Kommunen anerkannt. Strukturelle Exklusionsmechanismen und eine generelle Skepsis von außen gehören aber weiterhin zu den Ausgangsbedingungen, die jede Form gesellschaftlichen Engagements muslimischer Organisationen erschweren. Auf der politischen Ebene spiegelt sich dies darin wider, dass in den Politiken von Bund und Ländern Sicherheit und Extremismusprävention diskursiv und finanziell eine vielfach größere Aufmerksamkeit erfahren als Inklusion und Kooperation. In der sozialen Arbeit zeigt sich die Skepsis zum Beispiel in der Unterstellung, Fördergelder würden unter dem Deckmantel der sozialen Arbeit genutzt, um zu missionieren. Unausgesprochene Vorbehalte gegen die Kooperation mit muslimischen Partnern führen auch bei manchen zivilgesellschaftlichen Akteuren wie zum Beispiel Wohlfahrtsverbänden dazu, dass eine potenziell fruchtbare Zusammenarbeit nicht zustande kommt (Interview Wegweiser). Auf der anderen Seite bestehen auch bei vielen muslimischen Akteuren interne Hürden für eine erfolgreiche zivilgesellschaftliche Teilhabe, allen voran ein Nachholbedarf an Professionalisierung und Organisation. Diese sind Voraussetzung für die Beantragung von Projektgeldern und Kooperationen mit Dritten. Hier deutet sich ein Teufelskreis aus mangelnder Förderung und Anerkennung sowie sinkender Fähigkeit und Motivation zur Selbstprofessionalisierung an. Skepsis und Rückzug haben sich so zu einer Dynamik entwi-

2 | Vgl. EU-Bericht zur Islamophobie in Deutschland 2016 (European Islamophobia Report). www.islamophobiaeurope.com/wp-content/uploads/2017/03/GERMANY.pdf

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ckelt, die sich selbst verstärkt und einen offenen Austausch und Kooperation an manchen Stellen deutlich erschwert.3

Kulturelle, sprachliche und religiöse Bezüge als Potenzial Das zweite Strukturmerkmal muslimischer Akteure in der Arbeit mit Geflüchteten ist ein spezifisches Set an Potenzialen und Stärken. Ihre Bezüge zu Sprache, Kultur und Religion vieler Geflüchteter aus dem Nahen Osten und Nordafrika sind Faktoren, die den persönlichen Zugang und das Verständnis der Lebenslagen Geflüchteter erleichtern. Diese bisher oft ignorierten und in Debatten um Leitkultur und Parallelgesellschaften eher problematisierten Kompetenzen stellen sich im Kontext der Geflüchtetenarbeit als wichtig und nützlich heraus. Rabia Bechari des Vereins für muslimische Seelsorge Salam e. V. aus Frankfurt a. M. berichtet beispielsweise, dass in Seelsorgesituationen mit Geflüchteten oft bereits die geteilte muslimische Identität ausreiche, um ein Vertrauensverhältnis herzustellen (Interview Salam e. V.). In anderen Fällen, wenn nicht die Religion der primäre Bezugspunkt ist, können die gemeinsame Sprache und kulturelle Bezüge der Schlüssel dafür sein. Gerade im Kontakt mit denjenigen Geflüchteten, die überfordert, mittellos, orientierungslos, traumatisiert, einsam oder sprachlos sind, sind menschliche Kontakte essenziell. Über das in administrativen Prozessen nötige Verstanden-Werden und sich Mitteilen-Können hinaus ist das emotionale Verstanden-Werden also ein dringendes Bedürfnis. Neben dem Verstehen ist auch das Vermitteln eine Kompetenz, die zu den Stärken muslimischer Akteure zählt. Auch hier gibt es mehrere Dimensionen. Die funktionale Ebene ist das wörtliche Übersetzen und Begleiten in Behörden und anderen Einrichtungen. Die eigenen Migrationsbezüge vieler muslimischer Aktiver implizieren aber auch ein gesellschaftliches und politisches Vermittlungspotenzial. Gemeinsam mit der Neuköllner Bürgerplattform organisierte die Berliner Moscheegemeinde Dar Al-Salam zum Beispiel Treffen zwischen Geflüchteten und Berliner_innen, die selbst infolge des Zweiten Weltkriegs fliehen mussten. Nach den medialen Reaktionen auf die Vorfälle in Köln an Silvester 2015/2016 riefen sie die Aktion Gegenbilder schaffen! ins Leben, deren Ziel es war, dem Diskurs über gewaltbereite Geflüchtete ein realistisches Bild entgegenzustellen. In diesen Beispielen drückt sich aus, dass muslimische Organisationen als Vertreter eines migrantisch geprägten und pluralistischen Deutschlands eine zivilgesellschaftliche Rolle spielen können, die über die eigenen Communities hinausgeht und Ansätze für neue Formen von community building bereithält. 3 | Werner Schiffauer zeigt in der Publikation Schule, Moschee, Elternhaus. Eine ethnologische Intervention (2015) auf, wie entsprechende Dynamiken eine konstruktive Zusammenarbeit zwischen Berliner Schulen und Moscheegemeinden scheitern ließen.

Bürgerschaf tliches Engagement aus der Akteursperspektive

D ie neue B ürgerbewegung als C hance zur besseren I ntegration muslimischer A kteure in die Z ivilgesellschaf t Die neue Bürgerbewegung und die Teilhabe muslimischer Akteure daran dienen in diesem Beitrag als Brennglas für die Betrachtung der beiden oben erklärten Strukturmerkmale: einerseits die Außenseiterposition muslimischer Akteure in der Zivilgesellschaft, und ihre spezifischen und wichtigen Kompetenzen in der Arbeit mit Geflüchteten andererseits. Mit der gesamtgesellschaftlichen Auf bruchstimmung des Sommers 2015 haben sich viele fundamentale Veränderungen ereignet: Neue zivilgesellschaftliche Projekte muslimischer Organisationen wurden gegründet und Kooperationen zwischen muslimischen und nicht muslimischen Akteuren wurden geschlossen, insbesondere auf lokaler Ebene: »Dies ist deshalb bedeutend, weil hier an einer Sollbruchstelle der Zivilgesellschaft gearbeitet wird. Der fatalen Dynamik, die aus Skepsis, wenn nicht Feindlichkeit gegenüber dem Islam einerseits und einem darauf reagierenden Rückzug andererseits resultiert, wird hier ein neuer Ansatz entgegengestellt.« (Schiffauer, Eilert, Rudloff 2017: 14)

Zudem wird das Verhältnis zum Staat und zu Kommunen über das Thema Geflüchtete seitdem neu verhandelt: In Berlin wandte sich das Landesamt für Gesundheit und Soziales (heute Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten) an eine engagierte Moscheegemeinde, um nach deren Unterstützung zu fragen; in Nürnberg betrachtet die Stadtverwaltung die Kooperation mit der islamischen Gemeinde als besondere Stärke der städtischen Geflüchtetenarbeit; Förderprogramme verschiedener Bundesministerien finanzieren gezielt Professionalisierungsprogramme und Projekte muslimischer Organisationen. Anhand der sechs Projekte arbeite ich im Folgenden heraus, wie sich die zivilgesellschaftliche Teilhabe der Akteure im Spannungsfeld aus Exklusion, Potenzialen und den oben genannten Veränderungen entwickelt hat. Konkret geht es um Gelingens- beziehungsweise Scheiternsbedingungen der Projekte. (Wie) ist es ihnen gelungen, nachhaltige Strukturen aufzubauen und Finanzierungen zu sichern? Konnten neue Räume für Kooperation und Teilhabe erschlossen werden, die bisher durch Exklusionsmechanismen unerreichbar waren? An welche internen und externen Grenzen sind die Akteure gestoßen?

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M oscheegemeinden als Z entren der nachbarschaf tlichen E rst versorgung und als niedrigschwellige K ontaktpunkte für G eflüchtete  – drei B eispiele aus B erlin Auf der lokalen Ebene betrachte ich drei Initiativen, die von Berliner Moscheegemeinden ausgehen. Mit dem Fokus auf eine türkisch geprägte und zwei arabisch geprägte Gemeinden, die allesamt sunnitisch ausgerichtet sind, kann kein Anspruch auf Allgemeingültigkeit für alle Moscheen in Deutschland erhoben werden. Aber gerade weil in Berlin sehr viele Geflüchtete leben, und die Stadt das politische Zentrum der Bundesrepublik ist, weisen die Einblicke in dortige Projekte über sich hinaus. Dass nur sunnitische Gemeinden betrachtet werden, lässt sich darauf zurückführen, dass diese tendenziell mit mehr Anfragen von Geflüchteten konfrontiert sind und sich hier Gesprächspartner_innen gefunden haben. Die Moschee ist für viele muslimische Geflüchtete der zentrale Ort für sozialen Austausch und Anlaufstelle bei emotionalen, sozialen und materiellen Problemlagen. Sie ist eine soziale Institution, die gleichzeitig lokal und global ist. Einerseits ist sie geprägt von den Mitgliedern, die in der Nachbarschaft oder Region verwurzelt sind. Andererseits bietet sie Anschluss an religiöse Rituale und Identitäten, die ähnlich wie etwa im Irak, in Afghanistan oder Syrien funktionieren. Besonders gilt dies, wenn dort die Muttersprache der Geflüchteten gesprochen wird. Eine Moscheegemeinde ist in der Regel täglich geöffnet. Während der Öffnungszeiten sind Ansprechpartner_innen wie etwa der Imam oder Ehrenamtliche vor Ort. Vergleichbar mit kirchlichen Gemeinden sind islamische Gemeinden somit durch eine leichte Zugänglichkeit gekennzeichnet. Auf das soziale Engagement wirkt sich dies insofern aus, als dass den Gemeinden zunächst überhaupt keine Wahl blieb  – Geflüchtete kamen mit ihren Anliegen auf sie zu. Der soziale Raum, die Moscheen und ihre Gemeinden, passten sich dieser neuen Situation an. Wie sich diese Entwicklung konkret vollzog, wird im Folgenden anhand von drei Beispielen aus Berlin beschrieben.

