Säkularisierung und Selbstbehauptung [2 ed.] 3518276794, 9783518276792

Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von »Die Legitimität der Neuzeit«, erster und zweiter Teil -- Diese Epoche hat i

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Säkularisierung und Selbstbehauptung [2 ed.]
 3518276794, 9783518276792

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Hans Blumenberg Säkularisierung und Selbstbehauptung suhrkamp taschenbuch Wissenschaft

Wissenschaft entsteht, wenn die Götter nicht gut gedacht werden. Friedrich Nietzsche

ISBN 3-518-27679-4

suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 79

Hans Blumenberg, geb. 1920, ist Professor für Philosophie an der Univer­ sität Münster. Von seinen Publikationen liegen im Suhrkamp Verlag vor: Die Legitimität der Neuzeit. Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe (= stw 24, 79, 174 in Kassette); Die Genesis der kopernikanischen Welt; Schiffbruch mit Zuschauer. Paradigma einer Daseinsmetapher (stw 289); Arbeit am Mythos; Die Lesbarkeit der Welt. Diese Epoche hat sich ihren Namen selbst gegeben: »Neuzeit« zu sein be­ deutet den Anspruch auf die Endgültigkeit der menschlichen Selbstver­ wirklichung. Hans Blumenberg versucht eine kritische Analyse der Kategorien, mit denen sich der Ursprung der Epoche und die Herkunft ihres Selbstbewußt­ seins erfassen lassen, und untersucht dabei vor allem die Stichhaltigkeit der Kategorie »Säkularisierung«. Er kann zeigen, daß die bestimmenden Attribute der Neuzeit aus dem An­ trieb der humanen Selbstbehauptung gegenüber dem theologischen Abso­ lutismus des ausgehenden und nachwirkenden Mittelalters herzuleiten sind.

Hans Blumenberg Säkularisierung und Selbstbehauptung Erweiterte und überarbeitete Neuausgabe von »Die Legitimität der Neuzeit«, erster und zweiter Teil

Suhrkamp

Der erste Teil wurde 1974 neu geschrieben.

CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Blumenberg, Hans: Die Legitimität der Neuzeit ! Hans Blumenberg. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; ...) Teil 1/2. —> Blumenberg, Hans: Säkularisierung und Selbstbehauptung

Blumenberg, Hans: Säkularisierung und Selbstbehauptung / Hans Blumenberg. - Erw. u. überarb. Neuausg., 2., durchges. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, 1983. (Die Legitimität der Neuzeit / Hans Blumenberg; Teil 1/2) (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft; 79) ISBN 3-518-27679-4 NE: GT suhrkamp taschenbuch Wissenschaft 79 Erste Auflage 1974 Zweite, durchgesehene Auflage 1983 © Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1966, 1974 Suhrkamp Taschenbuch Verlag Alle Rechte Vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags, der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Druck: Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden Printed in Germany Umschlag nach Entwürfen von Willy Fleckhaus und Rolf Staudt

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Inhalt Erster Teil Säkularisierung - Kritik einer Kategorie des schichtlichen Unrechts I. Begriffsstatus ................................... II. Eine Dimension verborgenen Sinnes? III. Der Fortschritt in seiner Enthüllung als Verhängnis ................................ IV. Verweltlichung durch Eschatologie statt Verweltlichung der Eschatologie V. Geschichte machen zur Entlastung Gottes? ................................ VI. Der neuzeitliche Anachronismus des Säkularisierungstheorems ............... VII. Die vermeintliche Wanderung der Attribute: Unendlichkeit.................. VIII. Politische Theologie I und II ... . IX. Die Rhetorik der Verweltlichungen

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Zweiter Teil Theologischer Absolutismus und humane Selbst­ behauptung .......................................................... 141 I. Die mißlungene Abwendung der Gnosis als Vorbehalt ihrer Wiederkehr .... 146 II. Weltverlust und demiurgische Selbstbe­ stimmung ............................................. 158 III. Die Epochenkrisen von Antike und Mit­ telalter im Systemvergleich ........... 167 IV. Die Unentrinnbarkeit eines trügerischen Gottes ...............................................212 V. Kosmogonie als Paradigma der Selbst­ konstitution ......................................... 240

Anmerkungen

................................................... 267

Erster Teil

Säkularisierung - Kritik einer Kategorie des geschichtlichen Unrechts

I Begriffsstatus

Was der Ausdruck >Verweltlichung< besagt, scheint unvermit­ telt und leicht einzugehen. Jedermann kennt, als Feststellung, als Vorhaltung, als Bestätigung, diese Bezeichnung für einen langfristigen Prozeß, durch den ein Schwund religiöser Bin­ dungen, transzendenter Einstellungen, lebensjenseitiger Er­ wartungen, kultischer Verrichtungen und festgeprägter Wen­ dungen im privaten wie täglich-öffentlichen Leben vorange­ trieben wird. Man braucht sich dabei nicht einmal an die, freilich empirisch-statistisch am besten faßbaren, Daten der institutionellen Zugehörigkeiten und Einflüsse zu halten, de­ nen ein höheres Maß an Inertialität zukommt als ihrer le­ bensweltlichen Motivationsbasis. Es gehörte einst in den Sprachbereich jener stehenden Wendungen zu beklagen, die Welt sei »immer weltlichen geworden (statt dies immer weni­ ger zu werden), während jetzt darauf zu bestehen ist, die Neuzeit sei eine Epoche der puren >Weltlichkeit< und ihr Staat folglich der säkulare. Wir würden die Formeln der >Verweltlichung< nicht so selbst­ verständlich hinnehmen können, wenn wir selbst nicht noch im Auslaufhorizont dieses Prozesses uns befänden: wir be­ schreiben etwas, was es für uns gar nicht gäbe, wenn wir nicht noch zu verstehen imstande wären, was dem vorauszu­ gehen hatte, was Heilserwartung, Jenseitshoffnung, Trans­ zendenz, Gottesgericht, Weltenthaltung und Weltverfallenheit einmal bedeutet hatten - also die Elemente jener »UnweltlichkeitSäkularisierung< soll gesprochen werden können. Daß es der sakralen Güter weniger, der profanen mehr gibt, ist eine quantitative Feststellung, der beliebig viele Differenzierun­ gen hinzugefügt werden könnten, um eben diesen Schwund zu beschreiben. Dessen Endstufe wäre, daß keine Reste jener 9

Elemente mehr übrig wären, aber dann schließlich auch nicht mehr verstanden werden könnte, was der Ausdruck >Verweltlichung< überhaupt besagt. In diesem deskriptiven Sinne kann man alles mögliche als Folge der Säkularisierung ange­ ben, ihr bestimmte Verluste zuschreiben, wie etwa, wenn man sagt, die Krise aller Autorität sei eine Erscheinung oder ein Resultat der Säkularisierung. Da ist etwas weg, was vorher dagewesen sein soll. Es ist damit der Verlust kaum erklärt, sondern nur in den großen fatalen Schwundbestand mit auf­ genommen. Hinzu kommt, daß die Verwendung des Ausdrucks keine ein­ deutige Wertung mehr impliziert. Selbst wer Säkularisie­ rung als Verfall einstiger Transzendenzfähigkeit beklagt, tut dies mit kaum geringerer Gelassenheit als der, der sie als den Triumph der Aufklärung nimmt - da es sich doch nun ein­ mal nicht als ihr letzter notwendiger erwiesen hat. Dem Hi­ storiker wird beides fernliegen. Aber was liegt ihm nahe, wenn er von >Säkularisierung< spricht? Man sollte denken, das sei einigermaßen geklärt. Eben dies ist zu bestreiten. Ausdrücke solcher Großzügigkeit, von diesem Allgemeinheits­ grad, dieser intransitiven Unbestimmtheit läßt man in unse­ rem überreichen Sprachangebot hingehen, bis sie sich fast unvermerkt und unvermutet in einer präzisierten Funktion einstellen. Die Welt, die immer weltlicher wurde, war ein Subjekt von so extensiver Undeutlichkeit wie das Imperso­ nale in dem Satz »Es regnet«. Aber in der präzisierten Funk­ tion treten Sätze von einem ganz anderen Typ auf: B ist das säkularisierte A, also etwa: das moderne Arbeitsethos ist die verweltlichte mönchische Askese, die Weltrevolution die säkularisierte Endzeiterwartung, der Bundespräsident der sä­ kularisierte Monarch. Solche Sätze bestimmen einen eindeu­ tigen Zusammenhang des Woher und Wozu, eine Deszendenz, einen Substanzwandel. Der große übergreifende Prozeß der Verweltlichung der Welt erscheint jetzt nicht mehr als ein quantitativer Schwund, sondern als Inbegriff spezifizierbarer und transitiver qualitativer Umformungen, in denen jeweils

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das Spätere nur unter der Voraussetzung des ihm vorgege­ benen Früheren möglich und verständlich wird. Hier gibt es den Komparativ einer nur >weltlicher< gewordenen Welt nicht mehr, sondern in jedem behaupteten Falle nur die spezifische Mutation zum Säkularisat. Ich biete hier kein Sprachverbot an. Wer von Säkularisierung als einer Flutwelle sprechen möchte, die in einem bestimmten Augenblick einen bestimmten Punkt erreicht hat, die vielleicht unaufhaltsam weiter vordringt oder sich als eindämmbar er­ weisen könnte, die hier oder dort einen Dammbruch bewirkt, an anderer Stelle zurückzuweichen scheint, der mag unbetrof­ fen von dem, was hier strittig ist, an seiner Beschreibung der Zustandsänderung und ihrer generellen Richtungen festhal­ ten. Nur dem Anspruch, in dieser Sprache etwas verstehbar machen zu wollen, was dieses sonst nicht oder weniger wäre, wird hier widersprochen. Sofern >Verweltlichung< nichts anderes bedeutet als ein geist­ liches Anathema gegenüber dem, was nach dem Mittelalter Geschichte geworden ist, gehört sie in ein Vokabular, dessen Aufschlußwert von Voraussetzungen abhängt, die theoretisch nicht verfügbar sind und dem als >weltlich< gekennzeichneten Verständnis der Wirklichkeit nicht zugetraut oder zugemutet werden können. Aber auch dort, wo man die theologischen Prämissen mitzumachen nicht bereit sein konnte, ist die Sä­ kularisierung als Kategorie der Interpretation historischer Sachverhalte und Zusammenhänge akzeptiert worden. Dabei liegt die Differenz von theologischem und historischem Ge­ brauch der Kategorien Weltlichkeit und Verweltlichung we­ der in einer Änderung des Wertvorzeichens noch in der Um­ deutung des Verlustes zur Emanzipation. Denn ein positives Wertvorzeichen der Säkularisierung kann es durchaus auch theologisch geben; gerade die Versuche, zur Radikalität der genuinen religiösen Weltdistanz zurückzukehren und die Transzendenzaussagen der Theologie >dialektisch< zu erneu­ ern, konnten in der massiven Deutlichkeit der Manifestation von Welt als >Weltlichkeit< den Vorteil der Unübersehbarkeit

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und Unverwechselbarkeit dieses Immanenzcharakters wahr­ nehmen. Das der Welt Fremde und ihr als paradoxe Zumu­ tung der Selbstaufgabe Begegnende sollte sich in neuer Deut­ lichkeit der Verflechtung und Verkleidung wieder entziehen, in der es sich - etwa zum Zweck des registrierbaren Erfolges - zu falscher Vertrautheit und Annehmlichkeit angebiedert hatte.1 Einer Theologie der >ScheidungWelt< im Vollsinne, um dem Heil dessen, was >nicht von dieser Welt< sein soll, seine Erwartungsevidenz zu verschaffen - was auch immer epochal oder episodisch als solches Unheil und Heil ge­ sehen werden mag. Nachdem »Säkularisierung« zum kulturpo­ litischen Programmwert der Emanzipation von allen theolo­ gisch-kirchlichen Dominanzen, der Liquidation von Restbe­ ständen des Mittelalters geworden war, ließ sie sich ebenso zum Postulat der Klärung der Fronten, der entschlossenen und zur Entschließung zwingenden Scheidung der Geister im Vorwege jenes endgültig »diese Welt« und »jene Welt« tren­ nenden eschatologischen Gerichts formulieren. Danach brauch­ te, was faktisch im Prozeß der Verweltlichung geschehen war, nicht als Verlust an Substanz reklamiert zu werden, sondern konnte als Preisgabe von Belastungen erscheinen. Die Säku­ larisierung, die derart die Fronten klären sollte, wechselte als Programmwort zugleich in einem nicht untypischen Vorgang der Rezeption — härter ausgedrückt: des Wegnehmens der Sprache - diese Fronten. »Säkularisierung« ist dafür nicht das letzte Beispiel. Was nach der Theologie der Krisis (und ihren existentialtheologischen Ausläufern) kam, lag in derselben Tendenzrichtung einer theologischen Rechtfertigung der Säkularisierung. Feuer­ bach bekam recht, von unerwarteter Seite, von der Theologie selbst, daß sie sich nur als der Umweg der Anthropologie verstehen könne. Die Figuren und Schemata der Heilsge­

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schichte sollten sich als Chiffren und Projektionen innerwelt­ licher Probleme, als eine Fremdsprache für den Absolutismus der Welt, des Menschen, der Gesellschaft erweisen, alle Un­ weltlichkeit also als eine Metapher, die in das eigentliche Idiom zurückzubringen wäre. Dann ist, ganz konsequent, nicht mehr die Säkularisierung das Problem, sondern der Umweg, der sie überhaupt erforderlich machte. Für Um­ wege allerdings gibt es das bewährte Schema des zu sich selbst findenden Bewußtseins. Was nach diesem Umwege ansteht, ist nicht mehr die Scheidung der Geister, die Klärung der Fronten, sondern die Enthüllung der Identität des einen In­ teresses, zu dessen Realisierung ein Gott allenfalls Erfüllungs­ gehilfe zu sein hätte. Aber wäre er dann nicht besser gleich nicht? Der philosophische Betrachter dieser Szene der theologischen Selbstverständigung erkennt die vertrauten Muster aller Selbsterhaltungen: das der Reduktion der gefährdeten Sub­ stanz auf einen intangiblen Kernbestand, das der hingenom­ menen Verwechselbarkeit mit vermeintlich oder reell rele­ vantem theoretischen Dienstleistungen für diese oder jene Praxis, schließlich das der Einnistung ins letztaktuelle In­ teresse. Die Stärke dieser Säkularisierungstheoreme liegt dar­ in, daß sie eine Zusatztheorie enthalten, die nicht nur nach­ träglich als gut befinden läßt, was da an Geltungsschwund und Deutungsverlust hereingebrochen ist, sondern dies selbst als Heilsvorgang aufzuwerten verhilft. So kann ein Verlust an Herrschaft, Einfluß, besetzter Position und kulturellem Ambiente als providentieller Vorgang von reinigender Kraft für das Christentum2 verstanden werden. Dann war die Ein­ schätzung der Säkularisierung als Gefährdung der Existenz religiöser Formen und Gehalte in der Welt, als Niedergang des Geltungswertes theologischer Aussagen und ihrer Umset­ zung in Handlungswerte nur eine ihrerseits >verweltlichte< Furchtsamkeit, die der Vertrauensimplikation des Glaubens ebenso ungemäß war wie die Verkennung des Verzichtes auf Herrschaft in der biblischen Grundfigur der Kenosis als der

Knechtsgestalt des Heilbringers. Nicht die Säkularisierung selbst wird abgelehnt, sondern der Dienst, den sie als Argu­ ment der Rechtfertigung für die >BedeutungKulturwert< des Christentums innerhalb der Welt leisten sollte. Nicht erst das Ende der Geschichte ist Reservat der Theolo­ gie, sondern der geschichtliche Prozeß selbst wird (gegen allen Anschein des Mißerfolgs früherer Ansprüche, die Welt, wenn nicht zu gewinnen, so doch wenigstens zu erklären) einem Verständnis erschlossen, das dem Schema einer zeitgenössi­ schen Paratheorie entspricht, der Widerstand gegen die Thera­ pie sei das Hauptsymptom ihres zielgerechten Vordringens. Die Weltlichkeit, auf diese Weise nicht nur zugelassen und geduldet, sondern systematisch selbst >vorgesehenSäkularisierung< genau das, was von ihm erwartet werden muß. Aber zugleich kann diese Erwartung nicht das Motiv sein, welches ihn dazu bestimmt, nicht weiter nach seiner eigenen und au­ thentischen Verständnismöglichkeit dessen zu suchen, was durch den Ausdruck >Säkularisierung< geleistet werden kann. Die Schwierigkeit, die hier beginnt, beruht darauf, daß je­ dermann >noch< einigermaßen zu verstehen meint, was mit dem Ausdruck >Verweltlichung< gemeint ist und dies dem ge­ läufigen Gebrauch zuschreibt. Die Rückfrage, was denn da­ mit bezeichnet und behauptet werden soll, muß mit einem gewissen Unwillen ihres Adressaten rechnen. Genügt es nicht, eben jene quantitative Aussage über die Minderung eines Einflusses, den Schwund eines Gepräges, das Absinken einer Intensität hinzunehmen, um den Grenzwert zu erfassen, der mit der Formel von der Weltlichkeit als der Signatur der Neuzeit intendiert wird? Es geht nicht nur um die genuine Zugehörigkeit eines sprach­ lichen Elements, nicht nur um Worte, sondern um Sachen. Es

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muß daran erinnert werden, daß die Signatur der Neuzeit nicht nur als Weltgewinn und Weltzuwachs, sondern auch als Weltverlust beschrieben worden ist. An dieser These von Hannah Arendt, die gegen das Säkularisierungsdogma gesetzt ist, läßt sich zumindest verdeutlichen, was an Präzisierung einem historisch leistungsfähigen Begriff von Verweltlichung hinzugewonnen werden müßte. Hannah Arendt spricht von einer Weltlosigkeit ohnegleichen als Gepräge der Neuzeit. Der Mensch sei, als er die Hoffnung auf das Jenseits verlor, nicht mit der dadurch freigewordenen Intensität des Bewußtseins auf das Diesseits eingegangen; vielmehr wurde er aus der jenseitigen und der diesseitigen Welt auf sich selbst zurückgeworfen.3 Die Wirklichkeit der Welt, der er sich gegenüber sah, sei ihm nun gerade zweifel­ haft geworden, indem sich der unmittelbare Sinneskontakt durch die mathematisierte Physik als Darbietung nur der vor­ dergründigen Erscheinung soliderer Realitäten erwies. Auch in dieser These wird die Neuzeit zur Fortsetzung des Chri­ stentums mit anderen Mitteln, aber in derselben Richtung der Entweltlichung. Der Mensch habe sich erheblich weiter von der Erde und der sinnlich gegebenen Realität entfernt, als irgendeine christliche Jenseitshoffnung ihn je von ihr entrückt hatte. Wie auch immer man das Gewicht dieser Feststellungen bewertet, ergeben sie in jedem Falle, daß die >Weltlichkeit< der Neuzeit nicht als Rückgewinnung des Wirklichkeitsbe­ wußtseins beschrieben werden kann, das vor der christlichen Epoche unserer Geschichte bestanden hatte. Es gibt keine historische Symmetrie, in der diese Weltlichkeit so etwas wie die Disposition für die Wiederkehr des Kosmos der Griechen wäre. Die Renaissance war nur das erste Mißverständnis die­ ser Art, der Versuch, den sich ankündigenden neuen Wirklich­ keitsbegriff als Wiederkehr einer schon erfahrenen, in ver­ trauten Kategorien zu bewältigenden Struktur aufzufangen. Worauf es ankommt: >Welt< ist keine Konstante, deren Zu­ verlässigkeit erwarten ließe, daß im geschichtlichen Prozeß ein ursprünglicher Bestand unverhüllt wieder zutage treten D

müßte, sobald die epochale Überlagerung mit Elementen theologischer Herkunft und Spezfität abgetragen wäre. Diese ungeschichtliche Vorstellung entstellt die Authentizität der Neuzeit zu dem Restbestand, zu einem paganen Substrat, das im Rückzug der Religion auf deren autarke Weltunbezogenheit einfach übrig bliebe. Zu einem geschichtlichen Verständ­ nis von Säkularisierung gelangt man jedenfalls nicht, indem man ihre Implikation von >Welt< als Rückgewinn einer mit dem Christentum verlorenen >Ursprünglichkeit< auffaßt. Was immer wir meinen mögen, wenn wir von Säkularisierung sprechen, historisch kann sie auf keinen Fall als ein Verwelt­ lichungsprozeß im strengen Sinne des Wortes angesehen wer­ den; denn die Moderne hat nicht eine diesseitige Welt für eine jenseitige eingetauscht, und genau genommen hat sie nicht einmal ein irdisches, jetziges Leben für ein jenseitig-künftiges gewonnen; sie ist bestenfalls auf es zurückgeworfen. Es kommt hier auf diese These der Entweltlichung von Han­ nah Arendt als solche nicht an; aber was sie zeigt, ist die Fragwürdigkeit der Differenz von Weltlichkeit und Un­ weltlichkeit als einer Alternative, die in der Geschichte einmal so und einmal anders entschieden werden könnte, so daß bei der Preisgabe transzendenter Bindungen und Hoffnungen das Resultat immer schon determiniert wäre. Sobald man aus dem Bannkreis des theologischen Kategoriensystems heraustritt, kann die Welt, zu der sich die Neuzeit als entschlossen gibt, unter dem Aspekt des Wirklichkeitsbegriffs oder unter dem einer der Antike zugetrauten Unmittelbarkeit der Anschau­ ung eine >unweltliche< Welt sein. Nur wo die Kategorie der Substanz das Geschichtsverständnis beherrscht, gibt es Wie­ derholungen, Überlagerungen und Dissoziationen, aber auch Verkleidungen und Enthüllungen. Die Frage, wie der Ausdruck >Säkularisierung< in Texten ge­ genwärtiger Geschichtstheorie gebraucht wird, zielt vor allem auf die Differenz von deskriptiver und erklärender Verwen­ dung. Ein bestimmter Typus von Aussagen steht dabei seinem Anspruch nach gar nicht zur Diskussion, weil sich gegen ihn