Neuköllner Begegnungsstätte Dar Al-Salam Wie alle Gesprächspartner_innen aus Moscheevereinen berichtet auch der Imam der Neuköllner Begegnungsstätte, Taha Sabri, dass er und seine Gemeinde bis zum Sommer 2015 überhaupt nicht darauf vorbereitet waren, sich intensiv mit Geflüchteten auseinanderzusetzen. Schon seit ihrer Gründung bietet die Gemeinde regulär soziale Dienste an, die sich hauptsächlich an Muslim_innen richten und in der Regel ehrenamtlich getragen werden. Je nach Moschee beinhalten sie Angebote für Kinder, Jugendliche, alte Menschen sowie Migrant_innen. Nach der Einrichtung einer Massenunterkunft in den

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Hangars des nahegelegenen Tempelhofer Feldes machte sich die Moschee als arabischsprachige und sunnitische Gemeinde schnell einen Namen unter den Bewohner_innen und wurde zu einem Bezugspunkt für tausende Geflüchtete. Innerhalb kürzester Zeit organisierten sich circa 100 Gemeindemitglieder für die Erstversorgung Geflüchteter. Die Gemeinde transformierte sich, zumindest temporär, in eine niedrigschwellige Anlaufstelle. Das improvisierte Angebot, gestemmt aus ehrenamtlichem Engagement und Spenden der Mitglieder, umfasste unter anderem warme Mahlzeiten, Lebensmittelspenden, Schlafplätze, Bustickets, Seelsorge, Übersetzung, Behördenbegleitung und allgemeine Beratung. Mit den Bedürfnissen der Ankommenden wuchs und veränderte sich das Hilfsangebot. Die Aktivität in der Moschee zog andere Ehrenamtliche und externe Spenden an, wodurch sie ein Knotenpunkt der nachbarschaftlichen Erstversorgung wurde. Diese erste Phase beschreibt Taha Sabri folgendermaßen: »Das war eine große Arbeit für uns, die wir nur aus eigener Kraft gestemmt haben. Das hat uns viel Kraft gekostet. Aber das war auch eine gute Zeit, eine schöne Zeit. Denn es ist schön, wenn man gebraucht wird und etwas geben kann. Und das war ein Zeichen dafür, dass die Gesellschaft irgendwie geeint auf die Problematik reagiert.« (Interview Neuköllner Begegnungsstätte)

Im Verlauf des Jahres 2016, als sich die Lebenssituation vieler Geflüchteter stabilisierte, veränderte sich auch das Engagement der Moschee. Es kommen seitdem zwar weniger, aber immer noch täglich muslimische Geflüchtete. Neben materiellen Hilfen suchen sie Beratung in bürokratischen und lebenspraktischen Fragen. Auch die soziale und kulturelle Anpassung an die hiesigen Umstände stellt die Geflüchteten häufig vor Probleme. Und für viele Muslim_innen, so Sabri, ist die Moschee der Ort, an dem etwa seelische und familiäre Probleme angesprochen werden können. Viele wenden sich deshalb zuerst an eine Moschee, suchen dort nach Zugehörigkeit oder nach jemandem, der zuhört: »Und manchmal kommen die einfach nur und suchen nach einem Imam, der zuhört. Du tust gar nichts für den, du hörst nur zu und am Ende umarmst du den und dann ist er ein bisschen erleichtert. Es braucht eine enorme Kraft, die Geduld und das Mitgefühl aufzubringen. Die Leute sind traumatisiert, tief getroffen, haben schreckliche Geschichten hinter sich. Dann brauchen sie jemanden, der ihnen beisteht. Und sie brauchen auch ein Gefühl der Zusammengehörigkeit.« (Interview Neuköllner Begegnungsstätte)

Als Imam besitzt Sabri das Vertrauen derjenigen, die um Rat und Hilfe suchen. Auf diese Weise ist er direkt konfrontiert mit den sozialen und emotionalen Schwierigkeiten vieler Geflüchteter. Oft werden Ehen auf die Probe gestellt

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oder scheitern, weil die Unterbringung in Massenunterkünften und die veränderten Rollenbilder Konflikte eskalieren lassen. Auch das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern wirft Unsicherheiten auf. Eltern fragen nach Rat, weil sie sich Sorgen um ihre Kinder machen, deren Verhalten sich schnell an die neue Umgebung anpasst. Die sozialen Realitäten in Deutschland seien zwar aufgrund zahlreicher westlicher TV-Sendungen theoretisch nichts Neues für viele Geflüchtete aus arabischen Ländern. Aber direkt mit ihnen konfrontiert zu sein, schockiere viele dennoch, so Sabri. Dann sei es seine Aufgabe, ihnen die Angst vor Veränderung zu nehmen und zu erklären, dass soziale Beziehungen in Deutschland einfach anders funktionieren als in der Heimat. Diese alltägliche soziale Beratung Geflüchteter hat den Moscheeverein nachhaltig verändert. Einerseits haben sich neue Strukturen entwickelt und stabilisiert: Der Vereinsvorstand hat ein soziales Gremium gebildet; eine Person wurde für die Koordination der sozialen Arbeit eingestellt. In Kooperation mit einem Träger wird bald die dritte wöchentliche Deutschklasse in den Gemeinderäumen beginnen, nachdem Besucher_innen der Moschee großes Interesse daran gezeigt hatten. Viele Menschen, die vor zwei Jahren als hilfsbedürftige Geflüchtete kamen, sind nunmehr angekommen und ordentliche Vereinsmitglieder geworden. Im Moscheealltag ist deshalb die Kategorie der Geflüchteten nicht mehr so relevant wie noch vor zwei Jahren. Wer nicht mit einem besonderen Anliegen kommt, wird nicht anders wahrgenommen als die etablierten Mitglieder. Gleichzeitig herrscht eine dauerhafte finanzielle und personelle Überbelastung der Strukturen. Hatten Mitgliederspenden den Betrieb der Moschee vor 2015 noch tragen können, so reichen sie für die Aufrechterhaltung der neuen sozialen Angebote nicht mehr aus. Das Spendenaufkommen für die Unterstützung Geflüchteter ist auch deshalb insgesamt zurückgegangen, weil viele Mitglieder aufgrund der politischen Dauerkrisen in arabischen Ländern regelmäßig dorthin Geld überweisen. Auch die Einnahmen aus der Vermietung der Räumlichkeiten für die Deutschkurse können diese Lücke nicht füllen. Die gewachsenen ehrenamtlichen Strukturen sind ohne Aufwandsentschädigungen, Projektgelder und Qualifizierungsprogramme langfristig nicht aufrechtzuerhalten. Somit sind die praktischen Grenzen des Engagements in erster Linie finanzieller Art. In direktem Zusammenhang damit steht die politische Anerkennung und Förderung der Arbeit. Denn mögliche Förderprogramme für die Arbeit des Moscheevereins erfordern, dass Kommune und Staat nicht nur die Arbeit, sondern auch die zivilgesellschaftliche Beteiligung der Gemeinde wahrnehmen und fördern. Und gerade hier zeigt sich für Taha Sabri ein empfindlicher Punkt: Es gebe eine grundlegende Forderungshaltung gegenüber den Muslim_innen nach dem Motto ›Wo sind die Muslim_innen in der Flüchtlingsarbeit?‹ Dabei sei den Behörden klar, dass den Moscheevereinen ohne staatliche Unterstützung schlicht die Mittel fehlen, um nachhaltige und effektive

Bürgerschaf tliches Engagement aus der Akteursperspektive

Projekte zu initiieren. Seit dem Sommer 2015 sei die Bereitschaft von Lokalpolitiker_innen, an Veranstaltungen teilzunehmen und die Moschee öffentlich zu unterstützen, kontinuierlich zurückgegangen. Dahinter stecken könnten die Wahlerfolge der AfD und die gleichzeitige Angst, im Wahljahr 2017 Stimmen zu verlieren, vermutet Sabri. Auf der politischen Ebene sei außerdem ein großes Problem, dass der Verfassungsschutzbericht den Verein wegen vermeintlicher Nähe zur Muslimbruderschaft erwähnt. Vor Kurzem hat die Gemeinde zwar eine finanzielle Förderung der Landeszentrale für politische Bildung für die Teilnahme an einem Projekt zu Erhöhung der Wahlbeteiligung erhalten, das bereits im Vorjahr sehr erfolgreich ehrenamtlich durchgeführt worden war. Mit dem sicherheitspolitischen Stigma des Extremismus bestünde aber ein allgegenwärtiges Hindernis für weitere Kooperationen (Interview Neuköllner Begegnungsstätte). Das Engagement der Neuköllner Begegnungsstätte wird trotz aller Hürden weitergehen, denn Ratsuchende abzuweisen ist für die Mitglieder allein schon aus religiösen Gründen undenkbar. Und es kommen immer noch täglich Geflüchtete, die Beistand, Unterstützung und Rat suchen. Was man brauche, um die Arbeit nachhaltig und ohne finanzielle Krisen fortzuführen, seien Anerkennung, monetäre Unterstützung und mehr Kooperationen mit weiteren zivilgesellschaftlichen Akteuren. Im besten Falle, sagt Sabri, gäbe es eine Zusammenarbeit mit dem Berliner Senat, der die umfangreiche soziale Arbeit mit den Geflüchteten anerkennt und fördert (ebd.).

Haus der Weisheit in Berlin-Moabit Der Moschee- und Bildungsverein Haus der Weisheit in Berlin-Moabit wurde auf ähnliche Weise zu einem wichtigen Akteur in der nachbarschaftlichen Versorgung und Unterbringung von Geflüchteten. Hier war es die Nähe zum ehemaligen Landesamt für Gesundheit und Soziales (LAGeSo), die den Ausschlag für das Engagement gab. Als dort im Sommer 2015 täglich Tausende ihre ersten administrativen Schritte für den Asylantrag durchlaufen mussten, war die Behörde monatelang überfordert. Gleichzeitig herrschte ein Mangel an Unterkünften für Neuankommende. Aus diesen Gründen schliefen viele Menschen auf der Straße in der Nähe des LAGeSo, um endlich einen Termin zu bekommen. In dieser Situation öffnete das Haus der Weisheit seine Gemeinderäume, brachte täglich über Hundert Menschen unter und verpflegte sie. Spenden aus der Gemeinde und der Berliner Bevölkerung ermöglichten, dass durch das große Engagement der Mitglieder die Notlage um das LAGeSo etwas entschärft werden konnte. Für die Umsetzung der Arbeit gab es keinerlei Werbung oder erprobte Strukturen – improvisierte Lösungen und mündliche Verbreitung von Informationen unter den Geflüchteten selbst strukturierten die Situation. Berliner Behörden brachten Geflüchtete mit Bussen zur Gemeinde,

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weil alle anderen Unterkünfte voll belegt waren. Um im Ramadan alle Fastenden zu versorgen, für die die Essensausgabe in einer benachbarten Unterkunft viel zu früh war, kochten Gemeindemitglieder mit gespendeten Lebensmitteln täglich bis zu 500 Mahlzeiten. Parallel dazu fanden Beratungen, Übersetzungen, Begleitungen und Seelsorge statt, wo die ehrenamtlichen Ressourcen es erlaubten. Aus einer spontanen Kooperation zwischen Behörden und dem Moscheeverein entwickelte sich eine professionelle Zusammenarbeit: Das LAGeSo beauftragte den Verein mit der Einrichtung und Leitung einer Notunterkunft in einer Turnhalle gegenüber der Behörde. So wurde die Arbeit des Vereins auf eine professionelle Ebene gebracht. Offizieller Träger war die Geminnützige GmbH HaDeWe Integra gGmbH, die bereits vor einigen Jahren zum Zwecke der Gründung arabisch-deutscher Kindergärten4 in Berlin aus dem Moscheeverein hervorging. Von August 2015 bis zur Schließung der Unterkunft Ende 2016 waren acht Gemeindemitglieder unter der Projektleitung des Imams Abdallah Hajjir beim LAGeSo als Betreuer_innen der Unterkunft angestellt. Wenn viel Arbeit anstand, halfen zudem Ehrenamtliche aus der Gemeinde mit. Parallel dazu wurde die tägliche soziale und materielle Unterstützung Geflüchteter in den Gemeinderäumen fortgeführt. Mittlerweile sind viele Geflüchtete in die Strukturen der Gemeinde integriert, einige engagieren sich dort ehrenamtlich. Zusätzlich gibt es mit dem JobCenter eine Zusammenarbeit. Zehn Personen werden vom JobCenter bezahlt und sind für drei Bereiche der Geflüchtetenarbeit in den Gemeinderäumen zuständig: ein Integrationscafé, zu dem hauptsächlich geflüchtete Familien aus der Umgebung und aus einer benachbarten Unterkunft kommen, eine Kleiderkammer, die jedoch immer weniger Zuspruch findet, weil die materielle Notlage vieler Geflüchteter durch Transferleistungen verringert wurde, sowie ein Gartenprojekt, in dessen Rahmen verschiedene Aktivitäten draußen stattfinden. Teil des Integrationscafés sind Treffen zum Kochen und für die Kinder zum Basteln. Außerdem ist jeden Tag zwischen 14 und 18 Uhr ein_e Mitarbeiter_in vor Ort, der bzw. die eine allgemeine Beratung auf Deutsch und Arabisch anbietet. Aufgrund des hohen Andrangs zum Freitagsgebet auch von Geflüchteten ist freitags die Nachfrage größer, weshalb dann immer mehrere Gemeindemitglieder für die Beratung bereitstehen. Rund um die Angebote hat sich ein ehrenamtliches Netzwerk gebildet, zu dem sowohl Muslim_innen als auch Nichtmuslim_innen gehören. Der Koordinator der drei Projektbereiche beispielsweise kam als Nichtmuslim erst über das Engagement seit 2015 mit der Gemeinde in Kontakt. Heute hat er eine zentrale Rolle im Engagement der Gemeinde für Geflüchtete inne.

4 | Die erste arabisch-deutsche Kita Berlins wurde vor 15 Jahren mit dem Verein als damaligem Kitaträger gegründet.

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Wie sich das Engagement des Hauses der Weisheit im Bereich Geflüchtetenhilfe entwickelt, hängt vor allem von den verfügbaren Ressourcen ab. Es wäre etwa sinnvoll, so Abdallah Hajjir, ergänzende Deutschkurse anzubieten. Viele Geflüchtete seien zwar motiviert Deutsch zu erlernen, würden aber in den vorgeschriebenen Kursen nicht genug lernen. Für zusätzliche Kurse fehlen jedoch Gelder und Personal. Zwei allgemeine Faktoren erschweren nach Aussage von Hajjir außerdem, dass Moscheevereine sich bei Projektausschreibungen durchsetzen. Erstens sei stets fraglich, ob zeitaufwändige Anträge sich lohnten, gerade weil die Konkurrenz durch etablierte und professionelle Wohlfahrtsträger wie die Stadtmission oder die Caritas enorm groß sei. Zweitens bestände bei allen Anträgen von Moscheen immer Diskussionsbedarf bei Entscheidungsträger_innen, die sich zwar nicht immer in direkter Ablehnung äußerten, aber zumindest Prozesse verzögerten. Selbst der gute Ruf des Hauses der Weisheit als kooperativer und offener Ansprechpartner der Behörden sei nicht in jedem Gremium bekannt, weshalb auch dessen Anträge immer wieder Grundsatzdiskussionen und Irritationen auf der politischen Ebene auslösten. Auch wenn die Vorsicht von politischer Seite die Arbeit des Vereins erschwere, so Hajjir, sei sie prinzipiell berechtigt: Manche Moscheen seien mehr an außenpolitischen Geschehnissen in der arabischen Welt interessiert als an den lokalen Verhältnissen. Zudem seien sie durch Nähe zu politischen Bewegungen teilweise politisch nicht mit der deutschen Außenpolitik vereinbar und so schwer als Partner vorstellbar. In diesem Punkt sieht er die starke lokale Vernetzung sowie die politische und konfessionelle Unabhängigkeit seines Vereins als Vorteil im Kontakt zu den Behörden (Interview Haus der Weisheit). Auch wenn kein Ausbau der bestehenden Angebote geplant ist, bleibt das Haus der Weisheit auch für Geflüchtete ein zentraler nachbarschaftlicher Kontaktpunkt. Zurzeit arbeiten die Mitarbeiter_innen des an die Gemeinde angegliederten Vereins HaDeWe Integra gGmbH intensiv daran, weitere arabisch-deutsche Kitas zu eröffnen. Gerade für geflüchtete Familien kann dieser Kontakt eine sehr große Hilfe sein, weil auch schon ohne Sprachbarrieren und bürokratische Hürden der Zugang zu Kitaplätzen schwer genug ist. Ein weiterer Grund für eine langfristige Auseinandersetzung mit Geflüchteten ist für Abdallah Hajjir, dass die muslimischen Communities für Geflüchtete eine ganz besondere Rolle spielen: »Sie sehen in uns, in der Generation vor ihnen, die eingebürgert sind, hier lange leben, die ein gutes Leben haben, auch Helfer_innen. Sie erwarten es moralisch von uns. Islamisch gesehen auch mit Recht. Und sie sehen uns als Vorbilder, die Gemeinden und die Familien. Sie sehen, dass wir alles erreicht haben und sind motiviert. Es ist eine Konkurrenz im positiven Sinne entstanden. Zwischen neuen und alten Geflüchteten und Zugezogenen. Sie denken dann: ›Wir machen auch unsere Läden und Betriebe auf‹.« (Interview Haus der Weisheit)

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Frauenbegegnungscafé in der Unterkunft am Tempelhofer Feld Die Initiative des Frauenbegegnungscafés, die von Mitgliedern der SehitlikMoschee in Berlin-Neukölln ausging, ist ein weiteres Beispiel für das besondere Profil muslimischer Akteure in der Geflüchtetenarbeit und gleichzeitig für die strukturelle Unterfinanzierung derartiger Projekte. Die Gemeinde gehört der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion e. V. (DITIB) an und liegt in unmittelbarer Nachbarschaft zur Großunterkunft am Tempelhofer Feld. Die Gemeindemitglieder wurden aktiv, als Bezirksverwaltung und Unterkunftsleitung um ihre Hilfe bei der seelsorgerischen Begleitung und sprachlichen Vermittlung baten. Nach der Ankunft herrschte eine große Verunsicherung unter vielen Neuangekommenen, unter anderem wegen der ständigen Präsenz von Polizei, Security und Presse. Die Ehrenamtlichen der Moscheegemeinde konnten als Berater_innen, Vermittler_innen und Seelsorger_innen fungieren, weil sie mit ihren sprachlichen Kompetenzen, aber besonders durch die kulturelle Nähe einen Vertrauensvorschuss erhielten, berichtet die Initiatorin des Frauenbegegnungscafés, Gülhanim Karaduman-Cerkes. Viele Geflüchtete konnten sich ihrer Aussage nach mit den meist türkischstämmigen, muslimischen Engagierten identifizieren, auch wenn sie nicht unbedingt Türkisch beherrschten. Dringender Gesprächsbedarf und Fragen zur neuen Umgebung fanden Raum in der ansonsten hektischen Umgebung der Notunterkunft. Aus dem Engagement von Gülhanim Karaduman-Cerkes entwickelte sich unabhängig von den Gemeindestrukturen das Frauenbegegnungscafé in den Räumen der Unterkunft, welches seit Ende 2015 eine wichtige Anlaufstelle für die Bewohnerinnen ist. Wöchentlich für zwei bis drei Stunden gehen durchschnittlich fünf ehrenamtliche Frauen in die Unterkunft und laden bei Tee und Keksen zum Gespräch ein. Wenn möglich, bieten zwei Ehrenamtliche parallel dazu eine Kinderbetreuung an. Die Unterkunftsleitung, mit der die Ehrenamtlichen in engem Kontakt stehen, stellt einen Raum zur Verfügung. Auch wenn der Name nach Plauderei klingt, steckt dahinter die Idee, gerade belastenden und schweren Themen Raum zu bieten. In einem Alltag, der von Isolation in der Unterkunft und gleichzeitigem Mangel an Privatsphäre geprägt ist, haben es Frauen oft besonders schwer, soziale Kontakte und Anlaufstellen außerhalb der Unterkunft zu finden. Niedergeschlagenheit und Antriebslosigkeit hemmen die proaktive Lebensgestaltung. Traditionelle Geschlechterrollen, nach denen vor allem Frauen für die Kinderbetreuung zuständig sind, tragen ebenfalls stark dazu bei. Nach anfänglicher Zurückhaltung fand das Begegnungscafé schnell großen Zuspruch; bis zu 50 Frauen kamen, um über Sorgen, Ängste und Hoffnungen zu sprechen. Aus den Gesprächen entstanden Ideen für weitere Aktivitäten:

Bürgerschaf tliches Engagement aus der Akteursperspektive »Wir fragen dann die Frauen, was sie wollen, und versuchen sie da abzuholen, wo sie stehen. Und ich versuche, Externe einzuladen. Die Polizei ist zum Beispiel gekommen. Dann haben sie erklärt, was der Unterschied zwischen Polizei und Security ist. An einem anderen Tag sind wir gemeinsam rüber zur Polizei gegangen, zum Anfassen sozusagen. Da waren mehr als 50 Frauen dabei, wir mussten die Zahl begrenzen. Das war richtig toll und hat Ängste abgebaut. Zu uns haben sie ja mittlerweile das Vertrauen. Es kam auch zu zwei Anzeigen, kleine Sachen. Und das ist ein Riesenschritt für die Frauen. Das sind so Punkte, an denen wir merken, wie wichtig unsere Arbeit als Muslime ist. Wie viel wir erreichen können.« (Interview Frauenbegegnungscafé, Unterkunft am Tempelhofer Feld)

Aus dem Angebot ist eine Gruppe gewachsen, in der es um gegenseitiges Empowerment geht. Oft gibt es Gelegenheiten, sich allein vor die anderen zu stellen und über sich, die eigenen Ängste und Wünsche zu sprechen. Im geschützten Rahmen kann so erprobt werden, eigene Grenzen zu überwinden und für sich selbst einzustehen. Karaduman-Cerkes berichtet von einer Frau, die anfangs so schüchtern war, dass sie nicht einmal ihr als Frau in die Augen geschaut hat. Die wöchentlichen Gespräche und Aktivitäten gaben ihr langsam Selbstbewusstsein zurück, sodass sie mittlerweile aufrecht durch die Hangars geht (Interview Frauenbegegnungscafé, Unterkunft am Tempelhofer Feld). Seit dem Frühjahr 2017 kommen weniger Frauen zu den wöchentlichen Treffen als noch 2016. Zum einen liegt das an der ständigen Angst vor Abschiebung und der gefühlten Ausweglosigkeit des Lebens in der Großunterkunft, die jegliche Aktivität erschweren. Zum anderen sind viele ehemalige Besucherinnen des Cafés in eigene Wohnungen oder Gemeinschaftsunterkünfte gezogen. Dadurch verlieren sie den Zugang zur Notunterkunft und damit auch zum Begegnungscafé. Fatalerweise wird der Bedarf an einer vertrauten Anlaufstelle wie dem Café nach dem Auszug jedoch oft noch größer. Zwar bietet die neue Unterbringung mehr Privatsphäre, es fehlen aber die wichtigen Kontakte in die soziale Umwelt. Für die Projektleiterin Karaduman-Cerkes besteht kein Zweifel daran, dass der Bedarf an Anlaufstellen wie dem Begegnungscafé für geflüchtete Frauen auch weiterhin bestehen bleibt. In Folge von Vertreibung und Krieg kommen immer neue Frauen und Kinder nach Deutschland. Und auch diejenigen, die bereits seit mehr als zwei Jahren da sind, haben noch Interesse an dem Angebot. In einer WhatsApp-Gruppe sind aktuelle und ehemalige Besucher_innen vernetzt. So können die Frauen auch nach einem Auszug aus der Massenunterkunft noch an der Kommunikation teilnehmen. Seit einiger Zeit schon sucht Karaduman-Cerkes deshalb nach passenden Räumen außerhalb der Unterkunft, in denen das Begegnungscafé für alle Interessierten weitergeführt werden könnte. Ihr Ziel ist es, ein Angebot zu etablieren, das an mehreren Wochentagen offen wäre und in dessen Rahmen unterschiedliche Aktivitäten stattfinden könnten, von handwerklichen Kursen über Deutschkurse und Kochabende bis zu Beratungsangeboten. Ganz wichtig wäre

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es dann, so Karaduman-Cerkes, auch nicht geflüchtete Frauen einzubinden. So könnten Begegnungen und Erfahrungsaustausch zwischen Frauen stattfinden, die über eine geteilte Nationalität, Sprache oder Religion hinausgingen. Zwar hätten zurzeit geflüchtete Frauen mehr Anliegen als Einheimische, doch auch sie wollten etwas geben, Fähigkeiten vermitteln und an der Gemeinschaft teilhaben. Das Frauenbegegnungscafé in der Unterkunft hat viele Räume, Ideen und Potenziale aufgezeigt, an die angeknüpft werden könnte. Das größte Hindernis für die Weiterführung und den geplanten Ausbau des Begegnungscafés sind mangelnde Ressourcen. Dass sie das Angebot schon über ein Jahr ehrenamtlich aufrechterhalte, koste enorm viel Kraft, betont Karaduman-Cerkes. Organisation, Kommunikation mit der Unterkunftsleitung, Absprachen mit Externen und die Motivation der Ehrenamtlichen seien auf Dauer nur mithilfe professioneller Strukturen zu tragen. Viel Zeit verbringt Karaduman-Cerkes auch damit, in verschiedenen Gremien aus Zivilgesellschaft und Stadtverwaltung Geflüchtetenarbeit zu gestalten, Netzwerke zu pflegen und um Finanzierung für Projekte wie das Begegnungscafé zu werben. Ihre Arbeit löse zwar bei vielen Offiziellen Begeisterung aus und werde gelobt, doch eine Finanzierung konnte sie bisher nicht erreichen. Das liege unter anderem auch daran, dass ihr die Zeit und das Wissen fehlten, Projektgelder zu recherchieren und Anträge zu stellen (Interview Frauenbegegnungscafé, Unterkunft am Tempelhofer Feld).

M uslimische N ichtregierungsorganisationen : I ntegr ation der A rbeit mit G eflüchte ten in bestehende S truk turen In der Folge stelle ich drei Projekte von muslimischen NRO vor. Ihr Wirkungsradius ist regional beziehungsweise auf eine Großstadt begrenzt. Sie sind unabhängig von Verbandsstrukturen oder Moscheevereinen organisiert und widmen sich mit ihrer Arbeit sozialen und gemeinnützigen Themen. Die Religion spielt zwar im Selbstverständnis und als Handlungsmotivation für alle drei Akteure eine wichtige Rolle; in der praktischen Arbeit jedoch steht sie nicht im Zentrum. Das Begegnungs- und Fortbildungszentrum muslimischer Frauen e. V. (BFmF) in Köln arbeitet seit über 20 Jahren als Einrichtung für Frauen und Familien mit Migrationsgeschichte; Inssan e. V. wurde 2002 von jungen Berliner Muslim_innen mit dem Ziel gegründet, den deutschsprachigen Islam zu fördern und gesellschaftliche Teilhabe einzufordern; Salam e. V. in Frankfurt a. M. befasst sich seit der Gründung 2013 mit der Etablierung eines muslimischen Seelsorgeangebots analog zur christlichen Seelsorge für die Region Frankfurt. Aus ihren jeweiligen Schwerpunkten und Arbeitsbereichen heraus entwickelten die drei Vereine Projekte, die sich explizit an Geflüchtete richten.

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BFmF e.V. in Köln Das BFmF in Köln besteht bereits seit über 20 Jahren und hat damit die längste Entwicklung der hier betrachteten Akteure hinter sich. Aus der ehrenamtlich tätigen Empowermentinitative muslimischer Frauen entwickelte sich eine in der sozialen Arbeit professionell arbeitende Migrant_innenorganisation, die inzwischen landes- und bundesweit bekannt ist und Vorbildcharakter hat. Das BFmF ist Träger von drei Bildungswerken und verschiedenen Beratungsstellen (Erwerbslosen-, Schuldner- und Verbraucherinsolvenz-, Migrations-, Bildungsberatung) sowie Träger der freien Jugendhilfe. Der Verein ist seit 1998 Mitglied im Paritätischen Wohlfahrtsverband. Die Ausrichtung auf Frauen und Familien mit Migrationsbezug sowie die Bereitschaft, das bestehende Angebot an den sich verändernden Bedarfen der Klientel auszurichten, zeichnen die Einrichtung aus. Mit der Etablierung eines Beratungsangebots auch für männliche Geflüchtete hat sich das BFmF ein weiteres Mal an die bestehenden Bedarfe angepasst. Der Anstoß für das Projekt Flüchtlingshilfe von Muslim/innen – passgenau, empathisch, integrativ waren vermehrte Beratungsanfragen Geflüchteter, die für Integrations- und Deutschkurse im Haus waren und von einigen Mitarbeiter_innen wussten, dass diese Arabisch sprechen. Es entstand schnell eine informelle Beratung zu vielfältigen Themen. Zur gleichen Zeit bot das Bundesministerium des Innern dem Zentrum an, ein Modellprojekt zur Implementierung der Geflüchtetenarbeit in bestehende Strukturen sozialer Träger durchzuführen. So wurde ein Projekt mit drei Dimensionen entwickelt. Die erste Dimension ist die Beratung arabischsprachiger Geflüchteter in acht Themenbereichen. Der Fokus auf die arabische Sprache ergibt sich daraus, dass die große Mehrheit der Klientel aus Syrien und dem Irak stammt. Die Erfahrung im BFmF hat gezeigt, dass die Kommunikation in der Muttersprache einen großen Vorteil für einen nachhaltigen Beratungserfolg darstellt und zudem über die Sprache viel schneller ein Vertrauensverhältnis aufgebaut werden kann. Für das Jahr 2016 zählt die interne Statistik der Geflüchtetenberatung mehr als 5.400 bearbeitete Anfragen von über 1.000 Personen. Inhaltlich erstreckt sich die Beratung auf das Ausfüllen von Formularen, rechtliche Beratung, Informationen zu Arbeit und Bildung, Finanzen, Wohnen sowie Begleitung zu Behörden und anderen Einrichtungen. Zentrales Ziel der Beratung ist zuzuhören, zu verstehen und zu motivieren. »Wir sind auf integrierte Flüchtlingshilfe konzentriert. Das soll dann so aussehen, dass keine zeitlichen Lücken in der Bildung entstehen. Wir haben interne und externe Strukturen gebildet, sodass wir mit dem JobCenter zusammenarbeiten, mit der Industrieund Handelskammer, mit dem Jugendmigrationsdienst. Wenn sie allein zum JobCenter gehen, dann wird ihnen gesagt, dass sie erst B1 machen, dann drei Wochen warten müssen auf das Zertifikat. Und erst mit dem Zertifikat kommen sie hierhin und dann