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nicht mehr einwenden läßt, als daß durch ihn auch nur sehr wenig behauptet werde. Auch wenn nicht nur der quantita­ tive Schwund von Merkmalen sakraler und kirchlicher Her­ kunft gemeint ist, sondern eine Änderungsform dieses Her­ kunftsbereiches selbst, also eine Änderung der Sozialform der Religion in Richtung auf eine >kulturreligiöse< Funktion und damit eine Tendenz zur inneren >Säkularisierung< der religiö­ sen Institutionen selbst4, so bedeutet dies doch nur die Nivel­ lierung von Abgrenzungen, die Annäherung und Anähnlichung an die Erwartungen (oder auch nur die unterstellten Erwartungen) der sozialen Umwelt. Nun könnte man sagen, es sei reine Willkür und Überforderung, mehr als diesen de­ skriptiven Befund methodisch zu verlangen. Ich verlange die­ ses Mehr auch nicht, sondern ich finde es vor, und zwar er­ kennbar an einer spezifisch anderen Redeweise. Es ist eben etwas anderes zu sagen, in einem bestimmten Staat sei die >Säkularisierung< des Landes weit fortgeschritten und dies sei erkennbar an der empirischen Abnahme der Kirchenbin­ dung in den Landgemeinden, als die These zu formulieren, die kapitalistische Bewertung des Erwerbserfolges sei die Sä­ kularisierung der Heilsgewißheit unter der Voraussetzung des reformatorischen Prädestinationsglaubens. Denn ganz unver­ kennbar wird in dieser Musterthese für das Theorem der Sä­ kularisierung ein bestimmter spezifischer Inhalt durch einen anderen, ihm vorhergehenden erklärt, und zwar so, daß die behauptete Umwandlung des einen in den anderen weder eine Steigerung noch eine Verdeutlichung, sondern eine Entfrem­ dung von der ursprünglichen Bedeutung und Funktion ist. Offenkundig genügt die Qualifizierung einer historischen Ab­ hängigkeit mit den Elementen >ursprünglich< und >entfremdet< nicht, um die signifikante Verwendung von >Säkularisierung< zu bestimmen. Und hier fragt sich, ob das, was noch zur In­ tegration der Bedeutung hinzukommen muß, nicht unver­ meidlich ein theologisches Element ist. Geht also der Begriff der Säkularisierung über das hinaus, was im Verstehen ge­ schichtlicher Prozesse und Strukturen geleistet werden kann,

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indem er nicht nur eine Abhängigkeit, sondern so etwas wie einen Weltenwechsel, eine radikale Diskontinuität der Zuge­ hörigkeiten bei gleichzeitiger Identität impliziert? Wird mit diesem Begriff nicht das Paradox in unser Geschichtsverständ­ nis eingebracht, den neuzeitlichen Grundcharakter der >Weltlichkeit< nur unter Bedingungen erfassen zu können, die ihm wegen dieser Qualität gerade unzugänglich sein müssen? Hermann Lübbe hat darauf hingewiesen, daß der Gebrauch ideenpolitisch aktueller Begriffe nicht folgenlos ist und daß, wer hier nicht unversehens in Frontstellungen geraten wolle, an Aufklärung und Neutralisierung der begrifflichen Laten­ zen interessiert sein muß. Lübbe hält es für möglich, einen rein wissenschaftsimmanenten Gebrauch des Säkularisierungs­ begriffs auszugrenzen. Eben das stehe in Übereinstimmung mit den Einsichten und Absichten der jüngsten Säkularisie­ rungs-Theologie.5 Hier mag man fragen, ob solche Konver­ genz der Einsicht und des Interesses nicht dort ihre Grenze haben muß, wo >AufklärungSäkularisierung< gefragt wird, so ist das Kriterium der Wissenschaftsimmanenz nicht identisch mit dem Postulat der Wissenschaftsimmanenz. Diese Klarstellung ist geboten im Hinblick auf die jüngst ausgebrochene freudige Solida­ rität derer, die sich die Überwindung solcher Wissenschafts­ immanenz teilen zu können glauben mit der enharmonischen Verwechslung von Interdisziplinarität mit Überdisziplinarität. Die bloße Symbiose der Gegnerschaft gegen den >Positivismus< (oder das, was je dafür gehalten wird) legitimiert noch nicht jede der heterogenen Voraussetzungen, die in dieses Verhältnis eingebracht worden sind.

II Eine Dimension verborgenen Sinnes?

Wenn man von der Häufigkeit ihrer Anwendung ausgeht, dürfte an der historischen Anwendbarkeit der Kategorie der Säkularisierung kein Zweifel Zurückbleiben. Ihre Leistungs­ fähigkeit scheint unbegrenzt zu sein. Das in der vollen Breite noch nachzuweisen, erscheint mir als überflüssig. Die Bele­ ge, die ich sogleich aufführe, sollen nur die Anwendungsart des Begriffs noch einmal gegenwärtig machen, damit der Er­ klärungsanspruch im Unterschied zur bloßen quantitativen Feststellung und Zustandsbeschreibung nicht aus dem Blick verloren wird. In der Erkenntnistheorie der Neuzeit ist der Vorrang der Sicherungsfrage, der theoretischen Gewißheit, die Säkulari­ sierung des christlichen Grundproblems der Heilsgewißheit. Dieser Zusammenhang werde dadurch deutlich, daß die Er­ kenntnisproblematik aus dem absoluten Zweifel an der Rea­ lität überhaupt hervorgeht, also aus dem Absolutheitsgrad der dem Gewißheitsanspruch zugrunde liegenden Skepsis. Darüber hinaus gilt für Descartes, daß die von ihm begrün­ dete Wissenschaft die Funktion übernehmen wird, die bis dahin das Dogma der Kirche ausgeübt hatte, nämlich die einer allgemein-geistigen Existenzsicherung. Wenn das so wä­ re, hätte schon Descartes für sich allein das Diktum Ludwig Feuerbachs erfüllt: Unsere bisherigen Philosophen sind nichts als mediatisierte, durch den abstrakten Begriff vermittelte Theologen.7 Gemessen an ihren Wiederholungen ist die Behauptung nicht weniger eindrucksvoll geblieben, das moderne Arbeitsethos sei Säkularisierung der Heiligkeit und der ihr zugehörigen Formen der Askese. Aber auch der Dandy soll ein säkulari­ sierter Nachkomme des christlichen Heiligen sein, erinnert aber zugleich in der Formel Baudelaires, er setze in Erstau-

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nen, lasse sich aber nicht in Erstaunen versetzen, an den stoi­ schen Weisen. Schließlich soll die Rücksichtslosigkeit der Selbstenthüllung in der literarischen Selbstdarstellung ver­ schiedenster Formen nichts anderes sein als die säkularisierte Selbsterfahrung des Pietismus und Puritanismus, die zur wis­ senschaftsförmigen Genauigkeit transformierte Aufrichtig­ keit der religiösen Reflexion, so wie zuvor der spanische Schelmenroman aus dem Typus der Confessiones Augustins und der Robinson Defoes aus dem zwecks Ermittlung der Heilsgewißheit geführten Seelentagebuch des Puritaners her­ vorgegangen sein sollen, wobei das pure Überleben des Schiff­ brüchigen als Demiurg jene transzendente Heilsgewißheit immanentisiert hat. Ich führe hier keine Polemik. Ich bezweifle nicht die Beweis­ führungen im Einzelfall. Ich möchte nur eine Art Anamnese herbeiführen, indem ich mit wenigen und anonym gelassenen Belegen den Leser an die Fülle analoger Behauptungen erin­ nere, die ihm in der Buchwelt der letzten Jahrzehnte nicht entgangen sein können, die ihm aber vielleicht schon so zur Selbstverständlichkeit verhelfen haben, daß die von ihnen gestiftetèn Zusammenhänge kaum noch aufmerken lassen, wie gewagt sie auch sein mögen. Das Postulat der politischen Gleichheit aller Bürger soll den vorgängigen Begriff der Gleichheit aller Menschen vor Gott säkularisiert haben, während die Grundvorstellungen unseres Strafrechts sich auf den Bahnen einer säkularisierten Theo­ logie bewegen und einen aus dem Sakralverhältnis geborgten Schuldbegriff implizieren. Für die politische Theorie ist gel­ tend gemacht und oft nachgesprochen worden, daß alle präg­ nanten Begriffe der modernen Staatslehre . . . säkularisierte theologische Begriffe seien. Diese Behauptung bezieht sich nicht nur und nicht primär auf die Begriffsgeschichte, sondern auf die systematische Struktur, in der solche Begriffe fungie­ ren: Ernstfall und Ausnahmezustand hätten politisch und rechtlich eine analoge Stellung wie das Wunder in der Theo­ logie. Es habe eine Säkularisierung der Heilsbotschaft durch

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Machiavelli gegeben, und zwar in Gestalt der Idee der Pro­ paganda, die das absolute Streben und Wünschen der Men­ schen in der Welt trotz wechselnder Verhältnisse auf solche leitenden weltlichen Heilsvorstellungen fixiert zu halten sucht, wie z. B. auf die Macht und Einheit des Vaterlandes. Fast schon zur modischen Geläufigkeit geworden sind alle Versu­ che, politische Heilserwartungen vom Typus des Kommunisti­ schen Manifests als Säkularisierungen entweder des biblischen Paradieses oder des apokalyptischen Messianismus zu inter­ pretieren. Hat man die Idee des Fortschritts einmal als Transformation der Vorstellung einer providentiell gelenkten Heilsgeschichte verstehen können, so wird entweder die Unendlichkeit dieses Fortschritts als das Säkularisat der zuvor über die Geschichte regierenden Allmacht ausgegeben werden müssen oder ein in Aussicht genommener Endzustand des Fortschritts vom Typus >Goldenes Zeitalters >Ewiger Frieden« oder »Gleichheit aller jenseits des Staates« nur so etwas wie eine Eschatologie ohne Gott sein können: Was früher »Fülle der Zeit* hieß, Voll­ endung der Gegenwart in der Ewigkeit als dem Ort des Heils, das heißt bei Saint-Simon jetzt »Perfektion der sozia­ len Ordnung*, bei Kant »Reich der reinen praktischen Ver­ nunft*, bei Goethe, Schiller und Hölderlin »Humanität und neue Mythologie*, bei Rousseau »Rückkehr zur Natur*, bei Winckelmann »Rückkehr zu den Alten*, bei Wieland und Gessner »Einbildungskraft des Dichters*. Die Welt des Mittel­ alters sei endlich, ihr Gott aber unendlich gewesen; in der Neuzeit übernimmt die Welt dieses Attribut Gottes; die Un­ endlichkeit wird säkularisiert. Die Wissenschaft schließlich, von der schon Hegel in der Rechtsphilosophie hinsichtlich ihres Anspruchs auf Lehrfrei­ heit sagt, daß sie für sich wie eine Kirche sich zur Totalität von eigentümlichem Prinzipe ausbildet, welches sich auch als an die Stelle der Kirche selbst noch mit größerer Berechti­ gung tretend betrachten kann - diese Wissenschaft, die nicht nur die Welt begreifen, sondern auch Normen des Handelns

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in ihr ableiten will, wie es Descartes für seine morale dé­ finitive programmierte, gerät in diese Überzuständigkeit ge­ rade dadurch, daß sie Verweltlichung der ursprünglich christ­ lichen Kombination von Weltentwurf und Handlungsanwei­ sung ist. So einfach ist, scheint es, die Substanz in ihren Metamor­ phosen zu identifizieren, und so leicht reihen sich die Meta­ stasen des einen Ursprungs aneinander, wenn man das Rezept einmal gefunden hat. Natürlich spricht die leichte Anwend­ barkeit und die daraus resultierende leichtfertige Multiplika­ tion nicht gegen das Verfahren selbst; nur wird die Prüfung seiner Zulässigkeit, seiner rationalen Voraussetzungen und methodischen Erfordernisse um so dringlicher. Denn die genu­ ine Leistungsfähigkeit oder deren Anschein verbreiten das Licht einer oberflächlichen Evidenz noch über solche Anwen­ dungen, die ich nur als >wilde Fälle< bezeichnen kann. Es scheint so, als brauche man nur eine höchst allgemeine Aussa­ ge, wie die Nietzsches, zu spezifizieren; Wie die Wissenschaft zu dem werden konnte, was sie jetzt ist, ist nur aus der Ent­ wicklung der Religion deutlich zu machen.* Man erhält dann eine Reihe von abgeleiteten Thesen wie die, die Fragestellung der modernen Physik nach den Gesetzen und der Konstruk­ tion der Natur sei nur als Variante des Schöpfungsgedankens in säkularisierter Form zu verstehen; oder das akademische Examenssystem sei das säkularisierte Jüngste Gericht, minde­ stens aber die säkulare Variante der Inquisition; oder der von aller konkreten Geschichte gereinigte Wissenschaftler vom Typus des Ordinarius sei hervorgegangen aus einer säkula­ risierten Form alter Reinigungs- und Abtötungsrituale. Und so weiter. Jedes Feuilleton belegt, daß es noch weiter geht. Das Gemeinsame der hier versammelten Beispiele liegt darin, daß sie über den quantitativ-deskriptiven Gebrauch von >Säkularisierung< hinausgehen und nichts mehr mit der alten la­ mentierenden Feststellung zu tun haben, die Welt werde im­ mer weltlicher. Die Ausdehnung des Areals der Zuständig­ keit weltlicher Instanzen, einer nicht mehr religiös fundierten

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und geleiteten Lebensplanung und Handlungsnormierung, die Verlagerung von Kompetenzen der Bildung und der Lehre, die Entstehung nicht mehr liturgisch abgeleiteter Rituale das alles ist noch nicht Säkularisierung in einem präzisen, auf das Verstehen geschichtlicher Vorgänge angelegten Sinn. Die gegebenen Beispiele verbinden historisch zeitdifferente Phä­ nomene in der Weise, daß sie das spätere als Resultat der Säkularisierung des früheren behaupten, jenes aus diesem hervorgehen lassen. Dadurch schält sich ein mehr oder weni­ ger präziser Begriff von Säkularisierung heraus. Säkularisie­ rung ist nicht als ein einfacher Prozeß der Auflösung traditio­ neller Religion zu 'verstehen, sondern als eine Verwandlung der Wertordnung in verschiedene institutionelle >IdeologienAuflösung< einer­ seits und >Verwandlung< andererseits liegt. Für einen derart präzisierten Gebrauch wird nicht nur Verrechnung quantita­ tiver Anteilsverhältnisse, Bilanzierung von Gewichtsvertei­ lungen oder der Vergleich zeitdifferenter Gesamtzustände ge­ fordert, sondern der Aufweis von Umwandlung, Verfor­ mung, Überführung in neue Funktionen bei Identität einer sich durchhaltenden Substanz. Ohne eine solche substantielle Identität ließe sich der Rede von Umbildung und Transfor­ mation kein nachvollziehbarer Sinn beilegen. Gegen meine Kritik am Begriff der Säkularisierung hat Hans Georg Gadamer geltend gemacht, dieser Begriff übe eine le­ gitime hermeneutische Funktion aus. Er bestimmt diese Funk­ tion des Säkularisierungsbegriffs folgendermaßen: Er bringt dem Selbstverständnis des Gewordenen und Gegenwärtigen eine ganze Dimension verborgenen Sinnes zu und zeigt auf diese Weise, daß das Gegenwärtige weit mehr ist und bedeu­ tet, als es von sich weißd® Und er fügt einen für seine Überzeugung von der epochalen Reichweite dieser Kate­ gorie signifikanten Satz hinzu: Das gilt auch und gerade

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für die Neuzeit. Ein Begriff legitimiert seine hermeneu­ tische Funktion durch das, was er leistet. Das, was zu leisten ist, wird durch Gadamer als ein dem Selbstverständnis der Gegenwart und damit der Neuzeit Verborgenes qualifiziert, ja als eine ganze Dimension verborgenen Sinnes. Die Be­ hauptung ist sehr stark, wenn man daran denkt, daß es Her­ meneutik durchgängig nur mit einem Mehr an Sinn als dem offen Gegebenen und Selbstverstandenen zu tun hat, nach dem Axiom des Mattesilano: Semper mens est potentior quam sint verba. >Eine ganze Dimension verborgenen SinnesSeinsverständnis des Daseins< das ihm Wesentliche und doch ihm >zunächst und zumeist< Verborgene und Entzogene ist. Fast möchte ich sagen: das hatte ich befürchtet. Auf die Frage, wie man sich diese Dimension verborgenen Sinnes in ihrer nachgeholten Vergegenwärtigung zu denken hat, will ich noch nicht eingehen. Zunächst muß ich fragen, wie die Verborgenheit des Mehr im Gegebenen, des verbor­ genen Sinnes im offenen zustande kommt. Denn davon hängt ab, wie die hermeneutische Methode verfahren könnte. Wohl doch nur so, daß das Gegebene durch einen eindeutigen Nexus der Bedingtheit an das Vorgegebene gebunden ist. Im hermeneutischen Rückgang durch die Säkularisierung muß das Verstehen auf die Bedingungen der Möglichkeit dessen

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stoßen, was auf diese Weise verstehbar zu machen es bean­ sprucht. Alles hängt ab von der Frage, ob die säkulare Ge­ stalt des Verweltlichten nicht die Pseudomorphose, anders ausgedrückt: die Uneigentlichkeit seiner ursprünglichen Rea­ lität sein muß. Ohne Zweifel gewinnt der Begriff der Säkularisierung in sei­ ner degitimen hermeneutischen Funktion< an Bedeutungs­ trächtigkeit. Es wird noch schwerer, seiner Anwendung zu wi­ dersprechen oder ihr Grenzen zu setzen. Aber an solider methodischer Brauchbarkeit gewinnt der Begriff nicht. Er gestat­ tet dem Resultat der Säkularisierung nicht, sich von ihrem Prozeß abzulösen und zu autonomisieren. Die Illegitimität des Resultats der Säkularisierung steckt darin, daß es den Prozeß selbst, aus dem es hervorgegangen ist, nicht säkula­ risieren darf. Denn die hermeneutische Funktion bleibt nur legitim, soweit sie das, was dem Selbstverständnis verborgen ist, ihm offenlegt, es seines Mißverständnisses der autonomen Präsenz überführt und dadurch an die neu erschlossene Di­ mension bindet. Ich habe nun selbst von der hermeneutischen Lizenz, eine dem aktuellen Verständnis verborgene Implikation zu ent­ decken, Gebrauch gemacht, indem ich für die schärfere Be­ stimmung des Begriffs der Säkularisierung auf sein meta­ phorisches Potential verwiesen habe. Dieser Versuch hatte keine begriffsgeschichtliche Absicht oder Voraussetzung; er kann durch den Nachweis, daß der geistesgeschichtliche Gebrauch von Säkularisierung nicht an den politisch-recht­ lichen oder kirchenrechtlichen anknüpft, weder sinnlos noch sinnvoll werden; er ist davon ganz unabhängig. Es wäre durchaus möglich und ist sogar wahrscheinlich, daß an den rein deskriptiv eingeführten Begriff der Verweltlichung sich die Bezugnahme auf die politische Enteignung von Kir­ chengütern erst assoziativ und gelegentlich angelagert hat. Nur meine ich beobachten zu können, daß diese historische Assoziation die Präzisierung des Begriffsgebrauchs in einer bestimmten Richtung vorangetrieben hat. Und eben dies

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halte ich nicht für zufällig. Die Entfremdung einer geschicht­ lichen Substanz von ihrem Ursprung, den sie nur noch als verborgene Sinnesdimension mit sich weiterträgt, wirft un­ weigerlich die Frage auf, ob dies ein Vorgang der Selbst­ entfremdung oder der Fremdverformung gewesen sei. Es ist der Unterschied, der darin liegt, ob das Attribut der Unendlichkeit von Gott auf die Welt übergegangen ist, weil der Schöpfungsgedanke in seiner äußersten Steigerung diese Konsequenz gar nicht vermeiden kann, oder ob die Unend­ lichkeit für die Welt usurpiert worden ist, um sie dadurch an die Stelle und in die Funktion Gottes treten zu lassen. Im zweiten Fall wären etwa die kosmologischen Antinomien in der transzendentalen Dialektik Kants die Sackgasse, in die so etwas wie ein Gewaltakt des Gottesraubes geführt hat. Es muß also, entgegen allen Annahmen wortgeschichtlich orientierter Begriffsgeschichtler, das Kontinuum der Belege für den metaphorischen Gehalt von >Säkularisierung< gar nicht geben. Dennoch hat der Nachweis, daß in der Wortge­ schichte diese Metaphorisierung nicht frühzeitig belegbar ist, also »Säkularisierung* nicht zuerst in Anlehnung an den juri­ stischen Begriff gebraucht wurde, schon deshalb beruhigend gewirkt, weil eine Metapher, bezogen auf die inneren Heils­ güter des Christentums, als äußerst störend empfunden wur­ de. Eine Metapher ist eben immer noch ein rhetorisches Kunstmittel, nichts Ernsthaftes und schon gar nichts zu ir­ gendeiner Erkenntnis Hinführendes. Aber ich meine, ein wortgeschichtlicher Nachweis besagt zu wenig, wenn der erste historisch weniger Unkundige sich beim Hören des Ausdrucks an seine juristische Bedeutung hätte erinnern können, wenn die nachträgliche Präzisierung durch Orientierung an dem ju­ ristischen Begriff jederzeit nahelag, sobald man transitiv zu formulieren, also das Was und Wozu anzugeben, sich genötigt sah. Denn, um es noch einmal so zu verdeutlichen, ein »ver­ weltlichter* Bischof ist etwas anderes, kaum einer Rückfrage Bedürftiges, als der »verweltlichte* Heilige, die »verweltlichte*