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Fidel Bar tholdy schauen wir weiter. Dann vergehen zwei bis drei Monate im Heim irgendwo. Das wollen wir vermeiden. Deswegen wollen wir schon frühzeitig wissen, wo und wann die Leute in die weiterführenden Kurse gehen können. Manche wollen studieren, da arbeiten wir mit Stiftungen zusammen, um Stipendien zu organisieren. Dann gibt es bei der IHK zwei Perspektiven, Arbeits- und Berufsperspektive. Diejenigen, die jetzt Arbeit anvisiert haben, brauchen nicht dieselben Sprachkenntnisse wie für eine Berufsausbildung.« (Interview Begegnungs- und Fortbildungszentrum muslimischer Frauen)

Die zweite Dimension ist die Eingliederung der Geflüchtetenarbeit in die Strukturen der Einrichtung, also Professionalisierung und Aufbau eines internen und externen Netzwerks im Bereich der Geflüchtetenhilfe. So sind bestehende Kontakte zu Behörden und Verwaltung sowie zu anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren in Köln vertieft und um die Dimension der Geflüchteten erweitert worden. Von politischer Seite ist das Interesse an der Expertise des Vereins immer größer geworden, sagt die Projektleiterin Nilgün Filiz. Die Geschäftsführerin des BFmF, Erika Theißen, wird regelmäßig in Gremien eingeladen, um von den Erfahrungen muslimischer Wohlfahrtspflege zu berichten. Kooperationen mit dem Kölner Flüchtlingsrat und dem JobCenter liefern viele nützliche Kontakte, die in individuellen Fällen genutzt werden können. Zusätzlich konnte für das Projekt schnell ein Netzwerk von Ehrenamtlichen aufgebaut werden. Viele ehemalige Geflüchtete engagieren sich später selbst, beispielsweise als Übersetzer_innen. Auf bauend auf den Erfahrungen des eigenen Engagements wurde für die Beratung ein Software-System entwickelt, das die Klient_innen mit ihren Anliegen in allen verschiedenen Bereichen erfasst. So kann der Beratungsprozess auch nach Monaten zum selben oder zu anderen Themen weitergeführt werden. Die dritte Dimension ist, dass die Erfahrungen des BFmF als Modellprojekt dokumentiert und dann an andere muslimische beziehungsweise migrantische Organisationen weitergegeben werden. Dieses Qualifizierungsprogramm hat 2017 begonnen und findet sowohl in Köln als auch vor Ort bei interessierten Organisationen statt. Organisationen und Einzelpersonen können sich zu kostenlosen Wochenendschulungen anmelden, bei denen sie sich unter anderem in den Bereichen Erstberatung, Asyl, Geflüchtete und Schulden, ALG IIBeratung sowie Trauma weiterbilden können. Ein wichtiger Teil dieser Fortbildungen sind auch praktische Informationen zu Projektanträgen, die besonders für ehrenamtliche Projekte eine große Hürde darstellen. Die größte Schwierigkeit für das Projekt ist nach Aussage von Nilgün Filiz, die Finanzierung über die Projektlaufzeit hinaus zu garantieren und so die gewachsenen Strukturen zu erhalten. Die offizielle Projektlaufzeit konnte von einem Jahr auf zwei Jahre, bis Ende 2017, verlängert werden. Mittlerweile wurde über den Paritätischen eine halbe Stelle in der regionalen Flüchtlingsberatung genehmigt, die möglicherweise aufgestockt werden kann. Wie jedoch

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alle fünf bestehenden Stellen in der Beratung erhalten werden können, die derzeit projektbezogen durch Bundesmittel finanziert werden, hängt vom Erfolg weiterer Projektanträge ab. Nilgün Filiz zeigt sich optimistisch, schließlich hat das BFmF als professionelle Migrant_innenorganisation jahrelange Erfahrung mit dem Stellen von Anträgen und der Finanzierung verschiedener Angebote aus unterschiedlichen Projektbudgets. Das über Jahre aufgebaute Vertrauensverhältnis zu Politikern und Politikerinnen wie auch die gelungene Professionalisierung des BFmF sieht sie auch als Resultate der konfessionellen und politischen Unabhängigkeit der Einrichtung. So würden Skepsis und Vorsicht gegenüber muslimischen Organisationen ihre Arbeit heute nicht mehr stark beeinflussen.

Muslimische Seelsorge Salam e.V. Der Verein Salam e. V. aus Frankfurt a. M. befasst sich seit 2013 mit ausschließlich ehrenamtlichen Mitteln mit dem Thema muslimische Seelsorge in der Region Frankfurt. Die Hauptziele sind zum einen die Schaffung eines Bewusstseins für dieses Thema unter Muslim_innen selbst und zum anderen die Etablierung eines muslimischen Seelsorgeangebots analog zur christlichen Seelsorge. In Anlehnung an und in enger Kooperation mit christlichen Partnern bietet der Verein Ausbildung und Begleitung für ehrenamtliche muslimische Seelsorger_innen an, die dann in Krankenhäusern, Psychiatrien, Unterkünften sowie ambulant in Notfällen zur Verfügung stehen. Als Kernkompetenzen betrachtet der Verein die sprachlichen und kulturellen Kenntnisse der Ehrenamtlichen sowie die Sensibilität gegenüber religiösen Vorstellungen und Bedürfnissen. Als mehrere Unterkünfte nach der Unterstützung des Vereins fragten, weil Geflüchtete akuten Seelsorgebedarf zeigten, wurde eine Ausbildung konzipiert, in der die seelsorgerische Begleitung von Geflüchteten im Mittelpunkt steht. Die Ausbildung geht über mehrere Wochenendschulungen und ist an die Standards der Deutschen Gesellschaft für Pastoralpsychologie e. V. angepasst. Neben christlichen Dozent_innen und Supervisor_innen ergänzen muslimische Dozent_innen das Programm um spezifisch islamische Inhalte. Nach dem Abschluss der ersten 30 Seelsorger_innen im Juni 2016 arbeiteten die Ehrenamtlichen viel in verschiedenen Unterkünften und in Krankenhäusern. Mit der Auflösung der meisten Unterkünfte im Laufe des Jahres 2016 hat sich der Seelsorgebedarf für Geflüchtete in Krankenhäuser und Psychiatrien verlagert. Anfang 2017 machten nach Aussage der Vereinsvorsitzenden Rabia Bechari Anfragen von Geflüchteten circa 40 Prozent aller Anfragen aus. Die besondere Perspektive von Salam e. V. ist, dass die emotionale Seite des Ankommensprozesses auf professionelle Weise betrachtet wird. Mit der Kombination aus fachlicher Ausbildung und sprachlichen Kompetenzen sowie religions- und kulturspezifischen Kenntnissen können die Seelsorger_innen

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Menschen in schweren seelischen Situationen dort abholen, wo sie stehen. Das Verstanden-Werden und die Anteilnahme im Augenblick der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit sind dabei zentral und die primären Funktionen der Seelsorge. Weiterhin können Seelsorger_innen auch Hinweise und Hilfestellungen anbieten, die über die akute Situation hinausweisen: Möglichkeiten einer psychotherapeutischen Behandlung in Deutschland beispielsweise sind für viele Geflüchtete aus unterschiedlichsten Gründen schwer zugänglich. Mit dem direkten Zugang und den relevanten Netzwerken können die Ehrenamtler_innen so eine Dimension des Ankommens und der Integration abdecken, die zwischen Behördengängen und Deutschkursen oft untergeht. Der Verein ist nicht nur in der praktischen Arbeit aktiv, sondern macht sich auch auf der gesellschaftspolitischen Ebene für das Thema Psychische Gesundheit von Geflüchteten stark. Aufgrund der hohen Nachfrage an Seelsorge arbeitet der Verein dauerhaft an der Leistungsgrenze, mit ausschließlich ehrenamtlichen Mitteln. Das ausgesprochene Ziel ist es, die seit 2013 gewachsenen Strukturen mithilfe von Fördergeldern zu erhalten und auszubauen. Intern hat sich der Verein bereits neu strukturiert und eine Geschäftsstelle geschaffen. Die Seelsorger_innen sollen ehrenamtlich bleiben, aber durch hauptamtliche Stellen koordiniert werden. Langfristig sollen zudem die Fahrtkosten und Ausgaben der Ehrenamtlichen erstattet werden, was bisher nicht möglich ist. Am dringendsten benötigt wird also eine finanzielle Förderung von Personalstellen und Spesen, etwa durch die Kommune. Es besteht ein guter Kontakt zum Frankfurter Oberbürgermeister; was sich jedoch konkret entwickelt, hängt nach Aussage von Rabia Bechari von weiteren Verhandlungen ab. Eine weitere Herausforderung ist die Vernetzung und Integration in bestehende Seelsorgestrukturen. Bei Notfällen beispielsweise können die Ehrenamtlichen von Salam e. V. bisher nicht sofort da sein: »In einer Krisensituation ist die christliche Seite immer vor Ort. Die Struktur ist so, dass die Leitstelle die Notfallseelsorge Frankfurt informiert. Die gehen dann zum Geschehen mit der Feuerwehr oder Polizei zusammen und betreuen dann die Familie. Wenn es eine muslimische Familie ist, wird sie gefragt, ob sie muslimische Seelsorge haben will. Meistens lehnen sie es ab, weil sie es nicht kennen. Und in einer Krisensituation probiert man nichts Neues aus. Würden wir gleichzeitig dorthin gehen, wäre das etwas anderes. Wie im Krankenhaus auch, wo wir direkt vor Ort sind und Patientenlisten haben. Da sind wir sofort da und können uns persönlich vorstellen.« (Interview Salam e. V.)

Die Erfahrung mit sechs Frankfurter Krankenhäusern, mit denen eine offizielle Kooperation besteht, ist sehr positiv. Geflüchtete und Nichtgeflüchtete profitieren gleichermaßen von der regelmäßig angebotenen Seelsorge. Für die nahe Zukunft sind weitere Kooperationen mit Psychiatrien geplant, die zurzeit vermehrt mit geflüchteten Patient_innen konfrontiert sind.

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Das Projekt ›Weg weiser‹ des Berliner Vereins Inssan e.V. Der Verein Inssan e. V. wurde 2003 gegründet und arbeitet mit einem Fokus auf Berlin zu verschiedenen gesellschaftlichen Themen. Die Hauptziele sind die Stärkung des deutschsprachigen Islams und der Teilhabe an gesellschaftlichen Prozessen für Muslim_innen. Mit dem Sommer 2015 begann auch für diesen Verein das Engagement für Geflüchtete, das bis dahin keine große Rolle gespielt hatte. So wurde ein Mentorenprojekt mit dem Namen Wegweiser – Mentor_innen für Flüchtlinge initiiert, das sich an junge Geflüchtete in Berlin richtet. Gleichzeitig bindet es einheimische Berliner_innen mit und ohne Migrationshintergrund ein, die als Mentor_innen ehrenamtlich, aber mit umfangreicher Unterstützung durch die Projektkoordination Geflüchtete begleiten. Das Projekt hat zuerst eine Förderung vom Berliner Senat und später auch von der Bundesbeauftragten für Integration erreicht, wodurch die Projektleitung hauptamtlich arbeiten kann. Eine Psychotherapeutin konnte gewonnen werden, die auf Honorarbasis Mentor_innen und Mentees begleiten wird. Zudem ist geplant, eine_n Sozialassistent_in einzustellen, sofern der Senat dafür eine Förderung bereitstellt. Der Ansatz von Wegweiser ist eine Eins-zu-eins-Begleitung, bei der sich Mentor_in und Mentee im wöchentlichen Rhythmus treffen. Ergänzend gibt es regelmäßige gemeinsame Aktivitäten und Veranstaltungen aller, in denen die Gruppe sich austauschen kann und sich neue Paare treffen können. Nach Beginn des Projekts wurden etwa 40 Mentor_innen ehrenamtlich aktiv, die einer mindestens doppelt so hohen Zahl von Geflüchteten gegenüberstanden. Dies kehrte sich ab Anfang 2017 um, als innerhalb kurzer Zeit sehr viele Anfragen von Freiwilligen kamen. Die Hälfte der neuen Mentor_innen sind nicht muslimische Studierende, die für ihr Engagement eine Form gesucht haben und gerade den interkulturellen Aspekt wichtig finden. Viele wurden in Infoveranstaltungen auf Wegweiser aufmerksam, andere traten eigeninitiativ auf den Verein zu. Das kam für die Mitarbeiter_innen sehr überraschend, die nach dem Terroranschlag in Berlin im Dezember 2016 eher mit einem Rückgang des Engagements und mit stärkerer Entfremdung gegenüber muslimischen Organisationen gerechnet hatten (Interview Wegweiser). Der Erfolg des Projekts beruht einerseits darauf, dass Inssan als muslimischem und migrantischem Akteur viel Vertrauen von Geflüchteten entgegengebracht wird, sagt die Projektleiterin Natalia Loinaz. Besonders die Sprachkenntnisse einiger Mentor_innen sind ein Vorteil in der Kommunikation mit den Geflüchteten. Gleichzeitig ist ein wichtiger Teil des Projekts, dass auch die Mentor_innen durch den Einsatz für andere Empowerment erfahren. Ein wöchentliches Sprachcafé, zu dem alle Interessierten eingeladen sind, bietet Raum für weiteren Austausch und gemeinsames Lernen. Dieser Charakter des gegenseitigen Unterstützens und interkulturellen Lernens mit einer professio-

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nellen Projektleitung weckt auch das Interesse von anderen Freiwilligen. Natalia Loinaz berichtet, dass zum Beispiel eine Ehrenamtliche, die sich zuvor in eigener Regie in Unterkünften engagiert hatte, nun im Rahmen von Wegweiser aktiv ist. Die funktionierenden Strukturen, die Supervision und die Offenheit der Gruppe hatten sie begeistert. Insgesamt ist im Rahmen von Wegweiser eine ganze Gemeinschaft aus Projektleitung, Mentor_innen, Mentees und anderen Unterstützer_innen entstanden, die sich auf verschiedenen Ebenen bestärkt und interkulturelle Lernprozesse anstößt. Die Bedingungen für den Erfolg des Projekts sind vor allem die bereits bestehenden Netzwerke und Strukturen von Inssan, ein hoher persönlicher Einsatz der Projektleitung, allen voran Natalia Loinaz, sowie die Professionalität des Projektkonzepts selbst. Von besonderer Bedeutung ist auch hier das erfolgreiche Stellen von Förderanträgen. Inssan war den Behörden durch sein Engagement und durch verschiedene zivilgesellschaftliche Kooperationen bereits bekannt, auch wenn nach Aussage von Loinaz nicht selten Skepsis und Vorsicht bestanden hatten. Der Schlüssel zum Erfolg war, dass diese Beziehungen zu einem großen Teil verbessert werden konnten: »Im Vergleich zu 2014 sind wir viel weiter. Früher waren wir eher durch unsere Entstehungsgeschichte stigmatisiert. Dass wir auf der politischen Ebene heute als vertrauenswürdiger Partner angesehen werden, das hätten wir damals nicht erwartet. Doch diese Veränderung muss an manchen Stellen noch ankommen. Da muss man manchmal sagen: Wir arbeiten doch jetzt zusammen, das sind nur alte Geschichten, alles ist okay.« (Interview Wegweiser)

Allein, dass nun ein transparenter Austausch und eine Kommunikation mit der Polizei etabliert wurde, kann als Gradmesser gesehen werden; zuvor hatte Unsicherheit das Verhältnis bestimmt. Ein ähnlich positiver Prozess findet mit dem Berliner Senat statt. Dass Inssan als erste muslimische Organisation durch das Partizipations- und Integrationsprogramm des Senats gefördert wird, spricht für sich. Dafür ist auch die Gestaltung des Projekts selbst zentral. Das Konzept spricht zwar primär muslimische Jugendliche an, ist aber offen und einladend für alle Interessierten. Der Fokus liegt darauf, Berlin gemeinsam zu erleben und Geflüchtete sowie Engagierte in ihren diversen Identitäten zu stärken. »Innerhalb der Gruppe ist es sehr schön, weil es am Ende keinen Unterschied mehr macht, ob jemand einen muslimischen Hintergrund hat oder nicht. Was am Ende alle zusammenschweißt, ist das Engagement, das Hilfeleisten und dadurch das Gefühl, einen wertvollen Beitrag für die Gesellschaft zu leisten. Das ist vielleicht auch Teil eines neuen Wir-Gefühls, das es auslösen kann. Das war auch die Hoffnung hinter dem Projekt.« (Interview Wegweiser)

Bürgerschaf tliches Engagement aus der Akteursperspektive

Eine große Herausforderung für Erhalt und Ausbau der geschaffenen Projektstrukturen ist die Akquise von Projektgeldern für 2018. Dies sei eine Ressourcenfrage, so Loinaz: Neben der Koordination und den vielen persönlichen Geschichten und Anfragen an sie sei es äußerst herausfordernd, auch noch so weit im Voraus zu planen und Anträge zu stellen. Jede weitere bewilligte Stelle und Förderung könne diesen Druck verringern. Eine weitere Schwierigkeit bleibt, dass die Kooperation mit Inssan von einigen Akteuren abgelehnt wird. Mit dem Argument, dass keine religiösen Gruppen zugelassen werden, wird den Projektmitarbeiter_innen zum Beispiel der Zugang zu einzelnen Unterkünften verweigert. Dass das Projekt auf diese Weise unter Verdacht gestellt wird, Missionierungsziele zu verfolgen, zeigt, dass alte Vorurteile und Skepsis trotz vieler Veränderungen noch immer wirkmächtig sind.

F a zit Wo stehen die beschriebenen Akteure mit ihren Projekten 2017? Zunächst ist festzuhalten, dass sich die sprachlichen, kulturellen und religiösen Kompetenzen sowie die strukturelle Außenseiterposition muslimischer Akteure sehr unterschiedlich auf die Projekte auswirken. Das Engagement von Moscheevereinen scheint noch am ehesten unmittelbar von den Bezügen zu Religion, Sprache und Kultur zu profitieren. Einerseits helfen diese bei der intensiven Erstversorgung, wo vertrauenswürdige Ansprechpartner_innen und Vermittlung dringend gebraucht wurden. Andererseits tragen diese Bezüge wesentlich dazu bei, dass die Moschee als soziale Institution für gläubige Geflüchtete ein hilfreicher Kontaktpunkt ist. Durch ein oft überdurchschnittliches ehrenamtliches Potenzial können diverse Hilfestellungen für diese Klientel fast jederzeit niedrigschwellig und ohne bürokratische Hürden in Anspruch genommen werden. Das Beispiel der Unterkunftsleitung und Kooperation mit dem JobCenter von Mitgliedern der Berliner Moscheegemeinde Haus der Weisheit zeigt, wie eine weitergehende erfolgreiche Kooperation von Gemeinden und Behörden aussehen kann. Im Falle des Frauenbegegnungscafés eröffnet sich eine zusätzliche Perspektive: Hier findet das Angebot in der Unterkunft statt. Auf der einen Seite werden so auch diejenigen angesprochen, die nicht unbedingt selbst in die Moschee kommen würden. Dass das Angebot aus einer muslimischen Gemeinde entstanden ist, verleiht dem Café auf der anderen Seite Legitimität unter den gläubigen Besucherinnen. Dennoch scheint bei Moscheen die Außenseiterposition und das damit verbundene Vertrauensproblem gegenüber den Behörden besonders stark ausgeprägt zu sein. In den Projekten für Geflüchtete spiegelt sich ein Komplex aus alten Problemen wider: Erstens besitzen, mit Ausnahme der Ahmadiyya