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Eschatologie, mit denen doch eine Frage beantwortet und nicht nur eine moralische Qualifikation gegeben werden soll, wie im Fall des >verweltlichten< Prälaten. Die säkularisierte Eschatologie steckt noch in dem Erwartungshorizont gewalt­ samer Heilsbeschaffung, in dem sie gemäß der Säkularisie­ rungsthese aufgegangen, oder besser: >aufgehoben< sein soll, als etwas in dem Neuen Durchhaltendes oder Durchgehalte­ nes. Die Kategorie der Säkularisierung muß also nicht aus einer Metapher hervorgegangen sein; sie kann die metaphorisdhe Orientierung gerade im Hinblick auf die begriffliche Präzi­ sierung angenommen haben. Nur wenn man die Sprache als den Schrittmacher aller Begriffsbildung ansieht, wird man die nachträgliche Verdichtung der Namenswahl für den schon exekutierten Begriff ausschließen können. Der juristische Akt der Säkularisierung als Enteignung von Kirchengütern wurde so seit dem Westfälischen Frieden praktiziert und benannt. Der kanonische Gebrauch von saecularisatio bezeichnet die Entlassung eines Geistlichen aus der Gemeinschaft und den Verpflichtungen eines Ordens in den Status des Weltpriesters; diese seit dem Ende des 18. Jahrhunderts definierte inner­ kirchliche Transposition spielt für die Geschichte der Terminologisierung keine Rolle, sondern bleibt ein Sonderfall, der mit dem historisch-politischen Begriff der Säkularisation im Zusammenhang steht, jedoch . . . die daraus sich ableitende geschichtsphilosophische Kategorie der Säkularisierung nicht weiter bestimmt und geprägt hat. Dagegen fixieren die Vor­ gänge des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803 den Ter­ minus zu einem Begriff der Usurpation geistlicher Rechte, zu einem Begriff illegitimer Emanzipation von Gütern aus kirch­ licher Sorge und Aufsicht. Diese Bestimmungsstücke machen die Eigenschaft der Illegitimität zum Proprium des Säkulari­ sierungs-Begriff A 1 Man darf hier nicht übersehen, daß die Zugriffe der Französischen Revolution auf die Kirchengüter mit der späten Ausweitung von 1803 als Konsequenz des Jahrhunderts der Aufklärung erscheinen mußten. Der frühe­

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ste ausdrückliche Kontakt zwischen Philosophie und Säkulari­ sierung bestand, soweit ich sehen kann, in der Einbeziehung des äußeren Enteignungsvorganges in den apriorischen Ver­ nunftprozeß der Geschichte. Der Berliner Aufklärer Friedrich Nicolai hat 1799 in seiner Schrift Über meine gelehrte Bil­ dung die von Kant, vor allem noch durch den Streit der Fakultäten, ausgelöste Welle der apriorischen Geschichtsspe­ kulation verspottet und dabei neben anderem auf eine Pole­ mik hingewiesen, die 1798 durch eine Schrift Die Vernunft for­ dert die Säkularisierungen ausgelöst worden sei. Dabei wurde die Maßnahme aus vonvornigen Gründen bejaht, während eine Gegenschrift Die Vernunft fordert die Säkularisierungen nicht diesen Zugriff auf das Kirchengut aus eben so allgemein­ gültigen vonvornigen Gründen verneine.! 2 Hier ist also ein Zusammenhang von Vernunft und Säkularisierung noch vor dem Akt von 1803 gestiftet, der unverkennbar den Eigen­ tumsübergang nur zur äußeren Episode und Demonstration des regulären Vernunftfortschritts machte und zu weiterer Forcierung der Widerstandskräfte auf der anderen Seite ermu­ tigen konnte. Was bei den äußeren Gütern, den juristisch um­ disponierbaren, möglich war, sollte wohl auch bei den weni­ ger massiven, noch weniger geschützten, geistigen Residuen möglich sein. Die Erweiterung des Anwendungsbereichs der Grundvorstellung lag nicht nur nahe, sondern wurde durch einen Geschichtsbegriff geradezu erzwungen, der jedes Ereig­ nis im Vollstreckungszusammenhang einer rationalen Kon­ sequenz sehen ließ. Die Metaphorisierung des Aktes von 1803 wäre dann nur der sprachliche Nachtrag zu dem Sachverhalt, daß das juristisch-politische Ereignis seinerseits der bloße symptomatische Ausdruck einer säkularen Tendenz gewesen war. So verwendet noch Marx 1843 in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie den Terminus: So wenig aber die Emanzipation bei den Fürsten, so wenig wird die Säkularisation der Güter bei dem Kirchenraub stehen­ bleiben, den vor allen das heuchlerische Preußen ins Werk setzte.13 Der Begriff der Verweltlichung bestimmt einen

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übertragbaren, analogisierbaren Prozeß gegenüber >Gütern< gleich welcher Art in gleich weither Handlungsform des Zugriffs. Mir ist vorgehalten worden, ich hätte die Kriterien für den kategorialen Gebrauch von Säkularisierung daraus abgeleitet, daß ich zunächst den metaphorischen Ursprung solchen Gebrauchs behauptete — und da dies zu Unrecht, so auch jenes. Aber ich habe der metaphorischen Verwendung gar keine ursprüngliche und begründende Bedeutung beige­ messen, sondern nur eine methodisch-heuristische im Hinblick auf eine Erklärungsleistung des Begriffs, die eben faktisch in Anspruch genommen wird, wenn man etwas von der Art be­ hauptet wie dies, daß ein bestimmtes Phänomen der Nach­ folger eines anderen sein solle, bedingt durch dessen Vorher­ gehen und nur verstehbar durch dieses. Wofür muß man einstehen, wenn man etwas derartiges behauptet? Wie ist die Beweislast zu bestimmen? Die Frage, ob Säkularisierung als >Interpretationskategorie< aus der Metapher des historischen Rechtsbegriffs der Enteig­ nung von Kirchengut hervorgegangen sei, ist überaus gründ­ lich von Hermann Zabel untersucht worden.14 Das Ergebnis ist begriffsgeschichtlich eindrucksvoll, aber negativ. Zabel läßt keinen Zweifel daran, daß er sein begriffsgeschichtliches Pro­ blem schon mit der Absicht verfolgt hat, die Berechtigung des Gebrauchs von Säkularisierung in bezug auf den Rechts­ begriff zu prüfen, und daß er die Implikation des Rechtsvor­ gangs im Begriff der Säkularisierung nur dann zuzugestehen bereit sein würde, wenn sich ein genetischer Zusammenhang zwischen den Bezeichnungen für jenen Enteignungsakt und denen für andere historische Verweltlichungen nachweisen ließe. Aber ist die Begriffsgeschichte die einzige und zurei­ chende Legitimation für den Status des Begriffs? Muß man nicht auch sich gegenwärtig halten, daß eine hochgradige In­ differenz besteht zwischen dem Begriff und seiner Geschichte? Indem er das Zeugnis der Begriffsgeschichte gegen einen histo­ rischen Nexus von Rechtsbegriff und >Interpretationskategorie< überwältigend findet, meint Zabel auch die Anforde-

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rungen an die Bestimmbarkeit der Sachverhalte durch den Säkularisierungsbegriff außerhalb der Elemente des Rechtsbe­ griffs halten zu können. Dies würde ich nicht von vornherein ablehnen, wenn die durch Zabel erschlossene Begriffsgeschich­ te andere Kriterien für die begriffliche Bestimmtheit liefern könnte. Das ist aber gerade deshalb nicht der Fall, weil die beigebrachten Zeugnisse einen elementaren Sachverhalt über­ aus deutlich machen: die Verwendung von >Säkularisierung< erfolgt sehr lange in einer unverbindlichen Vieldeutigkeit und auf Präzision gar nicht angelegten Okkasionalität. Za­ bel sieht seine Begriffsgeschichte als ein homogenes Ganzes, in dessen Verlauf erst ganz am Ende gelegentlich jemand den metaphorischen Hintergrund >Enteignung von Sakralgut< mitgehört hat, die meisten ernsthaften und ernst zu nehmen­ den Zeugen davon aber nichts wissen wollen, sondern einen legeren Sprachgebrauch deskriptiver Art haben. Was muß man aus diesem Befund folgern? Zumindest nicht, daß die Frühphasen der Begriffsgeschichte einen Vorzug für die Erörterung dessen verdienen, was mit der >angezogenen< Funktion des Ausdrucks als >Interpretationskategorie< ge­ leistet werden kann, sobald das Heraushören des Bezuges auf den Rechtsbegriflf überhaupt erst die den Begriff aus­ machende Bestimmtheit und bestimmende Leistung einset­ zen läßt. Zabels Ergebnis erscheint mir gerade dadurch als interessant, daß es verständlich macht, weshalb so lange und bei so bedeutenden Autoren, wie er sie heranzieht, mit dem Ausdruck >Verweltlichung< nichts Rechtes anzufangen ward 5 Da Begriffe etwas sind, was wir selbst konstituieren, kann ihre Geschichte teleologisch verstanden werden; Begriffsge­ schichte ist daher nicht an das degenerative Schema gebun­ den, bei dem der Vollgehalt nur in der Ursprünglichkeit des frühen Augenblicks gegeben wäre. So scheint die begriffsgeschichtliche Forschung zu >Säkularisierung< ein widerspruchsvolles Resultat zutage gefördert zu ha­ ben: einerseits präpariert sie einen Prozeß heraus, der auf Terminologisierung im Sinne der Eindeutigkeit des Begriffs­



gehaltes und damit auf methodische Präzisierung tendiert, andererseits beschreibt sie die späte Phase dieses Prozesses als die eines metaphorischen Gebrauchs. Aber nicht der Ge­ brauch ist metaphorisch, sondern die Orientierung der Be­ griffsbildung.16 Die Verschärfung von einem vagen exhortativen und lamentativen Gebrauch zu der Bestimmung einer typischen Prozeßform läßt die >Erinnerung< an den histori­ schen Rechtsvorgang fast unvermeidlich erscheinen. Es ist das, was ich als Hintergrundmetaphorik zu beschreiben versucht habel 7, eine in der Begriffsgenese wirksame Anlehnung, die in dem Begriff selbst nicht mehr präsent ist oder sogar dem Definitionsbedürfnis geopfert werden muß, das nach solider Tradition metaphorische Elemente nicht zuläßt. Man könnte auch von implikativer Metaphorik sprechen. Zweifellos wird der Prozeß der Terminologisierung vorangetrieben durch die Aufnahme des Ausdrucks in die einschlägigen Lexika und Handbücher, die durch ihren Definitionsbedarf die Standar­ disierung dadurch, daß sie sie anzeigen, gleichzeitig erzeugen. Dafür sogleich das vielleicht wirksamste Beispiel: Verweltli­ chung, d. h. die Lösung geistlicher oder kirchlicher Vorstellun­ gen und Gedanken, ebenso die Lösung geistlicher (geweihter) Sachen und Personen aus ihrer göttlichen Bindung.! % Diese Formel repräsentiert schon deshalb den späten Stand der Be­ griffsbildung, weil sie sowohl den historischen als auch den kirchenrechtlichen Säkularisierungsvorgang nur als nachge­ ordnete Spezialfälle einer umgreifenden, vor allem Vorstel­ lungen und Gedanken erfassenden Bewegung integriert. Die Beziehung zum metaphorischen Hintergrund des Rechtsaktes scheint mit dem Ausdruck >Lösung< gemildert, verharmlost, neutralisiert; wenn freilich am Ende das Korrelat für solche >Lösung< die »göttliche Bindung« ist, so wird an der Bedeu­ tungsladung dieses Ausdrucks evident, daß eine Sanktion als verletzt gedacht und eine gewaltsame Unrechtmäßigkeit hin­ zu begriffen werden muß. Solche definitionsähnlichen, den unbestimmten Ausdruck »Sä­ kularisierung« ersetzenden Formeln dürfen ihrerseits insofern

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Unbestimmtheit mit sich führen, als sie bestimmte Zusatzfra­ gen erzwingen. Der erfolgreiche Ausdruck >Lösung< läßt kunstvoll offen, ob er transitive oder intransitive Bedeutung hat, also ob jene Vorstellungen und Gedanken, Sachen und Personen sich selbst aus der göttlichen Bindung lösen oder ob eine Instanz da ist, die diese Lösung vollzieht. Man muß, wie ich meine, die Gesamtheit dieser in der Formel unterlassenen oder verhinderten Zusatzfragen als zur Konsequenz der Begriffsbildung gehörig entfalten. Dabei ergibt die Orientie­ rung an der Hintergrundmetaphorik des Rechtsaktes den Merkmalskatalog des Enteignungsverfahrens als Leitfaden für die Anwendbarkeit der Kategorie Säkularisierung: Iden­ tifizierbarkeit des enteigneten Gutes, Legitimität des primä­ ren Eigentums an ihm und Einseitigkeit seines Entzuges. Hinsichtlich der Erfüllung dieser Kriterien darf man sich durch die theologische Sprache nicht irritieren lassen, die etwa den einseitigen Entzug mit dem erhabeneren Gedanken einer selbstlosen Preisgabe des Göttlichen an die Welt rechtfertigt, aber damit doch dem unveränderten historischen Vorgang ein für den theoretischen Betrachter unzugängliches Geheim­ nis implantiert. Die Legitimität des primären Eigentums kraft einer besonderen Herkunft jener Vorstellungen und Gedan­ ken wird nicht zufällig weniger zaghaft ausformuliert. Heute pflegt man von Säkularisierung zu reden, wo Ideen und Er­ kenntnisse von ihrer ursprünglichen Quelle, der Offenbarung, gelöst und der Vernunft des Menschen aus der ihr eigenen Kraft zugänglich werden. Die Säkularisierung betrifft also geistige Vorgänge, die ursprünglich durch den Glauben er­ möglicht wurden, dann aber vom Menschen mit den ihm ver­ fügbaren Fähigkeiten vollzogen werden.^ Das im Hinter­ grund stehende Paradigma scheint in der vorsichtigen Formu­ lierung, die vom >Lösen< von der ursprünglichen Quelle spricht, gerade noch durch; und die menschliche Vernunft, die dies aus eigener Kraft vollzieht, scheint dabei nur eine Art von »Anwendung« zu betreiben. Die beliebige Auswechselbar­ keit von »Lösen« und »Sich-Lösen« ist das Rätsel einer solchen 32

Formulierung, wenn es heißt: Von Säkularisation hat man zunächst in der Geschichtswissenschaft gesprochen und dar­ unter die Übertragung von kirchlichen und geistlichen Herr­ schaft- und Eigentumsrechten an weltliche Gewalten verstan­ den. Dann wurde das Wort auf einen geistesgeschichtlichen Vorgang angewandt, bei dem sich Ideen und Verhaltenswei­ sen aus ihrem ursprünglichen religiösen Begründungszusam­ menhang lösten und aus der allgemeinen Vernunft hergelei­ tet wurden.20 Die Herleitbarkeit der Ideen und Verhaltens­ weisen aus der allgemeinen Vernuft steht unvermittelt neben ihrer religiösen Herkunft, so daß im Phänomen der Säkula­ risierung strenggenommen auch eine Konvergenz ohne jeden Nexus festgestellt sein könnte. Oft wird man erst aus den Folgerungen, die aus der Säkula­ risierung gezogen werden, erkennen können, welche Merkma­ le dem Vorgang zugesprochen werden. Was ergibt sich, wenn Säkularisierung festgestellt und bewußt gemacht werden kann? Dazu eine weitere Formel: Die Aufdeckung und Bewußtmachung des Säkularisationsvorgangs wahrt die Konti­ nuität zwischen Gegenwart und Vergangenheit... Es gibt eine Kontinuität des Geschichtlichen auch im negativen Ver­ hältnis der Vergangenheit zur Gegenwart. . . Die Wirklich­ keit, in der wir tatsächlich leben, ist überdeckt von irrefüh­ renden Vorstellungen.'2-1 Das Selbstbewußtsein der Authen­ tizität der weltlichen Vernunft ist eine irreführende Überdekkung einer Wirklichkeit, die sonst ihre kontinuierliche ge­ schichtliche Herkunft aus dem, wovon abhängig zu sein sie bestreitet, nicht übersehen könnte. Es soll wohl auch ein In­ teresse an der Unterstellung der Diskontinuität angedeutet sein, insofern sie die Verpflichtung der Gegenwart gegenüber der Vergangenheit zu negieren gestattet. Die Kategorie der Säkularisierung soll erkennen lassen, daß geschichtliche Be­ dingtheit aus einem epochalen Selbstinteresse abgedeckt wird; sie präsentiert den vorgegebenen Bruch der modernen Ra­ tionalität mit der Vergangenheit als ideologisch. Sie macht, und das ist die unausweichliche Folgerung ihrer beanspruch-

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ten theoretischen Leistung, eine objektive Kulturschuld be­ wußt. 2 2 1 Wenn die moderne Welt weitgehend als Ergebnis einer Sä­ kularisierung des Christentums verstanden werden kann2i, muß das in der methodischen Analyse des Historikers anhand der Merkmale des Enteignungsmodells darstellbar sein. Die Beweislast auf diese Weise zu bestimmen, bedeutet keineswegs, daß man von >Säkularisierung< nicht auch in einem weniger präzisen Sinn sprechen dürfe. Mir kommt es nur darauf an, wie dem Anspruch genügt werden kann, zum Verständnis der Konstitution der Neuzeit vertretbare, auf Begründungen zu­ mindest hinführende Aussagen zu machen. Die bloße Fest­ stellung, daß die moderne Welt, in der wir leben, außer sich selbst nicht viel - und auch dies immer weniger — im Sinne hat, würde nicht rechtfertigen, diese >Verweltlichung< spezi­ fisch mit dem Christentum in Zusammenhang zu bringen, das dann nur zufällig und beliebig die >Unweltlichkeit< einer Re­ ligion in der Vergangenheit dieser Gegenwart repräsentierte. Der Satz, die gegenwärtige Welt sei als Ergebnis der Säku­ larisierung des Christentums zu verstehen, will sich sicher so wenig zu sagen nicht begnügen. Aber was muß er sagen, wenn er mehr sagen will?

III Der Fortschritt in seiner Enthüllung als Verhängnis Zu den Behauptungen, die schon in der nächsten Generation schlicht und knapp als >bekannt< bezeichnet werden können, gehört die These, das Geschichtsbewußtsein der Neuzeit sei aus der Säkularisierung der christlichen Idee der Heilsge­ schichte, näherhin der Vorsehung und der eschatologischen Endlichkeit, hervorgegangen. Karl Löwiths bedeutendes Buch Meaning in History. The Theological Implications of the Philosophy of History hat hier seit seinem ersten Erscheinen im Jahre 1949, deutsch 1953 unter dem Titel Weltgeschichte und Heilsgeschehen, nachhaltig dogmatisierend gewirkt. Löwith nimmt das Selbstverständnis des deutschen Idealismus hinsichtlich seiner geschichtlichen Stellung und Leistung als ob­ jektive These über die Herkunft des neuzeitlichen Geschichts­ begriffs. Hegels Theorie von der >Aufhebung< der christlichreformatorischen Geschichtsphase in der Grundverfassung der modernen geistigen und politischen Welt, vor allem in ihrem konstitutiven Bewußtsein der subjektiven Freiheit, hat für Löwith das Heilsgeschehen auf die Ebene der Weltgeschichte projiziert und die letztere auf die Ebene der ersteren erho­ ben.! 4 Wenn der geschichtliche Prozeß die Selbstrealisierung der Vernunft wäre, dann müßte das, was sich äußerlich als Diskontinuität der Verweltlichung darbietet, seiner immanen­ ten Logik nach Kontinuität besitzen. Die Säkularisierung wür­ de dann die theologische Vorgeschichte zu ihrer konsequenten Umformung und endgültigen Gestalt gebracht haben. Die ho­ mogene Vernunft der Geschichte kann nur unter einem par­ tiellen Aspekt als Faktor oder Resultat der Säkularisierung objektiviert werden. Betrachtet man Löwiths philosophische Arbeit in den beiden Jahrzehnten nach seinem geschichtsphilosophischen Haupt­ werk, so wird seine Affinität zu diesem Konzept der Säkula­

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risierung erst vollends begreiflich. Die Verweltlichung des Christentums zur Moderne wurde für Löwith zu einer ver­ gleichsweise geringfügigen Differenzierung, sobald er den ein­ zigen Epochenbruch ins Auge faßte, der die Entscheidung für Mittelalter und Neuzeit in einem Akt gebracht hatte: die Abwendung vom paganen Kosmos der Antike und seiner zyklischen Geborgenheitsstruktur zu der einmaligen Zeit­ handlung des biblisch-christlichen Typus. Angesichts der schicksalhaften Disjunktion von Natur und Geschichte verla­ gert sich der Akzent von dem Beginn der Neuzeit auf das Ende der Antike; für alles, was danach kam, entsteht so et­ was wie eine geschichtliche Gesamtverantwortung mit dem Fazit des Fortschritts als Verhängnis.25 Es geht nicht um Hegel; sein Geschichtsbegriff bietet nur das argumentative Instrument, um zu dem Ansatzpunkt zurück­ zukehren, den Löwith mit seinem frühen Nietzsche-Werk von 1935 gewonnen hatte: die Renaissance der zyklischen Kos­ mologie, wie sie Nietzsche mit der >ewigen Wiederkunft des Gleichem proklamiert hatte, gegen die Dominanz des linea­ ren Geschichtsbewußtseins zu setzen.26 Die finale Autonomie dieses Geschichtsbewußtseins ist als dessen Selbsttäuschung aufgedeckt, sobald sie im Säkularisierungstheorem als >von Gnadem des Christentums erkannt werden kann. Der Mög­ lichkeit nach ist dann das Letzte der Geschichte wieder nur deren Vorletztes vor der Wiederkehr der Ungeschichte. Unter dem Aspekt der Säkularisierung kann die falsche Entzwei­ ung von Mittelalter und Neuzeit zu der einen Episode der Unterbrechung der menschlichen Kosmosbindung depotenziert werden. Dieses eindrucksvolle, obwohl zurückhaltend ausge­ sprochene, späte Gesamtkonzept Löwiths läßt die Heftigkeit ebenso wie die Verzögerung verstehen, mit denen er auf die Kritik an dem hermeneutischen Instrument der Säkularisie­ rung erwidert hat.27 Aber gerade weil in dem Denken Karl Löwiths der Kategorie der Säkularisierung eine so schwerwiegende Funktion zufällt, die alles ihr sonst Aufgelastete übertrifft, muß, wenn nicht