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Jamaat in Hessen, muslimische Verbände und Moscheen in Deutschland nicht den Status der Körperschaft öffentlichen Rechts oder eine vergleichbare Rechtsform, die ihnen Steuergelder zugänglich machen würden. Daraus resultiert, dass Spenden, ehrenamtliches Engagement und Gelder aus dem Ausland die einzigen Ressourcen für soziale Dienste darstellen. Dieser Ressourcenmangel zeigt sich bei den drei Beispielen auf der lokalen Ebene auch noch zwei Jahre nach Beginn des Engagements und schränkt die Gestaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten der Initiativen massiv ein. Zweitens findet die praktische Arbeit im Lärm von Extremismusvorwürfen und sicherheitspolitischen Islam-Debatten oft wenig Beachtung. Moscheen sind in der Regel nicht institutionell oder anders mit den Behörden verbunden und bieten deshalb eine Projektionsfläche für Skepsis von außen. Wo keine Kommunikation und Förderung stattfindet, bleibt Raum für eingefahrene sicherheitspolitische Mechanismen. Die Dynamik aus Vorsicht der Behörden und Rückzug der Gemeinden kann sich so fortsetzen, obwohl fruchtbare Ansätze und funktionierende Strukturen auch neue Gelegenheiten zur Kooperation bieten. Drittens haben die Initiativen auch interne Grenzen, die einer Förderung im Weg stehen. Es mangelt schlicht an professionellen Strukturen beziehungsweise an praktischem Wissen, wie zum Beispiel Projektanträge geschrieben werden müssen. Der chronische Ressourcenmangel perpetuiert sich auf diese Weise. Auch sind viele Moscheen hinsichtlich ihrer eigenen Rolle in der Geflüchtetenarbeit oft hin- und hergerissen. Für alle Gesprächspartner_innen gehört es zum Selbstverständnis, Ratsuchenden zu helfen. Dennoch benötigen auch sie Ansprechpartner_innen, andere Initiativen und Vereine, an die Menschen mit bestimmten Anliegen weitervermittelt werden können. Die Kehrseite der Spontaneität und Unmittelbarkeit der Geflüchtetenarbeit ist demnach, dass sie keine räumlichen, zeitlichen und inhaltlichen Grenzen hat und somit in einer chronisch unterfinanzierten Umgebung dauerhaft zu Überforderung führen kann. Dies wird dann evident, wenn Geflüchtete nicht ein spezielles Anliegen haben, sondern beispielsweise nach Zugehörigkeit, sozialem Rat und Seelsorge suchen. Langfristig kann soziale Arbeit deshalb nur eingeschränkt oder in separaten Projekten geschehen, die wiederum eigene Strukturen benötigen. In den drei Beispielen wurde sichtbar, welche großen zivilgesellschaftlichen Potenziale von Initiativen aus Moscheegemeinden vorhanden sind. Andererseits wurde genauso deutlich, dass sie an Grenzen stoßen, die mit ihrer Außenseiterposition gegenüber dem Staat zu tun haben. Mit dem Status-quo der Nicht-Anerkennung ihrer sozialen Arbeit und dem strukturell angelegten Ressourcenmangel bleiben die Akteure angewiesen auf Fördermodelle mit Kommunen und zivilgesellschaftliche Partnerschaften. Ohne eine grundlegende Anerkennung bleiben viele Initiativen aus Moscheegemeinden hochfrequentierte, aber überforderte Angebote in der Geflüchtetenarbeit.

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Die Projekte muslimischer NRO auf der regionalen Ebene starten von einem ganz anderen Punkt als die Moscheen. Hier sind professionelle Strukturen sozialer Arbeit entweder bereits vorhanden oder in der Entwicklung. Es herrscht mehr Klarheit über Anspruch und Grenzen der eigenen Arbeit, da der Umsetzung eine konzeptionelle und finanzielle Planung vorausgeht. Problemstellungen können so leichter benannt werden. Auch das Verhältnis der NRO zu den Geflüchteten folgt zu unterschiedlichen Graden einem abgesteckten Rahmen. Bei Salam begrenzt sich der Kontakt auf die Seelsorgesituation und endet normalerweise nach dem Gespräch, während beim Begegnungs- und Fortbildungszentrum muslimischer Frauen mehrere klar definierte Prozesse ablaufen. Das Verhältnis ähnelt dem von Klient_in und Dienstleister_in. Anders verhält es sich bei Inssan. Hier ist um das Projekt herum eine Gemeinschaft gewachsen, in der die persönliche Ebene langfristig eine wichtige Rolle spielt. Dennoch sind auch hier die Grenzen des Engagements ein zentrales Anliegen der Projektleitung. Mithilfe kontinuierlicher Supervision und Fortbildung der Mentor_innen sowie einer psychologischen Begleitung werden die Rollen und Aufgaben der Engagierten zu ihrem eigenen Schutz genau festgelegt und kontrolliert. Ein weiterer Unterschied zu den Moscheen ist, dass die Klientel der NRO nicht ausschließlich aus muslimischen beziehungsweise gläubigen Geflüchteten besteht. Beim Seelsorgeprojekt von Salam spielt die geteilte Religiosität zwar oft eine wichtige Rolle, doch es können über sprachliche und kulturelle Kompetenzen auch Nichtmuslim_innen erreicht werden. In der Arbeit vom BFmF spielt die Religion der Geflüchteten keine Rolle, während Sprache und der offene, pluralistische Charakter der Einrichtung umso wichtiger sind. Beim Wegweiser-Projekt von Inssan begegnen sich Mentees und Mentor_innen als junge Menschen, die sich als Teil eines offenen und pluralen Berlins fühlen. Sprache, Kultur und Religion bieten dabei nur mögliche Anknüpfungspunkte. Dennoch berichten Aktive aus allen drei Projekten, dass ihre Identität als Muslim_innen und ihre Migrationsbezüge entscheidende Faktoren für den Aufbau eines Vertrauensverhältnisses zu den Geflüchteten und damit für den Erfolg des Projekts sind. Im Verhältnis zum Staat und anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren scheinen die NRO zu einem geringeren Maß mit Skepsis und Extremismusvorwürfen konfrontiert zu sein. Entscheidend dafür ist aus Sicht der Vereine selbst, dass sie unabhängig von Verbänden und Moscheegemeinden arbeiten. Damit geht auch eine konfessionelle Offenheit einher, die Bedingung dafür ist, eine möglichst große Klientel zu erreichen. Zudem wird aus dem Vergleich der drei Projekte deutlich, dass das Vertrauen von Staat und Kommunen Zeit braucht, um zu wachsen. Nilgün Filiz berichtet, dass auch das BFmF in seinen Anfängen mit Vorsicht und Diskriminierung umgehen musste. Die 25-jährige Erfahrung und der Erfolg in der sozialen Arbeit bringen Zugang zu Förder-

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mitteln und eine hervorragende lokale Vernetzung mit sich. Die Öffnung für die Geflüchtetenarbeit konnte auf dieser Grundlage auf bauen und ist lediglich eine Fortführung der erfolgreichen Arbeit. Im Vergleich dazu hat der erst 2013 gegründete Verein Salam wesentlich schwierigere Bedingungen für die angestrebte Professionalisierung. Die Vorsitzende Rabia Bechari sagt, dass seit der Gründung immer ein Gefühl der Skepsis gegenüber Salam als muslimischem Verein zu spüren war. Bevor das Projekt für Geflüchtete anfing, waren die Bemühungen um Fördergelder vergeblich und die Arbeit rein ehrenamtlich organisiert. Mitte 2017 ist das Engagement noch immer ehrenamtlich, aber die Kooperationen mit Krankenhäusern sowie anderen zivilgesellschaftlichen Akteuren sind intensiver geworden. Nachdem sich der Verein im März 2017 strukturell professionalisiert und anschließend der Stadt ein neues Konzept der eigenen Arbeit vorgelegt hat, wird sich voraussichtlich Ende 2017 zeigen, ob weitere Schritte in Richtung Professionalisierung gemacht werden können. Das Projekt für Geflüchtete hatte in jedem Fall einen beschleunigenden und positiven Effekt auf das Verhältnis zu den Behörden. Bei Inssan hat sich erst mit Beginn des Wegweiser-Projektes eine große Veränderung im Verhältnis zu den Behörden und der Umwelt im Allgemeinen ereignet. Das Projekt ist beispielhaft dafür, wie muslimische Akteure im Rahmen der neuen Bürgerbewegung ihr Verhältnis zu Staat und Zivilgesellschaft neu ausrichten konnten. Inssan hat nicht nur über das Mentoring-Projekt, sondern auch über die Veranstaltung von Netzwerktreffen muslimischer Akteure in der Geflüchtetenarbeit Anstöße und Impulse gegeben, die in Politik und Zivilgesellschaft angekommen sind. Aus der praktischen Arbeit und der Vernetzungsarbeit sind weitere Ideen hervorgegangen wie zum Beispiel der Plan, die Perspektive Geflüchteter in die eigene Antidiskriminierungsarbeit einzubringen. Mit dem Engagement vieler Berliner_innen aus der Mehrheitsgesellschaft hat das Projekt eine unerwartete Eigendynamik von interkulturellen Lernprozessen angenommen. Im Kleinen bildet sich eine Gemeinschaft, die den Wohnort Berlin und das Alter als Bezugsrahmen hat und auf diese Weise nationale, religiöse und andere Zugehörigkeitskategorien transzendiert. Die Öffnung der Organisationen und Arbeitsprozesse für Geflüchtete hat sich in allen drei Fällen als positiver Schritt, und besonders bei Inssan als Meilenstein im Verhältnis zur Umwelt herausgestellt. Viele neue Querverbindungen zu anderen gesellschaftlichen Akteuren und Themen haben die Integration in zivilgesellschaftliche Strukturen verstärkt. Die Etablierung eines kooperativen Verhältnisses zu den Behörden und damit der Zugang zu Fördermitteln scheint durch eine generelle Vorsicht gegenüber muslimischen Akteuren jedoch nur in kleinen Schritten möglich zu sein. Das BFmF hat diesen Prozess bereits seit Langem durchlaufen. Für Salam und Inssan bedeutet dies, dass die Professionalisierung nicht nur Resultat der eigenen Bemühungen ist, sondern

Bürgerschaf tliches Engagement aus der Akteursperspektive

immer mit dem Mehraufwand des Erklärens, Vertrauen-Gewinnens und SichBeweisens gegen Vorurteile verbunden ist. Hinter allen hier behandelten Projekten stehen Gruppen, die sich als Akteure der deutschen Zivilgesellschaft begreifen. Abschließend lässt sich festhalten, dass die muslimischen Akteure eine herausragende Rolle in der Geflüchtetenarbeit einnehmen und als solche anerkannt werden sollten. Auf keinen Fall dürfen sie jedoch auf ihre kulturellen, sprachlichen und religiösen Bezüge reduziert werden. Noch fataler wäre es, daraus eine besondere Verantwortung für Geflüchtete abzuleiten. Diesen Punkt benennt auch Hakan Tosuner, Geschäftsführer des muslimischen Begabtenförderungswerks Avicenna-Studienwerk und Projektleiter von Unsere Zukunft. Mit Dir!: »Und es gab auch schon Momente, in denen ich mir echt überlegt habe: Mensch, hätten wir das vielleicht nicht machen sollen, um halt diesem Klischee entgegenzutreten? Denn das ist ja eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung. Die Gesamtgesellschaft muss das anpacken. Aber das ist so ein zweischneidiges Schwert. Es kommt dann auch eben darauf an, wie man das angeht und wie man Dinge kommuniziert.« (Interview Avicenna-Studienwerk)

Die Frage nach der Verantwortung von Muslim_innen im Umgang mit Geflüchteten nimmt damit eine politische Dimension an, die auf die oben genannte Diskriminierung von Muslim_innen rekurriert. Sobald ihnen mit dem Argument der kulturellen Nähe zu Geflüchteten eine besondere Verantwortlichkeit zugeschrieben wird, wird damit noch etwas Grundlegenderes transportiert: nämlich, dass es ein deutsches »Wir« gibt, das einem muslimischen, arabischen, orientalischen, letztendlich anderen »Ihr« gegenübersteht. Die hier aufgeführten Projekte bieten das Potenzial, diese künstlich hergestellte Trennung zu überwinden, indem sie in ihrer alltäglichen Praxis Räume der Begegnung und des gesellschaftlichen Miteinanders schaffen.