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der Vorhalt des ausgebliebenen Beweises, so doch wenigstens die Frage nach der anfallenden Beweislast ausgesprochen werden dürfen. Darin freilich, meint Löwith, sei ich zu weit gegangen, indem ich den Identitätsnachweis für die säkula­ risierte Substanz in die Beweislastforderung aufgenommen und gleichzeitig jede Auffassung von geschichtlicher Identität als Substanz bestritten hätte.28 Nun halte ich allerdings das Säkularisierungstheorem für einen Spezialfall von histori­ schem Substantialismus insofern, als der theoretische Erfolg von der Nachweisung von Konstanten in der Geschichte ab­ hängig gemacht wird, ähnlich -wie ungefähr gleichzeitig in der Toposforschung. Dieser Vorgriff auf das, was Erkenntnis zu leisten hat und wodurch sie es leisten kann, erscheint mir als problematisch: Konstanten bringen einen theoretischen Prozeß ans Ende, wo es unter anderer Vorgabe vielleicht doch noch möglich ist weiterzufragen. Auf diesen Punkt der Stillegung des theoretischen Prozesses durch substantialistische Prämissen muß es jeder Kritik ankommen, wenn ihr Konstanten als vermeintliche Resultate vorgelegt werden. Apriorische Behauptungen darüber, ob es in der Geschichte substantielle Konstanten gibt oder nicht, lassen sich nicht auf­ stellen; es läßt sich nur sagen, daß die Erkenntnissituation des Historikers durch die Ermittlung so stabiler geschichtli­ cher Elementarquanten nicht optimiert werden könnte. Von Säkularisierung zu sprechen, würde unter substantialistischen Voraussetzungen die Schwierigkeit dorthin verlagern, wo die geschichtsbeständige Größe einmal >entsäkularisiert< worden war, bevor sie der nachmaligen Säkularisierung überhaupt ausgesetzt sein konnte. An dieser Überlegung wird klar, daß die theologische Rede von der Säkularisierung das Konstantenproblem nur deshalb vermeiden kann, weil sie einen absoluten und transzendenten Ursprung der betrof­ fenen Gehalte als fraglos voraussetzt. Wenn Karl Löwith die Säkularisierung legitimiert, insofern sie für ihn immer noch ein innerchristliches und nachpaganes Phänomen ist, legitim also nur innerhalb der Gesamtillegitimität der Abkehr vom

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Kosmos zur Geschichte, so muß er die Prämisse der Nichther­ leitbarkeit des ganzen vom Kosmos abgefallenen Systems für sich bereits >säkularisiert< haben. An irgendeiner Stelle tritt das Merkmal des einseitigen Entzugs also auch dann auf, wenn die Neuzeit gerade als Säkularisat legitimiert werden soll. Der Fortsdiritt, in seiner Enthüllung als Verhängnis, wäre also die späte und für sich nicht mehr ins Unrecht zu setzende Konsequenz eines frühen Rechtsbruches, des Bruches jenes Rechts, das die Natur auf den Menschen hat und das ihr in der Antike von einem Denken belassen und bestätigt worden war, das für Karl Löwith am ehesten das Gepräge der Stoa gehabt haben dürfte. Nun kann man die Frage, ob die Um­ wandlung der christlichen Heilsgeschichte in die neuzeitliche Fortschrittsidee eine legitime Konsequenz oder eine einseitige Verformung ist, einmal beiseite lassen, um die Evidenz des genetischen Zusammenhangs überhaupt zu prüfen, der doch schon deshalb nicht selbstverständlich ist, weil andere Thesen über die Herkunft der Fortschrittsidee zumindest möglich sind. Die frühe Neuzeit hat nicht nur Muster von >Fortschritten< selbst hervorgebracht, sondern auch bereits vorge­ funden und erstmals explizit festgestellt; so das der Astro­ nomie mit ihrem an die Länge der Zeitdistanzen gebundenen Genauigkeitsgewinn.29 Welche Indizien auch nur deuten dar­ auf hin, daß die theologische Eschatologie mit ihrer Vorstel­ lung von der >Vollendung< der Geschichte durch ihren Ab­ bruch hätte das Muster liefern können für eine Idee vom Fortgang der Geschichte, nach der diese eben durch ihre Voll­ endung oder die Annäherung an eine solche gerade erst Dau­ erhaftigkeit und Zuverlässigkeit gewinnen sollte? Wie man hier die Wertvorzeichen auch anbringt, ist sekundär gegen­ über der Frage, ob eine genetische Bedingtheit, wenn schon nicht mit dem Finger auf der Urkunde belegbar, doch we­ nigstens so wahrscheinlich zu machen ist, daß weiteres Suchen nach den >Urkunden< begründet wäre. Es gibt für das Säkularisierungstheorem ganz unverfängliche Grundformeln, denen sich kaum widersprechen läßt. Eine die-

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F ser plausiblen Wendungen ist das >Undenkbar ohneundenkbar ohne< die christliche Antezedenz. So weit kann man sich das fast schon selbst denken. Aber was bedeutet es im Einzelfall der Zuordnung konkreter Charakteristika? Ich halte mich an das, was, wenn nicht all­ gemein, so doch weithin eingeleuchtet zu haben scheint. Für die Abhängigkeit der Fortschrittsidee von der christlichen Eschatologie bestehen Differenzen, die jede Umsetzung der einen in die andere blockiert haben müssen. Es ist ein for­ maler, aber gerade darum manifester Unterschied, daß eine Eschatologie von einem in die Geschichte einbrechenden, die­ ser selbst transzendenten und heterogenen Ereignis spricht, während die Fortschrittsidee von einer jeder Gegenwart prä­ senten Struktur auf eine der Geschichte immanente Zukunft extrapoliert. Natürlich hat die Fortschrittsidee nicht >die Fortschritte< hervorgebracht, die es immer, im einzelnen Men­ schenleben, in der einzelnen Generation, im Zusammenhang der Generationen, als Erfahrung, als Willen und Übung, ge­ geben hat; >der Fortschritt ist die höchstgradige Verallgemei­ nerung, die Projektion auf die Gesamtgeschichte, die offenbar nicht zu jedem Zeitpunkt möglich war. Gefragt werden muß, was sie möglich machte. Ich meine, es seien neuartige Erfah­ rungen von so großer zeitlicher Weiträumigkeit gewesen, daß der Sprung in die letzte Generalisierung zur >Idee des Fortschritts< sich nahelegte. Eine solche Erfahrung ist die Einheit methodisch regulierter Theorie als von Individuum und Ge­ neration unabhängig werdendem Zusammenhang. Daß sich an diese Großräumigkeit des Fortschritts Hoffnungen auf größere Sicherheit des Menschen in der Welt anlagern und

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daß diese Hoffnungen für die Realisierung der Idee Antriebe werden können, läßt sich belegen. Aber ist solcherart Hoff­ nung das Identische mit der christlichen Eschatologie, das in ihr Säkularisat eingegangen wäre? Die Eschatologie mag für einen kürzeren oder längeren Augenblick der Geschichte ein Inbegriff von Hoffnungen gewesen sein - als es so weit war, die Fortschrittsidee zutage zu fördern, war die Eschatologie eher ein Inbegriff von Schrecken und Furcht. Wo Hoffnung entstehen sollte, mußte sie als ein neuer und originärer Inbe­ griff von diesseitigen Möglichkeiten gegen jene jenseitigen ge­ setzt und gesichert werden. Von einer Auffassung her, die Geschichte als Fortschritt versteht, erscheint die theologische Erwartung der von außen kommenden Endereignisse - selbst wenn sie noch Hoffnungen gewesen wären - als Verhinde­ rung derjenigen Einstellungen und Aktivitäten, die dem Men­ schen die Realisierung seiner Möglichkeiten und Bedürfnisse gewährleisten können. Es ist nicht zu sehen, wie aus der einen >Erwartung< je die andere hervorgehen könnte, es sei denn, daß man die Enttäuschung an der transzendenten Erwar­ tung als Agens der immanenten darstellt. Dann aber müßte der Zeitpunkt für das erste Auftauchen der Fortschrittsidee und für ihre prägende Wirksamkeit weit mehr als ein Jahr­ tausend vorverlegt werden. Die Fortschrittsidee und ihre utopischen Grenzwertentwürfe sind als Surrogate für den Mangel an Politik gesehen wor­ den, die gerade als solche in die Funktion der transzendenten Heilserwartungen eintreten und dabei diese in die Immanenz transponieren. Der Utopismus entsprang einem geschichtlich bedingten, dann aber geschichtsphilosophisch festgelegten Mißverhältnis zur Politik.30 Aber gerade wenn die Utopie in dem politischen Defizit der moralischen Geschichtskritik der Aufklärung begründet ist, in ihrem Verzicht auf Gegen­ wärtigkeit, wird es zweifelhaft, daß ihr das Zukunftsverhält­ nis als Festlegung aus der eschatologischen Bewußtseinsprä­ gung vorgegeben war. Und dann hat es wenig für sich, es sei der Vorgang der Säkularisierung, durch den die Eschatolo-

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F .✓ gie in eine fortschrittliche Geschichte transponiert wurdet Weshalb sollte der göttliche Heilsplan >verwandelt< und >aufgeklärt< werden, wenn das Verhältnis zur Geschichte das einer moralischen Kritik geworden war, die doch keineswegs die Funktion eines Letzten Gerichts nachzuahmen hat, vor welchem alle Geschichte pure Vergangenheit wird, also das Gegenteil eines durch Kritik zu beeinflussenden Prozesses? Hinsichtlich des Fortschritts hätten sich die Verfechter der Säkularisierung frühzeitig entscheiden müssen, ob sie das Jüngste Gericht oder die Vorsehung zum terminus a quo machen wollten; denn die Hereinnahme der stoischen Vorse­ hung in das Christentum war selbst bereits ein Akt der Ver­ sicherung für eine eschatologisch nicht mehr vorgesehene, je­ denfalls der Regelung nicht mehr bedürftige Geschichte - es kann der eschatologische Gott des Geschichtsendes nicht zu­ gleich der sein, der sich in der Geschichte als deren Hüter be­ merkbar und glaubhaft macht. Die säkularisierte Eschatolo­ gie mag zu dem Gericht passen, das eine siegreiche Revolution mit ihren Feinden abhält und dessen absoluter Akt mit Mo­ ral nichts mehr zu tun haben würde: Wenn man eine Revolu­ tion glücklich vollbringt, kann man seine Gegner hängen aber nicht verurteilen^- - aber die Fortschrittsidee ist eben nicht eine bloße Schwächeform des Gerichts oder der Revolution, sondern die ständige Selbstrechtfertigung der Gegenwart durch die Zukunft, die sie sich gibt, vor der Vergangenheit, mit der sie sich vergleicht. Die nachscholastische Kritik an der Autorität des Aristoteles, sofern sie sich nicht darauf, be­ schränkt, an deren Stelle die des Plato zu setzen, mußte stän­ dig um eine Rechtfertigung besorgt sein, die sie aus dem durch die Preisgabe des Aristoteles realisierten Erkenntnisfortschritt zog. Der Selbstvergleich mit den Autoritäten der Antike und die. Reflexion auf die Methode, durch die dieser Vergleich po­ sitiv zugunsten jeder Gegenwart entschieden werden konnte, waren die tragfähigsten Ansätze der Fortschrittsidee. Dabei spielte das später idealistisch ins Zentrum gerückte Cogito des Descartes keine dem Gedanken angemessene Rolle, daß

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dieser punktuelle Akt am ehesten die absolute Qualität einer theologischen Antezedenz repräsentiert: Im Zug der Entfal­ tung des Cogito ergo sum des Descartes als der Selbstgarantie des aus der religiösen Bindung herausgefallenen Menschen schlägt die Eschatologie in die Utopie um. Die Geschichte zu planen wird genauso wichtig, wie die Natur in den Griff zu bekommen.3 3 Aber eben das leistet nicht der Absolutismus der Selbstgaran­ tie, sondern die Idee der Methode, und zwar nicht dadurch, daß sie sich für die Geschichte eigens und anders als für die Natur formieren müßte, sondern indem sie die theoretische Herrschaft über die Natur zur Bedingung des geschichtlichen »marcher avec assurance dans cette vie< macht. Die Metho­ denidee ist keine Planung, keine Verwandlung des göttlichen Heilsplanes, sondern die Herstellung einer Disposition: der Disposition des Subjekts, an seiner Stelle an einem Prozeß teilzunehmen, der Erkenntnis transsubjektiv leistet. Ebenso partiell wie auf dem theoretischen Feld tritt der Ge­ danke des Fortschritts auf im Bereich der literarischen und ästhetischen Auseinandersetzung mit der Tradition. Hier ist er primär nicht die Feststellung einer kontinuierlichen Se­ quenz von Überbietungen des je schon Geleisteten, sondern der Vergleich zwischen der in kanonisierter Geltung stehen­ den Literatur und Kunst der Antike mit dem Ertrag der Ge­ genwart. Dabei entsteht der Gedanke des Fortschritts aus dem Protest gegen das Verbindlichkeitsideal konstanter Vor­ bilder. Die Querelle des Anciens et des Modernes ist das ästhetische Analogon der theoretischen Lösung von der Gel­ tung des Aristotelismus.34 Sowohl die Verfechter des Vorrangs der Antike als auch die Vertreter der Modernität bedienten sich im Zuge dieser Auseinandersetzung zunächst einer durch­ aus naturhaft-zyklischen Vorstellung vom Geschichtsverlauf, so daß der Nexus zwischen einer christlichen Vorstufe und dem aus der Querelle hervorgehenden Geschichtsbegriff durch diese antikisierende Zwischenstufe problematisch wird. H. R. Jauß moniert daher mit Recht, auch gegenüber der These

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vom Ursprung des geschichtlichen Weltbildes von Werner Krauß35, daß die Anfänge des geschichtlichen Bewußtseins mit der Kategorie einer Säkularisierung des theologischen Ge­ schichtsverständnisses bzw. der christlichen Geschichtsphiloso­ phie Bossuets nicht zu fassen seien. Der Nachteil des ästhe­ tischen Fortsdirittsmodells, wie ihn schon das Faktum der Querelle offenkundig macht, ist die Bestreitbarkeit und Umstrittenheit möglicher oder tatsächlicher Fortschritte auf die­ sem Gebiet; der Vorteil ist die Unbestrittenheit der Voraus­ setzung, daß es hier ganz und allein der Mensch ist, der die Realitäten der ästhetischen Sphäre hervorbringt, also auch der Faktor ihrer etwaigen Fortschritte wäre. Selbst die Genieästhetik konnte diesen Sachverhalt nur emphatisch aus­ drücken. Die Übertragung des Strukturschemas von ästheti­ schen, theoretischen, technischen und moralischen Fortschrit­ ten auf die Gesamtvorstellung von der einen Geschichte setzt voraus, daß der Mensch sich in dieser Totalität als allein zu­ ständig betrachtet, daß er sich für den hält, der >die Geschich­ te machte Dann kann er es für möglich halten, aus dem Selbstverständnis des rationalen, demiurgischen oder gar schöpferischen Subjekts den Gang der Geschichte abzuleiten. Die Zukunft wird zur Folge gegenwärtiger Handlungen, die­ se zur Realisierung der gegenwärtig verfügbaren Einsichten. Damit erst wird der Fortschritt zum Inbegriff der Bestim­ mungen der Zukunft durch die Gegenwart und ihre Vergan­ genheit. Die Geschichte als vom Menschen gemachte erscheint als vor­ aussagbar. Kant spricht von einer a priori möglichen Dar­ stellung der Begebenheiten, die da kommen sollen, ebenso wie von der wahrsagenden Geschichtserzählung des Bevor­ stehenden in der künftigen 'Zeit, weil hier das theoretische Subjekt zugleich der praktische Ursprung seiner Gegenstände ist: Wie ist aber eine Geschichte a priori möglich? - Antwort: wenn der Wahrsager die Begebenheiten selber macht und ver­ anstaltet, die er zum voraus verkündigt.3 6 Der Gedanke von einer Vorsehung, aus deren Verfügung die Geschichte hervor­

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geht, hätte wohl nicht eigens zerstört werden müssen, um diese Begründung der Rationalität des Geschichtsganzen zu ermöglichen, solange diese >Vorsehung< die reine Weltvernunft der Stoiker war und nicht den Grundzug der undurchdring­ lichen Hoheitsakte des theologischen Gottes angenommen hatte. Denn der Satz, daß der Mensch seine Geschichte mache, erweckt für sich genommen noch kein größeres Vertrauen auf den Gang der Geschichte als die Annahme einer diese verwaltenden Weltvernunft; wenn aber die >Vorsehung< einbezogen ist in den Absolutismus eines unergründ­ lichen Willens, ist das Handeln von Menschen - wenn es auch für jeden einzelnen immer das aller anderen ist — vertrauens­ würdiger. Der Satz, daß der Mensch die Geschichte macht, enthält noch keine Garantie für den Fortschritt, den er beim Machen bewirken könnte; es ist zunächst nur ein Prinzip der Selbstbehauptung gegen die Verunsicherung der Erkenntnis durch das übermächtige theologische Fremdprinzip, dessen Nichtanwendbarkeit auf die Einsicht des Menschen in seine eigenen Werke, also auch in seine eigene Geschichte, postuliert wird. Daß aber das Erkennen der Geschichte Voraussetzung für das vernünftige und damit fortschreitende Machen der Geschichte sei, die Fortschrittsidee also ein Regulativ für die Integration von Handlungen, konnte wohl nur an dem Modell der Integration theoretischer Handlungen durch die neue Wissenschaft abgelesen werden. Nein, es ist nicht daran zu denken, daß noch in seiner Säkularisierung im Fortschritts­ glauben der Messianismus eine ungebrochene und ungeheure Macht beweist.7,7 Die Fortschrittsidee hat ganz sicher infolge der raschen Ent­ täuschungen ihrer frühen Erwartungen auf abschließende Gesamtresultate die Erweiterung zum unendlichen Fort­ schritt erfahren. Descartes hat noch an die Erreichung der theoretischen und praktischen Endziele seines Methodenpro­ gramms während seiner Lebenszeit ernstlich gedacht, also an die Vollendung der Physik, der Medizin und in deren unmit­ telbarer Konsequenz der Moral. Die Unendlichkeit war also

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kaum die Erringung eines göttlichen Attributs für die mensch­ liche Geschichte, sondern zunächst eine Resignationsform. Die Gefahr dieser Hyperbel der Fortschrittsidee ist die notwen­ dige Enttäuschung jedes Individuums im Kontext der Ge­ schichte, an seiner Stelle die Arbeit für eine Zukunft zu lei­ sten, in deren Genuß es nicht kommen kann. Trotzdem hat die Vorstellung des unendlichen Fortschritts auch eine Schutz­ funktion für das faktische Individuum und für jede faktische Generation in der Geschichte. Gäbe es ein immanentes Endziel der Geschichte, so würden dadurch diejenigen, die es zu ken­ nen glauben und seine Erreichung zu betreiben vorgeben, le­ gitimiert, alle anderen, die es nicht kennen und nicht betrei­ ben können, als bloße Mittel zu gebrauchen. Auch der un­ endliche Fortschritt mediatisiert jede Gegenwart für ihre Zu­ kunft, aber er läßt jeden absoluten Anspruch hinfällig wer­ den. Diese Fortschrittsidee entspricht am ehesten dem einzigen Regulativ, das die Geschichte menschlich erträglich machen kann, nach dem nämlich alle Handlungen so beschaffen sein müssen, daß durch sie Menschen nicht zu bloßen Mitteln wer­ den. Wäre die Eschatologie oder wäre der Messianismus tat­ sächlich der substantielle Ausgangspunkt des neuzeitlichen Geschichtsbewußtseins, so wäre es nachhaltig und unausweich­ lich durch Zielvorstellungen bestimmt. Dieser Satz läßt sich nicht umkehren zu der Behauptung, daß dort, wo absolute Zielvorstellungen auftreten, wie in der definitiven Moral des Descartes oder in der Wiedergewinnung des Paradieses des Francis Bacon, Säkularisierungen schon sichergestellt wären.

IV V erweltlichung durch Eschatologie statt Verweltlichung der Eschatologie Im Gegensatz zum Vorsehungsgedanken, der aus der helleni­ stischen Philosophie in die patristische Literatur übernommen worden ist, ist die biblische Eschatologie ein genuin theologi­ sches Element; Weltzyklen und Weltverbrennungen sind in der griechischen Philosophie immanente Naturvorgänge, Selbstauszehrungen des kosmischen Prozesses, denen Selbst­ wiederherstellungen entsprechen. Die Bevorzugung der Escha­ tologie vor der Pronoia in den Säkularisierungstheoremen entspricht daher einem ganz soliden, wenn auch unausdrück­ lichen Verständnis für das Kriterium der genuinen Zugehö­ rigkeit eines Elements, von dessen später Verweltlichung sinnvoll soll gesprochen werden können. Der Vorsehungsge­ danke konnte schon deshalb nicht in einer späten Phase der christlichen Geschichte säkularisiert werden, weil er seinerseits am Anfang dieser Geschichte an der einen und grundlegen­ den Verweltlichung des Christentums mitgewirkt hatte, die in der Zurückdrängung der Eschatologie und der Wiederherstel ­ lung der Frist für die Geschichte bestanden hatte. Daß die Welt im ganzen gut verwaltet wird, hat nur dann einen be­ friedigenden Sinn, wenn ihr Bestand wieder zu einem Wert werden soll. Das Merkmal des ursprünglichen Eigentums als Kriterium für die Möglichkeit von Säkularisierung kann also nicht mit dem Einwand erledigt werden, damit würde der Nachweis der absoluten Ursprünglichkeit verlangt, die es in der Ge­ schichte nicht gebe. Wenn jemand dazu neigt, spekulative Ternäre und Triaden als Wirkungen der göttlichen Trinität des Christentums anzusehen, so hat er das Kriterium der ge­ nuinen Zugehörigkeit in anderer Weise auf seiner Seite, als wenn jemand die rationalen Einheitszwänge der Monismen auf die Bedeutung des Monotheismus im Christentum zurück­ 46

führen will. Vielleicht wäre es richtiger gewesen, statt von dem ursprünglichen Eigentum von einer hochgradigen Spezi­ fität des der Säkularisierung verdächtigen Elements zu spre­ chen. Wenn Georg Simmel den Ausbruch des Ersten Welt­ krieges als die >absolute Situation erkannt zu haben glaubte, so fehlt noch für den Anflug einer säkularisierenden Entnah­ me zwar nicht die Affinität zu theologischem Denken über­ haupt, aber jede Spezifität einer christlichen Homologie noch dann, wenn man zugibt, daß die absoluten Forderungen der neutestamentlichen Bergpredigt auf so etwas wie eine »absolu­ te Situation bezogen gewesen sein müssen. Am deutlichsten würde die spezifische Zugehörigkeit einer Vorstellung zum theologischen Horizont bezeugt durch eine Art von urheber­ rechtlichem Eigentumsverhältnis, an dem sich dann eine Ent­ eignung drastisch vorführen ließe. Dieses methodische Ideal kann allerdings den Standpunkt innerhalb des Bezugssystems der Neuzeit nicht verleugnen. Der Gedanke des Eigentums an dem originär Produzierten, Gedachten und Geschaffenen ist neuzeitlich. Noch die Begründung des göttlichen Rechts an der Schöpfung ist der Tradition nicht so selbstverständlich wie es denen erscheint, die daraus >naturrechtliche< Folgerun­ gen ziehen. Es kommt jedoch noch hinzu, daß die Theologie selbst im strengen Sinne keine Urheberschaft für ihre Inhalte beanspruchen kann, sofern sie diese auf den Akt einer >Schenkung< durch Offenbarung zurückführt. Andererseits würde der ganze Komplex Säkularisierung das Odium der Verlet­ zung eines fremden Rechtes nie angenommen haben, wenn nicht offen oder verhohlen die Prämisse mitgemacht würde, hier sei aus einer einzigartigen und einmaligen, unüberbiet­ baren Quelle etwas in den Strom der Geschichte eingeflossen, was ihr sonst vorenthalten geblieben wäre. Der ganze Pro­ zeß der Historisierung der biblischen Gehalte hat diese Sup­ position des Säkularisierungstheorems nicht herausbrechen können. Die historische Theologie hat das Christentum fast abschlie­ ßend als das Resultat seiner hellenistischen Umwelt darge­

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stellt. Man versteht, daß das Säkularisierungstheorem nur im Zusammenhang mit dem Widerspruch gegen diese historische Rückgliederung erneut aktuell werden konnte, also sowohl mit der dialektischen Theologie als auch mit der Herauslö­ sung des >Kerygma< aus den mythologischen Weltbedingungen seiner Herkunft. In diesem Sachverhalt liegt die implizite Anerkennung des Kriteriums der Authentizität. Aber diesem Kriterium hält am Ende der großen Kampagne des Historis­ mus kaum noch etwas stand. Vor allem muß ins Auge gefaßt werden, daß die hellenistischen Materialien der frühen Chri­ stianisierung anderthalb Jahrtausende später wieder zur Ver­ fügung stehen, um nun ohne Durchgang durch das Christen­ tum unmittelbar das zu leisten, was dann als Säkularisierung >erscheintnatürlichen Systems< der frühen Neuzeit hingewiesen hat, hat dies eine Fülle von Behauptungen über vermeintliche >Säkularisierung< nicht verhindern können. Wenn Auguste Comte programma­ tisch davon spricht, die Vorsehung zu organisieren, so gibt es zwar keinen Zweifel, an welche Adresse er sich wendet — nämlich an die eines diffusen religiösen Vertrauens in die vä­ terliche Regelung der Weltangelegenheiten3 8 -, aber dem Philosophen wird niemand bestreiten können, daß er von

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einem Begriff ausgeht, der das Neue Testament nicht einmal gestreift hatte. Die Beweislastfrage richtet sich also nicht nur auf das ursprüngliche Eigentum der christlichen Tradition an dem, was von ihr tatsächlich mitgeführt und der Verweltli­ chung hätte überlassen werden können, sondern sie muß die Tatsache und die Funktion der vom Mittelalter unabhängigen Wiederentdeckung der Antike ernst nehmen, durch die den christianisierten Elementen die autochthonen Korrelate ent­ gegenstellt wurden. Was als verweltlichte Rückbildung er­ scheinen könnte, kann immer wieder das weltliche Original selbst sein, freilich nun in einer antithetisch veränderten Funktion. Eine aufschlußreiche Variante der Beweislastfrage für die Säkularisierungsthese tritt in der >Entmythologisierung< bei Rudolf Bultmann auf. Inmitten der historischen Bedingtheit und Rezeptionsfülle der neutestamentlichen Texte will Bult­ mann einen unauflösbaren und originären Kern retten, der jedem Historismus durch seine formale Weltlosigkeit wider­ steht. Dieses >Kerygma< kann kraft seiner Definition nicht säkularisiert werden: es kann nicht in Weltlichkeit »überge­ hens sondern nur in ihr »verschwindens Das ist festzuhalten, wenn Bultmann von der Vergeschichtlichung der Eschatologie spricht, die von Paulus eingeleitet und von Johannes radikal durchgeführt worden sei.39 Die Theologie kehrt immer wie­ der zu ihren klassischen Häresien zurück: die Lehre vom Kerygma ist eine Variation über den Doketismus, die Säkulari­ sierung repetiert die wie auch immer aufgefaßte Inkarnation. Deshalb entzückt sie den Theologen als ein Vorgang, der ihm grundvertraut ist: der deus revelatus wird in der Vergeschichtlichung wieder zum deus absconditus, als der er sich geoffenbart hatte. Die Säkularisierung transformiert nicht, sie verbirgt nur, was die Welt nicht erträgt und was nicht ertra­ gen zu können sie qualifiziert. Was der Neutestamentler Bult­ mann dem Geschichtsphilosophen Bultmann voraus hat, ist der auf den Anfang der christlichen Geschichte vorverlegte Anlauf des Prozesses der Verweltlichung, denn die Säkulari­

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sierung ist mit jener frühen Vergeschichtlichung der Escha­ tologie zwischen Paulus und Johannes schon entschieden. Was sich so formal gibt, ist selbst ein gnostischer Mythos: uner­ reichbar für die Herrschaft der Mächte der Welt ist nur der unberührbare Kern des Pneuma auf der Seite des Menschen und der zu ihm vordringende Heilsruf des Kerygma auf der Seite Gottes. Die Entscheidung fällt in der Geschichte, aber nicht durch sie. Aber zugleich zehrt die frühe Vergeschichtlichung des elementaren Heilsgehaltes die Substanz auf, die als späte Säkularisierung nochmals die Epoche der Neuzeit er­ klären könnte. Wie sollte das, was kraft der ihm zugeschrie­ benen transzendenten Natur fast vom Augenblick seiner Pro­ klamation an dem Schicksal der Vergeschichtlichung unter­ lag, was als kosmische Eschatologie schon seine (ohnehin nur rekonstruierbare) Authentizität verloren hatte, was als unbe­ stimmte Erwartung der Weltkatastrophe dem spekulativen Kalkül über Patristik und Scholastik hinweg preisgegeben war, nochmals >säkularisiert< werden können? Eben dies scheint der Geschichtsphilosoph Bultmann anzunehmen, wenn er sagt, die Fortschrittsidee behalte den Gedanken der eschatologischen Vollendung in säkularisierter Form bei; oder wenn er die Geschichtsanschauung Kants als eine moralistische Säkularisierung der christlichen Geschichtsteleologie mit ihrer Eschatologie bezeichnet; oder wenn er schließlich bei Hegel die Säkularisierung des christlichen Glaubens bewußt und konsequent durchgeführt sieht/0 Die kosmische Eschatologie der Weltzerstörung und des Welt­ gerichts ist für Bultmann an die Stelle des unmittelbar >die Existenz< fordernden transzendenten Kerygma getreten. Sie kann daher aus dem weltlichen Zusammenhang der kosmolo­ gisch-zyklischen Spekulationen im hellenistischen Geistesraum hergeleitet und einem Grundmythos von der stoischen Art der ständigen Welterneuerung zugeordnet werden, dessen Redu­ zierung auf nur eine Periode bei Bultmann als bloße Sonder­ form der jüdischen Apokalyptik eigen ist.41 Nun kann man Bedenken haben, ob es richtig ist, die Trennung von zykli­



scher Verlaufsform des Weltprozesses einerseits und einmali­ ger Geschichtsentscheidung andererseits als bloß quantitative Verkürzung jenes Grundmythos auszugeben; mir scheint da­ bei unbeachtet zu bleiben, daß die zyklische Kosmologie nur auf dem Boden einer positiven Wertung dessen, was sie durch alle Zeiten wiederholt, ausgebildet werden konnte, also das späte und besondere Naturverhältnis der Stoa voraussetzte. Die jüdische Apokalyptik enthält überhaupt kein kosmolo­ gisches Interesse dieser Art, vielmehr kompensiert sie das Scheitern der geschichtlichen Erwartungen einer Nation mit der Prophezeiung geschichtsjenseitiger Erfüllung. Sie ist eine Theodizee, die den Bündnisgott des Alten Testaments durch Entwertung der innerweltlichen Volksgeschichte rechtfertigt, für die seine Gunst einst verbürgt worden sein sollte. Keine hellenistische Kosmologie konnte diese Funktion der Weltent­ wertung übernehmen. Dieser Einwand ändert im Kontext Bultmanns aber nichts daran, daß die apokalyptische Erwar­ tung als Kompensation eines auf Welt und Geschichte gerich­ teten Interesses selbst nur >weltlich< sein kann. Ihre Imagina­ tionen bleiben dennoch zu fern und großräumig, um für das Leben des einzelnen Menschen eine unmittelbare, sein Verhal­ ten affizierende und verändernde Bedeutung anzunehmen. Diese entsteht nicht durch die Verkürzung der Weltzyklen auf einen, sondern durch die nochmalige Verkürzung des ei­ nen auf die Lebenszeit der Generation, zu der von den End­ ereignissen gesprochen wird. Diese Umbildung zur Naher­ wartung radikalisiert die appellative und normative Dring­ lichkeit, sie schafft den Horizont für das Kerygma. Stellen wir die Frage einmal anders. Nicht so, was das ur­ sprünglich >Unweltliche< am Christentum ist, sondern was der Ausdruck >unweltlich< ursprünglich überhaupt meinen kann. Eine Präzisierung ist deshalb nötig, weil der platonisch­ neuplatonische Begriff der Transzendenz die genuine Unwelt­ lichkeit mit der räumlichen Schematik einer Außerweltlich­ keit überlagert hat. Wir sind an diese Überlagerung noch beim Verständnis des Begriffs der Säkularisierung gebunden:

verweltlicht kann nur werden, was seiner Herkunft oder Spe­ zifität nach außerweltlich zu sein prätendiert. Die Schematik der Transzendenz setzt einen Dualismus der Entscheidung zwischen gleichzeitig bestehenden Möglichkeiten, Intentionen, Richtungen voraus. Die Unweltlichkeit der biblischen Aus­ gangssituation impliziert eine andere Schematik: das Interesse für die Welt wird nicht durch eine Alternative in Frage ge­ stellt, sondern dadurch zur Sinnlosigkeit getrieben, daß für die Welt keine Zeit mehr ist. Nur dies, daß kein Verlaß auf ein natürliches Ende der Welt ist, schließt die im zyklischen Grundmythos des Weltverlaufs liegende naturalistische Domi­ nante aus. Der Weltbegriff wird aber nicht schon dadurch entkosmisiert, daß die Einmaligkeit des Gesamtverlaufs und da­ rin die Einzigkeit jedes Ereignisses angenommen wird. Die Schärfe der Differenz liegt in der neutestamentlichen Naher­ wartung, durch die die verheißenen Ereignisse der Parusie noch in das Leben des einzelnen und seiner Generation herein­ gerückt werden. Generationsjenseitige Zukunftshoffnungen sind nicht nur von quantitativ, sondern von qualitativ ande­ rer Art: sie versetzen nicht in den Ausnahmezustand. Die Naherwartung negiert jeden Dauerzustand, nicht nur den der Welt, sondern auch ihren eigenen, in dem sie sich selbst wi­ derlegen würde. Übersteht sie diese Selbstwiderlegung durch unvermerkte Wiederherstellung der Fernerwartung, der lang­ fristigen Unbestimmtheit, so wird die ihr spezifische Unweltlichkeit zerstört. In der christlichen Frühgeschichte stand eine andere und heterogene Unweltlichkeit vom Typus >Transzendenz< für eine Umbesetzung der vakanten Position bereit. Nicht die Verkürzung der kosmischen Umläufe auf einen ein­ zigen also, sondern die Gegenwärtigkeit der Krisis dieses ein­ zigen schafft das, was auch für ein nichttheologisches Ver­ ständnis im Neuen Testament als >unweltlich< bestimmbar ist. Natur und Geschichte sind davon gleichermaßen betroffen. Die akute Naherwartung reißt auch aus dem Geschichtsin­ teresse des Volkes heraus und drängt jedem einzelnen seine eigene Heilssorge als das Nächstliegende und unmittelbar

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Dringliche auf. Unter der Voraussetzung des detzten Augen­ blicks* können jedem Forderungen gestellt werden, die mit einem Realismus gegenüber der Welt nicht vereinbar und un­ ter der Voraussetzung ihres Fortbestandes lebenswidrig wä­ ren. Nimmt man dies als essentiell für den ursprünglichen Kern der christlichen Lehre, so hat es mit dem Begriff der Geschichte nichts oder eben nur das eine zu tun, daß es das absolute Desinteresse an Vorstellung und Erklärung der Ge­ schichte zum Kennzeichen der akuten Situation ihres Endes macht. Selbstbehauptung wird da zum Inbegriff des Sinnlo­ sen. In der weiteren Geschichte der christlichen Theologie wurde zwar mit heterogenen Vorstellungen und begrifflichen Mitteln gearbeitet, aber auf diesen Sinnverlust der Selbstbe­ hauptung durch die absolute Verschärfung der Heilssorge hat die Konsequenz des christlichen Denkens wieder hingetrieben. Für den Ausgang des Mittelalters und die Ausgangslage der Neuzeit wird das im zweiten Teil zu zeigen sein. Gerade dort also, wo die genuine Eigenart der neutestamentlichen Eschatologie erfaßbar wird, ist ihre Unübersetzbarkeit in einen wie immer definierbaren Begriff von Geschichte evi­ dent. Es gibt keine Geschichtsvorstellung, die sich ihrer Sub­ stanz* nach auf die Naherwartung berufen könnte. Auch wenn man sagt, es sei eine neue Intention auf die Zukunft als Dimension menschlicher Erfüllungen gewesen, was durch die Vergeschichtlichung der Eschatologie herbeigeführt wor­ den sei, so widerspricht das geradezu dem Grundvorgang der >FristverkürzungFreispruch< vor dem göttlichen Tribunal war denen bereits zugesprochen, die sich durch Taufe und Glauben dem Kreuzestod subsumieren und dadurch die Identität von Schuldigen verlieren konnten. Jo­ hannes ging konsequent noch den Schritt weiter zu sagen, daß auch das Gericht selbst schon vollzogen sei und der Glaubende das endgültige Heilsgut des >Lebens< schon besitze. Die Ten­ denz der Aufarbeitung jener eschatologischen Enttäuschung ging also nicht nur auf die Erklärung der Verzögerung, auf den Gewinn einer neuen Unbestimmtheit, sondern auf die Verlegung der Heilsereignisse in die Vergangenheit und auf den aus ihr entstandenen, nur noch >inneren< Besitz an Gewiß­ heit. Die Zukunft bringt nicht mehr das radikal Neue, die sieghaft hereinbrechende Überwindung des Unheils; sie wird vielmehr zum Spielraum der kunstvollen Umformungen und spekulativen Ausflüchte, mit denen die überlieferten Zeugnis­ se der Naherwartung dem unvermuteten Fortbestand von Welt und Zeit angepaßt werden mußten.42 Die eschatologische Zukunft war nicht nur unbestimmt gewor­ den, sondern hatte auch die Beziehung zu den der erlösten Menschheit schon übereigneten Heilsgütern verloren. Danach konnte die eschatologische Grundstimmung der christlichen Epoche nicht mehr die Hoffnung auf die Ereignisse des En­ des sein; sondern nur noch die Furcht vor Gericht und Welt­ zerfall. Hatte die Urgemeinde noch nach dem Kommen ihres Herrn gerufen, so bittet die Kirche alsbald pro mora finis, um Aufschub des Endes.43 Der Geschichtsbegriff, der sich in dieser Grundstimmung allenfalls herausbilden konnte, ist der einer Gnadenfrist, nicht einer in die Zukunft gerichteten und dort Erfüllung suchenden Erwartung. Die Endereignisse wer­ den zu einem geheimen Vorbehalt Gottes gegenüber der Ge­

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schichte, der weniger das menschliche Bewußtsein vor seine Heilsentscheidung stellt als vielmehr zur Rechtfertigung Got­ tes dafür dient, daß er die Christen vor den Wirkungen sei­ nes Zornes gegenüber den Heiden nicht verschont und ihnen damit den Preis für den erflehten Fortbestand eines aus Er­ wählten und Verworfenen weiterhin ungeschiedenen genus humanum auferlegt. Das frühe Christentum kam in die angesichts seiner Grün­ dungsurkunden schwierige Lage, einer ungläubigen Umwelt die Zuverlässigkeit seines Gottes nicht an der Erfüllung sei­ ner Verheißungen, sondern an der Verzögerung dieser Erfül­ lung demonstrieren zu müssen. Da er einmal das ewige Ge­ richt für die Zeit nach dem Ende der Welt festgesetzt hat, “vollzieht er die Scheidung, die Voraussetzung des Gerichtes ist, nicht vor dem Ende der Welt. In der Zwischenzeit ist er in Güte und Zorn der gleiche für das ganze Menschenge­ schlecht.44 Um sich der bedrängenden, aber auch selbst be­ drängten Umwelt als gemeinnützig zu erweisen, verweltlicht sich die alte Kirche zum stabilisierenden Faktor. Zugleich da­ mit >organisiert< sie ihre Weltlichkeit nach innen, am deutlich­ sten in ihrer Gemeindegerichtsbarkeit, die Tertullian als höchste Vorwegnahme des künftigen Gerichts bezeichnet.4 5 Das mit Gebetsgewalt für die Welt erstrittene Interim füllt sich mit Surrogaten der absoluten Gerechtigkeit auf; diese wird dadurch nicht vorbereitet, sondern hinsichtlich des Be­ dürfnisses nach ihr entbehrlich gemacht. Und Tertullian ist kein abseitiger Zeuge. Karl Holl hat zu seiner Abhandlung Tertullian als Schriftsteller die fast enttäuscht klingende handschriftliche Marginalie hinterlassen: Bei keinem Apologe­ ten die Hoffnung auf das baldige Wiederkommen des Herrn!4(> Wollte man den umrissenen Prozeß als >Säkularisierung< wenn auch an einer anderen Stelle als der dafür ordentlich vorgesehenen - gelten lassen, so wäre er jedenfalls nicht Ver­ weltlichung der Eschatologie, sondern Verweltlichung durch Eschatologie. Ihr Motor könnte dann sein, daß dem wieder­