Q uellenverzeichnis Ceylan, R./Kiefer, M. (2017): »Muslimische Wohlfahrtspflege in Deutschland. Strukturelle Herausforderungen auf dem Weg ihrer Etablierung«, in: Ceylan, R./Kiefer, M. (Hg.): Ökonomisierung und Säkularisierung. Neue Herausforderungen der konfessionellen Wohlfahrtspflege in Deutschland. Wiesbaden: Springer VS. EU-Bericht zur Islamophobie in Deutschland 2016 (European Islamophobia Report). Letzter Aufruf 20.11.2017. www.islamophobiaeurope.com/wp-con​ tent/uploads/2017/03/GERMANY.pdf

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Schiffauer, W. (2015): Schule, Moschee, Elternhaus – Eine ethnologische Intervention. Frankfurt a. M.: edition suhrkamp. Schiffauer, W./Eilert, A./Rudloff, M. (Hg.) (2017): So schaffen wir das – eine Zivilgesellschaft im Auf bruch. 90 wegweisende Projekte mit Geflüchteten. Bielefeld: transcript.

I ntervie w verzeichnis Rabia Bechari, Vorstandsvorsitzende, und Salim Ahmadi, stellvertretender Vorstandsvorsitzender Salam e. V., Frankfurt a. M., 29.05.2016. Nilgün Filiz, Projektleiterin Modellprojekt, und Vykinta Ajami, Presse- und Öffentlichkeitsarbeit, Begegnungs- und Fortbildungszentrum muslimischer Frauen e. V., Köln, 12.07.2016. Nilgün Filiz, Projektleiterin Modellprojekt, Begegnungs- und Fortbildungszentrum muslimischer Frauen e. V., 14.03.2017 (Telefoninterview). Abdallah Hajjir, Imam Haus der Weisheit, Berlin, 16.04.2016 und 27.04.2017. Gülhanim Karaduman-Cerkes, Projektleiterin Frauenbegegnungscafé in der Unterkunft am Tempelhofer Feld, Berlin, 27.07.2016 und 08.03.2017. Natalia Loinaz, Projektleiterin Wegweiser, Inssan e. V., Berlin, 25.07.2016 und 15.02.2017. Taha Sabri, Imam Neuköllner Begegnungsstätte, Berlin, 26.05.2016 und 27.02.2017. Hakan Tosuner, Geschäftsführer Avicenna-Studienwerk, Berlin, 13.10.2016.

Autorinnen und Autoren

Fidel Bartholdy (B. A.) lebt in Berlin und studiert in Frankfurt (Oder). Seine akademischen Schwerpunkte sind der Nahe und Mittlere Osten, der Islam in Deutschland und Migration. Seine Masterarbeit behandelt das Engagement muslimischer Akteure in der Arbeit mit Geflüchteten in Deutschland. Anne Eilert (M. A.) lebt in Berlin und arbeitet als Teamleiterin in einem Sozialunternehmen. Sie hat ihre Masterarbeit zum Thema: »Bürgerschaftliches Engagement im sozialen Feld Berliner Flüchtlingsheime – Motive und Methoden von Beteiligten« geschrieben. Rasmus Frederik Geßner (M. A.) studierte an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Universitetet i Agder, Norwegen, sowie der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt (Oder). Seine Masterarbeit mit dem Titel »Psychosocial counselling for refugees in Sweden and Germany: A comparison« kombiniert seine Forschungsschwerpunkte Migration, Wissensproduktion und Skandinavien. Er arbeitet als Lehrbeauftragter und als Referent bei einem Berliner Bildungsunternehmen. Anja Gretschmann (M. A.) lebt in Berlin und hat ihre Masterarbeit zum Thema »Digitale Projekte der Vernetzung in der Flüchtlingsarbeit« geschrieben. Vinzenz Hokema (B. A.) lebt in Berlin und studiert in Frankfurt (Oder). Seine inhaltlichen Schwerpunkte sind der Nahe und Mittlere Osten und Migration. Er ist in der Bildungsarbeit aktiv und engagiert sich ehrenamtlich für Geflüchtete. Stephan Lidzba (M. A.) lebt in Berlin und hat seine Masterarbeit zum Thema: »Freiwilligenkoordination in der Geflüchtetenhilfe« mit dem Fokus auf das Spannungsfeld von zivilgesellschaftlichem Engagement im Kontext von Politik und Verwaltung geschrieben.

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So schaf fen wir das – eine Zivilgesellschaf t im Aufbruch

Alina Juckel Reimers (M. A.) lebt in Brüssel und arbeitet als Junior Beraterin für die Deutsche Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) im Bereich Migration. Ihre Masterarbeit hat sie zum Thema »Die Asylbewerberunterkunft: Totale Institution und Disziplinaranlage? Strukturen und Erfahrungen in einer Berliner Notunterkunft« geschrieben. Alexander Peppler (M. A.) lebt in Berlin und arbeitet in der interkulturellen Familienhilfe. Seine Masterarbeit schrieb er über »Kunst- und Kulturprojekte mit Geflüchteten – Relevanz, Herausforderungen und Ermöglichungsstrukturen«. Marlene Sophie Reimers (Dr. des.) arbeitet als Redaktions- und Projektleiterin bei einer NGO in Berlin im Bereich Migration, Kultur und Öffentlichkeit. In ihrer Dissertation geht es um »Biographien im Spannungsfeld von Bildung, Migration und Familie  (Ethnographische Annäherung an den Alltag dreier Generationen zwischen türkischem Dorf und Neuköllner Kiez).« Marlene Rudloff (M. A.) lebt in Berlin und arbeitet als Bildungsreferentin beim Berliner Arbeitskreis für politische Bildung e.V. Sie hat ihre Masterarbeit zum Thema »›We don’t need a new Lager‹. Lokale Migrationspolitik im Gespräch: eine ethnographische Untersuchung der Verhandlung um die Zukunft der besetzten Gerhart-Hauptmann-Schule in Berlin-Kreuzberg« geschrieben. Werner Schiffauer (Prof. Dr. em.) ist senior scholar am Lehrstuhl für Vergleichende Kultur- und Sozialanthropologie an der Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder). Seine Forschungsschwerpunkte sind Migration, Fragen der multikulturellen Gesellschaft, Entwicklungen im Europäischen Islam und die Anthropologie von Staatsapparaten. Er ist Vorsitzender des Rats für Migration. Zu seinen Veröffentlichungen zählen »Parallelgesellschaften. Wie viel Wertekonsens braucht unsere Gesellschaft?« (2008, transcript), »Nach dem Islamismus. Eine Ethnographie der Islamischen Gemeinschaft Milli Görüş (2010, Suhrkamp) sowie »Schule, Moschee, Elternhaus. Eine ethnologische Intervention« (2015, Suhrkamp). Ingmar Schrader (B. A.) lebt in Berlin und schreibt seine Abschlussarbeit zum Thema: Zivilgesellschaftlich organisierte Flüchtlingshilfe aus der LSBT*I*Community. Caroline Strotmann (B. A.) arbeitet und engagiert sich für den Verein Campus Cosmopolis in Berlin. Sie studiert sozio-kulturelle Studien mit dem Schwerpunkt Migration. Ihr Abschlussarbeit schreibt sie über »Partizipation in Wohnund Kulturprojekten mit Geflüchteten und Nicht-Geflüchteten am Beispiel des Grandhotel Cosmopolis«.

Soziologie Heidrun Friese

Flüchtlinge: Opfer – Bedrohung – Helden Zur politischen Imagination des Fremden August 2017, 150 S., kart. 14,99 € (DE), 978-3-8376-3263-7 E-Book PDF: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3263-1 EPUB: 12,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3263-7

Andrea Baier, Tom Hansing, Christa Müller, Karin Werner (Hg.)

Die Welt reparieren Open Source und Selbermachen als postkapitalistische Praxis 2016, 352 S., kart., zahlr. farb. Abb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3377-1 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation ISBN 978-3-8394-3377-5

Carlo Bordoni

Interregnum Beyond Liquid Modernity 2016, 136 p., pb. 19,99 € (DE), 978-3-8376-3515-7 E-Book PDF: 17,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3515-1 EPUB: 17,99€ (DE), ISBN 978-3-7328-3515-7

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Soziologie Sybille Bauriedl (Hg.)

Wörterbuch Klimadebatte 2015, 332 S., kart. 29,99 € (DE), 978-3-8376-3238-5 E-Book: 26,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-3238-9

Silke van Dyk

Soziologie des Alters 2015, 192 S., kart. 13,99 € (DE), 978-3-8376-1632-3 E-Book: 12,99 € (DE), ISBN 978-3-8394-1632-7

Ilker Ataç, Gerda Heck, Sabine Hess, Zeynep Kasli, Philipp Ratfisch, Cavidan Soykan, Bediz Yilmaz (eds.)

movements. Journal for Critical Migration and Border Regime Studies Vol. 3, Issue 2/2017: Turkey’s Changing Migration Regime and its Global and Regional Dynamics November 2017, 230 p., pb. 24,99 € (DE), 978-3-8376-3719-9

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