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kehrenden Weltinteresse die neue Intensität der unverhofft wieder zugelassenen Weltaspekte zugute kommen mußte. Franz Overbeck hat geschrieben, das Ende der Welt habe der Kirche nur so lange nahe geschienen, wie sie noch nicht ein Stück dieser Welt erobert hatte. Aber diese Eroberung kam zu spät, um die nahe Erwartung verdrängen, die große Ent­ täuschung kompensieren zu können. Es muß umgekehrt gewe­ sen sein: die freigesetzte Energie des eschatologischen Aus­ nahmezustandes drängt darauf, sich in der Welt zu institutio­ nalisieren. Deswegen muß Overbecks Symmetriebehauptung noch nicht falsch sein: So lange die Kirche dieses Stück inne­ hat, ist sie auch interessiert am Fortbestehen dieser Welt; ist wirklich einmal das letzte Stück gefährdet, so wird sie auch schon in den alten Ruf einstimmen.^7 Trotz wiederkehrender eschatologisch-chiliastischer Erregungs­ wellen hat das Mittelalter die Tendenz fortgesetzt, die bib­ lischen Zeugnisse der Enderwartung allegorisch zu entschär­ fen, in großräumige und langfristige Spekulationen um­ zusetzen und die Aussagen von einem hereinbrechenden Heil umzuprägen in eine Systematik der Innerlichkeit des schon bewirkten und verbürgten, der Kirche als unerschöpflicher Gnadenschatz zur Verwaltung überlassenen Heilsgutes. Hin­ zu kam, daß die Einheit des Lehrstückes Eschatologie ausein­ andergerissen wurde: für das Mittelalter gab es eine kosmi­ sche und eine individuelle Eschatologie. Diese Spaltung mach­ te unausbleiblich, daß das Interesse des Menschen von der Frage nach seinen persönlichen »letzten Dingen« absorbiert wurde. Die späte Lehre von einem besonderen Gericht für je­ den im Augenblick seines Todes hat dem endzeitlichen allge­ meinen Gericht die Stelle eines nicht mehr bewußtseinswirk­ samen Finales zugewiesen. Die Dimension der Zukunft und der Hoffnung, von der in Säkularisierungstheoremen als einer für die Neuzeit aufzunehmenden Vorgabe die Rede ist, kommt in ihrer Blässe nicht auf gegen den realistischen Bil­ derreichtum der vergangenen Heilstaten. Das rechtfertigt nicht, jeden ästhetischen Realismus zum säkularisierten Ab­ 56

kömmling der christlichen Inkarnation zu machen; aber zwei­ fellos sind Darstellungsmittel an jener Erinnerung, nicht an der Hoffnung (eher an der Furcht), ausgebildet worden. In der christlichen Tradition ist das Paradies niemals attrak­ tiv gewesen; es wurde in Kauf genommen, weil es die Ver­ meidung seines Gegenteils war. Dies macht die Negation der Negation, die negative Dialektik, noch nicht zum Säkularisat. Aber es weist hin auf den unschätzbaren geschichtlichen Vor­ teil, behaupten zu können, der Messias sei noch nicht ge­ kommen. Was schon gewesen ist, kann nur enttäuschend sein. Die chiliastischen Schwärmer heiliger und weltlicher Peripe­ tien haben das immer begriffen. Der Messias, der schon er­ schienen ist, kann nur noch dogmatisch behandelt werden; man muß genau angeben können, wer er war, wie er sich ausgewiesen hat, was er hinterlassen hat. Die Harmonisierung des schon Gekommenen mit dem noch Kommenden war der frühe christliche Ausweg, die Vorzüge des unerfüllten Mes­ sianismus mit der Glaubensgewißheit an den schon ergange­ nen Freispruch zu verbinden. Auch wenn man in dem Funktionswandel der Eschatologie eine genuin biblische Substanz bis an die Schwelle der Neuzeit identifizieren könnte, wäre doch noch nach dem Merkmal der Einseitigkeit des Entzuges zu fragen, um dem behaupteten Vorgang der Säkularisierung seine Bestimmbarkeit zu ver­ schaffen. In der Substantivierung der Formel >Vergeschichtlichung der Eschatologie< ist doch kunstvoll die Angabe ausge­ spart, wer die Eschatologie vergeschichtlicht, wenn sie es nicht an sich selbst tut. Aber gerade dies ist die Quintessenz des dargestellten Sachverhalts, daß kein fremder oder äußer­ licher Faktor im Spiele ist, der die authentische Substanz der eschatologischen Vorstellungen in seinen Dienst nimmt, son­ dern daß die Eschatologie sich selbst vergeschichtlicht, aber nicht dadurch, daß sie sich transformiert und dadurch in einem Scheinleib erhält, sondern indem sie die Umbesetzung ihrer Stelle mit heterogenem Material erzwingt. Hier gerät man an sprachliche Doppeldeutigkeiten. Sicher läßt sich sa­

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gen, daß die Zwangslage der eschatologischen Enttäuschung die Ansprüche >dieser Welt< wirksam werden läßt. Es gibt Formen der Enteignung, in denen die Preisgabe von Substanz durch Vorwegnahme des Entzuges das Aussehen des freien Entschlusses annimmt. Hermann Zabel hat gegen meinen Ka­ talog der Kriterien von Säkularisierung geltend gemacht, daß das Moment des einseitigen Entzuges selbst in historischen Rechtsvorgängen dort gefehlt habe, wo die Kirche Bestände ihres Eigentums spontan säkularisiert hat. Auch wenn man die Allgewalt des materiellen Interesses nicht im voraus ein­ zuräumen bereit ist, wird man doch im Einzelfall untersu­ chen müssen, ob nicht die Situation der Preisgabe Züge des akuten oder chronischen Zwangs an sich hatte, was noch dann der Fall ist, wenn es sich um eine Prävention der Klugheit gehandelt hat.48 Bezogen auf den Vorgang der frühchristli­ chen >Vergeschichtlichung der Eschatologie< kann man die Redeweise wählen, die Zwangslage des einseitigen Entzuges durch eine >weltliche< Instanz sei allein durch den der Ver­ kündigung nach unzulässigen Fortbestand eben dieser Welt entstanden. Der Historiker muß aber noch einen Schritt wei­ tergehen: was der Ausdruck >Welt< bezeichnet, ist überhaupt erst in dem Vorgang jener >Umbesetzung< der akuten Ender­ wartung entstanden. Jetzt erst ist zu verarbeiten, daß es die Schöpfungswelt war, die in der eschatologischen Verkündi­ gung zur Episode herabgesetzt und zum Untergang verurteilt worden war. Nur der große Marcion konnte dieses Dilemma dualistisch und damit mythisch auflösen. Der Dualismus von Heilssphäre und Schöpfungswelt war so unvermeidlich, daß er auch in den orthodoxen Systemen auftreten mußte, wenn auch mit der Erleichterung der politischen Figuralisierung der Gegeninstanz wie in Augustins doppelter Civitas. Erst nach­ dem zwei Rechtssubjekte entstanden sind, kann die Ge­ schichte der Eigentumsübergänge im strikten Sinne beginnen, in der es ebenso echte und falsche Schenkungen (und damit >Sakralisierungenweltlich< bezeichnet werden kann, ist nur der korrespondierende Ausdruck des Selbstverständnisses der anderen als »nicht von dieser WeltWeltlichkeit< be­ gründet hatte. »Weltlichkeit gab es nicht, bevor es nicht »Unweltlichkeit< gab. Es war die aus dem Zugriff ihrer Negation zu sich selbst entlassene, ihrer Selbstbehauptung und deren Mitteln überlassene, für das wahre Heil des Menschen unzu­ ständige, aber dennoch um dieses mit dem Angebot der Be­ ständigkeit und Verläßlichkeit konkurrierende Welt. Diese genuine Weltwerdung ist nicht eine Verweltlichung als Trans­ formation von Vorgegebenem, sie ist so etwas wie die pri­ märe Kristallisation einer zuvor unbekannten Realität. Säku­ larisierung als Übergriff setzt die historisch perfekte Ab­ grenzung der Kompetenzen für Heil einerseits und Wohl­ fahrt andererseits, dazu die Versetzbarkeit der Akzente, schon voraus. Die weltliche Instanz, die im Vorgang der Säkularisierung als handelnd vorgestellt wird, ist ihrerseits und als solche ebenso wie ihre sich als >unweltlich< ausgebende Gegenspiele­ rin ein Produkt des ursprünglich unzulässigen Fortbestandes der Welt, die nicht bleiben konnte, was sie vorher gewesen war. Dadurch verliert die Rivalität der Instanzen, die in dem Begriff der Säkularisierung vorausgesetzt ist, den Zug eines fast gnostischen Dualismus. Die Identifizierung der autono­ men Vernunft mit der so entsprungenen Weltlichkeit ist eine voreilige Interpretation und wohl dem Wunsch zuzuschrei­ ben, Vernunft an dem dämonisierenden Effekt jener Entzwei­ ung partizipieren zu lassen. Wenn schon nicht >DämoniePositivismusUmbe­ 60

setzung< erklärt nicht, woher das neu eingesetzte Element stammt, nur welche Weihen es empfängt. Wenn man hier von einer Entfremdung oder Enteignung, von Umdeutung oder Überdeutung sprechen will, so bezog sie sich nicht auf die theo­ logische Substanz der Eschatologie in ihren mittelalterlichen Spätformen, sondern der Zugriff erfolgte auf die unabhängig entstandene Idee des Fortschritts, deren authentische Rationa­ lität dabei überzogen wurde. Als eine Aussage über die To­ talität der Geschichte und damit der Zukunft ist der Fort­ schrittsgedanke von seiner empirischen Grundlage in der Er­ weiterung der theoretisch zugänglich und verfügbar gewor­ denen Realität und in der Leistungsfähigkeit der dabei effek­ tiven theoretischen Methodik abgezogen und heteronom funktionalisiert worden. Die Umwandlung in einen die Zu­ kunft einschließcnden Glauben erfordert mehr, als daß Fort­ schritt ein geschichtsimmanentes Prinzip ist — also aus der in einzelnen menschlichen Handlungen wirksamen Vernunft sich hervorbringen kann -, sie setzt noch dazu voraus, daß dieses Prinzip auch faktisch wirksam ist und bleibt. Noch Auguste Comtes Gesetz von den drei Phasen der Geschichte steht un­ ter dem Erklärungszwang, von der dritten >positiven< Phase her (in der dieses Schema doch erst proklamiert wird) und un­ ter den Bedingungen ihrer kritischen Restriktionen eine gar nicht mehr mögliche Totalität der Geschichte zu entwerfen. Diese Art von Geschichtsphilosophie begeht den Widerspruch, sich selbst von der rationalen Kritik auszuschließen, die sie sich als Kennzeichen ihres geschichtlichen Standorts zuweist. Auch Hegels Geschichtsphilosophie ist der erst späte und nach­ trägliche Versuch, das Geschichtsmodell der Aufklärung wie­ der derart an das christliche Geschichtsverständnis anzuschlie­ ßen und zu ihm in Beziehung zu setzen, daß die Identität der sich geschichtlich realisierenden Vernunft noch in einer un­ tergründigen Konstanz der realisierten Ideen bestätigt gefun­ den werden kann. Soweit Geschichtsphilosophie auf die Be­ stimmung einer Totalstruktur ihres Gegenstandes fixiert bleibt, steht sie unter der Belastung durch die reell nicht mehr

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einlösbaren Verbindlichkeiten gegenüber dem Fortbestand der großen Fragen. Ein Moment hat in der frühen Formierung der Fortschritts­ idee keine Bedeutung gewonnen: das der Prozeßintensität, der Beschleunigung. Sobald die neuen Aufgaben erkennbar das Zeitmaß einer Generation und ihrer nächsten Zukunft zu überschreiten begannen, mußte das Motiv der Zeitraffung des theoretischen, technischen und möglichst sogar des morali­ schen Prozesses zum Interesse der daran Beteiligten und da­ von Betroffenen werden. Diese Beschleunigung hat nicht nur Erwartungen geweckt und verstärkt, sondern auch Unbeha­ gen, Mißtrauen, negative Utopien, Zukunftsängste, Unter­ gangsvisionen ausgelöst. Aber das führt nicht zu einem Grenzwert des akzelerierten Geschichtsablaufes, der die Dif­ ferenz von Fortschrittsidee und Eschatologie so verwischen könnte, daß die Zukunftseinstellung wieder dem Glauben an eine nahe bevorstehende radikale Änderung der Weltgeschichte entspricht, also einen säkularisierten Chiliasmus darstellt.50 Es gibt keine Rechtfertigung dafür zu sagen, diese Beschleu­ nigung sei zunächst eine apokalyptische Kategorie, in der sich die verkürzten Abstände für die Ankunft des Jüngsten Ge­ richtes ausdrückten, und diese Kategorie habe sich seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in einen geschichtlichen Hoff­ nungshegriff >verwandeltVerweltlichung< 62

liegt auf Seiten von Melanchthon, der auf eine solche Verlän­ gerung des Bestandes der Welt zu spekulieren ermuntert, daß ihr Ende die lebenden Generationen schon nicht mehr betrifft und das Arrangement mit der Welt lohnend bleiben läßt. Die vier Jahrhunderte Melanchthons enthalten nicht das säkulari­ sierte theologische Element der verkürzten Endzeit, sondern die Abschiebung der Realität des Endes aus dem Bewußtsein, die potentielle Aufwertbarkeit und Auswertbarkeit der Zeit durch Verdichtung dessen, was in ihr geschieht. Gerade das Mißverhältnis zwischen der natürlichen Lebenszeit und den sich herausstellenden Zeitansprüchen des neuzeitlichen Fort­ schrittsprogramms ist das rationale Motiv der Akzeleration, nachdem der andere und früher ins Auge gefaßte Weg sich als ungangbar erwiesen hatte, die individuelle Lebensdauer durch medizinische Kunst dem neuen Weltbedarf anzupas­ sen. Die Geschichte der Beschleunigungsfaktoren, die noch zu schreiben ist, dürfte sich nicht an dem Vorkommen von Aus­ drücken der Steigerung des Tempos festhalten, sondern müßte die frühere Phase der Erfahrung von Ungeduld mit der Langsamkeit des Prozesses, der Resignation wie der Ermuti­ gung vor dem immer größer erscheinenden Zeitverbrauch des Fortschritts aufarbeiten.

V Geschichte machen zur Entlastung Gottes?

Definiert man den Fortschritt einmal nicht als Zuwachs an Gütern, sondern als Minderung der Übel in der Welt, so wird deutlicher sichtbar, worin die Differenz des neuzeitlichen Ge­ schichtsbegriffs zur christlichen Geschichtsauffassung eigent­ lich besteht und womit diese jenen ins Unrecht zu setzen ge­ nötigt war. Nicht die Aufschiebung und Auflösung eines transzendenten Heilsbegriffs in der Geschichte und als Ge­ schichte ist das anstößige Moment, sondern die Störung der Funktion einer Theodizee, die mit dem Argument des durch den Menschen verschuldeten Übels operiert. Nach der von Augustin entwickelten exemplarischen Vorstellung sind die physischen Mängel an der Schöpfung nichts anderes als die gerechten Strafen für das aus der menschlichen Freiheit her­ vorgegangene Böse. Die biographische Unausweichlichkeit die­ ses Gedankengangs lag darin, daß er den gnostischen Dualis­ mus von gutem und bösem Weltprinzip zu vermeiden ermög­ lichte. Allerdings mußte der bekehrte Gnostiker ein Äquiva­ lent für das kosmische Prinzip des Bösen im Schoße der Menschheit selbst schaffen. Er fand es in der erblichen Sündigkeit als einer konstanten und nicht erst durch Summierung fehlerhafter Handlungen entstehenden Verderbnis. Zwar ist diese erblich, aber sie ist zugleich auch die Disposition zur Vermehrung des aktuellen Bösen und damit zur ständigen Minderung der Realitätschancen des Guten — ein negatives >FortschrittsTheodizee< erst durch Leibniz zur auch so benannten literarischen Realität geworden. Obwohl jedoch Leibniz auf die Herausbildung des Geschichtsbegriffs der Neuzeit durch seine Begründung der positiven Einzigkeit

des Individuums Einfluß ausgeübt hat, ist dies nicht durch seine Theodizee geschehen. Und konnte es auch nicht. Denn in diesem Werk ist der Ansatz zu einer Geschichtsphilosophie gerade dadurch ausgeschlossen, daß es die Qualität der wirk­ lichen Welt als die der besten aller möglichen behauptet. Das führt auf eine optimistische Statik der Unüberbietbarkeit, die dem Menschen hinsichtlich der Bewirkung einer »besseren Welt< seine Bedeutung nimmt. Ein wesentlicher Zug der Argumentation von Leibniz, durch den er sich von Augustin unterscheidet, ist die Integration der Übel an der Welt in den Schöpfungszweck. Auch der durch sein Werk zu rechtfertigende Gott darf die physischen Übel in dem Maße selbst mit hervorbringen, in welchem sie zur Erreichung des optimalen Gesamtzwecks unvermeidlich sind. Ein Zusammenhang zwischen diesen Übeln und dem mensch­ lichen Handeln, auf das sie sich als Vergeltungen beziehen, besteht nicht mehr. Die Theodizee von Leibniz qualifiziert das Übel in der Welt nicht mehr moralisch, sondern instru­ mental. Leo Strauß hat gerade hierin das Moment der >Säkularisierung< gesehen, daß nicht nur die Vorsehung für die Vernunft ihr Geheimnis verloren habe, sondern zugleich auch der absolute Anspruch der göttlichen Gesetze überlagert wor­ den sei durch die Rechtfertigung verwerflicher Mittel mit der Erhabenheit des Gesamtzwecks. Insofern arbeitet die Theo­ dizee dem modernen Geschichtsbegriff vor, indem sie die Ra­ tionalität des absoluten Zwecks am göttlichen Modell demon­ striert. In dem Maße, in dem die Ordnung der göttlichen Vorsehung mehr und mehr als für den Menschen verständlich und daher das Übel als offensichtlich notwendig und nützlich angesehen wurde, verlor das Verbot, Böses zu tun, seine Evi­ denz. Deshalb konnten verschiedene Handlungsweisen, die zuvor als böse verdammt wurden, jetzt als gut angesehen werden.55 Ist mit dem Absolutismus der Zwecke die Brücke gefunden, über die die Säkularisierung des Vorsehungsbegriffs zum Ge­ schichtsbegriff erfolgt sein kann? Die Theodizee ist alles

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andere als ein theologisches Werk, nicht einmal das mögliche Säkularisat eines solchen. Aus einem einsichtigen Grunde: die Rechtfertigung Gottes ist für Leibniz die Sicherung des radi­ kalsten Prinzips der philosophischen Autonomie, das sich denken läßt, des Prinzips vom zureichenden Grunde. Die ein­ zig mögliche Anwendung dieses Vernunftprinzips besteht dar­ in, daß die Voraussetzung, die beste aller möglichen Welten sei verwirklicht, auf jede denkbare Frage die Antwort abzu­ leiten erlaubt. Ich weise nur darauf hin, daß bei Leibniz die Idealisierung von Raum und Zeit gegen Newton damit be­ gründet wird, daß sie wegen der homogenen Indifferenz ihrer Teile gegeneinander rationale Begründungen für Handlungen ausschließen, die Setzungen in Raum und Zeit implizieren. Alles ist darauf angelegt, die Allzuständigkeit und Unabhän­ gigkeit der Vernunft zu realisieren. Und man entzieht sich schwerlich dem Eindruck, daß sie hätte gelingen müssen — wenn nicht das Erdbeben von Lissabon gekommen wäre, der Spott Voltaires und der Nachweis Kants, daß jene Investitur der Vernunft zwar die Autonomie der theoretischen, nicht aber die der praktischen Vernunft begründen konnte. Schließlich hat Odo Marquard den Versuch gemacht, Hegels Selbstverständnis seiner Geschichtsphilosophie als >Theodizee< auf die Interpretation der idealistischen Geschichtsphilosophie insgesamt anzuwenden. Sie liefert eine Lösung des Theodi­ zeeproblems, indem sie die menschliche Autonomie derart ra­ dikalisiert, daß sie damit zugleich nach dem Schema Augu­ stins den radikalen Nachweis der Schuldlosigkeit Gottes füh­ ren kann.54 Bedeutet die Annahme dieser These, daß in der reichsten und anspruchsvollsten Ausprägung von Geschichts­ philosophie doch schließlich säkularisierte Theologie vorläge? Marquard verwendet diesen Begriff nicht. Aber auch für ihn ist das Theodizeemotiv die Antwort auf die Frage, ob es für den Idealismus vielleicht doch ein auch theologisch plausibles und honoriges Motiv gebe, die Autonomie d. i. die menschli­ che Freiheit Gott gegenüber zu radikalisieren - im Extrem­ fall in einem Maß, daß die Rede von Gott verstummen muß. 67

Nun werden allerdings Anlaß und Leistung einer Theodizee dieser Art exemplarisch an Kants Entdeckung des Antinomi­ enproblems und seiner Überwindung in der transzendentalen Dialektik abgelesen. Daß die Vernunft in der Vollstreckung ihres Erkenntnistriebes ihre größten Selbsttäuschungen her­ vorbringt, übertrifft noch einmal den genius malignus des Descartes, indem es nicht mehr nur hypothetische Konsequenz ist, sondern die Realität der immanenten Bewegung der Ver­ nunft erschließt. Aber zugleich ist die Verschärfung des Argu­ ments die Entlastung des Gottes, der in seiner absoluten Souveränität für Descartes der trügerische Geist noch hätte sein können, während Kant in der transzendentalen Wen­ dung seiner Kritik der Vernunft den Ursprung der Täuschung im vernünftigen Subjekt selbst sowohl sieht als auch überwin­ den läßt. Mag zunächst hiermit der Mensch nur die >Schuld< für die theoretischen Verirrungen seines unkritischen Ver­ nunftgebrauchs selbst übernehmen, so könnte sich doch dies zugleich als Formel für die Entlastung Gottes von der Ver­ antwortung für die Torturen der Geschichte angeboten ha­ ben. Man darf hierbei nicht vergessen, daß der Begriff von den Übeln in der Welt sich seit Augustins Abwendung von der Gnosis verschoben hatte und bis auf den heutigen Tag immer mehr verschoben hat: die Übel in der Welt erscheinen immer weniger deutlich als physische Mängel der Natur, immer mehr und wegen der technischen Verstärker eindeutiger als Resultate menschlicher Handlungen. Insofern reflektiert die Geschichtsphilosophie bereits eine Lage, in der der Mensch immer weniger unter den Mängeln der Schöpfung, immer mehr unter den Geschöpfen seinesgleichen leidet. Das mußte eine neue Spielart der Gnosis und nicht weniger konsequent eine neue Konzeption der Apostasie von ihr heraufführen. Die idealistische Geschichtsphilosophie wäre nach Marquard vielleicht nicht in ihrem Gehalt und in ihrer formalen Struk­ tur eine säkularisierte Theologie, wohl aber ihrer Funktion nach. Sie wäre eine sich mit Rücksicht auf die Rechtfertigung Gottes als Anthropologie aussprechende Theologie, oder bes­

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ser (nämlich mit Marquard): eine konsequenterweise durch­ weg sich selber verhindernde Theologie. Ob nun die Ge­ schichtsphilosophie die mittels der Theodizee ausgeübte List der Theologie ist, mit der sie ihre von Feuerbach behauptete Auflösung in Anthropologie doch nur zur gründlicheren und endgültigen Entlastung ihres Gottes betreibt, brauche ich zum Glück hier nicht zu diskutieren. Es bleibt daher die Frage, ob die Abhängigkeit von der Theodizee als dem zentralen Mo­ tiv indirekte Säkularisierung einer ursprünglich theologischen Idee wäre. Diese Frage läßt sich schon deshalb nicht leicht übergehen, weil der von Odo Marquard behauptete Zusam­ menhang mindestens so plausibel ist wie die These von der okkupierten Eschatologie. Marquard teilt die von mir ver­ tretene Skepsis in bezug auf die heute übliche Herleitung der neuzeitlichen Geschichtsphilosophie aus dem eschatologischen Zukunftsdenken der Bibeln 5, aber im Grunde nicht deshalb, weil >Säkularisierung< zu viel an substantieller Identität mit der Theologie unterstellt, sondern weil sie für ihn zu wenig von der genuin theologischen Funktion dieser Philosophie bloßlegt. Auch für Marquard wird Säkularisierung zum Schein, der als solcher funktional erklärt werden kann: Ge­ schichtsphilosophie wäre so etwas wie indirekte Theologie«, die vom Menschen und immer wieder vom Menschen spricht, um das Gottesbild nicht zu trüben — wie jemand von einem bestimmten Thema konstant ablenkt, weil er weiß, daß jedes Wort einen Hinweis geben könnte, den er nicht zu geben wünscht. Nicht die Theologie ist die Transformationsstufe der Anthropologie, sondern umgekehrt: die philosophische Rede von der Geschichte und vom Menschen ist die vollendete Spätphase der Theologie in ihrer menschlich >vornehmsten< Form als Theodizee. Phänomene der Säkularisierung würden dann auf einem methodischen Atheismus ad maiorem gloriam Dei beruhen, der nichts anderes als die vielleicht einzig aus­ sichtsreiche Form der Theodizee wäre. Mein Einwand konzentriert sich auf die wenn nicht materiale so doch funktionale Identität von Theologie und Theodizee,

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sofern diese geschichtsphilosophisch auftritt. Das Autonomie­ prinzip ist, gerade wenn es als geschichtliches verstanden wer­ den soll, niemals radikal genug, um die Last der Totalver­ antwortung zu tragen, die seine Theodizee-Funktion erfor­ derte. Die Geschichtsphilosophie rechtfertigt nie die Welt als Schöpfung, sondern als zu Schaffendes. Marquard selbst defi­ niert die Geschichtsphilosophie durch ihr eines und einziges Merkmal, daß sie die eine Weltgeschichte proklamiert mit dem einen Ziel und Ende, der Freiheit aller.5 6 Aber gerade wenn Freiheit das Ziel und Ende ist, kann sie nicht das Mittel sein, um zu leisten, was hier geleistet werden soll: den absoluten Sündenbock für die absolute Güte zu spielen. Bei Augustin funktioniert das Schema doch nur deshalb, weil die eine erste und dann erbliche Sünde eben im Zustand der vollendeten Freiheit begangen wurde und daher totale Verschuldung sein kann; die Menschheit als geschichtsphilosophisches Subjekt, das sich durch die Geschichte hindurch und aus ihr herausar­ beitet, hat diese Freiheit nur als Idee und daher die aufzu­ bringende Schuld jederzeit noch nicht. Wenn die Geschichts­ philosophie in ihrer Gestalt als Theodizee die Rettung der göttlichen Güte sein soll, muß sie die Leugnung seiner All­ macht sein - diese von Voltaire gegen Leibniz errungene Ein­ sicht ist wahrscheinlich atheistisch, aber nicht in dem von Marquard vorgetragenen paradoxen Sinne, sondern in einem zerstörerischen. Denn die Defekte der göttlichen Allmacht sind die Möglichkeiten und Notwendigkeiten der menschli­ chen Selbstermächtigung in der Geschichte. Die Frage, wer da die Schuld zu tragen hat, wird angesichts der Frage der Macht blaß und bedeutungslos. Wo nicht gekonnt wird, kann auch nicht geschuldet werden. Voltaires Quasi-Theodizee der endlichen Macht ist destruktiv, weil sie für die Neuzeit nicht das eine Interesse erfüllt, das diese an einer Theodizee haben konnte: das der Begründung von Zuverlässigkeit. Die Allmacht ist zwar als solche nicht zuverlässig, aber nur sie kann es. sein. In der ihr von Leibniz gegebenen neuzeitlichen Gestalt steht die Theodizee schon



diesseits jeder theologischen Funktion; sie gehört zwar zum Protest der Aufklärung gegen den Willensgott und seine potentia absoluta, aber das ist nicht gleichbedeutend mit der Aussage, in der Theodizee sei nicht mehr der >gnädige Gottgerechte Gott< thematisch.57 Tatsächlich ist die Aufklärung an der Theodizee eben nicht primär wegen der Frage nach der Gerechtigkeit interessiert; ihr Problem ist das einer Zuverlässigkeit, die mehr ist als die cartesische veracitas, nämlich die Gewähr für eine autonome und von Wundern un­ gestörte Gesetzmäßigkeit des Weltablaufs. Der Beweis für die Unmöglichkeit des Gottesbeweises konnte von Kant erst in dem Augenblick geführt werden, in dem die Gesetzmäßig­ keit der Naturerscheinungen nicht mehr auf dieser Garantie zu beruhen brauchte, weil sie als transzendentale Bedingung der Möglichkeit der Natur erweisbar werden sollte. Hier liegt der Zusammenhang zwischen der transzendentalen Dialektik und dem Problem der Theodizee in der Neuzeit, nach dem Marquard sucht. Die neuzeitliche Theodizee ist >indirekte< Vertretung des humanen Interesses. Wenn diese These richtig ist, kann die aus der Theodizee hervorgegangene Geschichtsphilosophie nicht die >indirekte< Vertretung des theologischen Interesses, kann sie nicht >Theologie mit anderen Mittelm sein. Selbst wenn die idealistische Autonomiethese die Rechtfertigung ei­ nes Gottes wäre, der zwar nicht die beste der möglichen Wel­ ten gemacht, aber dafür den Menschen mit der kompensatori­ schen Fähigkeit versehen hätte, aus der bestehenden eine im­ mer bessere Welt zu machen, so wäre diese Rechtfertigung doch nur die Veranlassung zu einer erneuten Reflexion über die Geschichte, ob ihr faktischer Verlauf den Menschen als kompensatorisches Geschöpf ausweist und seinen Urheber von dem Verdacht befreit, er sei hinsichtlich der Anerkennung der Autonomie des Menschen und seiner Welt nicht zuverläs­ sig genug. Dieser Verdacht aber führt nicht so sehr zum me­ thodischen als vielmehr zum hypothetischen Atheismus, nicht zu einer Betrachtungsweise der Geschichte als des Inbegriffs

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der vom Menschen übernommenen Entlastung Gottes, son­ dern der von ihm demonstrierten und zu ertragenden Ent­ behrlichkeit Gottes. Marquard hat die Säkularisierungsthese, ohne an ihrem Namen festzuhalten, aufs äußerste und wir­ kungsvollste reduziert: geblieben ist kein Bestand an Inhal­ ten, an Substanz, an Materialien, sondern nur die nackte Identität eines Subjekts, dessen Selbsterhaltung unter wech­ selnden Einkleidungen und in völliger Anonymität gegen je­ de gröbere und feinere Zudringlichkeit gewahrt ist. Das In­ cognito der Theologie als Theodizee der Geschichtsphiloso­ phie ist die Vollendung des Doketismus. Marquard hat es als die List meiner Vernunft - also doch wenigstens als die über­ haupt einer — bezeichnet, daß ich der Säkularisierungsthese mit dem Funktionsmodell der Geschichte die einzige Chance zu ihrer Verteidigung geliefert hätte, nachdem und weil die Identitätsthesen und Kontinuitätstheoreme der Geschichte doch nicht zu halten gewesen seien.58 Mit anderen Worten: also doch wieder und doch noch Geschichtsphilosophie, nun freilich funktionale, obwohl gerade in der Geschichtsphiloso­ phie die Neuzeit mißlungen sei und durch Geschichtsphiloso­ phie als das Betreiben eines vermeintlich unriskanten Risikos aufs Spiel gesetz werde: Die Geschichtsphilosophie ist die Ge­ genneuzeit. Es wäre die Mißachtung eines bedeutenden ge­ danklichen Prozesses, wenn man Marquards Sätze von 1965 gegen die von 1973 ausspielen wollte — wer wüßte nicht seither genauer, was mit vermeintlichen Transformationen von Theo­ logie gemacht werden kann. Ich darf aber mein Unbehagen darüber aussprechen, zum Werkzeug einer List der Vernunft gemacht worden zu sein, indem ich dem Säkularisierungstheo­ rem sein letztes und stabilstes Refugium bereitete, während ich noch Marquards anonyme Identität der Theologie in der geschichtsphilosophischen Theodizee attackierte. Die These von der funktionalen Umbesetzung als der Erzeugung des Scheins von substantieller Identität durch Säkularisierung ist eine Erklärung von Hartnäckigkeit, nicht deren Erleichterung oder Legitimierung. Marquard scheint allerdings der These

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zuzuneigen, die Neuzeit hätte nur gelingen können, wenn sie mit den Zumutungen gebrochen und die Bedürfnisreste zu­ nichte gemacht hätte, die ihr hinterlassen worden waren. Ich kann das zugespitzt so formulieren: die Neuzeit konnte nur gelingen und sich vor Gegenneuzeiten abschirmen, wenn sie wirklich so absolut neu angefangen hätte, wie es im Pro­ gramm des Descartes stand. Aber auch dieses Programm war, wie im zweiten Teil zu zeigen sein wird, nur die Antwort auf eine Herausforderung, und die Antwort sollte absolutistisch werden, weil die Herausforderung absolutistisch war. Dann also mußte die Neuzeit deshalb mißlingen, weil die Idee, mit ihr überhaupt zu beginnen, bereits in der funktionalen Kon­ tinuität der Logik von Herausforderung und Selbstbehaup­ tung stand und damit im Keim >gegenneuzeitlich< war. Diese Paradoxie ist unvermeidlich, wenn man noch im funktionalen Geschichtsmodell die List der Vernunft, wieder zur Ge­ schichtsphilosophie zu werden, wahrnimmt. Ich suche nach der Wurzel dieser Schwierigkeit, die Marquard sich und mir bereitet. Ich meine, diese Wurzel zu finden in einem viel früheren Zusammenhang. 1958 schrieb Marquard, über den Verlust der theologischen Bestimmung der Vernunft gebe es zwei Konzeptionen, die Befreiungstheorie und die Sündenfalltheorie - aber vielleicht sei die Disjunktion Befrei­ ung oder Abfall nicht vollständig. Vielleicht ließe sich diese Alternative durch Aufmerksamkeit auf genuin theologische Motive der Vernunflemanzipation ersetzen. Und nun folgt ein Satz, der als Prämisse noch die so viel spätere Umdeutung des funktionalen Geschichtsmodells in eine gegenneuzeitliche Rettungsaktion ableitbar macht: Emanzipation ist weder Be­ freiung noch Abfall, wenn Theologie selbst sie provozierte.59 Hier wird die List der Vernunft erfunden, die eineinhalb Jahrzehnte später vorgefunden wird. Denn es ist nur eine Erfindung, weder Freiheitsakt noch Sündenfall in einer Handlung sehen zu wollen, weil sie von der Theologie selbst provoziert und dadurch nicht nur ihre Logik, sondern auch ihre Weihen empfangen habe. Wenn man freilich unterstellt,

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die Selbstbehauptung der Vernunft bedürfe nochmals einer Sanktion, dann wird man sie nur dort suchen können, woher die Nötigung dazu kam. Die Herausforderung rechtfertigt nicht, indem sie erklärt. Die Rede von der »Legitimität der Neuzeit ist nur verständlich, sofern es deren Bestreitung gibt.

vz Der neuzeitliche Anachronismus des Säkularisierungstheorems Die bisherigen Überlegungen galten der Aufschlüsselung des methodischen Verfahrens für die historische Anwendung der Kategorie Säkularisierung. Dieser Versuch, einem Ausdruck präzisere Bedeutung abzugewinnen, der bisher überwiegend in dem guten Glauben gebraucht wurde, er werde schon et­ was bedeuten, hat einige Benutzer auf den Plan gerufen und sagen lassen, so hätten sie es aber nicht gemeint. Meine Ge­ genfrage ist weniger die nach dem Faktum, wie denn anders es gemeint gewesen sei, sondern eher die, wie >Säkularisierung< hätte gemeint sein müssen, um die vermutete Leistungs­ fähigkeit für das Verständnis geschichtlicher Zusammenhänge zu erbringen. Die entfaltete methodische Beweislast mag nicht gleichermaßen in theoretische Arbeit umzusetzen sein; das hätte sie gemeinsam mit der Methodengeschichte aller hi­ storischen Disziplinen, deren Quellenbestand nicht auf die Er­ füllung theoretischer Interessen hin angelegt und konserviert worden ist. Manches, was zu erfahren uns der methodische Vorbegriff anweist, wird hier überall im ungewissen bleiben müssen. Was das Säkularisierungstheorem angeht, läßt sich aber wohl eine Übersicht gewinnen, ob die hohen Erwartun­ gen, die in vorläufigen Vermutungen und geistreichen Aper­ çus angelegt werden, jemals zu begründeten Einsichten kon­ solidiert werden können. Noch sieht es eher so aus, als handle es sich um terminologische Metastasen. Demgegenüber müssen die Aussichten auf Einsichten geprüft werden, wo ein äußer­ lich so erfolgreicher Ausdruck gebraucht wird, als stehe dahin­ ter eine längst ausgemachte Sache. Diese Suggestion ist nicht >hergestellt< worden, um nach er­ langter Unangefochtenheit jene >Kulturschuld< der Neuzeit anzumahnen und einzutreiben. Die ideologische Anfälligkeit der Kategorie Säkularisierung beruht nicht auf einer in ihr

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bereits investierten List irgendeiner Vernunft oder gar Un­ vernunft; es gibt die nachträgliche Mobilisierbarkeit von Im­ plikationen, und daß der Ausdruck >Kulturschuld< belegbar gefallen ist, ist ein Symptom dafür, nicht mehr. Die Unter­ stellung des uralten Priesterbetrugs war eine der Schwächen der Aufklärung, weil sie den Untergrund der Bedürfnisse zu den Phänomenen und Institutionen leichtfertig verdeckte, auf die sich die kritische Stoßrichtung der Aufklärung bezog. Diese Oberflächlichkeit der rücksichtslosen Entblößung ver­ meintlicher Hintergründe sollte eine Rationalität der huma­ nen Rücksicht nicht wiederholen. Auch wenn die einschlägigen Phänomene den entfalteten Kri­ terien der Identifizierbarkeit, der Authentizität und des Ent­ zuges nicht standhalten und damit ihre Verweltlichung zum Schein erklärt werden müßte, hätte dieser Schein doch ein Fundament in der Sache selbst, seine nachweisbare Zugehö­ rigkeit zu einer historischen Logik. Als Erklärungsform ge­ schichtlicher Vorgänge konnte >Säkularisierung< überhaupt nur dadurch so plausibel erscheinen, daß vermeintlich ver­ weltlichte Vorstellungen weitgehend auf eine Identität im ge­ schichtlichen Prozeß zurückgeführt werden können. Diese Identität freilich ist nach der hier vertretenen These nicht eine solche der Inhalte, sondern der Funktionen. Es können eben ganz heterogene Inhalte an bestimmten Stellen des Systems der Welt- und Selbstdeutung des Menschen identische Funk­ tionen übernehmen. Dieses System hat in unserer Geschichte die christliche Theologie entscheidend bestimmt, und zwar vor allem im Sinne seiner Ausweitung. Sie hat neue >Stellen< in den Rahmen der über die Welt und den Menschen möglichen und erwarteten Aussagen eingebracht, die nicht ohne weiteres wieder >eingespart< oder in theoretischer Öko­ nomie unbesetzt gehalten werden konnten. Unbeantwortbare Fragen nach der Totalität der Welt und der Geschichte, nach der Herkunft des Menschen und der Bestimmung seines Da­ seins brauchte es für die Theologie nicht zu geben. Darin gründet die Leichtigkeit, mit der sie Titel in den Haushalt

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der menschlichen Wissensbedürfnisse eingebracht hat, deren Einlösung jeder sich nicht gleicherweise auf transzendente Quellen berufenden Erkenntnis schwer oder gar unmöglich werden mußte. Ihre Stärke konnte nur die Schwäche ihrer Erben sein. Wenn man das einen Vorwurf nennen will, mag man ihn mit dem Vorwurf vergleichen, den Leibniz gegen Descartes erhoben hat: er habe durch die Radikalität des Zweifels an der Erkenntnis und durch die fragwürdige Vordergründigkeit seiner Behebung eine Forderung nach Ge­ wißheit in die Welt gesetzt, die der Strenge ihres Anspruchs nach weder von ihm selbst noch von jemand sonst hätte er­ füllt werden können, die wegen solcher Unerfüllbarkeit aber keineswegs rückgängig und hinfällig zu machen wäre. Die Bereitschaft, eine solche Hypothek der vorgegebenen Fra­ gen anzunehmen und als eigene Verbindlichkeit abzutragen, läßt uns weithin die geistige Geschichte der Neuzeit verständ­ lich werden. Es hat einen tragischen Zug, daß diese ebenso großzügige wie vergebliche Anstrengung schließlich in die mehr oder weniger deutliche Unterstellung ausläuft, der Erb­ fall sei auf unredliche Art zustande gekommen. Was in dem als Säkularisierung gedeuteten Vorgang überwiegend, jeden­ falls bisher mit nur wenigen erkennbaren und spezifischen Ausnahmen, geschehen ist, läßt sich nicht als Umsetzung authentisch theologischer Gehalte in ihre säkulare Selbstent­ fremdung, sondern als Umbesetzung vakant gewordener Po­ sitionen von Antworten beschreiben, deren zugehörige Fragen nicht eliminiert werden konnten. Ich habe das zu einseitig als Mangel an kritischer Intensität dargestellt und dazu die sonst beachtete Bedeutung der >Bedürfnisreste< zu wenig herange­ zogen. Die Überständigkeit des Systems der Fragen über einen Epo­ chenwandel hinweg und ihr Einfluß auf die unter neuen Prä­ missen möglichen Antworten ist nicht erst ein den Ursprung der Neuzeit bestimmendes Phänomen. Das Christentum selbst stand in seiner Frühzeit unter einem vergleichbaren >Problemdruck< ihm genuin fremder Fragestellungen. Die Verlegen­

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heit schon des Philo von Alexandrien, dann der patristischen Autoren, den großen kosmologischen Spekulationen der grie­ chischen Antike etwas Vergleichbares auf der Basis der bibli­ schen Schöpfungsgeschichte entgegenzustellen, und der diesef Nötigung nachkommende allegorische Aufwand lassen jenen Problemdruck des Überhangs der Fragen erkennen, auf die eine Antwort für möglich gehalten wurde. Wir werden uns von der Vorstellung frei machen müssen, es gebe einen festen Kanon der >großen Fragen«, die durch die Geschichte in konstanter Dringlichkeit die menschliche Wißbegierde beschäftigen und den Anspruch auf Welt- und Selbstdeutung motivieren. Die wechselnden Systeme der Mythologien, Theologien und Philosophien wären dann aus der Kongruenz ihres Pensums an Aussagen mit jenem Kanon der Fragen erklärbar. Die Problematik des Fragenüberhangs ist vor allem eine solche der Epochenschwellen, der Phasen sich mehr oder weniger schnell wandelnder Grundsätze für die Beschaffung sehr allgemeiner Erklärungen. Der Vorwurf, ein theoretisches System leiste zu wenig für das Welt- und Selbstverständnis des Menschen im großen und ganzen, wird seltener ausgesprochen als er tatsächlich den Urhebern und vor allem den epigonalen Verfechtern solcher Systeme ge­ genwärtig zu sein scheint, wenn sie deren umfassenden Pro­ blembewältigungsnachweis antreten zu müssen glauben. Nicht so sehr der >Totalitätsanspruch< der neuzeitlichen Vernunft als vielmehr deren Totalitätspflicht könnte als Säkularisat beschrieben werden. Nicht immer gehen die Fragen den Antworten voraus. Es gibt die spontane, aus der Autorität nicht-rationaler Verkün­ digungen hervorgehende >Urzeugung< der großen und akut wirksamen Behauptungen vom Typus der eschatologischen Naherwartung, der Schöpfungslehre oder der Erbsündendok­ trin. Ich habe den Ausdrude >Urzeugung< beibehalten, obwohl er seine Mißverständlichkeit erwiesen hat.60 Ich habe am Bei­ spiel der Erbsündendoktrin Augustins schon zu zeigen ver­ sucht, wie er nur gemeint sein kann: ihr Inhalt wird nicht be­

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stimmt durch das systematische Bedürfnis innerhalb der Rechtfertigung der Schöpfung, dem der bekehrte Gnostiker zu genügen hat, denn es hätte sich sicher noch ein anderer Inhalt als der einer erblichen Verschuldung finden lassen. Die generatio aequivoca besteht nur darin, daß die Verbin­ dung von Freiheitsbegriff und Erbschulddoktrin gerade an dieser Stelle zu einer >Antwort< auf eine noch genauer zu fin­ dende >große Frage< festgeschrieben werden konnte. Wenn Glaubwürdigkeit und Geltung solcher Antworten dahin­ schwinden, etwa weil Inkonsistenzen im System sich her­ ausstellen, hinterlassen sie die ihnen adäquaten Fragen, auf die dann eine neue Antwort fällig wird. Es sei denn, daß es gelingt, die Frage selbst kritisch zu destruieren und am Sy­ stem der Welterklärung Amputationen vorzunehmen. Daß das nicht eine rein rationale Operation sein kann, lehrt, wenn überhaupt irgend etwas, die Geschichte. Auch der schwinden­ de, vor allem moralisch destruierte Mythos der Griechen hat der entstehenden Philosophie >vorgeschriebenVerweltlichung< zum System der Welterklärung gewesen war. In akuten Naherwartungen kann das verheißene Heil äußerst unbestimmt bleiben; es wird alles anders, und wer danach fragt wie, hat schon verspielt. Die Unbefragbarkeit der Ver­ änderung beruht auf der Untragbarkeit des Bestehenden. Die akute Eschatologie ist das Äquivalent der Zwangsneurose, de­ ren universellen Effekt Freud mit dem Satz beschrieben hat: Die Unmöglichkeit hat am Ende die ganze Welt mit Beschlag belegt.6 2 Da kann das Heil sein wie es will. Erst durch die präzisen Ansprüche der von philosophischen Vorstellungen geprägten hellenistischen Welt mußte die Unsicherheit in der Formulierung des Heilsziels, die im Neuen Testament überall spürbar ist, zugunsten von Definitionen überwunden werden. Wenn man etwa bedenkt, wie stark unsere Tradition durch die Idee der Unsterblichkeit affiziert worden ist, wird man verblüfft durch die Feststellung, daß es diese Vorstellung in

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den biblischen Urkunden der vorexilischen Zeit nicht gibt. Damit aber war das Corpus der Offenbarungstexte als gan­ zes nur sehr unzulänglich für die sich stellenden Fragen nach dem neuerdings verheißenen >Leben< disponiert. Die griechi­ sche Philosophie konnte, aus mancherlei Gründen, genauer angeben, welche Bedingungen in einem Zustand von »Glück­ seligkeit erfüllt sein mußten. Diese Bedingungen stellten sich als obligates Systemprogramm den christlichen Autoren der ersten Jahrhunderte dar. Über Glück wird wohl in jedem Sy­ stem eine Aussage enthalten sein müssen; wie man aber über Glück reden kann, wird von sehr vielen Variablen in der Be­ setzung des formalen Stellenrahmens abhängen, bis schließlich die Subjektivität dieses Begriffs selbst zum systematischen Moment wird. In der hellenistischen Sphäre war dem Chri­ stentum seine Funktion und der Spielraum von ihm geforder­ ter Antworten als eine zu erfüllende Leerform vorgegeben. Der Anspruch auf Gehör und Teilnahme an der Konkurrenz der heilbringenden und welterklärenden Doktrinen konnte nur in der Übernahme dieser Funktion gerechtfertigt werden. In gewisser Hinsicht war es die Stärke des Christentums, daß es sich in seiner akuten Anfangssituation nicht auf konkrete Heilsgüter festgelegt hatte; es konnte sie jetzt allererst for­ mulieren. Mochte das, was diese Formulierung zu versprechen hatte, auch eine transzendente Erwartung sein, so mußte sie sich doch ihren Inhalt bei der philosophischen Bestimmung der antiken Eudaimonie entleihen: das Heilsgut der Unsterb­ lichkeit wurde zur theoretischen Anschauung, zur visio beatifica. Im Grunde eine Philosophenseligkeit. In der patristischen Formation des Christentums trat zum ersten Mal ein System von Aussagen als die letzte Gestalt der Philosophie auf. Das Christentum schuf diesen eigentüm­ lichen Anspruch, indem es sich in der Sprache der antiken Me­ taphysik dogmatisierte und vorgab, deren Welträtsel zu lö­ sen. Es ist eine geläufige Formel patristischer Autoren, der Gründer ihrer Religion habe alle Fragen der antiken Philoso­ phen beantwortet. Christus hatte nicht nur Forderung und

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Verkündigung aus einer anderen Welt und über eine andere Welt gebracht, sondern auch die wahre und endgültige Er­ kenntnis über diese Welt bis hin zu der Fülle der Probleme de rerum naturaß^ Das als Säkularisierung gedeutete neu­ zeitliche Phänomen der Umbesetzung ist also nicht an die Spezifität der geistigen Struktur dieser Epoche gebunden. Christliche Rezeption der Antike und neuzeitliche Übernah­ me von Erklärungsfunktionen des christlichen Systems sind strukturell weitgehend analoge historische Prozesse. Wie das patristische Christentum >in der Rolle< der antiken Philoso­ phie auftritt, so >vertritt< die neuzeitliche Philosophie weit­ hin die Funktion der Theologie — freilich die einer durch je­ nen zwei Jahrtausende früheren Vorgang zumindest ter­ minologisch für diese Vertretung disponierten Theologie. Auch wo sich die neuzeitliche Philosophie im schärfsten Wi­ derspruch zu ihrer als >überwunden< erklärten theologischen Vorgeschichte begreift, ist sie an den Bezugsrahmen ihrer Ab­ sagen gebunden. Nachdem die Menschen einmal angefangen hatten, so er­ staunlich viel von Gott zu wissen, wie der junge Hegel schreibt64, war selbst ein Atheismus oder ein Versuch der Er­ neuerung des paganen Kosmos nur möglich, sofern sie das Anspruchsvolumen ihrer Negate wieder aufzufüllen ver­ mochten. Blickt man einmal nicht auf Hegel, den Theologen — umwillen der Philosophie^, sondern auf Nietzsches Kampf gegen das latente Christentum, so gilt nicht nur, daß er es nicht vermochte, seine Wiederholung der Welt Heraklits an­ ders als antichristlich zur Sprache zu bringen - das könnte ein sehr vordergründiges Phänomen rein linguistischer Heraus­ forderung sein -, sondern es gilt sehr viel präziser, daß die Fragen, die sich für Nietzsche aus dem >Tode Gottes< erga­ ben, alle auf den Wegfall einer theologischen Antwort bezo­ gen sind.66 Es scheint nicht, daß die aktive Vergeßlichkeit, von der Nietzsche spricht, leicht in die Geschichte einzuführen ist, jenes im strengsten Sinne positive Hemmungsvermögen, die Vergeßlichkeit des Kindes, nach der er Zarathustra sich

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sehnen läßt. Die göttliche Kunst des Vergessens, die in den Fragmenten der »Dionysos-Dithyramben« angerufen wird, ist nicht die Kunst der menschlichen Geschichte, deren Un­ umkehrbarkeit Erinnerung bedeutet.67 In ihr wird die große kritische Freiheit gegenüber den Antworten mit der Unab­ dingbarkeit der Fragen kompensiert. Damit ist nicht ausge­ schlossen, daß diese Fragen einem menschheitlichen und tie­ feren Interesse entspringen als der bloßen Beharrlichkeit des Epochenüberhangs; aber es ist auch deutlicher gemacht, wie viel schwerer die Allgemeinheiten des menschlichen Interesses nachzuweisen sind als nur dadurch, daß sie einige Jahrhun­ derte überdauern können. Für den Ursprung und die Struktur der Probleme, die mit dem Säkularisierungstheorem und den Kriterien seiner An­ wendbarkeit Zusammenhängen, ist die Beobachtung aufschluß­ reich, daß mit der Vorstellung vom ursprünglichen Ideen­ eigentum und den zugehörigen Unrechtsvorwürfen schon in der Polemik und Apologetik gearbeitet wird, die den Prozeß der antik-christlichen Rezeption begleiten. Legitimität des Ideenbesitzes zu behaupten und zu begründen, ist in der Ge­ schichte das elementare Bestreben des Neuen oder des als neu sich Ausgebenden; solche Legitimität zu bestreiten oder das ihr zugeordnete Selbstbewußtsein zu verhindern oder wenig­ stens zu erschüttern, ist die Technik der Verteidigung des Be­ stehenden. Das frühe Christentum hat für sich nicht nur Le­ gitimität seines Wahrheitsbesitzes kraft Offenbarung in An­ spruch genommen, sondern zugleich der antiken Welt die Le­ gitimität des Besitzes derjenigen Vorstellungen bestritten, die es mit ihr gemeinsam oder von ihr übernommen hatte. Der Kunstgriff, die Philosophen insgeheim aus der Bibel gelernt haben zu lassen, kehrt in der patristischen Literatur immer wieder und verleugnet noch die offenkundigsten Abhängig­ keiten, indem es diese zur Rückerstattung eines viel früher entfremdeten Eigentums umpolt. In bezug auf die bis zur Selbstverständlichkeit assimilierte stoische Lehre, der Kosmos sei um der Menschen willen da,

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stellt Ambrosius von Mailand die rhetorische Frage: Unde hoc, nisi de nostris scripturis dicendum adsumpserunt?^ Augustin formuliert den christlichen Anspruch ganz allgemein so: Wenn aber die sogenannten Philosophen, vor allem die Platoniker, einmal etwas aussagen, was wahr ist und mit un­ serem Glauben übereinstimmt, so brauchen wir uns davor nicht nur durchaus nicht zu fürchten, sondern wir dürfen ihr Wahrheitsgut von ihnen als den ungerechten Besitzern für uns in Gebrauch nehmen . . . Was sie als ihr Gold und Silber besitzen, das haben sie sich nicht selbst gegeben, sondern so­ zusagen aus den Schächten der überall waltenden göttlichen Vorsehung (wie aus einem Bergwerk) gezogen, haben es aber dann verkehrt und ungerecht zum Dienst der bösen Geister mißbraucht; wenn sich nun der Christ innerlich von der un­ glückseligen Gemeinschaft mit den Heiden loslöst, dann muß er ihnen diese Schätze entreißen und in gerechter Weise zur Verkündigung des Evangeliums gebrauchend Der Raub der Gold- und Silbergefäße aus dem pharaonischen Ägypten ist Augustins allegorisches Urbild für das Verhalten gegenüber den iniusti possessores der Wahrheit, schon hier mit der Fik­ tion, im Grunde müßten die Heiden selbst die Übergabe an den rechtmäßigen Nutznießer gewollt haben. Diese Formel des >debet ab eis auferre christianus< ist eine jener unglaubli­ chen Lizenzen, die den Besitzer der Wahrheit berechtigen sol­ len, alles in ihren Dienst zu stellen, was diejenigen in Händen haben, die von dieser Wahrheit nichts wissen können oder wollen. Es ist der Prototyp für die Moral des Genies wie des Übermenschen wie des Funktionärs der allein berechtigenden Interessen. Noch radikaler hatte schon zwei Jahrhunderte zuvor der Ju­ rist Tertullian die Kategorie der Legitimität mit der Wahr­ heitsfrage verbunden. Über die alte Frage nach dem Wesen der Seele sagt er, es komme hier nicht auf die Wahrheit einer Aussage als solche an, sondern auf ihren Herkunftsnachweis. Es sei besser, in einer solchen Sache unwissend zu bleiben, wenn Gott darüber nichts offenbaren wollte, als über sie etwas

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durch Menschen zu erfahren, die sich angemaßt hätten zu be­ greifen und denen es so gelungen sei, sich Wahrheit anzueig­ nen.70 Die Legitimitätsbegründung des Wahrheitsbesitzes wird gefordert, weil die Behauptung einer religiösen Offenba­ rung zugleich deren alleinige Zuständigkeit impliziert, denn ein Gott, der etwas offenbart, was die Menschen ohnehin schon wissen oder wissen könnten, bringt die Notwendigkeit seiner Offenbarung und damit ihren Ausschließlichkeitswert für seine Gläubigen ins Zwielicht. Schon deshalb darf es nicht sein, daß die Philosophie irgendwann authentisch und auf ei­ genen Wegen das zutage fördert, was einmal der Quelle Of­ fenbarung zugeschrieben worden war. Deshalb muß es Säku­ larisierung geben, die vorgreifende des Tempelraubes der an­ tiken Philosophie aus der Bibel, die postume des Deutschen Idealismus und seines hauseigenen Materialismus. Im Hintergrund der frühchristlichen Forderung nach einem Legitimitätsnachweis der antik-philosophischen Wahrheits­ anteile scheint mir ein Platonismus zu stehen: was wahr ist, ist dies kraft eines Abkunftsverhältnisses als Nachbild zu einem Urbild von Wahrheit, das mit Gott identifiziert wird. Die Abhängigkeit des Bildes von seinem Urbild ist schon bei Plato etwas, was nicht ausgeklammert und vernachlässigt werden kann. Bildlichkeit muß als ein inhaltlich bestimmen­ des Moment an der Erscheinung wie noch an ihrer Abbildung mitvollzogen werden. Nur so kann überhaupt die abgeleitete Realität der Natur zurückführen auf eine Sphäre von Gege­ benheiten reiner Einsichtigkeit, wie umgekehrt den Ideen nicht nur der Inhalt einer absoluten Wahrheit zukommt, son­ dern zugleich eine Implikation des Sollens, die zu ihrer Ver­ vielfältigung, Verstofflichung, Umsetzung in Natur motiviert, wie es am Demiurgenmythos abgelesen werden kann. Die frühen christlichen Autoren beanspruchen das bei den Philoso­ phen der Antike vorgefundene und nun >bestätigte< Wahre nicht nur, um es ihrem System als nun jedermann verfügbar Gewordenes einzugliedern — wir würden sagen: als das Ob­ jektive -, sondern um ihm durch Wiederherstellung seines

genetischen Bezuges seine Wahrheit in einem strengeren Sinne zu restituieren. Es gibt fortan für die ganze Epoche des Mit­ telalters eine Garantieinstanz für die Wahrheit ebenso wie für die Wirklichkeit der Welt, die nicht mehr ihre selbstver­ ständliche und unmittelbare Evidenz hat und nie wieder be­ kommt. Ein solcher platonischer Rest steckt noch im Vorwurfsgehalt von >Säkularisierungbürgerlicher< Einstellungen begründet worden, sondern ent­ steht durch die Überlagerung formaler Identität und materia­ ler Diskontinuität in den epochalen Umbrüchen unserer Ge­ schichte. Freilich hat sich dieser Zusammenhang in der Neu­ zeit gründlich gewandelt. Es gehört zu den diese Epoche kon­ stituierenden Vorgängen, daß Legitimität des Eigentums an Ideen einzig aus deren authentischer Hervorbringung herge­

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leitet werden kann. Das ist schon deshalb wichtig, weil es die Vorstellung einer legitimen Säkularisierung paradox wer­ den ließe, aber zugleich dem Kriterium des genuinen Eigen­ tums sein Gewicht erst verschafft. Der intellektuelle Erwerb durch so etwas wie >Übertragung< im weitesten Sinne ist su­ spekt geworden. Auch das gehört in den Zusammenhang der Selbstbehauptung der Vernunft, die sich darin der extremen Zuspitzung des Gnadenmomentes in der Theologie und ihren philosophischen Äquivalenzen (von der illuminatio bis zum concursus) widersetzt. Ihr Postulat ist das der Selbsteigenheit der Wahrheit durch Selbsterzeugung. Wissen durch bloße Lehre wird zur abgeleiteten Form eines Wahrheitsbesitzes, den jedes vernünftige Subjekt durch eigenen Vollzug der Er­ kenntnisarbeit sich soll zueignen können. Diese Zueignung ist radikal verschieden von jeder Art der Übereignung. Das Pa­ thos der Methode beruht auf dieser Voraussetzung, jeder­ mann das Werkzeug für die Erkenntnisarbeit potentiell ver­ fügbar zu machen. Gegen den Voluntarismus der Begründung rationaler Wahr­ heiten bei Descartes erhebt Leibniz den schlichten, aber als durchschlagend empfundenen Einwand, daß die Abhängigkeit aller Wahrheiten vom göttlichen Willen selbst die Bestimmun­ gen eines geometrischen Gegenstandes velut privilegium ma­ chen würde. Das ist von hintergründiger Doppeldeutigkeit: weder dem Gegenstand würden seine Bestimmungen aus in­ nerer Notwendigkeit zukommen können noch dem erken­ nenden Subjekt seine Wahrheiten aus der Einsicht in diese Notwendigkeit.? 2 Die Wahrheit hat ihre Analogie zum theo­ logischen Gnadenrecht verloren. Damit ist der Vorstellung des verliehenen und tradierbaren Eigentums an Ideen die Voraussetzung entzogen. Der Vorwurf der rechtswidrigen Aneignung nimmt einen anachronistischen Zug auch dadurch an, daß der behauptete Vorgang dem entfremdeten Gut die Bedingung seines Wertes zerstören müßte. Hier zeigt sich, daß der Wandel in den Voraussetzungen der Vorstellung geistigen Eigentums nicht nur die Kriterien für

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die Anwendbarkeit und Leistungsfähigkeit der historischen Kategorie >Säkularisierung< bestimmt, sondern daß er noch radikaler in die Möglichkeit der Konstruktion eines solchen Vorgangs geistiger Enteignung und Verschuldung destruktiv eingreift. In dem Anspruch, historisches Verstehen mit diesem Schema zu vermitteln, steckt eine dem neuzeitlichen Selbst­ verständnis fremde, ihrerseits >säkularisierte< Prämisse. In diesen Zirkel seiner Voraussetzungen gerät das Nachdenken über Geschichte auch dann, wenn es die im Begriff der Sä­ kularisierung angebotene Wertung nicht mitmacht, also we­ der das Bedauern über den Verlust geistlicher Güter noch die Befriedigung über die reinere Wesentlichkeit des transzenden­ ten Restes nach der Befreiung von dem, was >der Welt< an­ heimfallen kann. Das historische Verstehen tritt mit dem Ge­ brauch dieser Kategorie in die Selbstdeutung der Religion als eines Wahrheitsprivilegs ein. Es übernimmt die mit dem Offenbarungsanspruch notwendig verbundene Setzung eines aus der Geschichte nicht begründ baren, immanent vorausset­ zungslosen Anfanges. Dieser Anfang leitet nicht nur eine neue, sondern auch die endgültige Geschichtsformation ein. Jedes geschichtliche Selbstbewußtsein mußte mit diesem An­ spruch auf Neuheit und Endgültigkeit in Konflikt geraten, das innerhalb des damit begonnenen Geschichtsablaufs noch­ mals einen neuen Anfang setzen zu können bzw. gesetzt zu haben glaubte, der >Neuzeit< als wissenschaftlich begründete und damit endgültige Epoche konstituieren sollte. Die End­ gültigkeit im christlichen Selbstverständnis mußte sich dage­ gen zu behaupten suchen, indem sie jedem derartigen Gründungsakv in der Geschichte seine Möglichkeit der Authentizi­ tät bestritt und ihn zugleich damit auf den unrechtmäßigen Gebrauch ihres Wahrheit .besitzes angewiesen sein ließ. Damit hier keine Mißverständnisse aufkommen oder beste­ hen bleiben: der Anspruch auf den absoluten Anfang der Neuzeit durch die Philosophie ist nicht zutreffender als der Anspruch auf den absoluten Anfang der anderen Geschichts­ hälfte durch die christlichen Nullpunktereignisse. In histori­

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scher Betrachtung haben sich beide Anfänge als vermeintlich voraussetzungslose Daten in Rauch aufgelöst. Dennoch han­ delt es sich nicht um gleichartige Ansprüche. Der von der Philosophie programmierte Anfang der Neuzeit ist >mißlungenUmbesetzung< nachzuweisen. Aber das genügt noch nicht, um die Dichte und vordergründige Undurchdringlichkeit der ein­ schlägigen Phänomene zu erklären. Die Verlegenheit der ge­ schichtlichen Identität ist nicht nur die von Frage und Ant­ wort. Die Umbesetzung eines vorgegebenen Stellensystems war die eine Dringlichkeit der Epochenwende; die andere war die Verdeckung der Konkurrenz, in die der Anspruch hinein­ trieb, nach der sich als endgültig und unüberbietbar verste­ henden nachchristlichen Phase der Geschichte nochmals >Epoche zu machenMittelalter< eben in seine mittlere und vermittelnde Stel­ lung. Es wurde zur vorläufigen und auf Ablösung angelegten Phase der menschlichen Selbstverwirklichung herabgestuft, schließlich zur bloßen Unterbrechung zwischen Antike und Neuzeit, zum >finsteren< Mittelalter disqualifiziert. Aber der neu erhobene Anspruch scheut seine Konsequenzen vor allem stilistisch. Die ersten Jahrhunderte der Neuzeit sind von einer angestrengten, oft krampfhaften und zuweilen alles Mittelal­ terliche phänomenal in den Schatten stellenden >geistlichen< oder zumindest weltabgeneigten Attitüde. Es ist vor allem eine Ausdruckswelt, die sich durchhält. Die Sphäre der sakra­ len Sprache überlebt die der geweihten Sachen, wird ängstlich konserviert und als Deckung gerade dort vorgezogen, wo phi­ losophisch, wissenschaftlich und politisch Neues gedacht wird.

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Aber auch der Sprachmangel, Ciceros egestas verborum bei der Latinisierung der griechischen Philosophie, ist als Nöti­ gung zur Ausschöpfung des tradierten Ausdrucksbestandes für eine säkulare Terminologie zu bedenken. Dafür ist die ent­ stehende Staatstheorie der vielleicht wichtigste Beleg. Ob die rhetorischen Möglichkeiten, die sich aus solcher >Sprachschöpfung< ergeben hatten, jeweils gesucht oder erst nachträglich gefunden wurden, wird sich nur in seltenen Fällen entscheiden lassen. Die Dauerhaftigkeit sakral geprägter Sprachelemente sehe ich nicht als ein quasi-mechanisches Phänomen ihrer Träg­ heit an, sondern als einen aufschlußhaltigen und interpretier­ baren Sachverhalt. Die Umbesetzung von Systemfunktionen im Prozeß des Epochenwandels bedingt die sprachliche Kon­ stanz in vielfältiger Weise. Nicht nur die großen Fragen, auch die großen Worte bedürfen der geschichtlichen >VorbereitungWanderung< eines der wesentlichen theologischen Attribute zur Welt hin vermittelt.73 Wenn etwas Säkularisierung zu hei­ ßen verdiente, wäre es diese Weltwerdung eines göttlichen Attributs; zweifellos wäre dies der Absicht nach ein Akt des Entzuges, wenn nicht die tief im Schoß der christlichen Theo­ logie entsprungenen Schwierigkeiten, zu unterscheiden zwi­ schen dem innergöttlichen Hervorgang der zweiten Person und dem Akt der Schöpfung, der >Umbesetzung< der trinita­ rischen Stelle des Sohnes durch das Universum bis zur Unaus­ weichlichkeit vorgearbeitet hätten. Bruno wollte die Entfrem­ dung des gewaltigsten Attributes der christlichen Tradition, aber er erreichte nichts anderes als eine Konsequenz der Un­ verträglichkeit desselben innerhalb des mittelalterlichen Sy­ stems. Läßt dieser Sachverhalt zu, davon zu sprechen, daß in der Neuzeit die Welt dieses Attribut Gottes >übernimmt